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German Pages [248] Year 2017
Eberhard Bons / Karin Finsterbusch (Hg.)
Konstruktionen individueller und kollektiver Identität (II) Alter Orient, hellenistisches Judentum, römische Antike, Alte Kirche Mit Beiträgen von Eberhard Bons, Werner Eck, Wolfgang Grünstäudl, Judith Hartenstein, Astrid Nunn, Patrick Pouchelle, Ulrike Steinert und Günter Stemberger
2017
Vandenhoeck & Ruprecht
Biblisch-Theologische Studien 168 Herausgegeben von Jörg Frey, Friedhelm Hartenstein, Bernd Janowski und Matthias Konradt
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978–3–7887–3105–2 Weitere Angaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2017 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D – 37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Grafikbüro Sonnhüter www.sonnhueter.com Satz: Julia Hidrio Druck und Bindung: Hubert & Co. KG, Robert-Bosch-Breite 6, D – 37079 Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier
Inhalt
Eberhard Bons / Karin Finsterbusch, Einleitung
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Alter Orient ..........................................................
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Astrid Nunn, Identität in altorientalischen Bildern, ein Widerspruch? .................................... Ulrike Steinert, Person, Identität und Individualität im antiken Mesopotamien ...........................
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Hellenistisches Judentum ......................................
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Eberhard Bons, Das Buch Judith – Konturen jüdischer Identität in hellenistischer Zeit ............ Patrick Pouchelle, Les psaumes de Salomon : quelle communauté? ........................................
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103 127
Römische Antike ....................................................
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Werner Eck, Das multiethnische und multilinguale Imperium Romanum: Gab es eine römische Identität?........................................................... Günter Stemberger, Jüdische Identität: Was ändert die Zerstörung Jerusalems im Jahr 70? .....
155 177
VI Alte Kirche ............................................................ Judith Hartenstein, Apokryphe Schriften – separate Gruppen? Gruppenidentitäten in frühchristlichen Evangelien .................................... Wolfgang Grünstäudl, Ertragene Alterität. Anmerkungen zur theologischen Differenzkonstruktion in frühchristlicher Literatur ............... Autorinnen und Autoren des Bandes .....................
Inhalt
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Eberhard Bons / Karin Finsterbusch
Einleitung
Der vorliegende Band ist aus einer Tagung hervorgegangen, die gemeinsam von der „Équipe de recherche en exégèse biblique“ (EREB) der Universität Straßburg und dem Institut für Evangelische Theologie der Universität Koblenz-Landau (Landau) vom 11.–12. März 2016 an der Universität Landau organisiert worden ist. Dies war die zweite Tagung zum Thema antiker Konstruktionen individueller und kollektiver Identität. Die erste fand im März 2015 an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Straßburg statt. Die Beiträge sind ebenfalls in einem Band in der Reihe „Biblisch-Theologische Studien“ erschienen.1 In Bezug auf die Fragestellung der Tagung bzw. des Bandes sei es uns gestattet, aus der Einleitung des ersten Bandes zu zitieren:2 Eine der derzeit intensiv diskutierten gesellschaftlichen Fragen betrifft die Identität von Individuen und Gruppen. Diese Diskussion steht in engem Zusammenhang mit den politischen Entwicklungen der letzten Jahre. Insbesondere die Konflikte zwischen Angehörigen verschiedener Religionen, Glaubensrichtungen und Ethnien, die dadurch verursachten Flüchtlingsströme und die Probleme der Integration von Fremden in Europa sind Themen, die Medien und Politik beherrschen. Dabei stellt sich nicht 1
Konstruktionen individueller und kollektiver Identität (I): Altes Israel/Frühjudentum, griechische Antike, Neues Testament/Alte Kirche (ed. E. Bons/K. Finsterbusch; Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 2016). 2 Vgl. zu den folgenden Seiten a.a.O., S. 1–3.
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Eberhard Bons / Karin Finsterbusch
nur die Frage nach den Ursachen der Konflikte und den Möglichkeiten eines auf Dauer gelingenden Zusammenlebens, sondern auch nach der Rolle der Religion oder der Religionen: In welchem Maße sind religiöse Überzeugungen an der Entstehung von Hass und Gewalt beteiligt? Und umgekehrt: In welchem Maße können sie ein friedliches Zusammenleben von denjenigen Menschen fördern, die nicht durch Religion, Sprache und Nationalität miteinander verbunden sind? Die Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen hängt nicht zuletzt davon ab, wie Religionen und deren Angehörige ihre Identität definieren oder konstruieren. Für die drei monotheistischen Religionen – Judentum, Christentum, Islam – sind diesbezüglich grundlegende Entscheidungen schon im Altertum getroffen worden. Dabei zeugen zahlreiche antike Texte von intensiven Diskussionen, die diesen Entscheidungen vorausgegangen sind: Durch welche Kriterien soll das Profil einer religiösen Gemeinschaft bestimmt werden, z.B. durch welche Riten und Gebräuche, Kultorte und Kulthandlungen, Vorschriften und Verbote, Texte und Traditionen? Wie sollen diese Kriterien begründet werden und inwieweit sollen diese verbindlich sein? Mit der letzten Frage wird das Thema der Wandlungsfähigkeit einer kollektiven Identität berührt: Wieviel Individualität wird dem Einzelnen als Mitglied einer Gemeinschaft zugestanden? Wieviel Gestaltungsspielraum lassen fundierende Texte und Traditionen für kommende Generationen, die Veränderungen und Reformen einfordern? Schließlich kommt ein letzter Fragenkomplex hinzu: Wie werden in den Texten die Grenzen einer Gemeinschaft definiert? Welches Bild wird von den „Fremden“ konstruiert, die jenseits dieser Grenzen leben? Und welche Konsequenzen ergeben sich für die Begegnungen mit ihnen? Sind in der Definition von Grenzen eher inkludierende oder eher exkludierende Tendenzen angelegt? Der vorliegende Band enthält insgesamt acht Beiträge zu den Bereichen Alter Orient, hellenistisches Judentum,
Einleitung
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römische Antike und Alte Kirche, die die im ersten Band publizierten Arbeiten ergänzen sollen. Astrid Nunn widmet sich dem Thema „Identität in altorientalischen Bildern“. Sie zeigt, dass die Bilder darauf zielten, den Status der abgebildeten Person durch „signature elements“ zu verdeutlichen, dass es hingegen keine portraithafte Wiedergabe von Individuen mit ihren spezifischen Gesichtszügen und Charaktereigenschaften, also keine Portraits im Sinne der Renaissance gab. Ulrike Steinert bietet einen Überblick über die Grundzüge mesopotamischer Sichtweisen auf menschliche Person, Identität und Individualität. Dabei arbeitet sie unter anderem heraus, dass nach keilschriftlichen Quellen Individuen ihr persönliches Glück in der Regel in persönlichem Erfolg, in sozialer Anerkennung und in Eingebundenheit in die Gemeinschaft finden, selten durch ein Ausbrechen aus der Gesellschaft. Eberhard Bons widmet sich dem Buch Judith, einem Dokument des hellenistischen Judentums. Er geht dabei der Frage nach, wie in dieser fiktiven Erzählung die Israeliten auf die Bedrohung durch die Invasion des assyrischen Heers reagieren. Anscheinend spielt für die Identität Israels, wie sie aus diesem Text rekonstruiert werden kann, der Jerusalemer Tempel eine zentrale Rolle. Zugleich ist von großer Bedeutung, dass die Israeliten keine Götterbilder mehr verehren, sondern sich wie schon ihre Vorfahren zu ihrem Gott bekennen. Patrick Pouchelle untersucht in seinem Beitrag die Psalmen Salomos. Er stellt die Frage, inwieweit Termini wie βουλή, ἐκκλησία, συνέδριον und συναγωγή die Kreise bezeichnen, in denen die Psalmen Salomos entstanden sind. Jedoch erscheint eine Identifizierung dieser Gruppen schwierig. Wahrscheinlich empfanden sich die Verfasser der Psalmen Salomos nicht als oppositionell, sondern als Schriftgelehrte, die mit ihren Texten ihre Gegenwart deuten wollten, und zwar auf dem Hintergrund der heiligen Schriften. Gab es im multiethnischen und multilingualen Imperium Romanum eine „römische Identität“? Werner Eck zeigt,
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Eberhard Bons / Karin Finsterbusch
dass ein Leben mit einer doppelten Identität als Normalität bei vielen Bewohnern des Römischen Reiches vorauszusetzen ist: Sie sind auf der einen Seite in einem begrenzten Bereich zu Hause, dem sie sich zugehörig fühlen und der im Denken und Handeln primär ist, auf der anderen Seite sind sie römische Bürger und schätzen den imperialen Schutzraum. Das änderte sich zunehmend in der Spätantike, als die Wirkung des Reiches als Schutzraum schwächer wurde und andere Faktoren wie die spezifische Ausprägung der jüdischen und christlichen Religion wichtiger wurden. Günter Stemberger geht in seinem Beitrag der Frage nach, welchen Einfluss die Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 n. Chr. durch die Römer auf die jüdische Identitätsfindung hatte. Im Römischen Reich wurde die Tempelsteuer ab 73 n. Chr. durch den fiscus judaicus ersetzt, das heißt, die römische Verwaltung musste Register gehabt haben, in denen aufgeführt war, wer zum Judentum gehörte. Innerjüdisch wurde die Identitätsfindung zunächst durch Abgrenzung gegenüber Strömungen, die aus verschiedenen Gründen nicht (mehr) in den neu zu definierenden Rahmen passten, bestimmt. Einige Jahrhunderte dauerte es, wie Stemberger darlegt, bis rabbinische Gruppenidentität immer mehr jüdisches Bewusstsein in Palästina (und Babylonien) bestimmen konnte, und bis ins Mittelalter, bevor diese auch in der Diaspora immer mehr Einfluss gewann. Judith Hartenstein konzentriert sich in ihrem Beitrag auf Gruppenidentitäten in apokryph gewordenen Evangelien. Unklar sei, ob es sich bei den Gruppenidentitäten um Konstruktionen handelte oder ob ihnen soziale Verhältnisse korrespondierten. Denkbar sei durchaus, dass die Vorstellung von einer abgegrenzten Sondergruppe (z.B. innerhalb des Jüngerkreises) eine Schrift attraktiv machen sollte, und dass von der Leserschaft die Gruppenidentität unterschiedlich gefüllt werden konnte. In den Mittelpunkt seines Beitrags zur Ausbildung frühchristlicher Identität(en) stellt Wolfgang Grünstäudl die literarische Grenzziehung zwischen dem Eigenen und
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Einleitung
dem Anderen, Fremden und Nicht-Identen, die er am neutestamentlichen Judasbrief und Justins Dialog mit Trypho exemplarisch untersucht. Dabei wird nicht nur deutlich, wie sehr beide Texte die Andersheit, gegen die sie ihre massive Polemik richten, zu allererst konstruieren, sondern auch, dass die dabei aufgerichteten Grenzen die gleichzeitig massiv vorhandenen Verbindungslinien nicht vollständig überdecken können. Dieses beiden Texten inhärente Spannungsverhältnis stellt, wie Grünstäudl betont, als schwieriges Erbe eine bleibende Herausforderung für gegenwärtige christliche Identitätskonstruktion(en) dar. Am Ende dieser Einleitung ist es uns ein Anliegen, all denen zu danken, die an der Entstehung des Bandes beteiligt waren: den Autorinnen und Autoren, dem Neukirchener Verlag, besonders Herrn Dr. Volker Hampel, der das Entstehen des Buches gefördert und begleitet hat, den Herausgebern der Reihe, vor allem Herrn Prof. Dr. Bernd Janowski, der die Publikation der beiden Bände in den „Biblisch-Theologischen Studien“ angeregt hat, und nicht zuletzt Frau Dipl.-Theol. Julia Hidrio (Wien), die die Druckvorlage mit großer Umsicht erstellt hat. Danken möchten wir auch dem Fachbereich 6 der Universität Koblenz-Landau und der Équipe dʼaccueil 4377 „Théologie catholique et sciences religieuses“ der Universität Straßburg, die durch ihre Zuschüsse die Tagung im März 2016 ermöglicht haben. Straßburg / Landau, im April 2017 Eberhard Bons und Karin Finsterbusch
Alter Orient
Astrid Nunn
Identität in altorientalischen Bildern, ein Widerspruch?
Als Gimil-Ninurta zum Bürgermeister von Nippur wollte und sich beim Pförtner ausweisen musste, antwortete er: „Ein Arzt, gebürtig aus Isin, der untersucht … Wo Krankheit und Verfinsterung sind, gehe ich …“1. Diese Angabe strahlt Selbstvertrauen aus. Gimil-Ninurta hat einen guten Beruf – er ist Arzt – und er kommt aus Isin, einer Stadt, in der es die beste medizinische Ausbildung gibt, auf die er stolz ist. Sollte er abgebildet worden sein, würden wir ihn in Bildern erkennen?
Abb. 1
Das Siegel auf der Abb. 1 ist das berühmteste Ärztesiegel aus dem Alten Orient. Es gehörte Ur-lugal-edin-na und geht auf die Ur-III-Zeit zurück (2100-2000 v. Chr.). Abgebildet ist ein Gott, der wahrscheinlich Šagan ist und der 1
W. von Soden, Der arme Mann von Nippur – Eine Erzählung, TUAT III/1, 1990, 174-180, hier 178-179, Z. 122-123.
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Astrid Nunn
Steppentiere, allen voran „trächtige Weiber“ schützt. Am wichtigsten jedoch ist die medizinische Apparatur, die die Spezialisierung auf Geburtshilfe des Siegelinhabers verbildlicht: zwei mit einem Deckel versehene Vasen, Zangen und ein Spatel2. Einen Arzt sehen wir nicht, dafür aber sein Instrumentarium. Heilende sehen wir jedoch auf einem Siegeltyp der neuassyrischen Zeit, in deren Mitte eine Person unter einem Schutz steht. Diese wird als kranke Person interpretiert, der sich zwei Heilende zuwenden. Vergleicht man die Siegel dieses Typus, so merkt man, dass sich diese Heilenden vollständig ähneln. Hatte Ur-lugal-edin-na die Absicht, seine Identität auf seinem Siegel zu zeigen, so tat er dies über das medizinische Instrumentarium. Wie können wir heute längst vergangene Identitäten bildlich erkennen? Wie hat man in der altorientalischen Antike „Identität“ bildlich gefasst? Zunächst muss das Wort „Identität/en“ aus der altorientalischen Perspektive kurz umrissen werden. Dabei sollte gerade im Hinblick auf die hier gestellten Fragen bereits zu Beginn betont werden, dass sich Identität und Identifikation bedingen. Denn, möchte man die Darstellung der Identität fassen, so ist dies nur möglich, wenn man auch weiß, wer dargestellt ist. Dies ist jedoch in der altorientalischen Motivik oft nicht der Fall. Eine Studie über Identität hängt also wesentlich von der Möglichkeit der Identifikation ab und muss sich somit mit Möglichkeiten der Identifizierung befassen. I. Allgemein Identität kann im Hinblick auf den Alten Orient als Zugehörigkeit zu einer Gruppe und als individuelle Kategorie „Person“ aufgefasst werden.
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P. Attinger, La médecine mésopotamienne, Le Journal des Médecines Cunéiformes n.° 11-12, Paris 2008, 56-58.
Identität in altorientalischen Bildern, ein Widerspruch?
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Heute gehört „unser“ Identitätsbegriff zumindest genauso stark in die individuelle als in die kollektive Kategorie. Aber auch wenn dieser sozialpsychologische Identitätsbegriff, verstanden als Beziehung des Selbst zu seiner Umgebung, die er durch Sozialisierung verinnerlicht hat, im Alten Orient weniger ausgeprägt war, hat es dieses Individuum auch gegeben. Auch im Alten Orient gab es eine Wahrnehmung des „Selbst“. Sie äußert sich etwa in Wörtern wie „ich“ oder „Kopf“, der wiederum das Individuum und das soziale Selbst im Sinne von Würde, Status und Ehre repräsentiert3. Im Gegensatz zum Individuum stehen Gruppen, die hier als geographische und sprachliche Gemeinschaft gemeint sind. Jüngere Untersuchungen haben gezeigt, dass es keine emotionale Bindung über Volk und Sprache im Alten Orient gab. Sumerische Texte gestatten es nicht festzulegen, dass sich Sumerer als solche begriffen hätten. Sumer war keine Nation, Sumerisch stiftete keine linguistische Identität. Gab es eine Identität, dann begriff sie sich über Territorialität4. Kein Satz könnte dies besser ausdrücken als „Ich bin (mit anderen) gebürtig aus Isin“. Dasselbe gilt für Assyrien. „There was only a weakly developed idea of Assyrian cultural identity, and it was continually modified by linguistic, cultural, and artistic practice of cultures encountered during imperial expansion”,
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U. Steinert, Aspekte des Menschseins im Alten Mesopotamien. Eine Studie zu Person und Identität im 2. und 1. Jt. v. Chr., Cuneiform Monographs 44, Leiden 2012, 137ff, 257ff; U. Steinert, Synthetische Körperauffassung in akkadischen Keilschrifttexten und mesopotamische Götterkonzepte, in: K. Müller/A. Wagner (Hg.), Synthetische Körperauffassung im Hebräischen und den Sprachen der Nachbarkulturen, AOAT 416, Münster 2014, 73-106, hier 76. 4 J. S. Cooper, Sumerian Literature and Sumerian Identity, in: K. Ryholt/G. Barjamovic (Hg.), Problems of Canonicity and Identity Formation in Ancient Egypt and Mesopotamia, Copenhagen 2016, 1-18, hier 1, 11, 14. G. Rubio, The Inventions of Sumerian: Literature and the Artifacts of Identity, in: K. Ryholt/G. Barjamovic (Hg.), Problems of Canonicity and Identity Formation in Ancient Egypt and Mesopotamia, Copenhagen 2016, 231-257, hier 234-238, 245-246.
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Astrid Nunn
schreibt J. Emberling5. Den Assyrern war wichtiger, dass sich ihre Untertanen unterordneten und ihre politische Kontrolle respektierten, denn als Assyrer betrachtet zu werden. Während sich Identität in den schriftlichen Quellen kaum umreißen lässt, erkennen wir in den Bildern Mittel, anhand derer eine Identifikation doch möglich wird. Zum Beispiel konnten in den drei vorchristlichen Jahrtausenden ausgewählte Kleider und Kopfbedeckungen den Status als Gott oder als König offenbaren. Diese Mittel, die sich innerhalb der altorientalischen Gesellschaft auf den sozialen Status bezogen, müssen auch als Ausdruck einer Identität wie auch identitätsstiftend gewirkt haben. Außerhalb der altorientalischen Gesellschaften werden die vielen Fremdvölker so charakterisiert, dass man sie zumindest bildlich auseinanderhalten kann. Das geknotete Stirnband der Elamiter auf den Reliefs Assurbanipals6 (668-627 v. Chr.), das gekräuselte Haar und die negroiden Gesichtszüge der Nubier auf den neuassyrischen Elfenbeinen7 oder die rote Hautfarbe der Levantiner auf den Wandmalereien von Til Barsip8, all diese Merkmale charakterisieren aus assyrischer Sicht Fremde. Inwieweit die Assyrer diese Elemente – Kleider, Frisuren, Farben – als Identität eines bestimmten fremden Volkes aufnahmen oder diese Elemente die Fremden gleichsam auf ihre Fremdheit reduzierten, kann ich nicht beurteilen. Geht man von der emischen Perspektive der Assyrer aus, die sich nicht als assyrisches Volk betrachteten, so wäre es konsequent anzunehmen, dass Fremde nicht als Volk oder Ethnie aufgefasst wurden, sondern eher als eine 5
G. Emberling, Ethnicity in Empire. Assyrians and Others, in: Jeremy McInerney (Hg.), A Companion to Ethnicity in the Ancient Mediterranean, Malden/MA-Oxford 2014, 158-174, hier 169. 6 R. D. Barnett/A. Lorenzini, Assyrische Skulpturen im British Museum, Recklinghausen 1975, Abb. 139-164. 7 A. Parrot, Assur. Die mesopotamische Kunst vom XIII. vorchristlichen Jahrhundert bis zum Tode Alexanders des Großen, München 1961, Abb. 186-187. 8 Parrot 1961 (s. Anm. 7), Abb. 115-116.
Identität in altorientalischen Bildern, ein Widerspruch?
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Einheit, die einem Herrscher untertan war und die somit politisch einer Region angehörten. Aber zur Charakterisierung der fremden Gruppen gehörten für die assyrischen und persischen9 Könige wohl auch die Bevölkerung und ihre Sprache. „Ethnizität“ wurde in der Altorientalistik ab und an behandelt10. Der Begriff „Ethnizität“ wurde in letzter Zeit dekonstruiert und als zu unscharf und somit als substanzlos gebrandmarkt11. Sein Gebrauch scheint uns jedoch legitim, wenn er nur die (neutrale) Tatsache bezeichnet, dass Völker bildlich auseinandergehalten wurden, ohne dabei etwas über eine mögliche ethnische und/oder kulturelle Identität auszusagen12. In diesem Beitrag geht es ohnehin weniger darum, eine Person oder ein Volk anhand von spezifischen Merkmalen zu identifizieren, als zu überlegen, mit welcher Eigenart sich diese Person oder dieses Volk in der Antike bildlich darstellte. Dadurch wählten sie eine Identität aus, die sie dem antiken Betrachter offenbarten und verständlich machten. Wie ein Durchschnittsmensch vor einem unbeschrifteten oder einem beschrifteten Personenbild in den vorchristlichen Jahrtausenden reagierte, ist kaum rekonstruierbar. Sicherlich überwog Respekt vor jedem Abbild. Aber erkannte der Betrachter (sofort?) eine nicht be9
J. Gates-Foster, Achaemenids, Royal Power, and Persian Ethnicity, in: Jeremy McInerney (Hg.), A Companion to Ethnicity in the Ancient Mediterranean, Malden/MA-Oxford 2014, 175-193. 10 W. H. van Soldt (Hg.), Ethnicity in Ancient Mesopotamia. Papers Read at the 48th Rencontre Assyriologique Internationale, Leiden, 1-4 July 2002, Leiden 2005; als Beispiel M. Wasmuth, Tracing Egyptians outside Egypt: Assessing the Sources, in: K. Duistermaat/I. Regulski (Hg.), Intercultural Contacts in the Ancient Mediterranean. Proceedings of the International Conference at the Netherlands-Flemish Institute in Cairo, 25th to 29th October 2009, Leuven 2011, 115-124. 11 J. McInerney (Hg.), A Companion to Ethnicity in the Ancient Mediterranean, Malden/MA-Oxford 2014. 12 M. Roaf, Ethnicity and Near Eastern Archaeology: The Limits of Inference, in: W. H. van Soldt u.a. (Hg.), Ethnicity in Ancient Mesopotamia. Papers Read at the 48th Rencontre Assyriologique Internationale, Leiden, July 1-4, 2002, Leiden 2005, 306-315.
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Astrid Nunn
schriftete Stifterstatue oder die abgebildete Person auf einer nicht beschrifteten Stele? Wir heute haben jedenfalls – ohne geschriebenen Namen – Schwierigkeit, die Identität des Dargestellten zu erfassen, gleich ob es sich um ein Individuum oder eine Gruppe handelt. Eine individuelle Identifizierung ist lediglich über den Namen möglich. Was man durch das Abbild einer Person, auch durch ein namenloses, über die dargestellte Person erfährt, ist Thema dieses Beitrags. Zusammenfassend: Es gibt eine individuelle und eine Gruppenidentität. Letztere ist jedoch eher die Abgrenzung einer (ethnischen) Gruppe zu anderen Gruppen, als eine Selbstdefinition. Ersteres ist zugleich eine soziale Identität, mit der der moralische und soziale Status der Person verknüpft war. II. Das Selbst im Bild Das Geschlecht bildete vielleicht die allererste identitätsstiftende Unterscheidung im Alten Orient. Die jeweiligen identitätsstiftenden Merkmale waren für Männer und Frauen festgelegt. Auf den allermeisten Menschenbildnissen können wir auch noch heute entscheiden, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelt. Bildlich ausgedrückt sollte Schönheit Mann und Frau begleiten, überdies sollte ein Mann kräftig sein13. Das Paradebeispiel ist die Abbildung des vor Kraft strotzenden akkadischen Königs Naram-Sîn (2291-2236 v. Chr.), den I. Winter sogar als „sexy“ bezeichnete14.
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C. E. Suter, The Royal Body and Masculinity in Early Mesopotamia, in: A. Berlejung u.a. (Hg.), Menschenbilder und Körperkonzepte im Alten Israel, in Ägypten und im Alten Orient, Tübingen 2012, 433458. 14 I. Winter, Sex, Rhetoric and the Public Monument: The Alluring Body of Naram-Sîn of Agade, in: N. Boymel Kampen (Hg.), Sexuality in Ancient Art, Cambridge/Mass. 1996, 11-26, hier 11.
Identität in altorientalischen Bildern, ein Widerspruch?
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1. Name und Bild Ich beginne mit der Verbildlichung des „Selbst“. Kernelement des „Selbst“ ist damals wie heute sein Name. Der Name dient im Alten Orient zur Selbsterhaltung, so Karen Radners These, die sich bereits im Untertitel ihrer 2005 erschienenen Monographie „Die Macht des Namens“ andeutet.15 Namen waren mit Bedacht ausgewählt und wurden bei der Geburt vergeben16. Doch interessieren uns hier nicht die Namen an sich, sondern wie sie in Darstellungen von Menschen vorkommen. Das älteste erhaltene Flachbild, auf dem ein geschriebener Name, also eine Inschrift, mit dem dargestellten Individuum verbunden ist, ist die frühdynastisch-II-zeitliche sog. Ušumgal-Stele (Abb. 2). Der Steinblock ist 22 cm hoch, stammt vermutlich aus Larsa oder Umma und datiert in das 27. Jh. v. Chr. Darauf ist der Beamte Ušumgal zu sehen, der seiner Tochter
Abb. 2 15
K. Radner, Die Macht des Namens. Altorientalische Strategien zur Selbsterhaltung, Wiesbaden 2005. 16 Radner 2005 (s. Anm. 15), 27-33, 179.
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ein Gebäude schenkt. Die weiteren Personen haben ebenfalls Wohltaten von Ušumgal erfahren. Auch sie sind mit Namen versehen, die heute allerdings unlesbar sind. Ušumgal und seine Tochter nehmen die Höhe eines gesamten Registers, die weiteren Teilnehmer die eines halben Registers ein. Neben der Größe ist das andere Unterscheidungskriterium Ušumgals Gewand. Nur Ušumgal trägt einen Rock, der mit Zotten gesäumt ist. Der Rock der anderen Männer ist vorne offen. Größe und Gewand fallen auf, die Gesichtszüge aller Beteiligten sind hingegen identisch. Aus demselben Zeitraum stammen die ersten Statuen, die eine Inschrift mit einem Namen tragen (Abb. 3). Offenbar kannte man in der vorderasiatischen Kunst weniger Scheu als in anderen Kulturen, die Inschrift direkt auf dem Körper der Statue anzubringen, selbst dann, wenn der Sockel der Statue ausreichend Raum bot. Bemerkenswert ist auch die Technik der Beschriftung. Denn die Inschrift wurde eingemeißelt, und nicht nur geritzt oder aufAbb. 3 gemalt. Sie sollte also die Zeiten überdauern. Die äußere Gestaltung der Inschrift unterstreicht den gesellschaftlichen Ordnungsaspekt. Die Schriftzeichen sind, einem Stempel vergleichbar, sorgfältig in von Linien umrahmte Kästchen gesetzt. Die Inschriften enthalten ausnahmslos den Eigennamen des Stifters, zu Beginn nur durch Angaben über den Titel des Stifters, der meist einer Berufsangabe gleichkommt, präzisiert. Unter 36 Angaben in Mari finden sich als Stifter 8 Könige und 28 Privatpersonen. Die Privatpersonen sind „Beamte“ des weltlichen königlichen Stabs und gehören zur Verwaltung.
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Eine Ordnung gab es ganz offensichtlich auch in der Wahl der Stelle, wohin die Inschrift gesetzt wurde. Ursprünglich befand sich der Stiftername allein und hervorgehoben, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auf der rechten Schulter oder dem rechten Oberarm17. Warum dort? Spielt auch ein anderes Element eine Rolle als die Tatsache, dass die rechte Seite weltweit und bereits sehr lange als die positive und Gutes bringende Seite gilt? Wir wissen nur grob, wie die Beterstatuetten im Tempel – Hof und Cella – aufgestellt waren. Aufgrund ihrer Funktion als Vermittler zwischen Stifter und Gottheit kann man sich vorstellen, dass die Inschrift den Gottheiten und auch den Menschen zur Information dienen sollte. War es mit Inschrift den Göttern und den Menschen leichter zu erfahren, wer seine Statue gestiftet hatte? Im Laufe der Zeit wurden die Inschriften länger. Mit Beginn der Akkadzeit um 2300 v. Chr. wählte man zusätzlich die Vorderseite des Sockels und den hinteren Gewandsaum, wie auf der Statue von Manistusu18 zu sehen ist. Erstmals bei Gudea von Lagaš zu Beginn der Ur-III-Zeit um 2100 v. Chr. und dann ganz allgemein ab der altbabylonischen Zeit setzte man die Texte meist ausschließlich auf die Vorderseite. Ausnahmsweise steht bei der Gudea E-Statue (Louvre AO 6) die gesamte, sehr Abb. 4 lange Inschrift auf der Rückseite19. Jedoch bleibt trotz der sehr großen 17
E. A. Braun-Holzinger, Mesopotamische Weihgaben der frühdynastischen bis altbabylonischen Zeit, Heidelberg 1991, 219-302. 18 Braun-Holzinger 1991 (s. Anm. 17), 289. 19 F. Johansen, Statues of Gudea Ancient and Modern, Kopenhagen 1978, Tf. 9-12.
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Erweiterung der beschrifteten Fläche bei Gudea der Name auf der rechten Schulter. In der neuassyrischen Zeit wird sogar quer über die Brust geschrieben. Nur die sehr unebenen Teile des Gesichts, der Haare, der Arme und der Hände blieben über alle Zeiten hinweg von Inschriften frei. Die gesamte Vorderseite der Statue Assurnasirpals II. (883-859 v. Chr.) ist beschriftet, die Rückseite jedoch nicht. Diese längeren Texte berichten meist von der Bautätigkeit oder von militärischen Glanztaten. Die Herstellung von Statuen war streng reglementiert, sie waren Teil des Schöpfungsaktes. Sie sind nicht bloß als lebendig zu betrachten, sondern haben selbst die Grenze zur Göttlichkeit überschritten20. So wurde der abgebildete Mensch durch (s)einen Namen individualisiert, aber auch die Statue an sich musste als lebendes Wesen wie ein Individuum behandelt werden. Erstmals in Lagaš zeugte eine Statue von ihrem Eigenleben mit einem eigenen Namen. Der Name, den der Stadtfürst Entemena von Lagaš seiner Statue gab, ist weniger ein Eigenname als ein "Motto". Es lautet: "Entemena, den Enlil liebt" (Abb. 4)21. Noch bis etwa 1500 v. Chr. erhalten Statuen Namen. 2. Ausdruck der Identität des namentlich genannten Individuums a) Mesopotamien und Iran Die Betrachtung der Statuen, die wir durch die namentliche Nennung der abgebildeten Person identifizieren konnten, gibt uns Anlass, darüber nachzudenken, ob wir ein Individuum auch ohne Namen erkennen würden. Einige Wissenschaftler haben versucht, unbeschriftete Bildnisse uns bekannten Personen zuzuschreiben und sind in unlösbare Verstrickungen geraten. Betty L. Schlossman etwa hat zwischen 1978 und 1982 versucht, Portraitzüge
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Radner 2005 (s. Anm. 15), 60, 61. Liste in Radner 2005 (s. Anm. 15), 43-66.
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herauszuarbeiten. Ihre zwei Aufsätze erschöpfen sich in einer stilistischen Beschreibung von Köpfen22. Der sog. Kodex Hammurapi kann aufgrund der im Text erwähnten Eroberungen gegen das Ende der Regierungszeit Hammurapis datiert werden (1792-1750 v. Chr. nach der mittleren Chronologie). Die auf Abb. 5 gezeigte Stele weihte Iturašdum, Leiter des Silakku Kanaldistrikts, der Göttin Ašratum für das Leben des Hammurapi23. Die Stele ist leider nicht datiert. Der Dargestellte könnte Hammurapi oder Iturašdum sein. Da in den nachweisbaren Fällen stets der Stifter abgebildet ist, können wir davon ausgehen, dass nicht Hammurapi, sondern der Stifter Iturašdum selbst abgebildet ist. Wollte man den Kopf Abb. 5 von Šamaš, Hammurapi und Iturašdum auseinanderhalten, so fällt einem nur die Kopfbedeckung auf. Šamaš trägt als Gott eine Hörnerkrone, König und hoher Beamter tragen eine Breitrandkappe (Abb. 6). Die Gesichtszüge unterscheiden sich nicht. Prägendes Element ist der Zeitstil. Genau dasselbe gilt auch für wesentlich jüngere Bildwerke, etwa für die Köpfe auf den Reliefs Assurbanipals. Auf diesem Orthostaten unterscheiden sich König und Untertanen nur durch Kopfbedeckung, Haartracht oder Bart und nicht durch ihre Gesichtszüge24. 22
B. L. Schlossman, Portraiture in Mesopotamia in the Late Third and Early Second Millennium B.C., AfO 26, 1978/1979, 56-77 und Part II, AfO 28, 1981/1982, 143-170. 23 D. R. Frayne, Old Babylonian Period (2003-1595 BC), The Royal Inscriptions of Mesopotamia, Early Periods Volume 4, Toronto 1990, 359-360. 24 Barnett/Lorenzini 1975 (s. Anm. 6), Abb. 103-106, 116.
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Astrid Nunn
Abb. 6
Die Darstellung und daraus folgend die Erkennung eines Individuums läuft für uns heute in erster Linie über das Gesicht. Spätestens seit der Renaissance ist das Abbild von Personen – allen voran von Königen und Angehörigen der Elite – die naturgetreue Wiedergabe der charakteristischen und individuellen Züge des abzubildenden Individuums. In den Gesichtszügen erkennt man auch den Charakter des Dargestellten. Dies nennen wir ein „Portrait“. Bereits im Jahr 1947 schlug der klassische Archäologe E. Buschor 17 verschiedene „Bildnisstufen“ vor25, für die das Schicksal, das Leben und die geistige Auswirkung der abgebildeten Person prägend seien. Eine weitere Bearbeitung seines Buches folgte 1960. Buschor vertrat die These, dass dem „Innenportrait“ ein „Außenportrait“ gegenüberstehe, also Wiedergabe der „objektiven Züge“ und Art und Weise, wie Außenstehende den Porträtierten betrachteten. Ohne „die Tätigkeit des Intellekts“26 etwa, Geistigkeit, Gefühle und Schicksal, „Würde und Amt“27 mitausdrücken zu wollen, könne kein Abbild entstehen. Die Definition wurde also um ein Vielfaches erweitert. Nicht (nur) die Gesichtszüge, sondern das Leben – im Alten Orient vor allem durch die soziale Stellung charakterisiert – wurden nach Buschor gezeigt. Dafür gab es ein
25
E. Buschor, Bildnisstufen, München 1947, 5. E. Buschor, Das Portrait. Bildniswege und Bildnisstufen in fünf Jahrtausenden, München 1960, 79. 27 Buschor 1960 (s. Anm. 26), 142. 26
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genaues Instrumentarium, das freilich nicht immer rekonstruierbar ist. Erstmals unternahm Irene Winter einen wertvollen Versuch, das „Portrait“ im Alten Orient zu umschreiben, also die verschiedenen Elemente, die die dargestellte Person individualisieren, zu erläutern28. Aus der Ethnologie übernahm sie den Ausdruck „signature elements“ und
Abb. 7a
brachte ihn in die Vorderasiatische Archäologie ein. Diese Elemente können eine Inschrift sein. Zu den vestimentären Elementen gehören Kopfbedeckungen, etwa die Hörnerkrone für die Götter und besondere Trachten, etwa das den assyrischen Königen vorbehaltene Schalgewand Nr. 229. Attribute, die eine Person hält oder die die dargestellte Person umgeben (Abb. 7a), die allgemeine Haltung oder die Haltung des Armes, der Hand, der Beine oder 28
I. J. Winter, Art in Empire: The Royal Image and the Visual Dimensions of Assyrian Ideology, in: S. Parpola/R.M. Whiting (Hg.), Assyria 1995. Proceedings of the 10th Anniversary Symposium of the Neo-Assyrian Text Corpus Project, Helsinki 1997, 359-381; I. J. Winter, What/When Is a Portrait? Royal Images of the Ancient Near East, Proceedings of the American Philosophical Society 153/3, 2009, 254-270. 29 E. Braun-Holzinger, Zum Schalgewand Nr. 2, in: P. Calmeyer u.a. (Hg.), Beiträge zur Altorientalischen Archäologie und Altertumskunde. Festschrift für Barthel Hrouda zum 65. Geburtstag, Wiesbaden 1994, 31-41.
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eines Beines sowie die Anbringung oder Aufstellung an einen bestimmten Ort wie Thronsaal (Abb. 7b) oder Cella bieten ebenso die Möglichkeit einer identitätstiftenden Aussage.
Abb. 7b
Nicht der Charakter des Individuums wird also auf den Bildern betont, sondern seine sozialen Beziehungen und die Erfüllung sozialer, an bestimmte Rollen geknüpfter Verpflichtungen. So wurden im Laufe der altorientalischen Geschichte typisch königliche ikonographische Topoi entwickelt, die bisweilen auftauchten, verschwanden und erneut auftauchten. In ihrer Aussage eindeutig sind der König als Bauherr mit einem Korb auf dem Kopf30, der König, der mit einem Schirm vor der Sonne geschützt wird31 oder der König in Siegerpose, insofern er mit dem Fuß über einen Besiegten steigt32.
30
B. Nevling Porter, Images, Power, and Politics. Figurative Aspects of Esarhaddon’s Babylonian Policy, Philadelphia 1993, 77-117. 31 M. Roaf, Art. Schirm (parasol). B. Archäologisch, Reallexikon der Assyriologie und Vorderasiatischen Archäologie, 12. Band, 20092011, 191-195. 32 T. Ornan, A Silent Message: Godlike Kings in Mesopotamian Art, in: B. A. Brown/M. H. Feldman (Hg.), Critical Approaches to Ancient Near Eastern Art, Boston/Berlin 2014, 569-595, hier 579-583.
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Nach der frühdynastischen Zeit wurde der Kreis derjenigen, die eine Statue widmen durften, sehr eingeschränkt. Vor allem Königen wurde es nunmehr gestattet, ein Selbstbildnis aufzustellen. Dies ist eines der wichtigen Argumente, um den in Susa gefundenen Dioritkopf als königlich zu identifizieren (Abb. 8). Aus stilistischen Gründen wurde in der Forschung der Kopf mit Hammurapis Gesichtszügen auf dem Kodex verglichen und somit als Hammurapis Kopf betrachtet. Die feinen Falten im Gesicht verleiteten, dieses Gesicht als alt anzusehen. Unserem Ansatz folgend sind ein Urteil über die soziale Stellung und somit der königliche Status durchaus Abb. 8 möglich. Die Ähnlichkeit von Gesichtszügen hilft hingegen nicht weiter. Ohne Namen ist daher eine individuelle Identifizierung – zumindest heute – nicht möglich. Der Status, also eine soziale Identifizierung, geht aber auch ohne Namen. Das Gesagte zeigt bereits deutlich, dass individuelle Gesichtszüge keine Identität stiften, dafür aber Parameter, die, obwohl sie für uns äußerlich sind, konstituierend zur Persönlichkeit der dargestellten Person gehören. Stellen wir nun die Frage, ob es möglich ist, an Bildnissen, die durch einen Namen identifiziert sind, eine portraithafte Entwicklung zu erkennen. Lediglich in einem Bereich wurde dies in der altorientalischen Archäologie versucht. Dies ist leicht erklärbar. Denn um eine Entwicklung feststellen zu können, braucht man zum einen eine Mindestzahl von Darstellungen der betrachteten Person und zum anderen einen Entstehungszeitraum, der lang genug ist, um eine Entwicklung feststellen zu kön-
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nen. Nur eine einzige Statuengruppe eignet sich dazu. Es sind die rund 20 Statuen, die Gudea, Fürst von Lagaš in seinen Tempeln weihte33. Gudea regierte etwa 17-18 Jahre am Ende des 3. Jts. v. Chr.
Abb. 9 (Statue C)
Abb. 11 (Statue I)
Abb. 10 (Statue E)
Abb. 12 (Statue B)
Drei Autoren haben sich die Frage gestellt, ob man Lebensphasen erkennen oder zwischen einem jungen und einem älteren Gudea unterscheiden kann (Tabelle 1, siehe unten). Die Autoren wählten unterschiedliche Ansätze: Agnès Spycket ging in ihrem 1981 erschienenen Standardwerk über die altorientalische Rundplastik eher intuitiv vor und charakterisierte Gesichtszüge oder die allgemeine Statur. In der Beschreibung der Statuen fielen At33
F. Johansen, Statues of Gudea (s. Anm. 18); A. Spycket, La statuaire du Proche-Orient ancient, Handbuch der Orientalistik, Leiden 1981, 189-195.
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tribute wie „jung weil schlank und fein“ (Statue C/Abb. 9, M), jung „wegen der Gesichtszüge“ (Statue M, N jünger als O) oder „in voller Reife“, auch wegen des massiven Körperbaus (Statue E, F, I, P). Ebenso flossen die unterschiedlich schönen Hände als Kriterium ein (Statue B weniger schön als F), ohne dass dabei eine Altersabfolge klar benannt wurde34. Gudrun Colbow verglich in ihrer 1987 erschienenen Studie über Gudea die Proportionen der Statuen. Die Abmessung zahlreicher Elemente und die innere Struktur der Statuen ließen diese in drei Gruppen mit schlankeren und massiveren Proportionen einteilen. Die Statuen der Gruppe 2 waren gedrungen und tendierten mehr zum Naturnahen und Realen, die in Gruppe 1 eher zum Geometrischen35. Diese drei Gruppen ordnete die Autorin chronologisch und verband sie darüber hinaus mit zwei unterschiedlichen Werkstätten36. Die Figuren mit den gedrungeneren Proportionen entstanden in der Werkstatt 2 und sind dem Gott Ningišzida oder seiner Frau Geštinanna geweiht (Statue I/Abb. 11). Auf den schlankeren Figuren der Werkstatt 1 (Statuen B/Abb. 12, E/Abb. 10) tauchen auch andere Götter der Stadt Lagaš im Weihformular auf. Zwischen Gruppe 1 und 2 kann nach Colbow kein zeitlicher Abstand bestimmt werden, doch die Gruppe 3 ist nach Colbow jünger als Gruppe 1 und 2. Stilistische Eigenschaften, die bereits vor Gudea existierten, wurden in Werkstatt 2 weitergeführt. Diese kann somit als die ältere betrachtet werden, Gudea ist hier als junger Herrscher abgebildet. Die Werkstatt 1 ist demnach die jüngere und Gudea ist als älterer Herrscher abgebildet. Der dritte Ansatz stammt vom Assyriologen Horst Steible37. Er analysierte die Sprache der Weihformulare. 34
Spycket 1981 (s. Anm. 33), 190, 191, 193, 194. G. Colbow, Zur Rundplastik des Gudea von Lagaš, Münchener Vorderasiatische Studien V, München 1987, 29-44. 36 Colbow 1987 (s. Anm. 35), 66-76. 37 H. Steible, Versuch einer Chronologie der Statuen des Gudea von Lagaš, Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft (MDOG) 126, 1994, 81-104. 35
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Einige – ältere – Inschriften (Statuen M, N, O, Q) zeigen Rückgriffe auf Altsumerisches, danach entwickelte sich ein eigenes Weihformular (Statuen A, B, C, E, F, G, H, K). Die Statuen I und D markieren nach Steible den Übergang von der frühen zur reifen Phase. Spycket 1981, 190-194 Colbow 1987, 75-76
Jung C, M
Mitteljung Mittelalt N O
C, H, I, N, O, P, Q Werkstatt 2 Gruppe 2 und 3
Steible M, N, O, Q 1994, 103
Übereinstimmung
A, B, D, E, G, M Werkstatt 1 Gruppe 1 A, B, C, E, F, G, H, K
I, D Spycket/ Colbow B?, C, E
Nicht-Übereinstimmung I, M, N, O, P
Reifes Alter B?, E, F, I, P
Colbow/ Steible A, B, E, G, N, O, Q C, D, H, I, M
Spycket/ Steible B?, M, E, F C, I, N, O
Tab. 1: Chronologische Einordnung der Statuen des Gudea von Lagaš
Nicht alle Gudea-Statuen wurden von allen drei Autoren berücksichtigt. Für die genannten Statuen sind sich die Autoren jedoch kaum einig. Die Statue E wurde als einzige gleich eingeordnet. Für Statue B befanden alle Autoren, dass Gudea wahrscheinlich als reifer bis älterer Mann abgebildet ist. Statue N zeige ihn eher als jungen Fürsten. Obwohl der Ansatz, Statuen chronologisch nach Werkstätten oder Weihformular zu ordnen, als eine gute Möglichkeit erschien, ist das Ergebnis doch wenig überzeugend. Möglicherweise ließ Gudea seine Statuen in einem kurzen Zeitraum fertigen. Die Inschriften, die Gudea auf seine Statuen anbringen ließ, offenbaren hingegen die Elemente seiner Identität: Er sah sich und wollte sich als Tempelbauer, als gerechter Hirte seines Volkes und als
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von den Göttern geliebt sehen38. Seine Statuen drücken dies durch Solidität und Ernsthaftigkeit aus, den der äußerst wertvolle Diorit noch betont. Doch zurück zur Frage „Was bedeutet Abbild?“ aus der Perspektive der altorientalischen Quellen. Wie wurde Individualität in Bezug auf das Selbstbildnis wahrgenommen? Die 2012 erschienene Arbeit von Ulrike Steinert über die Vorstellungen von Körper und Geist im Akkadischen streift auch die Essenz der Statuen. In einer Beschwörungstafel, die während der Mundöffnungszeremonie einer göttlichen Statue verwendet wurde, lesen wir, dass „die Statue die Merkmale sowohl der Götter als auch der Menschen hatte ... Sie war großartig ... makellos“39. Somit werden die Qualitäten des Abgebildeten – hier eines Gottes – auf die Statue übertragen. Salmanassar III. hatte auf seine Statue schreiben lassen (839 oder 838 v. Chr.): „Ich habe diese gottgefällige, glänzende und wertvolle Statue aus Alabaster machen lassen, dessen Qualität zu den schönsten zum Ansehen gehört und dessen Erscheinungsbild ausgezeichnet ist ... Ich habe die Statue gemacht, damit mein Herr Adad sich ihrer ergötzt, wenn auch immer er sie anblickt“40. Die Statue war für den Adad-Tempel in Kurbail, einige Kilometer von Nimrud entfernt, gedacht. Der achämenidische König Darius I. ließ auf seine imposante Statue etwa 495 v. Chr. schreiben, sie sei „das genaue Abbild des perfekten Gottes“, d.h. des Königs selbst41. Salmanassar strebte an, eine Quelle der göttlichen Zufriedenheit zu sein, Darius betonte seine Gottähnlichkeit. Das Aussehen der assyrischen Könige war weithin dem göttli38
O. E. Dietz, Gudea and His Dynasty, The Royal Inscriptions of Mesopotamia, Early Periods Volume 3/1, Toronto 1997, 29-67. 39 Steinert 2012 (s. Anm. 3), 72. 40 A. K. Grayson, Assyrian Rulers of the Early First Millennium BC II (858-745 BC), The Royal Inscriptions of Mesopotamia, Assyrian Periods Volume 3, Toronto 1996, 61. 41 J. Yoyotte, La statue égyptienne de Darius, in: Jean Perrot (Hg.), Le palais de Darius à Suse. Une résidence royale sur la route de Persépolis à Babylone, Paris 2010, 256-299, hier 281.
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chen nachgebildet42. Könige selbst waren in Mesopotamien jedoch nur ausnahmsweise Götter. Statuen drückten Identität aus. Suchen wir nach einer Entwicklung der Gesichtszüge, so ist dies sicher erfolglos, da wohl weder Alter noch körperliche Eigenschaften den Stifter anspornten, eine ihn darstellende Statue zu weihen. Durch „signature elements“ wurden Kategorien, bisweilen soziale Kategorien und somit Idealbilder geschaffen. Dass es im alten Mesopotamien kein Portrait im Renaissance-Sinn gab, liegt also auch daran, dass das (lebende) Abbild einer Person zugleich ihr Idealbild abgab, das sich in den Formen der sozialen Ordnung manifestierte. Denn dieser mussten sich alle fügen, sie gab der Gesellschaft die normative Form und Richtung. Das Idealbild im alten Mesopotamien bestand sowohl auf moralischer wie auch auf bildlicher Ebene. In der nicht konsequent geführten Debatte um das Portrait hört man bisweilen, dass es doch Individualität im alten Mesopotamien gegeben habe. Dazu solle man nur die Köpfe aus Mari betrachten43. Sicherlich sind die Köpfe, die in Mari zwischen 2500 und 2300 v. Chr. skulptiert wurden, nicht identisch. Man könnte also annehmen, dass sich der Bildhauer um die individuelle Wiedergabe seines Auftraggebers bemüht hat. Ich glaube auch, dass dies seine Absicht war, jedoch in den beschriebenen vorgegebenen Bahnen. Der sozial-symbolische Zwang galt möglicherweise etwas weniger für die Privatplastik, um die es sich in Mari vorwiegend handelt, als für die der Könige und Götter. b) Ägypten An dieser Stelle sei mir ein Exkurs nach Ägypten gestattet. Als Nicht-Ägyptologin ging ich an das Thema mit der vorgefassten Vorstellung, dass die ägyptische Kultur
42
Winter 1997 (s. Anm. 28). J.-C. Margueron, Mari. Métropole de l’Euphrate au IIIe et au début du IIe millénaire av. J.-C., Paris 2004, 282-285. 43
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großartige Portraits hervorgebracht habe. Ich unterlag einer Täuschung. „Bestimmt, die ägyptischen Portraits sind keine Selbstbildnisse nach unserem Verständnis“44. Der Dreh- und Angelpunkt für eine Selbstdarstellung ist nach Jan Assmann in einem 1996 veröffentlichten Aufsatz der Glaube an die Unsterblichkeit. Dieser Glaube hat zur Folge, dass die Lebensdauer auf Erden vorwiegend durch zwei Aspekte geprägt ist: der Wunsch, im sozialen Gedächtnis der Gesellschaft weiter zu leben und die Prüfung zum ewigen Leben zu bestehen. Beides betont das Individuum und die individuelle Leistung. Und doch ist die ägyptische Kunst, wie auch die altorientalische, nur funktional, also nicht dekorativ. Jan Assmann fährt in seinem Aufsatz fort: In Ägypten gab es eine realistische Sprache in der Darstellung des Körpers (soma) – sie ist eine Technik – und eine symbolische Sprache (sema). Zur selben Zeit wie das äußerst realistische Abbild Ankh-Haf (4. Dynastie um 2500 v. Chr.) gab es in Gräbern die Ersatzköpfe, die viel weniger portraithafte Züge als Ankh-Haf tragen, dennoch alle unterschiedlich sind. Daraus schließt Assmann, dass diese „portraithaften Ersatzköpfe“ keine „extention of the body“ seien, sondern der Ausdruck für eine gegebene Situation, in dem Falle für den Ersatz einer verstorbenen Person in einem Grabdenkmal. Die Selbstthematisierung (soma) ist zugleich Selbsterhalt (sema)45. Ankh-Haf’s Realismus ist somit die gewählte und nötige Sprache des Selbsterhalts. Mit der 5. Dynastie ändern sich Sprache und Anspruch. Statuen mussten ausdrucksvoll sein und eine deutliche Botschaft übermitteln. Die Statuen der Pharaonen strahlten Glanz aus, die der Schreiber hörten zu. Nofretete (ca. 1340 v. Chr.) war in erster Linie die Verkörperung eines Schönheitsideals. 44
J. Assmann, Preservation and Presentation of Self in Ancient Egyptian Portraiture, in: Peter Der Manuelian (Hg.), Studies in Honor of William Kelly Simpson, Band 1, Boston 1996, 55-81, hier 55. 45 Assmann 1996 (s. Anm. 44), 61.
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Die Köpfe des Pharao Sesostris III. (ca. 1882-1842 v. Chr.) wurden häufig mit den Worten „expressiver Realismus“ beschrieben. Seine Gesichtszüge zeigten seine Persönlichkeit, liest man oft. Doch parallelisierte Jan Assmann den Gesichtsausdruck mit zeitgleichen Texten und stellte fest, dass Pessimismus und Strenge den ägyptischen Lebensstil zu Beginn des 2. Jahrtausends wiedergibt46. Des Weiteren erschien 2015 aus der Feder des Ägyptologen Simon Connor ein Aufsatz über die Statuen Amenemhets III. (ca. 1842-1795 v. Chr.)47. Amenemhets lange Regierungszeit erklärt die dementsprechend hohe Statuenzahl, die ihn darstellen. Diese können in zwei Gruppen eingeteilt werden: eine mit ernsten und steifen und eine mit humaneren und einfühlsameren Gesichtszügen. Lange erklärte man sich diesen Tatbestand durch Altersunterschied: letztere Gruppe würde Amenemhet jung und die ernsten Statuen ihn älter abbilden. Nach genauer Betrachtung der Fundorte konnte Connor jedoch zeigen, dass diese Auffassung „zu modern“ war. Beide Typen haben von Anfang an koexistiert. Die ernsten Portraits seien, so Connor, für den öffentlichen Raum gedacht und zeigten den Herrscher in seinem machtvollen und einschüchternden Aspekt. Die zweite humanere Gruppe sei zu privaten oder funerären Zwecken entstanden und bilde den Herrscher alterslos ab. All diese Beispiele zeigen, dass die oberflächlich für Realismus gehaltenen Züge auch in Ägypten in Wirklichkeit völlig kodifiziert waren. Status, architektonischer Kontext oder Zeitgeist spielten in Ägypten genauso wie im Alten Orient die primäre Rolle.
46
Assmann 1996 (s. Anm. 44), 74-76. S. Connor, The Statue of the Steward Nemtyhotep (Berlin ÄM 15700) and some Considerations about Royal and Private Portrait under Amenemhat III, in: G. Miniaci/W. Grajetzki (Hg.), The World of Middle Kingdom Egypt (2000-1550 BC), London 2015, 57-79. 47
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c) Hybride individuelle Identität Am Ende diesen Teils möchte ich noch zwei Punkte ansprechen: die hybride individuelle Identität (composite identities) und die Städtebilder. Als Beispiel für eine hybride individuelle Identität soll die Yehawmilk-Stele genommen werden, die den König von Byblos Yehawmilk zeigt (450-425 v. Chr. Abb. 13). Yehawmilk, den wir dank der Inschrift identifizieren können, trägt das Gewand der Elite am achämenidischen Hof. An seiner Identität als Levantiner ändert dieses fremde Gewand allerdings nichts. Er steht vor der äußerlich ägyptisierend dargestellten, aber tatsächlich lokalen Göttin Baalat und unter einer Flügelsonne. Das sind seine „signature elements“. Ob sie ihm nun auferlegt oder von ihm selbst gewählt wurden, soll hier nicht interessieren. Solche hybriden Kontexte, in denen lokale oder fremde Personen fremde oder lokale Elemente übernehmen, gibt es im Alten Orient sehr häufig. Sie sind ohne Name noch schwieriger zu deuten als monomorphe Identitäten.
Abb. 13
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d) Identität der Städtebilder Ähnlich strukturiert präsentiert sich die Abbildung von Städtebildern auf den neuassyrischen Reliefs. Von Städten wird lediglich ihre Kernaussage, die die Stadtmauer ist, abgebildet. Zusätzlich werden sie durch landschaftliche Elemente wie Schuppen für eine gebirgige Landschaft, Palmen für Babylonien, Meere, Flüsse und Kanäle oder personenbezogene Bekleidung, Haartracht und Tribute charakterisiert. Landschafts- und Bevölkerungsindikatoren kommen den „signature elements“ gleich, die es erlauben, die individuelle Identität einer Stadt im Bild zu zeigen. Um einer Verwechslung in der Szenendeutung vorzubeugen, fügten die Könige Sanherib (704-681 v. Chr.) und Assurbanipal erklärende Beischriften zum Bild zu. Und doch stellen wir fest: Die nicht lokalisierte elamische Stadt Hamanu erscheint auf den Orthostaten Assurbanipals in einer gebirgigen Landschaft48 und einmal an einem Fluss49. 3. Ausdruck der kollektiven Identität Einerseits waren Sumerisch und Akkadisch weniger identitätsstiftend als der geographische Ursprung, anderseits gab es doch eine Gruppenidentität, die sich vielschichtig in Kontrasten ausdrückte: etwa Städter gegen Nomaden, Einheimische gegen Fremde oder heutige gegen frühere Zeiten, wie bei alten Motiven, die wieder aufgegriffen wurden50. Vermutlich können wir die Elemente, die Fremde charakterisierten, sowohl als identitäts- wie auch als identifikationsstiftend bezeichnen. Ethnien/Völker wurden mit „signature elements“ versehen (s. oben). 48
Nordpalast Saal S‘, P. Matthiae, Ninive. Glanzvolle Hauptstadt Assyriens, München 1999, 166. 49 Nordpalast Saal F, Matthiae 1999 (s. Anm. 48), 160. 50 M. Roaf, Survivals and Revivals in the Art of Ancient Mesopotamia, in: P. Matthiae/F. Pinnock (Hg.), Proceedings of the First International Congress on the Archaeology of the Ancient Near East, Rome, May 18th-23rd 1998, Band II, Rom 2000, 1447-1462.
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Diese sind Gewänder, Frisuren, Haltungen (für Gefangene), Tiere und Landschaften51. Beenden wir unsere Überlegungen über kollektive Identität in den altorientalischen Abbildungen mit dem Beispiel des elamischen Königs Teuman. Teuman wurde als König der Elamiter einerseits als elamisches Individuum aber auch als Teil des elamischen Volkes betrachtet. Bildlich unterscheiden sich Teuman und die elamischen Prinzen von den normalen Elamitern durch ihre Kopfbedeckung und ihr Gewand, das den gesamten Körper bedeckt. Die anderen Elamiter tragen einen Rock, ihr Haar bleibt unbedeckt. Gesichtszüge unterscheiden sich nicht untereinander. Teuman erscheint mehrmals auf den Reliefs Assurbanipals (um 650 v. Chr.): als lebender unversehrter Elamiter und enthauptet. Sein Kopf wird von Assyrern in einem Wagen transportiert und hängt anschließend in Bäumen unweit von Assurbanipal auf der berühmten Gartenszene52. Die zwei abgeschnittenen Köpfe zeigen im Vergleich zu den anderen Elamitern einen kürzeren Bart und einen rasierten Vorderschädel ohne Haarband. Ihre Gesichtszüge sind etwas aufgedunsen. Hier wurde wohl ein Bild von den assyrischen Künstlern geschaffen, anhand dessen man eine bestimmte Person sofort identifizieren konnte. Die Frage der Identität seitens der Elamiter stellten die Assyrer sicher nicht. 4. Identität nach dem Tod Da sich Identität auch über andere Wege als über die Person selbst manifestiert, möchte ich als Archäologin den funerären Kontext erwähnen, der typisch für eine archäologische Tätigkeit ist und eng mit der Erkennung der Identität verbunden sein kann. In Gräbern werden in der Regel nicht die Bilder der Individuen, sondern die Individuen selbst gefunden. Enthält das Grab Beigaben, so kann man sagen, dass „das Grab einer verstorbenen Per51 52
Roaf 2005 (s. Anm. 12). Barnett/Lorenzini 1975 (s. Anm. 6), Abb. 142, 144, 151, 169, 171.
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son und die darin enthaltene Ausstattung im archäologischen Befund die engste mögliche Verbindung von einem Menschen und der ihn umgebenden materiellen Kultur darstellen“53. Denn die Beigaben sind mit Bedacht ausgewählt. Sie sollen das irdische Leben des Toten widerspiegeln und es weiterführen. Somit bezeugen sie auch Identität. Bei einem reichen männlichen Grab denkt man sofort an einen Fürsten oder König, bei einem reichen weiblichen Grab an die Gattin eines Königs. Die Funde aus dem Grab der Puabi (heutige Lesung pù-AD54) in Ur weisen nicht nur auf Reichtum und wunderbare Ästhetik, sondern vermitteln auch das Selbstgefühl der Verstorbenen. Puabi offenbarte sich auch nach ihrem Tod als schöne, attraktive und reiche Frau, die in ihrer sozialen Stellung den Göttern genehm gewesen war55. Reichtum verhalf zur individuellen Identitätsdarstellung56. In den letzten Jahrzehnten haben sich naturwissenschaftliche Methoden derart weiterentwickelt, dass sie inzwischen das wichtigste Standbein der Archäologie geworden sind und faszinierende Einblicke, auch zur Frage der Identität, erlauben. Das ausgeklügelte Ergebnis bezüglich eines namenlosen Individuums füge ich hier an. Es handelt sich um eine Person, die in der Schlacht von Wittstock, etwa 100 km
53
D. Gutsmiedl-Schümann, Rollenvorstellungen und Lebenswelten der Völkerwanderungszeit am Beispiel von Grabfunden aus ausgewählten Regionen West- und Nordwestnorwegens, in: Babette Ludowici (Hg.), Individual and Individuality? Approaches towards an Archaeology of Personhood in the First Millennium AD, Hannover 2013, 27-34, hier 27. 54 P. Michalowski, Art. Pû-abi, Reallexikon der Assyriologie und Vorderasiatischen Archäologie 11. Band, 2006-2008, 105-106. 55 Steinert 2012 (s. Anm. 3), 414, 466-468. 56 A. R. Gansell, Identity and Adornment in the Third-Millennium BC Mesopotamian ‘Royal Cemetery’ at Ur, Cambridge Archaeological Journal 17/1, 2007, 29-46.
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nördlich von Berlin in Brandenburg am 4. 10. 1636 starb und 2007 ausgegraben wurde57. Die Knochenanalyse ergab, dass der Tote ein 21 bis 24 Jahre alter und fast 1,80 m großer Mann war. Er hatte bereits viele Krankheiten und schwere Verletzungen erlitten. Störungen der Zahnschmelzbildung deuteten auf Mangelernährung in seinem 5. Lebensjahr. Seine oberen Atemwege waren wegen der feucht-kalten und rauchgeschwängerten schlechten Luft, in der er lebte, chronisch entzündet. Knochenneu- und missbildungen durch das viele Gehen und Tragen waren derart vielfältig, dass sie hier unerwähnt bleiben. Haar- und Augenfarbe wurden mittels einer Genanalyse ermittelt. Alle in den Knochen und Zähnen gespeicherten Lebensdaten (chemische Bestandsteile) konnten durch eine Isotopenanalyse der Molekularbiologie entziffert werden. In unserem Fall erlaubte die Strontium-Isotopenanalyse des Zahnschmelzes die Herkunft zu bestimmen. Der Soldat kam aus Schottland. Durch Forensik wurde sein Gesicht rekonstruiert. Nur noch sein Name fehlt. Man wird in Zukunft immer besser persönliche Lebenswege rekonstruieren können. Die Geschichte individualisiert sich auch ohne Text. Irgendwann wird man über das Individuum alles wissen außer seinem Namen. In diesem Stadium steht noch die Identifizierung im Vordergrund. Die Auswertung von Schmuck und Gewändern oder von an den Knochen ablesbaren Essgewohnheiten oder Krankheiten gestattet es aber auch, etwas über die Schichtzugehörigkeit und die Herkunft, somit über die soziale Identität, auszusagen.
57
S. Eickhoff/A. Grothe/B. Jungklaus, 1636 Ihre letzte Schlacht. Leben im Dreißigjährigen Krieg, Ausstellungskatalog, Archäologisches Landesmuseum Brandenburg, Berlin 2012, 158-163.
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III. Schluss Kommen wir zum Schluss auf den Titel dieses Beitrags „Identität in altorientalischen Bildern, ein Widerspruch?“ zurück. „Im Anfang steht der Name“. Er gestattet die einfachste Identifizierung, ist aber ebenso eine Identitätsbekundung. Denn auch im Alten Orient war es für den Abgebildeten wichtig, dass der normale Betrachter sofort erkannte, wer abgebildet ist. Identität in altorientalischen Bildern bedeutet ebenfalls keinen Widerspruch, wenn wir diese Frage aus der antiken Perspektive betrachten, wenn es also darum geht, einen Status zu erkennen. Kategorien wie Gott, König, fremd oder gefangen, wurden auch ohne Namen durch Attribute oder „signature elements“ erkannt. Während Könige, Fremde oder Gefangene nur als Gruppe erkannt werden können, kann ein Attribut einen Gott sogar individualisieren. „Identität in altorientalischen Bildern“ bildet jedoch einen Widerspruch, wenn wir eine portraithafte Wiedergabe von Individuen mit ihren charakteristischen Gesichtszügen und Charaktereigenschaften suchen. Portraits im Sinne der Renaissance gibt es im Alten Orient nicht. Bei der Bildersuche im Internet bin ich auf eine moderne Plastik von Gudea gestoßen (Abb. 14). Der „rote Gudea“ stammt vom tschechischen Künstler Michal Gabriel (geb. 1960 in Prag58). Beide Gudeas, der alte und der Abb. 14 moderne, sind identifizierte Individuen. Der antike Gudea wird 58
http://www.michal-gabriel.cz/mg_kniha_cz.pdf.
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durch seine Inschrift identifiziert und besitzt eine Identität, etwa als Fürst von Lagaš, als guter Hirte und beliebtes Subjekt der Götter (s. oben). Neben dieser Identifizierung besitzt der antike Gudea eine bildliche Identität, die er durch „signature elements“ (Inschrift, Art der Abbildung …) ausdrückt. Der moderne Gudea ist namenlos und kann nur durch den Vergleich seiner Gesichtszüge mit dem antiken Gudea identifiziert werden. Er ist also ein Portrait im Sinne der Renaissance, besitzt jedoch als moderne Interpretation keine eigene Identität mehr. Der „grün-schwarze Gudea“ und der „rote Gudea“ versinnbildlichen den unterschiedlichen Zugang zur Wiedergabe der Identität im Bild: über „signature elements“ oder über das charakterhafte Abbild der Gesichtszüge verbunden mit dem persönlichen Charakter. Abbildungsnachweis Abb. 1: Siegel des Arztes Ur-lugal-edin-na, Tello/antik Girsu, Paris, Louvre. Dominique Collon, First Impressions. Cylinder Seals in the Ancient Near East, London 1987, 147, Nr. 638. Abb. 2: Ušumgal-Stele, New York, MMA. Jutta Börker-Klähn, Altvorderasiatische Bildstelen und vergleichbare Felsreliefs, Baghdader Forschungen 4, 1982, Abb. 6. Abb. 3: Statue, die Šibum für das Leben des Königs Ikun-Šamagan geweiht hat, Mari, H. 1,14 m, Damaskus, Nationalmuseum. Margueron 2004 (s. Anm. 43), 302 Abb. 292. Abb. 4: Statue des Fürsten Entemena, Ur, H. 76 cm, Baghdad, Iraq Museum. Winfried Orthmann (Hg.), Der Alte Orient, Propyläen Kunstgeschichte Bd. 14, Berlin 1975, Abb. 31. Abb. 5: Iturašdum-Stele, 36,2 x 38,8 cm, Kunsthandel, London, British Museum. Orthmann 1975 (s. oben), Abb. 180. Abb. 6: Links und Mitte: Kopf des Gottes Šamaš (Seitenverkehrt) und von Hammurapi, Ausschnitte aus der Stele mit dem Kodex Hammurapi (Susa, H. 2,22 m), Börker-Klähn 1982 (s. oben), Abb. 113. Rechts: Kopf des Iturašdum, Ausschnitt aus Abb. 5. Abb. 7a: Til Barsip, Wandmalerei im Raum XLVII, Ausschnitt aus Parrot 1961 (s. Anm. 7), 103-104, Abb. 113.
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Abb. 7b: Til Barsip, Thronraum XLVII des Palasts. Abb. 7a auf François Thureau-Dangin/Maurice Dunand, Til-Barsip, Bibliothèque Archéologique et Historique (BAH) 23, Paris 1936, Tf. XXXIX montiert (A. Nunn). Abb. 8: Männlicher Kopf, H. 15 cm, Susa, Paris, Louvre. Agnès Benoit, Les civilisations du Proche-Orient ancien, Manuels de l’Ecole du Louvre, Paris 2003, 284, Abb. 129. Abb. 9: Gudea Statue C, Tello, H. 1,40 m, Paris, Louvre. Johansen 1978 (s. Anm. 19), Abb. 5. Abb. 10: Gudea Statue E, Tello, H. 1,40 m, Paris, Louvre. Johansen 1978 (s. Anm. 19), Abb. 9. Abb. 11: Gudea Statue I, Tello, H. 0,45 cm, Paris, Louvre. Johansen 1978 (s. Anm. 19), Abb. 38 und 37. Abb. 12: Gudea Statue B, Tello, H. 93 cm, Paris, Louvre. Johansen 1978 (s. Anm. 19), Abb. 19. Abb. 13: Yehawmilk-Stele, Byblos, Paris, Louvre, H. 1,14 m. Ausschnitt aus Pierre Bordreuil, Stèle de Yehawmilk, in: E. Fontan/H. Le Meaux (Hg.), Ausstellungskatalog « La Méditerranée des Phéniciens de Tyr à Carthage », Institut du Monde Arabe, Paris 2007-2008, Paris 2007, 48, 314, hier: 48. Abb. 14: Michal Gabriel, 2007, Gudea, combined techniques, H. 1,70 m. http://www.prague-art.cz/catalogue/authors/160-michal-gabriel/523gudea/foto/0/. http://www.michal-gabriel.cz/ars_2008/6.jpg.
Ulrike Steinert
Person, Identität und Individualität im antiken Mesopotamien
Textquellen aus Mesopotamien eröffnen verschiedene Blickwinkel auf antike Identitäten und Identitätskonzepte, die nicht weniger vielschichtig und komplex sind als heutzutage.1 Dieser Beitrag bietet einen kursorischen Überblick über die Grundzüge mesopotamischer Sichtweisen 1
Identität beinhaltet die Art und Weise, wie sich Individuen und Gruppen in Unterscheidung und Abgrenzung von anderen Individuen und Gruppen definieren, siehe R. Jenkins, Social Identity (London/New York: Routledge, 1996), 4. Der Begriff Identität umfaßt verschiedene Facetten wie Geschlecht, Alter, soziale Klasse, ethnische Zugehörigkeit. Identität wird ferner als ein sozialer, reflexiver und dynamischer Prozeß verstanden, der um die Konstruktion von Beziehungen der Ähnlichkeit und Differenz zwischen Individuen, sozialen Gruppen sowie zwischen Individuen und Gesellschaften/Gruppen kreist. Im Kontext der Analyse individueller Identität wird auch der Begriff des „Selbst“ gebraucht, welcher das Bewußtsein des Individuums für seine/ihre eigene Identität bzw. die Selbstsicht einer Person bezeichnet und typischerweise das Konzept moralischer Verantwortung einschließt, vgl. J. Rüpke, „Individualization and Individuation as Concepts for Historical Research“, in The Individual in the Religions of the Ancient Mediterranean (Hg. J. Rüpke; Oxford: Oxford University Press, 2013), 3-38, bes. 12; U. Steinert, Aspekte des Menschseins im Alten Mesopotamien. Eine Studie zu Person und Identität im 2. und 1. Jt. v. Chr. (Leiden: Brill, 2012), 9ff., 257ff. Obgleich manche Analysen geschlossen haben, die Idee des Individuums sei erst bei den Griechen und Römern voll entwickelt worden und nicht in vergleichbarer Weise in den altorientalischen Kulturen ausgeprägt, vgl. D.C. Snell, „The Invention of the Individual“, in A Companion to the Ancient Near East (Hg. D.C. Snell; Malden/Oxford: Blackwell, 2005), 357-369, zeigen jüngere Analysen, daß die mesopotamischen Quellen reichlich Evidenz für die Existenz personaler Konzepte bieten und daß ein Sinn für das eigene individuelle Selbst auch in dieser Kultur gegeben ist, s. B.R. Foster, „The Person in
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Ulrike Steinert
auf die menschliche Person, Identität und Individualität. Im Vergleich mit anderen Gesellschaften des vorderasiatischen und Mittelmeerraums soll der Frage nachgegangen werden, was aus Sicht keilschriftlicher Textquellen die menschliche Person konstituiert, wie Menschen in Mesopotamien ihre Identität konstruiert und definiert haben und auf welche Weise individuelle Identität in den Texten aus Mesopotamien artikuliert wird. I. Person, Körper und Selbst In den letzten Jahren haben sich altertumswissenschaftliche Disziplinen wie die Ägyptologie, Altorientalistik, Theologie und Religionswissenschaft verstärkt mit den Themen Person, Identität und Körper auseinandergesetzt.2 Mesopotamian Thought“, in The Oxford Handbook of Cuneiform Culture (Hg. K. Radner/E. Robson; Oxford: Oxford University Press, 2011), 117-139; B.R. Foster, „On Speculative Thought in Ancient Mesopotamia“, in The Adventure of the Human Intellect. Self, Society and the Divine in Ancient World Cultures (Hg. K.A. Raaflaub; Chichester: Wiley-Blackwell, 2016), 89-104, bes. 100f. Auch andere Gegenüberstellungen zwischen den altorientalischen und späteren Kulturen wie der griechisch-römischen Welt, insbesondere in Bezug auf Rationalität und geistige Denkstrukturen, wie etwa die Charakterisierung mesopotamischer Gelehrsamkeit als „prälogisch“, „vorwissenschaftlich“ und völlig der mythisch-religiösen Sphäre verhaftet, werden zunehmend der Kritik unterzogen, siehe F. Rochberg, „The Babylonians and the Rational“, in In the Wake of the Compendia: Infrastructural Contexts and the Licensing of Empiricism in Ancient and Medieval Mesopotamia (Hg. J.C. Johnson; Boston/Berlin: de Gruyter, 2015), 209-246; F. Rochberg, „A Critique of the Cognitive-historical Thesis of The Intellectual Adventure“, in The Adventure of the Human Intellect. Self, Society and the Divine in Ancient World Cultures (Hg. K.A. Raaflaub; Chichester: Wiley-Blackwell, 2016), 16-28. 2 Für das Alte Testament siehe z.B. B. Janowski, „Wie spricht das Alte Testament von ‚Personaler Identität‘? Ein Antwortversuch“, in Konstruktionen individueller und kollektiver Identität (I) (Hg. E. Bons/K. Finsterbusch; Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlagsgesellschaft, 2016), 31-61; J. Dietrich, „Sozialanthropologie des Alten Testaments. Grundfragen zur Relationalität und Sozialität des Menschen im alten
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Diese Forschungen beschreiben eine übereinstimmende Grundauffassung der menschlichen Person, welche den (anthropologischen) Identitätsbegriff in Ägypten, Mesopotamien und im Alten Testament auszeichnet. So sprechen Bernd Janowski für das Alte Testament als auch Jan Assmann für Ägypten von einem „konstellativen Personbegriff“.3 Konstellativ bedeutet in diesem Zusammenhang Israel“, in ZAW 127 (2015), 224-243; T. Staubli/S. Schroer, Menschenbilder der Bibel (Ostfildern: Patmos Verlag, 2014). Für einen interdisziplinären Überblick über Personen- und Körperkonzepte in der Antike siehe z.B. B. Janowski (Hg.), Der ganze Mensch. Zur Anthropologie der Antike und ihrer europäischen Nachgeschichte (Berlin: Akademie Verlag, 2012); K. Müller/A. Wagner (Hg.), Synthetische Körperauffassung im Hebräischen und den Sprachen der Nachbarkulturen (Münster: Ugarit-Verlag, 2014). Für Ägypten siehe z.B. J. Assmann, „Konstellative Anthropologie: Zum Bild des Menschen im alten Ägypten“, in Der ganze Mensch. Zur Anthropologie der Antike und ihrer europäischen Nachgeschichte (Hg. B. Janowski; Berlin: Akademie Verlag, 2012), 35-56; R. Nyord, Breathing Flesh. Conceptions of the Body in the Ancient Egyptian Coffin Texts (Copenhagen: Museum Tusculanum Press, 2009). Für Mesopotamien siehe Foster, „The Person in Mesopotamian Thought“ (s. Anm. 1); Steinert, Aspekte des Menschseins (s. Anm. 1); U. Steinert, „‚Zwei Drittel Gott, ein Drittel Mensch‘: Überlegungen zum altmesopotamischen Menschenbild“, in Der ganze Mensch. Zur Anthropologie der Antike und ihrer europäischen Nachgeschichte (Hg. B. Janowski; Berlin: Akademie Verlag, 2012), 59-81; J. Dietrich, „Individualität im Alten Testament, Alten Ägypten und Alten Orient“, in Menschenbilder und Körperkonzepte im Alten Israel, in Ägypten und im Alten Orient (Hg. A. Berlejung u.a.; Tübingen: Mohr Siebeck, 2012), 77-96. Für Griechenland und Rom siehe zuletzt die Beiträge von N. Jacoby, „Individuum und Kollektiv in der platonisch-aristotelischen Antike. Ein Versuch“, in Konstruktionen individueller und kollektiver Identität (I) (Hg. E. Bons/K. Finsterbusch; Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlagsgesellschaft, 2016), 63-86; J. Rüpke, „Religiöse Individualität in der Antike“ in Der ganze Mensch. Zur Anthropologie der Antike und ihrer europäischen Nachgeschichte (Hg. B. Janowski; Berlin: Akademie Verlag, 2012), 155-171, 173-198 und 199-219. 3 Janowski, „Wie spricht das Alte Testament von ‚Personaler Identität‘?“ (s. Anm. 2), 50ff.; B. Janowski, „Konstellative Anthropologie. Zur Konstruktion personaler Identität im Alten Testament“, in Der ganze Mensch (Hg. B. Janowski; Berlin: Akademie Verlag, 2012), 129152; Assmann, „Konstellative Anthropologie“ (s. Anm. 2), 35-56, sowie die folgende Anm.
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Ulrike Steinert
einerseits, daß der Mensch auf der Ebene des Körpers als eine aus verschiedenen aufeinander bezogenen Teilen zusammengesetzte Ganzheit verstanden wird, und andererseits, daß personale Identität maßgeblich durch Einbettung in soziale Beziehungskonstellationen hergestellt wird. Im Anschluß daran spricht Janowski auch von einem „synthetischen Personenkonzept“ oder „ganzheitlichen Menschenbild“ im AT: der Mensch wird als „leibgebundenes Sozialwesen“ aufgefaßt, das in zwei miteinander verkoppelten Sphären existiert: der Leibsphäre und der Sozialsphäre.4 Mesopotamische Texte spiegeln eine ähnliche Grundkonzeption wider, die sich in einer Tendenz zur additiven Betrachtungsweise äußert, bei der die Person als ein „Kompositwesen“ aus verschiedenen personalen und transpersonalen Bestandteilen beschrieben wird.5 Die Zusammengesetztheit der Person aus multiplen Komponenten läßt sich als „pluralistisch“ (bzw. synthetisch) und holistisch (bzw. ganzheitlich) zugleich charakterisieren. Ein entscheidender Zug der mesopotamischen Personenkonzeption besteht darin, daß der Gedanke eines dualistischen Gegensatzes zwischen dem Körper (als vergänglicher Hülle) und einer „Seele“ (als unsterblichem inneren Wesenskern) nicht ausgeprägt ist, und daß individuelle und soziale Charakteristika und Aspekte der Person in den mesopotamischen Texten ineinander verschränkt sind.6 4
Janowski, „Wie spricht das Alte Testament von ‚Personaler Identität‘?“ (s. Anm. 2), 50ff. Vgl. für Leibsphäre und Sozialsphäre auch J. Assmann, „Zur Geschichte des Herzens im Alten Ägypten“, in Die Erfindung des inneren Menschen. Studien zur religiösen Anthropologie (Hg. J. Assmann/T. Sundermeier; Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus G. Mohn, 1993), 81-113; J. Assmann, Tod und Jenseits im Alten Ägypten (München: C.H. Beck, 2001), 34-60, 116-159, bes. 54ff.; Assmann, „Konstellative Anthropologie:“ (s. Anm. 2), 35-56, der das ägyptische Verständnis der Person als „pluralistisch“ und „konstellativ“ beschreibt und von einem „Leib-Selbst“ und einem „Sozial-Selbst“ spricht. 5 Siehe G. Selz, „Composite Beings: Of Individualization and Objectification in Third Millennium Mesopotamia“, in ArOr 72 (2004), 33-53. 6 Steinert, Aspekte des Menschseins (s. Anm. 1), 121ff., 271ff., 332ff., mit weiterer Literatur. So begegnet bspw. in Mesopotamien der Typus
Person, Identität und Individualität im antiken Mesopotamien
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In Folge der fehlenden Dichotomie zwischen „Körper“ und „Geist/Seele“ wird der Körper eher „als Träger des Geistigen“ aufgefaßt, worauf bestimmte sprachliche Ausdrucksmuster hinweisen.7 So stehen im Sumerischen und Akkadischen bestimmte Körper- und Körperteilbezeichnungen als „Stellvertreterausdrücke“ für „Person, Selbst“.8 Das heißt, Körperteiltermini repräsentieren bestimmte Aspekte der Person: sie werden zur Bildung zahlreicher metaphorische und idiomatischer Ausdrücke herangezogen, mit denen verschiedene menschliche Fähigkeiten und Tätigkeiten beschrieben werden. Der metaphorische Gebrauch der Körperteiltermini bezieht sich dabei
der Körperseelen, d.h. Körperorganen werden seelische Qualitäten zugesprochen (sie repräsentieren bspw. Orte geistig-psychischer Vorgänge). Andererseits werden dem „Totengeist“ (gidim/eṭemmu), der postmortalen Existenzform der Person, auch physische Aspekte (z.B. das Bedürfnis der Nahrungsaufnahme) zugeschrieben. 7 Siehe G. Selz, „Was bleibt? I. Ein Versuch zu Tod und Identität im Alten Orient“, in Von Sumer bis Homer (FS für M. Schretter; Hg. R. Rollinger; Münster: Ugarit-Verlag, 2004), 577-594, bes. 580. 8 Siehe A. Wagner, „Körperbegriffe als Stellvertreterausdrücke der Person in den Psalmen“, in Beten und Erkennen. Über Psalmen (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 2008), 289-317, bes. 299ff.; A. Wagner, „Das synthetische Bedeutungsspektrum hebräischer Körperteilbezeichnungen“, in Synthetische Körperauffassung im Hebräischen und den Sprachen der Nachbarkulturen (Hg. K. Müller/A. Wagner; Münster: Ugarit-Verlag, 2014), 1-11. Zum Gebrauch der sumerischakkadischen Körperteiltermini anstelle der unabhängigen Personalpronomina, siehe z.B. M. Jaques, Le vocabulaire des sentiments dans les textes sumériens: Recherche sur le lexique sumérien et akkadien (Münster: Ugarit-Verlag, 2006); F. Karahashi, Sumerian Compound Verbs with Body-Part Terms (Chicago: University of Chicago, 2000); Steinert, Aspekte des Menschenseins (s. Anm. 1), 137ff.; U. Steinert, „Synthetische Körperauffassungen in akkadischen Keilschrifttexten und mesopotamische Götterkonzepte“, in Synthetische Körperauffassung im Hebräischen und den Sprachen der Nachbarkulturen (Hg. K. Müller/A. Wagner; Münster: Ugarit-Verlag, 2014), 73-106, bes. 75ff.; J.G. Westenholz, „The Body and the Mind in Mesopotamian Traditions“, in Menschenbilder und Körperkonzepte im Alten Israel, in Ägypten und im Alten Orient (Hg. A. Berlejung u.a.; Tübingen: Mohr Siebeck, 2012), 459-477.
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Ulrike Steinert
im Wesentlichen auf den Bereich der psychischen/geistigen Prozesse, der sprachlichen Äußerungen/Kommunikation und des Handelns. Die folgende Tabelle, welche das synthetische Bedeutungsspektrum akkadischer Körperteilbezeichnungen veranschaulicht, zeigt jedoch, daß nur ein Teil der Termini (insbesondere Kopf, Stirn, Hände, Füße, Kehle, Fleisch, Körperinneres) pars pro toto zur Bezeichnung der Person herangezogen wird:9
9
Körperteil
Akkadischer Terminus
Kopf
rēšu qaqqadu
Gesicht
panū
Stirn
pūtu
Auge
īnu
Nase Ohr
appu uznu
Bedeutung „Person, Selbst“ x x
x
(x)10
Synthetisches Bedeutungsspektrum Repräsentation des Individuums und des sozialen Selbst (Würde, Status, Ehre) Aufmerksamkeit, Zuwendung/Abwendung, Kommunikation Eigenverantwortung Blick; Zuwendung; Wissen, Kontrolle Hören; Weisheit, Wissen
Siehe dazu ausführlich Steinert, Aspekte des Menschseins (s. Anm. 1), 137ff.; Steinert, „Synthetische Körperauffassungen“ (s. Anm. 8), 75ff. Vgl. für ähnliche Verteilungsmuster im metaphorischen Gebrauch der Körperteiltermini in anderen Sprachen des Alten Orients und Mittelmeerraums, die gesammelten Beiträge in K. Müller/A. Wagner (Hg.), Synthetische Körperauffassung (s. Anm. 2); und B.J. Malina, „The Idea of Man and Concepts of the ‚Body‘ in the Ancient Near East“, in Menschenbilder und Körperkonzepte im Alten Israel, in Ägypten und im Alten Orient (Hg. A. Berlejung u.a.; Tübingen: Mohr Siebeck, 2012), 43-76, 54ff. 10 Das Wort appu findet sich gelegentlich anstelle von rēšu/qaqqadu „Kopf“ mit der Bedeutung „Person“ in Wendungen mit dem Verb kabātu „schwer, gewichtig sein“, mit denen das Ansehen oder der hohe Status einer Person bezeichnet wird, siehe Steinert, Aspekte des Menschseins (s. Anm. 1), 189, Anm. 214 und 215.
Person, Identität und Individualität im antiken Mesopotamien Mund
pû
Lippe Zunge
šaptu lišānu
Kehle/Hals Hand
napištu qātu rittu idu aḫu
x x
Fuß
šēpu
x
Bein Knie Schoß (+ Pudenda) Fleisch
purīdu birku sūnu
?12
šīru
x13
Inneres, Bauch,
Libbu
x
Arm, Seite
11
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Ausspruch, Befehl, Rede, Sprache; Autorität; Autorenschaft, Diktat Rede, Äußerung, Befehl Rede, Äußerung, Sprache Lebenskraft; Atem11 Handeln, Wirken; Macht, Kraft, Gewalt „Kraft“ Reichweite der Macht, Einfluß Bewegung(sfähigkeit); Status, Macht, Kontrolle schnelle Bewegung Bewegung; Schutz Schutz Leib; Empfinden, Begehren Gemüt, Sinn, Einstellung, Wünschen, Wollen,
Zum semantischen Spektrum des Wortes napištu zwischen Kehle/ Atem, Leben(skraft), Lebewesen hin zu einer Körper- bzw. Vitalseele s. Steinert, Aspekte des Menschseins (s. Anm. 1), 271ff.; Steinert, „Zwei Drittel Gott“, 74ff. (s. Anm. 2); Steinert, „Synthetische Körperauffassungen“ (s. Anm. 8), 79. 12 Vgl. W. Mayer, „Die Tätigkeiten und Regungen, Haltungen und Zustände des Menschen im Spiegel der Sprache zur akkadischen Idiomatik“, in OrNS 79 (2010), 304-341, bes. 329, 340 in der Wendung ina purīdī+Pronominalsuffix alāku „mit den (eigenen) Beinen gehen“ (und ähnlichen Phrasen) im Sinne von „persönlich gehen/jmd. aufsuchen“. Diese metonymische Bedeutungsnuance ist möglicherweise dem Gebrauch von šēpu „Fuß“ in ähnlichen Ausdrücken nachgebildet. Jedoch kommt šēpu in diesem Zusammenhang weitaus häufiger und mit einer größeren Zahl von Bewegungsverben vor (vgl. Mayer, a.a.O., 330f. sub 28b). Zudem kann šēpu übertragen den „sozialen Status“ einer Person bezeichnen, ein Gebrauch, der für purīdu nicht belegt ist. 13 Siehe zudem den einmaligen Gebrauch von lānu „Gestalt“ für „Person, Selbst“ in Assurbanipals Gebet an Nabû, dazu vgl. A. Livingstone, Court Poetry and Literary Mischellanea (Helsinki: Helsinki University Press, 1989), Nr. 13: 15f.: lānka ... ittanaḫḫaranni „deine Gestalt ... wendet sich immer wieder an mich“; s. bereits Mayer, „Die Tätigkeiten und Regungen“ (s. Anm. 12), 340.
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Ulrike Steinert
Herz, (Mutter)Leib
Begehren, Planen = Sitz des Denkens, Empfindens, Willens14 Tab. 1: Das synthetische Bedeutungsspektrum akkadischer Körperteiltermini
Die Aufstellung verdeutlicht, daß die Körpertermini in ihrem Gebrauch und semantischen Spektrum selten austauschbar sind, sondern daß jeder der Begriffe eine bestimmte „Facette des Menschseins“ ausdrückt.15 In literarischen Texten finden sich häufig Beschreibungen von Personen (z.B. Göttern), ihrer Erscheinung, Fähigkeiten und physischen Zustände (z.B. Krankheit), die in Reihungen von Aussagen bestehen, in denen nacheinander verschiedene Körperteile in den Blick genommen werden:16 Die Hexe hat wie eine Kesselpauke gegen mich gebrüllt, meinen Kopf, meinen Hals, meinen Schädel hat sie gepackt, meine Füße, mit denen ich einhergehen konnte, hat sie gepackt, meine Knie, mit denen ich über (Hindernisse) steigen konnte, hat sie gepackt, meine Arme, mit denen ich gewohnt war (Lasten) zu tragen, hat sie gepackt.
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Vgl. dazu weiter unten. So A. Wagner, „Wider die Reduktion des Lebendigen. Über das Verhältnis der sog. Anthropologischen Grundbegriffe und die Unmöglichkeit, mit ihnen die alttestamentliche Menschenvorstellung zu fassen“, in Anthropologische Aufbrüche. Alttestamentliche und interdisziplinäre Zugänge zur historischen Anthropologie (Hg. A. Wagner; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009), 183-199, bes. 191f., in Bezug auf den Gebrauch der alttestamentlichen Körperbegriffe, die verschiedene „Betrachtungsweisen“, „Facetten“ oder „Ansichten“ der Person zum Ausdruck bringen. Diese Charakterisierung trifft in gleicher Weise auf die akkadischen Körperbezeichnungen zu. 16 T. Abusch/D. Schwemer, „Das Abwehrzauber-Ritual Maqlû (‚Verbrennung‘)“, in Texte aus der Umwelt des Alten Testaments. Neue Folge, Band 4. Omina, Orakel, Rituale und Beschwörungen (Hg. B. Janowski/G. Wilhelm; Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2008), 128186, bes. 141 II 31-36; T. Abusch; The Magical Ceremony Maqlû. A Critical Edition (Leiden/Boston: Brill, 2016), 57. 235. 294. Siehe für ähnliche Textbeispiele aus Beschwörungen und Götterhymnen z.B. Steinert, „Synthetische Körperauffassungen“ (s. Anm. 8), 94ff. 15
Person, Identität und Individualität im antiken Mesopotamien
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Die Sicht des Körpers als einer Vielzahl von Teilen, Strukturen und Substanzen spiegelt sich auch auf anschauliche Weise in zweisprachigen lexikalischen Listen anatomischer und physiologischer Termini wider, die zum Kurrikulum der primären Schreiberausbildung gehörten.17 Die Komplexität der Person kann jedoch auch auf zwei oder drei komplementäre Körper(teil)termini reduziert sein, die in Parallelismus zueinander stehen und die Person als Ganzheit beschreiben. Z.B. bilden in sumerischen literarischen Texten saĝ-(du) „Kopf“ und bar „Körper, äußere Form“ oder alam „Gestalt; Körper; Statue“ ein zusammengehöriges Wortpaar; zudem wird šà/šag₄ „Inneres; Herz“ mit bar „Körper; äußere Form“ kontrastiert.18 In akkadischen Texten kommen ähnliche Wortpaare wie „Fleisch –
17
M. Sigrist/J.G. Westenholz, „The Measure of Man: the lexical series Ugu-Mu”, in Proceedings of the LIe Rencontre Assyriologique Internationale (Hg. R.D. Biggs et al.; Chicago: The Oriental Institute of the University of Chicago, 2008), 221-230; M.É. Couto-Ferreira, Etnoanatomia y Partonomia del cuerpo humano en sumerio y acadio. El lexico Ugu-mu (Barcelona: Universitat Pompeu Fabra, 2009). 18 Westenholz, „The Body and the Mind“ (s. Anm. 8), 472f., z.B. Electronic Text Corpus of Sumerian Literature Text 5.5.2 Z. 6: alam sud tuku … saĝ-du tuku „er der (einmal) einen mächtigen Körper hatte ..., er der (einmal) einen Kopf hatte“ (s. http://etcsl.orinst.ox.ac.uk). Eine ähnliche Gegenüberstellung von akk. muhhu „Schädel; Oberseite“ und lānu „Gestalt“ legt nahe, daß es mehr um die physische (vertikale) Zweiteilung des menschlichen Körpers in Kopf und Torso (mit den Extremitäten) geht, und wohl nicht um eine binäre Polarität von „Geist“ und „Körper“, wie Westenholz, a.a.O., 472, vorschlägt, s. Maqlû III 123 (Abusch/Schwemer, „Das Abwehrzauber-Ritual“ [s. Anm. 16], 151; Abusch; The Magical Ceremony Maqlû [s. Anm. 16], 100, 244, 311: ina muhhīša u lānīka lillikū „mögen [ihre Hexereien] über ihr Haupt und ihren Körper kommen!“). Obgleich die medizinischen und literarischen Keilschrifttexte manchmal eine Beziehung zwischen dem Schädel/Gehirn (muhhu) und dem „Verstand“ (ṭēmu) herstellen, indem sie Verletzungen oder Einwirkungen auf den Schädel mit dem Verlust des Verstandes verbinden (s. Westenholz, a.a.O., 465ff.; Steinert, Aspekte des Menschseins [s. Anm. 1], 254f., 385ff.), wird muhhu „Schädel“ dennoch nie als „Stellvertreterausdruck“ für die „Person, Selbst“ oder zum Ausdruck personaler Aspekte herangezogen wie andere Körperteiltermini (s. Tabelle 1). Ebenso werden geistige oder psychische Pro-
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Ulrike Steinert
Inneres“ (šīru/libbu), „Fleisch – Blut“ (šīru/damu), „Knochen (eṣemtu) – Fleisch/Blut“ zum Einsatz, um den Körper über seine wesentlichen Teile und Substanzen zu beschreiben.19 Zudem gibt es in sumerischen und akkadischen Keilschrifttexten Termini für den Körper als Ganzheit. Das Sumerische Wort su „Körper; Leib“ wird mit dem gleichen Keilschriftzeichen geschrieben wie kuš „Haut“; ebenso beziehen sich Termini wie (su)-bar „äußere Form; Körper“ auf den Körper als Gestalt, der durch eine äußere Hülle markiert ist, während šà/šag₄ „Inneres“ den Körper als Innenraum erfaßt.20 Nicht selten wird der Körper als ein durchlässiger Behälter (z.B. als Haus) konzeptualisiert, zesse nie im „Schädel“ lokalisiert: In mesopotamischen Texten sprechen Personen bspw. nie darüber, daß ihre Gedanken, Pläne, Absichten dem Schädel oder Gehirn entspringen, oder daß ihr Schädel Ort von Gefühlen wie Freunde, Trauer, Zorn ist – diese Vorgänge werden entweder im Körper/Leib als Ganzem oder im Körperinneren/bestimmten inneren Organen lokalisiert. 19 Siehe Steinert, Aspekte des Menschseins (s. Anm. 1), 129ff., 247ff., z.B. in der parallelen Nennung von ṭūb šīri „Wohlsein des Fleisches/ Leibes“ und ṭūb libbi „Wohlsein des Inneren“ in Grußformeln und anderen Texten. Ähnliche Parallelismen begegnen in Beschreibungen psychischer Vorgänge, in denen vorwiegend Termini für innere Organe/das Körperinnere begegnen. Durch diesen Sprachgebrauch wird m.E. keine feste Dichotomie oder Trichotomie zum Ausdruck gebracht, obgleich bestimmte Texte die Zusammengesetztheit der Person auf drei „Drittel“ (göttlicher bzw. menschlicher Qualität) reduzieren. So benennen die Menschenschöpfungsmythen jeweils verschiedene und unterschiedlich viele Komponenten, aus denen der Mensch erschaffen wurde, vgl. die Diskussion in Steinert, „Zwei Drittel Gott“ (s. Anm. 2), 62ff., 68ff., mit dem Vorschlag, die „Drittel-Natur“ der Person auf die materielle Qualität der multiplen Bestandteile zu beziehen (fest– flüssig–„windförmig“). 20 Ähnlich wie das akkadische Äquivalent libbu kann šà verschiedene innere Organe (Herz, Verdauungstrakt, Bauch, Mutterleib) bezeichnen und wird in zusammengesetzten Ausdrücken für unterschiedliche geistige und psychische Prozesse herangezogen, ähnlich wie ní „Selbst“, su „Fleisch; Körper“, ur₅/har „Leber; Lunge(n)“, s. J. AsherGreve, „The Essential Body: Mesopotamian Conceptions of the Gendered Body“, in Gender and History 9/3 (1997), 432-461; Karahashi, Verbs (s. Anm. 8); Jaques, Le vocabulaire (s. Anm. 8).
Person, Identität und Individualität im antiken Mesopotamien
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der dynamischen Prozessen unterliegt und dessen Öffnungen und Durchlässigkeit ihn anfällig für äußere Einflüsse machen.21 Im Akkadischen kann das Wort pagru sowohl für den lebenden Körper als auch für den Leichnam stehen, während das Wort zumru „Leib; Körper“ auch auf unbelebte Objekte wie Statuen und Kollektive wie das Land bezogen wird. Zudem bezeichnet šīru „Fleisch“ metonymisch den Körper und die gesamte Person.22 Zumru und šīru finden sich häufig in Beschreibungen der körperlichen Erscheinung sowie als Lokus psychisch-mentaler Vorgänge (z.B. Ärger, Kummer, Aggressionen).23 Zudem werden die Bezeichnungen für „Körper; Leib“ (zumru, pagru, šīru) synonym oder in Parallelismus zum Wort ramanu „Selbst“ gebraucht, was anzeigt, daß der Körper/Leib die gesamte Person als handelndes Subjekt und Träger von
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A. Zgoll, „Der oikomorphe Mensch: Wesen im Menschen und das Wesen des Menschen in sumerisch-akkadischer Perspektive“, in Der ganze Mensch. Zur Anthropologie der Antike und ihrer europäischen Nachgeschichte (Hg. B. Janowski; Berlin: Akademie Verlag, 2012), 83-106, beleuchtet die Metapher des Körpers/Menschen als Haus, wobei sie insbesondere auf die Bedeutung verschiedener „Seelen“ im Menschen und numinosen Wesen (Schutzgötter/geister) eingeht. Zur Konzeptualisierung des Körpers als Container in der babylonischen Medizin siehe auch M. Stol, „The Digestion of Food According to Babylonian Sources“, in Médecine et médecins au Proche-Orient ancien (Hg. L. Battini/P. Villard; Oxford: Archaeopress, 2006), 103119; U. Steinert, „Fluids, Rivers, and Vessels: Metaphors and Body Concepts in Mesopotamian Gynaecological Texts“, in Le Journal des Médecines Cuneiformes 22 (2013), 1-23; U. Steinert, „Körperwissen, Tradition und Innovation in der babylonischen Medizin“, in Körperwissen: Transfer und Innovation (= Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 25/1; Hg. A.-B. Renger/C. Wulf; Berlin: de Gruyter, 2016), 195-254; U. Steinert, „Concepts of the Female Body in Mesopotamian Texts on Women’s Healthcare“, in The Comparable Body: Imagination and Analogy in Ancient Anatomy and Physiology (Hg. J.Z. Wee; Leiden: Brill), im Druck. 22 Steinert, Aspekte des Menschseins (s. Anm. 1), 253f., siehe z.B. die metaphorischen Wendungen šīra sahālu „jmd. verärgern“ (wörtl. das Fleisch von jmd. durchbohren) oder šīra râmu „jmd. (das Fleisch) lieben“ in altbabylonischen Briefen. 23 Steinert, Aspekte des Menschseins (s. Anm. 1), 243ff., 249ff., 251ff.
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Bewußtsein, Erfahrungen, Gefühlen, Wissen repräsentieren kann.24 II. Das Körperinnere als personales Zentrum In sumerischen und akkadischen Texten ist es gleichermaßen typisch, geistige und kognitive Prozesse sowie Emotionen in bestimmten Körperteilen, insbesondere in inneren Organen zu verorten bzw. diese als Träger verschiedener Prozesse und Fähigkeiten zu beschreiben.25 Diese Tendenz läßt sich mit ähnlichen Mustern in anderen antiken Sprachen vergleichen. Insbesondere in ägyptologischen und alttestamentlichen Analysen wurde immer wieder auf die Bedeutung des „Herzens“ als „Zentralorgan“ (personales Zentrum) bzw. als „Beziehungsorgan“ rekurriert, dem eine vermittelnde und verbindende Rolle zwischen innerem Selbst und sozialer Umwelt zukommt.26 Obgleich im Alten Testament auch andere innere Organe (Leber, Nieren, Eingeweide, Mutterleib) auf ähnliche Weise mit psychisch-mentalen Prozessen verbunden sind, wird dennoch dem „Herzen“ (lēb/lebāb) die primäre Rolle als „zentrales 24
Steinert, Aspekte des Menschseins (s. Anm. 1), 21ff., 231ff. Siehe z.B. die Wendung pagra u ramana šūṣû „sich selbst (wörtl. den [eigenen] Körper und das [eigene] Selbst) retten“ in der altbabylonischen Version der Kutha Legende (I iii 15, s. J.G. Westenholz, Legends of the Kings of Akkade. The Texts [Winona Lake: Eisenbrauns, 1997], 267ff., Text 20); vgl. Maqlû III 144-145 (Abusch/Schwemer, „Das Abwehrzauber-Ritual“ [s. Anm. 16], 152; Abusch; The Magical Ceremony Maqlû [s. Anm. 16], 104, 244, 313): „Ich schlage deinen Schädel, ich verwirre deinen Verstand (ṭēmu), ich verstöre dein Inneres (libbu), (sodaß) du dich selbst (wörtl. dein Fleisch) vergißt“ (d.h. die Selbstkontrolle verlierst). Für ähnliche Beispiele, Steinert, a.a.O., 254f. 25 Siehe ausführlich Steinert, Aspekte des Menschseins (s. Anm. 1); Steinert, „Synthetische Körperauffassungen“ (s. Anm. 8), 75-94; Mayer, „Die Tätigkeiten und Regungen“ (s. Anm. 12), 304ff. 26 Siehe z.B. Janowski, „Das Herz – ein Beziehungsorgan. Zum Personenverständnis des Alten Testaments“, in Dimensionen der Leiblichkeit. Theologische Zugänge (Hg. B. Janowski/C. Schwöbel; Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlagsgesellschaft, 2015), 1-45; vgl. für Ägypten Assmann, Tod (s. Anm. 4), 34ff.
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Symbol“ für das Selbst, als Sitz des Wollens, Planens, Wissens, Fühlens sowie als vermittelndes Organ zwischen Innen- und Außenwelt zugeschrieben.27 Jedoch fällt in der Diskussion der Belege für lēb/lebāb im AT auf, daß unter ihnen selten Textstellen zu finden sind, in denen lēb/lebāb eindeutig auf das Herz als Organ eingegrenzt werden kann. Zumeist wird lēb/lebāb vage im Brustkorb oder Leibesinneren lokalisiert und manchmal auch mit der Nahrungsaufnahme assoziiert.28 Zudem finden sich keine Stellen, in denen das regelmäßige Schlagen des Herzens oder der Herzstillstand beschrieben wird, obgleich gelegentlich vom „Beben“, „Flattern“ (bei Angst und Beklemmung) oder „Hüpfen“ des Herzens (bei Freude) die Rede ist, was auf körperlich erlebte Empfindungen verweist.29 Die wichtigsten Kennzeichen von lēb/lebāb sind seine Verborgenheit im Inneren und seine zentrale Bedeutung für sämtliche Bewußtseinsprozesse.30 Im Bereich des Altägyptischen deuten sich ähnliche Problematiken an, denn dort finden sich zwei z.T. synonym gebrauchte Lexeme, die mit „Herz“ übersetzt werden: ib (verwandt mit der semitischen Wurzel lb, die in Hebr. lēb/lebāb und Akk. libbu vorliegt) und ḥ#ty). Der letztere 27
Janowski, „Wie spricht das AT von ‚Personaler Identität‘?“ (s. Anm. 2), 37ff. Bereits H.W. Wolff, Anthropologie des Alten Testaments (München: Kaiser Verlag, 1973), 68ff., sieht in lēb/lebāb den wichtigsten Terminus der alttestamentlichen Anthropologie. Siehe dazu auch M.S. Smith, „Herz und Innereien in israelitischen Gefühlsäußerungen. Notizen aus der Anthropologie und Psychologie“, in Anthropologische Aufbrüche. Alttestamentliche und interdisziplinäre Zugänge zur historischen Anthropologie (Hg. A. Wagner; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009), 171-181. Die hebräischen Termini lēb und lebāb sind die mit Abstand am häufigsten gebauchten anthropologischen Begriffe im AT (neben näfäš „Kehle; Leben(skraft); Verlangen“ (= das nach Leben verlangende Ich/Selbst“). 28 Wolff, Anthropologie (s. Anm. 27), 70ff.; Janowski, „Das Herz“ (s. Anm. 26), 10f. 29 Wolff, Anthropologie (s. Anm. 27), 70ff.; Janowski, „Das Herz“ (s. Anm. 26), 12. 30 Siehe Wolff, Anthropologie (s. Anm. 27), 73ff.; Janowski, „Das Herz“ (s. Anm. 26), 12ff., die emotionale, geistig-kognitive und voluntative Aspekte hervorheben.
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der beiden Termini scheint häufiger das Herz als Körperorgan zu bezeichnen, übernimmt jedoch zunehmend das metaphorische Bedeutungsspektrum des älteren Wortes ib als Lokus leiblicher Erfahrungen und Sitz von emotionalen und geistigen Prozessen, um ib mit der Zeit schließlich völlig zu verdrängen.31 In seiner Analyse dieser Termini bringt Rune Nyord nun die phänomenologische Unterscheidung zwischen dem (visuell/taktil wahrnehmbaren) Körper und dem (unmittelbar gespürten) Leib ins Spiel, und bezieht sich dabei auf den Philosophen Hermann Schmitz, der die Vorstellung von inneren Organen dem Körper zuordnet, während er die Erfahrung des Leibs mit dem Begriff „Leibesinseln“ beschreibt, als diffuse und verschwommene Zonen, deren Anzahl, Größe und Lage sich stetig verändert.32 Basierend auf dieser Differenzierung analysiert R. Nyord den Gebrauch der beiden ägyptischen Termini für „Herz“ und kommt zum Schluß, daß ib „Inneres“ primär eine Leibesinsel unbestimmter Lage im Torso bezeichnet (im Brustkorb oder Abdomen), manchmal aber auch einen Bestandteil des Körpers (Organ), dessen genaue Identität jedoch ungewiß bleibt (ib wird auch mit der Verdauung/Aufnahme von Speisen assoziiert). Der zweite Terminus ḥ#ty läßt sich genauer als „Herz“ bestimmen, als Körperorgan und als Leibesinsel, die in der Brust lokalisiert ist.33 Mit dem von R. Nyord für die ägyptischen „Herz“-Termini eingebrachten phänomenologischen Ansatz im Hin-
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Nyord, Breathing Flesh (s. Anm. 2), 55ff.; R. Nyord, „Taking Phenomenology to Heart. Some Heuristic Remarks on Studying Ancient Egyptian Embodied Experience“, in: Being in Ancient Egypt. Thoughts on Agency, Materiality and Cognition (Hg. R. Nyord/A. Kjølby; Oxford: British Archaeological Reports, 2009), 63-74, bes. 67ff. 32 H. Schmitz, Der Leib (= System der Philosophie II/2; Bonn: Bouvier, 1965), 25f. 54f., vgl. dazu die Diskussion in Nyord, Breathing Flesh (s. Anm. 2), 39ff.; „Taking Phenomenology to Heart“ (s. Anm. 31), 64ff. 33 Nyord, Breathing Flesh (s. Anm. 2), 112f.; vgl. auch Nyord, „Taking Phenomenology to Heart“ (s. Anm. 31), 67ff.
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terkopf lassen sich bestimmte für die sumerisch-akkadischen Bezeichnungen der inneren Organe und deren metaphorischen Gebrauch konstatierte Problematiken in einem neuen Licht betrachten. So sind eine Reihe dieser Termini nur mit großer Schwierigkeit auf ein bestimmtes Körperorgan eingrenzbar und ihre genaue Bedeutung scheint zu changieren (ähnlich den verschwommenen Leibesinseln). Häufig scheinen die Termini für innere Organe in ihrem metaphorischen Gebrauch austauschbar zu sein (z.B. im Spektrum an emotionalen Regungen, geistigen Fähigkeiten und Aktivitäten, das mit ihnen assoziiert wird).34 Die daraus resultierenden interpretativen Schwierigkeiten lassen sich anhand von Akk. libbu illustrieren. In bestimmten Texten bezeichnet libbu einen Bestandteil des Körpers, der abhängig vom Kontext mehr oder weniger klar mit verschiedenen Organen identifiziert werden. Eine Reihe von medizinischen und literarischen Texten, in denen vom Schlagen des libbu gesprochen wird, legen für diese Stellen die Bedeutung „Herz“ nahe.35 In einer größeren Anzahl 34
Vgl. zur Problematik der Identifizierung und Abgrenzung von anatomischen Termini im Sumerischen und Akkadischen A. Militarev/L. Kogan, Semitic Etymological Dictionary. Vol. I. Anatomy of Man and Animals (Münster: Ugarit-Verlag, 2000); Jaques, Le vocabulaire (s. Anm. 8); Stol, „Digestion” (s. Anm. 21), 103ff.; M. Sigrist/J.G. Westenholz, „The Brain, the Marrow, and the Seat of Cognition in Mesopotamian Tradition“, in Le Journal des Médecines Cunéiformes 7 (2006), 1-10; Couto-Ferreira, Etnoanatomia (s. Anm. 17); J.G. Westenholz, „The Tale of Two Little Organs: the Spleen and the Pancreas“, in Le Journal des Médecines Cunéiformes 15 (2010), 2-24; M.N. Al-Rashid, Mental Symptoms in the Akkadian Diagnostic Handbook. A Study of Patterns in the Description of Depression, Anxiety and Madness (Unpubl. Dissertationsschrift; Oxford, 2014), 175ff.; B. Böck, „Die Hymne Ninisina A Z. 30–42 mit einem Exkurs über ša₃ ‚Bauch, MagenDarm-Trakt‘ als Sitz der Gefühle“, in Babel und Bibel 8: Studies in Sumerian Language and Literature. Festschrift Joachim Krecher (Hg. N. Koslova et al.; Winona Lake: Eisenbrauns, 2014), 101-122; Steinert, „Körperwissen“ (s. Anm. 21), 205ff. 35 Ein altbabylonischer diagnostischer Text spricht davon, daß das libbu des Patienten ständig heftig pocht (wörtl. „springt“, šahāṭu GtnStamm, auch gesagt von heftig pulsierenden Adern), vgl. N.P. Heeßel, Babylonisch-assyrische Diagnostik (Münster: Ugarit-Verlag, 2000),
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von Belegen bezeichnet libbu jedoch den Verdauungstrakt bzw. allgemein die Bauchgegend; libbu bildet in diesem Kontext den Ort für Nahrungsaufnahme und Verdauungsprozesse.36 In diesem Zusammenhang steht libbu auch neben karšu „Magen; Bauch“, irru „Darm“ (Plur. „Eingeweide“) und qerbū „Eingeweide“ (Pluralform von qerbu „(Leibes)-Inneres“).37 Schließlich kann libbu den „Mutterleib“ bezeichnen und wird synonym zu Termini für den 97; P. Attinger, „La médicine mésopotamienne“, in Le Journal des Médecines Cunéiformes 11-12 (2008), 17f., LB 2126 Z. 12’. In literarischen Texten finden sich die Verben nakādu und tarāku „schlagen, pochen“ zusammen mit libbu für den Herzschlag (letzteres auch für das in Panik oder Verausgabung heftig pochende Herz), siehe CAD N/1, 153; A.R. George, The Babylonian Gilgamesh Epic (Oxford: Oxford University Press, 2003), 654f. Z. 58; CAD T, 203ff. 36 Siehe z.B. T.J. Collins, Natural Illness in Babylonian Medical Incantations (Ph. Dissertation, Chicago: University of Chicago, 1999), 75ff., 124ff.; D.S. Cadelli, Recherche sur la médecine mésopotamienne. La série šumma amêlu suâlam maruṣ (Doctorat de l’Université de Paris I Panthéon-Sorbonne; Paris, 2000), 289ff.; Stol, „Digestion“ (s. Anm. 21), 103ff.; Böck, „Die Hymne Ninisina A“ (s. Anm. 34), 113ff.; Steinert, „Körperwissen“ (s. Anm. 21), 210. In manchen Kontexten wird mit libbu die Bauchgegend von außen bezeichnet, z.B. wenn in physiognomischen Omina Körpermale auf dem libbu konstatiert werden (diese Einträge folgen in vertikaler Richtung den Beobachtungen an der „Brust“, irtu). Vgl. auch das Geburtsritual BAM 248 iii 52f. und iv 5, in denen der Heiler ein Rohr oder einen Stab über den Bauch der Gebärenden bewegt, s. J. Scurlock, Sourcebook for Ancient Mesopotamian Medicine (Atlanta: SBL Press, 2014), 598ff. 37 Vgl. zu diesen Termini die akkadischen Wörterbücher (AHw; CAD), Militarev/Kogan, Semitic Etymological Dictionary (s. Anm. 34); Stol, „Digestion“ (s. Anm. 21), 103ff. Die semantische Unschärfe dieser Termini ähnelt dem für libbu beschriebenen Muster. Abhängig vom Kontext steht karšu für den Magen (und für den ersten Magen bei Wiederkäuern, den Pansen), den Bauch oder Mutterleib (CAD K, 223f.). Das Wort qerbu bezeichnet primär das Innere verschiedener Objekte und steht lediglich im Plural für den Bauch(raum) mit den Eingeweiden/Gedärmen (in medizinischen Texten, Opferschau- und teratologischen Omina meist mit dem Logogramm ŠÀ.MEŠ geschrieben). Ebenfalls im Plural steht irru (uzušà) in Opferschautexten für die Eingeweide, insbesondere den Darm (vgl. die lexikalischen Gleichungen uzušà-nigin = irrū sāhirūtu = tīrānu „die gewundenen Gedärme“ und uzušà-gi₆ = irru ṣalmu = ṭulīmu „Milz“ („schwarze[r Teil
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Uterus gebraucht.38 Auch in Keilschrifttexten, die sich mit der Anatomie von Tieren beschäftigen oder darauf Bezug nehmen wie Eingeweideschautexte, teratologische Omina und Ritualtexte, in denen die Schlachtung von Tieren beschrieben wird, weist das Wort libbu eine ähnliche Polysemie auf. In manchen Belegen ist mit libbu ein bestimmtes Körperorgan gemeint, während das Wort an anderen Stellen allgemeiner den Bauch(raum) mit den inneren Organen bezeichnet.39 der] Eingeweide“, sowie die Ausdrücke irru qatnu/kabru „Dünndarm/ Dickdarm“). In medizinischen Kontexten können beobachtete oder vom Patienten wahrgenommene Symptome und Erkrankungen auch genauer im Ober- oder Unterbauch (rēš/šaplān libbi) oder am „MagenMund“ (pī karši = Zwölffingerdarm) lokalisiert sein; vgl. Steinert, „Körperwissen“ (s. Anm. 21), 231, 235f. 38 Siehe U. Steinert, „Uterus“, in Reallexikon der Assyriologie und Vorderasiatischen Archäologie, Bd. 14/7-8 (Hg. M.P. Streck et al.; Berlin/New York: de Gruyter, 2016), 513ff. §1.2; Steinert, „Concepts of the female body“ (s. Anm. 21). 39 In den altbabylonischen Eingeweideschautexten wurde eine größere Anzahl von inneren Organen und anatomischen Strukturen in die Divination einbezogen als in den Textserien aus dem 1. Jt. v. Chr., welche sich hauptsächlich auf die Betrachtung der Leber, des Dickdarms und der Lungen konzentrieren. So sind altbabylonische Kompendien bekannt, die sich allein mit dem Herz (libbum) beschäftigen, s. U.S. Koch, Mesopotamian Divination Texts: Conversing with the Gods (Münster: Ugarit-Verlag, 2015), 84, 86 mit Anm. 189; CAD L, 167 sub 1b-2’, z.B. CT 10, 42 iv 52 Unterschrift: „94 (Omina zum) Herz“ (libbum). Opferschauprotokolle konstatieren zudem, daß das Herz (und andere Organe wie die Lunge) ein gesundes Aussehen hatte (libbu šalim, siehe S.M. Maul, Die Wahrsagekunst im Alten Orient [München: C.H. Beck, 2013], 61, 63 sowie 144f. zum Herz in der Vogel-Eingeweideschau). In Eingeweideschautexten des 1. Jt. v. Chr. wird das Herz seltener erwähnt, siehe U. Jeyes, Old Babylonian Extispicy (Leiden: Nederlands Inst. voor het Nabije Oosten, 1989), 77ff.; N.P. Heeßel, Divinatorische Texte II. Opferschau-Omina (Keilschrifttexte aus Assur literarischen Inhalts 5; Wiesbaden: Harrassowitz-Verlag, 2012), 7, 219f. KAR 439 Vs. ii 13 (Mittelassyrisch); 230ff. (KAR 151 Vs. 49); U.S. Koch, Secrets of Extispicy. The Chapter Multābiltu of the Babylonian Extispicy Series and Niṣirti bārûti Texts mainly from Aššurbanipal’s Library (Münster: Ugarit-Verlag, 2005), 78ff., 259 Z. 42, wo die Leber „kompakt“ (kupputat) ist wie das Herz (šà/libbu). Die Bezeichnung talli libbi „Querbalken des Bauchs“ (= Zwerchfell) verrät jedoch, daß libbu
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Angesichts des semantischen Spektrums von libbu als Körperteil oder -region ist zu fragen, was genau Sprecher (bzw. Schreiber) des Akkadischen mit dem Wort libbu assoziiert haben, wenn sie es in idiomatischen Wendungen für innere Regungen und Prozesse einsetzen. So zeigt sich in der altorientalistischen Tradition der Übersetzung und Beschäftigung mit dem Thema die Tendenz, libbu als Sitz psychologischer Vorgänge mit dem Herzen zu korrelieren (entsprechend den sprachlichen Gepflogenheiten in den europäischen Zielsprachen), während sie libbu in medizinischen Kontexten, in denen von physiologischen Vorgängen die Rede ist, mit dem Magen-Darm-Trakt oder Bauchraum identifizieren.40 Jedoch hat jüngst B. Böck auf einzelne Textstellen in literarischen Texten hingewiesen, in denen sich im „Herzen“ (šà, libbu) verortete Emotionen nicht immer für das Herz steht, bspw. wenn davon die Rede ist, daß „das Innere/der Bauch“ (libbu) des Tieres geöffnet wird, z.B. Koch, Secrets of Extispicy (s. Anm. 39), 284: 86; 384: 57. In teratologischen Omina steht libbu häufiger für den Bauch, z.B. wenn beobachtet wird, daß der Bauch (libbu) des neugeborenen (Babys/Tiers) offen ist, sodaß die Gedärme (irrū) sichtbar sind, s. N. De Zorzi, La serie teratomantica Šumma Izbu (Padova: S.A.R.G.O.N. Editrice e Libreria, 2014), Vol. I 152 sowie Vol. II Šumma izbu Tafel 3: 64, 16: 41’, 45’. Wenn jedoch libbu in einer Reihe von inneren Organen aufgezählt wird, könnte es spezifisch für das Herz stehen (z.B. Šumma izbu Tafel 17: 32’: „Wenn die Mißgeburt weder Magen (tākaltu), Herz (libbu) noch Lunge (hašû) hat“). Siehe auch die Erwähnung von libbu unter bestimmten Fleischstücken von Schlachttieren, CAD L, 167 sub 1b-3’. 40 Siehe z.B. H. Holma, Die Namen der Körperteile im AssyrischBabylonischen. Eine lexikalisch-etymologische Studie (Leipzig: Harrassowitz, 1911), 70; E. Dhorme, L’emploi métaphorique des noms de parties du corps en hébreu et en akkadien (Paris: Geuthner, 1963), 128ff.; Jaques, Le vocabulaire (s. Anm. 8), 10ff. passim; Mayer „Die Tätigkeiten und Regungen“ (s. Anm. 12), 332ff. (übersetzt libbu konsequenterweise mit „Inneres“); Böck, „Die Hymne Ninisina A“ (s. Anm. 34), 111ff. Ein weiterer Topos in Keilschrifttexten, der auf die Assoziation zwischen Furcht und dem Magen-Darm-System hinweist, ist das Entleeren der Gedärme in Situationen größter Panik, aber ebenso wird häufig im Kontext von Furcht vom heftigen Pochen des Herzens gesprochen, siehe Steinert, Aspekte des Menschseins (s. Anm. 1), 246, für Beispiele siehe auch CAD N/1, 153 s.v. nakādu sub 1b; CAD T, 204 s.v. tarāku sub 2a.
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wie Furcht gleichzeitig in physischen Symptomen im Bauch oder Magen-Darm-Trakt manifestieren.41 Ganz grundsätzlich ergibt sich zudem für die medizinischen Texte die Frage, ob bestimmte metaphorische Wendungen mit libbu wie z.B. hīp libbi „Herz-Brechen“, die zum Ausdruck für Gefühle wie Furcht oder Niedergeschlagenheit geläufig sind, als physiologische oder psychologische Beschwerden zu interpretieren sind.42 In ihrer Analyse des Ausdrucks hīp libbi in den medizinischen Texten kommt M. al-Rashid zu dem Schluß, daß hīp libbi eine Störung des psychologisch-emotionalen Gleichgewichts bezeichnet, die insbesondere an die Empfindung von Furcht oder Beklemmung gekoppelt ist, welche mit dem Organ Herz als Sitz von Emotionen/Gedanken assoziiert wird und deren physiologische Auswirkungen vom Patienten im Torso lokalisiert werden.43 41
Böck, „Die Hymne Ninisina A“ (s. Anm. 34), 111-119, wo sie insbesondere auf eine Stelle im Atramhasīs-Mythos (Tafel III ii 43) verweist, in welcher der Sintflutheld in Furcht und Panik das Kommen der Flut erwartet: sein „Inneres“ bricht (iheppīma libbašu) und er erbricht Galle, siehe W.G. Lambert/A.R. Millard, Atra-ḫasīs. The Babylonian Story of the Flood (Oxford: Clarendon Press, 1969), 92f.; Böck, a.a.O., 115f. 42 J. Scurlock/R.B. Andersen (Diagnoses in Assyrian and Babylonian Medicine (Urbana/Chicago: University of Illinois Press, 2005), 168f., 370f., s. auch Scurlock, Sourcebook (s. Anm. 36), 634, verstehen hīp libbi im eingeschränkt physiologischen Sinn („crushing sensation in the chest/in the heart“) als Zeichen eines Herzinfarkts. Dagegen plädieren die Mehrzahl der Analysen für eine psychologische und metaphorische Bedeutung der Wendung, in der libbu für das psychisch-mentale Zentrum der Person steht. So schlagen E. Ritter und J.V. Kinnier Wilson, „Prescription for an Anxiety State: A Study of BAM 234“, in Anatolian Studies 30 (1980), 23-30, bes. 25, „mental breakdown“ als Übersetzung vor, während M. Stol, Epilepsy in Babylonia (Gronigen: Styx, 1993), 27ff., eine Parallele zwischen „heartbreak“ und der Melancholie zieht. Vgl. auch T. Abusch/D. Schwemer, Corpus of Mesopotamian AntiWitchcraft Literature. Volume 1 (Leiden: Brill, 2011), 150ff., und M.J. Geller (Melothesia in Babylonia: Medicine, Magic, and Astrology in the Ancient Near East (Boston: de Gruyter, 2014), 3, die für die Übersetzung „Depression“ plädieren. 43 Al-Rashid, Mental Symptoms (s. Anm. 34), 199ff., bes. 206f.: „… given the consistent overlap in the heart’s function as a physiological
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In Anbetracht der fehlenden Dichotomie zwischen Körper und Geist/„Seele“ in Mesopotamien scheinen Aussagen über psychische Vorgänge in Körperorganen stets zugleich auf physisch lokalisierte und erlebte Empfindungen zu verweisen: Emotionen werden sprachlich dort verortet, wo sie im Körper gespürt werden.44 Doch mag man fragen, ob die verschiedenen sumerisch-akkadischen Körperter-
organ and as the seat of psychic life, it may not necessarily be useful to separate these meanings, to extract the mental from its physical location. It is more useful to understand the libbu as an organ that is both the physical site of the experience of discomfort, distress, or disorder, as well as the figurative (or perhaps literal) seat of thought and emotion. ... In other words, “heart” in this expression can be understood to refer to the interior of the torso – the literal heart, as well as the belly and chest area – and to the function of this part of the body as the seat of thought and emotion.“ Siehe auch ibid., 216f.: „The multi-faceted conception of the libbu, which is embedded into beliefs about the body and medicine insofar as can be deduced from the textual evidence, provides a framework for focusing on the libbu as the site of distress and, in particular, for denoting anxiety with a compound expression built on the libbu: namely, ḫīp libbi ‘Heartbreak’.“ 44 Vgl. in diesem Kontext Untersuchungen aus der Medizinanthropologie, die den Zusammenhang zwischen sprachlichen Metaphern, leiblichen Erfahrungen, kognitiven Prozessen und kulturellen Faktoren in der Konzeptualisierung von psychischen Erkrankungen untersuchen. B.J. Good, „The Heart of What’s the Matter: The Semantics of Illness in Iran“, in Culture, Medicine and Psychiatry 1 (1977), 25-58, beschreibt einen mit der umgangssprachlichen Krankheitsbezeichnung „Herzleiden“ assoziierten Symbol-Komplex, mit dem Menschen in der iranischen Kultur konkrete physische Empfindungen verbinden, die mit Gefühlen von Angst, Druck oder Beklemmung gepaart sind. Der Verweis auf das „Herzleiden“ ermöglicht dem/r Betroffenen, seinem/ihrem Unbehagen über seine/ihre persönliche und soziale Situation in einer kulturell akzeptierten Form Ausdruck zu verleihen. Aus dem lateinamerikanischen Kulturraum ist ein ähnlicher Zusammenhang für die kulturspezifische Krankheitsbezeichnung nervios herausgearbeitet worden, s. D.L. Davis/S.M. Low, Gender, Health and Illness: The Case of Nerves (New York: Hemisphere Publishing Co., 1989). Vgl. auch S. Pritzker, „The Role of Metaphor in Culture, Consciousness and Medicine: A Preliminary Inquiry into the Metaphors of Depression in Chinese and Western Medical and Common Languages“, in Clinical Accupuncture and Oriental Medicine 4 (2003), 11-28.
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mini als Orte psychischer Vorgänge nicht eher mit den vagen, diffusen, verschwommenen Leibesinseln zu vergleichen sind, als mit konkreten Körperorganen.45 Diese Schlußfolgerung läßt sich aus der Beobachtung ziehen, daß eine Reihe von anderen anatomischen Termini, die zumeist ebenfalls auf den Bauchraum bzw. auf bestimmte Organe darin verweisen, mit einem ähnlichen metaphorischen Bedeutungsspektrum und in analogen Wendungen wie das Wort libbu verwendet werden: kabattu „Bauch; Inneres; Leber(?)“46, karšu „Magen, Bauch“, qerbu „Leibesinneres“ (Plur. „Eingeweide“), ṣurru „Körperinneres; Herz“.47 Gleichzeitig läßt sich keine eindeutige 45
In den medizinischen Texten des 1. Jt. v. Chr. erscheint „Herzbrechen“ in Symptombeschreibungen neben verschiedenen Kombinationen anderer Begleitsymptome, z.B. epileptischen Anfällen, Schmerzen (in Kopf, Brust, Symptomen im Bauchbereich, Appetitlosigkeit sowie Furcht, Niedergeschlagenheit, vgl. Al-Rashid, Mental Symptoms (s. Anm. 34), 207ff. Dies mag andeuten, daß die Patienten mesopotamischer Heiler anhängig vom Kontext ihrer Erkrankung das Symptom hīp libbi an unterschiedlichen Stellen im Körper lokalisierten. 46 Zu den sumerisch-akkadischen Termini für die Leber, vgl. CAD K, 11ff.; AHw 416; Militarev/Kogan, Semitic Etymological Dictionary (s. Anm. 34), 126f. No. 141; Jaques, Le vocabulaire (s. Anm. 8), 582-590; Stol, „Digestion“ (s. Anm. 21), 111f.; Steinert, Aspekte des Menschseins (s. Anm. 1), Index sub „Leber“ und kabattu; Steinert, „Körperwissen“ (s. Anm. 21), 207ff. Das Wort kabattu wird in medizinischen Texten nicht für die Leber verwendet, sondern kommt überwiegend in literarischen Texten vor, wo es jedoch synonym zu libbu in der Bedeutung „Bauch; Inneres“ auftritt. Daß kabattu auch „Leber“ bedeutet, konnte lediglich aus lexikalischen Gleichungen erschlossen werden. 47 Zu diesen Körperteiltermini in Ausdrücken für Emotionen und geistige Prozesse siehe z.B. Dhorme, L’emploi (s. Anm. 40); Mayer, „Die Tätigkeiten und Regungen“ (s. Anm. 12), 332ff.; Steinert, Aspekte des Menscheins (s. Anm. 1), s. Index sub „Herz“. Zudem kommen auch die Nieren (Akk. kalītu, Plur. kalâtu) als Sitz seelischer Schmerzempfindungen vor, z.B. in der Wendung „die Nieren durchbohren“ (saḫālu) für „jmd. verletzen, psychisches Leid zufügen“, s. Steinert, a.a.O., 252, Anm. 87. Interessanterweise ist kabattu besonders in literarischen Texten als Sitz der Empfindungen sehr häufig, kalītu dagegen in diesem Zusammenhang nur selten belegt, während die Beleglage für das Alte Testament genau umgekehrt zu sein scheint – die Nieren gelten dort auch als Sitz des Gewissens (neben dem Herzen), eine Bedeutungsnuance, die für Akk. kalītu m.W. nicht bezeugt ist, vgl. Wolff,
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Spezialisierung oder Differenzierung der Termini, z.B. zwischen einzelnen Organen und bestimmten Gefühlen (Furcht, Zorn, Trauer) oder in der Zuordnung von geistigen vs. psychischen Prozessen auf verschiedene innere Organe feststellen. Planen, Nachdenken, Wünschen, Wollen als auch Furcht, Zorn, Trauer etc. werden gleichermaßen im libbu, kabattu etc. angesiedelt.48 Andererseits gibt es Körperorgane, die nie mit geistig-psychischen Prozessen verbunden werden wie die Lungen oder die Milz.49 Anthropologie (s. Anm. 27), 103ff.; Janowski, „Das Herz“ (s. Anm. 26), 27ff., zu den Nieren im AT als Sitz verschiedener Empfindungen und zur „Prüfung“ der Nieren/des Herzens durch Gott). 48 Eine Ausnahme bildet in diesem Kontext das Verb hepû „brechen“ und das abgeleitete ḫīpu, das allein mit libbu kombiniert wird, um einen Zustand physisch-psychischen Leidens zu beschreiben. Ein etwas abweichendes Muster findet sich interessanterweise im AT, wo lēb mit dem breitesten Spektrum von Gefühlen sowie mentalen Prozessen verknüpft wird, während kabed auf Gefühle eingegrenzt zu sein scheint, s. Smith, „Herz und Innereien“ (s. Anm. 27), 176ff. Zum Spektrum sprachlicher Wendungen mit libbu (und synonymen Termini) siehe zuletzt Mayer, „Die Tätigkeiten und Regungen“ (s. Anm. 12), 332ff. Geistige Vorgänge des Nachdenkens werden bspw. in der Kombination der Organtermini mit den Verben „wissen“ (idû), „planen“ (kapādu) und in den Wendungen „(sich) mit seinem Inneren beraten/besprechen“ (itti libbīšu malāku (Gt)/dabābu/amû) ausgedrückt, wobei auch die Termini kabattu, ṣurru an die Stelle von libbu treten können. In diesen Wendungen können statt der Körperteiltermini zudem auch die Wörter ramanu „Selbst“ oder ṭēmu „Verstand“ erscheinen. Gefühle, die sowohl mit libbu, kabattu, karšu, qerbu, ṣurru verknüpft werden, sind u.a. Zorn, Freude, Trauer, Sorge, während Ausdrücke für Furcht primär mit libbu oder kabattu gebildet werden (vgl. CAD, s.v. adāru, hadû, palāhu, parādu sowie unter den Körperteiltermini; Mayer, „Die Tätigkeiten und Regungen“, 334). Liebe wird auffälligerweise relativ selten als eine Aktivität des „Herzens“ beschrieben, obgleich libbu in Liebesdichtungen häufig in Beschreibungen des emotionalen Zustands des Liebenden vorkommt. Vgl. auch die Symptome, die in medizinischen Texten mit der sogenannten „Liebeskrankheit“ (muruṣ râmi) verbunden werden (Heeßel, Diagnostik [s. Anm. 35], 251f. SA.GIG Tafel 22: 69): der Patient spricht mit sich selbst, lacht aus unerfindlichem Grund, seufzt, ist betrübt und niederschlagen, wobei er „Oh mein Herz (libbu)!“ ausruft. 49 Siehe CAD H, 143f.; CAD Ṭ, 124f. Vgl. dazu Stol, Epilepsy (s. Anm. 42), 27ff., der zu zeigen versucht, daß die babylonischen Heilkundigen
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Auch finden sich in einem spätbabylonischen medizinischen Text aus Uruk (SpTU 1, 43) Hinweise dafür, daß die babylonischen Heilkundigen bestimmte Gruppen von Erkrankungen auf vier innere Organe zurückführten: den Magen (karšu bzw. pī karši „Magen-Mund“), die Lungen (hašû), die Nieren (kalâtu) und libbu, welches als erster Terminus erscheint und in diesem Text m.E. mit dem Organ „Herz“ identifiziert werden kann.50 Auffälligerweise werden in diesem Text mit libbu fünf Krankheitsbezeichnungen korreliert, die allesamt in den Bereich neurologischer und psychischer Erkrankungen fallen: hīp libbi „Herz-Brechen“, Epilepsie und verwandte Erkrankungen (bennu; „Vom-Himmel-gefallene-Krankheit“; Hand des [persönlichen] Gottes/der Göttin“).51 Die Erkrankungen, welche den anderen drei Organen zugeordnet sind, fallen dagegen so gut wie gar nicht in diesen Bereich.52 ähnlich wie die klassisch-griechische Medizin die Schwermut mit der Galle und der Farbe Schwarz verbunden haben (vgl. melancholia „schwarze Galle“), und auf die Gleichsetzung von ṭulīmu „Milz“ mit den „schwarzen Eingeweiden“ (šà.ge₆ / irru ṣalmu) verweist. Jedoch könnten die „schwarzen Innereien“ auch auf der Assoziation mit Sum. šà.gi(g) „krankes/r Inneres/Bauch“ beruhen, s. Böck, „Die Hymne Ninisina A“ (s. Anm. 34), 117f. 50 Siehe zu diesem Text zuletzt Geller, Melothesia (s. oben Anm. 42), 3ff.; Steinert, „Körperwissen“ (s. Anm. 21), 230ff.; für eine deutsche Übersetzung siehe N.P. Heeßel, „Ein später diagnostischer Text“, in Texte aus der Umwelt des Alten Testaments. Neue Folge. Band 5. Texte zur Heilkunde (Hg. B. Janowski/D. Schwemer; Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2010), 30f. 51 Zu diesen Krankheitsbezeichnungen siehe im Detail Stol, Epilepsy (s. Anm. 42), 5ff. Das Spektrum der Symptome, die z.B. in diagnostischen/therapeutischen Texten mit der Krankheitsdiagnose „Hand des Gottes/Hand der Göttin“ belegt werden, ist jedoch viel breiter und kann physische, psychische und soziale Komponenten (Unglück, häusliche Konflikte, gestörte Sozialbeziehungen, Verlust des Ansehens) einschließen. 52 So wird mišittu „Schlag“/Lähmung in diesem Text mit dem Magen assoziiert, und Mangel an sexuellem Verlangen“ (nīš libbi „Erhebung des Herzens“) mit den Nieren, welche mit der Reproduktion und den Prozessen in dem unteren Körperbereich verknüpft werden. Für Aspekte der Systematisierung medizinischen Wissens in SpTU 1, 43 vgl. Stol,
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Die physischen Aspekte in der Beschreibung von Gefühlen lassen sich anhand der akkadischen Wendungen für „Zorn“ im Akkadischen illustrieren, die mit den Termini für „Bauch; Inneres“ gebildet werden. Unter den Ausdrücken mit der Bedeutung „zornig sein“ finden sich libbu oder kabattu in Kombination mit den Verben ḫamāṭu „brennen; entzündet sein“53 und ṣarāpu „brennen“54, was zeigt, daß Zorn mit der physischen Empfindung von Hitze im Inneren des Körpers verknüpft wurde. Die Assoziation mit Hitze oder Feuer in Ausdrücken für Zorn ist im Sprachvergleich weit verbreitet, jedoch kann die Lokalisierung im Körper variieren.55 Bei den akkadischen Wen-
Epilepsy (s. Anm. 42), 25ff.; Steinert, „Körperwissen“ (s. Anm. 21), 230ff. 53 Siehe z.B. TCL 3, 413: izzizma ṣurrušu ihmuṭa kabbatuš „sein Herz wurde zornig, sein Inneres brannte“. Sonst steht ṣarāpu im D-Stamm mit rēš libbi „Epigastrium“ in medizinischen Texten insbesondere für brennende Schmerzen im Oberbauch, s. CAD Ṣ, 103 sub 3a-1’. 54 Siehe z.B. O.R. Gurney, „The Sultantepe Tablets (continued). V. The Tale of the Poor Man of Nippur“, in AnSt 6 (1956), 150 Z. 7: kabattuš ṣarpat „sein Inneres war entbrannt“ (vor Hunger/Verlangen nach dem Duft von Brot); häufiger im Kontext von Zorn in Briefen aus der 1. Hälfte des 2. Jahrtausends, vgl. K.R. Veenhof, „Sisterly Advice on an Endangered Marriage in an Old Assyrian Letter“, in Studies Presented to Robert D. Biggs June 2, 2004 (Hg. M.T Roth et al.; Chicago: The Oriental Institute of the University of Chicago, 2007), 285-303, bes. 292, 294, Z. 6: libbušu ittanaṣrap „sein Inneres entbrennt immer wieder (vor Zorn)“; M. Stol, Letters from Yale (Leiden: Brill, 1981), No. 40, Z. 28: libbī mādiš hamiṭ „mein Inneres ist sehr verärgert“ (über eine erfahrene Demütigung). Sonst wird hamāṭu häufiger in medizinischen Kontexten zur Beschreibung von Fieber und brennenden Schmerzen im Oberbauch (rēš libbi) gebraucht, siehe CAD Ḫ, 64 lex., 1b. Sumerische Ausdrücke für Zorn, die mit Hitze assoziiert sind, bilden z.B. tab/táb „brennen“ und úrgu/mùrgu „Zorn“, das mit einem Kompositzeichen (KA „Mund“ mit eingeschriebenem IZI „Feuer“) oder durch die Zeichen UR₅.GU₇ (wörtl. „die Leber fressen“) wiedergegeben wird, vgl. Jaques, Le vocabulaire (s. Anm. 8), 85ff.; 93f., 116f. Der Ausdruck šà–dab „das Innere packen“ ist ebenfalls eine Wendung für „wütend sein“. 55 Aus dem Bereich der kognitiven Linguistik haben u.a. G. Lakoff/Z. Kövevses, „The Cognitive Model of Anger Inherent in American
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dungen fällt auf, daß sie abhängig vom Kontext für brennende Schmerzen, starkes Verlangen oder Wutausbrüche stehen können, also zwischen physischen und psychischen Vorgängen changieren.56 Daneben existieren weitere Ausdrücke für Ärger und Zorn mit libbu/kabattu etc. und den English“, in Cultural Models in Language and Thought (Hg. D. Holland/Q. Naomi; Cambridge: Cambridge University Press, 1987), 195-221, die Metaphern untersucht, welche den englischen Formulierungen für Zorn zugrunde liegen (ANGER IS HEAT/FIRE), wobei sie eine spezifische Variante der Metapher (ANGER IS THE HEAT OF A FLUID IN A CONTAINER) herausarbeiten. In den Wendungen stehen physiologische Wirkungen von Emotionen metonymisch für die Emotionen selbst. Zum Vergleich können z.B. chinesische Wendungen angeführt werden, die ebenfalls auf diesen Metaphern beruhen. Jedoch bildet das Chinesische viele verschiedene Wendungen mit Körper(teil)bezeichnungen: Zorn wird nicht nur in inneren Organen (Herz, Leber, Lungen, Bauch), sondern auch im Kopf, Gesicht, Hals, Händen, Füßen oder im gesamten Körper lokalisiert, vgl. N. Yu, „Metaphorical Expressions of Anger and Happiness in English and Chinese“, in Metaphor and Symbolic Activity 10 (1995), 59-92, bes. 60-71. Die Verbreitung der metaphorischen Verknüpfung von Zorn mit Hitze/Feuer beruht offensichtlich auf allgemein menschlichen körperlichen Erfahrungen; ihre sprachliche Ausformung im Detail kann jedoch variieren, siehe auch R.B. Hupka et al., „Anger, Envy, Fear and Jealousy as Felt in the Body: A Five-Nation Study“, in Cross-Cultural Research 30/3 (1996), 243-264, die zeigen, daß Menschen aus Deutschland, Polen, Russland, Mexiko und den USA Wut übereinstimmend im Gesicht, Kopf, Herz und Hals verorten. 56 Für die Assoziation von Zorn mit dem Anwachsen von Galle im Körper siehe zudem die Wendung martī (w)aṣbat „meine Galle ist vermehrt“, s. Stol, Letters (s. Anm. 54), 260: 19-20; Mayer, „Die Tätigkeiten und Regungen“ (s. Anm. 12), 327. Eine Inschrift Gudeas verbindet Zorn mit einer Schlange, die Galle speit, s. D.O. Edzard, Gudea and His Dynasty (Toronto: University of Toronto Press, 1997), 75; Jaques, Le vocabulaire (s. Anm. 8), 86. Die außergewöhnliche Gleichung hāmiṭat libbi „die das Innere/den Bauch verbrennt“ für die „Galle“ (martu) in der lexikalischen Liste malku = šarru ist dagegen wohl mit medizinischen Beschwörungen gegen die „Galle“ (auch Magensäure o.ä.) zu verbinden, in denen korrespondierende sprachliche Bilder das Brennen/Schmerzen im Magen/Bauch beschreiben. Die therapeutischen Texte des 1. Jt. v. Chr. behandeln die „Gallensaft“Erkrankung (pāšittu) in einem Abschnitt zu Krankheiten des Verdauungssystems (insbesondere des Magens) neben Gelbsucht und Fieber, während der spätbabylonische Text SpTU 1, 43 Vs. 12 Galle
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Verben lemēnu „böse sein/werden“, ezēzu, agāgu, labābu „zornig/wütend werden“, welche keine Verbindung zur Metapher der Hitze herstellen.57 Abschließend läßt sich festhalten, daß die akkadischen Wendungen für Gefühlsregungen durch ihre sprachliche Verortung im Körper sowie durch ihren schwankenden Bezug zum Körperinneren/ Bauch/Magen-Darm-Trakt/Herzen deutliche Ähnlichkeiten mit den von H. Schmidt beschriebenen Leibesinseln aufweisen.58 und „Gallensaft“-Erkrankung dem Magen (genauer dem „zweiten Magen-Mund“ = Zwölffingerdarm) zuordnet, siehe Böck, „Die Hymne Ninisina A“ (s. Anm. 34), 105-110; Steinert, „Körperwissen“ (s. Anm. 21), 235f. 57 Siehe Mayer, „Die Tätigkeiten und Regungen“ (s. Anm. 12), 333, Jaques, Le vocabulaire (s. Anm. 8), 92, mit Anm. 216 sowie die AHw und CAD. Andere akkadische Verben mit der Bedeutung „(ver)brennen“ wie hamāṭu und kabābu stehen jedoch in Kombination mit libbu auch für Gefühle von Sorge, Angst und Unruhe, s. M.I. Gruber, Aspects of Nonverbal Communication in the Ancient Near East (Rom: Pontifico Instituto Biblico, 1980), 366ff.; Al-Rashid, Mental Symptoms (s. Anm. 34), 171ff. 58 Siehe dazu auch Smith, „Herz und Innereien“ (s. Anm. 27), 175ff., 179ff., der im Hinblick auf die Befunde im AT auf vergleichende Studien zur Verortung von Gefühlen bei Sprechern verschiedener Sprachen sowie auf neurobiologische und psychologische Grundlagen der Emotionsforschung verweist, z.B. R. Plutchik, Psychology and Biology of Emotion (New York: HarperCollins, 1994); S.W. Porges, The Polyvagal Theory: Neurophysiological Foundations of Emotion, Attachment, Communication, and Self-Regulation (New York: WW Norton & Company, 2011). Bspw. reagiert nicht nur das Herz, sondern auch das Verdauungssystem (besonders der Magen) auf negative Situationen; ausgelöste Gefühle werden häufig in diesen Körperzonen wahrgenommen (vgl. an dieser Stelle umgangssprachliche deutsche Ausdrücke wie „Bauchgefühl“ und daß ein negatives Gefühl uns „Bauchschmerzen“ bereitet). Vgl. zudem entsprechende Forschungsansätze aus der kognitiven Linguistik (zum Zusammenhang von Körper, Kognition, Kultur und sprachlichen Metaphern) sowie aus der phänomenologisch orientierten Anthropologie des Körpers und der Sinne, siehe z.B. die in Anm. 47 zitierte Literatur sowie N. Yu, „Body and Emotion: Body Parts in Chinese Expression of Emotion“, in The Body in Description of Emotion: Cross-Linguistic Studies (Hg. N.J. Enfield/A. Wierzbicka) = Pragmatics and Cognition 10 (2002), 333358; s. auch Nyord, Breathing Flesh (s. Anm. 31), für eine kognitiv-
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III.
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Der Verstand
Auch „geistige“ personale Komponenten per excellence wie dimma/ṭēmu „Verstand; Intelligenz“ und gidim/eṭemmu „Totengeist“, die postmortale Existenzform der Person, werden in mesopotamischen Texten mit der körperlichen Matrix verbunden. Verstand und Totengeist gehören zu den konstituierenden Bestandteilen der menschlichen Person, denn im Atramhasīs-Mythos erschaffen die Götter Enki und Nintu den ersten Menschen aus Lehm sowie dem Fleisch und Blut eines erschlagenen, „intelligenten“ Gottes, in dessen „Fleisch“ bereits der „Totengeist“ (eṭemmu) vorhanden war.59 Der im Körper verankerte eṭemmu symbolisiert somit einerseits die Sterblichkeit des Menschen und Vergänglichkeit des Körpers. Zugleich ermöglicht der „Totengeist“ dem Menschen jedoch, nach dem Tod weiter zu existieren, als reduziertes schattenhaftes Wesen in der Unterwelt, dessen Identität durch die Erinnerung der Nachwelt und durch die Totenopfer der Nachkommen lebendig erhalten wird.60 Ähnlich wie eṭemmu, der erst nach dem Tod des Menschen und Loslösung vom Körper aktiv in Erscheinung tritt, wird der „Verstand“ (ṭēmu) in mesopotamischen Texten relativ linguistisch und anthropologisch fundierte Untersuchung von Metaphern in altägyptischen Texten, die mit Körperteiltermini wie „Herz/Inneres“ gebildet werden, sowie T.J. Csordas, „Somatic Modes of Attention“, in Cultural Anthropology 8 (1993), 135-156; J.A. Russell (Hg.), Everyday Conceptions of Emotion: An Introduction to the Psychology, Anthropology and Linguistics of Emotion (Dordrecht etc.: Kluwer, 1995); K. Stroeken, „Sensory Shifts and ‘Synaesthetics’ in Sukuma Healing“, in Ethnos 73/4 (2008), 466-484, bes. 468 (zu „interoceptive sensations“, die mit inneren Organen verbunden werden); I. Skoggard/A. Waterston, „Introduction: Toward an Anthropology of Affect and Evocative Ethnography“, in Anthropology of Consciousness 26/2 (2015), 109-120. 59 Siehe Lambert/Millard, Atra-ḫasīs (s. Anm. 41), 58 Tafel I 208-230; Steinert, Aspekte des Menschseins (s. Anm. 1), 53f., 324ff. Zur Assoziation zwischen ṭēmu und eṭemmu siehe ibid., 390. 60 Steinert, Aspekte des Menschseins (s. Anm. 1), 325ff., 333ff., mit weiterer Literatur.
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selten in bestimmten Körperteilen lokalisiert. Jedoch sind Weisheit und Wissen mit den Wahrnehmungsorganen Ohr und Auge als Orten der Wissensaufnahme verknüpft, wie sich z.B. an der metaphorischen Bedeutung „Weisheit, Intelligenz“ ersehen läßt, welche den sumerisch-akkadischen Bezeichnungen für das Ohr, Sum. ĝestu(g), Akk. uznu, hasīsu innewohnt.61 In mesopotamischen Texten manifestiert sich der „Verstand“ einer Person primär durch ihre Äußerungen, Handlungen und Verhaltensweisen und wird mit dem „Selbst“ (ramanu) assoziiert.62 Wissen wird auch als etwas konzeptualisiert, das von außen aufgenommen und im Körperinneren bewahrt wird.63 Zudem entsprechen eine Reihe von Bedeutungsnuancen des Wortes ṭēmu (wie „Wille, Ratschlag, Plan, Intention, Meinung“) dem synthetisch-metaphorischen Spektrum des Wortes libbu „Inneres; Bauch; Herz“, das gleichermaßen für die Bereiche des Denkens, Planen, Wissens, Wollens, der Intentionen (und Emotionen) steht.64 Im Vergleich zum modernen Identitätsverständnis mit seiner Betonung individueller Autonomie und Selbstbestimmung stellen die mesopotamischen Texte, wenn sie einer Person Mangel an ṭēmu „Verstand“ oder Dummheit zuschreiben, häufig Unempfänglichkeit für soziale Normen 61
Zu ṭēmu siehe Steinert, Aspekte des Menschseins (s. Anm. 1), 385ff.; Westenholz, „The Body and the Mind“ (s. Anm. 8), 463ff. Vgl. auch den sumerischen Ausdruck igi-ĝál „Weiser“ („einer, bei dem Einsicht [wörtl. Auge] vorhanden ist“). 62 Sowohl ṭēmu als auch die sumerischen Pendants dimma und umuš besitzen zugleich die Grundbedeutungen „Befehl, Instruktion; Report, Bescheid“. Zu den verschiedenen Bedeutungsnuancen von ṭēmu vgl. Steinert, Aspekte des Menschseins (s. Anm. 1), 385ff. sowie CAD Ṭ, 85ff. Vgl. die Wendungen „sich selbst vergessen/nicht kennen“, „Verwirrung/Verändert-Sein des Selbst“ parallel zum „veränderten Verstand“ in medizinischen Texten, welche geistige Verwirrung und Wahnsinn beschreiben, s. Steinert, a.a.O., 262ff., 390ff.; Al-Rashid, Mental Symptoms (s. Anm. 34), 219ff. 63 Siehe z.B. den Ausdruck šadāl karši „Weitsein des Inneren“, der „Weisheit“ bedeutet; Ratschläge der Mitmenschen „fallen“ (maqātu) in das Herz (libbu) der Person. 64 Siehe CAD L, 169ff. sub 3.
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und kulturelle Werte in den Vordergrund oder bemängeln die fehlende Konformität zwischen diesen Normen und dem Verhalten der Person.65 Auf den „eigenen Verstand“ zu bauen gilt als ambivalent, denn die mesopotamischen Texte beschreiben den Menschen nicht nur als sterbliches und physisch anfälliges Wesen, sondern betonen auch häufig die Begrenztheit des menschlichen Verstandes (besonders im Vergleich mit dem ṭēmu der Götter). Einerseits sind zwar herausragende Verstandeskräfte und Intelligenz hoch geschätzt, durch die z.B. Gelehrte ungewöhnliche Leistungen vollbringen, doch wird in diesen Fällen in der Regel betont, daß die geistigen Kräfte eine Gabe der Götter darstellen.66 Der Verstand gilt in positiver Hinsicht als 65
Dieser Zusammenhang wird z.B. in abwertenden Aussagen über fremde, befeindete ethnische Gruppen deutlich, denen man aufgrund ihrer andersartigen (nicht-städtischen) Lebensweisen, Sitten und Aggressivität mangelnde Verstandeskräfte nachsagt und sie mit Tieren vergleicht, Steinert, Aspekte des Menschseins (s. Anm. 1), 388ff., 461ff. Ebenso gilt Schamlosigkeit als Zeichen fehlenden Verstandes. Vgl. auch die Ermahnungen des Freundes an den Leidenden in der Babylonischen Theodizee, der an der Gerechtigkeit göttlicher Ordnungen zweifelt und sich von der Gesellschaft abwenden will: Der Freund erwidert dem Leidenden, er habe seinen Verstand und seine Weisheit, d.h. seine rechte Sicht der Dinge, eingebüßt, s. T. Oshima, Babylonian Poems of Pious Sufferers: Ludlul Bēl Nēmeqi and the Babylonian Theodicy (Tübingen; Mohr Siebeck, 2014), 161f., Z. 212ff., vgl. Z. 147. 66 So heißt es z.B. in einem Incipit-Katalog zu den diagnostischen und physiognomischen Omenserien, daß es dem babylonischen Gelehrten Esagil-kīn-apli dank der ihm von den Göttern Ea und Marduk(?) geschenkten Fähigkeiten gelang, eine Neufassung der diagnostischen Omenserie Sakikkû zu erstellen, siehe I.L. Finkel, „Adad-apla-iddina, Esagil-kīn-apli, and the Series SA.GIG“, in A Scientific Humanist. Studies in Memory of Abraham Sachs (Hg. E. Leichty et al.; Philadelphia: Samuel Noah Kramer Fund, 1988), 143-159, bes. 148f. B Rev. 19’-26’. Die betreffende Passage, welche ausführliche Angaben über die Person des Kompilators, den Zeitpunkt seines Wirkens und seine Motivation macht, lautet: „In der Zeit des Adad-apla-iddina, des Königs von Babylon, um eine Neu(fassung) zu schaffen, hat Esagil-kīn-apli, der Sohn des Asalluhi-mansum, des Weisen (apkallu) des Königs Hammurapi, ..., ein prominenter Einwohner von Borsippa, zabardabbûPriester des Ezida, Salbe-Priester des Nabû, der die Schicksalstafel der Götter trägt, ..., der Gelehrte von Sumer und Akkad, mithilfe der
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eine Komponente göttlichen Ursprungs (wie im Atramhasīs-Mythos ausgeführt wird), und die menschliche Fähigkeit des Planens und verständigen Handelns wird häufig mit dem persönlichen Schutzgott in Verbindung gebracht.67 Andererseits betrachtet die mesopotamische Kultur das Vertrauen auf den eigenen Verstand häufig als negativ – eigenständige Entscheidungen und autonome Handlungen von Individuen unabhängig vom Willen der Götter oder jenseits moralischer Normen und gesetzlicher
kunstfertigen Intelligenz (ina uznī nikilti), die Ea und Marduk ihm geschenkt haben, (die Sache) in seinem Inneren durchdacht (ina kabattīšu uštābilma), und eine überarbeitete Fassung von Sakikkû (nach dem Prinzip) von Kopf bis Fuß produziert, und sie so für das Studium (der Materie) etabliert.“ Auch in Königsinschriften wird häufig auf Klugheit und Intelligenz als Gabe rekurriert, die den Herrscher zu herausragenden Handlungen aus sich selbst (aus innerer Überlegung und Planung) heraus befähigt, siehe Steinert, Aspekte des Menschseins (s. Anm. 1), 268f.; CAD A/1, 28 sub 10d ausgedrückt mit dem Verb (w)abālu im Št-Stamm, mit libbu und karšu als Objekt. Z.B betont der assyrische König Sanherib bezüglich von Baumaßnahmen am AssurTempel, daß er bestimmte bauliche Veränderungen aus eigenen Überlegungen heraus beschlossen habe, beruft sich aber darauf, daß ihm seine Verstandeskräfte von Ea und Assur verliehen wurden, vgl. Steinert, a.a.O., 268f. 67 Vgl. das bilinguale Sprichwort: „Wenn du planst/dich kümmerst, ist dein Gott dein; wenn du nicht planst/dich nicht kümmerst, ist dein Gott nicht dein“, s. Steinert, Aspekte des Menschseins (s. Anm. 1), 395f.; vgl. Oshima, Babylonian Poems (s. Anm. 65), 132; siehe auch T. Abusch, „Ghost and God: Some Observations on a Babylonian Understanding of Human Nature“, in Self, Soul and Body in Religious Experience (Hg. A.I. Baumgarten et al.; Leiden: Brill, 1998), 363-383, bes. 379: „the personal god is a projection of the human power of deliberation, decision, and planning“. Die persönliche(n) Gottheit(n), die häufig als Paar (Gott/Göttin) auftreten, verkörpern eine Art von Schutzsphäre, in der sich der Einzelne bewegt. Sie bewirken alle positiven Erfahrungen im Leben des Menschen wie Glück, Erfolg, Wohlergehen und materiellem Wohlstand. Ihre Abwesenheit und ihr Zorn wird für verschiedene Erkrankungen verantwortlich gemacht, darunter auch für Epilepsie, Veränderungen des Geisteszustands und psychische Störungen, s. z.B. Al-Rashid, Mental Symptoms (s. Anm. 34), 278f., 349.
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Vorschriften werden verurteilt.68 Eine „asoziale“ Autonomie des Denkens und der Entscheidungen, die sich über soziale Regeln hinwegsetzt oder sich mit den Göttern auf eine Ebene stellt, muß nach mesopotamischen Vorstellungen ins Verderben führen.69 Personenkonzeptionen unterscheiden sich von Kultur zu Kultur dahingehend, ob sie dem Einzelnen ein hohes Maß an Autonomie und Kontrolle über sich selbst zuschreiben oder ob der Einzelne primär unter Kontrolle äußerer Instanzen und Mächte stehend betrachtet wird.70 Je stärker eine Kultur Eigenkontrolle und Autonomie betont, desto mehr Bedeutung scheint dem inneren Selbst, dem Individuum in seiner Einzigartigkeit zuzukommen. Je stärker jedoch der Einzelne unter Kontrolle übergeordneter Mächte steht, desto mehr wird die Identifikation des Selbst mit 68
Eine Ausnahme bilden die mesopotamischen Herrscher, bei denen außergewöhnliche Klugheit und Erfindungsgabe als positives Zeichen ihrer Führungsstärke gesehen wird. So gibt es vor allem in den sumerischen Texten Dichtungen über Herrscher als Erfinder und Innovatoren (z.B. Enmerkar als Schrifterfinder), und auch spätere Könige rühmen sich in ihren Inschriften häufig ihrer eigenständigen Ideen und technologischen Erfindungen, s. Foster, „On Speculative Thought“ (s. Anm. 1), 98f. Andererseits legitimieren Könige ihr politisches Handeln, indem sie betonen, im Auftrag und Einverständnis der Götter zu agieren, während sie ihren politischen Gegnern unterstellen, auf blasphemische Weise nur auf sich selbst zu vertrauen und deshalb ins Verderben zu laufen (s. Steinert, Aspekte des Menschseins [s. Anm. 1], 269). 69 Steinert, Aspekte des Menschseins (s. Anm. 1), 268ff. Mesopotamische Texte betonen häufig, daß der menschliche Verstand begrenzt ist und auf göttlichen Ratschlag angewiesen ist. Götter sind den Menschen an Einsicht überlegen, und wiederum nur bestimmte Gottheiten werden in den Texten als ihr „eigener Ratgeber“ (mālik ramanišu) bezeichnet. Für eine äquivalent negative Bewertung individueller Autonomie gegenüber der Betonung von Gehorsam im Alten Testament siehe z.B. R. di Vito, „Alttestamentliche Anthropologie und die Konstruktion personaler Identität“, in Der ganze Mensch. Zur Anthropologie der Antike und ihrer europäischen Nachgeschichte (Hg. B. Janowski; Berlin: Akademie Verlag, 2012), 129-152. 70 Vgl. P. Heelas, „The Model Applied: Anthropology and Indigenous Psychologies”, in The Anthropology of the Self (Hg. P. Heelas/A. Lock; London: Acad. Press, 1981), 39ff.
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seinen sozialen Rollen, die Erfüllung von Pflichten und Unterwerfung unter soziale Zwänge gefordert.71 Die in Mesopotamien vorherrschende Sicht der menschlichen Person vertritt innerhalb dieser Skala einen Mittelweg. Einerseits werden dem Einzelnen Verantwortung, Entscheidungs- und Handlungskompetenzen zugestanden, jedoch sind die Entscheidungs- und Handlungsspielräume gebunden an soziale Rollen und den Status, den eine Person einnimmt. Das Ideal der Person bildet ein verantwortlich und rollenkonform handelndes, sich selbst kontrollierendes und entscheidungsfähiges Selbst, das in die 71
Auf ähnliche Weise charakterisiert beispielsweise Malina, „The Idea of Man“ (s. Anm. 9), den in altorientalischen Gesellschaften vorherrschenden Persönlichkeitstypus als gruppenorientiert: der Einzelne versteht sich primär als Teil der Gemeinschaft, und sein Selbstbild orientiert sich vornehmlich an den Erwartungen und Bewertungen der anderen. Di Vito, „Alttestamentliche Anthropologie“ (s. Anm. 69), korreliert die Betonung der sozialen Identität im AT mit dem Fehlen von Innerlichkeit und eines festgelegten personalen Zentrums. Verschiedene Autoren zeichnen Entwicklungslinien des Verhältnisses zwischen Außen- und Innenorientierung personaler Identität in Ägypten, Israel und Griechenland nach und beschreiben zeitlich versetzte Tendenzen hin zur Zentrierung des Selbst, zur Entdeckung eines inneren Zentrums und Herausbildung einer einheitlichen Seele, vgl. Assmann, „Geschichte des Herzens“ (s. Anm. 4), 81ff.; G. Theißen, „Das transformative Menschenbild der Bibel: Die Erfindung des ‚inneren Menschen‘ und seine Erneuerung im Urchristentum“, in Der ganze Mensch. Zur Anthropologie der Antike und ihrer europäischen Nachgeschichte (Hg. B. Janowski; Berlin: Akademie Verlag, 2012), 269-287; J.-P. Vernant, „Individuum, Tod und Liebe: Das Selbst und der andere im alten Griechenland“, in Der ganze Mensch. Zur Anthropologie der Antike und ihrer europäischen Nachgeschichte (Hg. B. Janowski; Berlin: Akademie Verlag, 2012), 155-171; J.N. Bremmer, „Die Karriere der Seele: Vom antiken Griechenland ins moderne Europa“, in Der ganze Mensch. Zur Anthropologie der Antike und ihrer europäischen Nachgeschichte (Hg. B. Janowski; Berlin: Akademie Verlag, 2012), 173-198. Ähnliche Entwicklungen und Elemente von Innerlichkeit deuten sich in Mesopotamien mit der zunehmenden Betonung von Schuld und persönlichen Verfehlungen im Kontext der Erklärung von Unglück an. Zudem ist in Mesopotamien eine starke Gruppen-Orientierung faßbar, und Konzepte wie Scham, Ehre, Würde spielen eine wichtige Rolle. Vgl. dazu Steinert, Aspekte des Menschseins (s. Anm. 1), 28ff., 492ff., 524ff.
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soziale Ordnung eingebettet ist und sich den übergeordneten Autoritäten und Mächten unterordnet.72 IV.
Individuelle und soziale Identität
Die Entwicklung antiker Personenkonzepte wird immer wieder im Spannungsfeld zweier Ebenen personaler Identität, der individuellen und sozialen Identität formuliert.73 Einerseits lassen sich Formen der Artikulation individueller Identität bereits in den altorientalischen Kulturen nachweisen, andererseits beschreiben verschiedene Historiker immer wieder Entwicklungsdynamiken bezüglich des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Innen- und Außenbezug des Selbst. Es lohnt sich, dem Verhältnis von individueller und sozialer Identität in Mesopotamien etwas genauer nachzuspüren. Die Gewichtung des Sozialen im mesopotamischen Verständnis der menschlichen Person bedeutet nicht, daß individuelle Aspekte in diesen Gesellschaften nicht wahrgenommen wurden oder Individualität überhaupt nicht zugelassen wurde, obgleich der Begriff Individualität, insbesondere Prozeß der „Individualisierung“ als ein Phänomen der Moderne gilt.74 72
Vgl. Steinert, Aspekte des Menschseins (s. Anm. 1), 99ff. (zum Gebrauch des Wortes awīlu „Mensch“/awīlūtu „Menschheit“ im Sinn eines Idealtypus der menschlichen Person [„wahrer Mensch/wahres Menschsein“] auf ethisch-moralischer Ebene sowie 257ff., 523ff. zu Aspekten des Selbst und Mechanismen von Kontrolle). 73 Individuelle Identität bezieht sich auf das Bewußtsein des Einzelnen für sein „Eigensein“, das auf leiblichen Erfahrungen basiert, während unter sozialer Identität alle Rollen und Kompetenzen gefaßt werden, die der Einzelne durch Einbindung in das soziale Gefüge erwirbt, d.h. der gesamte Bereich interpersonaler Beziehungen, siehe J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen (München: Beck, 1992), 131f.; B. Janowski, „Wie spricht das AT von ‚Personaler Identität‘?“ (s. Anm. 2), 57f. 74 Individualisierung besteht in der zunehmenden Erschließung individueller Handlungsspielräume jenseits von traditionellen Normen, welche durch die Familie und die Gesellschaft weitergegeben werden, vgl.
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In Mesopotamien kommen individuelle Aspekte der Person z.B. durch Termini zum Ausdruck, die sich auf die individuelle physische Erscheinung beziehen. Insbesondere fällt das Wort simtu „(eigene) Wesensart“75 ins Auge, das neben Ausdrücken für Gestalt, Gesichtszüge (bunnannû, zīmu) gebraucht wird76, aber auch in einem weiteren Wortfeld erscheint, das positive Kräfte und Charakteristika wie „Würde, Ausstrahlung“, „Lebenskraft“, „Attraktivität“ (bāštu, dūtu) und die persönlichen Schutzgottheiten
Rüpke, „Religiöse Individualität: Historische Befunde“, in Religiöse Individualisierung in der Mystik (Hg. F. Löser/D. Mieth; Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer, 2014), 1-9, für eine Gegenüberstellung moderner und antike Individualitätsphänomene. 75 Individuelle Eigenart ist jedoch nicht die einzige semantische Nuance von simtu. CAD S, 278ff. stellt die Bedeutungen wie folgt zusammen: 1. person or thing that is fitting, suitable, seemly, appropriate, necessary, 2. person or thing that befits, does honor to, is the pride of, 3. Appurtenances, ornament, characteristic, insigne, proper appearance or behavior or ways, figural representation, 4. face, features. So bezeichnet simtu Eigenschaften oder Dinge, die einer Person oder einem bestimmten Status (z.B. Gottheit, König) angemessen sind und deshalb eine Person charakterisieren, wobei häufig die Nuance des „Richtigen“ (kulturellen Maßstäben entsprechenden), Konventionellen und Ehrenhaften mitschwingt. So bezieht sich das Wort in Bezug auf Abstrakta wie ilūtu „Gottheit“ oder šarrūtu „Königtum“ häufig auf Insignien oder Objekte, die den Status des Trägers widerspiegeln. Bezogen auf bestimmte Personen oder menschliches Verhalten kann simtu ausdrücken, daß eine Person eine bestimmte Rolle beispielhaft verkörpert (z.B. ein König sein Amt), in anderen Texten steht simtu für Dinge und konventionelle Verhaltensweisen, die sich für eine Person/Gruppe geziemen. Beispielsweise schickt es sich für Menschen den Göttern gegenüber (simat ilūti), sie mit Opfern, Gebeten und Gaben zu verehren, vgl. W.G. Lambert, Babylonian Wisdom Literature (Winona Lake: Eisenbrauns, 1996), 104, 136, 138. Simtu steht auch im Kontext angemessener kultureller Lebensweisen wie der Seßhaftigkeit, vgl. Steinert, Aspekte des Menschseins (s. Anm. 1), 21f. Bezogen auf Götter bezeichnet simtu häufig zudem lokale kultische Gepflogenheiten, die den Kult einer Gottheit ausmachen und notwendigerweise zu ihr gehören. 76 Für die Nuance simtu „Gesichtszüge“ vgl. die Synonymliste Malku = šarru VIII 113, s. I. Hrůša, Die akkadische Synonymenliste malku = šarru (Münster: Ugarit-Verlag, 2010) 144f., 425, wo das Wort mit zīmu „Aussehen“ gleichgesetzt wird.
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des Einzelnen (šēdu und lamassu) umfaßt.77 So klagt der Leidende in der Dichtung Ludlul bēl nēmeqi (I 41-48) über den Verlust der ihn auszeichnenden Eigenheiten, physischen Ausstrahlung und der ihn umgebenden göttlichen Schutzsphäre: Seit dem Tag, an dem der Herr mich strafte, der Held Marduk sich über mich erzürnte, hat mein Gott mich verlassen und ist verschwunden, hat meine Göttin (mich) vernachlässigt und sich entfernt, hat sich der Schutzgeist (šēdu) des Guten von meiner Seite verflüchtigt, hat sich meine Schutzgöttin (lamassu) erschreckt und einen anderen (aus)gesucht. Weggenommen ist meine attraktive Erscheinung (bāštu), mein männliches Aussehen (dūtu) verfinstert, meine Wesensart (simtu) wurde abgetrennt und sprang fort wie ein Schutzschirm.78
Diese aufgeführten Eigenschaften und Kräfte sind vor allem deshalb zentral, weil sie ihrem Träger eine positive
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Siehe zu diesem Wortfeld Steinert, Aspekte des Menschseins (s. Anm. 1), 408ff.; E. Cassin, La splendeur divine (Paris: Mouton, 1968), 128ff.; A. Cavigneaux, „L’essence divine“, in Journal of Cuneiform Studies 30 (1978), 177-185, bes. 178. Eine typische Reihung findet sich in einer Beschwörung des Abwehrzauberrituals Maqlû (VIII 127’’’’ff.), in welcher der Patient zu seinem eigenen Spiegelbild spricht, das er in einer Schale mit Wasser betrachtet: „Du bist mein Spiegelbild (wörtl. „Schatten“), du bist mein attraktives Aussehen (bāštu) du bist meine lamassu, du bist meine Gestalt (gattu), du bist meine körperliche Form (padattu), du bist mein männliches Aussehen (dūtu). ... Du bist mein, ich bin dein.“ Siehe D. Schwemer, Abwehrzauber und Behexung. Studien zum Schadenzauberglauben im alten Mesopotamien (Wiesbaden: Harrassowitz, 2007), 228f; Abusch; The Magical Ceremony Maqlû (s. Anm. 16), 202f., 272, 366, dort Z. 129’’’’ff.. 78 Siehe die jüngste Bearbeitung des Textes von Oshima, Babylonian Poems (s. Anm. 65), 80f., und vgl. B.R. Foster, „Self-Reference of an Akkadian Poet“, in Journal of the American Oriental Society 103 (1983), 123-130, bes. 127. Die folgenden Zeilen in Tafel I der Dichtung beschreiben den sozialen Abstieg des Protagonisten: er verliert die Gunst des Herrschers und seine Stellung am Hof wegen einer gegen ihn gerichteten Intrige, wird völlig besitzlos, von seiner Umgebung (Stadt, Freunden, Familie) abgelehnt und verachtet.
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Wahrnehmung seiner selbst in den Augen seiner Umwelt ermöglichen. Die Verbindung zwischen simtu und dem Körper sowie bildlichen Repräsentationen einer Person kommt zudem in Fluchformeln von Königsinschriften zum Ausdruck, in denen die mutwillige Beschädigung der bildlichen Darstellung des Königs bzw. die Beseitigung der „Namensinschrift“ auf dem Objekt verurteilt wird.79 Die „Individualität“ der Person oder besser: die individuelle Verkörperung kulturell geschätzter Eigenschaften und Fähigkeiten durch den Einzelnen wird in den mesopotamischen Texten besonders dann thematisiert, wenn 79
Darstellungen und/oder Inschriften des Herrschers, auf welche sich die Fluchformeln beziehen, finden sich z.B. auf Monumenten und sichtbaren Objekten (Palastreliefs, Königsstelen) sowie auf deponierten (unsichtbaren) Textträgern (z.B. Gründungsinschriften). In diesen Textstellen steht simtu im Sinne von „Bildnis“ neben bunnannû „Gesichtszüge“ und šiṭir šumi „Namensinschrift“, z.B. A. Fuchs, Die Inschriften Sargons II. aus Khorsabad (Münster: Cuvillier, 1994), 44: 76 (Tonzylinder): ša epšēt qātīja unakkaruma bunnannîja usahhû uṣurāt eṣṣiru ušamsakuma simātija upaššaṭu „wer (auch immer) das Werk meiner Hände verändert, meine Gesichtszüge unkenntlich macht, die Abbildungen, die ich angebracht habe, entfernt, meine Bildnisse beschädigt (dessen Namen und Nachkommen sollen die Götter ausrotten)“; vgl. E. Leichty, The Royal Inscriptions of Esarhaddon, King of Assyria (680-669 BC) (RINAP vol. 4; Winona Lake: Eisenbrauns, 2011), 210 col. x 16ff., 217 col. vi 41-46 (Prismen): munakkir šiṭir šumīja musahhû simātija pāsisu epišti „(wer) meine Namensschrift entfernt, meine Bildnisse unkenntlich macht, mein Werk zerstört, ...“ (für weitere Stellen s. CAD S, 283). Die Bildnisse des Königs, auf welche die Inschriften Bezug nehmen, mögen keine individualisierenden Portraits in unserem Sinne sein (siehe dazu den Beitrag von A. Nunn in diesem Band). Wichtig ist jedoch, daß die Darstellungen von den Betreffenden selbst als Repräsentationen und Teil ihrer Person betrachtet werden. Vgl. zu Bildern als Extensionen der physischen Person auch Z. Bahrani, Women of Babylon. Gender and Representation in Mesopotamia (London/New York: Routledge, 2001), 117ff.; Z. Bahrani, The Graven Image. Representation in Babylonia and Assyria (Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2003), 121ff.; K. Radner, Die Macht des Namens. Altorientalische Strategien zur Selbsterhaltung (Wiesbaden: Harrassowitz, 2005), 114ff., 252ff.; Steinert, Aspekte des Menschseins (s. Anm. 1), 122f., 159ff., 415ff.
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diese gefährdet oder beeinträchtigt ist. Gebete und Beschwörungen im Rahmen therapeutischer Rituale zur Heilung oder zur Befreiung von Übel ebenso wie literarische Texte beschreiben Unglück, das einer Person widerfährt, als einen Verlust personaler Aspekte und Potenzen, und sich häufig auf mehrere Ebenen erstreckt: auf körperliche Unversehrtheit, psychisch-emotionales Gleichgewicht, soziales Ansehen und ungetrübte Beziehungen (zu den Mitmenschen/Göttern).80 Das Leiden, das den Protagonisten in der Dichtung Ludlul bēl nēmeqi heimsucht, bündelt alle diese Facetten. Nachdem er verarmt, allen Ämtern enthoben und völlig sozial isoliert ist (I 49-104), befällt ihn Trauer, Furcht und tiefe Verzweiflung (I 105ff.), gefolgt von Krankheiten, die seinen gesamten Körper erfassen und zum Verlust des eigenen „Selbst“ führen (II 60-83).81 Der fortschreitende Kontrollverlust über den eigenen Körper führt bis zum Äußersten, zum vollständigen Verlust menschlicher Verhaltensweisen (II 106-107 „ich verbrachte die Nacht in meinem eigenen Kot wie ein Ochse ...“); Krankheit und körperlicher Verfall münden schließlich in Todesnähe (II 114 „das Grab war offen“). Die anschließende Errettung des Leidenden durch Marduk wird als ein umgekehrter Prozeß der Heilung, Wiederherstellung und sozialen Reintegration beschrieben (III 49ff.).
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Diese Form holistischer Beschreibung von Krankheit und Leiden findet sich in Texten des 1. Jt. v. Chr. vor allem in Zusammenhang mit Diagnosen/Ätiologien, die Götterzorn oder Schadenzauber als Ursache benennen, s. z.B. Schwemer, Abwehrzauber (s. Anm. 77), 167ff. 81 Siehe Oshima, Babylonian Poems (s. Anm. 65), 81ff., 87ff. Am Ende dieser Passage, in der Krankheitsdämonen seine verschiedenen Körperpartien heimsuchen (Kopf, Gesicht, Augen, Nacken, Brust, Bauch, Eingeweide, Lungen, Glieder), sagt der Ich-Erzähler von sich: ramanī ul iši „ich hatte mein Selbst nicht (mehr)“. Insbesondere die Unfähigkeit zu kommunizieren und der Verlust der Wahrnehmungsund Körperfunktionen (Sehen, Hören, Sprechen; Bewegung) werden hier hervorgehoben.
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V. Der Körper als Spiegel des individuellen Lebensschicksals Individuelle Züge und Merkmale der körperlichen Erscheinung sowie hervorstechende Verhaltensweisen und Gewohnheiten bilden auch das Thema der physiognomischen Omina, die zum Repertoire mesopotamischer Gelehrter und Heilkundiger gehörten. Physische Merkmale und Verhaltensweisen eines Menschen werden in diesen Texten als Zeichen verstanden und interpretiert, welche Auskunft über die körperliche Verfassung, den Charakter und das persönliche Lebensschicksal (z.B. über Lebenserwartung, einschneidende Ereignisse, Kinder, Krankheit, Besitz, soziales Ansehen und Beziehungen zur Umwelt) zu geben vermögen. Insbesondere die Heilkundigen befassten sich mit der Deutung dieser Körper- und Verhaltensmerkmale und stellten sie im Laufe der Zeit in einer umfangreichen physiognomischen Textserie mit mehreren Unterkompendien zusammen.82 Ein Katalog zur physiognomischen Omenserie (Alamdimmû „Gestalt“) erklärt, daß die Gestalt und physische Erscheinung eines Menschen das persönliche „Schicksal“ (šīmtu, wörtl. Bestimmung) des Einzelnen widerspiegelt, das von den Göttern zugeteilt wird (d.h. sein Schicksal ist einem Menschen auf den Leib geschrieben).83 Die mesopotamische Physiognomik unterliegt demnach einem gewissen Determinismus; 82
Zu den Texten siehe B. Böck, Die babylonisch-assyrische Morphoskopie (Wien: Institut für Orientalistik der Univ. Wien, 2000); E. Reiner, „A Manner of Speaking“, in Zikir Šumim. Assyriological Studies Presented to F.R. Kraus (Hg. G. van Driel et al.; Leiden: Brill, 1982), 282ff.; A. Berlejung, „Menschenbilder und Körperkonzepte in altorientalischen Gesellschaften im 2. und 1. Jt. v. Chr.“, in Menschenbilder und Körperkonzepte im Alten Israel, in Ägypten und im Alten Orient (Hg. A. Berlejung u.a.; Tübingen: Mohr Siebeck, 2012), 367-397. Zu Parallelen im Vokabular der physiognomischen Omina und lexikalischen Texte, s. B. Böck, „Homo mesopotamicus“, in Munuscula Mesopotamica. Festschrift für Johannes Renger (Hg. B. Böck; Münster: Ugarit-Verlag, 1999), 53-68, bes. 60ff. 83 Siehe Finkel, „Adad-apla-iddina“ (s. Anm. 66), 148f. A 66f. // B 29’f.; Böck, Morphoskopie (s. Anm. 82), 55: „(Das Kompendium)
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sie betrachtet körperliche Eigenschaften ausgehend von den Maßstäben der Regelmäßigkeit und Durchschnittlichkeit und konstatiert Abweichungen und Besonderheiten von dieser Norm.84 Die Apodosen der Omina sind durchdrungen von stereotypen Rollenzuschreibungen, die geschlechtsabhängig determiniert sind und auf idealtypische oder konträr zu diesem Ideal stehende personale Eigenschaften, erwünschte und unerwünschte Charakterzüge, Verhaltensweisen, Lebensverläufe verweisen.85 Obgleich die Omenapodosen für Frauen z.T. geschlechtsspezifische Alamdimmû (handelt von) den Gesichtszügen und der (gesamten) Gestalt (und ihrem Bezug zum) Schicksal des Menschen, das die Götter Ea und Asalluhi bestimmt haben“. Vgl. zur Bestimmung des Einzelnen zudem Steinert, Aspekte des Menschseins (s. Anm. 1), 60ff. Die Textpassage deutet im Weiteren darauf hin, daß der „Sitz im Leben“ der Physiognomik vor allem im Tätigkeitsfeld der Gelehrten als Ratgeber des Herrschers zu suchen ist. Jedoch könnten die Omenkundigen ihr Wissen auch privaten Klienten zur Verfügung gestellt haben. Die Texte selbst implizieren, daß die Physiognomik vor allem im Kontext von Entscheidungen über die personale Besetzung von Stellen am Hof und im Kontext der Ehepartnerwahl zu Rate gezogen wurde. Bestimmte Omeneinträge, die auf zukünftiges Geschehen im Leben des Betroffenen Bezug nehmen, mögen jedoch auch auf mögliche weitere Anwendungssituationen verweisen (z.B. bei der Frage nach dem Gelingen eines geplanten Unternehmens). 84 Berlejung, „Menschenbilder“ (s. Anm. 82), 374. Die Omina verweisen durch ihre Bewertungen auf körperliche Merkmale, die (den kulturellen Maßstäben entsprechend) als schön oder ansprechend galten, s. Böck, Morphoskopie (s. Anm. 82), 38. Die Einträge sind z.T. nach bestimmten Ordnungs- und Klassifikationsmustern aufgebaut: Körpermerkmale werden de capite ad calcem behandelt, es finden sich zahlreiche binäre Kategorien (rechts-links, vorn-hinten, groß-klein, lang-kurz) und paradigmatische Sequenzen (z.B. Auflistung von Einträgen nach Farben). 85 Siehe Berlejung, „Menschenbilder“ (s. Anm. 82), 375. Inwieweit die in den physiognomischen Omina und Verhaltensomina enthaltenen Bewertungen vornehmlich Sichtweisen der Oberschicht oder kulturell weit verbreitete Perspektiven (vgl. F.R. Kraus’ Charakterisierung der Verhaltensomina als „Kanon für die sittliche Haltung des Babyloniers“, s. „Ein Sittenkanon in Omenform“, ZA 43 [1936], 77-111, bes. 82) widerspiegeln, ist schwierig zu bewerten. Jedoch finden sich deutliche Parallelen zu Aussagen und Maximen in Sprichwörtern und anderen Weisheitstexten, s. Böck, Morphoskopie (s. Anm. 82), 41f.
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Aussagen treffen, welche vor allem auf ihre Rollen als Ehefrau, Mutter und Hausfrau verweisen, finden sich auch viele gleichgeartete Vorhersagen für Männer und Frauen sowie geschlechterübergreifend geschätzte bzw. gefürchtete Charakterzüge.86 Die Deutungen (Apodosen) sowohl der physiognomischen Omina als auch der Verhaltensomina der Unterserie Kataduggû (wörtl. „Ausspruch“) beruhen häufig auf den Prinzipien von Analogie und Assoziation: Wenn ein Mann am Kopf spärlichen Haarwuchs hat, wird er arm werden ... . (Alamdimmû II 33) Wenn (sein Gesicht) rot ist, ist er ein Gottesmann (ilāni, d.h. ein Glückspilz), er wird reich werden ... (Alamdimmû VIII 93) Wenn der Penis lang und dick ist, wird dieser Mann Männer zeugen. (Alamdimmû X 84) Wenn (er sagt:) „Wehe über mich!“, wird sich sein Gott seiner erbarmen. (Kataduggû 7) 86
Siehe Böck, Morphoskopie (s. Anm. 82), 30ff.; Berlejung, „Menschenbilder“ (s. Anm. 82), 376ff. In den Kapiteln für Frauen erscheinen insbesondere aggressive, physisch und emotional labile und verschwenderische Charakterzüge als negativ; bei Männern wird insbesondere Loyalität, Bescheidenheit, Vertrauenswürdigkeit, Aufrichtigkeit geschätzt. Bei beiden Geschlechtern wird Rechtschaffenheit, Tatkraft, ein „strahlendes Gemüt“ als positiv, Stolz, Streitsucht, Schlechtigkeit als negativ angesehen. Während in den Omina für die Frau zudem häufig Aussagen über ihre Fruchtbarkeit angestellt werden, wurden vom Körper des Mannes Schlußfolgerungen über das Geschlecht zukünftiger Nachkommen und deren Schicksal gezogen. Entsprechend der Parameter der patriarchalischen Gesellschaftsstruktur finden sich in den Omina für Frauen Voraussagen über die Auswirkungen der Heirat für den Ehemann und für den „Haushalt, in den sie eintritt“, wobei insbesondere Promiskuität, Ruin und Destabilisierung gefürchtet sind. In den Omina für Männer werden analog dazu Vorhersagen darüber angestellt, ob seine Ehen scheitern oder wie es seiner Ehefrau mit ihm ergehen wird. Zusätzlich finden sich für Männer Aussagen bezüglich des Wohlergehens seiner Blutsverwandten, seines Vatershauses, seiner Güter sowie bezüglich seines sozialen Ansehens/ Rufs. Bestimmte Aktionsfelder (wie Beziehungen zum Palast, Rechtsprozesse, Konflikte mit dem Gesetz) sind in der Physiognomik zwar fast ausschließlich Männern vorbehalten, jedoch spielt göttlicher Schutz („einen Gott haben/bekommen“) gleichermaßen in Omina für Männer und Frauen eine Rolle.
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Wenn er seine Worte zu beherrschen weiß, wird der Respekt der Leute ihm sichtbar/zuteil. (Kataduggû 61) Wenn (er sagt/denkt:) „Was bin ich für ein Held!“, wird er beschämt werden. (Kataduggû 66) Wenn sein Herz betrübt ist, wird er sich freuen, wird er strahlen. (Kataduggû 78) Wenn (die Hände einer Frau) lang sind, wird sie reich werden, ist sie eine Gottesfrau (ilānât, d.h. ein Glückspilz). (Šumma sinništu qaqqada rabât 102) Wenn sie kurz sind, wird sie den, der sie heiratet, arm [machen]. (Šumma sinništu qaqqada rabât 111) Wenn die Brüste einer Frau spitz sind, ist sie unfruchtbar. (Šumma sinništu qaqqada rabât 159) Wenn eine Frau wenig Unterleib hat, ist sie rechtschaffen, wird sie Witwe werden. (Šumma sinništu qaqqada rabât 176) Wenn (die Unterschenkel) in die Länge gezogen sind, ist sie eine, die Ruin bringt. (Šumma sinništu qaqqada rabât 212)87
Die Beispiele zeigen, daß die Vorhersagen der Physiognomik häufig von der Frage danach geleitet sind, ob der/die Betreffende den ihm/ihr zukommenden Rollen gerecht werden wird und sich gesellschaftlichen Konventionen entsprechend verhalten wird. Andererseits verweisen die Apodosen im Spektrum ihrer Aussagen indirekt auf die Möglichkeit individuell verlaufender Lebensschicksale.88
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Für die Texte siehe die Edition von Böck, Morphoskopie (s. Anm. 82), 71ff., 130ff., 148ff. 88 Manche Voraussagen der physiognomischen Omina lassen sich als Orientierungs- und Entscheidungshilfen oder auch als warnende bzw. rückversichernde Fingerzeige verstehen. Der Körper ist der Person zwar prinzipiell gegeben ebenso wie das persönliche Schicksal (šīmtu), beide Aspekte der Person wurden aber weder als statisch noch als unveränderlich gedacht (vgl. Steinert, Aspekte des Menschseins [s. Anm. 1], 64ff. zur Veränderung der „Bestimmung“ durch die Götter). Der Körper kann in bestimmtem Maße kultiviert und korrigiert werden, andererseits unterliegt er Veränderungen, die nur bedingt gesteuert werden können (Reifung; Alterung; Auswirkungen der Lebensweise etc.).
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VI. Der Name zwischen individueller und sozialer Identität Sowohl individuelle als auch soziale Aspekte der personalen Identität kommen in der akkadischen Namengebung zur Sprache. Der Name konstituiert und repräsentiert das Individuum auf fundamentale Weise, denn die Benennung mit einem Namen bildet in mythologischen Texten Teil der Erschaffung eines Wesens.89 In Mesopotamien wie auch in anderen antiken Gesellschaften steht der Name im Mittelpunkt einer „Gedächtniskultur“, in der es um das „Setzen des (eigenen) Namens“ und um Selbsterhaltung der Person über den Tod hinaus, im Gedächtnis der Nachwelt, geht.90 Für den Normalsterblichen wird das Überdauern des eigenen Todes in Mesopotamien durch die Nachkommen ermöglicht, welche den Namen des Verstorbenen im Ahnenkult erinnern, während sich die Herrscher und bestimmte Mitglieder der Oberschicht einen dauerhaften Namen auch durch herausragende Taten und durch Verewigung des „geschriebenen Namen“ in Texten und Bildern schaffen (z.B. in Form von Statuen, Stelen, Siegeln, Weih-, Bau- und Grabinschriften).91 89
Siehe Radner, Macht des Namens (s. Anm. 79), 27ff. Siehe ausführlich Radner, Macht des Namens (s. Anm. 79). 91 Siehe Radner, Macht des Namens (s. Anm. 79), 64ff., 90ff., 114ff. In diesen Kontext sind auch die Tatenberichte der Königsinschriften, Hymnen und Preisdichtungen auf Herrscher (die zu Lebzeiten der Person gedichtet wurden) einzuordnen. Manche herausragende Gelehrte/ Weise werden gleichfalls zu Figuren und Protagonisten literarischer Texte (z.B. Epen und pseudo-autobiographische Texte), vgl. T. Longman, Fictional Akkadian Autobiography: A Generic and Comparative Genre (Winona Lake: Eisenbrauns, 1991); B.R. Foster, Akkadian Literature of the Late Period (Münster: Ugarit-Verlag, 2007). In den Texten des 1. Jt. v. Chr. werden die Namen wichtiger Gelehrter vergangener Zeiten z.B. in Katalogen von „Autoren“ und ihren Werken bewahrt, vgl. z.B. W.G. Lambert, „A Catalogue of Texts and Authors“, in JCS 16 (1962), 59-77; Foster, „On Authorship in Akkadian Literature“, in AION 51 (1991), 17-32; A. Lenzi, „The Uruk List of Kings and Sages and Late Mesopotamian Scholarship“, in JANER 8 (2008), 137-169; A. Lenzi, „Mesopotamian Scholarship: Kassite to Late Babylonian Periods“, in Journal of Ancient Near Eastern History 90
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Die mesopotamischen Personennamen spiegeln jedoch weniger die Selbstsicht des jeweiligen Namensträgers wider, sondern werfen in stärkerem Maße ein Licht auf die Beziehungen und Einbettung des Namenträgers in seine soziale Umwelt bzw. auf seine Wahrnehmung durch die Mitmenschen (Namengeber).92 Eine Person erhielt ihren Namen in der Regel kurz nach der Geburt, wie sich aus textlichen Aussagen und aus gelegentlichen Bezugnahmen auf die Geburt des Namensträgers in manchen Personennamen schließen läßt.93 Zudem sind für Mesopotamien auch Namensänderungen beim Eintritt in einen neuen Lebensabschnitt bzw. in eine neue soziale Position bezeugt, wobei die Namen auf den neuen Status Bezug nehmen (sichtbar in Namen von Frauen, die den Gatten erwähnen, in Priesternamen sowie in Thronnamen von Königen).94 Hinsichtlich individueller Aspekte in der akkadischen Onomastik fallen mitunter Namen auf, welche eine (hervorstechende bzw. erwünschte) körperliche oder charakterliche Eigenschaft des Namenträgers bezeichnen.95 Einen weitaus größeren Anteil bilden jedoch 2 (2015), 145-201, bes. 151ff. Hinzu tritt die Technik des Kolophons, in denen die Kopisten von Texten Angaben über ihre Identität oder über die Herkunft der Vorlage geben, vgl. H.H. Hunger, Babylonische und assyrische Kolophone (Kevelaer/Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag/Butzon & Bercker Verlag, 1968). 92 Siehe zur akkadischen Onomastik z.B. J.J. Stamm, Die akkadische Namengebung (Leipzig: J.C. Hinrichs Verlag, 1939); D.O. Edzard, „Name, Namengebung, A. Sumerisch und B. Akkadisch“, in Reallexikon der Assyriologie 9 (Hg. D.O. Edzard et al.; Berlin/New York: De Gruyter, 1998-2001), 94-116. Die bislang umfangreichste Zusammenstellung von Personennamen (aus der neuassyrischen Zeit) findet sich in S. Parpola (Hg.), The Prosopography of the Neo-Assyrian Empire (Helsinki: The Neo-Assyrian Text Corpus Project, 1998-2011). 93 Siehe Stamm, Namengebung (s. Anm. 92), 127f. 94 Siehe Radner, Macht des Namens (s. Anm. 79), 28ff., 33ff.; zu Frauennamen s. Steinert, Aspekte des Menschseins (s. Anm. 1), 446ff. 95 Siehe Stamm, Namengebung (s. Anm. 92), 248ff., 264ff., z.B. Namru/Namirtu „der/die Strahlende“; Damiqtu „die Gute“. Andere Namen bezeichnen körperliche Anomalien oder Auffälligkeiten, z.B. Kuppupu „der Gekrümmte“, Sarriqu „Schieler“. Bei einem Teil der Namen könnte es sich auch um Spitznamen von Erwachsenen handeln.
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Personennamen, die einen Bezug zur Herkunft (Geburtsort)96, zur familiären Situation97 sowie zur göttlichen Sphäre enthalten98, d.h. einen Aspekt der sozialen Identität hervorheben. Ein größerer Teil akkadischer Namen enthält 96
Für Personennamen, die den Namen einer Stadt oder einer ethnischen Gruppe enthalten, s. F.M. Fales, „Ethnicities in the Assyrian Empire (I): Foreigners and ,Special‘ Inner Communities“, in Literature as Politics, Politics as Literature. Essays on the Ancient Near East in Honor of Peter Machinist (Hg. D.S. Vanderhooft/A. Winitzer; Winona Lake: Eisenbrauns, 2013), 47-73, bes. 66f.; Fales, „Ethnicity in the Assyrian Empire: A View from the Nisbe (II): ,Assyrians‘“, in Omaggio a Mario Liverani, fondatore di una nuova scienza (Hg. M.G. Biga et al.), ISIMU 11-12 (2015), 183-204, bes. 192. Personennamen und -bezeichnungen, die aus Ortsnamen und dem Suffix der Nisbe bestehen, wechseln mit Bezeichnungen der Form mār+Stadtname „Einwohner (wörtl. Sohn) des Ortes NN“. Die betreffenden Städte sind meist von größerer Bedeutung oder besonderem religiösen Status – die Städtenamen stehen wohl stellvertretend für den Hauptgott der Stadt. Dieser Namenstyp ist für Babylonien und Assyrien bezeugt, z.B. Nippurītu „die aus Nippur“. Personennamen, die auf ethnischen Bezeichnungen basieren, sind z.B. als Namen Neuzugezogener zu denken (z.B. Amurrû „der Amurriter“). Zu den Problemen der linguistischen Analyse von Personennamen als Indikatoren für die ethnische Zugehörigkeit des Namensträgers vgl. Fales, „Ethnicities (I)“, 50ff.; Fales, „Ethnicity (II)“, 185. In hellenistischer Zeit sind aus Babylonien auch Personen mit (akkadisch-griechischen) Doppelnamen bezeugt, s. T. Boiy, „Akkadian-Greek Double Names in Hellenistic Babylonia, in Ethnicity in Ancient Mesopotamia. Papers Read at the 48th Rencontre Assyriologique Internationale Leiden, 1-4 July 2002 (Hg. W.H. van Soldt et al.; Leiden: Nederlands Instituut vor het Nabije Oosten, 2005), 47-60. 97 Diese Namen beziehen sich z.B. auf den Status des Namensträgers als Einzelkind, Waise, Erstgeborener oder verweisen auf Geschwister und weitere Verwandte des Namensträgers (verstorbene und lebende), s. G. Kalla, „Namengebung und verwandtschaftliche Beziehungen in der altbabylonischen Zeit“, in Altorientalische und semitische Onomastik (Hg. M.P. Streck/S. Weninger; Münster: Ugarit-Verlag, 2002), 123-169. 98 Siehe ausführlich Stamm, Namengebung (s. Anm. 92), 58ff., 131ff., der die Namen mit religiösem Bezug vor allem in die Themen Dank (an die Gottheit für die Geburt des Kindes), Bitten (für das Kind/um weitere Kinder), Wünsche (für das Kind) und Klagen (an die Gottheit) unterteilt. Personennamen können auch aus Mahnungen an das Kind bestehen (z.B. gottesfürchtig zu sein).
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ein theophores Element (Göttername oder anonymes ilu „Gott“), das sich in manchen Fällen auf den Gott der Stadt, aus welcher der Namensträger stammt, in anderen Fällen (aber nicht zwingend) auf die persönliche Gottheit des Namensträgers bezieht.99 Auch in Gebeten des 1. Jt. v.
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Die genaue Charakterisierung des Begriffs der persönlichen Gottheit, der hinter Bezeichnungen wie „mein/dein/unser Gott“ oder „der Gott deines Vaters/unserer Familie“ vermutet und als Schutzpatron patrilinearer Familienverbände interpretiert wird, ist in der Assyriologie umstritten; für einen Überblick siehe M.P. Streck, „Persönliche Frömmigkeit“, in Reallexikon der Assyriologie 10 (Hg. D.O. Edzard/ M.P. Streck; Berlin/New York: De Gruyter, 2003-2005), 424-429. Einige Forscher sprechen vom Einzelnen, andere von der Familie als Träger der Verehrung eines persönlichen Gottes; persönlicher Gott und Gott der eigenen Familie waren wohl gewöhnlich identisch, vgl. H. Vorländer, Mein Gott. Die Vorstellungen vom persönlichen Gott im Alten Orient und im Alten Testament (Kevelaer/Neukirchen-Vluyn: Butzon & Bercker/Neukirchener Verlag, 1975); K. van der Toorn, Family Religion in Babylonia, Syria and Israel. Continuity and Change in Forms of Religious Life (Leiden: Brill, 1996). Manche sehen Hinweise für eine Verehrung dieser Gottheit in Privatkapellen zu Hause, während andere von lokalen Tempeln als Kultort der persönlichen Gottheit ausgehen. Der Verehrung der persönlichen Gottheit wird als Religiosität der einfachen Leute oder „Volksfrömmigkeit“ meist eine weite Verbreitung zugesprochen. Nach D. Charpin, „Les divinités familiales des Babyloniens après les légendes de leurs sceaux-cylindres“, in De la Babylonie à la Syrie, en passant par Mari. Mélanges offerts à J.-R. Kupper à l’occasion de son 70e anniversaire (Hg. Ö. Tunca/J.-R. Kupper; Liège: Université de Liège, 1990), 59-78, bes. 76, beziehen sich Ausdrücke wie „mein Gott“ in Personennamen jedoch nicht zwingend auf den persönlichen/Familiengott, da das theophore Element im Namen einer Person meist nicht mit der genannten Familiengottheit in Siegellegenden identisch ist. Polytheistische Religionen wie in Mesopotamien bieten Individuen/Gruppen prinzipiell ein hohes Maß an Wahlmöglichkeiten, sich je nach Situation verschiedenen Gottheiten zuzuwenden. Nach van der Toorn, a.a.O., der vor allem Textmaterial der altbabylonischen Zeit herangezogen hat, ist die Familiengottheit meist eine männliche Gottheit und besitzt eine untergeordnete Position im Pantheon, welche sie für ihre Rolle als Vermittler zu hohen Gottheiten prädestiniert. Lediglich Herrscher bezeichnen ranghohe Götter wie Anu und Enlil als ihre persönlichen Götter. Viele Familien verehrten meist eine Gottheit, die in ihrem Stadtviertel oder Wohnort einen Schrein oder Tempel besaß. Personen amurritischer Abstammung in den baby-
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Chr. wird der Betende häufig durch die Nennung seines Namens, seines Vaternamens sowie durch den Namen seines persönlichen Gottes eingeführt.100 Im Vergleich dazu können in den Formeln der Selbst-Identifizierung des Schreibers in Kolophonen von Keilschrifttexten neben dem Namen, der Genealogie (Vater, Großvater)101 auch lonischen Städten hatten häufig zwei Familiengötter: einen traditionellen Stammesgott (z.B. Amurru) und eine babylonische Gottheit. Der Umstand, daß Schreiber z.T. mehr als eine Familiengottheit nennen, die jedoch meist Patrone ihrer Zunft sind (z.B. Nisaba und Nabû), zeigt, daß die Anzahl und Identität der persönlichen/Familiengötter nicht nur mit der geographischen oder ethnischen Herkunft und dem Beruf, sondern auch mit dem sozialen Status der Person/Familie zusammenhängt. 100 Siehe z.B. W. Mayer, Untersuchungen zur Formensprache babylonischer „Gebetsbeschwörungen“ (Rome: Biblical Institute Press, 1976), 46ff., zu den Formeln der Selbstvorstellung des Bittstellers, die durch anāku „ich“ eingeleitet werden (z.B. „Ich, NN, Sohn des NN, dessen Gott NN, dessen Göttin NN ist“). Der Bittsteller kann auch in der 3. Person bezeichnet sein (häufig findet sich in den Texten die anonyme Formel „So-und-so, Sohn des So-und-so“, und beim Rezitieren wurden dann die jeweiligen Namen eingesetzt). Die Elemente Personenname, Vatersname und persönliche Gottheit bilden auch häufig Teil der Selbst-Identifizierung des Siegelinhabers auf Siegelinschriften. Zudem wird in Gebeten oder anderen literarischen Texten der Gott/die Göttin der (Heimat)stadt manchmal neben dem/r persönlichen Gott/Göttin erwähnt und kann mit letzteren identisch sein, s. z.B. T. Abusch/D. Schwemer, Corpus of Mesopotamian Anti-Witchcraft Literature. Volume II (Leiden: Brill, 2016), 16f. Z. 35-36, wo „mein Gott/ meine Göttin“ neben dem „Gott meiner Stadt“ und der „Göttin meiner Stadt“ aufgeführt werden. Vgl. dazu das Marduk-Gebet in Abusch/ Schwemer, Corpus I (s. Anm. 42), 324 Z. 57’, 61’, wo der Bittsteller Marduk zugleich als seinen Gott und als Gott seiner Stadt bezeichnet. 101 Im 1. Jt. v. Chr. kommen in Babylonien auch Familiennamen auf, die aus dem Namen eines Vorfahren oder einer Berufsbezeichnung gebildet sind, vgl. C. Wunsch, „Babylonische Familiennamen“, in Babylonien und seine Nachbarn. Wissenschaftliches Kolloquium aus Anlass des 75. Geburtstages von Joachim Oelsner, Jena, 2. und 3. März 2007 (Hg. M. Krebernik/H. Neumann; Münster: Ugarit-Verlag, 2014), 289314. So signalisieren bspw. die Mitglieder einer Gelehrtenfamilie und Klagepriester aus Uruk durch ihren Familiennamen Sîn-leqe-unninnī einen genealogischen Bezug zum gleichnamigen (vermutlichen) Redaktor des Gilgamesch-Epos, der vielleicht in der 2. Hälfte des 2. Jt. v. Chr. gelebt hat, s. P. Clancier, Les bibliothèques en Babylonie dans
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der Beruf/Titel/ Amt oder die Herkunft (Heimatstadt) des Kopisten genannt sein.102 Kurzum, Personennamen und die Formen der (Selbst)-Identifizierung von Personen in mesopotamischen Texten spiegeln überwiegend Aspekte der sozialen Identität des Namensträgers wider. Auch Briefe bilden ein informationsreiches Feld für Einblicke in verschiedene Aspekte personaler Identität, bspw. durch die Grußformeln, in denen der Absender den Adressaten dem Schutz seiner eigenen persönlichen Schutzgottheiten anvertraut.103 Auch finden sich in Briefen Hinweise für die differenzierte Wahrnehmung sozialer Identität und Zugehörigkeit. Ein babylonischer Gelehrter und treuer Diener des assyrischen Königs namens Bēl-ušēzib empfiehlt in einem Brief an Asarhaddon (680-669 v. Chr.) einen gewissen Bēl-ahhē-erība als Unterstützer assyrischer Interessen in Babylonien: „Bēl-ahhē-erība ... seine Mutter ist eine [Borsippäe]rin, aber die Mutter seines Vaters ist As-
la deuxième moitié du Ier millénaire av. J.-C. (Münster: Ugarit-Verlag, 2009), 73ff.; George, Gilgamesh Epic (s. Anm. 35), 28ff. 102 Siehe Hunger, Kolophone (s. Anm. 91), 8ff. Die Titel/Berufe der Kopisten reichen vom Schreiber (z.B. ṭupšarru aššurû(BAL.TILki) „Schreiber aus Assur“, Schreiber des Königs/eines Gottes/Tempels o.ä.), über Beschwörer, Opferschauer, Klagesänger, Priester, Ärzte bis hin zu Lehrlingen; Alters- oder Rangstufen können ebenfalls vorkommen (z.B. rab ṭupšarri „Oberschreiber“, asû ṣehru „junger Arzt“). Interessanterweise wird in manchen Kolophonen auch der Zweck des Textkopierens angegeben: neben Texten, die für das Studium (Lesen, Memorieren) oder die Berufspraxis bestimmt waren, wurden andere einer Gottheit als Votiv und Ausdruck persönlicher Frömmigkeit gestiftet (z.B. von Schreibern in der Ausbildung). Als Zwecknennung können auch gute Wünsche für die eigene Person geäußert sein, deren Erfüllung der Betreffende von den Göttern erhofft wie langes Leben, Zufriedenheit, Freisein von Krankheit, Gesundheit der Nachkommen/ Familie oder Erhörung der Gebete. 103 Siehe z.B. das Corpus der neuassyrischen Hofgelehrtenbriefe an den König, in denen die Absender regelmäßig die Patrongottheiten ihrer Berufsgruppe in die Grußformeln einsetzen (besonders Marduk und Ea bei Beschwörern (āšipu), Ninurta und Gula bei Ärzten (asû), s. M.J. Geller, Ancient Babylonian Medicine. Theory and Practice (Chichester: Wiley-Blackwell, 2010), 122, mit Anm. 157.
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syrerin. Er selbst ist ein Bürger Borsippas und hat eine führende Position unter den Bürgern von Borsippa und der Nobilität von Borsippa inne, aber sein Herz ist völlig loyal gegenüber Assyrien.“104 VII.
Artikulation von Individualität in Mesopotamien
Der Begriff „Individualität“ markiert Unterschiede, sowohl zwischen Individuen als auch zwischen Individuen und Gesellschaften. Nach J. Rüpke läßt sich Individualität als „die Wahrnehmung und Ausübung von Wahlmöglichkeiten“ durch den Einzelnen verstehen, welche ihm sein sozio-kulturelles Umfeld bietet. Im negativen Sinn gehören auch Abweichungen oder der Bruch mit Normen und Traditionen der Gesellschaft zum Ausdruck von Individualität.105 Historische und anthropologische Studien legen nahe, daß die Entwicklung individueller Identität (Individuation) kein ausschließlich modernes Phänomen westlicher Gesellschaften bildet.106 Für die griechisch-römische Welt sind verschiedene Aspekte der Herausbildung des Individuums (in der Religion 104
Siehe S. Parpola, Letters from Assyrian and Babylonian Scholars (Helsinki: The Neo-Assyrian Text Corpus Project, 1993), 98f., No. 118; Fales, „Ethnicities in the Assyrian Empire (I)“ (s. Anm. 96), 71f.; Fales, „Ethnicity in the Assyrian Empire (II)“ (s. Anm. 96), 192. 105 Rüpke, „Religiöse Individualität: Historische Befunde“ (s. Anm. 74), 5ff.; Rüpke, „Individualization“ (s. Anm. 1), 7ff. 106 Individualitätskonzepte variieren von Kultur zu Kultur, ihre Existenz ist aber nicht auf westliche Gesellschaften begrenzt, siehe M.E. Spiro, „Is the Western Conception of the Self ,Peculiar‘ within the Context of the World Cultures?“, in Ethos 21 (1993), 107-153. Ausgehend von Georg Simmel, der die historische Entwicklung von Individualität mit der erhöhten Kontaktdichte in Städten in Verbindung bringt, ist für die antiken Gesellschaften eher in urbanen Zentren und in lokalen Eliten mit Phänomenen von Individualität zu rechnen, s. Rüpke, „Religiöse Individualität: Historische Befunde“ (s. Anm. 74), 5f. Die Vielfalt der Erscheinungsformen von Individualität in der Antike legt zudem nahe, daß Individualisierung kein fortschreitender historischer Prozeß ist, vgl. Rüpke, a.a.O., 7ff.; Rüpke, „Religiöse Individualität in der Antike“ (s. Anm. 2), 201ff.
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und Seelenlehre, in der öffentlichen Sphäre, im Recht etc.) herausgearbeitet worden. Auch für altorientalische Kulturen wie Ägypten und Israel lassen sich Entwicklungen in den Textquellen wie ein zunehmendes Interesse an Innerlichkeit und Introspektion feststellen. Zugleich scheinen Individuen in den altorientalischen Gesellschaften in starkem Maße durch ihre Eingebundenheit in soziale Zusammenhänge definiert zu sein. J.-P. Vernant unterscheidet drei Blickwinkel, aus denen sich Individualität in der Antike beschreiben läßt. Dies sind a) der einem Individuum zuerkannte Wert und der Grad an Handlungsspielräumen und Autonomie gegenüber der Gruppe, b) die Arten von Ego-Dokumenten, in denen Individuen über Merkmale ihrer Person sprechen, die sie einmalig machen, c) Praktiken und psychologische Haltungen von Innerlichkeit (die Sicht des „Ich“ als einzigartiges Wesen und als Selbst mit „inneren Tiefen“).107 In den vorangegangenen Abschnitten ist bereits deutlich geworden, daß die mesopotamischen Texte eine ambivalente Haltung gegenüber individueller Autonomie und Selbstbestimmung einnehmen und die soziale Ein- und Unterordnung des Einzelnen betonen. Andererseits werden Personen auch über individuelle Merkmale wahrgenommen und bewertet, und die Fähigkeit zu innerer Reflexion ist den Keilschrifttexten gleichermaßen nicht fremd. Neben den verschiedenen Formen von Ego-Dokumenten hebt Vernant für das archaische Griechenland zwei Typen des herausragenden, einzigartigen Individuums hervor: den kriegerischen Heros und den erleuchteten Weisen. Diese Form von Individualität durch „Differenz“ (durch besondere Taten oder Fähigkeiten) findet sich auch in den 107
Vernant, „Individuum, Liebe und Tod“ (s. Anm. 71), 158f. Diesen drei Ebenen von Individualität ordnet Vernant die literarischen Formen Biographie, Autobiographie und Bekenntnisse/Tagebuch zu. Letztere Kategorie sei im klassisch-hellenistischen Griechenland unbekannt, und griechische Autobiographien seien nicht durch „Ich-Intimität“ gekennzeichnet. Vgl. auch Dietrich, „Individualität“ (s. Anm. 2), 81ff., zur Individualität durch Innerlichkeit im Alten Testament.
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mesopotamischen Texten, verkörpert durch Herrscherfiguren und durch die mythologischen Weisen bzw. herausragenden Gelehrten.108 So wird Gilgamesch als Prototyp eines legendären mesopotamischen Herrschers dargestellt, der nach Ruhm und Verewigung des eigenen Namens („Setzen eines dauerhaften Namens“) durch heroische Taten strebt.109 Ebenso haben mesopotamische Herrscher verschiedener Perioden zentralen Wert auf die Verewigung ihres „geschriebenen Namens“ gelegt und zahlreiche Texte über ihre Person, Taten und Verdienste hinterlassen. Jedoch ist davon auszugehen, daß die mesopotamischen Königsinschriften, obgleich in ihnen häufig der Herrscher als Sprecher in der 1. Person auftritt, wohl selten von den
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Siehe unter anderem Vernant, „Individuum, Liebe und Tod (s. Anm. 71)“, 159f.; Dietrich, „Individualität“ (s. Anm. 2), 79ff. Zu den mythologischen Weisen (apkallu) und Gelehrten (ummânu) in Mesopotamien vgl. A. Lenzi, Secrecy and the Gods. Secret Knowledge in Ancient Mesopotamia and Biblical Israel (Helsinki: The NeoAssyrian Text Corpus Project, 2008), 67ff., 106ff., und Steinert, Aspekte des Menschseins (s. Anm. 1), 77ff. Die mythologischen Weisen der Vorzeit gelten als Vorgänger der Gelehrten; sie stehen der göttlichen Sphäre nahe, haben gelehrtes Wissen aus göttlicher Quelle empfangen und an spätere Gelehrte weitergegeben. Die Rolle der Weisen/Gelehrten als Wissensträger, -schöpfer und -vermittler wird in verschiedenen Texten thematisiert, z.B. in mythologischen Erzählungen (Adapa-Mythos) sowie in späten gelehrten Dokumenten, in denen eine „historische“ Sukzession von Weisen/ Gelehrten konstruiert wird, die jeweils einem bestimmten König zugeordnet sind (Lenzi, „The Uruk List“ [s. Anm. 91], 137ff.). Zudem finden sich Kataloge, in denen Werken der Keilschriftliteratur bestimmte „Autoren“ zugeordnet werden: Neben dem Gott Ea und mythischen Weisen werden eine Reihe von Gelehrten (zumeist Klagepriester oder Beschwörungspriester) genannt, siehe Lambert, „Catalogue of Texts and Authors“ [s. Anm. 91]; Lenzi, „The Uruk List“ [s. Anm. 91], 151ff., 178ff.). 109 Dietrich, „Individualität“ (s. Anm. 2), 80; siehe z.B. die altbabylonische Version des Gilgamesch-Epos in George, Gilgamesh Epic (s. Anm. 35), 200f. Yale Tablet 142-160.
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Herrschern selbst verfaßt wurden, sondern daß diese Aufgabe wohl meist den Schreibern und gelehrten Ratgebern (unter der Ägide des Königs) zukam.110 Angelehnt an das Genre genuiner Königsinschriften sind die sogenannten fiktiven Autobiographien, pseudonyme Dichtungen, die vorgeben, die autobiographischen Reflexionen längst vergangener Herrscher zu sein. Diese Dichtungen greifen die Form und den Stil der Königsinschriften auf, sind typischerweise in der 1. Person gehalten und enden mit einem an die Nachwelt oder den Amtsnachfolger gerichteten Abschnitt, der moralische Ratschläge oder
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Die Schreiber, welche für das Verfassen von Königsinschriften verantwortlich waren, geben nur selten ihre Identität in einem Kolophon preis. Siehe z.B. P. Machinist, „The Voice of the Historian in the Ancient Near East and Mediterranean World“, in Interpretation 57 (2003), 117-137, bes. 122ff. Gleichsam rühmen sich wenige mesopotamische Könige, des Lesens und Schreibens mächtig zu sein. Eine Ausnahme bildet der assyrische König Assurbanipal (668-627 v. Chr.), der eine priesterliche Ausbildung absolvierte und tatsächlich als Schreiber/Kopist von Texten identifiziert werden kann. Zudem hat sich auch ein Bericht über seine Ausbildung erhalten, s. P. Villard, L’éducation d’Assurbanipal“, in Ktema 22 (1997), 135-149; A. Livingstone, „Ashurbanipal: literate or not?“, in Zeitschrift für Assyriologie 97 (2007), 98118. Doch obgleich Assurbanipal in den Kolophonen der Texte aus seiner Privatbibliothek in Ninive als Urheber/Schreiber der Texte ausgegeben wird, haben diese Aufgabe mit Sicherheit ganze Stäbe von beschäftigten Palastschreibern und Gelehrten vollbracht. Autobiographische Reflexionen finden sich auch in den Inschriften Asarhaddons (680-669 v. Chr.), in denen er über die Schwierigkeiten seiner Thronbesteigung berichtet, vgl. H. Tadmor, „Autobiographical Apology in the Royal Assyrian Literature“, in History, Historiography and Interpretation (Hg. H. Tadmor/M. Weinfeld; Jerusalem: Magnes Press, 1983), 36-57. Unter den (pseudo)autobiographischen Texten ist zudem die Grabinschrift der Adad-guppī, der Mutter des babylonischen Königs Nabonid (555-539 v. Chr.) zu erwähnen, die einen persönlichen, retrospektiven Blick auf das eigene Leben wirft (der Text wurde jedoch sicher im Auftrag von Nabonid verfaßt), s. H.-P. Schaudig, Die Inschriften Nabonids von Babylon und Kyros’ des Großen samt den in ihrem Umfeld entstandenen Tendenzschriften, Textausgabe und Grammatik (Münster: Ugarit-Verlag, 2001); Longman, Autobiography (s. Anm. 91), 97ff.; Foster, „Akkadian Literature“ (s. Anm. 91), 47ff.
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Lebensweisheiten vermittelt.111 Zum Beispiel läßt die sogenannte Kutha-Legende Naram-Sîn von Akkad über die eigenen Fehler seiner Amtszeit reflektieren.112 Als ein Kennzeichen der mesopotamischen Literatur gilt mithin, daß sich Autoren selten bzw. mit großer Zurückhaltung in ihren Werken identifizieren.113 Beispielsweise 111
Siehe z.B. Foster, Akkadian Literature (s. Anm. 91), 14ff.; P. Machinist, „On Self-Consciousness in Mesopotamia“, in The Origins and Diversity of Axial Age Civilizations (Hg. S.N. Eisenstadt; Albany: State University of New York Press, 1986), 183-202. Eine ausführliche Studie zum Thema bietet Longman, Autobiography (s. Anm. 91). Beispiele für diese Dichtungen bilden z.B. Legenden über die Könige der AkkadDynastie wie die Geburtslegende Sargons oder die sogenannte KuthaLegende. 112 Zu diesem Text siehe Westenholz, Legends of the Kings of Akkade (s. Anm. 24), 294ff.; Steinert, Aspekte des Menschseins (s. Anm. 1), 210ff.; Longman, Autobiography (s. Anm. 91), 110ff.; Machinist, „The Voice of the Historian“ (s. oben Anm. 110), 124f. Naram-Sîn scheitert aufgrund seiner eigenen Selbstüberschätzung, akzeptiert aber schließlich, daß er sich der Autorität (und Zustimmung) der Götter (durch Befolgen der Orakelentscheide) unterstellen muß, um als Feldherr erfolgreich zu sein. Am Schluß der Dichtung wendet sich der Protagonist direkt an den Leser (d.h. an seinen Nachfolger im Amt), er habe seinen Bericht als Vermächtnis im Nergal-Tempel in Kutha hinterlegt, damit der Leser von seinen Erfahrungen belehrt wird und ihn dafür segnet. Der Anfang des jungbabylonischen Gilgamesch-Epos greift bestimmte Wendungen dieser Passage der Kutha-Legende auf, indem es den Leser zur Stadtmauer von Uruk führt und dazu auffordert, eine von Gilgamesch hinterlassene Lapislazuli-Tafel mit dem Text des Epos gleich einer Gründungsinschrift aufzusuchen und zu lesen, vgl. George, Gilgamesh Epic (s. Anm. 35), 538f. I 13-28. 113 Zur Artikulation von Autorschaft und dichterischer Originalität in mesopotamischen Texten siehe z.B. Machinist, „The Voice of the Historian“ (s. Anm. 110), 121ff.; J.-J. Glassner, „Who were the Authors before Homer in Mesopotamia“, in Diogenes No. 196, Vol. 49/4 (2002), 85-92; B.R. Foster, Before the Muses. An Anthology of Akkadian Literature. 3rd edition (Bethesda: CDL Press, 2005), 19f.; P. Michalowski, „Authorship and Textual Authority“, in The Study of the Ancient Near East in the Twenty-first Century (Hg. J.S. Cooper/G. Schwartz; Winona Lake: Eisenbrauns, 1996), 183-190; D. Shehata, „Selbstbewußte Dichter des Hammurabi-Dynastie“, in Von Göttern und Menschen. Beiträge zu Literatur und Geschichte des Alten Orients. Festschrift für Brigitte Groneberg (Hg. D. Shehata et al.; Leiden: Brill, 2010), 197-224; Foster, „The Person“ (s. Anm. 1), 132. Zu Kolophonen
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kann sich der Dichter in seinem Werk mit Namen einführen, wie z.B. Kabti-ilāni-Marduk am Ende des Erra-Epos. Jedoch wird ihm der Wortlaut der Dichtung von der Gottheit im Traum offenbart und Kabti-ilāni-Marduk wird lediglich als Kompilator (kāṣiru) bezeichnet.114 Ungewöhnlich ist auch die Hymne auf die Heilgöttin Gula des Beschwörungspriester Bulluṭsa-rabi, in welcher der Name des Autors ganz am Ende ähnlich einer Signatur in eine Sequenz von Bitten an die Gottheit für das Leben und Wohlergehen des Bittstellers eingebettet ist.115 Andere Dichtungen verweisen indirekt auf einen (anonymen) Autor und betonen eher göttliche Inspiration und Zustimmung zum Werk als Mittel der Legitimation, anstatt die individuelle Leistung des Autors oder die Neuheit und Andersartigkeit seines Werks in den Mittelpunkt zu stellen.116 So spielen mehrere Texte mit der Selbstreferenz, indem sich der Autor versteckt in einem Akrostichon zu erkennen gibt, welcher in der 1. Person gehalten ist und bei dem das erste (oder auch letzte) Zeichen jeder Zeile zusammen eine kurze Aussage bilden. Beispielsweise gibt sich der Autor der sogenannten Babylonischen Theodizee mit dem Akrostichon „Ich bin (E)saggil-kīna-ubbib, ein Verehrer von Gott und König“ als Individuum zu erkennen, das sich den Autoritäten und Traditionen beugt und sich in ihren Dienst stellt, obgleich er den Hauptprotago-
und Namensvermerken von Schreibern und Künstlern/Handwerkern in Texten, Herrscherinschriften und auf Monumenten/Kunstobjekten s. auch Radner, Macht des Namens (s. Anm. 79), 166ff., die festhält, daß ebenso wie Dichter auch Künstler/Handwerker in Mesopotamien selten ihre Werke mit Namen signieren, was sich z.T. mit der institutionellen Einbindung der Künstler und der dominanten Idee göttlicher Inspiration erklären läßt. 114 Siehe Foster, Before the Muses3 (s. Anm. 113), 880ff. Tafel V 3951; Machinist, „On Self-Consciousness“ (s. Anm. 111), 194f. 115 Siehe W.G. Lambert, „The Gula Hymn of Bulluṭsa-rabi“, in OrNS 36 (1967), 105-132; Foster, Before the Muses3 (s. Anm. 113), 583ff.; Oshima, Babylonian Poems (s. Anm. 65), 33f. 116 Vgl. Foster, Before the Muses3 (s. Anm. 113), 19f.; Machinist, „On Self-Consciousness“ (s. Anm. 111), 192f., 201f.
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nisten in seiner Dichtung Kritik an der sozialen Ungerechtigkeit in seiner Umwelt üben läßt.117 Andere Werke, die einem Autor zugeschrieben werden, da in ihnen der Ich-Erzähler mit Namen benannt wird wie Šubši-mešrêŠakkan in Ludlul bēl nēmeqi, wurden wahrscheinlich eher für den Protagonisten in Auftrag gegeben als selbst von ihm verfaßt.118 117
Zu Esagil-kīnam-ubbib und zur Babylonischen Theodizee siehe z.B. Finkel, „Adad-apla-iddina“ (s. Anm. 66), 144; Foster, Before the Muses3 (s. Anm. 113), 914ff.; Foster, Akkadian Literature (s. Anm. 91), 34f., die jüngste Edition und Diskussion findet sich in Oshima, Babylonian Poems (s. Anm. 65), 115ff., 343ff. In der spätbabylonischen Liste von Gelehrten und Königen aus Uruk wird Esagil-kīnam-ubbib als Zeitgenosse und persönlicher Gelehrter der babylonischen Könige Adad-apla-iddina (Mitte des 11. Jh. v. Chr.) bzw. Nebukadnezar I. (spätes 12. Jh. v. Chr.) bezeichnet, vgl. Lenzi, „The Uruk List“ (s. Anm. 91), 141ff. rev. 17-18. 118 Siehe Oshima, Babylonian Poems (s. Anm. 65), 14ff., 32f., der Ludlul bēl nēmeqi als ein aus Priesterkreisen stammendes Dankgebet für Šubši-mešrê-Šakkan versteht. Vgl. Foster, „Self-Reference“ (s. Anm. 78), 124, der darauf hinweist, daß offene Selbstreferenz in Ludlul vermieden wird. Innerhalb der Dichtung wird der Ich-Erzähler lediglich von einem ihm im Traum erscheinenden Heiler beim Namen genannt. Jedoch heißt es am Schluß des Texts unter Ausspruch verschiedener Wünsche für den Protagonisten, Šubši-mešrê-Šakkan selbst habe den Text vorgetragen, s. Oshima, Babylonian Poems (s. Anm. 65), 112f. Tafel V 111-120. Weitere Beispiele für Texte mit Autorenvermerk bilden zwei Gebete des Beschwörungspriesters Nabû-ušebši an Marduk/ Nabû, die einen aus den Anfangs- und Endzeichen jeder Zeile gebildeten Doppel-Akrostichon aufweisen, der jeweils den Namen des Autors und ein kurzes Gebet enthält, s. Machinist, „On Self-Consciousness“ (s. Anm. 111), 193; Foster, Before the Muses3 (s. Anm. 113), 701, 704f.; T. Oshima, Babylonian Prayers to Marduk (Tübingen: Mohr Siebeck, 2011), 311ff. P 14. In diesem Fall hat der Autor den Gebeten einen expliziten Vermerk auf die versteckten Lesarten beigefügt; der Kolophon nennt zudem den Namen sowie den Vaters- und Familiennamen des Autors. Einen Akrostichon enthält auch eine Hymne Assurbanipals an Marduk, s. A. Livingstone, Court Poetry and Literary Miscellanea (Helsinki: Helsinki University Press, 1989), 6ff.; Foster, Akkadian Literature (s. Anm. 91), 84. Dagegen vermerkt ein anderes Gebet an Marduk explizit im Kolophon, es sei das Werk (epištu) von Nabûšuma-ukīn, dem Sohn des (babylonischen Königs) Nebukadnezar (II.). Hier wird auch der Anlaß und Zweck der Dichtung genannt, s. Foster, Before the Muses3 (s. Anm. 113), 852ff.; Oshima, Babylonian Prayers
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Die relativ untergeordnete Bedeutung von Autorschaft in der mesopotamischen textlichen Überlieferung läßt sich mit der Beobachtung P. Machinists verbinden, daß in den mesopotamischen historischen Texten die Stimme des selbtbewußten Historikers, der eine kritische Haltung gegenüber seinen Quellen einnimmt und aus griechischrömischen Geschichtswerken geläufig ist, nicht vorkommt.119 Machinist verknüpft die Abwesenheit des „analytischen Ich“ in Mesopotamien mit dem Vorrang der traditionellen Autoritäten (d.h. König, Götter und kollektive Traditionen, Werte etc.) gegenüber der Autorität des Individuums. In dieser Kultur war es kaum möglich „for the individual human to set himself or herself up as authority not subservient to, and certainly critical of, human rulership, tradition, and even divinity, and to do it publicly.“120 Zwar finden sich gelegentlich Texte wie Ludlul bēl nēmeqi, in denen der Leidende sein Unverständnis gegenüber dem göttlichen Strafhandeln äußert, da er sich keines persönlichen Vergehens bewußt ist. Stärkere Kritik wird sogar in der Babylonischen Theodizee von der Figur des „Leidenden“ geübt, der über sein unverdientes Schicksal und die Ungerechtigkeit in der Gesellschaft klagt, in der die Bösen gedeihen, aber Fromme und Rechtschaffene wie er darben. Der Protagonist stellt damit offen die Gerechtigkeit der göttlichen Ordnung in Frage. Doch in beiden
(s. Anm. 65), 316ff. P 16, bes. Z. 80f.: „Gebet eines müden und gebundenen Mannes, den ein Widersacher gebunden hat und der (dies) dem Gott Marduk berichtet hat. Möge er durch dieses Gebet an Marduk befreit werden, sodaß Menschen und Land seine Größe sehen!“). 119 Machinist, „The Voice of the Historian“ (s. Anm. 110), 121ff., 131ff. So überwiegt die Verwendung traditioneller Topoi und Ausdrucksformen, und neue Elemente werden schnell in den „stream of tradition“ integriert. Diese Merkmale mesopotamischer Literatur und Gelehrsamkeit haben Machinist zufolge ihre Grundlage in den soziopolitischen Machtstrukturen: die Gelehrten und Literati dienten den herrschenden Eliten und den Institutionen, in welche sie eingebunden, von denen sie abhängig waren und denen sie ihr soziales Prestige verdankten. 120 Machinist, „The Voice of the Historian“ (s. Anm. 110), 136.
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Dichtungen gelangt der Hauptprotagonist zu einer Wendung in seiner Sicht der Dinge, die ihn zur Akzeptanz der Ordnung zurückkehren läßt. In Ludlul bēl nēmeqi gewinnt der Leidende nach seiner Errettung durch Marduk die innere Einsicht, daß kultische Nachlässigkeiten seinerseits Ursache des über ihn verhängten Unglücks gewesen sein müssen und unterwirft sich der Allmacht der Gottheit mit Dankbarkeit, Vertrauen und Ehrfurcht. In der Babylonischen Theodizee vertritt der Freund und Dialogpartner des Leidenden die Stimme und Positionen der traditionellen Weisheitslehre, deren Credo lautet, daß der Mensch nicht in der Lage ist, die göttlichen Pläne zu verstehen, und daß nur derjenige, der auf dem rechten Weg der Frömmigkeit und Tugend bleibt, schließlich mit Erfolg belohnt wird. Auch hier wird der leidende Zweifler, der sich bereits entschlossen hat, der Gesellschaft den Rücken zu kehren,121 von seinem Freund zur Einsicht bewegt, daß die Götter, welche die Menschen mitsamt ihrer Falschheit und Boshaftigkeit erschaffen haben, lediglich durch Bitten und Klage dazu bewegt werden können, sich des Leidenden zu erbarmen. Es war mesopotamischen Gelehrten und Dichtern demnach durchaus möglich, in ihren Werken über ihre Protagonisten Zweifel an religiösen Dogmen auszudrücken, Kritik an aktuellen Zuständen einzuflechten oder vom Traditionellen abweichende Haltungen auszudrücken, doch mußte am Ende eine Wandlung hin zu einer Versöhnung mit traditionskonformen Sichtweisen stehen. Insbesondere in den mesopotamischen Texten mit literarischer Ich-Perspektive wie in Ludlul bēl nēmeqi oder in der Kutha-Legende, in denen der Protagonist mit persönlichen Konflikten und Leidenserfahrungen konfrontiert ist, begegnen auch Momente der Introspektion, in denen der Protagonist über sich selbst, seine inneren Gedanken und sein
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Siehe Oshima, Babylonian Poems (s. Anm. 65), 156f. Z. 133-143 Strophe XIII, wo der Leidende den Wunsch äußert, seinen Besitz aufzugeben, die kultischen Riten zu verachten, bettelnd auf der Straße zu leben und wie ein Räuber durch die Wildnis zu ziehen.
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Lebensschicksal reflektiert.122 Das Augenmerk richtet sich zumeist auf die Ursachen für Unglück oder Mißerfolg, und kreist um das Erforschen des eigenen Handelns und um das Erkennen persönlicher Fehler und Vergehen.123 Sowohl in Ludlul bēl nēmeqi als auch in der Babylonischen Theodizee drücken die leidenden Protagonisten zunächst Unverständnis über ihr Unglück aus, indem sie über die Zustände in ihrer Umwelt nachdenken, denen sie sich hilflos ausgeliefert sehen. Der Ich-Erzähler in Ludlul bēl nēmeqi erkennt jedoch schließlich die Ursache für sein Leiden in eigenen Vergehen, während der klagende Skeptiker in der Babylonischen Theodizee seine innere Haltung zur Welt und den ihr innewohnenden Widerlichkeiten revidiert.124 122
Vergleichbar mit ähnlichen Texten aus Ägypten und dem AT, siehe etwa Assmann, „Geschichte des Herzens“ (s. Anm. 4), 81ff. zur Entdeckung des „inneren Selbst“ in Gestalt des Herzens; Dietrich, „Individualität“ (s. Anm. 2), 81ff.; Theißen, „Das transformative Menschenbild“ (s. Anm. 71); vgl. für Entwicklungen in Griechenland Vernant, „Individuum, Tod, Liebe“ (s. Anm. 71), 165ff. 123 Siehe Steinert, Aspekte des Menschseins (s. Anm. 1), 210ff. In der Kutha-Legende sind Naram-Sîn’s innere Gedankengänge als Monologe gekennzeichnet, die er mit sich selbst oder mit seinem Herzen/Inneren führt. Dagegen setzt der Autor von Ludlul bēl nēmeqi verschiedene dichterische Mittel ein, um Momente der Introspektion und SelbstReferenz zu erzeugen (Foster, „Self-Reference“ [s. Anm. 78], 123ff.), wobei das unabhängige Personalpronomen „ich“ selten gebraucht wird, um besondere dramatische Höhepunkte anzuzeigen (z.B. Tafel II 10, 49). Doch fehlen in diesem Text die üblichen metaphorischen Wendungen, die einen inneren Monolog markieren, vgl. jedoch Tafel II 34-48, ein Passus, in dem rhetorische Fragen das innere Nachdenken des Erzählers andeuten und der in Z. 48 mit der ausgesprochenen Ratlosigkeit des Erzählers endet („über diese Dinge grübelte ich, aber ihre Bedeutung konnte ich nicht begreifen“; vgl. Oshima, Babylonian Prayers [s. Anm. 118], 88f., 249; Foster, Before the Muses3 [s. Anm. 113], 399). 124 Einen interessanten Vergleichspunkt bieten in diesem Zusammenhang Gelehrtenbriefe an den König, in denen diese auf recht ähnliche Weise über ihr ungerechtes Schicksal klagen. Siehe z.B. Parpola, Letters (s. Anm. 104), 231ff. No. 294; S. Parpola, „The Forlorn Scholar“, in Language, Literature, and History: Philological and Historical Studies Presented to Erica Reiner (Hg. F. Rochberg-Halton; New
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Das Gilgamesch-Epos bietet ein weiteres Beispiel für eine babylonische Dichtung, in welcher der Held eine Entwicklung, einen Weg des Sich-Erkennens und Akzeptierens der eigenen Grenzen durchläuft. Am Anfang des Epos wird Gilgamesch als ein Herrscher beschrieben, der seine Untertanen drangsaliert und sich über das traditionelle Rollenideal des Herrschers hinwegsetzt. In seinem Gefährten Enkidu entdeckt Gilgamesch zunächst einen Spiegel (Ebenbild) seiner selbst, und Enkidus Tod vergegenwärtigt ihm seine eigene Sterblichkeit. Gilgameschs Streben nach Ruhm wandelt sich in eine Suche nach dem ewigen Leben, die sich jedoch nicht nach innen, sondern nach außen richtet: Gilgamesch reist bis zum Sintfluthelden ans Ende der Welt, um von ihm zu erfahren, wie er das ewige Leben erlangen kann. Erst durch das Scheitern seiner Suche gelangt Gilgamesch zur Einsicht, daß er dennoch Unsterblichkeit erlangen kann, durch seine Nachkommen sowie durch bleibende Taten wie den Bau der Stadtmauer von Uruk und das Hinterlassen von Inschriften. Am Schluß des Epos akzeptiert Gilgamesch die ihm von der Tradition bestimmten Rollen – und wird auf diese Weise zum idealen Prototypen eines mesopotamischen Herrschers und Helden. VIII. Zusammenfassung Ähnlich wie in anderen antiken Gesellschaften werden in Texten aus Mesopotamien verschiedene Aspekte indiviHaven: American Oriental Society, 1987), 257-278, einen Bittbrief des Beschwörers Urad-Gula, in dem er sich bei seinem Brotgeber Assurbanipal beschwert, daß er trotz seiner eifrigen Dienste für den König nicht die ihm zustehende materielle und soziale Anerkennung erfährt, sondern sich unverschuldet in einem demütigenden Zustand der Mittellosigkeit befindet. Urad-Gula betont insbesondere seine Beschämung über den Verlust des sozialen Ansehens angesichts seines Unglücks, wobei er sich bewußt verschiedener literarischer Vorbilder bedient, s. Oshima, Babylonian Poems (s. Anm. 65), 7, Anm. 22; Steinert, Aspekte des Menschseins (s. Anm. 1), 104f., Anm. 324.
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dueller Identität wahrgenommen und artikuliert. Die Individualität einer Person wird in ihren körperlichen und charakterlichen Eigenheiten gesehen, welche als Teil der persönlichen „Bestimmung“ gelten, die von den Göttern festgelegt wird. Die mesopotamischen Texte beschreiben menschliche Personen, die ein „Selbst“ und einen „Verstand“ besitzen, die fähig sind zur Introspektion und Reflexion über sich selbst und über die Verantwortung für eigenes Handeln, wenngleich die Möglichkeit zur Artikulation von Individualität in textlicher Form auf Mitglieder der Oberschicht und auf bestimmte Typen von Ego-Dokumenten beschränkt ist. In literarischen Texten mit IchPerspektive kreist die Reflexion und Introspektion der Protagonisten und Akteure häufig um die Themen persönliches Glück und Unglück, Tun und Ergehen sowie Unzufriedenheit mit dem eigenen Schicksal und den eigenen Grenzen. Gleichwohl definieren sich Individuen in mesopotamischen Texten nicht primär durch ihr Anders-Sein, sondern über soziale Zugehörigkeit, Stellung, Beruf und Herkunft und Schlüsselkonzepte wie Ehre, Würde, Ansehen.125 125
Zu den Konzepten Scham, Würde und Ehre in Mesopotamien siehe Steinert, Aspekte des Menschseins (s. Anm. 1), 405ff. Die verschiedenen Ebenen individueller, sozialer und kollektiver Identität lassen sich anhand des Gebrauchs und der Bedeutungsebenen der Wörter awīlu/ awīlūtu „Mensch/Menschheit“ nachvollziehen (Steinert, a.a.O., 83ff.). Beide Termini stehen neben Wörtern wie „Land“, „Leute; Einwohner“ und werden für Kollektivbezeichnungen herangezogen, um die Zugehörigkeit zu einer lokalen, ethnischen oder territorialen Gruppe zu bezeichnen. Darüber hinaus dienen die Termini awīlu/awīlūtu zum Ausdruck innersozialer Abgrenzungen (z.B. als freies Mitglied der Oberschicht gegenüber Mitgliedern der unteren Schicht/Sklaven). Die Wörter awīlu/awīlūtu stehen darüber hinaus für einen bestimmten Idealtypus der Person („Ehrenperson“, „Gentleman“), der mit einem Kodex des Verhaltens, moralischen und sozialen Werten verknüpft ist, mit dem sich Mitglieder der städtischen, wohlhabenderen und gebildeten Schichten identifizieren und von anderen abheben (Steinert, a.a.O., 99ff.). Dieser Ehrenkodex kommt vor allem in Briefen und Texten der Schreiberausbildung und Gelehrtentradition zum Ausdruck und umfaßt Werte wie Solidarität mit Familien- und
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Dennoch lassen sich auch Kontexte erkennen, in denen Individuen miteinander konkurrieren126 und nach sozialer Distinktion streben. Insbesondere im Fall der Herrscher zeigt sich personale Identität im Streben nach Ruhm durch persönliche Taten und durch Verewigung in Ego-Dokumenten, in denen die eigene Person glorifiziert wird und sich von der Masse der anderen abhebt.127 Gruppenmitgliedern, Freigiebigkeit, Verantwortungsbewußtsein, Zuverlässigkeit sowie sozial verträgliche Verhaltensweisen (Selbstbeherrschung, Zurückhaltung, Bescheidenheit etc.). 126 Für Selbstbewußtsein, Wettbewerb und Konkurrenz unter den Gelehrten am neuassyrischen Hof siehe z.B. Lenzi, „Mesopotamian Scholarship“ (s. Anm. 91), 176f. L. Verderame („A Glimpse into the Activities of Experts (Ummânu) at the Assyrian Royal Court“, in From Source to History. Studies on Ancient Near Eastern Worlds and Beyond Dedicated to Giovanni Battista Lanfranchi on the Occasion of His 65th Birthday on June 23, 2014 (Hg. S. Gaspa et al.; Münster: Ugarit-Verlag, 2014), 713-728, bes. 724f., beleuchtet Konflikte zwischen einzelnen Gelehrten am neuassyrischen Hof, die zu verschiedenen Fraktionen (d.h. den etablierten Gelehrtenfamilien und den neuaufgestiegenen Gelehrten ohne entsprechende Herkunft) gehören, wobei die Vertreter der Neuaufgestiegenen in ihren Briefen an den König durch einen direkten, eigenwilligen Stil und durch bewußtes Brechen mit bestimmten Traditionen und Etiketten auffallen. Aspekte von kompetitivem Verhalten finden sich aber bereits schon in den Texten der altbabylonischen Schultradition, z.B. in Streitgesprächen/Dialogen zwischen zwei Protagonisten, s. z.B. J.C. Johnson/M.J. Geller, The Class Reunion. An Annotated Translation and Commentary on the Sumerian Dialoge „Two Scribes“ (Leiden: Brill, 2015), die auch erzieherische Elemente enthalten (Ansporn zum Streben nach Wissen, Gelehrsamkeit, Sprachkompetenz, Schlagfertigkeit, Selbstbehauptung). Siehe auch S.N. Kramer, „Rivalry and Superiority: Two Dominant Features of the Sumerian Culture Pattern“, in Selected Papers of the Fifth International Congress of Anthropological and Ethnological Sciences, Philadelphia, September 1-19, 1956 (Hg. A.F. Wallace; Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 1960), 287-291. Darin lassen sich Beispiele für „kompetitive Individualität“ sehen, vgl. Rüpke, „Individualization“ (s. Anm. 1), 12ff. 127 Ego-Dokumente von Herrschern können als Ausdrucksformen „repräsentativer Individualität“ gelten, bei der das Streben nach individueller Perfektion in der Erfüllung einer sozialen oder religiösen Rolle im Vordergrund steht, s. Rüpke, „Individualization“ (s. Anm. 1), 12ff. Beispielsweise betonen Herrscher häufig in ihren Inschriften, in ihrer Amtszeit etwas vollbracht zu haben, was keiner ihrer Vorgänger
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Es läßt sich nicht leugnen, daß mesopotamische Texte Individualität als Potential zu eigenständigen Handlungen und Entscheidungen unabhängig von kulturellen oder religiösen Traditionen kennen, jedoch wird diese Form von Autonomie meist abgelehnt oder ambivalent bewertet. Menschen sind durch ihr „Selbst“ und ihren „Verstand“ fähig, sich konform oder konträr zu sozialen Normen zu verhalten, jedoch ist der „Verstand“ zugleich mit dem Ideal von „Weisheit“ verknüpft, das vor allem in der Verinnerlichung und Akzeptanz von traditionellen Normen und Werten als Maßstab für eigenes Handeln besteht. Konzepte des „Selbst“ als Potential zu individuellen Entscheidungen verbinden sich zugleich mit der Idee moralischer Verantwortung von Individuen für ihr Handeln sowie mit Konzepten wie individueller Schuld, Verfehlung und Bestrafung.128 Ebenso begegnen in mesopotamischen Texten Reflexionen von Individuen über sich selbst, ihr Handeln und Schicksal. Diese bewegen sich überwiegend im Orientierungsrahmen verinnerlichter sozialer Normen, Werte und idealer Rollenmuster. In keilschriftlichen Quellen suchen bewerkstelligt hat, und offenbaren somit einen Drang danach, sich als herausstechende Individuen in einer Reihe von Amtsträgern zu präsentieren. Zu verwandten Ausdrucksformen von repräsentativer Individualität, die sich Mitgliedern der Elite in Mesopotamien bieten, gehören Stiftungen (z.B. Weihgaben und Beterstatuen, die Tempeln geweiht wurden) oder die Verewigung in Monumenten wie Statuen/Stelen (für Könige/Königinnen und hohe Beamten belegt, s. Radner, Macht des Namens [s. Anm. 79], 42ff., 122ff.), sowie schichtenspezifische Aspekte des Habitus (Kleidung, Lebensstil, Verhaltenscodes, Besitz von Siegeln o.ä.). 128 Vgl. Steinert, Aspekte des Menschseins (s. Anm. 1), 257ff., 524ff. Die Idee moralischer Verantwortung begegnet z.B. im Kontext des Rechts und der Religion (Tun-Ergehen-Zusammenhang). Zugleich beinhaltet das Konzept der persönlichen Bestimmung (šīmtu) auch individuelle Handlungsspielräume: Bestimmte Parameter der Existenz eines Menschen sind zwar von außen (von den Göttern) vorbestimmt, jedoch wirkt der Einzelne auch durch sein Handeln auf sein eigenes Geschick ein (d.h. Handlungen des Individuums können die Götter dazu bewegen, seine persönliche Bestimmung zu verändern), Steinert, a.a.O., 64ff.
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und finden Individuen ihr persönliches Glück primär in persönlichem Erfolg, in sozialer Anerkennung, Eingebundenheit und Zugehörigkeit, aber nur selten in einem Ausbrechen aus der Gesellschaft129.130
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Abweichendes oder kriminelles Verhalten, Außenseitertum und das Scheitern sozialer Beziehungen (z.B. Ehescheidung, Enterbung und Verstoßen von Kindern etc.) bildeten nichtsdestotrotz Teil altmesopotamischer Lebenswirklichkeit und werden in verschiedenen Texten thematisiert, siehe z.B. U. Steinert, „City Streets: Reflections on Urban Society in Cuneiform Sources of the 2nd and 1st Millennium BCE“ in The Fabric of Cities. Aspects of Urbanism, Urban Topography and Society in Mesopotamia, Greece and Rome (Hg. N.N. May/U. Steinert; Leiden: Brill, 2014), 123-169, bes. 143ff. 130 Dieser Beitrag entstand im Rahmen meiner Arbeit im Forschungsprojekt "BabMed – Babylonian Medicine", das vom European Research Council (ERC) gefördert wird (Projekt-Nr. 323596).
Hellenistisches Judentum
Eberhard Bons
Das Buch Judith – Konturen jüdischer Identität in hellenistischer Zeit
I. Einleitung Wer an das Buch Judith denkt, denkt unweigerlich an die beiden Szenen, für die es bekannt ist, nicht nur bei Leserinnen und Lesern der Bibel: die Enthauptung des Holofernes und Judiths Rückkehr in die Stadt, wobei sie das Haupt des toten Feldherrn triumphierend in den Händen hält. Künstlerische Darstellungen der Szenen haben die Rezeption des Judith-Buches in den letzten Jahrhunderten wesentlich beeinflusst. Stellvertretend für viele andere sei das Gemäde von Caravaggio aus den Jahren 15981599 genannt, das in Rom im Palazzo Barberini gezeigt wird und die Enthauptung des schlafenden Holofernes mit seinem eigenen Schwert zeigt, und zwar in all ihrer Detailgenauigkeit und Grausamkeit.1 Doch das Buch Judith bietet mehr als nur blutrünstige Szenen. Das sechzehn Kapitel lange Werk besteht aus erzählerischen Abschnitten, Dialogen, Reden und Gebeten – um nur die wichtigsten literarischen Genera zu nennen, die schon bei der ersten Lektüre des Textes auffallen. Sie alle kreisen um das Thema des Feldzugs des Holofernes, durch den Israel in größte Gefahr gerät; diese wird jedoch durch das entschlossene Eingreifen Judiths letztlich gebannt. Vgl. zur Darstellung Judiths in Malerei und Plastik u.a. J. Seibert, Art. „Judith“, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 2, Freiburg: Herder, 1970, 454-458. C. de Capoa, Episodi e personaggi dell’Antico Testamento, Milano: Mondadori, 2003, bes. 282–292. 1
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Inzwischen ist weitgehend anerkannt, dass die Ereignisse, die das Buch Judith erzählt, nicht stattgefunden haben, ja dass das Buch selbst eine Fiktion ist. Dafür sind die historischen Ungereimtheiten zu auffällig,2 angefangen vom ersten Vers des Buches (Jdt 1,1): Nebukadnezar war bekanntlich nicht König der Assyrer, sondern der (Neu-) Babylonier, und Ninive, der Regierungssitz (Jdt 1,2.16), war schon im Jahr 612 zerstört worden. Schließlich kann das zwölfte Regierungsjahr Nebukadnezars unmöglich in die frühe nachexilische Zeit fallen, also in die Zeit, in die die Ereignisse eingeordnet werden, die das Buch Judith erzählt (Jdt 4,3). Unwahrscheinlich ist weiterhin, dass die Abfassung des Buches auf diese Epoche zurückgeht. Die sprachlichen Indizien3 sprechen eher dafür, dass das Buch Judith von vornherein in griechischer Sprache geschrieben worden ist. Es setzt nicht nur eine Kenntnis des typischen Septuaginta-Vokabulars voraus, sondern auch eine Kenntnis von Septuaginta-Zitaten, die vom hebräischen Bibeltext beträchtlich abweichen (z.B. Jdt 8,16 als Zitat von Num 23,194). Darum muss man damit rechnen, dass das Buch erst in hellenistischer Zeit abgefasst worden ist. Aufgrund von möglichen historischen Anspielungen kann man die Entstehungszeit viel-
Vgl. hierzu die Kommentare, z.B. C.A. Moore, Judith. A New Translation with Introduction and Commentary (AncB 40), Garden City, New York: Doubleday, 1985, 46–48, wo auch noch andere Argumente angeführt warden, die gegen die Historizität der dargestellten Ereignisse sprechen. 3 Zur gesamten Problematik der Sprache des Buches Judith vgl. E. Bons, “The Language of the Book of Judith”, in: E. Bons, J. Joosten (Hgg.), Handbuch zur Septuaginta – Handbook of the Septuagint. Bd 3: Die Sprache der Septuaginta – The Language of the Septuagint, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2016, 393–406. 4 Zu diesem Zitat vgl. schon den Artikel von H. Engel, „Der HERR ist ein Gott, der Kriege zerschlägt. Zur Frage der griechischen Originalsprache und der Struktur des Buches Judit“, in: K.D. Schunck, M. Augustin (Hgg.), Goldene Äpfel in silbernen Schalen (BEATAJ 20), Frankfurt: Peter Lang, 1992, 155–168, bes. 158–159. 2
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leicht noch näher eingrenzen und an die Jahre um 100 v. Chr. denken.5 Aber diese Fragestellung soll im vorliegenden Artikel nicht weiter vertieft werden, auch nicht diejenige, ob die Fiktion von zeitgenössischen Leserinnen und Lesern aufgedeckt werde konnte oder nicht. Vielmehr soll es in diesem Artikel um die Thematik der Identität Israels gehen. Im Buch Judith fordert offenbar die unfreiwillige Begegnung mit dem Fremden6 in Gestalt der drohenden Invasion und ihren zu erwartenden Folgen dazu auf, sich des eigenen Selbstverständnisses bewusst zu werden. Entsprechende Anhaltspunkte findet man in verschiedenen Aussagen des Buches, mit der die textinternen Personen die aktuellen Ereignisse bewerten und kommentieren oder auf die Vergangenheit Israels Bezug nehmen. Aber auch dort, wo der Erzähler nur die Ereignisse darstellt, ohne sie zu kommentieren, wird deutlich, in welcher Hinsicht die Israeliten sich von anderen Völkern unterscheiden und an welche Werte sie sich offenbar gebunden fühlen. Diese Fragestellung ist bisher in der Sekundärliteratur nur am Rande zur Sprache gekommen. Der Artikel versteht sich daher als Versuch, den Konturen jüdischer Identität im Buch Judith auf die Spur zu kommen. Er konzentriert sich dabei besonders auf die Aussagen über den Jerusalemer Tempel, über den Anspruch Nebukadnezars auf Alleinverehrung, über mögliches und wirk-
Zur Datierung vgl. J. Corley, „Judith“, in: J.K. Aitken (Hg.), The T&T Clark Companion to the Septuagint, London: T&T Clark, 2015, 222–236, bes. 224; H. Engel, „Judith/Das Buch Judith“, in: S. Kreuzer (Hg.), Handbuch zur Septuaginta – Handbook of the Septuagint. Bd 1: Einleitung in die Septuaginta, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2016, 279–288, bes. 286. 6 Vgl. zu diesem Gedanken M. Grohmann, „Diskontinuität und Kontinuität in alttestamentlichen Identitätskonzepten“, in: M. Öhler (Hg.), Religionsgemeinschaft und Identität. Prozesse jüdischer und christlicher Identitätsbildung im Rahmen der Antike (BThSt 142), Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 2013, 17–42, bes. 18 5
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liches Verschulden Israels gegenüber seinem Gott, und schließlich soll es um seine Hoffnung auf Rettung gehen. II. Wer ist Gott? Die Reaktion der Israeliten auf Nebukadnezars Feldzug 1. Die Vorgeschichte: Holofernes’ Feldzug Richtung Westen Die Enthauptung des Holofernes, die im Kapitel 13 berichtet wird, hat eine längere Vorgeschichte: Das Buch Judith weiß von einem großen Feldzug zu berichten, der Nebukadnezar dazu dient, an den Völkern des Westens, Rache zu nehmen, darunter auch an den Einwohnern Judäas; denn diese hatten ihn in seinem Krieg gegen Arphaxad, den König der Meder, nicht unterstützt. Nebukadnezar lässt daher seinen Oberbefehlshaber Holofernes ein gewaltiges Heer aufstellen, das, unterstützt von einem ebenso riesigen Tross, brandschatzend, plündernd und mordend gegen Westen zieht (Jdt 2). Menschen und Tiere werden getötet, Städte und Felder werden systematisch verwüstet (Jdt 2,27). Einige der Stadtstaaten, die an der Mittelmeerküste liegen, wie Tyrus, Sidon, Aschdod und Aschkelon kapitulieren, noch bevor es zum eigentlichen Kampf kommt, müssen jedoch ihren früheren Ungehorsam mit grausamen Vergeltungsmaßnahmen bezahlen. Dazu zählt beispielsweise die Zerstörung all ihrer Heiligtümer (Jdt 2,28–3,8). 2. Die Israeliten entschließen sich zum Widerstand Die Kunde von all den erwähnten Schreckensereignissen dringt auch zu den in Judäa wohnenden Israeliten vor, die – so ergänzt der Erzähler7 – erst kurz zuvor aus dem Vgl. dazu B. Schmitz, H. Engel, Judit. Übersetzt und ausgelegt (HThKAT), Freiburg i. Brsg.: Herder, 2014, 140. 7
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babylonischen Exil zurückgekommen waren und den Tempel wiedererrichtet hatten (Jdt 4,1–3). Doch die Israeliten handeln anders als ihre Nachbarn in Aschdod und Aschkelon, die die Invasoren mit Kränzen, Tanz und Paukenschlag empfangen (Jdt 3,7), wohl ein Zeichen der Unterwerfung.8 Im Gegensatz zu ihnen beschließen die Israeliten, Widerstand zu leisten, und zwar aus Sorge um den Tempel in Jerusalem, der bereits einmal durch Missachtung und Zerstörung entweiht worden war (Jdt 4,3) Mit diesen Aussagen ist ein erster Wendepunkt in der Erzählung erreicht, der weder vom Erzähler selbst noch von den textinternen Akteuren (z.B. vom in Jdt 4,6 erwähnten Hohenpriester Jojakim) kommentiert wird: Die Israeliten unterscheiden sich von den Städten und Völkern in ihrer Nachbarschaft darin, dass sie sich nicht der erdrückenden Übermacht der assyrischen Armee beugen wollen. Während die Menschen im Umkreis Israels erleben müssen, dass ihre Heiligtümer (Jdt 4,1: τὰ ἱερά), vernichtet werden, sind die Israeliten keineswegs gewillt, ihren Tempel (in Jdt 4,2.11 als ὁ ναός bezeichnet9) und seine Ausstattung den Eroberern preiszugeben, und entscheiden sich zum Widerstand. Insofern beschreiten die Israeliten einen völlig anderen Weg als ihre Nachbarn, die in den folgenden Kapiteln des Buches Judith keine Erwähnung mehr finden. Der Entschluss der Israeliten, sich den Assyrern nicht widerstandslos zu ergeben, ist zwar nicht selbstverständlich, aber dennoch erscheint er nicht als unbegründet. Wer das Buch Judith aufmerksam liest, wird bemerken, dass an vielen Stellen die Frage, wie man sich angesichts der drohenden Eroberung und Niederlage zu verhalten habe, mehr oder weniger explizit zur Sprache kommt. Sowohl der Erzähler als auch die verschiedenen dramaSo D.L. Gera, Judith (CEJL), Berlin, Boston: De Gruyter, 2014 161. 9 Vgl. E. Zenger, Das Buch Judit (JSHRZ I/6), Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1981, 466, der auf diesen terminologischen Unterschied aufmerksam macht. 8
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tis personae deuten aus unterschiedlichen Perspektiven die Szenarien an, mit denen die Israeliten angesichts der politisch-militärischen Situation rechnen müssen (bes. Jdt 4,12; 7,4.25–27; 8,21–22). Dass sich die einzelnen Akteure in der Dramatik der Lage nicht immer darüber einig sind, welche Optionen sie treffen sollen, verwundert nicht. Wie auch immer, die Aussage, dass die Israeliten gerade wegen des Tempels und seiner Einrichtung in größte Furcht gerieten (Jdt 4,2–3), ist ein eindeutiges Indiz dafür, dass die Entscheidung zwischen Widerstand oder Kapitulation weit mehr als nur politisch-militärische Implikationen hat.10 Denn diese Aussage ist mit anderen in Verbindung zu bringen, in denen es um die Frage geht, was für Israel im Falle einer Kapitulation auf dem Spiel steht. In ihrem Bußgebet bitten die Israeliten Gott nicht nur darum, ihre Frauen und Kinder vor Gewalt und ihre Städte vor Zerstörung zu verschonen, sondern sie schließen in ihr Gebet auch den Tempel ein: Er solle nicht zur Schadenfreude der Völker der Schmach und Entweihung preisgegeben werden (Jdt 4,12). Schließlich drückt auch Judith in ihrem Gebet die Sorge aus, dass im Falle einer Eroberung Jerusalems durch Holofernes der Tempel entweiht und sein Altar zerstört wird (Jdt 9,8). Doch wird dieses Unheil eintreten? Bevor man Genaueres über den Ausgang des Geschehens erfährt, wird die Erzählung mehrfach von Stellungnahmen der einzelnen Akteure unterbrochen, in denen sie ihre Einschätzung der Situation abgeben: Kann Israels Verhalten – also der aktive Widerstand gegen die assyrische Armee – erfolgreich sein? Oder ist er von vornherein zum Scheitern verurteilt? Die entscheidende Frage ist dabei, ob Israel in seiner Entscheidung sich auf den Beistand seines Gottes verlassen kann. Oder ist die Hoffnung unbegründet und So mit Recht C.A. Moore, Judith, 153: „… The Israelites, understandably, showed a natural fear for their own lives and property … But according to the story, the Israelites were even more concerned about the religious threat that Holofernes posed …“. 10
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illusorisch, dass Israel mit der Unterstützung seines Gottes rechnen darf? Interessanterweise ist es ein Nichtisraelit, der ammonitische Offizier Achior, der in Holofernes’ Diensten steht und der diese zwei Möglichkeiten erwägt (Jdt 5,20–21). 3. Der Anspruch Nebukadnezars auf Alleinverehrung Im ersten Kapitel des Buches Judith stößt man auf eine Bemerkung des Erzählers, die zunächst wie beiläufig die mangelnde Bereitschaft der Völker kommentiert, an Nebukadnezars Feldzug gegen Arphaxad teilzunehmen (Jdt 1,11): „Denn sie fürchteten sich nicht vor ihm, denn er war vor ihnen [= er galt ihnen] wie irgendein Mann“ (ὅτι οὐκ ἐφοβήθησαν αὐτόν ἀλλ᾽ ἦν ἐναντίον αὐτῶν ὡς ἀνὴρ εἷς), d.h. wie ein gewöhnlicher Mann.11 Diese Aussage kontrastiert mit einer anderen: Als Nebukadnezars Feldherr Holofernes mit der systematischen Eroberung der Küstenstaaten im phönizischen und palästinischen Gebiet beginnt, befällt deren Einwohner Furcht und Zittern (Jdt 2,28: φόβος καὶ τρόμος), ja von den Küstenstädten Aschdod und Aschkelon wird berichtet, dass sie sich vor Holofernes sehr fürchteten (Jdt 2,28: ἐφοβήθησαν αὐτὸν σφόδρα). Die Israeliten unterscheiden sich in dieser Hinsicht also nicht von ihren Nachbarvölkern. Wie in einer Art Crescendo wird sogar von ihnen gesagt, dass sie sich zutiefst vor Nebukadnezar fürchteten (Jdt 4,2: καὶ ἐφοβήθησαν σφόδρα σφόδρα ἀπὸ προσώπου αὐτοῦ). Die Furcht der Völker vor Holofernes ist keineswegs unbegründet. Denn sein Eroberungszug beschränkt sich anscheinend nicht nur darauf, die eingenommenen Gebiete zu verwüsten, sondern auch noch die Götterhaine, also die Heiligtümer (Jdt 3,8).12 Wie nachträglich wird vom Vgl. zu dieser Interpretation von ὡς ἀνὴρ εἷς D.L. Gera, Judith, 127–128. 12 Die LXX-Handschriften lesen die Substantive τὰ ὅρια αὐτῶν καὶ τὰ ἄλση αὐτῶν. Das erste Substantiv, τὰ ὅρια „die Gebiete“, wird in Anlehnung an die syrische Bibel häufig korrigiert zu τὰ ἱερά „die Hei11
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Erzähler eine Begründung dieser Maßnahme eingefügt (Jdt 3,8): „Denn ihm [= Holofernes] war [es?/der Auftrag?13] gegeben worden, alle Götter der Erde zu vernichten [d.h. wohl ihre Statuen oder Bilder, vgl. Jdt 8,18; Weish 13,10], damit alle Völker ausschließlich Nebukadnezar verehren und alle ihre Sprachen und Stämme ihn als Gott anrufen sollten“ (καὶ ἦν δεδομένον αὐτῷ ἐξολεθρεῦσαι πάντας τοὺς θεοὺς τῆς γῆς ὅπως αὐτῷ μόνῳ τῷ Ναβουχοδονοσορ λατρεύσωσι πάντα τὰ ἔθνη καὶ πᾶσαι αἱ γλῶσσαι καὶ αἱ φυλαὶ αὐτῶν ἐπικαλέσωνται αὐτὸν εἰς θεόν). Dieser Alleinanspruch auf Verehrung – wohl ein weiteres fiktives Element in der Erzählung14 – impliziert, dass andere Kulte und andere Götter ihre Daseinsberechtigung verlieren. Holofernes scheint sogar selbst davon überzeugt zu sein, dass Nebukadnezar Gott ist, also alles andere als ein gewöhnlicher Mensch; denn er stellt seinem Untergebenen Achior, dem Befehlshaber der Ammoniter, die rhetorische Frage (Jdt 6,2): „Wer ist Gott, wenn nicht Nebukadnezar?“ Zwar mag dies widersprüchlich klingen, aber für Holofernes ist mit der zitierten Frage nicht ausgeschlossen, dass andere Götter exiligtümer“ (vgl. Jdt 4,1), und zwar wegen des parallelen Substantivs τὰ ἄλση, das gerade in der Septuaginta sich auf Kultstätten bezieht, z.B. Ex 34,13 u.ö. So u.a. C.A. Moore, Judith, 142; D.L Gera, Judith, 163. M. S. Enslin, The Book of Judith. Greek text with an English translation, commentary and critical notes (edited with a general introduction and appendices by Solomon Zeitlin), Leiden: Brill, 1972, 76, bietet gute Argumente für die Beibehaltung von τὰ ὅρια. B. SCHMITZ, H. ENGEL, Judit, 112, ziehen die genannte Korrektur nicht in Erwägung. 13 Die Frage stellt sich, ob man sich hinter der passivischen Formulierung ἦν δεδομένον αὐτῷ ἐξολεθρεῦσαι einen nicht genannten menschlichen oder göttlichen Auftraggeber vorstellt, der die Vernichtung angeordnet hätte. B. Schmitz, H. Engel, Judit, 129, vermuten hier ein passivum divinum. D.L Gera, Judith, 163, erwägt die Übersetzung „it was possible for him to destroy“; ähnlich schon J. Vílchez Líndez, Tobías y Judit (Nueva Biblia Española), Estella: Verbo Divino, 2000, 284 („se le concedió exterminar“). Dieser sieht im Vorgehen des Holofernes eine Demonstration seiner Macht gegenüber den unterlegenen Völkern (ebd., 286). 14 Vgl. ausführlich D.L. Gera, Judith, 164.
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stieren.15 Aber auch wenn sie existieren sollen, so steht für ihn fest, dass sie gegen Nebukadnezar nichts ausrichten können: καὶ οὐ ῥύσεται αὐτοὺς ὁ θεὸς αὐτῶν „und ihr Gott [= Israels Gott] wird sie [= die Israeliten] nicht retten“ (Jdt 6,2).16 Wie die Nachbarvölker auf Holofernes’ Ankunft reagiert hatten, war zuvor anschaulich in Jdt 3,1–5.7 berichtet worden: Sie senden Boten, bitten um Frieden und unterwerfen sich Nebukadnezar (Jdt 3,2): „Siehe, wir liegen vor dir als Diener des Großkönigs Nebukadnezar. Verfahre mit uns, wie es dir gefällt“ (ἰδοὺ ἡμεῖς οἱ παῖδες Ναβουχοδονοσορ βασιλέως μεγάλου παρακείμεθα ἐνώπιόν σου χρῆσαι ἡμῖν καθὼς ἀρεστόν ἐστιν τῷ προσώπῳ σου). Was im Einzelnen den Nachbarvölkern widerfährt, wird jedoch nicht präzisiert – außer dass sie Holofernes ausgewählte Männer als Krieger zur Verfügung stellen müssen, ihre Gebiete verwüstet und ihre Heiligtümer zerstört werden. Dass Personen im Zuge der Eroberung und Besetzung der davon betroffenen Länder zu Schaden kommen, wird nicht explizit gesagt.17 Schließlich wird weder in Kapitel 3 noch später im Buch Judith bestätigt, ob die unterworfenen Völker Nebukadnezar tatsächlich verehren und ihre traditionellen Kulte aufgeben müssen, was ja die Konsequenz aus den in Jdt 3,8 erwähnten Maßnahmen wäre. Anstatt auf die Nachbarvölker Israels und ihr weiteres Schicksal einzugehen, konzentriert die Erzählung sich nun auf Israel.18 Inzwischen hat nämlich Holofernes sein Lager in der Gegend der Jesreel-Ebene aufgeschlagen, Insofern erinnert die Aussage von Jdt 6,2 an diejenige von Jes 37,10–12, wonach Sieg oder Niederlage eines Volkes davon abhängen, inwiefern ein Gott auf seiner Seite steht. 16 Vgl. hierzu auch D.L. Gera, Judith, 164, die aus dem in Jdt 3,8 erhobenen Alleinanspruch auf Verehrung folgert, dass für Holofernes andere Götter nicht existieren. Dies ist jedoch fraglich angesichts seiner Aussage in Jdt 6,2. 17 Dies betont J. Vílchez Líndez, Tobías y Judit, 286. 18 Vgl. zu diesem Wechsel der Perspektive B. Schmitz, H. Engel, Judit, 137. 15
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also in bedrohlicher Nähe zu dem Gebiet, wo nach der Darstellung des Buches Judith die Israeliten leben (Jdt 3,9–10). Der Anspruch Nebukadnezars, als alleiniger Gott angerufen zu werden, liegt aus diesem Grund für Israel nicht mehr in weiter Ferne, sondern fordert es heraus und verlangt eine Antwort. 4. Wird von Israel verlangt, Nebukadnezar als Gott zu verehren? Wer bis hierher in der Erzählung angelangt ist, fühlt sich zu der Frage veranlasst:19 Wie werden sich die Israeliten verhalten? Sie stehen also vor der Schicksalsfrage20, und anscheinend sind nur zwei einander ausschließende Antworten möglich: Sollen sie sich Nebukadnezar unterwerfen und ihn als Gott anerkennen, so wie er es von den unterworfenen Völkern verlangt? Oder werden sie sich ihm widersetzen und ihrem Gott treu bleiben? Doch nirgendwo im Text wird eine solche Alternative explizit zum Ausdruck gebracht. Genauso wenig wird unterschieden zwischen einem weltlichen Machtanspruch Nebukadnezars, den die Israeliten nolens volens anerkennen müssen, und einem religiösen, den sie aber entschieden abzulehnen hätten, da er mit dem Anspruch auf Alleinverehrung des Gottes Israels in Widerspruch stünde.21 Schließlich wird dieser Anspruch nirgendwo explizit zitiert, und eindeutige Hinweise auf den Dekalog und auf die Bundestraditionen Israels fehlen völlig im Kontext der Reden und Gebete des Buches Judith. Gewiss verVgl. auch H. Engel, „Das Buch Judit“, in: E. Zenger u.a., Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart: Kohlhammer, 72008, 292: „Der zweite Buchteil entfaltet das Problem der Erzählung: „Werden auch die Israeliten wie die anderen Völker ringsum … Nebukadnezars Anspruch anerkennen oder werden sie … sich auf die Macht des HERRN, sie zu retten, verlassen?“ 20 So E. Zenger, Art. „Judith/Judithbuch“, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. XVII, Berlin, New York: De Gruyter, 1988, 404–408, hier 405. 21 Vgl. B. Schmitz, H. Engel, Judit, 131. 19
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wendet die Septuaginta wie in Jdt 3,8 das Verb λατρεύω, wenn es um die Verehrung von Göttern und Götterbildern sowie um deren Verbot geht, und dasselbe Verb λατρεύω kommt auch in den beiden Dekalogfassungen in Ex 20,5; Dtn 5,9 vor, wo das Verbot ausgesprochen wird, einem εἴδωλον göttliche Verehrung zukommen zu lassen. Das würde bedeuten, dass Nebukadnezar von Israel ein Verhalten fordert, das nach dem Dekalog verboten ist, nämlich religiöse Verehrung. Doch das Thema wird in Jdt 4 nicht vertieft. Einerseits findet sich hier nirgendwo das Wort τὸ εἴδωλον oder ein sinnverwandtes Substantiv, z.B. τὸ γλυπτόν, andererseits scheint es nicht um ein kultisches Niederwerfen (ausgedrückt mit dem Verb προσκυνέω) zu gehen. Insofern scheint die Situation im Buch Judith sich von derjenigen zu unterscheiden, von der Dan 3 handelt.22 Nach dem Septuaginta-Text werden nämlich in Dan 3,12 die drei jungen Männer beschuldigt, das Bild des Königs Nebukadnezar (τῷ εἰδώλῳ σου) nicht wie vorgeschrieben zu verehren, was vor allem das Niederwerfen vor ihm bedeutet (vgl. Dan 3,5– 6). Ebenso wenig wird in Jdt 3–4 gesagt, dass Nebukadnezar Götterbilder in den eroberten Gebieten aufstellen lässt, und zwar als sichtbare Erinnerungen an die Göttlichkeit, die er für sich reklamiert. Ähnliches wird etwa in Weish 14,17 von zeitgenössischen Herrschern behauptet.23 Offenbar stellen sich derartige Probleme nicht in Jdt 3 und 4. Anscheinend verlangt Nebukadnezar keine Anbetung von Götterbildern, sondern er selbst will als Gott angerufen werden (so Jdt 3,8: ὅπως … ἐπικαλέσωνται αὐτὸν εἰς θεόν).24 Wie man sich aber die Verehrung Anders B. Schmitz, H. Engel, Judit, 131. Zu dieser Stelle sowie zu antiken Beispielen vgl. G. Scarpat, Libro della Sapienza. Testo, traduzione, introduzione e commento, vol. III, Brescia: Paideia, 1999, 128–129. 24 D.L. Gera, Judith, 165–166, vermutet, mit der Präposition εἰς solle zum Ausdruck gebracht werden, dass Nebukadnezar nicht göttliche Verehrung beanspruche, sondern lediglich wie ein Gott verehrt werden wolle. Gegen diese Hypothese spricht aber die Verwendung von ἐπικαλέομαι in Jdt 9,4, wo dieselbe Konstruktion des Verbs mit 22 23
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Nebukadnezars als Gott in einer entlegenen Region konkret vorzustellen hat, ob dies an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten geschehen soll, wird nirgendwo im Buch Judith angedeutet. Ebenso bleibt offen, ob irgendeine Form der Kontrolle eingeführt werden soll oder ob zur Denunziation im Fall der Übertretung des königlichen Befehls (vgl. Dan 6,6– 14) aufgerufen wird. 5. Die Sorge der Israeliten um den Tempel in Jerusalem Offenbar gilt die Sorge der Israeliten überhaupt nicht der Frage, welches religiöse Verhalten Nebukadnezar von ihnen fordern kann, sondern ihrem Jerusalemer Tempel. Dieser ist, wie wir erfahren haben, erst kurz zuvor nach der Entweihung wieder neu geweiht worden. Angespielt wird hier anscheinend auf die Zerstörung des Tempels unter Nebukadnezar und seine – nach historischen Kriterien erst Jahrzehnte später erfolgte – Neueinweihung. In Jdt 4 wird von zwei Maßnahmen berichtet, mit der die Israeliten auf die drohende Invasion reagiert: Die erste besteht darin, dass sie militärische Vorkehrungen treffen und den Invasoren Widerstand bieten wollen (Jdt 4,5). Um der feindlichen Streitmacht den Weg nach Jerusalem zu versperren, befehlen nämlich der Hohepriester Jojakim sowie die Gerusia von Jerusalem den Einwohnern von Betulia und Betomestajim – vermutlich zwei weiter im Norden gelegenen Orten25 –, die Engstellen in den Gebirgen zu besetzen und zu befestigen. Denn nur wer diese Hindernisse militärisch einnehme und beherrsche, könne nach Judäa vorstoßen (so Jdt 4,5–7). Die zweite Maßnahme besteht in inständigen Gebeten und verschiedenen Bußriten, von denen ausführlich Akkusativ sowie nachfolgendem εἰς begegnet: ἐπεκαλέσαντό σε εἰς βοηθόν „sie haben dich als Helfer/als Hilfe angerufen“. Die Präposition εἰς mit Akkusativ steht offensichtlich anstelle eines sogenannten Prädikatsakkusativs, vgl. BDR § 157,5. 25 Zur Frage einer möglichen Lokalisierung der beiden Ortschaften vgl. D.L. Gera, Judith, 176–177.
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berichtet wird und an denen die gesamte Bevölkerung einschließlich der Tiere teilnimmt, wobei damit wohl die Nutztiere gemeint sind (Jdt 4,9–15).26 Obwohl alle Israeliten diese Riten vollziehen (Jdt 4,9–10), liegt das Zentrum von derartigen Aktivitäten in Jerusalem und in seinem Tempel (Jdt 4,11–15). Dabei kommt es zu einer Intensivierung der Bußriten, die einerseits aus Handlungen bestehen, die auch aus anderen Bibeltexten bekannt wind, z.B. das Streuen von Asche auf das Haupt,27 andererseits aus Gebeten, von deren genauem Inhalt wir erfahren. In einem Gebet, das in indirekter Rede wiedergegeben wird,28 malen die Israeliten sich die Verluste aus, die ihnen durch Holofernes und sein Heer drohen, angefangen von ihren wehrlosen kleinen Kindern bis zum Tempel:29 Gott möge doch „nicht ihre kleinen Kinder dem Raub, ihre Frauen dem Beutezug, die Städte ihres Erbes der Vernichtung und das Heiligtum der Entweihung und Schmach preisgeben, zur Schadenfreude der Völker“ (Jdt 4,12: τοῦ μὴ δοῦναι εἰς διαρπαγὴν τὰ νήπια αὐτῶν Vgl. zur Buße der Tiere sowie möglichen außerbiblischen Parallelen M. Mulzer, „Die Buße der Tiere in Jona 3,7f. und Jdt 4,10“, in: Biblische Notizen 111, 2002, 76–89. 27 Insofern gilt mutatis mutandis auch für die in Jdt 4,10–11 beschriebenen Riten, was E. Kutsch, „‘Trauerbräuche’ und ‘Selbstminderungsriten’ im Alten Testament“, in: ders., Kleine Schriften zum Alten Testament (BZAW 168), Berlin, New York: De Gruyter 1986, 78–95, für andere biblische und nichtbiblische Texte beobachtet. 28 D.L. Gera, Judith, 185, vermutet, dass mit der Wahl der indirekten Rede ein Unterschied hergestellt werden sollte zum wesentlich längeren und in direkter Rede formulierten Gebet Judiths in Jdt 9,2–14. Neben dieser Erklärung kann man noch an eine andere denken: Biblische Texte bevorzugen zwar die direkte Rede (vgl. R. Alter, L’art du récit biblique, Bruxelles: Lessius 1999, 95), aber in späten alttestamentlichen Texten ist auch die Tendenz zu beobachten, die direkten Reden zu reduzieren; vgl. W. van Peursen, E. Talstra, „ComputerAssisted Analysis of Parallel Texts in the Bible. The Case of 2 Kings xviii-xix and Its Parallels in Isaiah and Chronicles”, in: Vetus Testamentum 57, 2007, 45–72, bes.70. 29 Zur Reihenfolge der Verluste vgl. J. Vílchez Líndez, Tobías y Judit, 295. 26
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καὶ τὰς γυναῖκας εἰς προνομὴν καὶ τὰς πόλεις τῆς κληρονομίας αὐτῶν εἰς ἀφανισμὸν καὶ τὰ ἅγια εἰς βεβήλωσιν καὶ ὀνειδισμὸν ἐπίχαρμα τοῖς ἔθνεσιν). In diesem Zusammenhang ist ein Detail wichtig: Die Israeliten sprechen ihr Gebet „einmütig“ aus (Jdt 4,12: ὁμοθυμαδόν), also ähnlich wie ihre Vorfahren schon auf das Bundesangebot Gottes am Sinai reagiert hatten (Ex 19,8). Die Jerusalemer Priester nehmen genauso an den Riten teil, und zwar mit ihren speziellen Verpflichtungen, also der Darbringung der Opfer (Jdt 4,14–15). Begleitet werden die Riten durch die Bitte, Gott möge doch das ganze Haus Israel „zum Guten heimsuchen“ (Jdt 4,15: εἰς ἀγαθὸν ἐπισκέψασθαι πᾶν οἶκον Ισραηλ). Das bedeutet: Auf die Initiative des Hohenpriesters hin ergreifen die Israeliten verschiedenartige Verteidigungsanstrengungen. Der Text stellt aber viel ausführlicher die Bußriten und Gebete dar: Anscheinend nehmen alle Israeliten – von den Verantwortlichen bis zu den kleinen Kindern – an den Bußriten teil, und gleichzeitig richten sie ihre Gebete an Gott. Dabei sind sie sich der Gefahr bewusst, die vom Feldzug des Holofernes ausgeht: Die schwächsten Mitglieder der Bevölkerung – gewöhnlich Frauen und Kinder – werden zur Beute der fremden Heere, den Städten droht der Untergang, und der Tempel wird ein weiteres Mal durch seine Besetzung und Zerstörung entweiht. In ihrer Not sind die Israeliten also nicht nur um den Tempel besorgt, sondern sie sind auch in seiner Nähe miteinander vereint. Sie suchen die Gegenwart Gottes nicht nur in ihren eindringlichen Gebeten, sondern auch in Opfern und Gelübden. Somit zeichnet das Buch Judith das ideale Bild eines Volkes Israel, das in der seine Existenz bedrohenden Gefahr einerseits die notwendigen militärischen Anstrengungen unternimmt, damit der Jerusalemer Tempel nicht ein zweites Mal entweiht wird. Andererseits suchen sie die Gegenwart ihres Gottes durch Gebete und Riten, wobei der Jerusalemer Tempel einen Kristallisationspunkt ihrer Initiativen bildet. Dass sie in die Gefahr geraten könnten, Nebukadnezar anbeten zu müssen, wird nirgendwo mehr gesagt.
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Diese Gefahr scheint nicht mehr im Zentrum ihrer Befürchtungen zu stehen. Die Israeliten fürchten vielmehr, dass die drohende Invasion nicht nur unermessliches menschliches Leid verursacht, sondern auch zum Verlust des Tempels führt. Dass dieser der zentrale Ort ist, mit dem sich die religiöse Identität Israels30 unlösbar verbindet, zeigt nicht zuletzt auch der letzte Abschnitt des Buches Judith: Nachdem die Gefahr gebannt ist und das assyrische Herr sich zerstreut hat, bringen die Israeliten wieder Opfergaben im Tempel dar (Jdt 16,18). Und wie um zu betonen, dass man die Rettung nicht drei Monate lang an irgendeinem Ort feiert, wird hinzugefügt, dass die Israeliten sich am Tempel von Jerusalem versammeln (Jdt 16,20). Selbst wenn man diese Feier weniger als religiöse denn als „weltliche“ Feier ansieht,31 bleibt doch festzuhalten, dass der Ort derjenige ist, den man der größten Gefahr ausgesetzt glaubte: Jerusalem. 6. Können die Israeliten darauf hoffen, dass Gott in die Geschichte eingreifen und sie retten wird? Doch bevor es zur Feier kommt, sind die Israeliten zwischen verschiedenen Positionen hin- und hergerissen. Sie müssen sich vor allem die Frage stellen: Wird Gott ihre die Gebete erhören und ihnen beistehen? Es wird immer wieder darauf hingewiesen, dass das Buch Judith Parallelen zum Buch Exodus besitzt.32 Eine der auffälligsten Parallelen findet sich in Jdt 4,13. Mitten in der Darstellung der Bußriten und Gebete Israels wird die Information eingeschoben: „und der Herr hörte auf ihre Stimme und sah ihre Not an“ (καὶ εἰσήκουσεν κύριVgl. zu den historischen Entwicklungen, die zu dieser zentralen Rolle des Jerusalemer Tempels führten, M. Tilly, W. Zwickel, Religionsgeschichte Israels. Von der Vorzeit bis zu den Anfängen des Christentums, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2011, 121. 31 Vgl. J. Vílchez Líndez, Tobías y Judit, 454. 32 So etwa E. Zenger, Das Buch Judit, 445–446. 30
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ος τῆς φωνῆς αὐτῶν καὶ εἰσεῖδεν τὴν θλῖψιν αὐτῶν). In der griechischen Formulierung kann man durchaus einen Anklang an Ex 2,24–2533 erkennen, also an den Text, der von Gottes Erhörung der Klage der Israeliten in Ägypten handelt: „Gott hörte auf ihre Klage […], und Gott sah die Kinder Israels“ (καὶ εἰσήκουσεν ὁ θεὸς τὸν στεναγμὸν αὐτῶν […] καὶ ἐπεῖδεν ὁ θεὸς τοὺς υἱοὺς Ισραηλ). Doch ist Jdt 4,13 die einzige Stelle, die eine Erhörung Israels explizit bestätigt. Anders als die biblischen Exodustraditionen enthält nämlich das gesamte Buch Judith keine Aussage, die von einem Eingreifen Gottes in die Geschichte berichten würde. Mit anderen Worten: Von der Ausnahme in Jdt 4,13 abgesehen, wird Gott nirgendwo mehr als ein Akteur dargestellt, der sich offenbart, mit den Menschen in Kommunikation tritt, Aufträge erteilt oder sogar Wunder bewirkt. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass die textinternen Akteure, also die nach Jdt 4,13 in Jerusalem versammelten Israeliten, gerade nicht die Zusage erhalten, dass Gott sie erhört habe. Diese Information erhalten nur die Leserinnen und Leser des Buches, ohne aber damit den Ausgang des Geschehens zu kennen.34 So bleibt es dabei: Die Israeliten wissen nicht, ob sie damit rechnen können, dass Gott ihr Schicksal wenden wird. Dennoch kennt das Buch Judith verschiedene Aussagen, in deren Zentrum gerade diese Frage steht. Nach dem Bericht über die Gebete und Bußriten in Jdt 4,8–15 wechselt nämlich die Szene. Dabei kommt einer der Verantwortlichen in der Armee des Holofernes zum Wort, der nicht nur eine Kenntnis der Geschichte und der gegenwärtigen Situation Israels zeigt, sondern sich später als sogenannter „righteous pagan“ dem Volk Israel anVgl. B. Schmitz, H. Engel, Judit, 153–154, die darüber hinaus noch auf Dtn 26,7 als Referenztext hinweisen. 34 Vgl. zu diesem Element der Erzählung C. Vialle, „Le Livre de Judith ou la victoire improbable“, in: J.-M. Vercruysse (Hg.), Le livre de Judith (Graphè 23), Arras: Artois Presses Université, 2014, 13–30, hier 27. 33
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schließen soll (Jdt 14,10): der Ammoniter Achior.35 Von Holofernes gleichsam als Experte zur militärischen Situation befragt, stellt Achior – vereinfacht gesagt – die Geschichte Israels als seine Geschichte mit Gott dar. Der Ausgangspunkt dieser Geschichte liegt in einer freiwilligen Trennung der Israeliten von ihrer mesopotamischen Umgebung (Jdt 5,7): „Denn sie wollten nicht mehr den Göttern ihrer Väter folgen, als sie im Land der Chaldäer lebten“ (ὅτι οὐκ ἐβουλήθησαν ἀκολουθῆσαι τοῖς θεοῖς τῶν πατέρων αὐτῶν οἳ ἐγένοντο ἐν γῇ Χαλδαίων). Stattdessen wenden sie sich einem bestimmten anderen Gott zu: „Und sie wandten sich vom Weg ihrer Vorfahren ab und verehrten den Gott des Himmels, zu dessen Erkenntnis sie gelangt waren (Jdt 5,8: καὶ ἐξέβησαν ἐξ ὁδοῦ τῶν γονέων αὐτῶν καὶ προσεκύνησαν τῷ θεῷ τοῦ οὐρανοῦ θεῷ ᾧ ἐπέγνωσαν. Doch diese „in grauer Vorzeit“ getroffene Entscheidung wird hier nicht als irgendein belangloses historisches Ereignis verstanden, sondern als fundamental für die weitere Geschichte; denn es bedeutet den Bruch mit der Vergangenheit sowie mit den Völkern der Umgebung und ist entscheidend für die weitere Geschichte Israels. Insofern hat Israel sich mit der Entscheidung für den „Gott des Himmels“ und gegen die Götter der Nachbarn und Vorfahren seine eigene religiöse Identität geschaffen.36 In der Tat besteht die weitere Geschichte Israels im Wesentlichen darin, dass Gott die Israeliten in den verschiedenen Zeitaltern begleitet und durchaus immer wieder in das Weltgeschehen eingegriffen hat, etwa bei ihrem Auszug aus Ägypten (Jdt 5,13–14). Der Ausländer Achior scheut sich dabei nicht, von einem unmittelbaren Handeln Gottes in der Geschichte zu sprechen, wenn er etwa Zur Rolle Achiors im Buch Judith, vgl. A.D. Roitman, „Achior in the Book of Judith: His Role and His Significance“, in: J.C. VanderKam (Hg.), “No One Spoke Ill of Her”. Essays on Judith, Atlanta Ga.: Scholars Press, 1992, 31–45. 36 Ausführlich hierzu R. Gil, E. Bons, „Judith 5:5-21 ou le récit d’Akhior: les mémoires dans la construction de l’identité narrative du peuple d’Israël“, in: Vetus Testamentum 64, 2014, 573–587, hier 580. 35
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bestätigt (Jdt 5,13): „Gott trocknete vor ihnen [= den Israeliten] das Rote Meer aus.“ Wie auch immer, in der Vergangenheit liegt für Achior der Schlüssel für das Verständnis der Gegenwart. Denn er erklärt das Schicksal Israels – Wohlergehen oder Leid – mit einem einfachen Prinzip (Jdt 5,17): „Denn solange sie nicht vor ihrem Gott sündigten, erging es ihnen gut; denn er ist ein Gott, der das Unrecht hasst“ (καὶ ἕως οὐχ ἥμαρτον ἐνώπιον τοῦ θεοῦ αὐτῶν ἦν μετ᾽ αὐτῶν τὰ ἀγαθά ὅτι θεὸς μισῶν ἀδικίαν μετ᾽ αὐτῶν ἐστιν). Aber Achior weiß auch vom Gegenteil zu berichten. Ohne explizit die Verehrung fremder Götter anzusprechen, ergänzt er, dass Israel im Fall einer Abweichung von seinem Weg Krieg, Untergang und Exil erleiden musste (Jdt 5,18). Was bedeutet dies aber für die Gegenwart? Achior ist sich sicher, dass nach wie vor Sieg oder Niederlage Israels davon abhängen, wie es sich Gott gegenüber verhalten hat. Wohl nicht ahnend, dass ihm dies die Absetzung durch Holofernes einbringen wird (Jdt 6,5–10), beendet Achior seine Rede mit einer bemerkenswerten Aussage (Jdt 5,20–21) : „Nun aber, Herr und Gebieter, wenn auf diesem Volk ein Vergehen [ἀγνόημα] lastet und sie gegen ihren Gott sündigen, werden wir nachprüfen, ob ein Anstoß [σκάνδαλον] bei ihnen vorliegt. Dann werden wir hinaufziehen und sie bekämpfen. Wenn aber in ihrem Volk keine Ungesetzlichkeit vorhanden ist, dann nehme mein Herr doch davon Abstand, damit ihr Herr und Gott nicht den Schild über sie halte und wir vor der ganzen Welt zum Gespött werden“ (καὶ νῦν δέσποτα κύριε εἰ μὲν ἔστιν ἀγνόημα ἐν τῷ λαῷ τούτῳ καὶ ἁμαρτάνουσιν εἰς τὸν θεὸν αὐτῶν καὶ ἐπισκεψόμεθα ὅτι ἔστιν ἐν αὐτοῖς σκάνδαλον τοῦτο καὶ ἀναβησόμεθα καὶ ἐκπολεμήσομεν αὐτούς, εἰ δ᾽ οὐκ ἔστιν ἀνομία ἐν τῷ ἔθνει αὐτῶν παρελθέτω δὴ ὁ κύριός μου μήποτε ὑπερασπίσῃ ὁ κύριος αὐτῶν καὶ ὁ θεὸς αὐτῶν ὑπὲρ αὐτῶν καὶ ἐσόμεθα εἰς ὀνειδισμὸν ἐναντίον πάσης τῆς γῆς). Die Schlüsselbegriffe in diesem abschließenden Teil der Rede sind ἀγνόημα und σκάνδαλον: Der erste bezeichnet
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eine massive Untreue Israels gegenüber seinem Gott,37 der andere seine Folge: Infolge eines begangenen Unrechts, dessen Natur hier nicht präzisiert wird, liegt in Israel ein „Hindernis“ vor – so der ursprüngliche Sinn von σκάνδαλον – und somit ein Grund, der Gott davon abhält, sein Volk zu beschützen.38 Somit erfahren die Leserinnen und Leser des Buches Judith aus dem Mund eines Ausländers, der sich später zum Gott Israels bekehrt, worin die religiöse Identität der Israeliten besteht: In einer fernen Vergangenheit haben die Vorfahren einen Bruch mit den umgebenden Völkern vollzogen und den „Gott des Himmels“ als ihren Gott anerkannt. Dieser hat sich ihnen als Gott erwiesen, der sie in ihrer Geschichte begleitet und beschützt hat. Solange sie ihm treu bleiben, werden ihnen Glück und Wohlergehen sicher bleiben. Wenn sie sich ihm gegenüber jedoch verfehlen, können sie nicht mit göttlichem Beistand rechnen. 7. Die Israeliten setzen Gott ein Ultimatum Auch nach der Rede Achiors weiß niemand, wie die Geschichte ausgeht. Holofernes ist sich zwar sicher, dass Israel von seinem Gott nicht gerettet wird (Jdt 6,2) und entlässt daher Achior aus seinen Diensten. Aber auch auf der Seite der Israeliten stellt sich die Situation nicht eindeutig dar. Von ihren Wasserquellen abgeschnitten, erleiden sie in der Stadt Betulia Durst und geraten immer Zu den möglichen Bedeutungen von ἀγνόημα vgl. ausführlich D. Scialabba, „What does the noun ἀγνόημα mean in Judith 5:20?“, in: W. Kraus, M.N. van der Meer, M. Meiser (Hg.), XV Congress of the International Meeting of Septuagint and Cognates Studies, Munich 2013 (SCSt 64), Atlanta Ga.: Society of Biblical Literature, 2016, 389–396. 38 Zu σκάνδαλον vgl. E. Bons, „The meanings of the noun σκάνδαλον in the Book of Judith“, in: W. Kraus, M.N. van der Meer, M. Meiser (Hg.), XV Congress of the International Meeting of Septuagint and Cognates Studies, Munich 2013 (SCSt 64), Atlanta Ga.: Society of Biblical Literature, 2016, 473–481, bes. 477–479. 37
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mehr in Verzweiflung. Die Bewohner beschwören die Ältesten, sich den Assyrern zu ergeben, und zwar in der Hoffnung, dass sie trotz der drohenden Plünderung und Sklaverei am Leben bleiben. Dieses Schicksal sind sie bereit als Bestrafung Gottes für die Sünden der Väter hinzunehmen – wobei sie hoffen, dass Gott es dazu nicht kommen lässt (Jdt 7,21–28) Die Ältesten reagieren mit einem Vorschlag. Sie setzen Gott ein Ultimatum von fünf Tagen (Jdt 7,30 –31) – wiederum in der Hoffnung, dass er in irgendeiner Weise in die Geschichte eingreift. Wenn nicht, werden sie die Tore öffnen und sich den Assyrern ergeben. Aber auch diese – später von Judith heftig kritisierte – Entscheidung (vgl. Jdt 8,11–16) wird ja infolge des Nichtwissens getroffen: Liegt auf Israel eine massive Schuld, die Gott an seinem Eingreifen hindert? 8. Das Eingreifen Judiths Kommen wir noch einmal zurück auf den Anspruch Nebukadnezars, als alleiniger Gott verehrt zu werden. Vielleicht ist das Fehlen von jeglicher Auseinandersetzung mit diesem Anspruch in den Kapiteln 3 und 4 dadurch zu erklären, dass man das relativ junge Phänomen des Herrscherkultes nicht mit dem Bilderverbot des Dekalogs in Verbindung bringen konnte oder wollte. Wie dem auch sei, eine indirekte Antwort auf Nebukadnezars Anspruch wird erst Judith selbst in den Mund gelegt. In ihrer Diskussion mit den Ältesten der Stadt Betulia in Kapitel 8 weist sie zunächst das Ansinnen zurück, Gott gleichsam unter Druck zu setzen (Jdt 8,12–14). Sodann kommt sie auf das bekannte Phänomen der Verehrung von Götterbildern zu sprechen, wobei sie diese als θεοὶ χειροποίητοι bezeichnet. Dabei unterscheidet sie ausdrücklich zwischen Vergangenheit und Gegenwart. In der Zeit der Väter seien Götterbilder, die von Menschenhand angefertigt worden sind, verehrt worden, und dies habe Israel Plünderungen und Niederlagen eingebracht (Jdt 8,19).
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Mit diesen Aussagen scheint Judith implizit einer theologischen Geschichtsdeutung Recht zu geben, die die Katastrophen der Zerstörung Jerusalems und des Exils auf die Untreue Israels gegenüber seinem Gott zurückführt (vgl. etwa Dtn 4,25–29; Ez 6,9). In dieser Hinsicht bestehen Übereinstimmungen mit den zentralen Aussagen der Rede Achiors. Wie auch immer, die Vergangenheit ist insofern Vergangenheit für Judith, als sie keine Auswirkungen für die Gegenwart mehr hat. In der Gegenwart nämlich habe niemand in Israel sich des Vergehens der Verehrung von Götterbildern schuldig gemacht (Jdt 8,18). Und Judith fügt hinzu, so als ob diese Aussage sowohl gegen eine mögliche Götterbildverehrung als auch gegen Nebukadnezars Anspruch gezielt sei39 (Jdt 8,20): „Wir kennen keinen anderen Gott außer ihm“ (ἡμεῖς δὲ ἕτερον θεὸν οὐκ ἔγνωμεν πλὴν αὐτοῦ). Mit diesen Worten formuliert Judith vielleicht noch kein explizit monotheistisches Bekenntnis in dem Sinne, dass sie damit die Existenz anderer Götter explizit ausschließt. Im Kontext der Rede handelt es sich vielmehr um ein Plädoyer Judiths für eine bedingungslose Treue des Volkes Israel gegenüber seinem Gott. Diese Forderung ist nicht unbegründet. Denn da Israel sich in jüngster Vergangenheit nicht durch die Verehrung von Götterbildern schuldig gemacht hat, darf es hoffen, dass dieser Gott auch in der gegenwärtigen übergroßen Gefahr zu ihm steht. Dementsprechend formuliert Judith (Jdt 8,20): „Deshalb hoffen wir, dass er [= Gott] weder uns noch unser Volk gering achten wird“ (ὅθεν ἐλπίζομεν ὅτι οὐχ ὑπερόψεται ἡμᾶς οὐδ᾽ ἀπὸ τοῦ γένους ἡμῶν).40 Aber nicht nur hier, sondern auch in ihrem Gebet wird sie als Frau charakterisiert, die in dieser Hoffnung nicht allein bleiben will. Vielmehr wünscht Judith, das ganze Volk soll auf seinen Gott vertrauen. Dies ergibt sich Zu dieser Auslegung vgl. Auch D.L. Gera, Judith, 282. Zu ὑπεροράω mit Akkusativ oder ἀπό vgl. R. Helbing, Die Kasussyntax der Verba bei den Septuaginta, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1928, 190. 39 40
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nicht zuletzt aus der Bitte, mit der sie ihr Gebet abschließt (Jdt 9,14): „Bewirke bei deinem ganzen Volk und jedem Stamm Einsicht, [damit sie] wissen, dass du der Gott bist, ein Gott aller Macht und Kraft, und dass es keinen anderen gibt, der das Volk Israel beschützt, als du“ (καὶ ποίησον ἐπὶ παντὸς ἔθνους σου καὶ πάσης φυλῆς ἐπίγνωσιν τοῦ εἰδῆσαι ὅτι σὺ εἶ ὁ θεὸς θεὸς πάσης δυνάμεως καὶ κράτους καὶ οὐκ ἔστιν ἄλλος ὑπερασπίζων τοῦ γένους Ισραηλ εἰ μὴ σύ). Der Erzähler bestätigt zwar an keiner Stelle, dass Gott die Hand Judiths geführt hat, als sie Holofernes umbrachte, und nirgendwo wird Gott selbst als ein Gott dargestellt, der in die Geschichte eingreift (außer in Jdt 4,13). Darin unterscheidet sich das Buch Judith fundamental von den Exodustraditionen.41 Doch dies relativiert nicht die Botschaft, die im letzten Vers von Judiths Gebet zum Ausdruck kommt: Die Israeliten sollen darauf vertrauen, dass nur ihr Gott sie als Volk beschützen kann und wird. III. Ergebnisse Das Buch Judith ist eine fiktive Erzählung aus hellenistischer Zeit, die die Rettung Israels in einer aussichtslosen Lage schildert. Dabei wird an vielen Stellen deutlich, durch welche Elemente die religiöse Identität Israels charakterisiert werden kann. Folgende Punkte seien hervorgehoben: Das Buch Judith zeichnet das Ideal eines Volkes, das unter der Leitung seines Hohenpriesters und in großer Einigkeit sich in einer aussichtslosen Lage zum Widerstand gegen einen übermächtigen Angreifer entscheidet, der göttliche Alleinverehrung beansprucht. Damit unterscheiden sich die Israeliten von ihren Nachbarvölkern, die vor Holofernes kapitulieren und ihre Heiligtümer der Vgl. auch C. Vialle, „Le Livre de Judith ou la victoire improbable“, 27–28. 41
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Zerstörung preisgeben. Die Einmütigkeit des Volkes wird betont. Hinweise auf politische Zwistigkeiten fehlen völlig. Das Buch Judith hebt hervor, dass sich die Israeliten in Gebet, Bußriten und Opfern der Gegenwart und des Beistands ihres Gottes versichern wollen. Sie besitzen aber keine Garantie dafür, dass Gott sie aus der großen Gefahr rettet. Sie haben nur eine gewisse Sicherheit: Wenn Israel Gott gegenüber treu bleibt, wird er ihm ebenfalls seine Treue erweisen. Insofern finden sich im Buch Judith die Auswirkungen einer Bundestheologie, auch wenn deren Terminologie sowie das Gesetzesvokabular weitgehend fehlen (Ausnahme: Jdt 11,12). Israel hat als Volk die Entscheidung für seinen Gott schon in einer fernen Vergangenheit getroffen. Im Laufe seiner Geschichte hat dieser sein Volk immer wieder beschützt und begleitet. Die Geschichte Israels kennt zwar die Untreue, insbesondere in der Form der Götterbildverehrung. Diese ist aber für das Buch Judith eine Sünde der Vergangenheit. Da Israel nur seinen Gott anerkennt, kann es darauf hoffen, dass er imstande und willens ist, seinem Volk beizustehen und es zu retten. Das Land Israel spielt keine besondere Rolle im Buch Judith. Im Mittelpunkt steht vielmehr der zentrale Kultort, an dem die religiöse Identität Israels zum Ausdruck kommt: der Tempel von Jerusalem. Ihn gilt es zu schützen, da er der Ort ist, an dem sich die Israeliten zum Opfer und Gebet zusammenfinden. Er ist schließlich auch der Ort, bei dem sich die Israeliten versammeln, um die Rettung in aussichtsloser Lage zu feiern.
Patrick Pouchelle
Les Psaumes de Salomon : quelle communauté ?
I. Introduction La question de l’identité du judaïsme au temps hellénistique est actuellement un thème de recherche très prisé. Pour autant, l’étude de l’identité en histoire est tout autant difficile que la définition d’une identité contemporaine. Ainsi, le judaïsme de l’époque hellénistique est volontiers défini au « pluriel ». Est-ce à dire qu’il faille renoncer à définir un dénominateur commun entre toutes les communautés dont les traces littéraires nous assurent qu’elles sont juives ? Parmi ces traces, les Psaumes de Salomon sont particulièrement représentatifs de cette difficulté. Alors que l’attribution aux Pharisiens fut le consensus pendant un certain nombre d’années, l’hypothèse essénienne apparut dans les années 1970. Aujourd’hui, le consensus est qu’il n’est pas possible de définir la communauté productrice. Qui a donc bien pu écrire cette collection de dix-huit psaumes ? Cette question hante les chercheurs depuis leur découverte en 1614. La présence du terme χριστὸς κύριος (Pss. Sol. 17:32; 18:1.7), a conduit de la Cerda, l’auteur de l’édition princeps, à se poser la question d’une origine chrétienne. Janenski voit la collection comme juive dès 1687 1. 1
Voir Viteau, J. Les Psaumes de Salomon: Introduction, texte grec et traduction, avec les principales variantes de la version syriaque par
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La question de la datation, cruciale pour cette question, est approfondie en 1847 par Movers 2. Selon lui, les allusions au siège de Jérusalem dans les Psaumes 1, 2 et 8 se réfèrent à celui effectué par Pompée. Seul le Psaume 17 pourrait dater de l’époque hérodienne. Particulièrement importante pour cette datation est la référence au dragon et à sa mort en Ps Sol 2:25–27 qui correspond à celle de Pompée décrite par Dion Cassius3. Change l’orgueil du dragon en opprobre ! Je n’eus pas à attendre longtemps pour que Dieu me montrât son sort ignominieux : percé de coup aux confins de l’Égypte, réduit à rien, inférieur au plus humble, sur terre et sur mer, son corps fut ballotté sur les flots. 4
Des contestations anciennes 5 et récentes6 n’ont pas empêché cette hypothèse d’être maintenant majoritairement acceptée. Une fois le contexte historique mieux assuré, la question de l’attribution de ces psaumes pouvait se poser de manière plus précise en utilisant François Martin. Documents pour l’étude de la Bible. Paris: Letouzey et Ané, 1911, pp. 194–195. 2 Movers, F.K. « Apokryphen-Literatur », Kirchen-Lexikon oder Encyclopädie der Katholischen Theologie und ihrer Hilfswissenschaften. Ed. H. J. Wetzer et B. Welte, Fribourg en Brisgau : Herder, 1847, vol. 1, pp. 334–355. 3 Ainsi, Dion Cassius, Hist. Rom. 42.5.3 : « Il avait soumis la mer romaine entière, et c’est sur celle-ci qu’il périt » et 42.5.6 : « Suivant un oracle, il se méfiait de tous les citoyens appelés Cassius, mais au lieu d'être l'objet d'un complot d’un homme appelé Cassius, il mourut et fut enterré près de la montagne qui porte ce nom. » (trad. Remacle). 4 Sauf indication contraire, les traductions suivent Prigent, P. « Les Psaumes de Salomon », La Bible, Écrits intertestamentaires, ed. A. Dupont-Sommer et M. Philonenko, Bibliothèque de la Pléiade, Paris, Gallimard 1987, pp. 945–992. 5 Par exemple, Ewald, en 1864, pense que les Psaumes de Salomon font allusion à l’époque séleucide, voir Viteau, Les Psaumes de Salomon, pp. 198–199. 6 Pour une synthèse, voir B. Eckhardt, « The Psalms of Solomon as a Historical Source for the Late Hasmonean Period », dans The Psalms of Solomon : Language, History, Theology, ed. E. Bons & P. Pouchelle, Early Judaism an dits Literature 40, Atlanta (GA) : SBL Press, 2015, pp. 7–29.
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d’autres corpus en contexte, nommément le Nouveau Testament, Flavius Josèphe puis, à partir de la seconde moitié du XXe siècle, les documents trouvés près de Qumrân. Ainsi, en 1879, Hitzig propose que l’auteur des psaumes de Salomon soit Sadducéen car, dit-il, la description des méchants dans le Psaume de Salomon 4 comme hypocrite ressemble beaucoup à la description des Pharisiens dans le Nouveau Testament 7. Si les Psaumes de Salomon doivent être datés du siège de Jérusalem, alors il est possible que la communauté productrice soit proche soit d’Hyrcan, soit d’Aristobule, les deux rivaux. De son côté, Carrière rejetant l’attribution à Hyrcan (Pharisiens) et à Aristobule (Sadducéen) en déduisait que la communauté productrice était le « Parti national républicain » qui lors de ce siège envoie une délégation à Pompée pour demander à être soumis à Rome directement 8. La question fut longtemps considérée comme résolu à la suite de Wellhausen9. Il a démontré avec une grande force que les psaumes de Salomon sont l’œuvre de Pharisiens. Cette attribution est permise par une convergence entre les idées développées par les psaumes de Salomon et ce que nous savons des Pharisiens, à savoir le libre arbitre (Ps Sol 9,4), la résurrection des morts (Ps Sol 3,12) et un messianisme davidique (Ps Sol 17,21). D’autre part, la description des méchants peut correspondre aux Sadducéens. Cette hypothèse a régné quasiment sans contestation jusqu’à la découverte des écrits 7
Cf. Viteau, Les Psaumes de Salomon, p. 200. Cf. Viteau, Les Psaumes de Salomon, pp. 201–202. Ce parti est décrit par Josèphe, Ant. 14.41–45. Il est à noter qu’une telle délégation « théocratique » fut également envoyée à Rome à l’occasion du règne d’Archelaüs, le fils d’Hérode (Josèphe, Ant. 17.299–314). 9 Wellhausen, J. Die Pharisäer und die Sadducäer. Eine Untersuchung zur inneren jüdischen Geschichte. Greifswald : Bamberg, 1874. Ainsi des commentateurs anglais nomment les Psaumes, les Psaumes des Pharisiens, H.E. Ryle & M.R. James, Psalms of the Pharisees, Commonly Called the Psalms of Solomon, Cambrige, University Press, 1891. 8
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de Qumrân. Ainsi, toutes les études qui comparent les Psaumes de Salomon avec les lettres de Paul présupposent une telle attribution 10. En 1961, O’Dell a noté de grandes similitudes avec certains documents de Qumrân et a conclu qu’il n’était pas possible de trancher entre une origine pharisienne et essénienne11. Wright prendra le risque d’une attribution clairement essénienne12. Cependant, les grottes de Qumrân n’ont révélé à ce jour aucun témoignage de ces psaumes, ni, d’ailleurs, aucun document proto-rabbinique13. La question du libre arbitre est également en contradiction avec une origine essénienne 14 tout comme la conception messianique qui n’est pas caractéristique des documents « sectaires » de Qumrân15. 10
E.g. Winninge, M. Sinners and the Righteous, A Comparative Study of the Psalms of Solomon and Paul’s Letters, ConBNT 26, Stockholm, Almqvist & Wiksell, 1995, pp. 170–180, Ábel, F. The Psalms of Solomon and the Messianic Ethics of Paul, WUNT 2/416, Tübingen: Mohr Siebeck, 2016. 11 O’Dell, J. « The Religious Background of the Psalms of Solomon (Re-Evaluated in the Light of the Qumran Texts) », RevQ 10 (1961), pp. 241–257. 12 Wright, R.B. « The Psalms of Solomon, the Pharisees and the Essenes », dans 1972 Proceedings for the International Organization for Septuagint and Cognate Studies and the Society of Biblical Literature Pseudepigrapha Seminar, SBLSCS 2, Missoula (MT), SBL, 1972, pp. 136–154. 13 Voir Collins, J.J. The Scepter and the Star, Messianism in Light of the Dead Sea Scrolls, 2e édition, Grand Rapids (MI), Eerdmans, 2010, p. 9. 14 Holm-Nielsen, S. « Religiöse Poesie des Spätjudentums », ANRW 2, 19.1, p. 177. Bien qu’il faille admettre que les Psaumes de Salomon ne sont peut-être pas cohérents sur la question. Ainsi, Ps Sol 5,4 pourrait décrire une certaine forme de déterminisme. 15 Rowley, H.H. Jewish Apocalyptic and the Dead Sea Scrolls, Londres: Athlone, 1957, p. 15, Grelot, P. « Le Messie dans les apocryphes de l’Ancien Testament, état de la question », dans La venue du Messie, Messianisme et Eschatologie, ed. E. Massaux, P. Grelot, H. Risenfled et al. RechBib 6, Paris : Desclée, 1962, p. 25, Jaubert, A. La Notion d’Alliance dans le judaïsme aux abords de l’ère chrétienne, Patristica Sorboniensa 6, Paris : Seuil, 1963, p. 255. Par une approche basée sur la comparaison avec les Hodayot, Holm-Nielsen, « Religiöse
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Une grande étape fut franchie quand Charlesworth se permit de corriger l’introduction de Wright dans sa contribution dans Old Testament Pseudepigrapha16. Par quelques mots, il indiquait la faiblesse de toutes les attributions antérieures : celle de s’appuyer sur la description faite par Josèphe des quatre grandes sectes : Les Pharisiens, les Sadducéens, les Esséniens et les Zélotes17. Or, Josèphe écrit un bon siècle après les Psaumes, pour un public romain ; rien n’interdit que la situation fût plus complexe encore. Aujourd’hui, à part Horsley qui voit dans ces Psaumes l’expression d’un messianisme populaire, voire zélote 18, et Efron19 qui a tenté une attribution chrétienne, nombreux sont encore ceux qui acceptent l’attribution pharisienne20. L’hypothèse essénienne est actuellement
Poesie des Spätjudentums », p. 178 indique que si, pour les Hodayot, le jugement de Dieu est imminent, il n’y a pas de pensée messianique. Atkinson, K. I Cried to the Lord: A Study of the Psalms of Solomon's Historical Background and Social Setting. Leyde : Brill, 2004, pp. 151– 175 a tout de même noté un certain nombre de documents présentant un messianisme royal comme le Ps Sol 17. 16 Wright, R.B. « The Psalms of Solomon (First Century B.C.)”, dans Old Testament Pseudepigrapha, ed. J.H. Charlesworth, Peabody, MA: Hendrickson, 2009, p. 642. 17 Josèphe, Ant. 18.11, Bell. 2.119. 18 Voir par exemple Horsley, R.A. « ‘Messianic’ Figures and Movements in First-Century Palestine », dans The Messiah. Developments in Earliest Judaism and Christianity. The First Princeton Symposium on Judaism and Christian Origins, ed. J.H. Charlesworth, Minneapolis : Fortress Press, 1992, pp. 288–290. 19 Efron, J. « The Psalms of Solomon, the Hasmonean Decline and Christianity », dans Studies on the Hasmonean Period. Studies in Judaism in Late Antiquity 39. Leyde: Brill, 1987, pp. 219–286. 20 Grelot, P. « Le Messie dans les apocryphes de l’Ancien Testament », p. 26s, Schüpphaus, J. Die Psalmen Salomos, ein Zeugnis Jerusalemer Theologie und Frömmigkeit in der Mitte des vorchristlichen Jahrhunderts, ALGHJ 7, Leyde, Brill, 1977, p. 158, Delcor, M. « Psaumes de Salomon », DBSup 9 (1979), col. 232–236, Winninge, Sinners and the Righteous, pp.170–180, Cavallin, H.C.C. « Leben nach dem Tode im Spätjudentum und im frühen Christentum I. Spätjudentum », ANRW 2, 19.1, p. 345.
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supportée principalement par Wright et quelques chercheurs en France21. Récemment, Werline a émis l’idée que les auteurs des Psaumes de Salomon faisaient partie du groupe social des scribes 22. Cependant, la position la plus sage est probablement celle d’Atkinson qui, dans son récent commentaire, propose d’identifier la communauté productrice avec une communauté inconnue qui partage des idées avec les Pharisiens et les Esséniens et qui s’est opposée aux Sadducéens, mais qui ne peut pas être davantage précisée 23. A vrai dire, les différentes tentatives pour identifier une communauté précise derrière les psaumes de Salomon reposent sur une hypothèse fondamentale qui est rarement posée explicitement ; il existe une communauté précise derrière les psaumes de Salomon. Cette hypothèse est basée sur quatre constats : 1. Le fait que les Psaumes de Salomon aient été écrits implique que celui ou ceux qui les ont écrits appartiennent à une communauté qui possède la connaissance des écritures et maitrise la technique scripturaire. 2. Les Psaumes ont été accueillis par des communautés, au moins chrétiennes 24. Cette réception impose que ces textes aient joui d’une certaine forme d’autorité. 3. Puisque les psaumes de Salomon sont datés du premier siècle avant notre ère et que cette période est marquée par la présence de sectes juives, alors il faut que 21
Laperrousaz, E.M. « Le Milieu d’origine du 17e des psaumes (apocryphes) de Salomon », REJ 150 (1991), pp. 563–564. Caquot A. & Philonenko M., « Introduction générale », La Bible, Écrits intertestamentaires, A. Dupont-Sommer et M. Philonenko (éd.), Bibliothèque de la Pléiade, Paris : Gallimard 1987, p. LXXXII–LXXXV et Prigent, « Les Psaumes de Salomon », p. 986, n. 16.17. 22 Werline, R. A. « The Psalms of Solomon and the Ideology of Rule », dans Conflicted Boundaries in Wisdom and Apocalypticism, ed. L.M. Wills & B.G. Wright III, SBL Symposium Series 35, Atlanta (GA) : SBL Press, 2005, pp. 69–87. 23 Atkinson, I Cried to the Lord, pp. 220–222. 24 Les Psaumes de Salomon ne nous sont parvenus que dans des corpus chrétiens, au sein des œuvres sapientielles de la Septante en grec et avec les Odes de Salomon en syriaque.
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les Psaumes de Salomon soient écrits par l’une d’entre elles. L’identification de celle-ci est fragile du fait de notre méconnaissance du véritable paysage religieux de cette époque. 4. Littérairement, les Psaumes se laissent interpréter comme promouvant une certaine forme d’identité. C’est ce dernier point que je souhaite approfondir dans cet article. Je souhaite présenter la question lexicale de la communauté au sein de ceux-ci. En effet, les textes dits sectaires de Qumrân montrent l’importance du terme yāḥad pour se désigner en tant que communauté 25. En tant que tel, les Psaumes utilisent trois mots pour désigner une communauté : βουλή26, ἐκκλησία27, συνέδριον28 et συναγωγή29. La mention de βουλή en Ps Sol 8,20 désigne clairement les membres d’un organe délibératif de la ville de Jérusalem sans rapport direct avec la communauté productrice30 , tandis que l’occurrence du même mot en Ps sol 17,37 pour qualifier le Messie provient d’une relecture d’Is 11,2 31. Les autres mots désignent-ils une communauté spécifique, celle de la communauté productrice ? Ils n’apparaissent en tout et pour tout que dans 3 psaumes : Ps Sol 4, 10 et 17. II. Ps Sol 4,1 Συνέδριον qui a été emprunté par l’hébreu rabbinique : sinhædrîn, soit « sanhédrin », n’apparaît qu’une seule fois, en Ps Sol 4,1 : 25
Voir par exemple Fabry, H.-J., « יָחַ ד, yāḥaḏ » TDOT 6, 47–48. Ps Sol 8,20 ; 17,37. 27 Ps Sol 10,6. 28 Ps Sol 4,1. 29 Ps Sol 10,7 ; 17,16.43.44. 30 ἀπώλεσεν ἄρχοντας αὐτῶν καὶ πᾶν σοφὸν ἐν βουλῇ « il a tué leurs chefs et chaque sage du conseil » (trad. pers.). 31 Dieu l’a rendu fort par l’Esprit Saint, sage par le conseil intelligent (ὁ θεὸς κατειργάσατο αὐτὸν δυνατὸν ἐν πνεύματι ἁγίῳ καὶ σοφὸν ἐν βουλῇ συνέσεως) à comparer avec Is 11,2LXX : et le souffle de Dieu reposera sur lui […] souffle de dessein et de force (καὶ ἀναπαύσεται ἐπʼ αὐτὸν πνεῦμα τοῦ θεοῦ […] πνεῦμα βουλῆς καὶ ἰσχύος). 26
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Ἵνα τί σύ, βέβηλε, κάθησαι ἐν συνεδρίῳ ὁσίων Pourquoi, toi profane, sièges-tu dans une assemblée de saints32.
Le mot συνέδριον est composé du préfixe συν et d’un dérivé nominal du verbe ἕζομαι, « s’assoir »33. La signification34 provient donc de « s’assoir avec » d’où « conseil » ou « salle de conseil »35. Xénophon utilise ce mot pour désigner le conseil 36 des Syracusains qui ont été exilés. En effet, en grec classique et particulièrement à l’époque romaine, le terme se charge d’une dimension politique37. Il désigne par exemple l’aréopage38, le sénat de Rome39 et celui de Carthage 40. On le trouve également employé à l’occasion de rencontre d’alliés ou de confédérés41. Les papyrus et les inscriptions confirment ce constat42. Une vieille étude de Schwann voit ainsi dans l’usage de συνέδριον dans IG II, 160 la preuve de
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Trad. pers. Voir Chantraine, P. Dictionnaire étymologique de la langue grecque : Histoire des mots, Paris : Klincksieck, 2009, s.v. ἕζομαι. 34 Cf. LSJ et Lohse, E. « συνέδριον », TDNT 7, 860–871. 35 Cf. IG II², 1108. Voir aussi Geagan, D.J. The Athenian Constitution After Sulla, Hesperia: Supplement XII, Princeton (NJ) : American School of Classical Studies at Athens, 1967, pp. 36–37. 36 Xénophon, Hellenica 1.1.30–31. 37 Pour plus de détails, voir Mason, H.J., Greek Terms for Roman Institutions. A lexicon and analysis. Toronto, Hakkert, 1974, pp. 89, 123– 124 ; Freyburger-Galland, M.-L., Aspects du vocabulaire politique et institutionnel de Dion Cassius, Paris, de Boccard, 1997, pp. 99–100. 38 Échine, In Timarchum 92. 39 Polybius, Historiae 1.11.1. 40 Polybius, Historiae 1.31.8. 41 Exemple, Hérodote, Historiae 8.56, voir aussi Erto, M. « Il ‹synedrion› di Salamina : note a Erodoto 8.49-63 », dans Discorsi alla prova : atti del quinto colloquio italo-francese « Discorsi pronunciati, discorsi ascoltati : contesti di eloquenza tra Grecia, Roma ed Europa » : Napoli - S. Maria di Castellabate (Sa) 21-23 settembre 2006, ed. G. Abbamonte, Naples : Giannini, 2009, pp. 113–126. 42 Un organe de gouvernement (IG IV, 68) ; voir les exemples dans Lohse « συνέδριον », 861. 33
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la création par Philippe de Macédoine du « premier parlement moderne »43. Les inscriptions athéniennes de l’époque romaine appliquent le terme pour un nombre varié d’institutions : le conseil des thesmothètes44, le conseil panhellénique ou l’aréopage45. C’est dans cette acceptation qu’il faut lire l’occurrence en 2 M 14,5 où Alkime est reçu par le conseil du roi Séleucide. Le terme est utilisé une douzaine de fois dans la Septante, sans correspondant hébraïque fixe. En effet, il correspond une fois au pluriel de mat, « homme » en Ps 26(25),4 : ם־מתֵ י־שָ וְ א ְ ִּל ֹא־יָשַ ְב ִּתי ע Je ne me suis pas assis avec les hommes de rien46 οὐκ ἐκάθισα μετὰ συνεδρίου ματαιότητος Je ne me suis pas assis avec l’assemblée de futilité47.
Il semble que les traducteurs aient eu quelques difficultés à traduire mat, « homme ». Ce mot est surtout utilisé dans l’expression « ְמ תֵ י ִּמ סְ ָפרhommes du nombre »48 qui correspond en grec à ὀλίγοι ἀριθμῷ « petits par le nombre »49 ou « מְ תֵ י ְמ ָעטhommes de la petitesse »50, correspondant à ἐν ἀριθμῷ βραχύς « court par le nombre », pour signifier la petitesse d’un groupe d’hommes. 43
« das erste moderne Parlament », voir Schwann, W. « zu IG. II 160 (Philipps Landfrieden) », Rheinisches Museum für Philologie, NS 78 (1929), pp. 197–198. 44 Exemple IG II² 2893.11–12. 45 Exemple IG III, 55.11. Il pourrait aussi s’agir du conseil panhellénique selon Graindor, P. « Études épigraphiques sur Athènes à l'époque impériale », REG 31 (1918), p. 231. Voir d’autres exemples en Geagan, The Athenian Constitution, p. 37. 46 Traduction personnelle. 47 Traduction personnelle. 48 Gen 34,30 ; Dt 4,27 ; 33,6 ; Jr 44,28 ; Ps 105,12 ; 1 Ch 16,19. 49 Aussi en Jr 44[51],28. Gen 30,34 possède ὀλιγοστός […] ἐν ἀριθμῷ (voir aussi 1 Chr 16,19 et Is 41,14). Ps 105(104),13 se rapproche de Dt 26,5 et 28,62. Dt 33,6 s’éloigne du texte massorétique. 50 Dt 26,5 ; 28,62.
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Dans la description des anathèmes, le Deutéronome 51 précise que sont tués les hommes, les femmes et les enfants. Dans la traduction de la Septante, les hommes disparaissent52. De même, l’expression ְמ תֵ י־שָ וְ אapparaît trois fois en Ps 26,4, Job 11,11 et Sir 15,7. Seul Sir 15,7 propose une correspondance plus littérale 53, tandis que le vieux-grec de Job précise : ἔργα ἀνόμων « les œuvres des sans-lois ». Ainsi, l’analyse des occurrences où mat apparaît montre que le terme n’est jamais traduit littéralement par ἀνήρ sauf en Job 22,15, qui correspond en fait au rajout plus tardif fait par Origène pour compenser les passages non traduits à l’origine. Le mot mat a donc posé un problème aux traducteurs, soit qu’ils ne l’aient pas du tout compris, soit qu’ils l’aient confondu avec mēt, « cadavre »54. Il correspond également une fois à dîn, « jugement » en Pr 22,10. Cette racine correspond principalement à des mots de la famille de κρίνω, dont κρίμα ou κρίσις 55. ג ֵָרש לֵץ וְ יֵצֵ א מָ דֹ ון וְ יִּ ְשבֹ ת ִּדין וְ קָ ֹלון Chasse le moqueur et la querelle s’en ira: plus de disputes ni d’outrages! (TOB) ἔκβαλε ἐκ συνεδρίου λοιμόν, καὶ συνεξελεύσεται αὐτῷ νεῖκος· ὅταν γὰρ καθίσῃ ἐν συνεδρίῳ, πάντας ἀτιμάζει Chasse le fléau de l’assemblée et avec lui s’en ira la querelle ; car quand il siège à l’assemblée, il déshonore tout le monde (Bible d’Alexandrie)
Ici, le terme συνέδριον apparaît deux fois, la première fois n’a aucune correspondance avec l’hébreu, la seconde correspond à dîn. Cependant, le texte grec s’éloigne assez du TM et pourrait indiquer une sorte de 51
Dt 2,34 ; 3,6. Pour C. Dogniez, Le Deutéronome, Bible d’Alexandrie 5, Paris : Cerf, 2007,127–128, cela peut s’expliquer par le fait qu’il était superflu de parler de tuer des hommes. 53 Avec ἄνθρωποι ἀσύνετοι. 54 C’est d’ailleurs possiblement l’étymologie du terme : « mortel », voir Beyse, K.-M « מתmt », TDOT 9, 98–99. Voir aussi la traduction d’Is 5,13 qui fait correspondre à mat le mot νεκρός. 55 Voir l’association κρίσις et de συνέδριον en Mt 5,22. 52
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judiciarisation du proverbe 56. Le même livre des proverbes (Pr 26,26) suggère une autre correspondance avec qāhāl. ִּתכַסֶּ ה ִּשנְ אָ ה ְבמַ שָ אֹון ִּת ָגלֶּה ָר ָעתֹו בְ קָ הָ ל La haine peut bien se couvrir d’un masque, sa méchanceté se révélera aux yeux de tous (TOB) ὁ κρύπτων ἔχθραν συνίστησιν δόλον, ἐκκαλύπτει δὲ τὰς ἑαυτοῦ ἁμαρτίας εὔγνωστος ἐν συνεδρίοις57 Qui cache l’inimitié conforte la tromperie, il découvre ses propres péchés, celui qui est bien connu aux assemblées
Enfin, le terme συνέδριον correspond trois fois à un autre terme hébreu סֹוד, sôd « discussion, plan, assemblée ». Si on compte le dérivé συνεδριάζω 58 et le plus correct59 συνεδρεύω60 qui correspondent au même mot61, il s’agit même de la correspondance la plus étroite. Lorsque ce mot a été respecté par le traducteur grec62, il correspond également à βουλή63 et συναγωγή64. On trouve ainsi : ἀνὴρ δίγλωσσος ἀποκαλύπτει βουλὰς ἐν συνεδρίῳ, πιστὸς δὲ πνοῇ κρύπτει πράγματα L’homme à la langue double dévoile des décisions en assemblée, le fidèle ne souffle pas mot des affaires (Pr 11,13, Bible d’Alexandrie) ὑπερτίθενται λογισμοὺς οἱ μὴ τιμῶντες συνέδρια Ils mettent de côté les raisonnements, ceux qui méprisent les assemblées (Pr 15,22, traduction personnelle) οὐκ ἐκάθισα ἐν συνεδρίῳ αὐτῶν παιζόντων 56
Voir d’Hamonville, M. Proverbes, La Bible d’Alexandrie, Paris : Cerf, 2000, pp.129–130.284. 57 Le codex Alexandrinus propose le singulier συνεδρίῳ. 58 Pr 3,32. 59 Cf. d’Hamonville, Proverbes, p. 180. 60 Sir 11,9 ; 23,14 ; 42,12. 61 Sir 42,12. 62 En Jr 23,18.22 ; Job 15,8 les traducteurs semblent avoir lu yesôd « fondation », en Ez 13,9 et Am 3,7 probablement le tardif yisûr « discipline ». En Ps 25(24),14, ṣûr « rocher », … Le mot a toutefois posé des difficultés aux traducteurs. 63 Gn 49,6, Ps 89(88),8 ; 111(110),1 ; Pr 11,13. 64 Jr 6,11.
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Je ne me suis pas assis dans leur assemblée de moqueurs (Jr 15,17, trad. pers.65)
La plus grande partie des occurrences de συνέδριον se trouve dans le livre des Proverbes où il n’a fréquemment pas de contrepartie hébraïque : λογίζονται ἐν συνεδρίοις [Les sages] réfléchissent dans les assemblées (Pr 24,8, Bible d’Alexandrie66) ἐὰν μαστιγοῖς ἄφρονα ἐν μέσῳ συνεδρίου ἀτιμάζων, οὐ μὴ περιέλῃς τὴν ἀφροσύνην αὐτοῦ Même si tu fouettais un insensé, le déshonorant au milieu de l’assemblée, jamais tu ne lui retirerais sa folie (Pr 27,22, Bible d’Alexandrie67) ἡνίκα ἂν καθίσῃ ἐν συνεδρίῳ μετὰ τῶν γερόντων κατοίκων τῆς γῆς Lorsqu’il68 siège à l’assemblée69 avec les anciens et les habitants du pays (Pr 31,23, Bible d’Alexandrie)
Il ressort de cette présentation les éléments suivants. Dans le Psaume et le passage de Jérémie qui lui est proche, l’assemblée est mauvaise et le psalmiste et Jérémie se défendent d’y avoir été admis. 70 En revanche, dans le livre des Proverbes, l’assemblée n’est pas qualifiée. Elle désigne de manière implicite un organe de gouvernement71. Le véritable enjeu du traducteur du livre des Proverbes est que seuls des membres justes y accèdent. Psaumes de Salomon 4,1 semble faire la synthèse entre ces deux notions. En effet, comme dans le Psaume et 65
Voir aussi Ps 26(25),4. Cette partie diffère du TM. 67 Probable actualisation politique et judiciaire d’une métaphore dans le TM : « Si tu pilais le fou dans un mortier, parmi les grains, avec un pilon, sa folie ne se détacherait pas de lui. » (TOB). 68 Le mari de la femme vertueuse. 69 Expression en plus par rapport au TM. 70 Voir aussi le réviseur dit « l’autre » pour le Ps 1,1 : ἄμεμπτος ὁ ἀνὴρ ὃς οὐ περιεπάτησεν ἐν συνεδρίῳ παρανόμων (Cf. Field). 71 Qui n’est pas nécessairement un organe unifié et centralisé pour le gouvernement de Jérusalem (Cf. Lohse, « συνέδριον », 861), mais désigne peut-être le conseil du roi (d’Hamonville, Proverbes, 130). 66
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dans Jérémie, la question est de savoir qui siège dans quelle assemblée. La différence se situe cependant dans le fait que, d’un côté le juste ne siège pas dans la mauvaise mais que le méchant siège dans la bonne. Cela rapproche aussi Ps Sol 4,1 du livre des Proverbes. Le méchant ne doit pas être membre de l’assemblée. Ici, cependant, l’assemblée est qualifiée, c’est celle des saints72. Il serait toutefois délicat de voir immédiatement dans cette assemblée l’expression de la communauté productrice. En effet, les versets 2 et 3 ne laissent pas trop de doute sur le fait que le συνέδριον est un organe de justice, un tribunal, plus qu’une communauté religieuse : περισσὸς ἐν λόγοις, περισσὸς ἐν σημειώσει ὑπὲρ πάντας, ὁ σκληρὸς ἐν λόγοις κατακρῖναι ἁμαρτωλοὺς ἐν κρίσει καὶ ἡ χεὶρ αὐτοῦ ἐν πρώτοις ἐπʼ αὐτὸν ὡς ἐν ζήλει, καὶ αὐτὸς ἔνοχος ἐν ποικιλίᾳ ἁμαρτιῶν καὶ ἐν ἀκρασίαις Excessif dans ces interventions, excessif dans sa décision, plus que quiconque, ses paroles dures condamnent les pécheurs dans le jugement73. Et sa main, parmi les premières, se lève, accusatrice, comme émue d’un (saint) zèle, alors qu’il est coupable, lui, de toutes sortes de péchés effrénés74.
Cependant, la qualification de συνέδριον par ὁσίων et le souhait, au verset 6, que Dieu écarte ceux qui vivent hypocritement avec les saints : Ἐξάραι ὁ θεὸς τοὺς ἐν ὑποκρίσει ζῶντας μετὰ ὁσίων, permet de penser que le 72
Il faut noter, cependant, que certains manuscrits n’ont pas cette mention. D’autres, parmi ceux réputés les meilleurs, ont ἐν συνεδρίῳ ὁσίῳ, littéralement « l’assemblée sainte » (voir la traduction de Prigent). Le syriaque avec ܕܙܕܝܩܐ ̈ « ܒܟܢܘܫܬܐdans l’assemblée des justes » suggère, si le syriaque est traduit du grec, l’original suivant : ἐν συναγωγῇ δικαίων, voir Trafton, J.-L., The Syriac Version of the Psalms of Salomon : A Critical Evaluation, SBLSCS 11, Atlanta, GA : Scholars Press, 1985, p. 61. En effet, knuštā ( )ܟܢܘܫܬܐest le mot qui correspond à συναγωγή en Ps Sol 10,6 (7) ; 17, 16(18).43(48).44(50). Entre parenthèses est donnée la numérotation syriaque. 73 Ou dans la cour de justice. 74 C’est-à-dire sans contrôle.
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psalmiste désigne une assemblée particulière, notamment le sanhédrin de Jérusalem. On trouvera dans le récent commentaire d’Atkinson, une synthèse de l’état de la recherche à ce sujet75. Tout en notant que nous ne savons pas bien ce qu’était le Sanhédrin Hiérosolomytain au début de l’époque romaine, il juge convaincante l’idée que l’organe mentionné ici soit bien celui-ci. Dans ce cas, cette assemblée ne désigne pas la communauté productrice des Psaumes de Salomon mais plutôt une assemblée connue de tous, quelle que soit son affiliation « sectaire ». III. Ps Sol 10,6–7 Le Psaume de Salomon 10 se divise en deux parties. Les 4 premiers versets du psaume décrivent l’action correctrice de Dieu envers les justes. Les 4 derniers sont une doxologie. Dans cette doxologie, la joie d’avoir été corrigé donne lieu à une effusion dans plusieurs assemblées : καὶ Ισραηλ αἰνέσει τῷ ὀνόματι κυρίου ἐν εὐφροσύνῃ. Et Israël célébrera joyeusement le nom du Seigneur καὶ ὅσιοι ἐξομολογήσονται ἐν ἐκκλησίᾳ λαοῦ, Les saints le loueront dans l’assemblée du peuple καὶ πτωχοὺς ἐλεήσει ὁ θεὸς ἐν εὐφροσύνῃ Ισραηλ Et Dieu aura pitié des pauvres pour la joie d’Israël ὅτι χρηστὸς καὶ ἐλεήμων ὁ θεὸς εἰς τὸν αἰῶνα, Car Dieu est bon et miséricordieux à jamais, καὶ συναγωγαὶ Ισραηλ δοξάσουσιν τὸ ὄνομα κυρίου. (Ps Sol 10,6–7) Et les assemblées d’Israël rendront gloire au nom du Seigneur.
Ce passage est marqué par la seule occurrence du mot ἐκκλησία dans les Psaumes de Salomon en association avec le mot συναγωγή. Ces deux mots font bien sûr débat parmi les spécialistes du fait de l’utilisation du premier pour désigner l’Église et les églises et du second 75
Atkinson, I Cried to the Lord, pp. 92–96.
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pour désigner les synagogues. Ce débat n’est actuellement pas tranché, les uns voient dans le choix des chrétiens ou des Juifs hellénistiques un facteur qui aurait, dès le départ, permis une différenciation avec les communautés juives de Jérusalem, tandis que d’autres argumentent sur le fait que Paul utilise un terme grec profane sans faire réellement référence à la Septante, dans ce cadre, la spécialisation des usages entre ἐκκλησία et συναγωγή se seraient effectués du fait de l’importance des chrétiens issus de la gentilité 76. En tant que tel, ἐκκλησία, est un mot technique qui désigne l’assemblée du peuple à Athènes et qui peut aussi désigner les assemblées démocratiques dans d’autres villes hellénistiques77. Il appartient à la même famille que le verbe καλέω, « appelé ». Il est utilisé, dans la Septante, pour correspondre uniquement à des mots de la même racine que qāhāl, « assemblée ». Curieusement, cependant, hormis la correspondance des verbes dérivés ἐκκλησιάζω78 et ἐξεκκλησιάζω79, la racine qhl, dans le Pentateuque, ne correspond à ἐκκλησία dans le Deutéronome uniquement 80. Dans les autres livres du Pentateuque, cette racine peut n’avoir aucune correspondance dans la Septante, soit est rendue
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Voir la brève synthèse dans Doering, L. « “You are a Chosen Stock...”: The Use of Israel Epithets for the Addressees in First Peter », dans Jewish and Christian Communal Identities in the Roman World, ed. Y. Furstenberg, Ancient Judaism and Early Christianity 94, Leyde : Brill, 2016, pp. 266–268, voir également Arnaud, P. & Asso, P. « ‘Ekklèsia’, un choix de théologie politique », dans Poïkiloï karpoï: exégèses païennes, juives et chrétiennes : études réunies en hommage Gilles Dorival, Héritages Méditerranéens, ed. M. Loubet & D. Pralon, Aix-en-Provence : Publications de l’Université de Provence, 2015, pp. 205-216. 77 Voir par exemple Mason, H.J. Greek Terms for Roman Institutions: A Lexicon and Analysis, American Studies in Papyrology 13, Amsterdam : Hakkert, 1974, s.v. ἐκκλησία. 78 Lv 8,3 ; Nb 20,8. 79 Lv 8,4 ; Nb 1,18 ; 20,10. 80 Avec deux notables exceptions, en Dt 5,22 et 33,4.
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par un mot de la famille de συναγωγή 81. Ce dernier mot, quant à lui, n’est pas chargé initialement d’une connotation politique et désigne tout rassemblement de peuples et toute collection d’objets. C’est à ce titre qu’il est utilisé en Gn 1,9 pour manifester que l’eau est rassemblée en un seul endroit pour laisser de la place à la terre ferme. La question attachée à ce mot est de savoir déterminer quand il commence à désigner la synagogue82. Dans le Pentateuque, συναγωγή correspond principalement au mot ʿēdâh « rassemblement ». Cependant, il correspond également aux cas où qāhāl est présent, tels que Lev 4,3 où les deux mots correspondent à συναγωγή. Ceci peut s’expliquer par le fait que les deux mots hébreux sont souvent synonymes 83. Dans d’autres livres, la correspondance entre ʿēdâh et συναγωγή et entre qāhāl et ἐκκλησία est respectée. Ceci est particulièrement vrai dans le livre des Psaumes (voir notamment Ps 22[21]) où les deux termes coexistent). Cependant, la coexistence textuelle de qāhāl et de ʿēdâh est assez rare. Ainsi, la mise en parallèle de συναγωγή et de ἐκκλησία n’apparaît que ponctuellement, en Juges 20,1–2 ; 21,8–10 et Pr 5,14. La première mention, de l’assemblée du peuple (ἐκκλησία λαοῦ), apparaît Ps 107(106), 32 : ὑψωσάτωσαν αὐτὸν ἐν ἐκκλησίᾳ λαοῦ καὶ ἐν καθέδρᾳ πρεσβυτέρων αἰνεσάτωσαν αὐτόν Ils l’ont exalté dans l’assemblée du peuple et à la réunion des anciens, ils l’ont célébré.
De nombreux points de contact existent entre ce psaume canonique et le Psaume de Salomon. Ainsi, la mention 81
Voir par exemple Nb 8,9, καὶ συνάξεις πᾶσαν συναγωγὴν υἱῶν Ισραηλ. 82 Rajak, T. « Synagogue and community in the Graeco-Roman diaspora », dans Jews in the Hellenistic and Roman Cities, Londres : Routledge, 2002, pp. 22-38. 83 Voir, Fabry, H.-J., « קָ הָ ל, qāhāl » TDOT 12, 555.
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de la joie (Ps 107[106],30), la louange (31), la pitié (31). D’autres caractéristiques sont présentes dans d’autres psaumes, telles que la mention du nom du Seigneur 84. En tout état de cause, ces deux versets sont un travail d’écriture dont le modèle est la terminologie des Psaumes canonique. Dans ce cadre, l’assemblée du peuple désigne un organe politique du peuple entier 85. De son côté, συναγωγή est ici synonyme d’ἐκκλησία tout comme en hébreu ʿēdâh est parallèle à qāhāl. Cependant, ici, le terme συναγωγή est utilisé au pluriel. Une telle utilisation est rare dans la Septante et correspond surtout aux communautés de nations qu’Israël va devenir : ὁ δὲ θεός μου εὐλογήσαι σε καὶ αὐξήσαι σε καὶ πληθύναι σε, καὶ ἔσῃ εἰς συναγωγὰς ἐθνῶν Puisse mon Dieu te bénir, te faire croître et te faire multiplier, et tu deviendras un rassemblement86 de nations (Gn 28,387, Bible d’Alexandrie).
Cela ne cadre pas avec le passage du Psaume de Salomon. Atkinson voit dans ce pluriel, le signe qu’il s’agit bien ici des « synagogues », plus particulièrement celles de la communauté productrice 88. Cependant, on peut rapprocher cette expression de celle en Dt 33,3–4 : καὶ ἐδέξατο ἀπὸ τῶν λόγων αὐτοῦ νόμον, ὃν ἐνετείλατο ἡμῖν Μωυσῆς, κληρονομίαν συναγωγαῖς Ιακωβ. Et il a reçu de ses paroles la loi que Moïse lui a donnée en commandement, héritage pour les assemblées de Jacob (Bible d’Alexandrie)
Ainsi, puisque les Psaumes de Salomon effectuent des relectures scripturaires, un lien formel entre συναγωγαί
84
Voir cependant Ps 113(112),1. Voir notamment Dt 31,30. 86 Ici la Bible d’Alexandrie interprète le pluriel comme un singulier collectif. 87 Voir aussi Gn 35,11 ; 48,4 ; So 3,8 et Jr 27,9. 88 Atkinson, I Cried to the Lord, p. 201. 85
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Ισραηλ et d’éventuelles synagogues liées à la communauté productrice sont affaiblies. La proximité de l’expression ἐκκλησία λαοῦ suggère plutôt que les deux expressions désignent des organes spécifiques du peuple d’Israël, tels que présentés dans les Écritures, quelle que soit la réalité de leur existence. IV. Ps Sol 17 Ce texte est le plus connu de la collection, car il contient la plus longue description juive d’un Messie. Le terme συναγωγή y apparaît trois fois : ἐφύγοσαν ἀπʼ αὐτῶν οἱ ἀγαπῶντες συναγωγὰς ὁσίων ὡς στρουθία ἐξεπετάσθησαν ἀπὸ κοίτης αὐτῶν (Ps Sol 17,16) Ils s’enfuirent loin d’eux, ceux qui aimaient les assemblées des saints, comme les moineaux s’envolent de leur nid ἐν συναγωγαῖς διακρινεῖ λαοῦ φυλὰς ἡγιασμένου (Ps Sol 17,43) Dans les assemblées, il jugera les tribus du peuple sanctifié ἰδεῖν τὰ ἀγαθὰ Ισραηλ89 ἐν συναγωγῇ φυλῶν, ἃ ποιήσαι90 ὁ θεός (Ps Sol 17,44) Ayant vu91 les bonnes choses d’Israël dans l’assemblée des tribus, que Dieu a faites92.
La première mention se situe dans la partie « historique » de ce psaume qui rappelle les tribulations de Jérusalem. La suivante contribue à la description du Messie. La dernière, enfin, qui est cependant proche de la seconde, se situe dans la doxologie finale. Après avoir décrit les princes hasmonéens, et avant de présenter le Messie, ce texte présente Jérusalem prise ou 89
Un manuscrit propose Jérusalem. Le verbe pour la majorité des manuscrits est au futur (que Rahlfs reprend), alors que l’infinitif du verbe « voir » est à l’aoriste. Les meilleurs manuscrits réputés les meilleurs ont ici l’aoriste (accepté par Swete). 91 Le sujet est « ceux qui vivront en ces jours-là ». 92 Trad. pers. Prigent lie, à mon sens de manière erronée, le verbe au mot συναγωγή. 90
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gouvernée par un prince étranger, Hérode ou Pompée 93. Jérusalem étant investie par les Nations, elle n’est plus le lieu où les « fils de l’alliance » (v. 15) peuvent vivre sereinement. La mention de la fuite au verset 16 est donc logique. Elle a été rapprochée de la fuite au désert évoquée par les Hodayot : כי ידיחני מארצי כצפור מקנה Car on me chassait de mon pays, comme l’oiseau de son nid (1 QHa XII, 8–9, trad. Pléiade, écrits intertestamentaires).
Cependant, l’image de l’oiseau fuyant, ou chassé est biblique (Ps 124,7): נַפְ שֵ נּו כְ צִּ פֹ ור נִּ ְמלְ טָ ה ִּמפַח יֹ וקְ ִּשים הַ פַח נ ְִּשבָ ר ַו ֲאנַחְ נּו נִּ ְמלָטְ נּו Comme un oiseau, nous avons échappé au filet des chasseurs; le filet s’est rompu, nous avons échappé (TOB).
De plus, l’image de l’assemblée des saints qu’aiment ceux qui fuient n’apparaît pas telle quelle dans les textes dits sectaires de Qumrân94. Certes, parfois le termeʿēdâh est utilisé, qualifié par qadôš, « saint »95, mais ce dernier terme n’est jamais rendu dans la Septante par ὅσιος. Ce dernier terme est typique des Psaumes de Salomon, où il apparaît plus de vingt fois, mais il est également présent dans les Psaumes canoniques. Dans ces psaumes canoniques, ce terme ne semble pas avoir de désignation sectaire, mais se réfère à Israël en tant que communauté de foi96. Il y traduit en effet le terme hébreu ḥāsîd « fidèle, pieux, saint ». Ce terme y qualifie une fois la communauté, qāhāl :
93
Voir synthèse en Pouchelle, P. « Les Psaumes de Salomon : le point sur les questions posées par un ‘Messie’ trop étudié », dans Encyclopédie des Messianismes juifs dans l’Antiquité, ed. D. Hamidović, X. Levieils et C. Mézanges, Leuven : Peeters, à paraître. 94 Voir Ringgren, H. « חָ ִּסיד, ḥāsîḏ », TDOT 5,78. 95 Exemple 1QS V,20, Voir Fabry, H.-J., « עֵדָ הʿēḏâ », TDOT 10, 480– 481. 96 Voir Ringgren, H. « חָ ִּסיד, ḥāsîḏ », TDOT 5,77.
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ְת ִּהלָתֹ ו בִּ קְ הַ ל ח ֲִּס ִּידים [Chantez] sa louange dans l’assemblée des fidèles (Ps 149,1).
Cette assemblée ne désigne pas un groupe particulier mais la communauté qui rend un culte. À ce titre, elle est associée mais non intégrée au collège des prêtres 97. Il est possible que l’émergence d’un groupe particulier se qualifiant lui-même de ḥāsîd remonte à l’époque hellénistique. On en trouverait trace dans les livres des Maccabées : τότε συνήχθησαν πρὸς αὐτοὺς συναγωγὴ Ασιδαίων (1 M 2,42) Alors, se joignit à eux le groupe des Assidéens
Le livre des Maccabées a préféré la transcription Ασιδαῖος à la correspondance septantique : ὅσιος. Cependant, dans l’entrevue de Bakkhides, les Assidéens (1 M 7,13) veulent la paix, mais un certain nombre d’entre eux sont tués par lui. 1 M 7,17 décrit cette terrible fin en empruntant le Ps 79(78),2–3 : Σάρκας ὁσίων σου καὶ αἷμα αὐτῶν ἐξέχεαν κύκλῳ Ιερουσαλημ, καὶ οὐκ ἦν αὐτοῖς ὁ θάπτων La chair de tes saints et leur sang, ils ont répandu autour de Jérusalem, et il n’y avait personne pour les ensevelir (TOB)
En ce sens, il effectue un autre lien clair entre le groupe des assidéens et les saints. Il s’agit d’un argument assez fort pour l’identification de la communauté productrice avec les pharisiens 98. Cependant, nous ne savons pas exactement comment pouvaient se désigner les pharisiens à cette époque. Une lecture de ces passages, ainsi que le témoignage du deuxième livre des Maccabées peut mener vers une autre conclusion: Οἱ λεγόμενοι τῶν Ιουδαίων Ασιδαῖοι, ὧν ἀφηγεῖται Ιουδας ὁ Μακκαβαῖος, πολεμοτροφοῦσιν καὶ στασιάζουσιν οὐκ ἐῶντες τὴν βασιλείαν εὐσταθείας τυχεῖν 97 98
Voir Ringgren, H. « חָ ִּסיד, ḥāsîḏ », TDOT 5,77. Voir notamment Winninge, Sinners and the Righteous, pp. 102–105.
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Ceux qu’on appelle Assidéens parmi les Juifs que dirige Judas Maccabée99 fomentent la guerre et les séditions et ne laissent pas le royaume jouir du calme (2 M 14,6, TOB légèrement modifié100)
Les Assidéens n’y seraient pas un groupe proto-pharisiens mais le peuple en tant qu’il s’organise en guerre 101. Il n’a pas dans l’objet de cet article d’en faire une vue exhaustive de la bibliographie sur la question des Assidéens102. Il est possible que d’un groupe particulier appelé Assidéens dérivent les Esséniens103 et les Pharisiens104. Dans ce contexte, il serait possible que le psalmiste décrive la fuite dans le désert de ceux qui sont partisans de ces groupes religieux particuliers105. Cependant, une interprétation plus inclusive est également possible : ont fui dans le désert ceux qui aiment les assemblées de pieux, c’est-à-dire les assemblées du peuple telles que décrites par les Psaumes canoniques. Ainsi, Kampen, déconnecte-t-il à juste titre la communauté qui a fui dans le désert et qui se fait massacrer un jour de Sabbat du groupe des Assidéens 106 dont il note que 1 M 2,42 les qualifie comme des guerriers et des notables107 et 1 M 7,13 les place parmi la délégation de 99
On peut aussi traduire « Les Juifs appelés Assidéens », voir Schwartz, D. R. 2 Maccabees, Commentaries on Early Jewish Literature, Berlin : de Gruyter, 2008, p. 471. 100 Pour faire apparaître que Judas dirige les juifs et non uniquement les Assidéens. 101 Voir Ringgren, H. « חָ ִּסיד, ḥāsîḏ », TDOT 5,77. 102 L’ouvrage de référence reste encore Kampen, J. The Hasideans and the Origin of Pharisaism: A Study in 1 and 2 Maccabees. SBLSCS 24, Atlanta, GA : Scholars Press, 1988. 103 C’est la thèse de M. Hengel, Judaism and Hellenism : Studies in their Encounter in Palestine during the Early Hellenistic Period, Philadelphia : 1974, vol. 1, pp. 251–252. 104 C’est notamment la thèse de Kampen, The Hasideans. 105 Dans ce cadre, et si les Psaumes de Salomon ont bien été écrits d’abord en hébreu, le traducteur n’a pas souhaité reproduire le tour des textes grecs de 1 et 2 Maccabées qui ont préféré la transcription, plutôt que d’utiliser le terme ὅσιος. 106 Kampen, The Hasideans, pp. 76–81. 107 Kampen, The Hasideans, pp. 95–107.
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scribes108. Bien sûr, les textes des deux premiers livres des Maccabées sont antérieurs à l’écriture des Psaumes de Salomon. De plus, les textes décrivant les Pharisiens, Nouveau Testament et littérature rabbinique, sont postérieurs et nous ne savons pas à quel moment se sont produits deux événements ; à savoir quand la désignation ḥasîdîm a défini un groupe religieux particulier et quand ce groupe est devenu pharisien, si c’est bien le cas. Ainsi, sans nier l’enracinement historique de ce verset, il me paraît intéressant de noter que ceux qui fuient ne sont pas nommément membres de cette communauté. Autrement dit ce n’est pas la communauté qui a fui (peut-être l’a-t-elle déjà fait, peut-être est-elle restée), mais ceux qui l’aiment. Les deux autres mentions du terme συναγωγή ne permettent pas plus d’identifier la désignation d’une communauté avec la communauté productrice des Psaumes de Salomon. En revanche, on trouve à chaque fois la mention des tribus (φυλή). Dans la Septante, ce terme désigne soit une tribu, et notamment les douze tribus d’Israël109, soit un peuple110 selon les acceptions respectives de maṭæ̂ h et de mišpāḥâh, auxquels il correspond régulièrement 111. Dans le corpus des Psaumes de Salomon, il n’apparaît que dans le dixseptième Psaume, quatre fois. Dans la première occurrence, ce terme désigne clairement les tribus du peuple d’Israël. Καὶ συνάξει λαὸν ἅγιον, οὗ ἀφηγήσεται ἐν δικαιοσύνῃ, καὶ κρινεῖ φυλὰς λαοῦ ἡγιασμένου ὑπὸ κυρίου θεοῦ αὐτοῦ
108
Kampen, The Hasideans, pp. 128–135, ce que Saldarini, A. J., « Revue de Kampen, The Hasideans and the Origin of Pharisaism », JBL 109 (1990), pp. 529–530, juge improbable. 109 Cf. Nb 1,4. 110 Cf. Gn 12,3. 111 Voir Dorival G. « ‘Dire en grec les choses juives’. Quelques choix lexicaux du Pentateuque de la Septante », REG 109 (1996), pp. 532– 534.
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Alors, il rassemblera un peuple saint qu’il conduira dans la justice. Il jugera les tribus d’un peuple sanctifié par le Seigneur son Dieu (Ps Sol 17,26)
Ce verset est assez proche du verset 43 qui semble en être un résumé : ἐν συναγωγαῖς διακρινεῖ λαοῦ φυλὰς ἡγιασμένου (Ps Sol 17,43) Dans les assemblées, il jugera les tribus du peuple sanctifié
À ce titre, συναγωγή peut aussi être compris comme le nomen actionis du verbe συνάγω : « au moment des rassemblements »112. Une même interprétation est aussi possible au verset 44 113. En effet, la deuxième occurrence de φυλή dans le Psaume de Salomon 17 concerne la répartition des tribus sur la terre : où καὶ καταμερίσει αὐτοὺς ἐν ταῖς φυλαῖς αὐτῶν ἐπὶ τῆς γῆς,
Il les répartira dans leurs tribus sur la terre.
Cette question de la répartition, qui résonne avec, par exemple Nb 34,29, apparaît en lien avec la question du rassemblement en Sir 36,10 : συνάγαγε πάσας φυλὰς Ιακωβ καὶ κατακληρονόμησον αὐτοὺς καθὼς ἀπʼ ἀρχῆς Rassemble toutes les tribus de Jacob. Remets-les en possession du patrimoine comme au début (TOB, Sir 36,13–16).
Dans cette prière du Siracide, on espère que Dieu permettra le retour de toutes les tribus dispersées. Dans le Psaume de Salomon, ce rôle, le même, est dévolu au Messie114. Ainsi, l’interprétation qui voit dans l’utilisation de συναγωγή une allusion à une « synagogue » ne s’impose pas pour ces deux dernières occurrences. 112
Voir aussi Gn 1,9. Interprétation choisie par Wright, R.B. The Psalms of Solomon : A Critical Edition of the Greek Text, Jewish and Christians Texts in Contexts and Related Studies 1, Londres : T&T Clark, 2007, p. 201. « In the gathering of the tribes ». 114 Ce qui est d’ailleurs une surprise, voir Trafton, J.L. « What Would David Do? Messianic Expectation and Surprise in Ps. Sol. 17 », dans 113
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V. Conclusion En conclusion, un des aspects importants de l’analyse d’une identité collective est de définir la manière dont on se nomme. L’objet de cet article fut d’étudier si, à l’instar de certains documents de Qumrân, les Psaumes de Salomon désignaient sa propre communauté en tant que telle. Après avoir analysé les mots pouvant supporter une telle identification : βουλή, ἐκκλησία, συνέδριον et συναγωγή, il est apparu qu’aucune de ces dénominations ne pouvait être, de manière décisive, interprétée comme se référant à cette communauté productrice. En tant que telle, ceci ne veut pas dire qu’elle n’existait pas. En ce sens, il faut noter la désignation par des substantifs pluriels, tels que les saints : οἱ ὅσιοι115 ou les pauvres, οἱ πτωχοί116. Cependant, malgré tout, il convient d’affirmer que lorsque les Psaumes de Salomon désignent une communauté, il s’agit d’une autre communauté. En effet, il peut s’agir d’un organe judiciaire (Ps Sol 4,1) potentiellement identifiable avec le Sanhédrin. Il peut aussi s’agir de peuple d’Israël (ou bien une assemblée politique de ce peuple, Ps Sol 10,6–7) ou d’une partie « plus » fidèle de celui-ci (Ps Sol 17,16). Le rassemblement des tribus évoqués en Ps Sol 17,43– 44 est plutôt un évènement eschatologique. De ces constatations on peut, à mon avis, tirer l’hypothèse suivante : la communauté productrice des Psaumes de Salomon se percevait comme une communauté intégrée au peuple d’Israël. Elle ne se définit pas en tant que communauté spécifique, elle ne s’oppose pas à une autre communauté spécifique. Bien sûr, les Psaumes de Salomon ne dissimulent pas l’existence de pécheurs au sein de ce peuple, même dans des postes The Psalms of Solomon : Language, History, Theology, ed. E. Bons & P. Pouchelle, Early Judaism an dits Literature 40, Atlanta (GA) : SBL Press, 2015, p. 168. 115 Par exemple ; Ps Sol 2,36 ; 4,6 ; 8,23 … 116 Ps Sol 10,6 ; 15,1.
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clés (Ps Sol 4,1), pourtant les Psaumes de Salomon ne semblent pas remettre en cause les institutions. A mon avis, cette constatation est en phase avec l’idée apportée par Werline que les auteurs des Psaumes de Salomon faisaient partie du groupe social des scribes. Non officiellement affiliés religieusement, ces experts en écritures auraient trouvé dans la composition de ces Psaumes l’occasion de relire les événements historiques contemporains tout en mettant en avant leur capacité. Leur idéal ne serait pas ainsi révolutionnaire, au sens de fonder une nouvelle société, mais de relire les textes pour interpréter le présent et anticiper l’avenir, pourvu qu’il soit conforme au passé décrit dans les Écritures.
Römische Antike
Werner Eck
Das multiethnische und multilinguale Imperium Romanum: Gab es eine römische Identität?
Dass Rom ein Großreich war, ist eine Binsenweisheit. Die flächenmäßige Ausdehnung des Imperiums kann man allerdings nicht genau errechnen, weil es an vielen Stellen keine festen Außengrenzen gab; diese waren fluid, jeweils wesentlich bestimmt von römischen Interessen und der jeweiligen Machtsituation – vor allem auch im Vorfeld der Provinzen. So bildete seit Tiberius der Rhein die militärisch gesicherte Grenze. Doch auf der rechten Rheinseite gegenüber Bonn lagen an der aus dem Mittelgebirge kommenden Agger die prata legionis und weiter nördlich am Beginn des Bergischen Landes wurden auf der rechten Rheinseite Ziegel gebrannt, Kalk abgebaut und Blei gewonnen, noch lange nach der Zeit, als das rechtsrheinische Germanien aufgegeben worden war. Auch der Limes in England war nicht die absolute Grenze für Rom. Ähnlich unbestimmt war die lange Grenze in Nordafrika im Übergang vom bewirtschafteten Land zu Steppe und Wüste. Die hier wie dort durch limites gezogene sichtbare Linie ist nicht im Sinn einer heutigen rechtlichen Staatsgrenze anzusehen; das waren militärisch gesicherte Grenzanlagen, jenseits derer Rom durchaus oft konkrete Interessen hatte und sie kontinuierlich durchsetzte. Doch trotz all dieser geringen Präzisierung dessen, was wir heute als Grenzen bezeichnen würden, dürfte eine Schätzung, die von 5 Millionen km2 für das Imperium Romanum ausgeht, einigermaßen zutreffen. Allein damit aber ist dokumentiert, dass das Imperium Romanum zu den ganz großen, sich weithin erstreckenden und beherrschenden Reichen der Weltgeschichte gehört.
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Dieses Reich war über mehrere Jahrhunderte hin durch Eroberung entstanden, was nicht nur für die Provinzen, sondern auch für das Kernland Italien galt. Bis zum Jahr 90/89 v. Chr. war Italien kein einheitliches Bürgergebiet. Der ager Romanus, also das Gebiet, das unmittelbar dem populus Romanus gehörte, erstreckte sich wie ein Flickenteppich über ganz Italien, allerdings nur bis zum Po. Das nördlich anschließende Gebiet war eine Provinz, die Gallia Cisalpina. Noch Caesar erhielt dieses Gebiet als provincia, also Untertanengebiet, zugewiesen, als er sich daran machte, das eigentliche Gallien nördlich der Provence zu erobern. Das Gebiet südlich vom Po bzw. dem Apennin bis zur Stiefelspitze war bis 90/89 neben dem ager Romanus in latinische Städte und bundesgenössische Gemeinden aufgeteilt, von denen jede ihr eigenes Bürgerrecht, andere gemeindliche oder besser gesagt staatliche Strukturen hatte, wo man sich auch meist in anderer Sprache als Latein unterhielt: etruskisch, samnitisch, umbrisch, sabellisch, oskisch usw. oder auch griechisch; denn seit dem 7. Jh. hatten griechische Kolonisten sich an vielen Stellen Unteritaliens niedergelassen. So war die Magna Graecia entstanden. An eine römische Identität Italiens hätte damals niemand gedacht – wobei erst einmal offen bleiben soll, was man denn darunter überhaupt verstehen kann. Es gab aber einen gewissen Drang von Seiten der nichtrömischen italischen Gemeinden, an Rom Anteil zu haben. Denn die Lasten teilte Rom sehr gerne mit allen Verbündeten, vor allem die militärischen. In den Kriegen Roms zunächst in Italien selbst, seit 264 auch außerhalb, stellten die latinischen Städte sogar Soldaten für die römischen Legionen, die Bundesgenossen dagegen eigene Einheiten, die oft einen wesentlichen Teil des Einsatzes tragen mussten. Doch in die politischen Entscheidungen waren die socii, die Bundesgenossen, nicht eingebunden, auch an den
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ökonomischen Vorteilen nahmen sie nicht generell teil.1 Die Frustration, die sich deshalb über viele Jahrzehnte hin aufgebaut hatte, entlud sich in dem Bundesgenossenkrieg der Jahre 90/89 v. Chr., an dessen Ende Rom durch die lex Plautia Papiria allen Italikern, die die Waffen niedergelegt hatten, das römische Bürgerrecht zugestand, durch eine lex Pompeia auch den Bewohnern der Gallia Cisalpina bis zum Po. Rechtlich beinhaltete diese Übertragung des Bürgerrechts auch die Teilhabe an allen Entscheidungen – wenigstens der Theorie nach. Welcher Widerstand gegen eine volle Integration und Gleichberechtigung aber selbst damals noch von Seiten mancher Gruppen innerhalb des populus Romanus existierte, ersieht man daran, dass man zunächst versuchte, die Neubürger auf lediglich acht bzw. zehn der 35 Wahlkörper der Tributkomitien aufzuteilen, was einer Marginalisierung gleichgekommen wäre.2 Erst im Verlauf einer erneuten Auseinandersetzung wurde diese halbherzige Integrationsmaßnahme überwunden und die Neubürger zu allen Wahlkörpern zugelassen.3 Erst dadurch wurden sie zumindest rechtlich vollwertige römische Bürger. Von da an waren die Voraussetzungen gegeben, dass Italien zu einer politisch-rechtlichen und in gewisser Weise auch zu einer kulturellen Einheit fand, in die alle als cives Romani eingebunden waren.4 Das betraf grundsätzlich alle Bewohner, vor allem jedoch die Führungsschichten in den einzelnen Gemeinden. Denn da die politische Teilnahme normalerweise nur durch persönliche Anwesenheit in Rom möglich war, musste man in gewisser Weise abkömmlich 1
H. Galsterer, Herrschaft und Verwaltung im republikanischen Italien: die Beziehungen Roms zu den italischen Gemeinden vom Latinerfrieden 338 v. Chr. bis zum Bundesgenossenkrieg 91 v. Chr., München 1976; Th. Hantos, Das römische Bundesgenossensystem in Italien, München 1983. 2 Velleius Paterculus 2, 20, 2; Appian, bellum civile 1, 49. 3 Livius, periochae 77, 1; Appian, bellum civile 1, 55. 64. 67. 4 H. Galsterer, Rom und Italien vom Bundesgenossenkrieg bis zu Augustus, in: Herrschaft ohne Integration? Rom und Italien in republikanischer Zeit, M. Jehne / R. Pfeilschifter (Hg.), Frankfurt 2006, 293ff.
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sein für die Politik. Als römischer Bürger an politischen Entscheidungen teilzunehmen, hieß, dass man in Rom anwesend sein musste. Denn dort wirkten alle politischen und rechtlichen Institutionen: Volksversammlung, Senat, Magistrate; aber auch die Gerichte traten nur dort zusammen.5 In dieser Hinsicht waren die Voraussetzungen für alle nun römischen Bewohner Italiens gleich. Die Teilhabe an der Politik aber war bestimmt von den persönlichen Umständen des Einzelnen. Auch für Italien nördlich des Po wurde dieser Zustand bald erreicht, als im Jahr 49 v. Chr. Caesar durch Gesetz allen dort lebenden Personen das römische Bürgerrecht verlieh6 – was in einem gewissen Widerspruch dazu stand, dass sie noch in einer Provinz lebten, also einem Untertanengebiet. Doch schon wenige Jahre später, 42/41 v. Chr., wurde der Status als Provinz aufgehoben und die Gemeinden der nördlichen Poebene wurden denen im übrigen Italien gleichgestellt.7 Auf der Ebene der politischen Führung stellte sich in Italien Schritt für Schritt eine Angleichung her. Mehr und mehr schafften es Mitglieder der führenden Familien der einzelnen Städte, Zugang zu den römischen Magistraturen zu erhalten und damit in den Senat einzutreten, womit permanente politische Partizipation verbunden war, freilich immer konzentriert auf Rom.8 Man wurde Teil dieses Rom, auch wenn man sich außerhalb des Zentrums auf lange Zeit bewusst blieb, dass es neben Rom noch andere Identifikationsmöglichkeiten gab. Man war Römer, aber eben nicht nur dies. So sagte man in Superaequum im 5
Wenn man von Zivilklagen bis zu einer begrenzten Höhe absieht, die in den lokalen Gemeinden entschieden werden konnten. 6 Cassius Dio 41, 36, 3. 7 Appian, bellum civile 5, 12; vgl. Cassius Dio 48, 12, 5. G. E. F. Chilver, Cisalpine Gaul, Oxford 1941, 9f. 8 R. Syme, Caesar, the Senate, and Italy, in: Roman Papers I, Oxford 1979, 88ff.; T. P. Wiseman, New Men in the Roman Senate 139 B.C. – A.D. 14, Oxford 1971; W. Eck, Senatoren und Ritter aus den Städten Italiens nördlich des Po: der Weg der Integration, in: TRANS PADVM … VSQUE AD ALPES. Roma tra il Po e le Alpi: dalla romanizzazione alla romanità, G. C. Marrone (Hg.), Rom 2015, 130ff.
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ehemaligen Stammesgebiet der Paeligner, südöstlich vom heutigen L’Aquila in den Abruzzen, in augusteischer Zeit von dem Senator Q. Varius Geminus, er sei primus omnium Paelign(orum) senator factus est et eos honores gessit.9 Man war sich somit bewusst, dass eine Person aus ihrer Mitte nun Teil des führenden Gremiums der res publica populi Romani geworden war, dass dieser aber aus einer Gemeinschaft kam, die außerhalb von Rom existierte, zu der sie selbst alle gehörten, auch der nun zu höherem Prestige und Einfluss promovierte Varius Geminus. Es dauerte noch einige Jahrzehnte, bis alle Regionen Italiens in dieser Form direkt über ihre Vertreter in den politischen Führungskreis Roms integriert waren.10 Um noch ein Beispiel zu nennen: Der jüngere Plinius, der den berühmten Brief über die Behandlung der Christen in der Provinz PontusBithynien an Kaiser Traian gesandt hat (epistula 10, 9697), stammte aus Comum, direkt am Fuß der Alpen, also aus der alten Provinz Cisalpina. Er kam in domitianischer Zeit in den Senat, saß damit im Macht- und Integrationszentrum des Reiches. Doch er charakterisiert in einem seiner Briefe an einen Iunius Mauricus, einen befreundeten Kollegen im Senat, einen seiner nicht-senatorischen Freunde in folgender Weise: Patria est ei Brixia, ex illa nostra Italia quae multum adhuc verecundiae frugalitatis, atque etiam rusticitatis antiquae, retinet ac servat = „Seine Heimat ist Brixia, aus jenem Italien, das das unsrige ist, das bis auf den heutigen Tag einen Gutteil alter Sittsamkeit, Biederkeit und ländlicher Einfachheit behalten hat und weiter bewahrt“.11
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CIL IX 3306 = Dessau 932a: Q(uinto) Vario Q(uinti) f(ilio) Gemino leg(ato) divi Aug(usti) II, proco(n)s(uli), pr(aetori), tr(ibuno) pl(ebis), q(uaestori), quaesit(ori) iudic(i), praef(ecto) frum(enti) dand(i), Xvir(o) stl(itibus) iudic(andis), curatori aedium sacr(arum) monumentor(um)que public(orum) tuendorum. Is primus omnium Paelign(orum) senator factus est et eos honores gessit. Superaequani publice patrono. 10 Siehe dazu die Beiträge verschiedener Autoren zu den einzelnen italischen Regionen in Epigrafia e Ordine Senatorio, S. Panciera (Hg.), Rom 1982 [1984]. 11 Plinius, epistula 1, 14, 4.
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Plinius, der wie viele Dutzende anderer aus den norditalischen Städten seinen Weg in den Senat gefunden hatte12 und den Großteil seines Lebens im Zentrum des Reiches verbrachte, soweit er sich nicht im Auftrag Roms in den Provinzen aufhalten musste, sieht die Region um Brixia (das heutige Brescia), das nur rund 100 km östlich von Comum lag, als einen besonderen Teil Italiens an.13 Und diesem fühlt auch er sich zugehörig. Er nennt es illa nostra Italia, also nicht das gesamte Italien, sondern dieser spezifische Teil. Und er charakterisiert es durch die virtutes der verecundia, der frugalitas und der rusticitas antiqua, also Zurückhaltung, Mäßigkeit und althergebrachte Einfachheit des Lebens. Er nimmt diese Aussagen über illa nostra Italia auch für sich in Anspruch, obwohl er seit langem in Rom in einem Ambiente lebt, das schwerlich mit diesem Maßstab gemessen werden konnte. Als Senator hatte er sich nach den Erfordernissen seiner Gesellschaftsschicht zu richten, akzeptierte diese auch und identifizierte sich mit dem politischen Rom seiner Zeit, vor allem mit seinem Kaiser Traian, und sah von da her auch seine Stellung bestimmt. Und doch fühlte er sich auch als Teil seiner engeren Heimat, die zumindest auch andere Werte betonte und herausstellte; er distanzierte sich nicht von ihr wegen seiner Stellung in Rom, nein, er identifizierte sich sehr deutlich mit ihr. Waren dies zwei Identitäten? Und stand die eine im Gegensatz zu seiner römischen Identität? Darauf ist zurückzukommen. Rom und Italien waren nur das Zentrum des Imperiums. Dieses umfasste eine Vielfalt von Räumen mit sehr unterschiedlicher Vergangenheit, die aber nun politisch alle in gleicher Weise in Provinzen gegliedert waren. In augusteischer Zeit waren es 23, unter Traian rund 40. Manche 12
Dazu vor allem G. Alföldy, Städte, Eliten und Gesellschaft in der Gallia Cisalpina. Epigraphisch-historische Untersuchungen, Stuttgart 1999, unter Einschluss eines Beitrags in Epigrafia e Ordine Senatorio (s. Anm. 10). 13 Siehe verschiedene Beiträge in R. Syme, Roman Papers VII, Oxford 1991.
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Provinzen waren mehr oder weniger aus einer früheren politischen Einheit entstanden wie etwa die beiden Mauretaniae, Dacia, Ägypten, Syria, Judäa, Arabia oder Cappadocia, ohne dass dies schon etwas über eine innere Einheitlichkeit besagen muss. Viele andere Provinzen aber hatten vor ihrer Eroberung durch Rom nie eine Einheit gebildet. Caesar spricht im Eingangssatz von De bello Gallico sehr klar über die innere Zergliederung: Gallia est omnis divisa in partes tres, quarum unam incolunt Belgae, aliam Aquitani, tertiam qui ipsorum lingua Celtae, nostra Galli appellantur. Hi omnes lingua, institutis, legibus inter se differunt.14
Doch die Unterschiede, die er konstatiert, bezogen sich in der Realität nicht spezifisch nur auf alle Aquitani, Galli/ Celtae und Belgae. Die Realität trifft Tacitus weit präziser, wenn er auf die 64 civitates verweist,15 die in dem Gallien existierten, das in seiner Zeit in drei Provinzen geteilt war, deren Dreiheit, wenn auch nicht völlig gleichnamig, schon unter Caesar erscheint: die Aquitania, die Lugdunensis und die Belgica. In caesarischer Zeit war das nicht anders, wie die Beschreibung in seinen Commentarii mit aller Deutlichkeit zeigt. Gallien war politisch-kulturell keine Einheit, sondern in zahlreiche politisch-kulturelle Identitäten aufgeteilt oder – besser gesagt – zersplittert, was partiell auch sprachlich galt. Gallien bildete in dieser Hinsicht keine Ausnahme, die Mehrzahl der Regionen, die Rom vom 2. Jh. v. bis zum Beginn des 2. Jh. n. Chr. eroberte, waren in ähnlicher Weise keine Einheit, sondern in viele Teile gegliedert. Sie waren zwar manchmal partiell miteinander verbunden, aber sie verstanden sich nicht als eine Einheit. Damit konnten auch diese Stämme oder Städte keine übergreifende einheitliche Identität entwickeln. Das gilt so z.B. für die iberische Halbinsel, für Britannien oder den Balkanraum mit 14
Caesar, De bello Gallico 1,1,1. Tacitus, annales 3, 44, 1: At Romae non Treviros modo et Aeduos sed quattuor et sexaginta Galliarum civitates descivisse. 15
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ihren je zahlreichen civitates. Aber auch in der Provinz Achaia (im Wesentlichen Griechenland) oder in Kleinasien ist Ähnliches zu konstatieren. Jede griechische Stadt war sich ihres eigenen Charakters bewusst, und man pflegte dieses Bewusstsein und grenzte sich ab, vor allem auch über spezielle Gründungsgeschichten, die zumeist in der mythischen Zeit lagen und Konstrukte waren, die man aber zur Selbstvergewisserung benötigte. Selbst als die griechischen Gemeinden in den kleinasiatischen Provinzen zum Teil bereits seit Jahrhunderten unter römischer Herrschaft gestanden hatten, war die Bewahrung der Eigenheit ein vordringliches Ziel der städtischen Politik, wobei man selten einem Streit mit den Nachbarn aus dem Weg ging; nur konnten solche Abgrenzungen wegen der römischen Suprematie nicht mehr kriegerisch ausgetragen werden; die Differenz machte sich in Rangstreitigkeiten deutlich bemerkbar.16 Dabei gab es durchaus Elemente, die eine gemeindeübergreifende Identität von griechischen Staaten real werden ließen, vor allem an großen panhellenischen Heiligtümern, und dort besonders bei den Wettkämpfen, an denen zunächst nur Hellenen teilnehmen konnten, während Nicht-Hellenen davon ausgeschlossen waren. Es gab also Verbindendes, woran alle teilhaben konnten und dies auch wollten. Aber – diese Identität auf einer die Einzelgemeinden überwölbenden Ebene war nicht das primäre, sie war sekundär. Primär blieb immer die eigene Gemeinde, der gemeinsame lokale Lebensraum. Rom war somit in seinem gewaltigen Imperium mit einer ungeheuren Vielfalt an politischen Einheiten konfrontiert, die sich, wie Caesar feststellte, zum einen nach ihrer inneren politischen Struktur – also Führungsämtern und Magistraturen – zum andern aber auch kulturell und zumeist auch sprachlich deutlich unterschieden. Sie alle galt es zu-
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Typischer Reflex dieser massiven Konkurrenz sind die sogenannten Homonoiamünzen: A. Furtwängler / P. R. Franke / C. Reinsberg (Hg.), Die Homonoia-Münzen Kleinasiens und der thrakischen Randgebiete, Saarbrücken 1997.
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nächst einmal zu beherrschen, so dass sie Rom nicht gefährlich werden konnten. Sich Rom zu entziehen, nachdem man einmal in dessen Machtbereich eingeschlossen war, stellte keine realistische Option dar. Nur ein einziges Mal gelang es einer Region, die bereits als Provinz etabliert war, sich wieder aus dem römischen Machtbereich zu entfernen: das war das rechtsrheinische Germanien, das Tiberius im Jahr 16 mit der Einstellung der Wiedereroberung endgültig aus dem römischen Machtbereich entließ; die Niederlage im saltus Teutoburgiensis im Jahr 9 war dabei wichtig, aber letztlich nicht entscheidend.17 Alle anderen Versuche, die Freiheit von Rom wieder zu erlangen, scheiterten, jedenfalls bis zum späten 3. Jh. Die große Rebellion der dalmatinisch-pannonischen Stämme von 6-9 n. Chr. zeigt dies nicht weniger als die zwei Revolten in Judaea, der Aufstand von 66-70 n. Chr. und der Bar Kochba Krieg von 132-136 n. Chr. Dieser letzte Aufstand hatte mindestens so katastrophale Folgen wie der von Josephus geschilderte Krieg, der mit der Zerstörung Jerusalems zu Ende ging.18 Die meisten Völker, Stämme und Gemeinden verzichteten auf jeden Aufstandsversuch, nachdem sie einmal unterworfen worden waren. Man kannte die römische Militärmacht und wusste aus eigener Erfahrung oder durch das, was anderen widerfahren war, dass Rom brutal zurückschlug, wenn es um seine Macht ging. So richtete man sich unter dieser Herrschaft ein. Rom wäre allerdings politisch weit weniger erfolgreich gewesen, wenn es allein darauf vertraut hätte, notfalls seine Herrschaft durch Gewalt zu sichern. Vornehmlich zwei Mittel hat Rom praktiziert, um seine Dominanz zu 17
W. Eck, Germanien – eine Provinz unter Augustus, in: Die römischen Provinzen. Begriff und Gründung, I. Piso (Hg.), Cluj-Napoca 2008, 165ff. 18 W. Eck, Der Bar Kochba-Aufstand der Jahre 132-136 und seine Folgen für die Provinz Judaea / Syria Palaestina, in: Iudaea socia – Iudaea capta, Atti del convegno internazionale Cividale del Friuli, 2224 settembre 2011, P. Urso (Hg.), Pisa 2012, 249ff. = in: W. Eck, Judäa – Syria Palästina. Die Auseinandersetzung einer Provinz mit römischer Politik und Kultur, Tübingen 2014, 229ff.
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sichern, ohne ständig mit der militärischen Keule drohen zu müssen. Dies war zum einen die gemeindliche Autonomie der Unterworfenen und zum andern die Verleihung des römischen Bürgerrechts an Peregrine.19 Beide Prinzipien, die man vielleicht sogar ursprünglich als ein Gegensatzpaar ansehen könnte, hat Rom schon in seiner republikanischen Phase eingesetzt, schon lange bevor es ein weitausgedehntes römisches Imperium gab. Die Zahl der Personen, die den politisch-administrativen Apparat Roms trugen, war sehr begrenzt und wurde nicht nur während der Republik, sondern auch in der frühen und hohen Kaiserzeit nur moderat vergrößert. Damit hätte man schon Italien nicht leiten und mit allem Notwendigen versehen können. Deshalb führten die ehemals selbstständigen politischen Einheiten – Städte, Stämme Italiens – fast alle Aufgaben gegenüber den eigenen Bürgern weiter – wie schon vor der Eingliederung ins römische System; nur Außenpolitik und das Heerwesen war ihnen entzogen. Ansonsten aber blieben sie autonom. Dabei bedurfte es keineswegs jeweils sozusagen einer speziellen Erlaubnis durch Rom, die eigene Gemeinde weiterzuführen, im Gegenteil! Nur wenn das wie im Fall von Capua nicht geschehen sollte, dann musste ein eigener Beschluss des Senats in Rom die Autonomie außer Kraft setzen.20 Dieses System der Autonomie oder der Selbstverwaltung der Gemeinden benutzte Rom in gleicher Weise in den sukzessiv unterworfenen Provinzen. Die schon vorher vorhandenen politisch-administrativen Einheiten blieben weitgehend bestehen. Nur monarchische Herrschaften wurden bei Umwandlung eines Gebiets in eine Provinz aufgelöst, ebenso auch Staatenbünde wie der Achäische Bund. Ein allen sehr vertrauter Bereich ist das ehemalige 19
Zum römischen Bürgerrecht immer noch F. Vittinghoff, Römische Bürgerrechtspolitik unter Caesar und Augustus, Mainz 1951; A. N. Sherwin-White, The Roman citizenship, Oxford 21973; V. Marotta, La Cittadinanza romana in età imperiale (secoli I-III d.C.). Una sintesi, Turin 2012. 20 Livius 26, 16, 9f.; Cicero, de lege agraria 1, 19; 2, 88.
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Königreich des Herodes: Als dieses nach der Verbannung des Herodessohnes, des Ethnarchen Archelaus, im Jahr 6 n. Chr. in die römische Provinz Syria eingegliedert wurde, wurde das Territorium in Städte wie Askelon, Sebaste, Caesarea oder Dor, in den Jerusalemer Tempelstaat und die Toparchien aufgespaltet, die jeweils ihr eigenes Leben gestalteten.21 Was hier beobachtet werden kann, galt für alle anderen Provinzen auch. Die Autonomie war das Grundprinzip, das überall wirksam wurde. Nur wenn römische Interessen betroffen waren oder wenn die Gemeinden im Innern wegen Parteiungen sich selbst blockierten und vor allem im Bereich der höheren Gerichtsbarkeit, da war die römische Ordnungsmacht gefordert. Aber im Grunde blieb auch für die Bewohner der Provinzen die eigene gemeindliche Autonomie eine Selbstverständlichkeit, es blieb ihre Gemeinde, die für sie verantwortlich war und die dadurch auch der Bezugspunkt für die Bewohner blieb. Auf diese Weise wurde Rom als zentrale Macht vom Aufbau einer umfassenden Administration entlastet. All das, was nach antiker Vorstellung nicht von den natürlichen Familienverbänden erledigt werden konnte, vielmehr einer außerfamilialen Administration bedurfte – und zwar eingeschlossen das, was vor Ort für die dominierende Macht, also Rom selbst zu leisten war – das übernahmen die Gemeinderäte, die ordines decurionum oder die boulai, sowie die Amtsträger der Städte, Stämme oder Tempelstaaten. Sie mussten den römischen Repräsentanten gegenüber, also gegenüber Statthaltern und Finanzprokuratoren, ihre Gemeinden vertreten. Sie hatten dabei zum einen die Interessen der eigenen Bürger gegenüber Rom zu wahren, mussten aber auch die Interessen Roms gegenüber ihren Bürgern durchsetzen. Soweit man sehen kann, lief dieser Interessenausgleich weitgehend ohne tägliche Auseinandersetzungen. Die meisten Bewohner einer Siedlung kamen kaum mit den Vertretern Roms in Berührung, sondern meist nur mit den Amtsträgern der eigenen Gemeinde. Es 21
Iosephus, bellum Iudaicum 3, 51ff.
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ist mehr als verständlich, dass unter diesen Voraussetzungen die natürliche Nähe der Menschen zu den Gemeinden, in denen sie lebten, sich unmittelbar in ihrer Anschauung darüber auswirkte, wohin sie wirklich gehörten, was ihr Bezugspunkt war, also auf das, was wir mit Identität bezeichnen. Diese Identität hat auch eine Basis im Rechtsstatus der Menschen, die in diesen autonomen Gemeinden lebten. Sie waren Bürger der jeweiligen Gemeinde, unterstanden somit deren Gesetzen. Dies galt für die Mehrzahl derer, die dort lebten. Ausgeschlossen waren nur Sklaven, die rechtlich notwendigerweise nicht Bürger sein konnten, sodann all diejenigen, die von außen in eine Gemeinde gekommen waren. Diese waren incolae, aber ihrerseits wohl zumeist Bürger in anderen Gemeinden, soweit sie jedenfalls als Freie geboren waren. So blieb ein [Terti]nius Secund(us), der sich im römischen Köln als Händler wohl für Mühlsteine niedergelassen hatte, dennoch ein civis Nervius, also Bürger der Stammesgemeinde der Nervier, die im Westen der Provinz Belgica siedelte.22 Jede Gemeinde hatte ihr eigenes Bürgerrecht, wodurch sie sich von den Nachbarn abhob und woraus sich auch Rechte und Pflichten innerhalb der Gemeinde ergaben. Gegenüber Rom aber waren zunächst einmal alle Menschen, die in den Provinzen lebten, sogenannte Peregrine, d.h. Leute, die keine römischen Bürger waren. Sein eigenes Bürgerrecht erachtete Rom als etwas Besonderes. Entweder war man in jeder Hinsicht römischer Bürger oder man war es gar nicht. Die Identität mit Rom war umfassend, jedenfalls konnte Cicero gegen Ende der römischen Republik in einer Gerichtsrede, in der es um Bürgerrecht ging, noch formulieren:23 Duarum civitatum civis noster esse iure civili nemo potest: non esse huius civitatis, qui se alii civitati dicarit, potest = „Niemand kann nach dem Zivilrecht Bürger zweier civitates (= Bürgerschaften) sein. Man
22
B. und H. Galsterer, Die römischen Steininschriften aus Köln. IKöln2, Mainz 2010, 430. 23 Cicero, pro Balbo 28.
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kann nicht dieser civitas (= Rom) angehören, wenn man sich für eine andere Gemeinde entschieden hat.“
Das hätte, nähme man die Aussage pauschal und generell, eigentlich dazu führen müssen, dass Römer und andere sich in absoluter Trennung gegenüberstanden. Erhielt ein Nichtrömer das römische Bürgerrecht, hätte der von Cicero formulierte Grundsatz ihn völlig aus seiner bisherigen Lebenswelt herausreißen müssen. Doch die Realität war schon in ciceronischer Zeit nicht ganz so eindeutig, und sie veränderte sich schnell. Aus dem Jahrzehnt zwischen 42 und 31 v. Chr. stammt ein umfangreiches Dokument, das sich auf einen Seleucus, einen Bürger der nordsyrischen Stadt Rhosus, bezog.24 Er hatte wegen seiner Verdienste um die Triumvirn das römische Bürgerrecht erhalten. Doch dabei wird ihm zugesichert, dass ihm alle Rechte, Ehren und Ämter, die er vor der Verleihung des römischen Bürgerrechts besessen habe, auch weiterhin verblieben. Vor allem aber wird ihm zugesichert, dass er im Fall von rechtlichen Auseinandersetzungen die Wahl habe, sich den Gerichtsstand auszusuchen: entweder seine bisherige Heimatstadt Rhosus oder eine freie, also von direkter römischer Herrschaft ausgenommene Stadt, wo natürlich niemand nach römischen Rechtsgrundsätzen urteilen konnte, oder er konnte sich an einen römischen Amtsträger wenden, um von ihm ein Urteil zu erhalten. Seleucus ist als nun römischer Bürger, zumindest in der Rechtsprechung, nicht mehr zwingend an seine Gemeinde gebunden, sondern kann sich in mehreren bewegen. Das war letztlich auch pragmatisch gedacht. Denn Seleucus kehrte nach den militärischen Diensten, die er Rom erwiesen hatte, fast notwendigerweise wieder in seine Heimatstadt zurück, wo er vermutlich auch seine ökonomische Basis hatte. Er kehrte aber eben als römischer Bürger zurück,
24
Zuletzt A. Raggi, The Epigraphic Dossier of Seleucus of Rhosus: A Revised Edition, Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 147, 2004, 123ff.
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während fast alle anderen Bewohner von Rhosus Nichtrömer waren. Wäre er gezwungen gewesen als römischer Bürger sein Recht nur vor einem römischen Magistrat zu suchen, dann hätte er in Syrien stets den dortigen Statthalter aufsuchen müssen – eine im Grundsatz sehr unpraktische Situation. Das römische Bürgerrecht wäre für ihn zu einem Hindernis geworden. Da aber immer mehr andere Peregrine wie eben Seleucus römische Bürger wurden, musste die Notwendigkeit, sich beim Akt der Bürgerwerdung für Rom als alleinige Gemeinde zu entscheiden, fallen. Das lokale Bürgerrecht musste weiterhin Gültigkeit behalten. Das zeigt schon eine Reihe von Edikten, die Augustus für die Bewohner der Teilprovinz Cyrene erließ.25 Das römische Bürgerrecht aber wurde zu einem überlokalen, alle anderen Rechte hierarchisch überwölbenden Recht. Unter dem politisch-militärischen Schirm Roms lebten alle Selbstverwaltungseinheiten mit ihrem je eigenen Recht weiter. Ihre Bürger waren, wenn sie Peregrine blieben, nur auf die eine Gemeinde ausgerichtet. Wurden sie römische Bürger, dann blieben sie ebenfalls Mitglieder, Bürger ihrer Gemeinden, freilich nun mit einem anderen Personalrecht, nämlich dem römischen. Römisches Personalrecht und Mitglied in seiner alten, peregrinen Gemeinde zu sein: das war nun kein Gegensatz mehr. Man konnte rechtlich beides miteinander vereinbaren, und doch deutlich machen, wo das eigene persönliche Zentrum lag. Das könnte man mit vielen Beispielen nachweisen, ein sehr sprechendes kennen wir aus Ephesus. Dort wurde im Jahr 167/168 n. Chr. ein junger römischer Senator als Quästor der Provinz Asia mit einer Statue geehrt; er hatte kurz vorher die Nachricht vom Sieg des Lucius Verus über die Parther im Auftrag des Verus nach Rom an Marc Aurel und den Senat überbracht. Die Ehrung erfolgte wohl durch einen von Rat und Volk von Ephesus gefassten Beschluss. Dabei wurde der im Rat zunächst auf 25
Fontes Iuris Romani Anteiustiniani, Florenz 21968, Nr. 68. Übersetzung bei H. Freis, Historische Inschriften zur römischen Kaiserzeit von Augustus bis Konstantin, Darmstadt 1984, 45ff.
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Griechisch formulierte Text, der unter der Ehrenstatue zu lesen sein sollte, in die lateinische Sprache übersetzt. Die konkrete Ausführung der Statuenehrung übernahm der Sophist Titus Flavius Damianus, der in Ephesus lebte, wo er auch Bürger war, und dessen Familie, wie sein Name Titus Flavius zeigt, seit zwei oder drei Generationen römisches Bürgerrecht besaß. Doch die Passage der Inschrift, in der davon gesprochen wird, dass Damianus als γραμματεὺς τοῦ δήμου und Panegyriarch der großen ephesischen Festspiele sich um die Aufstellung der Statue des jungen Senators kümmerte, ist in griechischer Sprache formuliert, nicht in Latein wie der vorhergehende ehrende Text mit der Begründung für die Ehrung.26 Diese unterschiedliche Sprache erscheint hier kaum zufällig, vielmehr darf man ohne Problem annehmen, dass Damianos, der als großer Sophist vollumfassend in der griechischen Kultur seiner Heimat Ephesus lebte, es als notwendig erachtet hat, seine Zugehörigkeit zu seiner Stadt und deren Kultur auch in einem so römischen Kontext deutlich durch die zweifache sprachliche Fixierung zu markieren. Manche Leute wie er wollten oder mussten sich bei Gelegenheit doch stärker mit Rom identifizieren. Das galt schon für die Söhne des Damianus. Drei seiner Söhne: Titus Flavius Vedius Antoninus, Titus Flavius Damianus und Titus Flavius Phaedrus wurden Mitglieder des römischen Senats und gelangten zum Konsulat. Wir wissen nicht alles über die Ämter, die sie übernahmen, aber einer von ihnen wurde z.B. Prokonsul in der Provinz Africa.
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Inschriften von Ephesus III 811: [---Iunium Maximum ---, t]ribunum laticlavium leg(ionis) I[II] Gallicae, donatum ab optimis maximisque Imperatorib(us) Antonino et Vero [Aug(ustis)] Armeniacis Medi[cis] Parthicis max[imis ob ex]peditionem [P]arthi[cam] felicissim[a]m don[is mi]litaribus corona murali et vallari, hastis puris, vexillo, item donativo extraordinario, quaestor(em) extr[a] s[e]n[t]en-tias des[i]gnatum, suscipien[tem] munus laureatar[um] Victoriae Parthicae, qu[ae]stor(em) pro pra[etore] provinciae Asiae, ἀναστήσαντος τὴν τιμὴν ἐκ τοῦ ἰδίου Τ(ίτου) Φλ(αουίου) Δαμιανοῦ γραμματέως τοῦ δήμου καὶ πανηγυριάρχου τῶν μεγάλων Ἐφεσήων.
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Zwei seiner Töchter heirateten andere Senatoren, die ebenfalls konsularen Rang hatten.27 Es war also nach römischen Maßstäben eine erfolgreiche Familie, die von außen kam, aber Teil der höchsten Statusgruppe Roms war. Dabei ist wichtig, dass Senatoren mit dem Eintritt in den Senat ihre origo änderten, also ihre rechtliche Herkunft. Rechtlich war Rom nun ihr Zentrum. Und man kann auch gar nicht bezweifeln, dass alle diese Senatoren ihren Wohnsitz nach Rom verlegt haben, allein schon deswegen, weil Teilnahme an den Senatssitzungen verpflichtend war, jedenfalls noch im späteren 2. und zu Beginn des 3. Jh. Doch dass wir diese Familie kennen, liegt nur daran, dass ihre Beziehungen zu Ephesus keineswegs abbrachen; sie müssen sogar sehr eng gewesen sein, sonst wäre die Dichte der Zeugnisse, die wir dort für die Familie kennen, nicht erklärlich.28 Wenn Senatoren wie sie gefragt worden wären, wo ihr Zentrum lag, was für die persönliche Selbsteinschätzung vorrangig war, dann konnte die Antwort wohl variieren, je nach der Gesprächssituation. Keiner von ihnen hätte wohl vergessen, woher die Familie kam, was Ephesus und Asia für sie bedeuteten, zumal auch ihre ökonomische Basis weitgehend in der alten Heimat verblieb29 – und dabei doch stets auf ihren Rang und ihre Stellung als Mitglieder des reichsweiten Senatorenstandes verwiesen. Es sind zwei Identitäten in derselben Person, von denen keine die andere ausschloss. Ein weiteres sprechendes Beispiel kann dies deutlich machen. Ein P. Iulius Geminius Marcianus, Senator unter Marc Aurel und Commodus, dessen ursprüngliche Heimatgemeinde Cirta in Africa war, hatte die Provinz Arabia verwaltet und dabei Verdienste um die Stadt Petra erworben. Am 27
Siehe Stemma PIR2 III p.178. Die Zeugnisse sind bei H. Halfmann, in: Epigrafia e Ordine Senatorio (s. Anm. 10) II 629, und vor allem in den einschlägigen PIR-Artikeln gesammelt, zuletzt PIR2 VIII 2, p. 174. 29 W. Eck, Ordo senatorius und Mobilität: Auswirkungen und Konsequenzen im Imperium Romanum, in: The impact of mobility and migration in the Roman Empire (Impact of Empire 12), A. Giardina / E. Lo Cascio / L.E. Tacoma (Hg.), Leiden 2016, 100ff., bes. 105ff. 28
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Ende dieser Statthalterschaft wollte ihn die Stadt mit Statuen ehren, wie das sehr üblich war. Doch das geschah nicht in Petra selbst; die Stadt sandte vielmehr Leute nach dem Westen, um dort zwei Statuen aufzustellen. Die eine fand ihren Platz in Rom, wo der Senator auch ein Haus oder eine Villa im Suburbium hatte,30 die andere aber ging sogleich nach Cirta, in die alte Heimat des Geehrten.31 Das kann nur auf seinen ausdrücklichen Wunsch geschehen sein. Es muss ihm also daran gelegen haben, dass man dort wahrnahm, wie sein administrativ-politischen Handeln in Arabia geschätzt wurde. Auch der höchste centurio der legio III Cyrenaica, die in Arabia unter seinem Befehl gestanden hatte, wollte seinen Kommandeur in gleicher Weise ehren; und auch ihm wurde klar gemacht, er solle die Statue des Geminius in Cirta dedizieren.32 Das verstärkt die Sicht, dass Cirta für das Selbstwertgefühl dieses Senators ganz zentral war. Diese Orientierung auf die ehemalige Heimat aber wird nochmals massiv durch eine Bestimmung im Testament des Senators deutlich. Denn darin stand, dass die Statue, mit der ihn Petra in Rom geehrt hatte, nach seinem Tod ebenfalls nach Cirta transportiert und dort aufgestellt werden sollte.33 Drei Ehrenstatuen standen damit in Cirta und verwiesen auf den Senator. Hier kann man kaum daran zweifeln, dass Geminius trotz seiner Bindung als Senator an Rom engst mit seiner ehemaligen Heimat verbunden geblieben war. Ohne diese Heimatgemeinde hätte er etwas für sich selbst Wesentliches verloren. Gleiches lässt sich mit einiger Klarheit bei einem ganz anderen Bevölkerungssegment im Imperium Romanum feststellen. Im römischen Heer der Kaiserzeit stellten die sogenannten Hilfstruppen oder Auxilien mehr als die Hälfte der
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CIL VIII 7052 = Dessau 1103a: Der Text ist griechisch abgefasst. CIL VIII 7051 = Dessau 1103. 32 CIL VIII 7050 = Dessau 1102. 33 CIL VIII 7052 = Dessau 1103a. Am Ende des griechischen Textes stand: Translata ab urbe secundum voluntatem Marciani testamento significat(am) d(ecurionum) d(ecreto). 31
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gesamten militärischen Mannschaft. Die einzelnen Einheiten, jeweils ca. 500 oder 1000 Mann stark, wurden fast ausschließlich aus den unterworfenen Völkern der Provinzen rekrutiert, aus Stämmen oder Gemeinden von Hispani, Lusitani, Galli, Brittani, Ubii, Nervii, Frsiavones, Astures, Delmati, Pannonii, Daci, Thraces, Commageni, Ituraei, Petraei, Musulamii, Ascalonitani, Cretes, Afri, Numidae und manch andere. Ihr Personalstatus war in der Überzahl, vor allem im 1. und der ersten Hälfte des 2. Jh. der von Peregrinen, also Nichtrömern, im Gegensatz zu den Legionen, in die rechtlich nur Römer aufgenommen werden konnten. Diese peregrinen Soldaten wurden nach der Rekrutierung auf alle möglichen Einheiten verteilt und häufig, wenn nicht meist in Provinzen eingesetzt, die nicht ihre Heimatprovinz war. Am Ende ihrer Dienstzeit aber wurde ihnen üblicherweise das römische Bürgerrecht verliehen, was für jeden einzelnen mit einer Urkunde, einem sogenannten Militärdiplom, bezeugt wurde.34 Ein vor kurzem entdecktes Diplom, das im Jahr 126 ausgestellt worden ist, wurde für einen Soldaten geschrieben, der auf Grund seines Namens aus dem thrakischen Siedlungsgebiet (ungefähr der östliche Balkan) stammen muss. Er diente aber in der cohors VI Hispanorum, die in hadrianischer Zeit in Arabia stationiert war. Nach 25 Jahren erhielt er wie alle anderen peregrinen Soldaten seit Claudius der römische Bürgerrecht, ebenso auch für seine Kinder, die ihm während des Dienstes geboren waren; das galt jedenfalls bis zum Jahr 140.35 Denn die Kinder, die von einem Soldaten während der Dienstzeit gezeugt wurden, waren 34
W. Eck, Die kaiserliche Bürgerrechtspolitik im Spiegel der Militärdiplome – ein Thema Hartmut Wolffs, in: Passauer Jahrbuch 55, 2013, 9ff. 35 W. Eck, Die Veränderungen in Konstitutionen und Diplomen unter Antoninus Pius, in: Militärdiplome. Die Forschungsbeiträge der Berner Gespräche von 2004, M. A. Speidel / H. Lieb (Hg.), Stuttgart 2007, 87ff.; P. Weiß, Die vorbildliche Kaiserehe. Zwei Senatsbeschlüsse beim Tod der älteren und der jüngeren Faustina, neue Paradigmen und die Herausbildung des ‚antoninischen‘ Prinzipats, in: Chiron 38, 2008, 1ff.
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zunächst illegitim, da Soldaten nicht heiraten konnten. Das Entscheidende aber ist, dass das Diplom, mit dem diesem Soldaten der cohors VI Hispanorum das römische Bürgerrecht bestätigt wurde und das ihm bei seiner Einheit in Arabien übergeben worden war, vermutlich im Bereich des heutigen Bulgarien oder umliegender Länder gefunden wurde, also weit ab von Jordanien, wo die Kohorte stationiert war.36 Das aber bedeutet, dass der Soldat, der nach 25 Jahren Militärdienst, von denen er zwischen 106 und 126 n. Chr. rund 20 Jahre in Arabien verbracht hatte, sich nicht in der Siedlung niedergelassen hatte, die ohne Zweifel um das Lager der cohors VI Hispanorum bestanden hatte, oder vielleicht auch in einer benachbarten Stadt wie Philadelphia, dem heutigen Aman. Er hatte sich vielmehr zusammen mit seiner Frau und seinen drei Kindern wieder in seine Heimat begeben, wohin er auch das Diplom mitgenommen hat; denn nur so konnte das Dokument dort gefunden werden. Dort, in der römischen Provinz Thracia oder Moesia inferior hatte die Mehrheit der Bevölkerung noch peregrinen Rechtsstatus, hatte also kein römisches Bürgerrecht; die Sprache war Thrakisch, in manchen Siedlungen wohl vermischt mit Griechisch. Durch den langdauernden Dienst in einer römischen Einheit war der Veteran inzwischen an Latein als Umgangssprache gewohnt, auch viele römische Elemente im täglichen Leben sowie bei der Ausübung der Götterverehrung waren ihm, wie man vermuten darf, sehr vertraut geworden. Dennoch kehrte er zurück in die recht anders gestaltete Heimat. Verständlich ist das wohl nur, wenn er sich selbst eng mit allem, was dort galt, verbunden fühlte, wenn man eben unterstellt, dass er erneut ein Teil seiner Heimatgemeinde sein wollte, sobald er nach Ende des Militärdienstes wieder über sich selbst entscheiden konnte. Dabei war er jetzt ein römischer Bürger, der die lateinische Sprache beherrschte; aber er kehrte
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W. Eck / A. Pangerl, Ein Diplom für die Hilfstruppen der Provinz Arabia, ausgestellt unter Hadrian wohl im Jahr 126, ZPE 197, 2016, 227ff.
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zurück in ein thrakisches Umfeld. Hatte er trotz Bürgerrecht und Sprache keine römische Identität entwickelt? Vielleicht ist die Frage nach der römischen Identität im Rahmen des gewaltigen Imperium Romanum gar nicht richtig gestellt. Dann worum sollte es sich bei einer römischen Identität handeln, welcher Inhalt sollte damit verbunden sein? Natürlich veränderten sich die Beziehungen zwischen der römischen Superstruktur und der großen Masse der Bevölkerung, gab es Ausgleichsprozesse kultureller Art, vor allem aber rechtlicher Art. Zunächst erhielten nur einzelne individuell das römische Bürgerrecht, in einem langsamen Prozess, der sich dann sehr beschleunigte. Am Ende stand die Entscheidung durch Caracalla im Jahr 212, alle freigeborenen Menschen innerhalb des Imperiums sollten römische Bürger werden, die berühmte constitutio Antoniniana. Aber – führte dieser Akt zu einer römischen Identität oder war das nur wie ein Firniss, der für die Identität des Einzelnen, für seine Einschätzung, wer er war, nicht viel bedeutete, noch weniger als das vorher an so viele individuell verliehene römische Bürgerrecht? Sahen sich seit 212 dadurch alle freien Bewohner des Reiches vornehmlich an dieses Imperium gebunden und war dieser Wert primär für die Bewohner? Das ist mindestens zum Teil nicht ausgeschlossen. Im Jahr 238, also einem mehr als spannungsgeladenen Jahr für das Reich, weihten zwei Bewohner von Gressenich in Niedergermanien, dem antiken Grasciniacum nahe bei Aachen, einen Altar für Jupiter Optimus Maximus und den Genius ihres Wohnortes pro salute imperii,37 also nicht pro salute imperatoris, des Kaisers, wie es in vielen anderen Inschriften geschieht, sondern für die Rettung des Reiches, des römischen Reiches. Dass sie mit diesem Reich lebten, zeigt die simple Tatsache, dass sie die offizielle Jahresdatierung
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CIL XIII 7844; vgl. AE 2012, 50: [I(ovi) O(ptimo) M(aximo)] et genio loci pro salute imperi(i) Masius Ianuari(us) et Titianus Ianuari(us) v(otum) s(olvit) l(ibens) m(erito) sub cura Masi s(upra) s(cripti) et Maceri Accepti Pio et Proc(u)lo [co(n)s(ulibus)].
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Roms nach Konsuln auf der Inschrift vermerkten. Sie weihen den Altar allerdings neben Jupiter, dessen Name wohl richtig ergänzt ist, dem Genius loci, also dem Schutzgott ihrer direkten Lebenswelt. Beides gehört für die beiden Weihenden zusammen, das große Ganze des Imperiums und ihre Lebenswelt, das eine besteht nicht ohne das andere. Damit aber ist vielleicht das Entscheidende gefasst: Auf der einen Seite ist man ein Teil von Rom, zumal als römischer Bürger, aber man ist in einem enger begrenzten Bereich zu Hause, dem man sich zugehörig fühlt und der im Denken und Handeln primär ist. Das aber nennt man dann eben nicht mehr römisch, sondern nach dem Ort oder der Region, mit der man sich identifiziert. Der schon einmal genannte jüngere Plinius, der aus Comum stammte, aber mindestens seit seiner späteren Jugendzeit als Senator fast beständig in Rom und Umgebung lebte, nennt dennoch die Heimatstadt meae …deliciae = „meine Liebe“ (ep. 1,3,1). Dort in seiner Herkunftsstadt will er eine korinthische Bronzearbeit am liebsten im Jupitertempel aufstellen, als Geschenk an die patria, wobei sein Name auf der Statuenbasis erscheinen soll (ep. 3, 6); den Ort nennt er res publica nostra (ep. 4, 13, 5). Und dort lässt er schließlich testamentarisch eine Inschrift aufstellen, vermutlich in der von ihm erbauten Bibliothek, auf der alle seine beneficia gegenüber seiner res publica, eben Comum, aufgeführt sind. Vermutlich hat er sich auch bei Comum bestatten lassen. Und so wie er verhalten sich nicht wenige seiner Standesgenossen, obwohl sie wegen ihres Status an Rom gebunden sind. Sie handeln als Bürger der res publica populi Romani, aber eben auch wie Plinius als Bürger der res publica Comensium. Die kleinere Heimat überflügelt oft in der persönlichen Wertschätzung, in der Intensität der Identifikation das große Ganze. In vielfacher Hinsicht muss man dieses Leben in einer doppelten Identität als Normalität bei vielen Bewohnern des Reiches voraussetzen: Man liebt das Kleine, Vertraute, achtet aber und schätzt den imperialen Schutzraum. Das ändert sich zunehmend in der Spätantike, wenn die Wirkung des Reiches als Schutzraum schwächer wird oder
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wenn andere Faktoren wie die spezifische Ausprägung der christlichen Religion etwa in der Form des Monophysitismus weit wichtiger werden als die Zugehörigkeit zum Imperium. Dann ist der Schritt schnell getan, sich vom Reich loszusagen und eine andere Herrschaft zu akzeptieren, die anscheinend größere religiöse Freiheit garantieren kann. Der überwölbende Identifikationsschirm des Imperium Romanum hat da seine Kraft verloren.
Günter Stemberger
Jüdische Identität: Was ändert die Zerstörung Jerusalems im Jahr 70?
Angesichts der Vielfalt jüdischen Lebens über Zeiten, Regionen und soziale Zusammensetzung hinweg fällt es schwer, von „jüdischer Identität“ an sich zu sprechen. Wenn man es schon versuchen will, eine Einheit hinter der Vielheit zu sehen, kann man immer nur ein Minimum an Gemeinsamem benennen, das Juden miteinander verband und verbindet. Was macht Juden untereinander als zusammengehörig erkennbar, was lässt Nichtjuden Juden als solche erkennen? In der Praxis konnte man darauf fast immer antworten, ohne sich der Kriterien notwendig bewusst zu sein. Als historischer Betrachter muss man natürlich versuchen, solche Kriterien zu benennen, muss sich jedoch stets bewusst bleiben, dass man dabei ohne Abstraktion und Verallgemeinerung nicht auskommt. Nur im Bewusstsein dieser Beschränkung können Versuche, auf dergleichen Fragen Antworten zu finden, in einem gewissen Ausmaß sinnvoll sein. I. Jüdische Identität vor 70? Um über Veränderungen seit der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 n. Chr. sprechen zu können, muss man zuerst nach jüdischer Identität vor 70 fragen, dabei auf die Innenund Außenperspektive achten. Dass das Jahr 70 ein für das Judentum allgemein gravierender Einschnitt war, damit gleichsam eine neue Zeitrechnung begann,1 wurde schon 1
Die Mischna erklärt eine ab Zerstörung des Tempels datierte Scheidungsurkunde für ungültig (mGit 8,5). Das heißt wohl, dass manche
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damals nicht allgemein so gesehen und ist auch heute nicht ganz unbestritten: Hat sich damit wirklich so viel unwiederbringlich geändert? Hat nicht jüdisches Leben sich schon lange zuvor in diese Richtung verändert, vorbereitet vor allem durch Gedankengut und religiöse Auffassungen der Pharisäer? Und wenn man schon einen Bruch sehen will, war dieser nicht eher mit der Niederschlagung des Bar Kokhba-Austandes der Jahre 132-135/6 erfolgt? Erst damit war Jerusalem endgültig verloren und an die Erneuerung des Tempels in absehbarer Zukunft nicht mehr zu denken. Dennoch ist es berechtigt und heute fast allgemein angenommen, das Jahr 70, wenn auch mit gewissen Nuancen, als Zeitenwende zu verstehen.2 1. Ethnos oder Religion? Seit einigen Jahren wird diskutiert, ab wann man von jüdischer „Religion“ sprechen kann, wie überhaupt der Begriff „Religion“ immer mehr hinterfragt wird. Viele Autoren bevorzugen heute, zumindest für die Zeit vor 70 nicht mehr von „Juden“, sondern von „Judäern“ zu sprechen und damit den Bezug auf die Herkunftsregion statt des problematischen Begriffs „Religion“ zu betonen.3 Das hat vor allem für die Zeit vor 70 gewisse Vorteile, ist aber schwer allgemein durchzuhalten. Das Ethnos ist und war nie eine völlig geschlossene, stabile Einheit: Einem Ethnos kann eine solche Zeitrechnung verwendeten. Wirklich belegt ist sie aber erst durch Grabsteine von Zoar am Toten Meer von der Mitte des 4. bis in das späte 6. Jahrhundert: G. Stemberger, Reaktionen auf die Tempelzerstörung in der rabbinischen Literatur, in: Judaica Minora II. Geschichte und Literatur des rabbinischen Judentums (Tübingen: Mohr Siebeck, 2010), 624-653, hier 631-633. 2 Dazu mehrere Beiträge in: Was 70 CE a Watershed in Jewish History? On Jews and Judaism before and after the Destruction of the Second Temple (Hg. D. R. Schwartz/Z. Weiss; Leiden: Brill, 2012). 3 So u.a. St. Mason, Jews, Judaeans, Judaizing, Judaism: Problems of Categorization in Ancient History, in: JSJ 38 (2007), 457-512; ausführliche Diskussion und Plädoyer für die Beibehaltung von „Juden“: D. R. Schwartz, Judeans and Jews. Four Faces of Dichotomy in Ancient Jewish History (Toronto: University of Toronto Press, 2014).
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man sich freiwillig anschließen, wie das der Begriff der Ethnogenese einschließt. Vor allem durch Einheirat war das in einem gewissen Rahmen schon immer möglich – das bekannteste biblische Beispiel ist Rut. Wurde ein in der Diaspora geborener Jude als „Judäer“ wahrgenommen? Dazu kommen schon früh Sympathisanten nichtjüdischer Herkunft um die Synagogen („Gottesfürchtige“), bald auch Konvertiten. Spätestens mit der häufiger werdenden Möglichkeit der Konversion wird die religiöse Komponente und nicht mehr die (fiktive) Herkunft aus einer bestimmten Region dominant. Konversionen zum Judentum sind ab etwa dem 2. Jh. v. Chr. belegt, auch wenn noch lange offen bleibt, wie eine Konversion konkret erfolgt. In der Zeit vor 70 waren Konversionen jedenfalls noch selten, sind aber sowohl literarisch (Philo, Josephus, NT) wie auch inschriftlich belegt (acht Jerusalemer Ossuar-Inschriften aus der Zeit vor 70). Das bekannteste Beispiel ist die Königsfamilie von Adiabene im 1. Jh. v. Chr. Für Frauen gab es noch gar keinen Ritus: Mit der Einheirat in eine jüdische Familie in Palästina wurden sie als Jüdinnen anerkannt, wie das für einzelne herodianische Prinzessinnen belegt ist,4 auch wenn die Einheirat fremder Frauen gewöhnlich abgelehnt wurde. Für Männer war die Beschneidung wesentlich – wobei deren religiöse Wertung offen bleibt (die Aufnahme bzw. Unterwerfung der Idumäer ändert wohl kaum etwas an deren „Religion“; Herodes gilt bei Josephus, Ant. 14, 403, noch immer als ἡμιιουδαίος). Auch lateinische Autoren des 1. Jhs. – Juvenal, Seneca, Tacitus – wissen von Konversionen zum Judentum.5 Erst in späterer Zeit wird die Konversion für Männer und Frauen rabbinisch genauer 4
M. Hadas-Lebel, Les mariages mixtes dans la famille d’Hérode et la Halakha prétalmudique sur la patrilinéarité, in: REJ 152 (1993), 397404. 5 Siehe E. S. Gruen, Was There Judeophobia in Classical Antiquity? in: The Construct of Identity in Hellenistic Judaism: Essays on Early Jewish Literature and History (Berlin: De Gruyter, 2016), 313-332, hier 321-324.
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geregelt.6 Konvertiten gelten voll als Juden, auch wenn die Rabbinen für die erste Generation noch gewisse halakhische Einschränkungen v.a. im Eherecht festlegen. 2. Frage nach einem Mainstream Judaism7 Für die Frage nach jüdischer Identität spielt natürlich eine entscheidende Rolle, ob man gewisse Elemente jüdischen Lebens feststellen kann, die mehr oder weniger allen Juden zumindest Palästinas gemeinsam sind, wenn schon nicht in der eigenen Lebenspraxis, so doch zumindest als (theoretische) Werte. Vielfach hat man versucht, diese verbreitetste Grundform des Judentums mit dem Pharisaismus gleichzusetzen;8 das setzt jedoch, beruhend auf Aussagen aus dem NT und aus Josephus‘ Antiquitates, einen größeren Einfluss der Pharisäer im Volk voraus, als man belegen kann, und rekonstruiert als pharisäisch vieles, was wohl kaum dieser Richtung allein eigen ist. Was die „Religion“ bzw. Gemeinschaft eint, ist zuerst sicher die (wenn auch fiktive) gemeinsame Abstammung. Dazu kommen Beschneidung, Essensnormen und sexuelle Vorschriften bzw. Heiratsnormen. In der Praxis bedeutet das: Wen kann man heiraten, mit wem darf man essen? Das hat Tacitus aus der Außenperspektive völlig richtig gesehen: Profana illic omnia quae apud nos sacra ... Separati epulis, discreti cubilibus, proiectissima ad libidinem gens, alienarum concubitu abstinent; inter se nihil inlicitum (hist. 5,2-5). Dazu kommt der Zugang zum Tempel, der nur für Juden erlaubt ist, was natürlich Kriterien voraussetzt, wen man als Juden 6
Grundlegend S.J.D. Cohen, The Beginnings of Jewishness. Boundaries, Varieties, Uncertainties (Berkeley: University of California Press, 1999). Kurz (mit Literatur) G. Stemberger, Art. Proselyt, in: RAC 28 (im Druck). 7 G. Stemberger, Was there a “mainstream Judaism” in the late Second Temple Period?, in: Judaica Minora II. Geschichte und Literatur des rabbinischen Judentums (Tübingen: Mohr Siebeck, 2010), 395-410. 8 So vor allem M. Hengel/R. Deines, E. P. Sanders' „Common Judaism“, in: M. Hengel, Judaica et Hellenistica. Kleine Schriften I, (Tübingen: Mohr Siebeck, 1996), 392-479.
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anerkennt: Zumindest für Männer ist klar die Beschneidung ein unabdingbares, doch nicht notwendig alleiniges Kriterium. Ob man das Judentum der Zeit als „biblische Religion” bezeichnen kann, hängt davon ab, wie strikt man das definiert: Sicher wird viel nicht eingehalten, was biblisch vorgeschrieben ist, und kommen viele andere religiöse Normen dazu; entscheidend bleibt, dass man den Text der Tora als Basis der eigenen Gemeinschaft anerkennt. In der Diaspora kommen andere Kriterien dazu. Wesentlich ist hier zumindest in den größeren Gemeinden die Rolle der Synagoge als physisches Zentrum der Gemeinde, in der sich deren Angehörige am Sabbat treffen können, sei es einfach als eine Art Pflege der Landsmannschaft, doch auch mit dem einigenden religiösen Band der Lesung der Heiligen Schrift und deren Erklärung. Dazu kommt die Tempelsteuer, die nach Jerusalem zu senden den jüdischen Gemeinden durch römisches Privileg erlaubt ist, und für manche Personen auch die Wallfahrt nach Jerusalem. Gewiss hat es in der Diaspora auch Juden gegeben, die vereinzelt oder als kleine Familiengruppe fern von den größeren Gemeinden lebten, als Sklaven oder Freigelassene,9 über die jedoch keine näheren Aussagen möglich sind. 3. Außensicht Die römische Verwaltung und i. Allg. auch die nichtjüdische Bevölkerung mussten wissen, wer Juden waren. Diese hatten ja gewisse Privilegien, solange sie nach den väterlichen Gesetzen lebten: Sie hatten ein Versammlungsrecht in den Synagogen, während dies für sonst ähnlich organisierte collegia immer wieder eingeschränkt wurde. Auch durften sie die Tempelsteuer nach Jerusalem 9
Gut belegt sind sie im Königreich Bosporus des 1. Jhs.: E. L. Gibson, The Jewish Manumission Inscriptions of the Bosporus Kingdom (Tübingen: Mohr Siebeck, 1999). Texte auch: D. Noy u.a. (Hg.), Inscriptiones Judaicae Orientis. 1. Eastern Europe, (Tübingen: Mohr Siebeck, 2004), 268-323.
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senden – den Streit um den Export von Geld/Gold in andere Provinzen dokumentiert der Prozess gegen Flaccus, den Statthalter der Provinz Asia, in dem er im Jahr 59 v. Chr. durch Cicero verteidigt wurde.10 Schließlich sind Juden wegen Sabbat und Speisegesetzen vom Militärdienst in den Auxiliartruppen befreit; sie dürfen am Sabbat nicht vor Gericht zitiert werden und dürfen v.a. ihre Söhne beschneiden, was ansonsten durch die Lex Cornelia verboten war.11 Römische Autoren kannten von Juden v.a. Beschneidung, Sabbat und die Ablehnung von Schweinefleisch. II. Jüdische Identität nach 70 1. Allgemein Der Verlust des Tempels bewirkte, dass das Judentum längerfristig von einer Opferreligion zu einer Buchreligion wurde, womit sich Palästina weithin an die Diaspora anglich, für die schon immer die Septuaginta das einigende Band war. Wallfahrten nach Jerusalem kamen nach 70 nicht mehr in Frage; endgültig wurden sie durch die Neugründung Jerusalems als Aelia Capitolina 132 oder 135 und das damit verbundene Verbot des Zugangs zur Stadt für Beschnittene weithin unmöglich. Die Tempelsteuer wurde ab 73 (rückwirkend bis 71) durch den fiscus Judaicus ersetzt, eine für alle Juden über die zuvor bei der Tempelsteuer vorgesehenen Altersgrenzen hinausgehende ver-
10
Die Juden betreffenden Abschnitte der Rede mit Übersetzung und Kommentar: M. Stern, Greek and Latin Authors on Jews and Judaism. Vol. I: From Herodotus to Plutarch (Jerusalem: The Israel Academy of Sciences and Humanities, 1976), 196-201. 11 Zu den jüdischen Privilegien siehe M. Pucci Ben-Zeev, Jewish Rights in the Roman World. The Greek and Roman Documents Quoted by Josephus Flavius (Tübingen: Mohr Siebeck, 1998).
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pflichtende Zahlung für den Tempel des Jupiter Capitolinus.12 Auch dafür musste die römische Verwaltung Register haben, wer steuerpflichtig war. In Ägypten ist deren Einhebung bis ins 3. Jh. belegt; eine Quittung über Bezahlung der Steuer war erforderlich, um auf dem Nil reisen zu können. Versuche, der Steuer auszukommen, und entsprechende Bemühungen der Behörden, Steuerpflichtige festzustellen, sind bei Sueton und v.a. durch die von Kaiser Nerva (96-98) geprägte Münze mit der Aufschrift Fisci Judaici calumnia sublata bestens belegt. Doch gab jemand, der aus Steuergründen sein Judesein leugnete, damit auch seine Zugehörigkeit zum Judentum auf? Konnte man das überhaupt? Aus römischer Sicht war das offenbar möglich. Ein prominentes Beispiel ist Philos Bruder Tiberius Julius Alexander, der sich im Lauf seiner römischen Karriere vom Judentum lossagte. Römische Autoren bezeichnen ihn nicht mehr als Jude.13 Die Rabbinen dagegen würden später jemanden wie ihn weiterhin als Juden ansehen, wenn auch als sündigen Juden: „‚Israel hat gesündigt‘ (Jos 7,11). Es sagte R. Abba bar Zavda, (es sagte Rav): Auch wenn es gesündigt hat, bleibt es Israel“ (b. Sanhedrin 44a); die hier auf das Volk bezogene Aussage wird schnell verallgemeinert: Auch ein abgefallener Jude bleibt Jude. 2. Palästina Die früher verbreitete Vorstellung, nach der Zerstörung des Tempels habe sofort die rabbinische Bewegung die religiöse Führung des Judentums übernommen, lässt sich nicht aufrechterhalten. Die Rabbinen begannen als kleine 12
M. Heemstra, The Fiscus Iudaicus and the Parting of the Ways (Tübingen: Mohr Siebeck, 2010). 13 Siehe Tacitus, Historiae, I, 11:1: Regebat tum Tiberius Alexander, eiusdem nationis (was sich nicht auf sein Judentum, sondern auf die ägyptische Herkunft bezieht); Annales, XV, 28:3: Tiberius Alexander, inlustris eques Romanus; cf. Juvenal, Saturae, I, 127-131. Dazu M. Stern, Greek and Latin Authors (s. Anm. 10), 7-8; 86; 96-97; J. Wilker, Für Rom und Jerusalem. Die herodianische Dynastie im 1. Jahrhundert n. Chr. (Frankfurt: Verlag Antike, 2007), 480 Anm. 9.
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Gruppe von Toragelehrten, die lange Zeit als religiöse Elite in sich weithin abgeschlossen lebten und ohne merkbaren Einfluss auf das allgemeine jüdische Leben im Land waren.14 Was die allgemeine jüdische Bevölkerung Palästinas in den Jahrzehnten nach 70 betrifft, lassen sich über ihre religiöse Vorstellungen und ihre religiöse Praxis keine gesicherten Aussagen treffen. Dies gilt insbesondere für die Zeit nach dem Bar Kokhba-Aufstand der Jahre 132135/6, nach dem sich der jüdische Schwerpunkt weithin nach Galiläa verlagerte; in den vom Aufstand und seiner Niederschlagung vor allem betroffenen Gebieten Judäas war zwar jüdisches Leben nicht völlig ausgelöscht, wie früher vielfach angenommen, doch zumindest sehr geschwächt. Jüdische Siedlungen im Bergland um Hebron werden nicht nur im Onomastikon des Eusebius genannt, sondern sind inzwischen auch durch Synagogenfunde (4.7. Jh.) belegt. Seth Schwartz vertrat die These, im 2.-3. Jh. sei es außerhalb der kleinen rabbinischen Gruppe weithin zu einem Zusammenbruch jüdischer Identität und zu einer Paganisierung auch der einst jüdischen Zentren Galiläas wie Sepphoris oder Tiberias gekommen, wo keinerlei jüdische archäologische Belege nachweisbar sind, dagegen pagane Symbole auf den städtischen Münzen, in Sepphoris auch ein heidnischer Tempel usw. Erst mit der Durchsetzung des Christentums in Palästina ab Konstantin sei es als Reaktion darauf auch zu einem Wiederaufleben jüdischer Identität gekommen.15 Das ist wohl etwas übertrieben und
14
Dazu siehe vor allem C. Hezser, The Social Structure of the Rabbinic Movement in Roman Palestine (Tübingen: Mohr Siebeck, 1997); G. Stemberger, Das Judentum in frührabbinischer Zeit. Zu neuen Entwicklungen in der Forschung, in: Historische Zeitschrift 300 (2015), 1-32. 15 S. Schwartz, Imperialism and Jewish Society: 200 B.C.E. to 640 C.E. (Princeton, N.J.: Princeton University Press, 2002). Eine Reaktion Schwartz’s auf Kritiken und eine Präzisierung seiner Position: S. Schwartz, Was there a ‚Common Judaism‘ after the Destruction? in: Envisioning Judaism: Studies in Honor of Peter Schäfer on the Occa-
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zumindest zum Teil ein argumentum e silentio, doch bleibt die Tatsache, dass bis zum Ende des 3. Jhs. fast keine Synagogen archäologisch belegt sind. Damit ist auch die Annahme, dass Synagoge und Schriftlesung oder gar rabbinische Halakha jüdische Identität nach 70 getragen hätten, nicht zu beweisen. Zwar haben manche Autoren die am Toten Meer gefundenen Dokumente von Babata und Salome Komaisa16 aus dem ersten Drittel des 2. Jhs. als Beweis gewertet, dass schon bald nach dem Untergang des Tempels sich die rabbinische Ehe-Halakha auch in einem relativ entlegenen Gebiet durchgesetzt habe; doch ist eher umgekehrt daraus zu erschließen, dass die Rabbinen traditionelle Klauseln in Ehe- und Scheidungsverträgen in ihre Halakha übernommen haben. Erst ab Konstantin wird das Judentum in Palästina auch archäologisch langsam wieder sichtbar. Dabei entwickeln sich die Synagogen im Gleichschritt mit dem christlichen Kirchenbau und sind davon oft schwer zu unterscheiden, wenn nicht griechische, hebräische oder aramäische Inschriften und jüdische Symbole auf den Mosaiken oder im Dekor der Chorschranken die Zuordnung sichern. Die Menora wurde in dieser Zeit zunehmend ein immer wichtigeres jüdisches Symbol, während sie früher, so noch in der frühen Diaspora und in den jüdischen Katakomben von Bet Shearim in Untergaliläa (3.-6. Jh.) eher ein apotropäisches Zeichen im Grabkontext war.17 Ganz eindeutig war sion of his Seventieth Birthday, 2 Bde, (Hg. R. S. Boustan et al.; Tübingen: Mohr Siebeck, 2013), I 4-21. Siehe dort auch den Beitrag von N. de Lange, Reflections on Jewish Identity in Late Antiquity, I 167-182. 16 Edition der Texte: Y. Yadin et al. (Hg.), The Documents from the Bar Kokhba Period in the Cave of the Letters, 3 Bde (Jerusalem: Israel Exploration Society, 1963–2002); H. M. Cotton/A. Yardeni (Hg.), The Seiyâl Collection 2. Aramaic, Hebrew and Greek Documentary Texts from Nah ̣al Ḥever and Other Sites (Oxford: Clarendon Press, 1997). 17 M. H. Williams, The menorah in a sepulchral context: a protective, apotropaic symbol?, in: The Image and Its Prohibition in Jewish Antiquity (Hg. S. Pearce; Oxford: Journal of Jewish Studies, 2013), 77-88. Sammlung der Belege: R. Hachlili, The Menorah, the Ancient Sevenarmed Candelabrum. Origin, Form and Significance (Leiden: Brill, 2001). An sich hätte auch der Schaubrottisch aus dem Tempel, der
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aber die Menora auch jetzt noch nicht, wie einzelne wohl christliche Belege im Golan zeigen.18 3. Innerjüdische Abgrenzung Wesentlicher Bestandteil der Identitätsfindung des Judentums nach 70 ist die Abgrenzung gegenüber Strömungen, die aus verschiedenen Gründen nicht (mehr) in den neu zu definierenden Rahmen passen. Eine zentrale Rolle spielt dabei der sogenannte „Ketzersegen“, die Birkat ha-Minim. Diese Einfügung in das Achtzehngebet wird traditionell mit Rabban Gamaliel in Javne im späten 1. Jh. verbunden. Doch bleibt offen, wer genau mit minim, „Abart, Abweichlern“, gemeint war. Der Begriff als solcher ist sehr allgemein und voll ausformulierte Fassungen des Textes findet man erst, und dann mit beträchtlichen Varianten, in der manchmal auf jüdischen Münzen und Mosaiken dargestellt wird, ein jüdisches Symbol werden können, hat sich aber aus verschiedenen Gründen nicht durchgesetzt: R. Hachlili, Why did the Menorah and Not the Showbread Table Evolve into the Most Important Symbol of Judaism?, in: Jewish Art in its Late Antique Context (Hg. U. Leibner/C. Hezser; Tübingen: Mohr Siebeck, 2016), 189-211. Viel diskutiert wird das erst vor einigen Jahren ausgegrabene Menora-Relief auf einem allseits dekorierten Stein der Synagoge von Magdala aus dem 1. Jh. Siehe dazu M. Aviam, The Decorated Stone from the Synagogue at Migdal. A Holistic Interpretation and a Glimpse into the Life of Galilean Jews at the Time of Jesus, in: Novum Testamentum 55 (2013), 205-220; L.I. Levine, Visual Judaism in Late Antiquity. Historical Contexts of Jewish Art (New Haven/London: Yale University Press, 2012), 55-56.495-496. Die Menora hat hier wohl Tempelbezug und ist keineswegs ein Symbol jüdischer Identität. Siehe dazu auch A. Cohen, Matthew and the Mishnah. Redefining Identity and Ethos in the Shadow of the Second Temple's Destruction (Tübingen: Mohr Siebeck, 2016), 495-496 mit weiterer Literatur. Cohen arbeitet insgesamt die Veränderungen im Judentum der Jahrzehnte nach 70 und ihre Auswirkungen auf jüdische Identität gut heraus. 18 C.M. Dauphin, Jewish and Christian Communities in the Roman and Byzantine Gaulanitis: A Study of Evidence from Archaeological Surveys, in: PEQ 114 (1982), 129-142; R.C.Gregg/D.Urman, Jews, Pagans and Christians in the Golan Heights. Greek and Other Inscriptions of the Roman and Byzantine Era (Atlanta, GA: Scholars Press, 1996), 289310. Menora und Lebensbaum sind formal oft nicht zu unterscheiden.
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Geniza von Kairo ab etwa dem 10. Jh. Der Begriff schließt Judenchristen wohl ein, aber gewiss nicht nur diese, sondern jegliche Form von Abweichung von rabbinischen Vorstellungen wie etwa gnostische Tendenzen, aber auch Juden, die im Gegenüber mit der römischen Herrschaft nicht die erwünschte Solidarität zeigen (so die Variante mosrim, Auslieferer, Verräter, statt der in der Geniza auch belegten Version notsrim, Nazaräer, Christen). Wenn, wie heute weithin angenommen, die Rabbinen damals nur eine kleine, in sich geschlossene Elitegruppe waren, muss man natürlich auch fragen, wieweit die Birkat ha-Minim außerhalb der rabbinischen Kreise bekannt war, besonders dann, wenn auch Synagogen nicht ein gemeinsamer Nenner jüdischen Lebens in Palästina waren.19 Erst bei Epiphanius von Salamis und Hieronymus im späten 4. Jh. ist sie eindeutig bekannt und wird als gegen Christen gerichtet verstanden. Die Trennung von Juden und Christen war in Palästina jedenfalls nicht schon mit dem späten 1. Jh. abgeschlossen, sondern ein lange andauernder Prozess, der auf beiden Seiten nicht geradlinig verlief. Wie besonders Daniel Boyarin wiederholt betonte, ist „Judentum“ eine christliche Konstruktion, die v.a. Justinus als Kontrast zum „Christentum“ entwickelte, beides über Glaubensvorstellungen definiert, wobei die religiös-häresiologische Komponente den eigentlichen Unterschied ausmacht: Ein Getaufter ist demnach nicht mehr Jude – eine Vorstellung, in der sich viele Christus bekennende Juden nicht wiederfinden konnten.20 Nur erwähnt sei, dass die Abgrenzung
19
Dazu siehe G. Stemberger, The birkat ha-minim and the separation of Christians and Jews, in: Judaea-Palaestina, Babylon and Rome. Jews in Antiquity (Hg. B. Isaac/Y. Shahar; Tübingen: Mohr Siebeck, 2012), 74-87. Eine umfassende Darstellung der Quellen und der Forschungsgeschichte bietet Y.Y. Teppler, Birkat ha-Minim. Jews and Christians in Conflict in the Ancient World (Tübingen: Mohr Siebeck, 2007); er vertritt jedoch völlig den früher üblichen Ansatz einer durch den Ketzersegen sofort wirksamen Trennung. 20 D. Boyarin, Border Lines. The Partition of Judaeo-Christianity (Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2004), besonders 37-73;
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der Rabbinen gegenüber den Samaritanern noch mühseliger verlief: So vertritt Rabbi (Jehuda ha-Nasi) bezüglich des Zweiten Zehnten: „Ein Samaritaner ist wie ein Heide“, worauf Rabban Simeon ben Gamaliel entgegnet: „Ein Samaritaner ist wie ein Israelit“ (Tosefta Terumot 4:14), eine Meinungsverschiedenheit, die auch in späteren Texten in anderen halakhischen Zusammenhängen mehrfach wieder auftaucht. Zwar gab es Ende 3. Jh. einen vorläufigen Abschluss der Diskussion und wurden Samaritaner Heiden gleichgestellt; doch wurde die Thematik später noch mehrfach wieder aufgenommen und ist bis heute nicht abgeschlossen. Was Christen betrifft, sind schärfere Trennlinien ab dem 4. Jh. zu beobachten, v.a. auch in der Gesetzgebung des Codex Theodosianus. Juden sind dem Gesetzgeber als klar definierte Größe wohl bekannt, wie etwa Bestimmungen zur Mitgliedschaft in den städtischen Kurien, die Anerkennung jüdischer Religionsdiener unter der Autorität der Patriarchen und einer eigenen jüdischen Jurisdiktion in religiösen Fragen oder auch die Erlaubnis der Beschneidung und anderer jüdischer Sitten allein für Juden deutlich zeigen.21 Zwar verwischt der Gesetzgeber wieder ein wenig die Grenzen, wenn er mehrfach Juden mit Häretikern verbindet;22 wenn er dagegen in Novelle 146 aus dem Jahr 557 sich in innerste religiöse Belange der Juden einmischt (Sprache der Schriftlesung, Verbot der δευτέρωσις – d.h. nachbiblischer Traditionen – im Gottesdienst, sowie Verpflichtung auf einzelne Glaubenssätze), kann dies zwar als Versuch gesehen werden, Juden dem Christentum näherzubringen, zugleich aber auch als Richtlinie, unter der Juden weiterhin den gesetzlichen Schutz einer anerkannten Ders., Dying for God. Martyrdom and the Making of Christianity and Judaism (Stanford: Stanford University Press, 1999). 21 Kommentierte Quellensammlung: A. Linder, The Jews in Roman Imperial Legislation (Detroit: Wayne State University Press, 1987). 22 G. Stemberger, Die Verbindung von Juden mit Häretikern in der spätantiken römischen Gesetzgebung, in: Judaica Minora II (s. Anm. 7), 109-123.
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Religion behalten.23 Aus christlicher Sicht ist damit (anders als aus der des Judentums) jüdische Identität ausschließlich religiös. 4. Diaspora Durch den Verlust des Tempels hat die jüdische Diaspora auch ihr ideales Zentrum verloren, doch gegen früher vertretene andere Auffassungen bot auch das Rabbinat bzw. das Patriarchat keine Ersatzidentifikation. Vor dem 4. Jh. sind nur wenige Kontakte zwischen einzelnen Rabbinen und der westlichen Diaspora nachzuweisen24 – im Osten ist Babylonien als zweites rabbinisches Zentrum ein Fall für sich, aber auch Syrien ist wegen seiner geografischen Nähe stärker mit Palästina verbunden, ohne dass wir hier rabbinischen Einfluss belegen können. Was hielt und hält dann die Juden in der Diaspora zusammen? Eine Antwort ist schwierig, da wir fast nur archäologische Belege haben (Synagogen, Gräber, Inschriften), ergänzt durch einige pagane bzw. patristische Texte. Der fiscus Judaicus bewirkte sicher einen zwangsweisen Zusammenhalt, verursachte zugleich aber auch gewisse Verluste, wie dies auch durch Ehen mit Nichtjuden geschah. Erst jetzt setzt sich rabbinisch das Prinzip der Matrilinearität durch, was wohl auch als Reaktion auf die verstärkte Herausforderung durch
23
Zu dieser oft untersuchten Novelle siehe zuletzt N. de Lange, Hebraists and Hellenists in the Sixth-Century Synagogue: A New Reading of Justinian’s Novel 146, in: C. Cordoni/G. Langer (Hg.), “Let the Wise Listen and add to Their Learning” (Prov 1:5). Festschrift for Günter Stemberger on the occasion of his 75th birthday (Berlin: De Gruyter, 2016), 217-226. 24 D. Mendels/A. Edrei, Zweierlei Diaspora: Zur Spaltung der antiken jüdischen Welt (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2010), betonen zu Recht diese Trennung, gehen jedoch zu weit, wenn sie ohne hinreichende Belege annehmen, der Großteil der westlichen Diaspora habe sich dem paulinischen Christentum angeschlossen und nur eine kleine Minderheit sei jüdisch geblieben, und zwar in biblischer Prägung, ehe im Mittelalter sich das rabbinische Judentum durchsetzen konnte.
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Mischehen zu verstehen ist.25 Das gilt auch für die Diaspora, in der der Familienzusammenhalt ein wesentliches Identifikationselement war. Synagogen (und auch die Schriftlesung in ihnen) hielten die lokalen Gemeinden zusammen, soweit man freiwillig dabei blieb. Konversionen zum Judentum waren nach dem Bar Kokhba-Aufstand kaum noch möglich, in dessen Gefolge Antoninus Pius ab 138 zwar Juden die Beschneidung wieder erlaubte, doch allein für die eigenen Söhne. Ein Verlassen der jüdischen Gemeinschaft war dagegen immer viel leichter, soweit nicht soziale Konventionen davon abhielten. Anders als seit dem Mittelalter, als jüdische Friedhöfe immer auch den Zusammenhalt der jüdischen Gemeinden und deren Identität mitbestimmten, gab es in Antike und Spätantike i. Allg. noch keine eigenen jüdischen Friedhöfe – die jüdischen Katakomben in Rom waren eine Ausnahme. Besonders in Kleinasien26 gibt es zahlreiche Belege für eine starke Akkulturation von Juden gerade im Begräbniskontext. Als Beispiel sei hier eine Grabinschrift von Akmonia in Phrygien genannt (3. Jh.), die die Nachbarschaft des ersten Tors – ob deren Bewohner jüdisch sind oder gemischt, geht aus dem Text nicht hervor – unter Androhung göttlicher Strafe verpflichtet, das Grab jährlich mit Rosen zu schmücken: Damit wird das römische Fest der Rosalien, das übrigens auch christlich übernommen wurde, als Gedenktag erwähnt.27 Ebenfalls aus Akmonia stammt eine Synagogeninschrift aus dem 2. Jh., die anlässlich der Renovierung des Gebäudes dessen Stifterin Julia Severa nennt, die durch Inschriften und Münzen als erste Hohepriesterin des Kaiserkults in Akmonia Mitte des 25
Dazu siehe S.J.D. Cohen, The Beginnings (s. Anm. 6), 239-307 und 363-377 („Was Timothy Jewish [Acts 16:1-3]?”). 26 K. Stebnicka, Identity of the Diaspora: Jews in Asia Minor in the Imperial Period (Warszawa: Journal of Juristic Papyrology, 2015), bietet eine umfassende Darstellung der Identitätsfrage, die weithin auch auf die übrige Diaspora übertragen werden kann. 27 Text: W. Ameling, Inscriptiones Judaicae Orientis. 2. Kleinasien (Tübingen: Mohr Siebeck, 2004), Nr. 171.
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1. Jhs. bekannt ist.28 Schließlich sei hier als herausragendes Beispiel jüdischer Integration in pagan/ christlicher Umwelt noch die Synagoge von Sardis genannt: Sie wurde im 4.-5. Jh. im städtischen Thermenkomplex in drei Räumen neben der Palästra untergebracht; diese größte und prunkvollste aller Synagogen aus der Spätantike ist in ihrer gesamten Ausgestaltung kaum als jüdisch zu erkennen.29 So manche jüdische Gemeinde der Diaspora hat sich offensichtlich weithin in die nichtjüdische Umwelt integriert, ohne deswegen die eigene Identität aufzugeben (sonst könnten wir ja auch deren Relikte nicht mehr als jüdisch identifizieren). 5. Spätere Entwicklung Für einige Jahrzehnte nach Julians im Jahr 363 gescheitertem Versuch, den Tempel in Jerusalem wieder aufbauen zu lassen, wurde der jüdische Patriarch staatlich offiziell anerkannt, bis das Amt kurz vor 429 abgeschafft wurde. Diese Unterstützung des Patriarchen war ein Versuch, eine zentrale Repräsentanz der Juden des gesamten Reiches zu etablieren. Die Einrichtung von Sendboten des Patriarchen und die Patriarchensteuer, die auch in der Diaspora eingesammelt wurde, kann als Versuch verstanden werden, die Juden auch der Diaspora zumindest administrativ stärker zusammenzubinden.30 Wichtiger als solche organisatorische Maßnahmen, die zudem nur relativ kurze Zeit wirkten, sind jedoch kulturelle Entwicklungen, die auf eine wachsende Identifikation mit dem Judentum deuten. Dazu nur einige Beispiele. Eine lange Inschrift aus Aphrodisias (Karien)31 aus dem späten 4.-5. Jh. enthält auf einer Seite (von den Herausgebern als 28
Text: Ameling (s. Anm. 27), Nr. 186. Dazu L.I. Levine, Visual Judaism (s. Anm. 17), 294-314. 30 M. Jacobs, Die Institution des jüdischen Patriarchen. Eine quellenund traditionskritische Studie zur Geschichte der Juden in der Spätantike (Tübingen: Mohr Siebeck 1995), 272-316. 31 Text: Ameling (s. Anm. 27), Nr. 14. 29
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B bezeichnet), deren erste Zeile nicht erhalten ist, eine lange Reihe von Namen, von denen die meisten nicht als jüdisch zu erkennen sind (Eusebios, Jason, Diogenes, Gorgonios usw.). Die ziemlich sicher spätere Seite A nennt die Beiträger zu einer Wohlfahrtseinrichtung (Armenküche? Das Wort πατελλα ist nicht vollständig und nicht eindeutig zu erklären). Diese Seite enthält viel mehr biblische Namen (Jael, Josua, Benjamin, Judas, Samuel usw.). Auch wird hier eine δεκανία τῶν φιλομαθῶν, wohl eine Vereinigung zum Torastudium, und ein ψαλμo(λόγoς?) – ein Psalmendichter oder -sänger – genannt, dazu Proselyten und Gottesfürchtige. Man kann hier wohl eine bewusste Zuwendung zu biblischer Tradition und entsprechender Namengebung feststellen. Der Versuch, in der Gruppe der „Lernbegierigen“ und vor allem in der Einrichtung zur Armenfürsorge (falls mit πατελλα dergleichen wirklich gemeint ist) einen rabbinischen Einfluss zu erkennen, geht jedoch über das hier explizit Gesagte weit hinaus.32 In der Synagoge von Sardes wurde an zentraler Stelle des Fußbodens bei einer Reparatur um 500 ein Mosaik gelegt, das einen gewissen Samoe als ἱερεύς καὶ σοφοδιδάσκαλος bezeichnet. Diese Inschrift bezeugt eine wichtige Position Samoes innerhalb der Synagogengemeinde; sie betont seine priesterliche Herkunft und seine Rolle als „Weisheitslehrer“. Thomas Kraabel meint, „it is likely that Samoe was the closest thing Sardis had to a rabbi“.33 Das mag übertrieben sein, insofern noch immer kein direkter rabbinischer Einfluss daraus abzuleiten ist; wohl aber kann man annehmen, dass „Weisheitslehrer“ als Funktion in der Gemeinde zu sehen ist, als Lehrer der Tora (als der jüdischen Weisheit schlechthin), und hier eine Parallele zu den „Lernbegierigen“ von Sardis sehen. Im 6. Jh. wurden im Verputz 32
K. Stebnicka, Identity (s. Anm. 26), 250-264, ist zwar vorsichtiger als frühere Autoren, möchte aber doch in der hier genannten Einrichtung rabbinischen Einfluss erkennen. 33 A.T. Kraabel, The Synagogue at Sardis: Jews and Christians, in: Diaspora Jews and Judaism: Essays in Honor of, and in Dialogue with A. Thomas Kraabel (Hg. J.A. Overman/R.S. MacLennan; Atlanta, Ga.: Scholars Press, 1992), 225-36, hier 228.
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der Seitenwände dann auch mehrere kleine hebräische Inschriften angebracht (meist nur Namen),34 die zusammen mit der schon genannten Novelle 146 von 553 das Vordringen des Hebräischen auch in der Diaspora belegen. Dieser Trend zeigt sich noch stärker in Italien. Rom verliert offenbar jüdisch an Bedeutung, während kleinere jüdische Gemeinden in der Provinz aufsteigen. Besonders auffällig ist dies für Venosa in der Campania, aus deren Katakomben bisher mehr als 75 Inschriften ab ca. 400, vermehrt im 5.-6. Jh. publiziert wurden.35 Schon von Anfang an weisen griechische Epitaphien den hebräischen Zusatz שלוםauf, oft auch eine Menora, dann aber auch erweiterte Phrasen wie שלום על ישראל אמןoder שלום על ;משהכבוdiese Inschrift fügt mehrere griechische Zeilen an, jedoch in hebräischen Buchstaben!36 Später findet man auch öfter Lulav und Schofar abgebildet sowie lateinischhebräische Inschriften. Hervorzuheben ist das Epitaph eines 14-jährigen Mädchens Faustina in Latein (doch zweimal statt e ein η) mit einer hebräischen Schlussformel, bevor nochmals ein lateinischer Satz über ihre Vorfahren angefügt wird, die als maiures cibitatis (sic) bezeichnet werden (frühes 6. Jh.).37 Besonders fällt der Satz auf: dixerunt trηnus duo apostuli et duo rebbites. Beim Begräbnis hielten demnach zwei Sendboten (vielleicht der jüdischen Gemeinden Palästinas, einen jüdischen Patriarchen gab es ja schon seit hundert Jahren nicht mehr) und auch zwei Rabbinen die Trauerrede – auch wenn sie nur auf Durchreise waren, ist dies doch der erste epigraphische Beleg von Rabbinen in der Diaspora. Erwähnt sei schließlich auch ein Grabstein mit talmudischer Inschrift aus der
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F.M. Cross, The Hebrew Inscriptions from Sardis, in: HThR 95 (2002), 3-19. 35 D. Noy, Jewish inscriptions of Western Europe. 1. Italy (excluding the City of Rome), Spain and Gaul (Cambridge: Cambridge University Press, 1993), Nr. 42-116. 36 Noy (s. Anm. 35), Nr. I 61 und 75. Eine schon etwas längere hebräische Inschrift bietet Nr. 82 aus der Zeit um 500. 37 Noy (s. Anm. 35), Nr. 86.
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Zeit um 800, der in der Kirche des nahen Lavello verbaut war, doch wohl aus Venosa kommt.38 Insgesamt ist hier (weniger im übrigen Süditalien und in Sizilien) ein kultureller Umbruch belegt, eine sehr bewusste jüdische Gruppenidentität, die langsam auch durch zumindest vereinzelte Rückkoppelung an die rabbinische Tradition verstärkt wird. Man grenzt sich klar von der nichtjüdischen Umwelt ab, auch wo nur vereinzelte jüdische Familien wohnen (wie etwa jüdische Pächter auf kirchlichem Besitz in Süditalien, worüber Briefe Gregors des Großen aus dem späten 6. Jh. informieren). Der Übergang ins Mittelalter wird hier deutlich, ebenso eine verstärkte jüdische Identität, sei sie selbst gesucht oder von außen aufgedrängt, eine Identität, der man anders als früher auch durch die Taufe nicht ganz entkommen kann (jüdische Herkunft wird nun noch lange thematisiert). Somit ist jüdische Identitätsfindung nach 70 ein langer, nicht geradliniger und auch nicht einheitlicher Prozess. Lange dauert es, bis rabbinische Gruppenidentität immer mehr jüdisches Bewusstsein allgemein in Palästina (und Babylonien) bestimmen kann, und bis ins Mittelalter, bevor diese auch in der Diaspora immer mehr Einfluss gewinnt. Trotz mancher die Zeiten überdauernder Elemente bleibt die Frage der Identität stets in Bewegung, ist etwas Dynamisches und nie Abgeschlossenes.
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C. Colafemmina, Una nuova epigrafe ebraica altomedievale a Lavello, in: Vetera Christianorum 29 (1992), 411-21; Ders., Epigraphica hebraica Venusina, ibid. 30 (1993), 353-358.
Alte Kirche
Judith Hartenstein
Apokryphe Schriften – separate Gruppen? Gruppenidentitäten in frühchristlichen Evangelien
Evangelien sind auf den ersten Blick keine besonders geeigneten Texte, um sie für die Lebensumstände frühchristlicher Gruppen auszuwerten. Denn sie schildern Ereignisse aus der Zeit des Lebens und Wirkens Jesu, einer Zeit, die aus der Sicht der Abfassungszeit eine grundlegende Bedeutung hat, sich aber ebenso grundlegend von ihr unterscheidet. Geschrieben und gelesen werden Evangelien von Menschen, die einen unmittelbaren Kontakt zu Jesus, der Hauptfigur der Schriften, nicht mehr haben. Das ist nicht nur eine wesentliche Erkenntnis der historischkritischen Forschung, sondern wird auch in den Schriften selbst deutlich, die bewusst über eine besondere und zurückliegende Zeit berichten. Evangelien sind aber nicht nur historische Schriften, sondern sie haben auch eine klare Ausrichtung auf die Gegenwart der Lesenden, für die die erzählten Ereignisse relevant sind. Evangelien werden geschrieben, um den Lesenden Zugang zu Heil und Leben zu ermöglichen, weshalb es durchaus sinnvoll ist, nach dem Profil und möglicherweise auch der Identität dieser Lesenden zu fragen. Diese Überlegungen gelten für alle Evangelien, egal ob sie im Laufe der weiteren Überlieferung kanonisch geworden sind oder apokryph.1 Mein Beitrag konzentriert sich auf
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Die Formulierung „kanonisch“ bzw. „apokryph geworden“ wurde von Dieter Lührmann geprägt. Sie macht bewusst, dass die heute selbstverständliche Unterscheidung der Schriften sich erst im Laufe der Überlieferung entwickelt hat. Apokryph oder kanonisch zu sein, ist kein festes Merkmal, das Schriften von Anfang an eigen ist. Vgl. D. Lührmann,
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apokryph gewordene Evangelien und damit auf Schriften aus dem 2. Jh. – insgesamt sind die erhaltenen Schriften eher jünger als die kanonisch gewordenen Evangelien – und stellt die Frage, ob in ihnen eine kollektive Identität der Lesenden sichtbar wird und wie diese genau aussieht. Die Mehrzahl der nicht nur fragmentarisch erhaltenen apokryph gewordenen Evangelien ist weniger an der Biographie Jesu orientiert als die kanonisch gewordenen; sie schildern nicht primär sein Wirken und seine Passion, sondern konzentrieren sich auf Belehrungen, die oft als Dialog nach der Auferstehung gestaltet sind. Die Frage nach einer möglichen Gruppenidentität in diesen Schriften bietet eine neue Perspektive für das alte Problem des sozialen Kontextes. Viele apokryph gewordene Evangelien sind lange Zeit separaten, vom „normalen“ Christentum getrennten und mehr oder weniger häretischen Gruppen zugeordnet worden, häufig verbunden mit der Charakterisierung als „gnostisch“. In den letzten Jahrzehnten ist dieses Bild aber auf verschiedenen Ebenen hinterfragt worden. Der Begriff „gnostisch“ wurde als vielfältig problematisch und oft wenig aussagekräftig kritisiert.2 Das Bild des Christentums im 2. Jh. wandelt sich und wird vielfältiger, es gibt in dieser Zeit jedenfalls keine klare Trennung zwischen „orthodoxen“ und „häretischen“ Bereichen, sondern eher eine große Vielfalt von Diskussionen, die auch verschiedene Kombinationen erlauben.3 Die Frage, wie eine Gruppenidentität in diesen Schriften konstruiert wird, ermöglicht deshalb vielleicht einen neuen Blick auf das alte Problem. Ein wichtiger Punkt wird dabei schon durch die Formulierung deutlich: Es geht um Konstruktionen von Identität, die in den Evangelien sichtbar werden. Das ist nicht identisch mit der sozialen Realität der Abfassungssituation! Es Die apokryph gewordenen Evangelien. Studien zu neuen Texten und neuen Fragen (NT.S 112; Leiden: Brill, 2004), 2-4. 2 Vgl. M.A. Williams, Rethinking „Gnosticism“. An Argument for Dismantling a Dubious Category (Princeton: Princeton University Press, 1996); K.L. King, What Is Gnosticism? (Cambridge, MA: Harvard University Press, 2003). 3 Vgl. K.L. King, What Is Gnosticism? (s. Anm. 2), 233-236.
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ist nicht einmal sicher, ob den Beschreibungen in den Evangelien überhaupt soziale Verhältnisse korrespondieren – es ist durchaus denkbar, dass es sich um rein theoretische Konstrukte handelt. I. Wir und ihr Ein wesentlicher Punkt zur Konstruktion einer kollektiven Identität ist die Abgrenzung von denen, die nicht dazugehören. Die Unterscheidung kann unhinterfragbar vorgegeben sein, etwa durch Abstammung, sie kann durch längere gemeinsame Praxis gewachsen sein oder auf der freien Wahl von Einzelnen beruhen. Entsprechend unterschiedlich können die anderen gesehen werden, von feindseliger Abgrenzung bis hin zu Objekten von Mission.4 In Evangelien ist Identität wesentlich durch die Beziehung zu Jesus bestimmt. Er ist – schon vorgegeben – die Hauptperson, die Zugehörigkeit zu ihm entscheidet über die Gruppenzugehörigkeit. In den von mir untersuchten Schriften besteht die Beziehung zu Jesus vor allem in seiner Lehre, er übermittelt Wissen, das für Heil und Leben unverzichtbar ist. Wer hier also einbezogen oder ausgeschlossen ist, gehört dazu oder nicht. In der erzählten Zeit der Evangelien treten dabei vor allem die Jüngerinnen und Jünger auf, aber mitunter gibt es auch einen Ausblick auf eine spätere Anhängerschaft. Richtig Außenstehende, also Personen oder Gruppen ohne Bezug zu Jesus, kommen dagegen in den von mir behandelten Evangelien kaum vor, weder in Abgrenzung noch als Ziel für Mission. Dies ist anders als etwa in den kanonischen Evangelien, aber möglicherweise vor allem durch die literarische Form bedingt, in der eine interne Belehrung geschildert wird. Möglicherweise spielt auch die im 2. Jh. veränderte Situation eine Rolle. Diskussionen mit
4
Vgl. B. Giesen, Kollektive Identität. Die Intellektuellen und die Nation 2 (Frankfurt: Suhrkamp, 1999), 31.36f.46-48.56f.
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anderen gehören nicht dazu, vereinzelt wird aber eine feindliche Außenwelt sichtbar.5 1. Der apokryphe Jakobusbrief (EpJac NHC I,2) Am apokryphen Jakobusbrief lassen sich die bisherigen Überlegungen sehr schön verdeutlichen, deshalb hier ein längeres Textbeispiel:6 Der Anfang der Schrift (NHC I p. 1,1-2,39): (p.1) [Jakobus ist es], der [an den Schüler Kerinth schreibt]. Der Friede [sei mit dir aus] Frieden, [Liebe aus] Liebe, [Gnade aus] Gnade, [Glaube] aus Glauben, Leben aus heiligem Leben. Du hast mich gebeten, dir eine Geheimlehre zu übermitteln, mir [samt] Petrus durch den Herrn offenbart worden ist. Ich vermochte nun nicht, dich abzuweisen, noch auch mit dir zu reden, so [habe ich] sie in hebräischer Schrift [aufgeschrieben]. Ich übermittle sie dir, (und) zwar dir allein, weil du nämlich ein Diener der Erlösung der Heiligen bist. Sei umsichtig und hüte dich, vielen von diesem Buch zu erzählen. Der Erlöser wollte diese (Geheimlehre) nicht (einmal) uns allen, seinen zwölf Jüngern, erzählen. Selig aber, die erlöst werden durch den Glauben an diese Lehre. Ich habe dir aber vor zehn Monaten eine andere Geheimlehre übermittelt, die mir der Erlöser offenbart hatte. Verstehe nun aber jene so, wie sie mir, Jakobus, offenbart worden ist. Diese (p.2) aber – [da] auch ich [sie noch nicht (vollständig) erkannt habe und sie auch für dich und] die Deinen offenbart wurde, [sei] nun [umsichtig] und suche [nach ihrer Lehre]! So [wirst du die] Erlösung [erlangen. Nach all diesem] sollst du [sie (sg.) auch offenbaren!] [Als] aber alle zwölf Jünger zugleich beisammen saßen und als sie sich an das erinnerten, was der Erlöser einem jeden von ihnen gesagt hatte – sei es im Verborgenen, sei es öffentlich – und als sie es zu Büchern [ordneten], schrieb ich, was in [jener (Geheimlehre)] steht. Siehe, da erschien der Erlöser – [nachdem] er von [uns] gegangen war und [wir] auf ihn gewartet hatten – und zwar 550 Tage nachdem er von den Toten auferstanden war.
5
Ein Repräsentant ist z.B. der anfangs auftretende Pharisäer in AJ; in EpPt und EvMar wird eine Bedrohung von außen thematisiert. 6 Übersetzung aus J. Hartenstein/U.-K. Plisch, Der Brief des Jakobus (NHC I,2), in: Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung I/2 (Hg. C. Markschies/J. Schröter; Tübingen: Mohr Siebeck, 2012), 1092-1106.
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Wir sagten zu ihm: „Bist du weggegangen und hast du dich von uns entfernt?“ Jesus aber sagte: „Nein, aber ich werde weggehen zu dem Ort, von dem ich gekommen bin. Wenn ihr mit mir kommen wollt, so kommt!“ Sie antworteten alle und sagten: „Wenn du uns befiehlst, kommen wir mit.“ Er sagte: „Wahrlich, ich sage euch: Niemand wird jemals in das Reich der Himmel eingehen, wenn ich es ihm befehle, sondern (ihr werdet eingehen,) weil ihr erfüllt seid. Überlaßt mir Jakobus und Petrus, damit ich sie erfülle.“ Und nachdem er die beiden gerufen hatte, nahm er sie beiseite. Den Übrigen befahl er, sich (weiter) mit dem zu beschäftigen, womit sie (gerade) beschäftigt waren. Der Abschluss der Schrift (NHC I p. 15,29-16,30): Sie fragten uns: „Was habt ihr vom Meister gehört?“ und: „Was hat er euch gesagt?“ und: „Wohin ist er gegangen?“ Wir aber antworteten ihnen: „Er ist hinaufgegangen“, und: „Er hat uns ein Versprechen gegeben und uns allen das Leben verheißen und hat uns Kinder, die nach uns kommen, offenbart, [uns] befehlend, (p.16) daß wir sie lieben sollen, da wir ihretwegen [erlöst] würden.“ Und als sie (das) hörten, glaubten sie zwar an die Offenbarung, zürnten aber wegen denen, die geboren werden sollten. Da ich sie nun nicht zum Ärgernis werden lassen wollte, schickte ich jeden einzelnen an einen anderen Ort. Ich selbst aber ging hinauf nach Jerusalem um zu beten, damit ich Anteil (an der Erlösung) erhielte mit den Geliebten, denen, die (noch) erscheinen werden. Ich bete aber, daß durch dich der Anfang gemacht werde. Denn so werde ich erlöst werden können, wie (auch) jene Licht empfangen werden durch mich, durch meinen Glauben und durch einen anderen, der besser ist als meiner. Ich wünsche (geradezu), daß der Meine geringer ist. Sei nun darauf bedacht, dich jenen anzugleichen und bete darum, daß du Anteil bei ihnen erhältst! Denn über das hinaus, was ich gesagt habe, hat der Erlöser bezüglich jener (pl.) keine Offenbarung mitgeteilt. Wir verkünden Anteil (an der Erlösung) zusammen mit denen, für die verkündet worden war, die, die der Herr sich zu Kindern gemacht hat.
Vermutlich ist die EpJac eine Schrift vom Ende des 2. Jh.; sie ist nur einmal in NHC I erhalten.7 Gerahmt ist die Schrift durch einen Brief, in dem Jakobus – er hat Züge sowohl vom Jünger als auch vom Herrenbruder – die von Jesus erhaltenen Offenbarungen (die Geheimlehre) übermittelt. Der Name des Adressaten ist leider wegen einer Textlücke nicht lesbar, möglich und inhaltlich reizvoll, aber nicht sicher ist die Ergänzung zu „Kerinthos“ (-thos 7
Vgl. Hartenstein / Plisch, Brief (s. Anm. 6), 1094.1096f.
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ist lesbar).8 Diese Lehre ist ausdrücklich nicht für alle zwölf Jünger bestimmt, Jakobus und Petrus haben sie in einer Erscheinung Jesu erhalten, die übrigen Jünger sind dabei ausgeschlossen. Diese Übermittlung wird im Folgenden erzählt und macht den Hauptteil der Schrift aus, am Ende verschwindet Jesus und Jakobus und Petrus erleben eine visionäre Himmelsreise, die von den übrigen abgebrochen wird. Die Schrift endet mit der Trennung der Gruppe und wechselt dann wieder zum Briefrahmen. Für die intendierten Lesenden ist also klar, dass sie eine Kontaktmöglichkeit zu Jesus haben, die nicht allen offensteht. Die Jüngergruppe ist gespalten, nur Jakobus und Petrus erhalten die letzten und wichtigsten Belehrungen. Die übrigen schreiben zwar ebenfalls Schriften aus Worten Jesu, aber noch während die weiteren Belehrungen ergehen – eine klare Abwertung dieser Schriften (vermutlich andere Evangelien) zugunsten der Geheimlehren, die Jakobus erhalten hat. Sie wird auch ausdrücklich durch Jesus ausgesprochen, die anderen Jünger schreiben Schriften ohne verstanden zu haben. Ähnlich ironisch-polemisch wird die apostolische Predigt abgewertet, am Ende sendet Jakobus die übrigen in die Welt, aber nicht zur Verkündigung, sondern um Anstoß zu vermeiden. Ein direkter Bruch erfolgt nicht, aber die Lesenden können sich jedenfalls als eine überlegene, von den anderen unterschiedene Gruppe wahrnehmen. In der Schrift selbst ist eine zukünftige Gruppe sogar genannt. Nach Aussage des Jakobus kündigt Jesus „Kinder“ an, die seliggepriesen werden und auf die selbst Jakobus zu seiner Erlösung angewiesen ist (NHC p.15,38-16,2). Es ist also nicht nur die Gruppe der Jünger gespalten, sondern es gibt auch eine zeitliche Differenzierung. Die, die der Offenbarung wirklich würdig sind, treten erst später in Erscheinung.
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Vgl. Hartenstein / Plisch, Brief (s. Anm. 6), 1094f. Kerinth gilt im 2. Jh. als exemplarischer Häretiker aus der Frühzeit der christlichen Bewegung.
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Die Bezeichnung dieser Gruppe als Kinder und Geliebte verweist auf eine familiäre Zusammengehörigkeit – die Gruppe scheint durch Abstammung schon vorgegeben, nicht durch eigene Entscheidung bestimmt.9 Allerdings sind solche Familienmetaphern im ganzen frühen Christentum verbreitet und bezeichnen weder notwendig eine festgelegte Gruppe ohne Wechselmöglichkeit noch eine abgesonderte. Die Besonderheit in der EpJac entsteht nur durch die inhaltlich mit ihnen verbundenen Aussagen. Vor allem, dass auch Jakobus ihnen gegenüber unterlegen und auf sie angewiesen ist, verschafft ihnen einen außergewöhnlichen Status. 2. Das Judasevangelium (EvJud CT 3) Eine ähnliche, aber in der Polemik gesteigerte Situation liegt im EvJud vor. In dieser Schrift – vermutlich ebenfalls vom Ende des 2. Jh. – ist Judas Iskariot der wichtigste Jünger und Hauptoffenbarungsempfänger. In der Eingangsszene vermag er eher vor Jesus zu stehen als die anderen und legt eine Art Bekenntnis zu ihm ab:10 Aus der Eingangsszene des EvJud (CT p. 35,14-36,10): Judas sprach zu ihm: „Ich weiß, wer du bist und von welchem Ort du gekommen bist. Du bist aus dem unsterblichen Äon der Barbêlô gekommen; und derjenige, der dich gesandt hat, ist es, dessen Namen auszusprechen ich nicht würdig bin.“ Da Jesus aber wußte, daß er an das übrige Erhabene dachte, sprach er zu ihm: „Trenne dich von ihnen, und ich werde dir die Geheimnisse des Königreiches sagen, nicht damit du dort hin gehst, aber du wirst mehr seufzen. (p.36) Denn ein anderer wird an deinem Platz sein, damit die zwölf [Jünger] wieder vollendet werden durch ihren Gott.“ Und Judas sprach zu ihm: „An welchem Tag wirst du mir dies sagen, und (wann) wird der große Tag des Lichts dem […] Geschlecht erscheinen?“ Als er aber dies gesagt hatte, entfernte sich Jesus von ihm. 9
In der Begrifflichkeit von Giesen wären dies primordiale Codes, vgl. Giesen, Identität (s. Anm. 4), 32. 10 Übersetzung aus G. Wurst, Das Judasevangelium (CT 3), in: Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung I/2 (Hg. C. Markschies/J. Schröter; Tübingen: Mohr Siebeck, 2012), 1220-1234.
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Auch im EvJud gibt es eine Spaltung der Jüngergruppe, Judas soll sich von den anderen trennen, damit Jesus ihm die Geheimnisse des Reiches übermitteln kann. Er spricht dann aber durchaus auch mit den anderen, allerdings nur, um sie zu kritisieren. In Deutungen von Visionen sieht er sie als falsche Priester, die Mord, Ehebruch und jede Sünde begehen. Die Abgrenzung ist also deutlich schärfer als in der EpJac, es geht nicht nur um überlegende Offenbarungen an einen Teil der Gruppe, sondern um ein wirkliches Gegeneinander innerhalb des Kreises um Jesus, in dem Jesus selbst Partei ergreift. Schon die Wahl von Judas Iskariot als Offenbarungsempfänger deutet dieses Gegeneinander an.11 Er ist aus der Sicht der meisten Christinnen und Christen eine negative Gestalt, die ebenso umgewertet wird wie die Zwölf. Judas ist im EvJud deutlich positiver gezeichnet als die zwölf Jünger, aber er ist nicht vollkommen. Ähnlich wie bei Jakobus in EpJac steht seine eigene Erlösung mitunter in Zweifel – wichtiger ist eine zukünftige Gruppe, das große heilige Geschlecht (ⲅⲉⲛⲉⲁ). Auch hier scheint die Zusammengehörigkeit durch Abstammung bedingt, aber wie schon bei der Bezeichnung als Kinder ist nicht klar, wie metaphorisch der Ausdruck verwendet wird. 3. Die Weisheit (Sophia) Jesu Christi (SJC NHC III,4; BG 3) Bisher sieht es so aus, als würden sich die Leserinnen und Leser von apokryphen Evangelien vor allem als abgegrenzte Sondergruppen verstehen. Aber es gibt auch gegenteilige Beispiele wie die SJC, die vermutlich älter
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In der Forschung ist umstritten, wie sehr Judas als positive Gestalt anzusehen ist, vgl. Wurst, Judasevangelium (s. Anm. 10), 1225. Er ist auf jeden Fall aber positiver als die Gruppe der Zwölf dargestellt.
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als EpJac und EvJud ist, aber dieselbe literarische Form hat.12 Anfang der Schrift (BG p. 77,9-79,9): Nach seiner Auferstehung von den Toten, als seine zwölf Jünger und sieben Frauen, die ihm Jüngerinnen waren, nach Galiläa kamen, auf den Berg, der (p.78) ‚Weissagung und Freude‘ genannt wird, wobei sie nun ratlos waren über das Wesen des Alls und den Heilsplan und die heilige Vorsehung und die Vortrefflichkeit der Mächte (und) über alles, was der Erlöser mit ihnen macht im Geheimnis des heiligen Heilsplanes, da erschien ihnen der Erlöser, nicht in seiner früheren Gestalt, sondern in unsichtbarem Geist. Sein Aussehen aber war das Aussehen eines großen Lichtengels. (p.79) Seine Art aber werde ich nicht beschreiben können. Kein sterbliches Fleisch wird sie tragen können, sondern nur ein reines, vollkommenes Fleisch, wie er sich uns zeigte auf dem Berg, der ‚Ölberg‘ genannt wird, in Galiläa. .... Vom Beginn der Belehrungen Jesu (BG p. 82,9-19): Euch aber ist es erlaubt zu wissen. Und denen, die des Wissens würdig sind, wird es gegeben werden; denen die nicht hervorgebracht wurden aus dem Samen des schmutzigen Treibens, sondern aus dem Ersten, der gesandt wurde: Dieser ist nämlich unsterblich inmitten von sterblichen Menschen.“
In der SJC erscheint Jesus nach der Auferstehung seinen zwölf Jüngern und sieben Jüngerinnen und gibt ihnen allen die entscheidenden Offenbarungen. Am Ende brechen alle gemeinsam zur Mission auf. Jesus sagt der ganzen Gruppe zu, dass sie seiner Belehrungen würdig sind. Am Ende werden sie als Kinder des Lichts angesprochen, denen Jesus Vollmacht gegeben hat. Hier gibt es also schmeichelhafte Umschreibungen für die ganze Jüngergruppe, mit denen sich auch diejenigen, die die Schrift lesen, identifizieren können. Sie scheinen auf diese Rolle festgelegt, die Würdigkeit ist vorgegeben. Aber dies führt nicht zu einer Spaltung in der Gruppe, sondern gilt für alle gleichermaßen. Und wieder scheint 12
Übersetzung aus J. Hartenstein, Die Weisheit Jesu Christi (NHC III,4/BG 3), in: Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung I/2 (Hg. C. Markschies/J. Schröter; Tübingen: Mohr Siebeck, 2012), 1122-1136.
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metaphorische Sprache verwendet, sowohl von Kindern des Lichts als auch davon, von Gott geboren zu sein, ist auch sonst im frühen Christentum die Rede, etwa in Joh 1,13. 4. Weitere Schriften: Der Brief des Petrus an Philippus (EpPt NHC VIII,2; CT 1), das Mariaevangelium (EvMar BG 1), das Apokryphon des Johannes (AJ NHC II,1; III,1; IV,1; BG 2) Die EpPt besteht zu einem großen Teil aus Belehrungen Jesu nach seiner Auferstehung, daneben werden aber ähnlich wie in Apostelgeschichten Handlungen und Erlebnisse der Jünger geschildert. Die Schrift beginnt mit einem Brief, den Petrus an Philippus richtet. Anfang der EpPt (NHC VIII p. 132,12-133,11):13 „Petrus, der Apostel [Jesu] Christi, an Philippus, unseren geliebten Bruder und Mit-Apostel und (an) die Brüder, die bei dir sind – seid [gegrüßt]! Ich will, daß du weißt, unser Bruder, [daß] wir Anweisungen empfangen haben von unserem Herrn und dem Erlöser [der] ganzen Welt, daß [wir] zusammenkommen sollen, damit wir lehren und (das Evangelium) verkündigen über die Erlösung, die uns verheißen wurde von (p.133) unserem Herrn Jesus Christus. Du aber hieltest Dich von uns gesondert und hast kein Wohlgefallen an unserem Zusammensein gehabt. Und (nun) sollen wir erfahren, wie wir uns verteilen sollen, um das Evangelium zu verkündigen. Wenn du, Bruder, also bitte gemäß den Anordnungen unseres Gottes Jesus herkommen möchtest!“ Als Philippus dieses empfangen und gelesen hatte, begab er sich freudig (und) jubelnd zu Petrus.
Auch in der EpPt ist die gesamte Jüngergruppe am Empfang der Offenbarungen beteiligt, es ist sogar ausdrücklich wichtig, dass sie geschlossen auftritt. Die Schrift beginnt mit einem Brief von Petrus an Philippus, der ihn zur Gemeinschaft auffordert. Erst mit Philippus zusammen hat 13
Übersetzung aus H.-G. Bethge/J. Brankaer, Der Brief des Petrus an Philippus (NHC VIII,2/CT 1), in: Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung I/2 (Hg. C. Markschies/J. Schröter; Tübingen: Mohr Siebeck, 2012), 1195-1207.
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die Gruppe dann eine Erscheinung Jesu, der ihnen Belehrungen gibt – und auch nach seinem Verschwinden bleibt die Gemeinschaft erhalten. Die Gruppenidentität ist also eine gesamtchristliche, repräsentiert durch die Apostel. Aber dies ist so betont, dass sich fragen lässt, ob es eigentlich die Realität abbildet oder nicht vielleicht eher ein Ideal entwirft gegen möglicherweise vorhandene Trennungstendenzen oder vielleicht sogar reale Abspaltungen.14 Ähnlich komplex ist die Situation im EvMar dargestellt, auch hier gibt es ein Gespräch mit Jesus, zudem werden Interaktionen in der Jüngergruppe nach seinem Weggang geschildert. Die Schrift ist leider nur zur Hälfte erhalten und stammt ebenfalls aus dem 2. Jh.15 Aus der Mitte der Schrift (nach einem Dialog mit Jesus und seinem Weggang) (BG p. 9,12-10,9): Da stand Maria auf, küßte sie alle und sprach zu ihren Geschwistern: „Weint nicht und seid nicht traurig und zweifelt auch nicht! Denn seine Gnade wird mit euch allen sein und euch beschützen. Vielmehr laßt uns seine Größe preisen, denn er hat uns vorbereitet und uns zu Menschen gemacht.“ Als Maria dies gesagt hatte, wandte sie ihr (pl.) Herz zum Guten, und sie begannen, über die Worte des [Erlösers] zu diskutieren. (p.10) Petrus sprach zu Maria: „Schwester, wir wissen, daß der Erlöser dich mehr liebte als die übrigen Frauen. Sage uns die Worte des Erlösers, an die du dich erinnerst, die du kennst, wir (aber) nicht, und die wir auch nicht gehört haben.“ Maria antwortete und sprach: „Was euch verborgen ist, werde ich euch verkündigen.“
In dieser Schrift ist Maria (Magdalena) eigentlich eine besondere Offenbarungsempfängerin. Sie hat Worte Jesu gehört, die die anderen nicht kennen – wie Jakobus und Petrus in der EpJac. Aber das EvMar erzählt nicht diese besondere Belehrung an Maria, sondern es erzählt, wie Maria ihr Wissen mit der ganzen Gruppe teilt. Das geht zwar nicht völlig reibungslos, denn am Ende gibt es Streit um 14
Vgl. Bethge/Brankaer, Brief (s. Anm. 13), 1199f. Übersetzung aus J. Hartenstein, Das Evangelium nach Maria (BG 1/P.Oxy. L 3525/P.Ryl. III 463), in: Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung I/2 (Hg. C. Markschies/J. Schröter; Tübingen: Mohr Siebeck, 2012), 1208-1216. 15
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Marias Worte, aber das Konzept ist trotzdem eine Gemeinsamkeit der ganzen Gruppe. Und auch wenn Marias besondere Würdigkeit für die Belehrungen festgehalten wird, gilt, dass alle von Jesus zu Menschen gemacht sind – ein prinzipieller Unterschied liegt hier nicht vor. Ist auch das ein Programm der Gemeinsamkeit, möglicherweise als Ideal gegen eine andere Realität? Oder bildet das Miteinander die Realität ab? Das lässt sich kaum entscheiden, ich denke aber, einige Indizien sprechen für eine gewisse Spannung der Darstellung gegenüber den realen sozialen Verhältnissen. Konstruiert wird aber eine kollektive Identität, die die gesamte Gruppe umfasst, auch wenn Maria herausgehoben ist. Noch ein anderes Modell bietet das Apokryphon des Johannes: Hier ist in der Schrift selbst Johannes der Offenbarungsempfänger, er bekommt äußerst ausführliche Belehrungen Jesu und auch den Auftrag, sie aufzuschreiben und sie nicht falsch weiterzugeben. Aber am Ende gibt er alles seinen MitjüngerInnen weiter, die auch als Gleichgeister bezeichnet werden – trotz der Hervorhebung von Johannes liegt auch hier kein grundlegender Unterschied vor. Abschluss der Schrift (AJ NHC II p. 31,32-32,5):16 Der Heiland gab ihm diese (Worte), damit er sie niederschreibe und in Sicherheit bewahre.“ Da sagte er zu ihm: „Verflucht sei jeder, der diese (Worte) weitergibt um ein Geschenk oder um Speise oder um Getränk oder um Kleidung oder um anderes (p.32) dergleichen.“ Diese (Worte) wurden ihm in einem Geheimnis gegeben und sogleich verschwand er vor seinem Antlitz. Er aber ging zu seinen Mitjüngern und verkündete ihnen die (Worte), die der Erlöser ihm gesagt hatte.
16
Übersetzung aus M. Waldstein, Das Apokryphon des Johannes (NHC II,1; III,1; IV,1 und BG 2), in: Nag Hammadi Deutsch. 1. Band: NHC I,1-V,1 (Hg. H.-M. Schenke et al.; GCS NF 8; Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2001), 95-150.
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5. Das Thomasevangelium (EvThom NHC II,2) Schließlich noch ein Blick auf das EvThom, vermutlich das früheste der behandelten apokryph gewordenen Evangelien. Es hat eine leicht andere Form, weil nicht ein nachösterlicher Dialog mit Jesus geschildert wird, sondern einzelne Aussprüche und kurze Dialoge gesammelt sind. Sie scheinen von Jesus während seines irdischen Wirkens zu ergehen, teils an die Jüngerinnen und Jünger, teils an nicht näher bestimmte Angesprochene. Im EvThom ist so etwas wie eine kollektive Identität schwerer greifbar, weil häufiger Einzelne als Gruppen im Blick sind. Betont wird die Notwendigkeit, die eigenen Fähigkeiten einzusetzen und so die Worte Jesu zu verstehen, was zu umfassenden Verheißungen führt wie nicht zu sterben, König über das All oder Kinder des lebendigen Vaters zu sein. Letzteres klingt nach einer Wesensbeschreibung, die schon vorgeben ist, aber viel hängt am eigenen Bemühen. Spruch 1-3 und 13:17 1: Dies sind die verborgenen Worte, die der lebendige Jesus sagte, und Didymos Judas Thomas schrieb sie auf. Und er sprach: „Wer die Deutung dieser Worte findet, wird den Tod nicht schmecken.“ 2: (1) Jesus spricht: „Wer sucht, soll nicht aufhören zu suchen, bis er findet. (2) Und wenn er findet, wird er bestürzt sein. (3) Und wenn er bestürzt ist, wird er erstaunt sein. (4) Und er wird König sein über das All.“ 3: (1) Jesus spricht: „Wenn die, die euch vorangehen, zu euch sagen: ‚Siehe, im Himmel ist das Königreich!‘, dann werden euch die Vögel des Himmels zuvorkommen. (2) Wenn sie zu euch sagen: ‚Es ist im Meer‘, dann werden euch die Fische zuvorkommen. (3) Vielmehr: Das Königreich ist innerhalb von euch und außerhalb von euch.“ (4) „Wenn ihr euch erkennt, dann werdet ihr erkannt werden, und ihr werdet begreifen, daß ihr die Kinder des lebendigen Vaters seid. (5) Wenn ihr euch aber nicht erkennt, dann existiert ihr in Armut, und ihr seid die Armut.“ 17
Übersetzung aus J. Schröter, Das Evangelium nach Thomas (Thomasevangelium [NHC II,2 p. 32,10-51,28]). Oxrhynchus-Papyri I 1, IV 654 und IV 655 (P.Oxy. I 1, IV 654 und IV 655), in: Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung I/1 (Hg. C. Markschies/J. Schröter Tübingen: Mohr Siebeck, 2012), 483-526.
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13: (1) Jesus sprach zu seinen Jüngern: „Vergleicht mich (und) sagt mir, wem ich gleiche.“ (2) Simon Petrus sprach zu ihm: „Du gleichst einem gerechten Boten.“ (3) Matthäus sprach zu ihm: „Du gleichst einem (besonders) klugen Philosophen.“ (4) Thomas sprach zu ihm: „Lehrer, mein Mund es ganz und gar nicht zu ertragen zu sagen, wem du gleichst.“ (5) Jesus sprach: „Ich bin nicht dein Lehrer. Denn du hast getrunken, du hast dich berauscht an der sprudelnden Quelle, die ich ausgemessen habe.“ (6) Und er nahm ihn, (und) er zog sich zurück, (und) er sagte ihm drei Worte. (7) Als Thomas aber zu seinen Gefährten kam, befragten sie ihn: „Was hat dir Jesus gesagt?“ (8) Thomas sprach zu ihnen: „Wenn ich euch eines von den Worten sage, die er mir gesagt hat, werdet ihr Steine aufheben (und) auf mich werfen, und Feuer wird aus den Steinen herauskommen (und) euch verbrennen.“
Eine gewisse Differenzierung von Gruppen wird in EvThom 3 sichtbar, wo eine Führungsgruppe vorausgesetzt, aber kritisiert wird – das scheint nicht zu einer Auflösung der Zusammengehörigkeit zu führen, sondern bestärkt eher ein Überlegenheitsgefühl. Ähnlich wird auch in EvThom 13 deutlich, dass Thomas den anderen Jüngern überlegen ist. Er weigert sich, sein Wissen weiterzugeben. Aber auch da wird keine wirkliche Trennung sichtbar. 6. Zwischenfazit Der Befund ist vielfältig. Deutlich ist, dass sich die Angesprochenen als etwas Besonderes, als Kinder (Gottes), als erwählt, als würdig u.a. verstehen, was sich aus der besonderen Verbindung zu Jesus ergibt. In einigen Schriften folgt daraus eine Sondergruppe, die nur einen Teil der Jüngerinnen und Jünger umfasst, hier scheint eine kollektive Identität separat, nicht allgemeinchristlich zu sein. Aber in anderen Fällen ist keine solche Spaltung erkennbar, der hervorgehobene Status gilt allen Anhängerinnen und Anhängern Jesu. Auch wenn sich aus inhaltlichen Gründen bezweifeln lässt, dass etwa die Ausführungen in AJ oder SJC auf breite Zustimmung gestoßen sind, ist das Selbstverständnis umfassend. Die in der Schrift konstruierte kollektive Identität ist eine gesamtchristliche. Allerdings ist die Problematik von Sonderbelehrungen und ihrer Weitergabe, von Trennung und Verbindung in relativ vielen
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Schriften Thema. Ich werte das als ein Indiz, dass die realen Verhältnisse vielleicht mitunter nicht so gemeinschaftlich waren. Aber auch wo eine separate Identität sichtbar wird, liegt nicht unbedingt ein konsequenter Bruch vor. Nur im EvJud ist die Jüngergruppe wirklich als feindselig aufgespalten dargestellt. Grundlage der Gruppenidentität sind häufig schon vorgegebene Eigenschaften und Verhältnisse, die mit Begriffen aus Familie und Abstammung oder (durch Jesus festgestellte) Würdigkeit beschrieben wird. Auch wenn mit metaphorischer Verwendung der Ausdrücke gerechnet werden muss, liegt der Ton jedenfalls nicht auf einer freien Entscheidung und der eigenen Wahl. Eine Ausnahme ist hier das EvThom, in dem die eigenen Fähigkeiten stärker betont werden. In dieser Schrift wird aber insgesamt nur relativ wenig kollektive Identität sichtbar. II. Selbstbezeichnungen als apokryph Mir scheint noch ein zweiter Aspekt von Bedeutung zu sein, der mit der Frage der Identität verbunden ist, auch wenn es dabei weniger um Personengruppen als um das Selbstverständnis der Schriften als Schriften geht. Ich meine die Selbstbezeichnung der Schriften als apokryph. ἀπόκρυφος ist zunächst einfach ein griechischen Adjektiv, abgeleitet von ἀποκρύπτω verbergen (verstecken, geheim halten) und bedeutet dementsprechend verborgen oder geheim – in weltlichem Sinne, aber in frühchristlicher Literatur auch gerne auf göttliche Geheimnisse bezogen (Mk 4,22; Kol 2,2f). Im heutigen deutschen Sprachgebrauch schwingt diese Bedeutung immer noch mit, denn apokryphe Evangelien sind ja auch verborgene Schriften, im Sinne von schlecht zugänglich. Zudem haben sie den Reiz des Geheimen. Prägend ist inzwischen aber die ab dem 4. Jh. nachweisbare
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Verwendung von apokryph als Gegenbegriff zu kanonisch.18 Apokryph sind dann Schriften, die nicht zum Kanon gehören (als einigermaßen neutrale Bezeichnung) bzw. die nicht zu ihm gehören sollen, weil sie inhaltlich nicht rechtgläubig oder aus anderen Gründen abzulehnen sind (als Abwertung). Sowohl einen (neutestamentlichen) Kanon als Auswahl von Schriften im heutigen Sinne als auch die darauf bezogene Begrifflichkeit kanonisch-apokryph gibt es im 2. Jh. noch nicht! Es ist deshalb durchaus zu überlegen (und wird auch diskutiert), ob die Bezeichnung von Schriften aus dieser Zeit als apokryph nicht eigentlich unangemessen ist, weil sie eine spätere Entwicklung voraussetzt und auch eine diskriminierende Tendenz haben kann. Auffällig ist aber, dass etliche – nicht alle! – apokryph gewordenen Evangelien sich selbst als apokryph bezeichnen und sich damit als eine „Geheimschrift“ oder inhaltlich geheime Lehre charakterisieren. Verwendet wird sowohl das Adjektiv zur Näherbestimmung eines Substantivs als auch das Adjektiv allein in substantivierter Form (das Apokryphon = die Geheimlehre).19 Im rahmenden Brief der EpJac spricht Jakobus von einem Apokryphon (ⲡⲁⲡⲟⲕⲣⲩⲫⲟⲛ, NHC I, p. 1,10), das er übersendet, und meint damit die an ihn und Petrus übermittelte Offenbarung Jesu, also die Schrift selbst. Er verweist auch noch auf eine früher ergangene und aufgeschriebene Offenbarung, ein anderes Apokryphon. Hier wird also eine Schrift, die ausdrücklich nicht für die Allgemeinheit, sondern nur für einen begrenzten Kreis bestimmt ist, so bezeichnet. Das passt auch sachlich, denn es geht um eine geheime Lehre nur an Jakobus und Petrus, nicht um eine 18
Vgl. Lührmann, Evangelien (s. Anm. 1), 3f. Kleinere Probleme ergeben sich noch, weil viele der Schriften nur in koptischer Übersetzung erhalten sind, aber vor allem beim absoluten Gebrauch ist der griechische Begriff einfach als Lehnwort übernommen, als koptisches Äquivalent dient zudem der Stativ ϩⲏⲡ von ϩⲱⲡ verbergen. Es lassen sich ziemlich verlässliche Rückschlüsse auf den griechischen Wortlaut ziehen. 19
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öffentliche an alle. Dieses Gegenüber begegnet in der Eingangsszene, in der die Jünger sich an das erinnern, was Jesus ihnen im Geheimen oder öffentlich gesagt hat, und es in Bücher aufschreiben.20 Das EvJud beginnt mit einer Selbstbeschreibung als „Das geheime Wort der Offenbarung (ⲡⲗⲟⲅⲟⲥ ⲉⲧϩⲏⲡ ⲛ̅ⲧⲁⲡⲟⲫⲁⲥⲓⲥ), mit welchem Jesus mit Judas Iskariot gesprochen hat, während acht Tagen, drei Tage, bevor er das Pascha gefeiert hat“ (EvJud CT p. 33,1-6). Die ganze Schrift erscheint so als eine geheime Lehre, dazu passt, dass Jesus Judas später ankündigt, er würde ihm die Geheimnisse des Reiches Gottes sagen. Ein Teil der Worte Jesu richtet sich allerdings durchaus an die Gesamtgruppe, der geheime / apokryphe Charakter scheint mehr Programm zu sein als wirkliche Beschreibung der Situation. Dies gilt ähnlich auch für das EvThom, wenn es anfängt: „Dies sind die verborgenen Worte (ⲛⲁⲉⲓ ⲛⲉ ⲛ̅ϣⲁϫⲉ ⲉⲑⲏⲡ), die der lebendige Jesus sagte, und Didymos Judas Thomas schrieb sie auf.“21 So geheim ist der Inhalt des EvThom dann aber doch nicht. Etwa die Hälfte aller Aussprüche hat klare Parallelen in synoptischen Evangelien, sie können also durchaus als allgemein bekannt gelten. Trotzdem werden die Sprüche so eingeführt, als besondere, nicht allen zugängliche Worte. Und dies passt inhaltlich dann dazu, dass auch die Deutung nicht allen zugänglich ist, das EvThom rechnet mit einer eher kleinen Gruppe von Erfolgreichen.22 Schließlich noch ein Blick auf die vermutlich wichtigste Schrift mit der Selbstbezeichnung als apokryph, das Apokryphon des Johannes, bei der das Stichwort im Titel begegnet. Vom AJ gibt es vier koptische Abschriften, von 20
Siehe das Textbeispiel oben. Im griechischen Fragment P.Oxy. 654 ist der Begriff λόγος erhalten und ἀπόκρυφος kann vermutlich ergänzt werden, vgl. Schröter, Evangelium nach Thomas (s. Anm. 17), 489. 22 Auserwählt sind einer aus Tausend, zwei aus Zehntausend, EvThom 23. 21
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denen je zwei eine kürzere (NHC III,1 und BG 2) und eine längere (NHC II,1 und IV,1) Rezension bezeugen. Die Titel sind dabei etwas unterschiedlich: In der Kurzfassung lautet er „das Apokryphon des Johannes“ (ⲡⲁⲡⲟⲕⲣⲩⲫⲟⲛ ⲛ̅ⲓ̈ⲱϩⲁⲛⲛⲏⲥ AJ BG p. 77,6 par.). Wie in EpJac ist also von einer Geheimschrift die Rede, als Autor und Empfänger der Offenbarungen gilt Johannes – das entspricht durchaus der Darstellung, in der Johannes allein eine Erscheinung Jesu hat und von ihm die Belehrungen bekommt, die die Schrift ausmachen. Der Titel der Langfassung lautet dagegen „(das) apokryphe nach Johannes“ (ⲕⲁⲧⲁ ⲓ̈ⲱϩⲁⲛⲛⲏⲛ ⲛ̅ⲁⲡⲟⲕⲣⲩⲫⲟⲛ) – hier ist apokryph nicht substantiviert, sondern auf ein nicht genanntes Substantiv bezogen. Vermutlich muss man es ergänzen zu: „(das) apokryphe (Evangelium) nach Johannes“. Der ohnehin in der Schrift angelegte Bezug auf das (kanonisch gewordene) Johannesevangelium ist hier noch besser greifbar, in der Sache macht es aber nicht so viel Unterschied. Die ganze Schrift wird als eine apokryphe, eine geheime charakterisiert. Die Langfassung bietet auch noch einen kurzen Prolog, in der die Schrift beschrieben wird: „Die Lehre [des] Heilands und [die Offenbarung] der Geheimnisse [und der] im Schweigen verborgenen Dinge (ⲡⲉⲧϩⲏⲡ), [jener nämlich, die] er Johannes, [seinen] Jünger, lehrte.“ (AJ NHC II p.1,1-4) Am Ende der Schrift wird Johannes (in beiden Fassungen) zum Aufschreiben und zur sicheren Verwahrung der Worte Jesu aufgefordert, einschließlich einiger Flüche gegen die Preisgabe der Schrift gegen materiellen Vorteil. Unmittelbar danach verschwindet Jesus – und Johannes erzählt alles, was Jesus ihm gesagt hat, den übrigen. Damit endet die Schrift, die so ausdrücklich geheime Lehre wird ohne Beschränkung weiterverbreitet.23 Neben diesen Schriften, die sich selbst als geheim beschreiben, gibt es etliche andere, die das nicht tun – etwa die SJC oder EpPt und (mit Vorbehalt, weil die Schrift 23
Bezeichnungen als apokryph gibt es auch außerhalb von Evangelien, etwa in der Apokalypse Adams (NHC V,5), die am Ende u.a. als „verborgene Gnosis Adams, die er Seth gegeben hat“ beschrieben wird.
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nicht vollständig erhalten ist) EvMar. Das sind vor allem die Schriften, in denen keine Aufspaltung der Jüngergruppe sichtbar wird, sondern sogar programmatisch so etwas wie eine gesamtchristliche Identität vertreten wird: In EpPt findet sich die ausdrückliche Ablehnung einer Trennung, im EvMar werden Sonderbelehrungen weiter vermittelt, in SJC gelten die Offenbarungen unproblematisch der Gesamtgruppe. III. Ergebnis Die Frage, wie separat die Gruppen real waren, in denen apokryphe Evangelien hochgeschätzt wurden, ist nicht klar beantwortbar. Es gibt Schriften, in denen ein Selbstverständnis als eine Sondergruppe erkennbar wird, und es gibt Schriften, in denen das nicht so ist oder sogar ausdrücklich die Gemeinschaft aller betont wird. Aber wie weit dieses Selbstverständnis soziale Realitäten wiedergibt, lässt sich nicht entscheiden – es ist in beiden Richtungen gut denkbar, dass in der Schrift eher eine Zielvorstellung als das konkrete Leben abgebildet wird. Eine wirklich klare Trennung wird zudem nur im EvJud sichtbar, aber auch dies ist eine literarische Darstellung, die nicht identisch mit der Realität sein muss. Wenn sich die Aussagen zu einer kollektiven Identität nur schwer für die sozialen Verhältnisse auswerten lassen, so zeigt sich ihre Funktion vielleicht im Vergleich mit dem Phänomen der Selbstbeschreibung als apokryph / geheim. Einige Schriften stellen sich so dar, obwohl dies sachlich aus verschiedenen Gründen nicht angemessen ist und im Widerspruch zu Aussagen der Schrift selbst steht. Impliziert ist in dieser Bezeichnung aber ein Überlegenheitsgefühl, eine Sonderstellung, die die Schrift beansprucht. Es geht nicht darum, ob der Inhalt auch wirklich geheim ist, sondern es geht um den Nimbus des Geheimen, der die Schrift attraktiv macht, zumindest einige der Schriften. Vielleicht erfüllen Vorstellungen von einer Sondergruppe innerhalb des Jüngerkreises einen ganz ähnlichen Zweck:
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Die Betonung einer abgegrenzten Identität, die nicht allen zugänglich ist, macht attraktiv – und kann deshalb auch ganz unterschiedlich gefüllt und begründet werden.
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Ertragene Alterität Anmerkungen zur theologischen Differenzkonstruktion in frühchristlicher Literatur*
I. Einführung 1. Parting, Partings oder Party of the Ways? Die Feststellung, die Analyse von „Identität“ samt ihrer Formen, Funktionen und Konstruktionsbedingungen stelle einen zurzeit besonders dynamischen Bereich der Erforschung des Neuen Testaments und des frühen Christentums dar, ist angesichts der zahlreichen einschlägigen Publikationen der jüngsten Zeit1 bereits zu einer Banalität *
Mein herzlicher Dank gilt Karin Finsterbusch und Eberhard Bons für die Einladung zu einer höchst interessanten Landauer Tagung sowie Nicola Niehues für die Unterstützung bei der Literaturbeschaffung. 1 Zur Einführung vgl. J.M. Lieu, Neither Jew Nor Greek. Constructing Early Christianity (SNTW; Edinburgh: T & T Clark, 2002); Dies., Christian Identity in the Jewish and Greco-Roman World (Oxford u.a.: Oxford University Press, 2004); B. Holmberg (Hg.), Exploring Early Christian Identity (WUNT 226; Tübingen: Mohr Siebeck, 2008); B. Holmberg/M. Winnige (Hg.), Identity Formation in the New Testament (WUNT 227; Tübingen: Mohr Siebeck, 2008); M. Zetterholm/S. Byrskog (Hg.), The Making of Christianity. Conflicts, Contacts and Constructions. FS B. Holmberg (CBNTS 47; Winona Lake, Ind.: Eisenbrauns, 2012); G.D. Dunn/W. Mayer (Hg.), Christians Shaping Identity from the Roman Empire to Byzantium. Studies Inspired by Pauline Allen (VigChrSup 132; Leiden: Brill, 2015), sowie die entsprechenden Beiträge im Vorläufer zum vorliegenden Band: E. Bons/K. Finsterbusch (Hg.), Konstruktionen individueller und kollektiver Identität I. Altes Israel/Frühjudentum, griechische Antike, Neues Testament/Alte Kirche. Studien aus Deutschland und Frankreich (BThSt 161; Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2016). Einen instruktiven und präzisen Überblick, der sich auch kritisch der z.T. inflationären
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geworden.2 Die diskursive Erschließung frühchristlicher Identität(en) kann dabei nicht nur Verknüpfungen zu ganz unterschiedlichen kulturellen und religiösen Konzepten, wie beispielsweise Gebet3 und Kultort,4 sozialem
Verwendung des Identitätsbegriffs widmet, bietet C. Strecker, „Identität im frühen Christentum? Der Identitätsdiskurs und die neutestamentliche Forschung“, in: Religionsgemeinschaft und Identität. Prozesse jüdischer und christlicher Identitätsbildung im Rahmen der Antike (Hg. M. Öhler; BThSt 142; Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2013), 113– 167 (zur jüngeren ntl. Forschung siehe besonders 142–158). 2 M. Öhler, „‚Identität‘ – eine Problemanzeige“, in: Religionsgemeinschaft und Identität. Prozesse jüdischer und christlicher Identitätsbildung im Rahmen der Antike (Hg. Ders., BThSt 142; NeukirchenVluyn: Neukirchener, 2013), 9–15, hier 9, notiert pointiert: „‚Identität‘ ist zu einem allgegenwärtigen Label geworden, mit dem sich beinahe alle theologischen, geistes- und sozialgeschichtlichen Disziplinen gerne schmücke[n], um – möglicherweise nur vermeintlich – an Attraktivität zu gewinnen.“ Er ergänzt aber sicher zurecht ebd., 9f.: „Die Fragen nach Identität und Identitäten sowie nach deren Bedeutung für religiöse Gemeinschaften werden sich nicht so schnell erledigt haben, zumal andere Leitgedanken, die ähnlich umfassend ansetzen, derweil nicht in Sicht sind.“ Für die Frage nach frühchristlicher Identität hält D.C. Sim, „Jews, Gentiles and Ethnic Identity in the Gospel of Matthew“, in: Christians Shaping Identity from the Roman Empire to Byzantium. Studies Inspired by Pauline Allen (Hg. G.D. Dunn/W. Mayer; VigChrSup 132; Leiden: Brill, 2015), 25–47, hier 26, treffend fest: „In terms of Christian identity in this [initial and formative] period, difficulties begin as soon as we ask even simple questions. How did the early Christians mark or construct their own identity? What factors were integral to the creation of Christian identity? How did Christian identity differ from Jewish identity or even pagan or Gentile identity? These are not easy questions to answer.“ 3 Vgl. R. Hvalvik/K. Sandnes (Hg.), Early Christian Prayer and Identity Formation (WUNT 336; Tübingen: Mohr Siebeck 2014). 4 Vgl. M. Böhm (Hg.), Kultort und Identität. Prozesse jüdischer und christlicher Identitätsbildung im Rahmen der Antike (BThSt 155; Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2016), sowie insbesondere den umfassenden Beitrag von J. Frey, „Temple and Identity in Early Christianity and the Johannine Community. Reflections on the ‚Parting of the Ways‘“, in: Was 70 CE a Watershed in Jewish History? On Jews and Judaism Before and After the Destruction of the Second Temple (Hg. D.R. Schwartz/Z. Weiss; Ancient Judaism and Early Christianity 78; Leiden u.a.: Brill, 2012), 447–507.
Ertragene Alterität
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Gedächtnis,5 Mahlgemeinschaft6 oder autoritativem Schrifttum,7 herstellen, sie bleibt auch immer verwiesen auf die abgrenzende Konstruktion des „Anderen“, des Nicht-Identen, wobei der Andere sowohl als Ziel missionarischer Bemühungen8 als auch als bedrohlicher Konkurrent und „Gegner“9 in den Blick kommen kann. Von eminenter Bedeutung ist zudem das Verhältnis zum Judentum, das aufgrund der jüdischen Herkunft des Christentums in entscheidender Weise jede Ausprägung eines frühchristlichen Selbstbewusstseins signiert.10 Wie die lebhafte Debatte (nicht nur) der letzten Jahrzehnte zeigt, ist aber gerade die Analyse dieser zentralen Beziehungsgeschichte mit zahlreichen Herausforderungen verbunden. Zuallererst erinnert natürlich die fatale Geschichte des
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Dazu jüngst A. Byrskog u.a. (Hg.), Social Memory and Social Identity in the Study of Early Judaism and Early Christianity (NTOA 116; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2016). 6 Vgl. z.B. T. Haussig/M. Klinghardt (Hg.), Mahl und religiöse Identität im frühen Christentum (TANZ 56; Tübingen: Francke, 2012). 7 Vgl. z.B. K. Finsterbusch/A. Lange (Hg.), What is Bible? (CBET 76; Peeters: Leuven, 2012). 8 Dieser Fragerichtung folgen viele der Beiträge in dem Sammelband J. Kok u.a. (Hg.), Sensitivity towards Outsiders. Exploring the Dynamic Relationship between Mission and Ethics in the New Testament and Early Christianity (WUNT II/364; Tübingen: Mohr Siebeck, 2014). 9 Vgl. neben O. Wischmeyer/L. Scornaienchi (Hg.), Polemik in der frühchristlichen Literatur. Texte und Kontexte (BZNW 170; Berlin: de Gruyter, 2011), nun besonders M. Tilly/U. Mell (Hg.), „Opponents“. Conflict with Rivals in Early Jewish and Christian Literature (WUNT; Tübingen: Mohr Siebeck), im Erscheinen. 10 Wie M. Wolter, „‚Ein neues ‘? Das frühe Christentum auf der Suche nach seiner Identität“, in: Ein neues Geschlecht? Entwicklung des frühchristlichen Selbstbewusstseins. FS W. Pratscher (Hg. M. Lang; NTOA 105; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2014), 282–298, gezeigt hat, verdankt sich selbst das distinkt „christliche Identitätsmanagement“ (ebd., 294) des z.B. in KerPetr oder der Apologie des Aristides begegnenden τρίτον-γένος-Konzepts (die „Christen“ sind unterschieden von „Griechen“ und „Juden“) der aus jüdischer Perspektive formulierten Dualität von „Juden“ und „Heiden/Griechen“ (vgl. besonders ebd., 293).
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christlichen Antijudaismus11 die historische Forschung in unerbittlicher Weise daran, dass sie immer aus einer bestimmten Verständnisperspektive und von einem bestimmten geschichtlichen Ort her betrieben wird. Positiv gewendet bietet die mittlerweile selbstverständliche Kooperation von jüdischen und christlichen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Möglichkeit, die Erforschung antiker Konstruktionen von Identität und Alterität im reflektierten Mit- und Zueinander des Anderen zu betreiben.12 Neben diesem diffizilen hermeneutischen Hintergrund stellt auch die Suche nach der angemessenen Begrifflichkeit vor manche Schwierigkeit: Inwiefern ist es möglich und sinnvoll mit Blick auf die ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung, „das“ Judentum und „das“ Christentum einander als klar abgrenzbare Größen einander gegenüberzustellen?13 Der Verweis auf die quellensprachliche Verwendung der Termini Ἰουδαϊσμός (Gal 1,13f.) und Χριστιανισμός bei Ignatius von Antiochien (pointiert einander gegenübergestellt in IgnMagn 10,3 und IgnPhld 6,1; vgl. zudem IgnRöm 3,3; IgnMagn 8,1; 10,1) – nach klassischer, aber keineswegs unumstrittener Datierung im ersten Drittel des zweiten Jahrhunderts zu verorten14 – hilft 11
Zu Ge- und Missbrauch später neutestamentlicher Texte in diesem Zusammenhang vgl. zuletzt den in jüdisch-christlicher Herausgeberschaft erscheinenden Band H. Amirav/R. Roukema (Hg.), The Use of ‚New Testament‘ Writings in Ancient Christian Anti-Jewish Polemics (NTOA; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht), im Druck. 12 Gelegenheit dazu bot im März 2016 das Manfred Lautenschlaeger Award Colloquium an der Ben Gurion Universität in Beersheva, dessen Beiträge im Band M. Bar-Asher Siegal/W. Grünstäudl/M. Thiessen (Hg.), Percieving the Other in Ancient Judaism and Early Christianity (WUNT; Tübingen: Mohr Siebeck), erscheinen werden. 13 Vgl. beispielsweise B. Holmberg, „Jewish versus Christian Identity?“, RB 105 (1998), 397–425, und jüngst T. Nicklas, Jews and Christians? Second Century „Christian“ Perspectives on the „Parting of the Ways“ (Annual Deichmann Lectures 2013; Tübingen: Mohr Siebeck, 2014). Vgl. dazu auch die instruktiven Ausführungen von Günter Stemberger in vorliegendem Band. 14 Als Einführung in die jüngere Diskussion ist T.D. Barnes, „The Date of Ignatius“, ET 120 (2008), 119–130, hilfreich.
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sicherlich nur bedingt weiter, da auch dieser Sprachgebrauch nur ein mit einer ganz bestimmten Intention15 versehenes Statement innerhalb eines größeren und schwer überschaubaren Diskurses ist. Besonders eindrücklich lassen sich die differenten Einschätzungen der entsprechenden Distinktions-, Transformations- und Entwicklungsprozesse an der jeweils verwendeten Leitmetaphorik verdeutlichen: Wenn der Rede von einer „Trennung der Wege“ (parting of the ways), die, vor allem im Gefolge der Arbeiten von Daniel Boyarin, zumindest für die Antike als zu einfach und punktuell erkannt wurde,16 von James Dunn programmatisch die pluralische Rede von den „Trennungen der Wege“ (partings of the ways) gegenübergestellt wurde,17 so ist damit wohl noch nicht ein heuristisches Modell gefunden, das der Komplexität des (in vielerlei Hinsicht fragmentarischen und tendenziösen) Quellenmaterials in jeder Hinsicht gerecht wird. Tobias Nicklas illustriert am Beispiel der faszinierenden Gruppierung der Elchasaiten, deren Identität bereits in der Antike höchst problematisch war,18 wie das Modell eines „Tanzes“, bei dem unterschiedliche Tanzpartner im Laufe eines Abends unterschiedliche Formationen bilden, welche wiederum von außen (gewissermaßen durch ein Schlüsselloch) nur ausschnitthaft wahrgenommen werden, 15
Weder in IgnMagn 10,3 noch in IgnPhld 6,1 ist die angestrebte polemische Abgrenzung zu übersehen. 16 Überspitzt spricht der Sammelband A. Becker/A.Y. Reed (Hg.), The Ways that Never Parted. Jews and Christians in Late Antiquity and the Early Middle Ages (TSAJ 95; Tübingen: Mohr Siebeck, 2003), in seinem Titel gar von den niemals getrennten Wegen. 17 Vgl. J.D.G. Dunn, The Partings of the Ways between Christianity and Judaism and their Significance for the Character of Christianity (London: SCM Press, 22006), sowie jüngst Ders., Neither Jew nor Greek. A Contested Identity (Christianity in the Making 3; Grand Rapids, Mi./Cambridge: Eerdmans, 2015), 12–26, 598–672. 18 Vgl. T. Nicklas, „Jenseits der Kategorien. Elchasai und die Elchasaiten“, in: Shadowy Characters and Fragmentary Evidence. The Search for Early Christian Groups and Movements (Hg. E. Hernitscheck u.a.; WUNT; Tübingen: Mohr Siebeck), im Druck, mit weiterführender Literatur.
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helfen könnte, die komplexen Formen gegenseitiger Beeinflussung im Rahmen antiker „christlicher“ und „jüdischer“ Identitätsbildungsprozesse (samt unseres durch die Quellenlage perspektivierten Blickes) besser zu erschließen.19 Etwas salopp, doch meines Erachtens sachlich zutreffend, könnte man dieses dynamische Modell als party of the ways bezeichnen. In jedem Fall macht es eindrücklich deutlich, dass die Rede von frühchristlicher Identität immer mit einem möglichst präzisen Zeit-, Orts- und Quellenindex20 zu versehen ist, wenn sie helfen soll, die Lebendigkeit und Prozesshaftigkeit ihres Forschungsobjekts genauer zu beschreiben. 2. Identität und Alterität Neben der Undurchsichtigkeit des historischen Befundes ist bei der Frage nach frühchristlicher Identität auch die heuristische Leistungsfähigkeit des Begriffs „Identität“ selbst zu bedenken. In einem gewichtigen und detailreichen Beitrag zeigt sich Christian Strecker „erstaunt, mit welcher Ungebrochenheit in der jüngsten ntl. Forschung verstärkt über ‚Identität‘ debattiert wird“21 und notiert die Präsenz „einer mehr oder weniger informellen Identitätsanalyse … auf allen Untersuchungsfeldern der ntl. Wissenschaft.“22 Nachdrücklich ruft Strecker das analytische Potential wie auch die Komplexität der vielfältigen außertheologischen Identitätsdiskurse in Erinnerung, indem er in fünf Etappen die Rolle von Identität in formaler Logik 19
So T. Nicklas, „Parting of the Ways? Probleme eines Konzepts“, in: Juden – Heiden – Christen? Religiöse Inklusionen und Exklusionen im Römischen Kleinasien bis Decius (Hg. S. Alkier/H. Leppin; WUNT; Tübingen: Mohr Siebeck), im Druck, und knapper Ders., „Juden und Christen? Sollen wir weiter von den Wegen sprechen, die sich trennten?“, ZNT 37 (2016), 53–57. 20 Die zugehörige Leitfrage lautet: Für welchen Ort und für welche Zeit wird im Spiegel welcher Quellen welche frühchristliche Identität (re)konstruiert? 21 Strecker, „Identität“ (s. Anm. 1), 115. 22 Ebd., 149.
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und Ontologie, die Debatten um individuell diachrone, interaktiv personale, soziale und – in vorliegendem Zusammenhang besonders wichtig – kollektive Identität abschreitet,23 um zusammenfassend festzustellen: „Alles in allem umfasst der Begriff heute eine verwirrende Vielfalt heterogener, ja konträrer Bedeutungsinhalte und Konnotate: Ganzheit und Fragmentarität, Gleichheit und Differenz, Stabilität und Wandel, Singularität und Multiplizität, Essenz und Konstruktion. Er wird deskriptiv und normativ verwendet, begegnet als Selbst- und Fremdbeschreibung, als wissenschaftlich-analytische Kategorie, politischer Kampfbegriff und Allerweltswort, er wird auf konkrete Individuen und Gruppen, aber auch auf abstrakte Entitäten und Strukturen (Volk, Nation, etc.) appliziert, er wird mit direkter Interaktion oder pauschaler Kategorisierung korreliert u.v.a.m. Zweifel an der Tauglichkeit des Begriffs liegen da auf der Hand.“
Nach einer Durchsicht aktueller neutestamentlicher Beiträge, die Analysen zum Thema „Identität“ verpflichtet sind,24 geht Strecker noch einen Schritt weiter und fragt an, „ob die allenthalben in der ntl. Forschung begegnende Fokussierung auf das Thema Identität nicht vielleicht in eine falsche Richtung führt und in gewisser Weise sogar theologisch verfehlt ist.“25 Sowohl im Hinblick auf das frühe Christentum als solches als auch konkret in Bezug auf Paulus und Jesus seien historisch wie theologisch relevante Propria weniger in der Betonung und Etablierung einer bestimmten (kollektiven oder individuellen) Identität, als „gerade im Verschwimmen der klaren Identitätskonturen“26, einer „Identitätserosion“27 und der kritischen Anfrage an „fixe Identitätspostulate und -profile“28 zu finden. In ihrer Betonung der Dynamik und Pluriformität frühchristlicher Formierungsprozesse trifft sich diese eindrückliche Mahnung zu einer vorsichtigen Verwendung 23
Vgl. ebd., 115–142. Vgl. ebd., 142–158. 25 Ebd., 159 (Hervorhebung W.G.). 26 Ebd., 163. 27 Ebd., 165. 28 Ebd., 167. 24
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des Identitätsbegriffs im Rahmen neutestamentlicher Forschung mit dem oben vorgestellten Modell der party of the ways. Beiden Ansätzen gemeinsam ist einerseits die heuristisch wie hermeneutisch bedeutsame Aufmerksamkeit für die Tauglichkeit und Grenzen der jeweils verwendeten Denkmodelle und andererseits das Anliegen, Identität immer im Horizont ihrer Auflösung, ihrer Infektion durch das Andere, und Grenzen immer im Horizont ihrer Perforierung zu bedenken. 3. Zur Fragestellung Auf diesem doppelten Hintergrund versucht der vorliegende Beitrag nun weder, ein neues Konzept von „Identität“ zu entwickeln, das, kultur- und sozialwissenschaftlich fundiert sowie historisch und theologisch verantwortet, in der Lage wäre, die Beschreibung der komplexen Entwicklung des frühen Christentums zu unterstützen und entscheidend zu bereichern, noch mit einem neuen Modell das Zu- und Miteinander der Transformationsprozesse in frühem Christentum und zeitgenössischem Judentum umfassend darzustellen. Seine Ziele sind wesentlich bescheidender. Angesichts der im Vorausgegangenen deutlich gewordenen Bedeutung von Differenzen und Grenzziehungen für Konstruktion und Beschreibung von Identität soll an zwei Beispielen aus der frühchristlichen Literatur Form und Funktion solcher Grenzziehungen dargestellt und insbesondere nach markanten „Lücken“ in diesen Trennlinien gefragt werden.
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II. Grenzziehungen und ihre Grenzen 1. Der Judasbrief Sicherlich lässt sich dem um die Wende zum zweiten Jahrhundert an einem nicht mehr näher bestimmbaren Ort als pseudepigraphes Schreiben verfassten Judasbrief29 nicht vorwerfen, er geize mit scharfen Grenzziehungen. Überdeutlich stellt der kurze Text den als ἀγαπητοί angeredeten Adressatinnen und Adressaten jene Anderen gegenüber, deren Wirken als ἐμπαῖκται nicht nur „durch die Apostel unseres Herrn Jesus Christus“ (Jud 19) vorhergesagt, sondern in seinen unheilvollen Konsequenzen bereits von „Henoch, dem Siebten nach Adam“ (Jud 14f.) prophezeit wurde. Besonders markant ist die mit wiederholtem οὗτοι (Jud 8.10.12.16.19) durchgeführte Identifizierung der Anderen mit unheilvollen Gestalten der Geschichte Israels: Sie sind der Wüstengeneration, den Wächterengeln und den Bewohnerinnen und Bewohnern von Sodom und Gomorra (nebst deren Nachbarstädten) vergleichbar (vgl. Jud 5–7), sie folgen in ihrem Verhalten Kain, Bileam und Korach (vgl. Jud 11). Gegenüber dieser bedrohlichen, jedoch in eschatologischer Perspektive bereits dem sicheren Untergang anheimgegebenen Front kann sich der als „Judas, Knecht Jesu Christi und Bruder des Jakobus“ (Jud 1) eingeführte implizite Verfasser auch mit den Adressatinnen und Adressaten in einem „Wir“ zusammenschließen; so etwa im wiederholten Verweis auf „unseren Herrn Jesus Christus“ (Jud 4.17.21.25). Diese mit heilsgeschichtlichen und schrifthermeneutischen Mitteln durchgeführte Abgrenzung wird noch ergänzt durch eine räumliche Differenzierung – die Anderen kommen von außen und haben sich heimlich „eingeschlichen“ (Jud 4), um die Gemeinschaft der Adressatinnen und Adressaten zu korrumpieren 29
Zu den Einleitungsfragen vgl. nun umfassend J. Frey, Der Brief des Judas und der zweite Brief des Petrus (HThK 15/II; Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2015), 2–47.
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– sowie eine anthropologische Unterscheidung – die Anderen sind ψυχικοί, die das Pneuma nicht besitzen (Jud 19). Wenngleich somit die Trennlinie zwischen „ihnen“ und „euch/uns“ vom Verfasser des Judasbriefes mit einiger stilistischer Kunstfertigkeit massiv und mehrfach gezogen wird, so weist sie dennoch äußerst spannende Durchbrechungen auf. Besonders auffallend ist die in Jud 12 gemachte Bemerkung, die Anderen würden an den Agapen der adressierten Gemeinschaft teilnehmen. Die Knappheit der Formulierung bietet nur spärliche Informationen und gebietet überdies zu interpretatorischer Vorsicht, um nicht in den Text einzutragen, was sich dort nicht findet. Dennoch lassen sich drei Erkenntnisse mit einiger Sicherheit festhalten: Zunächst macht das Verb συνευωχεῖσθαι deutlich, dass den in Jud 12 anvisierten Gemeinschaftsmählern mindestens auch der Charakter von Sättigungsmählern zukommt. Nichts spricht gegen eine Verbindung mit einem eucharistischen Mahl (vgl. die Verwendung von ἀγάπη in IgnSm 8,2) und/oder einem „wortorientierten Teil mit Schriftauslegung und Lehre“30, doch ist beides – wie auch eine bestimmte Regelmäßigkeit (z.B. im Wochenrhythmus) dieser Mähler – nicht mit Sicherheit aus Jud 12 zu entnehmen. Da zweitens der Verfasser des Jud nicht in erster Linie ein bestimmtes Verhalten der Anderen, sondern deren Präsenz bzw. ihre aktive Teilnahme an den Mählern kritisiert, dürfte kein spezifischer Konflikt um Mahlpraxis oder -verständnis im Hintergrund liegen.31 Vielmehr ist drittens entscheidend, dass die Anderen – „für sie wohl selbstverständlich“32 – an jenen Agapen
30
Frey, Brief des Judas (s. Anm. 29), 93. Vgl. ebd., 94. Deshalb erscheint es mir auch schwierig, mit H.J. Stein, Frühchristliche Mahlfeiern. Ihre Gestalt und Bedeutung nach der neutestamentlichen Briefliteratur und der Johannesoffenbarung (WUNT II/255; Tübingen: Mohr Siebeck, 2008), 229, zu urteilen, in Jud 12 werde „Klartext geredet und den Gegnern ein als problematisch empfundenes Verhalten vorgeworfen“. 32 Frey, Brief des Judas (s. Anm. 29), 92. 31
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partizipieren, in denen Zusammengehörigkeit und Zusammenhalt der adressierten Gemeinschaft in besonders eindrücklicher Weise zum Ausdruck kommen. Mit den Worten von Jörg Frey: „Historisch ist aus dieser Notiz erkennbar, dass offenbar noch keine Trennung erfolgt ist zwischen den von Jesus Christus bewahrten (V. 1) Adressaten und den Gegnern. Vielmehr scheint der Autor mit seinem Schreiben eine solche Trennung erst herbeiführen zu wollen, wenn er die Adressaten zum kämpferischen Einsatz für den Glauben ermahnt.“33
Damit offenbart sich die Polemik des Jud an diesem Punkt besonders deutlich als performativer Kommunikationsvorgang: Eine Trennung, die realiter noch nicht besteht – auch und besonders nicht im Rahmen der für das Gemeinschaftsleben konstitutiven Mähler –, wird mit schrifthermeneutischen Mitteln als immer schon bestehende ausgewiesen, damit sie tatsächlich im sozialen Kontext der Adressierten Gestalt annimmt. Versucht der Verfasser des Judasbriefes eine theologische Differenz, die zwischen ihm und den Anderen besteht, als Trennung innerhalb der sozialen Welt der Adressaten zu realisieren, so muss er dabei in Rechnung stellen, dass sich diese Differenzierung möglicherweise nicht so trennscharf vollziehen lässt, wie angesichts der beschworenen fixierten heilsgeschichtlichen Identitäten (hier die Geliebten, dort die zum Gericht vorherbestimmten Anderen) zu vermuten wäre. Der mit einer Vielzahl textkritischer und interpretatorischer Probleme behaftete paränetische Schlussabschnitt Jud 20–23 lässt vielmehr erkennen, dass der Verfasser von einem mehrfachen Seiten- oder Identitätswechsel ausgeht: 33
Ebd., 92f. Mit G. van Oyen „Is there a Heresy that Necessitated Jude’s Letter?“, in: Empsychoi Logoi. Religious Innovations in Antiquity. FS P.W. van der Horst (Hg. A. Houtman u.a.; Leiden: Brill, 2008), 211–226, hier 221, wird man die Möglichkeit nicht ausschließen wollen, „that the division is for a large part artificially and rhetorically exaggerated by the author of Jude“ (mit Skizze).
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„Ihr aber Geliebte, indem ihr euch auf euren allerheiligsten Glauben aufbaut [und] im Heiligen Geist betet, bewahrt euch selbst in der Liebe (ἀγάπη) Gottes und erwartet so das Erbarmen unseres Herrn Jesus Christus zum ewigen Leben. Und die einen reißt aus dem Feuer, mit denjenigen, aber die widerstreiten (διακρινόμενοι), habt Mitleid in Furcht, wenngleich ihr auch das vom Fleisch beschmutzte Gewand verabscheut.“34
Die Bemühungen, zu denen der Verfasser die Adressaten hier auffordert, kennen offenbar zwei unterschiedliche Zielgruppen, die beide die Grenze zwischen Heil und Unheil überschreiten. Eine erste Gruppe besteht aus denjenigen, die, obwohl bereits dem Gericht verfallen, noch zur Umkehr gebracht und damit „um Haaresbreite dem Gerichtsfeuer entrissen werden“35 können.36 Eine zweite Gruppe, vom Verfasser als διακρινόμενοι bezeichnet, ist wohl sowohl von den Anderen, gegen die sich die Polemik des Judasbriefes richtet, wie auch den Adressaten zu unterscheiden.37 Aus der Perspektive des Verfassers sind sie Opfer des unheilvollen Wirkens der Anderen und nicht mehr zur Umkehr bereit – sie haben definitiv die Seiten gewechselt. Den Adressaten wird ihnen gegenüber ein Verhalten angeraten, das zwar in Erbarmen gründet, jedoch von Furcht und Segregation bestimmt ist.38 Um es 34
Die Übersetzung ist entnommen aus Frey, Brief des Judas (s. Anm. 29), 119; zur schwierigen Textrekonstruktion vgl. ebd., 119–121. 35 Frey, Brief des Judas (s. Anm. 29), 127. 36 Nach R. Bauckham, Jude, 2 Peter (WBC; Waco, TX: Word, 1983), 115, „[i]t is not out of the question that some of the false teachers themselves could be among the first group, the repentant.“ 37 Wiederum erwägt Bauckham, Jude (s. Anm. 36), 115, eine Überschneidung der Gruppen: „The people in question will be either the false teachers themselves or disciples of theirs.“ Anders Frey, Brief des Judas (s. Anm. 29), 129: „Es sind also nicht die Irrlehrer selbst, aber doch solche, die der Lehre der Gegner folgen.“ 38 Der Umstand, dass sich die in Jud 22f. verwendete Bildsprache sowohl hinsichtlich der ersten wie der zweiten Gruppe vermutlich Sach 3,1–5 (vgl. dazu Jud 9) verdankt, wo beides – das Gerettetwerden aus dem Feuer wie auch die schmutzigen Kleider – vom Hohepriester Josua ausgesagt werden, könnte ein Indiz dafür sein, dass aus der Perspektive des Jud auch für die zweite Gruppe noch eine Rettungsmöglichkeit besteht (so Bauckham, Jude [s. Anm. 36], 117:
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paradox zu formulieren: Die Adressaten, in Jud 1 als ἐν θεῷ πατρὶ ἠγαπημένοι bezeichnet, sollen sich nicht zuletzt dadurch ἐν ἀγαπῃ θεοῦ bewahren (Jud 21), dass sie die Anderen von den Agapen ausschließen. Zugleich wird diese Identitätskonstruktion durch die gemeindliche Realität, die sie verändern will, selbst affiziert, sodass letztlich die strikte Grenze, die der Verfasser aufrichtet, von ihm selbst als durchlässig beschrieben wird. 2. Justin der Märtyrer Wie der Judasbrief ist auch Justins Dialog mit Trypho39 (zusammen mit seiner Apologie „derzeit als Markstein des beginnenden christlichen Identitätsdiskurses viel diskutiert“40) ein Text, der klare Grenzen zieht. In seinem Dialog grenzt sich Justin nicht nur gegenüber anderen christlichen Gruppierungen,41 sondern vor allem und zuerst „Joshua’s ‚filthy garments‘ were removed and replaced by clean ones, as a symbol of God’s forgiveness [3:4–5]. Similarily, if Jude’s opponents will abandon their sin and all that is associated with it, forgiveness is available for them.“) 39 Als Textgrundlage dient im Folgenden die ausgezeichnete Edition von P. Bobichon, Justin Martyr. Dialogue avec Tryphon (Par. 47/1–2; Fribourg: Département de Patristique et d’Histoire de l’Eglise de l’Université de Fribourg/Academic Press Fribourg, 2003). Justin ist „der erste christliche Autor, der sich nachweislich auf die klassische Dialogtradition bezieht und sie für die christliche Verkündigung adaptiert“ (K. Heyden, „Christliche Transformationen des antiken Dialogs bei Justin und Minucius Felix“, ZAC 13 [2009], 204–232, hier 210 [vgl. ebd., 216f.]) 40 A. Standhartinger, „Mahl und christliche Identität bei Justin“, in: Mahl und religiöse Identität im frühen Christentum (Hg. T. Haussig/M. Klinghardt; TANZ 56; Tübingen: Francke, 2012), 279–305, hier 280. 41 Justin unterscheidet dabei nochmals zwischen solchen christlichen Gruppierungen, die sich zwar in ihren theologischen Auffassungen (etwa zur Eschatologie [vgl. Dial. 80,2] oder dem Gesetz [vgl. Dial. 47]) markant von ihm (und seiner Gruppe) unterscheiden, von ihm jedoch als im Wesentlichen „rechtgläubig“ angesehen werden und solchen Gruppierungen, die sich zwar offenbar selbst als Christen verstehen, dies aber in seinen Augen nicht (mehr) sind (vgl. z.B. Dial. 35; 80,3f.). Im Hinblick auf letztere Gruppierungen verwendet Justin wiederholt den Terminus αἵρεσις mit betont negativer Konnotierung, so
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gegenüber dem Judentum ab. Als Mittel dieser Differenzkonstruktion verwendet Justin42 nicht nur intensiv den Begriff „Christ/en“43 sowie gehäuft die betonte Opposition der Personalpronomina („wir“ und „ihr“),44 sondern vor allem den Rekurs auf die Schriften Israels. Dabei treibt er eine Enteignungshermeneutik – nicht die Juden, sondern die Christen sind die (eigentlichen) Adressaten der Schriften Israels; nicht die Juden, sondern (nur) die Christen sind diejenigen, die diese Schriften in der rechten Weise verstehen; ja, es sind nicht mehr „eure, sondern unsere“ (Dial. 29,2) Schriften –, die auch in anderen frühchristlichen Texten, wie etwa dem Barnabasbrief (vgl. z.B. Barn 4,6; 14,4), begegnet, auf die Spitze: „Justin pulls out all stops to demonstrate that Christian faith is entirely proved and substantiated by scripture, and that Jews are at fault in
dass man ihn mit der „Erfindung der Häresie“ in Zusammenhang gebracht hat, vgl. etwa A. Le Boulluec, La notion d’hérésie dans la littérature grecque 1. De Justin à Irénée (Paris: Études Augustiniennes, 1985), 36f., 110. Kritisch dazu nun z.B. E. Irincinschi/H.M. Zellentin, „Making Selves and Marking Others. Identity and Late Antique Heresiologies“, in: Heresy and Identity in Late Antiquity (Hg. iid.; TSAJ 119; Tübingen: Mohr Siebeck, 2008), 1–27, hier 7–9, und G.S. Smith, Guilt by Association. Heresy Catalogues in Early Christianity (Oxford u.a.: Oxford University Press, 2015), 59–61, der Justin auch die Autorschaft des in 1 Apol. 26 erwähnten Syntagmas gegen alle Häresien absprechen möchte. 42 Mit zu bedenken ist bei den folgenden Ausführungen stets, dass „Justin“ als die Hauptfigur des Dialogs nicht einfachhin mit dem christlichen Theologen Justin von Rom, „un personnage assez mystérieux“ (Bobichon, Dialogue 1 [s. Anm. 39], 1) identifiziert werden kann, sondern vielmehr eine literarische Schöpfung des letzteren ist – und zwar auch dann, wenn hinter dem Dialog das Echo einer „realen“ Debatte stehen sollte. 43 Vgl. T.L. Donaldson, „‚We Gentiles‘. Ethnicity and Identity in Justin Martyr“, Early Christianity 2 (2013), 216–241, hier 219 mit Anm. 7, der 23 Vorkommen von Χριστιανός im Dial. und 35 in 1-2 Apol. zählt, sowie die Übersicht bei Bobichon, Dialogue 1 (s. Anm. 39), 73–108. 44 Beide Oppositionen können auch kombiniert werden – so etwa in der Rede von „uns, den Christen“ (vgl. Dial. 78,10; 110,2; 2 Apol. 13).
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failing to recognize that (Jesus) Christ was the one for whom the scriptures were looking.“45
Wie jüngst Terence L. Donaldson detailreich gezeigt hat, trägt Justin die Emphase seiner eigenen nicht-jüdischen Identität (vgl. Dial. 28,2; 64,1; 92,4; 120,6; 121,1) dergestalt in den Lektüreprozess ein, dass er den soteriologischen Dualismus zwischen Israel und den Völkern (τὰ ἔθνη) umkehren und auch die schärfsten Urteile über die Völker als letztlich positive Aussagen über die Christen deuten kann.46 Schließlich ist Justins Zugriff auf die Schriften Israels nicht „bloß“ ein hermeneutischer Übernahmeversuch, sondern auch ein Streit um die korrekte Textform: Indem er die Bedeutung der Septuaginta beschwört (vgl. Dial. 43,8; 67,1; 71,3 und 84,1–4 hinsichtlich Jes 7,14) und unterstellt, jüdische Autoritäten („eure Lehrer“) würden die biblische Textüberlieferung gezielt korrumpieren (vgl. z.B. Dial. 71–73), stellt er Differenz nicht nur auf der Ebene der Auslegung, sondern auch auf der Ebene der Texte selbst her. Trotz dieser entschiedenen – und gerade in ihren heilsgeschichtlichen und bibelhermeneutischen Argumenten unheilvollen47 – Konstruktion einer Opposition zwischen Judentum und Christentum erscheint letzteres bei Justin keineswegs als monolithische Größe. Er benennt nicht nur, wie oben bereits erwähnt, christliche Gruppierungen, denen er das Christsein rundweg abspricht, sondern auch solche, die sich zwar in der Art, nicht aber in der Qualität ihres Christseins von Justin und den Seinen unterscheiden. 45
Dunn, Jew (s. Anm. 17), 562f. Ein markantes Beispiel ist die Wendung Ps 95,5 LXX („die Götter τῶν ἐθνῶν sind Dämonen“), wobei in Dial. 83,4 Justins christologische Lektüre „provides him with justification for giving the negative reference a positive twist: the Gentiles, who used to worship demons, are now believing in Christ“ (Donaldson, „Gentiles“ [s. Anm. 43], 230). 47 Nicht zu Unrecht nennt U. Winkler, „Erwählungskonkurrenz zwischen Juden und Christen“, SaThZ 12 (2008), 116–149, hier 131, Justins Dial. das „Urbuch der Adversus-Judaeos-Theologie“. 46
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In einer berühmten Passage (Dial. 47), die für die Erforschung der mit dem nicht unproblematischen Terminus „Judenchristentum“ belegten Entwicklungslinie des frühen Christentums von Bedeutung ist, differenziert Justin mehrere „christliche“ Gruppen hinsichtlich ihres Umgangs mit dem Gesetz.48 Justin nimmt hier eine dreifache Grenzziehung vor: Erstens gegenüber denjenigen, die sich nicht (mehr) zu Christus bekennen. Dies liegt auf der Hauptlinie des Dial. (vgl. sein programmatisches Ende in Dial. 142,2f.), zielt hier aber auf Nicht-Juden, die sich über den „Umweg“ des Christentums dem Judentum angenähert haben (Dial. 47,1). Zweitens gegenüber denjenigen Christen, die von anderen Christen das Halten des Gesetzes einfordern (Dial. 47,1.3) und drittens gegenüber solchen Christen, die gesetzesobservante Christen meiden (Dial. 47,2). Die etwas unübersichtliche Vielfalt der Positionen und ihrer Zusammenordnungen darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es für Justin hier nur ein entscheidendes Differenzkriterium gibt, nämlich das rechte Christusbekenntnis; die Frage der Gesetzesobservanz (in welcher Form auch immer) ist diesem gegenüber irrelevant. Die soeben genannten drei Positionen sind für Justin deshalb defizient, weil sie das Christusbekenntnis ausschließen (erste Position) bzw. die durch das Christusbekenntnis begründete Gemeinschaft durch ihre grundsätzliche Forderung nach (zweite Position) bzw. grundsätzliche Ablehnung von (dritte Position) Gesetzesobservanz durchbrechen. Auch wenn Justins Zugeständnis, dass es neben seiner eigenen noch weitere „orthodoxe“ theologische Positionen zum Umgang mit dem Gesetz gäbe und er eine radikale Haltung, die die Gemeinschaft mit gesetzesobservanten Christen aufkündigt, zurückweist, wäre es verfehlt, hier
48
Justin denkt konkret an rituelle Vorschriften wie „Beschneidung, Halten des Sabbat (σαββατίζειν) oder dergleichen“ (Dial. 47,2).
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von einer toleranten Haltung oder einer besonderen „Milde“49 Justins zu sprechen: Justin macht hier keine Konzession, sondern bewegt sich nur innerhalb des von seiner unbedingten Grenzziehung geschaffenen Spielraumes. Gleichermaßen ist es auch nicht angezeigt, hinter auffälligen Leerstellen in Justins Auseinandersetzung mit dem Judentum so etwas wie ein bewusstes Entgegenkommen, einen Verzicht auf besonders drastische Vorwürfe zu erkennen. Anlass für eine solche Vermutung bietet der Umstand, dass einige neutestamentliche Textstellen, die eine besonders unheilvolle antijüdische Auslegungsgeschichte aufweisen und bereits früh in diesem Sinne ge- und missbraucht wurden, wie der sogenannte Blutruf in Mt 27,25 oder die Behauptung der Teufelskindschaft in Joh 8,44, unter den zahlreichen Verweisen auf Schrifttexte und Herrenworte bei Justin fehlen.50 Doch zeigt ein genauer Blick auf Justins Argumentationsstrategien, dass hinter diesem Fehlen besonders markanter neutestamentlicher Traditionsbausteine weniger ein Entgegenkommen gegenüber seinem Gesprächspartner, sondern vielmehr ein besonders präzises Design seiner Polemik zu vermuten ist. Um dies kurz an einem Beispiel zu verdeutlichen, mögen einige knappe Anmerkungen zum Fehlen von Mt 27,25 bei Justin genügen.51
49
So z.B. F. Böhringer, Die Alte Kirche 1. Das erste und zweite Jahrhundert (Stuttgart: Meyer & Zeller, 21873), 173. 50 Eine hilfreiche Orientierung zu Justins Schriftgebrauch und -kenntnis bietet O. Skarsaune, „Justin and His Bible“, in: Justin Martyr and His Worlds (Hg. S. Parvis/P. Foster; Minneapolis, Ind.: Fortress, 2007), 53– 76. 51 Wesentlich ausführlicher dargestellt und begründet habe ich die nachfolgenden Beobachtungen (ergänzt um eine Analyse hinsichtlich des Fehlens von Joh 8,44 bei Justin) in W. Grünstäudl, „Blutruf und Teufelskindschaft. Beobachtungen zur (Nicht)Rezeption später neutestamentlicher Texte in Justins Dialog mit Trypho“, in: The Use of ‚New Testament‘ Writings in Ancient Christian Anti-Jewish Polemics (Hg. H. Amirav/R. Roukema; NTOA; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht), im Druck.
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Zuerst ist festzuhalten, dass der Untergang Jerusalems in der Folge der Bar Kochba Revolte den narrativen Hintergrund des Dialogs bildet (vgl. besonders Dial. 1,3; 9,2). Justin verweist des Öfteren auf dieses Ereignis (Dial. 16,2–4; 52,4; 108,3) und sieht in ihm den sinnfälligen Beweis, dass sich Gott vom Judentum abgewandt und es „mit Recht“ (ἐν δίκῃ, Dial. 16,2) drastisch bestraft habe. In Texten wie Dtn 31,16; 32,43 und Jes 1,7f.15; 50,3; 64,10f. sieht er dieses Unheil vorausgesagt, wobei ihm wiederum die geschichtliche Erfüllung der Schrift als nachdrückliche Bewahrheitung ihres Offenbarungsanspruchs gilt. Es kann überraschen, dass diese schrifthermeneutische Begründung und Ausdeutung der Katastrophe des zweiten jüdischen Krieges nicht durch einen Verweis auf den im Matthäusevangelium berichteten Ausruf der bei der Passion Jesu versammelten Menge (πᾶς ὁ λαός) „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ (Mt 27,25) flankiert wird. In gewisser Weise hätte sich diese dramatische Äußerung nur allzu gut in das von Justin entworfene Szenario einer zu Recht über das Volk Israel verhängten Strafmaßnahme eingefügt – von den vielfältigen antijüdischen Applikationen dieses Textes in der weiteren Auslegungsgeschichte ganz zu schweigen.52 Das gilt umso mehr, als Justin unzweifelhaft εὐαγγέλια – er spricht meist von den ἀπομνημονεύματα τῶν ἀποστόλων – als schriftliche Texte (die sogar Trypho gelesen hat: Dial. 10,2; vgl. 18,1) kennt und er in umfangreichem Maße insbesondere Herrenworte aufgreift, die sich auch im 52
Vgl. z.B. R. Kampling, Das Blut Christi und die Juden. Mt 27,25 bei den lateinischsprachigen christlichen Autoren bis zu Leo dem Großen (NTA.NF 16; Münster: Aschaffenburg, 1984), und U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus. 4. Teilband. Mt 26–28 (EKK I/4; Zürich/Düsseldorf/Neukirchen-Vluyn: Benziger/Neukirchener, 2002), 285–288, sowie den Versuch einer relecture bei T. Nicklas, „Versöhnung! Ein Versuch zum Blutruf des Volkes (Mt 25,27) im Matthäusevangelium“, in: Im Angesicht des Anderen. Gespräche zwischen christlicher Theologie und jüdischem Denken. FS J. Wohlmuth (Hg. F. Bruckmann/R. Dausner; Studien zu Judentum und Christentum 25; Paderborn: Schöningh, 2013), 281–292.
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Matthäusevangelium finden. Nach dem Urteil von WolfDietrich Köhlers wichtiger Studie zur frühen Rezeption des Matthäusevangeliums kann man sogar vom Matthäusevangelium als dem für Justin „wichtigsten Evangelium“53 sprechen. Bereits Edouard Massaux konnte zeigen, dass Justin dabei das Matthäusevangelium nicht nur als Medium der Herrenworttradition verwendet – gewissermaßen als „Container“ der Sprüche Jesu – sondern darüber hinaus auch auf redaktionelle Elemente des Erzählzusammenhangs rekurriert, so etwa in Dial. 49,5, wo die Notiz aus Mt 17,13, die Jünger hätten Jesu Wort zur Wiederkunft des Elia auf Johannes den Täufer gedeutet, explizit mit einem γέγραπται markiert wird.54 Ohne die komplexe Diskussion zu möglichen Logiensammlungen, Evangelienharmonien und Traditionsverbindungen hinter Justins Texten hier aufgreifen zu können,55 kann somit festgehalten werden, dass für Justin eine direkte oder indirekte Bekanntschaft mit dem Matthäusevangelium als Text anzunehmen ist. Obschon es methodologisch äußerst schwierig ist, belastbare Gründe für eine Nicht-Rezeption eines bestimmten Textes bei einem antiken Autor zu benennen, muss deshalb die Frage gestellt werden, welche möglichen Ursachen hinter dem Fehlen von Mt 27,25 plausibel vermutet werden können. Eine schlichte Unkenntnis dieses Textes ist selbstverständlich möglich, erscheint aber auf dem Hintergrund der bereits notierten Nähe Justins zum Matthäusevangelium einigermaßen unwahrscheinlich. Hingegen kommt der 53
W.-D. Köhler, Die Rezeption des Matthäusevangeliums in der Zeit vor Irenäus (WUNT II/24; Tübingen: Mohr Siebeck, 1987), 264. 54 Vgl. E. Massaux, Influence de l’Évangile de Saint Matthieu sur la littérature chrétienne avant Saint Irénée (Dissertationes II/42; Leuven/ Gembloux: Publications Universitaires/Duculot, 1950), 520. 55 Vgl. kürzlich z.B. J.F. Stanley, „The Distinctive Sayings of Jesus Shared by Justin and the Pseudo-Clementines“, in: Forbidden Texts on the Western Frontier. The Christian Apocrypha from North American Perspectives. Proceedings from the 2013 York University Christian Apocrypha Symposium (Hg. T. Burke; Eugene, Or.: Cascade Books, 2015), 200–217.
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Umstand, dass der Ausspruch aus Mt 27,25 kein Herrenwort darstellt, als zwingendes Ausschlusskriterium deshalb nicht in Betracht, weil Justin durchaus auch anderen Evangelienstoff zitiert (vgl. oben zu Mt 17,13 in Dial. 49,5, aber auch Mt 27,40–43parr in Dial. 101,3). Eine weitere Vermutung kann bei der Beobachtung ansetzen, dass die von Justin eingespielten neutestamentlichen Texte grundsätzlich nicht den Ausgangspunkt einer theologischen Reflexion bilden, sondern nur im Zusammenhang mit alttestamentlichen Textbausteinen eingeflochten werden. Deshalb könnte man erwägen, Justin habe eine entsprechende alttestamentliche Tradition, an die Mt 27,25 angeknüpft hätte werden können, nicht zur Verfügung gestanden. Doch wird man hier zumindest an die oben erwähnten Referenzen (in Dial. 27,2 überdies mit dem Stichwort „Blut“) erinnern müssen, die auch diesen Erklärungsversuch unwahrscheinlich erscheinen lassen. Der Blick auf diese Rezeption der Schriften Israels führt schließlich zu einer vierten und letzten Option, die vielleicht eine plausible Deutungsalternative darstellt: Wenn das fatale Ende der Bar Kochba Revolte nebst dem Untergang Jerusalems mit allem Nachdruck als unentrinnbares, von alters her prophezeites Geschick gezeichnet wird (vgl. z.B. die Betonung des Vorherwissens Gottes in Dial. 16,3), dann würde ein Text, der als gewissermaßen freiwillige, der jüngeren Vergangenheit entstammende Herbeiführung dieses Geschicks verstanden werden könnte, diese unheilvolle Geschichtshermeneutik irritieren. Hat also Justin auf die Rezeption von Mt 27,25 deshalb verzichtet, weil dieser Text seine schriftbasierte Geschichtskonstruktion nicht verstärkt, sondern im Gegenteil gestört hätte? Wir wissen es nicht; doch die Frage nach dem Fehlen eines sich scheinbar gut in Justins Polemik einfügenden Textes wie Mt 27,25 und die Überprüfung möglicher Antworthypothesen hierzu macht eindrücklich die durchdachte Argumentationsarchitektur von Justins Dialog56 sichtbar. Weder die mäandernde Struktur des Dialogs noch 56
Vgl. hierzu Heyden, Transformationen (s. Anm. 39), 210–217.
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die Schärfe der in ihm entwickelten Polemik dürfen dazu verführen, Justin Planlosigkeit oder mangelndes argumentatives Geschick zu unterstellen. III. Zusammenfassung und Ausblick Beide hier vorgestellten Texte, der Judasbrief wie auch Justins Dialog, zeigen ein großes Interesse an der Grenzziehung zwischen „eigenen“ und „fremden“ Positionen, an der Betonung einer in bestimmter Hinsicht christologisch begründeten Identität gegenüber alternativen theologischen Entwürfen. Historisch interessant ist dabei, wie sehr bei genauerer Betrachtung nicht nur das Artifizielle, die Konstruiertheit dieser Grenzziehungen deutlich wird, sondern auch jene Stellen zum Vorschein kommen, an denen diese Grenzen durchbrochen und unterlaufen werden und mehr an Gemeinsamkeiten sichtbar werden, als es der Intention der jeweiligen Verfasser entspricht: Identitätskonstruktion und „Identitätserosion“ (Strecker) erscheinen als zwei Seiten einer Medaille und die party of the ways (vgl. Nicklas) vollzieht sich auf dem schwankenden Boden des Streits um die Geschichte Gottes mit seinem Volk sowie den Platz der Völker in ihr. So faszinierend diese historischen Beobachtungen auch sein mögen, so sehr muss auch nach dem theologischen Ertrag eines Blickes auf diese frühchristlichen Texte gefragt werden. Übersehen werden sollte dabei zuallererst nicht, dass schon einer „rein“ historischen Annäherung, die sine ira et studio nach dem Verstehen der Quellen sucht, ein genuin theologischer Wert zukommt, nämlich der, vorschnelle und nicht ausreichend reflektierter Vereinnahmungen und Identifikationen zu enttarnen und aufzubrechen. Wenn etwa Anette Rudolph Justin als „Mann des Dialogs“57 lobt und meint, „die theologische 57
A. Rudolph, „Denn wir sind jenes Volk…“. Die neue Gottesverehrung in Justins Dialog mit dem Juden Tryphon in historisch-theologischer Sicht (Hereditas 15; Bonn: Borengässer, 1999), 6.
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Konzeption Justins … [könne] von größter Tragweite für einen fruchtbaren jüdisch-christlichen Dialog sein“58, so fehlt hier genau jene habituelle Distanzierung, die für ein adäquates Verhältnis der Historikerin zu ihrer Quelle unentbehrlich ist. Wenn andererseits David Rokéah aus jüdischer Perspektive betont, Justin könne aufgrund seines Supersessionismus gerade keinen Platz in einem auf Verständnis und Verständigung angelegten jüdisch-christlichen Dialog beanspruchen,59 dann ist damit der unverzichtbare und unersetzbare Einspruch jener Anderen, über die bei Justin literarisch und theologisch bestimmt wird, zu Recht deutlich zu vernehmen. Doch eine wirklich theologisch fundierte Auseinandersetzung mit Justins Erbe kann nicht in eine damnatio memoriae münden sondern muss darüber hinausgehend diese Texte im Angesicht der Anderen als problematischen Teil der eigenen Geschichte lesen. Obwohl seine Stellung im Kanon des Neuen Testaments den Judasbrief aus der Perspektive gegenwärtiger Theologie fundamental von Justins Dialog unterscheidet, so stellen sich bei seiner Lektüre doch ähnliche Herausforderungen ein. Auch hier wird die historische Analyse jede Parteinahme kritisch anfragen – nicht zuletzt dann, wenn sie sich in seit langem geprägten Termini der Fachsprache 58
Rudolph, Volk (s. Anm. 57), 273. Diese theologische Konzeption wird dabei ebd. wie folgt beschrieben: „Der jüdische Partikularismus, der dem widerspricht und in Beschneidung und Gesetzesfrömmigkeit seinen sinnenfälligen Ausdruck findet, wird von Justin in aller Deutlichkeit herausgestellt: Ursprünglich von Gott gegeben als Heilmittel gegen Hartherzigkeit und Götzendienst, wurden diese pädagogischen Maßnahmen Gottes mißbraucht zu Abgrenzung und Ausgrenzung der Völker. Die universale Mission des erwählten Volkes, die nur von den Propheten präsent gehalten wurde, ist somit einer auf sich selbst konzentrierten Sterilität gewichen, die Gott selbst durch Jesus Christus aufgebrochen hat.“ 59 D. Rokéah, Justin Martyr and the Jews (JCPS 5; Leiden/Boston/ Köln: Brill 2001), 134: „Needless to say, in view of his explicit, stubborn insistence that the Christians had superseded the Jews – who had been disowned and abandoned by God – Justin has no place in any dialogue designated to create Jewish-Christian understanding.“
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wie „Gegner“ und „Irrlehrer“ verbirgt. In historischer Perspektive wird zudem sichtbar, welcher theologische Wert diesem Text in den ersten Jahrhunderten seiner Rezeptionsgeschichte zuerkannt wurde. Zugleich muss die Frage gestellt werden, wie ein so intensiv von Polemik geprägter Text heute als Teil normativen Schriftguts, nämlich des biblischen Kanons, gelesen werden kann.60 Sicherlich nur in einer Weise, die die Identitätskonstruktion des Judasbriefes entschieden dekonstruiert und genau fragt, welche Aspekte dieses Textes in welcher Weise aktuelle christliche Praxis inspirieren können. Wenn die Geschichte des Christentums die Identität gegenwärtiger Christinnen und Christen unweigerlich bestimmt, so lassen sich aus eben dieser Geschichte formative frühchristliche Texte wie der Judasbrief und Justins Dialog nicht entfernen. Sie lassen sich nur – und dies ist eine bleibende theologische Herausforderung – mit den
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Van Oyen, „Heresy“ (s. Anm. 33), 224, fragt zu Recht: „More than ever before, in this post 9/11 era with all its international, political and military consequences, we are confronted with apocalyptic language and ideology on an almost daily basis. Especially in the justification of violence, biblical and universal motifs of dualism, imminent judgement, good and evil, God and Satan are used. In the letter of Jude there is no exhortation to fight, but there is a strong polarizing tendency. Does it make sense today for Christians (but not only Christians) to read such a text? And if it is read, how do readers have to deal with it?“. F. Hahn, „Randbemerkungen zum Judasbrief“, in Studien zum Neuen Testament II. Bekenntnisbildung und Theologie in urchristlicher Zeit (Hg. Ders.; WUNT 192; Tübingen: Mohr Siebeck, 2006), 643–652, hier 649, versucht folgende Antwort: „Aber man darf die Bedeutung der im Judasbrief besonders deutlich ausgeprägten typisierend-schematisierenden Art der Auseinandersetzung nicht verkennen; hierdurch wird versucht aufzuzeigen, dass es bei ganz verschiedenen konkreten Erscheinungsformen der Irrlehre letztlich doch immer um dieselben Grundfragen geht und dass die Irrlehren der je eigenen Zeit ihre Vorgeschichte und ihre ‚Vorfahren‘ in älterer Zeit haben. Hier liegt die positive Funktion dieser Art der Irrlehrerbekämpfung…“ Allerdings wird hier meines Erachtens der Perspektivierung und der Konstruiertheit der Polemik des Jud zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt: Der Verfasser des Jud beschreibt nicht nur, sondern kreiert auch.
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Mitteln der historischen Kritik und der geschichtshermeneutischen Reflexion als Lern- und Erinnerungsorte erschließen, an denen erfahren werden kann, dass gegenwärtige christliche Identitätskonstruktion mitunter auch den Protest gegen das, was zu anderen Zeiten und in anderen Kontexten als genuin „christlich“ geltend gemacht wurde, einschließen muss. Gerade das Eigene kann nicht selten äußerst fremd erscheinen.
Autorinnen und Autoren des Bandes
Eberhard Bons ist Professor für Alttestamentliche Exegese an der Universität Straßburg. Werner Eck ist Professor em. für Alte Geschichte an der Universität zu Köln. Karin Finsterbusch ist Professorin für Altes Testament an der Universität Koblenz-Landau (Standort Landau). Wolfgang Grünstäudl ist Akademischer Rat am Institut für Katholische Theologie der Bergischen Universität Wuppertal. Judith Hartenstein ist Professorin für Neues Testament an der Universität Koblenz-Landau (Standort Landau). Astrid Nunn ist Professorin für Vorderasiatische Archäologie an der Universität Würzburg. Patrick Pouchelle ist Dozent für Biblische Exegese im Centre Sèvres in Paris. Ulrike Steinert ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „BabMed – Babylonian Medicine“ an der Freien Universität Berlin. Günter Stemberger ist Professor em. für Judaistik an der Universität Wien.