Konkrete Figuration: Goethes »Seefahrt« und die anthropologische Grundierung der Meeresdichtung im 18. Jahrhundert [Reprint 2015 ed.] 9783110924497, 9783484321113

Goethe's »Seefahrt« (1776) was written a few months after the poet's arrival in Weimar. The study has a dual a

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German Pages 161 [168] Year 2002

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Table of contents :
Inhalt
1. Johann Wolfgang Goethe: Seefahrt
2. Situationen einer Lebenswelt
3. Salomon Gessners Idylle Der Sturm
4. Verwandlungen I: Die Paraphrase des Psalms 107 in der Mitte des 18. Jahrhunderts
5. Die Oden-Abhandlung Herders
6. Heroische Pantomimik: Herders Genius der Zukunft und Diderots Theaterschrift
7. Ut pictura poesis
8. Verwandlungen II: Pindar-Horaz-Imitationen
9. Reflexivität der Erfahrung: Herders Pasticcio An ein Schiff und Goethes »Idylle« Alexis und Dora
10. Ausblick: Schiffbruch ohne Zuschauer (Heine, Baudelaire, Rimbaud)
11. Index
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 9783110924497, 9783484321113

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Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Bandlll

Ralph Häfner

Konkrete Figuration Goethes »Seefahrt« und die anthropologische Grundierung der Meeresdichtung im 18. Jahrhundert

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2002

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Häfner, Ralph: Konkrete Figuration : Goethes »Seefahrt« und die anthropologische Grundierung der Meeresdichtung im 18. Jahrhundert / Ralph Häfner. - Tübingen : Niemeyer, 2002 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte; Bd. 111) ISBN 3-484-32111-3

ISSN 0083-4564

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2002 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Verlags- und Industriebuchbinderei Nädele, Nehren

Inhalt

1. 2.

Johann Wolfgang Goethe: Seefahrt Situationen einer Lebenswelt

1 3

3. 4.

Salomon Gessners Idylle Der Sturm Verwandlungen I: Die Paraphrase des Psalms 107 in der Mitte des 18. Jahrhunderts Die Oden-Abhandlung Herders Heroische Pantomimik: Herders Genius der Zukunft und Diderots Theaterschrifit Ut pictura poesis Verwandlungen II: Pindar-Horaz-Imitationen

9

5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.

Reflexivität der Erfahrung: Herders Pasticcio An ein Schiff und Goethes »Idylle« Alexis und Dora Ausblick: Schiffbruch ohne Zuschauer (Heine, Baudelaire, Rimbaud) Index

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. Johann Wolfgang Goethe: Seefahrt

Tag lang Nacht lang stand mein Schiff befrachtet, Günstger Winde harrend sas mit treuen Freunden Mir Geduld und guten Mut erzechend Ich im Hafen. Und sie wurden mit mir ungedultig Gerne gönnen wir die schnellste Reise Gern die hohe Fahrt dir. Güterftllle Wartet drüben in den Welten deiner Wird rückkehrendem in unsem Armen Lieb und Preis dir. Und am frühen Morgen wards Getümmel Und dem Schlaf entjauchzt uns der Matrose Alles wimmelt alles lebet webet Mit dem ersten Seegenshauch zu schiffen. Und die Seegel blühen in dem Hauche Und die Sonne lockt mit Feuerliebe Ziehn die Seegel, ziehn die hohen Wolcken Jauchzen an dem Ufer alle Freunde Hoffnungslieder nach im Freudetaumel Reisefreuden wähnend wie des Einschiffmorgens Wie der ersten Sternennächte. Aber Gottgesandte Wechsel winde treiben Seitwärts ihn der vorgesteckten Fahrt ab Und er scheint sich ihnen hinzugeben Strebet leise sie zu überlisten, Treu dem Zweck auch auf dem schiefen Weege. Aber aus der dumpfen grauen Feme Kündet leise wandelnd sich der Sturm an Drückt die Vögel nieder a u f s Gewässer Drückt der Menschen schwellend Heize nieder. Und er kommt. - Vor seinem starren Wüthen Streckt der Schiffer weis die Seegel nieder, Mit d e m angsterfüllten Balle spielen Wind und Wellen.

Und an ienem Ufer drüben stehen Freund und lieben, beben auf dem Festen: Ach warum ist er nicht hiergeblieben Ach der Sturm. Verschlagen weg vom Glücke Soll der Gute so zu Grunde gehen? Ach er sollte! Ach, er könnte! Götter! Doch er stehet männlich an dem Steuer Mit dem Schiffe spielen Wind und Wellen Wind und Wellen nicht mit seinem Herzen. Herrschend blickt er auf die grimme Tiefe Und vertrauet scheiternd oder landend Seinen Göttern. d. 11 Sept. 76.'

Johann Wolfgang Goethe: »Seefahrt«, in: Der junge Goethe. Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Schriften bis 1775, (Der junge Goethe in seiner Zeit. Texte und Kontexte. In zwei Bänden und einer CD-ROM), hg. v. Karl Eibl, Fotis Jannidis und Marianne Willems, Frankflirt / M., Leipzig 1998, Bd. 2, S. 238f. (Fehler in Zeile 23 stillschweigend berichtigt). - Erstdruck in: Deutsches Museum, September 1777. Den Titel Seefahrt nennt zuerst die Ausgabe der Schriften von 1789.

2. Situationen einer Lebenswelt

Gut zehn Monate nach seinem Eintreffen in Weimar schrieb Goethe das Gedicht Seefahrt, dem er die Beischrift »G. den Ilten Sept. 1776« gab. Man erwartete in diesen Wochen die Ankunft Herders, der im Februar desselben Jahres zum Generalsuperintendenten des Herzogtums Sachsen-Weimar berufen worden war. Herder hatte die beschwerliche Reise von Bückeburg mit Frau und Kind nur in Halberstadt bei dem befreundeten Dichter Johann Wilhelm Ludwig Gleim für kurze Zeit unterbrochen, »wo ich mit meinem Heer [...] ausruhete«, und langte am 1. Oktober »Abends um 10. Uhr« in Weimar an. Was ihn dort erwartete, waren zunächst »das große leere Haus, dicht hinter der Kirche, ein blinder Nachtwächter, der dicht unterm Fenster das Lied >Eins ist noth, ach Hern sang u[nd] es aus blosser Höflichkeit ganz aussingen wollte u[nd] eine Reihe andrer Umstände«, die es »sehr wüst um uns her« machten. 1 Die von Goethe betriebene Berufung Herders, der seine Amtskirche nun täglich »wie eine Sorbonnenmauer« 2 vor sich haben sollte, verlief nicht reibungslos, da Herder bei dem »Pöbel als Atheist, Freigeist, Socinianer, Schwärmer verschrien« war. 3 Gleichwohl schien der rasche Stimmungsumschwung, den seine ersten Predigten sogleich herbeiführten, eine den anfänglichen Widrigkeiten entgegengesetzte günstige Zukunft anzuzeigen, und »so gings mir wie Paulus auf Malta, da er die Otter wegschleuderte. Meine erste Predigt, die ich in aller Ruhe eines Unwißenden aller vorigen Gerüchte hielt, wandte mir hohes u[nd] niedres Volk so unglaublich zu, daß ich nun freilich auf ein so leicht gewonnenes Gut nicht viel rechne, es doch aber zum Anfange als eine sehr gute Schickung u[nd] Hülfe ansehen muß.« 4 Wie reflektierte Goethe seine Übersiedlung nach Weimar gut ein Jahr zuvor und welche Rückschlüsse können daraus im Blick auf sein dichterisches

2 3 4

Johann Gottfried Herder: Brief an Johann Georg Hamann, Weimar, 13. Januar 1777, in: ders.: Briefe, 10 Bde., hg. v. Wilhelm Dobbek und Günter Arnold, Weimar 1977ff., hier: Vierter Band, Oktober 1776-August 1783, Weimar 2 1986, S. 24-28, hier: S. 24-25. Ebd., S. 28. Ebd., S. 25. Ebd. - Cf. Acta Apost. 28,3-6.

3

Werk der frühen Weimarer Zeit gezogen werden? In Frankfurt wartete er im Oktober 1775 vergebens auf das Eintreffen des Hofmarschalls Johann August Alexander v o n Kalb, der ihn nach Weimar, »nach Norden«, begleiten sollte. D e m dringenden Wunsch des Vaters entsprechend bricht er endlich »nach Süden« auf, um den auf der Schweizer Reise des Sommers verabsäumten B e s u c h Italiens nachzuholen. »Ich packte für Norden, und ziehe nach Süden, ich sagte [dem Herzog Carl August] zu, und komme nicht, ich sagte [Lavatern] ab und komme!«, 5 so notierte er am 30. Oktober 1775 ins Reisetagebuch, und: »Ich will doch allen Launen den Lauf lassen.« 6 Damals langte Goethe in Heidelberg an, als ihn die Nachricht erreichte, von Kalb sei in Frankfurt eingetroffen und stehe bereit, ihn nach Weimar zu geleiten. Goethe kehrt um, ohne Lavater, geschweige Italien, gesehen zu haben. Goethes Gedicht Seefahrt

ist bis in die gegenwärtige Forschung hinein als

Ausdruck oder Reflex der lebensweltlichen Umstände seines Eintritts in den Weimarer Kreis gedeutet worden, und in der Tat scheinen darin einige mehr oder weniger genau benennbare biographische Züge nachweisbar zu sein. 7

5

6 7

Johann Wolfgang Goethe: Notiz aus dem Reisetagebuch, Ebersstadt, 30. Oktober 1775, in: Der junge Goethe, 6 Bde., hg. v. Hanna Fischer-Lamberg, Berlin 1963— 1974, (im folgenden mit der Sigle FL zitiert), Bd. 5, S. 402. Ebd., S. 403. Die jüngsten Deutungen geben: Karl Eibl im Kommentar seiner Edition der Gedichte Goethes: Sämtliche Werke, Frankfurter Ausgabe, Bd. 1, Frankfurt / M. 1987, S. 930f.: »In der Wartezeit, dem Aufbruch, dem >Überlisten< widriger Winde, dem Sturm und der Fahrt voller Göttervertrauen ist die Situation der letzten Frankfurter Wochen und der ersten Weimarer Monate ins allgemeine Bild der Seefahrt gefaßt, das Goethe auch sonst in dieser Zeit auf seine Situation anwandte«; vgl. neuerdings Eibls Stellenkommentar in: Der junge Goethe (vgl. Kap. 1, Anm. 1), Bd. 2, S. 238f. Eibls Edition zeichnet sich durch den jeweils vollständigen und chronologisch anschaulichen Abdruck varianter Fassungen von Goethes Gedichten, so auch im Falle von »Seefahrt«, aus. Erfreulich zurückhaltend (allerdings mit unzureichender Bibliographie) das Résumé von Rudolf Drux: »Seefahrt«, in: Goethe Handbuch, Bd. 1: »Gedichte«, hg. v. Regine Otto und Bernd Witte, Stuttgart, Weimar 1996, S. 158f.: »[...] Also kein autobiographischer Kommentar, vielmehr das, was für den Lebensweg eines Menschen im allgemeinen prägend ist, sollte dem Gedicht entnommen werden.« - Ausführlicher wurde das Gedicht Seefahrt untersucht von Alexander Gode-von Aesch: »Goethes >SeefahrtSeefahrtMeeresstille< und Glückliche Fahrt«< [1966], ebd., S. 106-122, hier: S. 111-113; Làszló Tarnói: »Die Umstrukturierung der weltanschaulichen und poetischen Normen in Goethes Lyrik am Anfang des ersten Weimarer Jahrzehnts«, in: Goethe-Studien.

4

Entsprang die Dichtung also aus einem unmittelbaren Erleben neuer Lebenshorizonte, aus welchem Grunde wählte Goethe dann aber das Bild oder Symbol der Meerfahrt, da doch der >Binnenmensch< aus Frankfurt am Main das Meer, wie aufmerksame Interpreten bemerkt haben, noch nie gesehen, viel weniger aber seine elementare Macht am eigenen Leibe >erlebt< hatte? Der Anblick des offenen Meeres blieb dem Jahr 1786 vorbehalten, als Goethe am 8. Oktober von Venedig aus nach dem Lido schiffte,8 und eine bedrohliche See begegnete ihm bekanntlich im Mai des folgenden Jahres auf der Rückreise von Sizilien nach Neapel.9 Fragen wir also versuchsweise und ohne die Berechtigung einer solchen Fragestellung zunächst zu prüfen, inwiefern Goethes Dichtung umgekehrt eine die Lebenswirklichkeit prägende und bestimmende Macht gewann, so wie Herder, »ein verpflanzter Mensch«,10 seine frühe Weimarer Lebenswelt in dem prägenden Bild des »Paulus auf Malta, da er die Otter wegschleuderte«, spiegelte und als solche allererst begriff. Noch genauer gefragt: Inwiefern sind vorgeprägte Denkformen tradierten Wissens, wie sie zum Beispiel Herder in seiner apostolischen Stilisierung realisierte und wie er sie sogleich im Falle Wielands wahrnahm, dem er begegnete, »als ob ich einen träumenden Menschen vor mir hörte«," bestimmend für die Wahrnehmung und Stilisierung

Zum 150. Todestag des Dichters, hg. v. Antal Mädl und Läszlö Tarnöi, (Budapester Beiträge zur Germanistik. Bd. 9.), Budapest 1982, S. 287-320, hier: S. 3 1 2 - 3 1 6 (Tarnöi liest das Gedicht als veritablen autobiographischen Bericht). Eher beiläufig, und dann zumeist im autobiographischen / >allgemein-menschlichen< Sinne haben sich mit Seefahrt befaßt: Hermann Baumgart: Goethes lyrische Dichtung in ihrer Entwicklung und Bedeutung, Bd. 1, Heidelberg 1931, S. 188-190; Barker Fairley: Goethe [zuerst Oxford 1947 u.d.T.: A Study of Goethe], München 1953, S. 66 (liest Seefahrt als »eine Entgegnung auf Klopstock und andere Tadler«); Hermann August Korff: Goethe im Bildwandel seiner Lyrik, Bd. 1, Hanau 1958, S. 188-190; H. J. Geerdts: »Goethes erste Weimarer Jahre im Spiegel seiner Lyrik«, in: Goethe-Jahrbuch 93 (1976), S. 51-59; Ernst Beutler: Essays um Goethe, Zürich, München 7 1980, S. 283; Heinrich Henel: »Der junge Goethe«, in: ders.: Goethezeit. Ausgewählte Aufsätze, Frankfurt/M. 1980, S. 25-75, hier: S. 55; Karl Otto Conrady: Goethe. Leben und Werk, Bd. 1. »Hälfte des Lebens«, Königstein / Ts. 1982, S. 329-331 und S. 482; Curt Hohoff: Johann Wolfgang von Goethe. Dichtung und Leben, München 1989, S. 232; Nicholas Boyle: Goethe. The Poet and the Age, Bd. 1: »The Poetry o f Desire (1749-1790)«, Oxford 1991, S. 288; Friedrich Sengle: Das Genie und sein Fürst. Die Geschichte der Lebensgemeinschaft Goethes mit dem Herzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach. Ein Beitrag zum Spätfeudalismus und zu einem vernachlässigten Thema der Goetheforschung, Stuttgart-Weimar 1993, S. 17. 8

9 10 11

Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Italienische Reise, in: ders.: Werke, Hamburger Ausgabe, München "1982, hier: Bd. 11, S. 89f. Vgl. ebd., S. 314-321. Johann Gottfried Herder: Brief an Johann Georg Hamann (wie Anm. 1), S. 25. Ebd.

5

der eigenen Lebenswelt, 1 2 die in diesem irritierenden »als ob« eine fortwirkende und permanente Struktur lange und mehrfach vermittelten Wissens durchscheinen läßt? Das Verhältnis des Dichters der Seefahrt

zu seiner Dichtung erweist sich

von hier aus von einer Komplexität, die weder auf eine bloße Verwandlung individueller biographischer Züge und Motive reduziert noch auch auf das unbestimmt allgemeine und topische Motiv der Lebensreise unter dem Bilde der Seefahrt, wie sie einige der ältesten Denkmäler des menschlichen Geistes freilich seit langem bezeugt haben, eingeschränkt werden kann. »Ein verpflanzter Mensch ist wie ein Kind neugeboren: er muß also lang erst nach Luft schnappen u[nd] Dinge sehen lernen, wie sie sind, ehe er spricht u[nd] sprechen kann«: 1 3 Die palingenetische Struktur des Wissens, die Herder mit dieser Überlegung ebenso spielerisch wie präzis zum Ausdruck brachte, kommt nämlich in Goethes Seefahrt derart zur Erscheinung, daß sich die Aktualisierung des alten Bildes der sturmbewegten Seereise in einer genau kalkulierten literarischen Konkretion erfüllt. Damit wäre aber der mögliche biographische Hintergrund von Goethes Dichtung nicht nur nicht der Anlaß für ihre Entstehung; er rückt vielmehr in die Ferne einer Lebenswelt, deren spezifisch formhafte Integrität erst durch die Dichtung ermöglicht worden ist. Hans Blumenberg hat in einer spannenden Sequenz des Motivs »Schiffbruch mit Zuschauer« eindrucksvoll gezeigt, wie der lukrezische Betrachter des Seesturms bis hin zu Schopenhauers und Nietzsches Adaptionen einer historisch vielfach vermittelten - Verwandlung seines Blickes unterliegt. 14 Die Figuration der Goetheschen Dichtung blieb, aus welchen Gründen auch immer, außerhalb seiner ideen- und motivgeschichtlichen Modulationen. Das zentrale Anliegen unserer Überlegungen ist demgegenüber die Frage nach der produktiven

Vermittlung

eines heidnischen und eines biblischen Ideengehal-

tes, denn Goethes Reaktion auf Salomon Gessners Lukrez-Variation in dessen

12

13 14

Wolfgang Schadewaidt spricht völlig zurecht im Blick auf die Präsenz Homers im Werther von einem »visionären Leibhaftwerden homerischer Situationen«, und führt aus: »Wir stehen vor einer wunderbaren Erscheinung. Goethe trägt die homerischen Worte, Bilder, Situationen nicht nur als leuchtende Mächte in seiner Seele, sondern aus der Wirklichkeit^] in der er und die er selber lebt, treten sie ihm leibhaft entgegen. In einem solchen Augenblick fühlt er sich als - nein, er wird selber zu einer homerischen Gestalt. Und dann drängt es ihn mit unbezwinglicher Macht dazu, nun wieder in den Text Homers hineinzublicken, und das in der eigenen Wirklichkeit Erlebte sich am Wort des Dichters neu zu vergegenwärtigen [...]«. (Vgl. Wolfgang Schadewaldt: »Goethe und Homer«, in: Trivium 7 (1949), S. 200232, hier: S. 208f.). Johann Gottfried Herder: Brief an Johann Georg Hamann (wie Anm. 1), S. 24. Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt/M. 1979. 6

Idylle Der Sturm erfolgte, wie wir sogleich sehen werden, im Horizont einer bis zu Herder reichenden Modernisierung geistlicher Beredsamkeit (rhetorica sacra), die sich noch immer zumal an den Mustern der Psalmen Davids orientierte. Die Geschichte des Psalms 107 im Verlaufe des 18. Jahrhunderts kann zeigen, daß dieses »Paradigma einer Daseinsmetapher«, um Blumenbergs Terminologie aufzugreifen, für den originären Ideengehalt von Goethes Seefahrt des Jahres 1776 insbesondere maßgeblich geworden ist. Die palimpsestartige Überlagerung des Psalms durch eine strukturell durchaus konstitutive Imitation entsprechender Dichtungen Pindars und Horaz' hatte in Goethes Gedicht zur Folge, daß der scheinbar unmittelbare Affektausdruck durch einen, wie ich es nennen möchte, >Klassizismus der Erfahrung< beständig unterlaufen wird, in dem sich die Originalität eines durchaus imitativen Aneignungsprozesses überlieferter Ideengehalte ausspricht. Damit wird sich zeigen, daß die auf den ersten Blick plausible poetologische Alternative Ausdruck oder Nachahmung trügerisch und im Blick auf Goethes Ode gänzlich unhaltbar ist. Denn was vermochte etwa Klopstock, den bewunderten Dichter eines vermeintlich reinen Ausdrucks innerster Empfindungen, dazu zu bewegen, sein ebenso gerühmtes Gedicht schwermütiger Todesahnung, An Fanny (entstanden 1748), ins Griechische zu übertragen?15 Dieser spielerische Prozeß einer imitativen Selbstinterpretation, die Hans Heinrich Füssli 1810 als »Eine Reliquie von Klopstock«16 erstmals publizierte, verweist vielmehr auf die Spur eines genuin literarischen Verfahrens, das als konkrete Figuration die spezifische Gestimmtheit lebensweltlicher Erfahrungen allererst generiert: die Spur einer Illusion aller scheinbar unmittelbaren Erfahrungswerte, die Goethe selbst mit der verschlüsselten >Übersetzung< der Seefahrt in die »Idylle« Alexis und Dora von 1796 leisten wird.

15

16

Vgl. Friedrich Gottlieb Klopstock: »Ode an Fanny, ins Griechische übersetzt nebst der ursprünglichen Lesart des deutschen Textes. Eine Reliquie von Klopstock; aus der Stadtbibliothek zu Zürich mitgetheilt von H . H . Füßli. (Zürich 1810)«, in: Klopstock: Sämmtliche Werke, Leipzig: Friedrich Fleischer, 1830, Bd. 17, S. 2 7 30. - In grandsetzlicher Perspektive bemerkt L. L. Albertsen: Die freien Rhythmen. Rationale Bemerkungen im allgemeinen und zu Klopstock, Aarhus 1971, S. 128, daher völlig zurecht: »Wir nennen diese Haltung pastichehaft auch um zu unterstreichen, daß der Erfinder der freien Rhythmen kein Originalgenie sein will, sondern sich bewußt in möglichst viele alte, inzwischen z. T. abgebrochene Traditionen stellt: der Antike, des Alten Testaments, Miltons usw.« Ossian ist ihm daher weniger »Vorbild«, als vielmehr »erträumtes Vorbild«, »Sehnsucht nach einem Vorbild«. Vgl. vorhergehende Anmerkung.

7

3. Salomon Gessners Idylle Der Sturm

D e n unmittelbaren Anlaß für Goethes Seefahrt Der Sturm, lungen

gab die kurze Prosadichtung

die Salomon Gessner 1772 in der S a m m l u n g Moralische

und Idyllen

von Diderot

Publikation der Idyllen

und S. Gessner

Erzäh-

veröffentlicht hatte.' Seit der

des Jahres 1756 hatte sich der Zürcher Dichter, Maler

und V e r l e g e r einen Ruhm erworben, der sich in nicht minderem M a ß e auf s e i n e klassizistisch-idealischen Landschaftsmalereien als auf s e i n e Dichtung e n gründete. 2 In der dialogisierten Idylle Der Sturm

schilderte G e s s n e r zwei

Rinderhirten, die v o n einer H ö h e des Vorgebirges aus das Meer überblicken und das Herannahen eines Sturmes beobachten. » S c h o n hatten sie die Heerden v o m Gebürge nach ihrer W o h n u n g geschickt; sie aber blieben auf d e m Gebürge zurück, die fürchterliche Ankunft des Gewitters, und den Sturm auf d e m M e e r e zu sehn.« 3 D i e moralisch-ästhetische Erfahrung eines >angenehm e n Grauens< - im Verlaufe des 18. Jahrhunderts in unterschiedlichster B e leuchtung in den Blick g e n o m m e n 4 - erscheint in Gessners Idylle in einer

2

3

4

Vgl. Paul Leemann-van Eick: Salomon Gessner. Sein Lebensbild. Mit beschreibenden Verzeichnissen seiner literarischen und künstlerischen Werke, Zürich 1930, S. 155-172 (»Die Zürcher Original-Ausgaben (deutsche und französische«), hier; S. 159, Nr. 523 (Ausgabe mit Radierungen und Vignetten von Gessners Hand); Nr. 524 (Ausgabe ohne Radierungen und Vignetten). Vgl. Martin Bircher: »Salomon Gessner: >ein gewisser neuer dichterischer Wohlklang«*, in: Martin Bircher, Bruno Weber: Salomon Gessner, Zürich 1982, S. 11-27; Bruno Weber: »Panisches Idyll, oder >der glückliche Mahler der Naturparadoxe< Empfindung der »mit Angst gemischten Wollust«, mit der die beiden Betrachter die »schreckenvolle Scene« verfolgen, und sie gelangt auf ihren Höhepunkt, als man ein Schiff gewahrt, das von den aufeinander stürzenden Flutwellen abwechselnd auf- und niedergerissen wird. Lacon wendet sich mit einem Anruf um Errettung der Seeleute an die Götter. Das ästhetische Gefühl der Wollust findet in dem rührenden Mitleiden der Hirten eine moralische Berechtigung, die Gessner mit den gegenseitig sich überbietenden sententiösen Ermahnungen der beiden Betrachter bekräftigt: Lacon: »O was suchtet ihr, daß ihr so, euer väterliches Ufer verlassend, auf ungeheuern Meeren schwebt! Hatte euer Geburtsland nicht Nahrung genug euern Hunger zu sättigen? Reichtum suchtet ihr, und fandet einen jammervollen Tod.« Worauf Battus repliziert: Am väterlichen Ufer werden eure Väter und eure Weiber und eure Kinder vergebens weinen; vergebens für eure Rückkunft in den Tempeln Gelübde thun. Leer wird euer Grabmahl seyn; denn euch werden Raubvögel am Ufer fressen, verschlingen die Ungeheuer des Meers euch nicht. O Götter, laßt immer mich ruhig in armer Hütte wohnen! Zufrieden mit wenigem, nähre mein Anger mich, und mein kleines Feld und meine Heerde.

Gessner rechtfertigte diese moralisierende Wendung des ästhetischen Genusses in einem in derselben Sammlung veröffentlichten Brief über die Landschaftsmahlerey. An Herrn Füsslin, den Verfasser der Geschichte der besten Künstler in der Schweitz (10. Januar 1770). Unter dem implizit leitenden horazischen Prinzip »ut pictura poesis« 5 versuchte er auseinanderzusetzen, was ihm in den Landschaften Claude Lorrains und Nicolas Poussins als »groß und edel« entgegentrat: »sie versetzen uns in jene Zeiten, für die uns die Geschichte und die Dichter mit Ehrfurcht erfüllen, und in Länder, wo die Natur niöht wild, aber groß in ihrer Mannigfaltigkeit ist, und wo unter dem glücklichen Clima jedes Gewächse seine gesundeste Vollkommenheit

5

Hamburg 1987; ders.: Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche, Stuttgart-Weimar 1995. Vgl. Horatius: ars poet., v. 361.

10

erreicht.« 6 In einer ganz winckelmannisch gedachten »edeln Einfalt« also, in der Darstellung der Figuren »von edelm Ansehen und Betragen« und in »ihren edeln Handlungen« erfüllten sich Gessner jene »Anmuth« und »Zufriedenheit«, die die glücklichsten Zeiten der Menschheit ausgezeichnet haben. 7 Die Schrecken des Schiffbruchs, die er selbst in der Idylle Der Sturm beschrieben hatte, stimmen insofern mit der klassizistischen Theorie der Landschaftsmalerei überein, als sie die Betrachter vermittels des ästhetischen Genusses auf das >angenehme< moralische Gefühl der Zufriedenheit und inneren Ruhe leitet. Die scheinbare »Wildheit« des Sturmes ist durch den Beobachtungspunkt der Betrachter zu einer bewegten Einheit des Gesamteindrucks hin aufgehoben, innerhalb der die mannigfaltigen Details zur erhabenen Größe einer »schrekkenvollen Scene« organisiert sind. Gessner gab damit ein Beispiel, wie der Künstler oder Dichter vermittels seiner Einbildungskraft neue poetische »Zusammensetzungen« erfinden könne, wenn er sich eine »Sammlung der besten Ideen« 8 angelegt habe, ohne doch aufs »Wunderbare« oder »ins Abentheurliche« zu fallen. 9 Der »wahre Schwung« der Einbildungskraft äußert sich also immer dann, wenn die Wildheit der Einzelbeobachtungen durch die Größe des Gesamteindrucks gewissermaßen rationalisiert und für den Betrachter auf eine moralische Einheit hin geordnet erscheint. Die poetischen »Gemähide«, die James Thomson in seiner zyklischen Dichtung The Seasons (zuerst unvollständig 1726) zur Darstellung gebracht hatte und die »ganz aus den besten Werken der grossesten Künstler genommen scheinen«, 10 erfüllen demnach am vorzüglichsten die Kriterien einer »edeln Einfalt« der Natur, die nach Gessner vor allem Barthold Heinrich Brockes »bis auf den kleinsten Detail genau beobachtet« habe, auch wenn »seine Gemähide« »oft zu weitschweifig, oft zu erkünstelt« seien: »Aber seine Gedichte sind doch ein Magazin von Gemählden und Bildern, die gerade aus der Natur genommen sind. Sie erinnern uns an Schönheiten, an Umstände, die wir oft selbst bemerkt haben, und itzt wieder ganz lebhaft denken, die uns aber das Gedächtniß nicht liefert, wenn wir sie am nöthigsten haben.«" Die »Gemähide« in Thomsons Jahreszeitenzyklus »sind mannigfaltig; oft ländlich staffiert, wie Berghem, Potter oder Roos; oft anmuthsvoll wie Lorrain, oder edel und groß wie Poussin, oft melancholisch und wild wie S. Rosa.« 12 6 7 8 9 10 11 12

Salomon Geßner: »Brief ueber die Landschaftsmahlerey«, in: ders.: Idyllen (wie Anm. 3), S. 171-194, hier: S. 180. Ebd. Ebd. Ebd., S. 178. Ebd., S. 183. Ebd., S. 186. Ebd., S. 185. 11

Thomson hatte in der Tat im Sommer-Zyklus die Beschreibung eines Seesturms gegeben, die er zuerst in die Ausgabe von 1744 (nach der Brockes 1745 eine Übersetzung anfertigte) einfugte. Auch diese Beschreibung der »terrors of these storms« (v. 1013), die in zahlreichen topischen Details in Gessners Idylle wiederkehrt, enthielt eine moralisierende Wendung, indem Thomson die Gefahren der Seefahrt mit dem »verwegenen Ehrgeiz« (bold ambition) des Seefahrers Vasco da Gama und dem beginnenden Welthandel konfrontierte: Then down at once Precipitant descends a mingled mass Of roaring winds and flame and rushing floods. In wild amazement fixed the sailor stands. Art is too slow. By rapid fate oppressed, His broad-winged vessel drinks the whelming tide, Hid in the bosom of the black abyss. With such mad seas the daring Gama fought, For many a day and many a dreadful night Incessent labouring round the stormy Cape, By bold ambition led, and bolder thirst Of gold. For then from ancient gloom emerged The rising world of trade: the genius then Of navigation, that in hopeless sloth Had slumbered on the vast Atlantic deep For idle ages, starting, heard at last The Lusitanian Prince, who, heaven-inspired, To love of useful glory roused mankind And in unbounded commerce mixed the world. 13

Als Gessner seit 1757 Thomsons Jahreszeiten-Zyklus zu verlegen begann und mit Vignetten begleitete, zog er gegenüber Brockes' Übertragung die neue Übersetzung seines Freundes Johann Tobler vor, aber es hinderte ihn nicht, immer wieder auf das »Magazin von Gemählden und Bildern« zurückzugreifen, das der Hamburger Ratsherr mit den Andachten seines Irdischen Vergnügens in Gott vorgelegt hatte. In dem Gedicht Die Schiff-Fahrt hob Brockes an: Jn einem grossen Schiff, das unlängst erst gebaut, Hatt' ich mich jüngst den wilden Wellen, Jn Ampts-Geschäfften, anvertraut 1 4

13

14

James Thomson: »Summer«, in: ders.: The Seasons and The Castle of Indolence, hg. v. James Sambrook, Oxford 1972, S. 64-65 (= w . 994-1012). Barthold Heinrich Brockes: »Die Schiff-Fahrt«, in: ders.: Jrdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten, Vierter Theil, 2. Auflage, Hamburg 1735, S. 187-190, hier: S. 187.

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D i e nun folgende Schilderung des Sturms ereignet sich nachts, »nach versuncknem Sonnen-Schein«, und sie führt den Leser in eine detailgetreue Szenerie der Fauna in den Meerestiefen, von denen der Erzähler - dies die Imitation eines auch von Pseudo-Longin zitierten Arat-Verses 1 5 - durch die Schiffsplanken »nur wenig Zoll«, durch eine »Scheide-Wand so gar zerbrechlich« getrennt ist: Jndem ich nun, da sich der Sturm vennehrte, Gantz nah' an meinem Ohr, der Fluthen Brausen hörte, Gedacht ich bey mir selbst, indem die andern schlieffen: Wie nahe sind mir ietzt die finstern Tieffen! Mein GOTT! Ein Holtz, nur wenig Daumen dick, Jst bloß der Zwischen-Stand, Und hält den Schwall der duncklen Fluth Von mir, und von dem Pfuhl des Abgrunds mich, zurück, Jn welchem ungezehlte Heere Von Taumlern, Kabeljauen, Störe, Und andre Wasser-Thiere schwärmen.' 6 Brockes kompensierte die imitative Erfahrung der sturmerregten »wilden Wellen« durch die >Größe< des menschlichen Geistes, der sich in den unabänderlichen Ereigniszusammenhang der geschöpflichen >Natur< gestellt sieht. Gottes »Gnade« bewährt sich gerade darin, daß die Wildheit der Natur dem Menschen allererst dazu Anlaß gibt, seine Größe im sittlichen Handeln zu zeigen und zu bewähren: Daß wir so ungeheure Lasten, Mit hohlen Segeln, hohen Masten, Von einem zu dem andern Ort, So leicht, bequem, geschwinde, Durch Hülffe wolgetheilter Winde, So füglich fortzubringen wissen; Daß oft ein einzger Mann Mit einer Hand das Schiff regieren kann, Und wär' es noch so groß. Dies zeiget eine Gröss' in unserm Geist, Die wunderbar, die nicht begreifflich ist. 17

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Vgl. Aratus: Phaenomena 299; Ps.-Longinus: De sublimitate 10,6; Iuvenalis: Sat. XII,57-59: »i nunc et ventis animam committe dolato / confisus ligno, digitis a morte remotus / quattuor aut Septem, si sit latissima, taedae«. (Cf. Sat. XIV,288f.). Barthold Heinrich Brockes: »Die Schiff-Fahrt«, in: ders.: Irdisches Vergnügen in Gott (wie Anm. 14), S. 187. Ebd., S. 189.

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Brockes' Dichtung konnte kaum dem klassizistischen Ideal der »edeln Einfalt« im Sinne von Gessners Brief über die Landschaftsmahlerey

genügen,

und auch die moralische Wendung, mit der Brockes den Leser auf die vorausblickende Leitung Gottes in der geschöpflichen >Natur< wies, ist mit dem Gessnerschen Postulat der ländlichen »Ruhe« und »Zufriedenheit« der Hirten gegenüber den auf fremden Reichtum ausgehenden Seeleuten keineswegs identisch. Das Interesse, das Gessner an dem Irdischen

Vergnügen

in Gott

nahm, richtete sich vielmehr auf eine »Sammlung« von detailgetreuen Bemerkungen, die er als Naturschilderungen auffaßte, ohne daß er den emblematischen, imitativen oder symbolischen Gehalt der Brockes'schen Gedichte in Anschlag hätte bringen wollen. Anders verhielt es sich mit den Moralischen

Briefen

in Versen, die der

j u n g e Christoph Martin Wieland 1752 veröffentlicht hatte. Im beständigen Horizont der moralisierenden Epitres diverses sur des sujets differens

(Lon-

don 1740) des westfälischen Gelehrten Georg Ludwig von Bar spürte er den Grund für die Verknüpfung von Weisheit und Tugend in der Überhöhung des ästhetischen Eindrucks durch dessen moralische Wirkung im Sinne einer stoisch gewendeten Kallokagathie auf. Eine feinsinnige >Korrektur< des hedonistischen Genusses bei Lukrez sprach sich also gleich zu Beginn des ersten der fiktiven Briefe aus, in dem Wieland, nicht ohne narrative Bereicherungen einer genauen Vergil-Lektüre, den Standpunkt des lukrezischen Betrachters durch einen ausgeführten Vergleich zur moralischen Selbstvergewisserung menschlicher »Selbstzufriedenheit« und »süsser Seelenruh« umformte: Wie vom zufriednen Strand, gesichert vor den Stürmen, Ein Wandrer ruhig sieht, daß sich die Wogen thürmen, Und in entfernter Höh' den segellosen Mast Des goldbeschwerten Schiffs ein wilder Orkan fasst, Jetzt in die Wolken wirft, im Abgrund jetzt vergräbet, In raschen Wirbeln dreht, und wieder schleudernd hebet; Er sieht mit welcher Wuth Neptun und Eurus ringt, Wie unter ihrem Kampf das lecke Schiff versinkt, Und nun selbst Palinur, von Fluth und Sand bedecket, Den steuerlosen Arm dem Tod entgegen strecket; Von seines Ufers Höh' sieht ers mit heiterm Blick Und frohem Schauer an, und danket seinem Glück: So, Freundin, sieht, geschützt durch sichernde Ideen, Des Weisen stiller Geist von sturmbefreyten Höhen Ins Meer der Welt herab, wo die Begier der Wind, Der Fels das Vorurtheil, die Menschen Schiffer sind; Wo die Vernunft zu schwach mit Leidenschaften kämpfet, Mit Feinden, die allein der Tugend Allmacht dämpfet; Wo oft die Hoffnung sich mit vollen Segeln drängt,

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Und, eh sie was besorgt, an blinden Klippen hängt; Wo, fern vom sichern Weg, der uns zur Wohlfahrt leitet, Der Thor mit saurer Müh sein Unglück sich bereitet.' 8

Die Befreiung von den Leidenschaften also, von dem Sturm menschlicher Begierden, gleicht in der Binnenmetaphorik des zweiten Teils des Vergleiches einer Befreiung von allem Glückswechsel, durch welche der »Wandrer«, abgesondert von dem »Meer der Welt«, ein beständiges Glück genießt. Aber die Lehre des stoischen Weisen in seinem distanzierten Verhältnis zu den geselligen Lebensumständen ließ gerade für jenes Weltverhältnis keinen Raum, in dem sich ein kosmoiogisch-anthropologischer Konflikt von weitreichenden Folgen abzeichnete. Es war die Lehre des >klugen< Steuermanns Palinurus, der in der Mitte des Seesturms gegenüber Aeneas äußerte, es sei nun das klügste, sich auf das Geschick einzulassen, der herrschenden Göttin Fortuna zu folgen, »wohin sie auch ruft«: Nec nos obniti contra nec tendere tantum sufficimus. Superat quoniam Fortuna, sequamur, quoque vocat, vertamus iter. (Uns dagegen zu stemmen und so zu mUhen, sind wir nicht stark genug. Fortuna ist stärker; folgen wir also, wenden, wohin sie auch ruft[.]) 19

Wieland vollzog mit der Konstruktion eines »ruhig« beobachtenden »Wandrers« also eine geschickte Umdeutung der Lebenslehre des Vergilschen Steuermanns Palinurus, dessen Glück sich gerade nicht in der genießenden Betrachtung, sondern vielmehr in einem Handeln erfüllt, das die Wirksamkeit eines übergreifenden Geschicks klug begleitet. Diese kosmologische Dimension fehlte offenbar sowohl in Wielands Fiktion interesseloser Kallokagathie wie in Gessners Ästhetik moralischer Katharsis. Was Goethe an der Idylle Der Sturm kritisierte, war daher gerade das moralische Prinzip der Landschaftsmalerei, Figuren in Gessners Idyllen, die als interesselose »Gestalten aus seiner [sc. Gessners] schmachtenden Empfindung und erhöhten Phantasie« keinen eigentlichen Anteil an dem von ihnen beobachteten Geschehen nehmen. Zur Disposition stand also nicht weniger als das moralisch-kathartische Prinzip der »mit Angst gemischten Wollust«, die Gessner bei den Beobachtern des Seesturms und des Schiffbruchs seiner

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Christoph Martin Wieland: Moralische Briefe in Versen, in: ders.: Sämmtliche Werke, Supplemente, Bd. 1, Leipzig 1798, S. 274-428, hier: S. 287f. (= v. 1-22). (Hervorhebung der Vergleichspartikeln von mir). - Vgl. die Beschreibung des Seesturms durch Vergil, Aen. 111,192-208. Vergil: Aen. V,21-23. (Übersetzung von Johannes Götte).

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Idylle bemerkt hatte. In seiner Rezension der Idyllen-Sammlung, die am 25. August 1 7 7 2 in den Frankfurter

Gelehrten

Anzeigen

erschienen war, stellte

Goethe nach einem Zitat aus Gessners Brief über die »Schönheiten der Natur« und die »Nachahmungen derselben« fest: Mahlender Dichter/ Dazu karakterisirt sich in angeführter Stelle Geßner selbst, und wer mit Leßingen der ganzen Gattung ungünstig wäre, würde hier wenig zu loben finden. Doch wir wollen hier nicht unbillig seyn. Wir kennen die Empfindungen, die aus der bürgerlichen Gesellschaft in die Einsamkeit führen, aufs Land, wo wir dann nur zum Besuch sind, nur wie bey einer Visite die schöne Seite der Wohnung sehn, und ach! Nur sehn, der geringste Antheil, den wir an einer Sache nehmen können! 20 Gessner erläuterte bekanntlich in seinem Brief an Füssli, wie der Maler und Dichter sich eine »Sammlung der besten Ideen« anlegen könne, wenn er nach dem Studium der vorzüglichsten Maler anhand einschlägiger Kupferstichwerke zu einer selbständigen Nachahmung der >Natur< im Sinne einer Zusammenordnung schöner Details zu einem in sich mannigfaltigen Ganzen gelangen wolle. Die auf den Gemälden dargestellten Menschen haben demnach, w i e wir sahen, immer einem typischen Ideal von »Griechen und Römern« zu entsprechen, die, »von edelm Ansehen und Betragen«, uns in »ihren grossen Handlungen« »ihre glücklichsten Zeiten« 2 1 vergegenwärtigen. Goethe findet für diese Figuren- und Formenlehre nur Worte des Hohns und Spotts, weil die »Schattenwesen Geßnerischer Menschen« in ihren idealtypischen Stellungen, »ihr Stehen, Sitzen, Liegen, nach der Anticke gewählt«, niemals zeigen, » w a s sie thun, was sie empfinden«. 2 2 Er erblickt in dieser Klassizität vielmehr den grösten Mangel dichterischer Empfindung, daß in keiner einzigen dieser Idyllen die handlenden Personen, wahres Interesse an- und mit einander habenf.] Entweder ist es kalter erzälender Monolog, oder was eben so schlimm ist; Erzählung, und ein Vertrauter, der seine paar Pfennige queer hinein dialogisiert, und wenn denn einmal zwey was zusammen empfinden, empfmdets einer wie der andre, und da ists vor wie nach. 23

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Der junge Goethe (FL), Bd. 2, Berlin 1963, S. 271. - Zum Problemkontext der Rezension vgl. Hermann Bräuning-Oktavio: »Goethe und Diderot im Jahre 1772«, in: Goethe. Neue Folge des Jahrbuchs der Goethe-Gesellschaft 24 (1962), S. 2 3 7 252. In anderem Zusammenhang geht auf die Rezension ein Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher [1979], Frankf u r t / M . 1988, S. 48-50. Salomon Geßner: »Brief ueber die Landschaftsmahlerey«, in: ders.: Idyllen (wie Anm. 3), S. 180. Der junge Goethe (FL), Bd. 2, S. 272. Ebd.

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Man erkennt, daß Goethe hiermit bereits die Situation der Idylle Der Sturm vorwegnimmt, in der die beiden Betrachter Lacon und Battus in der Tat dieselben Empfindungen einer mit »Angst gemischten Wollust« und eines Mitleids beim - im Grunde teilnahms- oder interesselosen - Anblick des Schiffbruchs äußern. Das Problem, auf das Goethe implizit verweist, stellt sich in Gessners Idylle in der Unvermitteltheit des ästhetischen Genusses beim Anblick des scheiternden Schiffes einerseits und des moralischen Empfindens andererseits, eine Unvermitteltheit, die, mit Goethes Worten, »durch ein zu abstraktes und ekles Gefühl, physikalischer und moralischer Schönheit« »in das Land der Ideen«, 24 nämlich auf die abstrakten Begriffe der »Anmuth« und »Zufriedenheit«, 25 leite. In Goethes Urteil ist die anthropologische Grundierung von Gessners idyllischem Gemälde schon im Ansatz verfehlt, weil der einmal fixierte Standpunkt des Betrachters, der auf dem Lande »nur zum Besuch« ist oder, wie die Rinderhirten, die Sicherheit ihrer »Hütte« nahe wissen, nur einen idealischen Genuß, aber keine an der Handlung teilnehmende Empfindung ermöglicht. Die heilbringende »Hütte«, 26 die in des Wandrers Sturmlied desselben Jahres 1772 als erst noch zu erlangende vorgestellt wird, verweist demgegenüber auf den grundsätzlich individualisierten, durch Handlung und Empfindung sich realisierenden Menschen der frühen Goetheschen Anthropologie, ein »armes Herz«, 27 dessen Standpunkt mit jeder Lebenslage augenblicklich wechselt. Genau daran, an der Unfähigkeit, »Scene, Handlung und Empfindung [zu] verschmelzen«, scheitert nach Goethe Gessners malerisches Idyllenkonzept, und er resümiert: »Der Sturm ist unerträglich daher. Voltaire kann zu Lausanne aus seinem Bette dem Sturm des Genfer Sees im Spiegel nicht ruhiger zugesehen haben, als die Leute auf dem Felsen, um die das Wetter wüthet, sich vice versa detailliren, was sie beyde sehn.« 28 Es ist das private Glück von 24 25

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Ebd. Salomon Geßner: »Brief ueber die Landschaftsmahlerey«, in: ders.: Idyllen (wie A n m . 3 ) , S. 180. Zu diesem Motiv vgl. die klug argumentierende Untersuchung von Helmut Rehder: »Das Symbol der Hütte bei Goethe«, in: DVjs 15 (1937), S. 403^123. Johann Wolfgang Goethe: »Wandrers Sturmlied«, in: ders.: Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 1, München 1982, S. 33-36, hier: S. 36. Vgl. hierzu Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur hermetischen Tradition des deutschen 18. Jahrhunderts, Bd. 2, München 1979, S. 114f. Der junge Goethe (FL), Bd. 2, S. 272. - Zu Goethes Einschätzung Voltaires vgl. Gonthier-Louis Fink: »Goethe und Voltaire«, in: Goethe Jahrbuch 101 (1984), S. 74-111. Ungelöst bleibt die Frage, wie Goethe zur Kenntnis des markanten Bildes von Voltaires Blick über den Genfer See gekommen war. Hans Blumenberg (Schiffbruch mit Zuschauer [wie Anm. 20], S. 49) vermutet aufgrund eines Hinweises Fritz Schalks, »daß Goethe noch vor dem Erscheinen der Kehler Ausgabe von 1773 Editionen der Briefe Voltaires zugänglich waren«. Die beiden von Blumen-

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Voltaires Candide, der nach seiner Reise durch die »beste aller möglichen Welten«, nach Sturm, Schiffbruch, Erdbeben und menschlichen Kalamitäten, sich auf die Bestellung seines Gartens zurückzieht, das harmlose Glück gemäß Epikurs Maxime: » L e b e im Verborgenen!«, das ersehnte Glück von Rabelais' Panurge, der inmitten des wütenden Seesturms das Heil der Gemüsebauern mit den Worten preist: » O wie gering an Zahl sind diejenigen, denen Jupiter die Gunst erzeigte, daß er sie zu Kohlpflanzern bestimmte! Denn immerfort haben sie einen Fuß auf dem festen Boden, und der andere ist nicht weit davon.« 2 9 Das späte Glück Candides, Voltaires ruhige, dabei durchaus lustvolle, im Spiegelbild distanzierte und reflektierte Betrachtung des Sturms auf dem Genfer See, dieser lukrezisch-epikureische Hedonismus formt auch das Glück der Hirten Gessners, die sich in einer »mit Angst gemischten Wollust« nur u m s o inniger ihrer gefahrlosen Lebenslage versichern: »Zufrieden mit wenig e m , nähre mein Anger mich, und mein kleines Feld und meine Heerde.« 3 0 Goethes Autorschaft an der Rezension blieb Gessner verborgen: In einem Brief berichtete ihm Franz Michael Leuchsenring am 22. Februar 1773 aus der Mitte des Darmstädter Kreises der Empfindsamen, » w i e zufrieden man hier mit der Übersetzung Ihrer Idyllen, und w i e entzückt man über Ihre Kupfer seye«, und er fuhr fort: D[oktor] Goethe in Frankfurt, der sich mit wahrem Genie nun gänzlich der Kunst weihen will, war einer von denen, die Ihre Werke in angenehmes Staunen versetzt. Sie haben sich darin gewiß selbst übertroffen. Ob das wohl die Franzosen so recht fühlen werden? 31

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berg herangezogenen Briefe an François Augustin Paradis de Moncrif (27. Mäiz 1757) und an Nicolas Claude Thieriot (2. Juni 1757), in denen Voltaire den Ausblick auf den See von seinem Bett aus schildert (»Je vois de mon lit le lac, le Rhône et une autre rivière«; »et je verrai de mon lit vingt lieues du beau lac Léman, de toutte la Savoye sans compter les Alpes«), erschienen allerdings zuerst in der Kehler Ausgabe! (Vgl. Voltaire: Correspondence and related documents, hg. v. Theodore Besterman, Bd. 17, [= The Complete Works of Voltaire, Bd. 101], The Voltaire Foundation, 1971, S. 501f. [= D7215] und Bd. 18, [= The Complete Works, Bd. 102], S. 64-66 [= D 7275]). Vgl. Hermann Bräuning-Oktavio: Herausgeber und Mitarbeiter der Frankfurter Gelehrten Anzeigen 1772, (Freies deutsches Hochstift. Reihe der Schriften. Bd. 20), Tübingen 1966, S. 407: »Goethe verwertet die Erlebnisse Mercks, verwechselt aber Ferney mit Lausanne.« François Rabelais: Gargantua und Pantagruel, München 1979, S. 905f. Salomon Geßner, »Der Sturm«, in: ders.: Idyllen (wie Anm. 3), S. 128. Vgl. Brief von Franz Michael Leuchsenring an Salomon Gessner, Darmstadt, 22. Februar 1773, in: Briefe von und an F. M. Leuchsenring 1746-1827, hg. v. Urs Viktor Kamber, Stuttgart 1976, S. 50 (Nr. 37), und S. 201-203 (Herausgeberkommentar).

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Dann rügte er die anonyme Rezension in den »Frankfurter Blättern« und gab seiner Hoffnung Ausdruck, daß Gessners Idyllensammlung in Wielands Teutschem Merkur wohlwollender beurteilt werde. Die Beobachtung von Goethes »angenehmem Staunen« entbehrte in diesem dissimulativen Spiel offensichtlich jeglicher Berechtigung. Wie sehr Goethe dieses Spiel mit vertauschten Rollen liebte und beherrschte, zeigt sich uns in dem erstaunlichen Brief an Johann Christian Kestner vom 28. Januar 1773. Kaum ein halbes Jahr, nachdem er die ungelöste moralisch-ästhetische Spannung zwischen dem ruhigen Betrachter und dem sturmbewegten Schiff in Gessners Idylle polemisch traktiert und sich Voltaires lukrezischen Blickpunkt vergegenwärtigt hatte, zog er sich selbst die Maske Voltaires auf. Während eines abendlichen Spaziergangs, den er mit den Frankfurter Freundinnen Antoinette und Katharina (Nanne) Gerock unternahm, verweilte man auf der Mainbrücke und blickte auf den Fluß: Das Wasser ist sehr gross[,] rauschte starck und die Schiffe alle versammelt in einander, und der liebe trübe Mond ward freundlich gegrüsst, und Antoinette fand das alles paradiesisch schön und alle Leute so glücklich die auf dem Land leben, und auf Schiffen, und unter Gottes Himmel. Ich lass ihr die lieben Träume gern, macht ihr noch mehr dazu wenn ich könnte. 32

Die hier bereits deutlich mitschwingende ironische Distanz zur imaginativen Wahrnehmung friedvoller Idyllik gerät auf ihren Höhepunkt, als sich endlich, Stunden nach der Trennung von den Freundinnen, ein Gewittersturm ankündigt. Und hier nun ist es Goethe, der in der Rolle Voltaires, ohne daß diesmal dessen Name genannt würde, ein >angenehmes Grauem genießt: »Heut Nacht weckt mich ein grässlicher Sturm um Mitternacht. Er riss und heulte, da dacht ich an die Schiffe und Antoinetten und lies mir wohl seyn in meinem zivilisirten Bette.«33 Die ironische Substitution des Voltaireschen Blickpunkts währt jedoch nicht lange. Der Blitz setzt ein Gebäude der weiteren Nachbarschaft in Brand; damit verkehrt sich aber auch die bewußt gespielte Idylle in wahres Grauen: »Kaum eingeschlafen weckt mich der Trommelschlag und Lerm und Feuerrufen, ich spring ans Fenster, und sehe den Schein starck aber weit. Und binn angezogen, - und dort. Ein grosses weites Haus, das Dach in vollen Flammen. Und das glühende Balkenwerck, Und die fliegenden Funcken, und den Sturm in Glut und Wolcken. Es war schweer. Immer herunter brants, und herum.«34 32

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Brief Goethes an Kestner, Frankfurt, 28. Januar 1773, in: Goethes Werke, Weimarer Ausgabe, IV. Abtheilung: Briefe, Bd. 2, S. 60f. Ebd., S. 61. Ebd.

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Versuchen wir dennoch, trotz Goethes wohlbegründeter Kritik an Gessners Sturmdichtung einen unbefangenen Blick auf die Idylle, die sich durch eine überlegte Gesamtkomposition auszeichnet, zu werfen. Die merkwürdige Abneigung gegenüber Gessner resultierte nämlich auch daraus, daß man seine Stücke gegen Diderots Erzählungen, darunter Les deux amis de Bourbonne, hielt, die Gessner im Anschluß an seine Idyllen drucken ließ. Herder schrieb Mitte Juli 1772 aus Bückeburg an seine Braut Karoline Flachsland: »Diderots zwei Erzählungen sind mehr werth, als der ganze Geßner!«,35 und am Ende desselben Monats teilte er ihr beschwichtigend mit: »Geßners Idyllen sind schön und Diderots Erzälungen noch schöner dabei.«36 Herder ließ sein Exemplar binden und sandte es am 7. Oktober an Karoline, indem er endlich folgendes Urteil gab: Hier ist Geßner! Ich lag unter den Bäumen im Morgenthau, da ich, insonderheit die starken Menschlichen Stücke Diderots las, aber auch in Geßner ist viel, Viel schönes. Die Eifersucht, das Holzbein, der Waßersturm - Ich weiß[,] Deine Seele liest nicht des leidigen Schönen wegen, sondern als Wahrheit! als Empfindung! Lies es also mit mir, meine liebe Flachsland ich sehe dir alsdann, als unsichtbarer Genius, über die Schulter. 37

Herder umriß damit präzis, worum es Goethe in seiner heftigen Polemik ging. »Wahrheit« und »Empfindung« sollten in dem Gehalt der Dichtung zum Ausdruck kommen, ohne daß zunächst ein bestimmtes Ideal des Schönen hätte in Anschlag gebracht werden müssen. Gessner hatte die Idyllik der Rinderhirten im Sturm sehr bewußt mit einem anakreontischen Lyrismus verbunden, den er am Ende noch durch eine feinsinnige Anspielung auf den platonischen Phaidros überhöhte. Die tragische Heimkehr eines Jünglings von edlem Geblüt hatte Anakreon in folgendem Epigramm sinnreich umschrieben: Heimweh ließ dich, Kleünorides, den Untergang finden, da du dem stürmischen SUd allzu verwegen getrotzt. Launischer Jahreszeit fielst du zum Opfer; dich rissen die Wogen, stattlich und jung, wie du warst, tief in ein flutendes Grab. 38

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Johann Gottfried Herder, Brief an Karoline Flachsland, Bückeburg, Mitte Juli 1772, in: ders.: Briefe, Zweiter Band, Mai 1771—April 1773, hg. v. Wilhelm Dobbek und Günter Arnold, Weimar 2 1984, S. 193. Johann Gottfried Herder: Brief an Karoline Flachsland, Pyrmont, etwa 25. Juli 1772, ebd., S. 195. Johann Gottfried Herder: Brief an Karoline Flachsland, Bückeburg, 7. Oktober 1772, ebd., S. 241. Anakreon: epigr. 193 (102), p. 102 ed. Bruno Gentiii (Rom 1958). (Deutsche Übersetzung von Dietrich Ebener). - Vgl. Albin Lesky: Thalatta. Der Weg der Griechen zum Meer, Wien 1947, S. 198.

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In kaum verhüllter Imitation fügte Gessner den Sinngehalt des Epigramms in die Handlung seiner Idylle ein. Nachdem sich der Sturm gelegt hatte, gehen Battus und Lacon zum Strand hinunter, um sich den »Trost« zu verschaffen, mögliche Überlebende zu retten oder zum mindesten die Toten zu bestatten. »Sie giengen hinunter ans Ufer, und fanden im Sand ausgestrekt einen schönen Jüngling todt. Mit Tränen begruben sie ihn am Ufer.« Dann aber fährt der Erzähler fort: »Trümmer des Schiffes lagen im Sande zerstreut; und sie fanden unter den Trümmern eine Kiste, öffneten sie, und schwere Reichtümer von Gold waren drinnen. Was soll uns das, sagte Battus?« 3 9 Man beschließt, den Schatz nicht an sich zu nehmen, sondern ihn vielmehr zu bewahren, um ihn den Eigentümern womöglich zurückzugeben. Nach dem Verlauf einer längeren Frist fassen die Hirten endlich folgenden Entschluß: »da Hessen sie draus am Ufer einen kleinen Tempel bauen. Sechs Säulen von weissem Marmor hielten den schattigen Vordergiebel empor, und in der Vertiefung stand die Bildsäule des Pan. Der Zufriedenheit war dieser Tempel geweiht, und dir, gütiger Pan!« 4 0 Unzählige Panhermen, die er in Kupferstichen immer wieder variierte, zierten Gessners Idyllen seit den 1750er Jahren, 41 aber der Zusammenhang des von den Hirten errichteten Panheiligtums mit dem Motiv der »Reichtümer von Gold« deutet auf einen Kontext, der offenbar mehr als die bloße Evokation eines panischen Idylls besagen will. Am Ende seines Gesprächs über das Wesen der Liebe, das er in einer bewaldeten Gegend nahe der Stadt mit dem Jüngling Phaidros hielt, richtet Sokrates in dem platonischen Dialog ein wohlbekanntes Gebet an Pan mit den Worten: Lieber Pan und ihr anderen Götter alle an diesem Ort! Gebt mir, daß ich schön werde im Inneren, und daß alles, was ich an Äußerem habe, dem Inneren freund sei! Als reich möge mir der Weise gelten, und die Menge Goldes sei mir so groß, wie sie nicht wegtragen noch wegführen kann ein anderer als der Besonnene 42

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Salomon Geßner: »Der Sturm«, in: ders.: Idyllen (wie Anm. 3), S. 128. Ebd. Vgl. Martin Bircher, Bruno Weber: Salomon Gessner (wie Anm. 2), Abb. 21 (Panherme im Gehölz, 1764), Abb. 49-53, u.ö. Piaton: Phaedr. 279 b 8-c 3. - Ich übernehme die Übersetzung, die Konrad Gaiser vorgelegt hat in seinem glänzenden Aufsatz »Das Gold der Weisheit. Zum Gebet des Philosophen am Schluß des Phaidros«, in: Rheinisches Museum 132 (1989), S. 105-140. Wie der Titel der Abhandlung bereits anzeigt, kann Gaiser mit schlüssigen Argumenten die Notwendigkeit einer figürlichen Lesart der »Menge Goldes« plausibel machen. Vgl. noch Piaton: Resp. 521 a 2-4: In einem guten Gemeinwesen »herrschen die wahrhaft Reichen, nicht die an Gold reich sind, sondern woran der Glückselige reich sein muß, an einem guten und einsichtsvollen Leben.«

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Bemerkenswert ist, daß Gessner das Gebet an Pan in einer Weise interpretiert, wie es auch Herder später noch in der Kalligone (1800) deuten wird, indem er den Schlußsatz übersetzt: »Reich ist nur der Weise. Geldes sey mir nur soviel beschert, als dem Mäßigen genüget«.43 Die Weisheit der Hirten in Gessners Idylle äußert sich also darin, daß sie den Schatz des gescheiterten Schiffes dem Gott Pan, dem Emblem der »Zufriedenheit« und Mäßigung also, opferten. Gessner folgt damit der seinerzeit üblichen literalen Deutung der »Menge Goldes« als eines mäßigen Reichtums, wie ihn die Hirten in ihrer Hütte genießen und dessen übermäßiges Verlangen die Schiffer zugrunde richtete. In der bewußten Überlagerung der Motive des Schiffbruchs, der Anakreon-Episode und des sokratischen Gebetes an Pan stellt sich uns Gessners Idylle als eine konkrete Figuration von hohem Ideengehalt dar, der weit über eine bloße >Nachahmung der schönen Natur< hinausreicht. Die verschlüsselte Struktur des Textes macht vielmehr anspielungsreich genug deutlich, wie Gessner verschiedene Ebenen tradierten Wissens zu einem neuen Bedeutungshorizont innerhalb einer einheitlichen Figuration zusammengefugt hat. Auch Goethes Dichtung vom September 1776, mit der er auf Gessners panisches Idyll reagierte, wird sich uns als derartige konkrete Figuration zeigen, aber die Schichten ihrer Bedeutung gründen begreiflicherweise in einem gänzlich heterogenen Ideenzusammenhang.

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Johann Gottfried Herder: Kalligone, in: ders.: Sämtliche Werke, hg. v. Bernhard Suphan, 33 Bde., Berlin 1877-1913, Neudruck: Hildesheim 1967f., hier: Bd. XXII, S. 93f. Vgl. Konrad Gaiser: »Das Gold der Weisheit« (wie Anm. 42), S. 107.

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4. Verwandlungen I: Die Paraphrase des Psalms 107 in der Mitte des 18. Jahrhunderts

Goethes Seefahrt entstand zu einem relativ späten Zeitpunkt seines frühen Schaffens, und die freien Rhythmen des Hymnenwerks der Jahre 1772 bis 1774 hat er hier nicht wieder aufgenommen. Stattdessen bediente er sich regelmäßiger fünftaktiger, am Strophenende auch zweitaktiger Trochäen. Dieser Wechsel in der metrisch-formalen Struktur ist im Blick auf den Sinngehalt der Dichtung nicht unerheblich. Daß es sich darin nicht um eine Ankündigung des klassischen Stils der ersten Weimarer Jahre handelt, wie man nicht müde geworden ist zu wiederholen, kann durch die anthropologischen Voraussetzungen, die ihr zugrunde liegen, zweifelsfrei aufgewiesen werden. Bereits die ausgesprochene Kritik an der Klassizität von Gessners Idylle zeigte ex negativo, woran genau Goethe Anstoß genommen hatte, ohne daß er damals schon der Gessnerschen Konzeption eine eigene Umsetzung der topischen Motive von Meerfahrt, Sturm und Schiffbruch hätte entgegensetzen können. Es blieb seinerzeit bei den freien Rhythmen, in denen sich ein bisweilen prometheisch gezeichnetes »armes Herz« aussprach. Umso überraschender könnte es auf den ersten Blick scheinen, daß die Entwicklung, die Goethe zur Seefahrt des Jahres 1776 führte, auf denselben motivischen Grundlagen beruhte wie die frühen Hymnen, nämlich auf Pindar, Horaz und den Psalmen Davids, denen er nun allerdings mit einer völlig gewandelten formal-metrischen Struktur begegnete, wie er sie sich in unmittelbarer Auseinandersetzung mit Herders Odenkonzeption erarbeitet und angeeignet hatte. Von dieser Perspektive aus muß, so paradox es auch vor dem Hintergrund der eigenen frühen Lyrik Herders scheinen mag, Goethes Seefahrt unter den Gedichten der 1770er Jahre als die vollkommenste Umsetzung von Herders Poetologie aufgefaßt werden. Blicken wir zunächst auf die genannte inhaltlich-motivische Struktur von Goethes Dichtung, so erkennen wir eine in zahlreichen Einzelzügen nahezu vollständige Adaption einiger Verse (23-32) des Psalms 107, die von denjenigen Menschen handelten, »so auff dem Meer not leiden / Vnd errettet werden«. Luther übersetzte:

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Die mit Schiffen auff dem Meer fiiren/ Vnd trieben jren Handel in grossen Wassern. Die des HERRN werck erfaren haben/ Vnd seine Wunder im Meer. Wenn er sprach/ vnd einen Sturmwind erregt/ Der die Wellen erhub. Vnd sie gen Himel füren/ vnd in Abgrund füren/ Das jre Seele für angst verzagte. Das sie daumelten vnd wancketen/ wie ein Trunckener/ Vnd wußten keinen Rat mehr. Vnd sie zum HERRN schrien in jrer Not/ Vnd er sie aus jren engsten füret. Vnd stillet das vngewitter/ Das die Wellen sich legeten. Vnd sie fro worden/ das stille worden war/ Vnd er sie zu Land brachte nach jrem wundsch. Die sollen dem HERRN dancken vmb seine Güte/ Vnd umb seine Wunder/ die er an den Menschen kindem thut. Vnd jn bey der Gemeine preisen/ Vnd bey den Alten rhümen. 1

Offensichtlich griff Goethe schon im Eingang des Gedichtes auf ein hervortretendes Motiv des Psalms zurück; wir erblicken einen Kaufmann, dessen Schiff, mit Waren befrachtet, für die Ausfahrt gerüstet und im Hafen auf günstige Winde wartend, in jene »Welten« »drüben« aufzubrechen bereitet ist, wo den Reisenden eine »Güterfülle« erwartet. Die »gottgesandten Wechselwinde« finden bei David eine genaue Parallele in dem »Sturmwind«, den Gott erregt und der die Wellen hebt. Aber den kühnen Vergleich des Psalmisten, der das unwillkürliche Taumeln und Wanken der Seeleute mit dem unschicklichen Betragen eines »Trunckenen« in Beziehung setzt, überschreibt Goethe mit dem gleichermaßen starken und, wie wir sehen werden, horazischen Bild von dem »angsterfüllten Balle«, mit dem »Wind und Wellen« »spielen«. Und wir beobachten eine weitere signifikante Differenz: Wo der Steuermann in Goethes Gedicht, »scheiternd oder landend, / Seinen Göttern« vertraut und wiederum ganz im Sinne des Horaz - auf »armseliges Flehen« verzichtet,2 richten die Seeleute des Psalms »in jrer Not« Gebete an Gott, damit »er sie aus jren engsten füret«, und so brachte er sie »zu Land«. Wie gelangte Goethe zu einer sehr pointierten Adaption des Psalms 107, die noch 1796, in der Elegie Alexis und Dora,3 deutliche Spuren hinterlassen hat? Eine Poetik der Psalmen, wie sie Johann Andreas Cramer im Umkreis der »heiligen Poesie« Klopstocks ausgearbeitet hatte, schuf in vielerlei Hinsicht die Voraussetzung für eine im einzelnen genau kalkulierte semantische und affektive Verschiebung des Ideengehaltes des Psalms 107, die für die Struktur der Seefahrt nicht ohne Folgen geblieben ist. Verfolgen wir die Spur zunächst etwas genauer, die der >heilige Gesang< Davids im Verlaufe des

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3

Die gantze Heilige Schrifft Deudsch, Wittenberg 1545. Letzte zu Luthers Lebzeiten erschienene Ausgabe, hg. v. Hans Volz, Heinz Blanke und Friedrich Kur, München 1972, S. 1061. Vgl. Horatius: carm. III,29,57f.: »Non est meum, si mugiat Africis / malus procellis, ad miseras preces / decurrere et votis pacisci« etc. Vgl. hierzu unten S. 137-147.

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18. Jahrhunderts in unterschiedlichen poetologischen Zusammenhängen hinterlassen hat, um den Ideenwandel ermessen zu können, von dem Goethes Dichtung auf der Grundlage der anthropologisch fundierten Poetik Herders und Diderots dann bestimmt sein wird. Insbesondere seit der Reformationszeit erschien eine Flut von vulgärsprachlichen Nachdichtungen der Psalmen, denen als biblischer oder heiliger Poesie noch bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts das auszeichnende Merkmal göttlicher Inspiriertheit zugesprochen werden konnte. Erdmann Neumeister (1671-1756), der spätere Pastor an St. Jacobi in Hamburg, trat bereits in seiner Leipziger Studienzeit als Dichter hervor; 4 er unterhielt ein Collegium poeticum, an dem auch Hunold (Menantes) als Hörer teilgenommen hatte. Hunold trat damals ohne Wissen Neumeisters als Herausgeber von dessen Gedichten auf, und als Neumeister 1706 zum Superintendenten zu Sorau in der Niederlausitz berufen wurde, stellte Johann Burkhard Mencke in einer Glückwunschdichtung die scharfsinnige Frage, »Ob ein Poete wol Superintendens seyn könne?« Als er 1715 das Hamburger Pastorat antrat, war er längst als eifriger Gegner der Pietisten (vor allem Johann Wilhelm Petersens) und der Unionsbemühungen der protestantischen und reformierten Konfessionen bekannt geworden. 5 Neumeisters Psalmenübersetzungen, die rasch Eingang in die lutherischen Gesangbücher fanden, erfreuten sich großer Beliebtheit, weil sie aufgrund ihrer stilistischen >Einfalt< und ihrer durch den Endreim betonten Kantatenform dem Ideal geistlicher Poesie sehr nahe zu kommen schienen. Der anonyme Autor der Vorrede einer um 1740 erschienenen Sammlung von Psalmen, und Lobgesängen und Geistlichen Liedern hob diese für den Kirchengesang geeignete Schlichtheit der Dichtungen Neumeisters eigens hervor, indem er darlegte: »Die Schreib- oder Mund-Art ist nicht schwülstig noch hochtrabend, sondern Biblisch und Theologisch, daß auch Einfältige den Verstand ungezwungen fassen können. Einem andächtigen Sänger ist es ein Eckel, wenn manche in ihrer geistlichen Poesie so hoch fliegen, daß man sie mit vielen Nachsinnen kaum einholen kan[n].« 6 In freier Adaption schmolz Neumeister den Psalm 107 in ein vierstrophiges Kirchen-

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6

Zur Biographie vgl. Grosses vollständiges Universal-Lexicon [Zedier], Bd. 24, Leipzig, Halle 1740, Sp. 259-273. Vgl. Carl Wilhelm Hering: Geschichte der kirchlichen Unionsversuche seit der Reformation bis auf unsere Zeit, 2 Bde., Leipzig 1836 / 1838, Bd. 2, S. 350-356, S. 376-386. [Anonymus]: Vorrede, in: Erdmann Neumeister, Psalmen, und Lobgesänge und Geistliche Lieder, aus seinem Poetischen und andern seinen Schrifften zusammen gelesen von dem, welcher die Vorrede zum Dritten Theile der fünffachen KirchenAndachten verfertiget, s.l., s.a., fol. 4'h.

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lied um, dessen Strophen 1 und 2 das Motiv der Errettung aus Seenot auf die folgende Weise ins Kurze fassen: 1. Wer ist, der deine Werke, O Gott, nach Würden preisen kan? Man schauet deine Stärke In allen Elementen an. Das Wasser zeugt für allen Von deiner grossen Macht, Wenn da die Fluthen wallen, Daß alles bebt und kracht. Willt du ein Schif zerschmettern, Muß alles untergehn, Und Sturm und Wind in Wettern Die zu Gebote stehn. 2. Jedoch, wenn uns am bängsten, Und schon der Tod vor Augen da, So bist du in den Aengsten Mit deiner HlllfP und Rettung nah. Du legst die Wellen nieder Durch deine starcke Hand, Und bringst die Leute wieder Gewünscht aufs trockne Land, Dir Ruhm und Preis zu geben; Da sich zum Wunder stellt, Daß sich der Menschen Leben Durch schwaches Holz erhält. 7

Wie im Falle von Brockes' Schiff-Fahrt kehrt auch hier in der letzten Zeile das Zitat aus Arats Phainomena wieder; Neumeister konnte sich umso bedenkenloser auf den heidnischen Dichter in seinem Kirchenlied berufen, als Arat bekanntlich zu den wenigen Autoren rechnete, die Paulus in seiner AreopagRede (Apg. 17,28) zugunsten einer Apologie des Christentums empfohlen hatte. Folgte Neumeisters Gesang im übrigen weitgehend der Vorlage des Psalmisten, so bot er in den beiden folgenden Strophen eine moralische Nutzanwendung, deren gewollte Schlichtheit nur durch die geistliche Lesart der Seefahrt im Sinne einer Heimkehr der Seele in den Hafen der Seligkeit Gottes überhöht wird, und die mit den Worten ausklingt: Wird sich mein Leben enden, So laß die Seele dort

Erdmann Neumeister: Psalmen, und Lobgesänge und Geistliche Lieder (wie Anm. 6), S. 645f.

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Zu Ruh und Friede länden In deinem Freuden-Port. 8

Von erheblich komplizierterer Struktur erweist sich demgegenüber die Übersetzung desselben Psalms, die Johann Andreas Cramer 1763 vorlegte, auch deshalb, weil er seine Psalmenübersetzungen mit einer ausgearbeiteten theoretischen Grundlegung der biblischen Poesie begleitete und rechtfertigte. Der hohe poetische Anspruch, den er mit seinen Übertragungen verknüpfte, wird dem Leser bereits durch das Druckbild merkwürdig. Mit der Aufteilung des Psalms 107 in die Folge »Der Vorsänger«, »Erstes Chor« und »Zweytes Chor« griff er auf die Pindarische Form der triadischen Ode zurück, wie sie insbesondere seit der Mitte des 16. Jahrhunderts durch die pindarisierende Odendichtung Pierre de Ronsards erneuert worden war.9 Cramer veröffentlichte seine Poetische Uebersetzung der Psalmen mit Abhandlungen zwischen den Jahren 1755 und 1764 in vier Teilen, nachdem er bereits einige Übertragungen in den seit 1744 erschienenen sogenannten Bremer Beiträgen publiziert hatte.10 Er trat demnach mit seiner Psalmenausgabe zu einer Zeit ans Licht, nachdem er bereits Bossuets berühmten Discours sur l 'histoire universelle und die Predigten und Homilien des Johannes Chrysostomos in einer zehnbändigen Ausgabe (1748-51) ins Deutsche übertragen hatte. Cramer (1723-1788)" erlangte durch die Vermittlung Friedrich Gottlieb Klopstocks und des Ministers Graf von Bernstorff 1753 das Amt des Hofpredigers in Kopenhagen,12 das er im Frühling des folgenden Jahres antrat, bevor er 1771 auf Betreiben Johann Friedrich Struensees entlassen und außer Lan8 9

10

11

12

Ebd., S. 646. Vgl. Thomas Schmitz: Pindar in der französischen Renaissance. Studien zu seiner Rezeption in Philologie, Dichtungstheorie und Dichtung, (Hypomnemata. Heft 101), Göttingen 1993. Zu den »Bremer Beiträgen« vgl. Jürgen Wilke: Literarische Zeitschriften des 18. Jahrhunderts (1688-1789), Teil II: Repertorium, Stuttgart 1978, S. 49-57. Zur Biographie vgl. Allgemeine deutsche Biographie, Bd. 4, Leipzig 1876, S. 550f.; Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste [Ersch/Gruber], Bd. 1 / 2 0 , Leipzig 1829, S. 83f. Zu Cramers Psalmdichtungen vgl. die wenigen Hinweise bei Karl Vietor: Geschichte der deutschen Ode, (Geschichte der deutschen Literatur nach Gattungen. Bd. 1), München 1923, S. 127; ausführlicher Dieter Gutzen: Poesie der Bibel. Beobachtungen zu ihrer Entdeckung und ihrer Interpretation im 18. Jahrhundert, Diss. Bonn 1972, S. 69-78, der allerdings nur die ersten beiden Bände der Psalmübersetzung berücksichtigt. Im Kontext von Klopstocks früher Dichtung geht auf Cramers Übertragung ein: Katrin M. Kohl: Rhetoric, the Bible, and the Origins of Free Verse. The Early »Hymns« of Friedrich Gottlieb Klopstock, (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker. N.F. Bd. 92), Berlin, New York 1990, S. 92-98. Zur Berufung Cramers vgl. Franz Muncker: Friedrich Gottlieb Klopstock. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften, Stuttgart 1888, S. 271. Zu dem Verhältnis Cramers zu Klopstock: ebd., passim (vgl. Registerangaben).

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des gewiesen wurde. Nach der Hinrichtung Struensees (1772) wieder nach Kopenhagen berufen, wirkte er seit 1774 bis zu seinem Tode als Professor der Theologie, später als Kanzler (1784) der Universität zu Kiel, das 1773 mit dem Herzogtum Holstein-Gottorp an das Königreich Dänemark fiel. Zahlreiche seiner populären Kirchenlieder wurden zuerst in seinem Todesjahr in das Hamburger Gesangbuch aufgenommen. In der 1755 erschienenen Abhandlung »Von dem Wesen der biblischen Poesie« legte Cramer dar, daß die Dichtkunst nicht durch den Gebrauch von »Erdichtungen« erklärt werden könne. Mit seiner Auffassung, daß es »vollkommne Gedichte ohne Fiction«

gebe, 13 daß sich also die vorzüglichsten

Dichtungen gerade dadurch auszeichnen, daß sie einer »Erdichtung« im Sinne des »Mythos« der aristotelischen Poetik nicht bedürfen, rekapitulierte er eine langwierige, aber äußerst fruchtbare Diskussion, die die Poetik des christlichen Humanismus über Gerhard Johann Vossius im frühen 17. Jahrhundert 14 bis hin zu Bodmer und Breitinger vor dem Hintergrund der frühchristlichen Poesie bestimmt hatte. Cramer berief sich für eine Dichtung »ohne Fiction« zunächst auf die Oden des griechischen Dichters Alkaios, denn er fand in ihnen eine Darstellung wirklicher

Ereignisse, die sich weder auf eine bloß

erfundene Erdichtung, noch auf eine »Nachahmung der schönen Natur«, noch auch auf eine »sinnliche Vorstellung des Guten und Schönen« beschränkte, und er folgerte: Ist in Erdichtungen eigentlich der hohe Grad der Wahrscheinlichkeit, oder der Aehnlichkeit mit der Wahrheit dasjenige, was uns zum Beyfalle fortreißt: so kann die Fiction unmöglich als Fiction das Wesen der Poesie seyn. Denn Erdichten heißt eigentlich nichts anders, als mit seiner Einbildungskraft gewisse Dinge mit einander verbinden, die in dieser Verbindung nicht bey einander sind, noch zugleich existirt haben.15 Worin genau bestand aber dann das Wesen einer Dichtkunst, wie sie Alkaios etwa in seiner Ode über das im Seesturm scheiternde Schiff ins Werk setzte, wenn er sang: Nicht mehr begreifen kann ich der Winde Streit: denn eine Woge wälzt sich von hier heran, von dort die andre. Wir inmitten treiben im Sturme auf schwarzem Schiffe.

14 15

Johann Andreas Cramer: »Von dem Wesen der biblischen Poesie«, in: ders.: Poetische Uebersetzung der Psalmen mit Abhandlungen über dieselben, Erster Theil, Leipzig 1755, S. 255-290, hier: S. 258. Vgl. vor allem Vossius' postum erschienene Abhandlung De artis poeticae natura, ac constitutione über, Amsterdam 1647. Johann Andreas Cramer: »Von dem Wesen der biblischen Poesie«, S. 258f.

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Das Ungewitter bracht' uns in Todesnot. Schon schlagen Wellen hoch über Bord und Deck, durchlöchert ist das ganze Segel, Fetzen nur flattern von ihm im Winde. 1 6

Ganz abgesehen von einer allegorischen Auslegung des Schiffes als des in Not geratenen Staatsschiffs, in der sich die politischen Spannungen unter dem Herrscher Pittakos in Mytilene auf Lesbos zur Zeit des Alkaios spiegeln, erblickte Cramer in derartigen und verwandten Dichtungen eine Vergegenwärtigung von Ereignissen, mit der der Dichter die »Natur« in einer Weise »zu treffen« schien, »daß man geneigt werde, sie nicht so wohl für eine Nachahmung derselben, als vielmehr für die Natur selbst zu halten.« 17 Noch 1727 hatten die Schweizer Bodmer und Breitinger in der Abhandlung Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungs-Krafft darauf bestanden, daß das Wesen der Dichtkunst auf dieser vorstellenden »Krafft der Seelen« beruhe, weil sie uns »vergangne und aus unsern Sinnen hingerückte Dinge« als »annoch anwesend vor uns« stellen, die »uns nicht minder starck rühren, als sie ehemahls gethan hatten«. 18 Darin kam eine Auffassung zum Ausdruck, wie sie Lodovico Antonio Muratori unter anderem 1706 in dem Traktat Deila perfetta poesia italiana formuliert hatte: Der Dichter sei dann Schöpfer (facitore), wenn er uns eine Handlung »insbesondere durch das Mittel der Einbildungskraft« so vergegenwärtigen könne, daß es uns scheine, »sie selbst zu sehen«. 19 Muratori brachte damit den creativen Aspekt des dichterischen Schöpfungsprozesses wieder zur Geltung, wie er in den platonisierenden Renaissance-Poetiken seit langem favorisiert worden war. 20 Bei aller Wertschätzung, die Cramer dieser Theorie der poetischen Vergegenwärtigung von Ereignissen entgegenbrachte, konnte er allerdings die 16

17

18

19

20

Alkaios: [Lieder]. Griechisch und deutsch, hg. v. Max Treu, München J 1963, S. 41 (= frg. 46a D); vgl. Poetarum Lesbiorum Fragmenta, hg. v. Edgar Lobel und Denys Page, Oxford 1955, S. 265 ( = f r g . Z 2 ) . Zur Deutung vgl. Albin Lesky: Thalatta (vgl. Kap. 3, Anm. 38), S. 194-196. Johann Andreas Cramer: »Von dem Wesen der biblischen Poesie«, in: ders.: Poetische Uebersetzung der Psalmen, Erster Theil (wie Anm. 13), S. 259. Johann Jakob Bodmer, Johann Jakob Breitinger: »Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungs-Krafft«, in: dies.: Schriften zur Literatur, hg. v. Volker Meid, Stuttgart 1980, S. 29-35, hier: S. 32. Z u m Problem vgl. Reinhart Meyer: »Restaurative Innovation. Theologische Tradition und poetische Freiheit in der Poetik Bodmers und Breitingers«, in: Aufklärung und literarische Öffentlichkeit, hg. v. Christa Bürger, Peter Bürger und Jochen Schulte-Sasse, (Hefte für Kritische Literaturwissenschaft. Bd. 2), F r a n k f u r t / M . 1980, S. 39-82, hier: S. 64-73. Vgl. Lodovico Antonio Muratori: Deila perfetta poesia italiana, hg. v. Ada Ruschioni, Mailand 1971, Iib. I, cap. 10, S. 128-138, hier: S. 136f. Vgl. E. N. Tigerstedt: »The Poet as Creator: Origins of a Metaphor«, in: Comparative Literature Studies 5 (1968), S. 455-^88.

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Auffassung einer beherrschenden Stellung, die Bodmer und Breitinger der Einbildungskraft für das Verfahren des Dichters zugesprochen hatten, aus bestimmten Gründen nicht mehr teilen. Denn eine von der Empfindung losgelöste Einbildungskraft verfügte zwar über die Macht, Handlungen als gegenwärtig darzustellen, aber diese Handlungen wiesen in ihrer inneren Struktur nur noch sehr selten und auch dann immer nur zufälligerweise jenen Ereigniszusammenhang auf, der außerhalb der Dichtung erfahrene oder >erlebte< Ereignisse auszuzeichnen pflegt. Die Verknüpfungen, die die Einbildungskraft zwischen den Dingen schuf, waren also durchaus eigengesetzlich, ohne daß sie noch an den sinnlich erfahrenen Verknüpfungszusammenhang der Dinge gebunden gewesen wären. Bodmer und Breitinger waren sich dieses Problems durchaus bewußt, erblickten darin aber ein die Poesie auszeichnendes Merkmal und legten dar: Man müsse zwar gestehen, daß insgemein die Vorstellungen der Einbildung nicht s o deutlich seyen, als der Empfindung: Wenn jedoch die Einbildungs-Krafft für sich alleine wircket, und v o n den Sinnen nicht gestöret wird, so bekommen ihre Begriffe einen großen Zusatz von Klarheit; dermassen daß wir fast in einen Zweiffei gerathen, ob wir die Dinge nicht vor Augen sehen [...] Von der gleichen Klarheit sind die Wirckungen der Einbildungs-Krafft in den Träumen. 21

Diese »Klarheit« der Phantasie, so führte Breitinger in der Critischen Dichtkunst 1740 ferner aus, eigne insbesondere den poetischen Schilderungen wunderbarer Ereignisse, die eben deshalb einen »unbetrüglichen Schein des Falschen und Widersprechenden an sich« tragen. Diese »vermeinten Deliria und Ausschweiffungen der poetischen Phantasie« seien dann nicht verwerflich, wenn sie »mit einer wundersamen Urteils-Kraft begleitet« seien und der Dichter ihnen die »durchsichtige Maßke« eines »vermummeten Wahrscheinlichen« zu geben vermöge. 22 Die Leistung der dichterischen Einbildungskraft besteht also darin, wunderbare Handlungen so zu verknüpfen, daß sie der Urteilskraft des Lesers als wahrscheinliche Verknüpfungen wahrer Handlungen entgegentreten. Das Wesen der Dichtkunst, ihre »bezaubernde Kraft«, erfüllt sich nach Breitinger in einer Zusammenfügung »poetischer Vorstellungen«, »in welchen das Wunderbare mit dem Wahrscheinlichen künstlich verbunden ist«. 23

22

23

Johann Jakob Bodmer, Johann Jakob Breitinger: » V o n dem Einfluß und der Einbildungs-Krafft«, in: dies.: Schriften zur Literatur (wie Anm. 18), Johann Jakob Breitinger: Critische Dichtkunst, Auszüge in: Bodmer / Schriften zur Literatur (wie Anm. 18), S. 8 3 - 2 0 4 , hier: S. 136f. (= 6. »Von dem Wunderbaren und Wahrscheinlichen«), Ebd., S. 143.

30

Gebrauche S. 33. Breitinger: Abschnitt:

Die Probleme, die Cramer mit dieser auf der Einbildungskraft ruhenden Theorie des poetischen Scheins der Schweizer hatte, ergaben sich aus der völligen Eigengesetzlichkeit, mit der nach Breitinger die Phantasie »künstlich« Verknüpfungen schafft, die letztlich keine Beziehung mehr zur sinnlichen Empfindung der >NaturNatur< selbst, genauer noch: auf die durch »Begeisterung« erregte Empfindung, deren ein »wirklich gerührtes Herz« je teilhaftig geworden ist. 24 Wenn die Poesie ihren Ursprung in der Begeisterung findet, die entweder »durch die Natur« oder, wie im Falle der biblischen Dichter, »durch unmittelbaren Einfluß« Gottes erregt zu werden pflegt, 25 so verliere Charles Batteux' Charakterisierung der Ode als einer »Reihe nachgemachter Empfindungen« jegliche Berechtigung, da sich in ihr vielmehr die unmittelbaren »Ausdrücke unseres Herzens« finden, 26 als welches sich in der »Sprache der Leidenschaften« ausspricht. 27 Von dem Ausleger der Psalmen forderte Cramer daher eine genaue Kenntnis der Wirkungsweise der menschlichen Leidenschaften und Begierden, da der Sinngehalt dieser biblischen Gedichte sich in ihrer sprachlich-formalen Struktur unmittelbar spiegelt. Die wahrhafte »Beredtsamkeit des Herzens« manifestiert sich in der Dichtung nämlich immer dann, wenn sich eine notwendige Übereinstimmung zwischen der dichterischen Begeisterung einerseits und sprachlichem Ausdruck und sachlicher Anordnung des Inhalts andererseits, rhetorisch gesprochen: zwischen inventio und dispositio / elocutio, einstelle. Der Vorzug der Cramerschen Poetik bestand also vor allem darin, daß er die Wahrheit der Dichtung als eine logische Struktur aufzuweisen vermochte, die die »Ordnung der Gedanken der Seele« in ihren individualisierten notwendigen Verknüpfungen als psychologische Struktur im Sinne der rhetorischen Affektenlehre zur Anschauung brachte. Diese »Ordnung der Gedanken der Seele«, die Herder in seinem Oden-Aufsatz wenig später eine »Logik des Affekts« nennen wird und die der »methodischen Ordnung des ruhigen Verstandes« ihrem Ursprünge nach gerade entgegengesetzt ist, liefert nach Cramer eben nicht nur eine »durch feurige Einbildungskraft« künstlich strukturierte Nachahmung der >Natur< im Sinne der Zürcher Poetik, sie bildet

24 25 26 27

Johann Andreas Cramer: »Von dem Wesen der biblischen Poesie«, in: ders.: Poetische Uebersetzung der Psalmen, Erster Theil (wie Anm. 13), S. 289. Ebd., S. 263. Ebd., S. 260. Ebd., S. 262. 31

vielmehr die >Natur< selbst, insofern und in welcher Art sie von dem begeisterten »Genie« erlitten wird, unvermittelt ab. Jasons Zug nach Kolchos, so exemplifizierte Cramer, erwecke auch Verwunderung, aber er besitze als bloße Erdichtung keine wahrhaft notwendige Folge der Gedanken, wie sie in Moses' Lobgesang nach dem Zug der Israeliten durch das Rote Meer zum Ausdruck komme und die die Ordnung des Affekts in dem Großen, Außerordentlichen und Wunderbaren der Handlungen genauestens abbilde. Der »Schauer«, der uns bei dem Vortrag der Psalmen durchdringt und »der unser Innerstes erschüttert«, 28 ist eine unmittelbare Wirkung des wahren Zusammenhangs außerordentlicher Ereignisse, dem ein notwendiges Verhältnis zur Ordnung der Empfindungen entspricht, und Cramer schloß: Nach der gegenwärtigen Beschaffenheit sind uns dergleichen Erschütterungen oft so nöthig, als einer dicken stehenden Luft Sturmwinde. Wenn die heiligen Dichter diesen Schauer, dieses heilsame Entsetzen in eine Seele ausbreiten wollen: Wie außerordentlich geschickt sind nicht zu diesem Endzwecke die Gegenstände, die sie wählen! 29

Aus diesem Grunde entbehrte das Prinzip einer Nachahmung der schönen Natur, auf dem Charles Batteux seine Dichtungslehre errichtet hatte, jeglicher Plausibilität, denn die Dichtkunst beschäftigt sich mit der häßlichen Natur eben so wohl als mit der schönen, und kann eben so viel Beyfall verdienen, wenn sie uns den Zorn in allen seinen wütenden Ausschweifungen malt, als wenn sie die sanften Bewegungen von stillem und bessern Leidenschaften abbildet.30

Die »Beredtsamkeit einer wahren Betrübnis«, ohne Erfindung oder Fiktion, erzeuge gerade in der Begegnung mit außerordentlichen und erschütternden Gegenständen ein »mächtiges Erstaunen«, wie die Klagegesänge Davids und des Propheten Jeremias zur Genüge zeigten. 31 Diese »Ordnung der Gedanken der Seele« wird in der sprachlichen Struktur unmittelbar merklich: Elisionen, fehlende Zwischengedanken, ineinandergeschobene Gedankengänge, der Gebrauch der »Gemälde und Figuren«, die »Abwechslung und Mannigfaltigkeit« der Ideenfolge kennzeichnen einen Stil, der der Folge der Gedanken, die »in einem außerordentlichen Grade deutlich und lebhaft sind«, genau entspricht. Der Zusammenhang der Ideen in den Psalmen Davids ist, so Cramer, vortrefflich:

28 29 30 31

Ebd., S. 271. Ebd. Ebd., S. 259. Ebd., S. 267.

32

Weil sie aber als Empfindungen ausgedrückt sind: so werden in dem Ausdrucke die Ideen ausgelassen, welche bloß zur Verbindung der Hauptgedanken mit einander gehören, damit dadurch die Geschwindigkeit und Lebhaftigkeit vorgestellt werde, in welcher sie auf einander gefolgt sind. Die Begeisterung, wenn sie eine gewisse Höhe und Stärke erreicht hat, kennt kein Gleichwie und Also. Jeder Affect ist gleichsam ein innrer Sinn der Seele.32 Die 1763 im dritten Teil der Poetischen

Uebersetzung

der Psalmen

erschie-

nene Übertragung des Psalms 107 gibt einen guten Eindruck von Cramers Auffassung einer Dichtung, die in der poetischen Begeisterung der »Ordnung der Gedanken der Seele« sprachlichen Ausdruck verleiht: Preis sollen ihm und Lob ihm geben, Die Hütten auf dem Meere baun, Und, reich zu werden, kühn das Leben Der Schiffe schwachem Schutz vertraun. Die auf den Oceanen seine Stärke, Und in den Tiefen seine Werke, Die Wunder seiner Allmacht schaun. Er sprach nur, da brauste, da stürmte der Sud Die finstern Tiefen auf zu schwellen, Und aufgewiegelte donnernde Wellen Verkündigten des Meeres Wut. Sie warfen in heulender Stürme Getümmel Die zagenden Schiffer vom Abgrund zum Himmel, Und stürzten sie wieder ins Grab Entblößter dräuender Tiefen herab. Geängstet und muthlos verzagten, Die kühn sich auf die Tiefen wagten, Und wußten keinen Rath. Sie taumelten; ungewiß sanken Die Knie der Schiffer, wie Trunkene wanken, Wenn sie der Wein entmannet hat. Da schrien sie zum Herrn der Wetter, Und riefen in der Angst zu Gott, Und Gott erschien, und ihr Erretter Erlöste sie aus ihrer Noth. Jehova will: Schnell wird der Abgrund still; Die Wellen schweigen, sinken nieder Und ruhen, und der Tag glänzt wieder. Wie freuten sie sich, durch sein Licht Geleitet, dieser Stille nicht! 32

Ebd., S. 277.

33

Wie jauchzten sie, mit fremder Völker Seegen Belastet, ihrem Land entgegen! 33

Der Weg, der Cramer zu seiner Auffassung der Psalmen gefuhrt hat, ist allerdings gewundener, als es das Ergebnis selbst vielleicht erwarten ließe, und die Wurzeln dieser »Logik des Affekts« (Herder), die er sich in der Abwehr der Zürcher Theorie der Einbildungskraft angeeignet hatte, reichen auch tiefer, als es diese Auseinandersetzung verdeutlichen könnte. Diese Wurzeln sind vielmehr in der Diskussion um eine >heilige Beredsamkeit zu suchen, wie sie Cramer mit großer Lebhaftigkeit unmittelbar nach seinen Leipziger Studien mit seinen Freunden Johann Arnold Ebert und insbesondere mit Johann Adolf Schlegel geführt hatte. Es lohnt, diesen heute beinahe vergessenen Zusammenhang ans Licht zu ziehen, weil er die eigenartige Spannung zwischen Unmittelbarkeit und Reflexion und die fragwürdig gewordene Rhetorik der Affekte in der Dichtung des >Sturm und Drang< bereits vollständig vorweggenommen hat, ohne daß die an der Diskussion Beteiligten freilich auch schon radikale formale Konsequenzen gezogen hätten. Zu Beginn seiner Karriere, zwischen den Jahren 1748 und 1751, als wir ihn in den zum Kurfürstentum Sachsen gehörigen Städtchen Crellwitz und Daspig als Prediger finden, gab Cramer die zehnbändige Ausgabe der Predigten und kleinen Schriften des Johannes Chrysostomos heraus. Diese nach der griechischen Edition des berühmten Philologen und Benediktiners Bernard de Montfaucon angefertigte Ausgabe war, was die Übersetzungen betrifft, ein Gemeinschaftswerk Cramers, Eberts und Schlegels. Die Übertragung patristischer Werke in die Volkssprache, hatte, anders als in Italien, Frankreich, den Vereinigten Niederlanden oder England und nach einer allzu kurzen Blüte in der Frühzeit der Reformation, in Deutschland erst sehr spät ein breiteres Interesse gefunden. Der Kirchenhistoriker und Theologe Johann Lorenz von Mosheim, dessen Ruhm zur Zeit der Cramerschen Übersetzungsbemühungen seit mehreren Jahrzehnten sich auch über den deutschen Sprachraum hinaus verbreitet hatte, hatte mit der erst kürzlich (1745) publizierten Übersetzung von des Origenes Streitschrift gegen Kelsos ein Beispiel für eine sprachlich mustergültige und sorgfältig kommentierte Ausgabe patristischer Literatur gegeben.34 Als Vorsitzender von Gottscheds 33

34

Johann Andreas Cramer: »Der hundert und siebente Psalm«, in: ders.: Poetische Uebersetzung der Psalmen, Dritter Theil, Leipzig 1763, S. 90-92. Gemäß der oben erwähnten triadischen (pindaresken) Gliederung des Psalms in die Abschnitte »Erstes Chor«, »Zweytes Chor« und »Der Vorsänger« handelt es sich hier um einen Abschnitt des Vorsängers, dem die Lobpreisungen der beiden Chöre folgen, worauf abermals der Vorsänger das Wort ergreift. Vgl. Ralph Häfner: »Johann Lorenz Mosheim und die Origenes-Rezeption in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts«, in: Johann Lorenz Mosheim (1693-1755).

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Deutscher Gesellschaft seit 1732 35 genoß er in Leipzig gerade auch in Fragen der Sprachpflege großes Ansehen. Man wird nicht fehlgehen, wenn man in Mosheims Unternehmung den Anstoß für Cramers Ausgabe des Johannes Chrysostomos erblickt, in der Cramer einmal beiläufig auf die einschlägigen Verdienste Mosheims zu sprechen kommt: »Nach einer langen Finsterniß in der Beredtsamkeit fand ein Mosheim die Spuren der Alten und der besten Ausländer, gieng ihnen glücklich nach, und verdiente, ihnen an die Seite gesetzt zu werden.« 36 Auch in der - erstaunlich knappen - Beurteilung der Theologie des Johannes Chrysostomos wirkten Mosheimsche Prinzipien der Kirchen- und Dogmengeschichtsschreibung lebhaft fort, wenn Cramer empfahl, durch Berücksichtigung der zeitgeschichtlichen Umstände der frühen Kirche die Zahl der vorgeblichen Ketzer möglichst gering zu halten: denn »erstlich ist zu merken, daß in den ersten Zeiten der Kirche viel weniger erfordert wurde, den Namen eines Rechtgläubigen zu verdienen, als in unsern Zeiten [...] Zweytens muß man merken, daß, wenn man in den Kirchenvätern einige Sätze findet, die eines Jrrthumes beschuldiget werden können, man sorgfältig auf die Umstände Achtung geben müsse, in welchen sie dieselben vortrugen.« 37 Derartige Überlegungen also waren die Früchte, deren Saaten Gottfried Arnold einst am Jahrhundertanfang gelegt und die in Mosheims Versuch einer unpartheiischen und gründlichen Ketzergeschichte (1746-1748) bereits üppige Blüten getrieben hatten. Die Einsicht in die historische Differenz der Lebensumstände ermöglichte somit die breite Durchsetzung eines Toleranzgebotes, indem man die Brisanz frühchristlicher Heterodoxie von der kirchlichen Dogmatik an die Geschichtsschreibung verwies und auf diese Weise entschärfte. Die moralische Frage, die Pierre Bayle in seinen Pensées diverses sur la comète (1682 / 1683) aufgeworfen hatte, ob nämlich auch ein Ungläubiger tugendhaft

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36

37

Theologie im Spannungsfeld von Philosophie, Philologie und Geschichte, hg. v. Martin Mulsow, Ralph Häfiier, Florian Neumann und Helmut Zedelmaier, (Wolfenbtltteler Forschungen. Bd. 77), Wiesbaden 1997, S. 229-260. Vgl. Karl Heussi: Johann Lorenz Mosheim. Ein Beitrag zur Kirchengeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, Tübingen 1906, S. 143; Ralph Häfher: »Gottschediana, Reiseliteratur und anderes in Mosheims Bibliothek. Mit einem bibliographischen Appendix zur Reiseliteratur« (= Abschnitt A in: Ralph Häfner, Martin Mulsow, »Mosheims Bibliothek«), in: Johann Lorenz Mosheim (wie Anm. 34), S. 373-399. Johann Andreas Cramer: »Erste Abhandlung von den Fehlern der Beredtsamkeit des Chrysostomus«, in: Johannes Chrysostomos: Predigten und Kleine Schriften. Aus dem Griechischen Ubersetzt. Mit Abhandlungen und Anmerkungen begleitet, 10 Bde., Leipzig 1748-1751, Bd. 10, S. 1-19 (der ersten Paginierung), hier: S. 5. Johann Andreas Cramer: »Abhandlung von der Theologie des Chrysostomus«, in: Johannes Chrysostomos: Predigten und Kleine Schriften (wie Anm. 36), Bd. 10, S. 4 9 - 7 0 (der ersten Paginierung), hier: S. 50f.

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sein könne, blieb davon gewissermaßen unberührt, und erst Lessings Ringparabel, die nicht nur die Gleichzeitigkeit, sondern auch die Gleichartigkeit von miteinander konkurrierenden Religionen zur Darstellung bringen wird, hatte eine vollständige Entkoppelung des Glaubensdogmas von dem logischen

psycho-

Urteil über das moralisch Gute oder Verwerfliche zur Folge.

Auch Cramer ging es denn weniger um die dogmengeschichtliche Perspektive, als er die Übersetzung der Homilien des Johannes Chrysostomos begann. Sein Interesse war vielmehr sprachlich-rhetorischer und damit zugleich auch moralischer Natur, und eben hieran kamen deutliche Differenzen zwischen ihm und Schlegel in der Einschätzung zutage, welche Leistungsfähigkeit man der Beredsamkeit des syrischen Kirchenlehrers zubilligen konnte, Differenzen, die in Cramers Ausgabe, trotz aller Bemühungen um Verständigung unter den Freunden, noch merkliche Spuren hinterlassen haben. Im Eingang zum zweiten Band führte Cramer in einer Abhandlung »Von dem Charakter der Beredtsamkeit des Chrysostomus« aus, daß es stets die »Sprache des Herzens« ist, die den vollkommenen Redner auszeichne: »Das Herz muß diejenigen Wahrheiten fühlen, die der Verstand erkennt. Darinnen sind alle großen Redner einander gleich.« 38 Da jedoch die Empfindungen unendlich individualisiert sind, vermannigfaltigen sich auch die Arten, »seine Empfindung andern mitzutheilen«: »Dieser Unterschied, in der Art zu empfinden, rührt von dem Unterschiede der Neigungen und Leidenschaften, und ihrer eigenthümlichen Einrichtung und Mischung her.« 39 Was Cramer in den Predigten des Johannes Chrysostomos zu finden glaubte, war diese »Sprache des Herzens«, in der sich die Milde und Wohltätigkeit, aber auch der Zorn des Redners über die Gemeinde zu Antiochien bei verschiedensten Anlässen aussprach. Cramer setzte seine Überlegungen unter anderem im siebten Bande fort, dem er »Gedanken über die Kunst des Chrysostomus, sich edel und erhaben, und doch für den Begriff des großen Haufens deutlich auszudrücken«,40 voranstellte. Offensichtlich ging es ihm hier um die Überwindung jenes decorum,

das den edlen und erhabenen Ausdruck

an die Seltenheit und Ausgesuchtheit der Wörter band und deren literarische Kenntnis die Wertschätzung erhabener Rede stets bedingte und voraussetzte. Johann Adolf Schlegel 41 hatte es inzwischen übernommen, für den folgenden 38

39 40 41

Johann Andreas Cramer: »Von dem Charakter der Beredtsamkeit des Chrysostomus«, in: Johannes Chrysostomos: Predigten und Kleine Schriften (wie Anm. 36), Bd. 2, S. I - X X X I V , hier: S. III. Ebd., S. III f. Vgl. ebd., Bd. 7, S. I I I - X X I X . Die einschlägigen Forschungen zu Schlegel haben dessen Übersetzung des Johannes Chrysostomos bisher nicht zur Kenntnis genommen. Die immer noch beste, quellenkundlich vorzügliche Untersuchung zu Schlegels Poetik bietet Hugo Bieber:

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achten Band eine kurze Predigt über den Propheten Jesaias zu übersetzen und mit Anmerkungen zu versehen. In dieser Predigt des Syrers über die erhabenem Worte Gottes (Jes. 7,45): »Jch bin der HErr, der ich das Licht mache, und schaffe die Finsterniß, der ich Friede gebe, und schaffe das Uebel«, erblickte Schlegel nichts als einen Stil, der in zahlreichen der Sache nach unangemessenen Allegorien, in schiefen Gleichnissen und unangebrachten Metaphern dem schwülstigen Geschmack einer im Verfall begriffenen spätantiken Rhetorik zu entsprechen schien. In dieser Predigt offenbare sich der verderbliche Stil, zu dessen Verbreitung Libanios, der Lehrer des Johannes Chrysostomos, maßgeblich beigetragen habe, und Schlegel sparte nicht mit einer harschen Kritik, indem er ausrief: Welch libanisches Galimathias! Die Kunst, Gleichnisse, die allenfalls, obenhinberilhrt noch erträglich wären, durch eine völlige Ausbildung unerträglich zu machen, hängt immer dem Chrysostomus aus der Schule seines sophistischen Lehrers an, dessen Unterricht er nie ganz verläugnen kann. 42

Als Johannes wenige Seiten später mit einer in ihrer Art reizvollen doppelten Allegorie darlegte, daß unsere Gedanken an die »Saite des Himmels« rühren sollen, »und du wirst hören, wie hell sie schallt, und allein von dem Ruhme GOttes ertönt«, steigerte sich Schlegels Polemik zu beißendem Spott: »Die Zuhörer des Chrysostomus«, so verschaffte er sich nun Luft, müssen sehr blöden Verstandes gewesen seyn, wenn sie diese Erinnerung nöthig gehabt haben; zwar vielleicht hat der Kirchenvater geglaubt, hier etwas recht schönes zu sagen, und seinen ganzen Gedanken recht auszubilden. Kaum hat er sich aus dem libanischen Geschmacke, und den unnatürlichen Gleichnissen auf ein paar Zeilen losgerissen, so stürzt er sich wiederum mit ausgespannten Flügeln in die Allegorie [...] Das Geschwätz aber, das er dieser Allegorie anhängt, muß den Ueberdruß des Lesers nothwendig vermehren. 43

Schlegels fortgesetzte Invektiven sind schon deshalb erstaunlich, weil er mit keinem Wort auf den dogmatischen Sachgehalt der Predigt einzugehen für nötig fand; die ohnehin spärlichen erläuternden Bemerkungen zur »Theologie des Chrysostomus«, die Cramer den Predigten hin und wieder beifügte, fielen im Falle von Schlegels Übersetzung sogar völlig aus. Dieser Umstand ist umso irritierender, als es sich bei den Worten des Jesaias doch um ein Zeugnis von hoher dogmatischer Brisanz handelte, das aufgrund einer scheinbaren

42

43

Johann Adolph Schlegels poetische Theorie in ihrem historischen Zusammenhange untersucht, (Palaestra. Bd. 114), Berlin 1912 (Neudruck: s.l. 1967). Johann Adolf Schlegel: Anmerkung, in: Johannes Chrysostomos: Predigten und Kleine Schriften (wie Anm. 36), Bd. 8, S. 141f. Ebd., S. 145f.

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Rechtfertigung der >orientalischen< Zwei-Prinzipien-Lehre des Manes noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Geister erregt und zu manchen Aktualisierungen des Manichäismus Anlaß gegeben hatte. 44 Stattdessen zeigte sich Schlegel ausschließlich an dem - freilich in jeder Beziehung verworfenen rhetorischen Stil der Predigt interessiert, obwohl sein Freund Cramer erst kürzlich in der Beredsamkeit des Syrers die reine »Sprache des Herzens« gefunden hatte. Worauf also konzentrierte sich Schlegels Kritik? Mit dieser Frage kommen wir dem anthropologischen Grundproblem geistlicher Beredsamkeit sehr nahe, wie es sich uns etwa in der sprachlichen Umsetzung des Seesturms in dem Psalm 107 dargestellt hat. Der Vorwurf, Johannes glaube in seinen Allegorien »etwas recht schönes« gesagt zu haben, konnte nur von einer Rhetorik her gerechtfertigt werden, innerhalb der dem Ausdruck der Empfindungen eine schmucklose, an imaginativen Ornamenten arme, aber in sich stimmige (>rational< überprüfbare) Sprachform korrespondierte. Schlegel favorisierte mit der Kritik, die er an dem Rhetor Libanios übte, offenbar uneingeschränkt die Maßgeblichkeit der doctrine classique, die im Kreis um Gottsched noch immer Triumphe feierte. Es ergibt sich hieraus das scheinbar paradoxe Ergebnis, daß der in der Predigt zur Sprache kommende unmittelbare Ausdruck der Empfindung und der Leidenschaften nach Schlegel von einer Rhetorik aufgefangen werden mußte, die unter Umgehung imaginativer und damit nicht rationalisierbarer stilistischer Elemente, insbesondere also eines übermäßigen Gebrauchs an Allegorien, Gleichnissen und Metaphern, weitgehend der durch >Vernunft< und Urteilskraft kontrollierten Sprachform des französischen Klassizismus entsprach. Dementsprechend entdeckte Schlegel darin einen der Hauptfehler des Chrysostomus, daß er der Metapher, noch indem er sich derselben bedient, vergißt, und den verblümten Verstand in den buchstäblichen verwandelt. Er läßt sich von dem Ungestüme seines rednerischen Feuers fortreissen, und indem er allzuschön seyn will, verdunkelt er seine schönsten Gemälde selbst durch einige Flecken. 4 5

Cramer war von den Argumenten Schlegels, der zur selben Zeit Charles Batteux' Abhandlung Les beaux arts réduits à un même principe (1746) über-

44

45

Vgl. Ralph Häfner: »Die Fässer des Zeus. Ein homerisches Mythologem und seine Aufnahme in die Manichäismusdebatte in Deutschland am Beginn des 18. Jahrhunderts«, in: Scientia Poetica 1 (1997), S. 35-61. Johann Adolf Schlegel: Anmerkung, in: Johannes Chrysostomos, Predigten und Kleine Schriften (wie Anm. 36), Bd. 8, S. 151.

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setzt hatte, 46 durchaus beeindruckt, und wir können von seiner Stellungnahme, die er im zehnten Band der Ausgabe des Johannes Chrysostomos gab, einigermaßen ermessen, welchen Weg er noch bis zur Poetik der Begeisterung eines »wirklich gerührten Herzens« in der Psalmenübersetzung von 1755 zurückzulegen hatte. Gleich in zwei Abhandlungen, in denen er »Von den Fehlern der Beredtsamkeit des Chrysostomus« handelte und die zusammen knapp fünfzig Seiten umfassen, griff er Schlegels Terminologie auf und legte die »Fehltritte des Chrysostomus« nun ausdrücklich in das Werk einer von Vernunft und Urteilskraft nicht reglementierten »Einbildungskraft«: Sein Geist war allzuschön, als daß er nicht auf eine anständige Art hätte fallen sollen, wenn er fiel. Seine Einbildungskraft war reich, und zugleich feurig und ungestüm; er lebte in einer Zeit, wo die Beredtsamkeit unter den Griechen und Lateinern sehr tief gesunken war; wo ein schön aufgeputzter Körper mehr, als ein starker und saftreicher Körper gefiel; er hatte einen Lehrer, der seine Schüler anführte, mit Spielwerken des Witzes und der Phantasie zu blenden. 47

Und in der zweiten Abhandlung präzisierte Cramer: »Er hatte eine so reiche, fruchtbare und ungestüme Einbildungskraft, daß sie der Vernunft und der Urtheilskraft nicht allezeit unterwürfig blieb.« 48 Obgleich der bestimmte Unterton einer Apologie des Johannes Chrysostomos nicht zu überhören ist, dessen rhetorische Kalamitäten seinem Lehrer Libanios geschuldet seien, so ist doch unübersehbar, daß Cramer in allen Hauptstücken die kritischen Argumente Schlegels aufnahm und mit dem Schlüsselbegriff einer reichen, feurigen und ungestümen »Einbildungskraft« benannte, der ohne weiteres die Poetik der Schweizer evozierte. Der Streit um das Erhabene, der sich in den Jahrzehnten um 1700 in der Auseinandersetzung mit der Longin zugeschriebenen Abhandlung über das Erhabene entzündet hatte und an dem sich damals insbesondere Nicolas Boileau und Pierre Daniel Huet als Antipoden beteiligt hatten, betraf vor allem die Frage, ob das Erhabene einer Dichtung oder Rede im Reichtum des sprachlichen Ausdrucks, also 46

47

48

Zu Schlegels Übersetzung vgl. Joyce S. Rutledge: Johann Adolph Schlegel, (German Studies in America. Bd. 18), Bern-Frankfurt / M. 1974, S. 197-237 (= Chapter VII: »Schlegel's Aesthetic Theories«). Zu seiner Polemik im Nachahmungsstreit vgl. Karl S. Guthke: »Die Entdeckung des Ich in der Lyrik. Von der Nachahmung zum Ausdruck der Affekte«, in: Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung, hg. v. Wilfried Barner, (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien. Bd. 15), München 1989, S. 93-124, hier: S. 109-111. Johann Andreas Cramer: »Erste Abhandlung von den Fehlern der Beredtsamkeit des Chrysostomus«, in: Johannes Chrysostomos: Predigten und Kleine Schriften (wie Anm. 36), Bd. 10, S. 1-19 (der ersten Paginierung), hier: S. 5. Johann Andreas Cramer: »Zweyte Abhandlung von den Fehlern der Beredtsamkeit des Chrysostomus«, ebd., S. 19^18, hier: S. 20.

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auf der Seite der verba, oder bereits in dem gewählten sachlichen Vorwurf selbst (res) in Erscheinung trete. Gottsched vertrat in dem Versuch einer critischen Dichtkunst die Auffassung, daß nach Longin die »wahre Hoheit der Schreibart« bereits in dem Gegenstand selbst zu finden sein müsse, dem auf der Seite der elocutio ein »vernünftig-erhabener Ausdruck« zu entsprechen habe, 49 und er empfahl denjenigen, die das Erhabene in den »Bombast« eines sinnreichen oder »prächtigen« Stiles setzten, der »bey der Vernunft die Probe« nicht bestehe, 50 die Lektüre von Samuel Werenfels' Traktat De meteoris orationis (1692), der den Fehler dieser »falschen Hoheit« zur Genüge entlarvt habe. 51 Metaphern, die durch »unerhörte Vergrößerungen« den n a türlichen* Verhältnissen der Dinge widersprechen, widerstreiten damit zugleich der menschlichen Vernunft, weil sie den Kreis möglicher Verknüpfungen unter den Dingen überschreiten. Diesem Fehler erliege (der seinerzeit noch vielgelesene) Lucan in dem Bilde der stürmischen See, wenn er dichte: Tunc quoque tanta maris moles crevisset in astra, Ni superum rector pressisset nubibus undas.

»d.i. Auch damals würde die ungestüme See bis an die Sterne aufgeschwollen seyn: wenn nicht Jupiter die Wellen mit den Wolken beschweret und niedergedrücket hätte.« Und Gottsched kommentiert: »Wer sieht hier nicht die Unmöglichkeit sowohl des ersten, als des andern ein?« 52 Auch im Falle des Johannes Chrysostomos, so mußte Cramer in der Diskussion mit Schlegel bekanntlich einräumen, war die Einbildungskraft nicht immer der Vernunft und der Urteilskraft »unterwürfig« geblieben, woraus die vielfältigen Fehler seines sinnreichen Stils erwuchsen. Scheinbar im Sinne der Gottschedischen Orthodoxie legte Cramer, Longin paraphrasierend, nun zustimmend dar: Was wirklich wunderbar und erhaben ist, sagt Longin, erhebt die Seele, wenn man es hört; es giebt ihr so gar eine größre Jdee von sich selbst; es erweckt im Verstände eine Vorstellung, welche noch über dasjenige erhaben ist, was man hört; es läßt uns

49

50 51

52

Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst durchgehends mit den Exempeln unserer besten Dichter erläutert, Vierte sehr vermehrte Auflage, Leipzig 1751, (Neudruck: Darmstadt 1982), S. 366. Ebd., S. 364. Ebd., S. 366. Vgl. Samuel Werenfels: Dissertationes de logomachiis eruditorum, & de meteoris orationis, Frankfurt / M. 1724, S. 269. In gedruckter Form erschien die akademische Dissertation De meteoris orationis zuerst 1702. - Zum Kontext vgl. Ralph Häfner: »Moses und der erhabene Redestil. Bibelhermeneutik und Stilkritik in der Literatur des frühen 18. Jahrhunderts«, erscheint in: Die Moses-Figur in der frühen Neuzeit, hg. v. Barbara Bauer und Friedrich Niewöhner, vorauss. 2002. Ebd., S. 367. Vgl. M. Annaeus Lucanus: Pharsalia V,625f.

40

viel denken; es gefällt allgemein und in allen seinen Theilen. Betrachtet man hingegen das falsche und erkünstelte Wunderbare: So sind es große Worte, die sich von ungefähr zusammen gefunden haben, es ist ein Schall, der nur die Ohren rührt; ein leerer Klang, von dem nichts im Geiste bleibt. 53

Vor dem Hintergrund der wenige Jahre später unternommenen Psalmenübersetzung mußte die Auseinandersetzung mit Schlegel und die vorläufige Rückkehr zu den Prinzipien Gottscheds, der indessen zugab, daß es bei der Beurteilung des Erhabenen »mehr auf den Geschmack, als auf Regeln« ankomme, retardierend wirken. Indem Cramer nun sowohl die Theorie eines vernunftgeleiteten Erhabenen im Sinne Gottscheds als auch die Auffassung eines freien Spiels der Einbildungskraft vermied, wie sie von Bodmer und Beitinger im Zusammenhang mit der Thematisierung des Wunderbaren vertreten wurde, fand er, wie wir sehen konnten, in der Kongruenz zwischen unmittelbarer Empfindung und ihrem sprachlichen Ausdruck die Möglichkeit einer Beurteilung der biblischen Poesie, die ihm deswegen als die einzig wahrhafte Poetik erscheinen konnte, weil dieser Zusammenhang oder diese Kongruenz ein der menschlichen >Natur< entsprechend notwendiges Verhältnis zum Ausdruck brachte. Die hieraus resultierende Poetik schloß nämlich Erfahrungen der erhabenen >Natur< ein, die der menschlichen Vernunft derart unbegreiflich sein konnten, daß sie den Menschen vielmehr »auf eine schreckliche Weise in Erstaunen« versetzten. Von dieser Art waren offenbar die meisten der Psalmen Davids, und es ist genau dieses Interesse, das Cramer an den Predigten des syrischen Kirchenlehrers genommen hatte, auch wenn er es seinem Freunde Schlegel damals nicht plausibel zu machen wußte. In der ersten Predigt, die Johannes Chrysostomos in Antiochien über die »Unbegreiflichkeit Gottes« gehalten und die seit der Frühzeit der Renaissance eine hervorragende Rolle bei der Ausbildung einer auf die studia humanitatis gegründeten Ethik gespielt hatte, 54 fand sich eine für die Poetik des Erhabenen bemerkenswerte Auslegung der Lieder des königlichen Sängers David, die in Cramers Übersetzung so lautet: Laßt uns hören, was der Prophet von der Weisheit sagt: Dein Erkenntniß ist mir zu wunderlich, und zu hoch; ich kann es nicht begreifen [Ps. 139,6], und weiter: Jch danke dir, daß du mir schrecklich wunderbar bist (öxi (poßepox; ¿Oau^aazmQrY;); wunderbar sind deine Werke [Ps. 139,14], Was heißt das schrecklich? Wir verwun53

54

Johann Andreas Cramer: »Zweyte Abhandlung von den Fehlern der Beredtsamkeit des Chrysostomus«, in: Johannes Chrysostomos: Predigten und Kleine Schriften (wie Anm. 36), Bd. 10, S. 30. Vgl. Ps.-Longinus: De sublimitate, cap. 7. Vgl. hierzu Agostino Sottiii: »Griechische Kirchenväter im System der humanistischen Ethik: Ambrogio Traversaris Beitrag zur Rezeption der patristischen Literatur«, in: Ethik im Humanismus, (Beiträge zur Humanismusforschung. Bd. 5), hg. v. Walter Rüegg und Dieter Wuttke, Boppard 1979, S. 63-85.

41

dem uns Uber viel, aber ohne Furcht. Wir verwundern uns über prächtige Säulen, über herrliche Gemälde, über die Schönheit der Körper; wir verwundern uns über die Größe des Meers, und über seine unergründliche Tiefe; aber wir erschrecken, wenn wir in seine Tiefe niedersehen (9au|iàC,o|iEv mxXiv rrjç 9aXàacrr|ç xô 7iéXayoç Kai ä r a i p o v ßuööv, àXXà (lexà ipößou, ö t a v rcpôç TO ßaöcx; K a t a KÜV|/COHEV). Eben so sieht der Prophet in das unendliche und unermeßliche Meer der göttlichen Weisheit, es schwindelt ihm, und voll Schrecken und Erstaunen weicht er zurück, ruft aus und sagt: Jch danke dir, daß du mir schrecklich wunderbar bist; wunderbar sind deine Werke, und weiter: Solch Erkenntniß ist mir zu wunderlich und hoch; ich kanns nicht begreifen. Betrachte hier die Dankbarkeit des Knechtes GOttes. Jch danke dir, sagt er, daß ich einen unbegreiflichen Herrn habe. Dieses sagt er nicht von dem göttlichen Wesen; denn das nimmt er als bekannt und unleugbar an, daß es unbegreiflich ist; er sagt solches von der Allgegenwart GOttes, und bekennt, daß er nicht weiß, wie er überall allgegenwärtig ist.55 Cramer richtete sein Augenmerk vor allem auf die Zusammenziehung der Worte »schrecklich wunderbar«, um deren genauen Sinn nach dem Psalmisten er sich durch Alternativübersetzungen bemühte. In einer Anmerkung teilte er die Variante »nach dem Grundtexte«, also nach dem hebräischen Text, mit und übertrug die fragliche Stelle mit der Phrase »auf eine schreckliche Weise in Erstaunen« setzen, nicht ohne den Leser darauf hinzuweisen, daß Luthers Verdeutschung »hier von der Stärke des Originales« erheblich abweiche. 5 6 Worauf es ihm also ankam, war die Tatsache, daß die Allgegenwart Gottes in seinen Werken in dem Sänger David die Empfindung eines mit Schrecken vermischten Erstaunens hervorrufe, das in seinem sprachlichen Ausdruck deshalb nicht rationalisierbar

ist, weil es seinen Ursprung j e aus dem unbe-

greiflichen Wesen Gottes genommen hat. Diese die menschliche Vernunft übersteigende Quelle des Gefühls des Erhabenen, w i e sie sich in dem Charakter der Psalmen Davids zeigt, schließt die Möglichkeit eines »vernünftigerhabenen Ausdrucks« im Sinne Gottscheds ebenso aus, w i e die bloß >zufällige< Konstruktion eines imaginierten Ideenzusammenhangs, denn die Empfindung

des Erhabenen (res) ist mit dem sprachlichen Ausdruck derselben

(verba) notwendig verknüpft. Cramer hatte sich in der Auseinandersetzung mit der Homilie des Johannes Chrysostomos über die Unbegreiflichkeit Gottes eine Bestimmung des Erhabenen in den Gesängen des Psalmisten erarbeitet, die in seinen Studien 55

56

Johannes Chrysostomos: »Fünf Predigten von der Unbegreiflichkeit GOttes zu Antiochien gehalten«, in: ders.: Predigten und Kleine Schriften (wie Anm. 36), Bd. 1, S. 237-380, »Erste Predigt«, ebd., S. 251-272, hier: S. 261f. - Vgl. Johannes Chrysostomos: Sur l'incompréhensibilité de Dieu, Tome I (Homélies I-V), 2 e édition, Texte critique et notes de Anne-Marie Malingrey, (Sources chrétiennes. Bd. 28Ws), Paris 1970, S. 116/118. Johann Andreas Cramer: Anmerkung zu: Johannes Chrysostomos: »Fünf Predigten von der Unbegreiflichkeit Gottes« (wie Anm. 36), S. 261.

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über die biblische Poesie reiche Frucht getragen hat. » A l l e s Große, Ausserordentliche und Wunderbare«, so schrieb er 1755, erwecket das Erstaunen; aber nichts in einem höhern Grade als das Unendliche. Und eben dieses ist der Gegenstand, mit welchem die Psalmen unsre Verwunderung beschäftigen. Wie müssen nicht die Menschen vom Erstaunen überwältigt werden, wenn ihnen ein Gott, mit dem niemand im Himmel und auf Erden verglichen werden kann; wenn ihnen die Unaussprechlichkeit seiner Größe; seine Allwissenheit, die alles begreift; seine Macht, die alles mit einem bloßen Wollen wirkt; seine unumschränkte Oberherrschaft über alle Geschöpfe, seine Ewigkeit, seine unermeßliche Majestät und Herrlichkeit gezeigt wird! 57 Cramers Übersetzung des Psalms 107 machte allerdings deutlich, daß die Umsetzung dieser poetischen Konzeption, vor allem auch angesichts des neuen Stils freier Rhythmik, mit dem Klopstock die Odenform inzwischen traktiert hatte, gewissermaßen unbefriedigend blieb. Seine Auffassung der Allgegenwart, Macht und Herrlichkeit Gottes war zudem mit bestimmten physikotheologischen Auffassungen verknüpft, wie sie v o n William Derham oder John Ray am Jahrhundertanfang vertreten worden waren 5 8 und die nun wieder in seine Andachten

in Betrachtungen,

seine

Werke

Eigenschaften

und

Gebeten

und Liedern

über

Gott,

( 1 7 6 4 - 1 7 6 5 ) Eingang gefunden hatten. 59

Gerade die enge Bindung von Empfindung und sprachlichem Ausdruck führte ihn zu der eigenartigen Einschätzung, daß der Stil der Psalmen Davids der Gewagtheit und Kühnheit im Ausdruck

weitgehend

entbehre, weil

alle

sprachliche Kühnheit die lebhafte Wirkung der Einbildungskraft voraussetze; der Stil der Psalmen schien ihm daher »fast überall mehr abendländisch, als orientalisch zu seyn«! 6 0 Davids Schreibart sei ebenso w i e diejenige des M o ses, Hiob oder Jesaias »zuweilen sehr kühn, neu, und figürlich im Ausdrucke; allein sie ist e s seltner, und dieses kommt unstreitig daher, daß weil die Empfindungen selbst nicht sehr heftig sind, die Imagination auch nicht mit dem 57

58

59

60

Johann Andreas Cramer: »Von dem Wesen der biblischen Poesie«, in: ders.: Poetische Uebersetzung der Psalmen, Erster Theil (wie Anm. 13), S. 269. Zu nennen sind William Derhams Werke Physico-Theology (1713) und AstroTheology (1715), um die sich Johann Albert Fabricius in Hamburg durch kommentierte deutsche Übersetzungen verdient gemacht hat. Unmittelbarer Ausgangspunkt für Derham waren Richard Bentleys Predigten The Folly of Atheism (London 1692), die Daniel Ernst Jablonski rasch ins Lateinische übersetzte, bevor 1715 eine deutsche Ausgabe folgte. Vgl. außerdem John Ray: The Wisdom of God manifested in the Works of the Creation, London 2 1692. Vgl. Johann Andreas Cramer: Andachten in Betrachtungen, Gebeten und Liedern über Gott, seine Eigenschaften und Werke, 2 Bde., Schleswig-Leipzig 1764 / 1765, hier: Bd. 1, »Vorrede« vom 6. September 1764. Johann Andreas Cramer: »Von dem poetischen Charakter der Psalmen«, in: ders.: Poetische Uebersetzung der Psalmen, Vierter und letzter Theil, Leipzig 1764, S. 285.

43

hohen Grade von Lebhaftigkeit wirken kann, welcher zu einem sehr kühnen, figurenvollen und orakelähnlichen Ausdrucke nöthig ist.«61 Das décorum der Psalmen setzte er folgerichtig in die »Mäßigkeit der Empfindungen«, denen eine »große Simplicität und Natürlichkeit der Schreibart« entspreche. 62 Freilich gab es Oden und Gesänge, die sich, wie Moses' Lobgesang nach der Flucht aus Ägypten, durch einen hohen Grad an Kühnheit auszeichneten und deren Stil so beschaffen war, daß er die »Natur in all ihren Erregungen« zur Darstellung brachte. Jacques-Benigne Bossuet hatte 1681 einen Discours sur l'histoire universelle veröffentlicht, den er ursprünglich fur die Erziehung des jungen Prinzen, den späteren König Ludwig den XV., verfaßt hatte. Sehr bald schon gelangte dieser Traktat zu großer Berühmtheit und wurde auch im 18. Jahrhundert in zahlreichen Ausgaben nachgedruckt. Noch Herder und die Göttingische historische Schule um Johann Christoph Gatterer und Ludwig August Schlözer sollten aus ihm reichen Ertrag ziehen. Es war wohl auch dieser ethisch-pädagogische Aspekt, der Cramer dazu bewog, Bossuets Schrift ins Deutsche zu übertragen und mit Anmerkungen zu versehen. Die Wirkung dieser Übersetzung blieb allerdings begrenzt, nachdem der Göttinger Philologe Christian Gottlob Heyne die Allgemeine Weltgeschichte von der Schöpfung bis auf die gegenwärtige Zeit der beiden Engländer William Guthry und John Gray 1765 zu publizieren begann. Dennoch: Cramer fand in Bossuets Abhandlung eine Theorie über den Ursprung und den Stil der ältesten Dichtkunst vor, die seine Einschätzung der Kühnheiten der biblischen Dichtung bereits vollständig vorweggenommen hatte. Nach Bossuet waren die ältesten Oden und Gesänge lange vor der Erfindung der Schrift und stets anläßlich des Gottesdienstes in Gebrauch: Le style de ces cantiques, hardi, extraordinaire, naturel toutefois en ce qu'il est propre à représenter la nature dans ses transports, qui marche pour cette raison par de vives et impétueuses saillies, affranchi des liaisons ordinaires que recherche le discours uni, renfermé d'ailleurs dans des cadences nombreuses qui en augmentent la force, surprend l'oreille, saisit l'imagination, émeut le cœur, et s'imprime plus aisément dans la mémoire. 6 3

Cramer übersetzt: Die Schreibart dieser Gesänge ist kühn, außerordentlich, und immer darinnen natürlich, w a s die Natur in ihren Entzückungen vorzustellen geschickt ist. Sie braucht aus dieser Ursache lebhafte und feurige Gedanken, und ist von den gewöhnlichen Ver-

61 62 63

Ebd. Ebd. Jacques-Benigne Bossuet: Discours sur l'histoire universelle, in: ders.: Œuvres, hg. v. Abbé Velat und Yvonne Champailler, Paris 1961, S. 6 5 7 - 1 0 2 7 , hier: S. 790f.

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bindungen frey, welche eine zusammenhangende Rede erfordert. Sie ist außerdem in einem prächtigen und wohlklingenden Sylbenmaße eingeschlossen, welches ihre Kraft vermehrt, das Ohr in Erstaunen setzt, sich der Einbildungskraft bemächtigt, das Herz bewegt, und sich daher leichter und tiefer in das Gedächtniß eindrückt. 64

Diese ältesten Gesänge beruhten nach Bossuet auf einer unmittelbaren Eingebung Gottes, auf einem Enthusiasmus ferner, zu dem der Dichter durch die Betrachtung Gottes und seiner wunderbaren Werke erregt wurde: »C'était Dieu et ses œuvres merveilleuses qui faisaient le sujet des odes qu'ils ont composées: Dieu les inspirait lui-même; et il n'y a proprement que le peuple de Dieu où la poésie soit venue par enthousiasme.« 65 Cramer verfugte damit über wesentliche Elemente einer Theorie der Ode, die er in den Abhandlungen seiner Poetischen Uebersetzung der Psalmen im einzelnen ausgearbeitet hatte. Auch wenn der Stil dieser Übertragungen letztlich nicht überzeugen konnte, so ist doch offensichtlich, daß damit - trotz der Kritik, die Lessing an Cramer in den Literatur-Briefen übte 66 und die ihm beinahe sein Vergessen oder zumindest seine Geringschätzung eintrug - ein poetologisches Fundament gelegt war, auf dem Herder in den 1760er Jahren aufbauen konnte. Als Goethe die Ode Seefahrt schrieb, schloß er in sachlicher Hinsicht bewußt an den Psalm 107 an, aber er konnte begreiflicherweise von Cramers Version nicht das geringste mehr profitieren, einer Version, die noch immer allzu sehr an die Tradition des protestantischen Kirchenliedes erinnerte und die erheblich von dem theoretischen Anspruch, mit dem Cramer sie begleitet hatte, abwich. Es wurde jedoch deutlich, daß die aus den Psalmen selbst abgeleitete Einsicht in die >Hoheit der Natursubjektiven< Elemente enthalten sein müssen, um in dem Ausdruck der »Seligkeit des Lebens« zugleich die >Not< des Weltverhältnisses eines fühlenden Individuums zu umgreifen.

84

Ebd., S. 96. 53

5. Die Oden-Abhandlung Herders

Vor dem Hintergrund der ergiebigen Diskussion um das Wesen der biblischen Poesie werden Umrisse einer Anthropologie sichtbar, wie sie Herder in den 1760er Jahren erarbeitet hatte. Gegenüber dem »Empyreum« der Sulzerschen Wirkungsästhetik erschien die >Kunst< hier als eine Ausdrucksform des Individuums, die in das Konzert der Lebensäußerungen von viel grundsätzlicherer Art eingefügt war. Nicht zufällig hatte Goethe in der Sulzer-Rezension, nachdem er die »Kunst« als Widerspiel der gleichgültigen >Natur< charakterisiert hatte, auf die sogenannten Kunsttriebe der Tiere verwiesen, indem er darlegte: »Schon das Thier durch seine Kunsttriebe scheidet, verwahrt sich; der Mensch durch alle Zustände befestigt sich gegen die Natur, ihre tausendfache Übel zu vermeiden und nur das Maas von Gutem zu gemessen«. 1 In den Fragmenten einer Abhandlung über die Ode rekapitulierte Herder noch einmal Überlegungen über die Subjektivität des Seins, wie er sie wenige Zeit zuvor in dem an seinen Lehrer Immanuel Kant gerichteten Versuch über das Seyn entwickelt hatte. Einleitend führte er in der Odenabhandlung aus: »Je mehr sich die Lehren der ganzen Weltweisheit der Erfahrung und den subjektiven Begriffen des Seyns nähern: desto gewißer werden sie zwar, aber auch desto unerklärlicher; die Unzergliederlichkeit der Aesthetischen Grundsätze scheint eben so zu wachsen, j e mehr sie zur Empfindung des Schönen absteigen.« 2 Da alle

Der junge Goethe (FL), Bd. III, S. 95. - Auf die sogenannten Kunsttriebe der Tiere wurde Goethe insbesondere durch Marin Cureau de la Chambre, Traité de la connoissance des animaux (1648), aufmerksam, von dem 1751 in Leipzig eine deutsche Übersetzung erschien. Auf Cureau rekurriert 1760 Hermann Samuel Reimarus in seiner Abhandlung: Allgemeine Betrachtungen Uber die Triebe der Thiere, hauptsächlich über ihre Kunsttriebe: Zum Erkenntniß des Zusammenhanges der Welt, des Schöpfers und unser selbst (Neudr. hg. v. Jürgen von Kempski, Göttingen 1982). Das Problem wurde im 18. Jahrhundert insbesondere im Ausgang von Pierre Bayles Artikel »Rorarius« seines Dictionnaire historique et critique (zuerst Dezember 1696) auf breiter Basis rezipiert. Vgl. Ralph Häfner: Johann Gottfried Herders Kulturentstehungslehre. Studien zu den Quellen und zur Methode seines Geschichtsdenkens, (Studien zum 18. Jahrhundert. Bd. 19), Hamburg 1995, S. 161f. Johann Gottfried Herder: »Fragmente einer Abhandlung über die Ode«, in: ders.: Sämtliche Werke (vgl. Kap. 3, Anm. 43), Bd. 32, S. 61-85, hier: S. 61. - Zur Funktion der Meeres-Metaphorik in Herders Abhandlung vgl. Ingrid Strohschneider-Kohrs: »Metaphorische Approximationen. Ein Sprachbild und sein Kontext in Herders frühen Schriften«, in: Philosophie und Poesie. Otto Pöggeler zum 60. Ge-

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Begriffsbildung auf einer vergleichenden Hierarchisierung von Empfindungen beruht, ist der Empfindungsinhalt, den das Individuum >subjektiv< von dem »Sein« erlangt, zwar völlig gewiß, aufgrund seiner radikalen Individualität aber unerklärlich oder unbegreifbar und als solcher nicht mitteilbar. Die Bildung subjektiver Begriffe des Seins geht demnach aus einer nachträglich analogisierenden Verknüpfung von Empfindungen hervor, die erst in ihrer Verknüpfung, das heißt in ihrem Verhältnis zueinander, anerkannt und endlich begriffen werden. Das begriffliche Wissen um das »Seyn« steht also am Ende eines Erkenntnisprozesses, der in seinem Ursprung, der unmittelbar sinnlichen Empfindung bestimmter Aspekte dieses Seins, notwendig unerklärbar sein muß. Herder löste auf diese Weise die Frage nach dem Wesen der Poesie aus dem rhetorischen Kontext, aus dem Cramers Poetik beinahe ausschließlich erwachsen war, heraus und fügte sie einem anthropologischen Erkenntnisinteresse ein. Wo Cramer den Ausdruck der Affekte im Rückgriff auf das rhetorische decorum erklärt hatte, war für Herder die sprachliche Darstellung der Empfindungen zutiefst mit dem Erkenntnisproblem der Sprachentstehung verknüpft, weil er erkannte, daß Empfindung, Gedanke und sprachlicher Ausdruck nicht in einem rhetorisch-relativen, sondern vielmehr in einem wissensgenealogischen Verhältnis zueinander stehen. Unter dieser erkenntniskritischen Voraussetzung zog Herder einige signifikante Schlußfolgerungen im Blick auf den Ursprung und das Wesen der Dichtkunst. Die unterschiedlichen Gattungen der Gedichte »verwickeln sich« oder laufen umso mehr auf eine einzige Gestalt hinaus, »je mehr sie sich der Empfindung nähern«. 3 Der ursprüngliche Charakter der Dichtkunst enthält somit das unmittelbarste Verhältnis der individuellen Empfindung zum sprachlichen Ausdruck. Dieser Charakter aber zeichnete die ältesten Oden aus: »Kurz! aus der Ode wird sich vielleicht der ganze große Originalzug der Gedichtarten, ihre mancherlei und oft paradoxen Fortschritte entwickeln: das reichste und unerklärteste Problem! - « 4 Herder erblickte die anthropologische Problematik der Odenform nämlich gerade darin, daß sie sich wie keine andere poetische Gattung »unter den Nationen« 5 und im Laufe der Jahrhunderte derart verändert habe, daß die genaue Bestimmung ihres Charakters notwendig alle ihre »paradoxen Fortschritte« oder Verwandlungen enthalten müßte. Indem Herder die jeweilige Gestalt der Ode zu den verschiedenen »Nationen«

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3

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5

burtstag, hg. v. Annemarie Gethmann-Siefert, Stuttgart-Bad Cannstatt S. 215-240. Ebd., S. 62. Ebd. Ebd., S. 63.

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1988,

in Beziehung setzte, gab er zugleich einen Hinweis darauf, daß dieselbe in ihrem Wandel stets den Bedingungen der natürlich-klimatischen und geselligen Lebensumstände unterworfen sei. Die Individualität der Empfindung, die sich nach Zeit und Raum unter den Völkern ins Unendliche diversifiziert, drückt sich in dem unterschiedlichen Charakter der Ode je verschieden aus. Wie die Empfindungslage des alten Orients zu »feuriger Denkart« und »brennender Handlung« Anlaß gab, weil ihr ein »hitziges« Klima entsprach, so leuchte in der morgenländischen Dichtung »ein gewißes Ganze der Ode« hervor, deren oft bemerkte »Kühnheit« ihr »nicht schlechterdings, sondern beziehungsweise auf uns« eigen sei.6 Der »Enthusiasmus« der orientalischen Poesie, »jene einfältig hohe Theopneustie«, sei beinahe »der einzigwahre, da er immer blos einer monarchischen Empfindung folgt, ohne wie die Hitze der Abendländer vom Eigensinn des Willkührs erpreßet zu seyn. Er raset trunken den Weg des Affekts, wo ihm der unsere nicht nachtaumeln kann.«7 Die affektive Struktur des Gedichts folgt also aufgrund der natürlichen »hitzigen« Lebensbedingungen einem psychologisch ebenso notwendigen Konnex von »monarchischer Empfindung« und sprachlichem Ausdruck wie sie im Falle ihrer >modernen< Adaption aufgrund eines gewandelten psychologischen Wahrnehmungshorizontes willkürlich wäre. Aus diesem Umstand ergibt sich für Herder die wichtige Tatsache, daß die >alte< Dichtung weder ihrer formalen noch ihrer sachlichen Struktur nach einer >modernen< Nachahmung fähig ist, eine Beobachtung, die er ebenso auf die alte griechische und römische Dichtung bezieht, denn: »Auch dieselben Gegenstände sehen wir nicht mit denselben Augen an«.8 Herders Poetik der Ode umkreist beständig derartige Verhältnisse zwischen Völkern, geographisch-klimatischen Lebenslagen und Zeitaltern, durch die sich der je eigene Odencharakter bestimmt. Das im Verhältnis zum Orient mäßigere, gleichwohl »wollüstige« Klima der Griechen »kühlte ihre Oden meistens zu einzelnen sanften Empfindungen ab«; ein durch den Genuß des Weines erhitztes Gemüt schuf »rasende Dithyramben«, durch ein »fremdes Feuer, was den Ebräern nicht heilig war.«9 Der Dithyrambos war den Griechen so charakteristisch, wie er nur unter den besonderen Bedingungen der griechischen Lebenslage entstehen konnte; er war »ein verlornes Familienstück der Griechischen Empfindung. - Das Vaterland jedes andern Odendichters der Griechen scheint seine Ader der Empfindung zu bestimmen: so daß Thebe den Pindar, Sparta den Alkman, Tejos den Ana-

® Ebd. . Ebd., S. 64. „ Ebd., S. 65. 9 Ebd., S. 64. 57

kreon, Lesbos die Sappho zeugte.«10 Trotz der Inkommensurabilität, die Herder unter den Oden der alten Völker beobachtete und die jede Möglichkeit ihrer Nachahmung ad absurdum zu fuhren schien, weil die je besondere, individuelle Empfindungslage sich niemals auf dieselbe Weise äußert, maß er den »Neuern« dennoch das Vermögen zu, sich in jene Empfindungslagen zu »verwandeln«. Obgleich also die nördlichen Völker im Verhältnis zu den Orientalen »beinahe Antipoden« sind, so »kann sich freilich die Empfindung unseres Mittelklimas Stuffenweise eher in jene verwandeln«.11 Diese Fähigkeit der Assimilation der Empfindungslagen, der genealogischen Rekonstruktion zeitlich und räumlich sehr differenter Erkenntnishorizonte, begründet eine Hermeneutik, durch die sich Herder die Möglichkeit eines anthropologischen Verständnisses der Odenform eröffnet hat. Indem der Betrachter alter Poesie kognitive Differenzen im scheinbar Gleichartigen wahrnimmt, schafft er sich die Voraussetzung, das Ähnliche im Unähnlichen zugleich als semantische Differenz, als unendliche Mannigfaltigkeit von Bedeutungen zu begreifen. Der Anruf der Götter in den ältesten Hymnen bedeutete demnach etwas anderes als der hymnische Lobpreis Gottes, zu dem sich der >moderne< Dichter versteht. In dem Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst konnte Herder zeigen, daß die »ältesten Religionslieder« von den »mächtigern Empfindungen« der Furcht, der Rache und des Schrekkens im Blick auf das Wirken der Götter bestimmt worden sind,12 während »für unsre Zeiten« gelte, daß sich die »Gefahren« des Lebens durch die forschende Erkenntnis »natürlicher Ursachen« »unstreitig vermindert« haben.13 Herder, der hier ausdrücklich auf Lukrez' Auffassung einer Entstehung der Religionen durch die Furcht zurückgreift,14 nahm in dieser kognitiven Differenz die semantische Verschiebung wahr, daß die Begriffe »Gottesdienst und Erzittern«., die in den ältesten Gesängen »zu Synonymen« gemacht worden seien, allmählich durch den Konnex von >Gottesdienst< und >Dankbarkeit< gegenüber den Göttern ersetzt worden seien.15 Diese semantische Verschiebung geschah, sobald man furchterregende Begebenheiten auf ihre »natürliche Ursache« zurückführte, »die sich durch Gebet nicht ändern, aber durch Klugheit vermeiden läßt. Uns treibt also weniger Noth vor den Altar der Gottheit:

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15

Ebd., S. 64f. Ebd., S. 66. Johann Gottfried Herder: »Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst«, in: ders.: Sämtliche Werke (vgl. Kap. 3, Anm. 43), Bd. 32, S. 115. Ebd., S. 117. Vgl. ebd., S. 115f. - Vgl. Lucretius: De rerum natura 1,63-72. Ebd., S. 116.

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wir sind angewiesen, unsre eigne Götter zu seyn, ohne sie durch Bitten um Wunderwohlthaten versuchen zu wollen«.16 Dieser Substitution liegt der Gedanke zugrunde, daß dieselben furchtbaren Ereignisse in der Geschichte der Menschheit zu völlig verschiedenen Beurteilungen des Wahrnehmungsinhalts Anlaß gegeben haben, indem man ihnen entweder »durch Gebet« oder »durch Klugheit« begegnete. Es ist kein Zufall, wenn wir dieselbe kognitive Verschiebung auch in Goethes Adaption des Psalms 107 beobachten, und es zeigt sich darin gewissermaßen die >Modernitätneuen< Semantik völlig entsprechendes: Vor seinem starren WUthen, Streckt der Schiffer weis die Seegel nieder, 17

und obgleich das Motiv des Einziehens der Segel seit langem einen Topos in der lyrischen Dramatik der Sturmdichtungen ausmachte, so ist es doch sehr bezeichnend, daß Goethe gerade an der Semantik dieses Verses arbeitete, indem er in der leicht umgearbeiteten Fassung für die Ausgabe der Werke des Jahres 1789 variierend und präzisierend auf dieses sinntragende Motiv hindeutete: Vor seinem starren Wüten, Streckt der Schiffer klug die Segel nieder[.] 18

Der Weg, der Goethe zu dieser eindrucksvollen Modernisierung eines biblischen Vorwurfs führte, erweist sich uns allerdings erstaunlicherweise als ebenso traditionsgebunden wie dieser selbst. Greifen wir an dieser Stelle kurz voraus: In der die Gedankenentwicklung des Gedichtes zusammennehmenden abschließenden Strophe seiner Ode über die »goldene Mitte« (aurea mediocritas) zeigte Horaz, wie der Hochgesinnte bei allzu mächtigen Winden die Segel »weislich« einzuziehen berufen ist: Rebus angustis animosus atque fortis adpare: sapienter idem contrahes vento nimium secundo turgida vela.

17

Ebd., S. 117. Johann Wolfgang Goethe: »Seefahrt« (v. 31f.), in: Der junge Goethe (1998), Bd. 2, S. 239 (meine Hervorhebung). Johann Wolfgang Goethe: »Seefahrt« (v. 31f.), Fassung von 1789, in: Sämtliche Werke, Frankfurter Ausgabe, Bd. 1, hg. v. Karl Eibl, S. 327 (meine Hervorhebung).

59

(In Bedrängnis zeige dich hohen Sinnes, Festen Muts; doch ziehe die Segel wieder Weislich ein, sobald sie zu sehr des Windes Günstiger Hauch schwellt.)19 In einer ausgesprochen wörtlichen Adaption also, 20 mit der Goethe das vorausblickende Handeln des Seemanns (»sapienter«) in den zunächst biblisch grundierten Bedeutungsraum seines Gedichtes integrierte, kommt uns nach und nach eine Sinnstruktur zum Bewußtsein, deren Originalität sich aus einer sinnreichen Verknüpfung durchaus traditionsgebundener Motive erschließt. Dieser Modernität scheint zudem das durchaus Balladenhafte des trochäischen Versmaßes zu entsprechen, das die Ode Seefahrt

gegenüber den freien

Rhythmen der Hymnik der frühen 1770er Jahre auszeichnet. In dem einer Geschichte

der lyrischen

Dichtkunst

Versuch

führte Herder über die Entstehung

des Metrums aus, daß die ältesten Gebete sich durch drei Kennzeichen charakterisieren lassen: sie waren »kurz«, »sinnlich« und bestanden in ausgesuchten Worten, theils weil ihre Sprache noch unausgebildet zu feierlichen Ausdrücken, und blos eine Sprache der sinnlichen Bedürfnisse im gemeinen Leben war, theils weil sie ihre Noth und die Eigenschaften ihres Gottes so eindrücklich als möglich zu benennen suchten, damit sie ihn ja bewegten. Wie heißt nun ein kurzes, sinnliches Gebet voll ausgesuchter starker Worte? Ohne Zweifel eine Poesie, in ihrem rohen Ursprünge! Und wenn dies Gebet in einer Sprache ist, die ihre Accente sehr stark hören läßt? so geht diese Poesie schon auf polymetrischen Füßen: man spricht sie in hohen Tönen und — singt sie also: ein natürlich roher Gesang der Poesie 21 Eine derartige Dichtung, sobald sie eine Reihe »gleichmäßiger Füße« aufwies und also das »erste rohe Sylbenmaaß« vorstellte, bildete, begleitet von Musik, jene »erste natürlich-rohe Composition«, die unter dem Namen »heiliger Gesänge« »bei allen Völkern zu den ersten Produkten der Dichtkunst gehört haben.« 22 In dem Fragment der Oden-Abhandlung legte Herder weiterhin dar, daß die »Odenart der Hebräer« »kurz in ihren Theilen, und gemeiniglich lang im Ganzen« gewesen sei, wie Robert Lowth in seiner Untersuchung über die

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22

Horatius: carm. 11,10,21-24 (Edition von Hans Färber; meine Hervorhebung). Mit dieser Beobachtung wird die von Karl Eibl vorgeschlagene Interpretation (Weisheit als »Privattugend«, Klugheit als »Fähigkeit des Taktierens« in der »Sphäre der Politik«) freilich hinfällig (Vgl. Karl Eibl, Kommentar zu: Goethe: Sämtliche Werke, Bd. 1 [1987; vgl. Kap. 2, Anm. 7], S. 932, wiederholt in: Der junge Goethe [1998], Bd. 2, S. 239). Goethe übersetzt vielmehr das horazische »sapienter« zunächst wörtlich (»weis«) und emendiert es 1789 im Sinne der oben erläuterten Bedeutung von »Klugheit«. Johann Gottfried Herder: »Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst« (wie Anm. 12), S. 106f. Ebd., S. 107. 60

hebräische Poesie gezeigt habe. 23 Dieser Ursprungsgeschichte des Metrums entspreche die Melodie in den biblischen Gesängen, die man als »einfachprächtig« kennzeichnen müsse, »wie die Heerpauken ihres Donners, und die Schritte des Sturms zwischen den Felsen der Wüste.« 24 Dem einfachprächtigen Melos stehe die Odendichtung der Griechen gegenüber, die »cyclischen Tänze Pindars« und die »Erlustigungen der Sappho«, in deren polymetrischer Struktur sich das Wesen ihrer Sprache unmittelbar widerspiegele: »Ihre kühnen Uebergänge waren also wesentlich nöthig, ihr ganzes Ohr zu füllen, ihre ganze Zunge zu bewegen, jede Saite zu treffen, und jedes Glied zu ihrem geistigen Tanze aufzufodern.« 25 Herder insistierte auf dem engen Zusammenhang von Sprachbildung und Sprachausdruck, denn in der Genese des Melos äußerte sich jene beinahe unendliche Wandelbarkeit der Odendichtung unter den Völkern, die der alten Poesie ihre unverwechselbare, aber auch inkommensurable Form verlieh. Er richtete seinen Blick darauf, in der Differenz die Gleichartigkeit zu erkennen, ohne daß daraus Prinzipien der Nachahmung hätten gewonnen werden können. Die Begründung einer >modernen< Form der Dichtung schien ihm vielmehr nur unter der Bedingung möglich, daß die Gleichartigkeit aller Dichtung nicht in ihrer Sprachbehandlung, sondern in ihrem einheitlichen anthropologischen Fundament eingesehen werde. Die Auslegungen alter Dichtung gründen sich also nicht sowohl auf die Beobachtung bestimmter, immer wiederkehrender Regeln der Beredsamkeit, als vielmehr auf die Entdeckung einer anthropologischen Grundstruktur, die durch die scheinbar immer wiederkehrende melodisch-metrische Behandlung der Sprachen hindurchscheint, denn »Hermeneutik ist weniger demonstrative Wissenschaft, als Sache des Augen-

„« 25

Herder bezieht sich hier auf Robert Lowth: De sacra poesi Hebraeorum praelectiones academiae Oxonii habitae, hg. v. Johann David Michaelis, Göttingen: Pockwiz und Barmeier, 1768, S. 520-538 (= Praelectio XXVII: »Odae hebraeae tertius character«), hier: S. 535: »Hebraei, si universa spectes, sunt largi, copiosi, uberes; si singula, parci restricti, pressique: variando, repetendo, subinde addendo, amplificant: tota quidem res fuse interdum tractatur, sed iteratis crebrisque et per omnia brevibus et nervosis sententiis; ita ut nec copia, nec vis desit.« Lowth leitete daraus die Unmöglichkeit einer adäquaten Übersetzung der hebräischen Poesie ab, indem er unmittelbar darauf fortfuhr: »Debetur isthaec brevitas, cum linguae ingenio, tum etiam naturae carminis Hebraei: ideoque huic parti ut nullae plerumque versiones satisfaciunt, ita minime omnium versiones metricae.« - Zu Lowths Vorlesungen vgl. die Hinweise von Brian Hepworth, Robert Lowth, Boston 1978, S. 77-98 (Ch. 4: »The Lectures on Oriental Poetry«), Rolf Bachem: Dichtung als verborgene Theologie, (Abhandlungen zur Philosophie, Psychologie und Pädagogik. Bd. 5), Bonn 1956, S. 5If., betont zurecht: »So neuartig, wie dies Werk zunächst zu sein scheint, ist es nicht, indem es die Bibel als Poesie darstellt [...] aber nie hat jemand mit solcher Eindringlichkeit und Systematik alle poetischen Formen und Stile der Bibel dargestellt«. Johann Gottfried Herder: »Fragmente einer Abhandlung über die Ode« (wie Anm. 2), S. 70. Ebd.

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punkts, Gesichtskreis], schnelle Bemerkung, sensus communis«. 26 Die strukturelle Gleichartigkeit der Ode zeigt sich demnach in einer notwendigen Entäußerung des Affekts in Gestik, Minenspiel und »unartikulirten Tönen«, eines Affekts, der sich endlich in der Sprache zu sich selbst befreit. Indem der Affekt im sprachlichen Ausdruck Bedeutung annimmt, wird er vielbedeutend, denn er unterliegt in seiner Entäußerung nunmehr den geographisch-klimatischen und epochalen Umständen, die ihn in seiner kulturellen Erscheinungsform bedingen. Herder faßte diese »Erklärung der Ode aus der Empfindung« wie folgt zusammen: Der Affekt, der im Anfange stumm, inwendig eingeschlossen, den ganzen Körper erstarrete, und in einem dunkeln Gefühl brausete, durchsteigt allmälich alle kleine Bewegungen, bis er sich in kennbare Zeichen predigt. Er rollt durch die Minen und unartikulirte Töne zu der Vernunft herab, wo er sich erst der Sprache bemächtigt: und auch hier durch die genauesten Merkmale der Absteigerung sich endlich in eine Klarheit verliert, die ihm schon sein Selbstgefühl frei läßt. 27

Im Affekt »empfindet man die sinnlich größte Einheit«, 28 die, wie Herder einleitend dargelegt hatte, ebenso gewiß wie unerklärbar ist. Die Ode gibt nichts anderes als Erklärungen oder Auslegungen dieser sinnlichen Gewißheit des >Seinsmodemen< Dichtung nahm Herder die Kritik vorweg, die Goethe 1772 gegenüber Gessners Idylle Der Sturm üben wird. Herder war sich im klaren darüber, daß auch »Pindars Logik« nur einen Modus der Logik des Affekts ins Werk setzte, die eben darum nicht ohne weiteres in eine andere, etwa >nordische< Empfindungslage zu versetzen war. Es ist wieder die ursprünglich affektive Struktur von Pindars Oden, die den »Zauberer« einer Dichtung anleitet, im Blick auf die anthropologische Gleichartigkeit des >brausenden< »dunkeln Gefühls« der Seele zu >pindarisierenschwimmende< »Zauberer« selbst, der spricht: Vom dunkeln Meer vergangener Thaten steigt ein Schattenbild in die Seel' empor! Wer bist du, Dämon! Kommst du leitend mein Lebensschiff in die Höh' dort auf in die blaue Nebelfeme dort auf, wo Meer und Himmel verweben ihr Trugegewand; wie? Oder Flamme des hohen Masts! Mir Inphantom und nicht der Errettenden Einer der Sternegekrönte Jüngling!

Johann Gottfried Herder: [Vorbemerkung zu:] »Der Genius der Zukunft«; ich zitiere nach der kommentierten Edition von Hans Dietrich Innscher, in: Gedichte und Interpretationen, Bd. 2: »Aufklärung und Sturm und Drang«, hg. v. Karl Richter, Stuttgart 1983, S. 273-275, hier: S. 275. Vgl. außerdem: Arthur Henkel: »>Der deutsche Pindarmoderne< Odenform ist, die deren Möglichkeiten wie in einen Brennspiegel zusammenfaßt. Freie Rhythmen erinnern zunächst an Klopstocks Dichtungen, der 1759 in dem später so genannten Lobgesang Das Landleben in Anknüpfung an den biblischen Psalmton das Weltverhältnis des Menschen in dem Bilde des »Oceans der Welten« sinnlich faßte. 4 Dieser Kontext der Meeresdichtungen verschärft aber noch die Frage, warum Goethe in der Seefahrt nicht mehr der freien Rhythmik sich bedient hat. Kehren wir noch einmal zu dem Fragment der Abhandlung über die Ode zurück. In der geschichtlichen Entwicklung der Ode, die Herder von dem Orient über Griechenland und Rom bis in seine eigene Zeit verfolgte, leitete er aus einem mäßigen »Mittelklima« zuletzt die Empfindungslage des Nordens her, die ebendeshalb imstande sei, sich in jene anderen, orientalischen, griechischen und römischen Empfindungslagen »stuffenweise« zu verwandeln.

2 3

4

Ebd., S. 273f. Ich übernehme diesen Begriff von Jean Pépin: »Allégorie et auto-herméneutique«, in: Philosophies non chrétiennes et christianisme, (Annales de l'Institut de Philosophie et de Sciences morales), Brüssel 1984, S. 51-56. Friedrich Gottlob Klopstock: [»Das Landleben«], zitiert nach dem von Uwe-K. Ketelsen kommentierten Druck, in: Gedichte und Interpretationen (wie Anm. I), S. 240-244.

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Mit dem allmählichen Zurücktreten der sinnlichen, affektgebundenen »Thierseele« im Menschen sei eine stetige Entfaltung der »Menschlichen Geisteskräfte«, des Witzes und der Vernunft, verbunden, die im selben Maße von einem steten Sinken der Poesie begleitet sei. »Die Ausbreitung der Wißenschaften verengert die Künste, die Ausbildung der Poetik die Poesie; endlich haben wir Regeln, statt Poetischer Empfindungen; wir borgen Reste aus den Alten, und die Dichtkunst ist todt!« 5 Einer künftigen Poesie empfahl Herder »Shakespears Schriften und die Nordische Edda, der Barden und Skaldrer Gesänge«: »vielleicht würden wir alsdenn auch Originalstücke von Oden haben, ohne daß sie durch eine Antike Stellung sich einen Werth geben dörfen.« 6 Herder hatte in der Tat in dem Zaubergesang des Genius der Zukunft auf Anspielungen aus der Mythologie der griechischen und römischen Antike verzichtet, und die kaum verschlüsselte Andeutung der Pleiaden, der »Sieben der Himmel«, macht hier keine Ausnahme, weil das die Seefahrt orientierende Siebengestirn in dem >Gemälde< des Meeres ein sinnlich wahres und damit ein für das Ganze des Bildes notwendiges Motiv bezeichnet. Der Einbruch der mitternächtlichen Gestalten, die sich »wie Götter« »durch die Sieben der Himmel« herabschwingen, erweckt in dem Helden eine »vorsingende Zauberstimme«, mit der er Zukunft und Vergangenheit als »Lebenswißen« umgreift: Denn liest der Geist in seines Meers Zauberspiegel die Ewigkeit. —

Eine durch mächtig wirkende Leidenschaften erhöhte Menschheit war für Claude Adrien Helvdtius die Triebfeder schlechthin, die den Menschen zu entsprechenden Handlungen oder Taten treibt. Der Prozeß der kulturellen Produktivität in den Künsten und Wissenschaften, sei, so legte er in der Schrift De l'esprit (1758) dar, eine unmittelbare Wirkung der »passions«, die nur durch die Bindungen der geselligen Lebensformen unter den Völkern modifiziert werde. In der Ode Der Genius der Zukunft stellte Herder diesen Wirkungszusammenhang von Leidenschaften und Handlungen in seiner sinnlichen Stärke dar, denn der Zauberer, ein »esprit fort« im Sinne von Helvetius, tritt der wilden >Natur< unvermittelt gegenüber. »Axiome des Lebens« also, die aus dem Innersten der Seele »wie Blitze auffahren«, weisen dem Deuter der Zukunft den Weg: »Der Verfasser glaubt aus langen innigen Bemerkungen seiner Seele, daß aus der Summe der vergangenen Lebenserfahrungen im

6

Johann Gottfried Herder: »Fragmente einer Abhandlung über die Ode« (vgl. Kap. 5, Anm. 2), S. 69. Ebd.

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Grunde des Gemüths gewiße Resultate, Axiome des Lebens, liegen bleiben, die in schnellen oder ganz ungewißen Verlegenheiten, wo die kalte Vernunft nicht oder falsche Rathgeberin ist, wie Blitze auffahren, und dem der ihnen treu folgt, sehr sichre Fackeln seyn können, wo sonst Alles dunkel wäre. Er glaubt ferner, daß diese bei gewißen Menschen sehr hoch erhöht werden können, und sehr oft zu sichern Weißagern, Traumgöttern, Orakeln, Ahndungsschwestem erhöht worden sind, und daß fast kein großer Mann da ohne gewesen, oder zum Ziel gelangen sey«. 7 Die Erhöhung (élévation) des Menschen in seinen kulturproduktiven Handlungen bringt also stets »gewiße Resultate« zum Vorschein, ein »Lebenswißen«, das in der jeweiligen Empfindungslage des Menschen gründet. »Wir sind einzig das,« so Helvétius, »wozu uns die Gegenstände, die uns umgeben, machen«: 8 Ein Dichter, in den rauhen Klimazonen des Nordens geboren, welche die schwarzen Stürme in schnellem Fluge unablässig durchtoben, werde unter dem beständigen Eindruck eines ewigen Winters verwegener und gewaltiger in seinen poetischen Gemälden sein als ein in dem glücklichen Klima Italiens geborener Dichter, dessen Sinne von dem zarten Hauch des Zephirs erfüllt sind. 9 Auch die rhythmische Musikalität des nordischen und des mittelländischen Dichters ist demnach notwendig eine andere, und Herder gab in seiner Abhandlung über die Ode Rechenschaft über die metrische Struktur der nordischen Empfindung: sie ist »Monotonie«: »Die ehrlichen Versuche alter und neuer Barden zeigen im Gange unseres Sylbenmaaßes eine Monotonie, die vielleicht in der Sphäre der Deutschen, kein Fehler sondern wirklich ein uns angemeßnes Mittel zu Endzwecken ist.« 10 Weder Herder noch Goethe setzten diese verblüffend schlichte Einsicht in die poetische Praxis um, als sie in ihrer Hymnik in freien Rhythmen vielmehr im Sinne Klopstocks >pindarisiertenénergie< und >Kraft< in der französischen und deutschen Poetik«, in: Goethe-Jahrbuch 112 (1995), S. 83-96; Gisela Schlüter: »Eine implizite Poetik der Fiktion: Diderots Entretiens sur le Fils naturel (1757)«, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 107 (1997), S. 317-331. Zur Wirkung Diderots in Deutschland vgl. Roland Mortier: Diderot en Allemagne (1750-1850), Paris 1954.

73

Begriff des »agreable horror«, den Edmund Burke in der Philosophical quiry Into the Origin Of Our Ideas Of the Sublime and Beautifiil

En-

(1757) im

einzelnen erläutert hatte. Mit Beziehung auf Lukrez und die Oden des Horaz, auf Anakreon und Catull entwickelte Diderot seine Auffassung von einem poetischen »Zauber« (magie), der aus dem Kontrast des Fürchterlichen und des Lustvollen hervorgehe23 und legte dar: »c'est l'art de porter dans l'âme des sensations extrêmes et opposées; de la secouer, pour ainsi dire, en sens contraire, et d'y exciter un tressaillement mêlé de peine et de plaisir, d'amertume et de douceur, de douceur et d'effroi.« 24 Die Argumente, mit denen Diderot diese Einheit gegensätzlicher Empfindungen begründet, weisen auf den Gedanken einer Einheit der >Natur< im ganzen, den er wenige Jahre zuvor in der Abhandlung De l'interprétation

de

la nature (1753) im Horizont eines dezidierten Spinozismus entfaltet hatte. Darin legte er dar, daß die Mannigfaltigkeit natürlicher Vorgänge, wie sie uns erscheinen, im eigentlichen und strengsten Sinne nur »eine einzige Handlung« (un seul acte) der >Natur< sei. Zerstreute sich die >Natur< in eine Vielzahl »isolierter Handlungen«, die uns als Ansammlung voneinander unabhängiger Phänomene begegneten, so wäre jede Einsicht in ihren Zusammenhang vergebens, denn erst unter der Voraussetzung der Kontinuität

der Phänomene ist

uns eine Erkenntnis derselben ermöglicht. Eine angemessene >Auslegung der Natur< beschreibt also nicht sowohl das Wesen der Phänomene selbst, ihr Erkenntnismodus besteht vielmehr in dem Aufweis der Verknüpfung oder Verkettung, durch die die isoliert scheinenden Phänomene kontinuierlich miteinander verbunden sind.25 Die Wissenschaft von der >NaturNatur< durch den Dichter ist daher »weniger wahr« als die des Historikers, aber sie ist »wahrscheinlicher«. 30 Herders Vorbehalte gegenüber dieser Konstruktion der dramatischen Handlung, mit der Diderot die aristotelische Dramenkonzeption im Sinne seines Spinozismus umschmolz, betrafen genau das Problem der Analogie, durch die Diderot die natürlichen Begebenheiten und die dramatische Handlung in Beziehung setzte. Diese Analogie war nämlich nach Diderot eine Leistung der »Einbildungskraft«, die unmittelbar dem Raisonnement unterworfen war, aber nur sehr vermittelt, in der Form der Nachahmung, den Ausdruck der Empfindungen betrafen. Diderot erläuterte die Analogie von Wahrheit und Erfindung auf die folgende Weise: Sich eine notwendige Folge von Bildern ins Gedächtnis rufen, so wie sie in der Natur aufeinander folgen, heißt, gemäß den Tatsachen zu raisonnieren. Sich eine Folge von Bildern ins Gedächtnis rufen, wie sie notwendigerweise in der Natur aufeinander folgen würden, sofern dieses oder jenes Phänomen gegeben ist, heißt, gemäß einer Hypothese zu raisonnieren oder zu erdichten; es heißt, Philosoph oder Dichter zu sein, je nach dem vorgesetzten Ziel. 31

Herder bestritt zumindest im Blick auf die Ode die Möglichkeit einer derartigen Hypothesenbildung, da sie im Ergebnis immer bloß »phantastische« »Empfindung«, 3 2 niemals aber den wahren Ausdruck der Empfindungen zur Darstellung bringen kann. Der Standpunkt der Einbildungskraft war der lukrezische Standpunkt des interesselosen, >kalten< Betrachters oder Zuschauers, der ein >angenehmes Grauem genießt, weil er selbst an der Handlung nicht beteiligt ist, nicht aber die beständig wechselnde Perspektive, die der

30 31

32

les purifie; et le volcan, qui verse de son flanc entr'ouvert des flots de matières embrasées, et porte dans l'air la vapeur qui le nettoie. Ce sont les misérables conventions qui pervertissent l'homme, et non la nature humaine qu'il faut accuser.« Ebd., S. 213f. - Vgl. Aristoteles: poet. 1451 a 3 6 - b 7 . Ebd., S. 219: »Se rappeler une suite nécessaire d'images telles qu'elles se succèdent dans la nature, c'est raisonner d'après les faits. Se rappeler une suite d'images comme elles se succéderaient nécessairement dans la nature, tel ou tel phénomène étant donné, c'est raisonner d'après une hypothèse, ou feindre; c'est être philosophe ou poète, selon le but qu'on se propose.« Vgl. Johann Gottfried Herder: »Fragmente einer Abhandlung über die Ode« (vgl. Kap. 5, Anm. 2), S. 78f.

76

»Philosoph auf dem Schiffe« angesichts der natürlichen Begebenheiten einnimmt. Wo Diderot eine Analogie zwischen dem Philosophen und dem Dichter konstatierte, bemerkte Herder ihre völlige Identität, insofern beide mit demselben >GegenstandTempête avec naufrage< von 1770.

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ger Vorwürfe zu geben." In den Berichten über den Salon von 1767, die für die Publikation in Friedrich Melchior Grimms Correspondance

littéraire

vorgesehen waren, jedoch erst sehr viel später gedruckt wurden, nahm Diderot die Horazische Maxime »ut pictura poesis« 1 2 auf und richtete seinen Blick auf die Parallelität des Rhythmus, in dem sich ihm die Analogie von Dichtung und Malerei vor allem darstellte. Seit den Oden Pierre de Ronsards, den man als den neuen Pindar feierte, war die französische Lyrik von einer lebhaften Rezeption des pindarischen Stils durchdrungen worden, in der Horazens Pindar-Begeisterung stets vernehmlich anklang. 13 Diese Vermittlung der altgriechischen Lyrik durch Horaz blieb noch für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts im allgemeinen bestimmend, und es überrascht nicht, wenn Diderot 1767 die sehr bekannten horazischen Verse über den Rhythmus der Oden Pindars zitierte: Monte decurrens velut amnis imbres Quem super notas aluere ripas, Fervet inmensusque ruit profiindo Pindarus ore. 14

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13

Denis Diderot: »De la poésie dramatique« (vgl. Kap. 6, Anm. 23), S. 265. Zum Problem vgl. Rudolf Nikiaus Schweizer: The Ut pictura poesis Controversy in Eighteenth-Century England and Germany, (European University Papers. Bd. XVIII.2), Bern-Frankfurt / M. 1972. Vgl. hierzu die sachhaltige Untersuchung von Thomas Schmitz: Pindar in der französischen Renaissance (vgl. Kap. 4, Anm. 9), S. 98 u. ö. Ftlr die Pindar-Editionen vgl. den vorbildlich erarbeiteten »Anhang 1: Ausgaben, Übersetzungen und Kommentare Pindars bis 1630«, ebd., S. 264-308. Für die Editionen nach 1630 muß weiterhin zurückgegriffen werden auf die ungenaue Verzeichnung durch Douglas E.Gerber: A Bibliography of Pindar 1513-1966, (Philological Monographs of the American Philological Association. Bd. 28), Case Western Reserve University 1969. Zur Wirkung Pindars in der frühen Neuzeit vgl. außerdem Thomas Geizer: »Pindarverständnis und Pindarübersetzung im deutschen Sprachbereich vom 16. bis zum 18. Jahrhundert«, in: Geschichte des Textverständnisses am Beispiel von Pindar und Horaz, hg. v. Walter Killy, (Wolfenbütteler Forschungen. Bd. 12), München 1981, S. 81-115; Ralph Häfner: »Synoptik und Stilentwicklung. Die Pindar-Editionen von Zwingli / Ceporin, Erasmus Schmid und Alessandro Adimari«, in: Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit, hg. v. Helmut Zedelmaier und Martin Mulsow, (Frühe Neuzeit. Bd. 64), Tübingen 2001, S. 9 7 121.

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Horatius: carm. IV,2,5-8. - Goethe nimmt diese Verse in den Knittelversen des Urfaust vom Winter 1775 / 1776 auf: Faust: »Ha! Bin ich nicht der Flüchtling, Unbehauste, / Der Unmensch ohne Zweck und Ruh, / Der wie ein Wassersturz von Fels zu Felsen brauste, / Begierig wütend nach dem Abgrund zu?« (vv. 1414— 1417). Und in Die Leiden des jungen Werthers schrieb der Held unter dem Datum des 26. Mai 1771: »O meine Freunde! warum der Strom des Genies so selten ausbricht, so selten in hohen Fluthen hereinbraust, und eure staunende Seele erschüttert.« (Der junge Goethe [1998], Bd. 2, S. 277). Auf Parallelen in Wandrers

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Diderot übersetzt: Qui est-ce qui ose imiter Pindare; c'est un torrent qui roule ses eaux à grand bruit de la cime d'un rocher escarpé. Il gonfle, il bouillonne; il renverse, il franchit sa barrière; il s'étend; c'est une mer qui tombe dans un gouffre profond. (Wer wagte es, Pindar nachzuahmen; er ist ein Sturzbach, der seine Fluten mit gewaltigem Lärm von einem steilen Felsen herabstürzt. Er schwillt an, er schäumt; er reißt seine Schranke nieder, er übertritt sie; er breitet sich aus; er ist ein Meer, das sich in einen tiefen Abgrund ergießt.)15 Angesichts der Seestücke Vernets legte Diderot dar, daß es nicht so sehr das »Bild« des Sturmes ist, das die Wirkung der Oden Pindars erzeugt, sondern vielmehr der Rhythmus,

der »prosodische Zauber«, die besondere Wahl der

Ausdrücke und eine bestimmte Verteilung verschiedenwertiger Silben, die den Geist beschäftigen. »Diese Kunst ist nicht konventioneller als die Wirkungen des Lichtes und die Farben des Regenbogens«.' 6 Der »wahre Rhythmus«, der entstehe, ohne daß man darauf dachte, entspringe einem »natürlichen Geschmack (goût naturel),

einer Beweglichkeit der Seele, einer Sinn-

lichkeit«, die die gleichsam pulsierende Erfahrungsstruktur der Seele durch mannigfaltige Modulationen der Stimme zum Ausdruck bringen. 17 Der Vergleichspunkt von Malerei und Dichtkunst betraf also gar nicht die Wahl des Sujets, sondern ausschließlich dessen rhythmische Behandlung. Wir hatten gesehen, daß Herder im Blick auf die »Pantomime« in Diderots Theater-Schrift allerdings eine stärkere Differenzierung gerade auch des Rhythmus vorgenommen hatte. Nur der Held der Ode sei »am wenigsten Tänzer«, wenn er dem Rhythmus der wilden >Natur< ganz nahe komme: »Der Theaterheld mäßigt schon seine Franchezza, wie der Maler die Stellungen des Tänzers schon auswählt: und den Helden der Epopee, nicht aber der Ode, geziemt j e n e stille Größe, die in den Statuen der Alten rührt, und die der Mensch der Vernunft beweiset.« 1 8 Samuel Johnson, der ein ebenso großer

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16 17 18

Sturmlied (1772) hat Rolf Christian Zimmermann aufmerksam gemacht. Freilich waren die Oden des Horaz derart weit verbreitet, daß Zimmermanns These, Goethe habe möglicherweise die Horaz-Übersetzung des Arztes und Rosenkreuzers Friedrich Joseph Wilhelm Schröder benutzt, nicht allzu signifikant sein dürfte. (Vgl. R. Chr. Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur hermetischen Tradition des deutschen 18. Jahrhunderts, Bd. 2, München 1979, S. 84f.). Denis Diderot: Œuvres complètes, »Salon de 1767, Salon de 1769« (= Beaux-arts III), hg. v. Else Marie Bukdahl, Michel Delon und Annette Lorenceau, Paris 1990, S. 383. - Zu Diderots Salons vgl. Else Marie Bukdahl: Diderot critique d'art. I. Théorie et pratique dans les Salons de Diderot, Kopenhagen 1980. Ebd., S. 384. Vgl. ebd. Johann Gottfried Herder: »Fragment einer Abhandlung über die Ode« (vgl. Kap. 5, Anm. 2), S. 79.

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Bewunderer der Lyrik Abraham Cowleys war wie er den >modernen< Pindarismus verachtete, pflichtete Cowley bei, wenn er sagte, sein Ziel sei es nicht, »zu zeigen, was genau Pindar sagte, sondern vielmehr seine Redeweise«. 1 9 Cowleys Pindar-Adaption, 20 so Johnson in The Lives of the English

Poets,

übertreffe in ihrer geschmackvollen Form (elegance) das Original, obgleich er dessen Intensität (strength) am Ende nicht erreiche, und er bewunderte an Cowleys Dichtung, daß die »Gedanken, die einem Leser mit wenig Erfahrung durch blanken Zufall zusammengeworfen scheinen, ganz ohne Unterbrechung miteinander verkettet sind.«21 Gleichwohl vermisse er wie bei allen Dichtern der »metaphysischen Ader« eine gewisse »grandeur of generality«, da sie ihre Gedanken bis in die letzten Verzweigungen verfolgten, 22 und er äußerte erhebliche Bedenken im Blick auf die Verwendung freier Rhythmen, die jede Regelmäßigkeit des Versmaßes zerstöre. Auf Thomas Sprats Behauptung, daß eine Dichtung, die sich unregelmäßiger Versfüße bediene, für alle Arten von Sujets geeignet sei, antwortete er mit einem feinsinnigen Klassizismus: »Das große Vergnügen am Vers erwächst aus dem bekannten Maß der Zeilen und dem einheitlichen Bau der Strophen, durch die die Stimme geführt und das Gedächtnis erleichtert wird.« 23 Das Übel der gegenwärtigen Poesie zeige sich nirgends deutlicher als in diesem Hang zum Pindarisieren; »all die Jungen und Mädchen haben die gefällige Mode ergriffen, und diejenigen, die nichts anderes zustande brachten, konnten schreiben wie Pindar.« 24 Der wohltuend >altmodische< Humor Johnsons sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Regelmäßigkeit des trochäischen Versbaus in 19

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24

Samuel Johnson: »The Lives of the English Poets«, in: ders.: The Works, 12 Bde., Bd. 9, London 1801, S. 46. Zu Johnsons Selbsteinschätzung der Lebensbeschreibung Cowleys vgl. James Boswell: Life of Johnson, hg. v. Sydney Roberts, Bd. 2, London, New York 1962, S. 341. - Lessing zitiert im 31. Literaturbrief (5. April 1759) aus Cowleys Vorwort zu den Pindarique Odes von 1656: »Wenn jemand den Pindar von Wort zu Wort übersetzen wollte, so würde man glauben, ein Rasender habe den andern übersetzt.« (Gotthold Ephraim Lessing: Werke, Bd. 5, hg. v. Jörg Schönert, München 1973, S. 95). Vgl. hierzu auch Thomas Gelzer: »Pindarverständnis und Pindarübersetzung«, in: Geschichte des Textverständnisses am Beispiel von Pindar und Horaz (wie Anm. 13), S. 88. Vgl. Harvey D. Goldstein: »Anglorum Pindarus: Model and Milieu«, in: Comparative Literature 17 (1965), S. 299-310; Robert B. Hinman: Abraham Cowley's World of Order, Cambridge, Mass. 1960, S. 89ff. und S. 268. Samuel Johnson: »The Lives of the English Poets« (wie Anm. 19), S. 46. Ebd., S. 49. Ebd., S. 52: »It is urged by Dr. Sprat, that the irregularity of numbers is the very thing which makes that kind of poesy fit for all manner of subjects. But he should have remembered, that what is fit for every thing can fit nothing well. The great pleasure of verse arises from the known measure of the lines, and uniform structure of the stanzas, by which the voice is regulated, and memory relieved.« Ebd.

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Goethes Seefahrt im Kontext der kontinentalen Diskussion nicht durchaus mit einer Hinwendung zu klassizistischen Formen erklärt werden kann. Was Goethe zum Klingen brachte, waren vielmehr jene »Kadenzen unsrer Kinderund Bauerlieder«, in denen Herder eine ins Deutsche übersetzte ursprüngliche Odenform entdeckte und deren irritierend penetrante Monotonie dem liedhaften >Gemälde< eines Seesturms entsprach, eine Monotonie zudem, die den Ideengehalt geschicklicher Not, in die das menschliche Lebensschiff gesetzt ist, sinnlich suggerierte: Doch er stehet männlich an dem Steuer Mit dem Schiffe spielen Wind und Wellen Wind und Wellen nicht mit seinem Herzen. Herrschend blickt er auf die grimme Tiefe, Und vertrauet scheiternd oder landend Seinen Göttern. 25

Der niederländische Landschaftsmaler Simon de Vlieger (ca. 1600-1660) entwarf 1637 ein Gemälde mit dem Titel »Stillung des Sturmes«, das sich heute in der Kunstsammlung der Georg-August-Universität in Göttingen befindet. De Vlieger variierte mit dem diagonal zur Bildfläche konstruierten Mastbaum des von hell aufschäumenden Wellen umspielten Schiffes eine ikonographische Struktur, die Rembrandt wenige Jahre vorher (1633) in dem Gemälde »Sturm auf dem See Genezareth« geprägt hatte. 26 Wie bei Rembrandt noch deutlich sichtbar, handelte es sich hierbei um ein ursprünglich biblisches Thema aus dem Umkreis der Wundertaten Christi. Das in schwere Seenot geratene Schiff der Apostel wird durch das Erscheinen Christi errettet, der die Meereswogen stillt und auf der Oberfläche des Sees zu den Jüngern eilt. In einer glänzend gelösten Kontrafaktur hob de Vlieger dieses biblische Thema der Errettung aus Seenot durch den Heiland zur Darstellung eines Seesturms auf, in dem sich der Mensch gegenüber der unbändigen Gewalt des Elements zu behaupten strebt. Zwei Matrosen ziehen das bereits zerfetzte Hauptsegel ein, und der Steuermann »stehet männlich an dem Steuer«: in dem ikonographischen Rhythmus von de Vliegers Bilderfindung zeigt sich uns eine Parallelität zu dem Rhythmus, in dem Goethe das scheinbar topische Inventar motivischer Sprachbilder handhabt, eine Parallelität, die einen kaum genaueren literalen Sinn aufweisen könnte.

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Johann Wolfgang Goethe: »Seefahrt«, in: Der junge Goethe (1998), Bd. 2, S. 239, v. 41-46. Vgl. hierzu Sabine Mertens: Seesturm und Schiffbruch. Eine motivgeschichtliche Studie, (Schriften des Deutschen Schiffahrtsmuseums. Bd. 16), Hamburg 1987, S. 54.

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Es ist unwahrscheinlich, daß Goethe das Gemälde gekannt hat, da er erst im Herbst 1783, auf der zweiten Harzreise, Göttingen besuchte. Vielleicht war er mit Rembrandts »Sturm auf dem See Genezareth« durch einen Kupferstich vertraut. Immerhin tritt mit der Reduktion einer ins Allgemeingültige erhobenen Kontrafaktur der evangelischen Wundererzählung auf ihren geschicklichen oder naturgesetzlichen, neostoizistisch deutbaren Zusammenhang bei de Vlieger eine doppelte Sinnebene der Seefahrt in den Blick, die die vordergründig leicht erkennbare Paraphrase des Psalms 107 überlagert. In einer komplexen, traditionsgebundenen Struktur, in einer mehrschichtigen und mehrdeutigen Sprach-Bild-Relation entdecken wir etwas von jener »grandeur of generality«, die Samuel Johnson von der erhabenen Dichtung forderte und die sich in der Bildfolge von Goethes Gedicht ganz unmittelbar sinnlich ausspricht. Auch Diderot war sich des Wertes dieser grandeur wohl bewußt, in der sich eine letzte Steigerung und Überhöhung des sinnlichen Sujets ins Allgemeine darstellte, wenn er in dem elegisch milderen Licht von Nicolas Poussins berühmtem Gemälde »Et in Arcadia ego« (entstanden vermutlich 1 6 4 0 / 1645) die Vorzüge eines gewissen großen Stiles pries. Salomon Gessner hatte übrigens in den Jahren 1777 und 1787 dasselbe Sujet malerisch bearbeitet. 27 Es ist nicht klar, ob Diderot Poussins Gemälde, das sich seit 1710 in der Königlichen Gemäldegalerie zu Versailles befand, mit eigenen Augen betrachten konnte, denn die Beschreibung, die er in der Abhandlung De la poésie dramatique gibt, ist ungenau. Möglicherweise benutzte er eine Kupferstichvorlage, die in einer freien Paraphrase selbst schon merklich von dem Gemälde abwich, oder er schilderte aus der Erinnerung an die Motivlektüre des Originals, die schon längere Zeit zurückliegen mochte. Was er sah, waren junge Hirten, die zur Flöte tanzten neben einem Grabmal, das die Inschrift trägt: »Je vivais aussi dans la délicieuse Arcadie«. 28 Der Kontrast der Empfindungen, durch den er die Ode charakterisierte, die Mischung des Schmerzes 27

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Vgl. Martin Bircher, Bruno Weber: Salomon Gessner (vgl. Kap. 3, Anm. 2), Abb. 169 (Arkadische Landschaft mit Grabmal, 1777), Abb. 170 (Arkadische Landschaft mit Tempelanlage und Denkmal [Grabmal], 1787). Denis Diderot: » D e la poésie dramatique« (vgl. Kap. 6, Anm. 23), S. 241. - D a s Mißverständnis in der Interpretation der Inschrift hat Erwin Panofsky in einem sehr bekannten Aufsatz untersucht: »Et in Arcadia ego. Poussin und die Tradition des Elegischen«, in: ders.: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 1978, S. 3 5 1 - 3 7 7 , zu Diderot: S. 368. Vgl. Elizabeth Cropper und Charles Dempsey: N i colas Poussin. Friendship and the Love of Painting, Princeton 1996, S. 2 7 9 - 3 1 2 (= Ch. VIII: »Death in Arcadia«); Renato Poggioli: The Oaten Flute. Essays on Pastoral Poetry and Pastoral Ideal, Cambridge, Mass., 1975, S. 20f., S. 8 0 - 8 2 . (Der Abschnitt über »Goethe and the Pastoral« [S. 2 2 0 - 2 4 1 ] ist für unseren Zusammenhang unerheblich).

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und der Lust, der Bitterkeit und der Süße, der Süße und des Erschreckens, 29 trat ihm in dem Gemälde Poussins in der elegischen Modulation melancholischer Heiterkeit entgegen, die wiederum auf die - hier gemäßigte - rhythmische Assonanz von Dichtkunst und Malerei im Sinne des horazischen Dictums verwies, eine Assonanz, die nicht auf dem Prinzip der Nachahmung, sondern auf dem Gleichklang des Affektausdrucks beruhte, und er führte aus: Der Zauber des Stils, um den es sich handelt, hängt bisweilen von einem einzigen Wort ab, das meinen Blick von dem Hauptgegenstand ablenkt und das mir, wie in der Landschaft Poussins, beiläufig zeigt: den Raum, die Zeit, das Leben, den Tod oder irgendeinen anderen großen und melancholischen Gesichtspunkt, der mitten unter die Bilder der Heiterkeit geworfen ist. 30

Ein Strukturprinzip rhythmisch-affektbestimmter Komposition, nicht ein mimetisches Verhältnis, war also in der Formel »ut pictura poesis« verborgen. In demselben Jahr 1755, in dem Winckelmann das Ideal einer »edlen Einfalt und stillen Größe der griechischen Statuen« aufstellte, exemplifizierte Johann Andreas Cramer den rhythmisch-pantomimischen Gleichklang von Dichtkunst und Malerei anhand von Poussins Gemälden mit den Worten: »Die Poesie so wohl, als die Malerey, welche unsterblich machen soll, muß sich mit Gegenständen beschäfftigen, die die Leidenschaften unsers Herzens in Bewegung setzen. Ein Poußin male einen Kopf, der uns völlig unmerkwürdig oder gleichgültig ist, noch so ähnlich; dieses wird uns noch keine großen Begriffe von seiner Kunst machen. Aber er beseele das Gesicht, das er malt, mit Leidenschaften: dann wird sein Gemälde aller Augen an sich fesseln.« 31 Herders Ableitung der Künste aus der Ode erschien in diesem Kontext von eindrucksvoller Evidenz, denn das »kleine Drama«, das die »Oden der Handlung« darstellten, umgriff schlechthin alle Schattierungen der Leidenschaften bis herab zu Elegie und Idylle, wie sie sich in den melancholisch-heiteren Affekten der Hirten auf dem von Diderot beschriebenen Gemälde Poussins verbanden. Auch der Dichter, so Diderot, »hat sein Helldunkel, dessen Quelle und Regeln aus dem Grund seiner Seele entspringen.« 32 Indem Diderot darauf beharrte, daß die >Natur< dem Menschen gegenüber völlig gleichgültig, ja daß sie an ihr selbst schlechterdings unbedeutend ist, 29 30

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Vgl. ebd., S. 239. Ebd., S. 241: »Le prestige de style dont il s'agit, tient quelquefois à un mot qui détourne ma vue du sujet principal, et qui me montre de coté, comme dans le paysage du Poussin, l'espace, le temps, la vie, la mort, ou quelque autre idée grande et mélancolique, jetée tout au travers des images de la gaieté.« Johann Andréas Cramer: »Von dem Wesen der biblischen Poesie« (vgl. Kap. 4, Anm. 13), S. 264. Denis Diderot: Œuvres complètes, »Salon de 1767, Salon de 1769« (wie Anm. 15), S. 383.

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vermochte er zu zeigen, daß alle Bedeutungen, die der Mensch an den Erscheinungen der >Natur< entdeckt, Beziehungen (liaisons) auf ihn selbst zum Ausdruck bringen. »Diese Welt«, so schrieb er im Vorspiel seiner Betrachtungen über die Landschaftsmalerei Vernets anläßlich des Salons von 1767, »ist nur eine Ansammlung von Molekülen, die auf unendlich viele verschiedene Arten miteinander verbunden sind. Es gibt ein Gesetz der Notwendigkeit, das sich absichtslos, ohne Bestreben, vernunftlos, ohne Fortgang, ohne Widerstand in allen Werken der Natur vollzieht.«33 Der gleichsam tragische Heroismus des Menschen zeigt sich nirgends deutlicher als in der Stellung des Menschen in der >NaturNaturNatur< glich daher einer Flucht aus den konventionellen Bindungen der Gesellschaft, nicht aber einer Rückkehr in den >Naturzustand< des Menschen, von dem Rousseau träumte. »Sich in die Extreme stürzen«, so schrieb Diderot in dem unveröffentlichten Salon von 1767, dies ist die Regel des Dichters. In allem das rechte Maß zu wahren, dies ist die Regel des Glücks. Im Leben sollte man besser keine Dichtung betreiben. Die Helden, die romanhaften Liebenden, die großen Patrioten, die unbeugsamen Staatsbeamten, die Apostel der Religion, die Uberspannten Philosophen, all diese seltenen und himmlischen Wahnsinnigen betreiben Dichtung im Leben. Deshalb sind sie unglücklich. Sie sind es, die nach ihrem Tode zum Vorwurf großartiger Gemälde dienen. Sie sind vorzüglich zu malen. Man weiß aus Erfahrung, daß die Natur denjeni-

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Ebd., S. 179.

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gen zum Unglück verdammt, dem sie das Genie zugeteilt, sowie diejenige, die sie mit Schönheit begabt hat, und zwar deshalb, weil sie dichterische Wesen sind. 34

Auf einem sprachlich virtuosen Niveau faßte Diderot spielerisch die Diskussion um die erhabenen Empfindungen der >Natur< zusammen, deren lustvoller Schauder einer zeitweiligen Substitution gesellschaftlicher Bindungen durch extreme Lebenslagen entsprang. In dem überragenden Werk De l 'esprit des lois (1748) hatte Montesquieu gezeigt, daß die Reisenden zur See aller gesellschaftlichen Verpflichtungen entbunden seien, denn diese waren nur eingeführt worden, um die Verbindlichkeiten der civilen Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Die Seeleute stehen deshalb solange außerhalb der Gesellschaft, solange sie »Bürger des Schiffes« (citoyens du navire) sind. 35 Ein außergesellschaftlicher, nur den Gesetzen des Naturlaufs unterworfener Zustand kennzeichnet also den »Philosophen auf dem Schiffe«, den Herder sich 1769 im Reisejournal dachte und der von außen, von den stets wechselnden Blickrichtungen seines beweglichen Standpunkts aus, das Ganze der elementaren >Natur< perspektivisch umgreift. 36 Der Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, der dem »Zauberer« des Genius der Zukunft blitzhaft aufleuchtete, verbürgte eine Erkenntnis der Verlaufsformen des Lebens, in denen sich bereits eine »keimende Nachwelt« ankündigte. 37 Die Auseinandersetzung mit Moses Mendelssohn in jenem Schlüsseljahr 1769 markiert aber auch Differenzen von weitreichenden Folgen für die Interpretation des Glücks, das dem Helden des »Lebensschiffs« 38 jeweils zugeteilt ist. Wie sehr auch die >wahre< Empfindung des Sturms in Goethes Seefahrt literarisch vorgebildet sein mag: In ihrer gleichsam prometheischen Schlußwendung »scheiternd oder landend« werden, mit Herder zu reden, »gewiße Resultate« sichtbar, die einen genuin anthropologischen Grundtenor lebensvoll zum Klingen bringen. Das Problem einer Theodizee, wie es in Diderots früher Abhandlung De l 'Interpretation de la nature noch thematisiert worden

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Ebd., S. 207: »Se jeter dans les extrêmes, voilà la règle du poète. Garder en tout un juste milieu, voilà la règle du bonheur. Il ne faut point faire de poésie dans la vie. Les héros, les amants romanesques, les grands patriotes, les magistrats inflexibles, les apôtres de religion, les philosophes à toute outrance, tous ces rares et divins insensés font de la poésie dans la vie. De là leur malheur. Ce sont eux qui fournissent après leurs morts aux grands tableaux. Ils sont excellents à peindre. Il est d'expérience que la nature condamne au malheur celui à qui elle a départi le génie, et celle qu'elle a douée de la beauté. C'est que ce sont des êtres poétiques.« Montesquieu: Œuvres complètes, hg. v. Roger Caillois, Bd. 2, Paris 1951, S. 776f. Vgl. Johann Gottfried Herder: Journal meiner Reise im Jahr 1769, Historischkritische Ausgabe, hg. v. Katharina Mommsen, Stuttgart 1976, S. 13. Johann Gottfried Herder: »Der Genius der Zukunft« (vgl. Kap. 6, Anm. 1), S. 274, Z. 37. Ebd., S. 273, Z. 4.

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war, stand im Mittelpunkt der Briefe Über die Empfindungen, die Moses Mendelssohn 1755, zwei Jahre nach der Erstpublikation von Diderots Traktat, veröffentlicht hatte. In einer Folge fiktiver Briefe der Gesprächspartner Palemon (der in der umgearbeiteten Fassung von 1771 Theokies heißt) und Euphranor gab Mendelssohn zu verstehen, daß das Wirken der göttlichen Vorsehung in der >Natur< nur unter der Annahme bewiesen werden könne, daß alle »Begebenheiten« »in einander gegründet« seien. 39 Diese Ordnung der Begebenheiten beschreibt ein kontinuierliches, harmonisch verknüpftes Ganzes, das ebendeshalb keiner »Wunderwerke« zu ihrer Begründung bedürfe. Im Rückgriff auf die seinerzeit verbreitete naturwissenschaftliche Präformationstheorie 40 legte Palemon seinem Gesprächspartner dar, daß die Bildung des Lebens allein aus dieser stetigen Verknüpfung erklärt werden könne, ohne doch die Möglichkeit von göttlichen Wundern zu leugnen: In jedem Zustande lag die Grundbildung der werdenden Gestalt. Im Wurme schon, j a im Eye selbst, war das Bild des künftigen Käfers, und im Saamen der bejahrte Baum verwickelt anzutreffen. Hebe die Verknüpfung dieser wandelbaren Gestalten auf; laß das Keimlein, das bestimmt war zum Sprößlein heran zu wachsen, durch ein Wunderwerk plötzlich in einen Käfer verwandelt werden; die Allmacht vermag auch dieses. Höret nicht hier die Pflantze auf, und ein neues Wesen wird geschaffen? Und geschiehet dieses nicht, weil der Zustand der Pflantze mit dem Käfer in keiner Verbindung stehet? 41

Mendelssohn verwarf diese Ansicht beständig erneuerter Wunder in der geschöpflichen Natur, weil sie nur unter der Voraussetzung Gültigkeit hätte, daß alle »Wesen« durch einen »unmittelbaren göttlichen Willen« determiniert würden. Leugne man aber umgekehrt die Gegenwart einer Vorsehung, so ließe sich nur ein Geschehen zusammenhangloser Begebenheiten denken, »Zerrüttungen«, die alle Erkenntnis eines Zusammenhangs und damit den Grund aller Erkenntnis zunichte machten. Wie wir »Einsicht in die Zukunft« nur durch eine stetige »Verbindung unserer Begriffe« erlangen können, so seien auch die Verlaufsformen des Lebens nur als kontinuierliche denkbar: In diesem sichtbaren All machen die Vorstellungen aller vernünftigen Wesen zusammen ein einziges Ganze, eine Welt aus, weil sie in einander gegründet sind. In 39

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Moses Mendelssohn: »Über die Empfindungen«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Jubiläumsausgabe, Bd. 1: »Schriften zur Philosophie und Ästhetik«, hg. v. Fritz Bamberger, Stuttgart-Bad Cannstatt 1971, S. 41-123 (= erste Fassung von 1755), S. 233-334 (= zweite, im Rahmen der Philosophischen Schriften, Berlin 1771, erschienene Fassung), hier: S. 67; vgl. S. 260 (= 7. Brief). Vgl. hierzu Jacques Roger: Les sciences de la vie dans la pensée française du XVIII e siècle, Paris 1963. Moses Mendelssohn: »Über die Empfindungen« (wie Anm. 39), S. 69; vgl. S. 262f. (= 7. Brief).

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unsrer fabelhaften Voraussetzung aber, müßten eben so viel Welten seyn, als Vorstellungen. Mit jedem Augenblicke ändert sich die Szene. Für jede Seele wiederum eine neue Welt. Nein! gar keine Welt! Zerrüttung! Keine Wesen, keine Kräfte, keine Vorstellungen! Lauter Widersprüche!42 In seiner Entgegnung äußerte Euphranor allerdings gewisse Bedenken g e g e n über dem spezifischen Erkenntnismodus dieses kontinuierlichen Ganzen, und er rekapitulierte einige der Argumente der Diskussion um den »agreable horror«. Es sei eben nicht nur die Vollkommenheit, die Anerkenntnis eines kontinuierlichen Ganzen, die uns in den Schönheiten dieser Welt Vergnügen bereite, sondern ebenso sehr gewisse »Ergötzlichkeiten«, die aufgrund eines Mangels oder Schmerzes vielmehr »Traurigkeit« in uns erwecken sollten. D i e Reize des Schönen könnten niemals durch »kleine Unordnungen« oder » a n scheinende Häßlichkeiten« erhöht werden, und dennoch sind es bisweilen die härtesten Zerrüttungen menschlicher Begebenheiten, die uns aufs höchste vergnügen. Hier beschrieb Euphranor den Vorwurf eines Gemäldes aus dem Bilderkabinett seines Vaters: Es ist ein Schiff], dem von allen Seiten her der Untergang drohet. Die schäumenden Wellen stürzen unaufhaltsam auf das zerbrechliche Gebäude los, und eilen es in die Fluthen zu vergraben. Vergeblich arbeiten die Ruderknechte; umsonst rinnt der Schweiß von ihren Gesichtern. Das Schifff] wankt. Jetzt wird es umschlagen und in den Abgrund sinken. Wie trostlos ringen alle, die den unvermeidlichen Tod vor Augen sehen, die ermüdeten Hände! Mit welcher Wehmuth küßt dort eine Mutter noch ihr Säugling zum letzten male! Und dieser Anblick gefiel dir, Palemon? Du nanntest ihn schön? - Es ist wahr, du bewunderst die Meisterhand, welche die Natur so geschickt nachzuahmen wußte. Allein war dieses alles? Gestehe es, Palemon! Du würdest dich weniger ergötzt haben, wenn die Gefahr nicht auf das höchste abgebildet worden wäre. Es ist nicht mehr die schöne Natur; nein! die furchtbare, die schreckliche Natur. 43

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Ebd., S. 263f.; vgl. S. 70 (= 7. Brief); »keine Kräfte« nur in der Erstfassung. Ebd., S. 74 (= 8. Brief). Vgl. hierzu Carsten Zelle: »Angenehmes Grauen« (vgl. Kap. 3, Anm. 4), S. 325f. - In der Fassung von 1771 hat Mendelssohn die Bildbeschreibung stärker umgearbeitet: »Es ist ein Schiff], das lange genug mit Sturm und Wellen gekämpft, und endlich untergehet. Noch versucht das arbeitsame Schif[f]svolk seine letzten Kräfte. Sie stehen vom weissen Schaume der Wellen bedeckt, und frischen sich einander zur Arbeit an. Aber umsonst! Itzt führt der Sturm eine hochgethürmte Welle auf sie los, die ihnen den gewissen Tod bringt. Sie sehen es, erblassen, und die vergeblichen Ruder sinken aus ihren matten Händen. Und dieser Anblick gefiel dir, Theokies? Du nanntest ihn schön? - Es ist wahr, du bewundertest die Meisterhand, welche die Natur so t r e f f l i c h nachzuahmen wußte. Allein war dieses alles? Gestehe es, Theokies! du würdest dich weniger ergötzt haben, wenn die Gefahr nicht auf das höchste abgebildet worden wäre. Es ist nicht

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Palemon löst diesen scheinbaren Widerspruch, indem er auf der kognitiven Differenz des Sittlichen im »Leben« und im Bereich der Kunst besteht. Die »aufmerksame Betrachtung der Martern, damit jener Uebelthäter geplagt wird«, erwecke in dem »Zuschauer« »gewisse Zückungen, gewisse Täuschungen ähnlicher Schmertzen«, die mit der Betrachtung eines Mangels die Empfindung der Unlust hervorbringen; 44 umgekehrt ist der Selbstmord im Trauerspiel »theatralisch gut«, weil er durch die »Erregung heftiger Leidenschaften« in den Empfindungen des Zuschauers eine sittliche Reinigung bewirke. 45 In der Anordnung der Figuren, die wir in der Idylle Der Sturm beobachteten, hatte Salomon Gessner offensichtlich alles auf diese kathartisch-theatralische Wirkung angelegt: Die moralisch verwerfliche Konnotation einer unbändigen Gier nach Reichtum, die hier mit dem Emblem des scheiternden Schiffes verknüpft war, erregte in den beobachtenden Rinderhirten das Gefühl einer »Behaglichkeit«, die nach Mendelssohn die Folge einer »harmonischen Spannung« der Nerven in den Gliedmaßen ist: 46 »Zufrieden mit wenigem, nähre mein Anger mich, und mein kleines Feld und meine Heerde.« 47 Was also in dem Gemälde des Schiffbruchs, das Euphranor beschrieb, ergötzte, war nicht das wirkliche Leiden der Seeleute, das in der theatralischen Konstellation gar nicht in Anschlag zu bringen war, es war vielmehr die kathartische Kompensation heftiger Leidenschaften in den Zerrüttungen und Unordnungen des Lebens durch den »angenehmen Affekt« der Behaglichkeit: 48 »Hierinn liegt ein großes Kunststück der theatralischen Poesie. Der Dichter muß den Streit der wahren Sittlichkeit mit der theatralischen sorgfältig verstecken, wenn das Schauspiel gefallen soll.« 49 In einer Anmerkung, die Mendelssohn der umgearbeiteten Ausgabe seiner Abhandlung 1771 beifiigte, versuchte er näherhin zu zeigen, daß die Vollkommenheit, in der die Empfindung des Genusses gründe, ein Streben nach Selbsterhaltung des Lebens ausdrücke, das über eine völlige »Zernichtung«

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mehr die schöne Natur; nein! die furchtbare, die schreckliche Natur.« (Vgl. Moses Mendelssohn: »Über die Empfindungen« [wie Anm. 39], S. 268). Ebd., S. 90; vgl. S. 285 (= 12. Brief). Vgl. ebd., S. 94; vgl. S. 290 (= 13. Brief). Vgl. ebd., S. 90; vgl. S. 285 (= 12. Brief). - Zur Deutung im Horizont von John Lockes Komplementär-Begriff »uneasiness« und Winckelmanns Kunsttheorie vgl. die Untersuchung von Wolfgang Proß: »Herder und die Anthropologie der Aufklärung«, in: Johann Gottfried Herder: Werke, Bd. 2, München 1987, S. 1128-1216, hier: S. 1191f. Salomon Geßner: »Der Sturm« (vgl. Kap. 3, Anm. 3), S. 128. Vgl. Moses Mendelssohn: »Über die Empfindungen« (wie Anm. 39), S. 90; vgl. S. 285 (= 12. Brief). Ebd., S. 95; vgl. S. 290 (= 13. Brief).

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hinausweise. »Die Alten haben schon gesagt, omnis natura vult esse conservatrix sui; Eine jede Natur strebet sich selbst zu erhalten.« 50 Auch der »Ruchlose« müsse den größten denkbaren Schmerz in dem Jenseits, »wenn eine ewige Verdammniß möglich wäre«, »seiner Zernichtung vorziehen«, und zwar nicht, weil er in seinem schmerzhaften Zustande eine größere Vollkommenheit als in seiner gänzlichen Vernichtung empfände, sondern »weil sich unsere Seele von der Zernichtung gar keinen Begriff machen kann; weil wir zur Unsterblichkeit geschaffen sind, und uns die Zernichtung niemals als wahre Zernichtung vorstellen können.« 51 Das Streben nach einer Steigerung der Vollkommenheit schließt demnach unendliche Stufen der Entwicklung des menschlichen Lebens ein, dessen unendliche Vervollkommnung durch den Begriff der Unsterblichkeit den Gedanken an eine »wahre Zernichtung« ad absurdum zu fuhren schien. Wenn Maecenas dichtete: Vita dum superest, bene est. Hanc mihi, vel acuta Si sedeam cruce, sustine (Solange mir das Leben übrig bleibt, bin ichs zufrieden. Dieses erhalte mir, auch wenn ich am spitzen Kreuz hänge) 5 2

so war diese Erhaltung des Lebens nach Mendelssohn auf die irrige Annahme gegründet, daß Maecenas »seine Seele fur sterblich hielt«: »>Er wußte ohne Zweifel nichts besserst sagt Bodmer, >als daß mit seinem Tode sein ganzes Wesen aufhörete. Dieser gänzlichen Zernichtung ziehet er das allerpeinlichste Leben vor.«Naturzweiten Natur< erstarrten geselligen Moralität konzipiert, wie sie dem »philosophischen Heldengeist« in dem »pharisäischen Philistertum der Meliten und Anüten« entgegentrat; 61 in dem Schlußtableau des bereits 1780 begonnenen Schauspiels Torquato Tasso gab er vielmehr die höchste Steigerung einer vollendeten Durchführung des heroischen Charakters, indem der Held seinem Gegenspieler Antonio zuruft: 58

59

60 61

Johann Wolfgang Goethe: Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 12, S. 18. - Vgl. oben S. 51. Johann Gottfried Herder: »Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente«, Zweite Sammlung, in: ders.: Werke, Bd. 1, (wie Anm. 4), S. 211-328, hier: S. 292. Denis Diderot: Œuvres esthétiques (vgl. Kap. 6, Anm. 23), S. 273-276. Zu dem Plan des Sokrates-Dramas vgl., neben Goethes Brief an Herder vom Jahresende 1771, insbesondere die Ausführungen von Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe (wie Anm. 14), Bd. 2, S. 64f.

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Zerbrochen ist das Steuer und es kracht Das Schiff an allen Seiten. Berstend reißt Der Boden unter meinen Füßen auf! Ich fasse dich mit beiden Armen an! So klammert sich der Schiffer endlich noch Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte. 62

Der Heroismus, der sich in der Selbstbehauptung des Ich hier ausdrückt, bezeichnet eine Lebensperspektive, die auch in den mäßigeren Empfindungen des Helden der Ode Seefahrt eine entsprechende Deutung gefunden hat: Herrschend blickt er auf die grimme Tiefe, Und vertrauet scheiternd oder landend Seinen Göttern.

Es handelte sich hier um einen Lebenshorizont, dessen moralische Dimension sich angesichts eines unendlichen Universums, in dem sich »jener Riesengott des Spinosa« (Herder)63 ausdrückt, in der Summe des Ganzen als beinahe unbedeutend ausnimmt. Die sittlichen Bedeutungen und Zeichen, die der Mensch je seiner Welt gibt und durch die er sich gegen die elementare Macht des Alls behauptet, sind Metaphern des heroischen Scheiterns einer Lebensreise. »Das Schiff geht unter!« Mit diesem Emblem des Todes präsentiert sich Klopstocks Ode Die Welten, die im Februar 1764 entstand und zuerst in der berühmten Darmstädter Oden-Sammlung von 1771 figuriert. Im Horizont der biblischen Poesie des Psalmisten zog Klopstock hier das Résumé eines stoischen Bedeutungsgehaltes vom unendlichen Universum, in das der Mensch, jener einsame »Pilot« des Lebens, eingesenkt ist: Groß ist der HErr, und jede seiner Thaten, Die wir kennen, ist groß! Ocean der Welten! (Sterne sind Tropfen des Oceans) Wir kennen dich nicht! W o beginn' ich! und ach! wo end' ich Des Ewigen Preis! Welcher Donner gibt mir Stimme! 62

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Johann Wolfgang Goethe: Torquato Tasso, vv. 3448-3453. - Zur Deutung dieses Bildes vgl. Gerhard Neumann: Konfiguration. Studien zu Goethes >Torquato TassoPreußischen Pindar< Johann Gottlieb Willamov 3 vermißt hatte. Willamov, so Herder in den Fragmenten, gehe fehl, wenn er die »Pindarische Digression nachzuahmen« versuche 4 oder wenn er seine Dichtungen »mit Zierraten« überlade. 5 Allein in den kühnen Wortfügungen und Neologismen, (die Longin bekanntlich bei Homer zu rühmen wußte, da er »das Wort geradezu« quälte) 6 sei Willamovs Dichtung von hoher Schönheit, wenn er Wortfügungen von der Art verwende: »der Alpengeborne Rhein«, »hochmaurigte Städte«, »lichtausdämpfender Unstern«. »Die wahre TioXuTcXoKta der Worte muß nicht ein Spaß, sondern eine Folge der Begeisterung sein: sie muß unsrer Sprache große Ideen und Empfindungen in ein Wort concentrieren, in die alte Deutsche Stärke eindringen, und viele mit Unrecht veraltete Machtworte wieder hervorziehen.« 7 Eine Dichtung, die in ihrer Sprache so verfahre, sei ganz individualisierend, und wenn sie sich im Silbenmaß »ungebunden und

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4

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Vgl. Goethes Brief an Herder, Wetzlar, etwa 10. Juli 1772, in: Der junge Goethe (FL), Bd. 2, S. 255-257, hier: S. 257. Vgl. Rudolf Haym: Herder nach seinem Leben und seinen Werken, 2 Bde., Berlin 1880/ 1885, Bd. 1, S. 448f„ Franz Muncker: Friedrich Gottlieb Klopstock (vgl. Kap. 4, Anm. 12), S. 434f., sowie Fechners »Nachwort« in der zitierten Facsimileausgabe (vgl. Kap. 7, Anm. 34), S. 1*-91*, mit Hinweis (S. 9*) auf Herders Brief an Karoline Flachsland, wohl vom 11. März 1771. (Vgl. Johann Gottfried Herder: Briefe [vgl. Kap. 2, Anm. 1], Bd. 1, Weimar 2 1984, S. 313). Zur Biographie vgl. s.v., in: Allgemeine deutsche Biographie, Bd. 43, Leipzig 1898, S. 249-251. Johann Gottfried Herder: »Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente«, Zweite Sammlung (vgl. Kap. 7, Anm. 59), S. 289. Ebd., S. 291. Ps.-Longinus: De sublimitate 10,6. - Vgl. oben S. 50. Johann Gottfried Herder: »Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente«, Zweite Sammlung (vgl. Kap. 7, Anm. 59), S. 291.

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stark« äußere, weil »Affekt«, »Musik« und »Tanz« an kein starres Metrum gebunden seien, so könne man sich »ein lyrisches Originalstück denken, worin sich Musik, und lebendiger Pantomimischer Ausdruck, und heroischer oder rührender Tanz, alle drei im Griechischen Sinn, verbinden, und so die ganze Poetische Seele, und alle schöne Künste, vereint lebten! Eine lyrische Monologue voll Affekt und Handlung, und Musik, und malendem Tanze - die höchste Stufe des Ausdrucks!«8 Die Konzeption der Ode als einer »lyrischen Monologue«, wie sie Herder in den Literatur-Fragmenten präsentierte, ging offensichtlich in produktiver Auseinandersetzung mit Diderots Theater-Schrift hervor, und es sind die darin entwickelten sinnesphysiologischen Grundsätze der Sprache, die ihn, trotz aller Bewunderung, von Klopstock trennte. Diderot schrieb: »Der Mensch empfängt Eindrücke durch eine Berührung, die sich in der belebten Natur auf unendliche Arten und Grade vermannigfaltigt und die man beim Menschen Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Empfinden nennt, Eindrücke, die sich in seinen Organen erhalten, die er dann durch Worte unterscheidet und die er sich entweder durch diese Worte selbst oder durch Bilder ins Gedächtnis ruft.« 9 Dieser Erkenntnisprozeß ist derart individuell, daß das Kunstwerk, das aus ihm hervorgeht, nicht einmal auf sehr allgemeine Regeln eingeschränkt werden kann. Eine Normativität im Sinne formaler Grundsätze, wie sie Horaz in seinen Oden ausgebildet hatte, schien demgegenüber für Klopstock geradezu eine Notwendigkeit der lyrischen Dichtkunst zu sein. Der »Hauptton der Ode« »bis auf jede seiner feinsten Wendungen«, so Klopstock 1759 in den von Herder inkriminierten Gedanken über die Natur der Poesie, erschöpfe »alle Schönheiten, deren die Ode fähig ist. Man wird also den Werth einer Ode am besten ausmachen können, wenn man sich fragt: Würde Horaz diese Materie so ausgeführt haben?«10 Damit solle keineswegs der »Originalcharakter«" des lyrischen Dichters geleugnet werden, es handele sich vielmehr nur um die »Biegsamkeit, mit der sich selbst ein Originalgenie dem Wesentlichen, was die lyrische Poesie fodert, unterwerfen muß. Und dieses Wesentliche, behaupte ich, hat Horaz, durch seine Muster, festgesetzt.«12

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10 11 12

Ebd., S. 295.

Denis Diderot: Œuvres esthétiques (vgl. Kap. 6, Anm. 23), S. 219: »C'est par un toucher qui se diversifie dans la nature animée en une infinité de manières et de degrés, et qui s'appelle dans l'homme, voir, entendre, flairer, goûter et sentir, qu'il reçoit des impressions qui se conservent dans ses organes, qu'il distingue ensuite par des mots, et qu'il se rappelle ou par ces mots mêmes ou par des images.« Friedrich Gottlieb Klopstock: Sammtliche Werke, Bd. 16, Leipzig 1830, S. 40. Ebd., S. 41. Ebd.

100

Klopstock machte mit diesen Überlegungen noch einmal unmißverständlich deutlich, daß die dreifache Relation von Gegenstand, Gedanke und sprachlichem Ausdruck durch die rhetorische decorum,

Lehre des Angemessenen, des

normativ bestimmt werden könne. 13 Genau diese Normativität aber

besaß für Herder keinerlei Stringenz mehr, indem er ausrief: »O welcher Horazische Despotismus!« 14 Wenn die »Gegenstände« der Dichtkunst (und aller Erkenntnis schlechthin) als solche gar nicht als gegeben vorausgesetzt werden konnten, weil sie stets Projektionen einer individuellen Empfindung sind, die unter bestimmten klimatischen und gesellschaftlichen Bedingungen einem fühlenden Menschen entweder ganz unmerkwürdig oder aber von hoher >sittlicher< Bedeutung sein können, so sind auch der sinnliche Gedanke und sein sprachlicher Ausdruck ganz individuell, oder aber er kommt überhaupt nicht zur Sprache, weil er in einem bestimmten sozio-kulturellen Kontext keinerlei Bedeutung angenommen hat. Das regelhafte Verhältnis von res und verba

ist zu einem individuellen, >nationelleninteressanteNationelle< der Sprachen mußte Herder umso willkommener sein, als Willamov die Möglichkeit zumindest zu bedenken gab, daß man auch die verschiedenen deutschen Dialekte, entsprechend der Variabilität des griechischen

Dialekts,

für die einzelnen

Dichtungsarten

fruchtbar

machen

könne. 2 4 Im Blick auf die dichterische Gestalt der Dithyramben Willamovs hatte diese sorgfältige Abwägung von Originalität und Nachahmung zur Folge, daß er die poetischen Vorbilder seiner Dichtungen, der feinen » W e n dungen« und »Schönheiten«, von denen Klopstock 1759 sprach, in fortlaufenden Fußnoten sehr zahlreich markierte. So entstand nicht selten der irritierende Eindruck eines centonenartigen Stils, und Willamov ersetzte wohl auch deshalb in der zweiten Auflage (1766) alle Anmerkungen durch kurze thematische Einführungen zu den Dithyramben. So lautete die »Strophe« der Dichtung Die Himmelsstürmer

21

22 23 24

in der ersten Auflage:

Ebd., S. 7f. - Willamov lehnt sich hier weitgehend an die Erläuterung des Dithyrambos an, die Erasmus Schmid in der Beantwortung einer akademischen Quaestio am 23. März 1607 gegeben hatte und die er wieder im Anhang zu seiner PindarAusgabe drucken ließ. Vgl. Erasmus Schmid: »De dithyrambis. Quaestio in promotione XXXII. Philosophiae Candidatorum d. 23. Martii Anno 1607. à M. Joachimo Jaschio proposita«, in: Pindarus: [Opera], hg. v. Erasmus Schmid, [Wittenberg:] Zacharias Schurer, 1616, S. 247-256 (der 5. Paginierung). Zu dieser Edition vgl. Ralph Häfner: »Synoptik und Stilentwicklung. Die Pindar-Editionen von Zwingli / Ceporin, Erasmus Schmid und Alessandro Adimari« (vgl. Kap. 7, Anm. 13), bes. S. 105ff. Ebd., S. 13. Ebd., S. 16f. Ebd., S. 17f.

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Welche Trunkenheit! Schone, schone meiner, o Evan! - *) Eleleu! - welche Trunkenheit! - ich taumle! Ich taumle zuryk in die Kindheit der Welt. Da fliehn sie die entschlafnen Aeonen! So entfliehn Gestade und Wälder zuryk Beflygelte Schiffe vorbei - Triumph! Triumph ihr Götter! [*) parce, Liber, parce graui metuende Thyrsa. Hör.] 25

Die Dialektik von Originalität und Nachahmung, die Willamov nahezu spielerisch handhabte, wird sich um 1770 zu einer unerhörten Spannung steigern, eine Dialektik, die sich erst durch den Klassizismus der 1780er Jahre und in Hölderlins Hymnik am Jahrhundertende zu neuartigen Vermittlungen umbilden wird. Der Kontext einer »neuen Mythologie« schuf hier allerdings gänzlich gewandelte poetologische Voraussetzungen. So paradox es scheinen will: die Originalität der Lyrik des sogenannten >Sturm und Drang< offenbart sich nirgends deutlicher als in den Augenblikken, in denen sie an die Tradition anschließt. Liest man Goethes Seefahrt als Kontrafaktur des Psalms 107, so stellt sie doch mit derselben sprachlichen und sachlichen Intensität eine Horaz-imitatio von hoher poetischer Evidenz dar. Zu den berühmtesten seiner berühmten Oden zählt sicherlich die vierzehnte des ersten Buchs, in der Horaz, so die seit Quintilian übliche Deutung, 26 die Gefahren des Staates unter dem Emblem eines in Seenot geratenen Schiffes vorstellte: O navis, referent in mare te novi fluctus? o quid agis? fortiter occupa portum. Nonne vides, ut nudum remigio latus Et malus celeri saucius Africo antemnaeque gemant, ac sine funibus vix durare carinae possint imperiosius aequor? Non tibi sunt integra lintea, non di, quos iterum pressa voces malo.

25 26

Ebd., S. 25-30, hier: S. 25. - Vgl. Horatius: carm. 11,19,7-8. Gegen die Auffassung einer >frostigen< allegorischen Lesart stellte sich mit überzeugenden Argumenten insbesondere Otto Seel: »Zur Ode 1,14 des Horaz. Zweifel an einer communis opinio«, in: Festschrift Karl Vretska, hg. v. Doris Ableitinger und Helmut Gugel, Heidelberg 1970, S. 204-249. Vgl. auch weiter unten (S. 108) meine Ausführungen zu Tanneguy Leföbvres Deutung!

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quamvis Pontica pinus silvae filia nobilis, iactes et genus et nomen inutile: nil pictis timidus navita puppibus fidit. tu, nisi ventis debes ludibrium, cave. nuper sollicitum quae mihi taedium, nunc desiderium curaque non levis, interfusa nitentis vites aequora Cycladas. 27

Klopstock übersetzt: Ach es reißet dich? Schiff, wieder die Wog' ins Meer! Was beginnest du, wirf haltende Anker aus. Siehst du nicht, daß die Borde Leer der Ruder dir sind? der Mast, Wund vom fliegenden Süd', und das Gestänge seufzt? Widerstehst du vielleicht taulos dem Ocean, Wenn er wüthet? Gerißne Segel hast du, doch keinen Gott, Dem du, wieder in Drang, rufest, wie sehr du auch Deines Stammes dich rühmst, und des nicht frommenden Namens, edle Tanne, Tochter pontischer Waldungen. Auf der Flilte Gemäld' trauet kein sorgsamer Steurer. Willst du des Sturms Spiel nicht seyn, wahre dich. Ach das Kummer vordem mir Bis zur Grämlichkeit war, und jetzt Bange Hoffnung mir ist, meide das Meer, das hoch Lichte Felsen durchströmt. 28

Wie in einem Palimpsest überschrieb Klopstock Horazens Ode in der Dichtung Die Welten, indem er den politischen Sinngehalt bei Horaz ins Kosmologische umdeutete. Die Psalm-Imitation des ersten Bildes eines »Ozeans der 27

28

Horatius, Od. 1,14. - Zur Meeresterminologie des Horaz und in der lateinischen Dichtung vgl. die unübertroffen reiche Stoffsammlung von E. de Saint-Denis: Le rôle de la mer dans la poésie latine, Paris 1935; zur >politischen< Deutung der Ode 1,14 vgl. Rudolf Hanslik: »Die Religiosität des Horaz«, in: Das Altertum 1 (1955), S. 230-240. Friedrich Gottlieb Klopstock, Nachdichtung von Horatius: carm. 1,14, in: ders.: Sämmtliche Werke, Bd. 13, Leipzig 1830, S. 245f. (Klopstocks Übertragung erschien zuerst in seiner Sammlung Grammatische Gespräche, Erste Abtheilung, Altona 1794).

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Welten« kontrastierte mit dem »Totengesang« des Sturmes in dem zweiten Bild, einem Bild der trostlosen Vergeblichkeit, denn »Gerißne / Segel hast du, doch keinen Gott, / Dem du, wieder in Drang, rufest«.29 Auch Herder hatte sich sehr früh schon mit den Oden des Horaz beschäftigt und einige mehrmals übersetzt; in einer Reihe mehrerer Übertragungen erschien die fragliche Dichtung zuerst 1774 in Matthias Claudius' Wandsbekker Boten. Das asklepiadische Versmaß Horazens aufnehmend, dessen sich Klopstock so häufig bedient hatte,30 schrieb Herder unter der erläuternden Überschrift »An die Republik, da sie sich aufs neu zu Bürgerkriegen rüstete«: Schifjf], o treiben ins Meer wieder die Stürme dich? Schif[f], was strebest du an? Eile zum Hafen! Vest Halt den Hafen! O siehst du Nicht die Seite schon Ruderloß? Und den tragenden Mast Stürmeverwundet! schon Seufzen Seileberaubt alle Gebälk'! Es kann Kann das trotzende Meer nicht Aus mehr halten der brechliche Boden! Siehe dir sind Segel zerrissen! Dir Sind die Götter entflohn, die du im Wellenkampf Riefest! Wähne dich immer Hohen, Pontischen, edlen Stamm, Rühm' dir alten Geschlechts prangenden Ruhm! Umsonst Der gemahleten Wand trauet der bebende Schiffer nimmer. O hüte Dich den Winden ein Spiel zu seyn. Einst mir Kummer und Gram, Eckel und Ueberdruß Jetzt ein Sehnen und Wunsch drückender Sorge! Schif[fJ Fleuch das täuschende Meer, das Zwischen hellen Cycladen schäumt. 31

Herders Nachdichtung schließt gegenüber derjenigen Klopstocks enger an die Vorlage an; signifikanter jedoch ist der durchgängige Stil der Polyplokie, 32 den er bereits anläßlich der Dithyramben Willamovs in den Fragmenten gerühmt hatte: »Stürmeverwundet«, »Seileberaubt«, oder der Gebrauch kühner Metaphern wie »Wellenkampf« oder »das täuschende Meer«. Ein Bild der 29 30

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Vgl. Horatius: carm. 1,14,9-10. Vgl. Horst Joachim Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen, München, Wien 1980, S. 338-342. Johann Gottfried Herder: Nachdichtung von Horatius: carm. 1,14, in: Herder: Sämtliche Werke (vgl. Kap. 3, Anm. 43), Bd. 26, Berlin 1882, S. 219f. Eingehend hatte sich Erasmus Schmid mit dem dithyrambischen Stil der Polyplokie beschäftigt: vgl. ders.: »De dithyrambis« (wie Anm. 21), S. 248 und 251.

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Selbsterhaltung birgt das Schiff, »den Winden ein Spiel« (ludibrium), in dem der Mensch prometheusgleich die Elemente bändigt,33 denen er sich in höchster Gefahr selbst ausliefert. Diesen Sinngehalt, der dem »männlich« das Steuer regierenden »Schiffer« in Goethes Seefahrt eignet, hatte Horaz in der Ode (1,3), in der er Vergils Überfahrt nach Attika besang, in einer glänzenden Ideenverbindung geprägt; Prometheus' frevelnde Tat, indem er das Feuer den Göttern raubte, und die Beherrschung der Meere waren hier als himmelstürmende (»caelum ipsum petimus«) Auflehnung gegen die Götter gedeutet: Nequiquam deus abscidit prudens oceano dissociabili terras, si tarnen inpiae non tangenda rates transiliunt vada. Audax omnia perpeti gens humana ruit per vetitum nefas: audax Iapeti genus ignem fraude mala gentibus intulit. (Ganz umsonst hat ein weiser Gott Des ungastlichen Meers Fluten vom Land getrennt, Wenn die Barke mit keckem Hohn Wagt verwegen den Sprung auf den verwehrten Pfad. Bebt der Mensch doch vor nichts zurück, Stürzt mit tollkühnem Mut selbst zu verbotner Tat: Holte frevelnden Truges nicht Zu den Menschen herab Japetus' Sohn den Brand?) 34

In einem Zeitalter der Mythologie umschrieben derart heroische Taten einen gottvergessenen Frevel, weil sie die Taten der Götter nur supplementierten. »Die Helden«, so Herder in der Oden-Abhandlung, »in denen die Griechen Götter sahen, bemerkten die Römer blos als Helden, wir nur als Menschen, Bürger, ja oft blos als Gegenstände des Nachforschens«.35 Prometheus, der Titelheld von Goethes Hymnos, schuldet Zeus, »Dem Schlafenden dadroben« (v. 37), keinen »Rettungsdank« (v. 36), denn er verdankt seinen tatenvollen Lebensgenuß, »Zu leiden, weinen, / Genießen und zu freuen sich« (v. 55 f.) dem in das »ewige Schicksal« eingesenkten Trieb der Selbsterhaltung. Damit ist eine prinzipielle Offenheit des Menschen gegenüber den geschicklichen, zeit-räumlich determinierenden Bedingungen gewonnen: 33

34 35

Vgl. Ralph Häfner: s.v. »Elemente«, in: Goethe-Handbuch, Bd. 4 / 1 , hg. v. HansDietrich Dahnke und Regine Otto, Stuttgart-Weimar 1998, S. 242-244. Horatius: carm. 1,3,21-28 (Edition von Hans Färber). Johann Gottfried Herder: »Fragment einer Abhandlung über die Ode« (vgl. Kap. 5, Anm. 2), S. 69.

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»scheiternd oder landend«. Das »kleine Drama« von Goethes Seefahrt verlängert die Spannung gleichsam ins Unendliche, denn es bricht ab, ohne daß es die Peripetie schon erreicht hätte. Die Gewißheit von Klopstocks Ode Die Welten: »Das Schiff geht unter«, weicht hier einem durch Freiheit selbstbeherrschten »Herzen«. Mit bemerkenswerter Genauigkeit trifft hierin die Deutung überein, die Tanneguy Leföbvre (der Vater Madame Daciers) in seiner Horaz-Ausgabe 1671 vorgelegt hatte. Wollte Quintilian in der Ode 1,14 eine fortgesetzte Allegorie erblicken, in der das Schiff den Staat, die Wellen und der Sturm den Bürgerkrieg, der Hafen endlich Frieden und Eintracht bezeichneten,36 so erkannte Lefebvre in Horazens Dichtung die Geistesstimmung eines hochgesinnten Individuums, dessen soziable Selbstbeherrschtheit in dem durch die Umstände bedingten Widerstreit eines Strebens nach freundschaftlicher Gemeinschaft und der schmerzlichen Trennung von den Freunden nie dauerhaft zur Erfüllung zu kommen vermag: »Denn das Schiff«, so faßte er seine Auslegung zusammen, »war Horaz, als er mit den Freunden zurückkehrte, ein Ekel: In dem Augenblick aber, da die Freunde scheiden und sich in das ägäische Meer zurückwenden, war ihm dasselbe Schiff ein Gegenstand des Verlangens, weil er von dem Verlangen nach ihnen aufgewühlt wurde.«37 Eigenartig kontrastiert hierzu, auch vor dem Hintergrund des gefahrlosen Blickpunkts der Hirten in Gessners Lukrez-Adaption, das Ereignis des Schiffbruchs vor der »bezauberten Insel« in Shakespeares Schauspiel Der Sturm, wenn Gonsalo, der alte Berater des Königs Alonso von Neapel, spricht: »Wir scheitern, wir scheitern, wir sinken unter! Lebet wohl, mein Weib und meine Kinder! Wir scheitern! wir scheitern!«, und wieder: Izt wollt' ich von Herzen gerne tausend Meilen See für eine Jauchart dürren Boden geben, Heidekraut, Genister, was man wollte - - der Wille des Himmels geschehe! Doch wollt' ich lieber eines troknen Todes sterben! 38

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38

Vgl. Quintilian: Inst. orat. VIII,6,44: »[...] totusque ille Horati locus, quo navem pro re publica, fluctus et tempestates pro bellis civilibus, portum pro pace atque concordia dicit.« Tanneguy Lefèbvre: Kommentar zu Ode 1,14, in: Horatius: Opera ad sereniss. Delphinum diligenter recensuit Tanaquillus Faber, & notulas ac monita ad odas addidit cum specimine novae interpretationis ad lectorem, Saumur 1671, S. 300-306, hier: S. 306: »Navis enim redeunti cum amicis Horatio taedium erat: abeuntibus iisdem amicis, & in Aegaeum mare revertentibus, eadem navis Uli desiderium erat, quia scilicet eorum desiderio commovebatur.« William Shakespeare: Der Sturm; oder: Die bezauberte Insel 1,1, in: ders.: Theatralische Werke in 21 Einzelbänden übersetzt von Christoph Martin Wieland, hg. v. Hans und Johanna Radspieler, Zürich 1993, S. lOf. - Dem Ausdruck der Hoffnung auf einen »troknen Tod« liegt der Gedanke zugrunde, daß die Seele, sobald sie >naß< ist, ihre Unsterblichkeit verliert: vgl. Jacob Thomasius: Exercitatio philosophica de morte in undis, contra Servium & Synesium [...], Leipzig 1672.

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Wieland, dessen Übersetzung 1763 im zweiten Band der Theatralischen Werke Shakespeares erschienen war, gab dessen Stück den Titel »Der erstaunliche Schiffbruch«, als er es zuerst 1761 durch die Biberacher Comödiengesellschaft aufführen ließ, und er bereicherte es »offensichtlich« 39 durch Szenen aus dem St. Johannis Nachts-Traum. Von erstaunlicher Signifikanz im Blick auf das horazische Motiv der Selbsterhaltung stellt sich uns allerdings ein anderer, von Goethe früh geschätzter Dichter heraus. Unter der Lieblingslektüre des Knaben im Frankfurter Elternhaus hob er Fénelons Abenteuerroman Télémaque (zuerst 1699) hervor, mit dem er sich anfangs in der Fassung deutscher Alexandriner von Benjamin Neukirch (in erster Auflage 1727) vertraut gemacht hatte. Die Differenz zu Ovids mythologischen Metamorphosen charakterisierend, notierte er später: »Einen frömmern, sittlichem Effekt als jene mitunter rohen und gefährlichen Altertümlichkeiten machte Fénelons >Telemachsupra-naturale< Befreiung, sondern vielmehr eine leidenschaftlich-lustvolle Betrachtung der kosmischen »Vernichtungen« intendiert. Der Held, der sich »hohnlachend« am Ende selbst »in die Wogen« hineinzustürzen verlangt, verkehrt die Erhabenheit des Alls, die Klopstock noch in der Vernichtung des Schiffers in dem Gedicht Die Welten affirmierte, zu einem grotesken »Possenspiel«, dessen mögliche Bedeutungen nurmehr auf den Trug eines an ihm selbst scheiternden Individuums verweisen. Die »Zerrüttungen«, vor denen Moses Mendelssohn 1755 in den Briefen Über die Empfindungen mit eindringlichen Worten gewarnt hatte, bezeichneten genau diesen kosmologisch-anthropologischen Dualismus, an dem Stoibergs Held angesichts einer nicht einmal mehr ausgesprochenen entgötterten Welt zugrunde geht. Die gleichsam rousseauistische Ausblendung der geselligen Lebensverhältnisse, die die »ursprüngliche Freiheit« (liberté originelle) des Individuums notwen52

Friedrich Leopold Graf zu Stolberg: »Lied eines Freigeistes«, in: Gesammelte Werke der Brüder Christian und Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg, Erster Band, Hamburg 1827, S. 133f.

113

dig einschränkten, 53 die jedoch in der Beziehung des Kaufmanns und Schiffers zu den »Freund und lieben« am Ufer und den Matrosen an Bord des Schiffes in Goethes Seefahrt

eine thematisch so herausgehobene Funktion

erfüllen, führt in dem Freigeist Stolbergs zu einer extremen Individualisierung des Selbst, welches das kosmologische Schauspiel scheiternder Erden und zerschellender Sonnen in der Unendlichkeit der eigenen Seelenwelt, den »Welten in meiner Brust«, ohne gesellige Vermittlung aufzufangen strebt. Diese Seelenwelt wäre dann nichts anderes als die Verinnerlichung der zerrütteten Außenwelt, die Phantasmagorie von »Mitternacht, Trümmer und Graus«. Eine Verwirklichung der imaginären Seelenwelt aber, wie sie Stolberg in der negativen Idylle des Freigeists präsentierte, zog nahezu notwendig die Vernichtung des bindungslosen Individuums nach sich, und Diderot behauptete in einem tieferen, naturrechtlichen Sinne wohl mit Grund: »Sich in die Extreme stürzen, dies ist die Regel des Dichters. In allem das rechte Maß zu wahren, dies ist die Regel des Glücks.« Vor der Abreise in die Schweiz äußerte Johann Heinrich Merck gegenüber Goethe gewisse Vorbehalte über die genialische Reisegesellschaft, und die Worte, die Goethe im Abstand mehrerer Jahrzehnte noch erinnerte, enthielten im Kern eine Poetik, die das anthropologisch-naturrechtliche Grundproblem dieser Jahre in die gnomische Kürze einer Lebensregel faßte. Goethe zitierte zunächst Mercks Auslassung über die Gefährten: »Du wirst nicht lange bei ihnen bleiben!« das war das Resultat seiner Unterhaltungen. Dabei erinnere ich mich eines merkwürdigen Wortes, das er mir später wiederholte, das ich mir selbst wiederholte und oft im Leben bedeutend fand. »Dein Bestreben«, sagte er, »deine unablenkbare Richtung ist, dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben; die andern suchen das sogenannte Poetische, das Imaginative, zu verwirklichen, und das gibt nichts wie dummes Zeug.« Faßt man die ungeheure Differenz dieser beiden Handlungsweisen, hält man sie fest und wendet sie an; so erlangt man viel Aufschluß Uber tausend andere Dinge.54

Vgl. Jean Jacques Rousseau: Discours qui a remporté le prix à l'académie de Dijon en 1750. Sur cette question proposée par la même Académie: Si le rétablissement des sciences & des arts a contribué à épurer les moeurs, Genf 1750 (Vgl. J. J. Rousseau, Schriften zur Kulturkritik, hg. v. Kurt Weigang, Hamburg 1983, S. 1 S4

5 9 )

'

Johann Wolfgang Goethe: Dichtung und Wahrheit, Vierter Teil, 18. Buch, in: ders.: Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 10, S. 128. - Merck griff den Gedanken in einem anonym publizierten Beitrag filr das Tiefurter Journal 1781 noch einmal variierend auf. (Vgl. Johann Heinrich Merck: Werke, hg. v. Arthur Henkel, Frankfurt / M. 1968, S. 656-659). 114

Merck, der die von Heinrich Christian Boie herausgegebene sammlung der Brüder Stolberg fiir Wielands Teutschen

Merkur

Gedicht-

1779 wohl-

wollend rezensiert hatte, fand in den »Hymnen und Dithyramben« Friedrich Leopolds eine poetische Gestalt, »wo die Bilder der aufgebrachten Einbildungskraft wie im Titanenkrieg über einander herstürmen.«

55

Aber er äußerte

Kritik an der Form neuerlicher Naturhymnen, in denen »Sonne, Mond und Erde zu Göttinnen und Nymfen personifiziert werden«. 56 In dieser nismäßigen

unverhält-

»neuesten Mythologie« verlören sich »manche Bilder« ins Form-

lose, weil sie ihren »Maastaab« nicht mehr an der »gewöhnlichen menschlichen Gestalt« gewinnen. Allein dieser »Typus für Menschen« müsse stets vorhanden sein, »wenn anders bestimmte Formen in der Imagination der Leser entstehen sollen.« 57 Der Wahrnehmungsprozeß, so wie ihn Merck nach dem Zeugnis Goethes sich dachte, ging also immer dann in die Irre, wenn die künstlichen Konstrukte der Einbildungskraft eine von der sinnlichen Erfahrung unabhängige Wirklichkeit heraufführen: »Gespenstererscheinungen«, nicht aber das »Bild in seiner ganzen Fülle, Neuheit und dunklem impliciten Genuß«, wie es zuerst vor das Auge der Seele trat. In den Monaten, in denen Goethe die physiognomischen Studien Lavaters nach Kräften forderte, legte Merck dem Zürcher Gelehrten seine Gedanken über die Entstehung der >Wirklichkeit< im Menschen dar. A m 15. Februar 1775 schrieb er an Lavater: Wahr sind auch nur meine Erfahrungen fiir mich gewesen wie aller Glaube [...] Ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, und die sind menschliche Augen, die morgen wieder anders sehen werden wie heute, und sich bilden oder erzogen werden (nach Helvetius) biß sie sich schliessen.58 Und obgleich also der Wahrnehmungsinhalt eines Menschen von dem eines anderen aufgrund der unterschiedlichen »Cultur« der Erfahrungen völlig verschieden sei, so gebe es dennoch »gewisse Gese[t]ze«, die eine strukturelle Gleichartigkeit verbürgen: Also wir sehen nur Einmal: und wer dies nicht glauben will, kan[n] es nur bey allen Gegenständen versuchen ob er zum zweylenmal sehen kan[n]; ob ihm das Bild in seiner ganzen Fülle, Neuheit und dunklem impliciten Genuß noch einmal vor die Seele komme, oder ob nur die zweyte und dritte Eindrü[c]ke, nicht wahre Gespen55

56

"

58

Johann Heinrich Merck: Rezension zu: »Gedichte der Brüder Christian und Friedrich Leopold Grafen zu Stollberg [!], herausgegeben von Heinr. Christian Boie. Mit Kupfern«, in: ders.: Werke (wie Anm. 54), S. 623f. Ebd. Ebd. Brief Mercks an Lavater, Darmstadt, 15. Februar 1775, in: Johann Heinrich Merck: Briefe, hg. v. Herbert Kraft, Frankfurt / M. 1968, S. 128-132, hier: S. 129.

115

stererscheinungen sind, mit denen die EinbildungsKrafft macht und machen kan[n] was sie w i l l « 5 9

Mehr noch: Die Produkte eines willkürlichen Spiels der Phantasie stellten sich als völlig inkommunikabel heraus, weil sie nicht mehr unmittelbar an den gemeinsamen Kern aller menschlichen Erfahrung gebunden war. Dieselbe scharfsinnige Wahrnehmungskritik, die Immanuel Kant in den Träumen eines Geistersehers in der Mitte der 1760er Jahre entwickelt hatte, formte, wie wir wissen, auch Herders Grundlegung der Ode, und Mercks Rekurs auf Helvitius' Abhandlung De l'esprit läßt erkennen, daß er die Soziabilität der Erfahrung auf eine ursprüngliche Erzeugung der inneren Wahrnehmungsbilder gründete, die noch nicht durch den Eigensinn der Phantasie zu Trugbildern bloßer Geschmackskonventionen verformt worden waren. Was Herder eine »olympische Offenbarung« nannte, 60 faßte Goethe in der Rede Zum Schäkespears Tag vom Oktober 1771 in die Forderung nach einer »neuen Schöpfung«, »uns aus dieser Finsternis zu entwickeln.« 61 »Wie ein blindgebohrner,« so Goethe, »dem eine Wunderhand das Gesicht in einem Augenblicke schenckt«, »lernt ich sehen« und es erweiterte sich »meine Existenz um eine Unendlichkeit«. 62 Die Beschaffenheit der Wahrnehmungsbilder in dem blinden Mathematiker Nicholas Saunderson veranlaßte Diderot in der Lettre sur les aveugles (1749) zu der Beobachtung, daß der »innere Sinn« (sens interne)6* jene Quelle aller Erfahrungen darstellt, die ihre Bestimmungen durch die Konformität verschiedenartiger Sinneseindrücke annehmen. Indem »das Auge sehen lernt wie die Zunge sprechen«, werden wir des fortgesetzten Daseins der Dinge inne, die wir >Wirklichkeit< nennen. 64 Angesichts der zentralen Stellung, die dem »inneren Sinn« in der Anthropologie Diderots zukommt, verstehen wir nun, weshalb Goethe in Shakespeares Theater eine »Geschichte der Welt« vorfand, die »vor unsern Augen an dem unsichtbaaren Faden der Zeit vorbeywallt.« Denn seine Stücke »drehen sich alle um den geheimen Punckt (den noch kein Philosoph gesehen und bestimmt hat) in dem das Eigenthümliche unsres Ich's, die prätendirte Freyheit unsres Wollens, mit dem nothwendigen

59 60

61

62 63

64

Ebd., S. 130. Vgl. Ralph Hafner: Johann Gottfried Herders Kulturentstehungslehre (vgl. Kap. 5, Anm. 1), S. 1 9 9 - 2 1 0 . Johann Wolfgang Goethe: »Zum Schakespears Tag«, in: Der junge Goethe (FL), Bd. 2, Berlin 1963, S. 83-86, hier: S. 85. Ebd., S. 83. Vgl. Denis Diderot: »Lettre sur les aveugles à l'usage de ceux qui voient«, in: ders.: Œuvres philosophiques (vgl. Kap. 6, Anm. 25), S. 96f. Vgl. ebd., S. 133.

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Gang des Ganzen zusammenstösst.« 65 Shakespeares Dramen sind daher Auslegungen einer Welt in dem Sinne, in dem Herder Hermeneutik als »Sache des Augenpunkts, Gesichtskreis], schnelle Bemerkung, sensus communis« bestimmt hatte. 66 In der Einleitung zu dem berühmten Brief, den Goethe aus Wetzlar im Juli 1772 an Herder schrieb und in dem er von seiner begeisterten Pindar-Lektüre Rechenschaft ablegte, schrieb er: »Noch immer auf der Wooge mit meinem kleinen Kahn, und wenn die Sterne sich verstecken schweb ich so an der Hand des Schicksaals hin und Muth und Hoffnung und Furcht und Ruh wechseln in meiner Brust.«61

Pindars »Meisterschafft« erkannte er damals in einer »Vir-

tuosität« des sprachlichen Ausdrucks, mit der der griechische Dichter eine teilnehmende Wirklichkeitserfahrung »plastisch« zur Darstellung brachte: Über den Worten Pindars ¿Tcucpaieiv Süvaaöou ist mirs aufgegangen. Wenn du kühn im Wagen stehst, und vier neue Pferde wild unordentlich sich an deinen Zügeln bäumen, du ihre Klafft lenckst, den austretenden herbey, den aufbäumenden hinabpeitschest, und iagst und lenckst und wendest, peitschest, hältst, und wieder ausjagst biss alle sechzehn Füsse in einem Tackt ans ziel tragen. Das ist Meisterschafft, eTciKpaieTv, Virtuosität.68 Virtuosität meint also jene gleichsam schlafwandlerische Sicherheit des inneren Blicks, der die auseinanderstrebenden Leidenschaften des Menschen zu einer in sich bewegten, kraftvollen Einheit hin aufhebt und darin bewahrt; 69 sie äußert sich in der inneren Bilderwelt des Blinden, deren plastische Konformität Diderot in seiner Lettre durch den »inneren Sinn« begründet hatte. A n Herder gewandt, schrieb Goethe in demselben Brief: »Es ist alles so Blick bey euch, sagtet ihr mir offt. Jetzt versteh ich's tue die Augen zu und tappe. Es muss gehen oder brechen.« 70

65 66 67

68 69

70

Johann Wolfgang Goethe: »Zum Schäkespears Tag« (wie Anm. 61), Bd. 2, S. 85. Vgl. hierzu oben S. 61f. Brief Goethes an Herder, Wetzlar, etwa 10. Juli 1772, in: Der junge Goethe (FL), Bd. 2, S. 255. - Zu dem von Goethe hervorgehobenen Wort »Brust«, das er sogleich durch die pindarischen TerminiCTxfj9cx;(Brust) und npajiiSet; (Zwerchfell; hier etwa: innerer Sinn, Lebensgeister) erläutert, vgl. auch die zentrale Bedeutung des horazischen »pectus« in Ode 11,10, auf die wir in Kürze zu sprechen kommen. Ebd., S. 255f. Vgl. hierzu die Pindar-Figuration in der Charakterisierung Goethes durch Wilhelm Heinse im Brief an Gleim und Klamer Eberhard Schmidt, 13. September 1774: »Göthe war bey uns, ein schöner Junge von 25 Jahren, der vom Wirbel bis zur Zehe Genie und Kraft und Stärke ist; ein Herz voll Gefühl, ein Geist voll Feuer mit Adlerflügeln, qui mit immensus ore profundo - und mit ihm Lavater und nicht weit davon Basedow«. (Wilhelm Heinse: Sämmtliche Werke, hg. v. Carl Schüddekopf, Bd. 9, Leipzig 1904, S. 224f.). Brief Goethes an Herder, Wetzlar, etwa 10. Juli 1772 (wie Anm. 67), S. 256.

117

Goethe kontaminierte also in der Shakespeare-Rede die Situation des Diderotschen Blindgeborenen und dessen genuin plastischer Vorstellungswelt mit der horazisch-pindarischen Forderung, daß im poetischen Ausdruck »Alles ein's

seyn« müsse. 71 Die Harmonie eines mittleren Klimas bildete die

Erfahrungswelt eines inneren Sinnes ab, der in dem fortwährenden Glückswechsel und den daraus abgeleiteten moralischen und sozialen Wertbestimmungen als Bleibendes verharrt: »Das was edle Philosophen von der Welt gesagt haben, gilt auch von Schäkespearen, das was wir bös nennen, ist nur die andre Seite vom Guten, die so nothwendig zu seiner Existenz, und in das Ganze gehört, als Zona torrida brennen, und Lapland einfrieren muss, dass es einen g e m ä s s i g t e n Himmelsstrich gebe.« 72 Der Lebenssinn einer »goldenen Mitte« (aurea mediocritas),

wie ihn Horaz in der Ode 11,10 vergegenwärtigt

hatte, k a m also auch in Shakespeares Theater zur wirksamen Entfaltung: Sperat infestis, metuit secundis alteram sortem bene praeparatum pectus: informis hiemes reducit Iuppiter, idem Submovet. Non, si male nunc, et olim sie erit; quondam cithara tacentem suscitat Musam neque Semper arcum Tendit Apollo. (In dem Unglück hofft und im Glück besorgt, wer Weisen Sinn sich wahrt, des Geschickes Wechsel: Der aufs neu den Winter, den wüsten, sendet, Juppiter, nimmt ihn Wieder; kommt heut Böses, so kommt es nicht auch Morgen; weckt ja doch mit der Zither Klange Oft Apoll die schweigende Muse, spannt nicht Immer den Bogen.)73 A u f anderer Ebene lebt auch Goethes Seefahrt von einer konkreten Figuration. Mit der Bildsprache des Psalms 107 bewahrt er durchaus den Aufbau desselben, ohne daß die Dichtung noch als Psalmparaphrase wie im Falle von Klopstocks Oden kenntlich würde; sie wird vielmehr durch einen Sprachgestus überlagert, der den Ideengehalt von Horazens Ode 1,14 ins DramatischBalladenhafte übersetzt. 74 Das Lukrez-Motiv der kalten Betrachter des Un71 72 73 74

Ebd. Johann Wolfgang Goethe: »Zum Schäkespears Tag« (wie Anm. 61), Bd. 2, S. 85. Horatius: carm. 11,10,13-20. Zur Genese der Balladen Goethes in dieser Zeit (allerdings ohne Seitenblick auf Seefahrt) vgl. Wolfgang Braungart: »Naturverhältnisse. Zur poetischen Reflexion

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heils, an dem sich Goethes Polemik gegen Gessners Idylle Der Sturm entzündet hatte, erscheint in einem Einschub in den »Freund und lieben«, die »auf dem Festen« »beben«; durch freundschaftliche Bande mit den Seefahrern teilnehmend verknüpft, bewirken sie, in völligem Gegensatz zur Obszönität der interesselosen Lust bei Lukrez, 75 geradezu eine letzte Steigerung des Affektverlaufs: Und an jenem Ufer drüben stehen Freund und lieben, beben auf dem Festen: Ach warum ist er nicht hiergeblieben Ach der Sturm! Verschlagen weg vom Glücke Soll der Gute so zu Grunde gehen? Ach er sollte! Ach er könnte! Götter!

Welches aber sind die wiederholt genannten »Götter«, denen der Held der Seefahrt, »scheiternd oder landend«, »vertrauet«, ohne daß der Leser am Ende über den Ausgang der Unternehmung unterrichtet würde? Vergegenwärtigen wir uns noch einmal den Handlungsverlauf des Gedichtes. Ein Handelsherr, dessen befrachtetes Schiff für die Ausfahrt im Hafen bereit liegt, wartet »mit treuen Freunden« mehrere Tage lang auf günstige Winde. Mit steigender Ungeduld wünschen die Freunde »die schnellste Reise« und »die hohe Fahrt« herbei, denn »drüben«, in fernen Weltgegenden, erwartet den Kaufmann eine »Güterfülle«, angesichts derer ihm die Freunde nach erhoffter Rückkehr »Lieb und Preis« »in unsern Armen« versprechen. Verleitet durch das übermütige Jauchzen des »Matrosen« entschließt man sich endlich, frühmorgens »mit dem ersten Seegenshauch zu schiffen.« Gewisse Wetterzeichen scheinen eine glückliche Fahrt anzukündigen: »die Seegel blühen in dem Hauche / Und die Sonne lockt mit Feuerliebe«. Die Freunde »an dem Ufer« singen »Hoffnungslieder« in ihrem »Freudetaumel / Reisefreuden wähnend«. Aber unerwartet treiben »gottgesandte Wechselwinde«, die er zu »überlisten« bestrebt ist, den Kaufmann von »der vorgesteckten Fahrt ab«. Da »kündet« sich »aus der dumpfen grauen Ferne« »der Sturm an«, der sich rasch zu einem »starren Wüthen« steigert. Der Handelsherr, der den Umständen entsprechend nun ganz »Schiffer« ist, gebraucht eine menschliche List, indem er - horazisch, wie wir wissen - »weis« die Segel einzieht. Hier-

75

eines Aufklärungsproblems beim jungen Goethe«, in: Idealismus und Aufklärung. Kontinuität und Kritik der Aufklärung in Philosophie und Poesie um 1800, hg. v. Christoph Jamme und Gerhard Kurz, (Deutscher Idealismus. Bd. 14), Stuttgart 1988, S. 13-34. Zu Goethes Beschäftigung mit Lukrez vgl. Franz Schmidt: »Lukrez bei Goethe«, in: Goethe. Neue Folge des Jahrbuchs der Goethe-Gesellschaft 24 (1962), S. 158174.

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auf folgt das eben zitierte Tableau der »auf dem Festen« bebenden Freunde, die den Untergang des Schiffers, »verschlagen weg vom Glücke«, erwägen. In einem weiteren, abschließenden Tableau, dessen Sinngehalt wir im Blick auf den Psalm 107 eingehend kennengelernt haben, erblicken wir den Seemann, wie er, festen Herzens »an dem Steuer« stehend, gegen »Wind und Wellen«, die mit seinem »Schiffe spielen«, ankämpft. Indem er »herrschend« »auf die grimme Tiefe« blickt, vertraut er »scheiternd oder landend / Seinen Göttern.« Noch einmal gefragt: Welches sind diese Götter? Wir konnten verschiedentlich wahrnehmen, daß das Bild der Seefahrt eine seit dem Psalmisten vielfach variierte Metapher darstellte, in der die konventionellen Handlungen des Menschen den natürlichen Bedingungen des Lebens unmittelbar gegenübergestellt sind. Das Gelingen menschlichen Lebens, das stets von neuem einzuholende »Glück«, von dem Goethes Seefahrt spricht, erwies sich uns als ein Überlisten jener natürlichen Bedingungen, gegen welche sich der Mensch zu behaupten strebt. Wir sind nun in der Lage, das eigentliche Sujet des Goetheschen Gedichtes zu bestimmen: Es ist das scheinbar planvolle Ineinanderwirken konventioneller, freier Handlungen und der gleichsam elementaren Macht natürlicher Bedingungen, die Wirkungen des Glückes also, das sich am Ende unvermutet und wider Erwarten als ein Anderes des von dem Menschen anfänglich Erstrebten zu erkennen gibt. Blicken wir noch etwas näher auf den >sittlichen< Charakter dieses Verhältnisses. Im Kontext seiner Studien zu dem Naturrecht Samuel Pufendorfs notierte sich Herder: »wir s[ind] Moralfische] Wesfen] d[urch] d[ie] Instit u t i o n ] - Physfische] d[urch] Schöpffung]«. 76 Die Doppeldeutigkeit aller menschlichen Handlungen erweist sich nämlich darin, daß die konventionellen, durch Erziehung, Übung und Gewohnheit erworbenen Fähigkeiten des 76

Vgl. Nachlaß Herder, Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ms. XXVI 18, p. 28. - Herder bezieht sich hier auf einen Abschnitt gleich zu Beginn (1,1,4) von Pufendorfs Schrift De iure naturae et gentium (1672), der in der verbreiteten französischen Obersetzung Jean Barbeyracs lautet: »Comme les Etres Physiques sont originairement produits par la Création; on ne saurait mieux exprimer la manière dont les Etres Moraux se forment, que par le terme d'Institution.« (Vgl. Samuel Pufendorf: Le droit de la nature et des gens, ou systeme général des principes les plus importans de la morale, de la politique, de la jurisprudence, et de la politique. Traduit du latin [...] par Jean Barbeyrac, 2 Bde., Amsterdam 1706, Bd. 1, S. 4). Zum Autor vgl. Pierre Laurent: »Samuel de Pufendorf (8.1.1632— 26.10.1694)«, in: Bulletin de Littérature Ecclésiastique 84(1983), S. 100-114, S. 178-194; Werner Schneiders: Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius, (Studien und Materialien zur Geschichre der Philosophie. Bd. 3), Hildesheim-New York 1971, S. 62fT.; Joseph Niedermann: Kultur. Werden und Wandlungen des Begriffs und seiner Ersatzbegriffe von Cicero bis Herder, (Biblioteca dell' »Archivum Romanicum«, Bd. 1,28), Florenz 1941, S. 132-170.

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Menschen eine gesellschaftlich mannigfach variable Lebenswelt herauffuhren, deren Wertschätzung von einem von allem Anfang an mitgegebenen natürlichen oder kreatürlichen Fundament menschlichen Lebens und seiner Bedürfnisse tangiert wird. Insofern der Mensch ein natürliches Wesen ist, so lehrte Pufendorf, partizipiert er an der Vervollkommnung des Universums; als moralisches Wesen jedoch richtet sich sein nach Vervollkommnung strebendes Bemühen allein auf das sittliche Leben des Menschen. Dieses Leben ist, weil sich in ihm eine genuin menschliche Kultur des Geistes ausdrückt, von dem natürlichen Leben des Tieres auszeichnend unterschieden. Die Handlungen des menschlichen Geistes können, wie schwankend und veränderlich sie auch immer sein mögen, auf eine wohlgeordnete Harmonie zurückgeführt werden, in der sich eine spezifisch menschliche, durch Soziabilität ausgezeichnete Lebenswelt darstellt. 77 Gewiß war auch Goethe, der Jurastudent in Leipzig, mit der Naturrechtslehre Pufendorfs aufs engste vertraut; die Schrift De officio hominis et civis iuxta legem naturalem (1673) befand sich in zwei Ausgaben in der Bibliothek seines Vaters. 78 Dieser Konflikt beschreibt ein anthropologisches Grundproblem, das sich zu dem dreifachen Verhältnis des Menschen als Individuum, als natürlichen und als sittlichen Wesens entfaltet. In dem kosmischen »Possenspiel« von Stoibergs Freigeist, in der rousseauistischen Exkavation aller Soziabilität, kam er ebenso zum Austrag wie in der Duplizität von Goethes Helden, dem Schiffer und Handelsherrn. Goethe hatte die Dialektik von Glück und Unglück, von Gelingen und Scheitern der individuellen Lebensverhältnisse, im Horizont der Harzreise im Winter, die wohl noch im Dezember 1777 entstanden war, an einem Herzen exemplifiziert, das »vergebens / Sich gegen die Schranken / Des ehernen Fadens« sträubt, »Denn ein Gott hat / Jedem seine Bahn / Vorgezeichnet«, auf der ihn »Fortuna« fuhrt. 77

78

Vgl. Samuel Pufendorf: Le droit de la nature et des gens (wie Anm. 76), S. 4: »On découvre aussi [...] le but des Etres Moraux, qui n'est pas, comme celui des Etres Physiques, de perfectionner l'Univers en général; mais de perfectionner seulement la Vie Humaine, entant qu'elle est susceptible d'un bel ordre, par opposition à celle des Bêtes: en sorte que les mouvemens de l'Esprit Humain, tous inconstans qu'ils sont, puissent être réduits à une harmonie bien réglée.« Zu diesem Aspekt von Pufendorfs Gesellschaftslehre vgl. Vanda Fiorillo, Tra egoismo e socialità. Il giusnaturalismo di Samuel Pufendorf, (Storia e diritto. Studi. Bd. 30), Neapel 1992, S. 83-92. Vgl. Franz Gotting: »Die Bibliothek von Goethes Vater«, in: Nassauische Annalen 64 (1953), S. 23-69, hier: S. 59: Ausgaben London 1673 und Jena 1721. - In dem sogenannten ältesten Bibliotheksverzeichnis Goethes von 1788 findet sich eine Ausgabe von Pufendorfs Einleitung in die Historie der vornehmsten europäischen Reiche und Staaten, Frankfurt, Leipzig 1746-50. (Vgl. Hans Ruppert: »Das älteste Verzeichnis von Goethes Bibliothek«, in: Goethe. Neue Folge des Jahrbuchs der Goethe-Gesellschaft 24 (1962), S. 253-287, hier: S. 273).

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Der Göttinger Philologe Christian Gottlob Heyne79 veröffentlichte 1774 eine lateinische Übersetzung der Oden Pindars, nachdem er im Jahr zuvor eine kritische Ausgabe des griechischen Textes ediert hatte.80 Herder hatte die Editionen seines Freundes sogleich im Wandsbecker Bothen mit Zustimmung rezensiert." Jetzt ist es die »Retterin Tyche«, jenes »Kind des Befreiers Zeus«, das Pindar an den Beginn seiner zwölften Olympischen Ode stellte. Pindars Gedankenentwicklung setzt das oben benannte eigentliche Sujet von Goethes Seefahrt, das Zusammenwirken der natürlichen Bedingungen und des auf gesellige Vervollkommnung gerichteten sittlichen Strebens, ins Bild. Betrachten wir kurz den Inhalt der Ode des griechischen Dichters.82 Von der Göttin Tyche, so die Gedankenfolge der Strophi, werden die schnellen Schiffe auf dem Meer ebenso gelenkt wie auf dem Lande die rasenden Kriege und die Entschlüsse der Ratsversammlungen. Vieles von den Menschen Unternommene werde (wie auf einem Glücksrad) von ihr hinauf-, anderes herabgefuhrt. Vergeblichen Trug durchkreuzend, verwirrt sie die menschlichen Hoffnungen. In der Antistrophö rückte Pindar dann das wechselhafte menschliche Geschick aufgrund des Wirkens der Tyche ins Licht: Ein »sicheres Zeichen« t u c t t o v ou(j.ßoXov (Heyne übersetzt: »signum certum«)83 für zukünftiges Handeln habe kein Erdbewohner je von Gott her (0eö0£v, diuinitus) erhalten. Während vieles den Menschen wider ihr Vermeinen und Planen (rcapa yvcSfiav, praeter opinionem) ins »Gegenteil der Freude« ausgefallen sei, so »haben andere, die auf schreckliche Sturmfluten getroffen sind, ein tiefes Glück gegen Leid in kurzer Zeit eingetauscht.« Die Epodos wendet schließlich die Einsicht in den Wechsel des Glücks auf den besonderen Fall

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Zu Heyne vgl. neben dem von mir Gesagten (Johann Gottfried Herders Kulturentstehungslehre [vgl. Kap. 5, Anm. 1], vgl. Register, mit Literaturhinweisen) v.a. Arnold Hermann Ludwig Heeren: Christian Gottlob Heyne. Biographisch dargestellt, Göttingen 1813, und Valerio Verra: Mito, rivelazione e filosofia in J. G. Herder e nel suo tempo, (Studi sul pensiero filosofico e religioso dei secoli XIX e XX. Bd. 2), Mailand 1966. Vgl. Pindari carmina cum lectionis varietate curavit Christian. Gottlob Heyne, Göttingen: Johann Christian Dieterich, 1773; Pindari carmina ex interpretatione latina emendatiore curavit Christian. Gottlob Heyne, Göttingen, Gotha: Johann Christian Dieterich, 1774. Vgl. Max Morris: »Herderiana im >Wandsbecker BothenLösung( bei Pindar und dem Psalmisten - zu einem dramatischen Tableau, dessen einziger ruhender Punkt das von »Wind und Wellen« ungerührte Herz des Schiffers ist. Eine mehrfache Dialektik von Ausfahrt und Rückkehr, von anfänglicher Ehrlosigkeit und innigem Ruhmesbegehren, von Übereilung und rechtem Augenblick, von leidenschaftlichem Verlangen und planvollem Tun wird überformt von dem durch Zeichen nicht deutbaren Wirken der Tyche, die eine Dialektik ganz eigener Art ins Spiel bringt, eine Dialektik von Vertrauen und Sorge, wie wir im Rückblick auf die Ode Seefahrt und im Vorausblick auf die Elegie Alexis und Dora vom Mai 1796 beobachten können. Nicht mehr die prometheusgleiche Auflehnung gegen Zeus, vielmehr das Zusammenwirken mit der göttlichen Tochter Tyche ist die Lehre von Goethes großem Weimarer Gedicht des Jahres 1776. In den »ganz decidirten moralisch politischen Augenblicks-Verhältnissen«,84 in denen sich Goethe seit 1775 an der Seite des Herzogs befand, gab diese poetische Gesamtkonzeption dem Leben eine formhafte Gestalt. Mehr noch: In demselben Brief, an dessen Ende er Lavater das Gedicht Seefahrt mitteilte, gerät ihm die Hochzeit Karl Augusts und Luises von Hessen-Darmstadt im Spätsommer 1776 zu einer - quasi-natürlichen - Konfiguration, deren verbindendes Glied »nichts menschliches«, »nur des unbegreifflichen Schick-

84

Vgl. Brief an Lavater, Weimar, 16. September 1776, in: Der junge Goethe. Seine Briefe und Dichtungen von 1764-1776. Mit einer Ginleitung von Michael Bemays, Dritter Theil, Leipzig 1875, S. 144-146.

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saals verehrliche Gerichte« bildeten: »wo die Götter nicht ihr Possenspiel mit den Menschen treiben, sollen sie noch eins der glücklichsten Paare werden wie sie eins der besten sind«. Man weiß, daß es der Possenspiele dann nur zu reichlich geben sollte. 85 Und in einem Brief an denselben Adressaten widmete er wenige Wochen zuvor »Dem Schicksaal« ein hymnisches Lied, in dem er die Dialektik dieser Lebensgestalt als Bedingung eines geglückten Lebens, horazisch: in der Zuteilung des »rechten Maßes«, durchführte: Was weis ich was mir hier gefilllt[,] Jn dieser engen kleinen Welt Mit leisem Zauberband mich hält! Mein Carl und ich vergessen hier Wie seltsam uns ein tiefes Schicksaal leitet Und, ach ich fühls, im Stillen werden wir Zu neuen Scenen vorbereitet. Du hast uns lieb, du gabst uns das Gefühl: Dass ohne dich wir nur vergebens sinnen, Durch Ungeduld und glaubenleer Gewühl Voreilig dir niemals was abgewinnen. Du hast für uns das rechte Maas getroffen In reine Dumpfheit uns gehüllt, Dass wir, von Lebenskraft erfüllt, Jn holder Gegenwart der lieben Zukunft h o f f e n 8 6

Goethe gab dem Preislied bewußt eine formhafte Inszenierung seiner Entstehung, indem er es gegenüber Lavater in einer präzisen situativen Bestimmtheit zeiträumlich verortete. Mit dem Hinweis, er habe es am 3. August »auf dem T[h]üringer Walde« »Morgens unter dem Zeichnen« geschrieben, 87 verlieh er einem wohlbekannten Ideengehalt den Schein der Unmittelbarkeit und individuellen Gegenwart, der die Gestaltung eines erfüllten Lebens allererst ermöglichte. In der Vergessenheit des Schicksals ereignet sich jene lebensvolle »Gegenwart«, deren sinnhafte Entwicklung im Verborgenen der Leitung desselben unterworfen ist. Nur am Rande sei angemerkt, daß Goethe mit dem Gedanken der Hoffnung der Zukunft implizit ein Leitthema seiner poetischen Gedankenform angeschlagen hat: Denn das Schicksal ist mythographisch zugleich Pandora, die dem Helden Alexis in der symbolischen Repräsentation der rätselhaften Geliebten Dora begegnen wird. Dialektik als Disparität: Auch diese Möglichkeit hat Goethe in jenen Jahren unter dem Bildgedanken der Seefahrt exemplifiziert. In dem Versuch, 85 86

87

Vgl. Friedrich Sengle: Das Genie und sein Fürst, Stuttgart-Weimar 1993. Vgl. Brief an Lavater, Weimar, 25., 26., 30. August 1776, in: Der junge Goethe, hg. v. Michael Bernays (wie Anm. 84), S. 142f. Ebd., S. 143.

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»dich unendliche Natur« 88 zu fassen, um sich Gewißheit über die trügerischen Weltverhältnisse zu verschaffen, läßt Faust das »Zeichen« des Erdgeistes auf sich einwirken. In dem rauschhaften Wahn, dem Geist innerlich verwandt zu sein, bricht er in einen übertriebenen Heroismus der Tat aus: Du Geist der Erde bist mir näher Schon fühl ich meine Kräffte höher Schon glüh ich wie vom neuen Wein Ich fllhle Muth mich in die Welt zu wagen All Erden weh und all ihr Glück zu tragen, Mit Stürmen mich herum zu schlagen Und in des Schiffbruchs Knirschen nicht zu zagen. 89 Noch in der Kalkulation des Schiffbruchs beweist Faust, daß er Bewohner seiner Erkenntnissphäre ist, deren sittliche Bedeutungen - »All Erden weh und all ihr Glück« - eine zu der Sphäre des Erdgeists völlig disparate, menschliche Lebenswelt generieren und begrenzen. In dem unermeßlichen, beinahe pantheistischen Allgesamt der >Naturpindarisiertemoderne< Umsetzung eines motivisch >alten< poetischen Traditionsbestandes. »Die Mythologie«, schrieb Herder in der Oden-Abhandlung, bleibt ein ordentlich System der Poetischen Welt, um Griechen und Römer zu verstehen, da sie bei beiden eine große Ausfüllung der Gedichte war. Sie bleibt ein Schatz der Dichtungskraft bei den Erfindern, über den wir staunen, wenn der Grund jeder Mythologischen Feyer im Staube seiner Geburt erscheinen sollte. Die Himmelsstürmerei war vielleicht ein kleiner Sieg des Königes Zevs wider eine Bande großer Räuberknechte: und die göttlichen Herkulesthaten, die einen Pindar weckten, Verrichtungen eines kühnen Bauerkerls. Aus diesen Kleinigkeiten eine Poetische Welt zu schaffen, wurde gewiß ein Griechisches Dichtungsvermögen erfodert: da die Naturreliquien mit ihrer Kunst verglichen, uns ganz erkaltet sind. 1

So sehr Herder auch durch eine euhemeristische Ableitung der Götter und Heroen, die j a schon von der alexandrinischen Philologie der Spätantike selbst durchgeführt worden war, die Mythologeme der antiken Dichtung diskreditierte: In der von Diderot gerühmten malerischen Elegie von Poussins »Et in Arcadia ego« 2 ebenso wie in Herders eigenen lyrischen Arbeiten besaßen sie 1

2

Johann Gottfried Herder: »Fragment einer Abhandlung über die Ode« (vgl. Kap. 5, Anm. 2), S. 68. Vgl. oben S.86f.

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solange noch Dignität, als sie gewisse Empfindungswerte zum Ausdruck brachten, die den eigenen Lebenshorizont überlagerten und prägten. Vermutlich in den frühen Jahren in Königsberg, diesem »Böotischen dickluftigen Thebe«,3 hatte Herder eine >Übersetzung< Horazischer Oden unternommen, indem er die Gefühlswerte des Seesturms der Ode 1,14 in die sanfteren Affekte des Elegischen und Idyllischen der Ode 1,7 hinübergleiten ließ. Diese lebensvolle Figuration gewinnt ihre Originalität aus der eigenschöpferischen Umschmelzung eines überlieferten Sinngehaltes, denn die Erfahrungen, aus denen die mit mythologischen Anspielungen reich durchsetzte Affektfolge entspringt, sind Lektüreerfahrungen Horazischer Poesie. Herders produktive Adaption An ein Schiff, die er erläuternd einen »Versuch Einer Ode aus 2en Horazischen« überschrieb, ist in zwei Fassungen im sogenannten »Blauen Studienbuch« überliefert. Handelt es sich bei der ersten um eine stark interpolierte Skizze, so bildet die Umarbeitung, die Herder unmittelbar nach der ersten Niederschrift vorgenommen haben muß, eine klarere Satzfolge, ohne daß er auch hier zu einer endgültigen Form gelangt wäre. Es blieb, wie so vieles in Herders Schaffen, bei diesen Skizzen, deren Fragmentcharakter deutlich hervortritt. Hören wir die bild- und affektreiche Versreihe in ihrer mehrschichtigen Motivgenese: Zurück ins Flutigte Meer? Rennst du ergrimmt Dem drohenden West in den Hauch entgegen? Hörest nicht schon tobenden Grund herauf schon murmelnde Donner, — Nereus Stimme beschwert das Schiff Des Nereus Wagen und Fluch? - Sieh! - Siehst du ihn

In der Himmelstürmersim Werdern ist, ohne je zu einer endgültigen Form zu finden, so erhalten wir einen präzisen Einblick in die Produktionsbedingungen und die anthropologischen Voraussetzungen der Dichtung des >Sturm und Drange In der Werkstatt des Dichters wohnen wir der Materialisation einer Gedankenfigur bei, deren Originalität ganz auf der imitativen Überformung einer alten Motivreihe beruht. In der konkreten Figuration des Gedichtes spiegeln sich so Empfindungswerte einer Sinnlichkeit wieder, die unmittelbar und ausgesprochenermaßen den Lektüreerfahrungen Horazischer Oden sich verdanken. Hierzu bedurfte es freilich nicht erst eines wirklichen >Erlebnissesunmittelbaren< Affektausdrucks in hohem Grade durch die Nachahmung überlieferter Erfahrungen determiniert. Und so finden wir Herder nach Sturm und Schiffbruch: »Und das Gefühl der Nacht ist noch in mir, da ich auf scheiterndem Schiffe, das kein Sturm und keine Flut mehr bewegte, mit Meer bespült, und mit Mitternachtwind umschauert, Fingal las und Morgen hoffte.« 7 Im »impromptu«8 der Empfindung, in der die sinnliche Gegenwart von den reflexiven Schichten vergangener Erfahrungen überlagert und gesteigert wird, ereignet sich jene traumhaft vorweggenommene ideale Projektion, die Herder in »des Ufers Hoffnung« der Ode Der Genius der Zukunft ebenso wie in der »neuen Welt« der einem Pasticcio gleichenden Horaz-Imitation An ein Schiff zu sinnlicher Anschauung gebracht hat. Indem Herder die Empfindungswerte nach erlittenem Schiffbruch ganz bewußt mit der Lektüre von Ossian-Macphersons Fingal-Epos überblendet, entsteht jene merkwürdige konkrete Figuration, die in der Textur der Dichtung »gewiße Resultate, Axiome des Lebens« zur Erscheinung bringt. Die monologische Struktur der Ode reflektiert so eine dialogische Haltung zu ihrem Vorwurf: »Ode! sie wird wieder, was sie war! Gefühl ganzer Situation des Lebens! Gespräch Menschlichen Herzens - mit Gott! mit sich! mit der ganzen Natur.«9 Der Weg, der zu dieser Oden-Konzeption führte, berührte zu einem wesentlichen Teil die Rezeptionsgeschichte der Horazischen Dichtungen selbst. Lessing hatte sich vor längerer Zeit in den Rettungen des Horaz (1754) mit

7 8 9

Johann Gottfried Herder: »Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker«, in: ders.: Werke (vgl. Kap. 7, Anm. 4), Bd. 1, S. 4 7 7 - 5 2 5 , hier: S. 486. Ebd., S. 487. Ebd., S. 504. Ebd., S. 523.

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dem Ideengehalt der Ode 1,34 beschäftigt, deren Inhalt er in Prosa so wiedergab: In unsinnige Weisheit vertieft, irrt ich umher, ein karger, saumseliger Verehrer der Götter. Doch nun, nun spann ich, den verlaßnen Lauf zu erneuern, gezwungen die Segel zurück. Denn sonst nur gewohnt die Wolken mit blendenden Blitzen zu trennen, trieb der Vater der Tage, durch den heitern Himmel, die donnernden Pferde und den beflügelten Wagen. Auf ihm erschüttert er der Erde sinnlosen Klumpen, und die schweifenden Ströme; auf ihm den Styx und die niegesehenen Wohnungen im schrecklichen Tänarus, und die Wurzeln des Atlas. Gott ist es, der das Tiefste ins Höchste zu verwandeln vermag, der den Stolzen erniedrigt, und das, was im Dunkeln ist, hervor zieht. Hier riß mit scharfem Geräusche das räuberische Glück den Wipfel hinweg, und dort gefällt es ihm, ihn anzusetzen. 10

Welche Folgerungen können wir aus Lessings Stilisierung des Dichters dieser Ode für den Bedeutungsgehalt von Goethes Gedicht Seefahrt ziehen, von dem wir wissen, wie sehr sie sich gewisser horazischer Motivkonstellationen verdankt? Lessing nahm zunächst die völlige Destruktion einer Lesart vor, gemäß welcher Horazens Ode 1,34 den autobiographisch kaum verschlüsselten Lebensweg des Dichters selbst enthalte. Da man in dieser Dichtung einen Wandel in der »Philosophie des Horaz« bemerken zu können schien, der ihn von dem lasziven Epikureismus seiner Jugend zu der stoischen Auffassung eines providentiellen Laufs der >Natur< geführt habe, nahm Lessing den sachlichen Vorwurf der Dichtung zum Anlaß einer Prüfung ihrer Sinnentfaltung. Diese Untersuchung hatte ein Vorspiel in der Auseinandersetzung mit Samuel Gotthold Langes Horaz-Übersetzung von 1747, gegen die Lessing in scharfer Form polemisiert hatte. André Dacier hatte in den Jahren 1681 bis 1689 eine zehnbändige Edition des Horaz vorgelegt" und, zusammen mit seinem Schwiegervater, dem uns bereits bekannten großen Philologen Tanneguy Lefèbvre, gegen den bisher angenommenen Wandel der philosophischen Anschauungen des Dichters behauptet, daß es sich, so Lessings Referat, nur um eine »Spötterei über die Stoische Sekte« handele, ohne daß Horaz jemals von seinem ursprünglichen Epikureismus abgewichen sei.

10

Gotthold Ephraim Lessing: »Rettungen des Horaz«, in: ders.: Werke, hg. v. Herbert G. Göpfert, Bd. 3, München 1972, S. 589-629, hier: S. 620. Vgl. Remarques critiques sur les œuvres d'Horace, avec une nouvelle traduction [par André Dacier], 10 Bde., Paris 1681-1689. Seit der dritten Auflage (Paris 1709) trug diese lateinisch-französische Ausgabe den Titel Œuvres d'Horace, en latin et en françois.

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In sehr pointierter Weise zeigte Lessing die Grundlosigkeit der Diskussion auf, indem er die Argumente eines Eklektizismus

vortrug, für den Horaz j a

ausdrücklich einstand und der zumal seit Christian Thomasius die gelehrte Debatte in Deutschland maßgeblich bestimmt hatte. 12 Wenn also Horaz aus allen philosophischen Schulen »das Beste nahm wo er es fand; überall aber diejenigen Spitzfindigkeiten, welche keinen Einfluß auf die Sitten haben, unberühret ließ«, 13 so seien alle Folgerungen, die man im Blick auf eine bestimmte Lehrtradition der antiken Philosophie ziehe, offenbar völlig unbegründet. Lessing kam daher zu dem vorläufigen Schluß: »Je größer überhaupt der Dichter ist, j e weiter wird das, was er von sich selbst mit einfließen läßt, von der strengen Wahrheit entfernt sein.« Es sei schlechterdings unmöglich, die Ansichten eines Dichters über Religion und Philosophie aus seinen Dichtungen zu rekonstruieren, weil die Sprache, deren er sich bedient, ganz seinem Vorwurf angemessen sein muß. Die Worte, die er für den Ausdruck der Tugend wähle, entsprechen ebenso sehr einem stoischen Ideengehalt, wie das Rührende in der Darstellung der Wollust dem Gedankenkreis des Epikureismus entnommen sei. Aus dieser Überlegung folgerte Lessing für die Person des Dichters: Der Odendichter besonders pflegt zwar fast immer in der ersten Person zu reden, aber nur selten ist das ich sein eigen ich. Er muß sich dann und wann in fremde Umstände setzen, oder setzt sich mit Willen hinein, um seinen Witz auch außer der Sphäre seiner Empfindungen zu üben. Man soll den Rousseau einsmals gefragt haben, wie es möglich sei, daß er eben sowohl die unzüchtigsten Sinnschriften, als die göttlichsten Psalme machen könne? Rousseau soll geantwortet haben: er verfertigte jene eben sowohl ohne Ruchlosigkeit, als diese ohne Andacht. Seine Antwort ist vielleicht zu aufrichtig gewesen, obgleich dem Genie eines Dichters vollkommen gemäß.14 Die Diskussion über das Wesen der Ode, an der sich so bedeutende Gelehrte wie Lessing, Cramer und Klopstock in den 1750er Jahren beteiligt hatten, machte Standpunkte deutlich, die nahezu unvereinbar waren. Der von André Dacier vertretenen Auffassung, den Oden des Horaz liege gleichsam ein gelehrtes System des Wissens zugrunde, das dieselben Lehrinhalte einer philosophischen Schule in gebundener Form zur Darstellung bringe, stellte 12

13 14

Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: »In nullius verba iurare magistri. Über die Reichweite des Eklektizismus«, in: ders.: Theodizee und Tatsachen. Das philosophische Profil der Aufklärung, Frankfurt/M. 1988, S. 203-222; grundlegend mit weiterer Literatur: Michael Albrecht: Eklektik. Eine Begriffsgeschichte mit Hinweisen auf die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte, (Quaestiones. Bd. 5), Stuttgart-Bad Cannstatt 1994. Gotthold Ephraim Lessing: »Rettungen des Horaz« (wie Anm. 10), S. 619. Ebd., S. 618f.

133

Lessing die Konzeption einer Dichtung entgegen, deren Empfindungswerte den internen Gesetzen einer Angemessenheit von res und verba gehorchten, wie sie das decorum der rhetorischen Affektenlehre vorschrieb. Damit trennte er die Dichtung von ihrem Urheber, denn die Taten, die er besang, verdankten sich dem »Witz« des Dichters, Empfindungen und Handlungen in ein angemessenes Ausdrucksverhältnis zu setzen. Für Klopstock und Cramer hingegen war die Annahme höchst anstößig, ein Dichter könne »die göttlichsten Psalme« »ohne Andacht« hervorbringen, wie Lessing mit einiger Süffisanz die Worte Rousseaus wiedergab. Die Zuspitzung, mit der Lessing darlegte, daß der Dichter dann am größten sei, wenn »das, was er von sich selbst mit einfließen läßt, von der strengen Wahrheit« weit entfernt sei, war von Cramers Pathos der Wahrhaftigkeit des Gefühlsausdrucks denkbar weit entfernt. Umso erstaunlicher ist die Simplizität, mit der Lessing die Veranlassung der Horazischen Ode charakterisierte, nachdem er zuvor ausführlich über die natürlichen Ursachen des Donners am heiteren Himmel anhand von Senecas Quaestiones naturales raisonniert hatte: »Denn mit einem Worte,« so schrieb er nun mit einer für seinen Duktus so charakteristischen Wendung, ich glaube, daß Horaz in dieser Ode weder an die Stoiker noch an die Epikurer gedacht hat, und daß sie nichts ist, als der Ausbruch der Regungen, die er bei einem außerordentlichen am hellen Himmel plötzlich entstandenen Donnerwetter gefühlt hat. Man sage nicht, daß die Furcht fllr den Donner etwas so kleines sei, daß man sie dem Dichter schwerlich Schuld geben könne. Der natürlichste Zufall, wenn er unerwartet kömmt, ist vermögend auch das männlichste Gemüt auf wenig Augenblicke in eine Art von Bestürzung zu setzen. Und was brauchte es mehr, als daß Horaz in einer solchen kurzen Bestürzung einige erhabene und rührende Gedanken gehabt hat, um das Andenken derselben in ein Paar Strophen aufzubehalten? Affekt und Poesie sind zu nahe verwandt, als daß dieses unbegreiflich sein sollte. 15

War es also doch die »Bestürzung« des Dichters selbst, mit der er gewisse Himmelserscheinungen gewärtigte und der er in seiner Dichtung >erhaben und rührend< unmittelbaren Ausdruck verlieh? In einer »Vermutung«, die er seinen Darlegungen folgen ließ und die sich auf die Anekdote aus Suetons Augustus-Biographie stützte, daß der Herrscher sich vor dem Donner fürchtete, 16 gab Lessing zu bedenken, daß Horaz diese Furcht »dem August zu schmeicheln angenommen« habe: »Es scheint mir, als ob dieser Umstand auf die Ode ein gewisses Licht werfe, bei welchem man eine Art von Schönheiten entdeckt, die sich besser fühlen als umständlich zergliedern lassen.« 17

15 16 17

Ebd., S. 627f. Vgl. Sueton: De vita Caesarum libri, »Augustus« 29,3 ed. Maximilian Ihm. Gotthold Ephraim Lessing: »Rettungen des Horaz« (wie Anm. 10), S. 628.

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Damit hatte Lessing gezeigt, daß sich die »Schönheiten« der Horazischen Ode im wesentlichen aus der scharfsinnigen Substitution des Affektausdrucks ergeben. Der Weg, der von hier aus über Diderots Reflexionen über die Ode in der Abhandlung De la poésie dramatique bis hin zu Herders Charakterisierung der »Ode der Handlung« als »kleinen Dramas« führte, machte allerdings deutlich, daß diese Substitution gar nicht primär eine Leistung des — mit Lessing zu reden - »Witzes« war, sondern daß sie vielmehr einer jeden sinnlichen Erfahrung in potentiell unendlicher Dichte zugrunde liegt. Die Horaz-Imitation in Herders genialem Pasticcio An ein Schiff zeigte, daß die mannigfach sich überlagernden Erfahrungswerte zugleich Erfahrungen eines zeitlichen Verlaufs abbilden. Die verschwundene Welt Fingais ist es, die im Augenblick des Schiffbruchs zur lebensvollen Gegenwart erwacht und in der der Held gleichsam topische Verlaufsformen des Lebens in die situative Bestimmtheit der eigenen Lebenslage projiziert. Japet auf seinem »Brett«, der dem Seesturm des Nereus entflieht, der Held der Fingallektüre auf dem gestrandeten Schiff, da er »Morgen hoffte«, der Steuermann inmitten der »gottgesandten Wechselwinde« bei Goethe: sie alle sind Figuren des Übergangs, die mit ihrem hohen >Klassizismus der Erfahrung« ein Bleibendes in der stets verwandelten Ordnung der >Natur< bewahren. Dieses Verharrende, das sich in Goethes Seefahrt in der Stilisierung eines »großen Selbst« (Herder) konstituiert, steht dem transitorischen Wesen der Elemente unvermittelt gegenüber. Diderot äußerte in der Abhandlung De l'interprétation de la nature unter den Prämissen seines Spinozismus die Ansicht, daß die Begriffe des Vergangenen, Gegenwärtigen und Zukünftigen, der Aufeinanderfolge (succession) der Phänomene also, notwendig in die Bestimmung der >Natur< eingehen müssen. 18 Wenn aber diese >Natur< »immer noch tätig ist«, wenn also die Zusammensetzung der organischen Moleküle, die das »Ganze« der Natur ausmachen, in einer fortgesetzten und nie endenden Umwandlung begriffen ist, so »wird unsere Wissenschaft von der Natur ebenso transitorisch wie die Worte. Was wir für die Geschichte der Natur halten, ist bloß die sehr unvollständige Geschichte eines Augenblicks.« 19 Derselbe Agnostizismus, der sich im Falle Diderots zu einer beunruhigenden Skepsis steigerte, begegnete uns in Goethes Sulzer-Rezension, in der er die »Kunst« als das »Widerspiel« der >Natur< bezeichnete, die »aus den Bemühungen des Individuums, sich gegen die zerstörende Kraft des Ganzen zu erhalten«, entspringe. In der komplexen Struktur der Seefahrt, in der sich 18 19

Vgl. Denis Diderot: »De l'interprétation de la nature« (vgl. Kap. 6, Anm. 25), S. 240. Ebd., S. 241; vgl. Ralph Häftier: Johann Gottfried Herders Kulturentstehungslehre (vgl. Kap. 5, Anm. 1), S. 54ff. 135

Psalmparaphrase und Horaz-Imitation zu einem gänzlich neuen Handlungsgefiige verbinden, wird die bewegte Meereslandschaft als ein Text lesbar, innerhalb dessen die transitorische Ordnung der >Natur< durch den >Klassizismus< unserer Erfahrungen gebändigt ist. Eklektik wird hier zur Lebensform eines Individuums, das sich in den >Sturmfluten< gesellig-politischer Ereignisse und natürlich-leidenschaftlicher Bedürfnisse als ein selbstberrschtes Ich behauptet. Daß sich Goethe bei der Niederschrift der Ode Seefahrt auf Horazens berühmten Brief an Maecenas besann, erhält eine erstaunliche Evidenz schon durch den markanten Eingang des Gedichts (»Tag lang Nacht lang«), der Ungeduld, Hoffnung und Sehnsucht des Helden bezeichnet und der eine horazische Redeform, »nox longa ... diesque longa«, 20 ganz wörtlich zitiert. Erst hier, auf der Ebene eines imitativ vermittelten Sinngehalts, spiegelt sich ein Reflex der eigenen Lebenswelt, denn die als Zäsur empfundene Übersiedlung nach Weimar bezeichnet zugleich Abkehr von dem vertrauten Kreis der Freunde und eine geistig-sittliche Neuorientierung, eine Zäsur, die Horaz in seinem Brief lakonisch charakterisierte: »non eadem est aetas, non mens«. Die Sturm- und Meeresmetaphorik auch hier vielfach variierend, gerät der dem individuellen Lebensalter entsprechende Wechsel der sittlichen Verhältnisse zu einer gesteigerten Hinwendung des Ich auf sich selbst; der führerlose Held wird sich selbst zum Führer: Ac ne forte roges, quo me duce, quo lare tuter: nullius addictus iurare in verba magistri, quo me cumque rapit tempestas, deferor hospes. Nunc agilis fio et mersor civilibus undis virtutis verae custos rigidusque satelles, nunc in Aristippi furtim praecepta relabor et mihi res, non me rebus subiungere conor. (Und damit du nicht fragst, welches Führers, welches Hauses ich mich versichere: keinem Meister verpflichtet, auf seine Worte zu schwören, lasse ich mich als flüchtiger Gast treiben, wohin der Sturm mich auch trägt. Jetzt treibe ich Geschäfte und stürze mich in die Wogen der Politik, bin ein Wächter der wahren Tüchtigkeit und unerschütterlicher Diener. Jetzt gleite ich unversehens in die Lehren Aristipps zurück und bin bestrebt, mir die Dinge, nicht mich den Dingen zu unterwerfen.) 21

Als Willamov seine Dithyramben für die 1766 erschienene zweite Auflage umarbeitete, nahm er zum Teil wesentliche Veränderungen am Text vor, die Herder in den Literatur-Fragmenten weitgehend begrüßte. 22 Damals strich er 20 21 22

Horatius: epist. 1,1,20f. Ebd., 1,1,13-19. Vgl. Johann Gottfried Herder: »Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente« (vgl. Kap. 7, Anm. 59), S. 289f.

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zugleich den gesamten Anmerkungsapparat, in dem er drei Jahre zuvor die pastichehafte Sprachgestalt seiner Dichtungen durch Zitate aus Horaz und Pindar, aus Vergil, der Naturgeschichte des Plinius und anderen antiken Autoren belegt hatte und ersetzte ihn durch kurze thematische Einführungen zu Beginn eines jeden Gedichtes. Man kann die Signifikanz dieser Veränderung im Blick auf die Geschichte der lyrischen Dichtkunst kaum überschätzen. Mit dem Verschwinden der Belegstellen verschwand nicht der >K!assizismus der Erfahrung«, der den Sinngehalt dieser konkreten Figurationen regulierte, aber er trat nun merklich hinter die Illusion

eines unmittelbaren Ausdrucks des

Affekts zurück, der sich nicht mehr ohne weiteres als Lektüreerfahrung zu erkennen geben wollte. Goethe schrieb in Palermo unter dem Datum des 3. April 1787: »Hat man sich nicht ringsum vom Meere umgeben gesehen, so hat man keinen Begriff von Welt und von seinem Verhältnis zur Welt.« 2 3 Aber mehr als zehn Jahre zuvor hatte er mit der balladesken Ode Seefahrt

eine

vollendete Inszenierung dieses Weltverhältnisses des Menschen gegeben. Die Originalität der lyrischen Erfahrungswerte ging damals ganz aus der produktiven Synthese eines überlieferten Sinngehaltes hervor, der solange noch Bestand hatte, wie die Identität gewisser anthropologischer Grundphänomene gesichert war. Bedeutungsverschiebungen von weitreichender Art ereigneten sich dann in der Elegie Alexis

und Dora vom Mai 1796, in der Goethe in auffallender,

wenn auch bis jetzt unbemerkt gebliebener Weise einen uns vertrauten überlieferten Sinngehalt durch die Figuration des fortgesetzten Selbstzitats

kon-

kretisierte. In einer komplizierten Umkehrung des Eingangs der horazischen Ode 1,14 (»O navis, referent in mare te novi / fluctus«) und der Situation des ausfahrenden Schiffes in dem Gedicht von 1776 hebt der Dichter nun an: Ach! unaufhaltsam strebet das Schiff mit jedem Momente Durch die schäumende Flut weiter und weiter hinaus! Lange Furchen hinter sich ziehend, worin die Delphine Springend folgen, als flöh' ihnen die Beute davon. Alles deutet die glücklichste Fahrt, der ruhige Schiffer Ruckt am Segel gelind, das sich statt seiner bemüht; Alle Gedanken sind vorwärts gerichtet, wie Flaggen und Wimpel. Nur Ein Trauriger steht, rückwärts gewendet, am Mast, Sieht die Berge schon blau, die scheidenden, sieht in das Meer sie Niedersinken, es sinkt jegliche Freude vor ihm. (v. 1-10) 23

Johann Wolfgang Goethe: Italienische Reise, in: ders.: Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 11, S. 230f. - Auch dieser >Anschauung< liegt selbstredend eine Lektüreerfahrung zugrunde: vgl. Vergils Charakterisierung der Stellung des Helden Aeneas im Meer, Aen. 111,193 (»caelum undique et undique pontus«); V,9 (»maria undique et undique caelum«).

137

»Ein Trauriger«, der liebende Held Alexis, steht in auffallendem Kontrast zu dem »ruhigen Schiffer«, der das Segel »gelind« bedient, denn »alles deutet die glücklichste Fahrt«. Während die Gedanken des Schiffers »vorwärts gerichtet« sind, wendet sich des jungen Kaufmanns Alexis Blick »rückwärts«, denn in der Trennung von der Geliebten Dora sinkt, wie die im Meer verschwindenden Berge, »jegliche Freude vor ihm«. Gerade in dem Augenblick, da das Land nicht mehr zu sehen ist, vergegenwärtigt er sich die gleichgerichtete Seelenlage Doras: Auch dir ist es verschwunden, das Schiff, das deinen Alexis, Dir, o Dora, den Freund, dir, ach, den Bräutigam raubt. Auch du blickest vergebens nach mir. Noch schlagen die Herzen Für einander, doch ach! nun aneinander nicht mehr. (v. 11-14) Bemerken wir beiläufig, daß in der vierfachen geminatio

verborum

»Auch

dir«, »Dir«, »dir, ach«, »Auch du« bereits das Eifersuchtsmotiv des Gedichtschlusses subtil vorweggenommen ist; eine verhalten ironische Variation des Liebesverhältnisses Tassos und der Prinzessin Leonore Sanvitale klingt hier dennoch deutlich vernehmbar an, indem die »Ankunft dieses Manns«, Antonio, »mein ganz Geschick zerstört, in einer Stunde«, 24 und Tasso bricht in dieselbe assonantische Klage bei bereits vollendetem Umschlag der liebenden Empfindung in Eifersucht aus: Ja alles flieht mich nun. Auch du! Auch du! Geliebte Fürstin, du entziehst dich mir. [...] Ja klage nur das bittre Schicksal an, Und wiederhole nur, auch sie! auch sie!25 Bis es jedoch zu dem Umschlag der Empfindungen in Alexis

und

Dora

kommt, entwickelt sich ein anspielungsreiches Beziehungsgeflecht, in dem ein fortgesetzter semantischer Doppelsinn eine »Bedeutung verwahrt« (v. 28), die sich wie ein von dem »Dichter« der »Versammlung« vorgelegtes »Rätsel« (v. 25) verbirgt. 26 Indem Alexis zu der Einsicht gelangt, »nur Ein Augenblick war's, in dem ich lebte« (v. 15), vergewissert er sich über ein zuvor unerhör24 25 26

Johann Wolfgang Goethe: Torquato Tasso, v. 2780f. Ebd., v. 2792f. und 2828f. Vgl. Albrecht Schöne: »Alexis und Dora«, in: ders.: Götterzeichen Liebeszauber Satanskult. Neue Einblicke in alte Goethetexte, München 1982, S. 53-106. Die Deutung Schönes (der die ältere Forschungsliteratur ausführlich in den Blick nimmt, so daß ich auf weitere Hinweise verzichten kann) fand eine bedenkenswerte Entgegnung durch Dieter Borchmeyer: »Des Rätsels Lösung in Goethes Alexis und Dora«, in: Bausteine zu einem neuen Goethe, hg. v. Paolo Chiarini, Frankfurt / M. 1987, S. 66-92.

138

tes »Leben«, das ihm in Dora, »unvermutet in dir, wie von den Göttern,« herabstieg (v. 17f.): Nur umsonst verklärst du mit deinem Lichte den Äther, Phöbus, mir ist er verhaßt, dieser alleuchtende Tag. In mich selber kehr' ich zurück, da will ich im stillen Wiederholen die Zeit, als sie mir täglich erschien, (v. 19-22)

In diesem zauberhaften Helldunkel, in dieser Abkehr von dem Licht des Tages und der Sehnsucht nach erinnernder Vergegenwärtigung des Vergangenen kommt dem Helden plötzlich, wie in einem »Rätsel«, eine Frage zum Bewußtsein, deren Auflösung der innere Monolog der Elegie dann ausschließlich gewidmet sein wird: War es möglich, die Schönheit zu sehen und nicht zu empfinden? Wirkte der himmlische Reiz nicht auf dein stumpfes Gemüt? (v. 23f.)

Dies »Rätsel«, »die Schönheit zu sehen und nicht zu empfinden«, gleicht einer »Binde«, mit der »Amor« jenes Auflösung verhüllte und die - »zu spät« kurz vor Ausfahrt des Schiffes von dem inneren Sinn des Helden genommen wird: Ach, warum so spät, o Amor, nahmst du die Binde, Die du ums Aug' mir geknüpft, warum zu spät mir hinweg? (v. 31 f.)

Und nun leitet der Held in einer beinahe wörtlichen Übernahme der Eingangssituation der Ode Seefahrt in seinem Selbstgespräch die Auflösung des Rätsels ein: Lange harrte das Schiff befrachtet auf günstige Lüfte; Endlich strebte der Wind glücklich vom Ufer ins Meer. Leere Zeiten der Jugend! und leere Träume der Zukunft! Ihr schwindet, es bleibt einzig die Stunde mir nur. Ja, sie bleibt, es bleibt mir das Glück! Ich halte dich, Dora! Und die Hoffnung zeigt, Dora, dein Bild mir allein, (v. 33-38)

Verfolgen wir kurz die hervortretenden Ereignisse in der reflexhaften Erinnerung des jugendlichen Kaufmanns, die erinnerte Wiederholung einer »Zeit«, in der sich das Dasein des Helden zwischen leerer Vergangenheit und leerer Zukunft zu der »Stunde«, zu dem Augenblick eines erfüllten »Lebens« verdichtete. Was Alexis »sah«, als er die »schöne Nachbarin« Dora, »geschmückt und gesittet«, »öfter« erblickte, wie sie mit ihrer Mutter »zu Markte« und »vom Brunnen« ging, war eine Schönheit, die in dem Helden, »gewohnt dich zu sehen«, zu den immer gleichen, damit aber bedeutungslosen Erfahrungswerten des Auges gefrohr: »Da erschien erst dein Hals, erschien dein Nacken

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vor allen, / Und vor allen erschien, deiner Bewegungen Maß« (v. 43f.). Die Erscheinung Doras glich in dieser Gewohnheit des Blickes einer leidenschaftslosen und distanzierten Betrachtung des gestirnten Himmels, Wie man die Sterne sieht, wie man den Mond sich beschaut, Sich an ihnen erfreut, und in dem ruhigen Busen Nicht der entfernteste Wunsch, sie zu besitzen, sich regt. Jahre, so gingt ihr dahin! Nur zwanzig Schritte getrennet waren die Häuser, und nie hab' ich die Schwelle berührt. Und nun trennt uns die gräßliche Woge! Du lügst nur den Himmel, Welle! dein herrliches Blau ist mir die Farbe der Nacht, (v. 48-54)

Wieder treten wir in das Zwielicht eines Helldunkels, in dem sich ein »Rätsel« verbirgt, dessen gnoseologische Ambivalenz durch die Beobachtung eines trughaften Scheins hier abermals eine sinnstiftende Auslegung im Blick auf das Eifersuchtsmotiv des Schlusses ankündigt. In dem Nachtblau der »Welle« leuchtet auch das Todesverlangen des Helden bereits erkennbar hervor. Die Szene der Einschiffung findet in der Elegie eine genaue Wiederholung der Situation von 1776. Dem »Getümmel« im Hafen und dem Ruf des »Matrosen« entspricht hier der Vers »Alles rührte sich schon; da kam ein Knabe gelaufen« (v. 54); dieser drängt Alexis zum eiligen Abschied von den Eltern, die, parallel zur verheißenen »Güterfulle« der Seefahrt, ihn mit dem Wunsch bescheiden: »>Glücklich kehre zurückglücklich und reich !«< (v. 62) Hier nun erfolgt die entscheidende Peripetie der Liebesverwicklung. Auf dem Weg zum Hafen findet der Kaufmann Dora an der Gartentür stehen. Sie gibt ihm eine förmliche »Bestellung« (v. 72) auf und bittet ihn, ihr aus »fremden Gegenden« (v. 67) »ein leichtes Kettchen« (v. 69) mitzubringen. Unter fortwährendem »Rufen der Schiffer« (v. 75) vom Hafen her »blickt' ich indessen / Nach dem Halse, des Schmucks unserer Königin wert« (v. 73f.). Dora verlangt »die reifsten Orangen, die weißen Feigen« des Gartens ihm als vorläufiges »Geschenk« mitzugeben, »und so trat ich herein« (v. 79) In der »Laube« ordnet sie die Früchte in ein Körbchen, Und mit Myrte bedeckt ward und geziert das Geschenk. Aber ich hob es nicht auf; ich ging nicht. Wir sahen einander In die Augen, und mir ward vor dem Auge so trüb. Deinen Busen fühlt' ich an meinem! Den herrlichen Nacken, Ihn umschlang nun mein Arm, tausendmal küßt' ich den Hals. Mir war dein Haupt auf die Schulter gesunken; nun knüpften auch deine Lieblichen Arme das Band um den Beglückten herum. Amors Hände fühlt' ich, er drückt' uns gewaltig zusammen, Und aus heiterer Luft donnert' es dreimal. Da floß

140

Häufig die Träne vom Aug' mir herab, du weintest, ich weinte, Und für Jammer und Glück schien uns die Welt zu vergehn. (v. 88-98) »Ich rief: >Dora! und bis du nicht mein?< / >EwigU sagtest du leise« (v. lOOf.).27 Auf das Liebesversprechen, den gemeinsamen »Bund« (v. 112), folgt die rasche Trennung. In einer an Scharfsinn nicht mehr zu überbietenden Kontrafaktur des Psalm verses 107,27, wo es von den bänglichen Seefahrern hieß, sie taumelten und wankten »wie ein Trunckener« (Luther), treffen wir den liebeskranken Helden jetzt unter den im übrigen nüchternen Matrosen an: - Zu Schiffe Wie ich gekommen? Ich weiß, daß ich ein Trunkener schien. Und so hielten mich auch die Gesellen, sie schonten den Kranken; Und schon deckte der Hauch trüber Entfernung die Stadt, (v. 105-108) Damit ist das Handlungsgefuge vollendet. In den folgenden Versen entwirft sich Alexis ein Bild der »Kette«, des edelsteingeschmückten »himmlischen Pfandes« (v. 116), mit dem er als »Bräutigam« die »Braut« »zu schmücken« (v. 124) begehrt: Seh' ich Perlen, so denk ich an dich; bei jeglichem Ringe Kommt mir der länglichen Hand schönes Gebild' in den Sinn. (v. 125f.) Doch in einem jähen Glückswechsel verwandelt sich die »Hoffnung« in »Sorge«, die »sich kalt, gräßlich gelassen, mir naht« (v. 138). In einem lebhaften Wahnbild, das ihn der »Verzweiflung« nahebringt, erblickt Alexis die offene Gartentür Doras, »und ein anderer kommt!« (v. 143) Das Liebesbegehren schlägt in die Forderung um: »O macht mich, ihr Götter, / Blind, verwischet das Bild jeder Erinnrung in mir« (v. 145f.). Todesverlangen ergreift den eifersüchtigen Helden in dieser letzten Peripetie: Lache nicht diesmal, o Zeus, der frech gebrochenen Schwüre! Donnere schrecklicher! triff! - Halte die Blitze zurück! Sende die schwankenden Wolken mir nach! Im nächtlichen Dunkel Treffe dein leuchtender Blitz diesen unglücklichen Mast! Streue die Planken umher und gib der tobenden Welle Diese Waren, und mich gib den Delphinen zum Raub! - (v. 149-154) In dem spielerischen Reflex der räuberischen Delphine erinnerte Goethe ein seit Homers Dionysos-Hymnos wohlbekanntes Mythologem, welches in der 27

Goethe hat das Wort »Ewig« selbst typographisch ausgezeichnet. Dieter Borchmeyers Einschätzung, »daß sich der Vergleich mit dem >Wort, das die Bedeutung verwahrte offenkundig auf jenes )Ewig< bezieht«, erscheint daher sehr plausibel. (Vgl. Borchmeyer: »Des Rätsels Lösung in Goethes Alexis und Dora« [wie Anm. 26], S. 70). 141

kontrastiven Empfindung des Helden, der zwischen Sehnsucht und Eifersucht schwankt, zu einer bemerkenswerten Bedeutungsdichte gesteigert ist. 28 Wenden wir uns jedoch noch einmal der Verwunderung zu, in die Alexis durch die Frage gesetzt wurde, wie es möglich war, »die Schönheit zu sehen und nicht zu empfinden« (v. 23). Dieses Geheimnis, so der unmittelbar folgende Einschub, gleiche dem »Rätsel«, das der »Dichter« durch die »seltne Verknüpf u n g der zierlichen Bilder« stelle und dessen Auflösung in dem »Wort, das die Bedeutung verwahrt« (v. 28), liegt. 29 Das Liebesverlangen des Helden erwacht zuerst

in dem Augenblick, in dem er »nach Weise des Kaufmanns«

(v. 71) sich »nach Form und Gewicht« des Kettchens erkundigt: » d a blickt' ich indessen / Nach dem Halse« (v. 73f.). Sodann beobachten wir Alexis, wie er unter der Myrtenlaube ein »Geschenk« von Dora, das »Körbchen« mit den Orangen und Feigen, erhält, und der Übergang des Sehens zum leidenschaftlichen Empfinden ist hier auch sprachlich-pantomimisch, durch die augenblickliche Regungslosigkeit des Helden, deutlich angezeigt: »Aber ich hob es nicht auf; ich ging nicht« (v. 89). Endlich

vereinigen sie sich miteinander,

A m o r »drückt' uns gewaltig zusammen« (v. 95). Darauf erfolgt Jupiters dreifacher Donner. Gleichwie der »Dichter« ein »Rätsel« stellt, so wird auch Alexis - mutatis mutandis - in der »Verknüpfung der zierlichen Bilder« (v. 27), nämlich des verlangten Kettchens (der »Zierde«; v. 70) und des Halses der Geliebten, eines Rätsels inne, das sich erst in der gnoseologisch begründeten

Substitution

des gegenseitigen Sehens (»wir sahen einander / In die Augen, und mir ward vor dem Auge so trüb«; v. 90) durch eine unmittelbare* Berührung, in der leidenschaftlichen Empfindung also, löst. Wenn wir somit »im Gedicht doppelt erfreulichen Sinn« (v. 30) erkennen, so ist es der doppelte Sinn eines »Bundes«, der die Geliebten im lebendigen Gefühlsausdruck ebenso wohl als im sprachlichen >Ausdruck< desselben, in Doras Ausruf »Ewig!«, aneinander knüpft. Hierin liegt das Rätsel, wie es möglich war, »die Schönheit zu sehen und nicht zu empfinden«, das Rätsel einer Vermittlung von Blick und Empfindung.

Dionysos, der von Seeräubern geraubt wird, verwandelt diese in Delphine. Durch eine produktive Überformung dieses Gedankens ist es also zu erklären, daß Alexis begehrt, »den Delphinen zum Raub« gegeben zu werden. Ursprünglich Seeräuber, gelten Delphine als Liebhaber schöner Knaben, die sich von ihnen übers Wasser tragen lassen. Vgl. u.a. Homer: hymn. VIII; Hyginus: fab. 134; Ovid: fast. 11,79— 118. 29

Zurecht betont Borchmeyer (gegen Schöne) den engen Konnex der Verse 23-30, der durch die Vergleichungspartikel »So« (v. 25) deutlich angezeigt ist. (Vgl. D. Borchmeyer: »Des Rätsels Lösung in Goethes Alexis und Dorm [wie Anm. 26], S. 69). 142

Die untergründige Bedeutungsstruktur des Gedichtes enthält in der gerade erst den Blicken des Helden entschwundenen Dora zudem eine scherzhaftsymbolische Repräsentation der mythologischen Pandora-Episode.30 Es ist der merkwürdige Tauschhandel,31 der sich zwischen Alexis und Dora vollzieht, die »Hoffnung«, die dem Helden das Bild der Geliebten, »dein Bild mir allein« zeigt (v. 38), die Früchte, die Dora zu Markte trägt (Pandoras Attribut ist das Füllhorn!) und - Höhepunkt des scherzhaften Identifikationsspieles das »Gefäß«, offenbar ein einfaches Wasserbehältnis, von dem der Held dennoch »oftmals« »gesorgt«, »es möchte der Krug dir entStürzen« (v. 45). Dora stellt sich in der eifersuchtsvollen Erinnerung als »ein Mädchen« in des Wortes zweideutiger Bedeutung heraus. In diesem lebensweltlichen Sinne vermochte auch Benjamin Hederich die mythologische Gestalt der Pandora zu erklären: »Vermutlich aber hat der erste Dichter nichts, als das Frauenvolk überhaupt, damit bemerken wollen, welches oft alle Annehmlichkeiten hat, und dennoch dem Mannsvolke alles Unglück zuzieht.«32 Und Goethe: Ja, ein Mädchen ist sie! und die sich geschwinde dem einen Gibt, sie kehret sich auch schnell zu dem andern herum, (v. 147f.)

Goethe nahm in der Ausfahrt des jugendlichen Kaufmanns Alexis zahlreiche Motive und sogar wörtliche Entsprechungen aus der Ode des Jahres 1776 wieder auf. Fernwirkungen solcher Art, über einen Zeitraum von zwanzig und mehr Jahren hinweg, sind für Goethes Werk geradezu konstitutiv, indem ein spätes Selbstzitat auf ein früher Durchdachtes zurückwirken mußte. Der >eigentliche< Sinngehalt des Gedichtes Seefahrt erhält durch Alexis und Dora eine merkliche Bedeutungsbereicherung, die >ursprünglich< freilich noch nicht intendiert sein konnte. In beiden Dichtungen ist der Ausgang des Geschehens, wenn auch mit unterschiedlichen Akzentsetzungen, offen. 33 Die Erfahrung 30

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32

33

Diese Beziehung ist bisher völlig unbeachtet geblieben. Nur Albrecht Schöne verweist treffend auf sprachliche Parallelen zu Goethes Pandora und gibt damit einen Hinweis auf das Identifikationsspiel der Helden und Heldinnen. Vgl. Albrecht Schöne: »Alexis und Dora« (wie Anm. 26), S. 86f.: »Eingebettet in andere Zusammenhänge, transformiert in eine andere Gattung, übersetzt in andere Verse und offenbar deshalb nicht wahrgenommen, verdeutlicht diese bemerkenswert genaue Wiederholung der )Alexis und £>ora 40

seyn!« Nach sechs Tagen kehrt er in einer Vollmondnacht zurück und beobachtet, wie Daphne und ein Jüngling »mit umschlungenen Armen« nach dem »Myrtenwäldgen« gehen, »das den Tempel der Venus umkränzt.«41 Endlich erfolgt die Auflösung der Verwicklung: Der unbekannte Jüngling stellt sich als Daphnes Bruder heraus, und »Alexis trat hinter der Säule hervor. Daphne von dem frohesten Entzücken überrascht, er voll Freude und voll Schaam, sanken beyde mit umschlungenen Armen vor der Göttin hin.«42 Bei einer wohlkalkulierten Übernahme zahlreicher Einzelmotive, des Versprechens »ewiger Liebe«, des tränenvollen Abschieds und der Begegnung im Myrtenwädchen, rückt Goethe das Motiv der Meerfahrt, das Gessner beiläufig und bloß vergleichsweise eingeführt hatte, in den Mittelpunkt seiner Dichtung. Die Geschlossenheit der Gessnerschen Idylle, die nach der Auflösung leidenschaftlicher, aber unbegründeter Eifersucht wieder erreicht ist, zerbricht in Alexis und Dora angesichts einer unmäßigen und auch am Ende ungelösten Steigerung des Affektverlaufs, der erst außerhalb des leidenschaftlichen Handlungsgefüges, durch die reflexive Anrede des Dichters, zur Ruhe kommt: Nun, ihr Musen, genug! Vergebens strebt ihr zu schildern, Wie sich Jammer und GlQck wechseln in liebender Brust. Heilen könnet ihr nicht die Wunden, die Amor geschlagen; Aber Linderung kommt einzig, ihr Guten, von euch. (v. 155-158)

Die plötzliche Trennung der gerade erst aneinander geknüpften Liebenden durch die rasche Ausfahrt des Handelsschiffes rückt die Gegenwart des lebendigen Augenblicks in die zunächst kaum merkliche Distanz einer leidenschaftlichen Erinnerung: »0 mäßiget, Götter, / Diesen gewaltigen Brand, der mir den Busen durchtobt!« (v. 135f.) Gemäß der horazischen Denkform einer rerum concordia discorsn schlagen jedoch die »Bilder der Hoffnung« sogleich in die eifersüchtige »Sorge« um, ein »Gespenst«, »das mir die Schöne von ferne / Zeiget« (v. 141f.). Der wahre oder vermeintliche Glücksumschlag führt hier in einem letzten Bild eine Lebensironie herauf, indem Alexis »den 40 41 42 43

Ebd. Ebd., S. 131. Ebd., S. 132. Vgl. Horatius: epist. 1,12,19.

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Delphinen zum Raub« zu werden begehrt, zur »Beute«, von der noch scherzhaft drohend der Anfang der »Idylle« sprach. Die Offenheit des Ausgangs der Seefahrt von 1776 gerät nun zur stark ironisierten Befreiung von einem durch Eros verursachten Glückswechsel, vor dem sich das stets schwankende Individuum mehr durch Flucht denn durch Vernichtung zu erretten strebt.

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10. Ausblick: Schiffbruch ohne Zuschauer (Heine, Baudelaire, Rimbaud)

In der mythologischen Textur der frühen Seestücke Heinrich Heines, in Baudelaires Dichtung Le voyage (1859) oder in Arthur Rimbauds Le bateau ivre (1871) wich dieser Erfahrungshorizont einem Exotismus der Wahrnehmung, der die Geschlossenheit einer konkreten Figuration zur ironisch gefärbten Diversität eines seelengeschichtlichen Experiments hin aufbrach, in dem sich das lyrische Ich beinahe verlor. So paradox es scheint: Gerade der Übergang, den Goethe 1776 von dem unternehmenden »Ich« des Kaufmanns zu dem »Er« des ruhenden Steuermanns vollzog, verbürgt noch eine strukturelle Einheit, wo die personale Einheit durch die Handlungsfuhrung des Sturmes schon vernichtet schien. Die Homer-Lektüre des Helden in Heines NordseeDichtung Poseidon (1825) setzt in der ironischen Reflexion lange tradierter Erfahrungswerte noch einmal ein Rollenspiel in Gang, innerhalb dessen das »liebe Leben«, das »arme Schifflein« des von dem Gott angesprochenen Dichters »mit allzu bedenklichem Schaukeln« gefährdet scheint, und im Sturm desselben Zyklus tritt ein - wiederum ironisch gebrochener - erotischer Bedeutungsraum in der mythologischen Verwandlung der »Schaumentstiegenen«, Aphrodite, untergründig zutage: Es wüthet der Sturm, Und er peitscht die Well'n, Und die Wellen, wuthschäumend und bäumend, Thürmen sich auf, und es wogen lebendig Die weißen Wasserberge, Und das SchifHein erklimmt sie, Hastig mühsam, Und plötzlich stürzt es hinab In schwarze, weitgähnende Fluthabgründe - 1

Heinrich Heine: »Sturm«, in: Buch der Lieder, »Die Nordsee«, Erster Zyklus, Nr. VIII, in: ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe, Düsseldorfer Ausgabe, hg. v. Manfred Windfuhr, Bd. 1, hg. v. Pierre Grappin, Hamburg 1975, S. 378-381, hier: S. 378, v. 1-9; S. 1025-1028 (= Apparat).

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Aber die Liebesgeschichte, die Heine dann »fern an schottischer Felsenküste« entspinnt, spiegelt nurmehr den fahlen Schein eines Seestücks, an dem sich die zwar leidenschaftliche, aber bedeutungsleere Seelenwelt des Helden bricht: Vergebens mein Bitten und Flehn! Mein Rufen verhallt im tosenden Sturm, Im Schlachtlärm der Winde. Es braust und pfeift und prasselt und heult, Wie ein Tollhaus von Tönen! 2

Die Bedeutungsdichte der konkreten Figurationen, wie wir sie in dem Klassizismus der Erfahrung< noch am Ende des 18. Jahrhunderts beobachten konnten, wich hier einem Bedeutungsgeflecht, dessen scheinbare Unmittelbarkeit nicht mehr durch die reflexive Spannung eines tradierten Ideengehaltes begrenzt und geformt wurde. »Ein Geheul in Getön auflösend«, so charakterisierte Jean Paul in der Vorschule der Ästhetik (1804) die Ideenflucht einer so beschaffenen Dichtung: »Die nordische Poesie und Romantik ist eine Äolsharfe, durch welche der Sturm der Wirklichkeit in Melodien streicht, ein Geheul in Getön auflösend, aber Wehmut zittert auf den Saiten, j a zuweilen ein hineingerissener Schmerz.« 3 Jean Pauls metaphorische Diagnostik spiegelt im Ergebnis eine Anthropologie, die in dem Verlust ihres naturrechtlichen Fundamentes, in der Einsicht in die Unvermittelbarkeit der menschlichen >Natur< und ihrer kulturellen Äußerungen, den Bedeutungsverlust einer uralten Semantik der Natur nur noch durch eine Tautologie der Selbstreflexion auffangen zu können schien. So stellt sich Heines Jüngling in demselben »Nordsee«-Zyklus dem sprachlosen Meer gegenüber: Am Meer, am wüsten, nächtlichen Meer Steht ein Jüngling-Mann, Die Brust voll Wehmuth, das Haupt voll Zweifel, Und mit düstem Lippen fragt er die Wogen: »O löst mir das Räthsel des Lebens, Das qualvoll uralte Räthsel, Worüber schon manche Häupter gegrübelt, Häupter in Hieroglyphenmützen, Häupter in Turban und schwarzem Barett, Perückenhäupter und tausend andre Arme, schwitzende Menschenhäupter Sagt mir, was bedeutet der Mensch? 2 3

Ebd., v. 20-24. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, § 22, in: ders.: Werke, hg. v. Norbert Miller, Bd. 5, München "1980, S. 92.

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Woher ist er kommen? Wo geht er hin? Wer wohnt dort oben auf goldenen Sternen?« Es murmeln die Wogen ihr ewges Gemurmel, Es wehet der Wind, es fliehen die Wolken, Es blinken die Sterne, gleichgültig und kalt, Und ein Narr wartet auf Antwort.4 Das Rätsel, das Goethes Alexis - wenn auch »zu spät« - löste, indem er Blick und Empfindung, Doras Hals und das »Kettchen«, natürliche Schönheit und geselligen Reiz miteinander zu verknüpfen verstand, stellte sich nun als völlige Bedeutungslosigkeit heraus, da die Beliebigkeit der exotischen Erfahrung, der Weisheit unter »Hieroglyphenmützen« und »Perückenhäuptern«, unter »Turban und schwarzem Barett«, keinen die menschliche Lebenswelt mehr bildenden und bindenden Horizont eröffnete. Mit seinen »Fragen« exponierte Heines Jüngling gleichsam die Negation der von dem Mönch am Meer (1809) geahnten Unendlichkeit auf Caspar David Friedrichs Gemälde, 5 und die Stimme verstummt ihm, die noch Heinrich von Kleist aus Friedrichs Bild deutlich vernahm, als er daran beobachtete, »daß man alles zum Leben vermißt, und die Stimme des Lebens dennoch im Rauschen der Flut, im Wehen der Luft, im Ziehen der Wolken, dem einsamen Geschrei der Vögel, vernimmt.« 6 Das Meer ist jetzt sprachlos, und Friedrich selbst fand den Ausdruck dieses Verstummens in der Tafel Das Eismeer 4

5

6

7

von 1823/24, 7 in dem der

Heinrich Heine: »Fragen«, in: Buch der Lieder, »Die Nordsee«, Zweiter Zyklus, Nr. VII, in: ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 419; S. 1052 (= Apparat). Das Gedicht entstand im September/Oktober 1826. Vgl. die französische Prosaübersetzung (»Questions«), die Gerard de Nerval für die Revue des deux mondes (15. Juli 1848) anfertigte: ebd., S. 509. - Zum lebensgeschichtlichen Hintergrund der Übersetzungen für die Revue, an deren Auswahl Heine selbst mitwirkte, vgl. Hans Peter Lund: »Distance de la poésie. Heine, Nerval et Gautier en 1848«, in: Orbis Litterarum 38 (1983), S. 24-40. Zu Friedrichs Gemälde vgl. Thomas Leinkauf: Kunst und Reflexion. Untersuchungen zum Verhältnis Philipp Otto Runges zur philosophischen Tradition, München 1987, S. 276f.; Jens Christian Jensen: Caspar David Friedrich. Leben und Werk, Köln 41977, S. 106-113 und S. 190-202; Alfredo De Paz: Lo sguardo interiore. Friedrich o della pittura romantica tedesca, (Romanticismo e dintomi. Bd. 2.), Neapel 1986, S. 103-106. Heinrich von Kleist: »Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft«, zuerst erschienen in den Berliner Abendblättern, 13. Oktober 1810, in: ders.: Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Helmut Sembdner, Bd. 2, München 1984, S. 327f. Kleist griff auf eine ausführlichere Bildbeschreibung Clemens Brentanos zurück. Vgl. Jens Christian Jensen: Caspar David Friedrich (wie Anm. 5), S. 203-206; Alfredo De Paz: Lo sguardo interiore (wie Anm. 5), S. 153-161; Charles Sala: Caspar David Friedrich und der Geist der Romantik, Paris 1993, S. 16-21, deutet die Szene im Sinne der topischen »navigatio vitae«; Catherine Lépront: Caspar David Friedrich. Des paysages les yeux fermés, Paris 1995, S. 76-82. Sabine Mertens: Seesturm und Schiffbruch (vgl. Kap. 7, Anm. 26), S. 85-89, stellt die Tafel dem

151

Mensch nur mehr als zitathafte Allegorie, in dem zwischen Eisschollen gerade noch sichtbaren Schiffsheck ins Bild tritt. Das bedeutungsvolle

Tosen des

Sturmes, das die Seestücke Goethes so leidenschaftlich erschüttert hatte, ist einer sinnfernen

Stille gewichen, in der ein von Zeit zu Zeit merkliches Knir-

schen des den Schiffsrumpf zermalmenden Eises den Tag des Polarmeers durchtönt. Wenn es zutrifft, daß in Friedrichs Eismeer

das Scheitern seiner

Hoffnungen auf eine aus der Knechtschaft zu sich selbst befreite Menschheit mitschwingt, 8 so legt sich in ihm Quintilians Deutung von Horazens Ode (1,14) über die Gefährdung des Staatsschiffes 9 völlig neuartig aus, indem es die zerstörte H o f f n u n g als einen fait accompli

repräsentiert.

Die Flucht in die »künstlichen Paradiese«, wie sie sich in Charles Baudelaires Adaption der Meerfahrt spiegelt, ließ die Figur des Scheiterns dann in einem ganz unerwarteten Licht erscheinen. In dem Gedicht Le voyage (1859) sind die Motive von Trennungsschmerz und hoffendem Verlangen zugunsten einer Gleichgültigkeit menschlichen Handelns aufgehoben, das sich in der fortgesetzten Aliénation von allen geselligen Bindungen selbst genügt. Nicht die groteske Furcht, von der »tyrannischen Kirke« in Schweine verwandelt zu werden, sondern ein zunächst ziellos scheinendes Aufbrechen um des Aufbrechens willen bestimmt die »wahren Reisenden« zur See: Mais les vrais voyageurs sont ceux-là seuls qui partent Pour partir; cœurs légers, semblables aux ballons, De leur fatalité jamais ils ne s'écartent, Et, sans savoir pourquoi, disent toujours: Allons!10 Der Bewußtseinshorizont des Reisenden weist nicht mehr auf eine Bewußtseinserweiterung im Sinne einer >bewegenden Erkenntnis< hin, er ist auch hier vielmehr auf ein Reich von Zeichen eingeschränkt, das in der sprachlosen Leere des Meeres »unser Bild«, den in der evasiven Reflexion zum Rätsel gewordenen Menschen, zur Anschauung bringt:

8 9 10

wahrscheinlich von Friedrich stammenden frühen Gemälde »Schiff im Eismeer« von 1798 gegenüber. Ich verweise noch auf das Material (mit Ausblicken bis auf Max Beckmanns Untergang der Titanic von 1912) bei Eberhard Roters: Jenseits von Arkadien. Die romantische Landschaft, Köln 1995, S. 150-171 (=Kap. 8: »Schiffbruch«), So etwa Jens Christian Jensen: Caspar David Friedrich (wie Anm. 5), S. 206. Vgl. oben S. 104 und 108. Charles Baudelaire: »Le voyageur«, Les fleurs du mal, N° CXXXVII, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. 1: Les Fleurs du mal. Les Épaves, hg. v. Jacques Crépet, Paris 1922, S. 228-234, hier: S. 229. - Zum Widmungsträger des Gedichts vgl. Yoshio Abé: »Baudelaire et Maxime du Camp«, in: Revue d'histoire littéraire de la France 67 (1967), S. 273-285; zu den möglichen Quellen vgl. E. Drougard: »En marge de Baudelaire. >Le Voyage< et ses sources«, ebd., 39 (1932), S. 444-A59.

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Amer savoir, celui qu'on tire du voyage! Le monde, monotone et petit, aujourd'hui, Hier, demain, toujours, nous fait voir notre image: Une oasis d'horreur dans un désert d'ennui! 11

Die neuen Welten, zu denen Baudelaires Schiffer unterwegs ist, sind keine irdischen Paradiese jenseits des Ozeans, sie bezeichnen auch kein künstliches Paradies der inneren Bewußtseinswelt mehr; das Verlangen des Helden in der Anrufung des Todes, von den Fluten auf den Schlund des Meeres hinabgerissen zu werden, ist vielmehr der Wunsch, im Durchgang durch eine exotische Wüste, »gleichviel, ob Hölle oder Himmel«, jene lichthafte Fülle »unserer Herzen« wiederzufinden, die »auf dem Grunde des Unbekannten« als gänzlich »Neues«, als das radikal Andere des eigenen Selbst aufscheint: O Mort, vieux capitaine, il est temps! levons l'ancre! Ce pays nous ennuie, ô Mort! Appareillons! Si le ciel et la mer sont noirs comme de l'encre, Nos cœurs que tu connais sont remplis de rayons! Verse-nous ton poison pour qu'il nous réconferte! Nous voulons, tant ce feu nous brûle le cerveau, Plonger au fond du gouffre, Enfer ou Ciel, qu'importe? Au fond de l'Inconnu pour trouver du nouveau/'

Indem sich Baudelaires Schiffer an den Schimmer eines unauslotbaren Abgrunds verliert, vollzieht er die Selbstfindung - Ausdruck sublimster Lebensironie - in der unbedingten Entäußerung des eigenen Ich. Wenige Jahre zuvor bereits hatte Honoré Daumier umgekehrt die tragikomische Variante einer Interiorisierung des Schiffbruchs geschaffen. In einem lithographischen Blatt innerhalb der Folge der »Sommerskizzen« (»croquis d'été«), das am 20. August 1856 in der Tageszeitung »Le Charivari« erschien, zeigte er unweit der Küste die harmlos und sanft sich wiegende Barke, deren Besatzung, fünf Trunkene, dem inneren >Seesturm< des Rausches nahezu erlegen ist. »Lustig gleitet man den Fluß des Lebens hinab«: so löst sich dem Karikaturisten das Rätsel des Daseins an einem melancholischen Sommernachmittag.13

" 12

13

Ebd., S. 233. Ebd., S. 234. Bedenkenswert ist die Interpretation von Polyxene-Goula Mitacou: La tradition platonicienne et ses échos dans l'œuvre de Baudelaire, Thèse Université Paris IV, Paris 1982, S. 447-450, die im Werk Baudelaires zugleich eine »influence de la problématique morale« durch Joseph de Maistre nachweist (ebd., S. 337-347). Eine großformatige Abbildung der Lithographie (»Descendant joyeusement le fleuve de la vie«) findet sich zum Beispiel in: Honoré Daumier. 240 Lithographien ausgewählt und eingeleitet von Wilhelm Wartmann, Birsfelden-Basel 1978, S. 193.

153

Ein letzter figurativer Reflex des Schiffes, dem Horaz in der Ode 1,14 warnend zugerufen hatte, tritt dann in der Tat mit Rimbauds Le bateau ivre in den Blick. Mit Gütern beladen, aber mannschaftslos, wird der ziellos treibende Kahn zum eigentlichen Subjekt der Handlung (»moi, bateau perdu«), das in dem sturmbewegten Meer ein rauschhaftes Leben feiert (»La tempête a béni mes éveils maritimes«).14 Variationen einer alten Motivkonstellation: Die Offenheit des Ausgangs, die Goethes Seefahrt von 1776 gleichsam ins Unendliche verlängerte, ist zum Index einer Daseinsform geworden, die keinen Überstieg in das Andere des Selbst mehr kennt. Als lebensvoller Ausdruck einer Sozialisation des Wissens, die von dem Anruf des Psalmisten über die >politische< Motivgenese des Horaz reicht, ist die sturmbewegte Meerfahrt weniger die gleichsam traditionsgebundene Form, an der sich die individuelle Befindlichkeit des Subjekts spiegelte; sie ist vielmehr Vorwegnahme und Projektion einer Lebenswelt, deren Bedeutung in der Verlaufsform des lyrischen Adaptionsprozesses selbst begriffen ist. Was Goethe 1772 an Salomon Gessners Idylle Der Sturm kritisierte, war die Unvermitteltheit einer ästhetischen Erfahrung zur sozialen >Natur< des Menschen. Darin gründet die Differenz zu Goethes eigenem Klassizismus der 1790er Jahre: Das epische Projekt der Achilleis (1797-1799) scheiterte, weil es eine gleichsam bloß philologische »Aufgabe« und »Untersuchung« darstellte, eine >homerische< Lebenswelt zu restituieren, deren Dichter »gleich wie in einer Montgolfiere, über alles Irdische hinausgehoben« sein sollte;15 aber noch in Alexis und Dora war die Auslegung sinnlicher Wahrnehmungsinhalte erst dann geglückt, wenn ihre Verknüpfungen einen sozialen Bedeutungsgehalt aufspannten, der sich nicht erst durch Voraussetzung antiquarischen Wissens erschloß. Der Erkenntnisgewinn der lyrischen Motivkonstellation war daher immer Darstellung eines Lebensproblems, dessen zeithafte Entfaltung mehr die Ambivalenz der Bedeutungen als die Auflösung einer geselligen Dissonanz zur Anschauung zu bringen hatte. Auch hierin >korrigierte< Goethe die Funktion des Eifersucht-Motivs in Gessners Idylle und bewahrte - unter gänzlich gewandelten formalen Bedingungen etwas von der >sozialen< Offenheit der eigenen Dichtung von 1776. Die M o dernität der Seefahrt gründete dann in der Spannung eines horazischen Ideengehaltes, die nicht gelöst wird, weil sie sich - nach dem Verlust einer

15

Baudelaires und Rimbauds Dichtungen deutet im Zusammenhang C.-A. Hackett: »Baudelaire et Rimaud: >Le Voyage< et >Le bateau ivre