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German Pages 329 [331] Year 2024
Riccardo Bonfranchi Kommensurabilität Dialoge über das Vergleichen
Diskurs Philosophie Band 29
Riccardo Bonfranchi
Kommensurabilität Dialoge über das Vergleichen
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Das Erscheinen dieses Buches wurde mit freundlicher Unterstützung der Gedächtnisstiftung Paul Schmitt ermöglicht.
Ein ATHENA-Titel bei wbv Publikation © 2024 wbv Publikation ein Geschäftsbereich der wbv Media GmbH & Co. KG Gesamtherstellung: wbv Media GmbH & Co. KG, Bielefeld wbv.de ISBN (Print) 978-3-7639-7463-4 ISBN (E-Book) 978-3-7639-7464-1 Printed in Germany
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Inhalt 1 Grundsätzliches zur Kommensurabilität 2 Was vergleichen Schmerztabellen? 3 Was vergleichen Intelligenztests? 4 Sind Analogien nicht immer auch Vergleiche? 5 Behinderung und der Vergleich mit der Nicht-Behinderung 6 Deontologie – Utilitarismus: Weltbilder im Vergleich 7 Kapitalismus im Vergleich zum Sozialismus 8 Empirische Ethik im Vergleich mit nicht empirischer Ethik 9 Männlich – Weiblich: Der ewige Vergleich 10 Moderne – Spätmoderne: Der Vergleich im Zeitenwandel 11 Alt – Jung: Vergleiche, die nie stimmig und immer falsch sind 12 Klassen und Klassifizierungen in einer endlosen Vergleichsschleife 13 Verteilungsgerechtigkeit ist immer auch eine Vergleichs-Gerechtigkeit 14 Gradationen der Freiheit in ihrem Vergleich 15 Ethische Dilemmata sind Vergleiche, die nie aufgehen 16 Monotheismus – Polytheismus: ein gottloser Vergleich 17 Sport: Vergleiche pur (?) 18 Kann man Gutes und Böses miteinander vergleichen? Ja, man kann! 19 Technik: Segen oder Fluch? Eine Vergleichsabwägung 20 Urteilen und Vergleichen ist dasselbe 21 Geld: Der Inbegriff des Vergleichs
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Literatur 311
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Vorbemerkung »Vergleich dich nicht mit anderen.« Oder: »Der Vergleich hinkt.« Das sind Aussagen, die uns im Alltag häufiger begegnen. Wir Menschen vergleichen (uns) ständig – aber warum eigentlich? Welchen Sinn haben Vergleiche? Was nutzt es uns, wenn wir Vergleiche anstellen? Und in welchen Bereichen des Lebens stellen wir sie warum an? Diese und viele ähnliche, andere Fragen liegen dem nachfolgenden Essay von Riccardo Bonfranchi zugrunde: Für die unterschiedlichsten Bereiche des Lebens untersucht er, welche Relevanz und welchen Stellenwert Kommensurabilität haben kann. Er stellt den Vergleich abstrakt aus der philosophischen Perspektive dar, ausgehend von der These, dass das Vergleichen »ungleicher Dinge« innerhalb eines Diskurses dazu dient, eine Synthese herbeizuführen. Die Gegenüberstellung ungleicher Dinge und die Annäherung hin zu einer dritten Perspektive soll Menschen in ihrer Lebenswelt Orientierung bieten, so Bonfranchi. Wie das gelingt, zeigt er facettenreich, indem er sich auf politischer, ethischer und alltagsweltlicher Ebene mit dem Vergleichen beschäftigt. Um bei aller Theorie praxisnah zu bleiben, greift Bonfranchi konkrete Themenkomplexe heraus – Behinderung, Weltbilder, Verteilungsgerechtigkeit, Sport, Technik oder Gutes und Böses sind nur einige davon. Die Erschließung der gewählten Themen erreicht Bonfranchi durch den Aufbau der Kapitel in Dialogform: Die Sprechenden erarbeiten in ihrem Gedankenaustausch die vergleichenden Positionen auf eine menschlich sehr nachvollziehbare Weise (bspw. im Kapitel »Was vergleichen Schmerztabellen?«). Bonfranchi erhebt mit seinem Essay nicht den Anspruch, ein hochwissenschaftliches Werk zu schaffen, auch wenn er seine Aussagen mit dem Rückbezug auf viele Betrachtungen wissenschaftlicher philosophischer Texte untermauert. Vielmehr kommt der Text subjektiv und lebensnah daher – und ist oft auch mit einem Augenzwinkern formuliert. Beispielsweise, wenn man beim Lesen bekannte Klischees an Situationen entdeckt, in denen sich die Protagonisten und Protagonistinnen der Dialoge bewegen. Es gelingt Bonfranchi, auf verständliche Weise ein Thema in den philosophisch betrachtenden Blick zu nehmen, das uns alle angeht. Damit bietet „Kommensurabilität“ einen gut zu lesenden Querschnitts-Überblick des Vergleichens in vielen Lebenslagen und regt zum Weiterdenken an. Bielefeld, im März 2023 ATHENA | wbv
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Grundsätzliches zur Kommensurabilität Grundsätzliches zur Kommensurabilität
Oder: Warum wir immer alles mit allem vergleichen müssen? »Man sollte sich nie mit anderen vergleichen, da die meisten verbogener als wir selbst sind.« (Willy Meurer deutsch-kanadischer Aphoristiker) »Das Gehirn arbeitet auf der Basis von Vergleichen. Getreu dem Motto: Was einmal funktioniert hat, wird es auch ein zweites Mal.« (Werner Katzengruber, Autor)
1.1 Grundlegendes Es heißt oft, jeder Vergleich setze ein Tertium Comparationis voraus. Nein! Der Vergleich ist ursprünglich, er konstituiert das Terium Comparationis als einen aus dem Vergleich abgeleiteten und danach weiterverwendeten Begriff. Das Vergleichen ist eine spontane menschliche, tierische, pflanzliche, atomare Fähigkeit, gleich ursprünglich mit der Entstehung von Tag und Nacht.1 Zur Erläuterung: Tertium Comparationis ist ein lateinischer Begriff der Rhetorik und bedeutet wörtlich »das Dritte des Vergleichs«. Damit wird die Gemeinsamkeit zweier verschiedener, miteinander zu vergleichender Gegenstände oder Sachverhalte in Metaphern und bei der Metonymie bezeichnet.2 Dinge oder auch Menschen, die für uns einen Wert darstellen, vergleichen wir ständig miteinander. Wenn wir etwas nicht mit etwas anderem vergleichen können, so sprechen wir von einer Inkommensurabilität. Das heißt, die Dinge oder die Menschen sind unvergleichbar. Die Frage, ob es das überhaupt gibt oder ob nicht immer, ausnahmslos alles mit etwas anderem in eine Beziehung gesetzt werden kann, lassen wir hier vorerst einmal unbeantwortet.
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Vgl. Kohlmayer, Rainer: Bissiger Mund! Alphabetische Aphorismen. In: Die Schnake, Ausgabe 15/16, 2000 Tertium Comparationis: Wikipedia (Zugriff: 28.01.2022)
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Im Wörterbuch der philosophischen Begriffe lassen sich nur zwei sehr kurze Beschreibungen der Begriffe »kommensurabel«3 und »inkommensurabel«4 finden: »kommensurabel, lat., mit einem gemeinsamen Maß messbar. Gegensatz: inkommensurabel. Inkommensurabel, lat., unmessbar, das, was nicht mit einem gemeinsamen Maß gemessen werden kann. Der Begriff stammt aus der antiken Geometrie und diente dort z. Bez. der Irrationalität geometrischer Größen, z. B. der Länge der Diagonalen Wurzel aus 2 im Quadrat mit der Seitenlänge 1.«5 Im Lexikon Philosophie werden die Begriffe »Vergleiche, Kommensurabilität, Inkommensurabilität«6 überhaupt nicht erwähnt. Diese Begriffsbestimmungen sind nicht sehr aussagekräftig, können aber trotzdem als erste Basis für die weiteren Ausführungen dienen. Beide Begriffe, der positive wie der negative, beziehen sich auf den Begriff des Maßes. Maß könnte man demnach als Referenzbegriff verstehen. Allgemein (d. h. seit C. F. Gauß) werden Maße als Einheiten der Länge, der Masse und der Zeit verstanden. Dies gilt für die Mechanik. Beispiele hierfür sind Zentimeter, Gramm und Sekunde. Alle diese Begriffe sind geeicht, d. h., man ist von einem Urmeter ausgegangen und hat diesen definiert. Das Gleiche gilt für Gewichte (Masse) sowie für die Zeit. In der Philosophie kennt man das proportionierte Maß von Aristoteles (Mesotes). In seiner Tugendlehre wird etwa vom Begriff der Tapferkeit ausgegangen, wobei Tapferkeit eine erstrebenswerte Tugend wäre. Sie weist aber an ihrem jeweiligen Endpol Tugenden auf, die nicht unbedingt erstrebenswert sind, wie einerseits die Tollkühnheit und andererseits die Feigheit. Nun kann es aber sein, dass sich je nach Situation dieser Maßstab verschieben kann: Wenn es um die Rettung eines anderen Menschen geht, ist es tugendhafter, ein gewisses Maß (!) an Tollkühnheit an den Tag zu legen, während es beim Ausbruch eines Tsunamis eventuell tugendhafter ist, sich möglichst rasch in Sicherheit zu bringen. Die hier von mir gewählten Beispiele zeigen sehr anschaulich auf, dass es sich im Gegensatz zur Mechanik eben nicht um klar definierte, geeichte Maßstäbe handelt, sondern dass es stets im Ermessen des Individuums liegt, wie es die jeweilige Situation einschätzt, welche Tugend und wie viel oder wenig Tugend es einsetzt. 3 4 5 6
Regenbogen, Arnim; Meyer, Uwe (Hrsg.): Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Begründet von Friedrich Kirchner und Carl Michaelis, fortgesetzt von Johannes Hoffmeister. Verlag Felix Meiner, Hamburg 2013, S. 349 Dies., a. a. O., S. 317 Dies., a. a. O., S. 317 Jordan, Stefan; Nimtz, Christian (Hrsg.): Lexikon Philosophie: 100 Grundbegriffe. Verlag Reclam, Stuttgart 2011
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Wie man Dinge, Geschehnisse, Bahnhöfe, Sinn-Inhalte und vieles mehr aus dem Orient mit In-Etwa-Parallelen aus dem Okzident vergleichen kann, hat in unnachahmlicher Weise der französische Philosoph Roland Barthes in einem kleinen Büchlein in höchst unterhaltsamer Art demonstriert.7 Auch Luhmann muss in bestimmten Konstellationen auf den Vergleich zurückgreifen und schreibt: »Vergleich ist eine unentbehrliche Voraussetzung jeder Kausalfeststellung. Wo die Wissenschaft an dem Versuch, invariante Beziehungen zwischen bestimmten Ursachen und bestimmten Wirkungen (Kausalgesetze) festzustellen, scheitert, muss sie daher auf die vorausliegende vergleichende Methode zurückgreifen; ist doch jenes Scheitern nichts anderes als Ausdruck der Tatsache, dass es ›andere Möglichkeiten‹ gibt«8. »Die klaren und offensichtlichen Unterschiede wie all jene, die der französische Soziologe Pierre Bourdieu sozialkritisch als ›feine Unterschiede‹ beschrieben hat – bestimmen unser Leben. Wir vergleichen und werden verglichen. Wir nehmen Maß und werden gemessen. Wir unterscheiden und grenzen ab«9. Dies schreibt der Wissenschaftsjournalist Lotter in seinem Buch der Unterschiede. Ohne hier diese Veröffentlichung kritisieren zu wollen, soll aber doch angemerkt werden, dass es allein mit dem Aufzeigen von Unterschieden aus meiner Sicht nicht getan ist. Man muss sie auch werten, was Lotter im Übrigen ständig tut. Es sind aber die Vergleiche dieser Unterschiede, die m. E. zu einer Gerechtigkeit führen können, sofern man denn diese überhaupt als Ziel ins Auge gefasst hat. Diese Gerechtigkeit ist für Lotter von ausschlaggebender Bedeutung. Eine Lösung hierzu, so meint Lotter, liegt in der Vielfalt jeglicher Erscheinungen. Gegen eine Vielfalt ist nichts einzuwenden. Nur ist »Vielfalt« ein wertfreier Begriff und ich frage mich deshalb, wie allein dadurch Gerechtigkeit entstehen kann. Ich versuche deshalb, nicht der Gerechtigkeit, sondern der Erkenntnis wegen, nicht die Unterschiede, sondern die Vergleiche in ihrer jeweiligen Art zu fokussieren. Wir stellen demnach fest, dass bestimmte Strukturen miteinander verglichen werden können. Dabei wird deutlich, dass es bestimmte Teile gibt, die sich sogar decken können, also sich kongruent zueinander verhalten, und andere eben nicht. Die kongruenten und nicht kongruenten Elemente dieser Struktur können nun in eine Abstandsrelation gesetzt werden. Breidbach formuliert das folgendermaßen: »So lassen sich dann für jede Daten7 8 9
Barthes, Roland: Das Reich der Zeichen. Verlag Suhrkamp, Frankfurt/M. 2019 (21. Aufl.) Luhmann, Niklas: Zweckbegriff und Systemrationalität. Verlag Suhrkamp, Frankfurt/M. 1973, S. 168 f. Lotter, Wolf: Unterschiede. Wie aus Vielfalt Gerechtigkeit wird. Verlag Edition Körber, Hamburg 2022, S. 19
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reihe die relativen Distanzen ihrer Profilkennung zu anderen ins System eingelesenen Datenkonturen erfassen«.10 So lassen sich starke, schwächere oder gar keine Übereinstimmungen bei Vergleichen feststellen. Damit wiederum können wir Ähnlichkeiten erkennen, die für Vergleiche eine unabdingbare Voraussetzung darstellen. Wenn zwei Strukturen in keiner Art und Weise Ähnlichkeiten aufweisen, können sie nicht miteinander verglichen werden. Breidbach ist daran interessiert, auf naturwissenschaftlicher Basis, anhand statistischer Auswertungen, solche Vergleiche herzustellen. Diesen Anspruch erhebe ich hier in keiner Art und Weise. Vielmehr geht es darum, Elemente miteinander in Verbindung zu bringen, die im Grunde vom Vergleich leben oder bei denen der Vergleich ein konstituierendes Merkmal ihrer Existenz ist. Nicht mehr, aber keinesfalls weniger. Vergleiche können somit als die Suche nach dem Ähnlichen, nach dem Nicht-ganz-Gleichen verstanden werden. Aber wir werden sehen, dass man Vergleiche auch anstellt und NICHT das Ähnliche sucht, sondern im Gegenteil das Gegenteil. Man sucht den Widerpart, die Anti-These und ich frage mich dann, wie konnte das geschehen? Wie kann man etwa den Monotheismus besser finden als das Gegenteil, den Polytheismus? Ist das Gute dem Bösen ähnlich? Wohl kaum. So betrachtet kann es, zugegebenermaßen, immer auch Ähnlichkeiten, Analogien geben, aber darauf richte ich nicht mein Augenmerk. Die hier vorgestellten Vergleiche suchen nicht die Ähnlichkeit als Entsprechung, sondern sind eher am Gegenteil interessiert.11 Die Vergleiche, egal welcher Art, lassen sich immer anhand dreier Gesichtspunkte bewerten. Wir können von »besser«, »schlechter« oder »gleich gut« ausgehen. Dass man diese Vergleiche dann noch weiter differenzieren kann, im Sinne von »Das ist in etwa gleich gut oder es ist nur unwesentlich schlechter«, ändert an der Aussage der Komparative »schlechter« und »besser« nichts. So stellen wir fest, was bei gewissen Dingen oder Menschen gleich ist, um dann zum Verschiedenen zu gelangen, das wir wiederum einer Bewertung unterziehen. So spielt sich dieser Vorgang, egal ob bewusst oder weniger bewusst, immer wieder, tagtäglich in unserem Leben ab. Es kann sich dabei um sogenannte kleine Dinge handeln wie Butter oder Margarine, es kann sich natürlich ebenso um sogenannte große Dinge handeln wie: Soll ich jetzt heiraten oder später, ein Kind zeugen oder nie, und wenn ja, was ist daran gut oder nicht gut etc. 10 Breidbach, Olaf: Deutungen. Zur philosophischen Dimension der internen Repräsentation. Verlag Velbrück, Weilerswist 2001, S. 32 11 Vgl. Schiller, Hans-Ernst: Ähnlichkeit und Analogie. Zur Erkenntnisfunkton des mimetischen Vermögens. Verlag Frank & Timme, Berlin 2021
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»Jeder Vergleich, können wir sagen, ist ein Eingriff, der die Ordnung der Dinge unter dem Aspekt ihrer Gleichartigkeit neu entwirft. … Einmal der Prozedur des Vergleichs unterworfen, wird alles Einzelne zum Besonderen eines Allgemeinen, zu einem Fall, der eine Regel betätigt – darüber hinaus gilt es nichts.«12 Konersmann beleuchtet in seinem Buch der Maße vornehmlich die Gleichartigkeit, die eine Voraussetzung für das Messen überhaupt darstellt. Mir geht es hier eher um die Andersartigkeit von Dingen, die mit anderen Dingen (oder Menschen) in einen Bezug gesetzt werden oder gesetzt werden müssen. Nicht die numerische Erfassbarkeit ist mein Ziel, sondern die Abgrenzung von Dingen oder Menschen voneinander, was, wie bereits erwähnt, i. d. R. mit deren Bewertung einhergeht. Es darf darüber hinaus nicht verschwiegen werden, dass das Vergleichen durchaus negative Konsequenzen haben kann, die ich aber – zugegebenermaßen – nicht weiter untersuchen werde, da ich vom Wert des Vergleichens als eine conditio humana ausgehe, d. h. eine Bedingung, ohne die das menschliche Denken und Handeln nicht möglich ist. »Der Sozialpsychologe Abraham Tesser hat nachgewiesen, dass die Bedrohung des Selbstwertes durch Vergleiche mit anderen zu typischen Neidreaktionen führt: werden wir konfrontiert mit einer Person, die in der für uns bedeutsamen Dimension einen höheren Wert erzielt, lässt sich das Aufkeimen von Neid an den oft unbewussten Reaktionen ablesen, den Neid abzuwehren und seinen Schmerz im Keim zu ersticken.«13
1.2
Den Vergleichen auf der Spur
Auch das bekannte Höhlengleichnis von Platon stellt im Grunde einen Vergleich dar. Gaarder formuliert das so: »Es geht Platon darum, dass das Verhältnis zwischen der Finsternis der Höhle und der Natur draußen dem Verhältnis zwischen den Formen der Natur und der Ideenwelt entspricht.«14 Dabei kann man nicht davon ausgehen, dass Platon der Meinung ist, dass die Natur uns Menschen feindselig gestimmt wäre. Aber sie ist im Vergleich zu den Ideen, die sich der Mensch macht, schon sehr fremdartig und oft auch bedrohend für uns. 12 Konersmann, Ralf: Welt ohne Mass. Verlag S. Fischer, Frankfurt/M. 2021, S. 52 13 Hartlieb, Gabriele: Sehnsucht. Was Menschen bewegt. Kreuz Verlag, Freiburg i. Br. 2012, S. 15 f. 14 Gaarder, Jostein: Sofies Welt. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2012 (18. Aufl.), S. 111
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Aber damit nicht genug. Goebel und Schwind greifen auf eine von Ross gemachte Unterscheidung zurück, in der er, ohne es näher auszuführen, Komparabilität und Kommensurabilität differenziert. Goebel und Schwind führen aus, dass man unter Komparabilität eine Vergleichbarkeit innerhalb einer metrischen Skala verstehen kann. Dies im Sinne von mehr oder weniger oder: viel – mehr – am meisten etc. Die erste Stufe ist positiv und benennt z. B. ein Adjektiv. Die zweite, komparative Stufe benennt eine Steigerung, beispielsweise mehr, größer, stärker, besser, dichter etc. Die dritte Stufe, Superlativ benannt, kennzeichnet i. d. R. die höchste Steigerungsform wie am größten, das Dichteste, die Stärkste etc. Man geht demzufolge von einem Grundwert aus. Dieser Grundwert kann dann mit einem anderen Wert verglichen werden, indem man von mehr oder auch weniger oder am wenigsten ausgeht. Somit kann ein anderer Grundwert bestimmt werden, der dann auch wieder als ein eigener Grundwert angesehen werden kann. In meiner vorliegenden Abhandlung werde ich eher von Kommensurabilitäten ausgehen, bei denen es nicht um ein spezifisches Mehr-oderWeniger geht, sondern um prinzipielle Vergleiche, wie man im 2. Kapitel beispielhaft nachvollziehen kann. Es ist nun eine These von mir, dass die hier abstrakt vorgestellte Problematik des Vergleichens ungleicher Dinge, im Laufe der Zeit, im Laufe ihrer Entwicklung immer die Tendenz entwickelt, ein Drittes zu gebären, zu konstruieren, zu konstituieren. Diese Entwicklung, die an die Theorie von Hegel erinnert, dass in jeglicher These bereits die Antithese enthalten ist, die dann wiederum zu einer Synthese verschmolzen wird, die ihrerseits wieder zur These wird (ad infinitum), wird hier anhand von Beispielen aufgezeigt. Sie sollen belegen, dass wir a) ständig vergleichen und b), dass es immer eine Tendenz gibt, diese Inkommensurabilitäten mithilfe einer Drittlösung aufheben zu können. Inwieweit dies dann auch gelingt, sei hier vorerst einmal dahingestellt. Wir bewegen uns in der klassischen Dialektik. Dies wiederum bedeutet vorerst, dass sich Widersprüchliches gegenseitig ausschließt. Es ist aber eben immer wieder festzustellen, dass wir diese Unüberbrückbarkeit nicht aushalten (wollen), nicht akzeptieren und deshalb – je nachdem – bemüht sind, Brücken zu konstruieren und zu bauen. Wir Menschen haben immer wieder den Drang, gegensätzliche Dinge, Konstellationen einordnen zu können. »Was nicht in bestehende Kategorien passt, ist irritierend und wird leicht Gegenstand des Hasses«15, schreibt die Philosophin Svenja Flasspöhler. Die hier aufgezeigten Beispiele sollen 15 Flasspöhler, Svenja: Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2021, S. 54
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dies erläutern und belegen. Es ist Penner, der sich in Bezug auf Kommensurabilitäten und insbesondere Inkommensurabilitäten in Gesprächssituationen Gedanken gemacht hat. Auch wenn man sich in Gesprächen uneins ist, d. h. kein Einvernehmen findet, besteht eben doch, wie bereits erwähnt, ein gegenseitiges Verständnis, dies im Sinne von Verstanden-Haben, was die andere Person meint. Nur ist man nicht damit einverstanden. Aber das ist dann wieder eine andere Sache. Mir geht es lediglich darum, aufzuzeigen, dass es auch bei Inkommensurabilitäten immer schon gewisse Gemeinsamkeiten gibt, man könnte auch von Übereinstimmungen sprechen. Die Schlussfolgerungen, die dann daraus gezogen werden, sind eben andere. »Dieser Gedanke folgt dem Muster, ohne Übereinstimmung kein Dissens, das heißt ohne Einheit keine Unterschiede, ohne Affirmation keine Negation, ohne Universalität keine Relativität. Gäbe es eine solche Gemeinsamkeit nicht, wären weder Verständnis noch Missverständnis oder Unverständnis denkbar. … Anders ausgedrückt, ohne eine Minimalvorstellung von Universalität ist so etwas wie Relativität nicht einmal denkbar«16. Nach Bateson gibt es vielfältige Version der Welt.17 Um etwas miteinander vergleichen zu können, braucht es immer zwei »Etwasse«18. Diese »Etwasse« müssen über Unterschiede verfügen, die aber, so hier meine Meinung, in irgendeiner Art und Weise miteinander in einer Beziehung stehen. Wechselseitig geschieht etwas in ihnen, mit ihnen. Bateson: »Es gibt eine tiefe und unbeantwortbare Frage hinsichtlich der Natur jener ›zumindest zwei‹ Dinge, die gemeinsam den Unterschied hervorbringen, der dadurch, dass er einen Unterschied macht, zur Information wird«19.
1.3
Vergleiche: Hin zur Praxis
Beginnen wir an dieser Stelle mit einem Kinderbuch20. Darin geht es u. a. um Vergleiche von Organen in unserem Körper, von Wetter, von heiß und kalt, von Wegstrecken, von großen Krabblern und ganz kleinen Tierchen, von den 16 Penner, Peter: Das Einvernehmen. Grundriss einer phänomenologischen Konsenstheorie. Verlag Karl Alber, Freiburg i. Br. 2014, S. 287 f. 17 Vgl. Bateson, Gregory: Geist und Natur: Eine notwendige Einheit. Verlag Suhrkamp, Frankfurt/M. 1987, S. 86 ff. 18 Ders., a. a. O., S. 87 19 Ders., a. a. O., S. 87 20 Gifford, Clive: Das grosse Buch der Vergleiche. Gross wie ein Wolkenkratzer, klein wie eine Maus. Illustriert von Paul Boston. Moses Verlag, Kempen 2021 (6. Aufl.)
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größten und den schwersten Tieren, von Mega-Appetit und von kolossalen Kothaufen und vieles andere mehr. Dabei wird auch darauf hingewiesen, dass wir Menschen ständig »Dinge vergleichen«. Die Kinder sind aufgefordert, sich Gedanken über Vergleiche zu machen, die auf den ersten Blick nicht direkt miteinander in einem Zusammenhang stehen. So wird gefragt: »In welchem Verhältnis stehen Tsunamiwellen und Gebäude, Bäume und Jumbojets oder Spinnen und Salzkörner?«21 Dabei wird den jugendlichen Lesenden dieses Buches, das in der Hauptsache aus Bildern und Illustrationen besteht, versprochen, dass sie »Unglaubliches entdecken« werden. Dem stimme ich, wenn man sich mit Vergleichen beschäftigt, vorbehaltlos zu. Aber man darf sich keinen Illusionen hingeben. Die im Folgenden dargestellten Gegensätze, die einen Vergleich überhaupt erst ermöglichen, existieren zumeist nie einer reinen Form. Bereits Hume stellte fest, dass »Gutes und Böses, Glück und Elend, Weisheit und Torheit, Tugend und Laster«22 niemals in reiner, sondern i. d. R. immer in einer vermischten Form existieren. Vorteile auf der einen Seite, sind deshalb immer mit Nachteilen auf der anderen Seite verbunden – dies gilt für beide Seiten. Trotzdem und vielleicht gerade deswegen haben wir das Bedürfnis, diese Gegensätzlichkeiten vereinen zu wollen. Aber nicht immer entsteht aus diesen Gegensatzpaaren ein neues Drittes. Jene sind jedoch auch nicht meine hier dargestellten Erörterungen. Es geht mir ausschließlich um die Vergleichbarkeit oder auch die Nicht-Vergleichbarkeit von Gegensatzpaaren und somit darum, erklären zu können, dass wir Vergleiche wie Mann-Frau, alt-jung, Kapitalismus-Sozialismus, Monotheismus-Polytheismus etc. brauchen, weil wir sie als Fundament unseres kulturellen Zusammenlebens sowohl gewohnt sind, sie aber auch benötigen. Sie geben uns Halt und stellen den Halt dar, auf dem wir stehen, auf dem wir unsere Kultur errichten. Sie sind demnach mehr als nur einfache Gegensätze. In den Gegensätzen steckt viel mehr, es steckt der immer wiederkehrende, stete Vergleich; ein Abwägen, ob ich mich mehr zu dieser oder zu jener Seite hingezogen fühle und letztlich in diesem Prozess, der bis an mein Lebensende nie abgeschlossen ist, zu meiner Identität finde. Folglich geht es immer um das Suchen des rechten Maßes und dies auf beiden Seiten, wenn wir hier einmal einfachheitshalber davon ausgehen, dass es nur zwei Seiten gibt. Nach Luhmann stellt dies eine Komplexitätsreduktion dar. Ich suche also nach dem Äquilibrium, der Ausgeglichenheit von sich widersprechenden Inhalten, Theorien, Gedankengebäuden u. Ä. Ob 21 Ders., a. a. O., o. S. 22 Hume, David: Die Naturgeschichte der Religion. Verlag Felix Meiner, Hamburg 2000 (2. Aufl.), S. 69
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ich es jeweils finden werde, weiß ich nicht. Aber der Versuch reizt mich und ist, so sehe ich die Sache, immer auch lohnenswert. So lässt sich konstatieren, dass Vergleichen nie eine exakte Wissenschaft sein kann, was zugegebenermaßen für mich den Reiz von Vergleichen eher erhöht. Es geht immer um ein Abwägen und das habe ich in diesem Buch anhand mehrerer (größerer) Beispiele darzustellen versucht. In wohl keinem dieser Beispiele kann ein Mittelwert, den man ja bekanntlich auf drei verschiedene Arten berechnen kann, erhoben werden. Weder der Median (Zentralwert), noch das arithmetische Mittel (Durchschnitt), noch der Modus als häufigster Wert helfen bei den von mir ausgewählten Beispielen, eine exakte, naturwissenschaftlich abgesicherte Aussage treffen zu können. Vergleichen, so könnte man sagen, ist identitätsstiftend, lebensnotwendig. Durch diese Vergleiche erkläre ich mir die Welt, kann mich dergestalt orientieren und habe nicht das Gefühl, orientierungslos im All zu schwimmen. Hier auf der Erde entwickeln sich Gegensatzpaare, sei es organisch oder künstlich-ideell, die mich herausfordern und denen ich mich stellen muss, stellen will, weil ich spüre, dass meine Entscheidung dafür oder dagegen für mich selbst notwendig ist. Demnach geht es um die Frage, was Erkenntnis ist? Oder anders formuliert: Es geht um das Verhältnis von Wahrheit zu weniger Wahrheit oder was hält einem Vergleich stand? Irgendwann müssen wir etwas für wahr halten und neigen uns dann zu dieser Seite hin. Aber woher wissen wir, welche Seite bei einem Vergleich die richtige ist? Und was ist hierfür der Maßstab? Es geht um den Unterschied zwischen Für-wahrHalten und Wahr-Sein. Entscheidend könnte die Frage nach dem Warum sein. Das entspräche dann einer Begründungsleistung. Und diese wiederum führt zur Frage nach der Letztbegründung und ob es eine solche überhaupt gibt oder geben kann? Die Suche nach einer Letztbegründung führt in das bekannte Münchhausen-Trilemma, demzufolge sich bei der Frage nach der Letztbegründung drei Möglichkeiten ergeben. Dieses auf Nietzsche zurückgehende Bild, das von Albert dargestellt wird, lautet folgendermaßen: »1. Der unendliche Regress: Auf der Suche nach letzten Gründen geht man immer weiter zurück – bis ins Unendliche (regressus ad infinitum). 2. Der fehlerhafte logische Zirkel: Man stößt auf scheinbar letzte Gründe, die man aber selbst schon vorausgesetzt hatte (circulus vitiosus). 3. Der Abbruch des Begründungsverfahrens durch eine Entscheidung durch Dezision: Im Gegensatz zu den beiden anderen Wegen ist dieser zwar praktikabel, aber unbefriedigend, weil er die Antwort auf
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Begründungsfragen von einem bestimmten Punkt an einfach verweigert.« 23 Wie nun Apel seinerseits auf das von Albert dargestellt Trilemma reagiert hat, soll hier nicht weiterverfolgt werden. Ein in der Wissenschaftstheorie klassisches Beispiel liefert Kuhn24 mit der Inkommensurabilität wissenschaftlicher Paradigmen.25 Revolutionär für die weltweite Community war die These von Kuhn, dass die Entscheidung, ob ein wissenschaftlich fundiertes Paradigma von einem anderen abgelöst wird, nicht allein durch einen Bewertungs-, d. h. Vergleichsprozess zustande kommt, sondern immer auch starke irrationale, emotionale Elemente enthält. Es sind demnach vielmehr Prozesse am Werk, die z. B. auf einer Mehrheit begründet sind, warum an einem Paradigma festgehalten wird, oder es finden intuitiv begründete Prozesse statt, die ein Paradigma am Leben erhalten. »Ein neu entstandenes Paradigma wird aufgrund der Anerkennung durch eine Mehrheit oder aufgrund intuitiver Zustimmung zum herrschenden Paradigma bestimmt«26. Damit verstößt man im Grunde gegen die Regel, dass wissenschaftliche Erkenntnisse immer auf der Basis von Reliabilität, Validität und Objektivität bewertet werden müssen. Mehrheiten und Intuitionen haben hier demzufolge keinen Platz. Deswegen kam Kuhn dann zu einer aufsehenerregenden These, dass Wissenschaft nicht immer so rational ist und die Thesen oft nicht miteinander verglichen werden können, weil sie in ihrer Bewertung im Kern eben inkommensurabel sind. Zu einer vergleichbaren Haltung hatte sich bereits Feyerabend geäußert, als er schrieb: »Es bleiben ästhetische Urteile, Geschmacksurteile, metaphysische Vorurteile, religiöse Bedürfnisse, kurz es bleiben unsere subjektiven Wünsche (kursiv i. O.) …«27 23 Albert, Hans: Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 1980, S. 13, nach Karl Otto Apel, zitiert nach Reese-Schäfer, Walter: Karl-Otto Apel zur Einführung. Verlag Junius, Hamburg 1990, S. 46 24 Kuhn, Thomas S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Verlag Suhrkamp, Frankfurt/M. 1976. Auch: Hoyningen-Huene, Paul: 2022: 100 Jahre Kuhn, 60 Jahre Structure. In: www.praefaktisch.de (Zugriff: 01.06.2022) 25 Vgl. Stillwaggon Swan, Liz; Bruce, Michael: Thomas Kuhns Inkommensurabilität wissenschaftlicher Paradigmen. In: Bruce, Michael; Barbone, Steven: Die 100 wichtigsten philosophischen Argumente. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2012, S. 242 ff. 26 Vgl. Stillwaggon Swan, Liz; Bruce, Michael: Thomas Kuhns Inkommensurabilität wissenschaftlicher Paradigmen. In: Bruce, Michael; Barbone, Steven: Die 100 wichtigsten philosophischen Argumente. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2012, S. 343 27 Feyerabend, Paul: Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie. Verlag Suhrkamp, Frankfurt/M. 1976, S. 385
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Wenn man nun davon auszugehen hat, dass Vergleiche doch nicht so eindeutig zu fassen sind, wie es die klassisch-empirische (Natur-)Wissenschaft nur allzu gern zu erklären bereit ist, gelangt man zur Frage des Relativismus. Vergleichen heißt immer auch »gegeneinander abwägen« und das geschieht in aller Regel relativ. Man setzt eine Seite in Relation zur anderen. Dies ist dann der Fall, wenn man sich nicht eindeutig für eine Seite entscheiden kann. Dieses Szenario wird bei allen hier aufgezeigten Beispielen der Fall sein. Ursache für diese Fragestellung ist die Tatsache, dass es eben keine objektiv gültige Methode der Rechtfertigung gibt, die klar, eindeutig und vernünftig die eine Seite als die richtige und die andere als die falsche deklariert und dies auch so belegt. So ist es eben nicht und das ist auch der Grund, warum es überhaupt Vergleiche gibt, geben MUSS. Urteile gegenüber einer Sache können sich widersprechen und können trotzdem gleichermaßen gültig sein. Klassisches Beispiel ist die Haltung bei indigenen Völkern, dass man seine Eltern, bevor sie alt werden, töten muss oder sie in den Tod schickt (Eis-Wüste, Sand-Wüste). Diese Gruppen sind überzeugt, dass es für ihre Eltern besser sei, wenn sie im Jenseits noch in guter körperlicher Verfassung sind, wenn sie dort ankommen. Diese Haltung ist für uns sicherlich nicht akzeptabel und die Fakten widersprechen sich fundamental, aber die Werte sind identisch, denn jeweils geht es darum, dass es den alten Eltern gut gehen möge.28 Demnach wird das aus unserer Sicht Richtige oder das Falsche zum Gegenstand. »Die Vielfalt an Werthaltungen und Moralen ist in einer globalisierten Welt so gross und zugleich so präsent wie zu keiner anderen Zeit. Sie reicht von den Weltanschauungsaxiomen, die eine ganzheitliche Deutung des menschlichen Seins und allenfalls seiner Bestimmung zum Inhalt haben, bis zu den davon deduzierten konkreten Handlungsanweisungen«29, schreibt Frick. So bin auch ich der Meinung, dass zu jedem Erklärungsmodell immer sofort ein alternatives entsteht. Das ist das eine. Das andere ist die Sichtweise, die wir einem Fakt gegenüber einnehmen und wo wir den Maßstab anlegen. Hierzu das folgende Beispiel: »Wenn die Maximierung der Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind die ersten neun Monate nach der Geburt überlebt, als Erfolgsmaßstab gilt, sind die USA objektiv fortgeschrittener als Afrika und Indien. Wenn die Maximierung der Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind die 28 Vgl. Frankena, William K.: Analytische Ethik. Eine Einführung. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1994 (5. Aufl.), S. 133 29 Frick, Marie-Luisa: Moralischer Relativismus. Antworten und Aporien relativistischen Denkens in Hinblick auf die weltanschauliche Heterogenität einer globalisierten Welt. Verlag LIT, Wien 2010, S. 231
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ersten neun Monate nach der Empfängnis überlebt, als Erfolgsmaßstab gilt, sind Afrika und Indien objektiv fortgeschrittener als die USA«30. Daraus folgt, dass ich auf einen absoluten Gültigkeitsanspruch verzichte. Eine einzige wahre Moral, Sichtweise, Haltung, den einzig wahren Wert lehne ich ab. Dabei gehe ich davon aus, dass bei einer Beurteilung eines Phänomens immer vier kognitivistische Erkenntnismodi zur Anwendung gelangen: 1. Offenbarung (spiritueller Natur), 2. Vernunft, 3. Natur (Naturalismus), 4. Intuition. Diese Erkenntnismodi ergeben natürlich ein hohes Maß an Komplexität, die m. E. bei allen Urteilen in irgendeiner Verteilung immer entscheidend ist, schließt schon allein eine universalistische Haltung aus. So ergibt sich eine Methodenvielfalt, die nicht ohne Auswirkung auf die Werte sein kann, die wir einem Phänomen zumessen. Klotz ist in seinem Buch31 bemüht, eine Struktur im Bereich des Wertens darzustellen. Er unterscheidet zwischen 1. Orientierung durch Vergleiche und Maßstäbe 2. Begegnen und einschätzen 3. Wahrnehmen, analysieren und werten 4. Verantwortetes und unverantwortetes Urteilen 5. Weisen des Wertens Ich beschränke mich hier auf den ersten Punkt. Klotz32 hebt hervor, dass wir insbesondere immer dann vergleichen, wenn wir mit etwas Neuem konfrontiert werden. Wir benötigen den Rückgriff auf Bekanntes, weil es uns Sicherheit verleiht. Aber auch bereits Bekanntes wird mit anderem Bekannten verglichen. Wir stellen Bezüge her und diese sind von unseren eigenen Wertvorstellungen geprägt. Die Beispiele in diesem Buch legen anschauliches Zeugnis davon ab, wie unterschiedlich solche Werte verstanden, definiert, ausgelegt werden können. Klotz ist der Meinung, dass diese Vergleiche – er bewegt sich stark in einem mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich (Beispiel von drei Tagesreisen oder einer Hektare oder des Tagwerks etc.) – auch der Zuverlässigkeit und der Orientierung dienen. Dem widerspreche ich klar und deutlich. So sind denn für Klotz Maßstäbe und Maße beim Vergleichen von entscheidender Bedeutung. Dass dem nicht so ist, 30 Shweder, Richard A.: Moralische Landkarten. In: Huntington; Harrison (Hrsg.): Streit um Werte. Europa Verlag, Hamburg 2002. In: Frick, a. a. O., S. 233 31 Klotz, Peter: Werten. Zur Praxis mentaler, pragmatischer und sprachlicher Orientierung. Erich Schmidt Verlag, Berlin 2019, S. 67 ff. 32 Ders., a. a. O., S. 67
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zeigen die hier dargestellten Beispiele. So muss auch Klotz zugestehen, dass vornehmlich im Bereich der Währung nur noch von Fiktionalitäten gesprochen werden kann, weil sich das Maß (welches denn?) in sich selbst schon lange verloren hat. Der Währung ist deshalb in diesem Buch ein eigenes Kapitel gewidmet. In der Kunst sind Vergleiche ebenso müßig und werden durch den Bedarf bestimmt. Darauf werde ich hier nicht näher eingehen. Es ergibt keinen Sinn, einen Picasso mit einem Van Gogh zu vergleichen. Natürlich könnte man sie, was die Pinselführung, den Einfall des Lichts, die Verwendung und die Zusammenstellung der Farbpigmente anbelangt, miteinander vergleichen. Aber das ist nicht mein Anliegen. Die Aussage, dass ein Ballett, eine Sonate oder eben eine Skulptur von Rodin »unvergleichlich schön« sind, sagt mehr über die Person aus, die dies ausgesagt hat, als über das angesprochene Kunstwerk. Bezüglich der Inkommensurabilität gehen Wolf und Schaber davon aus, dass es sich um aufeinander nicht reduzierbare Werte handelt wie Freiheit, Gleichheit, Fairness etc.33 Diese Elemente bezeichnet Schaber als irreduzibel. Er führt im Weiteren aus, mit Bezug auf Raz, dass es Werte geben kann, die miteinander nicht kommensurabel sind. Als Beispiel führt er den Wert des Geldes und den Wert einer Freundschaft an. Mit Raz ist Schaber wohl der Meinung, dass diese beiden Werte nicht kommensurabel sind. Wer dies annimmt, hat nicht verstanden, was Freundschaft ist, weil Freundschaft eben nie mit Geld aufgewogen werden kann. Trotzdem werden wir immer wieder in solche Vergleiche hineingezogen. Wir können nicht ohne diese Vergleiche sein, nicht ohne sie leben, handeln, eine Meinung haben. Ob es allerdings einen Ur-Wert gibt, auf den sich solche Vergleiche zurückführen lassen, einem Gott gleich, das sei hier dahingestellt. So bin ich wie Schaber34 der Meinung, dass wir den »relevanten Vergleichswert« noch nicht gefunden haben, und neige persönlich dazu anzunehmen, dass wir ihn nie finden werden. Das entbindet uns jedoch nicht davon, diese ewige (Grals-)Suche aufrechtzuerhalten. Eine Abgrenzung: Vergleichen darf m. E. nicht mit Messen gleichgesetzt werden. Es ist schon so, dass heute alles, auch das Soziale35, immer weiter vermessen, in Excel-Tabellen, Statistiken etc. erfasst wird. Ob diese Messungen allerdings dazu dienen, den Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen, oder ob sie sogar umgekehrt mehr Kontrolle dieser Menschen bedeu33 Vgl. Wolf, Jean-Claude; Schaber, Peter: Analytische Moralphilosophie. Verlag Karl Alber, Freiburg i. Br. 1998, S. 191 34 Dies., a. a. O., S. 200 35 Mau, Steffen: Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen. Verlag Suhrkamp, Berlin 2017
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ten, möchte ich hier dahingestellt sein lassen. Dieser Vergleich würde den gegebenen Rahmen sprengen. Vergleichen sagt per se nichts über die Menge der Daten aus, die miteinander verglichen werden (sollen). Ob man immer alles vermessen muss, ist für mich fraglich, aber die Entwicklung hat dazu geführt. Aber ohne Vergleiche würden wir uns, wie bereits erläutert, im Nirgendwo verlieren, weil wir als Menschen von Vergleichen abhängig sind wie von Wasser und Luft. Ohne Vergleich finden wir keine Orientierung, kein oben, kein unten und würden schwerelos nicht im Weltall, sondern in der Welt herumschwirren. Fassen wir zusammen: Es werden im Folgenden Theorien, Geschehnisse, Phänomene, von Menschen gemachte Ideen, Überzeugungen, Werte etc. jeweils einer Güterabwägung unterzogen. Hier stellt sich die Frage der Kommensurabilität, d. h. ihrer Vergleichbarkeit. Dies ist ein ungeheuer schwieriges Unterfangen, wenn man sich erst einmal darauf eingelassen hat. Wie kann a mit b verglichen werden, wenn sowohl die Herkunft, die Ausgestaltung, die Verwendbarkeit sowohl von a als auch von b völlig unterschiedlich sind. Geht das überhaupt oder muss man sich nicht einfach damit begnügen, dass man a und b nicht miteinander vergleichen kann? Dem widerspricht schon seit jeher die normative Kraft des Faktischen. Wir können gar nicht anders als permanent zu vergleichen, weil wir ansonsten den Boden unter den Füßen verlieren würden, auch wenn dieser noch so schwankend, brüchig und unsicher ist. Wir benötigen oben und unten, auch wenn wir manchmal nicht mehr wissen, welche Teile oben oder unten sind. Diese Ungewissheit ist unser Wissen. Mehr haben wir nicht und stellen fest, dass wir immer wieder in solche Wertefragen eingebunden sind.36 Wie zuvor erwähnt, es geht hier um Vergleiche. Dazu habe ich völlig willkürlich diverse Beispiele herangezogen. Diese versuche ich, immer mehrperspektivisch zu beleuchten. Es sind exemplarische Beispiele und jedes Beispiel wird nicht erschöpfend abgehandelt. Das ist hier nicht möglich und auch nicht intendiert. Es geht um die Vergleiche, wie man ein Geschehnis, ein Phänomen betrachten kann. Letztlich ist alles immer eine Interpretationssache. Davon bin ich tief überzeugt. Das heißt, es gibt immer unterschiedliche Gewichtungen und das Pendel schlägt mal nach links und sofort wieder nach rechts, um dann wieder nach … etc. »Es gibt keine Tatsachen, es gibt nur Interpretationen.«37 Oft ist diese Interpretation ein Kind ihrer Zeit, will sagen, vor 300 Jahren hat man das so und so betrachtet und heute 36 Vgl. Fischer; Gruden; Imhof; Strub: Grundkurs Ethik. Grundbegriffe philosophischer und theologischer Ethik. Verlag Kohlhammer, Stuttgart 2008 (2. Aufl.), S. 151 37 Grondin, Jean: Hermeneutik. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2009, S. 124
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weiß man es besser. Hofft man wenigstens. Dies wird dann unter Historismus verbucht. Insofern erlaube ich mir, jeweils auch persönliche Meinungen beim Herstellen der Vergleiche zu äußern. Jemand anderes sieht es anders. Das liegt in der Natur der Sache und die Sache ist nicht die Sache, sondern der Vergleich, um den es hier ausschließlich geht.
1.4
Vergleiche im Dialog
Aus meiner Sicht kann man Vergleiche nur in einem Dialog wiedergeben. Ich entlehne den folgenden Gedanken von Mittelstraß. Er schreibt: »Im Unterschied zur Unterhaltung, die der gegenseitigen Darstellung dessen, was man ist und was man meint, und der gegenseitigen Mitteilung dessen dient, was der Fall ist und was der Fall sein soll, folgt der philosophische Dialog als eine von dieser und anderen Formen des Gesprächs abgehobene Form sprachlicher Verständigung dem Zweck der (philosophischen Wissensbildung (kursiv i. O.)).«38 Im Dialog, so meine Meinung, ist es überhaupt erst möglich, Wissen und Orientierung zu transportieren. Frage und Antwort, Streit und Wider-Streit, Beweis und Widerlegung sind die Grundlagen, damit intersubjektiv gültiges Wissen überhaupt erst entstehen kann. Natürlich handelt es sich dabei um die Sokratische Gesprächspraxis, von der wir aber wissen, weil Sokrates ja nichts aufgeschrieben hat, dass es sich um eine »Platonische Idee«39 handelt. Deswegen habe ich mich entschlossen, die Vergleiche in Dialogen darzustellen. Dabei geht es nicht um richtig oder falsch. Es geht auch nicht darum, dass man die Position des anderen in einem empathischen Sinne nachvollziehen kann, man muss sich nicht an die Stelle des anderen setzen können, sondern es geht, wie Mittelstraß ausführt, darum, »die Vernunftstelle zu finden«40. Das deutet auf Mäeutik, die Hebammenkunst hin. Dabei handelt es sich auch nicht um ein Verstehen, um einen Kompromiss etc., sondern schlicht und einfach um eine Geburt, hier um die Entstehung von Wissen. Jeder will im Grunde recht haben und sich für seine Meinung, seine Haltung einsetzen. So geschieht wahres Philosophieren, weil sich dieses nicht durch ein Lehrbuchwissen ereignen kann, sondern nur durch »argumentatives Handeln unter einer 38 Mittelstraß, Jürgen: Wissenschaft als Lebensform. Reden über philosophische Orientierungen in Wissenschaft und Universität. Versuch über den Sokratischen Dialog. Verlag Suhrkamp, Frankfurt/M. 1982, S. 138 ff. 39 Ders., a. a. O., S. 138 40 Ders., a. a. O., S. 148
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Vernunftperspektive«41. Eine Voraussetzung dafür muss sein, dass die Dialoge konkret sind. Diese Dialoge unterscheiden sich von Inhalten aus einem Lehrbuch, weil diese Inhalte unter dem Zwang systematischer Vollständigkeit stehen. Das können Dialoge nie leisten, wollen es auch gar nicht. Es sind immer nur Ausschnitte aus einem nahezu unendlichen Meer an Inhalten. Diese (Nahezu-)Unendlichkeit lässt sich nur mittels Dialoge einigermaßen bewältigen. Ein Dialog erlaubt zudem Änderungen der eigenen Position. Man kann sich irren und man kann dazu – im gleichen Dialog – stehen. Auch Humor sowie Vergleiche sind in einem Dialog absolut zulässig. Dialog vermittelt oft ein exemplarisches und weniger ein grundlegendes Wissen. Mittelstraß sprich hier von »exemplarischer Vergegenwärtigungsleistung«42. Schlussendlich bedauert Mittelstraß, dass der Dialog aus der Mode gekommen ist: Er bietet keine philosophische Orientierung mehr. Das finde ich schade und deshalb soll er im Folgenden zur Anwendung gelangen. Wenn wir nun von einem Dialog ausgehen, so müssen wir auch festhalten, auf welche Seite sich jeweils die Waage der Argumente neigt. Diese Waage bezieht sich hier auf Werte und damit auf die Frage, welcher Wert mehr wiegt innerhalb eines Dialogs. Diese Werte sind somit die Basis der Vergleiche. Ein Vergleich ist ein Vergleich ist ein … Aber wenn man nicht einem unendlichen Regress anheimfallen will, müssen zwangsweise Werte mit ins Spiel kommen. Ohne diese geht es nicht. Aber, so schreibt Siep: »Der Begriff des Wertes und der Wertethik ist in der neueren deutschen Philosophie problematisch, wenn nicht sogar verpönt. Das hat philosophie- und allgemein historische Gründe«43. In der angelsächsischen Welt geht man mit dem Wertebegriff unbefangener um. Kümmern wir uns nicht weiter darum, sondern betrachten im Weiteren, worum es sich bei Werten eigentlich handelt. Die folgenden Thesen nach Siep sind dafür zentral: »1. Werte sind mit Beschreibungen verbunden. 2. Evaluative Eigenschaften von Dingen, Ereignissen, Prozessen und Handlungen sind real und objektiv erkennbar. Sie entspringen nicht subjektiven Wünschen, die auf die Welt projiziert werden. 3. Werte sind ›ursprünglich‹ und generieren Handlungsnormen. Sie sind nicht das Resultat von Normen oder von Rechtfertigungen 41 Ders., a. a. O., S. 151 42 Ders., a. a. O., S. 155 43 Siep, Ludwig: Konkrete Ethik. Grundlagen der Natur- und Kulturethik. Verlag Suhrkamp, Frankfurt/M. 2004, S. 124
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durch Gründe, sondern liegen diesen zugrunde. Sie sind auch keine bloße subjektive Ergänzung objektiver Normen.«44 Wer einen Wert vertritt, ist davon überzeugt, dass dieser inhärent gut ist. Die Person würde ansonsten eine Haltung vertreten, die gegen sich selbst gerichtet ist. Taktische Gründe oder Spielereien lasse ich hierbei weg. Eine nähere Betrachtung der Wertewandel scheint mir in Bezug auf die Vergleiche wichtiger zu sein. Diesbezüglich ist zu fragen, ob der Wandel eines Wertes nicht die Werte in ihrer Gesamtheit infrage stellt. Siep führt dazu aus: »Der historische Wertewandel, der auch grundlegende Werte erfassen kann, lässt sich nach verschiedenen geschichtsphilosophischen Modellen interpretieren, die aber alle nur teilweise Plausibilität besitzen. Ich will hier nur auf drei Modelle und ihre Probleme hinweisen: das Modell der zufälligen Umwandlung, die dem bloßen Geschmacks- oder Modewechsel entspricht (a), das des Fortschritts der Werte nach dem Modell der Aufklärung, manchmal auch in Parallele zur Entwicklungspsychologie (b) sowie das der funktional-soziologischen Erklärung des Wertewandels nach den Erfordernissen der jeweiligen gesellschaftlichen Organisation (c).«45 Es gab darüber hinaus Werte, die als große Irrtümer in die Geschichte eingegangen sind, die aber für die Menschen der damaligen Zeit nahezu als eherne Gesetze gegolten haben. Nicht alle Werte, die man aufgegeben hat, stellten sich im Nachhinein doch noch als richtig heraus und waren keine Werttäuschungen, wie man ebenfalls irrig angenommen hatte. Beenden wir dieses Eingangskapitel mit einem Gedicht von Bertolt Brecht:46 Als ich sah, dass die Welt abgestorben war Als ich sah, dass die Welt abgestorben war Die Pflanzen, das Menschengeschlecht und alles übrige Getier der Oberfläche und des unteren Meergrunds Wuchs aber ein Berg Größer als die anderen Berge und als der Berg Himalaja Und die Weisheit gab ihm einen großen Buckel und 44 Siep, a. a. O., S. 126 45 Ders., a. a. O., S. 160 46 Viertel, Matthias: Mit Wittgenstein bei Kerzenschein. Ein Lesebuch für Nachdenkliche. Dtv Verlagsgesellschaft, München 2020, Bertolt Brecht: Als ich sah, dass die Welt abgestorben war, S. 116
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Einen größeren machte die Dummheit Das Licht verstärkte ihn, aber die Dunkelheit machte ihn Noch größer Also verwandelte die Welt sich in einen einzigen Berg, damit es von ihm heißen könne: dieser sei der größte! In dem Gedicht ist kein Vergleich mehr möglich. Weil es davon handelt, dass irgendein Berg eben der größte ist. Da ist dann in diesem Superlativ keine Steigerung mehr möglich. Logischerweise. Aber ist der Preis hoch, zu hoch? Denn der größte Buckel kommt durch die Dummheit zustande und das kann es ja für uns Menschen nicht sein. Wir streben immerzu nach Wissen, eventuell auch ein wenig nach Weisheit. Und dieses Wissen gerät immer, so meine hier dargelegte These, in die Fänge des Vergleichs. Wir müssen und können gar nicht anders, als jedes Ding, jeden Menschen, jede Verhaltensweise, jegliches Geschehnis als eine Kommensurabilität zu verstehen und sie sofort, ständig mit etwas Gleichem, das im Kern immer nur etwas Ähnliches ist, zu vergleichen. Wir sind im Vergleich gefangen und können nicht aus ihm heraus oder es ergeht uns wie im Gedicht von Brecht, aber da sind ja keine Menschen und nichts mehr übrig. Aber noch sind wir da und deshalb brechen wir auf, um zu vergleichen. No chance, wir sind dazu verdammt. Und so tun wir es eben. Dem Mythos von Sisyphos gleich. Immer wieder, endlos … Im Folgenden sollen nun exemplarische, subjektiv ausgewählte Beispiele in Dialogform47 vornehmlich aus den Sozialwissenschaften diese Vergleichbarkeit aufzeigen. Dabei erhebe ich keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es gibt eine Reihe von Vergleichen, auf die ich nicht näher eingehen werde. Insbesondere immer dann, wenn ich mich dabei als nicht besonders kompetent empfinden würde. Die für die Dialoge zufällig ausgewählten Namen entnahm ich einem Vornamen-Buch48.
47 Diese Dialogform entnehme ich: Platon. Gorgias. Verlag Reclam, Stuttgart 2014 48 Voorgang, Dietrich: Die schönsten Vornamen. Falken Verlag, Niedernhausen 1995
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Was vergleichen Schmerztabellen? Was vergleichen Schmerztabellen?
»Alle Dinge sind nur durch Vergleiche gut oder schlecht. Eine genügende Analyse wird zeigen, dass in allen Fällen der Genuss nur der Kontrast des Schmerzes ist. Positiver Genuss ist eine bloße Idee. Um bis zu einem gewissen Punkte glücklich sein zu können, müssen wir bis zu demselben Punkte gelitten haben. Niemals leiden heißt niemals glücklich sein.« (Edgar Allan Poe, US-amerikanischer Schriftsteller)1 Aaron: männlich, aus der Bibel übernommener Vorname hebräischen Ursprungs, eigentlich »Bergbewohner, Erleuchteter«; in der Bibel ist Aaron der ältere Bruder von Moses. Gwendolin: weiblich, aus dem Englischen übernommener Vorname, dessen Bedeutung unklar ist, eventuell zum keltischen »gwyn« (weiß). Aaron. Nun hör doch mal zu, Gwendolin. Gwendolin. Gib doch Ruhe, ich habe keine Lust. Mir tut alles weh. Aaron. Was hast du denn? Ist es schlimm? Gwendolin. Ach, das geht dich gar nichts an. Das, was ich jeden Monat habe, zum Glück. Aaron. Ach so, verstehe. Aber gerade über Schmerz wollte ich dir etwas erzählen. Gwendolin. Na also, worum geht’s denn? Aaron. Es geht um den Schmerz bzw. die Schmerzlosigkeit. »Heute herrscht über eine Algophobie (kursiv i. O., R. B.), eine generalisierte Angst vor Schmerzen«2, konstatiert Han. Damit einher geht ein starkes Absinken gegenüber der Schmerztoleranz. Alle sind gegenwärtig stets bemüht, jeglichen Schmerz zu vermeiden. Der gestiegene Konsum von Schmerzmedikamen1 2
Poe, Edgar Allan: Mesmerische Offenbarung, 1844 Han, Byung-Chul: Palliativgesellschaft. Schmerz heute. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2020, S. 7
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ten legt hiervon eindrückliches Zeugnis ab. Man könnte (fast) meinen, dass psychische und physische Schmerzfreiheit den eigentlichen Sinn des Lebens darstellen. Um wieder auf Han zurückzukommen: Dieser ist ferner der Meinung, dass man heute den Schmerz nicht hinterfragt, sondern ihm eine völlige Sinnlosigkeit zumisst. Schmerz ist in sich bedeutungslos. Welch Irrtum, denn im Schmerz liegt die Wahrheit.3 Gwendolin. Die Wahrheit? Also, ich weiß nicht. Das kann ich nicht so sehen. Da wäre mir etwas weniger Wahrheit lieber. Gut, es muss dann als Alternative ja nicht die Lüge sein. Trotzdem … Aaron. Klar. Es gibt auch noch viele andere Arten von Schmerz. Schmerz weist, so die Erklärung dieser Formulierung von Han, auf die Wirklichkeit, auf die Realität, auf die Lebensumstände hin, in denen wir uns tagtäglich bewegen. Auf eine gewisse, wie ich meine, Verherrlichung des Schmerzes, wie sie Han »besingt«, möchte ich hier nicht näher eingehen. Tatsache ist es aber sehr wohl, dass der Schmerz zur conditio humana gehört, wie das Atmen oder der Stoffwechsel. Wir können ihn nicht ausblenden, negieren, verleugnen. Er holt uns immer wieder ein und dies ab der Geburt bis zum Lebensende. Deine Schmerzen lassen ja immer nach ein paar Tagen nach. Wenn du schwanger würdest, hättest du diese Schmerzen nicht (grinst). Gwendolin. Vergiss es. Aber ich bin schon auch der Meinung wie Han, Schmerz gehört zum Leben. Er zeigt ja unsere Empfindungsfähigkeit als lebende Wesen auf. Aaron. Genau, du sagst es, und über das andere reden wir ein anderes Mal. Vor einigen Jahren ist man in den Krankenhäusern dazu übergegangen, den Patienten und Patientinnen jeweils eine Tabelle zu zeigen, auf denen Felder, nummeriert von 1 bis 10, aufgezeichnet sind. Damit ist dann jeweils die Frage verbunden, wie man seine momentane Schmerzempfindung auf dieser Skala von 1 bis 10 angeben würde. Auch ich bin schon mehrmals in den »Genuss« dieses Verfahrens gekommen. Aber ich habe mich jedes Mal gefragt, welchen Aussagewert diese Vergleiche, denn es handelt sich ja um solche, aufweisen. Ich soll mein eigenes Schmerzempfinden auf dieser Skala abgleichen. Bei 1 bin ich schmerzfrei und bei 10 halte ich es vor Schmerzen gar nicht mehr aus und verlange nach reinen Opiatabgaben (bitte!). Ich sage dann meistens: »6«. Eine zu tiefe Zahl erscheint mir nicht opportun 3
Vgl. ders., a. a. O., S. 43
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zu sein, denn ich befinde mich ja in einem Krankenhaus, und eine zu hohe Zahl will ich auch nicht angeben, weil ich ja nicht als Schwächling, sprich: Weichei, gelten möchte (ich bin so erzogen worden). Welche Zahl würdest du denn momentan deinen Schmerzen geben? Wie stark sind sie? Von eins bis zehn, bitte! Gwendolin. Ja, dass du ein Supermann bist, ist uns schon lange klar. Immer schön auf die Zähne beißen und den Starken spielen. Eine Zahl sage ich nicht, verweigert! Es ist so, wie es ist. Aaron. Also noch einmal: Welchen Wert hat diese Vergleichsskala und scheint es nicht vielmehr auch so, dass sie in einem hohen Maße subjektiv ist? Das beweist ja auch deine Verweigerung. Gwendolin. Ich habe einfach keine Lust dazu, bei Menstruationsschmerzen. Wenn ich etwas anderes hätte, würde ich es wohl machen. Ich finde diese Tabelle im Grunde nicht schlecht. Aaron. Ich sehe das schon etwas kritischer. Wenn es mir nämlich an dem Tag, an dem ich mich bewerten soll, schlecht geht, aus welchem Grund auch immer, aber nicht aus dem Grund, wofür ich im Krankenhaus bin, bin ich vermutlich eher geneigt, 7 oder sogar 8 anzugeben. Geht es mir sehr gut, weil ich z. B. weiß, dass meine Blutwerte in Ordnung sind, dass mein Sohn die Stelle, für die er sich beworben hat, auch bekommen hat, dann tendiere ich vermutlich eher zu 4, allerhöchstens 5. Es werden hier als Vergleiche gezogen, die, so unterstelle ich doch, für den Arzt oder die Ärztin von einer gewissen Relevanz sind, denn ansonsten würde er oder sie mir doch nicht vorlegen, oder? Also schwanken meine Angaben von ca. 3,5 bis 8,5 und das macht die ganze Sache dieser Vergleiche doch äußerst fragwürdig. Findest du nicht auch? Gwendolin. Möglich. Aber es gibt ihnen doch einen Anhaltspunkt, meine ich. Aaron. Genau das bezweifle ich ja. Betrachten wir die Sache aus der Sicht des Arztes oder der Ärztin. Die Tabelle muss doch für die behandelte Person einen gewissen Aussagewert haben. Sie vergleicht etwa meine Angabe von gestern (knapp 5) mit derjenigen von heute (starke 8) und meint: »Da geht es ihnen heute aber wesentlich besser, das freut mich außerordentlich.« Eine andere Ärztin war der Meinung, dass die »knappe 5« von gestern vermut-
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lich eher zu tief war und die heutige »starke 8« eher zu hoch. Für diese Ärztin fällt meine Besserung nicht im gleichen Stil aus wie im ersten Fall. Das heißt, dass die Vergleichstabelle auch für den Arzt oder die Ärztin nur von minderem Wert sein kann, weil sie ja deren Einschätzung unterliegt. Sie ist demnach doppelt nicht aussagekräftig. Gwendolin. Jetzt vergleichst du aber die Ärzte und Ärztinnen miteinander, wie sie die Aussagen der zu behandelnden Personen werten oder vergleichen. Das geht natürlich nicht. Könnte es nicht auch sein, dass du diese Tabelle etwas überbewertest? Es muss natürlich schon immer auch der gleiche Arzt oder die gleiche Ärztin sein, die die gleichen Personen befragen. Sonst ergibt es wirklich keinen Sinn. Aaron. Einverstanden. Also bleiben wir beim gleichen Arzt oder bei der gleichen Ärztin. Dies führt dann aber dennoch zu der Frage, warum es sie überhaupt gibt. Die Antworten, die ich auf diese Frage in Krankenhäusern erhalten habe, waren samt und sonders sehr unbefriedigend. Gwendolin. Da hast du dich ja wieder einmal besonders unbeliebt gemacht. Macht einem dann Freude, dich zu besuchen. Aaron. Alles nicht so tragisch. Aber zurück zur Tabelle. Man macht es eben, es wurde eingeführt, man will wissen, wie es dem Patienten oder der Patientin geht, und dergleichen mehr. Mir scheint dieses kleine Beispiel exemplarisch dafür zu sein, dass wir, auch wenn es sich nur um völlige ScheinObjektivität handelt, doch immer wieder von dem Gedanken beseelt sind, Vergleiche ziehen zu wollen. Kommt hinzu, dass der Schmerz als solcher, unabhängig von den zu behandelnden Personen sowie von den Ärzten und Ärztinnen völlig subjektiv betrachtet wird. Da hast du ja bereits zugestimmt. Gwendolin. Ja, habe ich. Also mache ich dir nun einen Vorschlag: Könnte es sein, dass es sich bei dieser völlig sinnlosen Vergleichsbefragung, wie du meinst, um eine Art Mitbestimmung des Patienten oder der Patientin handelt? Die betroffene Person kann sich zu etwas äußern, was im Grunde ohnehin keinen Wert, keine Bedeutung hat. Und um dieses Ziel zu verwirklichen, dass die Götter in Weiß nicht mehr über mein Schicksal als Patientin entscheiden können, legt man mir dann diese Vergleichsskala vor und suggeriert mir damit mein Recht auf Selbstbestimmung und gibt mir damit die Würde am und im Krankenbett zurück.
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Aaron. Hört sich nicht schlecht an. Aber überzeugt mich nicht so ganz. Nicht das, was du gesagt hast, sondern was den Zweck des Ganzen anbelangt. Aber, wie bereits ausgeführt, es handelt sich um eine Spiegelfechterei und man lässt es über sich ergehen, wie alles, was in einem Krankenhaus mit einem passiert. Damit man mich nicht abschließend falsch versteht: Ich war in meinem Leben diverse Male Patient in einem Krankenhaus und fühlte mich i. d. R. immer gut versorgt, behandelt und aufgehoben. Ohne die Schmerzvergleichstabelle wäre es mir aber ebenso gut gegangen. Man sollte sie wieder abschaffen. Sie vergleicht nichts und täuscht den Patienten und Patientinnen ein Mitwirken vor, das es in der Realität nicht gibt. Gwendolin. Wie immer: radikal. Es gibt Schlimmeres. Aaron. Das schon. Schopenhauer kannte zwar die Schmerztabelle noch nicht, aber es ist anzunehmen, dass er mit ihr gar nicht einverstanden gewesen wäre, sondern sie sogar in Bausch und Bogen als lächerlich abgelehnt hätte. Er schreibt: »Sein Leiden (das des Menschen grundsätzlich, R. B.) und Wohlsein wäre demnach gar nicht von außen, sondern eben nur durch jenes Maß, jene Anlage bestimmt, welche zwar durch das physische Befinden einige Ab- und Zunahme zu verschiedenen Zeiten erfahren möchte, im Ganzen aber doch dieselbe bliebe und nichts anderes wäre, als was man sein Temperament nennt, oder genauer, der Grad in welchem er, wie Plato es im ersten Buch der Republik ausdrückt, d. h. leichten oder schweren Sinnes wäre«4. Als Beleg führt Schopenhauer an, dass ein großer Schmerz alle kleineren gewissermaßen ersticken kann, wenn aber kein großer Schmerz vorhanden ist, die kleineren ins Uferlose dargestellt werden können. Er weist auch auf den Suizid hin, der für die Umwelt auf einer Schmerztabelle i. d. R. wohl immer mit ca. 10 angegeben wird. Es könnte aber sein, dass die Tat der Selbstauslöschung für den Betroffenen eine 1 wäre, weil die Aussicht von allen Schmerzen erlöst zu werden, erlöst zu sein, ihm ein sehr hohes Glücksgefühl verleiht. Gwendolin. Jetzt richtest du aber mit der ganz großen Kelle an. Da habe ich nichts entgegenzusetzen. Aber es verstärkt, was ich bereits gesagt habe, dass diese Tabelle die Kommunikation und damit die Interaktion zwischen
4 Schopenhauer, Arthur: Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften. Suhrkamp taschenbuch wissenschaft, stw 664, Frankfurt/M. 1986. Volpi: Die Stelle befindet sich in Die Welt als Wille und Vorstellung, Buch IV, § 57, S. 372–376.
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ärztlichem Personal und zu behandelnden Personen fördert und das ist doch etwas Gutes. Aaron. Das legitimiert m. E. aber diesen Aufwand nicht. Obwohl ich deine Argumentation nachvollziehen kann. Es wäre zu überlegen, ob man dieses große Ziel der gelungenen Kommunikation zwischen Arzt oder Ärztin und Patient oder Patientin nicht auch anders, ehrlicher, erreichen könnte. Gwendolin. Ich komme hier zwar nicht mit Schopenhauer, aber dafür mit einer Frau, die gute, sehr gute Bücher schreibt. In dem Buch von Leila Slimani »All das zu verlieren« erwähnt sie an einer Stelle diese Schmerzskala: »Nach fünfzehn Jahren Berufspraxis kann Doktor Robinson sagen, dass er den menschlichen Körper kennt. Dass ihn nichts abschreckt oder ängstigt. Er weiß die Zeichen zu erkennen, die Symptome zu deuten. Lösungen zu finden. Selbst das Leid kann er ermessen, wenn er die Patienten frage: ›Auf einer Skala von eins bis zehn, wie würden Sie Ihren Schmerz einschätzen?‹«5 Hierbei darf aber nicht vergessen werden, dass dieser Dr. Robinson zum einen wohl eher von seiner jahrelangen Erfahrung zehrt und andererseits in keiner Art und Weise erkennt, versteht und fühlt, wie es seiner Frau geht, was den eigentlichen Inhalt dieses Buches ausmacht. Aaron. Okay, nehme ich zur Kenntnis. Ich hoffe doch sehr, dass du mich nicht so einschätzt. Eine Überschneidung zur empirischen Ethik (8. Kapitel) ergibt sich dadurch, dass der Schmerzforscher und Philosoph Kevin Reuter durch Experimente versucht, dem Schmerz auf die Schliche zu kommen. Er will erreichen, dass herkömmliche Ansätze und philosophische Theorien zum Schmerz durch empirische Studien unterstützt werden. Schmerzen müssen bewusst wahrgenommen werden. Dabei ergibt sich oft ein Widerspruch, weil wir, wenn wir gefragt werden, wo es schmerzt, z. B. auf das Knie oder den Rücken etc. zeigen, den Schmerz aber eigentlich im Gehirn wahrnehmen. Schmerzen sind demnach komplexe Sinnesempfindungen. Wie bereits erwähnt, können wir Schmerzen auch nicht mit anderen Menschen unmittelbar teilen. Sie finden ausschließlich bei uns selbst statt. Reuter hat mittels Befragungen herausgefunden, dass wir starke Schmerzen haben, ist der Schmerz weniger stark, »sagt man dagegen eher, man fühle den Schmerz«6. Ungefühlte Schmerzen gibt es, laut Reuter nicht. Ein Gebiet, so Reuter weiter, über das wir noch wenig wissen, ist der Bereich des 5 6
Slimani, Leila: All das zu verlieren. Btb Verlag, München 2021, S. 171 Ryser, Simona: Wenn es weh tut. In: UZHmagazin, Heft 22, Jg. 1, S. 18
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chronischen Schmerzes, und wie sich dieser von einem akuten, momentanen Schmerz unterscheidet. Gwendolin. Interessant. Aber ich sehe es nicht so, sorry. Meine Menstruationsschmerzen habe ich, auch wenn ich sie nicht als stark bezeichnen würde. Ich fühle sie nicht nur. Also mit dieser Unterscheidung kann ich nicht so viel anfangen. Aaron. Müsste man mit Herrn Reuter einmal ins Gespräch kommen. Gwendolin. Aber nicht heute, weil ich Schmerzen habe, und zwar ca. 7,7. Aaron. Oh, das tut mir leid. Soll ich dir einen Tee machen? Gwendolin. Quatschkopf. Nein. Aber mir ist etwas anderes noch eingefallen. Es gibt auch das Umgekehrte, dass die Abwesenheit eines Leidensdrucks keineswegs darauf hindeutet, dass der Patient oder die Patientin keine Schmerzen hat. »Man hört oft von Pathologen, die im Rahmen der Autopsie eines unerwartet verstorbenen Menschen überrascht sind, dass dieser nicht schon Jahre früher gestorben ist. Fest steht jedenfalls, dass es keinen Grund gibt, warum der Verlauf einer Krankheit der betreffenden Person aufgrund von Schmerzen und Unwohlsein bewusst sein muss«7. Aaron. Guter Einwand! Auch dies zeigt die Relativität von Schmerzen und die Unmöglichkeit ihrer Erfassung auf. Zumal man von anerkannt realen Schmerzen sprechen kann, die aber im Rahmen normaler Prozesse und Abläufe existieren und denen man nicht mit einer Tabelle begegnen würde, wie z. B. dem Zahnen bei Säuglingen, den Menstruationsschmerzen (grinst) oder dem sicherlich sehr schmerzhaften Geburtsvorgang. Gwendolin. Du schaffst es ja immer wieder, dieses Thema ins Gespräch zu bringen. Vergiss es einfach. Aaron. Harari hat die Tabelle noch in einem anderen Zusammenhang erwähnt und stellt die ganze Sache auf den Kopf. Er erwähnt den Glücks-Fragebogen. Hier »sollen die Teilnehmer auf einer Skala von 0 bis 10 beurteilen, inwieweit bestimmte Aussagen auf sie zutreffen, z. B. ›ich bin zufrieden mit 7 Boorse, Christopher: Gesundheit als theoretischer Begriff. In: Schramme, Thomas (Hrsg.): Krankheitstheorien. Verlag Suhrkamp, Berlin 2012, S. 71
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meiner Lebenssituation‹, ›ich empfinde das Leben als lebenswert‹, ›ich blicke optimistisch in die Zukunft‹ oder ›das Leben ist gut‹. Die Wissenschaftler addieren diese Antworten und ermitteln so das subjektive Wohlbefinden der Teilnehmer«8. Gwendolin. So ein Unsinn, das Leben in seiner Güte und Qualität von 0 bis 10. Ich glaubs ja nicht. Das ist Quatsch. Aaron. Ist ja schon gut. Du behältst das letzte Wort. Gwendolin. Eben!
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Harari, Yuval Noah: Eine kurze Geschichte der Menschheit. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2013, S. 463
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Was vergleichen Intelligenztests?
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»Menschen mit Tieren zu vergleichen, das geht nicht. Der Intelligenzunterschied ist einfach zu groß. Fragt sich nur, auf welcher Seite …« (Stefan Wittlin, Hundetherapeut) »Im alltäglichen Sprachgebrauch verwenden wir ›Intelligenz‹ als Sammelbegriff für ›geistige Fähigkeit‹, für Klugheit und Denkvermögen, Vernunft und Verstand. Das Wort leitet sich aus dem lateinischen intelligentia her, der Befähigung zur Einsicht und Erkenntnis, der Fähigkeit wahrzunehmen und zu erkennen …«1 Joachim: männlich, aus dem Hebräischen übernommener Vorname, eigentlich »den Gott aufrichtet«. Jörg: männliche Nebenform zu Georg. Martin Luther benutzte diesen Namen (Junker Jörg) als Tarnnamen, als er sich auf der Wartburg versteckt hielt. Muriel: weiblich, aus dem Englischen übernommener Vorname mit unklarer Bedeutung (eventuell: glänzende See). Muriel. Ein sehr bekanntes Beispiel für einen sogenannten objektiven Vergleich ist der Intelligenztest. Hierüber existiert umfangreiche Literatur. In meinem Studium zur Sonderschullehrerin in den 1970er-Jahren mussten wir auch ein einsemestriges Testpraktikum absolvieren, indem wir in die Geheimnisse des Testens, insbesondere der Intelligenz, eingeführt wurden. Ein Intelligenztest ist deswegen objektiv, so wurde uns erläutert, weil er geeicht, d. h. standardisiert worden ist. Jörg. Das bedeutet für einen Normalsterblichen was? Muriel. Man nehme also ca. 1500 Menschen, die sich in ihrer Auswahl in etwa in Bezug auf diverse kognitive Eigenschaften gleich sind. Das heißt
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Pawlik, Kurt: In: Buchmüller, Willfried; Jakobeit, Cord (Hrsg.): Erkenntnis, Wissenschaft und Gesellschaft. Wie Forschung Wissen schafft. Verlag Springer, Berlin 2016, S. 65
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Menschen mit Schizophrenien, Wahnvorstellungen und anderen psychischen Erkrankungen scheiden schon mal per se aus der Stichprobe aus. Joachim. Kann man die denn so genau identifizieren? Glaube ich eigentlich nicht. Muriel. Weiß ich nicht. Aber man tut es eben. Joachim. Kommt so nicht das ganze Gerüst ins Wanken? Muriel. Weiß ich nicht. Aber kann ich jetzt weitermachen? Jörg. Bitte. Muriel. Die Menschen, die zur Stichprobe gehören, werden also in Bezug auf verschiedene Fertigkeiten, die man der Intelligenz zuschreibt, d. h. mit dieser in einem hohen Maße korrelieren, was wiederum auf ein Messvergleichsverfahren hindeutet, untersucht und ihre Ergebnisse werden gemittelt. So erhalten wir etwa vom Kurzzeitgedächtnis Werte, die man als normal bezeichnet, weil sie von der größten Menge der untersuchten Population erbracht worden sind. Dies passiert dann in der genau gleichen Art und Weise mit anderen kognitiven Fertigkeiten, die man für die allgemeine Intelligenz als relevant erachtet. Wer erachtet dies? Darauf gehen wir nicht näher ein, weil ich es nicht weiß. Joachim. Aha. Muriel. Ich habe oben den Begriff »normal« verwendet. Auch dieser lässt sich in diesem Zusammenhang näher quantifizieren und damit einem Vergleich zuführen. Man rekurriert damit nämlich auf die Gauß’sche Normalverteilungskurve. Jörg. Gauß … habe ich schon mal gehört. Der mit den Kurven. Muriel. Genau. Diese Kurve sagt aus, dass bei einem Intelligenztest, bei dem der Mittelwert immer auf 100 lokalisiert wird, ein erreichter Wert ab 85 IQ-Punkten bis zu den besagten 100 als eine leicht verminderte Intelligenz bezeichnet wird. Diese 15 Punkte bilden ein Sigma und so kann man natürlich auch rechts vom Mittelwert, wir befinden uns dann bei erreichten IQ-Punkten von 100 bis 115, die Intelligenz bestimmen und sprechen hier
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von einer leicht überdurchschnittlichen Intelligenz. Ein solches Sigma entspricht im Übrigen jeweils 34 %. Wir stellen also fest, dass sich gemäß der Gauß’schen Normalverteilungskurve 6 % der Menschheit in einem Durchschnittsbereich bezüglich der Intelligenz liegen.2 Logischerweise können wir nun wieder je 15 IQ-Punkte dazu- oder abzählen und sind dann links vom Mittelwert bei 70–85 IQ-Punkten und rechts bei 115–130 IQ-Punkten. Da die Kurven natürlich rechts und links abflachen, finden wir nun auch kleinere Prozentwerte. Sie betragen je 14 %. Dies wiederum bedeutet, dass sich nur noch 14 % in einem IQ-Bereich von 70 bis 85 IQ-Punkten befinden und man hier von einer leichten bis mittleren geistigen Behinderung spricht. Auf der rechten Seite (115–130 IQ-Punkte) sprechen wir von einer überdurchschnittlichen Intelligenz. Es bleiben nun noch auf jeder Seite je 2 %-Punkte und wir befinden uns bei Menschen, die einen IQ von unter 70 bzw. über 130 aufweisen. Wir sprechen von einer starken geistigen Behinderung und andererseits von einer hohen, überdurchschnittlichen Intelligenz. Ein Test, der exakt nach diesem Muster funktioniert, wie ich es hier dargestellt habe, ist der Hamburg-Wechsler-Intelligenztest. Dieser wurde sowohl für Erwachsene als auch für Kinder standardisiert. Joachim. Alles schön und gut. Man ist demnach versucht, Intelligenzunterschiede, die es zweifellos gibt, durch ein metrisches Verfahren vergleichbar zu machen. Dies auf einer naturwissenschaftlichen Ebene. Jörg. Finde ich spannend. Im Grunde machen doch Vergleiche nur so einen Sinn. So kann man wenigstens vergleichen, finde ich. Muriel. Sehen nicht alle Menschen so. Über den Wert bzw. Un-Wert von solchen Intelligenzvergleichen ist in früheren Jahren sehr viel geschrieben worden. Man hat sich gefragt, was so ein Test überhaupt aussagen kann. Man war oft überzeugt: nicht allzu viel. Über den Erfolg im Leben, in der Schule oder in einem Studium wurde viel gerätselt. Die Ergebnisse hierzu, auf die ich nicht näher eingehen möchte, waren oft widersprüchlich. Man gelangt dann zu Fragen wie jenen, ob schulischer Erfolg mit Erfolg im Leben gleichzusetzen ist oder was man eigentlich unter »Erfolg im Leben« zu verstehen habe.
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Vgl. Nguyen-Kim, Mai Thi: Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit. Wahr, falsch, plausibel? Die grössten Streitfragen wissenschaftlich geprüft. Verlag Droemer, München 2021, S. 200 ff.
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Joachim. Genau. Meine ich auch. Es ist doch ein Riesenunterschied, ob ich Testergebnisse mit dem Erfolg in der Schule oder im Berufsleben vergleiche. Geht eigentlich nicht. Jörg. Ich denke, dass es da doch wohl schon gewisse Überschneidungen geben kann. Wer in einer Förderschule war, wird wohl kaum promovieren. Muriel. Wenn ich mal wieder eingreifen darf. Pragmatisch Denkende waren der Meinung, dass Intelligenz als hochkomplexes Phänomen letztlich nicht zu definieren sei, und vertraten die Ansicht, dass Intelligenz das sei, was der Intelligenztest misst. Andere wiesen darauf hin, dass der oben erwähnte Hamburg-Wechsler-Intelligenztest zu sprachlich orientiert sei und deshalb Kinder aus Familien, in denen vorrangig ein elaborierter Sprachcode (Basil Bernstein) gepflegt würde, gegenüber Kindern aus sogenannten bildungsfernen Familien, in denen eher ein restringierter Code vorherrschend wäre, bei dieser Art von Tests so stark bevorteilt wären, dass ein solcher Test die Frage nach einer objektiven Vergleichsmessung der Intelligenz ad absurdum führen würde. Joachim. Aber so genau. Meine Rede. Jörg. Aber Muriel formuliert es besser. Lass sie mal weitererzählen. Muriel. Eine andere kritische Stoßrichtung kam von jenen, die darauf hinwiesen, dass Intelligenz eben nicht alles ist. Es wurde die Existenz einer emotionalen Intelligenz (Daniel Goleman) postuliert. Im Sogwasser dieser Veröffentlichung wurde dann auch von einer Intelligenz in Bezug auf das Erlernen eines Instrumentes, einer motorischen Intelligenz beim Sport etc. gesprochen. Nur am Rande sei hier ebenfalls noch erwähnt, dass man beim bereits erwähnten Intelligenztest von einem Messfehler von plus/minus 5-IQ-Punkten ausgeht. Das bedeutet, dass mein gemessener Wert von z. B. 100 jeweils zwischen 95 und 105 IQ-Punkten zu liegen kommt. Frau Stern, Professorin für empirische Lehr- und Lernforschung an der ETH Zürich, ist allerdings der Meinung, dass das, »was als emotionale Intelligenz bezeichnet wird, … schlicht Etikettenschwindel«3 ist. Bei dieser Aussage beruft sich Stern auf den Sachverhalt, den ich selbst gut nachvollziehen kann, dass die Messqualität eines emotionalen Tests nie das Niveau eines die 3
Stern, Elsbeth: Soll der IQ mit emotionaler Intelligenz erwähnt werden? Nein. In: Horizonte. Das Schweizer Forschungsmagazin, Nr. 131, Dezember 2021, S. 51
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Kognition messenden Tests erreichen kann. Intelligenzaufgaben lassen sich auf sehr genau abgestuften Skalen angeben und deren Ergebnisse können anschließend auch miteinander verglichen werden. Dies ist bei Emotionen nicht der Fall. Emotionen sind Empfindungen, die von jedem Menschen anders wahrgenommen werden. Wie sollen hier Vergleiche stattfinden können. Die Ausführungen zum bereits erwähnten Schmerzquotienten weisen in die gleiche Richtung. Je subjektivere Werte auf einer Skala wiederzugeben versucht werden, desto weniger vergleichbar sind sie, streng genommen. Joachim. Gut, nun hast du einerseits den IQ-Test dargestellt, ihn gleichzeitig aber auch wieder kritisiert. Die anderen Tests, insbesondere wenn es um Emotionen geht, sind noch weniger zu gebrauchen. Was machen wir damit, wo stehen wir hierbei? Sag uns deine Meinung. Muriel. Das ist nicht so einfach, aber ich versuche es natürlich trotzdem. So führte also die Entwicklung von der menschlichen Vernunft über den Verstand schließlich zur Intelligenz, die man mittels Quantifizierung zu definieren suchte. Wie das Wenige, das ich hier ausgesagt habe, zeigte es sich bald, dass dies ein hoffnungsloses Unterfangen war. Retrospektiv gedacht könnte sogar gefragt werden, ob die Intelligenz, wie sie heutige Tests zu fassen versucht, auch der Vernunft näher auf die Spur gekommen ist. Vernunft sei hier verstanden als ein Verhalten, es kann auch nur gedanklich sein, das eine Situation sinnvoll angeht, angehen möchte. Aber wir gelangen erneut in Teufels Küche: Was heißt hier »sinnvoll«? Was dem einen sein Uhl, ist dem anderen seine Nachtigall, sagt der (intelligente?) Volksmund. Aber damit wollen wir uns hier nicht zufriedengeben und resümieren mit einer Aussage von Pawlik, dass es im Wesentlichen zwei Basisfähigkeiten gibt, die für eine allgemein verstandene Intelligenz von besonderer Bedeutung sind. Da ist zum einen die hohe Geschwindigkeit, mit der Informationen aufgenommen werden können. Man muss der betreffenden Person nicht mehrmals erklären, worum es geht, sie kapiert es auf Anhieb. Zum anderen spielt eine hohe Effizienz des Arbeitsgedächtnisses ebenfalls eine entscheidende Rolle.4 Damit können Zwischenschritte und Denkergebnisse sofort abgerufen und miteinander korrekt verbunden, kombiniert werden. Das heißt, dass die betreffende Person sofort in der Lage ist, das neue mit dem alten, bereits erlernten Wissen zu verbinden. Wir treffen hier auf das von Piaget bereits vor Jahrzehnten beschriebene Merkmal der Assimilation und Akkommodation, die in einem ständigen Wechselspiel zueinanderstehen 4
Vgl. Pawlik, a. a. O., S. 83
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(müssen). Auch für Piaget stellt diese Fähigkeit ein besonderes Merkmal für eine hohe Intelligenz dar. Jörg. Ich brauche eine Pause, weil ich das alles nicht so schnell aufnehmen kann. Bin wohl eher etwas weniger intelligent. Joachim. Witzbold. Damit zeigst du ja gerade, wie intelligent du bist. Du willst Zeit, um das Gehörte verarbeiten zu können. Aber ehrlich, auch mir täte eine kleine Pause gut. Zum Glück habe ich mich mit der Theorie von Piaget bereits einmal auseinandergesetzt, auch wenn es schon Jahre her ist. Muriel. So, Pause vorbei, es geht auf zu neuen Ufern, äh, Vergleichen. Bourdieu weist auf eine Besonderheit im Rahmen der Intelligenzforschung hin, die es mir hier wert erscheint, ebenfalls erwähnt zu werden. Er spricht vom Rassismus der Intelligenz und meint damit, dass dieser »die charakteristische Form der Soziodizee einer herrschenden Klasse« ist, »deren Macht zum Teil auf dem Besitz von Titeln wie den Bildungstiteln beruht, die als Gewähr für Intelligenz gelten und in vielen Gesellschaften sogar beim Zugang zu den ökonomischen Machtpositionen an die Stelle der alten Titel wie etwa der Eigentums- oder Adelstitel getreten sind«5. Als Beleg hierfür gibt Bourdieu die »Scheinverwissenschaftlichung des Diskurses«6 an. Auch der Intelligenztest ist für Bourdieu ein Ausleseinstrument für die Eliten und dient der Aussonderung der Intelligenzschwachen. Ich lasse diese Aussage hier mal so stehen, nicht ohne zu bemerken, dass es schon immer ein Zweck (unter anderen) von Schule war, a) die Kinder zu disziplinieren und b) zu selektieren. Wenn nun der Intelligenztest, was wohl der Fall ist, in hohem Maße mit dem Schul- und auch dem Studienerfolg korreliert, so ist es eben nicht verwunderlich, wenn er hierzu eingesetzt wird.7 Natürlich ist diese Kritik von Bourdieu insbesondere den Psychologen und Psychologinnen nicht fremd geblieben. Aber auf die Tests wollte man doch nicht verzichten und sie sind heute immer auch Bestandteil von z. B. schulpsychologischen Abklärungen.
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Bourdieu, Pierre: Der Rassismus der Intelligenz. In: Soziologische Fragen. Verlag Suhrkamp, Frankfurt/M. 1993, S. 252 ff. Ders., a. a. O., S. 253 Eine umfassende Studie zu den unterschiedlichsten Tests liefert: Strasser, Urs: Wahrnehmen – Verstehen – Handeln. Förderdiagnostik für Menschen mit einer geistigen Behinderung. Verlag der Schweizerischen Zentralstelle für Heilpädagogik, Luzern 1994 (2. Aufl.)
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Jörg. Da hat dieser Bourdieu aber den Psychologen und Psychologinnen ganz schön Feuer unter dem Hintern gemacht. Muriel. Ja, könnte man sagen, aber sie haben sich nicht sonderlich beeindruckt gezeigt. Joachim. Ich bin beeindruckt, was da dieser Monsieur Bourdieu von sich gegeben hat. So habe ich es noch nicht gesehen. Aber es ist Wasser auf meine Mühlen, ach, was sage ich, ein Wasserfall ist es. Ich danke dir, Muriel, dass du diesen, wie ich finde, eminent wichtigen Teil in unsere Diskussion eingebracht hast. Muriel. Gerne. Die Psychologen und Psychologinnen gaben sich aber nicht so schnell geschlagen und haben die Gütekriterien um eine Vielzahl erweitert, um insbesondere ethisch-normierten Einwänden die Stirn bieten zu können. Kothgassner und Bertacco haben eine solche Liste von Gütekriterien erstellt.8 Ich stelle sie euch hier vor: »1. Objektivität: Unabhängigkeit der Ergebnisse vom Untersuchenden oder Beobachtenden. 2. Reliabilität: Genauigkeit, mit der eine Messung durchgeführt wird. 3. Validität: Gültigkeit der Messung, also die Prüfung, ob tatsächlich die Eigenschaft gemessen wird, die behauptet wird zu messen. 4. Normierung: Relativierung der individuellen Testergebnisse durch einen adäquaten Vergleich mit einem gültigen Bezugssystem. 5. Skalierung: Adäquate Abbildung der Verhaltensrelationen über verschiedene Bedingungen und Situationen. 6. Zumutbarkeit: Die Person wird weder in motivationaler, emotionaler, zeitlicher, körperlicher oder psychischer Form überlastet. 7. Ökonomie: Testungen sollten ökonomisch sein und in einem positiven Kosten-Nutzen-Verhältnis für alle Beteiligten stehen. 8. Unverfälschbarkeit: Es ist der Person nicht möglich, ihre Testdaten absichtlich zu verfälschen. 9. Fairness: Das Verfahren diskriminiert Personen nicht aufgrund irrelevanter Einflüsse.«
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Kothgassner, Oswald D.; Bertacco, Marilena: Ethische Prinzipien in der (klinisch-) psychologischen Diagnostik. In: Felnhofer, A.; Kothgassner, O. D.; Kryspin-Exner, I. (Hrsg.): Ethik in der Psychologie. Facultas Verlag, Wien 2011, S. 227
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Ganz schön viel Holz, ich weiß. Aber das ist der Stand so in etwa, wie man das heute sieht. Man vergleicht nach wie vor unsere Intelligenzen. Weil man eben nicht auf die Vergleiche verzichten kann oder will. Jörg. Ich muss mir diese Gütekriterien in Ruhe noch einmal zu Gemüte führen. Auf den ersten Blick erscheinen sie mir sehr logisch und nachvollziehbar zu sein. Joachim. Natürlich sehe ich es kritischer. Es ist wohl eher der Versuch, die Vergleichbarkeit zu retten, indem man ethische Standards formuliert, um die IQ-Tests zu retten. Muriel. So kann man es durchaus sehen. Ich meine, was sowohl Jörg als auch Joachim gesagt haben. Noch ein Schmankerl zum Schluss: Wenn man Lust hat, seinen eigenen IQ zu testen und zu berechnen, kann man sich an die Veröffentlichung von Serebriakoff halten.9
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Vgl. Serebriakoff, Victor: Der IQ-Selbst-Test. So errechnen Sie ihren Intelligenz-Quotienten. Verlag Wilhelm Heyne, München 1986 (4. Aufl.)
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4 Sind Analogien nicht immer auch Vergleiche? »Vergleichen Sie die Trauer um Terrortote mit der Trauer um Hungertote.« (Manfred Hinrich, deutscher Philosoph und Schriftsteller) Myrta: weiblich, aus dem griechischen »myrtos« (die Myrte), im übertragenen Sinne bedeutet der Vorname »mit Myrten geschmückt«. Seit dem 16. Jahrhundert dient die Myrte als immergrüne Pflanze als Brautschmuck. Prisca: weiblich, aus dem lateinischen »priscus«, nach alter Art streng, ernsthaft. Prisca. Wenn wir von Vergleichen sprechen, müssen wir auch über Analogien reden. Myrta. So, müssen wir das. Warum müssen wir das? Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht. Worüber du dir immer den Kopf zerbrichst. Oh, war das jetzt schon eine? Prisca. Hierbei geht es um Ähnlichkeiten, Gleichheiten von Dingen, Sachverhalten, die zueinander in ein Verhältnis gesetzt werden. Es wird eine Quasi-Gleichheit hergestellt, die zu einem Vergleich führt. Myrta. Also war ich mit dem zerbrochenen Kopf gar nicht so weit vom Thema weg. Es heißt ja einfach, dass ich mir noch nie Gedanken dazu gemacht habe, und diese finden bekanntlich im Kopf statt. Prisca. Genau! Du bist schlau, versuchst es aber, immer wieder zu verdecken, um als ein unbeschriebenes Blatt zu gelten. Etwas unfair, wie ich finde. Myrta. Geht es nun um die Analogien oder um meinen Charakter, also ich möchte doch bitten. Prisca. Ist ja gut, nun sei nicht gleich eingeschnappt. Also wir suhlen uns ja bereits in solchen Analogien. Die zueinander in ein Verhältnis gesetzten Dinge sind nicht »gleich« im Sinne von identisch, aber es besteht ein Zusammenhang oder er wird konstruiert. Dieser Zusammenhang kann weit hergeholt sein und überrascht eventuell gerade dadurch, weil er eben exis-
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tiert. Der Zusammenhang und das ist hier wichtig, wird vom Menschen hergestellt, er ergibt sich nicht als ein Automatismus. Es braucht hierfür keine objektive Übereinstimmung. Wenn wir z. B. sagen, dass dieser Mensch einem Löwen gleicht, so meinen wir damit, dass er stolz und mutig ist oder dass er wie ein Löwe gekämpft hat. Myrta. Verstehe. Das hört man ja noch oft. Oder beispielsweise er – i. d. R. ist es ein er – ist dreckig wie ein Schwein. Prisca. Genau. Aber der Zusammenhang ist hier ein doppelter. Zum einen wird diesem Menschen Stolz, Mut etc. zugewiesen, die man vorgängig bereits bei einem Löwen konstatiert hat. Dass ein Löwe – es geht auch hier vorrangig nur um die männliche Variante – stolz, kampfstark und mutig ist, ist Allgemeinwissen bzw. überliefertes Wissen, somit ein Kulturgut und wird nun auf diesen Menschen übertragen, damit ist die Analogie, der Vergleich hergestellt. Wir haben es hier demnach mit Vergleichen zu tun, die nicht ganz gleich, aber doch ähnlich sind, wenn auch diese Ähnlichkeit streng genommen gar nicht besteht, sondern ein Artefakt ist.1 Gleichwohl wird eine Entsprechung hergestellt. Der Mensch, der hier beschrieben wird, hat einen Lockenkopf, der einer Löwenmähne ähnelt, und deshalb ist dieser Mensch ebenso mutig und stolz. Analogieschlüsse beruhen demnach auf Übereinstimmungen UND Differenzen zwischen Entitäten, Situationen, die analog gesetzt werden, aber nicht identisch sind. Myrta. Verstehe. Doppelt meint wohl, dass wir eine Analogie aus dem Tierreich auf einen Menschen übertragen und damit einen Vergleich herstellen, den es aber gar nicht gibt, weil die jeweilige Analogie dem Tier ziemlich egal ist. Wir sprechen dem Tier also eine Eigenschaft zu, um sie dann wieder dem Menschen zuzuschreiben. Das ist dann wohl das Artefakt. Habe ich das so korrekt verstanden? Prisca. Aber ganz genau, meine Liebe. Ob sich ein Pfau stolz fühlt, wissen wir ohnehin nicht, und es könnte auch sein, dass er diesen Stolz2 überhaupt nicht in seinem genetischen Repertoire hat. Wir machen folglich eine
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Vgl. Schiller, Hans-Ernst: Ähnlichkeit und Analogie. Zur Erkenntnisfunkton des mimetischen Vermögens. Verlag Frank & Timme, Berlin 2021 2 Vgl. Bonfranchi, Riccardo: Stolz – Kulturanthropologische Betrachtungen. Verlag Athena, Bielefeld 2022
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Zuschreibung, hier den Stolz, den wir dann auf einen sich stolz gebenden Menschen übertragen. Myrta. Und warum tun wir das eigentlich? Prisca. Darüber kann ich nur spekulieren. Vielleicht, so meine Überlegung, ist es eine Art Höflichkeitsform. Myrta. Verstehe ich nicht. Prisca. Wenn man zu jemandem sagen würde: »Du bist zu dreckig«, oder: »Du bist zu stolz«, käme das einer frontalen Beleidigung gleich. Deshalb wird die Aussage über den Umweg des Tieres wohl etwas gemindert. Das ist eine These von mir, ob sie hilfreich ist, wäre eine andere Diskussion. Myrta. Okay, ist für mich aber plausibel. Machen wir einfach weiter. Prisca. Wenn wir die These von Hofstadter und Sander3 betrachten, die Analogien als verantwortlich dafür bezeichnen, dass wir Begriffe bilden, und diese wiederum für das Denken schlechthin notwendig sind, wird einem bewusst, wie wichtig die Bildung von Analogien ist. Die beiden Autoren gehen sogar davon aus, dass die Analogiebildung der Ursprung unseres Vermögens ist, Begriffe zu bilden, und Analogien überhaupt dafür verantwortlich sind, dass Begriffe überhaupt entstehen können. »Wir möchten sagen, dass die Analogie der Treibstoff und das Feuer des Denkens ist«4. Die Bildung von Analogien beschäftigt uns immer, dauernd, d. h. in jedem Augenblick unseres Denkens. Die Bildung von Analogien, so die beiden Autoren weiter, ist eine mentale Funktion.5 Myrta. Scheint so, als ob wir es mit etwas sehr Wichtigem zu tun haben. Dass es allerdings so wichtig ist, wie die beiden Autoren es sehen, das wiederum hätte ich nicht gedacht. Prisca. Historisch betrachtet ist zudem von Interesse, dass die Menschen zu Descartes (1596–1650) Zeiten vom Gegensatz von Geist und Materie faszi3 4 5
Hofstadter, Douglas; Sander, Emmanuel: Die Analogie. Das Herz des Denkens. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2018 (3. Aufl.), S. 17 Dies., a. a. O., S. 17 Vgl. dies., a. a. O., S. 35
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niert waren. So hatten die Menschen zur damaligen Zeit ein großes Interesse an Mechanik, an Maschinen und Uhren und so war es nicht erstaunlich, dass sie das menschliche Funktionieren im Sinne von Anatomie und Physiologie in einen Vergleich zu den von ihnen hergestellten Maschinen setzten. So wurden die menschenähnlichen Automaten zu einem Sinnbild dafür, dass der Mensch, wenn auch weitaus komplexer und komplizierter, aber eben doch, und das ist der Vergleich, nur ein Automat ist.6 Myrta. Da geht mir ja eine Welt auf. Aber das trifft man ja noch oft, dass der Mensch als ein Automat, als eine Maschine verstanden wird. In Bezug auf das Herz wird es dann ganz schlimm. Zum einen soll es der Sitz der Gefühle sein, so im Sinne von: »Dein ist mein ganzes Herz«, und was noch alles der Liebesschmerz sein soll. Und zum anderen ist es lediglich eine Pumpe, die mithilfe der Lunge venöses Blut in arterielles umwandelt. Aber es zeigt doch, dass Analogien für uns Menschen nahezu lebensnotwendig sind. Prisca. Ja, sicher, wenn man sich auf den Bereich der Sprachbildung und damit auch auf das Denken bezieht. Für mich kippen diese Vergleiche immer von der einen zur anderen Seite. Ich habe meinem Liebsten auch schon von meinem Herzen geschrieben, aber meinte damit nicht eine Klappe oder einen Stent nach Infarkt, sondern es ging natürlich nur um meine Gefühle. Myrta. Kenne ich die Person? Ist es etwa jemand Neues? Prisca. Myrta, bitte. Wir wollen doch hier sachlich bleiben. Myrta. Okay, aber du erzählst es mir dann später. Versprochen? Prisca. Gar nichts werde ich tun. Vielleicht ein wenig. Aber back to the subject: Verwandt mit der Analogie ist die Metapher, die sich eher einer Bildsprache bedient. Aber auch hier geht es um einen Vergleich, weil man etwas mit etwas anderem darzustellen versucht. Bei der Metapher findet eine Übertragung statt, gewissermaßen von einem Bild auf ein anderes. Das letztere soll dann zu mehr Klarheit verhelfen. Ursprünglich bedeutete die Metapher bei den Griechen eine konkrete Handlung, indem ein Gegenstand von einem Ort an einen anderen transportiert, getragen wird. Bei Aristoteles geht es dann bei der Metapher darum, dass man etwas Ähnliches erkennen 6
Vgl. Gaarder, Jostein: Sofies Welt. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2012 (18. Aufl.), S. 285
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kann. Dies ist ohne einen Vergleich, der das Gemeinsame und das Verschiedene identifiziert, nicht möglich.7 Myrta. Schon verstanden, ich wäre aber für etwas mehr Konkretisierung dankbar. Prisca. Grassi liefert zwei Beispiele, die für ihn als besonders typische Formen von Metaphern dienen, nämlich 1. den Tanz und 2. das Spiel. »Die ursprüngliche Bedeutung des Tanzes ist sakral: In der mythischen Welt beschwört er das Wirken einer göttlichen Macht; Gemeinsamkeit stiftend, das Dasein in seiner Gesamtheit vergegenwärtigend, in seiner Ur-gebundenheit; Tanz als Fest – d. h. als Erhebung über die Un-ordnung, über das Relative, über das Subjektive«8. Das Spiel näher zu beschreiben, würde hier den Rahmen bei Weitem sprengen. Wir kennen die Spiele der Kinder, das Sotun-als-Ob, die Rollenspiele wie Vater-Mutter-Kind, aber auch die Schauspiele im Theater etc. Überall wird mit Metaphern »gespielt« und unablässig vergleichen wir Realitäten mit Realitäten im Spiel. Noch einmal Grassi: »Nach Cicero wirkt die Metapher wie ein ›Licht‹, denn sie setzt die Einsicht in ›Beziehungen‹ voraus: Da diese Beziehungen unter den verschiedensten Erscheinungen aufgedeckt werden können, ist eine Übertragung stets möglich«9. Grassis Fazit sieht so aus, dass er meint, dass wir einen großen Mangel an »eigentlichen« Begriffen, Bezeichnungen haben und uns deshalb um Metaphern und, wie ich meine, auch um Analogien bemühen, weil ohne sie kaum auszukommen ist. Sie helfen uns, komplexe Dinge anschaulicher zu machen und so besser in einen Vergleichsprozess zu finden. Myrta. Ich bin auf eine andere Metapher gestoßen und habe diese dann im Internet recherchiert. Darf ich sie dir vorstellen? Natürlich mit Bild! Prisca. Ich bitte darum. Ich bin gespannt. Myrta. Also. Es gibt doch den Begriff der Vanitas. Das bedeutet, aus dem Lateinischen herkommend, so viel wie »leerer Schein«, »Nichtigkeit«, aber auch »Eitelkeit«. Der Begriff verweist auf die Vergänglichkeit allen irdischen Lebens. Nun kommt die Überleitung zu den Bildern. Mit den Vanitassym7 8 9
Vgl. Grassi, Ernesto: Die Macht der Phantasie. Verlag Athenäum, Königstein/Ts. 1979, S. 52 Ders., a. a. O., S. 54 Ders., a. a. O., S. 63
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bolen soll nun an die Vergänglichkeit des Lebens erinnert werden. Häufige Vanitassymbole sind der Totenschädel, die erlöschende Kerze, die Sanduhr und die verwelkte Blume. Manchmal werden auch mehrere dieser Symbole zu einem Vanitas-Stillleben vereint. Prisca. Interessant. Man lernt nie aus. Myrta. Ich bin noch nicht fertig. Prisca. Oh, sorry, my dear. Myrta. Macht nichts. Ich wollte nämlich jetzt noch auf David Bailly zu sprechen kommen. Dieser wurde 1584 in Leiden geboren, war Maler und starb 1657. Er hat einige Stillleben mit Vanitassymbole gestaltet, d. h. gemalt. In einem Bild malte er sich als Selbstporträt selbst. Er ist darauf zweimal zu sehen. Das Bild stellt ihn selbst als Maler dar, der aber sich selbst malt. Dabei hat er eine Umkehr angewendet. Als er das Bild malte, war er selbst schon alt. Auf dem Bild ist aber der Maler als junger Mann dargestellt. Er, wie er aussah, als das Bild gemalt wurde, ist trotzdem zu sehen, auf dem Bild, das auf dem Tisch steht und sein jüngeres Ich in der Hand hält. Daneben steht ein weiteres Bild im Bild, das seiner verstorbenen Frau. Prisca. Ziemlich verzwickt, diese Konstellation. Aber man kann die Vergleiche von Alt und Jung und die Vergänglichkeit, das Altern gut erkennen und nachvollziehen. Wirklich schön. Myrta. Ja, mir gefällt das Bild auch gut. Prisca. Auf dem Bild sieht man noch die vertrockneten Blumen, das umgefallene Weinglas, die Sanduhr, die Seifenblasen, die gerade erloschene Kerze, die zerbrechlichen Tonpfeifen und den Totenkopf. Myrta. Beeindruckend. Prisca. Ja, aber was ich hierbei noch besonders bemerkenswert finde, ist, dass Bailly auch andere Dinge, die für das Leben stehen, gemalt hat. Es ergibt sich somit ein Kontrast von Leben und Tod. Myrta. Jetzt geht es aber in die Vollen. Mein Gott.
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Prisca. Logisch. Wir haben die Bücher, die antiken Statuen, das Bild vom Mann mit der Laute, dann noch eine Flöte. Das weist auf die Musik hin und die Lebensfreude. Auch eine starke Metapher, wie ich meine. Myrta. Sehe ich auch so. Prisca. Ja, aber es gibt noch mehr, was auf das Leben im Allgemeinen hindeutet. Ein mit Sekt gefülltes Glas, Guldenmünzen, Perlenketten und eine goldene Taschenuhr etc. Myrta. Aber er wollte wohl auch zeigen, dass er gebildet und wohlhabend war. Prisca. Kann schon sein. So genau weiß ich das nicht. Tatsache ist aber, dass die Vanitassymbole zur damaligen Zeit eine große Bedeutung hatten und in den »höheren« Kreisen bekannt und beliebt waren. Ob es das »gemeine« Volk auch so gesehen hat, wage ich zu bezweifeln. Myrta. Richtig. Und heute wird ja alles, was als Allegorie oder Metapher mit dem Tod zu tun hat, verdrängt, als ob er nicht existieren würde. Wenn Verdrängungsprozesse die Oberhand gewinnen, sind Vergleiche nicht mehr möglich. Prisca. Bringt uns zu der Frage, welche Vanitassymbole wären denn für die heutige Zeit als Metaphern in Bezug auf den Tod angesagt? Myrta. Gute Frage, aber die lassen wir mal für heute so stehen. Darf ich zum Abschluss noch eine »saubere« Analogie bringen? Prisca. Okay. Aber dann ist fertig. Ich bin hundemüde. Myrta. Aber du bist kein Hund. Prisca. Sehr witzig, habe ich aber kapiert. Nun leg schon los. Myrta. Philippa Foot, die große Philosophin, brachte einmal das Beispiel bzw. die Analogie zwischen der Philosophie und dem Handwerk der Klempner:innen. Prisca. Na, da bin ich aber mal gespannt.
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Myrta. Darfst du auch sein. Mir ging es erst genauso. Also: »Manchmal denke ich, ein Philosoph ist wie ein Klempner«, sagte sie einem Interviewpartner, als sie bereits in ihren Achtzigern war. »Wenn Sie Probleme mit Ihren Rohren haben, holen Sie einen Klempner, wenn Sie Probleme mit Ihren Begriffen haben, holen Sie einen Philosophen. Probleme mit Begriffen sind, ebenso wie die mit Rohren, der Preis, den wir für unsere komplexen, miteinander verflochtenen und kontingenten Leben zahlen.«10 Prisca. Danke Myrta. Myrta. Gerne Prisca.
10 Cumhaill, Clare Mac; Wiseman, Rachael: The Quartett. Wie vier Frauen die Philosophie zurück ins Leben brachten. Verlag C. H. Beck, München 2022, S. 361.
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5 Behinderung und der Vergleich mit der Nicht-Behinderung Behinderung und der Vergleich mit der Nicht-Behinderung
»Das Übel beginnt mit dem Vergleichen und endet im Gleichmachen.« (Lisz Hirn, österreichische Künstlerin) Gerhild: weiblich, aus dem alt-hochdeutschen. »Ger« = der Speer und »linta« = der Schutzschild aus Lindenholz. Florian: männlich, aus dem Lateinischen »der Blühende, der Prächtige«. Moritz: männlich, eingedeutschte Form zu Maurus. Als Heiligenname seit dem Mittelalter bekannt. Wurde vor allem durch Wilhelm Busch (Max und Moritz) volkstümlich. Mona: weiblich, Kurzform zu Monika oder aus dem irischen »muadh« = edel. Es besteht kein Bezug zu Leonardo da Vincis Mona Lisa. Mona wird hier als Kurzform von Madonna verwendet. Mona. Behinderung, was immer man darunter auch verstehen mag, ist ein Phänomen, das besonders intensiv Vergleichen ausgesetzt ist. An einem Seminar wurde ich einmal gefragt, was denn schlimmer sei, blind oder völlig gehörlos zu sein. Es entspann sich eine Diskussion, die das Blind-Sein favorisierte. Tatsache ist aber, dass eine völlige Gehörlosigkeit viel stärker zu einer sozialen Isolation führt als das vollständige Nicht-sehen-Können. Dieses Ergebnis als solches hat mich weniger zum Nachdenken motiviert als vielmehr die Frage nach dem Vergleich. Gerhild. Man kann sich natürlich fragen, wie viel ein solcher Vergleich überhaupt wert ist. Vermutlich nicht allzu viel, weil es ja immer auch von der individuell völlig unterschiedlich empfundenen Lebenssituation, -konstellation etc. abhängt. Tatsache ist, dass niemand eine solche Behinderung, ein solches Handicap, eine solche Beeinträchtigung haben möchte. Florian. Genau. Auch möchte niemand ein Kind bekommen, das eine Behinderung, egal welche, aufweist. Der Vergleich zu einem Kind ohne jegliche Behinderung ist augenfällig (!). Wenn man die Entwicklung von Behinderung betrachtet, wie ich es aus professionellen Gründen über mehrere Jahrzehnte verfolgt habe, ist festzustellen, dass insbesondere bei den Men-
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schen mit einer Körper- bzw. einer Sinnesbehinderung immer danach getrachtet wurde, Kompensationen zu erfinden und einzubauen, die die jeweilige Behinderung minimieren oder sogar aufheben sollten. Ich erspare mir, die unzähligen Kompensationen bei Menschen mit einer Körper- bzw. Sinnesbehinderung aufzuzählen. Mona. Es existiert nun aber eine Form der Behinderung, bei der das im erwähnten Sinn gar nicht möglich ist. Ich spreche von dem Phänomen der geistigen Behinderung. Moritz. Hier war in früheren Jahren üblich, was heute als verpönt gilt: den Menschen mit einer geistigen Behinderung auch im erwachsenen Alter als Kind zu bezeichnen und in dieser Art und Weise mit ihm umzugehen. So findet sich auch heute noch in manchen Diagnosen die Formulierung, dass der Patient oder die Patientin (!) ein Lebensalter von (z. B.) 34 Jahren und einen Entwicklungsstand von ca. 2,5 Jahren aufweist. Ich messe dem die Qualität einer Kompensation zu, mit der man versucht und bemüht ist, das Phänomen zu fassen, weil es im Grunde nicht erklärbar ist. Es lässt sich festhalten, dass man geistige Behinderung nicht kompensieren kann. Mona. Moritz, du bist mir ins Wort gefallen. Typisch … Moritz. Oh, entschuldige bitte, das wollte ich nicht. Aber das Thema ist eben für mich besonders wichtig. An anderer Stelle1 habe ich beschrieben, dass die geistige Behinderung in einer sich zunehmend veränderten, sich immer komplexer und abstrakter gestaltenden Welt zunimmt. Gerhild. Warum? Moritz. Weil sich kognitiv beeinträchtigte Menschen immer weniger auskennen oder mit den modernen Anforderungen nicht umzugehen wissen. Dieser Umstand stellt das konträre Verhältnis zum Phänomen der geistigen Behinderung dar. Die Schere zwischen der Realität und der Möglichkeit diese, aufgrund der Behinderung, kompensieren zu können, geht immer weiter auf. Das ist ein eminent großer Unterschied zu Menschen mit einer Sinnes- bzw. Körperbehinderung. Bei Letzterer ist es gerade der technologische, elektronische Fortschritt, der eine Kompensation ermöglicht, wenn 1
Bonfranchi, Riccardo: Ethische Handlungsfelder der Heilpädagogik. Verlag Peter Lang, Bern 2011
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auch in kleinen Schritten. Eine Kompensation bei eventueller geistiger Behinderung gibt es dennoch. Gerhild. Da bin ich jetzt aber gespannt. Mona. Ich auch. Moritz. Die mögliche Kompensation soll hier der Vollständigkeit halber benannt werden, wenn auch nicht ausführlich. Es handelt sich um die Pränatale Diagnostik, die mittlerweile ein medizinisches Hochtechnologieniveau erreicht hat, bei dem mittels eines Bluttropfens bzw. computerisierten Ultraschalluntersuchungen eine Trisomie 21 festgestellt werden kann. Die Kompensation besteht dann in ca. 92–94 % dieser positiven Fälle2 darin, dass es zu einer Abtreibung kommt. Dies will ich hier, darauf sei ausdrücklich hingewiesen, nicht in einem moralischen Sinne werten. Aber es stellt eben einen Vergleich dar, nämlich: Will ich ein Kind mit einer geistigen Behinderung bekommen oder will ich es nicht, weil es nicht meinen Erwartungen an ein eigenes Kind entspricht. Der Vergleich fällt i. d. R., wie die o. g. fundierte Prozentzahl der vorgenommenen Abtreibungen beweist3, zuungunsten des Kindes mit Downsyndrom aus. Ein Fakt, der hier einen weiteren Vergleich darstellen soll.4 Mehr Gewicht auf die Beratung bei einer eventuellen Geburt eines behinderten Kindes legt die Veröffentlichung des Lebenshilfe Verlags.56 2 3 4
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Bonfranchi, Riccardo: Ethische Handlungsfelder der Heilpädagogik. Integration und Separation von Menschen mit geistiger Behinderung. Verlag Peter Lang, Bern, S. 119ff., Teil 3: Separation – ist Pränataldiagnostik der finale Ausschluss? Vgl. ebd. Vgl. hierzu auch Stoller, Caroline: Eine unvollkommene Schwangerschaft. Theologischer Verlag, Zürich 1996, vgl. Swientek, Christine: Was bringt die Pränatale Diagnostik. Informationen und Erfahrungen. Verlag Herder, Freiburg i. Br. 1998 und vgl. hierzu auch Kuhlmann, Andreas: Abtreibung und Selbstbestimmung. Die Intervention der Medizin. Verlag S. Fischer, Frankfurt/M. 1996 Neuer-Miebach, Therese; Tarneden, Rudi (Hrsg.): Vom Recht auf Anderssein. Anfragen an pränatale Diagnostik und humangenetische Beratung. Verlag Selbstbestimmtes Leben (Lebenshilfe Verlag), Marburg 1994. Auch: Haker, Hille: Ethik der Genetischen Frühdiagnostik. Sozialethische Reflexionen zur Verantwortung am Beginn des menschlichen Lebens. Verlag mentis, Paderborn 2002. Auch: Weimann, Ralph: Bioethik in einer säkularisierten Gesellschaft. Ethische Probleme der PID. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2015 Eine umfassende Darstellung des hier angesprochenen Problemfeldes liefert Leist: Leist, Anton (Hrsg.): Um Leben und Tod. Moralische Probleme bei Abtreibung, künstlicher Befruchtung, Euthanasie und Selbstmord. Verlag Suhrkamp, Frankfurt/M. 1990
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Gerhild. Aber das ist doch keine Kompensation der geistigen Behinderung. Dann ist das Kind ja ganz weg. Florian. Stimmt schon, aber ich verstehe, was Moritz meint. Wenn das vermutlich behinderte Kind abgetrieben wird, haben die betroffenen Personen die Möglichkeit, anstelle dieses Kindes ein anderes zu bekommen. So hat auch der berühmte australische Philosoph Peter Singer argumentiert. Die Heilpädagogen und Heilpädagoginnen liefen damals Sturm. Heute interessiert das niemanden mehr. Mona. Vielen Dank für den kleinen Exkurs. Wenn es um Behinderung geht, so muss auch die zugehörige Wissenschaft mit in den Blick genommen werden. Wir sprechen dann von der Heil- und Sonderpädagogik. Diese hatte es in Abgrenzung zu Theologie, Philosophie, Medizin und Allgemeiner Pädagogik immer schon schwer, einen eigenen Gegenstand zu finden oder diesen präzisieren zu können. Das hat auch damit zu tun, dass es streng genommen die Heil- und Sonderpädagogik gar nicht gibt, weil sie sich in mehrere Gruppen aufteilt, die sich nicht miteinander vergleichen lassen. Ich spreche von der Geistigbehinderten-, Lernbehinderten-, Verhaltensauffälligen-, Blinden- und Sehbehinderten-, Gehörlosen- und Körperbehindertenpädagogik. Alle diese Gruppen kooperieren nicht miteinander und haben auch nie die Absicht gezeigt, dies machen zu wollen. Hier wären dann Vergleiche völlig unerwünscht. Gerhild. Das finde ich einerseits schade, aber andererseits auch wieder verständlich. Was hat ein blinder Mensch mit einem geistig behinderten Menschen zu tun? Wenn sie nicht zufälligerweise miteinander verwandt sind. Florian. Was nicht mehr und nicht weniger beweist, als dass der Oberbegriff der Behinderung eben nichts taugt. Mona. Der einzige Aspekt, der diese unterschiedlichen Behinderungsbilder miteinander einen könnte, wäre der Gedanke der christlichen Nächstenliebe, der Fürsorge oder der Barmherzigkeit. Florian. Ui, ui, da machst du aber ein gefährliches Fass auf. Mona. Weiß ich schon. Aber Menschen mit Behinderung wollen gerade diese von der Gesellschaft gegebene Aufmerksamkeit nicht und deshalb entfällt seit den 1968er-Jahren diese Anteilnahme.
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Moritz. Auch die heute oft angepriesenen Integrationsbemühungen können keine Vergleiche herstellen. Im Gegenteil fördern sie die Ungleichheit in noch weit größerem Maße, nur sind sich die Befürwortenden dessen oft nicht bewusst.7 Heilpädagogische Sonderschulen wird es aber auch in Zukunft geben, davon bin ich überzeugt, weil es eine »Dennoch-Pädagogik«8 immer benötigen wird. Gerhild. Also ich weiß nicht, ich finde das alles hochproblematisch. Was ist denn an Fürsorge, Nächstenliebe und Barmherzigkeit so schlecht? Das sind doch alles hohe, hehre moralische Werte, für die sich die Ethik seit Jahrtausenden einsetzt, meine ich. Florian. Stimmt schon, was du sagst, Gerhild. Aber bei der Behinderung des eigenen Kindes hört der Spaß auf. Ich habe so viele Elterngespräche geführt und immer wieder die Erfahrung machen müssen, dass die Eltern ein höchst ambivalentes Verhältnis zu ihrem behinderten Kind haben. Bei den Eltern, die ein Kind mit einer geistigen Behinderung haben, ist diese Ambivalenz am größten. Das kann dann bis zu Todeswünschen gehen. Gerhild. Nein, wirklich, kann ich fast nicht glauben. Florian. Aber es ist so. Das sind die Fakten. Moritz. Schrecklich, und dann kommt dann wohl auch die Pränatale Diagnostik noch hinzu. Die ist ja als ein erfolgreiches Projekt der medizinischen Wissenschaften sehr populär geworden. Das heißt, dass das Volk sie in einem Mae angenommen hat wie kaum eine andere medizinische Errungenschaft. Wenn ich da nur an das Impfen denke … Mona. Letzteres lassen wir nun mal hier beiseite. Natürlich darf man nicht darüber hinwegsehen, dass die Möglichkeit einer Pränataldiagnostik gewissermaßen als eine normative Kraft des Faktischen angesehen werden muss. Allein der Fakt, dass es diese moderne Technologie (vgl. 17. Kapitel: Technik: Segen oder Fluch) der Pränatalen Diagnostik gibt, macht es Familien, 7 8
Vgl. Bonfranchi, Riccardo; Perret, Eliane: Heilpädagogik im Dialog. WBV-Athena Verlag, Bielefeld 2021 Berg, Karl-Heinz: Duftwirkungen auf der Spur. Eine anthropologische Studie zu Geruchseinflüssen im körperlichen, seelischen und geistigen Bereich. Verlag Institut für Heil- und Sonderpädagogik, Giessen 1983, S. 278
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insbesondere der schwangeren Frau, nicht leicht, eine Entscheidung zu finden. So haben sich denn auch sich verantwortlich fühlende Ärzte und Ärztinnen und Genetiker:innen daran gemacht, dementsprechende Beratungen anzubieten. Dies oft unter dem Titel: »Genetische Beratung – Hilfestellung für eine selbstverantwortliche Entscheidung?« Hier gilt es, zu vergleichen: ein Kind mit Behinderung zu bekommen oder es nicht zu bekommen, sprich abzutreiben. Letzteres stellt dann in sich schon wieder eine ungeheure Schwierigkeit in der Entscheidungsfindung dar. Nun ist es eine Tatsache, dass sich niemand ein Kind mit z. B. Downsyndrom wünscht und diese Haltung dann den Beginn der Beratungssituation darstellt. Unschwer zu erraten, dass diese Ausgangslage auch für die beratende Person nicht einfach zu sein scheint.9 Zu dieser Problematik habe ich in früheren Jahren eine Reihe von Veröffentlichungen vorgelegt.10 Moritz. Behinderung tangiert oft unsere Sehgewohnheiten. Entstellte Menschen und vornehmlich erwachsene Menschen mit einer geistigen Behinderung entsprechen nicht dem Bild, das wir uns von Menschen machen. Diese sollten ja schön, gleichmäßig geformt, symmetrisch sein. Dies betrifft oft auch das Gesicht. So wurden in früheren Zeiten diese Formen der Behinderung ohne Hemmungen als hässlich und ihre Träger nicht selten als Monster bezeichnet. Gerhild. Ist das wirklich wahr? Moritz. Ja, da gibt es Studien, die das belegen. Im Mittelalter wurden diese Menschen nicht selten als ein moralisches Problem verstanden. »Das Hässliche hat Schuld auf sich geladen und gilt dementsprechend als ›böse‹. Ein in damaliger Zeit geborenes fehlgebildetes Kind – eine ›Missgeburt‹ also – musste als Produkt ›unsittlichen Verhaltens von Mann und Frau‹ herhalten«11. Für Luther sind Menschen mit einer Behinderung vom Teu9
Vgl. Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hrsg.): Welche Gesundheit wollen wir? Verlag edition Suhrkamp, Frankfurt/M. 1995, S. 111 ff. 10 Zwei Beispiele hierzu: Ethische und gesellschaftliche Implikationen rund um die Pränatale Diagnostik. In: Ethica – Wissenschaft und Verantwortung, Nr. 2, Jg. 21, 2013, S. 145 ff.; ders.: Besteht zwischen der pränatalen Diagnostik und der Integrationsbewegung von behinderten Kindern in die Regelschule ein Zusammenhang? In: Ethica – Wissenschaft und Verantwortung, Nr. 3, Jg. 25, 2017, S. 269 ff. 11 Bonfranchi, Riccardo; Mayer, Eveline; Rupp, Daniela: Visueller Eindruck – Geistige Behinderung – Gesellschaftliche Bedeutung. Eine empirische Studie über visuelle Eindrucksdeutung im sonderpädagogischen Bereich. Verlag Athena, Oberhausen 2002, S. 53
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fel besessen oder weisen zumindest den Status von Wechselbälgen auf. Dies bedeutet, dass diese Kinder der nicht behinderten Frau vom Teufel untergeschoben worden sind, als eine Form der Bestrafung für ein unchristliches Verhalten. Von Michel de Montaigne ist der folgende Text aus seinen Essais bekannt: »Vorgestern sah ich, wie ein Kind von zwei Männern und einer Amme, die sich als Vater, Onkel und Tante ausgaben, wegen seiner Absonderlichkeit zur Schau gestellt wurde, denn sie wollten sich so ein paar Groschen verdienen. Von seiner Missbildung abgesehen, war es normal gebaut und konnte fast, wie alle Kinder seines Alters, auf den Füßen stehen, herumtappen und lallen. Es hatte noch keine andere Nahrung annehmen wollen als die Milch seiner Amme, und was man ihm in meiner Gegenwart in den Mund zu stecken suchte, kaute es ein bisschen und gab es dann, ohne es hinunterzuschlucken, wieder von sich; freilich schien es seine Art zu schreien etwas sonderbar. … Was wir Missgeburten nennen, sind für Gott keine, da er in der Unermesslichkeit seiner Schöpfung all die zahllosen Formen sieht, die er darin aufgenommen hat. Ich halte es für durchaus denkbar, dass jede uns als verwunderlich in die Augen springende Gestalt einer anderen Art entspricht, die dem Menschen verborgen bleibt.«12 Dies sind sicherlich ausgleichende, tolerierende Worte, die aber kaum in das Bewusstsein vieler Menschen gedrungen sind. Mona. Da hätte ich noch eine andere interessante Passage von diesem Herrn. An anderer Stelle vermag de Montaigne aber auch, einer hinkenden Frau einen besonderen Reiz abzugewinnen.13 Warum? »Sie (die Antike, R. B.) die Beine und Schenkel der Hinkenden erhielten wegen der Erlahmung nicht mehr die ihnen zugeteilte Nahrung, woraus sich ergebe, dass die darüber liegenden Geschlechtsteile umso besser genährt seien, umso voller entwickelt und kräftiger; oder auch, die mit dem Gebrechen Behafteten hätten, da es ihre Bewegung mindere einen geringeren Kräfteverschleiß und könnten sich daher umso unverbrauchter den Liebesspielen widmen. … Dies rechnete ich tatsächlich zu ihren Reizen.« Nun, so ganz schlüssig scheint mir hier die Argumentation von de Montaigne nicht zu sein. Es geht ihm hier nicht um die Ästhetik, sondern ausschließlich um seinen Lustgewinn.
12 Montaigne de, Michel: Über ein missgeborenes Kind. Essais. 2. Buch, Nr. 30, 1595. In: Eco, Umberto: Die Geschichte der Hässlichkeit. Verlag Carl Hanser, München 2007, S. 244 13 Vgl. Montaigne de, Michel: Der Reiz der Hinkenden. Essais. 3. Buch, Nr. 11., 1595. In: Eco, a. a. O., S. 170
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Moritz. Gut, aber das führt uns dann eher in eine Gender-Diskussion und weg vom Phänomen der Behinderung. Mona. Ist aber auch wichtig. Moritz. Zugegeben. Aber alles zu seiner Zeit, am richtigen Ort. D’accord, Mona? Mona. Beruhig dich und fahr fort. Moritz. Die Geschichte von Menschen mit einer Behinderung ist lang und es war vorrangig Foucault, der hierzu eine große und wertvolle Aufklärungsarbeit geleistet hat. In seinem Buch »Die Anormalen«14 beschreibt er dezidiert, wie Menschen mit Menschen mit Abweichungen umgegangen sind. Er unterschied drei Gruppen: 1. Die Menschenmonster. Hierzu gehören etwa die Doppel-Individuen (= Siamesische Zwillinge) sowie die Hermaphroditen. 2. Das korrektionsbedürftige Individuum. Hierbei handelt es sich um Menschen, die mit den im 17. und 18. Jahrhundert üblichen Disziplinierungsmaßnahmen in den Schulen, der Armee oder in Werkstätten nicht »geheilt«, korrigiert werden konnten. Diese Menschen galten als »unkorrigierbar« und wurden, laut Foucault15, eingesperrt, rechtlich entmündigt. Dieses Einsperren geschah in Umerziehungseinrichtungen. Als dritte Gruppe listet Foucault die Onanisten auf. Es geht hierbei um eine Unterdrückung des Körperlichen bzw. des Lustempfindens, um die Menschen »mit den neuen Erfordernissen der Industrialisierung verbundenen Unterdrückungsmechanismen«16 gefügig zu machen. »Die Infragestellung der Sexualität des Kindes und all der Anomalien, für die sie verantwortlich sein soll, war eines der Verfahren zur Ausbildung dieses neuen Dispositivs«17. Gerhild. Das halte ich im Kopf nicht aus. Florian. Eine Frage, die im Zusammenhang mit Behinderung immer wieder auftaucht, ist, ob es sich bei Behinderung um ein soziales Konstrukt han-
14 Foucault, Michel: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1974–1975). Verlag Suhrkamp, Frankfurt/M. 2003 15 Ders., a. a. O., S. 424 16 Ders., a. a. O., S. 426 17 Ders., a. a. O., S. 428
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delt.18 Behinderung ist kulturell produziert, heißt es dann da. Es wird auf die Wechselwirkung von Biologischem und Sozialem hingewiesen und dies ergibt die Konstruktion von Behinderung. Ich will diesen Ansichten hier auch gar nicht entgegentreten, gebe aber zu bedenken, dass es den Behinderten oder die Behinderte als solche nicht gibt, nicht gegeben hat. Man kann Menschen, die z. B. im Rollstuhl sitzen und kognitiv voll auf der Höhe sind, nie mit geistig behinderten Menschen vergleichen. Das geht einfach nicht. Ihre Wahrnehmung der Welt, aber auch wie die Welt sie wahrnimmt, ist völlig unterschiedlich. Insofern müsste man untersuchen, was denn nun das Spezifische, das Eigentliche bei diesen beiden, hier zufällig benannten Behindertengruppen in Bezug auf ihre soziale Konstruktion ausmacht. Es heißt insbesondere bei Menschen, die sich mittels eines Rollstuhls fortbewegen, dass sie an diesen »gefesselt« sind. Ich habe aber noch nie gehört, dass ein geistig behinderter Mensch an seine kognitiven Kompetenzen gefesselt wäre. Was für mich eventuell noch mehr Sinn ergeben würde. Gerhild. Interessante Überlegung. Florian. Ich habe bereits auf den Philosophen Peter Singer hingewiesen. Ich möchte hier noch einmal auf ihn eingehen, wenn ihr erlaubt. Mona & Moritz. Nur zu. Florian. Weitgehend in Vergessenheit geraten ist die Diskussion, die der australische Philosoph Peter Singer19 in den 1990er-Jahren angerissen hat. Die Wellen schlugen hoch und insbesondere von den Heil- und Sonderpädagogen und -pädagoginnen wurde vehementer Widerstand (verbal) geleistet. Peter Singer gilt als einer der bekanntesten philosophischen Protagonisten, die einen Unterschied zwischen moralischen Akteuren und nicht moralischen Akteuren sehen. Dies geht bei ihm über die sogenannte Speziesgrenze hinweg. Das heißt, wenn ein Tier aus einer höheren biologischen, evolutionären Reihe (Primat, Elefant, Delfin, Hund, Pferd etc.) über mehr Rationalität, Vernunft u. Ä. verfügt, so ist dieses mehr moralischer Akteur als etwa ein schwer geistiger und mehrfachbehinderter Mensch. Gerhild. Kannst du das noch etwas klarer ausdrücken? 18 Vgl. Hacking, Ian: Was heisst »soziale Konstruktion«? Zur Konjunktur einer Kampfvokabel in den Wissenschaften. Verlag Fischer, Frankfurt/M. 1999, S. 66 19 Singer, Peter: Praktische Ethik. Verlag Reclam, Stuttgart 1984
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Florian. Mache ich gerne. Ich habe es als Argument formuliert und das kennt ihr ja aus dem Studium. Eines der Hauptargumente von Singer lautet folgendermaßen (die Darstellung ist von R. B.): Argument von Peter Singer (modus ponens) Prämisse 1: Wenn ein Individuum ein moralisch ernst zu nehmendes Recht auf Leben hat, dann muss es in der Lage sein, sich sein Leben in der Zeit vorstellen zu können. Diese Individuen werden Personen genannt und sind moralische Akteure. Prämisse 2: Föten, Säuglinge und Tiere können sich keine Vorstellung ihrer selbst als kontinuierliche Subjekte mentaler Zustände machen. Sie werden nicht als Personen bezeichnet. Prämisse 3: Wenn Individuen nicht als Personen bezeichnet werden, sind sie keine moralischen Akteure und haben demzufolge auch nicht den gleichen Status. Konklusion: Es ist deshalb moralisch nicht falsch, Föten, Säuglinge und Tiere auf schmerzlose Weise zu töten. R. B. hat in einer längeren Arbeit versucht darzustellen, dass es sachlogisch äußerst schwierig, wenn nicht gar unmöglich ist, das Argument von Singer zu widerlegen. In der von ihm als Herausgeber20 gestalteten Veröffentlichung waren denn auch eine Reihe von prominenten Philosophen und Philosophinnen vertreten, die alle die Position von Singer verteidigten. Aus der Behindertenbewegung (Deutschland: Krüppelbewegung) hat insbesondere Franz Christoph gegen die Pränatale Diagnostik sowie gegen die Thesen von Singer dezidiert Stellung bezogen.21 Christoph hält schon allein die Diskussion zum Lebensrecht von Menschen mit einer Behinderung für fatal. 20 Bonfranchi, Riccardo (Hrsg.): Zwischen allen Stühlen. Die Kontroverse zu Ethik und Behinderung. Harald Fischer Verlag, Erlangen 2004 (2. Aufl.) 21 Vgl. Christoph, Franz: Tödlicher Zeitgeist. Notwehr gegen Euthanasie. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1990
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Seiner Meinung nach gerät hier das Recht auf eine freie Meinungsäußerung zu einer tödlichen Bedrohung für diese Menschen. Gerhild. Das sehe ich nun auch so, und zwar voll! Moritz. Mit den Aussagen von Singer bin ich nicht einverstanden. Aber mit denjenigen von Spaemann eben auch nicht, wenn er schreibt: »Wie nehmen wir sie (›schwer Debile‹, R. B.) wahr? Als Dinge? Als Tiere einer eigenen Art? Gerade nicht. Wir nehmen sie wahr als Kranke. Wären sie etwas anderes als ›jemand‹, dann müssten sie irgendeine spezifische Normalität besitzen, eine Seinsweise, die nicht die Seinsweise von Personen ist, eine eigene ökologische Nische in der Welt. Aber der Debile, mit dem wir nie in personale Kommunikation auf Gegenseitigkeit treten können, wird von uns unvermeidlich nicht als ›normal‹, sondern als krank betrachtet«22. So sehe ich es eben auch nicht. Denn auch schwer mehrfach und geistig behinderte Menschen sind nicht krank, wenn sie denn nicht krank sind. Hier weitet Spaemann den Krankheitsbegriff für mein Dafürhalten zu breit aus.23 Florian. Da bin ich bei dir. Beide Positionen sind auch für mich kaum nachvollziehbar. Mona. Wenn ich mich dann mal wieder hier einschalten darf. In der philosophischen Literatur wird nur vernunftbegabten Wesen ein vollgültiger moralischer Status zugesprochen. Vernunft wird mit einem gewissen Maß an geistigen, mentalen oder kognitiven Fähigkeiten gleichgesetzt. Dabei ist dann die Rede von Rationalität, Selbstbewusstsein, Kooperationsfähigkeit (Tugendhat), die Fähigkeit, einen vernünftigen Lebensplan (Rawls) entwickeln zu können, von Verstand und Vernunft (Kant) und von Diskurskompetenzen (Habermas). So schreibt Kant in seiner Anthologie in pragmatischer Hinsicht, »dass es eine Krankheit des Gemüts sei, wenn man sich Affekten und Leidenschaften unterwerfe, da dies die Herrschaft der Ver-
22 Spaemann, Robert: Personen. Versuche über den Unterschied zwischen »etwas« und »jemand«. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1996, S. 259 23 Zur Lebensrechtdebatte von Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung findet man interessante und gute Beiträge in: Thimm, Walter u.a.: Ethische Aspekte der Hilfen für Behinderte. Unter besonderer Berücksichtigung von Menschen mit geistiger Behinderung. Herausgegeben von der Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte e. V., Marburg 1989. Diese Diskussion ist heute (2022) weitgehend »verschwunden«, obwohl die Problematik m. E. auch gegenwärtig noch besteht.
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nunft ausschließe«24. Nur moralische Akteure sind in einer Diskurssituation demnach gleichberechtigt und in der Lage, einen »herrschaftsfreien Diskurs« zu führen. Auch die Tugendethik nach Aristoteles stellt keine Ausnahme dar. Tugendhaft handeln heißt, sittlich richtig zu handeln. Tugend ist nach Aristoteles eine nachhaltige Haltung (hexis), die durch die Vernunft bestimmt ist. Diese Vernunft wird durch die Klugheit (phronesis) bestimmt. Weitere Beispiele sind das Streben nach Selbsterhaltung (Hobbes), das auch nur mittels eines gewissen Maßes an Verstand umgesetzt werden kann; die Möglichkeit der faktischen Einwilligung (Locke); der Wille nach Rousseau; das Einfordern-Können von Rechten nach Nozick bzw. Dworkin; die Bedeutung von Interessen (Hoerster, Höffe); von Präferenzen (Singer, Gauthier); Fähigkeiten (Sen, Nussbaum) etc. In diesen Beispielen nehmen die kognitiven Skills eine entscheidende Rolle ein. Demnach ist ein Mensch dann ein moralischer Akteur, wenn er über die folgenden Charakteristika verfügt: • S elbstbewusstsein • S elbstkontrolle • S inn für die Zukunft • S inn für die Vergangenheit • F ähigkeit, mit anderen insbesondere verbale Beziehungen einzugehen • A bstrakte Kommunikationsfähigkeit etc. Gerhild. Dem habe ich nun noch etwas anzufügen. Nämlich: Auch Schaber25 schreibt in seinem Aufsatz als Vorschlag 2: »Achtung ist Achtung vor der Vernunft des Menschen«, und rekurriert damit auf Kant. Er erarbeitet dann weitere Vorschläge und gelangt in seinem fünften zur folgenden Formulierung: »Eine andere Person zu achten, heisst ihren authentischen Willen zu achten, sofern dieser sich mit der Würde der Person verträgt«26. Hier ergibt sich dann die Frage, inwiefern dieser Wille noch als authentisch bezeichnet werden kann, wenn sich die betreffende Person in einer seelischen Notlage befindet, so wie man es sich z. B. bei der Telefonseelsorge oder am Krankenhausbett bei einem krebskranken Patienten vorstellen könnte. Mona. Eine spezielle Konstellation nehmen hierbei Kinder ein, die zwar allgemein nicht als moralische Akteure gelten, aber potenziell welche sind. 24 Kant, Immanuel. In: Engelen, E.: Gefühle. Stuttgart 2007, S. 35 25 Schaber, Peter: Achtung vor Personen. In: Studia Philosophica, Heft 63, 2004, S. 6 26 Ders., a. a. O., S. 15
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Dieses Entwicklungsargument, auf das hier nicht näher eingegangen werden soll, findet sich insbesondere bei Tugendhat, Rawls, Kant und Locke. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass man als entscheidendes Gut, um als Person, als moralischer Akteur wahrgenommen zu werden, über Vernunft (Kant) verfügen sowie sich der eigenen Zeitlichkeit bewusst sein muss (Singer). Dies bedeutet, dass sich das Individuum seiner selbst bewusst ist, indem es weiß, dass es gestern war und (vermutlich) auch morgen sein wird, und seine Stellung in diesem Zeitgefüge klar bestimmen kann. Nur wer diese Kriterien erfüllt, gilt als Mensch, nach Singer als Person, als vollwertiger moralischer Akteur, der die vollen Rechte genießt, aber auch als voll verantwortungsfähig gilt. Gerhild. Aber eine Ausnahme von der »klassischen« Ethik stellt die Mitleidstheorie von Schopenhauer dar. Das muss ich hier auch sagen. Mona, Moritz & Florian. Na, dann mal los. Gerhild. In seiner Preisschrift über die Grundlage der Moral, die 1841 erschienen ist, sieht er das Mitleid als die »allein echte moralische Triebfeder«27 an. Schopenhauer versteht unter Mitleid, das Mit-Leiden. Wir würden heute wohl von Empathie sprechen. Auf die Theorie von Schopenhauer, wie auch auf Hume, muss hier eingegangen werden. Dabei spielt Hume in meinen Überlegungen eine zentrale Rolle, weil er unter den arrivierten Philosophen und Philosophinnen derjenige ist, der den Emotionen (passions, Affekten) eine große Bedeutung zuweist. Das Fazit vorwegnehmend kann bereits gesagt werden, dass mittels der Theorie von Hume die einseitige Dominanz der Vernunft bzw. der Ratio durchbrochen werden kann. Hume ist m. E. einer der wenigen, der »großen«, klassischen Philosophen, der Vernunft und Emotion als ein ineinander verschränktes Geschehen beurteilt. Folgt man der Theorie von Hume, wird die Frage, was ein moralischer Akteur ist, obsolet und verliert ihre vorherrschende Stellung. Weil die Bedeutung der Ratio nach wie vor ungebrochen in der philosophischen »Landschaft« dasteht und von den Entscheidungstragenden und Hauptpersonen weiter transportiert wird, soll der Gedankengang fortgesetzt werden. Es geht hier ja um die Frage, ob die Ratio als alleiniges Kriterium gelten kann, was ein moralischer Akteur ist und was nicht.
27 Schopenhauer, Arthur. In: Kronauer, U.: Vom Nutzen und Nachteil des Mitleids. Eine Anthologie. Frankfurt/M. 1990, S. 29
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Moritz. Ich denke, es würde jetzt reichen. Florian. Ich meine das auch. Mona. Nein, Gerhild soll ruhig weitermachen. Hört ihr nur weiter aufmerksam zu. Es kann euer Schaden nicht sein. Gerhild. Danke, Mona. Ich bin auch bald fertig, Jungs. Weil die Frage nach dem moralischen Status gilt, soll noch einmal darauf eingegangen werden. Ich beziehe mich dabei auf Düwell28. Der moralische Status hat nichts mit den Eigenschaften eines Wesens zu tun, wie Körpergröße oder Haarfarbe. Düwell meint: »Es geht also darum, jene Eigenschaften zu bestimmen, die einen Grund für moralische Berücksichtigung darstellen«29. Er nennt hierfür deren drei: 1. Die Gattungszugehörigkeit. Dabei verweist er auf Handlungsfähigkeit, Rationalität und Sprachfähigkeit, die den moralischen Akteur auszeichnen. 2. Die Leidens- und 3. die Schmerzfähigkeit. Für einen moralischen Status ist es seiner Meinung nach notwendig, dass das Individuum in der Lage ist, Interessen zu entwickeln. Auch Düwell konstatiert, dass der moralische Status insbesondere in deontologischen Theorien von der »Handlungs- und Vernunftfähigkeit«30 abhängig gemacht wird. Damit ist auch die Fähigkeit zur rationalen Selbstkontrolle mitgemeint.31 Zusammenfassend kann mit Newmark32 gesagt werden: »Während das Emotionale zwar nie ganz aus dem Horizont des philosophischen Fragens verschwindet, so gilt es doch für die meisten Strömungen der letzten zweihundert Jahre nicht als Kernbereich des philosophischen Denkens«33. Florian: Das heißt aus meiner Sicht, es können Menschen, denen man den Personenstatus abspricht oder die als krank bezeichnet werden, nur gesellschaftlich als Ganzes integriert werden, wenn man sie über die emotionale
28 29 30 31
Düwell, Marcus: Bioethik. Methoden, Theorien und Bereiche. Stuttgart 2008, S. 100 ff. Ders., a. a. O., S. 104 Ders., a. a. O., S. 105 Weitere Ausführungen hierzu: Wolf, Jean-Claude: Euthanasie auf abschüssiger Bahn. In: Zeitschrift für Pädagogik, Nr. 2, Jg. 37, 1991 und ders.: Ist Ehrfurcht vor dem Leben ein brauchbares Moralprinzip? In: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie. Sonder-Abdruck aus Band 40, Nr. 3, 1993 32 Newmark, C.: Passion – Affekt – Gefühl. Philosophische Theorien der Emotionen zwischen Aristoteles und Kant. Paradigmata 29, Hamburg 2008 33 Dies., a. a. O., S. 105
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Seite betrachtet. Hier erscheint mir dann die Frage der Vernunft, der Ratio nicht mehr von entscheidender Bedeutung zu sein.34 Gerhild. Genau. Du hast gut aufgepasst, Flo. Moritz. Aber es ist abschließend auch zu fragen, ob das Wort, die Be-Zeichnung »behindert« nicht auch in die Irre führt. Warum? Weil ich moralische Defizite von Menschen als wesentlich schwerwiegender, schlimmer bewerte als eine Behinderung. Wobei meine Formulierung hier dem üblichen Sprachgebrauch nach richtig, aber dennoch falsch ist. Weil eine Behinderung eine Daseins-Form in der unendlichen Vielfalt humaner Daseins-Formen darstellt, während sittliche Defizite und moralische Fehleinschätzungen, Diskriminierungen etc. in keiner Art und Weise akzeptabel sind.35 Mona. Das hast du schön formuliert.
34 Kritische Beiträge finden sich in: Fischbeck, Hans-Jürgen (Hrsg.): Leben in Gefahr. Von der Erkenntnis des Lebens zu einer neuen Ethik des Lebendigen. Verlag Neukirchener, Neukirchen-Vluyn 1999. Sowie in: Daub, Ute; Wunder, Michael (Hrsg.): Des Lebens Wert. Zur Diskussion über Euthanasie und Menschenwürde. Lambertus Verlag, Freiburg i. Br. 1994. Und: Degener, Theresia; Köbsell, Swantje: »Hauptsache, es ist gesund«? Weibliche Selbstbestimmung unter humangenetischer Kontrolle. Konkret Literaturverlag, Hamburg 1992 35 Vgl. hierzu auch Rentsch, Thomas: Behinderung – ethisch betrachtet. In: Irrgang, Bernhard; Rentsch, Thomas (Hrsg.): Bioethik in der philosophischen Diskussion. Universitätsverlag & Buchhandel Eckhard Richter, Dresden 2010, S. 122 ff.
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Deontologie – Utilitarismus1: Weltbilder Deontologie/Utilitarismus: im VergleichWeltbilder im Vergleich »Alles, was da ist oder gedacht wird, ist im Vergleich mit dem wahren Gut nichts anderes als das Elend selbst.«2 (Baruch de Spinoza, niederländischer Philosoph)
Runhild: weiblich, aus dem Althochdeutschen »runa«, bedeutet Geheimnis, Zauber und »hiltja« = Kampf. Oliver: männlich, verkörpert im französischen Rolandslied Besonnenheit und Mäßigung. Oliver. Spielen wir philosophisches Pingpong. Du bist deontologisch und ich bin konsequentialistisch. Einverstanden? Der Zwiespalt der Deontologie und des Utilitarismus hat eine ca. 250-jährige Tradition und gilt als DER klassische Vergleich in der Ethik. Dabei geht es darum, dass diese beiden Theorien unentwegt miteinander verglichen werden, um festzustellen, welche gegenüber der anderen die Oberhand gewinnen kann. Das Fazit vorneweg: Es ist meines Wissens weder der einen noch der anderen Seite gelungen, als allein selig machende ethische Theorie über die andere zu dominieren. Runhild. Einverstanden mein Lieber. Mal sehen, wer hier gewinnt. Zieh dich schon mal warm an. Grundsätzlich sehe ich die Pattsituation auch so. Kurz gesagt geht es darum, ob eine Haltung, die eine Handlung begleitet, 1
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Im Folgenden beziehe ich mich weitgehend auf das Buch von: Muders, Sebastian; Schwind, Philipp: Analytische Moralphilosophie. Grundlagentexte. Suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2322, Berlin 2021 sowie auf: Ott, Konrad: Moralbegründungen zur Einführung. Verlag Junius, Hamburg 2005 (2. Aufl.) sowie auf: Horster, Detlef: Ethik. Verlag Reclam, Stuttgart 2009; zudem auf: Birnbacher, Dieter: Analytische Einführung in die Ethik. Verlag de Gruyter (Studienbuch), Berlin 2007 (2. Aufl.) sowie auf: Erlinger, Rainer: Moral. Wie man richtig gut lebt. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M. 2012, S. 74, 4. Kapitel: Von Pflichten, Nutzen, Tugenden und Nichtwissen. Über ethische Theorien, S. 74 ff. Und: Böhme, Gernot: Philosophieren mit Kant. Zur Rekonstruktion der Kantischen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Verlag Suhrkamp, Frankfurt/M. 1986 Spinoza de, Baruch: Ethik. Ist der Wille frei. In: Höffe, Otfried: Lesebuch zur Ethik. Philosophische Texte von der Antike bis zur Gegenwart. Verlag C. H. Beck, München 1998. Veröffentlicht: 1869 (posthum)
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wichtiger ist als der Erfolg, den diese Handlung nach sich zieht. Das Erste wird der deontologischen Theorie zugeschrieben, die untrennbar mit dem Namen von Kant verbunden ist. Entscheidend hierbei ist der sogenannte Kategorische Imperativ: »Handle so, dass die Maxime deines Handelns jederzeit zu einer allgemeinen Gesetzgebung erhoben werden könnte« (persönliche Wiedergabe). Wichtig ist der Begriff der Maxime: Die einen selbst handlungsleitende innere Einstellung ist bei einer moralischen Fragestellung von besonderer Bedeutung. Oliver. Oho, du wirfst mir den Fehde-Handschuh zu. Mal sehen, was da herauskommt. Also: Auf der anderen Seite, bei der sogenannten utilitaristischen Auslegung, ist die Nützlichkeit einer Handlung entscheidend. Die Formel hierbei lautet, dass eine moralische Handlung danach ausgerichtet werden muss, dass sie für die größtmögliche Zahl von Menschen, den größtmöglichen Nutzen erbringen soll (persönliche Wiedergabe). Dabei kann als Nutzen, je nach Autor:in, auch Glück, Zufriedenheit etc. verstanden werden. Diese beiden großen ethischen Theorien, die sich im Grunde gegenseitig ausschließen, werden immer hinzugezogen, egal bei welcher moralischen Fragestellung. Ihre jeweiligen Auswirkungen lassen sich auch bis ins Strafrecht nachweisen. Runhild. Die utilitaristische Moraltheorie ist in angelsächsischen Ländern mehr verbreitet als im deutschsprachigen Raum. Fakt ist aber auch, dass sich in der Praxis moralischen Handelns diese Theorien oft nicht mehr trennscharf auseinanderhalten lassen und sich in einer gewissen Art Mischformen herausgebildet haben. Oliver. Stimmt schon. Aber im universitären Raum werden diese beiden Kontrahenten nach wie vor als idealtypische Erklärungsansätze verstanden und dementsprechend unterrichtet. Das führt logischerweise stets dazu, diese miteinander zu vergleichen. Es gibt viel Literatur darüber, welche dieser Theorien nun die geeignetere ist. Demnach ist jeweils zu fragen, wenn man eine Arbeit bzgl. einer ethischen Problemstellung liest, ob es sich bei den verfassenden Personen um Vertretende der Deontologie oder des Utilitarismus handelt. Runhild. Gut, dann müssen wir hier sauber arbeiten und beginnen mit zwei Definitionen: Deontologische Ethik: »eine ethische Theorie, der zufolge moralische Gesetze auf Pflicht (griech. Deon) beruhen, unabhängig von den praktischen Konsequenzen der Handlung. Utilitarismus: Nach die-
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ser Moralphilosophie sind Handlungen gut, wenn sie für die Betreffenden mehr Gutes bringen als jede andere zur Wahl stehende Handlung«34. Im Zusammenhang mit der deontologischen Sichtweise macht Birnbacher darauf aufmerksam, dass es Rangabstufungen zwischen den Prinzipien gibt, nach denen sich eine Ethik auszurichten hat.5 Oliver. Ja, aber Birnbacher ist Konsequentialist. Er kommt zu dem Schluss, dass ihn diese Vergleiche nicht überzeugen, weil sie oft einem Rigorismus anheimfallen. Er führt als Beispiel die Mitleidsethik von Schopenhauer an. Dabei handelt es sich seiner Meinung nach um eine starre Priorisierung von Prinzipien, da Schopenhauer immer das Prinzip der Gerechtigkeit vor dem Prinzip der Menschenliebe einordnet. Birnbacher führt in seinem Buch noch eine Reihe weiterer Beispiele an, die sich immer durch ein starkes Maß an Inflexibilität auszeichnen, und er deshalb wohl kaum als ein Vertreter der Deontologie bezeichnet werden kann. Das spielt hier aber keine Rolle, weil es darum ging aufzuzeigen, dass Vergleiche, wenn sie denn in ein hierarchisches Rangsystem gepresst werden, immer auch etwas Unbefriedigendes in sich haben. Runhild. Lassen wir Herrn Birnbacher mal zur Seite. Der Vergleich dieser beiden großen ethischen Theorien hat dazu geführt, dass man sich ob dieser ständigen Auseinandersetzung genervt hat. Will sagen, dass man bemüht war und dies immer noch ist, einen dritten Weg zu beschreiten, auf dem man moralische Fragestellungen einer für die Allgemeinheit, die Gesellschaft befriedigenden Lösung zuführen kann. Diese Diskrepanz hat dann, insbesondere bei Philosophinnen (z. B. Martha Nussbaum), dazu geführt, dass man sich der Aristotelischen Tugendlehre zugewandt hat.6
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Cathcart, Thomas; Klein, Daniel: Platon und Schnabeltier gehen in eine Bar … Verlag Riemann, München 2008, S. 237/238 Eine ausgezeichnete, sehr differenzierte Analyse des Utilitarismus liefert Hoerster: Hoerster, Norbert: Utilitaristische Ethik und Verallgemeinerung. Verlag Karl Alber, Freiburg/Br. 1977 (2. Aufl.) Vgl. Birnbacher, Dieter: Analytische Einführung in die Ethik. Verlag de Gruyter (Studienbuch), Berlin 2007 (2. Aufl.), S. 164 Vergleiche hierzu auch die umfassende Darstellung der Tugendethik von Radic, Stjepan: Die Rehabilitierung der Tugendethik in der zeitgenössischen Philosophie. Eine notwendige Ergänzung gegenwärtiger Theorie in der Ethik. LIT Verlag, Berlin 2011
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Oliver. Als Mann muss ich hier auch die Care-Ethik anführen, die zwar nicht diese Verbreitung gefunden hat, sie kann aber als ein Vermittlungsvorschlag angesehen werden. Runhild. Schon klar. Aber gehen wir der Reihe nach. Bei der Tugendlehre geht es – wiederum in der hier gebotenen Kürze – darum, dass Aristoteles jeweils von einer Tugend ausgeht (Mut, Treue, Klugheit, Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit, Achtsamkeit etc.) und die beiden Extrempole betrachtet. So lassen sich etwa bei der Tugend des Mutes einerseits die Tollkühnheit und andererseits die Feigheit finden. Damit aber noch nicht genug. Aristoteles ist nämlich außerdem noch der Meinung, dass man diese Theorie, die er Mesotes nennt, nicht verabsolutieren darf. Das bedeutet, dass eben, je nach Situation, es gescheiter, vernünftiger ist, sich etwas feiger zu verhalten (etwa um das eigene Leben zu retten), und zu viel Mut einem eventuell zum eigenen Schaden gereichen kann. Geht es aber darum, ein anderes Leben zu retten, insbesondere das eines nahen Angehörigen, so ist eine gehörige Portion Tollkühnheit durchaus sinnvoll. Oliver. Was tut hier Aristoteles? Er vergleicht Situationen miteinander und bewertet diese nach der Vernunft, über die, so seine Meinung, jeder Mensch (zumindest der Mann) verfügt. Runhild. Man kann aber nicht davon ausgehen, dass die hier kurz dargestellte Tugendlehre die vorgängigen beiden Theorien aus dem Feld geschlagen hat. Das muss hier schon auch gesagt sein. Im Gegenteil, man hat es eben noch mit einer dritten Theorie zu tun. Oliver. Genau. Aber wenn du es so erweiterst, muss der guten Ordnung halber erwähnt werden, dass es im Feld der Ethik auch noch eine vierte Theorie des Kontraktualismus existiert, die ebenfalls um ihren Claim kämpft. Hierbei geht man, dem englischen Philosophen Hobbes zufolge, davon aus, dass wir in einem Zustand des homo homini lupus leben, was so viel besagt, als dass jeder Mensch des anderen Mensch Wolf ist. Nur wenn wir in der Lage sind, uns jeweils auf Abmachungen, Verträge und dergleichen mehr zu verständigen, können wir in Frieden miteinander leben und moralische Probleme gemeinsam lösen. Runhild. Wir sehen demnach, dass wir uns, wenn wir moralische Fragestellungen befriedigend lösen wollen, in einem Feld von mindestens vier ethischen Theorien bewegen müssen und wir gar nicht umhinkommen, diese
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immer wieder miteinander zu vergleichen. Welche Theorie dann für uns persönlich die richtige, die entscheidende ist, ist wohl eine Frage der Psychologie und kann aus meiner Sicht nie abschließend beantwortet werden.7 Oliver. Aber damit ist es noch nicht genug. Es war der schottische Philosoph William David Ross, der sich insbesondere darüber Gedanken gemacht hat, wie es Möglichkeiten geben könnte, die beiden großen ethischen Theorien der Deontologie und des Utilitarismus miteinander zu versöhnen. Runhild. Da würde ich gerne weiterfahren wollen, weil Ross das Zünglein an der Waage ja eher in meine Richtung ausschlagen lässt. »Im Mittelpunkt der Diskussion von Ross’ Ethik standen von Anfang an seine intuitionistische Methode mit ihrer Vorstellung von der Selbstevidenz ethischer Normen und Werte sowie seine Kritik am ›Idealen Utilitarismus‹ Moores und dessen These, dass die richtige Handlung jene ist, die das größtmögliche Gut hervorbringt. Dem setzt Ross die Auffassung entgegen, dass sich die richtige Handlung aus der Abwägung einer Pluralität unabgeleiteter Primafacie-Pflichten ergibt, von denen nur ein Teil auf die Optimierung der Handlungsfolgen bezogen ist. Diese Deontologie wurde zu einem modernen Klassiker unter den normativen ethischen Theorien. Sie wird in einem Atemzug mit der kantischen genannt, deren Einseitigkeiten und Kontraintuitivität Ross vermeiden wollte.«8 Oliver. Ob du Ross so für dich allein reklamieren kannst, also ich weiß nicht. Das wäre eine weitere, andere Dialog-Diskussion wert. Denn Ross formuliert vier Grundwerte, die für die Ethik von zentraler Bedeutung sind. Interessant ist für unsere Thematik, dass er diese komparabel fasst. Die vier Grundwerte sind: Tugend, Wissen, (fremde) Lust und die Gerechtigkeit. Dabei stellt Tugend den höchsten Wert dar und Wissen ist ein höherer Wert als die Steigerung der Lust bei anderen Menschen und Lebewesen. Runhild. Also lassen wir Herrn Ross einen guten Mann sein. Aber ich habe noch andere Pfeile im Köcher. Auch Nida-Rümelin9 macht auf Schwierig7 8 9
Eine ausführliche Darstellung für eine Alternative bietet das aristotelische Konzept der Tugend. Eine ausführliche Darstellung hierzu findet sich in: Rippe, Klaus Peter; Schaber, Peter (Hrsg.): Tugendethik. Verlag Reclam, Stuttgart 1998 Ross, William David: Das Richtige und das Gute. Felix Meiner Verlag, Hamburg 2020, S. VIII und LVII. In: Goebel, Bernd & Schwind, Philipp Nida-Rümelin; Spiegel; Tiedemann (Hrsg.): Handbuch der Philosophie und Ethik. Band 2: Disziplinen und Themen. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2017 (2. Aufl.),
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keiten aufmerksam, die der Utilitarismus hat. Es kann nicht sein, so seine Meinung, dass die Optimierung der jeweiligen Konsequenzen, d. h., dass die Kosten und der Nutzen in ein ausgewogenes Verhältnis gesetzt werden, das alleinige Merkmal sein können, ob Entscheidungen und Handlungen ethisch richtig und vertretbar sind. Das würde bedeuten, dass man jeweils aus dem Augenblick der momentan bestehenden Situation diese Richtigkeit ableitet. Laut Nida-Rümelin wäre das »keine verantwortliche Praxis«10, weil man nicht in die Zukunft sehen und bereits morgen der beste Nutzen schon ein ganz anderer sein kann.11 Ich bin noch nicht fertig, mein Lieber. Philippa Foot hat sich hierzu ebenfalls geäußert: »Es gibt nach meiner Auffassung keine Möglichkeit, den Utilitarismus so zu verfeinern, dass diese Schwierigkeiten behoben sind. Sie bleiben bestehen, solange die moralische Beschaffenheit einer Handlung, eines Motivs oder jedes anderen Gegenstands einer moralischen Beurteilung ausschließlich von seiner kausalen Beziehung zum allgemeinen Wohl abhängt.«12 Sie gelangt dann zum Schluss, als ein Kriterium für ein gutes Moralsystem vorzuschlagen, »dass von jedermann wegen des Guten, das ihm das System verschafft, Gegenseitigkeit verlangt werden kann … Es muss beispielsweise auch so beschaffen sein, dass jeder Beliebige sich an ihm orientieren und immer noch in einem gewöhnlichen, nichtmoralischen Sinn gut leben kann«13. Oliver. Es scheint, als ob du in Führung wärst. Dagegen muss ich sofort etwas unternehmen. In der utilitaristisch gefärbten Diskussion wird oft das Beispiel angeführt, dass man einen Menschen opfern darf, wenn man damit viele andere retten könnte. Eine bereits klassische Frage. Das hieße allerdings, dass man den Wert, d. h. konkret die Würde eines Menschen mit der Würde von zig anderen Menschen in einen Wertevergleich setzen würde. Das Opfer des einen Menschen – die Trolley-Beispiele wandeln diese Konstellation in diversen Variationen ab – wird infrage gestellt und mit den gewonnenen anderen Leben in ein rechnerisches Verhältnis gesetzt. Runhild. Ich kenne diese Beispiele zur Genüge. Diese Vergleiche sind m. E. nicht möglich. Schaber schreibt hierzu: »Die vorgeschlagene Wertabwägung S. 300 ff. 10 Dies., a. a. O., S. 300 11 Weitere Erläuterungen hierzu liefert auch Newen, Albert: Analytische Philosophie zur Einführung. Verlag Junius, Hamburg 2007 (2. Aufl.), S. 142 ff. 12 Foot, Philippa: Kapitel: Moral, Handlung und Ergebnis. In: Die Wirklichkeit des Guten. Moralphilosophische Aufsätze. Verlag Fischer, Frankfurt/M. 1997, S. 170 13 Dies., a. a. O., S. 183 f.
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vergleicht den Wert der Realisierung des Anspruches mit dem Wert seiner Verletzung. Der Anspruch selbst lässt sich nicht gegen den Wert anderer Güter aufwiegen, weil hier gar kein Wertvergleich möglich ist. Das wäre bloß dann möglich, wenn der Anspruch ein Wert ist, der anderen Werten gegenübergestellt werden könnte. Das ist allerdings nicht der Fall«14. Dieser Meinung schließe ich mich an. Oliver. Ja, ich merke schon, die Luft wird für mich dünner und dünner. Ich gehe auf ein Remis aus. Eine weitere vermittelnde Position nimmt Patzig15 ein: »Dabei hat besonders das Problem einer metaphysikfreien Begründung welche Regeln die Aufmerksamkeit auf sich gezogen, und in diesem Bereich haben sich im Laufe der lebhaften Diskussion diejenigen Versuche als die aussichtsreichsten erwiesen, die die tragfähigen Aspekte der formalen Gesetzesethik im Sinne Kants mit einer neuen Version des Utilitaritätsprinzips zu verbinden versuchen … Da aber die formale Ethik Kants nicht ausreicht, alle moralisch berechtigten Forderungen theoretisch zu begründen, müssen zu dem Prinzip der Verallgemeinerungsfähigkeit der Maximen noch inhaltliche Prinzipien treten …«16. Runhild. Ich helfe dir ein wenig, indem man die Sache einmal so ansieht, dass man von diesen ethischen Grundsätzen, egal welcher Couleur sie sind, einfach absieht, sie einfach bei Seite schiebt und weglässt. Ein vernichtendes Urteil über moralische Prinzipien fällt Gutmann, indem er schreibt: »Diese (moralischen, R. B.) Urteile entspringen aber nicht einer besonderen Quelle, sondern sind, genau wie die moralischen Urteile von Nicht-Philosophen, das Ergebnis eines Initiationsprozesses in die moralische Gemeinschaft. Es gibt demnach keinen Standpunkt, der jenseits aller uns bekannten moralischen Ansichten liegt, von dem aus Philosophen über die gesamte Moral urteilen können, und deshalb können moralische Prinzipien nicht die besondere Autorität haben, die ihnen einige Prinzipienethiker zusprechen«17. Oliver. Ich danke dir herzlich. Als Beleg führt dann Gutmann an, dass seiner Ansicht nach moralische Prinzipien in den seltensten Fällen zur Lösung von moralischen Fragen beitragen können. Zusammengefasst lässt sich sa14 Schaber, Peter: Instrumentalisierung und Würde. Verlag mentis, Paderborn 2010, S. 103 15 Patzig, Günther: Ethik ohne Metaphysik. Verlag Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen 1983 (2. Aufl.), S. 93 ff. 16 Ders., a. a. O., S. 93 17 Gutmann, Tobias: Moral ohne Prinzipien? Zur Kritik normativer Moraltheorien. Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2018, S. 243
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gen, dass konkrete zu lösende Probleme sich i. d. R. nicht auf Prinzipien zurückführen lassen, weil sie a) zu komplex sind und b) kein Fall mit einem anderen zu vergleichen ist. Die Bedingungen sind immer wieder anders, wenn auch das Geschehnis, das zu beurteilen wäre, einem anderen gleicht. »Es ist nahezu hoffnungslos, z. B. all die Situationen in rein deskriptivem (kursiv i. O.) Vokabular aufzählen zu wollen, in denen ein Versprechen unter moralisch fragwürdigen Umständen gegeben wird; oder all jene Handlungen, die grausam sind; oder all die Situationen zu beschreiben, die als Not gelten und darum einen Grund darstellen, jemandem zu helfen«18. Runhild. Zum Schluss seiner Arbeit lenkt Gutmann etwas ein, indem er den Moralprinzipien sehr wohl nachsagt, dass diese nicht unbedingt als falsch angesehen werden sollen, nur ihr Transfer auf konkrete Geschehnisse und die damit erhoffte Lösung des moralischen Problems leisten sie in aller Regel eben nicht. »Stattdessen kann man die konkurrierenden Moraltheorien als auf die Spitze getriebene Versuche verstehen, jeweils einen Aspekt – oder eine Gruppe von Aspekten –, ins Zentrum der Moral zu stellen und damit unsere Aufmerksamkeit auf diese zu lenken«19. Oliver. Vielleicht könnte man die Sache so sehen: Moralische Prinzipien können so als Ausgangspunkt einer zu suchenden Lösung verstanden werden und nicht als deren Endpunkt für einen konkreten Einzelfall. Zu einer nahezu vergleichbaren Lösung nach der Frage, welchen Wert moralische Theorien haben, kommt auch Gordon. Er weist der ethischen Fachperson, die geschult und erfahren in der Analyse von moralischen Problemen ist, eine besondere Rolle zu. Die Ethik ist hierbei das »Werkzeug« der Fachperson.20 Runhild. Obwohl interessant, werde ich auf die beiden Beiträge21 »Könnte Kant ein Utilitarist gewesen sein« (Hare) sowie auf den Widerpart von Rohs »Warum Kant kein Utilitarist war« nicht eingehen. Diese Auseinanderset18 Ders., a. a. O., S. 244 19 Ders., a. a. O., S. 248 20 Vgl. Gordon, John-Stewart: Ethik als Methode. Verlag Karl Alber, Freiburg i. Br. 2019, 5. Kapitel, S. 219 ff. Praktische Beispiele hierzu liefert: Gigerenzer, Gerd: Bauchentscheidungen. Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition. Verlag Goldmann, München 2008 (2. Aufl.) 21 Hare, Richard M.: Könnte Kant ein Utilitarist gewesen sein? S. 11 ff. Und: Rohs, Peter: Warum Kant kein Utilitarist war. S. 35 ff. Beide in: In: Fehige, Christoph; Meggle, Georg: Zum moralischen Denken. Band 2. Verlag Suhrkamp, Frankfurt/M. 1995
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zung wäre eine eigene Darstellung wert. Aber irgendwo muss auch mal Schluss sein. Mir raucht der Kopf und ich frage mich, sind wir mit diesem Vergleich wirklich weitergekommen? Was denkst du? Oliver. Ich denke, dass man ehrlicherweise zugestehen muss, dass die Kant’sche Seite wohl gewisse Vorteile hat herausarbeiten können, dass es aber nicht zu einem klaren Sieg gereicht hat. Runhild. Wir werden also weiter streiten müssen. Ich darf da, abschließend, noch ein Buch erwähnen, indem diese ethischen Grundlagen in die Praxis umgesetzt werden. Es geht dabei um das Argumentieren. Die Autorin kommt auf elf verschiedene Fassungen, nach denen argumentiert werden kann und diese leitet sie jeweils von den unterschiedlichen ethisch-moralischen Färbungen und Gewichtungen ab. Oliver. Das klingt aber auch irgendwie sehr theoretisch. Runhild. Ja, wenn ich es so sage, finde ich das auch. Aber es liest sich spannend, weil die Autorin viele Praxisbeispiele anführt. Man muss es wohl idealtypisch verstehen.22 Oliver. Ein kühles Bier wäre eventuell hier jetzt die Lösung, d. h. der Übergang zur Praxis. Runhild. Einverstanden. Ich bevorzuge aber ein dunkles Weizen. Oliver. Also vergleichen wir diese beiden Getränke, bis die Gläser leer sind.
22 Raters, Marie-Luise: Ethisches Argumentieren. Ein Arbeitsbuch. Verlag J. B. Metzler, Berlin 2020
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Kapitalismus im Vergleich zum Sozialismus »Mit dem Vergleich beginnt die soziale Frage.« (Otto Baumgartner-Amstad, Journalist und Volksbühnenautor) »Und es sind zwei Sprachen oben und unten Und zwei Maße zu messen Und was Menschengesicht trägt Kennt sich nicht mehr. Die aber unten sind, werden unten gehalten Damit die oben sind, oben bleiben. «1
Gustav: männlich, aus dem Schwedischen übernommener Vorname, Gottes Stütze. Ismael: männlich, aus der Bibel übernommener Vorname. Hebräischen Ursprungs und meint: Gott hört. Konstanze: weiblich, lateinischen Ursprungs von »constantia« und bedeutet Beständigkeit, Standhaftigkeit. Verbreitung vor allem in Österreich und Bayern. Ismael. Die Vergleiche über diese beiden politisch-wirtschaftlichen Systeme haben nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen und dauern ohne Unterbrechung bis 1989.2 Man ist fast geneigt zu sagen, dass in Bezug auf diese beiden gesellschaftlichen Organisationsformen Vergleiche systemimmanent dazugehörten. Das eine konnte nicht ohne das andere, eine genuine Form der Selbstdarstellung konnte jeweils nur über den Vergleich mit dem anderen System überhaupt hergestellt werden. Konstanze. Für mich ist in Erinnerung geblieben, dass es 1968 mit dem sogenannten Prager Frühling eine Idee gab, wie man die beiden Systeme in 1 2
Brecht, Bertolt: Die heilige Johanna der Schlachthöfe. In: Ziegler, Jean; Costa da, Uriel: Marx, wir brauchen Dich. Warum man die Welt verändern muss. Verlag Piper, München 1992, S. 9 Weitere Ausführungen zu Leben und Werk von Karl Marx findet man u. a. in: Blumenberg, Werner: Karl Marx. Verlag Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1962. Auf den Marxismus werde ich hier nicht näher eingehen.
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eines überführen könnte. Namen wie Dubcek, Svoboda und vor allem Ota Sik sind mir noch gut in Erinnerung. Man versuchte einen dritten Weg und dieser genoss insbesondere in der westlichen Welt bei der Jugend eine große Anziehungskraft. Man wusste schon damals um die Schwächen des kapitalistischen Systems und hoffte, dass sie mit einer Portion Sozialismus ausgemerzt werden könnten. Viele Bürger und Bürgerinnen der Tschechoslowakei setzten sich in den Westen ab. Sie wurden mit großen Sympathien aufgenommen. Der Prager Frühling erlebt den Sommer nicht und die Systeme fielen wieder in ihre Erstarrung zurück, aus der sie ja nie herausgekommen waren. Ismael. Betrachten wir eine Definition bzgl. des Sozialismus. Wichmann3 schreibt: »Sozialismus ist die auf einer grundsätzlichen Anschauung vom Wesen der Gesellschaft sich gründende Denkweise, welche dem Staate ein zwangsmäßiges Eingreifen in das Getriebe der kulturellen Wertverteilung, vor allem der Eigentumsverhältnisse zuspricht und zur Pflicht macht.« Gustav. Interessant ist auch, wenn man ein Lehrbuch der Ethik4 aus der ehemaligen DDR in die Hand nimmt. Hier heißt es dann z. B.: »Grundlage für eine wissenschaftliche Ethik ist die materialistische Auffassung von der Natur, der Geschichte, der Gesellschaft und vom Menschen. Das ist erst mit dem Marxismus-Leninismus möglich. Vor K. Marx herrschte in der Philosophie und in der Ethik sowohl im Hinblick auf die Frage nach dem Wesen der wirklich vor sich gehenden sozialhistorischen Praxis der Menschheit als auch im Hinblick auf die ideellen Zwecksetzungen und Prinzipien der praktischen Tätigkeit der Idealismus«5. Retrospektiv gelesen ist natürlich erstaunlich, dass man in der DDR keine Diversifikation ethisch-politischer Ansichten zulassen konnte und ausschließlich auf die eigene Auslegung des Marxismus-Leninismus setzte. Andere Ansichten ethischer Theoriebildung wurde nicht anerkannt, nicht akzeptiert. Konstanze. Weitere Argumente, die für den Kommunismus bzw. dessen Theorie ausgeführt worden sind, hat Kymlicka ausgeführt.6
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Wichmann, Ottomar: Sozialphilosophie. Verlag Rösl, München 1923, S. 20 Hörz, H. E.; Wilke, U.: Ethik. Verlag VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1986 Dies., a. a. O., S. 15 Vgl. Kymlicka, Will: Politische Philosophie heute. Eine Einführung. 5. Kapitel: Der Marxismus. Campus Verlag, Frankfurt/M. 1996
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Ismael. Exemplarisch gehe ich hier auf das Kernstück der marxistischen Lehre ein, nämlich die Ausbeutung.7 Sie verläuft folgendermaßen: 1. Arbeit und nur Arbeit schafft Werte. 2. Der Kapitalist erhält einen Teil des Wertes des Produkts. Also: 3. Der Arbeiter erhält weniger als den Wert, den er schafft. 4. Der Kapitalist erhält einen Teil des vom Arbeiter geschaffenen Wertes. Also: 5. Der Arbeiter wird vom Kapitalisten ausgebeutet.8 Ich gehe hier auf die Argumentationslücken nicht ein, weil es den Umfang und meine Absichten hier sprengen würde. Gustav. In der Mitte der 1970er-Jahre erlangte das Buch von Brinkmann in gewissen Kreisen eine hohe Popularität. Ich hatte damals Schwierigkeiten, es zu verstehen, und so erging es mir auch heute noch.9 Ismael. In diesem Zusammenhang kann, muss man auch die südamerikanische Befreiungsbewegung nennen, die vornehmlich mit dem Namen von Dom Hélder Camarra verbunden ist. Er lebte an der Seite der Armen und Ausgestoßenen. Mit Optimismus und Liebe setzte er sich für sie und ihre Rechte ein, für Gerechtigkeit und Frieden – besonders während der Militärdiktatur in Brasilien. Er wurde als »kommunistischer Bischof« bezeichnet und deswegen bedroht, ließ sich das Wort aber nicht verbieten. Wegen seines Muts, seiner Bescheidenheit und seiner Brüderlichkeit hat er bis heute einen tiefen Eindruck hinterlassen.10 Erneut wurde der Versuch unternommen, zwei unabhängig voneinander existierende Ideologien wie die Befreiungsbewegung und den Katholizismus, der sich wohl seit jeher auf der Seite der Mächtigen und Reichen positionierte, miteinander zu versöhnen. Auch dieser Bewegung wurden insbesondere in der westlichen Welt große Sympathien entgegengebracht.
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Weiterführende Inhalte zum Thema Marxismus liefert: Seiffert, Helmut: Marxismus und bürgerliche Wissenschaft. Verlag C. H. Beck, München 1973 (2. Aufl.) 8 Vgl. Kymlicka, a. a. O., S. 145 9 Vgl. Brinkmann, Heinrich: Die Ware. Zu Fragen der Logik und Methode im »Kapital«. Eine Einführung. Focus Verlag, Giessen 1975 10 Vgl. Camara, Dom Helder: https://de.wikipedia.org/wiki/H%C3%A9lder_C%C3% A2mara (Zugriff: 08.12.2021)
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Konstanze. Interessant ist zudem das Coming-out von Sven Hillenkamp, der 2022 auf seine aktive Zeit zurückblickte und heute der Meinung ist, dass im Grunde alle Lager falschliegen. Er schreibt: »Wir traten für absolute Freiheit von Herrschaft ein, ein radikales Verständnis von Demokratie, und verteidigten das Regime in Kuba, arbeiteten mit autoritären Organisationen zusammen, wie der PKK, wie Devrimici Sol, allen möglichen ›Marxisten-Leninisten‹. Warum? Weil sie im Kampf auf der ›richtigen Seite‹ standen, beim revolutionären Widerstand. Und weil es zur geschichtlichen Bürde linken, sozialistischen Denkens seit Marx gehört, dass es abgetrennt ist vom Liberalismus, dem Wissen, dass die Freiheit untergeht, wenn nicht Normen und Institutionen sie bewahren, ihr Form geben«11. Hillenkamp gelangt dann zu seinem persönlichen Fazit, dass es zwischen dem sich politisch passiv gebenden Einzelgänger und dem total gruppenkonformen Aktivisten etwas Drittes geben muss. Gustav. Daraus folgert er, und das muss man dazu sagen, dass man niemandem trauen soll, der nicht auch die eigene Seite kritisiert. Man muss sich gegenüber den eigenen blinden Flecken öffnen und versuchen, sich diese bewusst zu machen. Man muss querdenken, aber nicht so, wie dieser Begriff während der Coronapandemie verwendet worden ist, sondern quer gegen das eigene Denken. Ich frage mich allerdings, ob Hillenkamp den Menschen nicht überfordert oder es in seiner Natur liegt, dass er immer wieder nach den Bestätigungen für seine bereits gefasste Meinung sucht. Er schließt dann mit der Feststellung: »Nur wer in den Strom springt, kann gegen ihn anschwimmen«12. Ismael. Es geht mir hier aber – und das sei an dieser Stelle wiederholt – nicht darum, welches System oder welche Weltanschauung die gerechtere, die bessere, die humanere ist oder gewesen ist. Es geht mir hier nur darum, Beispiele aufzuzeigen, bei denen unversöhnliche Systeme und Gegebenheiten einander gegenüberstehen. Wobei dann stets versucht wird, diese Gegensätze zu überwinden. Sei es immanent, oder indem versucht wird, ein neues Drittes zu kreieren.
11 Hillenkamp, Sven: Lagerdenken: Alle Lager liegen falsch. In: https://www.zeit.de/kultur/2022-02/lagerdenken-links-rechts-politik-psychologie/komplettansicht (Zugriff: 10. 02.2022) 12 Hillenkamp, a. a. O., S. 8
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Konstanze. Einverstanden Ismael. Ein Beispiel hierfür liefert der aus Norwegen stammende Autor Anders Indset13. Er konstatiert, dass der Kapitalismus, der ja heute als alleinige Wirtschaftsform existiert, ebenfalls so kollabieren wird wie der Staats-Sozialismus (1989). Er bezeichnet den heutigen Kapitalismus als eine »selbstzerstörerische Maschine«14. Indset unterstellt, dass wir durch die Gestaltung des heutigen Kapitalismus unsere innere und äußere Balance verloren haben, und diese gilt es, wieder herzustellen. Er schreibt: »Der einzige Weg ist ein Streben nach Balance, und dies kann nur über Kooperation mit einem nachhaltigen und humanen Wettbewerb funktionieren … Starre Modelle werden durch Ansätze der ›Unendlichkeit‹ abgelöst«15. Sein Fazit, das mich doch etwas ratlos zurückgelassen hat, ist, dass er sich einen buddhistischen Geist16 für die Weiterentwicklung des Kapitalismus wünscht. Dieser Buddhismus soll nicht orthodox ausgerichtet sein, sondern eher eine »atheistische-gläubige-pop-westliche Ausprägung«17 (kursiv i. O.) haben. Lassen wir es hierbei bewenden. Gustav. Offen gesagt, kann ich damit nicht allzu viel anfangen. Ein anderer Ansatz, den man weder der kapitalistischen noch der sozialistischen Seite zurechnen kann, ist der Capability Approach (CA). Dieser stellt das individualistische Wohlergehen in den Vordergrund. Wils führt dazu aus, dass es sich beim CA um ein »Modell ethischer Objektivität, nach einem ›objektiven‹ Bild vom Menschen« handelt, »das uns in die Lage versetzt, lokale Traditionen zu kritisieren.«18 Dazu ist zu sagen, dass dies ebenso für den Kapitalismus, vorrangig in der Façon der Sozialen Marktwirtschaft, wie aber auch für den Sozialismus gilt, der den Einzelnen vor der Ausbeutung schützen soll. Ismael. Wenn ich hier weiter spezifizieren darf. Beim CA geht es überdies darum, dass das Individuum immer ein Teil des gesellschaftlichen Kontextes ist und deshalb stets gefragt werden muss, ob diese Institutionen dem Individuum ausreichend Raum zu seiner persönlichen Entwicklung lassen. Jeder Mensch hat gegenüber diesen Institutionen die gleichen Rechte und diese sind letztlich nur dazu da, dass der Mensch ein gutes Leben führen kann. Daran misst sich, ob die Gesellschaft gerecht ist oder nicht. 13 14 15 16 17 18
Indset, Anders: Das infizierte Denken. Verlag Econ, Berlin 2021 (2. Aufl.) Ders., a. a. O., S. 82 Ders., a. a. O., S. 99 Vgl. ders., a. a. O., S. 103 Ders., a. a. O., S. 103 Wils, Jean-Pierre: Versuche über Ethik. Verlag Herder, Freiburg 2004, S. 167 f.
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Gustav. Verstehe. Könnte man es so sagen, dass die faire Verteilung der Lebenschancen für den CA von entscheidender Bedeutung ist?19 Ismael. Genau. Hervorheben möchte an dieser Stelle, dass der CA davon ausgeht, dass das bereits o. g. individuelle Wohlergehen nicht allein vom Glück oder Geld abhängt. Es existieren eine Reihe weiterer Dimensionen, die das Leben lebenswert machen. Dazu gehören u. a. Bildung, Gesundheit sowie soziale Integration. Die Hauptvertreter des CA sind Martha Nussbaum und Amartya Sen, die sich auch explizit, das sei hier am Rande erwähnt, gegen eine einseitige Bevorzugung des utilitaristischen Weltbildes stellen. Sturma20, der sich auf Nussbaum beruft, fasst den CA zusammen, indem er schreibt: »Die Freiheit von Personen bemisst sich danach, welche Fähigkeiten sie im sozialen Raum ausüben können. Genau deswegen ist es verkürzt, allein Einkommen, Wohlstand und Eigentum bei der Bewertung des Lebensstandards heranzuziehen. Der Wert des menschlichen Lebens hängt ganz entscheidend davon ab, ob Personen in der Lage sind, ihre Lebensweise selbst wählen zu können. Functionings drücken in diesem Zusammenhang den Zustand konkreter Lebensqualität aus, während capabilities für den Handlungsspielraum einer möglichen gesellschaftlichen Praxis von Personen einstehen«21. Konstanze. Schön gesagt, Ismael. Auch diese Passage zeigt, dass Vergleiche nicht nur nach Skalen, wie dem Jahreseinkommen, vorgenommen werden dürfen, sondern dass das Leben einen wesentlich komplexeren Wert hat, der es ungleich schwieriger macht, Vergleiche anzustellen. Trotzdem sind wir Menschen immer wieder darauf bedacht, sie anstellen zu wollen.22 Gustav. Ohne Vergleiche könnten wir diese Diskussion gar nicht führen. Aber wir haben uns ja jetzt so ziemlich in der Vergangenheit bewegt. Wie sieht man es heute, im neuen Jahrtausend? Harari meint, dass die Ge19 Vgl. Graf, Gunter: Capability Approach. In: Nida-Rümelin; Spiegel; Tiedemann (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik. Band 2: Disziplinen und Themen. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2017 (2. Aufl.), S. 313 20 Sturma, Dieter: Universalismus und Neoaristotelismus. Amartya Sen und Martha C. Nussbaum über Ethik und soziale Gerechtigkeit. In: Kersting, Wolfgang (Hrsg.): Politische Philosophie des Sozialstaates. Verlag Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2000, S. 257 ff. 21 Ders., a. a. O., S. 279 22 Insbesondere zum Bereich der Armut, unabhängig vom gesellschaftlichen System: Gilder, George: Reichtum und Armut. Quadriga Verlagsbuchhandlung, Berlin 1981
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schichte des modernen Kapitalismus ohne den Einbezug der Wissenschaften gar nicht verstanden werden kann. Wissenschaft wiederum ist mit einer ständigen Weiterentwicklung ihrer Erkenntnisse und Produkte unweigerlich miteinander verbunden. Das widerspricht jeglichem Gesetz der Natur, so Harari, z. B. weil sich ein Wolfsrudel und die Schafe nie weiter entwickeln. Gibt es weniger Schafe, gibt es weniger Wölfe, meint Harari. Technologie ist demnach etwas, was nur dem Menschen eigen ist.23 Konstanze. Ja, du hast Recht, Gustav. Werfen wir noch einen Blick in die Gegenwart. Precht verweist in diesem Zusammenhang auf Wilhelm Röpke, dem Ökonom und Wirtschaftsphilosoph, der als der eigentliche Vater der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg gilt. Dabei wurden bereits vor ca. 70 Jahren Tugenden wie »Selbstdisziplin, Gerechtigkeitssinn, Fairness, Maßhalten und Gemeinsinn«24 als für den Kapitalismus wichtige Elemente dargestellt. Röpke, und das darf nicht vergessen werden, misstraute einem ungezügelten Kapitalismus wie auch einem Staatskommunismus. Aber auch die soziale Marktwirtschaft muss sich heute die Frage gefallen lassen, inwieweit sie noch das Label des »Sozialen« für sich beanspruchen darf. Aber die Menschen möchten nicht nur leben oder überleben, sondern sie wollen stets besser leben oder sie wünschen sich, dass ihre Nachkommen es einmal besser haben werden als sie selbst. Fast könnte man diese Haltung als ein Naturgesetz verstanden wissen. »Leben ist eine Form der Hervorbringung intensiver Erfahrung.«25 Ismael. Ich denke, dass man heute nicht so genau weiß, wo diese Reise noch hingehen wird. Was soll man noch miteinander vergleichen? Den Kapitalismus mit dem Hochkapitalismus. Macht irgendwie alles keinen Sinn. Es gibt die Multi-Internationalen Konzerne, es gibt Männer, die unsagbar reich sind und solchen riesigen Wirtschaftskonsortien vorstehen. Die klassischen Arbeiter:innen gibt es nicht, außer man würde das Prekariat dazuzählen. Ich weiß nicht mehr so genau, wo oben und unten ist. Tatsache ist aber, dass wir in der westlichen Welt in einem Kaufrausch leben. Wir konsumie-
23 Vgl. Harari, Yuval Noah: Eine kurze Geschichte der Menschheit. Deutsche VerlagsAnstalt, München 2013, 39. Aufl., S. 385 24 Precht, Richard David: Von der Pflicht. Eine Betrachtung. Verlag Goldmann, München 2021, S. 141 25 Hampe, Michael: Die Dritte Aufklärung. Verlag Nicolai Publishing & Intelligence, Berlin 2019 (2. Aufl.), S. 63
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ren uns noch zu Tode. Aber das ist wohl ein Nebengleis in unserer Diskussion. Diese wächst uns nämlich langsam über den Kopf, wie der Konsum.26 Konstanze. Das sehe ich nicht ganz so unklar. Schwierig ist es schon, das gebe ich zu. Aber es gibt die hochindustrialisierte, die westliche Welt, dazu gehören natürlich auch Australien und Japan. Man sagt eben: westlich. Dann gibt es China, ein wirtschaftlich hochpotenter Staat, der aber nach anderen Werten funktioniert als wir hier in Europa. Gustav. Ja, und dann gibt es auch noch Russland, bei dem man nicht weiß, was deren Vorstellungen eigentlich sind. Also schon alles sehr verwirrend. Ismael. Was immer wieder vergessen geht, auch bei uns jetzt hier, ist Afrika. Konstanze. Welches Afrika meinst du? Eher den Norden, der ist arabisch, oder die Sahel-Zone, eine der weltweit ärmsten Gegenden, oder eher Südafrika? Ismael. Bei Afrika darf man zudem China nicht vergessen, weil die da enorm investieren, ohne sich aber in die Politik der jeweiligen Länder einzumischen. Eine sehr spezielle Form, die da gelebt wird. Gustav. Also müssen wir uns eingestehen, dass wir hier mit Vergleichen an unsere Grenzen stoßen, weil wir gar nicht so genau wissen, was wir mit was vergleichen sollen. Konstanze. Du hast recht. Leider verhält es sich so. Ismael. Das ist dann wohl auch der Grund, warum wir uns so lange mit der Vergangenheit von Marx, Dom Hélder Camarra und Dubcek/Svoboda aufgehalten haben. Konstanze. Klar, da haben wir Blöcke und die können wir gegenüberstellen. Und das geht … Gustav. Eben heute nicht mehr.
26 Vgl. Tillesen, Carl: Konsum. Warum wir kaufen, was wir nicht brauchen. Verlag HarperCollins, Hamburg 2022 (6. Aufl.)
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Ismael. Wir leben in einer Übergangsgesellschaft, in der wir weder den Übergang noch das andere Ufer sehen. Konstanze. Das heißt, wir stochern um Mitternacht bei Nebel im Dunkeln. Ismael & Gustav. So sieht es aus. Da müssen wir wohl durch, wohin auch immer.
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»Glaube nicht allzu schnell, nicht keinem, nicht allen, nicht alles! Forsche, vergleich’s, erwäg’s, finde die Wahrheit heraus.« (Johann Christoph Friedrich Haug, 1761–1829, Deutscher Schriftsteller) »Die in Rede stehenden Phänomene sind, wenigstens von den philosophischen Standpunkten aus, unter allen Tatsachen, welche die gesamte Erfahrung uns darbietet, ohne allen Vergleich, die wichtigsten; daher sich mit ihnen gründlich bekannt zu machen, die Pflicht eines jeden Gelehrten ist.« (Arthur Schopenhauer)1 Matthäus: männlich, aus der Bibel übernommener Vorname, hebräischer Herkunft, in der Bedeutung: Geschenk Jahwes. Octavia: weiblich, römische Kaiserin, Gattin des Nero. Shirley: weiblich, englischer Vorname, der sich aus einem Familiennamen entwickelt hat, der seinerseits auf einen Ortsnamen in England zurückgeht. Octavia: Ethik kennt man nicht als empirische Ethik, sondern – klassischerweise – als eine geisteswissenschaftlich orientierte Abteilung der Philosophie. Ich selbst würde eigentlich gerne dabeibleiben wollen. Ich weiß wirklich nicht, was es nun mit dieser sogenannten empirischen Ethik auf sich hat. Das ist doch Firlefanz, neumodisch, eine Marotte von Leuten, die sich mit etwas Neuem ins Gespräch bringen wollen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Basta! Shirley: Ruhig Blut, Octavia. In den vergangenen Jahren hat sich aber gezeigt, dass immer mehr Philosophen (eher männliche), dazu übergegangen sind, ethische Probleme empirisch anzugehen. Das heißt wir erleben hier eine Aufteilung oder, wie mans nimmt, eine Abspaltung von der klassischen ethischen Methodologie, die ausschließlich geisteswissenschaftlich, herme-
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Schopenhauer, Arthur: Parerga und Paralipomena, Erster Band: Versuch über das Geistersehen und was damit zusammenhängt, 1851
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neutisch2 orientiert war und auch noch ist, hin zu einer Methodologie, die von standardisierten, sozialwissenschaftlich orientierten i. d. R. Methoden der Befragung ausgeht. Hier spielen dann Objektivität, Reliabilität und Validität, die drei grundlegenden Kriterien empirischer Sozialforschung eine entscheidende Rolle. Matthäus. Gute Definition, Shirley. Octavia. Man stelle sich z. B. Heideggers Sein und Zeit vor, in der er Befragungen nach standardisiert-statistischen Methoden durchgeführt hätte. Nicht vorstellbar! Shirley. Am Rande sei hier erwähnt, dass dieser Prozess in der Psychologie seit Jahren bereits abgeschlossen ist. Will sagen, dass es im Grunde keine geisteswissenschaftliche Psychologie auf universitärer Ebene mehr gibt. Aussagen etwa von Sigmund Freud, Alfred Adler oder insbesondere auch C. G. Jung, werden heute nicht mehr als opportune Psychologie im Sinne eines State of the Art, verstanden, sondern im besten Fall als »bessere« Literatur. Octavia. Und ist das etwa nicht als ein Verlust zu werten? Shirley. Moderne Psychologie ist statistische Forschung, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Nun zeigte es sich, dass sich eventuell – der hier beschriebene Prozess ist noch am Anfang – in der Philosophie, und man weiß noch nicht (2022), inwieweit er sich durchzusetzen vermag. Aber lassen wir die Spekulationen und betrachten wir, worum es hier geht. Matthäus. Genau, finde ich auch. Shirley. Es muss aber erwähnt werden, dass aufgrund dieser neuen Entwicklung innerhalb der Ethik ein schlüssiger Vergleich (bisher) kaum möglich ist. Ich beschränke mich deshalb in erster Linie auf die Darstellung, was unter empirischer Ethik überhaupt verstanden werden kann. Octavia. Man kann immer alles mit allem vergleichen. Das hatten wir doch schon im Vorgespräch.
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Jung, Matthias: Hermeneutik zur Einführung. Verlag Junius, Hamburg 2012 (4. Aufl.), S. 116 ff.
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Matthäus. Ich verstehe, offen gestanden, den Konflikt oder die Problematik des Vergleichs nicht so ganz, über den ihr euch so echauffiert. »Der größte aller Philosophen, Aristoteles, hielt Ethik nicht für eine exakte Wissenschaft; er gründete sein ethisches System auf Beobachtungen der edlen und weisen Menschen seiner Zeit, ohne die Fragen zu beantworten, warum sie sich so verhielten und warum (kursiv i. O.) er sie für edel und weise hielt«3. Octavia. Da sehe ich mich eben gezwungen, den Über-Vater unserer Profession ins Spiel zu bringen. Auch Kant stand der Empirie äußerst kritisch gegenüber, wenn es um die Frage der Ethik ging: »Innerhalb der Familie der kognitivistischen Theorien, die eine solche Erkenntnis für möglich halten, markiert Kants antiempiristischer Versuch der Begründung einer reinen Moralphilosophie in der Metaphysik der Sitten und ihrer Grundlegung (kursiv i. O.) die ideengeschichtlich zentrale Position. Eine reine Moralphilosophie ist, so führt er in der Vorrede der Grundlegung aus, ›von allem, was nur empirisch sein mag und zur Anthropologie gehört, völlig gesäubert‹. Nur eine solche apriorische Moral könne beanspruchen, überhaupt eine allgemeinverbindliche zu sein; ohne ›Reinigkeit‹ könne es keine Moralphilosophie geben«4. Matthäus. Soweit die Äußerungen zweier berühmter Fachvertreter über ihre Haltung zur Empirie. Persönlich habe ich in meinem Psychologiestudium in den 1970er-Jahren an der Universität in Köln mitbekommen, wie der Lehrstuhl nach einigen Differenzen in einen geistes- und einen naturwissenschaftlichen Bereich aufgeteilt worden ist. Heute spielt, wie bereits erwähnt, die geisteswissenschaftliche Richtung innerhalb der Psychologie keine Rolle mehr. Vertreter wie Freud, Adler oder Jung werden als historische Figuren betrachtet. Ihren Veröffentlichungen wird lediglich noch literarischer Wert zugebilligt. Ich habe bereits darauf hingewiesen. Shirley. Alles schön und gut. Klären wir hier, in der gebotenen Kürze, was als empirische Wissenschaft, im klassischen Sinne, zu verstehen ist. Frey meint, dass die Inhalte, die Wissenschaft ausmachen, nicht bloß eine Sammlung von Sätzen sein dürfen, »sondern einen inneren Zusammenhang bilden,
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Rand, Ayn: Die Tugend des Egoismus. Eine neue Auffassung des Eigennutzes. TvR Medienverlag, Jena 2017, S. 14 4 Paulo, Norbert; Bublitz, Jan Christoph: Empirische Ethik. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Berlin 2020, S. 18
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den man (als) System oder Theorie bezeichnen kann.«5 Das bedeutet 1., dass die getätigten Aussagen überprüfbar (widerlegbar = falsifizierbar nach Popper) sein müssen, 2. prinzipiell kommunizierbar sein müssen und 3., dass sie einem systematischen, inneren Zusammenhang unterliegen müssen.6 In seinem Fazit stellt Frey dann fest, dass es bei der geisteswissenschaftlichen Philosophie nicht so sehr neue Lösungen sind, die gefunden wurden, sondern dass sich lediglich »neue Fragestellungen«7 ergeben haben. Zur empirischneurologischen Ethik äußere ich mich nicht weiter, weil ich mich a) darin zu wenig auskenne und b) sie in diversen Veröffentlichungen als (noch) nicht aussagekräftig genug für normative Entscheidungen erachtet wird.8 Aber es gibt zugleich Gegenstimmen, die das anders sehen.910 Octavia. Also gut: Was versteht man nun unter empirischer Ethik? Shirley. »Als erkenntnistheoretische Position vertritt der Empirismus die Auffassung, die (sinnliche) Erfahrung (Empirie) sei die einzige Erkenntnisquelle«11. Empirische Ethik wird gegenwärtig als der Oberbegriff für a) empirisch informierte Ethik und b) als experimentelle Ethik verstanden. In der Praxis sind diese beiden Vorgehensweisen nicht immer klar unterscheidbar. Als Beweggrund für die Entstehung einer empirischen Ethik kann angeführt werden, dass deren Vertreter:innen der Meinung sind, dass die gängige moralische Urteilspraxis oft stark defizitär ist. Pessimismus macht sich breit, weil man viele moralische Probleme mittels der bekannten ethischen Theorien auf einer geisteswissenschaftlichen Ebene bzw. auf Ebene der geisteswissenschaftlichen Methodik nicht zu lösen imstande ist. Sauer meint hierzu: »Wir haben gute Gründe dafür, anzunehmen, dass epistemisch de5
Frey, Gerhard: Philosophie und Wissenschaft. Eine Methodenlehre. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 1970, S. 32 6 Vgl. ders., a. a. O., S. 32 7 Ders., a. a. O., S. 121 8 Vgl. den Beitrag von Berker, Selim: Die normative Bedeutungslosigkeit der Neurowissenschaft. In: Paulo, Norbert; Bublitz, Jan Christoph: Empirische Ethik. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Berlin 2020, S. 219 ff. 9 Vgl. Greene, Joshua: Die Schnappschuss-Moral überwinden: Warum die kognitive (Neuro)Wissenschaft bedeutsam für die Ethik ist (S. 252 ff.). Sowie: Singer, Peter: Ethik und Intuitionen. (S. 297 ff.). Beide in: Paulo; Bublitz a. a. O. 10 Vgl. Gazzaniga, Michael S.: Wann ist der Mensch ein Mensch? Antworten der Neurowissenschaft auf ethische Fragen. Verlag patmos, Düsseldorf 2007, insbesondere Teil V, S. 119 ff. 11 Anzenbacher, Arno: Ethik. Eine Einführung. Patmos Verlag, Ostfildern 2012 (4. Aufl.), S. 18
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fizitäre moralische Urteile viel Schaden anrichten können«12. Eine weitere Erklärung wäre, dass sich die experimentelle Philosophie bemüht, mittels Umfragen, Statistiken und Experimenten herauszufinden, »welches Verständnis Laien von zentralen philosophischen Begriffen wie beispielsweise Glück, Verantwortung, Kausalität haben, um diese mit dem philosophischen Lehrverständnis abzugleichen und so zu einer lebensnahen Erkenntnistheorie und Ethik zu gelangen«13. Octavia. Ich muss zugeben, dass das eine gewisse Logik aufweist. Matthäus. Auch ich bin gespannt, was da noch kommt. Shirley, hättest du nicht einige zündende Beispiele. Dann kämen wir vielleicht einen Schritt weiter. Shirley. Dein Wunsch ist mir Befehl. Im Folgenden sollen zwei Beispiele näher erläutert werden, um die Bedeutung der empirischen Ethik verständlicher zu machen. Erstes Beispiel: Heinz-Dilemma Eine Frau, die an einer besonderen Krebsart erkrankt war, lag im Sterben. Es gab eine Medizin, mit der die Ärzte und Ärztinnen glaubten, die Frau retten zu können. Es handelte sich um eine besondere Form von Radium, die ein Apotheker in der gleichen Stadt erst kürzlich entdeckt hatte. Die Herstellung war teuer, doch der Apotheker verlangte zehnmal mehr dafür, als ihn die Produktion gekostet hatte. Er hatte 2000 Dollar für das Radium bezahlt und verlangte 20000 Dollar für eine kleine Dosis des Medikaments. Heinz, der Ehemann der kranken Frau, suchte alle seine Bekannten auf, um sich das Geld auszuleihen, und er bemühte sich auch um eine Unterstützung durch die Behörden. Doch er bekam nur 10000 Dollar zusammen, also die Hälfte des verlangten Preises. Er erzählte dem Apotheker, dass seine Frau im Sterben lag, und bat, ihm die Medizin billiger zu verkaufen und ihn den Rest später bezahlen zu lassen. Doch der Apotheker sagte: »Nein, ich habe das Mittel entdeckt, und ich will damit viel Geld verdienen.«
12 Sauer, Hanno: Moralischer Rationalismus: Eine pessimistische Verteidigung. In: Paulo; Bublitz, a. a. O., S. 361 13 Ryser, Simona: Wenn es weh tut. In: UZHmagazin, Heft 22, Jg. 1, S. 18
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Heinz hat nun alle legalen Möglichkeiten ausgeschöpft; er ist ganz verzweifelt und überlegt, ob er in die Apotheke einbrechen und das Medikament für seine Frau stehlen soll. Sollte Heinz das Medikament stehlen oder nicht? Octavia. Und jetzt? Jetzt stehe ich wie der Ochs vorm Berg. Oder kommt da noch etwas? Wo ist die Lösung oder die stringente Ableitung einer Argumentation, was dieser Heinz hier tun soll? Was ist für ihn richtig oder falsch, was erlaubt, geboten oder verboten, verd… noch mal. Shirley. Nun könnte man das Dilemma von Heinz nach deontologischen, konsequentialistischen, tugendethischen oder auch kontraktualistischen Überlegungen zu lösen versuchen. Aber und jetzt kommt der Clou, man könnte auch eine repräsentative Befragung durchführen. Diese Befragungen würden auf einem sozial-intuitionistischen Modell basieren (SIM). Das bedeutet, dass das moralische Urteil nicht durch eine rationale und durch bewusst zugängliche Beweise begründet wird, sondern dass direkt entschieden und erst danach rational motivierte Überlegungen angestellt werden, weshalb soundsoviele Prozent der Befragten sich für oder gegen den Einbruch entschieden haben. Grundlage für diese Entscheidung sind demnach emotionsgeleitete, moralische Intuitionen, welche rasch zu einem Ergebnis führen, und dies ohne tiefere Reflexion. Die hierbei wirkenden Intuitionen werden nicht weiter hinterfragt, sondern werden als gegeben hingenommen. Erst danach findet eine post-hoc-Rationalisierung statt.14 Mir würde eine solche Vorgehensweise einleuchten. Seid ihr noch für ein weiteres Beispiel zu haben? Matthäus. Nur zu. Ich finde es spannend. Octavia: Wenn es denn sein muss. Bitte schön. Shirley. Zweites Beispiel: Inzest Auch im folgenden Beispiel des Inzestfalles kommt das SIM zum Zuge, weil man davon ausgeht, dass das Beispiel mit den klassischen Ethikthe14 Vgl. zur Intuition die umfassende Darstellung von Raatzsch, Richard: Reflektierter Intuitionismus. Verlag mentis, Münster 2013
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orien nicht befriedigend zu lösen ist. Das Beispiel: Es geht um zwei Geschwister, die beschließen, miteinander zu schlafen. Alle bekannten negativen Begleiterscheinungen dieses Tuns können ausgeschlossen werden. Sie verhüten gleichzeitig mehrfach, niemand erfährt von dem Vorfall, ihre gegenseitige Beziehung leidet nicht darunter. Wenn nun Menschen danach gefragt werden, wie sie das Verhalten der beiden Geschwister beurteilen, dann reagieren sehr viele Befragte mit eindeutiger Ablehnung. Die Handlung wird als moralisch falsch bezeichnet, auch wenn man nicht erklären könne, warum. Für dieses Nicht-Finden-von-Gründen wurde der Begriff des »moral dumbfounding« erfunden. Darunter versteht man, dass man perplex ist oder verblüfft. Interessant ist nun, dass der Rationalisierungsprozess, besser -versuch erst nachträglich einsetzt, aber keine plausiblen Gründe genannt werden können, warum das Verhalten dieser Geschwister als moralisch nicht erlaubt eingestuft werden kann. Die befragten Personen sind auch später nicht in der Lage, ihre ursprünglich ablehnende Reaktion, analytisch zu erklären. Dabei spielt es keine Rolle, welche ethische Basistheorie hierzu in Anspruch genommen wird. Ich finde, dass das Beispiel für sich spricht. Findet ihr nicht auch? Matthäus. Ja, finde ich auch. Octavia. Also, ich weiß nicht. Ich habe verstanden, was du meinst, was du damit sagen willst, aber richtig finde ich das Verhalten der beiden Geschwister trotzdem nicht, auch wenn eventuell 75 % der Befragten es als nicht abartig oder komisch einschätzen würden. Das überzeugt mich immer noch nicht. Shirley. Akzeptiert. Lassen wir es doch einfach mal so stehen. Wir wissen auch nicht, ob diese Beispiele real sind, auch wenn sie so daherkommen. Es sind letztlich Gedankenexperimente. Und ich finde, wir sollten uns nun diesen zuwenden. Ich stelle kurz dar, was man unter dieser Sorte von Experimenten versteht. Einverstanden? Octavia & Matthäus. Ja. Shirley. Der Wert von Gedankenexperimenten: Ein Wort zu den bekannten Trolley-Dilemma-Situationen, die ihr auch im Studium im Rahmen des Utilitarismus kennengelernt habt. Hier wird eine Weiche umgestellt, damit fünf Arbeiter gerettet und nur einer geopfert werden soll, dafür wird ein dicker Mann von einer Brücke gestoßen. Diesbezüglich ist die empiri-
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sche Ethik der Meinung, dass diese Gedankenexperimente nicht als tauglich eingestuft werden können. Sie suggerieren die Möglichkeit, ethische Entscheidungssituationen auf einfache Art und Weise darstellen zu können. Diese Dilemmata werden als hypothetisch bezeichnet, weil sie unrealistisch sind. Es besteht die Gefahr, dass sie in ihrer Beurteilung nicht ernst genug genommen werden. Ein Transfer auf eine solche reale Situation kann von den Gedankenexperimenten überhaupt nicht abgeleitet werden. Man hat nun versucht, diese Situation in einer Virtual-Reality-Darbietung etwas zu konkretisieren. 70 % der Versuchspersonen haben sich dafür entschieden, die Person von der Brücke zu stoßen, um die fünf Arbeiter zu retten. Dies im Vergleich zum Textbeispiel, bei dem nur 20 % bereit waren, dies zu tun. Wenn der Versuch mit einer lebensgroßen Puppe durchgeführt wurde, waren ebenfalls 70 % bereit, dies zu tun. Aber es ist doch festzuhalten, dass die meisten von uns sich nie in einer solchen Situation befinden werden, in der sie vor der Entscheidung stehen, eine Weiche umzustellen oder festzustellen, dass sich auf der betreffenden Brücke gerade kein übergewichtiger Mensch befindet. Anders verhält es sich, dies hier nur nebenbei, wenn es um die Verteilung von Atemgeräten auf der Intensivstation geht. Aber kann von der bereits erwähnten Weiche auf die Intensivstation geschlossen werden? Dies als persönliche Anmerkung von mir. Matthäus. Also überzeugen diese Gedankenexperimente nicht so ganz. Zu wenig Empirie dahinter, wie ich mal vermute. Shirley. Genau! Es ist deshalb festzuhalten, dass der Wert bzw. der Ruf der Gedankenexperimente in den vergangenen Jahren arg gelitten haben. Die Aussage von Kant, dass sich auch die Philosophie experimenteller Verfahren bedienen soll,15 im Sinne einer Nachahmung naturwissenschaftlicher Methoden (Kant dachte an die Physik), überzeugt heute nicht mehr. Auch Nietzsche ging bei seinen Überlegungen des experimentellen Philosophierens davon aus, dass bei theoretischen Einsichten immer auch praktische Lebensbezüge tangiert werden.16 Anders sieht es Langkau, die meint, dass es Gedankenexperimente als eine philosophische Methode gar nicht geben kann. Langkau meint: »Die meisten philosophischen Gedankenexperimente sind allerdings schlechte Geschichten. Sie sind lieblos, absurd 15 Vgl. Schmid, Jelscha: Ein »Experiment der reinen Vernunft«: Kants Erfindung des philosophischen Gedankenexperiments. In: www.praefaktisch.de (Zugriff: 05.01.2021) 16 Vgl. Steinbach, Tim-Florian: Philosophie als Experiment. Eine existenzielle Note. In: www.praefaktisch.de (Zugriff: 26.01.2021)
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und pedantisch, und deswegen merkwürdig – und ja, das kann manchmal durchaus seinen Reiz haben. Diese Geschichten sind aber nicht mehr als Nebenprodukte unseres alltäglichen philosophischen Denkens«17. Octavia. Gut, das hätten wir mehr oder weniger geklärt. Ich sehe es im Übrigen auch so wie Frau Langkau. Was mich noch interessieren würde: Welche Bedeutung hat der Situationismus in unserer Vergleichsdebatte? Shirley. Die Frage nach dem Wert der empirischen Ethik kann mit der Frage nach dem Situationismus weiter geklärt werden. Dabei geht es darum, ob mittels empirischer Studien, die immer auf realen Situationssettings beruhen, dem Problem nachgegangen werden kann, ob Charaktertugenden situativ beeinflussbar sind oder eben, wie man über Jahrhunderte festlegte, ob sie Konstanten darstellen. Dazu muss ich nun aber etwas weiter ausholen. Mögt ihr noch? Matthäus & Octavia. Aber sicher doch. Ja. Shirley. Aristoteles ging davon aus, dass ein guter Charakter auf einer festen und unerschütterlichen Disposition beruht. Das heißt, ein tugendhafter Mensch verhält sich in einer fragwürdigen Situation immer tugendhaft. Warum? Weil er tugendhaft IST. Der Situationismus geht hingegen davon aus, dass sich der gleiche Mensch, in unterschiedlichen Situationen, in unterschiedlicher Art und Weise verhalten wird. Die empirische Ethik versucht nun, diese Aussage mittels Überprüfung von experimentell konstruierten Situationen zu überprüfen. Der Situationismus erhebt hiermit den Anspruch, eine gewisse Neuausrichtung in der Ethikdiskussion zu etablieren. »Anstatt danach zu streben, einen Charakter zu entwickeln, der unser Verhalten auf eine Weise bestimmt, die in hohem Maße von den Umständen unabhängig ist, sollten wir mehr Energie in die Auseinandersetzung mit den Merkmalen unserer Umwelt investieren, die das Verhalten beeinflussen«18. Interessant zur Frage des Situationismus ist nun in diesem Zusammenhang natürlich das sehr bekannte Milgram-Experiment. Habt ihr davon schon mal gehört? Aber darum geht es jetzt nicht unmittelbar, obwohl dieses Experiment natürlich als ein Paradebeispiel für die experimentell arbeitende empirische 17 Langkau, Julia: Es gibt keine Gedankenexperimente! In: www.praefaktisch.de (Zugriff: 04.02.2021) 18 Doris, John, M.: Charakter, Situationen und Tugendethik. In: Paulo; Bublitz, a. a. O., S. 207
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Ethik steht. Es geht hier vielmehr um die Vorhersagen der an dem Experiment beteiligten Probanden. Diese wurden nämlich vor Beginn des Experimentes gefragt, was sie meinten, wie viele der anderen Personen dazu bereit wären, die Maximalspannung zu verabreichen, wenn der oder die (Pseudo-) Proband:in eine falsche Antwort gibt. Die Voraussage war, dass höchstens 1–2 % die Maximalspannung verabreichen würden. Der tatsächliche Wert derjenigen Personen, die dann in der Versuchssituation unter Anleitung eines Versuchsleiters, der sie stark animierte (dominierte?), den maximalen Schock verabreichten, betrug dann 65 %. Octavia. Und was schließen wir jetzt daraus? Shirley. Wir neigen dazu, Charakterzüge als fest, starr und gegeben anzusehen. Die erwähnte Studie von Milgram belegt – empirisch – dass eine Voraussage und ihre Realität weit auseinanderklaffen können. Auch in Zimbardos Stanford-Prison-Experiment wurden die teilnehmenden Personen vorgängig dazu befragt, ob sie als Wächter eine Person seien, die gewalttätig werden könnte? Die Personen gaben unisono an, dass sie nicht zu Gewalt neigen würden. Es kam aber zügig zu gewalttätigen Ausschreitungen aufseiten dieser Gruppe und das Experiment musste deshalb sogar abgebrochen werden. Matthäus. Diese Zahlen sind schon sehr beeindruckend. Es scheint fast so, als ob es mit unserer Ethik nicht allzu weit her ist. Das ethische Eis ist dünn und brüchig. Shirley. Ein weiteres Beispiel: In einer empirischen Studie wurden in einer Telefonzelle (vor der Handy-Zeit) einige Münzen deponiert. Es sah so aus, als ob sie versehentlich dort liegen gelassen worden wären. Dieses Geld wurde auf der Basis des Zufallsprinzips mal dort liegen gelassen, dann wiederum nicht. Während sich eine Person in der Telefonzelle aufhielt, ging draußen immer eine Person vorbei, die einen Stapel Papiere mit sich trug, und der fiel dann – zufälligerweise – unmittelbar vor der Telefonzelle auf den Boden, sodass die Papiere verstreut dort lagen. Wenn nun Personen, die Geld in der Zelle gefunden und mitgenommen hatten, die Zelle verließen, so war der Anteil der Personen, die beim Aufheben der Papiere behilflich waren, signifikant höher, als wenn die Person kein Geld in der Zelle vorgefunden hatte. Matthäus. Da staunen Laien und Fachpersonen wundern sich.
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Octavia. Fragt sich nur, wer hier Laie und wer Fachmann oder Fachfrau ist? Shirley. Ich bin noch nicht ganz fertig. Ebenso ist bekannt, dass bei Richterinnen und Richtern die Schärfe der Urteile geringer ist, wenn sie nach der Mittagspause ausgesprochen werden. Wenn sie frühmorgens gesprochen werden, verhält es sich gegenteilig (mündliche Aussage eines Staatsanwaltes). Von diesen Experimenten kann die Meinung abgeleitet werden, dass sich der charakterbasierte Ansatz eines Aristoteles einer vernichtenden empirischen Kritik ausgesetzt sieht.19 Für Aristoteles ist ein Charakter dadurch gekennzeichnet, dass er auf unveränderlichen Dispositionen20 beruht, wie eingangs bereits ausgeführt. So neigen wir dazu, den Charakter als etwas Festes anzusehen, der in der Kindes- und Jugendzeit geformt wird und dann diese Struktur ein Leben lang beibehält. Aber diese Meinung und die Realität sind nicht kongruent und wir müssen uns überlegen, ob wir uns nicht von dieser Meinung verabschieden sollten und ob es sinnvoller wäre, das Augenmerk verstärkt auf die Struktur von Situationen zu legen, in denen es den Menschen leichter fällt, sich tugendhaft zu verhalten, als tugendhaft sein zu müssen. Würden eventuell nicht viele Ehebrüche vermieden werden, wenn die Situationen nicht dementsprechend angelegt wären, dass es einem eben leichtfällt, diesen Ehebruch zu begehen? Doris erwähnt ein solches Beispiel.21 Auch Appiah22 wendet sich gegen den Charakter und hat sich mit dem Beispiel des verstreuten Papiers auseinandergesetzt. Er schreibt: »Die Münze im Rückgabefach des Münztelefons sorgte dafür, dass nicht nur eine von 25, sondern 6 von 7 Versuchspersonen – also nicht mehr kaum jemand, sondern fast alle – beim Aufheben der Papiere halfen. Bei Studenten, die es eilig haben, besteht eine sechsfach geringere Wahrscheinlichkeit, dass sie innehalten und sich als barmherzige Samariter betätigen.«23 Appiah fasst diese Verhaltensweisen als eine »situationistische Herausforderung«24 auf. Octavia. Da scheint es so, als ob doch einiges für den Situationismus sprechen würde und damit natürlich dann auch für eine empirische Ethik. Aber
19 Vgl. Doris, J.: a. a. O., S. 217 20 Vgl. Doris, J. In: Aristoteles. Nikomachische Ethik. Reinbek bei Hamburg 2006, S. 1105bI , S. 180 21 Vgl. Paulo; Bublitz, a. a. O., S. 209 22 Appiah, Kwame Anthony: Ethische Experimente. Übungen zum guten Leben. Verlag C. H. Beck, München 2009, S. 40 ff. 23 Ders., a. a. O., S. 48 24 Ders., a. a. O., S. 51
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ich muss mir das dann schon einmal durch den Kopf gehen lassen, nicht empirisch, sondern hermeneutisch. Matthäus. Shirley, nun mal Hand aufs Herz: Bist du denn der Meinung, dass die klassische Philosophie und ihre Ethik, so wie wir sie kennengelernt haben, ausgedient hat? Dass demnach in der Philosophie die gleiche Richtung eingeschlagen wurde, wie es in der Psychologie passiert ist? Von der Soziologie einmal ganz abgesehen. Shirley. Ja, das ist die Ein-Millionen-Dollar-Frage. Nein, Spaß beiseite. Es stellt sich für mich die Frage, die ich hier nicht abschließend beantworten kann, ob die empirische Ethik ein Paradigmenwechsel im Kuhn’schen25 Sinne ist. »Der Wissenschaftstheorie Thomas Kuhn folgend ist es bekanntlich der gewöhnliche Lauf der Dinge, dass eine bestimmte Theorie in der Normalwissenschaft das Paradigma darstellt, an dem sich andere Theorien so lange abzuarbeiten haben, bis es zu einem Modelldrift, einer Modellkrise und schließlich einer Modellrevolution kommt«26. Das müsste bedeuten, dass die klassische, geisteswissenschaftliche Philosophie in eine Krise geraten wäre. Dies scheint mir (noch) nicht der Fall zu sein. Andererseits wäre auch zu fragen, ob die Philosophie noch die Philosophie wäre, wie wir sie kennen, wenn sie nach den für die Naturwissenschaften bestimmenden drei Gütekriterien der Objektivität, der Validität und der Reliabilität27 funktionieren müsste. Für mein Dafürhalten steht aber bereits jetzt fest, wenn sich die Philosophie, insbesondere die Ethik verstärkt auf empirische Befunde abstützt oder diese sogar als Erklärungsmuster für menschliches Verhalten heranziehen will, kommt sie mehr und mehr in das Fahrwasser bzw. in den Erkenntnisbereich der Psychologie, insbesondere der Sozial-Psychologie. Ob dies nun gut oder weniger gut ist, vermag ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu beurteilen. Es könnte sein, dass sich aber die Philosophie dergestalt wandeln muss, wie es die Psychologie erleben (und erleiden) musste, als sie sich zu einer sich heute als rein empirische Wissenschaft verstehenden Fakultät entwickelt hat. Appiah hierzu: »Falls die Experimentalpsychologie zeigt, dass Menschen die von den Tugendtheoretikern als für eudaimonia (kursiv i. O.) notwendig erachteten Charakterzüge nicht besitzen können, 25 Kuhn, Thomas S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Verlag Suhrkamp, Frankfurt/M. 1976 26 Culp, Julian: Licht und Schatten John Rawls« politischer Philosophie. In: www.praefaktisch.de (Zugriff: 02.03.2021) 27 Vgl. Seiffert, Helmut: Marxismus und bürgerliche Wissenschaft. Verlag C. H. Beck, München 1973 (2. Aufl.)
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bleiben nur zwei Möglichkeiten: Entweder sind hier die falschen Charakterzüge genannt worden, oder wir können kein gedeihliches Leben führen. Die Tugendethik steht vor einem Dilemma«28. Folgen wir Appiah könnte es aber sehr wohl sein, dass sich mittels der empirischen Ethik ein Paradigmenwechsel hin zu einer Psychologie ergibt, die sich ethischer Fragestellungen29 annimmt. Der Berliner Philosoph Philipp Hübl greift in seinen Vorträgen bzw. Ausführungen auf empirisch erhobenes Material zurück und bejaht die Frage, dass es sich hierbei eventuell um einen Paradigmenwechsel in der Betrachtung normativer Fragestellungen handelt oder handeln könnte.30 Es könnte ebenso sein, dass Bourdieu31 mit seiner Annahme recht hat, dass empirische Fakten gesellschaftliche Prozesse nie abzubilden in der Lage sind. Hier scheint mir das letzte Wort noch nicht gesprochen zu sein. Octavia. Scheint mir allerdings auch so. Matthäus. Es gibt und hat auch immer wieder Stimmen gegeben, die der Rationalität, der Empirie ihre derart dominante Rolle in der Neuzeit absprechen wollen. Diese Leute sind davon überzeugt, dass z. B. die Umweltverschmutzung, die gnadenlose Ausbeutung von Natur und Tier, die Klimaproblematik, aber auch Kriege mit ihren hoch technologisierten Waffensystemen dafür verantwortlich zu machen sind, dass nach wie vor große Teile der Weltbevölkerung in Armut leben und immer noch so viel Ungerechtigkeit auf dem Globus herrscht. Dies führt dazu, dass Wissen und Weisheit in den »magischen und mythischen Überlieferungen sogenannter Naturvölker und in den vom kulturellen Hauptstrom der Moderne verdrängten und verschütteten Traditionen gesucht werden …«32 Ob uns dieser Marsch rückwärts allerdings weiterbringt, wage ich zu bezweifeln. Die krisengeschüttelte Moderne kann wohl mit einem stark romantisierenden 28 Appiah, Kwame Anthony: Ethische Experimente. Übungen zum guten Leben. Verlag C. H. Beck, München 2009, S. 54 29 Vgl. Felnhofer, A.; Kothgassner, O. D.; Kryspin-Exner, I. (Hrsg.): Ethik in der Psychologie. Verlag UTB, Wien 2011. Insbesondere das Kapitel: 1. Grundlagen, S. 17 ff. 30 Persönliche Mitteilung von Philipp Hübel an den Autor anlässlich einer Frage bei einem Zoom-Vortrag am 08.04.2021 31 Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Verlag suhrkamp taschenbuch wissenschaft, stw 658, Frankfurt/M. 1992 (5. Aufl.), S. 754 32 Schorsch, Christoph: Versöhnung von Geist und Natur? Eine Kritik. In: Dürr, HansPeter; Zimmerli, Walther Ch. (Hrsg.): Geist und Natur. Über den Widerspruch zwischen naturwissenschaftlicher Erkenntnis und philosophischer Welterfahrung. Scherz Verlag, Bern 1991, S. 347
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Blick nicht geheilt werden. Schorsch: »Das Zurück zur Natur, zum magisch-mythischen Eingebettet-Sein in eine beschützende Welt partizipierenden Bewusstseins ist infolgedessen eine Illusion und die Beschwörung Ich-loser Dumpfheit als Patentrezept zur Lösung aller Weltprobleme fauler Zauber und sonst nichts«33. Octavia. Shirley hat ja jetzt sehr gesprochen. Werfen wir noch einen Blick auf ein Feld, das von der Wissenschaft weder als ethisch noch als empirisch taxiert wird, nämlich die Astrologie. Dabei geht es mir weniger darum, zu erläutern, was unter Astrologie und anderen als nicht wissenschaftliche Verfahren bezeichneten Aktivitäten zu verstehen ist, wie Hand-Auflegen, Homöopathie, Bach-Blüten-Therapie, Kraft der Steine und dergleichen mehr, sondern wie sie im Vergleich zu einer sich empirisch verstehenden Wissenschaft einzuschätzen sind. Ein Exponent, der sich zeitlebens mit dieser Frage auseinandergesetzt hat, ist Paul Feyerabend.34 Feyerabend formulierte hierzu drei Fragen. Zuerst fragt er, was denn die Wissenschaften eigentlich seien. Hierzu wird oft geantwortet, dass Wissenschaften auf Tatsachen beruhen, die allgemeinen Qualitätsstandards genügen müssen. Dabei handelt es sich um die drei Standards der Objektivität, der Reliabilität und der Validität. Die Wissenschaft geht von empirischen Fakten aus und versucht diese dann, in einem Falsifikationsprozess (Popper) zu widerlegen. Gelingt dies nicht, gilt die Erkenntnis so lange als wissenschaftlicher Fakt, bis er widerlegt worden ist. Bei der zweiten Frage werden die besonderen Vorteile in den Vordergrund geschoben, die Wissenschaft haben sollte. Bei der Beantwortung dieser Frage geht Feyerabend pragmatisch vor, weil er unterstellt, dass diese Vorteile überhaupt nicht objektivierbar, also nicht wissenschaftlich sind, sondern von den Maßstäben jener Gruppen abhängig sind, die die Wissenschaften »bezahlen und von ihnen gewisse Ergebnisse erwarten. Sie beurteilen, wer die besseren Ergebnisse hat – eine wissenschaftliche Medizin oder die Akupunktur; eine ›wissenschaftliche‹ Charakterbewertung mit Hilfe von Tests oder das Urteil von Freunden und Bekannten; eine ›wissenschaftliche‹ Seelenkunde oder religiöse Prinzipien. Die Ergebnisse sind von Fall zu Fall verschieden und sie ändern sich auch in der Zeit«35. Drittens wendet sich Feyerabend der Frage zu, wie wir Wissenschaft generell verwenden sollen. Seine Antwort: »Die Wissenschaften – oder eine bestimmte 33 Ders., a. a. O., S. 349 34 Feyerabend, Paul: Erkenntnis für freie Menschen. Verlag edition suhrkamp, Frankfurt/M. 1980, S. 212 ff. 35 Feyerabend, a. a. O., S. 213
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Wissenschaft – werden in einem Landstrich, einem Dorf, einer Stadt, einem Landbezirk so verwendet, wie die Bürgervertretungen in diesem Landstrich, dieser Stadt, diesem Dorf, diesem Landbezirk entscheiden«36. Hierbei ist Feyerabend sogar der radikalen Ansicht, dass sich bei diesem Abklärungsprozess die Wissenschaft sogar ganz heraushalten soll, weil sie mit ihren eigenen Ansichten bzw. empirischen Gesichtspunkten, die er als irrelevant bezeichnet, den Ansichten der Bürger und Bürgerinnen schadet. Matthäus. Das ist jetzt aber schon eine extrem pointierte Meinung dieses Herrn. Octavia. Natürlich. Sehe ich auch so, aber ist sie nicht auch bedenkenswert? Shirley. Aber das ist es doch, was ich hier auch immer wieder aufzeigen wollte. Man darf nicht an dem bisher Gedachten und Gemachten bis in alle Ewigkeit festkleben. Ich könnte mir vorstellen, dass Feyerabend einer empirischen Ethik durchaus aufgeschlossen gegenübergestanden hätte. Es ist einfach eine andere Methode, die kann doch nur zu mehr Erkenntnissen führt, und das ist doch beileibe nichts Schlechtes, meine ich. Octavia. Okay. Darauf können wir uns einigen. Matthäus. Ich auch.
36 Feyerabend, a. a. O., S. 213
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Männlich – Weiblich: Der ewige Vergleich »Am ewigen Vergleich geht das Herz zugrunde.« (Sarah Klose, deutsche Aphoristikerin) »Der Vergleich von Männern und Frauen ist lächerlich. Wie sollte man die Individualität der Geschlechter gegeneinander messen können?« (Peter Rudl, deutscher Aphoristiker)
Männlich-Weiblich: Der ewige Vergleich
»Männer sind wie Wein. Man muss sie einstampfen Und im Dunkeln einschließen, damit sie etwas reifen, das man beim Essen ganz gern dabeihat.« (Britney Spears, amerikanische Sängerin)
»Die große Frage, die bisher nicht beantwortet wurde und die zu beantworten auch ich nicht der Lage war, lautet: Was will die Frau?« (Sigmund Freud, Begründer der Psychoanalyse) Sigrun: weiblich, aus dem althochdeutschen »sigu« = Sieg und »runa« = Geheimnis. Ulrich: männlich, aus dem althochdeutschen »uodal« = Erbgut, Heimat und »fridu« = Frieden. Yvonne: weiblich, aus dem Französischen übernommen. Franco: männlich, aus dem Italienischen übernommen. Franco. Über das Frau- und/oder Mann-Sein ist schon so viel geschrieben worden, dass ich mir hier weitere Darstellungen ersparen kann.123 Dabei 1 2 3
Interessant hierzu auch: Badinter, Elisabeth: Die Mutterliebe. Geschichte eines Gefühls vom 17. Jahrhundert bis heute. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1984 Eine ganz andere Sichtweise auf die hier aufgegriffene Vergleichsproblematik als Badinter liefern: Beck, Ulrich; Beck-Gernsheim, Elisabeth: Das ganz normale Chaos der Liebe. Verlag Suhrkamp, Frankfurt/M. 1990 Vgl. hierzu auch: Nussbaum, Martha C.: Gerechtigkeit oder das gute Leben. Gender Studies. Verlag Suhrkamp, Frankfurt/M. 1999. Insbesondere: die beiden Kapitel »Ge-
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geht es im Grunde immer um die Unterschiede der beiden Geschlechter. Was zeichnet den Mann aus, was sind seine Schwächen; oder: Was zeichnet die Frau aus und was sind ihre Schwächen etc. Nun zeigt sich aber, und das stützt wiederum meine hier dargestellte These, dass diese Dualität des Mann- und Frau-Seins auch aufgebrochen wird, indem von Transmenschen die Rede ist. Diese Menschen, die sich mit ihrem Geschlecht, mit dem sie geboren und vor allem sozialisiert worden sind, nicht identifizieren können, stellen nun so etwas wie ein neues Geschlecht dar. »Ein Transmann war, aus seiner eigenen Perspektive heraus gesprochen, nie eine Frau. Er steckt vielmehr in einem Körper, der ihn für die Gesellschaft zur Frau machte, der aber, wiederum aus einer Perspektive, ein unpassender, nicht mit seiner geschlechtlichen Identität übereinstimmender Körper ist.«4 Diese Menschen leiden stark unter ihrer Situation.5 So sind denn auch Suizide nicht selten. Es ist eine Frage der Gesellschaft, wie sie damit umzugehen bereit ist. Es geht mir aber nicht um die wirklich schwierige Situation dieser Menschen oder um den gesellschaftlichen Druck, der ausgeübt wird, insbesondere wenn sie noch Kinder sind oder sich in der Pubertät befinden, sondern darum, welche Schwierigkeiten die Gesellschaft hat, wenn sich aus bislang nie in Zweifel gezogenen Dualitäten ein Drittes (oder Viertes) entwickelt. Wobei diese Formulierung nicht korrekt ist, weil es sich nicht entwickelt hat, es hat schon immer bestanden, aber das Bewusstsein, dass es auch mehrere Varianten geben könnte, verunsichert die Menschen und lässt dann die Betroffenen in unsagbarer Art und Weise leiden. Dabei lässt sich feststellen, dass Vergleiche, die über ein gewisses Maß an Vergleichbarkeit hinausgehen – es sind eben mehr als nur zwei Geschlechter möglich – viele Menschen überfordern, sodass sie mit Ablehnung und Hass reagieren.6 Yvonne. Ui, da bist du aber gleich in die Vollen gegangen. Ist das nicht etwas sehr speziell?
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fühle und Fähigkeiten von Frauen« (S. 131 ff.) und »Menschliche Fähigkeiten, weibliche Menschen« (S. 176 ff.). Flasspöhler, Svenja: Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2021, S. 54 Vgl. Pauli, Dagmar; Meyer, Katrin: Transgender ist ein tiefgreifendes Gefühl. Interview. In: UZH-magazin, Heft 20, Jg. 3, S. 40 ff. Vergl. hierzu auch: Hohenzollern Prinz von, Johann Georg; Liedtke, Max: Der weite Weg Schulweg der Mädchen. Die Geschichte der Mädchenbildung als Beispiel der Geschichte anthropologischer Vorurteile. Verlag Klinkhardt, Bad Heilbrunn/Obb. 1990
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Franco. Mag sein. Aber es führt uns direkt in die Geschlechterthematik hinein. Sigrun. Ich finde auch, dass das ein etwas ruppiger Einstieg in unser heutiges Thema war. Vielleicht beginnen wir noch einmal und ich schlage ein anderes Thema vor. Anders, aber auch in Bezug auf die Geschlechtlichkeit, verhält es sich bei der Partnerwahl. Auch hier spielen Vergleiche eine zentrale Rolle. Wenn es darum geht, dass der Besitz der Familie oder ihr Ruf, ihr Image vermehrt werden sollen und dies entscheidend ist für die Wahl eines zukünftigen Ehepartners, einer zukünftigen Ehepartnerin, so ist die Sache noch relativ einfach. Die Vergleiche sind berechenbar und die Trauung wird vollzogen, oder eben auch nicht. Aber auch wenn diese heute wohl nur noch in bestimmten Kreisen vollzogenen Heiraten nicht mehr die Regel sind, werden Vergleiche bei der Partnerwahl immer noch bestimmend sein. Dies darf nicht unterschätzt werden. Yvonne. Es spielt sich eben weniger auf einer materiellen, sondern eher auf einer emotionalen und ästhetischen Ebene ab. Wer passt zu wem, heißt die Frage. Gefällt er mir, gefällt sie mir? Nach welchen Kriterien verliebt man sich und auch: entliebt man sich und löst die Verbindung auf. Da können wohl nur Vergleiche eine Rolle spielen. Was wäre sonst das Referenzkriterium, nachdem man entscheidet, dass man sich verliebt oder entliebt hat? Man wird mir hier wohl entgegenhalten, dass es doch wohl das Herz wäre, das jeweils die Entscheidung fällen würde. Aber das Herz kann nicht denken, kann keine Entscheidungen fällen. Das alles passiert wohl im Gehirn. Natürlich spielen hierbei die Gefühle eine große Rolle. Aber der Mensch ist nicht Instinkt gesteuert und kann sehr wohl abwägen, ob ihm diese Beziehung gefallen oder eben nicht mehr gefallen würde. Ulrich. Ich stimme dem zu, möchte es aber noch etwas zuspitzen. Da der Mensch stets die Wahl hat, auf jeden Fall in der heutigen Zeit, in der westlichen Industriegesellschaft, ist die Liebe eben auch eine Ware und unterliegt einem Preis-Leistungs-Verhältnis und dieses wiederum wird durch den Markt bestimmt und ist volatil. Als Beispiel möge die unmittelbare Nachkriegszeit nach dem Zweiten Weltkrieg gelten, in der es einen großen Frauen-Überschuss gab, weil sie zwar auch dezimiert, aber eben doch gegenüber den Männern in der Überzahl waren. Da gibt es Aussagen von Zeitzeuginnen, die sehr wohl zugaben, dass der Markt an Männern so stark ausgedünnt war, dass man eben bereit und gezwungen war, Abstriche bei
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der Partnerwahl zu machen. Ist das Angebot kleiner, verringert sich auch die Wahlmöglichkeit. Sigrun. Etwas Geschichtsbetrachtung kann hier auch nicht schaden. Bei unseren Vorfahren vor Tausenden von Jahren, nach der Steppeneinwanderung, zeigte es sich, dass die Geschlechter nicht im gleichen Verhältnis in der Bronzezeit (3300–1200 v. Chr.) nach Europa einwanderten. DNA-Forschungen (abgeleitet aus den Mitochondrien) ergaben, dass »eine starke Verschiebung auf den Y-Chromosomen«7 stattfand, was darauf hinwies, dass es sich um eine Vererbung von Vätern auf die Söhne handelte. Dies wiederum bedeutete, dass es vorrangig Männer aus der Steppe waren, die nach Zentraleuropa einwanderten und mit den bereits dort ansässigen Frauen Kinder zeugten. »Die genetischen Analysen lassen vermuten, dass die Einwanderer aus der Steppe zu 80 % männlich waren«8. Aber damit nicht genug. Krause und Trappe schließen nämlich im Weiteren aus ihren großangelegten Forschungen, dass es keine Diskriminierungen der Frauen in dieser Zeit gegeben hat. Sie schließen das aus den Begräbnisritualen, bei denen sie wiederum durch DNA-Abgleiche die Verwandtschaftsbeziehungen bestimmten: »Als Mütter der Familien erhielten sie im gleichen Maße Grabbeigaben wie ihre Männer«9. Weitere Personen, die in den Familien, Sippen lebten, erhielten nicht die gleichen wertvollen Grabbeigaben, egal, ob es sich hierbei um Männer oder Frauen handelte. Yvonne. Ich hätte aber doch nicht in der damaligen Zeit leben wollen, zu gefährlich, diese vielen fremden Männer. Man sagt ja auch, dass ein Mann keine Angst hat, außer der Angst, kein Mann zu sein. Franco. Ich sehe schon, wir hopsen hier etwas von einer Thematik zur nächsten. Das zeigt wohl die hohe Komplexität. Deshalb probiere ich es erneut: Eine völlig andere Thematik stellt die Genderfrage10 dar. Was mich konkret interessiert, ist die Frage, warum wesentlich weniger Frauen in Führungspositionen zu finden sind als Männer. Umgekehrt lässt sich auch fragen, warum nur ganz wenige Männer in Care-Berufen zu finden sind? Hierbei ist festzuhalten, dass man Ende des letzten Jahrhunderts durch eine Vielfalt 7
Krause, Johannes; Trappe, Thomas: Die Reise unserer Gene. Eine Geschichte über uns und unsere Vorfahren. Verlag Ullstein, München 2021 (5. Aufl.), S. 130 8 Dies., a. a. O., S. 130 9 Dies., a. a. O., S. 162 10 Die folgenden Ausführungen verdanke ich Dr. Fritz Fuchs, der sich mit dieser Thematik außerordentlich fundiert und belesen auseinandergesetzt hat.
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an PR-Aktionen versucht hat, dieses Ungleichgewicht paritätischer gestalten zu wollen. Diese Bemühungen zeigten auch in den ersten Jahren einen leichten Erfolg. Aber dann zu Beginn der 2000er-Jahre stellte man fest, dass sich die Kurve verflachte und kein weiterer Anstieg zu verzeichnen war. Auch die Bemühungen von diversen Berufsverbänden, dass mehr Mädchen in eine Lehre eintreten, die zu einem eher männlich dominierten Gewerbebzw. Handwerksbetrieb zählen, fruchtete nicht bis kaum. Es wäre deshalb an der Zeit, sich Gedanken dazu zu machen, warum dem so ist? Sigrun. Gute Frage, Franco. Eine Statistik der Universität Zürich aus dem Jahre 2020 zeigt das folgende Bild. Während heute ca. 60 % der Gymnasiumabsolvierenden weiblich sind, gibt es am Ende einer Hochschulkarriere aber nur ca. 30 % Professorinnen. Allerdings stellte Höffding bereits 1888 fest: »Wenn die Frau sowohl die Möglichkeit als auch das Recht und die Pflicht hat, an den allgemein menschlichen Aufgaben mitzuarbeiten und ihre Persönlichkeit auf selbstständige Weise auszubilden, so wird ihr auch das politische Stimmrecht nicht verwehrt werden können. Diejenigen inneren und äußern Bedingungen, welche dieses voraussetzt, kann sie ebenso wohl besitzen, als die meisten Männer, und es ist nicht weniger für sie als für den Mann vom größten Interesse, dass die öffentlichen Angelegenheiten gut verwaltet werden«11. Das sind doch erstaunliche Einsichten, wenn man bedenkt, wann sie formuliert worden sind. Höffding geht auch davon aus, dass es nicht korrekt ist, wenn man die Frau rein auf ihre emotionale Seite reduziert und damit unterstellt, dass sie zu keiner höheren intellektuellen Leistung befähigt ist. Wer so denkt, so Höffding weiter, geht von einem »unpsychologischen Gegensatz« aus, der nicht korrekt ist. Im Gegenteil, er geht so weit zu sagen, dass gerade tiefe Empfindungen dazu prädestinieren, dass man sich gut in Objekte »vertiefen« kann und »dieselben in ihrer ganzen Eigentümlichkeit« in sich aufnehmen kann. Ulrich. Ganz schön weit seiner Zeit voraus, dieser Herr Höffding. Erstaunlich … wirklich … hm. Sigrun. Aber trotz dieser o. g. Aussagen von Höffding sah sich Heller immer noch gezwungen, die folgenden Zeilen zu schreiben: »Klassenvorurteile, Vorurteile gegen Frauen und sexuelle Vorurteile sind über die Frage der 11 Höffding, Harald: Ethik. Eine Darstellung der ethischen Prinzipien und deren Anwendung auf besondere Lebensverhältnisse. Fues’s Verlag (R. Reisland), Leipzig 1888, S. 228ff. Erschienen bei: Forgotten books, London 2015, S. 232
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Gerechtigkeit miteinander verknüpft. Wenn jemand diskreditiert wird, sagt er, ihm sei eine Ungerechtigkeit widerfahren. Wenn eine Frau eine Position nicht bekommt und ein Mann bevorzugt wird, obwohl er vielleicht weniger qualifiziert ist, sagt sie nicht nur, sie sei diskriminiert worden, sondern auch, ihr sei Unrecht geschehen«12. Als Beleg nun noch die Kurvengrafik. Franco. Gehen wir nun doch auch noch auf die Erkenntnisse moderner Biologie ein. Studien haben nämlich gezeigt, dass es zu Beginn der Schwangerschaft, genau im zweiten Trimester zu Testosteron-Ausschüttungen kommt, die dazu führen, dass aus einem Embryo ein Junge wird. Wenn es nun bei einem Mädchen (XY-Chromosom) versehentlich zu einem Zuviel an männlichen Hormonen kommt, besteht die Gefahr, dass es zu einem Überschuss dieser Testosteron-Abgaben kommt. Androgene (Sexualhormone für die Ausbildung sekundärer Geschlechtsmerkmale, z. B. Testosteron) vermännlichen ca. ab dem dritten Schwangerschaftsmonat13 das Gehirn männlicher Föten derart, dass sie als Jungen nach der Geburt eine Tendenz bzw. Neigung für typisch männliches Verhalten haben, das permanent ihre Persönlichkeit prägt.14 Starke Einflüsse von Hormonen treten auch in der Pubertät auf und natürlich gibt es zudem viele andere Gene, die auf das Verhalten wirken. Ebenso ist es offensichtlich, dass immer auch soziokulturelle Einflüsse das Verhalten beeinflussen. Aber die grundsätzliche Kanalisierung in Richtung männliches Verhalten bei Jungen erfolgt, wie bereits erwähnt, in der kritischen Zeit im zweiten Trimester der Schwangerschaft. Kommt es zu Testosteron-Ausschüttungen bei weiblichen Föten in der kritischen Zeit, so zeigen die Mädchen (CAH-Mädchen)15 ein Verhalten ähnlich wie Jungen und Männer, das nicht »umerzogen« werden kann, und wenn die Rezeptoren für die Androgene bei männlichen Föten fehlerhaft sind, so kommen nicht Jungen, sondern XY-Mädchen (CAIS-Mädchen)16 zur Welt, die sich äußerlich und im Verhalten nicht von XX-Mädchen unterscheiden, allerdings keine Gebärmutter haben. So kann man sagen, dass das menschliche 12 Heller, Agnes: Die Welt der Vorurteile. Geschichte und Grundlagen für Menschliches und Unmenschliches. Verlag Edition Konturen, Wien 2014, S. 125 13 Es gibt Hinweise, dass es primär auf eine sehr kurze Zeitperiode ankommt, während der die wichtigen »Weichen« bzw. Gen-Regulationen »fixiert« werden: Spencer et al., Melissa Hines 2021 14 Den Effekt der »Minipubertät« der Jungen in den ersten Wochen und Monaten nach der Geburt habe ich hier unterschlagen. Auch dadurch gibt es noch zusätzliche »männliche« Einflüsse. 15 CAH = congenital adrenal hyperplasia 16 CAIS = complete androgen intensitivity Syndrome (komplette Androgenresistenz oder Maxwell-Morris-Syndrom)
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Gehirn standardmäßig (defaultmäßig) weiblich ist. Wenn die männlichen Hormone während der Schwangerschaft nicht wirken oder keine zusätzlich17 hinzukommen, bleibt das Gehirn weiblich. Mit männlichen Hormonen und »normalen« Rezeptoren wird es vermännlicht. Verhaltensunterschiede von Männern und Frauen haben eine substanziell genetische und auch epigenetische Ursache: Pränatale Hormone »kanalisieren« das männlich/weibliche Verhalten und die Persönlichkeit und damit letztlich auch die Prädispositionen (Neigung/Interessen/Präferenzen) für Beruf, Position, Lifestyle. Ulrich. Was versteht man unter der Epigenetik? Sigrun. Hat mich auch interessiert und ich habe das mal nachgelesen. »Genom und Epigenom sind komplementär und beeinflussen sich gegenseitig. Das Genom ist der genetische Code, die DNA – das ist wie die Harddisk eines Computers. Das Epigenom ist für die Art und Weise zuständig, wie dieser Code gelesen wird. Beim Computer wäre das die Software. Die epigenetischen Mechanismen steuern, wie die genetische Information interpretiert wird. Das Genom ist weitgehend fix. Es kann sich zwar verändern, etwa durch Mutationen, doch das Epigenom ist viel dynamischer als das Genom. Es wird kontinuierlich moduliert – im Lauf des Lebens, aber auch in jedem Moment, abhängig davon, was wir gerade tun.«18 Franco. Danke Sigrun! Ziehen wir ein Fazit: Das weibliche menschliche Gehirn wird beim männlichen Fötus durch (zu viele) männliche Hormone »vermännlicht«. Die Vermännlichung ist zwar »permanent«, aber es ist kein genetischer Determinismus19, sondern eine Prädisposition, ein Kern, eine Neigung, eine Tendenz bzw. ein Feld von Möglichkeiten.
17 Testosteron wird nicht nur in den Hoden produziert. Bei Frauen produzieren die Eierstöcke und die Nebennierenrinde geringe Mengen an Testosteron. Außerdem stellt ihr Körper Testosteron aus Vorstufen von anderen Androgenen her. Die Hoden der männlichen Föten produzieren jedoch deutlich größere Mengen. 18 Mansuy, Isabelle: Gesundheit wird vererbt. Interview mit der Epigenetikerin Isabelle Mansuy. In: UZHmagazin, Heft 20, Jg. 3, S. 56 19 Es ist nicht determinierend im Sinne, dass andere Einflüsse keine Wirkung haben, die das Verhalten modifizieren können. Es ist auch nicht determinierend, dass der Effekt für alle genau gleich groß ist. Im Gegenteil offensichtlich ist die Wirkung bei allen männlichen Föten unterschiedlich groß. Aber die Wirkung ist »fixiert«, sodass sie nicht einfach durch die Sozialisation »überschrieben« werden kann.
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Ulrich. In einem öffentlichen Vortrag20 stellt denn auch Fritz Fuchs fest, dass es sich bei den Vorlieben, dass Mädchen etwa nicht in sogenannte Handwerksberufe einsteigen oder dass Frauen grundsätzlich weniger Interesse daran zeigen, höhere Führungsaufgaben anzustreben, nicht darum gehen kann, eine Krankheit heilen zu wollen, die gar keine ist. In westlichen Gesellschaften haben viele Menschen die Möglichkeit, in weiten Teilen selbst zu entscheiden, wie sie leben und was sie tun möchten. So meine ich im Anschluss an Dr. Fuchs, dass die Interessen und Persönlichkeitseigenschaften zwischen Frauen und Männern unterschiedlich sind. Diese führen dann zu Disparitäten in den Entscheidungen, welche Berufe man ergreift, oder inwieweit man eine Karriereleiter hochzusteigen bereit ist. Sigrun. Wenn wir nun Regeln und Vorschriften (z. B. Quoten) installieren, welche diese Freiheiten bekämpfen und mit denen wir die Menschen erziehen oder zwingen wollen, Dinge zu tun, die sie von sich aus nicht tun würden, stellen wir, ethisch betrachtet, infrage, was wir erreicht haben. Viele der Korrekturmaßnahmen erzeugen Spannungen und brauchen Energie für Ziele, die wir letztlich nicht erreichen werden. Wir schränken so die Freiheiten ein und geben auf, was wir »gleiche Chancen« nennen. Wir verneinen, dass Disparitäten ebenso Chancen bieten und grundsätzlich nichts Falsches oder Schlechtes dabei ist. Yvonne. Es ist außerdem höchst fragwürdig, wie ich hier noch mit großem Betonen ausdrücken möchte, den Frauen zu sagen, was sie tun sollten: technische Berufe, höhere Positionen, andere Mutterrolle und dergleichen mehr. Wir drücken damit aus, dass sie eigentlich nicht wissen, was ihre Präferenzen sind und was für sie gut ist. Dies ist sexistisch, denn bei Männern machen wir dies nicht. Wir sagen den Männern nicht, sie würden das Falsche wollen, außer vielleicht bei der familiären Care-Arbeit zu Hause. Sigrun. Aber sowas von genau! Mit dem starken Fokus auf Gleichstellung zementieren wir zudem die Haltung, dass Gebiete und Positionen, die von Männern dominiert sind, höhergestellt werden. Franco. Da müssen wir Männer uns an die eigene Nase greifen. Da bin ich bei euch. Wir sagen, es gäbe da Bereiche, die intrinsisch wertvoller sind. Wir sollten den Frauen nicht permanent die Botschaft senden, dass sie weniger 20 Persönliche, unveröffentlichte Mitteilung von Fritz Fuchs, Universität Zürich, an den Autor (im November 2021).
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wert sind und weniger Status haben, wenn sie Lehrerin sein wollen oder in der Pflege arbeiten, als wenn sie Ingenieurinnen oder Computerwissenschaftlerinnen sind. Noch ein kleiner Nachtrag dazu, dass Mädchen mehr Rollenattribute von Jungen übernehmen, wurde im Tages-Anzeiger Zürich veröffentlicht. Hier wurde statistisch festgestellt, dass Mädchen mittlerweile mehr Pornos schauen. »Demnach konsumieren immer mehr Mädchen industriell hergestellte Pornografie. Der Anteil erhöhte sich zwischen den Jahren 2010 und 2020 von 16 auf 27 %. Bei Jungen hingegen ist ein rückläufiger Trend zu beobachten …«21. Bei den Jungen beträgt der Anteil aber immerhin noch 57 %. Was man nun davon halten soll, möchte ich hier nicht kommentieren, sondern es einfach mal so stehen lassen. Yvonne. Diesen Pornokonsum der Geschlechter möchte ich hier jetzt auch einmal so stehen lassen und nicht weiter vertiefen. Interessiert mich im Grunde auch nicht. Ulrich. Ich halte die Positionen, die Fritz Fuchs hier vertritt, für bedenkens- und überlegenswert. Trotzdem ist aber nicht von der Hand zu weisen, dass die Position der Frauen gegenüber den Männern – und es geht hier ja um den Vergleich – letztlich immer auch die schwächere ist. So hat sich Appiah22 in einem eigenen Kapitel seines Buches, in dem es um die Ehre geht, mit der Frage auseinandergesetzt, warum Frauen immer die schlechtere Rolle in diesem Geschlechterkrieg zufällt. Yvonne. Genau, es gibt wichtigere Themen. Hier ist noch eines in unserem Vergleichs-Sammelsurium. Bekannt geworden ist der sogenannte Femizid. Nach Schätzungen der UN aus dem Jahre 2000 werden jedes Jahr ca. 5000 Frauen und Mädchen von Verwandten aus Gründen der Familienehre ermordet.23 Dazu Appiah: »Wir müssen den Menschen immer wieder vor Augen führen, dass Ehrenmorde unmoralisch, illegal, irrational und religiös nicht zu verantworten sind. … Die Ehrenmorde werden erst dann verschwinden, wenn sie als unehrenhaft gelten«.24
21 Mädchen gucken mehr Pornos. In: Tages-Anzeiger, Mittwoch, 2. März 2022, S. 14, ohne Verf. 22 Appiah, Kwame Anthony: Eine Frage der Ehre oder wie es zu moralischen Revolutionen kommt. Verlag C. H. Beck, München 2011, insbesondere das 4. Kapitel: Kriege gegen Frauen, S. 153 ff. 23 Vgl. Appiah, a. a. O., S. 161 24 Appiah, a. a. O., S. 188
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Sigrun. Da kann man wohl nichts mehr dazu sagen und Vergleiche sind auch überflüssig, denke ich. Deswegen geht die Reise mit einer weiteren Thematik weiter. Eine völlig andere Sichtweise stellt Conradi dar. In ihrem sehr aufschlussreichen Buch zur Care-Ethik25 geht es ihr u. a. um die Frage der Macht und davon abgeleitet die Formen der Herrschaft, insbesondere werden asymmetrische und symmetrische Verhältnisse in Care-Interaktionen aufgedeckt. Sowohl Männer als auch Frauen haben Bedürfnisse. Eine Seite benötigt Rat, Hilfe, Unterstützung. Die andere Seite hat das Bedürfnis zu unterstützen, zu helfen, zu begleiten. Warum auch immer, das spielt, so Conradi, keine Rolle. Sie könnten beide auch etwas anderes tun, aber sie tun es nicht! Diese These stellt ein neues Moralverständnis dar, das die seit Jahrhunderten(/-tausenden) fest gefügten Rollen zwischen Männern und Frauen aufbrechen soll. Hierbei ist, nach Conradi, die feministisch orientierte Ethik hilfreich, weil sie die ihrer Ansicht nach kritikwürdigen Konventionen, die in diesem Bereich vorherrschend sind, infrage stellt. Konradi hat ihrer Care-Ethik neun Thesen zugrunde gelegt. Die siebte These lautet: »Care-Verhältnisse sind in der Regel nicht reziprok. Das Schenken von Achtsamkeit ist nicht an Reziprozität gebunden«26. Bei dieser These, die für Conradi von besonderer Bedeutung zu sein scheint, könnte eingewendet werden, dass es in Care-Verhältnissen ja immer eine Person gibt, die weniger von Not, Elend, Hunger, psychischer Schwäche etc. betroffen ist, und ein Gegenüber, das von dieser Care-Arbeit profitieren möchte. Profitieren ist hier in einem nicht materiellen Sinne gemeint. Dieses Verhältnis ist, so auch meine persönliche Erfahrung, immer von einem Machtgefälle durchzogen. Ich habe in einem Aufsatz27 dazu Stellung bezogen und am Beispiel der Telefonseelsorge dargestellt, dass es dieses Machtgefälle immer gibt und es nicht aufgehoben werden kann, wenn man Care-Situationen realistisch ansieht. So kann die Autonomie der Person durch die Prinzipien des Nichtschadens und der Fürsorge eingeschränkt werden. Es ist immer auf sensible Art und Weise abzuklären, inwieweit bei paternalistischen Eingriffen vonseiten der Telefonberatung die Autonomie der Person ihrem Wohl untergeordnet werden darf. Ethische Probleme können sich dabei sowohl bei der fallbezogenen Interpretation als auch bei der relativen Gewichtung der Prinzipien ergeben. Das heißt, es geht immer auch um die moralischen Überzeugun25 Conradi, Elisabeth: Take Care. Grundlagen einer Ethik der Achtsamkeit. Campus Verlag, Frankfurt/M. 2001 26 Dies., a. a. O., S. 56 27 Bonfranchi Riccardo: Care Ethics als ethische Grundlage der Telefon-Seelsorge. In: Ethica 23, 2015
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gen der beteiligten Personen. Damit werden intuitive Urteile und subjektive Abwägungen genau dort unvermeidbar, wo wir eigentlich ethische Rezepte erwarten würden. Die gibt es aber nicht. Insofern teile ich die von Conradi dargelegte siebte These nicht. Sie erscheint mir eher dem Wunsch als der Realität verpflichtet. Ulrich. Alles schön und gut und ein interessanter Einblick in eine Sphäre, die einem im Alltag nicht unbedingt begegnet. Aber kehren wir doch zur Kernthematik zurück. Man kann sich der Frau, der Weiblichkeit auch ganz anders annähern. Nämlich indem man sich dem Kapitel »Wilde Weiber und Werwölfe« widmet. Duerr schreibt: »Wir haben erwähnt, dass bei ausgesprochenen Frauenfesten bisweilen den Männern übel mitgespielt wurde, und dass sich die Frauen das Symbol ihrer Unterordnung, die Haube, vom Kopf rissen, dass sie mit gelösten Haaren, halbnackt herumtanzten, und dass sich die ekstatischen Tänzerinnen der Artemis Korythalia künstliche Phallen umbanden«28. Bei Artemis handelt es sich um die aus der griechischen Mythologie stammende Göttin der Jagd, des Waldes, der Geburt, des Mondes sowie die Hüterin der Frauen und der Kinder. Sie hat den Ruf, eine strenge und grausame Göttin zu sein. Ihr Verhältnis zum männlichen Geschlecht ist gespannt, da sie diese für die Geburtswehen der Frauen verantwortlich macht. Sigrun. Das ist ja ein schönes Beispiel für unsere bunte Palette. Aber ich würde doch gerne eher bei feministisch angehauchten Themenstellungen bleiben. Ulrich. Aber eine farbenprächtige Palette macht doch einfach mehr her. Im Übrigen sagt man auch, dass das Jahr neben den 365 Tagen ebenso 365 Nächte hat. Sigrun. Haha, ist angekommen. Witz komm raus, du bist umzingelt. Aber weiter: Vergleichen wir männlich und weiblich damit, wenn es um das »liebe« Geld geht. Hier beginnt sich, ein neuer Begriff ins Bewusstsein hineinzumanövrieren, und der heißt: Gender Budgeting. Unter »Gender Budgeting ist die konsequente Analyse aller öffentlichen Ausgaben, hinsichtlich ihrer geschlechterspezifischen Wirkung zu verstehen«29. Gender Budgeting 28 Duerr, Hans Peter: Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation. Verlag Syndikat, Frankfurt/M. 1978 (2. Aufl.), S. 47 29 Plaza, Sandra: Gender Budgeting für mehr Gleichstellung. In: Bulletin. MitgliederMagazin der Frauenzentrale Zürich, Nr. 1, 2021, S. 5 ff.
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ist demnach eine politische Forderung, weil es darum geht, dass z. B. in einer Gemeinde oder in einem Staat die finanziellen Planungen dergestalt organisiert werden müssen, dass für Anliegen von Männern und Frauen gleich viele Mittel zur Verfügung gestellt werden. Plaza macht in ihrem Artikel darauf aufmerksam, dass diese Forderung in Australien bereits 1984 in den Fokus der Überlegungen aufgenommen worden ist. In der EU war man 2003 soweit und auch die Weltbank sowie der IWF (Internationaler Währungsfonds) sehen das Gender Budgeting als wichtig an. Yvonne. Nur so nebenbei: In der Schweiz hat der Bundesrat 2020 eine Motion zum Gender Budgeting abgelehnt. Sigrun. Bedauerlich. Hintergrund dieser Debatte ist immer wieder die Forderung, dass an den Frauen bzw. an »Frauenanliegen« nicht gespart werden darf. Diverse Studien haben diesen Trend bestätigt. Was können nun die Vorteile für die Allgemeinheit in einem Staat sein, wenn Frauenanliegen auch finanziell stärker, d. h. gleich den Männern, berücksichtigt werden? Noch einmal Plaza: »Erste Auswertungen zeigen, dass das Gender Budgeting für besser beleuchtete Trottoirs oder spezielle Knöpfe für Frauen in Nachtbussen gesorgt hat. In Schulen haben Menstruationsprodukte Einzug gefunden.«30 Im Süden von Spanien hat das Gender Budgeting für ein größeres Kinderbetreuungsangebot, für mehr Professorinnen an der Universität sowie für mehr Hilfsprojekte im Bereich der Prophylaxe bei Femizide gesorgt. Yvonne. In der Schweiz wurde am 10.05.2022 beschlossen, dass Hygieneartikel, die für die Menstruationstage benötigt werden, verbilligt werden müssen. Dies erreicht man dadurch, dass die hierfür notwendige Besteuerung massiv herabgesetzt wurde. Sigrun. Das ist dann wieder erfreulich. Ins gleiche Kapitel gehört die Frage bzw. der Vergleich, wie Frauen ihr Geld investieren. Hier zeigt sich, dass sie ihr Geld a) nachhaltiger und b) weniger risikoreich anlegen.31 Dabei ist grundsätzlich festzuhalten, dass lediglich ein Drittel der Investitionen an den Kapitalmärkten von Frauen getätigt werden. Die Tendenz ist steigend. Bei den Frauen zeigt sich bezüglich ihrer Aktivitäten bei Geldanlagen, dass sie eher Obligationen und Immobilien gegenüber Aktien bevorzugen. »Nur 30 Dies., a. a. O., S. 6 31 Vgl. Lüthy, Bianca: Weibliche Anlagestrategien. In: Tages-Anzeiger, Wirtschaft, 8. März 2022, S. 11
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3 Prozent der Frauen sind bereit, Risiken einzugehen, um eine höhere Rendite zu erzielen«32. Bei den Männern sind es hingegen ca. 25 %, die ihre Anlagen mit Risiko vornehmen. Männer neigen demnach eher dazu, Volatilitäten in Kauf zu nehmen. Ihr Bestreben zur Sicherheit ist wesentlich geringer ausgeprägt als bei den Frauen. Wichtig scheint mir zu sein, dass Frauen, so wird weiter berichtet, bei der Geldanlage auch Kriterien des Umweltschutzes und des Sozialen berücksichtigen, was bei Männern weit weniger der Fall ist. Das hierfür in der Finanzszene gebrauchte Kürzel heißt ESG und steht für Environmental, Social und Governance. Dieses Motto wird nicht nur von jüngeren Frauen vertreten, sondern gilt für alle Altersgruppen. Frauen sind zudem eher daran interessiert, in Frauen zu investieren, ein Aspekt, der bei den Männern weitestgehend nicht zu existieren scheint. Kryptowährungen sind hingegen bei Frauen nicht beliebt. Yvonne. Ein ähnlich, aber anderer Punkt in Bezug auf den Vergleich männlich-weiblich, stellt die medizinische Forschung dar. Bisher ging aus medizinischen Studien selten hervor, ob etwa die untersuchten Zellen oder die untersuchten Tiere weiblichen oder männlichen Geschlechts sind. Neuere Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass weibliche Zellen Schmerzsignale schneller weiterleiten. Dies hat Konsequenzen für die Schmerzwahrnehmung und die Schmerzbehandlung. Das bedeutet, dass Grundlagenforschung geschlechterspezifische Differenzen stärker berücksichtigen muss. Ein Schritt in diese Richtung ist die Implementierung von Professuren für eine Gendermedizin. So hat das Geschlecht überdies einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf Wirksamkeit und Verträglichkeit von Medikamenten. Der sogenannte Contergan-Skandal gibt hiervon Zeugnis. Es kamen weltweit viele Kinder mit körperlichen Missbildungen zur Welt, weil das Medikament nicht bei Frauen, insbesondere nicht bei schwangeren Frauen getestet worden war. Wobei man dies so auch nicht hätte testen können, was aber eine methodologische Fragestellung ist, der ich hier nicht weiter nachgehen kann. Tatsache ist, dass es damals noch kein Bewusstsein für eine genderorientierte Grundlagenforschung bei Medikamenten gab.33 Ulrich. Was meinst Du Franco, wir sind zurzeit etwas außen vor, die ganze Diskussion kippt zu unseren Ungunsten. Haben wir dem nichts entgegenzusetzen? Außer vielleicht: Mann, sei helle, bleib Junggeselle. 32 Dies., a. a. O., S. 11 33 Vgl. Praz, Stéphane: Sogar das Geschlecht von Zellen beeinflusst die Krankheit. In: Horizonte. Das Schweizer Forschungsmagazin, Nr. 132, März 2022, S. 32 ff.
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Franco. Ich befürchte: Nein! Als Gattung sind wir ja auch selbst schuld. Hätten wir nicht über Jahrhunderte unsere Macht missbraucht, ständen wir heute besser da. Selbstverschuldete Schuld wiegt doppelt. Vom Traummann zum Albtraum. Mehr fällt mir dazu nicht ein. Also hören wir doch einfach zu … Ulrich. Und ziehen die richtigen Konsequenzen daraus. Sigrun. Unter dem Titel »Frauenherzen altern anders« hat Stöcklin einen Bericht34 veröffentlicht, in dem er aufzeigt, dass insbesondere während der Coronapandemie wertvolle Forschungsergebnisse entstanden sind. Hier ein kleiner Ausschnitt davon. So betrug der Anteil der Menschen, die an Covid-19 gestorben sind, bei den Frauen 40 % und bei den Männern 60 %. In einigen Staaten starben sogar 75 % der Männer im Verhältnis zu den 25 % der Frauen, die an dem Virus ihr Leben lassen mussten. Die Kardiologin Gebhard, die von Stöcklin befragt wurde, gab an: »Wir vermuten, dass der Einfluss der Geschlechtshormone auf spezielle Zellmoleküle und unterschiedliche Immunantworten bei Frauen und Männern hauptsächlich verantwortlich sind«35. Gebhard fordert denn auch folgerichtig eine Gendermedizin. Diese umfasst neben den medizinischen Aspekten auch solche des Sozialen sowie des Kulturellen. Aber es gibt auch eine umgekehrte Betrachtungsweise. So konnte aufgezeigt werden, dass z. B. Magersucht zu Unrecht als eine typische Frauenkrankheit verstanden wird. Auch Männer können davon betroffen sein. Die Therapien, die man bis jetzt kennt, sind aber ausschließlich auf Frauen ausgerichtet. Auch die Osteoporose wird zu einseitig als eine Frauenkrankheit verstanden und ist somit bei den Männern unterdiagnostiziert. Damit kann aufgezeigt werden, dass eine Gendermedizin sowohl Männern als auch Frauen helfen würde. Franco. Das ist schön gesagt. Ein Ausgleich ist wohl immer besser als ein Vergleich. Könnte fast ein Schlusswort sein. Yvonne. Das denkst auch nur du. Ich zeige euch hier einen Mann auf, der es wert ist, zitiert zu werden. Ihr werdet staunen. Werfen wir hierfür noch kurz einen Blick in die Geschichte der Frauenbewegung, wie sie von einem Mann im vorletzten Jahrhundert formuliert worden ist. Bereits 1888 schrieb der dänische Wissenschaftler Höffding: »Viele Eigentümlichkeiten, die man mit mehr oder weniger Recht als der weiblichen Natur charakteristisch an34 Stöcklin, Stefan: Frauenherzen altern anders. In: UZHmagazin, Nr. 20, Jg. 3, S. 17 ff. 35 Ders., a. a. O., S. 18
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führt, sind sicher nur den Verhältnissen zu verdanken, unter welchen die Frau lange Zeiten hindurch gelebt hat, und werden sich ändern können, wenn ihre Verhältnisse verändert werden«36. Dem wäre eigentlich nichts mehr hinzuzufügen, außer dass die Realität eine andere war und leider immer noch ist. So muss konstatiert werden, dass es immer noch Femizide gibt und dass immer noch Frauen ausgebeutet und vergewaltigt werden, psychisch und/oder physisch. Sigrun. Deswegen hat Hilpert sieben Leitorientierungen formuliert, die für partnerschaftliche Beziehungen von entscheidender Bedeutung sind: • A ufmerksamkeit für den/die Partner:in in seiner/ihrer Ganzheit • B ehutsamkeit im Umgang miteinander • I ntegration in die Identität • P ersonalisierung • W ahrhaftigkeit • G erechtigkeit • K ultivierung37 Franco. Angekommen, wir schreiben es uns hinter die Ohren. Sigrun. Ihr müsst schon noch etwas durchhalten. Es gibt noch einiges, was angesprochen werden muss. Denn die Frage bleibt interessant, ob sich bei der Moral Unterschiede ergeben, wenn man von Männern oder Frauen spricht. Nach dem Referieren diverser Studien zu dieser Thematik kommt Heidbrink38 zum Schluss, dass es diese Unterscheidung so nicht gibt, sondern dass es immer auf die Umstände ankommt, in der eine Entscheidung zu fällen ist. So betrifft nun einmal die Frage der Abtreibung Frauen stärker als Männer. Aber wenn es um Entscheidungen geht, die nicht dermaßen geschlechtsspezifisch aufgefasst werden können, wie, ob man ein Studium abbricht oder welchen Film man anschaut, sind solche Differenzen nicht mehr auszumachen. Will sagen, dass sich hierbei Männer untereinander so weit 36 Höffding, Harald: Ethik. Eine Darstellung der ethischen Prinzipien und deren Anwendung auf besondere Lebensverhältnisse. Fues’s Verlag (R. Reisland), Leipzig 1888, S. 228ff. Erschienen bei: Forgotten books, London 2015 37 Vgl. Hilfpert, Konrad: Ehe – Partnerschaft – Sexualität. Von der Sexualmoral zur Beziehungsethik. Verlag Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2015, S. 106 38 Heidbrink, Horst: Denken Frauen anders? »Männliche« und »weibliche« Moral. In: Ders.: Gerechtigkeit. Eine Einführung in die Moralpsychologie. Quintessenz Verlag, München 1992, S. 117 ff.
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in ihrer Meinung unterscheiden können, dass man von einer geschlechtsbezogenen Differenz nicht mehr guten Gewissens sprechen kann. Das Gleiche gilt natürlich sinngemäß auch für Frauen.39 Ulrich. Hier noch etwas, womit ich mich beschäftigt habe. Tatsache ist, dass es eine große ökonomische Ungleichheit zwischen den Geschlechtern gibt. Diese können nicht biologisch-natürlich oder kulturell abgeleitet und legitimiert werden. Es ist Illich40, der aufgezeigt hat, dass diese Diskriminierung der Frau mit dem Beginn der modernen Industriegesellschaft einsetzt. Er schreibt: »Die Benachteiligung der Frau in Lohn- und Schattenarbeit ist ein weltweites Phänomen. Das Gleiche gilt wahrscheinlich – obwohl selten untersucht – auf dem verschwiegenen Arbeitsmarkt. Diskriminierung in und außerhalb der beruflichen Arbeit verbreitet sich mit wachsendem Bruttosozialprodukt – wie die anderen Nebenwirkungen auch, sei es Stress, Umweltverschmutzung oder Frustration. … Die Barrieren, die den beruflichen Aufstieg von Frauen in privilegierte Positionen blockieren, sowie die Fallen, mit denen man sie in die Küche zurücklockt, werden in Japan und der Sowjetunion verschieden erklärt, aber sie sind in den Dimensionen überall vergleichbar. Auch hier liefert das Bildungs- und Erziehungswesen wieder ein gutes Beispiel. Selbst wenn – in verschiedenen Ländern – Männer und Frauen eine gleich lange Ausbildung absolvieren, die zudem einem einheitlichen Lehrplan folgt, sieht man sich überall mit dem gleichen Resultat konfrontiert: das durchschnittliche Lebensgehalt liegt bei Frauen niedriger als bei Männern. … Einige Frauen mehr hinter dem Operationstisch oder in der Fakultät, ein gelegentlicher Ehemann beim Geschirrspülen – diese raren Aushängeschilder untermauern letztlich nur die anhaltende Diskriminierung der Frauen als Gruppe«41. Yvonne. Das war nun aber nichts wesentlich Neues. Wenn man den Bogen zur marxistischen Theorie schlägt, muss man ebenfalls feststellen, dass Frauen hier keine allzu große Berücksichtigung gefunden haben. Es stellt sich die Frage, wie es mit denen steht, die ihre Arbeitskraft nicht verkaufen können, nicht dürfen. Werden diese Frauen dann nicht ausgebeutet? Die Frage scheint 39 Eine wichtige Person in der Feminismus-Diskussion ist zweifellos die US-Amerikanerin Martha C. Nussbaum. In ihrem Reclam-Bändchen: Konstruktion der Liebe, des Begehrens und der Fürsorge (Reclam, Stuttgart 2002) vereint sie drei m. E. wichtige Aufsätze, deren Darstellung den Rahmen im Kontext der Vergleiche sprengen würde. 40 Illich, Ivan: Genus – Zu einer historischen Kritik der Gleichheit. Verlag C. H. Beck, München 1995 (2. Aufl.) 41 Ders., a. a. O., S. 39 f.
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absurd, weil sie eventuell noch stärker ausgebeutet werden, als wenn sie in einem Lohn-Verhältnis stünden. Hier wird dann Ungerechtigkeit mit Ausbeutung verwechselt und man fragt sich, ob diese Ungerechtigkeit nicht noch schlimmer ist als die Ausbeutung des Arbeiters. Hier kann er ja mittels gewerkschaftlicher Unterstützung dagegen ankämpfen. Wie Frauen, die nicht arbeiten dürfen, dagegen ankämpfen wollen, scheint mir dann doch erheblich schwieriger zu sein. Dieser Konflikt verweist m. E. sehr stark auf die Problematik von Innen vs. Außen bzw. von Privat und Öffentlich, will sagen, wer leistet welche Arbeit im Haus, im Haushalt und wer in der Fabrik, im Büro etc. Diese auch heute noch scharf gezogenen Linie muss, wenn Gleichstellung als Wert allgemein-gesellschaftlich anerkannt ist und wird, aufgelöst werden. Sigrun. Kymlicka macht aber zusätzlich auf einen m. E. sehr wichtigen Punkt aufmerksam, wenn er anführt, dass die Frage nach der Kindererziehung, und wie ich hier ergänzen möchte, auch die Pflege von älteren Menschen im eigenen Haushalt42, als ungelöstes Problem dasteht. Wenn dieses nicht gelöst wird, kann sich auch die Gleichstellung von Mann und Frau (trans- & Intergender sowie queere Menschen eingeschlossen) nicht weiterentwickeln. »Doch indem diese geistigen Leistungen wie schon seit Jahrhunderten die Grundanliegen der Kindererziehung und die Sorge für Abhängige vernachlässigen, stehen sie auf einem ungeprüften und gefährlich unsicheren Boden. Jede brauchbare Theorie der Geschlechtergleichstellung muss sich mit diesen Fragen auseinandersetzen«43. Nicht näher eingehen möchte ich auf die soziologische Forschung zur Stellung der Frau nach einer Scheidung bzw. ihren Ansprüchen auf Unterhalt, obwohl sich hier in den vergangenen Jahren einiges zum Besseren gewandelt hat. Aber unerwähnt sollte dies nicht bleiben.44 Yvonne. Betrachten wir im Folgenden die Situation der Mädchen bzw. Frauen in der Bildung bzw. im Schulalltag. Bereits 1996 erschien in der Neuen Zürcher Zeitung ein ganzseitiger Artikel, der sich mit der Dominanz des Mannes in der Mathematik beschäftigte.45 Die Forderung von Bandle ist 42 Vgl. Kymlicka, Will: Politische Philosophie heute. Eine Einführung. 5. Kapitel: Der Marxismus. Campus Verlag, Frankfurt/M. 1996. Insbesondere Kapitel 7: Der Feminismus, S. 201 ff. 43 Ders., a. a. O., S. 250 44 Vgl. hierzu Simitis, Spiros; Zenz, Gisela (Hrsg.): Seminar: Familie und Familienrecht. Band 1. Verlag Suhrkamp, Frankfurt/M. 1975, insbesondere Teil III. Scheidungsfolgen: Unterhalt und Erwerbstätigkeit der geschiedenen Frau, S. 294 ff. 45 Vgl. Bandle, Catherine: Die Dominanz des Mannes in der Mathematik. In: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 268, 16./17. November 1996, S. 17
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eindeutig, dass Vorurteile und Stereotypen abgebaut werden müssen. Mathematik kann nicht ein Männerfach sein. Sie belegt dies auch damit, dass sie historische Frauenbiografien darstellt, die sich besonders in der Mathematik hervorgetan haben. Ich denke, dass sich hier in den vergangenen 25 Jahren schon einiges getan hat.4647 Ulrich. Die spielen Pingpong und ein Ende ist nicht in Sicht. Darf ich euch noch eine Passage aus einem Buch vorlesen, das ich eben gerade zu Ende gelesen habe. Es geht um den Roman »Goethe in Karlsbad«48. »Mit schmalen Augen beugte sich Goethe weit vor und flüsterte Henri etwas zu: ›Hören Sie, mein junger, unwissender Freund: Die Sphären der Männer und der Frauen sind durchaus verschieden. So manches Paar sitzt wortlos beieinander: er bei einem Blatt für gebildete Stände, sie über ihrem Nähzeug. Dann ist es schon ein Glück, dass sie im selben Raume weilen. Mancher Gatte hält die Nähe des anderen nicht aus. Manchen aber – und ich bin glücklich, mich zu jenen zählen zu dürfen – ist es das höchste Glück, die Grenze zu durchbrechen und ein Paar im wahrsten Wortsinne zu sein, ein gemeinsames Leben und ein gemeinsames Empfinden zu pflegen, einen Austausch, wie er im Alltag kaum möglich ist‹«. Franco. Der Geschlechterkampf ist ein harter. Ulrich. Darf ich noch weiter zitieren? Yvonne. Nein, es reicht, wir haben verstanden und es freut mich, dass der alte Goethe das so gesehen hat. Bei seinem Werther geht die Geschichte aber schon ganz anders aus. Franco. Bleiben wir im Hier und Jetzt. Ist schon schwierig genug, die Frauenemanzipation. Äh, für uns Männer auf jeden Fall. 46 Differenzierte Analysen zum Thema der Bildung von Mädchen finden sich in dem Sammelband: Hohenzollern Prinz von, Johann Georg; Liedtke, Max: Der weite Weg Schulweg der Mädchen. Die Geschichte der Mädchenbildung als Beispiel der Geschichte anthropologischer Vorurteile. Verlag Klinkhardt, Bad Heilbrunn/Obb. 1990 47 Zur Diskrepanz der Geschlechter im MINT-Bereich vgl. die Beilage zum Tages-Anzeiger vom Juni 2022: »Die Geschlechterverteilung im MINT-Bereich sei während des Studiums und im Arbeitsmarkt unausgeglichen. Wie sieht die Statistik aus und wie entsteht diese angebliche Diskrepanz?« »Fokus« hat mit Prof. Dr. Elsbeth Stern und Dr. Ralph Schumacher vom MINT-Lernzentrum der ETH Zürich gesprochen, um diesem Dilemma nachzugehen. 48 Günther, Ralf: Goethe in Karlsbad. Verlag Rowohlt, Hamburg 2022, S. 63
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Sigrun. Ja, macht euch nur lustig, das Lachen wird euch schon noch vergehen. Eine ganz andere Sichtweise soll hier noch dargestellt werden. Man kennt in der Philosophie die Supererogation. Damit ist gemeint, dass man etwas leistet, das von moralischer Bedeutung ist, ohne dass es verlangt wäre. Es ist demnach nicht geboten, dieses zu tun, man tut es aber trotzdem. Die Gründe hierfür spielen keine Rolle. Man wäre nicht verpflichtet, dies zu tun und tut es dennoch. Man leistet etwas, was über das Gebotene und Geforderte hinausgeht. Aus feministischer Perspektive wird nun angemerkt, dass diese Supererogation auch durch die Geschlechterrolle beeinflusst wird.49 Wenn nun Menschen, es sind nicht zufälligerweise weibliche, ehrenamtliche Tätigkeiten in der Pflege, in der Betreuung u. Ä. leisten, so wird es als logisch und selbstverständlich angesehen und bewertet. Welch Irrtum! Es ist eben nicht selbstverständlich, dies zu tun, sondern supererogatorisch. Das gilt auch deswegen, weil Männer diese Dienste i. d. R. nicht leisten. Für sie wäre es dann, sollten sie es trotzdem tun, supererogatorisch. Aber das hat mit dem philosophischen Begriff des Supererogatorischen nichts zu tun, sondern vielmehr mit dem (falschen) Rollenverständnis der Männer. Als Beispiel kann hier angefügt werden, dass in der (freiwilligen) Arbeit der Telefonseelsorge sowohl in der Schweiz als auch in Deutschland ca. zwei Drittel Frauen und nur ein Drittel Männer »auf Draht« sind. Franco. Was nun das Mannsein eigentlich bedeutet, werde ich hier nicht erläutern, weil es mir ja immer um den Vergleich geht. Lesenswert hierzu ist aber der Sammelband von Erhart und Herrmann.50 Yvonne. Tja, Männer, die Zeit ist um und wir gehen nach Hause. Da habe ich zum Schluss auch noch einen. Wann hatten sie den ersten Ärger mit ihrem Mann? – Als er mit aller Gewalt mit auf das Hochzeitsfoto wollte. Gut, nicht? Franco. Wie man es nimmt. Yvonne. Vielleicht kommen beim nächsten Mal die Männer dran. Sigrun. Vielleicht auch nicht. 49 Vgl. Naumann, Katharina; Raters, Marie-Luise; Reinhardt, Karoline: Erwartungshaltungen. Feministische Perspektiven auf Supererogation. In: www.praefaktisch.de/feminismus (Zugriff: 01.04.2022) 50 Erhart, Walter; Herrmann, Britta: Wann ist ein Mann ein Mann? Zur Geschichte der Männlichkeit. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart 1997
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Moderne/Spätmoderne: Der Vergleich im Zeitenwandel
»Denken heißt vergleichen.« (Walther Rathenau, Reichsaußenminister 1922) »Alle Denkvorgänge unseres Geistes sind Vergleiche.« (Henri de Saint-Simon, Sozialtheoretiker zur Zeit der Restauration) Die Frage, wann die Moderne anfängt oder aufhört und in eine Postmoderne oder doch eher Spätmoderne oder sogar in eine Post-Postmoderne übergeht, ist m. E. nicht zu klären und in sich irgendwie auch sinnlos. So hat denn Hans Freyer1 ein kleines Gedicht verfasst, das inhaltlich davon ausgeht, dass alle Geschichtsphilosophen und -philosophinnen, ich wiederhole: alle, jeweils davon ausgehen, dass sie an einer Schwelle einer neuen oder alten Zeit stehen: »Es muss auffallen, dass alle Geschichtsphilosophen sich Selbst mitsamt ihrer Lehre an Einen bestimmten Punkt der Zeit platzieren, nämlich kurz Vor oder gerade in den entscheidenden Umbruch: 5 Minuten vor Zwölf, oder Schlag Zwölf Oder 5 Minuten danach.« Evelyn: weiblich, aus dem Englischen übernommen. Vermutlich eine Fortbildung zu Eva. Erasmus: männlich, aus dem Griechischen übernommener Vorname. Bedeutet: der Lebenswerte. Carmen: weiblich, aus dem Spanischen übernommener Vorname. Bedeutet: Jungfrau vom Berge Karmel. Mit der Jungfrau ist hier die Jungfrau Maria gemeint. 1
Freyer, Hans: In: Hochkeppel, Willy: Modelle des gegenwärtigen Zeitalters. Thesen der Kulturphilosophie im Zwanzigsten Jahrhundert. Nymphenburger Verlagshandlung, München 1973, S. 6
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Moderne/Spätmoderne: Der Vergleich im Zeitenwandel
Arne: männlich, aus dem Dänischen oder dem Schwedischen übernommener Vorname. Eventuell Kurzform von Arnold. Akelei: weiblich, Name einer Blume, die zu den Hahnenfussgewächsen zählt. Erasmus. Es war der chinesische Philosoph Konfuzius, der sich Gedanken zu einer harmonischen Gesellschaftsordnung machte. Er meinte, dass sich Herrschende ordentlich benehmen sollten. Evelyne. Es geht um die Gesellschaften im Wandel der Zeiten. Erlaubt mir meinerseits mit einem Zitat von David Hume zu beginnen, der aufzeigt, dass es eigentlich diese Gesellschaften gar nicht bräuchte. Finde ich aber gut. Hört es euch doch einfach mal an. »Hätte jeder Mensch genügend Klugheit, jederzeit das starke Interesse wahrzunehmen, das ihn zur Beachtung von Gerechtigkeit und Fairness verpflichtet, und genügend Willensstärke (alle kursiv, i. O.), beständig in der Verfolgung eines allgemeinen und fernliegenden Interesses zu beharren, anstatt den Verlockungen gegenwärtigen Vergnügens und Vorteils nachzugeben; in diesem Fall hätte es nie so etwas wie eine Regierung oder staatliche Gesellschaft gegeben, sondern jeder lebte, seiner natürlichen Freiheit folgend, in vollkommenen Frieden und vollkommender Harmonie mit allen anderen.«2 Erasmus. Demnach benötigen wir die Gesellschaften, weil wir unvollkommene Wesen sind. Ich denke, da gibt es wohl keinen Widerspruch. Arne. Genau. Dann lasst uns etwas konkreter werden. Bitte! Carmen. Hallo everybody. Also nun konkret: Bereits Günther Anders weist in seinem Vorwort auf seine drei Hauptthesen hin, die ich hier als Zitat wiedergebe: »…, dass wir der Perfektion unsrer Produkte nicht gewachsen sind; dass wir mehr herstellen als vorstellen und verantworten können; und dass wir glauben, das, was wir können, auch zu dürfen, nein: zu sollen, nein: zu müssen – diese drei Grundthesen sind angesichts der im letzten Vierteljahrhundert offenbar gewordenen Umweltgefahren leider aktueller und
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Hume, David: Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral. Verlag Reclam, Stuttgart 2021, S. 51
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brisanter als damals«3. Geschrieben hat er diese Zeilen im Jahre 1979; welch erschreckende Weitsicht zeigt sich bei diesem Herrn. Erasmus. Ja, aber in der heutigen Zeit war man auch nicht faul. Der Soziologe Andreas Reckwitz4 weist auf einen anderen, eher problematischen Vergleich in unserer modernen Gesellschaft hin. Dieser ist es m. E. ebenfalls wert, hier benannt zu werden. Reckwitz geht davon aus, dass wir in der Spätmoderne in einer in höchstem Maße widersprüchlichen Gesellschaft leben. Diese Widersprüche generieren eine ganze Reihe von Konflikten, sei es aus gesamtgesellschaftlicher oder aus individueller Sicht. Arne. Als da wären? Erasmus. Da gibt es zum einen die Schichten. Die Mittelschicht, verstanden als (Fach-)Arbeitende und Angestellte, schmilzt immer weiter und viele der früher dort eingestuften Familien sinken in ein Prekariat ab. Andererseits wächst aber eine höhergestellte Schicht von Menschen an, die über ein Studium verfügen. Dies läuft nicht ohne Kämpfe und permanente Vergleiche ab, wo man sich selbst anzusiedeln vermeint. Es kommt zu einem dauernden Auf und Ab, zu einer Aufwertung bzw. Entwertung der eigenen Position im Vergleich zu anderen Menschen innerhalb der Gesellschaft. Carmen. Das trifft sich ja mit Aussagen von Anders. Wurde alles schon mal gesagt. Sag’ ich doch. Akelei. Das heißt dann, dass der einzelne Mensch in der modernen Gesellschaft tagtäglich dazu angehalten wird, sich mit anderen Menschen, sei es real oder virtuell, zu vergleichen. Es herrscht ein ständiger, ununterbrochener Wettbewerb, der nicht ohne psychische Auffälligkeiten einhergeht. Niederlagen und Frustrationen gehören zum Alltagserleben. Erasmus. Reckwitz spricht von Vergleichstechnologien. Das Individuum wird angehalten, sich jederzeit zu vergleichen, und kommt oft schlechter weg als etwa ein gestylter Influencer oder eine durch Photoshop veränderte 3 4
Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen. Band 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. Verlag Beck’sche Reihe, Band 319, München 1987 (7. Aufl.), S. VII Reckwitz, Andreas: Das Ende der Illusion. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Verlag edition suhrkamp 2735, Berlin 2020
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Influencerin. Dagegen hat man keine Chance, möchte aber doch auch so sein, so erscheinen, so daherkommen, damit man von den anderen bemerkt, registriert und bewundert wird. Aber man muss nicht nur schön sein, man muss auch erfolgreich rüberkommen. Dies lässt sich dann relativ einfach am Gehalt und am Besitz von Statussymbolen abmessen. Akelei. Ja, Erfolg und Erscheinung sind in der Spätmoderne aufs Engste miteinander verbunden. Erfolg macht schön; wer schön ist, hat Erfolg, so die Devise. Evelyn, was meinst du dazu? Evelyn. Eine Menge, warte es nur ab. Denn die Spätmoderne hat viele Verlierer:innen. Im Folgenden möchte ich ein Beispiel aus meiner Beratung aufzeigen, wie dies im konkreten Fall aussehen kann, wenn sich eine Jugendliche nicht mehr weiterzuhelfen weiß und sich an eine anonyme Beratungsstelle wendet. Das Beispiel habe ich verfasst5: • G uten Tag. Ist das hier total anonym? • G uten Tag. Ja, sicher, völlig anonym. Sie sind aufgeregt? • J a, bin ich, ich bringe mich um. Ich kann nicht mehr. • E s geht ihnen nicht gut. Aber ich finde es super, dass Sie bei uns angerufen haben. • I hr Siezen nervt. Bin ich nicht gewohnt. • N atürlich, kein Problem. Also noch einmal. Gut, dass du hier angerufen hast. • J a, aber ich bin kurz davor. • D ir etwas anzutun. • J a, sag ich doch. Es ist alles Scheiße und ich kann einfach nicht mehr. • I ch verstehe. Es steht dir bis hier oben und du siehst im Moment keinen Ausweg. • N ein, gar keinen. • A ber du kämpfst. • W ie kommen Sie denn darauf? • J a, weil du doch hier angerufen hast. Du hättest dich ja umbringen können und ich hätte dich nie, anonym, kennengelernt.
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Bonfranchi, Riccardo: Leidenschaft bei 143. In: Schreibstar 2020. Geschichten voller Leidenschaft. Verlag Zürcher Oberland Medien, Wetzikon 2020, S. 109 ff.
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• Eine Kollegin hat mir von 1436 erzählt und dass man da einfach so anrufen kann. • Ja, da hat Ihre, oh, sorry, deine Kollegin recht, und du hast recht, dass du es auch getan hast. • Können Sie mir denn helfen? • Ich kann es versuchen, aber ich kann nicht hexen oder zaubern. • Schon klar. Mir kann sowieso keiner mehr helfen. Es fließt auch schon Blut. • Wie das? Verstehe ich nicht ganz. • Ich musste mich ritzen. Es ging nicht anders. • Oh, das ist nicht gut. Du solltest es steril stoppen. • Ich weiß, ist ja nicht das erste Mal. • Mache mir eben Sorgen. • Brauchen Sie nicht. Ist eh schon alles zu spät. Das Bild ist im Netz und jetzt habe ich keine andere Lösung mehr, als mich umzubringen. • Also, da hat jemand ein Bild von dir gepostet und du wolltest das nicht oder du schämst dich jetzt, dass es im Netz ist, und jetzt ist die Frage, wie kannst du damit umgehen? Stimmt das in etwa so? • Yep. • Und weil dieses Bild im Netz ist, meinst du, dass du dich umbringen musst? • Yep. • Das sehe ich nicht so. • Hm, warum nicht? • Nur wegen eines Bilds. • Ich habe dem Typen gesagt, dass das Bild nur für ihn ist. Und jetzt hat der Arsch es hochgeladen. Alle können es sehen. • Ich verstehe, das ist schlimm für dich. Ist es denn ein schlimmes Bild? • Schon. Oben ohne und meine T… sind eben noch klein. • Du meinst, deine Brüste. • Sag’ ich doch. Jetzt können es alle sehen, dass ich noch so kleine Dinger habe. Ich hasse meinen Körper. Ich hasse alle. • Also dieser Typ, kennst du ihn näher? • Logo, das war mein Freund. Habe ihm vertraut. Er geht in die gleiche Schule, eine Klasse höher. So ein Arsch, echt.
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Die 143 ist die Nummer der Telefonseelsorge für die Schweiz und für Liechtenstein. Die Telefonseelsorge nennt sich in der Schweiz und Lichtenstein: Dargebotene Hand.
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• Das ist eine schwierige Situation, denn wenn es im Netz ist, ist es dort. Man kann es nicht zurückholen. Es können ja auch andere das Bild weiterverschicken. Das weißt du, oder? • Uh, Schande, ja, eigentlich weiß ich das schon, daran habe ich noch nicht gedacht. Was soll ich nur tun. Es blutet wieder. • Du musst einen Druckverband darumlegen. Hast du einen? • Ja, habe ich. Können Sie einen Moment warten? • Sicher. • Okay, habe es gemacht. • Gut. • Also habe ich keine Chance mehr. • Das habe ich nicht gesagt. • Haben Sie wohl. • Jetzt mal langsam. Wir haben hier mehrere Probleme auf dem Tisch liegen. Da gibt es das Foto von dir, oben ohne. Da gibt es diesen Typen, der das gemacht hat. Dann ritzt du dich und dann findest du auch deinen Körper nicht gut. Das ist etwas viel. Da kann ich schon verstehen, dass dir das alles zu viel wird. • Eben, sag’ ich ja. Aber gut, wie Sie das beschrieben haben. • Danke. Wie gehen wir es an? Frage: Willst du nicht mehr so leben, wie es jetzt ist? Oder verspürst du auch eine Todessehnsucht? • Ui, Todessehnsucht. Was ist das denn? • Du hast am Anfang geschrieben, dass du dich umbringen möchtest. Ich habe einfach das jetzt aufgenommen. • Ich habe Angst vor dem Tod. Nein, ich glaube, tot möchte ich nicht sein. Aber so wie es jetzt ist, hat es auch keinen Sinn mehr. Alle können mich jetzt so sehen. • Gut, damit musst du leben. Aber es ist dein Körper und so bist du. Aber was machen wir mit dem Typen? • Ich könnte ihm die Fresse polieren. • Deine Gefühle ihm gegenüber kann ich gut verstehen. Du könntest ihn bei der Polizei anzeigen. Da gibt es jetzt eine besondere Stelle für Internetkriminalität. • Nein, auf keinen Fall. Dann könnte ich mich in der Schule gar nicht mehr blicken lassen. • Du kannst das nicht so auf dir sitzen lassen. Denke auch daran, wenn er es mit dir tun kann, dann tut er es vielleicht auch noch mit anderen Mädchen. • Sowieso! Aber was soll ich tun? • Gibt es bei dir an der Schule Schulsozialarbeitende?
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• Ja. • Geh zu der Person und erzähl es ihr. • Könnte ich tun. Sie kennt mich schon. • Darf ich fragen warum? • Wegen des Ritzens. • Also bist du schon mal zu ihr gegangen? • Ja, schon dreimal. Sie ist nett. Aber jetzt bin ich wieder rückfällig geworden und da ist sie bestimmt sauer. • Glaube ich nicht. Darauf musst du keine Rücksicht nehmen. • Meinen Sie? • Yep – :-) • Okay, dann gehe ich zu ihr. • Das finde ich super. Du bist eine Kämpferin und gibst nicht so schnell auf. • Ja, dem Typen muss man das Handwerk legen. So eine verd… Gemeinheit. • Können wir es mal so stehen lassen? Ich wünsche dir alles Gute! • Danke. Arne. Interessant. Carmen. Der Text zeigt auch, welche Bedeutung das Affektive hierbei hat. Erasmus. Reckwitz konstatiert eine Paradoxie: »Indem die moderne Gesellschaft von einem Regime des Neuen und des Fortschritts angetrieben wird, potenziert sie die Wahrscheinlichkeit von Verlusterfahrungen, sie stellt aber zugleich kaum sinnhafte Instrumente zum Umgang mit Verlusten zur Verfügung.«7 Verlusterfahrungen sind geradezu zwingend logisch und unausweichlich. So geschieht es auch diesem Mädchen, das zwar die Moderne nutzt, gleichzeitig aber große (emotionale) Verluste erfährt. Sie ist hilflos und das ist der Grund, weshalb sie sich an diesen Chat wendet, der ihr Hilfe verspricht. Akelei. Ja, ich finde das eine gute Theorie-Praxis-Verbindung. Carmen. Wir erleben hier den Übergang von einer alten zu einer modernen Gesellschaft und den damit verbundenen Strukturwandel. Das wollen wir ja miteinander vergleichen. Aber dieser Übergang passiert nicht nahtlos, 7
Reckwitz, Andreas; Rosa, Hartmut: Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie. Verlag Suhrkamp, Berlin 2021 (2. Aufl.), S. 94
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einfach so. Dinge, Verhaltensweisen des Alten spielen noch in das Neue hinein und müss(t)en integriert werden, was aber nie einfach ist. Erasmus. Genau. Reckwitz spricht hier von einer Hybridität8, die zwangsweise vorhanden ist. Ihr kann nicht ausgewichen werden. Diese Hybridität ist dadurch gekennzeichnet, dass sich unterschiedliche, sich teilweise widersprechende Praktiken, Wissenselemente, Haltungen etc. immer wieder gegenseitig in die Quere kommen, das Individuum überfordern und ratlos zurücklassen. Carmen. Ich bleibe meiner Linie als Historikerin treu. Denn bereits Hannah Arendt hat darauf hingewiesen, dass diese Ideologie keiner Vernunft folgen muss, es können also durchaus Widersprüche zur gleichen Zeit am gleichen Ort auftreten und jeweils selbstwirksam werden. Es geht, so Arendt weiter, darum, dass mithilfe einer Ideologie, wie auch immer diese gefärbt und ausgestaltet ist, »Prozesse und Ereignisse berechnet werden können«9. Erasmus. So bin ich geneigt, die Theorie der Hybridität von Reckwitz als eine Form von Ideologie zu bezeichnen, die zu erklären versucht, was sein wird. Aufgrund der Brüche, dass ja auch Vergangenes immer noch gegenwärtig ist, erscheinen mir hier die Vergleiche teilweise als zu unsicher, zu unklar, in sich als widersprüchlich. Arne. Das läuft mir jetzt zu stark auf ein Duell Anders, Arendt gegen Reckwitz hinaus. Das bringt doch nichts und uns deshalb nicht weiter, bei den ohnehin schon schwierigen Vergleichen. Evelyne. Waren die nicht mal miteinander verheiratet? Arne. Was, Reckwitz und Arendt? Evelyne. Witzbold. Natürlich nicht Reckwitz, sondern Anders. Arne. Ach so, muss man das auch noch wissen.
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Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Verlag Suhrkamp, Berlin 2020, S. 94 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. Verlag Piper, München 1998 (6. Aufl.), S. 963
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Carmen. Bitte sachlich bleiben. Ersamus. Auch Han hat sich hierüber Gedanken gemacht, die m. E. sehr gut zu dem oben dargestellten Chat des jungen Mädchens passen (zufälligerweise): »Der narzisstische Authentizitätskult ist mitverantwortlich für die zunehmende Verrohung der Gesellschaft. Wir leben heute in einer Affektkultur. Wo rituelle Gesten und Umgangsformen zerfallen, gewinnen die Affekte und Emotionen die Oberhand. Auch in den sozialen Medien wird die für die Öffentlichkeit konstitutive szenische Distanz abgebaut. Es kommt zu einer distanzlosen Affektkommunikation«10. In einer anderen Veröffentlichung hat sich Han dann Gedanken zum Smartphone und dessen Auswirkung auf unser aller Leben gemacht.11 Arne. Spannend. Finde ich auch, dass dem so ist. Gut geschrieben, wirklich. Carmen. Interessant finde ich, es sei hier aber nur am Rande angemerkt, dass Hannah Arendt in ihrem 1958 (englisch) und 1967 auf Deutsch erschienenen Buch »Vita activa«12 vieles, worüber wir heute diskutieren, bereits vorweggenommen hat. Sie vergleicht das private Leben, die Arbeit, Produktionsprozesse sowie den globalen Handel mit der Entwicklung dieser Bereiche in der Neuzeit. Arendt schreibt: »Es ist uns gelungen, die dem Lebensprozess innewohnenden Mühe und Plage so weit auszuschalten, dass man den Moment voraussehen kann, an dem auch die Arbeit und die ihr erreichbare Lebenserfahrung aus dem menschlichen Erfahrungsbereich ausgeschaltet sein wird. Dies zeichnet sich deutlich in den fortgeschrittensten Ländern der Erde bereits ab, in denen das Wort Arbeit für das, was man tut oder zu tun glaubt, gleichsam zu hoch gegriffen ist. In ihrem letzten Stadium verwandelt sich die Arbeitsgesellschaft in eine Gesellschaft von Jobholders, und diese verlangt von denen, die ihr zugehören, kaum mehr als ein automatisches Funktionieren als sei das Leben des Einzelnen bereits völlig untergetaucht in den Strom des Lebensprozesses, der die Gattung beherrscht, und als bestehe die einzige aktive, individuelle Entscheidung nur noch darin, sich selbst gleichsam loszulassen, seine Individualität aufzugeben, bzw. die Empfindungen zu betäuben, welche noch die Mühe und Not des Lebens 10 Han, Byung-Chul: Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart. Verlag Ullstein, Berlin 2019 (2. Aufl.), S. 30/31 11 Vgl. ders.: Undinge. Umbrüche der Lebenswelt. Verlag Ullstein, Berlin 2021, S. 25 ff. 12 Arendt, Hannah: Vita activa oder vom tätigen Leben. Verlag Piper, München 1999 (11. Aufl.). Insbesondere das 6. Kapitel: Die Vita activa und die Neuzeit, 318 ff.
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registrieren, um dann völlig ›beruhigt‹ desto besser und reibungsloser ›funktionieren‹ zu können«13. Arne. Ganz schön viel Holz. Muss ich mir noch einmal zu Gemüte führen. Kann das vielleicht jemand mit einfachen Worten noch einmal für Normalsterbliche zusammenfassen? Akelei. Ich versuchs, übernehme aber keine Garantie. Zum einen zeigt Arendt, dass sie den Teil, den wir heute als zum Prekariat zugehörigen Menschenanteil zählen, in geradezu prophetischer Art und Weise vorhergesehen hat. Was sie aber nicht berücksichtigt, ist, dass sich – und das beginnt bereits in den 1960er-Jahren – eine kleine Schicht hoch ausgebildeter Menschen entwickelt, die in ihrem Aktiv-Sein keine repetitiven Arbeiten vollbringen, sondern im Bereich algorithmischer Berechnungen und in hoch kreativen Arbeitsabläufen Prozesse generieren, die der größeren Gruppe an arbeitenden Menschen diametral entgegenstehen. Stichwort: Silicon Valley. Aber die überwiegende Mehrheit der Menschen in der neuen Neuzeit, und damit hatte Arendt wirklich recht, wird nicht in dieser Art und Weise ihr Leben fristen. Mir ging es hier um den Vergleich, wenn dieser auch zahlenmäßig sehr ungleich ausfällt; die eine Gruppe ist um ein Vielfaches größer als die andere. Arne. Ob das jetzt so viel einfacher war, also ich weiß ja nicht … Erasmus. Nun beruhig dich. Carmen. Eine andere Sichtweise der Postmoderne finden wir, wenn wir in die 1980er-Jahre schauen und dieses kurz Revue passieren lassen. Diese Jahre gelten heute als Triumph des Neoliberalismus bzw. des Niedergangs des Kommunismus mit dem Höhepunkt des Mauerfalles in Berlin 1989. Insbesondere von Großbritannien (Thatcher) und den USA (Reagan) wurde eine in hohem Maße aggressive »freie« Marktwirtschaft propagiert und umgesetzt. Es setzte der Abbau des Sozialstaates ein und damit einhergehend verloren sozialistisch gefärbte Ideologien massiv an Boden.14 In diversen Staaten in Europa erstarkten rechtsorientierte, rechtspolitisch-populistische Parteien. Heute, ca. 30 Jahre nach dem Beginn dieser neoliberalen Globali13 Dies., a. a. O., S. 411 14 Vgl. Pinzani, Alessandro: Jürgen Habermas. Verlag C. H. Beck, München 2007, S. 126 ff.
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sierung, sehen wir, dass die Schere zwischen Arm und Reich nicht kleiner, sondern im Gegenteil größer geworden ist. Wir sehen Verlierende und Gewinnende der Globalisierung. Dabei kann man nicht von einzelnen Staaten sprechen, sondern muss die jeweiligen Schichten in den Blick nehmen. Es gibt sowohl in Indien als auch in der Schweiz Globalisierungsgewinnende, wie aber auch -verlierende. Evelyn. Trotzdem darf deshalb nicht in den Hintergrund treten, dass es sehr wohl Staaten in der südlichen Hemisphäre gibt, die man als Verlierer bezeichnen muss, weil sie von der Internationalen Weltbank sowie vom Internationalen Währungsfonds enorme Kredite in Anspruch genommen haben, die sie gar nicht zurückzahlen können. Um dies doch einigermaßen machen zu können, sind sie gezwungen, in den Bereichen Bildung und Gesundheit ihre Leistungen herunterzufahren, sprich Einsparungen vorzunehmen, um ihre Staatsschulen annähernd tilgen zu können. Auch diese Vorgehensweise der späten Postmoderne hat natürlich wiederum Auswirkungen auf die Individuen. Darauf sollte hier hingewiesen werden. Der Vergleich von Arm und Reich bzw. von der Moderne und ihrer Entwicklung ist ein übermäßig großes Feld und konnte hier nur in kleinsten Ansätzen skizziert werden. Außerdem weist dieses Kapitel starke Überschneidungen zu den Kapiteln 7. (Kapitalismus/Sozialismus) und 13. (Verteilungsgerechtigkeit) auf. Dies konnte nicht vermieden werden. Carmen. Sorry, aber es geht nicht anders. Kommen wir noch einmal auf Günther Anders zurück. Er ist ja vor allem als Mahner des Atoms bzw. für dessen Umgang bekannt geworden. An die Diskussion bzgl. der Atombombe und die ewig dauernden Abrüstungsverhandlungen zwischen Ost und West kann ich mich nur noch spärlich erinnern. Sie fanden in meiner Kinder- und Jugendzeit statt. Anders verhält es sich hingegen mit der Diskussion um Atomkraftwerke. Tschernobyl und Fukushima seien hier als Stichworte genannt. Anders wurde nicht müde, auf die Gefahren einer Atomindustrie hinzuweisen. Dabei sind wir als kleine Menschen nicht in der Lage, zu begreifen, was es bedeutet, wenn durch einen Atomschlag eine Stadt ausgelöscht wird. Es wird ja nicht eine Stadt ausgelöscht, so wie man einen Stromschalter umlegt und die Lampe gibt kein Licht mehr, sondern es sterben Abertausende von Menschen einen Flammentod. Wir können es
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uns, so Anders, überhaupt nicht vorstellen, weil die Auslöschung einer Stadt eben kein Wahrnehmungsakt ist.15 Erasmus. Es soll und muss an dieser Stelle auch noch ein anderer Autor erwähnt werden, der m. E. zu Unrecht nahezu in Vergessenheit geraten ist, der aber bereits in den 1980er-Jahren ein damals sehr bemerkenswertes und wichtiges Buch veröffentlicht hat. Ich meine Fritjof Capra. Capra machte sich Sorgen um die Zukunft der Menschheit16 und formulierte mehrere große Problemkreise, mit der sich die Gesellschaft beschäftigen muss, wenn sie nicht untergehen will. Er nannte die Wirtschaftskrise, die Energiekrise, die Rüstungskrise und die Umweltkrise. Capra spricht in seinem Buch von kulturellen Transformationen, die unbedingt notwendig sind, um dieser Krisen Herr zu werden. Er prophezeite allerdings auch, dass die bestehende Kultur im Niedergang begriffen ist und »verfallen«17 wird, »während die aufsteigende Kultur stetig wachsen und schließlich die führende Rolle übernehmen wird«18. Nun, so ist es nun nicht ganz gekommen und diese Krisen sind auch 2022 immer noch virulent. Aber es ist Capra zugutezuhalten, dass er mit seiner Analyse und seiner Beschreibung der Krisen wohl doch weitgehend richtig lag. Sein Optimismus ist ihm hingegen nicht vorzuwerfen. Arne. Optimistische Personen finde ich immer gut. Akelei. Die Thematik heute ist wirklich hochkomplex. Eine andere, aber ebenfalls sehr kritische Haltung postulierte bereits Beck, als er schrieb: »Der Begriff der ›Gegenmoderne‹ ist – wie der Name schon sagt – als Gegenbegriff zu dem der Moderne konzipiert. An dieser Negation wäre wenig Überraschendes, wenn dieser Widerspruch und Zusammenhang nicht in (kursiv i. O., R. B.) der Moderne, als integrales Konstruktionsprinzip der Moderne selbst gedacht würde. Moderne meint: Frage, Entscheidung, Rechenhaftigkeit, Kalkulierbarkeit; Gegenmoderne meint: Fraglosigkeit, Entscheidungslosigkeit, Unkalkulierbarkeit und den Versuch, diese Entscheidungslosigkeit gegen alle Moderne in der Moderne zu einer Entscheidung zu zwingen«19. 15 Vgl. Schubert, Elke: Günther Anders. Verlag Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1992, S. 76 16 Capra, Fritjof: Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1991 17 Ders., a. a. O., S. 473 18 Ders., a. a. O., S. 473 19 Beck, Ulrich: Die Erfindung des Politischen. Verlag Suhrkamp, Frankfurt/M. 1993, S. 100
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Evelyn. Bleiben wir doch wieder beim Heute. Auch der Philosoph Markus Gabriel hat sich darüber Gedanken gemacht, wie sich die Gesellschaft im 22. Jahrhundert weiterentwickeln soll. Seine Forderung unter vielen anderen lautet: »Wir brauchen eine moralische, auf systematische Weise nachhaltige Wirtschaftsordnung, deren Schaffung von ökonomischem Mehrwert systematisch an das Ideal moralischen Fortschritts für alle Menschen gekoppelt ist – eine moralische, humane Marktwirtschaft, die nicht auf unendliches Wachstum hin angelegt ist.«20 Gabriel fordert auch einen wohl an Kant angelegten »kosmopolitischen Imperativ«21, der fordert, dass wir uns alle als Menschen eines Planeten und eines hochkomplexen Systems verstehen. Gelingen sollte dies dann, wenn wir bereits bei den Kindern und in der Schule damit beginnen, ihnen Ethik beizubringen. Dies würde ihnen und damit allen zukünftigen Generationen klar machen, dass es nicht nur darum geht, unsere Welt zu verwalten, sondern dass ein allgemeingültiges Wertesystem benötigt wird, das es »der Menschheit erlaubt, in Wohlergehen und Wohlstand über viele Generationen friedlich zusammenzuleben«22. Arne. Diese Aussagen sind mir, gelinde gesagt, zu blauäugig und fernab jeglicher Realität. Diese Zeilen – und damit will ich meine Bewertung der Aussagen von Gabriel belegen – sage ich, als in der Ukraine Krieg herrscht (März 2022) und Millionen von Menschen auf der Flucht sind. Akelei. Gut gesagt, Arne. So viel habe ich dich noch selten reden gehört. Ähnlich unkritisch verhält es sich mit der Veröffentlichung von Golser und Heeger23. Erasmus. Ein Gegenpol hierzu stellt Gray dar, der davon ausgeht, dass die Menschen schon immer, und daran hat sich gar nichts geändert, von widerstreitenden »Bedürfnissen und Illusionen« getrieben sind und außerdem stets anfällig sind »für jede Art von Willens- und Urteilsschwäche«24. Auch was die Entwicklung der Nationalstaaten anbelangt, hat Gray keine gute Meinung, wenn er schreibt: »Zurzeit existieren um die 200 souveräne Staa20 Gabriel, Markus: Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert. Verlag Ullstein, Berlin 2020, S. 334 21 Ders., a. a. O., S. 335 22 Ders., a. a. O., S. 342 23 Golser, Karl; Heeger, Robert (Hrsg.): Moralerziehung im neuen Europa. Institut für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Verlag A. Weger, Brixen 1996 24 Gray, John: Von Menschen und anderen Tieren. Abschied vom Humanismus. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2010, S. 27
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ten auf der Welt. Die meisten von ihnen sind instabil und schwanken zwischen schwacher Demokratie und schwacher Diktatur hin und her. Viele sind von Korruption zerfressen oder befinden sich in der Hand des organisierten Verbrechens«25. Soweit die Makrosicht. Evelyn. Da geht Han schon mit feinerer Klinge an diese Vergleiche heran. Der koreanische Philosoph Byung-Chul Han, der in Deutschland lebt, bricht die Problematik moderner Gesellschaften auf das Individuum herunter und schreibt: »Als ihre Kehrseite bringt die Leistungs- und Aktivgesellschaft eine exzessive Müdigkeit und Erschöpfung hervor. Diese psychischen Zustände sind gerade für eine Welt charakteristisch, die arm an Negativität ist und die dafür von einem Übermass an Positivität beherrscht ist … Der Exzess der Leistungssteigerung führt zum Infarkt der Seele«26. Carmen. Und wieder etwas Geschichte gefällig? Wir kommen nicht darum herum, Erasmus. Vor über 20 Jahren hat der US-amerikanische Kulturhistoriker Richard Sennet darauf aufmerksam gemacht, dass die Kultur des modernen Kapitalismus unweigerlich mit dem Charakter des Menschen in Konflikt geraten muss. Während das Erstere immer mehr Flexibilität fordert, indem sich der Mensch auf immer neue Technologien und Herstellungsweisen bei der tagtäglichen Arbeit einstellen muss, ist der Mensch selbst eher an Stabilität, an der Kenntnis des Bekannten interessiert. Der immer wiederkehrende Wechsel von Arbeitsinhalten, Arbeitsstellen, Arbeitsumfeldern, Arbeits-Mitmenschen etc. verunsichert ihn und raubt ihm die Gewissheit für die (un-)mittelbare Zukunft. Sennet nennt diesen Zustand »Drift«, weil der moderne Mensch wie ein Schiff im Meer dahin driftet, das die Orientierung verloren hat.2728 Obwohl ich nicht unbedingt eine Anhängerin von einigen Theorien von Konrad Lorenz bin, erscheint mir dennoch seine Aufzählung der acht Todsünden sehr bemerkenswert, zumal wenn man beachtet, in welchem Jahr er sie veröffentlicht hat.29 25 Ders., a. a. O., S. 27 26 Han, Byung-Chul: Müdigkeitsgesellschaft. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2010, S. 57 27 Vgl. Sennett, Richard: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin Verlag, Berlin 2000 28 Sennett hat bereits in einem früheren Werk auf die Veränderungen der modernen Welt in hoch dezidierter Art und Weise hingewiesen: Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Verlag Fischer, Frankfurt/M. 1999 (10. Aufl.) 29 Vgl. Lorenz, Konrad: Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit. Verlag Piper, München 1973 (5. Aufl.), S. 107 f.
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Erasmus. Muss das denn wirklich auch noch sein? Arne. Ich würde die schon gerne noch hören wollen. Wir wollen ja auf einer fundierten Ebene Vergleiche ziehen, oder? Carmen. Danke Arne. Lorenz beschreibt, welche Umstände dazu angetan sein können, dass die Menschheit als Spezies vom Untergang bedroht ist: 1. Die Überbevölkerung der Erde 2. Die Verwüstung des natürlichen Lebensraumes 3. Der Wettlauf der Menschheit mit sich selbst, der die Entwicklung der Technologie zu unserem Verderben immer rascher vorantreibt 4. Der Schwund aller starken Gefühle und Affekte durch Verweichlichung 5. Der genetische Verfall 6. Das Abreißen der Tradition 7. Die Zunahme der Indoktrinierbarkeit der Menschheit 8. Die Aufrüstung der Menschheit mit Kernwaffen Diese von Lorenz postulierten Thesen sind ca. 50 Jahre alt und natürlich auch aus ihrer (damaligen) Zeit herausgeschrieben. Einige sind nach wie vor aktuell, andere würden wir heute umformulieren, was aber ihre Bedeutsamkeit nicht unbedingt schmälern würde. Unübersehbar ist auch, dass sie aus einer konservativen Geisteshaltung heraus geschrieben worden sind. Aber auch dies muss ihre Relevanz nicht mindern. Evelyn. Ein viel diskutiertes, wenn auch von ihm selbst als Utopie bezeichnetes Gesellschaftsmodell hat Nozick vorgelegt.30 Darin postuliert er einen Ultraminimalstaat. Dieser ist lediglich für die Schutzleistungen seinen Bürgern und Bürgerinnen gegenüber verantwortlich, dies in Verbindung mit einem aus dem Steueraufkommen finanzierten System von Gutscheinen. Es geht wohl, auch wenn Nozick dies so nicht benennt, um ein Grundeinkommen, das für alle Menschen möglich sein soll, damit sie sich ihren Schutz sichern können. Akelei. Genau, das musste natürlich auch noch kommen. Arne. Was genau ist das? 30 Vgl. Nozick, Robert: Anarchie, Staat, Utopia. Verlag Olzog, München 2011
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Evelyn. Die Garantie, so leben zu können, bedingt natürlich eine völlige Umverteilung von Gütern innerhalb einer Gesellschaft. Entscheidendes Kriterium für Nozick ist und bleibt aber, dass sich der Staat, vor allem als Sozialstaat, nicht weiter aufblähen darf, weil er sonst immer stärker in die Freiheit des Einzelnen eingreift. Erasmus. Bitte schön. Diese Ansichten wurden aber von wichtigen Vertreter:innen der Gesellschaftstheorie massiv kritisiert (z. B. Thomas Nagel, Amartya Sen). Auch Sloterdijk vermag der Zukunft moderner Gesellschaften nicht viel Positives abgewinnen. Er bezieht sich am Ende seines Buches auf ein Zitat der Mutter Napoleons, die meinte: »Wenn das nur gutgeht auf die Dauer.« Sloterdijk nimmt dieses Wort als ein »Bannwort gegen nahendes Unheil (denn) als ein Zeugnis von Zuversicht«31. Ein für mein Dafürhalten sehr gutes, interessantes und wichtiges Buch erschien 2016 von Hartmut Rosa: »Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung«32. Diese Veröffentlichung erreichte schnell eine große Popularität. Rosa stellt eine Reichweitenvergrößerung in unserem Leben fest, die gleichzeitig den Bereich des Nicht-Erreichbaren und Nicht-Verfügbaren immer weiter vergrößert. Die Welt wird für uns komplexer, bewegt sich schneller und wir kommen nicht mehr mit. Der Mensch entfremdet sich somit weiter von der Welt und bezahlt dies mit Stress, Burn-out und vor allem Depressionen. Rosa hierzu: »In dieser Lage, so meine Hoffnung, kommt es entscheidend darauf an, die Erinnerung an und die Hoffnung auf ein anderes In-der-WeltSein (kursiv i. O.), das durch die Beziehungsform des Hörens und Antwortens anstelle des Beherrschens und Verfügens gekennzeichnet ist, lebendig zu halten«33. Aber ich bin noch nicht zu Ende. Vogl, Kulturwissenschaftler aus Berlin, hat sich insbesondere mit der modernen Finanzpolitik im Zeitalter der Digitalisierung beschäftigt. Ich will hier nur seinen letzten Satz des Buches zitieren und da kann einem schon angst und bange werden: »Die privat-öffentlichen Allianzen im Zeichen finanzökonomischer Governance werden am Leitfaden der Informationsindustrie um die Produktion autoritärer Sozialstrukturen ergänzt. Auch wenn es keine Enden und keine puren Ausweglosigkeiten in der Geschichte gibt, muss man wohl konzedieren, dass die Feindseligkeit aller gegen alle nicht nur zu einem erfolgreichen Ge31 Sloterdijk, Peter: Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Verlag Suhrkamp, Berlin 2014, S. 489 32 Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Verlag Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. Berlin 2020 (4. Aufl.) 33 Wils, Jean-Pierre (Hrsg.): Resonanz. Im interdisziplinären Gespräch mit Hartmut Rosa. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2019, S. 30
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schäftsmodell, sondern zu einem überaus zukunftsfähigen Gemeinschaftsgefühl geworden ist. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es das Ferment einer neuen Vorkriegszeit liefern wird.«34 Arne. Aber doch irgendwie auch bekannt oder sehe ich das falsch? Carmen. Es kommt immer alles mal wieder. Das ist der Welten Lauf. Also ist eigentlich hierbei wenig zu vergleichen, weil es ja doch immer wieder auf das Gleiche hinausläuft: die da oben, wir da unten. Das war in der Antike schon so und ist es auch heute noch. Money makes the world go round … Erasmus. Gut, das lasse ich jetzt mal so stehen. Bedenkenswert ist aber die Feststellung von Habermas: »Die fundamentale Frage nach dem Fortbestehen eines für die Gesellschaft konstitutiven wahrheitsabhängigen Sozialisationsmodus ist, wie man sieht, nicht leicht zu beantworten«35. Carmen. Dann setze ich mit Harari noch einen darauf, wenn er schreibt: »In den vergangenen zwei Jahrhunderten haben wir Abermilliarden von Tieren in einem Regime industrieller Ausbeutung geknechtet, deren Grausamkeit in den Annalen des Planeten Erde ohne Gleichen ist. Wenn nur ein Bruchteil der Behauptungen von Tierschützern stimmt, dann ist die moderne industrielle Tierhaltung das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Wenn wir das globale Glück messen wollen, dürfen wir die Messlatte nicht bei Wohlhabenden, bei den Europäern oder bei den Männern und vermutlich nicht einmal nur beim Menschen anlegen.«36 Arne. Das halte ich im Kopf nicht mehr aus. Das heißt, es gärt zu einem neuen Knall, zu einem neuen Krieg, den wir in der Ukraine ja bereits haben. Schöne Aussichten sind das. Ich bin begeistert. Carmen. Die Hoffnung stirbt zuletzt und mit Bloch gehts doch. Dafür wird doch zurzeit geworben. Ich mag diese Weltuntergangsstimmung nicht. Evelyn. Ich denke auch, dass wir langsam zu einem Ende finden müssen. 34 Vogl, Joseph: Kapital und Ressentiment. Eine kurze Theorie der Gegenwart. Verlag C. H. Beck, München 2021, S. 182 35 Habermas, Jürgen: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Verlag Suhrkamp, Frankfurt/M. 1977 (4. Aufl.), S. 194 36 Harari, Yuval Noah: Eine kurze Geschichte der Menschheit. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2013, S. 462
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Carmen. Einverstanden. Akelei. Ein Ende gibt es wohl nicht, aber gegen das Aufhören bin ich auch nicht. Ich denke, Erasmus kommt die Ehre zu, abschließen zu dürfen. Erasmus. Vielen Dank für die Blumen. Als Fazit: Folgerichtig hat denn auch Habermas bereits vor ca. 50 Jahren darauf aufmerksam gemacht, dass der Spätkapitalismus mit mehreren Krisen zu kämpfen hat. Er benannte die Krise der Ökonomie, der Rationalität, der Legitimation und der Motivation.37 Es wäre interessant, wenn es auch den Rahmen hier bei Weitem sprengen würde, zu untersuchen, wie sich diese Krisen im Laufe der vergangenen Jahrzehnte entwickelt haben und ob wir ihnen heute noch den Krisenstatus zubilligen würden oder eher davon ausgingen, dass diese Elemente des Kapitalismus als Normalzustand zu bezeichnen und zu verstehen sind. Arne. Okay, das nächste Mal. Habermas läuft uns ja nicht weg. Abgesehen davon, ist er unsterblich.
37 Vgl. ders.: a. a. O., S. 66 ff.
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Alt – Jung: Vergleiche, die nie stimmig und immer falsch sind
Alt – Jung: Vergleiche, die nie stimmig und immer falsch sind
»Die drei Lebensalter des Menschen: Da da Bla bla Ga ga«.1 »Die Altersstolzen2 Ergraut sind wir und – und dennoch jung – So sprecht ihr voller Würde Und heischt von mir Bewunderung Ob eurer Altersbürde: Doch sollt’ vor jedem grauen Haar Ich ehrfurchtsvoll erbangen, so dürft’ am End der Esel gar Respekt von mir verlangen«. Alberich: männlich, aus dem Althochdeutschen. »Alb« = Geist, »rhhi« = reich, mächtig Désirée: weiblich, französische Form zu Desidora. Désirée. Jung – Alt: Dieses Begriffspaar schreit förmlich nach einem Vergleich. Es ist der permanente Vergleich des Alters, des Alterns, des Nochjung-Gebliebenen, aber doch schon Gealtertem etc. Zum Altern schreibt Rentsch die m. E. bedenkenswerte Sätze: »Der Prozess des Alterns, so meine These, ist die Radikalisierung der menschlichen Lebenssituation bzw. der menschlichen Grundsituation, und er ist dies deshalb, weil das Altern sich (philosophisch-anthropologisch) als das aufdringliche Zutage treten der menschlichen Lebensvoraussetzungen begreifen lässt«3.
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Vogt, Walter: Die schönsten Gedichte der Schweiz. Herausgegeben von Peter von Matt und Dirk Vaihinger. Verlag Nagel & Kimche, München 2022, S. 225 Blumenthal, Oscar. Theaterkritiker, Possenschreiber (1852–1917) Rentsch, Thomas: Altern als Weg zu sich selbst. Philosophische Ethik der späten Lebenszeit. In: Irrgang, Bernhard; Rentsch, Thomas (Hrsg.): Bioethik in der philosophischen Diskussion. Universitätsverlag & Buchhandel Eckhard Richter, Dresden 2010, S. 133
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Alt – Jung: Vergleiche, die nie stimmig und immer falsch sind
Alberich. Da bist du gleich voll dabei. Ja, so seid ihr jungen Leute eben. Ich, der ich schon einige Jahrzehnte mehr auf dem nicht vorhandenen Buckel habe, gehe das lieber etwas bedächtig an, mit Verlaub. Désirée. Ja, ja, schon gut, alter Mann, nun mach mal hinne. Damit wir hier in die Gänge kommen. Alberich. Gut, junge Dame. Aber um vergleichen zu können, müssen wir unterscheiden, und zwar so präzise wie möglich. Dies wollen wir ja, wie vorbesprochen, mittels Gegensatzpaaren aufzeigen. In der Unterscheidbarkeit liegen die Vergleiche immanent. Wir müssen sie demnach nur noch ans Tageslicht befördern, so wie beim Spargelstechen. Désirée. Also, was meinen nun die Alten? Alberich. Der alte Mensch erlebt seine Mängel in gravierender Art und Weise. Dies betrifft seine Leiblichkeit, seine Kognition; aber auch seine sozialen Kontakte im näheren und weiteren Umfeld. Alles ist/wird eingeschränkt, weil es der alte Mensch nicht mehr kann oder weil sich, aus seiner Sicht, immer alles schneller dreht und entwickelt. Er bleibt zurück. Auch die Nähe des Todes darf hier nicht verschwiegen werden. Désirée. Das klingt ja schlimm. Wird das mein Schicksal sein? Ui, ich glaube, ich bleibe jung. Alberich. Wir wollen ja hier sagen, was Sache ist. Oder? Désirée. Natürlich. Alberich. Auch der große Philosoph Ernst Bloch machte sich hierzu seine Gedanken: »Der Kampf gegen das Alter. Er greift wohl am kühnsten aus, bei der Frau fängt er früh an. Er will die sonderbare Wunde nicht aufsichtslos lassen, die der Leib sich selbst schlägt. Was die Erneuerung verloren gegangener oder schadhafter Organe angeht, ist die menschliche Natur die sprödeste. Nur in seinem Gehirn ist der Mensch das höchstentwickelte Lebewesen, nicht dagegen in anderen organischen Fähigkeiten. Stellt doch in der gesamten organischen Entwicklung Fortschritt häufig auch einen gewissen Rückschritt dar, indem er einseitige Ausbildungen fixiert. Gerade die Fähigkeit des Regenerierens nimmt auf höheren organischen Stufen stetig ab: beim Regenwurm genügen einige Ringe zur Herstellung des übrigen,
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bei Molchen wachsen noch Beine und Augen nach, bei Eidechsen der verlorengegangene Schwanz. Bei Säugetieren dagegen, beim Menschen ist in diesem Punkt die mütterliche Natur keineswegs freigebig. Die Menschen sind bei Verlust auf Prothesen angewiesen, und die allerstärkste Abnutzung: das Altern, das immerhin bei vielen Tieren so viel später eintritt, ist ihnen die empfindlichste«4. Bloch kommt dann auf den Jungbrunnen, sowie auf den »Tee zum langen Leben des Grafen St. Germain« zu sprechen. Désirée. Vergleiche mit Tieren machen mir immer etwas Mühe. Scheint aber wieder in Mode zu kommen. Aber bleiben wir human. Alberich. Einverstanden. Nun ist aber bei dieser Geschichte festzustellen, dass sich ein Vergleich von Alt und Jung gar nicht so besonderer Beliebtheit erfreut. Jung ist in; alt ist out. So geht denn der Vergleich dieses Paares eher dahin, dass das Alter abgeschafft werden soll. Das Alter wird abgewertet. Man spricht dann von der Anti-Aging-Medizin, die dem entgegentreten soll. Désirée. Dass das so ist, ist mir bekannt. Aber ich finde es falsch und ethisch sogar verwerflich. Alberich. Schön, dass du das sagst, dann brauche ich es nicht mehr zu tun. Es ergeben sich aber hierzu, nach Rippe5, vor allem fünf Einwände: »1. Therapien gegen das Altern zu entwickeln, ist moralisch fragwürdig. Denn Altern wird damit fälschlicherweise zu etwas Schlechtem und Negativem. Alter wird als etwas Defizitäres abgewertet. 2. Anti-Aging-Medizin fördert eine falsche Haltung zu Medizin, Leben und Alter, die moralisch bedenkliche Folgen zeitigen könnte. 3. Anti-Aging-Medizin birgt Stigmatisierung und Diskriminierungsgefahren und ist daher moralisch abzulehnen. 4. Anti-Aging-Medizin ist ein weiteres Element einer moralisch abzulehnenden Medikalisierung, welche insgesamt negative Konsequenzen hat. 4 5
Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Kapitel 33–42. Verlag Suhrkamp, Frankfurt/M. 1993 (4. Aufl, S. 533 f.) Rippe, Klaus Peter: Die Abschaffung des Alters. In: Maio, Giovanni; Clausen, Jens; Müller, Oliver (Hrsg.): Mensch ohne Mass? Reichweite und Grenzen anthropologischer Argumente in der biomedizinischen Ethik. Verlag Karl Alber, Freiburg i. Br. 2008, S. 408
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5. Ein Erfolg der Anti-Aging-Medizin überforderte unsere Gesellschaft und erzeugte eine größere Ungerechtigkeit. Daher sollten wir auf Anti-Aging-Medizin verzichten«. Désirée. Im Vorfeld haben wir ja abgemacht, dass wir einige Belege sammeln wollen, die diesen ewigen Vergleich »jung – alt« illustrieren sollen. Dabei gebe ich offen zu, dass meine Auswahl tendenziös ist. Will sagen, dass die von mir ausgewählten Zitate immer zugunsten des Alters sprechen. Dies auch deswegen, um den fünf Einwänden von Rippe zu untermauern. Alberich. Das ist zwar nett von dir, wäre aber nicht notwendig gewesen. Beginnen wir einfach und machen mal so eine Auslegeordnung. Améry, Jean:6 Der ursprüngliche Titel dieses Buch lautete »Die unheilbare Krankheit«. Améry beschreibt das Alter in seiner Totalität und in seinem Bezug zu sich selbst. Aber die fünf Essays seines Buches gehen weit über das Autobiografische hinaus. Der zweite Essay »Sich fremd werden« beschäftigt sich mit der Doppelbödigkeit des Alters. Es ist bestimmt einerseits durch eine, auch körperliche, Selbstentfremdung und andererseits zugleich durch einen altersbedingten Selbstgewinn. Améry spricht hierbei von einer ambiguité von Selbstentfremdung und Selbstvertrautheit im Altern. Aber letztlich versteht Améry unter dem Altern doch auch ein Leiden, dies insbesondere im Widerspruch des sozialen Ich zu jenem anderen Ich, das sich mit dem Alter aus dem leidenden Körper herausbildet. Die gesellschaftliche Dimension des Alters thematisiert Améry im dritten Essay »Der Blick des Anderen«. Jetzt erkennt der alternde Mensch, dass ihm die Welt keinen Kredit mehr auf (s)eine Zukunft zubilligt. Das vierte Essay trägt den Titel »Die Welt nicht mehr verstehen«. Das heißt, dass der alternde Mensch die Welt um ihn herum nicht mehr zu verstehen in der Lage ist. Das Umgekehrte ist aber ebenfalls der Fall. »Mit dem Sterben leben« ist das letzte Essay. Für Améry ist dies eine »skandalöse Zumutung«. Der alte Mensch ist der »gedemütigte« Mensch. Améry: »Und es ist nicht dasselbe, ob ein armer Teufel im Hospital stirbt, allein, von indifferenten Pflegerinnen kaum beachtet, oder ob ein Reicher in der Luxusklinik dahingeht«7. Der alternde Mensch wird sukzessiv weltlos, weil er gezwungen ist, sich verstärkt auf seinen Körper zu konzentrieren. 6 7
Améry, Jean: Über das Altern. Revolte und Resignation. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1977 (4. Aufl.) Ders., a. a. O., S. 144
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Beauvoir de, Simone:8 Es ist ein biologisches Phänomen: Der Organismus des alten Menschen weist bestimmte Besonderheiten auf. Das Altwerden zieht psychologische Konsequenzen nach sich … Das Alter ist kein statisches Faktum; es ist das Ende und die Verlängerung eines Prozesses. De Beauvoir war der Meinung, dass insbesondere in der Nachkriegszeit alte Menschen schlecht behandelt wurden und so setzte sie sich für einen respekt- und würdevollen Umgang mit dem Alter ein. Es konnte ihrer Meinung nach nicht sein, dass das Alter noch in den 1960er- und 1970er-Jahren als ein »schändliches Geheimnis« oder als ein »verbotenes Thema« bezeichnet wurde.9 Man stirbt nicht daran, dass man geboren worden ist, dass man gelebt hat und auch nicht am Alter. Man stirbt an etwas … Einen natürlichen Tod gibt es nicht … Alle Menschen sind zwar sterblich, aber für jeden Menschen ist sein Tod ein Unfall, und wenngleich er sich seiner bewusst ist und sich mit ihm abfindet, ein unverschuldeter Gewaltakt … »Das Wort ›ausgeschaltet‹ macht deutlich, was es heißt. Man macht uns weis, der Ruhestand wäre die Zeit der Freiheit und Muße; Dichter priesen einst die ›Wonnen des Hafens‹ [RB: die Formulierung stammt von Racan, 1589– 1670]. Das sind schamlose Lügen. Die Gesellschaft zwingt der überwiegenden Mehrheit der Alten einen so erbärmlichen Lebensstandard auf, dass der Ausdruck ›arm und alt‹ fast ein Pleonasmus ist; umgekehrt sind die meisten Bedürftigen Alte. Der Ruhestand eröffnet dem Pensionierten keine neuen Möglichkeiten; in dem Augenblick, da der Mensch endlich befreit ist von den Zwängen, nimmt man ihm die Mittel, seine Freiheit zu gebrauchen.«10 »Es (das Alter, R. B.) verändert die Beziehung des Einzelnen zur Zeit, also seine Beziehung zur Welt und zu seiner eigenen Geschichte. Andererseits lebt der Mensch niemals im Naturzustand; im Alter wird ihm, wie in jeder Lebensphase, sein Status von jener Gesellschaft aufgezwungen, zu der er gehört.«11 »Was ist altern? Ein fortschreitender nachteiliger, gewöhnlich vom Ablauf der Zeit abhängiger Veränderungsprozess, der nach der Reife eintritt und stets zum Tode führt«12. 8 9 10 11 12
Beauvoir de, Simone: Das Alter. Verlag Rowohlt Tb, 1972/2000 (7. Aufl.) Dies., a. a. O., S. 13; 15 Dies., a. a. O., S. 11 Dies., a. a. O., S. 13 Dies., a. a. O., S. 15
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»Das Alter lässt sich nur in seiner Gesamtheit erfassen; es ist nicht nur eine biologische, sondern eine kulturelle Tatsache.«13 In ihrem Buch »le deuxième sexe« schreibt de Beauvoir, dass ältere Frauen ihren alternden Körper mit den »feindseligen Augen des männlichen Geschlechts« betrachten würde. Bloch, Ernst:14 »Was im Alter zu wünschen übrigbleibt: Wir lernen im Alter vergessen. Aufreizende Wünsche treten zurück, obzwar ihre Bilder bleiben. Sie malen Flucht vor, wie einst im März: der Backfisch und das gefährliche Alter, der geschniegelte Halbwüchsige und der alte Geck können sich in einer wirren Lust zum neuen Leben berühren«15. »Wein und Beutel bleiben dem trivialen Alter als das ihm bleibend Erwünschte, und nicht immer nur dem trivialen. Wein, Weib und Gesang, diese Verbindung löst sich, die Flasche hält länger vor. Fidueit, fröhlicher Bruder; deshalb wirkt auch ein alter Trinker schöner als ein alter Liebhaber«16. »Daher wird der Gruß des Alters überwiegend nur als einer des Abschieds empfunden, nämlich mit dem Tod am dünnen Ende. Dieser, in jedem Lebensalter möglich, aber fürs höhere Alter unvermeidlich, gibt der Ebbe überhaupt keine Aussicht mehr auf eine erlebbare Flut und das macht den Stufenwechsel, wenn er Alter heißt, dermaßen dezidiert«17. Cicero, Marcus Tullius:18 Cicero beruft sich in seinem Buch immer wieder auf Marcus Porcius Cato, den Älteren (234–149 v. Chr.), der ein römischer Feldherr, Staatsmann und Schriftsteller war. »Alle wünschen sich das Alter zu erreichen, doch wenn es erreicht ist, klagen sie es an«.19 »Die besten Waffen gegen das Alter sind die Tugenden 13 Dies., a. a. O., S. 18 14 Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Kapitel 1–32. Verlag Suhrkamp, Frankfurt/M. 1993 (4. Aufl.) 15 Ders., a. a. O., S. 37 16 Ders., a. a. O., S. 38 17 Ders., a. a. O., S. 40 18 Cicero, Marcus Tullius: De senectute. Über das Alter. Cato der Ältere über das Alter. Reclams Universal-Bibliothek 803, Dietzingen 1998 19 Ders., a. a. O., S. 23
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und deren Betätigung«.20 »Denn nur Dummköpfe lasten ihre Fehler und ihre Schuld dem Alter an«.21 Über das Alter nennt Cicero vier Gründe, weshalb das Alter ein Unglück sein könnte: 1. Zwang zur Untätigkeit. Es schließt ein aktives Leben aus. 2. Schwächung der körperlichen Kräfte. Krankheiten nehmen zu, das Äußere verliert an Attraktivität. 3. Verlust vieler, auch sinnlicher Freuden. 4. Nähe des Todes. Cicero hatte ein großes Interesse daran, diese vier Gründe des Alters zu entkräften. Dabei legt er seine Erwiderungen gegen das Alter Cato dem Älteren in den Mund. Es war Cicero wichtig, die gesellschaftliche Stellung älterer Männer als Führer von Kultur und Politik darzustellen. Was ist nun diesen 4 Charakteristika des Alters entgegenzuhalten? »1. Große Dinge werden durch den Geist vollbracht: Planung, Geltung und Entscheidung. 2. Man vermisst ja auch als junger Mensch nicht die Kraft eines Stieres oder eines Elefanten. Es gibt immer einen, der stärker ist. 3. Die Lust ist die Feindin der Vernunft. Sie blendet die Augen des Geistes. Also ist es gut, wenn die Lust im Alter abnimmt. Platon: Die Lust als Köder des Bösen.22 Kämpfe der Wollust, des Ehrgeizes, der Rivalitäten, der Feindschaften und sämtlicher Begierden sind ausgestanden. 4. Der Tod kann einem in jedem Alter treffen. Für alte Menschen bedeutet er das natürliche Ende ihres Lebens und ist somit gut. Die Frucht des Alters ist der Schatz der Erinnerung an das früher erworbene Gute! Obst fällt, wenn es gereift ist, von alleine vom Baum. Der Tod ist wie eine Reise, die zu Ende geht, weil jede Reise einmal zu Ende gehen muss.«23
20 21 22 23
Ders., a. a. O., S. 27 Ders., a. a. O., S. 33 Ders., a. a. O., S. 69 Ders., a. a. O., S. 14
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»Alte sind eigensinnig, ängstlich, jähzornig, schwierig und geizig. ABER: das sind Fehler des Charakters und nicht des Alters. Alte fühlen sich oft geringgeschätzt, verachtet, verspottet und sind deshalb auch verbittert«.24 »Ich habe keine Neigung das Leben zu beklagen und ich bereue es nicht, gelebt zu haben, denn ich habe so gelebt, dass ich meine, nicht vergeblich geboren zu worden zu sein und ich scheide aus dem Leben wie aus einer Herberge, nicht wie aus einer Behausung«.25 »So wie nicht jeder Wein mit dem Alter sauer wird, so wird auch nicht bei jedem Menschen das Alter sauer. Das war es, was ich über das Alter zu sagen hatte; mögt ihr zu ihm gelangen, damit ihr das, was ihr von mir gehört habt, durch die Erfahrung der Wirklichkeit gutheißen könnt«26. Grün, Anselm:27 »Es gibt Grundregeln für die Kunst des Altwerdens, die für jeden gelten. Dazu gehören die Schritte des Annehmens, des Loslassens und des Übersich-Hinausgehens«.28 Hasler, Ludwig:29 »Im Alter aber hat er immer weniger vor, seine Zukunft schrumpft, sein Leben wird zur Galgenfrist. Für dieses Dilemma – dass der Mensch auf Zukunft angelegt ist, das Alter aber kaum mehr Zukunft hat – gibt es nur eine Lösung: Ich wirke an einer Zukunft mit, auch wenn die nicht mehr meine sein wird«.30 Heidegger, Martin:31 Das Alter, das mit dem sechzigsten Geburtstag beginnt, ist der Herbst des Lebens. Der Herbst ist die erfüllte, die ausgeglichene und darum ausgegli24 25 26 27 28 29 30 31
Ders., a. a. O., S. 87 Ders., a. a. O., S. 107 Ders., a. a. O., S. 111 Grün, Anselm: Die hohe Kunst des Älterwerdens. Vier-Türme-Verlag, Münsterschwarzach 2018 (10. Aufl.) Ders., a. a. O., S. 5 Hasler, Ludwig: Für ein Alter, das noch was vorhat. Mitwirken an der Zukunft. Verlag rüffer & rub, Zürich 2019 (3. Aufl.) Ders., a. a. O., S. 10 Heidegger, Martin: In: Jäger, Lorenz: Heidegger – Ein deutsches Leben. Verlag Rowohlt, Berlin 2021
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chene Zeit. Er ist die überlegene Zeit, die den Sinn weckt für den verborgenen Einklang aller Dinge. Das Zutrauen zum Herbst ist das gute Geleit in das Geheimnis des Alters. »Alter«, sagt Heidegger, bedeute im Deutschen so viel wie Zeitabschnitt und Zeit. Das Alter ist die Zeit. Marquard, Odo:32 »Oftmals wurde das Leben mit den vier Jahreszeiten verglichen oder mit einer aufsteigenden und absteigenden Treppe. Heute scheint man dagegen von der Jugend direkt ins Alter überzuwechseln. Auf der einen Seite gibt es nur noch Junge und Junggebliebene, die mit allen Mitteln, auch solchen chemischer Art, das Alter hinauszuzögern versuchen, um ihre Genuss- und Arbeitsfähigkeit möglichst lange aufrechtzuerhalten. Auf der anderen Seite stehen die frühen und späten Alten.33 Es klingt paradox: Gerade die Überalterung der Gesellschaft und die Erhöhung der Lebenserwartung führen zu einem Jugendkult bis ins höhere Alter. Dieser Jugendkult wird von Konsum- und Freizeitindustrie, aber auch von Politik und Ökonomie gefördert.34 Je älter man wird, umso feindseliger erscheint die Welt um einen herum in einem ganz konkreten Sinne: Treppen sind schwerer zu erklimmen, Straßen gefährlicher zu überqueren, Pakete mühseliger zu tragen, und es bereitet einem immer mehr Mühe, das Auto zu besteigen«35. Montaigne, Michel de:36 »Manchmal spricht man von einem sogenannten natürlichen Verlauf des Lebens, nach welchem noch einige Jahre mehr zu erwarten wären; das wäre berechtigt, wenn es für jemanden von uns das Privileg gäbe, gegen die vielen unglücklichen Zufälle gefeit zu sein, denen wir aber nun einmal von Natur ausgesetzt sind und die den Normalablauf, auf den man sich verlässt, unterbrechen können«.37 »Aus Altersschwäche zu sterben, das ist ein seltener, ein eigenartiger, ein ungewöhnlicher Tod und darum weniger natürlich als die anderen Todesarten; es ist die letzte, die äußerste Möglichkeit des Sterbens; je weiter wir von ihr entfernt sind, umso weniger können wir hoffen, sie zu erleben.38 »Wir sind unendlich vielen Todesmöglichkeiten, in denen 32 Marquard, Odo: Endlichkeitsphilosophisches. Über das Altern. Verlag Reclam Tb, Nr. 20278, Stuttgart 2013 33 Ders., a. a. O., S. 77 34 Ders., a. a. O., S. 78 35 Ders., a. a. O., S. 82 36 Montaigne de, Michel: Die Essais. Anaconda Verlag, Köln 2005 37 Ders., a. a. O., S. 161 38 Ders., a. a. O., S. 161
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andere umkommen, entgangen … Unter Servius Tullius (534 v. Chr. 6 König von Rom) waren die Ritter bis zum 47. Jahre kriegsdienstpflichtig. Mit Rücksicht auf die Wirtschaftlichkeit wäre ich dafür, unsere Arbeitskraft und Dienstfähigkeit so lange wie möglich auszunutzen«39. »Manchmal ergreift das Altern zuerst den Körper, manchmal aber auch den Geist. Ich habe viele Fälle erlebt, in denen das Gehirn vor dem Magen und den Beinen schwach wurde; dieses Leiden ist umso gefährlicher, weil der, den es trifft, wenig davon merkt und weil es sich äußerlich kaum zeigt. Freilich mache ich unseren Gesetzen nicht zum Vorwurf, dass sie uns zu spät pensionieren, sondern dass sie uns zu spät anstellen. Wenn ich bedenke, wie unsicher unser Leben ist, von wie viel Kippen es üblicherweise und seiner Natur nach bedroht ist, so habe ich den Eindruck, man sollte nicht einen so großen Teil dieses Lebens auf die Standesvorurteile, auf das Nichtstun und auf die Berufsvorbereitung verschwenden«.40 Es geht darum, die Todesfurcht zu überwinden. Alle Weisheit läuft darauf hinaus, die Furcht vor dem Sterben aushalten zu lernen. Eine der größten Tugenden ist die Verachtung des Todes. Diese Verachtung gibt dem Leben eine gelassene Ruhe. Wenn man sich vor dem Tod zu sehr fürchtet, dann kann man auch nicht ruhig und gelassen leben Nietzsche, Friedrich:41 »Lebensalter und Wahrheit. – Junge Leute lieben das Interessante und Absonderliche, gleichgültig, wie wahr oder falsch es ist. Reifere Geister lieben das an der Wahrheit, was an ihr interessant und absonderlich ist. Ausgereifte Köpfe endlich lieben die Wahrheit auch in dem, wo sie schlicht und einfältig erscheint und dem gewöhnlichen Menschen Langeweile macht, weil sie gemerkt haben, dass die Wahrheit, das Höchste an Geist, was sie besitzt, mit der Miene der Einfalt zu sagen pflegt«. Rubinstein, Arthur: Der Pianist auf die Frage, wie er in seinem hohen Alter noch so schnell spielen könne:
39 Ders., a. a. O., S. 163 40 Ders., a. a. O., S. 164 41 Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Bd. 676/77. Gesammelte Werke 3. Goldmanns Gelbe Taschenbücher, o. J. Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Bd. 676/77. Gesammelte Werke 3. Goldmanns Gelbe Taschenbücher, o. J., Kapitel 609, S. 338 ff.
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1. Er spiele weniger Stücke (persönliche Beschränkung) 2. Intensiveres Üben dieser wenigen Stücke (Optimierung) 3. Langsame Passagen spiele er langsamer als früher, sodass die schnellen schneller wirken (Schwächen kompensieren) Schopenhauer, Arthur:42 »Unser ganzes Leben hindurch haben wir immer nur die Gegenwart inne und nie mehr. Was dieselbe unterscheidet, ist bloß, dass wir am Anfang eine lange Zukunft vor uns, gegen das Ende aber eine lange Vergangenheit hinter uns sehn; sodann, dass unser Temperament, wiewohl nicht unser Charakter, einige bekannte Veränderungen durchgeht, wodurch jedes Mal eine andere Färbung der Gegenwart entsteht.«43 »Die Heiterkeit und der Lebensmut unserer Jugend beruht zum Teil darauf, dass wir bergaufgehend den Tod nicht sehn; weil er am Fuß der andern Seite des Berges liegt. Haben wir aber den Gipfel überschritten, dann werden wir den Tod, welchen wir bis dahin nur von Hörensagen kannten, wirklich ansichtig, wodurch, da zu derselben Zeit die Lebenskraft zu ebben beginnt, auch der Lebensmut sinkt; sodass jetzt ein trüber Ernst den jugendlichen Übermut verdrängt und auch dem Gesichte sich aufdrückt. «44 »Die meisten Alten, als welche stets stumpf waren, werden im höhern Alter mehr und mehr zu Automaten; sie denken, sagen und tun immer dasselbe, und kein äußerer Eindruck vermag mehr etwas daran zu ändern oder etwas Neues aus ihnen hervorzurufen. Zu solchen Greisen zu reden ist, wie in den Sand zu schreiben …«45. »Das Schwinden der Kräfte im zunehmenden Alter, und immer mehr und mehr ist allerdings traurig; doch ist es notwendig, ja wohltätig; weil sonst der Tod zu schwer werden würde, dem es vorarbeitet. Daher ist das Schwinden der Kräfte ein Gewinn. «46 »Irgendwann zu sterben heißt, niemals zu sterben. Die Ungewissheit der Todesstunde wiegt uns in dieser Illusion. «47 »Die ersten vierzig Jahre un42 Schopenhauer, Arthur: Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften. Suhrkamp taschenbuch wissenschaft, stw 664, Frankfurt/M. 1986, Kapitel 6: Vom Unterschiede der Lebensalter, S. 368 ff., in Auszügen wiedergegeben 43 Ders., a. a. O., S. 569 44 Ders., a. a. O., S. 576 45 Ders., a. a. O., S. 589 46 Ders., a. a. O., S. 589 47 Ders., a. a. O., S. 93
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seres Lebens liefern den Text, die folgenden dreißig sind Kommentar dazu, der uns den wahren Sinn und Zusammenhang des Textes, nebst der Moral und allen Feinheiten desselben, erst recht verstehen lehrt. «48 Für Améry, so beschreibt es Erika Tunner49 in ihrem Aufsatz über Améry, ist das Alter ein Prozess ständiger Übergänge. Es geht um Revolte und Resignation. Wenn die Revolte noch über die Resignation triumphiert, verspürt man noch die Jugend. Im Alter entzieht sich einem die Welt, man desengagiert sich. Tunner zitiert auch Cesare Pavese aus seinem Tagebuch »Il mestiere di vivere« (Das Handwerk des Lebens: »So endet die Jugend: wenn man sieht, dass die unbefangene Hingabe – keiner will! Und es gibt zwei Arten, so zu enden: merken, dass die anderen sie nicht wollen, und merken, dass wir sie nicht annehmen können. Die Schwachen werden auf die erste Art alt, die Starken auf die zweite«50). Désirée. Eine beeindruckende Sammlung, die wir zusammengestellt haben, finde ich. Alberich. Ja, nicht übel. Da haben sich schon eine Reihe von Leuten zu unserem heutigen Thema Gedanken gemacht. Désirée. Vermutlich gäbe es noch mehr, aber wir haben ja noch anderes zu tun, als uns nur über unser Altern Gedanken zu machen. Alberich. Ich habe nicht mehr so viel zu tun, weil ich ja schon seit einigen Jahren in Rente bin. Das steht dir noch bevor. Désirée. Aber wir lassen es jetzt einfach mal so stehen. Guter, alter Mann. Alberich. Aber wir sind noch nicht ganz fertig. Gehen wir bitte noch einmal auf die Anti-Aging-Medizin ein. Die geht im Grunde mehr die Jungen an, wir tun das ja nicht mehr. Also ist das m. E. ein sehr wichtiges Thema, weil es das Jung-sein-Wollen mit dem Alt-Werden verknüpft.
48 Ders., a. a. O., S. 93 49 Tunner, Erika: Die ambiguité des Alterns. In: Steiner, Stephan (Hrsg.): Jean Améry (Hans Maier). Stroemfeld Verlag, Basel 1996 50 Dies., a. a. O., S. 253, zitiert nach: Cesare Pavese: Das Handwerk des Lebens: Tagebuch 1935–1950, übers. von Charlotte Birnbaum, München 1963, S. 56
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Désirée. Guter Gedanke. So habe ich das noch nie gesehen. Also, dann leg mal los. Alberich. Dabei geht es um medizinische Eingriffe größerer oder kleinerer Natur, die über keinen Krankheitsbezug verfügen, sondern ausschließlich auf den Wunsch der Hilfesuchenden – von Patienten und Patientinnen im eigentlichen Sinn kann hierbei nicht gesprochen werden – zurückzuführen sind. Das Feld der Anti-Aging-Interventionsmöglichkeiten ist extrem heterogen. Es geht hier um nicht unbedingt gesundheitsfördernde Nahrungsmittel wie Anti-Aging-Pralinen, Anti-Aging-Bier bis hin zur Genmanipulation, die an Modellorganismen wie an Fruchtfliegen, Hefepilzen oder Fadenwürmern erforscht werden.51 Ziel ist es auf jeden Fall, lebensverlängernde Effekte zu erzielen, die aber nur dann akzeptabel sind, wenn sie nicht mit Altersbeschwerden einhergehen. Zu einer großen Industrie sind mittlerweile die kosmetischen Eingriffe geworden. Hier geht es um Korrekturen, die vornehmlich im Bereich der Hautalterung vorgenommen werden, etwa die Beseitigung von Falten, schlaffem Hautgewebe, Altersflecken sowie dem Entfernen von Fettpolstern. Ein Heer an Angeboten finden sich in den Bereichen von Lifestyle-Tipps und Ernährungsberatungen, die ebenfalls zum Bereich des Anti-Agings gezählt werden müssen. Désirée. Ich wusste nicht, dass sich diese Industrie so stark entwickelt hat. Bei all diesen Aktivitäten ist doch auch zu fragen, wofür sind sie da? Was soll mit ihnen erreicht werden? Warum werden sie überhaupt in Anspruch genommen etc.? Alberich. Hier wird oft argumentiert, dass diese Verfahren das Selbstwertgefühl des alten Menschen stärken, was wiederum zu einer besseren Lebensqualität führt und dies kann doch nicht kritisiert werden. Oder? Man ist ja so alt, wie man sich fühlt, sagt man. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass diese Entwicklung sehr stark mit einer Ver-Individualisierung des modernen Menschen zusammenhängt. Jeder ist schließlich seines Glückes Schmied und wenn es die finanziellen Mittel zulassen, warum soll man sich dann nicht wieder in einen jungen Menschen verwandeln dürfen. Désirée. Auch dann, wenn man sehr wohl weiß, dass es sich im Grunde um eine Form des Selbstbetruges handelt. 51 Vgl. Eichinger, Tobias: Jenseits der Therapie. Philosophie und Ethik wunscherfüllender Medizin. Transcript Verlag, Bielefeld 2013, S. 232
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Alberich. Ja. Anti-Aging-Angebote können denn auch, und dies verspricht die Werbung, auf die Einzelperson »maßgeschneidert« werden. Das heißt, der alte Mensch wird wie ein Kleidungsstück nach Maß zugeschnitten. Weil das aber viele alte Menschen tun, wird dann eben nur eine Konfektion daraus. Das Altern soll verhindert, zumindest hinausgezögert werden, und so hat sich in den vergangenen Jahrzehnten eine umfangreiche und lukrative Verjüngungsindustrie gebildet. Dieser Bereich unterscheidet sich aber, und darauf soll noch einmal hingewiesen werden, sehr stark von pathologischen und manifesten Krankheitsbildern, wie sie mit dem Alter eben auch entstehen können. Anti-Aging beginnt nicht erst im hohen Altern, sondern, durch die Werbung gezielt angesprochen, bereits im Mittel-Alter. Dies im Sinne des Gedankens, dem Alter kann man nie früh genug vorbeugen. Der Anti-Aging »Konsument ist somit jung, gesund und fit – und soll dies mit Hilfe der entsprechenden Leistungen auch möglichst lange bleiben«52. Désirée. Moralisch doch alles sehr zweifelhaft, wie ich finde. Alberich. Sehe ich auch so. Eventuell hat man bei meinen Ausführungen zwischen den Zeilen bereits erahnen können, dass ich diesem Kult des AntiAgings sehr kritisch gegenüberstehe. Es geht ja um die Bedeutung des Alterns, und wie grundsätzlich dem Alter, d. h. dem alten Menschen in der Gesellschaft begegnet wird. Désirée. Anti-Aging könnte damit zusammenhängen, dass das Alter als eine Mangelerscheinung, als ein Defizit an Leben, Lebensenergie, als ein pathologischer Zustand verstand wird. Dabei wird der Begriff des »Pathologischen« auf eine, wie ich meine, unzulässige Art und Weise ausgeweitet. Der natürliche Vorgang des Alterns, der keine Pathologie ist, wird als eine solche definiert und muss deswegen, wie eine Krebserkrankung oder ein Herzinfarkt, behandelt werden. Alter als eine Krankheit führt dann in der logischen Konsequenz dazu, dass man sich ihm entgegenstellt und es im Bereich der Medizin verortet. Es findet somit eine Grenzverschiebung natürlicher Prozesse in den Bereich krankhafter Prozesse statt. Die Kennzeichnung zwischen krank und gesund wird unscharf, die Übergänge werden fließend (gemacht). Alberich. Ich hätte es, glaube ich, nicht besser formulieren können. Kompliment. 52 Ders., a. a. O., S. 242
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Désirée. Sie sehen mich erröten, holder Knabe. Alberich. Hehe, über das Alter macht man sich nicht lustig. Zur Sache zurück. Anti-Aging kann in ihrer letzten Konsequenz als eine Form der Abschaffung des Todes verstanden werden und dies scheint unsinnig zu sein. Jegliches Leben, egal in welcher Form es existiert, ist dem Tode geweiht. Wieso sich der Mensch aufgrund seines Verstandes diesem Vorgang entziehen möchte, erscheint mir nicht einsichtig zu sein. Auch die Jugend, das Kind, die befruchtete Eizelle, altert bereits. Eine Manipulation an diesem Geschehen, erscheint mir kurzsichtig, unreif und falsch zugleich zu sein. Schauen wir noch einmal auf Eichinger: »Angesichts starker gesellschaftlicher Tendenzen, die Werte wie Jugendlichkeit, Schönheit und Perfektion verherrlichen und gleichzeitig Alter und Gebrechlichkeit marginalisieren und negieren, muss bei der Anwendung von Anti-Aging durch Ärzte (neben einer zunehmenden Kommerzialisierung) somit vor allem eine bedenkliche Instrumentalisierung der Medizin befürchtet und kritisiert werden«53. Désirée. Sinnvoller wäre es, das Alter als das zu verstehen, was es ist, nämlich, dass es das baldige Ende des Lebens bedeutet, und dieses gleichzeitig mit einer gehörigen Portion Gelassenheit zu ertragen, um real oder in Erinnerung von seiner Lebenserfahrung zu zehren und sich an dieser zu erfreuen. Alberich. Ein großes Wort, »gelassen«. Ich bin immer noch nicht fertig. Désirée. Nur zu. Alberich. Ein weiterer, aus meiner Sicht, unerfreulicher Aspekt betrifft die Sprache bzw. die Konnotationen, die mit den Begriffen alt, altern oder jung, Jugend verbunden sind. Oft sind damit wertende Zusätze verbunden. Im Duden (S. 67) findet man im Synonymwörterbuch zum Begriff »alt« die folgenden Umschreibungen: 1. Ältlich, angealtert, angejahrt, gealtert, in fortgeschrittenem/hohem/ vorgerücktem Lebensalter; nicht mehr ganz jung, in gesegnetem Alter, in die Jahre gekommen 2. Abgenutzt, altersschwach, antiquarisch, gebraucht, getragen, nicht mehr neu, ausgedient, vorsintflutlich
53 Ders., a. a. O., S. 266
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3. Abgestanden, nicht mehr frisch, schlecht, verbraucht, vorherig, vorjährig 4. Althergebracht, altüberkommen, erprobt, konservativ, traditionell, überkommen, altbekannt, abgedroschen 5. Fern, früher, vergangen, verwichen, antik, klassisch 6. Altbekannt, altgewohnt, gewöhnlich, unverändert, vertrau 7. Ehemalig, einstig, früher, vorherig, vorig, vormalig, verflossen, vorgängig, altbacken Désirée. Wenn man sich diese Liste zu Gemüte führt, so fällt sofort auf, dass das Alter vorwiegend in einem negativen Licht »definiert« wird. Alberich. Genau! Dabei wird m. E. vergessen, dass das Leben eine Doppelstruktur54 aufweist, wie Saner erläutert. Er schreibt: »Es (das Leben, R. B.) ist zugleich sterblich und geburtlich. Als sterbliches nimmt es nicht nur ein Ende, sondern es ist endlich. Als geburtliches hat es nicht nur einen Anfang, sondern es ist anfänglich. Das Kind ist nicht weniger sterblich als der Greis, der Greis nicht weniger geburtlich als das Kind, wenn auch das Kind von der faktischen Geburt weniger weit entfernt ist und der Greis dem Tod in der Regel näher sein mag«55. Dabei geht es aber nicht nur um Ethik, sondern auch um knallharte Ökonomie, wenn Diessenbacher schreibt: »Der Generationenvertrag hat sich bis zur Kenntlichkeit entstellt: Er zeigt sein Gesicht als Generationenkonflikt, in dem es um die gerechte Verteilung gesellschaftlich knapper werdender Ressourcen unter den Altersgruppen geht«56. Es ist natürlich vornehmlich die demografische Entwicklung moderner Gesellschaften, die diese ökonomische Instabilität zur Folge hat. Immer weniger Geburten stehen immer länger lebende (alte) Menschen gegenüber. Damit wird die Rentenversicherung in eine Schieflage gebracht, weil immer weniger Menschen einzahlen, aber immer mehr Menschen das Recht haben, aus ihr bezahlt zu werden. Dabei bleibt es aber nicht, weil diese alten Menschen natürlich auch das Gesundheitssystem wesentlich stärker belasten als junge. Rechnet man zu diesen Krankenkosten noch diejenigen dazu, die für die Pflege dieser Altersgruppe notwendig sind, erhöhen sich die Kosten noch 54 Saner, Hans: Macht und Ohnmacht der Symbole. Essays. Lenos Verlag, Basel 1993, S. 31 ff. 55 Ders., a. a. O., S. 45 56 Diessenbacher, Hartmut: Generationenvertrag, Ethik und Ökonomie: Ist das höhere Lebensalter noch finanzierbar? In: Sachsse, Christoph; Engelhardt, H. Tristram (Hrsg.): Sicherheit und Freiheit. Zur Ethik des Wohlfahrtsstaates. Verlag Suhrkamp, Frankfurt/M. 1990, S. 258
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weiter. So scheint es fast nur logisch zu sein, dass Diskussionen gefordert werden (oder bereits schon geführt werden?), damit z. B. für Intensivstationen Kriterien erstellt werden, »unter welchen Umständen jemandem intensivmedizinische Leistungen zuteilwerden sollen und wann nicht«57. Hier geht es dann um die Frage, wie viel das Leben eines Menschen noch wert ist, insbesondere dann, wenn dieser Mensch, nach Meinung der Gesellschaft, sein Leben im Grunde bereits hinter sich hat. Von der Heiligkeit des Lebens bleibt dann nicht mehr viel übrig. Désirée. Ich habe vor einiger Zeit ein Interview mit einer Ethikerin gelesen, die davon spricht, dass aus all diesen Gründen der Generationenvertrag in Gefahr ist.58 Alberich. Deshalb benötigen wir zum Abschluss dieses Gesprächs noch etwas Versöhnlicheres: Es fällt uns dabei Methusalem ein, der es doch, laut Bibel59 auf knapp tausend Jahre gebracht haben soll. Im Alter von 187 zeugte er Lamech, der durch seinen Sohn Noah eine gewisse Berühmtheit erlangte. So weit sind wir noch nicht, aber die Anti-Aging-Bewegung geht doch davon aus, dass man auch heute schon ohne Weiteres ca. 116 Jahre bei geistiger und körperlicher Frische erreichen können sollte. Und noch ein Bonmot von Bloch zum Alter: »Wein, Weib und Gesang, diese Verbindung löst sich, die Flasche hält länger vor. Fiducit, fröhlicher Bruder; deshalb wirkt auch ein alter Trinker schöner als ein alter Liebhaber«60. Désirée. Das soll jetzt nun aber nicht noch eine Anmache sein, oder? Alberich. Würde ich mir nie erlauben und finde ich auch nicht gut. Désirée. Das weiß ich doch, alter, guter Mann. Alberich. Sie sehen mich erröten, holde Dame. Désirée. Schluss und aus!
57 Diessenbacher, a. a. O., S. 269 58 Vgl. Baumann-Hölzle, Ruth: Generationenvertrag in Gefahr? Interview mit Ruth Baumann-Hölze. In: www.seniorweb.ch (Zugriff: 18.05.2022) 59 Genesis 5, 21–27 60 Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Kapitel 1–32. Verlag Suhrkamp, Frankfurt/M. 1993 (4. Aufl.), S. 38
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Klassen und Klassifizierungen in einer endlosen Vergleichsschleife »Es ist nicht gut, sich mit den Reichen zu vergleichen.« (Klaus Klages, Abreißkalenderverleger)
»Alles menschliche Leiden und Entbehren und alle menschlichen Befriedigungen, also jede menschliche Lage bemisst sich nur durch den Vergleich mit der Lage, in welcher sich andere Menschen derselben Zeit in Bezug auf die gewohnheitsmäßigen Lebensbedürfnisse derselben befinden. Jede Lage einer Klasse bemisst sich somit immer nur durch ihr Verhältnis zur Lage der anderen Klasse in derselben Zeit.« (Ferdinand Lassalle, sozialistischer Politiker im Deutschen Bund, 1825–1864) Levi: männlich, aus der Bibel übernommener Vorname, hebräischen Ursprungs. In der Bedeutung von anhänglich, dem Bunde zugetan. Mortimer: männlich, alter englischer Vorname, der ursprünglich den Ort Mortemer in der französischen Normandie bezeichnete. Pretiosa: weiblich, aus dem Lateinischen in der Bedeutung von kostbar, von hohem Wert. Serenus: männlich, aus dem Lateinischen in der Bedeutung von heiter, glücklich. Fatima: weiblich, aus dem Arabischen übernommener Vorname mit unklarer Bedeutung. Fatima war die jüngste Tochter Mohammeds. Heidi: weiblich, Koseform von Adelheid. Mortimer. Klassen und Klassifizierungen. Damit kann ich geradezu gar nichts anfangen. Wozu soll das gut sein. Levi. Mortimer, der ewige Nörgler. Nun habe doch etwas Geduld. Es wird sich schon klären lassen. Es gibt eben auf dieser Welt Klassenunterschiede. Das kann man doch nicht bestreiten, oder?
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Pretiosa. Also ich weiß nicht … Levi. Nun fang du bitte nicht auch noch an. Pretiosa. Ich finde es nicht gut, wenn du mir ins Wort fällst, Levi. Levi. Sorry. Ich gehöre eben der männlichen Klasse an und der sagt man solches Fehlverhalten ja nach. Fatima. Da haben wir doch schon eine Klasse gefunden. Aber vielleicht können wir jetzt starten. Heidi. Bevor wir uns auf die Klassifizierung im Eigentlichen einlassen, wollen vor vorgängig einige Grundsätze des Klassifizierens anschauen. »Der Gesichtspunkt für die Klassifikation der Grundgüter ist der Grad der Unmittelbarkeit, in dem die Schädigung eines Grundguts die konkrete Freiheit eines Menschen berührt, oder, anders formuliert, das Ausmaß, in dem ein Gut für die Verfolgung beliebiger Ziele notwendig ist. So betrifft z. B. eine Schädigung an Leib und Leben den Menschen unmittelbarer als eine Schädigung des Besitzes«1. Mortimer. Geht das auch in Deutsch? Serenus. Nun stell dich doch nicht so an. Es geht darum, dass Grundgüter in Gruppen eingeteilt werden können. Ein Grundgut ist z. B., dass es dir gut geht. Wenn du in diesem Bereich geschädigt wirst, ist das schlimmer, als wenn etwa an deinem Auto etwas beschädigt wird. Also wenn jemand den Mercedes-Stern an deinem Auto knickt. Mortimer. Wenn jemand meinen Stern knickt, ist das für mich genauso schlimm, wie wenn jemand mir eine reinhaut. Pretiosa. Oh my god. Da bringt aber einer die Klassen ganz gehörig durcheinander. Heidi. Bringen wir hier etwas Klarheit in die Sache. So gesehen können Grundgüter in un- und mittelbare aufgeteilt werden. Bei den unmittelbaren Grundgütern unterscheidet Ricken dann drei Klassen, nämlich a) naturale 1
Ricken, Friedo: Allgemeine Ethik. Verlag Kohlhammer, Stuttgart 2003 (4. Aufl.), S. 243
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Güter (das Leben, körperliche Unversehrtheit sowie die mentale Gesundheit), b) soziale Güter (soziale Beziehungen, Anerkennung, Kooperation) und c) erworbene Fähigkeiten (handwerkliches, musisches und technisches Können, Wissensaneignung). Fatima. Das leuchtet ein. Es geht hierbei folglich um Persönliches und Kommunikatives mit meiner Umwelt, mit mir und anderen Menschen. Serenus. Genau. Heidi. Wenn wir uns hierbei einig sind, fahre ich fort. Levi. Bitte doch. Heidi. Bei den mittelbaren Grundgütern unterscheidet Ricken zwischen verteilenden und gemeinsamen Gütern. Erstere sind Nahrungsmittel und Geld; bei den zweiteren handelt es sich um die Umwelt, Institutionen etc. Ricken schränkt aber ein, dass diese Klassifizierung eine grobe ist und die Trennschärfe oft nicht gegeben ist. »In welche Klasse fällt z. B. die Bewegungsfreiheit? Ist sie ein naturales oder ein soziales, von der Gesellschaft gesichertes Gut? Oder ist sie ein gemeinsames Gut, insofern ihr Ausmaß von den Infrastrukturen abhängt«2. Mortimer. Aha. Die Sache ist doch nicht so ganz einfach, so ganz klar und eindeutig. Habe ich es doch vermutet. Pretiosa. Konflikte zwischen diesen Gütern scheinen mir vorprogrammiert zu sein. Heidi. Dem kann man nicht widersprechen, Pretiosa. Es erscheint aber doch einsichtig zu sein, dass den unmittelbaren Gütern der Primat vor den mittelbaren zusteht. Serenus. Einen anderen Blickwinkel nimmt William David Ross ein, indem er eine Klassifizierung von Pflichten erstellt. Er nennt diese Pflichten, die irreduzibel sind, Prima-facie-Pflichten. Diese sind nicht auf weitere Pflichten zurückführ- oder ableitbar. Die Liste sieht folgendermaßen aus:
2
Ders., a. a. O., S. 244
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»1) Pflichten, die auf einer vorgängigen, von einem selbst ausgeführten Handlung beruhen: a) Vertrags- und Versprechenstreue b) Wahrhaftigkeitspflicht c) Wiedergutmachungspflicht 2) Pflichten, die auf einer vorgängigen, von jemand anderem ausgeführten Handlung beruhen: a) Dankbarkeitspflichten 3) Pflicht der (distributiven) Gerechtigkeit 4) Pflichten des Wohlwollens und der Wohltätigkeit (dies sind die eigentlichen Maximierungspflichten der Utilitaristen, die aber nun im System von Ross ihre Einschränkung durch die anderen Pflichten erfahren) 5) die Pflicht, anderen nicht zu schaden 6) die Pflicht der Selbstvervollkommnung«3 Fatima. So habe ich das noch nie gesehen, dass man Pflichten klassifizieren kann. Aber warum eigentlich nicht. Levi. Ich kann mir nicht helfen. Irgendwie erinnert es mich an Ausführungen von Kant. Diese Pflichten sind wohl alle bei ihm enthalten. Heide. Das ist eine sehr gute Bemerkung. Es ist in der Tat so, nur dass Ross sie hier eben klassifiziert. Mortimer. Und wozu dann, wenn die Frage erlaubt ist. Heidi. Auch eine berechtigte Frage. Aber ich soll wohl Eure Fragen nicht immer klassifizieren. Mortimer. Genau, mit der Zeit nervt es nämlich. Also: warum? Heidi. Weil es Ross um einen Ausgleich zwischen deontologischen und utilitaristischen Pflichten geht. Er versucht, diese miteinander in einen Abgleich zu bringen.
3
Wolf, Jean-Claude: Ein Pluralismus von prima-facie Pflichten als Alternative zu monistischen Theorien der Ethik. In: Zeitschrift für philosophische Forschung, Nr. 4, Band 50, 1996
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Pretiosa. Finde ich gut. Du hast es ja bei der 4. Pflicht explizit erwähnt. Aber mir gefällt die Klassifizierung sehr gut, weil sie diese ewige Spaltung zwischen Deontologie und Konsequentialismus versucht, wenn es um die Pflichten geht, aufzuheben. Serenus. Schön, schön. Levi. Aber nicht unerwähnt soll hier die Darstellung von Lévi-Strauss bleiben, die aber in ihrer komplexen Darstellung weit über das hier Geleistete hinausgehen würde. Das sage ich als Warnung hier schon vorneweg. Heidi. Bange machen gilt nicht! Fatima. Levi, hast du dich mit Lévi-Strauss beschäftigt, weil er so heißt wie du. Levi. Levi ist mein Vorname und das tut hier nichts zur Sache. Also, er schreibt: »Jede Art der Klassifizierung ist dem Chaos überlegen; und selbst eine Klassifizierung auf der Ebene der sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften ist eine Etappe auf dem Wege zu einer rationalen Ordnung. Wenn man vorhat, eine Menge von verschiedenen Früchten in relativ leichtere Körper einzuteilen, ist es zulässig, zunächst einmal die Birnen von den Äpfeln zu trennen, obwohl die Form, die Farbe und der Geschmack keine Beziehung zu Gewicht und Volumen haben; und zwar deshalb, weil auf diese Weise die größeren Äpfel von den weniger großen leichter zu unterscheiden sind, als wenn die Äpfel mit Früchten anderen Aussehens durcheinanderliegen. Man sieht schon an diesem Beispiel, dass selbst auf dem Niveau der ästhetischen Wahrnehmung die Klassifizierung ihre Bedeutung hat«4. Mortimer. Das ist mir mittlerweile schon klar geworden, dass Klassifizierungen unser Verständnis von komplexen Dingen erleichtern. Für mich stellt sich aber immer noch die Frage, welchen Preis wir dafür zahlen müssen. Heidi. Wie meinst du das? Mortimer. Vieles stellt sich ja, wie auch Lévi-Strauss zuzugeben bereit ist, als ein Chaos dar und dann kommen wir Menschen und fangen an, Haufen zu 4
Lévi-Strauss, Claude: Das wilde Denken. Verlag Suhrkamp, Frankfurt/M. 1981 (4. Aufl.), S. 28
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bilden. Im übertragenen Sinne könnte ich sagen, dass ein Fruchtsalat besser schmeckt als die einzelnen Früchte. Das Ganze, hier der Fruchtsalat, ist geschmacklich besser als die Einzelteile. Serenus. Das habe ich doch schon irgendwo gehört, wenn auch ohne Fruchtsalat. Heidi. Verstehe. Aber im Chaos, so verstehe ich Lévi-Strauss, würden wir kläglich ersaufen. Wir können gar nicht anders, als einen Haufen, nach welchen Kriterien auch immer, in Häufchen zu zerlegen, damit wir verstehen, worum es sich bei diesem Chaos überhaupt handelt, und wenn wir dies dann getan haben, dann erst können wir vergleichen bzw. Vergleichskriterien definieren, nach welchen wir überhaupt vergleichen wollen. Pretiosa. Darauf läuft ja wohl alles hinaus, wenn ich das bis jetzt richtig verstanden habe. Heidi. Genau. Danke Pretiosa. Serenus. Lévi-Strauss beschreibt ja eine Reihe von Kriterien beim Obst, nach denen man Äpfel und Birnen z. B. nach der Größe, nach dem Geschmack oder der Umweltverträglichkeit beim Anbau vergleichen könnte. Mortimer. Schlaues Bürschchen. Fatima. Mortimer, lass das! Mortimer. Okay, Okay. Serenus. Wenn ihr einverstanden seid, machen wir noch ein neues Fass auf. Bourdieu5 geht davon aus, dass der Mensch, wenn er als ein sozialer Akteur handeln und zur Gemeinschaft gehören will, sich »inkorporierte soziale Strukturen«6 mittels seines kognitiven Systems aneignen muss.
5 6
Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Verlag suhrkamp taschenbuch wissenschaft, stw 658, Frankfurt/M. 1992 (5. Aufl.), S. 727 ff. Ders., a. a. O., S. 730
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Levi. Jetzt geht die Post aber so richtig ab. »Inkorporierte soziale Strukturen«, klingt echt gut. Wenn ich mich recht erinnere, geht es da um den Habitus eines Menschen, um die Gesamtheit seines Verhaltens, seiner Einstellungen, seiner Denkweise etc. Serenus. Gar nicht mal schlecht, Levi. Nur so kann der Mensch vernünftig handeln und das Handeln der anderen decodieren. Er eignet sich so ein praktisches Wissen der Welt an. Dieses spiegelt sich in Klassifikationsschemata wider, sie sind Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata. Das Alter, das Geschlecht sowie die Klassenzugehörigkeit sind hierbei von entscheidender Bedeutung. So ergibt sich im Zusammenspiel mit anderen moralischen Akteuren eine gemeinsame sinnhafte Welt. Diese Wahrnehmungsmuster, die sich im Laufe der Sozialisation bilden, lassen einen gemeinsamen Pool entstehen, der dazu dient, dass der Mensch die Dinge seiner Welt, seiner Praxis klassifizieren und qualifizieren kann. Fatima. Und dient das dann ebenso zum besseren Vergleichen unterschiedlicher Menschen? Heidi. Ich glaube schon. Serenus. Bourdieu formuliert im Weiteren eine Reihe von Gegensatzpaaren in Form von Adjektiven, die eine Art Matrix7 von Gemeinplätzen ergeben. Er leitet von diesen Gegensatzpaaren die soziale Schichtung der »Elite der Herrschenden und der ›Masse‹ der Beherrschten« ab. Mortimer. Kommt jetzt noch der Klassenkampf? Serenus. Nein. Auf diese Erörterungen werde ich hier nicht näher eingehen, sondern beschränke mich auf das Kernthema der Vergleiche. Welche Begriffe eher mit der Oberklasse, welche eher mit unteren gesellschaftlichen Klassen in einen Zusammenhang gebracht werden, ist offensichtlich. Hier einige Beispiele dieser Gegensatzpaare, wie Bourdieu sie formuliert: • »Hoch (erhaben, rein sublim) vs. niedrig (schlicht, platt, vulgär) • Spirituell vs. materiell • Fein (verfeinert, raffiniert, elegant, zierlich) vs. grob (dick, derb, roh, brutal, ungeschliffen) 7
Ders., a. a. O., S. 731
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• Leicht (beweglich, lebendig, gewandt, subtil) vs. schwer (schwerfällig, plump, langsam, mühsam, linkisch) • Frei vs. gezwungen • Weit vs. eng • Einzigartig (selten, außergewöhnlich, exklusiv, einzigartig, beispiellos) vs. gewöhnlich (gemein, banal, geläufig, trivial, beliebig) • Glänzend (intelligent) vs. matt (trübe, verschwommen, dürftig)«8. Heidi. Diese Gegensatzpaare von Adjektiven sind uns geläufig und wir verbinden alle mehr oder weniger die gleichen damit transportierten Vorstellungen und stimmen sie in der mehr oder weniger genormten Form ab. Serenus. So ist es. Mortimer. Wenn ich das etwas konkretisieren darf. Wenn jemand sagt, dass dieser Künstler sehr gewandt ist in seiner Darstellung einer Ballettszene, so weiß ich, wovon er spricht. Wenn diese Bedienung als linkisch bezeichnet wird, ebenso. Ich gleiche die benannte Person mit meiner Vorstellung dieses Adjektivs ab und kann so weiter mit meinem Gegenüber im Gespräch kommunizieren. Es entsteht also, laut Bourdieu, ein mehr oder weniger gleich gelagertes Geschmacksurteil.9 Serenus. Genau. Es ergibt sich eine Resonanzbeziehung im Rahmen gemeinsamen Vergleichens. Dieses Vergleichen geht aber, wie bereits angedeutet, hier jedoch nicht näher ausgeführt, nach Bourdieu in Beurteilungen, Bewertungen, Rangzuweisungen und auch Maßregelungen über. Dies ist unvermeidlich und spielt sich in allen alltagspraktischen Begegnungen und Interaktionen ab, vorwiegend in der Familie, der Schule, der Arbeitswelt, jeglichen sozialen Beziehungen. Man kann, so mein vorläufiges Fazit, diesen Vergleichen nicht entgehen, die hier mittels der Bourdieu’schen Adjektive dargestellt worden sind. Heidi. Vermutlich auch als Eremit auf einer einsamen Insel nicht, weil sie sich im Kopf abspielen und dort tief verankert sind. Wir sind diesen Ordnungsprinzipien verhaftet, ob wir es wollen oder nicht.10
8 Ders., a. a. O., S. 730 f. 9 Vgl. ders., a. a. O., S. 733 10 Vgl. ders., a. a. O., S. 734
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Fatima. Erstaunlich, finde ich. Wir bewegen uns zeitlebens in diesen Ordnungsschemata und ordnen uns in ihnen ein. Wir wissen somit, wohin wir gehören, und können uns mit anderen Menschen vergleichen und uns damit auch klassifizieren. Dies ermöglicht uns, uns standesgemäß zu verhalten und zu benehmen. Wir regeln somit Nähe und Distanz zu unseren Mitmenschen, weil wir auf der Basis dieser permanent ablaufenden Vergleiche in Form von Klassifizierungen wissen, wo sich unser Standpunkt und derjenige unseres Gegenübers befindet. Serenus. Nach Bourdieu weiß man immer, ob man im sozialen Kontext arm, reich, jung oder alt ist.11 Man hält den Abstand, man wahrt ihn oder muss ihn vergrößern, je nachdem. Man duzt sich oder eben nicht, aber man weiß, wie die jeweilige Situation zu handhaben ist, weil man sie mit anderen vergleicht und dann auf dieser Basis seinen Schluss zieht. Diese Schlussfolgerungen sind nicht absolut, je nach Konstellation kann ich mich als arm bezeichnen, wenn ich mich in Gesellschaft von lauter Reichen bewege, oder als jung, wenn ich mich in einem Pflegezentrum aufhalte, obwohl ich auch schon Rentner bin etc. Bourdieu verweist darauf, dass dieses sich immer wieder vergleichende Klassifikationssystem nirgends besser zur Geltung kommt, als wenn es um die Platzierung des eigenen Leibes geht. Das zeigt sich daran, wie in sozialen Gefügen der eigene Körper gehalten wird, wie er bewegt wird, wie er vorgezeigt wird und wie ihm Platz geschaffen wird.12 Dies bezeichnet Bourdieu als sein soziales Profil. »Das eigene Verhältnis zur sozialen Welt und der Stellenwert, den man sich in ihr zuschreibt, kommt niemals klarer zur Darstellung darüber, in welchem Ausmaß man sich berechtigt fühlt, Raum und Zeit des anderen zu okkupieren – genauer den Raum, den man durch den eigenen Körper in Beschlag nimmt, vermittels einer bestimmten Haltung, vermittels selbstsicher-ausgreifender oder zurückhaltender-knapper Gesten (der wichtig tut, ›bläht sich auf‹), wie auch die Zeit, die man sprechend und interagierend auf selbstsichere oder aggressive, ungenierte oder unbewusste Weise in Anspruch nimmt«13. Diese Leib-Regulierungen, wie ich dies hier einmal so nennen möchte, sind nur möglich, weil wir uns in endlosen Feedbackschleifen immer wieder in Erinnerung rufen, wo wir sind, mit wem wir hier sind und wie lang wir hier sind, demnach immer wieder vergleichen und eventuell auch nachjustieren müssen, wenn wir das Gefühl haben (es geht nur über das Gefühl), dass et11 Vgl. ders., a. a. O., S. 737 12 Vgl. ders., a. a. O., S. 739 13 Ders., a. a. O., S. 739
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was nicht so ganz stimmt, in der Interaktion/Kommunikation nicht ganz rund läuft. Der Leib wird so zur Gedächtnisstütze und verändert sich je nach Gesten, »körperliche(n) Posituren«14 und Gesprochenem. Dabei wird die Person vom Gegenüber wieder nach einem internalisierten Schema klassifiziert, was eben immer auch abgleichen bedeutet, z. B. als hochmütig, unterwürfig, streng, weich, ausgreifend, eng, intellektuell etc.15 Wie bereits erwähnt, laufen diese Klassifizierungsprozesse automatisch ab. Wir können selbst nichts dagegen tun, sie sind da und in unserem Gedankenstrom eingebettet. Wenn wir, aus welchen Gründen auch immer, uns nicht in der Lage sehen, diese Klassifikation vornehmen zu können, wenn unser Unterscheidungssinn nicht zum Tragen kommt, also nicht geschieden wird, was geschieden werden muss, nicht zusammengefügt wird, was zusammengehören muss, so provoziert dies, laut Bourdieu, »einen tödlichen Horror, einen absoluten Ekel und metaphysischen Zorn gegen alles, was im Platonischen Zwitterbereich angesiedelt ist, was über das Verstehen, nämlich das inkorporierte Klassifikationssystem hinausgeht …«16 Pretiosa. Bitte um eine kleine Verschnaufpause. Serenus. Kein Problem – machen wir weiter. Gefährlich werden diese Klassifizierungsprozesse dann, meint Bourdieu, wenn sie auf ein einziges Merkmal reduziert werden, etwa auf homosexuell oder auf Frauen, Schwarze, Juden etc. Hier kommt es dann zu Streitereien unterschiedlicher Gruppen, »die über diesen Affront Profil gewinnen und gegeneinander Front beziehen im Bestreben, jene für sich, zu ihrem eigenen Vorteil einzuspannen«17. Dabei bleibt es eben nicht nur beim Interesse, eine andere Gruppe in der o. g. Art und Weise zu klassifizieren, sondern »es ist ihr gesamtes gesellschaftliches Sein, ist das, was ihr Selbstbild im weitesten ausmacht, ist der unausgesprochene ursprüngliche Vertrag, kraft dessen sie sich als ›wir‹ gegenüber den ›Anderen‹ definieren und der zugleich die Basis ihrer Ausschließungen (›das ist nichts für uns‹) und Einschließungen der vom gemeinsamen Klassifikationssystem geschaffenen Eigenschaften darstellt«18. Dieses Innen (wir) und dieses Außen (die anderen) ist, ohne einen permanenten Vergleich, nicht zu haben. 14 15 16 17 18
Ders., a. a. O., S. 739 Vgl. ders., a. a. O., S. 740 Ders., a. a. O., S. 740 Ders., a. a. O., S. 744 Ders., a. a. O., S. 746
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Mortimer. Das gefällt mir. Warum? Damit ist klargestellt, dass diese Klassifizierungen stets mit Macht zu tun haben. Vergleiche geschehen i. d. R. nicht nur um des Vergleichs willen, wie dieser Stab ist 5 cm lang, der andere 6, sondern werden im sozialen Raum wegen der eigenen Einflussnahme ausgelebt. Serenus. Völlig korrekt! Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang vom Kampf der Klassifikationssysteme. Es geht um Abgrenzung, um Distinktion, um das Trennungsvermögen, es wird diskriminiert, was ja ursprünglich nicht viel mehr als »etwas trennen« bedeutet. In der Gesellschaft erhält das Nomen »Diskriminierung« schon eine ganz andere Konnotation, eine abwertende, menschenverachtende Bedeutung. Vergleiche bauen dann Schranken auf. Sie wirken systemstabilisierend. Das Individuum nimmt die Rolle an, zu dessen Gruppe es gehört, und Rollen sind ja bekanntlich Verhaltenserwartungen und so nimmt das Schicksal seinen Lauf. Über die Klassifikation bzw. den steten Vergleich mit anderen Gruppierungen verhält sich das Individuum dementsprechend. Fatima. Vergleiche spielen sich folglich nicht nur im Kopf ab, sie sind auch verhaltenssteuernd. Das Individuum handelt dementsprechend! Es sucht immer wieder die Umgebung der Klassifikationsschemata, die den seinigen am nächsten stehen. Es findet hier seine Heimat. Hierzu kommen die bereits bekannten Symbole, Parolen, Fahnen, Etikettierungen, Identitätszeugnisse, die dann die Wutbürger:innen, den Fan des FC, die Impfgegner:innen, die Abtreibungsgegner:innen etc. kenn-zeichnen. Diese Prozesse sind erforscht und brauchen hier nicht wiedergegeben zu werden, meine ich. Pretiosa. Bin auch noch da und meine, dass es eine Tatsache ist, dass sich die Menschen schon immer zu Gruppen zusammengeschlossen haben, sei es beruflicher (Gilden, Zünfte etc.) oder politischer (Dörfer, Täler, Gemeinden, Kantone, Staaten etc.) Natur. Hier muss dann wieder diskriminiert, d. h. unterschieden werden, es müssen diskriminative Stimuli identifiziert werden. Der Fantasie sind dann keine Grenzen gesetzt. Ob die Vergleiche einen realen oder eher fantastischen Hintergrund haben, spielt schnell keine Rolle mehr, Hauptsache dass … Man stellt sich die Realität vor oder die Realität wird als eine Möglichkeit der Vorstellung generiert, um ein Wort von Bourdieu, so wie ich ihn verstanden habe, leicht abzuwandeln. »Die gesellschaftlichen Subjekte begreifen die soziale Welt, die sie umgreift. Das heißt, dass zu ihrer Bestimmung die materiellen Eigenschaften und Merkmale nicht ausreichen, die – angefangen mit ihrem Leib – sich wie jeder
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beliebig andere physische Gegenstand zählen und messen lassen«19. Damit sagt Bourdieu nicht mehr, aber auch nicht weniger aus, als dass es stets die Bewertung der Akteure ist, die über die gesellschaftlich fundierten und ausgebildeten Klassifizierungsschemata den Maßstab für das Handeln der Akteure darstellt. Serenus. Super, Pretiosa. Positivistisch ausgerichtete Zählverfahren, die versucht sind, diese hier beschriebenen objektiven Zustände zu zählen und empirisch zu messen, erteilt Bourdieu eine Absage. Sozialwissenschaft im statistischen Sinne, so wie es heute allgemein in dieser Wissenschaft üblich ist, vermag laut Bourdieu zu keinerlei relevanten Ergebnissen führen. Das »Aufzeichnen von Aufzeichnungen«20 führt letztlich zu keinen Erkenntnissen, die die Macht der Klassifikationssysteme dekonstruieren bzw. erhellen können. Heidi. Nun komme ich hier doch noch zum Zug. In seinem einige Jahre später veröffentlichten Buch beschäftigt sich Bourdieu mit den Bewertungsschemata, die die Menschen in ihrem Alltagsleben anwenden.21 Diese Passage ist von Wacquant verfasst. Dabei ist wichtig zu wissen, dass Bourdieu nicht von einer einheitlichen Gesellschaft ausgeht, auch wenn wir heute z. B. von der Gesellschaft der westlichen Industriegesellschaft oder der Gesellschaft des Nahen Ostens etc. sprechen. Bourdieu bezeichnet diese Gemeinschaften mit dem Begriff des »Feldes« oder mit dem Begriff vom »sozialen Raum«22. Eine Gesellschaft kann nie als ein einheitliches System erfasst werden. Die Kulturen sind nie gleich, es gibt Konflikte und damit »ein Ensemble von relativ autonomen Spiel-Räumen, die sich nicht unter eine einzige gesellschaftliche Logik, ob Kapitalismus, Moderne oder Postmodere, subsumieren lassen«23. Jedes Feld organisiert sich und lebt nach eigenen Spielregeln und besitzt somit eigene Regulierungsmechanismen. Diese bestimmen auch die jeweiligen Grenzen dieser Räume. Somit können sich Konflikte innerhalb dieser Räume, aber auch gegen außen ergeben. Das Individuum hat damit ständig mit Klassifizierungen zu tun. Sei es, dass es sich zu einer Gruppe zählt, sich ihr zugehörig fühlt oder eben nicht. Gegenüber
19 Ders., a. a. O., S. 752 20 Ders., a. a. O., S. 753 21 Vgl. Bourdieu, Pierre; Wacquant Loic J. D.: Reflexive Anthropologie. Verlag Suhrkamp, Frankfurt/M. 1996, S. 30 ff. 22 Dies., a. a. O., S. 37 23 Dies., a. a. O., S. 37
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anderen gesellschaftlichen Feldern ist dieser Prozess tagtäglich offensichtlich. Mortimer. Aha! Dies kann man besonders gut beobachten, wenn z. B. in einer Stadt das jährlich stattfindende Fußball-Derby stattfindet. Dies kommt immer dann zustande, wenn es in einer Stadt zwei große Fußballclubs gibt. Man lebt in der gleichen Stadt, ist aber Anhänger des jeweils anderen Clubs. Dann sagt man, dass diese Derbys über eigene Gesetze verfügen und dass sie jeweils mit besonderer Härte ausgetragen werden. Meistens verhält es sich so, dass der eine Club eher die Mittel- und der andere eher die Unterschicht in einer Stadt repräsentiert. Die internen Querelen in der gleichen Stadt können so in sozial akzeptabler Form ausgetragen werden. Wobei völlig unklar ist, um welche Differenzen es sich hier handelt. Das Ganze spielt sich in einem extrem emotionalisierten Klima ab und übrig bleibt im besten Fall eine gehörige Sachbeschädigung an Containern, Straßenbahnen, Häusern etc. Fatima. Alles schön und gut und ich danke dir, Serenus, für den wirklich interessanten und gut verständlichen Beitrag zu Bourdieu. Kannte ich so noch nicht. Merci bien! Bereits lange vor der Zeit von Bourdieu hat sich der schottische Philosoph David Hume (1711–1776) über Klassifizierungen seine Gedanken gemacht. Er unterschied dabei zwischen den Vergleichen, die man z. B. mit Dreiecken oder Kreisen macht und von denen ableitend sich Gesetze formulieren lassen. Im Vergleich dazu, so meint Hume, verhält es sich bei moralischen Fragestellungen. Er schreibt: »Aber bei moralischen Untersuchungen müssen wir von vornherein mit sämtlichen Objekten und allen ihren Beziehungen untereinander bekannt sein und aus einem Vergleich des Ganzen unsere Wahl treffen oder ein Urteil der Zustimmung fällen«: »Aber bei moralischen Untersuchungen müssen wir von vornherein mit sämtlichen Objekten und allen ihren Beziehungen untereinander bekannt sein und aus einem Vergleich des Ganzen unsere Wahl treffen oder ein Urteil der Zustimmung fällen«24. Erst wenn wir alle Einzelheiten, so Hume weiter, eines Falles kennen, können wir ein Urteil im Sinne eines Tadels oder der Zustimmung aussprechen. Sollte auch nur eine Kleinigkeit unklar sein oder fehlen, müssen wir uns eines Urteils enthalten. Dies ist zugegebenermaßen ein sehr hoher Anspruch, den Hume da fordert, und ich weiß nicht, ob wir im Alltag handlungsfähig wären, wenn wir diesem An24 Hume, David: Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral. Verlag Reclam, Stuttgart 2021, S. 154
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spruch immer in voller Güte und Qualität nachzukommen versuch(t)en. Aber als Ziel finde ich diese Forderung von Hume sehr wohl einleuchtend. Serenus. Danke für die Blumen, Fatima. Was im Hintergrund, so meine Ansicht, bei Bourdieu steht, ist der Kampf um Anerkennung. Bei Hegel wird dieser Kampf auf Leben und Tod geführt (bellum omnium contra omnes). Dieser Kampf der Klassen wird bei ihm als ein Kampf zwischen Herrn und Knecht dargestellt. Es geht um die Differenz zwischen diesen beiden Hauptpersonen. Wer hat die Oberhand und wer muss sich, gezwungenermaßen, unterwerfen. Der Gewinn des Knechtes ist es, dass er am Leben bleiben darf, sein Preis ist der der Unselbstständigkeit. Er gewinnt keine Freiheit. Hier findet man dann in der Beschreibung von Hegel die oft zitierte und berühmte Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft. Der Herr zwingt den Knecht zur Arbeit, »und das bedeutet: Er gibt ihm seine Unselbstständigkeit dadurch zu fühlen, dass er ihn mit der Selbstständigkeit und Widerständigkeit der Dinge der Außenwelt zusammenschließt; genau dadurch aber macht sich der Herr vom Knecht abhängig, weil er ja auch, um leben zu können, der Dinge bedarf, die ihm der Knecht durch seine Arbeit bereitstellt. So macht sich der Herr im Effekt zum Knecht des Knechtes, und er eröffnet ihm zudem die Chance einer höheren Erfahrung der Freiheit des Selbstbewusstseins, die dem Herrn verschlossen bleiben muss – die Erfahrung der Unselbstständigkeit der Außenweltdinge durch die Arbeit, die deren Selbstständigkeit wegarbeitet und überwindet«25. Pretiosa. Schüchterner Einwand: Führt uns das jetzt nicht etwas arg vom Thema der Klassen und ihrer Vergleichbarkeit weg? Fatima. Meine ich auch und deswegen serviere ich euch hier noch ein anderes Beispiel von jemandem, der die Vergleiche gar nicht mochte. Anders sah es nämlich Rousseau, der eine Gesellschaft ohne jeglichen Vergleich anstrebte.26 Die Basis dabei ist für Rousseau der contract social, bei dem sämtliche Partikularinteressen aller Individuen, bedingt durch ihren »volonté générale«, ausgeglichen werden. Unterschiedliche Interessen sollen dem Allgemeinwohl untergeordnet werden. Sie müssen es sogar. Dies stellt 25 Schnädelbach, Herbert: Georg Wilhelm Friedrich Hegel zur Einführung. Verlag Junius, Hamburg 2013 (5. Aufl.), S. 65 26 Vgl. Strassberg, Daniel: Der Wahnsinn der Philosophie. Verrückte Vernunft von Platon bis Deleuze. Das Verhängnis des Vergleiches – Jean-Jacques Rousseau. Verlag Chronos, Zürich 2014, S. 156 ff.
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das Rousseau’sche Verständnis von Demokratie dar. Es geht um einen einheitlichen Volkswillen. »Wo alle Unterschiede verschwinden, gibt es keinen Anlass mehr, zu vergleichen, und wo nicht verglichen wird, enden die Leidenschaften, und damit Unglück und Ungerechtigkeit«27. Erst wenn dieser Zustand erreicht ist, ist der Mensch frei und kann sich seinen primären Bedürfnissen widmen. Damit dies geschieht, braucht es eben den Vertrag, und dieser sieht vor, dass er freiwillig einzuhalten ist. Es geht nicht darum, aufzuzeigen, mit welchen psychischen Problemen Rousseau zeitlebens zu kämpfen hatte oder ob seine Theorie nun eher der Fantasie oder seinem Wunsch nach der Rückkehr zum Naturzustand, zur Natur zuzurechnen ist. Interessant scheint mir hierbei vielmehr zu sein, dass er im ständigen Vergleichen der Menschen das Grundübel ihres Unglücklichseins verortet. Mortimer. Dann könnten wir eigentlich jetzt im Sinne Rousseaus nach Hause gehen. Levi. Würde dir so passen. Wir sind noch nicht am Ende. Eine völlig andere Form der Klassifizierung hat sich Gronemeyer für seine Veröffentlichung vorgenommen.28 Der Autor greift einige zentrale Begriffe der heutigen Moderne auf und ordnet sie nicht nach sachlogischen Gesichtspunkten, sondern versucht, sie gewissermaßen netzartig vorzustellen. Er versteht sein Buch als eine »topografische Karte«. Deshalb folgen die Kapitel, wenn man es denn noch so nennen darf, keinem Entwicklungsgedanken. Man kann den Seitenzahlen, die Gronemeyer als Trampelpfade bezeichnet, folgen oder eben nicht. Jedes Kapitel enthält Verweise und so kann man diesen folgen und springt dann von Kapitel zu Kapitel. Damit man sich alles besser vorstellen kann, gebe ich hier die einzelnen Kapitel, äh, Pfade wieder: »0 Zentrale Erfahrungen 1. Ontologie 2. Berghof 2.0 3. Religion 4. Irrtümer 5. Keine Wurzeln 6. Ökonomie 7. Design 8. Soziologie 9. Geschichte 10. ICH 11. Asymmetrien 12. Topologie 13. Ethik 14. Schule 15. Internet 16. Architektur 17. Vernunft«29. Meine Wertung des Versuchs von Gronemeyer ist, dass das Ganze schon etwas verwirrend und gewöhnungsbedürftig ist. Dies allein wären noch keine stichhaltigen Gegenargumente. Die Frage, die sich mir stellt, geht eher in die Richtung, was es bringt, wenn man in einem Buch 27 Ders., a. a. O., S. 156 28 Vgl. Gronemeyer, Matthias: Trampelpfade des Denkens. Eine Philosophie der Desorientierung. o. O., o. J. 29 Ders., a. a. O., S. 7
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eine Komplexitätszunahme erwirkt, nur um dem Gedanken Genüge zu tun, dass alles irgendwie (!) mit allem zusammenhängt. Das hat mich letztlich bei dieser Form der Klassifizierung, d. h. einer Andersartigkeit, seine Gedanken anordnen zu können, nicht überzeugt. Pretiosa. Es erinnert mich an das Chaos, wie es Lévi-Strauss beschrieben hat, das wir ja im Grunde immer zu vermeiden suchen. Heidi. Genau. Sehe ich auch so. Mortimer. Wenn wir von Klassifizierungen sprechen, dann müssen wir auch berücksichtigen, dass sie einer ständigen Wertung unterzogen werden. Will sagen, dass Klassifiziertes immer auch einem Wettbewerb ausgesetzt ist. Klassifiziertes ist der Rivale von etwas anderem Klassifizierten. Klassifizierungen stehen in Konkurrenz zueinander und werden unablässig miteinander verglichen und bewertet. Dabei soll hier nicht von der sicherlich wichtigen Unterscheidung abgesehen werden, ob es sich hierbei um einen Streit oder um eine sachliche Auseinandersetzung geht. In der Auseinandersetzung wird ja irgendetwas zerteilt, zerlegt, verglichen und dann entschieden. Dieser ewige Wettbewerb kann auch als Motor von Kultur und Gesellschaften und deren Aufstieg (und Fall) verstanden werden.30 Levi. Ich möchte das von Mortimer Vorgebrachte noch erweitern. Klassen und Hierarchisierungen haben natürlich stets mit der Arbeitswelt zu tun. Schultz und Paschen haben sich mit der Arbeitswelt auseinandergesetzt und ihre Kapitel jeweils mit Schlagworten versehen. Ich gebe diejenigen hier wieder, die mir für die Hierarchien in der Arbeitswelt als besonders typisch erscheinen.31 • »Miese Jobs« (S. 10) • »Die Tochter eines Arbeiters. Die Tochter eines hohen Beamten« (S. 12/13) • »Der Einzelne als gesellschaftlicher Rollenträger« (S. 38) • »Begrüßung durch den Chef« (S. 78) 30 Vgl. Höffe, Otfried: Die Macht der Moral im 21. Jahrhundert. Annäherungen an eine zeitgemässe Ethik. Verlag C. H. Beck, München 2014, S. 154, 11. Kapitel: Lauterkeit im Wettbewerb 31 Schultz, Klaus-Jürgen; Paschen, Joachim: Sozialisation und Arbeit. Verlag Diesterweg, Frankfurt/M. 1988
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• »Das Hineinwachsen in eine Berufsrolle« (S. 81) • »Manche glauben nicht mehr, dass ich ihr Kollege bin – Bericht eines Aufsteigers« • »Maschinen haben seine Sprache verändert« (S. 100) • »Wie Schichtarbeit das Leben bestimmt« • »Meine Nerven sind dem Zerreißen nahe – Arbeit am Fließband« • »Traumberuf« (S. 106) • »Sekretärin als Superfrau / Sie sind nur eine einfache Schreibkraft« (S. 111/113) • »Das ist ein Männerberuf« (S. 121) • »Frauen sind besser geeignet dafür« (S. 123) • »Computer machen Arbeitsplätze anspruchsvoller« (S. 128) • »Aus Ingrid wurde ein Maschinenanhängsel« (S. 130) • »Von der Fachkraft zur Pauschalkraft« (S. 134)32 Pretiosa. Ich verstehe nicht ganz. Was machen wir jetzt mit dieser Liste? Levi. Ich wollte damit nur aufzeigen, dass Vergleiche, und dies vor allem in der Arbeitswelt, immer auch mit Macht, mit einem Oben und einem Unten zu tun haben – so wie es bei Hegel bereits anklingt –, und dass es quasi immer einen Herrn und einen Knecht gibt, dass aber der Herr ohne den Knecht kein Herr sein kann, obwohl für diesen, zugegebenermaßen, das Leben besser ist. Aber er kann natürlich auch tiefer fallen, wenn die Geschichte sich dreht. Wie wir ja alle wissen. Pretiosa. Steht schon in der Bibel. Mortimer. Aber dieses Fass bleibt für heute zu. Pretiosa. Beruhig dich. Levi. Haben wir dieses Intermezzo hinter uns gebracht und können wir uns dem Schluss widmen? Noch ca. 5 Minuten. Halten wir durch. Nur am Rande sei hier noch erwähnt, dass Klassen und deren Unterschiede auch als 32 Weiterführende Informationen, die sich in der Hauptsache mit der Klassenzugehörigkeit von Jugendlichen aus der Arbeiterschicht beschäftigen, erfährt man dezidiert in: Adam, Clemens; Rützel, Josef; Strauss, Gabriele u. a.: Lebenssituation von Arbeiterjugendlichen. Beiträge aus einem Forschungsprojekt. Verlage Diesterweg & Sauerländer, Frankfurt/M. 1981
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eine besondere Schwierigkeit bei der Behandlung von psychischen Auffälligkeiten, Störungen etc. gesehen und wahrgenommen worden sind. In dem Buch von Menne und Schröter33 wird diesem Umstand, wie Menschen aus der sogenannten Unterschicht psychotherapeutisch behandelt werden können, besonderes Augenmerk geschenkt. Dabei geht es dann um die Frage, Angehörige der Unterschicht überhaupt mit den gängigen Verfahren der Psychotherapie, die logischerweise als ein Instrument der Mittel- und Oberschicht charakterisiert wird, behandelt werden können. So wird z. B. gefragt, ob es nicht eine kaum zu korrigierende Tatsache ist, dass Angehörige der Unterschicht kein Vertrauen zu ihren Therapeuten und Therapeutinnen fassen können, und umgekehrt, dass die Lebenswelt von Unterschichtangehörigen für die Therapeuten und Therapeutinnen so fremd ist, dass es kein Wunder ist, wenn es zu großen behandlungstechnischen Schwierigkeiten kommt. So ist es dann wiederum wenig überraschend, dass sehr viele dieser begonnenen Therapien ein relativ schnelles (Abbruch-)Ende finden. Es scheint, als ob die Distanz zwischen Unterschichtangehörigen und »ihren« Therapeuten und Therapeutinnen einfach zu groß und zu unüberwindbar ist. Oder anders gesagt: Die sozialen Realitäten dieser beiden Personengruppen scheinen zu weit auseinanderzuklaffen, die Realitäten sind zu unterschiedlich. Man versteht sich nicht und so ist auch kein Therapieerfolg zu erzielen. Wobei man sich hierbei fragen muss, wie ein solcher denn überhaupt zu definieren wäre. Heidi. Klassen und Klassifizierungen, ein endloses, aber spannendes Thema. Mortimer. Dem stimme ich, ausnahmsweise, vorbehaltlos zu. Serenus. Ich bin müde, gehe schlafen. Levi. Träum von Klassen. Fatima. Bloß nicht. Pretiosa. Träum süß!
33 Menn, Klaus; Schröter, Klaus: Psychoanalyse und Unterschicht. Soziale Herkunft – ein Hindernis für die psychoanalytische Behandlung? Verlag Suhrkamp, Frankfurt/M. 1980
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Sophie: weiblich, aus dem Griechischen, »sophia« = die Weisheit. Johanna: weiblich, weibliche Form von Johannes. Eventuell aus dem Hebräischen im Sinne von: der Herr ist gütig, huldreich, gnädig. Olivia: weiblich, weibliche Form von Oliver. Eventuell der Olivenbaum. Sophie. Gerechtigkeit, ein großes Wort. Was ist überhaupt Gerechtigkeit? Auf der Welt jedenfalls gibt es sie nicht. Nur in den Gehirnen der Menschen. Johanna. Wie meinst du denn das? Sophie. Gerechtigkeit ist ein Konstrukt. Ein Ideal und wir eifern ihr nach, mehr oder weniger, und erreichen sie doch nicht. Das meine ich damit. Johanna. Es sind doch die Regeln der Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit schaffen. Es geht um Gesetze, um Normen, um Sitten. Wir wissen doch, was richtig und was falsch ist. Olivia. Dein Wort in Gottes Ohr. Als wenn wir das wüssten. Jeder bastelt sich doch seine eigene Gerechtigkeit. Johanna. Die Person, die sich an Regeln hält, ist gerecht. So sehe ich das. Olivia. Und wer sagt, welche Regeln gelten oder die richtigen sind? Johanna. Diesen Einwand kenne ich. Es ist der Nutzen einer Regel, vorrangig für die Gemeinschaft. Olivia. Wer ist denn die Gemeinschaft und wie kann sie die Regeln aufstellen? Das sind dann doch immer wieder nur einzelne. In der Regel sind es einzelne weiße Männer, um genau zu sein.
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Sophie. Diese Diskussion möchte ich jetzt aber nicht führen. Olivia. Okay. Sind wir uns einig, dass wir so nicht weiterkommen? Johanna. Ja. Wir müssen noch einmal von vorn beginnen. Sophie. Und zwar von ganz vorn. Beginnen wir einfach und halten wir mit Epikur (341–270 v. Chr.) fest, dass es keine Gerechtigkeit an und für sich gibt, sondern sie stellt immer einen Vertrag dar, der i. d. R. darauf basiert, dass man einander nicht schädige und sich nicht schädigen lassen will. Kommt es zu Schädigungen, d. h. zu Ungerechtigkeiten, so hat man gegen diese Abmachung in irgendeiner Art und Weise verstoßen. In einer Gemeinschaft kann die Gerechtigkeit für alle immer nur dieselbe sein. Aber damit fangen die Probleme schon an, weil nicht immer für alle alles gleich ist oder erscheint.1 Johanna. Bei Platon stellt die Gerechtigkeit die oberste unter seinen vier Kardinaltugenden dar. Aber Bollnow2 macht darauf aufmerksam, dass sich Gerechtigkeit immer zwischen zwei miteinander streitenden oder zumindest rivalisierenden Parteien abspielt. Somit kommt dann meistens eine dritte Partei ins Spiel, nämlich diejenige eines Schiedsgerichts, das zwingend außerhalb der sich streitenden beiden Parteien angesiedelt sein muss. Bollnow weist ebenfalls darauf hin, dass Gerechtigkeit immer ein hohes Maß an Objektivität benötigt: »Demgegenüber bedeutet die Forderung der Gerechtigkeit immer wieder die Erhebung des Menschen über seine subjektive Befangenheit zu einer Offenheit für das Eigenwesen der andern«3. Olivia. Es tut mir leid, aber ich muss jetzt wieder einen weißen Mann ins Spiel bringen. Aber ein positiver. Der schottische Philosoph David Hume meinte hierzu: »Dass Gerechtigkeit nützlich für die Gesellschaft ist und folglich wenigstens ein Teil ihrer Wertschätzung aus dieser Überlegung stammen muss, dies zu beweisen, wäre ein überflüssiges Unternehmen. Dass aber der öffentliche Nutzen der alleinige Ursprung von Gerechtigkeit ist und dass Erwägungen über die wohltätigen Folgen dieser Tugend die al1
Hellmann, Brigitte: Mit Kant am Strand. Ein Lesebuch für Nachdenkliche. Dtv Verlagsgesellschaft, München 2005, Epikur: Von der Gerechtigkeit. S. 122 ff. 2 Vgl. Bollnow, Otto Friedrich: Wesen und Wandel der Tugenden. Verlag Ullstein, Frankfurt/M. 1958, S. 193 3 Ders., a. a. O., S. 199
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leinige Grundlage ihres Wertes sind; diese interessantere und wichtigere Behauptung verdient eher unsere Prüfung und Untersuchung«4. Also machen wir uns auf den Weg. Johanna. Insofern können wir festhalten, dass die Frage, was Gerechtigkeit ist, die Menschen seit über 2000 Jahren beschäftigt. Wir fragen tagtäglich, ob irgendetwas mit gerechten Dingen geschehen ist. Sei es, wenn es um Noten in der Schule geht (vgl. hierzu besonders Kapitel 19), wenn wir gemeinsam Fußball spielen oder einem Spiel zuschauen (Elfmeter! Nein, kein Elfmeter!) oder wenn es um Formen von gerechten Strafen geht (Auge um Auge – Zahn um Zahn = Todesstrafe oder Todesstrafe ist nie gerecht) oder: Gibt es den gerechten Krieg? Ist es gerecht, wenn Top-Manager:innen 3 Millionen Euro im Jahr verdient? Eine Fachkraft im Friseurhandwerk aber nur 45.000 €/p. a. (bei einem 100 %-Pensum). Sophie. Eine komplexe Sache, die wir uns da für heute ausgesucht haben. Olivia. Zweifellos. In der Diskussion um Gerechtigkeit, und darauf will ich mich hier beschränken, geht es i. d. R. um die allokative Gerechtigkeit, also um eine soziale Gerechtigkeit, auch Verteilungs-Gerechtigkeit genannt.56 Sophie. Das wollte ich auch gerade sagen. Kersting7 verweist auf Aristoteles, der bekanntlich zwei Arten von Gerechtigkeit unterschied. Im Vergleich der beiden Auffassungen von Gerechtigkeit sieht das folgendermaßen aus: Die eine Gerechtigkeit ist eine ausgleichende, oft eine entschädigende Gerechtigkeit. Bei der zweiten Form geht man davon aus, dass jemand einem anderen eine Ungerechtigkeit angetan hat und deshalb in seiner Schuld steht. Diese Art von Schuld kann als negative Schuld bezeichnet werden. Es geht demnach nicht um einen Ausgleich, sondern um eine grundsätzliche Schuld. Die erste Form stützt sich – logischerweise –, ist man geneigt 4 5 6
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Hume, David: Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral. Verlag Reclam, Stuttgart 2021, S. 23 Grundlagen zu Fragen der Gerechtigkeit liefert Hastedt, Heiner: Gerechtigkeit. In: Hastedt, H.; Marens, E. (Hrsg.): Ethik. Ein Grundkurs. Verlag Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 198 ff. Eine ausführliche Darstellung, die die Gerechtigkeit mit ihrer wirtschaftlichen Verflechtung aufzeigt, liefert: Sen, Amartya: Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2005 Kersting, Wolfgang: John Rawls zur Einführung. Verlag Junius, Hamburg 1993, S. 17 ff.
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zu sagen, auf einen arithmetischen Gleichheitsbegriff und kann somit beziffert werden. Man schaut nur auf den Unterschied der Höhe, z. B. des Schadens, den jemand erlitten hat. Das kann ohne Vergleiche gar nicht beziffert werden. Es soll also dem einen etwas weggenommen werden, damit der andere etwas mehr erhält und somit die Waage wieder eher in eine Balance kommt. Aristoteles hat dann weiter die proportionale Gerechtigkeit ins Spiel gebracht. Hierbei geht es um eine verteilende Gerechtigkeit. Es muss genau hingesehen werden, wer bereits viel hat, kriegt nun weniger und umgekehrt. Es handelt sich folglich um eine distributive Gerechtigkeit. Auch hier braucht es Vergleiche. Olivia. Aber eine Gleichverteilung ist nicht in jedem Fall gerecht, weil der eine eben schon relativ viel hat. Ungleichverteilungen sind per se ungerecht. Es braucht also hierbei einen Maßstab, der definiert, wie viel jeder zu bekommen hat. »Gerecht ist eine Verteilung an A und B dann, wenn sich das Anrecht von A zu dem Anrecht von B genauso verhält, wie sich das Verdienst von A zu dem Verdienst von B verhält, oder wenn sich der Anteil von A zu dem Anteil von B genauso verhält, wie sich das verdienstbegründete Anrecht von A zu dem verdienstbegründeten Anrecht von B verhält«8. Kersting weist darauf hin, dass die Sache hinsichtlich der Verteilung von materiellen Gütern oder Geld einfacher ist, als wenn es etwa um eine öffentliche Ehrung oder Belohnung geht. Da wird die Gerechtigkeitsverteilung dann schon wesentlich schwieriger, weil es hierfür keinen oder keinen klaren Maßstab gibt. Trotzdem ist gerade die Verteilung von Ehre, Lob und Anerkennung das, was uns Menschen oft noch stärker interessiert als eine monetäre Gerechtigkeitsverteilung. Die Frage ist hier, wer verdient Anerkennung und Ehre? Johanna. Das ist klar. Denn dabei kommen gesellschaftlich bedingte Wertvorstellungen ins Spiel, und die erleichtern die Sache nicht. Verdient jemand mehr Anerkennung und Ehre, weil er adligen Geblüts ist oder weil er vor 40 Jahren einen Olympiasieg errungen oder weil er promoviert hat? Kann eine erbrachte Leistung so eindeutig und klar quantifiziert werden, dass davon eine Belohnung abhängig gemacht werden kann? Diese Leistungen (Meritokratie) werden als tugendhaft eingestuft. Die betreffende Person hat für ihr Land Ehre erlangt, sie hat Fleiß und Durchhaltevermögen gezeigt etc. Dafür kann die Gemeinschaft sie dann belohnen.
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Olivia. Schwieriger wird es dann, wenn es um die Verteilung einer Erbschaft geht. Damit meine ich nicht die juristische, sondern die ethische Seite. Insbesondere dann, wenn es um hohe, sehr hohe zu vererbende Summen von z. B. mehreren Millionen geht. Hier scheint im Wesentliches alles geregelt zu sein. Aber es macht sich doch in der Gemeinschaft eine Form der moralischen Empörung breit und man fragt sich, wie jemand, der dafür nicht gearbeitet, demnach keine Leistung erbracht hat, mehrere Millionen erben kann. Hier stößt dann die Verteilungsgerechtigkeit an ihre Grenzen, weil wir doch unserem Empfinden in der modernen Gesellschaft nach davon ausgehen, dass man für eine Verteilung, vornehmlich von materiellen Gütern, auch eine Leistung erbracht haben sollte. Nur das Kind von jemandem zu sein, der es zu einem großen Vermögen gebracht hat, reicht dazu nicht aus. Dann nützt es auch nicht, wenn wir davon ausgehen müssen, dass Erben in der Neuzeit von Staats wegen gerecht geregelt ist. Sophie. Für Stemmer ist Gerechtigkeit immer eine proportionale Gleichheit.9 Proportionale Gleichbehandlung bedeutet nicht Gleichheit. Aber sie bedeutet, laut Stemmer, Gerechtigkeit. Es hängt bei der proportionalen Gleichheit immer davon ab, »in welchem Verhältnis A und B den Standard der Verteilung besitzen«10. Es bleibt natürlich auch hier, das sei kritisch angemerkt, die Frage, wie der o. g. Standard ausgelegt wird. Stemmer ist sich dieses Problems sehr wohl bewusst und betont, dass der Standard, nach dem die Verteilungsproportionen festgelegt werden, der »moralisch richtige«11 sein muss. Johanna. Wieder ein Blick zurück. Eine etwas andere Note bei der Frage nach der Gerechtigkeit steuert Schopenhauer bei. Er leitet aus seiner Mitleidsethik, auf die hier nicht näher eingegangen wird, die Maxime »neminem laede (kursiv i. O.) (verletze niemanden)«12 ab. Dieser Grundsatz stellt für Schopenhauer die Gerechtigkeit dar. Im Vergleich dazu leitet er dann die Ungerechtigkeit bzw. das Unrecht davon ab, ob ein Mensch einem anderen Menschen schadet, ihm Schaden zufügt, ihn sogar verletzt13. Schopenhauer fasst diese Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit mit naturwissenschaftlicher 9 10 11 12 13
Vgl. Stemmer, Peter: Handeln zugunsten anderer. Eine moralphilosophische Untersuchung. Verlag Walter de Gruyter, Berlin 2000, S. 225 ff. Ders., a. a. O., S. 225 Ders., a. a. O., S. 229 Schopenhauer, Arthur: Über das Mitleid. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Franco Volpi. Verlag C. H. Beck, dtv München 2006 (2. Aufl.), S. 84 Vgl. ders., a. a. O., S. 87
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Genauigkeit und schreibt: »Ich stelle dazu folgende Formel auf: die Größe der Ungerechtigkeit meiner Handlung ist gleich der Größe des Uebels, welches ich einem Andern dadurch zufüge, dividiert durch die Größe des Vortheils, den ich selbst dadurch erlange: – und die Größe der Gerechtigkeit meiner Handlung ist gleich der Größe des Vortheils, den mir die Verletzung des Andern bringen würde, dividiert die Grösse des Schadens, den er dadurch erleiden würde«14. Olivia. Also ich weiß nicht, ob die mathematische Zuweisung von Ungerechtigkeit im Hinblick auf mehr Gerechtigkeit in der Welt etwas bringt. Johanna. Ja, diese Zweifel habe ich auch und deswegen denke ich, dass wir uns nun dem berühmtesten Gerechtigkeitstheoretiker der Moderne zuwenden. Wenn man von Verteilungsgerechtigkeit spricht, darf ein Name nicht fehlen, nämlich John Rawls (1921–2002). Rawls gilt als Ikone der Verteilungsgerechtigkeit.15 Olivia. Aber er blieb nicht unwidersprochen. Johanna. Das ist in der Philosophie üblich. Olivia. Kersting kritisch: »Rawls entwickelt in seiner Theorie ausschließlich Regeln zur Lösung innerer kooperationsgemeinschaftlicher Teilungsprobleme. Die ›Justice-as-fairness-Konzeption‹ etabliert eine Gerechtigkeit zwischen Kooperationspartnern, zwischen lebenslang selbstversorgungsfähigen, weder unter Krankheit leidenden noch dem Arbeitslosigkeitsschicksal ausgesetzten Bürgern. Die unter dem Schleier der Unwissenheit ermittelte Verfassung bestimmt allein die Grundstruktur einer Gesellschaft selbstständiger Wirtschaftssubjekte, die Grundstruktur einer geschlossenen, Erwerbsunfähigkeit ausschließenden Marktgesellschaft«16. Deswegen erteilt Kersting dem Modell von Rawls eine Absage, weil sich das Rawlssche Differenzprinzip für ein Sozialstaatsprinzip nicht eignet. Natürlich muss im System von Rawls immer auch an die Menschen gedacht werden, die am schlechtesten gestellt sind. Aber diese am schlechtesten gestellten Menschen werden es immer bleiben. Darauf findet Rawls keine Antwort. Ich werde 14 Ders., a. a. O., S. 91 15 Vgl. Kersting, Wolfgang: John Rawls zur Einführung. Verlag Junius, Hamburg 1993, insbesondere S. 25 ff. 16 Ders., a. a. O., S. 31
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diese sozialpolitischen Überlegungen hier nicht weiter ausführen. Es ging mir lediglich darum, aufzuzeigen, dass es eben mit den Vergleichen, und wie eine Gruppe der Schlechtestgestellten sich nach »oben« arbeiten kann, doch nicht so einfach ist. Also kommen wir mit dem großen Rawls auch nicht weiter, leider. Sophie. Dies wäre dann eine normativ-ethische Fragestellung, weil es darum geht, wie Menschen, die als selbstversorgungsunfähig bezeichnet werden müssen (aus welchen Gründen auch immer), mit der Konzeption von Rawls keinen Weg aufgezeigt bekommen, wie sie sich aus ihrem Schicksal lösen können. Bei den Vergleichen in Bezug auf die Verteilungsgerechtigkeit innerhalb einer Gesellschaft müsste auch an ungelernte Arbeiter:innen, Angehörige von Niedriglohngruppen, geringfügig Beschäftigte etc. gedacht werden. Olivia. Genau! Dass hiervon oft auch Frauen betroffen sind, ist eine bekannte und anerkannte Tatsache. Es ist deshalb, so Kersting in seinem Fazit, immer nach dem zu fragen, was unter der fundamentalen Voraussetzung moralischer, menschenrechtlicher Gleichheit das Individuum als solches von einer gerechten Güterverteilung innerhalb eines Staates fairerweise zu erwarten hat.17 Johanna. Zur Ehrrettung von Rawls, möchte ich das Folgende entgegnen, weil er den Maxiministandard verteidigt. Dieser macht die Gesamtbewertung allein von der niedrigsten Position abhängig. »Der Ausdruck ›Maximin‹ steht für ›maximum minimorum‹, das Maximum der Minima oder das höchste Minimum. Wir sollen also die Grundordnung einrichten, die die beste Mindestausstattung bieten würde«18. Diese Aussage wiederum, so meine ich, würde den besten Schutz für die Schwachen bedeuten und könnte m. E. so falsch nicht sein. Von diesem Denken her ergibt sich die Formel der Gerechtigkeit als Fairness und die kann ebenso nicht falsch sein. Oder anders formuliert: »Eine Gesellschaft soll so organisiert sein, dass die in ihr am schlechtesten Gestellten möglichst gut gestellt sind«19. Aus dieser Forderung ergibt sich dann für Rawls zwingend, dass soziale und ökonomische Ungleichheiten jeweils zum größten Vorteil der am wenigsten begünstigten Menschen ausgerichtet werden müssen. Es geht folglich nicht um 17 Vgl. ders., a. a. O., S. 34 18 Pogge, Thomas W.: John Rawls. Verlag C. H. Beck, München 1971, S. 54 19 Ders., a. a. O., S. 77
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eine Gleichmacherei, sondern immer darum, dass alle mehr bekommen, dass aber insbesondere die am schlechtesten Gestellten besonders in den Blick genommen werden. Sophie. Ja, das leuchtet ein und deswegen finde ich Rawls Theorie im Grunde gut. Da scheint mir dann eine Prämisse von Aristoteles passend zu sein, dass die Beziehungen unter Menschen durch die beiden Begriffe »Gerechtigkeit und Freundschaft« gekennzeichnet sein sollen.20 Dabei sollen, im Gegensatz zu einer heutigen Sichtweise, Gerechtigkeit und Freundschaft nicht völlig unabhängig von der Person zu betrachten und zu werten sein, sondern es sollen immer auch der Charakter und die Leistungsfähigkeit der betreffenden Person Berücksichtigung finden. Dabei ist Aristoteles sehr wohl bewusst, dass Letzteres auch von sozialen Bedingungen sowie der Erziehung und dem Wohlstand des Elternhauses abhängt. Für mich ergibt sich die Frage, ob bei der Zumessung von Unterstützung diese Faktoren bei uns eine Rolle spielen, wir aber im Sinne einer übergeordneten, vornehmlich juridisch verstandenen Gerechtigkeit, die Faktoren Charakter und Leistungsfähigkeit ausblenden oder tabuisieren. Sie wirken im Hintergrund aber sehr wohl mit. Darauf soll hier lediglich hingewiesen werden. Olivia. Das kann ich so nun wirklich nicht stehen lassen. Aristoteles geht ja von festen Charakteren aus. Und wenn jemand diese Tugend der Gerechtigkeit in sich hat, dann ist er eben gerecht und das in jeder Situation. Damit können wir heute aber so nicht mehr einig sein. Insbesondere die empirische Ethik hat ja gezeigt, dass es so etwas wie einen Situationismus gibt. Johanna. Und darunter verstehe ich was? Olivia. Dass es Situationen gibt, in denen jemand gerechter, und in einer anderen Situation weniger gerecht entscheidet. Tugenden sind grundsätzlich in Stein oder besser: in den Charakter eingemeißelt. Sie können variieren. Johanna. Ein Beispiel bitte. Olivia. Gerne. Man hat festgestellt, dass etwa die Hilfsbereitschaft bei einem Ereignis steigt, wenn man vor einer Bäckerei steht und es daraus gut duftet. Wenn es stinkt, sinkt hingegen die Hilfsbereitschaft. Wenn man 20 Vgl. Detel, Wolfgang: Aristoteles. Verlag Reclam, Leipzig 2005, S. 105
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z. B. in einer alten Telefonzelle vergessenes Geld im Münzfach findet, dann ist die Hilfsbereitschaft auch höher, als wenn man nichts gefunden hat. Sophie. Ja, davon habe ich auch schon gelesen. So urteilen Richter:innen am Nachmittag, nach einem guten Mittagessen gnädiger als in den frühen Morgenstunden. Olivia. Genau. Es gibt noch zig solcher Beweise, die aufzeigen, dass Altruismus, Hilfsbereitschaft, gerecht zu handeln, etc. stark von den situativen Bedingungen abhängig ist. Auch die Hilfe bei der Unterstützung geflüchteter Menschen aus der Ukraine ist wesentlich größer als bei Menschen aus Afghanistan o. Ä. Diese Konstellationen ergeben alle Ungerechtigkeiten bzw. sind beeinflussbar, um nicht zu sagen, manipulierbar. Das hat ja dann wohl mit Gerechtigkeit nicht mehr allzu viel zu tun. Johanna. Ich finde das erschreckend. Olivia. Man darf Aristoteles, der nun wirklich viel Gutes geschrieben hat, eben auch nicht blind vertrauen. Zumindest ist seine These vom Menschen, der Charakter hat oder nicht, doch stark ins Wanken gekommen, weil auch die Situation Einfluss auf den Charakter hat. Ich finde das wiederum auch tröstlich. Johanna. Warum? Olivia. Weil es bedeutet, dass einem charakterlich eher labilen Menschen, bezeichnen wir es einmal so, durch Einflüsse von außen zu einem stärkeren, gerechteren Charakter verholfen werden kann. Der Mensch ist plastisch. Sophie. Ich würde gerne wieder zum Kern unserer Debatte zurückkommen. Schmitz macht in ihrem Beitrag21 darauf aufmerksam, dass die Lebensbedingungen von Millionen von Menschen auf dieser Erde als eine »Nichtbefriedigung von Bedürfnissen« beschrieben werden können. Diese Feststellung, die auf unzähligen Fakten beruht, kann wohl nur als eine große Ungerechtigkeit beurteilt werden. Daraus lassen sich Forderungen ableiten, die ich im Folgenden kurz darstellen möchte. Es zeigt für mich besonders gut auf, was wir hier im eigentlichen Sinne miteinander vergleichen wollen: 21 Schmitz, Barbara: Bedürfnisse und globale Gerechtigkeit. In: Bleisch, Barbara; Schaber, Peter (Hrsg.): Weltarmut und Ethik. Verlag mentis, Paderborn 2009 (2. Aufl.), S. 247
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»1. Jedes universelle Bedürfnis sollte bis zu einem Minimum befriedigt werden, d. h. eine Grundversorgung hinsichtlich aller Bedürfnisse sollte gewährleistet werden. 2. In einer Situation knapper Ressourcen haben bei der Befriedigung von Bedürfnissen schwerer Bedürftige Vorrang vor weniger Bedürftigen. 3. Bedürfnisse sollen so befriedigt werden, wie es die jeweilige grammatische Struktur eines Bedürfnisses vorgibt«22.23 Es ist unschwer zu erkennen, dass für Schmitz die Frage nach den Bedürfnissen von Individuen und von Gemeinschaften von zentraler Bedeutung ist und deren Befriedigung eine hohe moralische Priorität eingeräumt werden muss. Dabei geht es ihr, um bei dem Vergleich zu bleiben, nicht darum, dass das Versorgungsniveau in Entwicklungsländern auf den gleichen Stand wie in der hochindustrialisierten Welt angehoben werden muss. Es geht vielmehr darum, dass Individuen, bedingt durch ihre Armut, vor großem physischem und psychischem Schaden bewahrt bleiben. Johanna. Zur Diskussion der Gerechtigkeit steuert Susanne Boshammer einen weiteren interessanten Aspekt bei. Sie vergleicht nämlich Gerechtigkeit mit Vergebung, Verzeihen. Sie schreibt: »Denn während Verzeihen bedeutet, dass wir jemandem entgegenkommen und auf die angemessene Vergeltung des Unrechts verzichten, verlangt unser Gerechtigkeitsempfinden oft das genaue Gegenteil …«24 Wenn man verzeiht, verzichtet man auf eine mögliche Vergeltung, die einem zustehen würde. Damit wird aber keine Gerechtigkeit hergestellt. Hier gilt es dann, einen Vergleich, eine Abwägung vorzunehmen, ob man vergibt oder Gerechtigkeit fordert. Olivia. Ein interessanter Gedanke. Aber er führt uns m. E. zu stark ins Individuelle hinein. Mich interessiert bei der Frage nach der Gerechtigkeit eher der größere gesellschaftliche Zusammenhang, wie ihn Schmitz thematisiert hat. 22 Dies., a. a. O., S. 253 23 Weitere differenzierte Aussagen finden sich in: Kreckel, Reinhard: Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit. Campus Verlag, Frankfurt/M. 1997 24 Boshammer, Susanne: Die zweite Chance. Warum wir (nicht alles) verzeihen sollten. Verlag Rowohlt, Hamburg 2020, S. 137
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Johanna. Schon klar. Sehe ich im Grunde auch so. Aber Gerechtigkeit muss doch auch im Kleinen funktionieren. Sophie. Das stimmt auch wieder. Olivia. Vielleicht ist aber auch genug genug. Johanna. Sind wir denn an ein Ende gekommen? Olivia. Natürlich nicht und das werden wir ja auch nicht. Die Frage nach der Gerechtigkeit ist unendlich. Sophie. Ja, aber hinter dem Horizont gehts ja bekanntlich weiter. Olivia. Sophie. Bitte nicht. Johanna. Hat sie ja nicht so ernst gemeint. Olivia. Ich habe schlecht geschlafen und fühle mich nicht besonders gut. Sophie. Das sind natürlich ernst zu nehmende Gründe. Also lösen wir unsere Philo-Mädels-Gruppe für heute auf. Olivia. Danke. Sophie. Johanna. Also dann bis kommende Woche und immer schön gerecht bleiben.
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Gradationen der Freiheit1 in ihrem Vergleich Gradationen der Freiheit in ihrem Vergleich
»Prozentrechnungen – Die Kritik an der nationalsozialistischen Infiltration des Grimmschen Wörterbuchs wurde von einem germanistischen Sprachwissenschaftler mit dem Argument zurückgewiesen, es handle sich höchstens um 0,022 % aller Belege. Im Vergleich mit den zahlreichen Goethebelegen sei das ein Nichts. – Den statistischen Diskurs kann man fortsetzen: Auch das Hakenkreuz hat nur rund 0,022 % der Bekleidungsoberfläche der damaligen Germanisten ausgemacht.« (Rainer Kohlmayer, Professor für Interkulturelle Germanistik, Main)2 »Es gibt im Geiste keinen absoluten oder freien Willen; sondern der Geist wird dieses oder jenes zu wollen von einer Ursache bestimmt, die auch wieder von einer anderen bestimmt worden ist, und diese wieder von einer anderen und so fort ins Unendliche.« (Baruch de Spinoza: Lehrsatz 48)3 Lucien: männlich, aus dem Französischen und meint das Licht, der Erleuchtete. Ricco: männlich, italienisch, vermutlich aus dem Englischen übernommener Vorname in Anlehnung an Shakespeares Königsdramen. Léon: männlich, Kurzform von Leonhard. Abgeleitet aus dem Lateinischen »Leo« = der Löwe. Judith: weiblich, aus der Bibel übernommener, hebräischer Vorname. In der Bedeutung von gepriesener Frau, Frau aus Jehud, Jüdin.
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Eine umfassende Darstellung der rechtlichen und moralischen Möglichkeiten der Freiheiten, die er als eine Idee der demokratischen Sittlichkeit versteht, legt Axel Honneth vor: Das Recht der Freiheit. Verlag Suhrkamp, Berlin 2011 Kohlmayer, Rainer: Bissiger Mund! Alphabetische Aphorismen. In: Die Schnake, Ausgabe 15/16, 2000 Spinoza de, Baruch: Ethik. Ist der Wille frei. In: Höffe, Otfried: Lesebuch zur Ethik. Philosophische Texte von der Antike bis zur Gegenwart. Verlag C. H. Beck, München 1998, S. 205
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Ricco. Na, dann wollen wir mal. Bereits 1888 machte sich nämlich der dänische Philosoph Höffding4 darüber Gedanken, wie es um die Freiheit des Willens bestellt ist. Die ethische Wertschätzung, so seine Meinung, beginnt mit dem Gefühl und dieses ist gekoppelt mit dem Gewissen. Von da an entwickelt sich dann alles Weitere. Interessant finde ich nun, wie Höffding die Freiheit des Menschen in sechs Bereiche einteilt und sechs verschiedene Bedeutungen zuweist: 1. Ein freier Wille ist dem Kausalitätsprinzip nicht untergeordnet. Der freie Wille und damit die individuelle Freiheit entstehen aus sich selbst heraus und sind nicht Glied in einer Kette. Höffding spricht von »Kausalfreiheit«. Das, wovon man frei ist, ist »alles«. 2. Freiheit kann auch bloß als Abwesenheit von Zwang verstanden werden. Der Mensch ist nicht frei, aber die Ursachen liegen außerhalb seiner Person und dafür kann er nichts. Es geht nicht um das Wollen, sondern um das Handeln, wovon – je nachdem – die Person nicht frei ist. 3. Beim dritten Fall ist der Mensch infolge von Schmerz oder Furcht nicht frei. Der Mensch tut nicht das, was er eigentlich könnte, weil er in sich selbst unfrei ist. 4. Der vierte Fall der Freiheit beschreibt die Situation, dass der Mensch wohl frei ist, aber die Gegebenheiten der Umwelt, der Welt dermaßen stark, groß und übermächtig sind, dass aller guter Wille nichts nützt. 5. Der fünfte Fall wird von Höffding als Wahlfreiheit bezeichnet. Der Mensch hat Vorstellungen verschiedener Möglichkeiten, bei denen er wählen kann. Man vergleicht die Möglichkeiten untereinander und wählt. Die Motive dafür, welche Wahl man getroffen hat, können völlig im Unklaren bleiben. Wer nur eine Möglichkeit hat, kann nicht wählen. Denkbar ist aber auch, dass verschiedene Möglichkeiten existieren, der Mensch aber nur in der Lage ist, eine davon zu sehen. Das macht ihn dann unfrei. 6. Der sechste Fall beschreibt im Grunde eine ethische Variante der Freiheit, wenn davon ausgegangen wird, dass nur der »Gute« wirklich frei ist. Hier kommt dann dem Gewissen eine entscheidende Bedeutung zu. Hier geht es dann gegen egoistische Triebe und Leidenschaften und man spricht von einer höheren Freiheit. Aber, so Höffding, diese Form der Freiheit hat mit der Frage, ob der Mensch auch determiniert sein könnte, nichts zu tun. Im Gegenteil: Höffding ist der Meinung, »dass der Determinismus sogar eine unentbehrliche Voraussetzung der Ethik ist«5. Aus nichts wird nichts und so erteilt Höffding den Indeterministen eine Absage. 4 5
Höffding, Harald: Ethik. Eine Darstellung der ethischen Prinzipien und deren Anwendung auf besondere Lebensverhältnisse. Fues’s Verlag (R. Reisland), Leipzig 1888. Erschienen bei: Forgotten books, London 2015, S. 72 ff. Ders., a. a. O., S. 77
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Léon. Gut, dann ist ja alles geklärt und wir können wieder nach Hause gehen. Lucien. Bist du schon wieder eingeschnappt, weil Ricco den ersten Zug gemacht hat. Immer das gleiche mit dir, es nervt, wirklich. Die Frage nach der Determination oder Indetermination des Willens finde ich schon sehr spannend und es gäbe sicherlich noch viel mehr zu sagen. Ricco. Aber sicher doch. Zu Beginn hebt Stederoth6 hervor, dass die Frage, ob ein Mensch frei oder nicht frei ist, nicht mit einem klaren Ja oder einem klaren Nein beantwortet werden kann. Damit beginnen bereits die Vergleiche, die Skalierungen, die Abwägungen etc. Es geht im Wesentlichen darum, den Grad der Freiheit zu bestimmen. Lucien. Ein möglicher Maßstab hierfür könnte der Grad der Selbstbestimmung sein, um seine eigene Freiheit messen zu können. Dabei muss aber im selben Atemzug festgehalten werden, dass jemand seine individuell wahrgenommene Selbstbestimmung als gut bezeichnet, während ein anderer den gleichen Grad als stark fremdbestimmt erlebt. Dies führt dann zu der Überlegung, dass jeder Mensch immer frei und auch gleichzeitig unfrei ist. Er ist wohl auch nie ganz frei bzw. nie ganz unfrei, sodass es sich immer um ein Mehr-oder-Weniger handelt. Ricco. Genau, Lucien, wollte ich gerade noch angefügt haben. Stederoth ist deshalb auch der Meinung, dass die Frage nach der Freiheit an den Rändern7, wie er das nennt, von größerem Interesse ist, als den graduellen Unterschieden und Vergleichen nachzuspüren. Léon. Ich darf mal kurz zusammenfassen. Wir gelangen dann zu einer völligen Frei- bzw. Unfreiheit. Wie bereits erwähnt, ist eine solche Verabsolutierung des Freiheitsbegriffs, sowohl nach unten als auch nach oben, ein Bedürfnis für uns und wir treffen diese Formulierungen in der Alltagssprache weit häufiger an als die Verwendung von differenzierenden Graden. Lucien. Stederoth vermutet, dass dies mit einer »unscharfen Verwendung des Begriffs Freiheit zu tun hat«8. 6 Stederoth, Dirk: Freiheitsgrade. Zur Differenzierung praktischer Freiheit. Verlag transcript, Bielefeld 2015, S. 261 ff. 7 Vgl. ders., a. a. O., S. 262 8 Ders., a. a. O., S. 265
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Ricco. Freiheit hat auch mit Verantwortung zu tun. Das ist ein Grundsatz ethischen Denkens. Dies gilt insbesondere dann, wenn eine Handlung aus freiem Willen ausgeführt worden ist. Wird man zu einer Handlung gezwungen, kann man dafür keine Verantwortung übernehmen. Hierzu können zudem innere Zwänge gezählt werden. Judith. Juristisch spricht man dann von Schuldunfähigkeit. Nun gibt es aber Vertreter:innen, die davon ausgehen, dass der Mensch qua Anthropologie gar nie frei ist, nie frei wählen kann, weil er determiniert ist. Hierfür können verschiedene psychisch motivierte Faktoren verantwortlich gemacht werden. Diese Diskussion will ich hier aber nicht weiter vertiefen. Léon. Schade, Judith. Halte dich bloß nicht zurück. Lucien. Wichtig ist zu beachten, im Hinblick auf die Vergleichbarkeit von Freiheitsgraden, dass auch in Bezug auf die Verantwortung, die jemand zu übernehmen hat, ebenfalls der Grad der Verantwortung steigt oder sinkt. Léon. Etwas unklar formuliert, würde ich hier mal sagen. Versuch es doch bitte noch einmal, Lucien. Lucien. Okay, zum Mitschreiben, Léon. Ein Kleinkind ist eben nicht im gleichen Maße für sein Tun verantwortlich zu machen wie ein Erwachsener, aber es ist auch nicht im gleichen Maße frei, sprich: selbstbestimmt. Hierbei zeigt Stederoth ein entwicklungspsychologisches Entwicklungsmodell auf, das er den Freiheitsgraden gewissermaßen unterlegt. Es handelt sich um 1. angeborene Verhaltensmuster (z. B. Hunger, Schlaf ), 2. erworbene Verhaltensmuster (z. B. Lernformen, Konditionierungen etc.), 3. spontanes Verhalten (z. B. Neugierde, Spielen, Kreativität), 4. subjektive Handlungsgründe (z. B. Intuition, Erinnerungen), 5. normative Handlungsgründe (z. B. Vereinbarungen, Regeln, Gesetze), 6. logisch-vernünftige Handlungsgründe.9 Ist dir, Léon, das jetzt etwas klarer geworden? Judith. Ich gehe dann mal pinkeln, solange die Hahnenkämpfe hier noch anhalten. Ricco. Auf all diesen Stufen zeigt sich die persönliche Freiheit eines Individuums in jeweils anders gearteten, anders gestuften Freiheitsgraden. Diese 9
Vgl. ders., a. a. O., S. 119 f.
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müssen in jeder Lebenssituation unzähligen Vergleichen unterzogen werden. Diese Grade können nun nicht einfach nur situativ betrachtet werden. Es scheint deshalb klar zu sein, dass hier auch genetische, entwicklungspsychologische, psychopathologische (Zwänge) mitberücksichtigt werden müssen, wenn es um die Frage einer realisierten Selbstbestimmung geht. Freiheit kann somit nur graduell bestimmt werden. Eine reine Freiheit bzw. Unfreiheit wäre zwar für unser Verständnis wünschenswert, weil einfacher zu denken. Sie entspricht aber nie der Realität. Wir kommen ohne Vergleiche nicht aus. Judith. Bin wieder back. Hat sich Entscheidendes getan? Lucien. Vergessen werden darf aber auch nicht, dass bereits Schopenhauer in einem von der Norwegischen Akademie der Wissenschaften ausgeschriebenen Wettbewerb die folgende Frage zu beantworten versucht hat: »Lässt die Freiheit des menschlichen Willens sich aus dem Selbstbewusstseyn beweisen?«10 Schopenhauer ist es wichtig, zwischen den verschiedenen Freiheitsbegriffen zu unterscheiden, diese voneinander abzugrenzen. Vorab klärt er, was den verschiedenen Freiheitsbegriffen gemeinsam ist. »Frei zu sein heißt, in seinem Wollen und Handeln ungehindert zu sein, und jede der drei von Schopenhauer unterschiedenen Arten von Freiheit bedeutet die Abwesenheit einer bestimmten Art von Hindernis«11. Schopenhauer weist aber darauf hin, dass es zudem eine intellektuelle Freiheit gibt. Ihre Beschränkung findet sich etwa in mangelndem Wissen oder in der mangelnden Steuerung des eigenen Willens. Für Schopenhauer sind zwei Bedingungen notwendig, damit sich der Mensch und nur der Mensch frei fühlen kann. Da ist zum einen die Begriffsbildung und die Fähigkeit, eine Vielzahl von Erfahrungen verallgemeinern zu können.12 Ricco. Frei sein bedeutet demnach, dass sich der Mensch der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft nach ausrichten kann. Er kann sich somit stets der jederzeit gegebenen Gegenwart mittels reflexiver Distanzierung entziehen. Der zweite für Schopenhauer entscheidende Grund anzunehmen, dass der Mensch über Freiheit verfügt, ist etwas schwieriger zu verstehen.
10 Birnbacher, Dieter: Schopenhauer. Stuttgart 2009, S. 72 11 Ders., a. a. O., S. 74 12 Vgl. ders., a. a. O., S. 76
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Judith. Oh, die spielen sich hier die Bälle zu, dass einem schwindlig werden kann. Léon. Du kannst dich gerne an mir festhalten. Judith. Anmache gilt nicht! Ich bin frei wie der Wind. Ricco. Wenn dieses unnötige Intermezzo sein Ende gefunden hat, würde ich gerne weitermachen. Schopenhauer geht von einem empirischen Charakter aus. Das bedeutet so viel, als dass der Mensch ab seiner Geburt über einen individuellen Charakter verfügt, den er nur noch entwickeln, aber nicht grundlegend verändern kann. Unser Charakter ist uns gegeben wie ein Naturgesetz, dem wir uns nicht entziehen können. Die Freiheit besteht nun darin, dass wir in der Lage sind, unseren Charakter zu erkennen, dass wir uns damit auseinandersetzen, dass unser Charakter so und so beschaffen ist und wir ihn deshalb immer in unserem Kalkül bei anfallenden Entscheidungen mitberücksichtigen können. So sind wir befähigt, unsere Schwächen und Stärken bei jeder Handlung und bei jeder Verhandlung mit ins Spiel zu bringen, und erhalten so eine größere Selbstbestimmung, die wir immer wieder zu unseren eigenen Gunsten nutzen können. Abschließend ist Schopenhauer der Meinung, dass es eine weiterführende Theorie der Willensfreiheit nicht benötigt. Eine etwas eigenartige, aber mich überzeugende Theorie. Léon. Ich bin da noch nicht so ganz davon überzeugt. Es gibt sicherlich noch andere Geistesgrößen, die sich zur Freiheit geäußert haben. Lucien hat sicherlich noch etwas auf Lager, oder? Lucien. Aber sicher doch. Hume, mein Lieblingsphilosoph, ist der Meinung, dass es schon etwas kurios ist, dass man sich über die Freiheit und deren Notwendigkeit zwar bereits seit langer Zeit intensiv Gedanken macht13, sich aber regelmäßig gezwungen sieht, auf das Thema zurückzukommen. Obwohl man, so Hume weiter, sich eigentlich einig ist, was Freiheit ist. Dies betrifft sowohl gelehrte als auch unwissende Menschen.14 Hume geht weiter davon aus, dass alle Menschen und alle Völker zu allen Zeiten im Grunde dasselbe verstanden haben, wenn es um die Notwendigkeit der Freiheit 13 Vgl. Hume, David: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Verlag Reclam, Stuttgart 1982, S. 106 ff. 14 Vgl. ders., a. a. O., S. 107
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geht. »Die gleichen Motive führen immer zu den gleichen Handlungen; die gleichen Ereignisse folgen aus den gleichen Ursachen«15. Natürlich räumt auch Hume ein, dass sich die Ausprägungen der Verhaltensweisen von verschiedenen Menschen zu unterschiedlichen Zeiten unterscheiden können. Aber die dahinterstehenden Motive sind weitestgehend immer die gleichen. Léon. Als da wären? Lucien. Gemach, Léon. Aus diesem Grund, so schließt Hume, kann unter Freiheit jeweils nicht etwas völlig anderes verstanden werden. Hume gelangt dann zur folgenden Definition von Freiheit: »Unter Freiheit können wir somit nur eine Macht, zu handeln oder nicht zu handeln, entsprechend den Willensentscheidungen (a power of acting or not acting, according to the determinations of the will), (kursiv i. O.) verstehen; d. h., wollen wir uns ruhig verhalten, so können wir es; wollen wir uns bewegen, so können wir es auch. Diese bedingte Freiheit wird allgemein jedem zugestanden, der kein Gefangener ist und in Ketten liegt. Das ist unbestritten«16. So klar und eindeutig verhält sich die Frage nach der Freiheit bei Hume, sodass er, wie er darlegt, gar nicht in Versuchung gerät, diese irgendwelchen Vergleichen zu unterziehen. Judith. Das scheint mir nicht ohne Logik zu sein. Sind wir doch im Alltag alle ein Stück weit Humeaner. »Wir bilden unsere Überzeugungen nach den empirischen Evidenzen, die uns zur Verfügung stehen. Aber ob dies reicht und den Begriff menschlicher Vernunft auszufüllen vermag, wird auch heute noch kontrovers diskutiert«17. Ricco. Dabei darf Folgendes nicht vergessen werden: »nicht immer, wenn jemand tun kann, was er tun will, heißt das, dass er auch wirklich aus freien Stücken handelt. Innere Zwänge mögen ihm das vorenthalten, was man Willensfreiheit nennt«18. Das heißt, dass es für die Handlungsfreiheit immer auch die Willensfreiheit benötigt. Freiheit bedeutet folglich, dass weder ein äußerer noch ein innerer Zwang besteht. »Wir haben hier eines der klassischen Beispiele vor uns, wie durch eine treffende Unterscheidung und 15 Ders., a. a. O., S. 109 16 Ders., a. a. O., S. 124 17 Klemme, Heiner F.: David Hume zur Einführung. Verlag Junius, Hamburg 2007, S. 164 18 Kulenkampff, Jens: David Hume. Verlag C. H. Beck, München 1989 (2. Aufl.), S. 95
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Bestimmung der Begriffe ein philosophisches Problem aufgelöst werden kann«19. Lucien. Betrachten wir die Freiheit noch von einer ganz anderen Seite und beziehen uns hierbei auf Kant, der insbesondere in der dritten Antinomie20 darauf eingeht und fragt, ob Freiheit und Determinismus miteinander kompatibel sein können. Unter transzendentaler Freiheit versteht Kant die Art von Freiheit, wenn etwas geschieht, ohne dass die Ursache durch eine vorhergegangene Ursache bestimmt ist. Freiheit so betrachtet ist die totale Unabhängigkeit von vorhergehenden Ereignissen. Dies wäre eine negative Bestimmung der Freiheit. Positiv gewendet würde man unter Freiheit Ereignisse verstehen, die in sich völlig spontan geschehen und ablaufen. Kant spricht in diesem Zusammenhang von einer völligen Willensfreiheit21. Aber auch Kant sieht die Freiheit in Verbindung mit der Autonomie. Darunter versteht er die Willenseigenschaft, sich selbst Gesetz zu sein. Fremde, von außen bestimmende Ursachen werden dabei ausgeschlossen. So gelangt Kant zu der allgemein bekannten Formel der »eigenen Gesetzgebung«, die durch die reine praktische Vernunft des Menschen im Menschen gegeben ist. Für Kant ist Freiheit nicht ein erworbenes Recht, sondern gehört qua Mensch-Sein zum Menschen. Er wird demnach mit ihr geboren. Judith. Gut, dann hätten wir den auch erwähnt. Ohne den geht ja im deutschsprachigen Raum nichts. Ricco. Ein Philosoph aus neuerer Zeit ist Ernst Cassirer (1874–1945). Er ist bekannt geworden durch seine Philosophie der symbolischen Formen. Ihm geht es hierbei weniger um philosophische Abklärungen der Freiheit in der Politik, sondern vielmehr um die in der Kultur. Dabei versteht er unter Kultur nicht nur Ästhetik, sondern sieht Kultur als eine grundlegende Eigenschaft des Menschen bzw. seines Geistes, im Sinne einer produktiven Lebensgestaltung. Judith. Das hingegen gefällt mir schon besser.
19 Ders., a. a. O., S. 95 20 Unterscheidung zwischen dem Ding an sich und der eigentlichen Erscheinung 21 Vgl. Berger, Larissa; Schmidt, Elke Elisabeth: Kleines Kant-Lexikon. Verlag Wilhelm Fink, Paderborn 2018, S. 149
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Ricco. Freut mich. Hieran bemisst sich sein Grad an Freiheit. »Freiheit in diesem grundlegenden Sinne realisiert sich in geistigen Akten der Gegenstandskonstitution ebenso wie in solchen der tätigen Hervorbringung«22. Interessant finde ich die Bemerkungen von Cassirer, dass in der Fülle des Lebendigen, er meint damit unseren Alltag, die wissenschaftliche Abstraktion verloren geht.23 Dieser Verlust wird, so Cassirer, mit einem Zusatz an Individualität kompensiert und die gesamtgesellschaftliche Kultur wird immens vergrößert. In der Sprache Cassirers würde das heißen, dass sich die Mannigfaltigkeit der symbolischen Formen enorm steigert. Aber ist es nicht gerade das, was wir heute erleben und als eine Zunahme unserer individuellen Freiheiten empfinden? Wir leben ja gegenwärtig in einer (westlichen) Welt nahezu unbeschränkter Individualitäten, bei der jeder/jede das tun und lassen kann, was sie will. Aber ob diese Leben auch als befreites Leben verstanden werden können, steht, so meine ich hier, wohl auf einem anderen Blatt. Ich verweise hierbei auf das 9. Kapitel (Spätmoderne), in dem auf den Preis dieser individuellen Freiheiten eingegangen wird. Die von Cassirer so benannte »Intensivierung von Wirklichkeit« hat ihre Kehrseite bzw. ihren Preis, dessen Höhe, so meine ich, noch nicht exakt beziffert werden kann. Judith. Sehe ich genauso. Léon. Betrachten wir nun, was Sartre zur Freiheit geschrieben hat. Er geht davon aus, dass der Mensch nicht Freiheit hat, sondern der Mensch ist Freiheit. Nach meinem Dafürhalten bedeutet dies, dass Mensch-Sein und Freiheit im Grunde identisch sind. Die Freiheit ergibt sich in der Beziehung des Menschen zu den ihn umgebenden Objekten. Diese unterliegen dann einer Vergleichbarkeit. Daraus leitet sich der berühmte Satz von Sartre ab, dass der Mensch zur Freiheit verurteilt ist. »Sartres Pointe besteht darin, dass gegebene sozioökonomische Umstände erst eine Interpretation erhalten müssen, ehe sie überhaupt als eine Ursache fungieren können. Lebensumstände allein können ohne eine Beteiligung durch das Bewusstsein keine Auswirkungen haben«24. Anders formuliert, könnte man auch sagen, dass nach Sartre der Mensch seiner Freiheit nicht entrinnen kann. 22 Recki, Birgit: Cassirer. Verlag Reclam Taschenbuch Nr. 20285, Stuttgart 2013, S. 77/78 23 Vgl. dies., a. a. O., S. 80 24 Bruce, Michael; Barbone, Steven (Hrsg.): Die 100 wichtigsten philosophischen Argumente. Verlag Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2012, S. 64; bezogen auf: Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Verlag Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2002
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Judith. Das ist mir zu, also ich weiß nicht, zu direkt, zu brutal. Léon. Es kommt noch besser. Benson25 macht nun darauf aufmerksam, dass in den meisten Theorien, die sich mit der Handlungsfreiheit von Individuen auseinandersetzen, der Fokus auf die äußeren Hindernisse gelegt wird. Diese sind es, die allein die Handlungsfreiheit einschränken. Benson ist nun der Meinung, dass die Handlungsfreiheit auch durch innere Faktoren wie Schamgefühl oder Selbstwertgefühl entscheidenden Einfluss darauf haben kann, ob sich jemand in seinen Handlungen eher frei oder eingeschränkt fühlt. Es geht dabei um die Rolle, die der frei Handelnde in Bezug auf seine Einstellungen innehat. Hierbei können sich massive »substanzielle normative Einschränkungen«26 ergeben. Ricco. Wenn wir schon dabei sind: Noch negativer klingt es bei Blackburn, wenn er sich mit dem freien Willen auseinandersetzt: »Die Vergangenheit kontrolliert die Gegenwart und die Zukunft. Man kann die Vergangenheit nicht kontrollieren. Man kann auch die Art, wie die Vergangenheit die Gegenwart und die Zukunft bestimmt, nicht kontrollieren. Folglich kann man weder die Gegenwart noch die Zukunft kontrollieren«27. Das würde bedeuten, dass wir im Grunde gar nichts kontrollieren können, weder die Gegenwart noch das Vergangene, und schon gar nicht, was noch kommt. Aber Blackburn möchte das so nicht stehen lassen und verweist auf Spinoza, der meinte, dass Freiheit bedeutet, mehr zu wissen oder mehr zu verstehen.28 Judith. Oh, wie tröstlich. Lucien. Letztlich erscheinen mir die von Chomsky29 benannten Freiheiten von zentraler Bedeutung zu sein. Er formulierte die folgenden Freiheiten als grundlegend und berief sich dabei auf die vier Freiheiten, die der USamerikanische Präsident Roosevelt während des Zweiten Weltkriegs für die 25 Benson, Paul: Handlungsfreiheit und Selbstwert. In: Betzler, Monika (Hrsg.): Autonomie der Person. Verlag mentis, Münster 2013, S. 135 ff. Eine kritische Hinterfragung von den Menschen einschränkenden normativen Fragestellungen unternimmt auch Blackburn, Simon: Gut Sein. Eine kurze Einführung in die Ethik. Verlag Primus, Darmstadt 2004 26 Ders., a. a. O., S. 146 27 Blackburn, Simon: Denken. Die grossen Fragen der Philosophie. Primus Verlag, Darmstadt 2013 (2. Aufl.), S. 78 28 Vgl. ders., a. a. O., S. 93 29 Chomsky, Noam: Die 5. Freiheit. Über Macht und Ideologie. Vorlesungen in Managua. Argument Verlag, Hamburg 1988
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westlichen Alliierten formulierte, und fügte selbst noch eine fünfte hinzu. Es geht um die Redefreiheit, die Glaubensfreiheit, die Freiheit von Mangel sowie um die Freiheit von Furcht. Chomsky fügte diesen vier zentralen Freiheiten dann noch die Freiheit von Raub und Ausbeutung hinzu. Hierbei dachte er vor allem an die Entwicklungsländer. Es ist eine rein rhetorische Frage, ob diese Freiheiten auch heute noch ihre Geltung haben. Judith. Die Philosophin und Psychotherapeutin Anita Horn legte anlässlich eines Vortrages eine Liste30 vor, bei der sie diverse Autoren zitierte und die mir hier die Darstellung Wert erschien: • D ie Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern, dass er nicht tun muss, was er nicht will. (Jean-Jacques Rousseau) • D ie wahre Freiheit ist nichts anderes als Gerechtigkeit. (Johann Gottfried Seume) • J e freier man atmet, desto mehr lebt man. (Theodor Fontane) • D ie Gedankenfreiheit ist die einzig wahre und die größte Freiheit, die der Mensch erreichen kann. (Maxim Gorki) • F rei zu sein bedeutet nicht nur, seine eigenen Fesseln zu lösen, sondern ein Leben zu führen, das auch die Freiheit anderer respektiert und fördert. (Nelson Mandela) • F rei sein heißt zum Freisein verurteilt sein. (Jean-Paul Sartre) • W er anderen die Freiheit verweigert, verdient sie nicht für sich selbst. (Abrahm Lincoln) • I ch bin frei, denn ich bin einer Wirklichkeit nicht ausgeliefert, ich kann sie gestalten. (Paul Watzlawick) • D as Ungeheure, das einem Menschen eingeräumt ist, ist die Wahl, die Freiheit. (Søren Kierkegaard) • D er Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten. (Jean-Jacques Rousseau) • F reiheit ist das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen. (George Orwell) • F reiheit ist ein Gut, dessen Dasein weniger Vergnügen bringt als seine Abwesenheit Schmerzen. (Jean Paul) • D ie Sklaven von heute werden nicht mit Peitschen, sondern mit Terminkalendern angetrieben. (John Steinbeck) 30 Horn, Anita: Zitate zum Thema Selbstbestimmung. Vortrag im Rahmen des Zyklus »Wissenschaft und Weisheit«. Universität Zürich, Montag, 07.03.2022, unver.
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• Bedenke, was du bist: Vor allem ein Mensch, das bedeutet ein Wesen, das keine wesentlichere Aufgabe hat als seinen freien Willen. (Epiktet) • Freiheit ist kein Privileg, sondern eine Aufgabe. (Georges Bernanos) • Nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit. (Dietrich Bonhoeffer) • Freiheit heißt Verantwortung. Deshalb wird sie von den meisten Menschen gefürchtet. (George Bernhard Shaw) • Ich bin nicht das, was mir passiert ist. Ich bin das, was ich entscheide zu werden. (C.G. Jung) • Die individuelle Freiheit ist kein Kulturgut. Sie war am größten vor jeder Kultur, allerdings damals meist ohne Wert, weil das Individuum kaum imstande war, sie zu verteidigen. (Sigmund Freud) Léon. Imposant. Danke Judith. Judith. Gerne. Ja, fand ich auch und deshalb habe ich sie ja hier angebracht. Ricco. Können wir das Geturtel nun sein lassen und weitermachen? Léon. Oho. Ricco. Dass Freiheit auch in unserer Zeit immer wieder gefährdet sein kann, zeigt nicht nur der Ende Februar von Russland initiierte Krieg gegen die Ukraine, sondern auch die Klimaveränderungen, die Algorithmen und vieles andere mehr, das unsere Freiheit gefährden, sogar zerstören kann.31 Lucien. Betrachten wir die Freiheit noch von einer ganz anderen Seite her, nämlich der Niederlassungsfreiheit. Dabei beziehe ich mich auf Äußerungen, die der Philosoph Matthias Hoesch anlässlich eines Referats an der Universität in Zürich am 04.04.2022 gehalten hat. Es geht dabei um die Bewegungsfreiheit jedes einzelnen Menschen und dafür wären offene Grenzen notwendig. Dabei geht man davon aus, dass Staaten bekannterweise das Recht haben, ihre Einwanderungspolitik selbst bestimmen zu können. Sie verfügen über eine autonome Einwanderungspolitik (conventional view). Ausnahmen sind hierbei Kriegsflüchtlinge und die Familienzusammenführung, wenn ein Familienmitglied z. B. eine Arbeitsstelle im Ausland innehat. Nun gibt es Vertreter:innen, die davon ausgehen, dass es eine sehr 31 Vgl. Marti, Lin Mi; Strub, Jean-Daniel (Hrsg.): Freiheit. Grundwert in Bedrängnis. Verlag hier und jetzt, Baden 2019
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restriktive Haltung ist, die im Grunde gegen das allgemeingültige Menschenrecht verstößt, wenn Staaten ihre Einwanderungspolitik selbst bestimmen können, und dass der Mensch sich dort niederlassen können muss, wo er dies eben tun will. Warum soll dieses Recht an den künstlich geschaffenen Grenzen der Nationalstaaten Halt machen oder nicht gelten. Dies erscheint unlogisch zu sein. Die Gegner:innen führen an, dass dieses, eventuell gar nicht so unsinnige Recht, in der Praxis nicht durchzuführen wäre, weil dann sehr viele Menschen aus sogenannten armen Ländern in diejenigen Länder umsiedeln würden, die einen wesentlich höheren Lebensstandard aufweisen. Es käme zum Zusammenbruch dieser Staaten, Anarchie, Chaos und damit einhergehend wäre auch die Gewaltspirale nicht mehr zu stoppen. Diese Annahme wird aber von den Befürwortenden einer globalen Chancengerechtigkeit nicht geteilt. Sie sind überzeugt, dass ein Staatensystem dann ungerecht ist, wenn es keine offenen Grenzen aufweist. Moderate Gegner:innen einer solchen Freizügigkeit wenden dann ein, dass eventuell durch die Grenzen der Nationalstaaten schon ein Verstoß gegen ein allgemeingültiges Menschenrecht vorläge, dass dieses aber erst dann verwirklicht werden könn(t)e, wenn die materiellen Unterschiede zwischen den Staaten in einem weitaus größeren Maße ausgeglichen würden, als dies heute der Fall ist. Es wird auf das Beispiel der Europäischen Union rekurriert, die auch erst zustande kam, als die materiellen Unterschiede zwischen den Staaten nicht aufgehoben, aber dennoch verkleinert werden konnten und die ärmsten Länder der EU finanzielle Ausgleichszahlungen von Brüssel erhielten. Ob dies weltweit so umgesetzt werden würde, wird dann hingegen wieder angezweifelt. Nun, die Befürworter:innen geben nicht nach und verweisen immer wieder auf das individuelle Selbstbestimmungsrecht, das für jeden Menschen auf dem Globus ungeteilte Gültigkeit hat. Die Bewegungsfreiheit ist ein Menschenrecht und damit: basta! Deshalb müsse es anerkannt werden, ohne Wenn und Aber. So wie man innerhalb eines Staates dahin ziehen kann, wo man hin will, gilt dies auch für die Erde. Ist dies nicht möglich, so muss von einer Diskriminierung gesprochen werden. Die Gegner:innen geben noch nicht klein bei, indem sie vorbringen, dass man das Menschenrecht, das innerhalb eines Staates gilt, nicht automatisch auf die ganze Erde übertragen kann. Und zum zweiten ist zu berücksichtigen, dass Menschenrechte über einen gewissen Relativismus verfügen können. Ricco. Mit der von dir hier vorgebrachten logischen Ableitung bin ich im Wesentlichen einverstanden. Aber nun kommt das große Aber: Das bedeutet, dass es nicht immer um ein Maximum an Rechten gehen kann, koste es, was es wolle, sondern, dass es auch darum gehen kann, welche Optionen
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man hat, dass man sich z. B. überall da niederlassen kann, wo man will, und ob es dann nicht auch etwas weit hergeholt ist, wenn man sofort von einer Diskriminierung spricht, wenn ein Land begründen kann, dass es diese oder jene Einwanderungspolitik betreibt und dass es diese oder jene Möglichkeit gibt, sich in dem Land anzusiedeln. Wenn man diese oder jene Bedingungen eben nicht erfüllt, dann geht es eben nicht. Hierbei kann dann nicht von einer Diskriminierung gesprochen werden. Lucien. Doch, kann man eben doch. Entweder es ist logisch, stringent gefolgert oder nicht. Du kannst nicht sagen, dass es im Kern korrekt ist und dann am Ende einen Rückzieher machen. Ricco. Ja, aber es gibt auch noch die Praxis und die hat dann eben weniger mit Stringenz zu tun. Rational kann ich es nachvollziehen, emotional, so denke ich, gelangt man an seine Grenzen. Und da würde ich doch gerne noch etwas einflechten. Nämlich das, was Iris Murdoch zu Freiheit gemeint hat. Ich denke, es passt ganz gut zu unseren letzten Gedanken: »Moralische Freiheit, so wird sie später argumentieren, ist nicht die Fähigkeit, die eigenen moralischen Prinzipien in einer ansonsten wertfreien Welt zu wählen. Wahre moralische Freiheit ist die Fähigkeit, die Realität beständig im Auge zu behalten und die Dinge gerecht zu betrachten. Zu erkennen, worauf es ankommt und welche Dinge gut und wichtig sind. Immer wieder hinzusehen und die Vergangenheit zu überdenken.«32 Judith. Ich glaube, ich muss wieder pinkeln. Das ist meine Realität. So wahr ich den Text von Murdoch finde. Sorry, Leute. Léon. Wohl eine schwache Blase, was. Judith. Nein, das nicht, aber zu viel Testosteron in der Luft. Léon. Aha. Ricco & Lucien. Wir setzen dann diese doch sehr wichtige Diskussion zu zweit fort, wenn ihr nichts dagegen habt. Judith & Léon. Wir auch. Viel Spaß noch, ihr beiden. 32 Cumhaill, Clare Mac; Wiseman, Rachael: The Quartett. Wie vier Frauen die Philosophie zurück ins Leben brachten. Verlag C. H. Beck, München 2022, S. 329
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Ethische Dilemmata sind Vergleiche, die nie aufgehen Ethische Dilemmata sind Vergleiche, die nie aufgehen
»Zwei Dinge sind sich immer irgendwie ähnlich. Erst das dritte autorisiert den Vergleich.« (© Billy, 1932–2019, eigentlich Walter Fürst, Schweizer Aphoristiker) Linus: männlich, Bedeutung ist ungeklärt, sie geht vermutlich auf den griechischen Vornamen Linos zurück. Dieter: männlich, Kurzform zu Dietrich. Aus dem althochdeutschen »diot« = Volk und »rihhi« = reich, mächtig. Rahel: weiblich, aus der Bibel übernommener Vorname, hebräischen Ursprungs. Rahel. Insbesondere wenn man mit Kindern, Jugendlichen oder Studierenden philosophiert, stellt sich häufig heraus, dass diese Gruppen Dilemmata lieben und oft stundenlang darüber diskutieren können. Linus. Genau. Und deshalb sollen hier einige ausgewählte Dilemmata dargestellt werden. Dilemmata sind ja im Grunde Vergleiche, Abwägungen, ob man diese oder jene Lösung wählt, ob man diese oder jene Entscheidung trifft. Tugendhat, Lopez und Vicuna1 haben mit Schülern und Schülerinnen der Sekundarstufe 1 (12- bis 16-Jährige) in Chile ethische Diskussionen geführt. Das Thema lautete: Wie sollen wir handeln? So oder so? Die folgenden Themen haben diese Schüler:innen besonders interessiert. Dabei ist anzumerken, dass es bei uns die exakt gleichen Themen sind, die Schüler:innen interessieren. Dieses Urteil erlaube ich mir, weil ich in der Lehrerfortbildung seit einigen Jahren Kurse für Lehrkräfte gebe, die Ethik als Fach unterrichten. Man beachte, dass bereits die Fragestellungen auf Vergleiche hinauslaufen: • Was ist das schlimmste Verbrechen? • Schadet jede Art von Diebstahl auf die gleiche Weise? • Darf man anderen Menschen nie ein Leid zufügen? 1
Tugendhat, Ernst; Lopez, Celso; Vicuna, Ana Maria: Wie sollen wir handeln? Schülergespräche über Moral. Verlag Reclam, Stuttgart 2000
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Ethische Dilemmata sind Vergleiche, die nie aufgehen
• Was ist achtenswert? • Darf man andere Menschen täuschen, belügen? • Ist man immer zur Hilfe verpflichtet? • Warum mag ich einige Menschen und andere nicht? • Ist Strafe okay? • Darf ich immer selbst bestimmen? Rahel. Interessant! Dieter. Wie bereits erwähnt, erfreuen sich auch Dilemmata bei Studierenden der Philosophie und Ethik großer Beliebtheit. Hier einige Beispiele:2 Es geht dabei stets um einen Vergleich zweier Möglichkeiten, die gegeneinander abgewogen werden müssen. Dabei gibt es für beide Seiten gewichtige Gründe, die sowohl dafür- als auch dagegensprechen. Die Lösung liegt immer in der Betrachtung des jeweiligen Individuums und stellt im eigentlichen Sinn nie eine Lösung, sondern lediglich eine Entscheidung dar. Dilemmata bringen somit die Frage nach den Vergleichen auf den Punkt, indem man davon ausgehen muss, dass Vergleiche im Wesentlichen Fragestellungen ohne inhärente Antworten sind. Rahel. Da bin ich nun aber gespannt. Dieter. Warts ab, die Beispiele sind hochinteressant: Das Heinz-Dilemma3 Eine Frau war sehr schwer an Krebs erkrankt und drohte zu sterben. Es gab nur ein Medikament, das ihr nach Ansicht der Ärzte und Ärztinnen eventuell helfen könnte. Die Herstellung des Medikaments war sehr kostspielig, aber der Apotheker verlangte zehnmal mehr als die Herstellung kostete. Heinz, der Ehemann der kranken Frau, ging zu jedem, den er kannte, um sich das Geld zu leihen. Aber er bekam nur die Hälfte zusammen. Der Apotheker ließ sich nicht erweichen. Heinz verzweifelte und fing an, darüber nachzudenken, ob er in die Apotheke einbrechen sollte,
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Vgl. Köck, Peter: Handbuch des Ethikunterrichts. Verlag Auer, Donauwörth 2012 (2. Aufl.), S. 227 ff. Das »Heinz-Dilemma« gilt philosophisch als ein Klassiker. Aufgrund seiner vielseitigen Verwendbarkeit wird es in diesem Band auch im Dialog des achten Abschnitts (»Empirische Ethik im Vergleich mit nicht empirischer Ethik«) angeführt.
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um das Medikament für seine Frau zu stehlen. Sollte Heinz das Medikament stehlen oder nicht? Hollys Dilemma Holly ist ein 8-jähriges Mädchen, das gerne auf Bäume klettert. Sie ist die beste Kletterin in der ganzen Nachbarschaft. Ihr Vater hält das Hobby seiner Tochter für zu gefährlich und verlangt, dass Holly ihm verspricht, nicht mehr auf Bäume zu klettern. Holly verspricht es. Eines Tages sitzt das junge Kätzchen ihrer Freundin auf einem Baum und weiß nicht, wie es herunterkommen soll. Holly wäre die Einzige, die in der Lage wäre, das Kätzchen zu retten. Sie erinnert sich aber an das Versprechen, das sie ihrem Vater gegeben hatte. Soll sie trotzdem auf den Baum klettern, um das Kätzchen zu holen? Die Hauptrolle für Lena Lena hat in ihrer Schulklasse für eine Theateraufführung, die vor der ganzen Schule und allen Eltern aufgeführt werden soll, die Hauptrolle zugesprochen bekommen. Eines Tages empfängt ihre Mutter Lena an der Haustür und erklärt ihr, dass sie sofort losfahren müssten, weil ihre Mutter, also Lenas Großmutter, einen Unfall erlitten hat und schwer verletzt im Krankenhaus ist. Lena wäre mehrere Tage weg, weil die Großmutter nicht in der Nähe wohnt. Lena muss sich nun entscheiden, ob sie bei einer Freundin übernachtet und somit ihre Rolle bei der Theateraufführung spielen kann oder ob sie ihre Oma im Krankenhaus besucht. Niemand aus ihrer Klasse ist in der Lage, diese Hauptrolle zu spielen bzw. so kurzfristig all den Text auswendig zu lernen. Bleiben oder fahren, das muss Lena entscheiden. Krebs-Diagnose Frau H. befand sich nach einer erfolglos verlaufenen Krebsoperation in einem lebensbedrohlichen Zustand. Da ihr Tod abzusehen war, meinte die betreuende Krankenpflegekraft, die Familie, die darauf bestand, über den wahren Zustand von Frau H. aufzuklären. Da der Chefarzt dies aber ausdrücklich untersagt hatte, nahm sie schließlich Abstand davon. Nach dem Tod der Patientin machte ihr die Familie große Vorwürfe. Hätte sie den wahren Sachverhalt trotzdem sagen sollen? Dieter. Wenn man sich diese Dilemmata zu Gemüte führt, muss man festhalten, dass nicht alle Dilemmata moralischer Natur sind. Oft geht es eher um Güterabwägungen. Aber Güter können sich qualitativ stark unterschei-
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den. Die Güterabwägungen führen uns wieder zu den Vergleichen zurück, weil diese Güter, auch Werte, miteinander verglichen werden müssen, damit das Individuum zu einer Entscheidung finden kann. Die o. g. Beispiele haben dies ja deutlich aufgezeigt. Linus. Mir ist dabei Folgendes aufgefallen: Es lassen sich hierbei zwei Typen von Abwägungen unterscheiden, nämlich eine monistische, d. h. von einem Einzigen ausgehend, und eine pluralistische, die eben mehrere Verhältnisse zu berücksichtigen versucht.4 »Nach der ersten Auffassung ordnen wir einem ›Gut‹, wenn wir es als sittlich oder moralisch wichtig oder wertvoll beurteilen, ein bestimmtes Quantum an Wert bzw. ›Werthaftigkeit‹ zu, und diese quantitative Messgröße ist für alle ›Güter‹ dieselbe. Vergleichbar ist dies der Bewertung von Waren durch Geld: Trotz ihrer großen Verschiedenheit – als Brot, Hemd, Auto, Flugticket usw. –, sind doch sämtliche Waren hinsichtlich ihres in Geld ausgedrückten Preises vergleichbar«5. Diese monistische Betrachtungsweise wird vornehmlich in juridischen Vergleichen deutlich, wenn z. B. Schmerzensgeld für ein Opfer festgelegt wird oder wenn es um Abfindungssummen geht, weil ein Ausgleich geleistet wird, wofür ein juristisch festgelegter Betrag bezahlt werden muss. Die pluralistische Sicht bestreitet, dass es eine solche über alle Inhalte hinweg geltende Vergleichbarkeit gibt. Güter unterschiedlichster Art können nicht mittels eines Hilfswertes, dies ist ja i. d. R. meist Geld, miteinander abgegolten werden, als ob sie eine Klasse von Gütern wären. Was sie es ja eben nicht sind. Dies wird vor allem dann deutlich, wenn es z. B. um die Verletzung der Würde eines Individuums geht, seien es nun Tiere oder moralische Akteure im Sinne von Personen. Rahel. Ganz schwierig werden solche Vergleiche dann, wenn sie etwa menschliche Stammzellen oder die Frage der Abtreibung von Föten (nicht Embryos!) betreffen, weil sie z. B. eine Behinderung aufweisen, die die werdende Mutter sich psychisch nicht zu verkraften in der Lage sieht. Hier ergibt sich dann die Frage, wie das Leben der werdenden Mutter in ihrem Wert gegenüber dem werdenden, sich noch im intra-uterinen Stadium befindlichen Leben des Fötus verglichen wird. Hier werden den Vergleichen
4 5
Vgl. Fischer; Gruden; Imhof; Strub: Grundkurs Ethik. Grundbegriffe philosophischer und theologischer Ethik. Verlag Kohlhammer, Stuttgart 2008 (2. Aufl.), S. 151 Dies., a. a. O., S. 151
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bzw. den Abwägungen, so vermute ich hier, doch starke Grenzen gesetzt.6 Es ist wohl einsichtig, dass an dieser Stelle eine monistische Auffassung nicht zum Ziel führen kann, weil das Recht eines Fötus, egal ob behindert oder nicht, der bereits lebensfähig ist, nicht quantifiziert werden kann. Dieter. Interessanter Fall, den du, Rahel, da vorbringst. Insofern besteht Einigkeit, dass man hierbei um Güterabwägungen nicht herumkommt. Es braucht Entscheidungen, die nicht metrisch gefunden werden können. Güterabwägungen stehen für Entscheidungen, die Menschen treffen müssen, weil sie durch die normative Kraft des Faktischen gezwungen werden, Entscheidungen in Dilemma-Situationen treffen zu müssen. Es muss in all diesen Fällen das kleinere Übel mit einem größeren abgeglichen werden. Demnach kommt man um Vergleiche doch nicht herum; nur dass die Messgrößen diffus, im Unklaren bleiben. Linus. Hier noch ein komplexes Beispiel. Bekannt geworden ist vor Jahren der Fall eines entführten Jungen. Der Geiselnehmer wurde gefasst und der leitende Kommissar drohte dem Entführer Folter an. Er setzte sie nicht ein, er drohte nur damit, weil er das Leben des Jungen retten wollte. Nach deutschem und auch schweizerischem Strafrecht ist Folter sowie deren Androhung verboten. Der Kommissar wurde am Ende des Falles zu einer geringen Strafe verurteilt, weil er eben doch schuldig war, auch wenn seine Absicht durchaus als völlig integer angesehen und insbesondere von der Öffentlichkeit so bewertet wurde. Daraufhin hat dieser Kommissar seinen Dienst quittiert. Die Androhung der Folter hat, nach juristischem Verständnis, die Menschenwürde des Entführers verletzt und deshalb musste der Kommissar verurteilt werden. Das Dilemma besteht nun darin, wie die Menschenwürde des Entführers im Vergleich zur Rettung des Lebens des Jungen miteinander in einen Vergleich gesetzt werden kann. Eigentlich, so sagt die Intuition, kann dies nicht geschehen. Fakt ist, dass die Umstände einen solchen Abgleich fordern. Meine Frage wäre, wie bereits angedeutet, was wäre das kleinere Übel? Ich vermag es nicht zu entscheiden. Es gälte ja auch, das allgemeine moralische, also gesellschaftlich motivierte Bewusstsein in den Fokus zu nehmen. Das hieße dann, wie kann die Androhung von Folter auch in anderen Fällen gerechtfertigt werden, und lassen sich andere Fälle mit dem hier Geschilderten vergleichen. Es kann ja, vornehmlich aus juristischer Sicht, keine Beurteilung oder Verurteilung für Einzelfälle geben. 6
Vgl. hierzu auch: Bonfranchi, Riccardo: Ethische Handlungsfelder der Heilpädagogik. Verlag Peter Lang, Bern 2011
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Dieter. Gleiches muss gleichbehandelt werden. Justitia ist auch aus diesem Grunde blind. Ist sie aber damit nicht auch behindert? Auf der Basis von Ausnahmesituationen kann kein Recht gesprochen werden. Da mag die Volksseele kochen, wie sie will. Die Folge wäre eine Willkür-Justiz, und das kann wohl überhaupt nicht die Lösung sein. Ethisch betrachtet kann das Verhalten des leitenden Kommissars bei dem o. g. Entführungsfall als gerechtfertigt angesehen werden, weil man sein Verhalten billigen kann. Ob es dann auch rechtens war, steht auf einem anderen Blatt. Noch einmal: Wir kommen mit solchen Ausnahmesituationen an die Grenze von sinnlogischer und sinnvoller Vergleichbarkeit. Rahel. Ein Dilemma kann aber auch ganz anders aufgefasst werden. Nämlich so, dass sich das Dilemma als ein existenzielles Problem darstellt. Als exemplarisches Beispiel möchte ich hier, nur kurz, auf das Leben von Spinoza (1632–1677) hinweisen. Spinoza, als Jude geboren und aufgezogen, war Philosoph und wurde dabei zum Religionskritiker. Allerdings musste er von etwas leben und arbeitete als Optiker und Glasschleifer. Er gehörte, wohl auch aufgrund seiner Religionszugehörigkeit, zum dritten, also einem unteren Stand in der Amsterdamer Gesellschaft. Spinoza stand zwischen den Klassen, verzichtete auf Reichtum, den zu erwerben ihm möglich gewesen wäre. Aufgrund seiner Haltung der Religion und insbesondere Gott gegenüber wurde er von den Rabbinern in Amsterdam verbannt. Er lehnte auch eine Berufung als Professor nach Heidelberg 1673 ab7 und widmete ein Buch nicht Louis dem XIV, was ihm eine Rente eingebracht hätte. Dies sind nur einige wenige Beispiele aus seinem Leben, die aber m. E. aufzeigen, wie ein Mensch, der intellektuell an der Spitze seiner Zeit stand, sich immer wieder in einem persönlichen Zwiespalt befand und abwog, was für ihn nun das Richtige oder eben auch das Falsche war. Er stand zeitlebens in der Lösung von Vergleichen. Linus. Ein anderer Philosoph, der einige Jahre später lebte, stellt für mich ebenfalls in seinem Dasein das Bild eines Menschen dar, der zeitlebens mit großen inneren Spannungen zu leben hatte. Ich denke hierbei an Michel Foucault (1926–1984), der sich immer im Zwiespalt befand, der sich zwischen den verschiedenen Ausprägungen eines humanistischen Weltbilds abspielte. Auf den Humanismus berufen sich heute ja weitestgehend alle Gruppierungen, u. a. die Kirche, auch der Sozialismus gründete darauf, 7
Vries de, Theun: Baruch de Spinoza. Rowolt Taschenbuch Verlag, rm 171, Reinbek bei Hamburg 1970
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ebenso die soziale Marktwirtschaft. Aber in all diesen historischen Entwicklungen geschah Unrecht und es wurden Verbrechen begangen. Man denke »nur an die Würde des zivilisierten, christlichen Menschen, die es just zu Beginn der Neuzeit gegen die ›wilden‹ Untermenschen, die ›Indianer‹ oder ›Kannibalen‹ zu verteidigen galt … Für Foucault war der ›Mensch‹ das gespaltene Wesen eines unterworfenen Souveräns, dessen philosophische Agonie er als ›transzendenten Narzissmus‹ bezeichnete«8. Dieter. Betrachten wir die o. g. Dilemma-Situationen von Spinoza, Foucault und dem Kommissar als exemplarische Beispiele noch einmal. Das Dilemma besteht darin, zu fragen, inwieweit diese Personen jeweils selbstbestimmt geschrieben und gehandelt haben oder inwieweit sie in ihrem Tun und ihrem Lassen determiniert waren. Eine im Grunde uralte Frage, ich weiß. Nun könnte man sagen, dass diese beiden kognitiven Elemente in sich unvereinbar sind. Die harten Vertreter:innen des Determinismus gehen dabei davon aus, dass der freie, selbstbestimmte Wille im Grunde eine Illusion ist. Die Libertarier:innen hingegen gehen davon aus, »dass unsere Alltagserfahrung als frei handelnde Menschen so evident und damit unbezweifelbar ist, dass gerade die andere Prämisse aufgegeben werden sollte – die Welt kann nicht deterministisch sein«9. Rahel. Wir benötigen – wieder einmal – den Ausgleich. Hier ist er: Die Vertreter:innen des Kompatibilismus wiederum haben kein Problem damit, dass Selbstbestimmung, freier Wille und Determination zusammengehen können. Voraussetzung hierfür ist, dass der Mensch jeweils in der Lage ist, seine Anfangs- und Randbedingungen einschätzen zu können. Dieter. Schon klar, aber gerade dies hat Hume10 in Zweifel gezogen. Hume war der Meinung, dass wir sehr wohl davon ausgehen können, dass es unser Wille ist, der uns die Befehle für Tun und Unterlassen gibt, dass wir aber nicht davon ausgehen können, dass wir die Mittel, die Energie, die hierfür notwendig sind, exakt bestimmen können. Er setzt noch hinzu, dass es eventuell nie möglich sein wird, diese hinter dem Willen stehenden Aktivitätspotenziale zu entschlüsseln. 8
Fink-Eitel, Hinrich: Foucault zur Einführung. Verlag Junius, Hamburg 1992 (2. Aufl.), S. 123 9 Newen, Albert: Philosophie des Geistes. Eine Einführung. Verlag C. H. Beck, München 2013, S. 116 10 Hume, David: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Verlag Reclam, Stuttgart 1967
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Linus. Der heutige wissenschaftliche Kompatibilismus ist davon überzeugt, dass die Forschung auch dieses Rätsel zu lösen imstande sein wird, »welches die natürlichen Grundlagen einer freien Alltagsentscheidung sind«11. In seinem Fazit kommt Newen12 zum Schluss, und dem kann ich mich anschließen, dass eine Person jeweils über handlungsleitende Vorstellungen verfügt. Dies kann auch ohne eine Sprachkompetenz erfolgen. Es handelt sich hierbei folglich um einen Informationsverarbeitungsprozess, der nicht an Sprache gebunden ist und auch vorbewusst ablaufen kann. Der Mensch weiß demnach, dass er Urheber seines Verhaltens ist, und kann sein Handeln und Denken danach ausrichten. Deshalb ist der Mensch auch in der Lage, die bestimmenden Faktoren, die ihn eventuell daran hindern könn(t)en, sich in dieser oder jener Weise zu verhalten, zu erkennen und zu gewichten. Dies wären dann determinierende Faktoren. Aber gerade eine hoch entwickelte Kompetenz zur Selbstbestimmung, wie wir sie bei den hier von mir wahllos ausgewählten Individuen (Spinoza, Foucault und Kommissar) vorfinden, zeigt, dass gerade starke determinierende Faktoren diese Personen nicht davon abhielten, sich frei zu entscheiden. Aber mit Horster13 ist zu bilanzieren, dass ein moralisches Dilemma immer mit einer Verletzung oder einer Nichterfüllung einer ethischen Pflicht einhergeht. Es kann nicht vermieden werden. Rahel. Erweitern wir noch etwas unseren Horizont. In diesem hier thematisierten Zusammenhang ist das Gefangenendilemma sehr interessant.14 Ein Staatsanwalt hält zwei Männer in Untersuchungshaft. Die ihm vorliegenden Indizien reichen nicht aus, die beiden Täter vor Gericht zu stellen. Er braucht hierzu das Geständnis mindestens eines der beiden Täter. Wenn sie beide leugnen, bringt er sie wegen illegalen Waffenbesitzes vor Gericht. Sie würden dann beide zu je sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Gestehen beide die Tat des Raubes, so werde er dafür sorgen, dass sie nur das Mindestmaß für Raub, nämlich je zwei Jahre Gefängnis bekommen würden. Wenn nur einer die Tat gestehe und der andere weiterhin leugne, dann ginge der erste in seiner Funktion als Kronzeuge straffrei aus, während der andere das Höchstmaß an Strafe, d. h. zwanzig Jahre Gefängnis, erhalten würde. Die beiden Gefangenen haben keine Möglichkeit, einander abzusprechen. 11 12 13 14
Newen, a. a. O., S. 117 Ders., a. a. O., S. 124 ff. Horster, Detlef: Ethik. Verlag Reclam, Stuttgart 2009, S. 138 Vgl. Rotter, Kristin; Wulfius, Katharina: Lust am Denken. Verlag Piper, München 2011; Watzlawick, Paul et al.: Menschliche Kommunikation: Formen, Störungen, Paradoxien, S. 249 ff.
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Jeder muss für sich allein entscheiden bzw. die Optionen miteinander vergleichen. »Da ein halbes Jahr Gefängnis bei weitem zwei, geschweige denn zwanzig Jahren vorzuziehen ist, schneiden beide am besten ab, wenn sie die Tat leugnen«15. Aber, allein in der Zelle, schleichen sich Zweifel ein. Was ist, wenn der andere die Situation ausnutzt und die Tat gesteht. Er würde dann freigelassen und ich erhielte zwanzig Jahre Knast. Ich bin also besser dran, wenn ich gestehe, denn wenn er nicht gesteht, bin ich derjenige, der freigelassen wird. »Wenn ich aber gestehe, so enttäusche ich nicht nur sein Vertrauen, dass ich vertrauenswürdig genug bin, um die für uns beide vorteilhafteste Entscheidung zu treffen, nämlich nicht zu gestehen und mit sechs Monaten davonzukommen, sondern ich laufe Gefahr, dass ich, wenn er genauso egoistisch ist wie ich selbst und daher aus der gleichen Überlegung heraus gesteht, zu zwei Jahren verurteilt werde, was viel schlimmer wäre als die sechs Monate, die wir beide bekämen, wenn wir leugneten.«16 Dieter. Es gibt keine Lösung für dieses Dilemma, weil es immer von der Vertrauenswürdigkeit des Komplizen abhängt, wofür ich mich entscheide. Wenngleich sie sich vorgängig absprechen könnten, wäre die Frage des Vertrauens evident, weil keiner die Sicherheit hätte, dass der andere vor Gericht dann auch zu der Abmachung stehen würde. Watzlawick rechnet dann in seinen weiteren Erörterungen das Gefangenendilemma hoch und vergleicht es mit den Verhandlungen, die beim Abbau von Nuklearwaffen geführt werden (müssen). Auch diese Verhandlungen drehen sich ja nur allzu oft im Kreis, und wenn man sie mit dem Gefangenendilemma gleichsetzt, versteht man auch warum. Auch dabei geht es letztlich darum, wie viel Vertrauen die Nationen aufzubringen in der Lage sind. Linus. Susanne Boshammer, um hier nach dem fiktiven Gefangenendilemma in die Praxis zurückzufinden, stellt einen konkreten, moralischen Streitfall vor, der sich 1977 anlässlich der Entführung des damaligen Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer in Köln zugetragen hat. Es ging damals darum, dass die damalige Bundesregierung sich weigerte, den Forderungen der Entführer:innen der RAF (Roten Armee Fraktion) nachzugeben. Ihre Argumentation war, dass sich ein Rechtsstaat nie Forderungen von Entführenden beugen darf. Die Forderung der RAF bestand darin, dass bereits in Haft genommene Terroristen und Terroristinnen freigepresst werden sollten. 43 Tage nach seiner Entführung wurde H. M. Schleyer von 15 Dies., a. a. O., S. 72 16 Vgl. dies., a. a. O., S. 72
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den Entführenden erschossen. In der Aufarbeitung gelangt Boshammer zu den folgenden Feststellungen: »Gibt es für jeden moralischen Konflikt eine Lösung oder kann es sein, dass wir manchmal dazu gezwungen sind, etwas moralisch Falsches zu tun, egal, wie wir uns verhalten? Hat die Frage, was zu tun das Richtige ist, immer eine Antwort, und wie kann uns die Ethik gegebenenfalls dabei helfen, sie zu finden?«17 In der Folge dieses Ereignisses wandte sich der Staat in der Person des damaligen Bundespräsidenten Walter Scheel an die Hinterbliebenen und bekannte sich zur Schuld und bat um Vergebung. Da ergibt sich natürlich sofort die Frage, ob nicht derjenige, der um Vergebung bittet, sich schuldig gemacht hat. Am Leben von H. M. Schleyer hat sich der Staat, so meine Meinung hier, schuldig gemacht. Er wurde geopfert, damit der Staat in seiner Gesamtheit nicht endlos erpressbar ist. Es wurden hier also zwei Güter gegeneinander abgewogen. Zum einen das Leben eines Individuums und zum anderen das Recht eines Staates auf eine gewisse Unversehrtheit, die er aufgegeben hätte, wenn bereits inhaftierte Terroristen und Terroristinnen freigekommen wären. Zumal diese ja auch in der Vergangenheit bereits Menschen umgebracht hatten. Tatsache ist, dass eine Entscheidung gefällt werden musste, und dies wurde auch getan. Egal, wie sich die damalige Bundesregierung entschieden hat, auf irgendeine Art und Weise macht sie sich immer schuldig. Dies stellt m. E. das Dilemma dar. Noch einmal Boshammer: »In manchen Konflikten bedeutet darum offenbar schon die Tatsache der Abwägung und nicht erst ihr Ergebnis respektive dessen Folgen eine schwere Schuld. Und weil das so ist, weil manche Pflichten nicht gegeneinander abgewogen werden dürfen, sind die entsprechenden Pflichtenkonflikte auch nicht mittels Pflichtengewichtung lösbar. Der Weg zur Lösung des moralischen Konflikts ist, mit anderen Worten, seinerseits aus moralischen Gründen versperrt«18. Im Beispiel von H. M. Schleyer kann eben das individuelle Leid der Person (und seiner Familie) nicht mit dem Wohl eines Rechtsstaats verglichen werden. Das geht einfach nicht und stellt damit ein unlösbares Problem dar, das auch keinen Vergleich ermöglicht. Rahel. Wir stellen bereits an dieser Stelle fest, dass es für Dilemma-Situationen keine einheitlichen Wertmaßstäbe gibt. Fröhlich spricht denn auch 17 Boshammer, Susanne: Von schmutzigen Händen und reinen Gewissen – Konflikte und Dilemmata als Problem der Ethik. In: Ach, Johann S.; Bayertz, Kurt; Siep, Ludwig (Hrsg.): Grundkurs Ethik. Band 1: Grundlagen. Verlag mentis, Paderborn 2011 (2. Aufl.), S. 143 ff. 18 Dies., a. a. O., S. 158
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folgerichtig von Inkommensurabilität von Werten.19 Kompromisslösungen sind dabei unausweichlich. Es ist Sellmaier20, der eine Reihe von Vorschlägen ausgearbeitet hat, wie man mit Dilemmata umgehen kann. Er unterscheidet: Kontingenz, Vagheit und Gewichtung, Inkommensurabilität und Unvergleichbarkeit, Uneindeutigkeit sowie die Ahnungslosigkeit. Bei kontingenten Dilemmata ist eine Entscheidung gar nicht möglich. Sellmaier schlägt hier einen Losentscheid vor, auch eine Reihung ist denkbar, d. h. Entscheide werden in einer bestimmten Reihenfolge abgearbeitet. Bei Dilemmata, die in sich vage und uneindeutig sind, weist Sellmaier darauf hin, dass man eine »minimal andere Gewichtung für die Bewertung einer konkreten Situation«21 vornimmt. Auch bei der Unvergleichbarkeit von Dilemmata trifft man häufig unscharfe Grenzziehungen an. »Es gibt mehrere, zwar untereinander abstufbare Handlungsalternativen, die aber im Vergleich mit den anderen, ebenfalls möglichen Handlungsalternativen des moralischen Entscheidungsproblemes alle als gleichwertig erscheinen und die aus moralischer Sicht ausschlaggebenden moralischen Forderungen entsprechen«22. Bei der Uneindeutigkeit hilft z. B. ein Losentscheid nicht weiter. Hier müssen weiterführende Überlegungen herangezogen werden, um aus dieser Situation herauszufinden. Bei der Ahnungslosigkeit geht es um das Nichtwissen. Dies muss nicht immer als negativ empfunden werden. So kann es etwa bei der Pränatalen Diagnostik durchaus Sinn machen, dass man auf sein Recht des Nichtwissens pocht, damit man bei einem positiven Bescheid, z. B. einem diagnostizierten intra-uterinen Embryo mit Down-Syndrom, von der Entscheidung, eine Abtreibung vornehmen zu wollen oder zu müssen, Abstand gewinnen könnte, was ja beim Wissen wiederum zu einem weiteren Dilemma führen würde. Linus. Eine Reihe von Dilemma-Situationen finden sich in dem Buch von Edmonds. Sie sind als Trolley-Experimente in die Geschichte von Ethik und Moral eingegangen. Es geht hierbei stets um eine Straßenbahn. Betrachten wir der Anschaulichkeit halber die zehnte Dilemma-Situation: »Sie stehen neben einem Gleis und sehen, wie ein außer Kontrolle geratener Zug auf Sie zurast: Offenkundig haben die Bremsen versagt. Weiter vorne liegen fünf an das Gleis gefesselte Personen. Falls Sie nichts tun, werden die fünf über19 Vgl. Fröhlich, Günter: Theorie der Ethischen Beratung im klinischen Kontext. Philosophische Grundlegung eines anwendungsbezogenen Modells zur Falldiskussion und Lösung wertbasierter Konflikte. Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2014, S. 52 20 Sellmaier, Stephan: Ethik der Konflikte. Verlag Kohlhammer, Stuttgart 2008, S. 125 ff. 21 Ders., a. a. O., S. 132 22 Ders., a. a. O., S. 134
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fahren und getötet. Glücklicherweise stehen Sie neben einer Signalweiche: Falls Sie diese Weiche umlegen, wird der außer Kontrolle geratene Zug auf ein Nebengleis direkt vor Ihnen gelenkt. Leider hat die Sache einen Haken: Auf dem Nebengleis entdecken Sie eine an das Gleis gefesselte Person: Ändern Sie die Richtung, führt das zwangsläufig dazu, dass diese Person getötet wird. Was sollten Sie tun?«23 Diese Situation sind jeweils so aussichtslos zu lösen, dass man nur froh darüber sein kann, dass sie so realitätsfern sind, sodass man kaum Angst haben muss, je in seinem Leben in eine solche Situation zu gelangen. Dieter. Nun ist aber Foot der Meinung, dass eine solche unauflösbare Dilemma-Situation nicht dazu verleiten darf, zu sagen, dass der betreffende Mensch nicht gut wäre. Sie meinte: »Wenn wir deshalb ›Wie du auch handelst, du handelst falsch‹ als eine einleuchtende Möglichkeit akzeptieren und dennoch diese negative Beziehung zwischen dem Falschhandeln und dem Gutsein von Personen aufrechterhalten wollen, dann müssen wir letzteren Begriff neu fassen und das Gutsein gegenüber der ›Befleckung‹ durch die Verwicklung in eine furchtbare, erniedrigende oder tragische Situation oder gegenüber dem Hass der Götter anfällig machen; und außerdem sagen, dass eine Entscheidung, die dergleichen Schlechtes umfasst, ›falsch‹ ist«24. Rahel. Ja, ziemlich schwierig, wenn man sich auf diese Thematik einlässt. Dieter. Das kannst du laut sagen. Zum Schluss noch eine kleine Ergänzung. Widersprüche stecken auch in Paradoxien. Sie sind aber mit Dilemmata nicht zu verwechseln. Ein Paradox ist dadurch gekennzeichnet, dass mehrere widersprüchliche Aussagen, von denen jede wahr erscheint, in einen Zusammenhang gebracht werden. Scheinbar logische Gedankengänge führen zu widersprüchlichen Schlussfolgerungen. »… eine unannehmbare Konklusion, die sich aus scheinbar wahren Prämissen und scheinbar gültiger Argumentation ableitet«25.
23 Edmonds, David: Würden sie den dicken Mann töten? Das Trolley-Problem und was uns ihre Antwort über Richtig und Falsch verrät. Verlag Reclam, Stuttgart 2015 24 Foot, Philippa: Kapitel: Moralische Dilemmata in neuer Betrachtung. In: Die Wirklichkeit des Guten. Moralphilosophische Aufsätze. Verlag Fischer, Frankfurt/M. 1997, S. 197 ff. 25 Cuonzo, Margaret: Paradoxien. University Press im Verlagshaus Römerweg, Wiesbaden 2015, S. 244
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Linus. Kenne ich. Bekannt ist auch das Weinberg-Paradoxon, in dem ein Gutsbesitzer denjenigen Arbeitern, die zu später oder sogar erst eine Stunde vor Feierabend zur Arbeit erscheinen, den genau gleichen Lohn zahlt, wie denjenigen, die bereits seit dem frühen Morgen geschuftet haben.26 Hofmann macht darauf aufmerksam, dass es Verhaltensweisen geben kann, die man nicht durch Normen oder Gesetze regeln kann. Rahel. Ein Paradox, das häufig angeführt wird, ist das Lügner-Paradox: »Was ich jetzt sage, ist falsch.« »Das Problem ist, dass, wenn er die Wahrheit sagt, er wahrerweise sagt, das, was er sagt, sei falsch. Also sagt er nicht die Wahrheit. Wenn er aber nicht die Wahrheit sagt, dann – da er ja eben gerade angibt, genau das zu tun – muss er die Wahrheit sagen. Also, wenn das, was er sagt, falsch ist, ist es wahr, und wenn es wahr ist, dann ist es falsch.«27 Es gab ja auch eine Zeit, da haben Philosophen und Philosophinnen Paradoxien abgelehnt. Mary Midgley führt da Wittgenstein, Moore, Russell, Ayer, Austin und Hare an.28 Sie führt weiter aus, dass diese Ablehnung der Paradoxien die »Anziehungskraft von ›paradoxen Schriftstellern‹ wie Blake, Nietzsche und Kierkegaard nur noch verstärkt«29 hat. Dieter. Warum habe ich hier Paradoxien erwähnt? Einfach deshalb, weil man sie NICHT vergleichen kann. Sie sind so, wie sie sind, und anders können sie nicht sein, denn wären sie anders, wären es keine Paradoxien mehr.30 Linus. Ich glaube, ich habe einen Knoten im Hirn. Rahel. Das ist eine Allegorie. Dieter. Oh, nicht doch.
26 Vgl. Hofmann, Georg Rainer: Das Weinberg-Paradoxon. Kann es gutes Fehlverhalten geben? Ein Essay über nicht-normative Ethik. Verlag Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2019 27 Sainsbury, R. M.: Paradoxien. Verlag Reclam Sachbuch, Stuttgart 2010 (4. Aufl.), S. 11 28 Vgl. Cumhaill, Clare Mac; Wiseman, Rachael: The Quartett. Wie vier Frauen die Philosophie zurück ins Leben brachten. Verlag C. H. Beck, München 2022, S. 360. 29 Dies., a. a. O., S. 360 30 Eine Reihe von interessanten Beispielen finden sich in dem Buch von: Zoglauer, Thomas: Ethische Konflikte zwischen Leben und Tod. Über entführte Flugzeuge und selbstfahrende Autos. Verlag Siegfried Reusch e. K., Hannover 2017
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Monotheismus – Polytheismus: ein gottloser Vergleich
»Fragt man, wem ein solcher Mensch zu vergleichen sei, der gottlose Reden führet, da es doch angenehme Worte genug gibt, die er reden könnte, so antworte ich: Einem Menschen, der nur unreife saure Früchte ißt, obwohl es ihm gleich an guten und reifen Früchten nicht fehlet.«1 (Tiruvalluvar, um 200 v. Chr., tamilischer Dichter, schuf den Tirukkural (Kural), der zu den bedeutendsten Werken der tamilischen Literatur gehört) Thordis: weiblich, aus dem Schwedischen übernommener Vorname. Abgeleitet vom germanischen Gott Thor. Joel: männlich, bezieht sich auf die hebräischen Wörter »jahwe«, dem hebräischen Gottesname, und auf »el«, was »Gott« bedeutet. Miloslaw: männlich, aus dem Russischen abgeleiteter Vorname. »Milyi« = lieb, angenehm und »slava« = Ruhm. Miloslaw. Über den Beginn der Religionen kann ich hier nicht reden, weil dies ein eigenes Buch werden würde. Außerdem sind die Veröffentlichungen von Hans Peter Duerr so umfangreich, dass es wohl hieße, Eulen nach Athen zu tragen oder Wasser in den Rhein zu gießen.2 Thordis. Na, so einfach kann man es sich aber nicht machen. Sloterdijk hat ja dazu doch auch noch einiges dazu zu sagen und bezieht sich selbst auf Berson, nämlich: »Religionen, wo immer man ihren Riten, ihren Mythen, ihren Doktrinen, ihren Schriften, ihren Institutionen und ihrem Personal begegnet, seien als Produkte lokaler Einbildungskräfte zu verstehen. Eine Fabel begreift die andere. Henri Bergson nannte sie die Werke eines natürlichen ›fabulatorischen Vermögens‹: Wo so gedacht wird, erscheint die Neigung zur Religionserzeugung als eine Naturfarbe im Spektrum der Menschenkunde. Demnach wären Kathedralen Fabeln in einem härteren 1 2
Aus: Des Tiruvalluvar Gedichte und Denksprüche, aus dem Tamulischen übersetzt von August Friedrich Cämmerer, 1803 Vgl. Duerr, Hans Peter: Diesseits von Eden. Über den Ursprung der Religion. Insel Verlag, Berlin 2020 (2. Aufl.); hierzu auch: Gehlen, Arnold: Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen. Aula-Verlag, Wiesbaden 1986 (5. Aufl.), insbesondere S. 250 ff.
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Material; Priester wären Schauspieler, die von ihren Rollen absorbiert werden, die Märtyrer Zauberlehrlinge, die von ihren Reisen ins Jenseits nicht zurückkehren, und die Theologen Dramaturgen, die sich mit der Grammatik der Fabeln befassen.«3 Joel. So kommen war hier aber nicht weiter. Trotz dieser Komplexität, was nun Religion im Einzelnen bedeutet, verweise ich auf typische Merkmale von Religion, wie sie der Rechtsphilosoph Hoerster4 aufgelistet hat: 1. Der Glaube an übernatürliche Wesen und ihr Wirken. 2. Der Glaube an einen Sinn. 3. Die Anerkennung moralischer Normen als Gebote übernatürlicher Wesen. 4. Die Orientierung des persönlichen Lebens am Sinn des Weltverlaufs. 5. Emotionale Kontakte zu den übernatürlichen Wesen oder zum Sinn des Weltverlaufs. 6. In einer sozialen Gruppe verankerte Riten. Thordis. Miloslaw, der Bremser. Super, wirklich. Aber sieh es doch auch mal etwas lockerer. Auch im Bereich der Religionen finden wir wiederum Gegensatzpaare, die sich einem ständigen, vielleicht sogar Jahrtausende langen Vergleich ausgesetzt sehen. Bei der Erörterung dieses Paares beziehe ich mich überwiegend auf das Buch von David Hume: Die Naturgeschichte der Religion.5 Zwei Fragen sind für ihn von besonderer Bedeutung: 1. Die Frage, wie viel Vernunft steckt in der jeweiligen Religion? Und 2. stellt sich für Hume die Frage, inwieweit Religion in der Natur, dem anthropologischen Fundament des Menschen angelegt ist. Für Hume, dies bereits als Antwort, ist klar, dass Religion weder einen rationalen Ursprung hat, noch dass sie als etwas Urwüchsiges, wie die Affekte, dem Menschen zugeordnet werden kann. Religion ist demnach für Hume ein zweitrangiges Phänomen und damit setzte er sich natürlich gegen viele Vertreter von Religionen, die diese als ein dem Menschen genuines Phänomen betrachtet wissen wollten.
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Verweis in Sloterdijk, Peter: Den Himmel zum Sprechen bringen. Über Theopoesie. Verlag suhrkamp, Berlin 2020, S. 68, auf Bergson, Henri: Die beiden Quellen der Moral und Religion. Hamburg 2018. Hoerster, Norbert: Sind religiöser Glaube und Wissen vereinbar? In: Ders.: Was können wir wissen? Philosophische Grundfragen. Verlag C. H. Beck, München 2010, S. 97 ff. Hume, David: Die Naturgeschichte der Religion. Verlag Felix Meiner, Hamburg 1984
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Aber darum soll es hier im Weiteren nicht gehen und ich möchte mich dem Phänomen widmen, wie es hier in der Kapitelüberschrift bezeichnet wurde.6 Miloslaw. War ja nur ein Späßchen. Wohl voll hereingefallen, Thordis. Hihi. Thordis. Sehr witzig, wirklich, ausgesprochen witzig. Aber unverdrossen mache ich weiter. Hume stellt fest, dass der Polytheismus sehr empfänglich für vielerlei Spielarten des Spirituellen ist. Das ist seine Stärke, weil er damit »die Macht und Aufgaben seiner Gottheiten beschränkt und dadurch die Götter anderer Sekten und Völker natürlicherweise an der Göttlichkeit teilhaben lässt sowie all die verschiedenen Gottheiten wie auch die Riten, Zeremonien oder Traditionen in Einklang bringt«7. Joel. Auch ich kenne meinen Hume. Der Theismus sieht das bekanntlich völlig anders. Hier wird von einer einzigen Gottheit ausgegangen und diese ist dann von vollkommener Vernunft und Güte. Wenn diese Religion richtig befolgt wird, kann alles Nichtige, Unvernünftige und Unmenschliche von und mittels der religiösen Verehrung ausgeschlossen werden. Aber nicht ohne einen gewissen Sarkasmus, den ich hier Hume unterstelle oder zwischen seinen Zeilen zu lesen glaube, meint Hume, dass diese letztgenannten Vorteile des Theismus schon auch etwas durch die Laster und Vorurteile der Menschen eingeschränkt werden. Aber sie überwiegen nicht, denn das würde die monotheistische Religion nicht verkraften. Auch wird die Anbetung anderer Götter als gottlos erklärt und so können Menschen, die von ihrem alleinigen Gott überzeugt sind, ihre Gegner als »Religionsschänder«8 anprangern und auch dementsprechend behandeln. Feindschaft ist in einer solchen Konstellation nicht ohne Logik und deshalb zwangsweise gegeben. Hume verweist in diesem Zusammenhang auf die Römer, die »gewöhnlich die Götter des eroberten Volkes«9 annahmen. Das Fazit von Hume fällt eindeutig aus: Monotheistische Religionen sind intolerant. Hume: »Ich darf wohl die Behauptung wagen, dass wenige Entartungen des Götzendienstes und Polytheismus verderblicher für die Gesellschaft sind als die auf die 6
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Auf die protestantische Ethik und ihre kulturell-ökonomische Bedeutung werde ich nicht näher eingehen. Vgl. hierzu: Winckelmann, Johannes: Max Weber. Die protestantische Ethik I. Eine Aufsatzsammlung. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1991 (8. Aufl.). Auch: Kaesler, Dirk: Max Weber. Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung. Verlag Campus, Frankfurt/M. 1998 (2. Aufl.) Hume, a. a. O., 1984, S. 36 Ders., a. a. O., S. 37 Ders., a. a. O., S. 37
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Spitze getriebene Entartung des Theismus«10. Das sind interessante Gedanken, die heute, da die Religionen in den westlichen Industriestaaten nicht mehr diese Rolle spielen, wie noch zu Humes Zeiten, nicht mehr diese Relevanz besitzen. Thordis. Im Weiteren führt Hume dann aus, dass der Theismus die Anlage besitzt, seine Gläubigen zu tiefster Unterwürfigkeit und Erniedrigung »herabzudrücken«11. Er verweist auf die Mönchstugenden wie Kasteiung, Busse, Demut und geduldiges Leiden als die einzigen dem monotheistischen Gott gefälligen Eigenschaften. Anders im Polytheismus, bei dem die Götter durchaus Mut, Großherzigkeit, Freiheitsliebe anerkennen und loben. Ich kann euch hier noch ein Buch empfehlen, in dem dargestellt wird, wie es vom Polytheismus zum Monotheismus gekommen ist und wie dies eine Gefahr darstellt, in dem Sinne, dass der Monotheismus fundamentalistische Position entstehen lässt oder diese sogar verstärkt. Aber vielleicht führt das nun zu weit.12 Joel. Ja, führt es. Können wir bei Hume bleiben? Das ist ja gerade das Problem, wenn man über Religionen philosophiert, dass da hunderttausend Ansichten und Theorien ins Feld geführt werden und dann knallt und scheppert es nur noch. Miloslaw. Das gefällt mir. Bleiben wir doch bei dem, was wir bereits erarbeitet haben. Thordis. Glaube ich gern. Abschließend plädiert Hume dafür, dass man aus unserer (europäischen) Sicht keine polytheistischen Sichtweisen ablehnen sollte. Auch in diesen Religionen ist, so seine Meinung, ein Zweck, eine Absicht, ein Plan unverkennbar.13 Letztlich ist Hume aber der Meinung, dass es keine eindeutige Entscheidung geben kann, welcher dieser hier genannten Auffassungen der Vorzug zu geben ist. »Das Ganze ist ein Rätsel, ein Änigma, ein unerklärliches Geheimnis. Zweifel, Ungewissheit und Unentschiedenheit des Urteils scheinen das einzige Ergebnis unserer sorgfältigsten Untersuchung in dieser Angelegenheit zu sein«14. Es bleibt, so Hume und 10 Ders., a. a. O., S. 39 11 Ders., a. a. O., S. 40 12 Vgl. Odermatt, Martin: Der Fundamentalismus. Ein Gott – eine Wahrheit – eine Moral? Psychologische Reflexionen. Verlag Benziger, Zürich 1991 13 Vgl. Hume, a. a. O., 1984, S. 69 14 Ders., a. a. O., S. 71
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ich schließe mich ihm an, dass die Gegenüberstellung von Mono- und Polytheismus zu Aberglauben und Streit führen kann und sie immer wieder gegeneinander »wüten und toben«15 und es deshalb sinnvoller ist, »in das ruhige, wenn auch dunkle Gebiet der Philosophie zu entfliehen«16. Dies hinterlässt einem in einem glücklicheren Zustand. Miloslaw. Kluger Bursch, dieser Hume, muss ich schon sagen. Thordis. Sonst hätte ich ihn ja nicht gelesen. Joel. Sehe ich genauso. Miloslaw. Now it’s my turn. Joel & Thordis. Wir sind gespannt. Miloslaw. Anders, aber auch sehr kritisch, hat sich Nietzsche zum Vergleich des Aberglaubens mit der Religion geäußert. Er schreibt: »Aberglaube ist nämlich die Freigeisterei zweiten Ranges – wer sich ihm ergibt, wählt gewisse ihm zusagende Formen und Formeln aus und erlaubt sich ein Recht der Wahl. Der Abergläubische ist, im Vergleich mit dem Religiösen, immer viel mehr ›Person‹, als dieser, und eine abergläubische Gesellschaft wird eine solche sein, in der es schon viele Individuen und Lust am Individuellen gibt. Von diesem Standpunkt aus gesehen, erscheint der Aberglaube immer als ein Fortschritt gegen den Glauben und als Zeichen dafür, dass der Intellekt unabhängiger wird und sein Recht haben will. Über Korruption klagen dann die Verehrer der alten Religion und Religiosität, – sie haben bisher auch den Sprachgebrauch bestimmt und dem Aberglauben eine üble Nachrede selbst bei den freiesten Geistern gemacht. Lernen wir, dass er ein Symptom der Aufklärung ist«17. Joel. Gewagte Worte, in der Tat. Den Aberglauben so hochzuhängen. Also ich weiß nicht … Thordis. Aber zweifellos originell. Aber ich erlaube mir, noch einmal Sloterdijk aufzutischen. 15 Ders., a. a. O., S. 71 16 Ders., a. a. O., S. 71 17 Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft. Verlag Nikol, Hamburg 2021
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Miloslaw. Können wir nicht bei Nietzsche bleiben? Thordis. Ja, später. Sloterdijk beruft sich häufig auf deinen Liebling. Also halte Nietzsche noch etwas hin. Sloterdijk beruft sich nun auf den schweizerischen Theologen Karl Barth: »In seinen Augen sind Religionen Machenschaften von Menschen im Interesse ihrer Selbstsicherung und Selbstüberhebung, schlimmer: ihrer Selbstvergottung. Sie erweisen sich in der Regel als Fabrikationen zur Stützung politischer Gewalten und organisierter Verbrechen.«18 Joel. Starker Tobak, der da angezündet wird. Aber ich denke, dass jetzt Miloslaw am Zuge ist. Miloslaw. Merci, Joel. Natürlich geht es Nietzsche dabei um eine Befreiung von der bevormundenden Religion. Aber in der heutigen Zeit, die ja stark auf der Wissenschaft aufbaut, könnte es sein, dass der Aberglaube die Funktion früherer Religionen übernommen hat und deshalb als rückständig gelten muss. Aber der Vergleich ist m. E. interessant und demonstriert, wie ein Denkgebäude ein anderes ablösen kann. Joel. Ich möchte hier noch Folgendes anfügen: Bezüglich einer Textstelle, in der Kant zu dem Gegensatzpaar Poly- bzw. Monotheismus Stellung bezieht, kann ich mich nicht äußern, weil ich keine gefunden habe. Trotzdem finde ich bemerkenswert, was Kant zur Frage nach dem einen Gott aussagt. Für Kant ist Gott keine Frage des Wissens oder einer Theorie, sondern vielmehr eine des »praktisch-vernünftigen Hoffens«19. Er stützt sich auf eine seiner zentralen vier Fragen: Was darf ich hoffen? Der daraus abgeleitete Glaube ist aber kein auf Doktrinen aufgebauter, sondern es ist ein moralischer. Thordis. Nun wird es etwas länger. Also spitzt die Ohren und gut aufgepasst, Männer. In der Ringparabel von Gotthold Ephraim Lessing findet man einen, wie ich meine, klassischen Vergleich zwischen den drei monotheistischen Religionen. Sie sei deshalb hier auch in ihrer ganzen Länge aufgeführt.20 18 Sloterdijk, Peter: Den Himmel zum Sprechen bringen. Über Theopoesie. Verlag suhrkamp, Berlin 2020, S. 114 19 Berger, Larissa; Schmidt, Elke Elisabeth (Hrsg.): Kleines Kant-Lexikon. Verlag Wilhelm Fink, Paderborn 2018, S. 167 20 Vgl. Hellmann, Brigitte: Mit Kant am Strand. Ein Lesebuch für Nachdenkliche. Dtv Verlagsgesellschaft, München 2005, Gotthold Ephraim Lessing: Ringparabel, S. 84 ff.
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Ringparabel Nathan Vor grauen Jahren lebt’ ein Mann in Osten, der einen Ring von unschätzbarem Werth’ aus lieber Hand besaß. Der Stein war ein Opal, der hundert schöne Farben spielte, und hatte die geheime Kraft, vor Gott und Menschen angenehm zu machen, wer in dieser Zuversicht ihn trug. Was Wunder, dass ihn der Mann in Osten darum nie vom Finger ließ; und die Verfügung traf, auf ewig ihn bey seinem Hause zu erhalten? Nehmlich so er ließ den Ring von seinen Söhnen dem Geliebtesten; und setzte fest, dass dieser wiederum den Ring von seinen Söhnen dem vermache, der ihm der liebst sey; und stets der Liebste, ohn’ Ansehn der Geburt, in Kraft allein des Rings, das Haupt, der Fürst des Hauses werde. – Versteh mich, Sultan. Saladin Ich versteh dich. Weiter! Nathan So kam nun dieser Ring, von Sohn zu Sohn, auf einen Vater endlich von drey Söhnen; die alle drey ihm gleich gehorsam waren, die alle drey er folglich gleich zu lieben sich nicht entbrechen konnte. Nur von Zeit zu Zeit schien ihm bald der, bald dieser, bald der dritte, – so wie jeder sich mit ihm allein befand, und ergießend Herz die andern zwey nicht theilten, – würdiger des Ringes; den er denn auch einem jeden die fromme Schwachheit hatte, zu versprechen. Das ging nun so, so lang es ging. – Allein Es kam zum Sterben, und der gute Vater Kömmt in Verlegenheit. Es schmerzt ihn, zwey
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Von seinen Söhnen, die sich auf sein Wort Verlassen, so zu kränken. – Was zu thun? – Er sendet in geheim zu einem Künstler, bey dem er, nach dem Muster seines Ringes, zwey andere bestellt, und weder Kosten noch Mühe sparen heißt, sie jenem gleich, vollkommen gleich zu machen. Das gelingt dem Künstler. Da er ihm die Ringe bringt, kann selbst der Vater seinen Musterring nicht unterscheiden. Froh und freudig ruft er seine Söhne, jeden ins besondere; giebt jedem ins besondre seinen Segen, – und seinen Ring, – und stirbt. – Du hörst doch, Sultan? Saladin (der sich betroffen von ihm abgewandt) Ich hör, ich höre! – Komm mit deinem Mährchen Nur bald zu Ende. – Wird’s? Nathan Ich bin zu Ende. Denn was noch folgt, versteht sich ja von selbst. – Kaum war der Vater todt, so kömmt ein jeder Mit seinem Ring’, und jeder will der Fürst Des Hauses seyn. Man untersucht, man zankt, man klagt. Umsonst: der rechte Ring war nicht erweislich; – fast so unerweislich, als uns itzt – der rechte Glaube. Saladin Wie? Das soll Die Antwort seyn auf meine Frage? … Nathan Soll Mich bloß entschuldigen, wenn ich die Ringe, mir nicht getrau zu unterscheiden, die der Vater in der Absicht machen ließ, damit sie nicht zu unterscheiden wären.
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Saladin Die Ringe! – spiele nicht mit mir! Ich dächte, dass die Religionen, die ich dir genannt, doch wohl zu unterscheiden wären. Bis auf die Kleidung bis auf Speis und Trank! Nathan Und nur von Seiten ihrer Gründe nicht. – Denn gründen alle sich nicht auf Geschichte? Geschrieben oder überliefert! – Und Geschichte muss doch wohl allein auf Treu Und Glauben angenommen werden? – Nicht? – Nun wessen Treu und Glauben zieht man denn Am wenigsten in Zweifel? Doch die Seinen? Doch deren Blut wir sind? Doch deren, die Von Kindheit an uns Proben ihrer Liebe Gegeben? Die uns nie getäuscht, als wo Getäuscht zu werden uns heilsamer war? – Wie kann ich meinen Vätern weniger Als du den deinen glauben? Oder umgekehrt. – Kann ich von dir verlangen, dass du deine Vorfahren Lügen strafst, um meinen nicht Zu widersprechen? Oder umgekehrt. Das nehmliche gilt von den Christen. Nicht? – Saladin (bey dem Lebendigen! Der Mann hat Recht. Ich muss verstummen.) Nathan Lass auf unsere Ring’ Uns wieder kommen. Wie gesagt: die Söhne Verklagten sich; und jeder schwur dem Richter, unmittelbar aus seines Vaters Hand den Ring zu haben. – Wie auch wahr! – Nachdem er von ihm lange das Versprechen schon gehabt, des Ringes Vorrecht einmal zu genießen. – Wie nicht minder wahr! – Der Vater, betheu’rte jeder, könne gegen ihn nicht falsch gewesen seyn; und eh’ er dieses
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von ihm, von einem solchen lieben Vater, argwohnen lass’: eh’ müss’ er seine Brüder, so gern er sonst von ihnen nur das Beste bereit zu glauben sey, des falschen Spiels bezeihen; und er wolle die Verräther schon auszufinden wissen; sich schon rächen. Saladin Und nun, der Richter? – Mich verlangt zu hören, was du den Richter sagen lässt. Sprich! Nathan Der Richter sprach: wenn ihr mir nun den Vater Nicht bald zur Stelle schafft, so weis’ ich euch Von meinem Stuhle. Denkt ihr, dass ich Räthsel Zu lösen da bin? Oder harret ihr, bis dass der rechte Ring den Mund eröffne? – doch halt! Ich höre ja, der rechte Ring besitzt die Wunderkraft beliebt zu machen; vor Gott und Menschen angenehm. Das muss entscheiden! Denn die falschen Ringe werden doch das nicht können! – Nun; wen lieben zwey von euch am meisten? Macht, sagt an, Ihr schweigt? Die Ringe wirken nur zurück? Und nicht Nach außen? Jeder liebt sich selbst nur Am meisten? Oh so seyd ihre alle drey Betrogene Betrüger! Eure Ringe Sind alle drey nicht echt. Der echte Ring Vermutlich ging verloren. Den Verlust Zu bergen, zu ersetzen, liess der Vater Die drey für einen machen. Saladin Herrlich! Herrlich! Nathan Und also: fuhr der Richter fort, wenn ihr Nicht meinen Rath, statt meines Spruches, wollt: Geht nur! – Mein Rath ist aber der: ihr nehmt
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Die Sache völlig wie sie liegt. Hat von Euch jeder seinen Ring von seinem Vater: So glaube jeder sicher seinen Ring Den echten. – Möglich; dass der Vater nun Die Tyranney des einen Rings nicht länger In seinem Hause dulden wollen! – Und gewiss; Dass er auch alle drey geliebt, und gleich Geliebt: indem er zwey nicht drücken mögen, um einen zu begünstigen. – Wohlan! Es eifre jeder seiner unbestochnen Von Vorurtheilen freyen Liebe nach! Es strebe von euch jeder um die Wette, die Kraft des Steins in seinem Ring’ an Tag zu legen! Komme dieser Kraft mit Sanftmuth, mit herrlicher Verträglichkeit, mit Wohlthun, mit innigster Ergebenheit in Gott, zu Hülf ’! Und wenn sich dann der Steine Kräfte bey euern Kindes-Kindeskindern äußern; so lad’ ich über tausend tausend Jahre, so wiederum vor diesen Stuhl. Da wird ein weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzen, als ich; und sprechen. Geht! – so sagte der bescheidne Richter. Miloslaw. Was lernen wir aus der Ringparabel? Joel. Da gäbe es schon viel zu lernen. Aber es sind ja drei monotheistische Religionen. Polytheismus kommt hier nicht vor. Thordis. Das ist korrekt, Joel. Aber die haben wir ja oben schon abgehandelt. Ich finde die Parabel deswegen gut, weil sie aufzeigt, egal ob mono- oder polytheistisch, dass Vergleiche einfachen keinen Sinn ergeben. Miloslaw. Erinnert mich etwas an die Debatten vom Skifahren mit zwei Brettern oder dem Snowboarden. Was wurde da anfangs gestritten. Jetzt fährt der eine eben das und der andere jenes. Fertig mit der Diskussion. Thordis. Ein doch etwas weit hergeholter Vergleich, wie ich finde.
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Joel. Ach, lass ihn, falsch ist er nicht, aber auch für mein Dafürhalten deplatziert. Miloslaw. Toleranz Leute, Toleranz, oder ich lese euch die Ringparabel noch einmal vor und zwar langsam, zum Mit-Denken. Joel. Okay, schon verstanden, Milo. Machen wir weiter mit unserer Thematik. Thordis. Danke, Joel. Miloslaw willst du ein Fazit ziehen, aber bitte streng an der Religion bleiben? Miloslaw. Logo! Wir sehen, dass die Religionen für sich selbst jeweils das gleiche Ziel anstreben, nämlich nicht nach Vor-Urteilen zu urteilen. Thordis. Ist das schon alles? Miloslaw. Natürlich. Ich bin ein Mann der knappen Worte. Was gäbe es da noch mehr zu sagen? Joel. Vermutlich hat er recht. Aber es gibt ja noch die Frage nach der Umsetzung, nach der Methodologie, wie man die Religion, egal welcher Couleur, ausleben und organisieren soll. Thordis. Richtig. Das steht oft ja mehr im Zentrum, als der Glaube an sich. Joel. Eben. Da ist es dann bis zum Projekt »Weltethos« nicht mehr weit. Viele Menschen, so meine Meinung, müssen glauben. Sie müssen ein irgendwie geartetes spirituelles Wesen über sich verspüren können. Der Philosoph Scobel ist überzeugt, dass dieses Bedürfnis nach einem vernünftigen Lebensstil, der sich an moralischen Gesetzmäßigkeiten ausrichtet, befriedigt werden kann.21 Im Projekt Weltethos geht es darum, dass die Unterschiede der verschiedenen Religionen überwunden werden. Initiator dieses Projekt war der Schweizer Theologe Hans Küng. Hinter der Philosophie dieses Projekts stehen Aussagen des großen Philosophen Kant, auf den sich Küng beruft. »Es ist gut, nicht zu töten; es ist gut, den anderen nicht zu bestehlen; es bringt größeren Frieden in einer Gemeinschaft, wenn nicht jeder jedem den Beziehungs- oder Ehepartner ausspannt; es ist in der Regel gut, nicht 21 Vgl. Scobel, Gert: Weisheit über das, was uns fehlt. Verlag Dumont, Köln 2011, S. 409 ff.
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zu lügen, sondern Konflikte anders zu lösen«22. Scobel führt dann in seiner Veröffentlichung noch eine Reihe historischer und zeitgenössischer Figuren an, die sich ebenfalls mit einer vergleichbaren Idee des Weltethos beschäftigt haben, er nennt es Weltweisheit. Diese soll hier aber nicht weiter ausgeführt werden. Es geht mir lediglich darum, aufzuzeigen, dass es insbesondere bei den Religionen, die sich zum Teil über Jahrhunderte blutige Abschlachtungen Andersgläubiger geliefert haben, aber auch Tendenzen und Bestrebungen gegeben hat, wie man diese Unterschiede nivellieren oder sogar zum Verschwinden bringen kann. Miloslaw. Betrachten wir im Folgenden den Vergleich: Gibt es Gott oder gibt es ihn nicht? Sinnvolle Überlegungen dazu gehen auf Pascal im Jahr 1670 zurück:23 Davon haben wir noch gar nicht gesprochen und ich finde es eine äußerst wichtige und grundsätzliche Frage. Hätte eigentlich schon zu Beginn abgehandelt werden sollen, meine ich. Deshalb die folgende Geschichte. Aber keine Angst, sie ist weniger lang als die Ringparabel. Die Wette mit Gott Und der Herr sprach zum Philosophen: »Ich bin der Herr, dein Gott, und obwohl du keinen Beweis dafür hast, dass ich bin, wer ich behaupte zu sein, gebe ich dir einen Grund für deinen Glauben, der dir fehlbarem Menschen gefallen wird: Eine Wette, die auf Eigennutz basiert. Es gibt zwei Möglichkeiten: Ich existiere oder ich existiere nicht. Wenn du an mich glaubst und meinen Willen tust und ich existiere, winkt dir das ewige Leben. Wenn ich nicht existiere, hast du immerhin ein endliches Leben sowie einen kleinen Trost durch den Glauben. Natürlich vergeudest du einen Teil deiner Zeit in der Kirche und verpasst ein paar Vergnügungen, aber das ist egal, sobald du tot bist. Falls ich jedoch existiere, gehört das ewige Glück dir. Wenn du nicht an mich glaubst und ich nicht existiere, hast du ein sorgenfreies Leben, stirbst jedoch trotzdem und lebst ohne den Trost des Glaubens an das Göttliche. Falls ich allerdings existiere, droht dir eine Ewigkeit in der Hölle. Wenn du also auf meine Nicht-Existenz setzt, hast du im besten Fall ein kurzes Leben zu erwarten, im schlechtesten ewige Verdammnis. Wettest 22 Ders., a. a. O., S. 411 f. 23 Vgl. Baggini, Julian: Das Schwein, das unbedingt gegessen werden möchte. 100 philosophische Gedankenspiele. Verlag Piper, München 2005, S. 242
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du aber, dass ich existiere, ist die schlimmste Möglichkeit ein kurzes, die beste das ewige Leben. Du wärst also verrückt, nicht so zu wetten.« Thordis. Danke, Miloslaw. Bossart24 weist aber mit Recht darauf hin, dass das Beispiel von Pascal einen Haken hat. Der gründet in der Tatsache, dass wir uns ja nicht einfach so ohne Weiteres entscheiden können, ob wir an Gott oder an irgendein anderes Wesen (oder mehrere) glauben oder auch nicht. Das heißt, diese Entscheidung fällt man nicht einfach so wie am Samstagabend, ob man lieber ins Kino oder in den Billard-Saloon geht. Ob wir glauben, hängt auch damit zusammen, ob wir in einem Glauben von unseren Eltern erzogen worden sind oder nicht. Natürlich kann man sich dann, wenn man erwachsen geworden ist, davon abnabeln. Aber es ist vermutlich schon ein Unterschied, welches Verhältnis man zu Gott hat, wenn man von seinen Eltern aktiv religionslos (wie es in meinem familiären Umfeld der Fall war) erzogen worden ist. Joel. Wie wir aber schon ausgeführt haben, kann es für Menschen zu allen Zeiten auch viele, d. h. verschiedene, Götter geben und damit würde das Gleichnis von Pascal seinen Wert verlieren. Aber es ist wohl so, dass man in der Verdammnis landet, wenn man die falsche Entscheidung trifft. Einige polytheistische Religionen sind da ja toleranter. Das hat der große Hume bereits festgestellt. Miloslaw. Demnach sollte man doch an Gott glauben, weil es nach herkömmlicher Logik besser ist. Könnte doch sein, dass einen dies nicht überzeugt und man – trotzdem – zum Atheisten oder zur Atheistin wird. Speziell aus soziologischer Perspektive könnte man natürlich fragen, was wäre das Abendland und seine Kultur ohne z. B. das Christentum? Wie wird sich unsere Gesellschaft verändern, wenn etwa unsere Kultur vermehrt von Menschen geprägt wird, die muslimischen Glaubens sind? Das kann ich natürlich nicht vorhersagen und will es auch nicht. Insofern halte ich mich an Comte-Sponville, der die Frage stellte: Woran glaubt ein Atheist und kann es eine Spiritualität ohne Gott geben? Comte-Sponville führte an, und ich schließe mich ihm an, dass es für Atheisten und Atheistinnen immer auch
24 Bossart, Yves: Ohne heute gäbe es morgen kein Gestern. Philosophische Gedankenspiele. Verlag Heyne, München 2018 (2. Aufl.), S. 178
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noch die Philosophie, die Ethik gibt.25 Aber das hat ja bereits Hume zum Besten gegeben und, soviel ich weiß, auch danach gelebt. Joel. Aber es ist festzuhalten, dass auch in der gegenwärtigen Zeit Religion immer noch eine wesentliche Rolle spielt; vor allem wenn man dies auf die gesamte Erdkugel überträgt. Die Kirchenaustritte, die insbesondere in der westlichen Welt in den vergangenen Jahren stark zugenommen haben, sind hierzu kein Gegenargument. Obwohl Höhn schreibt: »Es ist unstrittig, dass große Anteile kirchlich gebundener Religiosität verdunstet sind.«26 In der Welt ist Religion aber nach wie vor sehr lebendig. Man geht heute davon aus, dass es ca. 10.000 Religionen auf der Welt gibt.27 Miloslaw. Sind da nicht ca. 2 Nullen zu viel? Joel. Nein, die Zahl stimmt so. Angesichts dessen drängt sich die Frage auf, was denn Religionen erfolgreich macht. Bei den langlebigen Religionen geht man davon aus, dass sie vornehmlich die Bereiche Gesundheit, Partnerwahl und Sicherheit fördern. Die Mormonen und Mormoninnen z. B. leisten ein großes Maß an freiwilligen Arbeiten für die Gemeinschaft, wodurch sie natürlich auch gestärkt wird. Das Mormonentum existiert erst seit ca. 160 Jahren, aber es entwickelt sich zu einer Weltreligion. Insofern kann gesagt werden, dass Religionen immer auch ein soziales Phänomen sind, und dies kann – vermutlich – die Ethik so nicht abdecken. Ethiker:innen bilden keine Gemeinschaften und leisten i. d. R. auch keine gemeinnützige Arbeit. Wenn man also Religionen untersucht, muss man sich weniger mit der Psychologie des Individuums beschäftigen, sondern mit Sozialpsychologie. Somit erfüllt Religion vornehmlich einen weltlichen Nutzen. Religion ist deshalb erfolgreich, weil sie die Begriffe (und natürlich, was damit verbunden ist) Moral, Gruppenidentität, Rituale und Gefühlen in den Vordergrund stellt und diese auch praktisch lebt.28
25 Vgl. Comte-Sponville, André: Woran glaubt ein Atheist? Spiritualität ohne Gott. Diogenes Verlag, Zürich 2008, S. 241 26 Höhn, Hans-Joachim: GegenMythen. Religionsproduktive Tendenzen der Gegenwart. Verlag Herder, Freiburg i. Br. 1996 (3. Aufl.), S. 140 27 Vgl. Gazzaniga, Michael S.: Wann ist der Mensch ein Mensch? Antworten der Neurowissenschaft auf ethische Fragen. Verlag patmos, Düsseldorf 2007, S. 127 28 Vgl. ders., a. a. O., S. 140
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Miloslaw. Dennoch bläst den Religionen immer wieder ein starker Gegenwind ins Gesicht. Hierbei sind es insbesondere zwei Argumente, die ins Feld geführt werden: »1. Die vielen Religionen beweisen, dass keine wahr ist. Denn die Wahrheit ist nur eine. 2. Die Religionen haben bisher jedes Übel sanktioniert, das Entsetzlichste tun oder rechtfertigen können, Gewalttat und Lüge, Menschenopfer, Kreuzzüge, Religionskriege«.29 Thordis. Es gibt noch weitere Argumente, die gegen die Religionen sprechen. Dies betrifft in erster Linie die christlichen Religionen, denen man unterstellt, dass sie falsche Ängste schüren. Auch das Foltern in der Hölle, der Zorn Gottes u. a. m. sind nicht dazu angetan, dass es einem gut geht, zumal sie einen unbedingten Gehorsam fordern. Es soll hier ein weiterer Religionskritiker zu Wort kommen, nämlich Elias Canetti. Er schreibt: »Es ist üblich, die Gläubigen als Schafe zu betrachten und für ihren Gehorsam zu loben. Auf die wesentliche Tendenz der Masse, nämlich zu raschem Wachstum, verzichten sie ganz. Sie begnügen sich mit einer zeitweiligen Fiktion von Gleichheit unter den Gläubigen, die aber nie zu streng durchgeführt wird; mit einer bestimmten Dichte, die in gemässigten Grenzen gehalten wird und einer starken Richtung. Das Ziel setzen sie gern in eine sehr weite Ferne, ein Jenseits, in das man gar nicht hineinkommen soll, da man noch lebt, und das man sich viel mit Bemühungen und Unterwerfungen verdienen muss. … In bestimmten Räumen, zu bestimmten Zeiten werden die Gläubigen versammelt und durch immer gleiche Verrichtungen in einen gemilderten Massenzustand versetzt, der sie beeindruckt, ohne gefährlich zu werden, und an den sie sich gewöhnen. Das Gefühl ihrer Einheit wird ihnen dosiert verabreicht. Von der Richtigkeit dieser Dosierung hängt der Bestand der Kirche ab«30. Miloslaw. Auch ein sympathischer Typ, dieser Canetti. So sehe ich es nämlich auch. Thordis. Betrachten wir doch noch abschließend ein spezielles Thema, auf das ich neulich bei einer Diskussion in der Kneipe gestoßen bin. 29 Jaspers, Karl: Der philosophische Glaube. Verlag Piper, München 1974 (6. Aufl.), S. 66 30 Canetti, Elias: Masse und Macht. Verlag Ex Libris, Zürich 1983, S. 23
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Miloslaw. Du verkehrst in Kneipen? Es geschehen noch Zeichen und Wunder. Thordis. Ja, warum denn nicht, wenn einen der Durst plagt, muss man trinken. Steht schon in der Bibel. Miloslaw. Dein Wort in Gottes Ohr! Joel. Können wir weiter machen? Danke! Thordis. Ja. Was man immer wieder hören kann, ist, dass Kinder einer jüdisch gläubigen Mutter auch automatisch jüdisch seien. Hier wird dann gar nicht verglichen, im Sinne von hier ist die jüdische Mutter (die sich selbst zum Judentum bekennt) und hier ihr Kind, dass – automatisch – auch jüdisch ist und sein soll. Die hierfür gültige Formel lautet: mater temper certus est. Miloslaw. Was so viel heißt wie? Thordis. Die Mutter ist immer sicher. Miloslaw. Spannend. Beim Mann kann man sich nie sicher sein. Ich sage nur: Kuckuck. Thordis. Genau. Der Unterschied, der zwischen diesen beiden Individuen besteht, wird völlig negiert. Das Gleiche gilt natürlich auch für Kinder, deren Eltern Muslime oder Christen sind, was ja korrekt formuliert bedeutet, dass die jeweiligen Eltern diesem Glauben anhängen. Von »sein« im Sinne von: Sie SIND es, kann ja im Grunde keine Rede sein. Sie sind Frau, Mann, alt, jung, blond, schwarzhaarig, über- oder untergewichtig und dergleichen mehr, aber sie sind nicht per se Christen oder Juden. Das sind im höchsten Fall Zuschreibungen, die von außen an sie herangetragen werden. Auch die Taufe oder die Beschneidung ändert daran nichts, zumal diese auch dann durchgeführt werden, wenn das Kind noch nicht als moralischer Akteur selbst entscheidungsfähig ist. Es kann getauft »sein« und sich trotzdem nie zum Christentum bekennen. Joel. »Um von einer solchen Alltagsblindheit geheilt zu werden, braucht es manchmal Augenöffner wie Dawkins Beispiel, dass es keine jüdischen, christlichen oder muslimischen Kinder gibt, sondern allenfalls Kinder von
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Juden, Christen oder Muslimen. Denn es gibt ja auch keine liberalen, linken oder konservativen Kinder«31. Thordis. Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass auf keinen Fall unterschlagen werden darf, dass es immer auch Menschen gegeben hat, die den Wert von Religionen hoch einschätzten und diese am Leben erhalten wollen. Dabei sind sie aber nicht gegenüber den vorgängig aufgeführten Gegenargumenten blind. So ein Beispiel ist die Bewegung des bereits hier erwähnten »Weltethos« von dem Schweizer Hans Küng. Er formulierte vier »unverrückbare Weisungen: 1. Verpflichtung auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor dem Leben. 2. Verpflichtung auf eine Kultur der Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung. 3. Verpflichtung auf eine Kultur der Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit. 4. Verpflichtung auf eine Kultur der Gleichberechtigung und die Partnerschaft von Mann und Frau«32. Joel. Das sind natürlich große, hehre Ziele. Ich sympathisiere mehr mit dem Hinduismus. Da gibt es keine Religionsgründer:innen oder -stifter:innen. Es gibt auch nicht nur ein Regelwerk. Thordis. Das verkompliziert die Sache aber im Alltag doch sehr. Ich bin verwirrt, muss ich zugeben, und in dieser Situation greife ich gerne zu Sloterdijk, der meint nämlich: Religionen »sind de facto theopoetische Gebilde, deren starkes Merkmal darin besteht, alles zu unternehmen, um ihrer Vergleichung mit Mythen, Kulturen und Fiktionen anderer Kulturen aus dem Weg zu gehen. Sie tun dies, indem sie, zum einen, die Bindung ihrer Glaubenssätze an den Ritus strikt orthopraktisch …, zum anderen, indem sie Impulse zum häretischen, das heißt wählerischen und abspalterischen Umschreiben der heiligen Schriften mit Hilfe orthodoxer und vollständiger Normierungen eindämmen.«33 31 Hübl, Philipp: Folge dem weissen Kaninchen. … in die Welt der Philosophie. Penguin Verlag, München 2020, S. 107 32 Küng, Hans; Kuschel, Karl-Josef: Erklärung zum Weltethos. Die Deklaration des Parlaments der Weltreligionen. Verlag Piper, München 1996 (2. Aufl.), S. 29 ff. 33 Sloterdijk, Peter: Den Himmel zum Sprechen bringen. Über Theopoesie. Verlag suhrkamp, Berlin 2020, S. 95
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Miloslaw. Dem kann ich mich nun wirklich anschließen. Soweit ich es überhaupt verstanden habe. Joel. Ich auch. Aber trotzdem, gefällt es mir irgendwie. Miloslaw. Eben: irgendwie. Gut, es waren dann die Juden und Jüdinnen, die als Erste etwas mehr Klarheit bei den Regeln wollten. Thordis. Also glauben auch wir an etwas, auch wenn diese Sätze von Küng ja doch eher der Ethik, denn einer Religion zuzuschreiben sind. Miloslaw. Was kümmerts mich.
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Sport: Vergleiche pur (?) Sport: Vergleiche pur (?)
»Jede Höchstleistung kommt durch Vergleiche erst zur Geltung.« (Hubert Joost) Milva: weiblich, italienischer Vorname, lateinischen Ursprungs in der Bedeutung des Taubenfalken. Pirmin: männlich, Vorname mit unklarer Herkunft und Bedeutung. Wolfgang: männlich, aus dem Althochdeutschen »Wolf« und »ganc« = Waffengang, Streit. Sergei: männlich, aus dem Lateinischen Sergius = ein altrömischer Sippenname. Sergei. Im Sport kommt man ohne Vergleiche nicht aus. Sport ohne Vergleiche wäre nicht Sport. Dabei spielt es hier keine Rolle, ob man von FreizeitAmateuren und -Amateurinnen oder von sich professionell dem Sport widmenden Personen ausgeht. Dieser Vergleich soll immer fair sein. Das heißt, es dürfen keine unerlaubten Mittel, Absprachen, Materialien etc. verwendet werden. Milva. Wie immer kompromisslos. So kennen und lieben wir dich. Pirmin. Ja, wenn es immer so einfach wäre. Wolfgang. Trotzdem muss man sich, wenn es um Vergleiche im Sport geht, um das Thema des Dopings kümmern, weil vermutlich in keinem anderen Lebensbereich dieser Begriff bzw. dessen konkrete Handhabung in der Praxis eine derart große Rolle spielt wie im Sport. Erwähnt werden soll hier nur der beabsichtigte und dann doch nicht vollzogene Totalausschluss aller russischen Sportler:innen. Aber auch der Auftritt von Sportlern und Sportlerinnen, die bereits zweimal in Dopingkontrollen hängen blieben und dann doch auch starten durften (z. B. Justin Gatlin), waren ein Thema. Milva. So sehe ich es auch. Bei allen herausragenden Leistungen, egal in welcher Sportart, kam hinterher stets die Frage auf, implizit oder explizit
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geäußert, ob hier nicht auch leistungssteigernde Mittel zur Anwendung gelangt seien. Sergei. Das sind eben die schwarzen Schafe. Die gibt es überall. Was willste machen, denen immer hinterherlaufen. Das bringt doch nichts. Wolfgang. Das muss man ja wohl etwas differenzierter sehen, lieber Sergei. Nach einer von der Welt-Anti-Doping-Agentur in Auftrag gegebenen Untersuchung haben 29 % aller an der Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2011 in Daegu (SKor) teilgenommenen Sportler:innen zugegeben, gedopt zu haben. Mehr als 2000 Athleten und Athletinnen sind dabei anonym befragt worden.1 Doping ist ein komplexes Phänomen und tangiert die Frage nach Vergleichen sehr stark, die ja eben vergleichbar sein sollen. Wenn Doping eine Rolle spielt, dann werden Vergleiche obsolet, sinnlos und der Sport, der von diesen Vergleichen lebt, wird in sich sinnlos und verliert seine Legitimation.2 Milva. Ein Blick in die Philosophie wird hier vielleicht interessieren. Aber versprecht euch nicht zu viel davon. In einer aus meiner Sicht doch eher »blauäugigen« Art und Weise hat sich der Mitbegründer der Diskursethik, Apel, mit dem Sport auseinandergesetzt und verweist auf die Parallele des Fair Play mit dem Gerechtigkeitsprinzip. Wenn Apel dann auch noch die Rawl’schen Gerechtigkeitsbedingungen mit den Fairnessbedingungen im Sport in einem Zusammenhang gesehen haben will, geht mir das entschieden zu weit. Vor allem dann, wenn man auch aus persönlichen Erfahrungen in jungen Jahren mitbekommen hat, wie weit es mit der Fairness, insbesondere im Hochleistungssport, bestellt ist. Aber Apel geht es weniger, und das sei hier auch angemerkt, um den Sport als vielmehr um die Ethik, und diese setzt er dann doch höher an, indem er schreibt: »Gemäß dem Diskursprinzip müssen wir zunächst einmal die Frage stellen. In welcher Hinsicht oder inwieweit können oder müssen wir wollen, dass das menschliche Zusammenleben überhaupt – zumindest die Interaktion zwischen Menschen – als Wettkampf um den Sieg oder als Konkurrenz um die Bestleistung verstanden wird?«3 1 2 3
Vgl. Tages-Anzeiger Zürich vom 24.08.2013 Vgl. zu Doping auch: DIE WELT vom 8.8.2013; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5.8.2013; Neue Züricher Zeitung vom 18.8.2016 Apel, Karl-Otto: Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral. Verlag Suhrkamp, Frankfurt/M. 1990, S. 235
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Sergei. Oje, ich brauche einen Dolmetscher. Pirmin. Nun stell dein Licht nicht untern Scheffel. Dass Regeln im zwischenmenschlichen Leben und damit auch im Sport eine große Bedeutung zukommt, erscheint mir sachbedingt logisch zu sein. Dass es im Sport aber stets auch um den Sieg geht und damit um die Durchsetzung eigener Interessen und dass diese Haltung für ein friedliches Zusammenleben in einer Gesellschaft nicht unbedingt die beste aller Voraussetzungen ist, erscheint mir ebenfalls klar zu sein. Insofern sehe ich die Parallelen weit weniger stark, als Apel sie hier postuliert. Er kommt dann auch zu dem Schluss, dass eine der wichtigsten Aufgaben im Sport diejenige ist, dass Triebabfuhr, Sublimierung im Freud’schen Sinne geleistet werden kann. Dies ist deshalb notwendig und sinnvoll, weil man beim Menschen den Aggressionstrieb und die Rivalität nicht leugnen kann. Apel: »Wünschenswert ist diese Kanalisierung und Sublimierung einmal deshalb, weil auf diese Weise die vitale Energie der Menschen im Sinne der Nutzenmaximierung für die Gesellschaft mobilisiert wird, zum anderen aber auch deshalb, weil dem agonalen Trieb eine lustvolle und zugleich ethisch akzeptable, ja sogar eine evolutionär-progressive Möglichkeit der Befriedigung eröffnet wird«4. Sergei. Nach einem Training fühle ich mich zwar kaputt, aber auch entspannt. Das meint das doch wohl, oder? Pirmin. Genau. Es ist aber auch so, so meine Meinung, dass durch Training ein aggressiver Mensch nicht einfach friedlicher wird. Es könnte nämlich ebenso das Gegenteil der Fall sein. Durch das ständige Trainieren der eigenen Aggressivität könnte diese immer weiter stimuliert werden. Wolfgang. Könnte sein, könnte aber auch nicht sein. Milva. Klingt etwas zen-buddhistisch, Wolfgang. Wolfgang. Wenn du meinst. Ich wollte damit lediglich sagen, dass man in den Sport nicht allzu viel hineininterpretieren sollte. Sergei. Sage ich doch.
4
Ders., a. a. O., S. 244
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Milva. Aber wir haben anfangs in unserer Diskussion gesagt, dass es im Sport nicht ohne Vergleiche abgeht. Aber wie verhält es sich nun mit diesen Vergleichen in Bezug auf Doping, also wenn man diese Vergleiche ad absurdum führt? Bemerkenswert ist insbesondere der in den Medien (Print, TV) häufig kolportierte Gedanke, dass Doping gegen das Natürliche, gegen die Natur verstoße und deshalb abzulehnen sei, weil dann der Gedanke des Vergleichs nicht mehr ins Feld geführt werden könne. Auch der Artikel aus der NZZ bläst ins gleiche Horn. So transportieren vorwiegend Sportkommentatoren und -kommentatorinnen unverdrossen die Mär, wer dopt, verhalte sich unlauter und erbringe seine Leistung nicht selbst. Dabei sind gerade, was die Natürlichkeit anbelangt, die Grenzen völlig fließend. Wolfgang. Da ist was dran. Stellt denn ein neu entwickelter Laufschuh keine künstliche Verbesserung dar? Desgleichen: ein neuer Schwimmanzug (mit ein wenig Auftrieb?), eine Nahrungsergänzung, die nicht auf der Dopingliste steht? Pirmin. Setzen wir noch einen darauf. Wie verhält es sich dann mit der Abgabe von Eigenblut, das durch Training eine erhöhte Anzahl roter Blutkörperchen enthält und am Tag des Wettkampfs den Athleten und Athletinnen induziert wird? Hier ist »nur« die Technik künstlich, wenn man denn will, das Eigenblut ist auf jeden Fall natürlich, d. h. es »gehört« ja den Sportler:innen. Weiter: Wie verhält es sich, wenn ein Ausdauerathlet für eine bestimmte Zeit in einer Druckluftkammer schläft, die ihn auf ca. 2500 m über Meer »transportiert«, damit er eben vermehrt rote Blutkörperchen (Hämoglobin) produziert, um dann leistungsfähiger zu sein. Was ist davon zu halten, wenn sich eine Tennisspielerin die Brust verkleinern lässt, weil sie damit beweglicher wird? Fällt dies unter leistungssteigernde Mittel? Im Grunde schon, meine ich. Sergei. Stellt aber kein Doping dar, denn Doping ist letztendlich nur das, was auf der Dopingliste steht.5 Kann man dies als eine Tautologie bezeichnen? Ja! Man kann, man muss sogar. Warum werden etwa Studierende, die sich mit Medikamenten pushen, um besser lernen zu können, nicht gezwungen, Urin- und Blutproben vor der Prüfung abzugeben? Besteht hier nicht eine Ungleichheit zwischen Profi-Sportlern und -Sportlerinnen sowie Studierenden, die ja i. d. R. auch Profis sind. Man sieht, dass Vergleiche, die 5
Diese Aussage erinnert doch stark an die bereits getätigte Aussage: Intelligenz ist, was der Intelligenztest misst!
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Gleiches messen, oder Sportler:innen, die sich mit anderen messen, so einfach auf dem hohen Niveau des Gleich-Wertigen, kaum möglich sind. Das heißt für mich eigentlich: Ende der Debatte. Wolfgang. So schwer es mir fällt, aber hier muss ich Sergei wirklich zustimmen. Nur aufhören mit der Debatte möchte ich nicht, noch nicht. Sergei. Absurd wird die Doping-Diskussion dann, wenn davon ausgegangen wird, was bei der Tour de France ja der Fall zu sein schien, dass sich alle Fahrer gedopt haben. Besteht dann nicht eine völlige Chancen-Gleichheit? War L. Armstrong eventuell nicht doch der beste aller dieser Fahrer? Es ist im Grunde anzunehmen. Warum will man ihn dann im TV weinen sehen? Milva. Ja, es ist absurd. Man kann es nicht anders bezeichnen. Andererseits wissen die Tausende von Zuschauenden, die auch dieses Jahr wieder am Wegesrand standen und den Heroen der Landstraße zugejubelt haben, dass sie sich alle leistungssteigernden Mittel bedient haben und – jubeln trotzdem. Das heißt doch, dass die Allgemeinheit die Doping-Vergehen als nicht so gravierend beurteilt, wie die Medien und diverse Vertreter:innen der Anti-Doping-Kommissionen. Pirmin. Eine verrückte Situation. Das mit dem Publikum mag auch damit zusammenhängen, dass es sich bei der Diskussion über Doping um eine Phantomdiskussion handelt, weil es im Grunde gar keine Gegenposition gibt. Die Gegenposition wäre ja, man dürfe dopen bzw. man solle dies so gut wie möglich tun. Wird das nicht auch in der Realität so gehandhabt? Also ist man dagegen, auf keinen Fall – öffentlich – dafür. Die überführten Dopingsünder:innen werden an den Pranger gestellt, gesperrt und erhalten Berufsverbot. Insbesondere, weil man dem Fantasma nachjagt, dass Sport etwas Natürliches ist und es um Chancengleichheit geht. Beides ist aber nachweislich nicht der Fall. Die Situation wird damit skurril, weil Doping bekämpfen oder freigeben nicht die Alternative ist. Wolfgang. Hochproblematisch wird es nun, wenn es über neue Erkenntnisse in der Forschung möglich wird, Urin- und Blutproben aus den Jahren 2008 und 2012 zu überprüfen und damit ehemalige Olympiasieger:innen und Medaillengewinner:innen zu überführen. Müssen dann alle Ranglisten neu geschrieben werden und welche Nachplatzierten erhalten nun diese Medaillen? Wurden diese damals auch kontrolliert? Schafft man damit nicht ein
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heilloses Durcheinander, wenn man meint, einen korrekten Vergleich herstellen zu können? Sergei. Alles Bullshit! Doping gehört zum Human Enhancement und das hat den Menschen letztlich im Laufe der Evolution zu dem gemacht, was er geworden ist und noch werden wird. Die immer wieder heraufbeschworene Welt des Sports, in der Vergleiche noch Vergleiche im Sinne des Wortes sind, entlarvt sich, wie hier unschwer nachgewiesen wurde, als eine Scheinwahrheit. Auch oder gerade in der Welt des Sports zeigt es sich erneut, dass Vergleiche nie gleich sind. Aber wir wollen sie, wir träumen von einer Gleichheit, weil sie uns als hehres Ziel erstrebenswert erscheint. RehmannSutter6 ist überzeugt, dass Enhancement insbesondere bei drei Gebieten als besonders problematisch zu betrachten ist. Er nennt die Identität des Menschen, die verändert werden kann; die Verantwortlichkeit, die nicht mehr klar definiert werden kann, sowie die bereits von mir angesprochene Fairness, die dann torpediert wird, wenn einige Menschen Zugang zu diesen Möglichkeiten haben und andere wiederum nicht. Milva. Pawelka kommt in ihrem Resümee zu folgendem Schluss, was das Dopen im Sport anbelangt: »Der sportliche Blick auf die menschliche Natur ist vorbehaltlos, naiv, ›entweltlicht‹ (v. Krockow), ›außer-weltlich‹ (Buytendijk), häufig absurd, willkürlich, kontingent und selektiv«7. Pirmin. Und trotzdem plädiert Pawelka dafür, dass das Dopen weiterhin infrage gestellt werden soll. Die eigentliche Begründung hierfür bleibt sie aber m. E. schuldig. Vor allem dann, wenn man ihre Liste an Adjektiven betrachtet, die sie für den modernen Sport bereithält. Außerdem beschreibt sie eine Reihe von sogenannten natürlichen Ausnahmeerscheinungen, wie den finnischen Langläufer Eero Mäntiranta, bei dem ein Gendefekt als Erklärung eines naturwüchsigen Vorteils für seine in hohem Maße überdurchschnittliche Ausdauerleistung herhalten musste. Dieses und andere Beispiele zeigen, dass es sich bei den Verboten gegenüber dem Doping um eine Spiegelfech6
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Rehmann-Sutter, Christoph: Authentisches Glück? Ethische Überlegungen zu möglichen Neuro-Enhancements. In: Maio, Giovanni; Clausen, Jens; Müller, Oliver (Hrsg.): Mensch ohne Mass? Reichweite und Grenzen anthropologischer Argumente in der biomedizinischen Ethik. Verlag Karl Alber, Freiburg i. Br. 2008, S. 253 Pawelka, Claudia: Leistungssteigerung im Sport – ethisch indifferent? In: Maio, Giovanni; Clausen, Jens; Müller, Oliver (Hrsg.): Mensch ohne Mass? Reichweite und Grenzen anthropologischer Argumente in der biomedizinischen Ethik. Verlag Karl Alber, Freiburg i. Br. 2008, S. 283
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terei handelt, die man um jeden Preis aufrechterhalten möchte, damit die Vergleiche, ohne die der Sport, insbesondere die professionell betriebene Version, nicht weiter am (künstlichen) Leben erhalten werden könnte. Sergei. Ich würde sagen, 1:0 für mich. Gebt ihr euch geschlagen? Wolfgang. Eine Debatte ist doch kein Wettkampf, ich bitte dich. Pirmin. Genau. Milva. Lassen wir ihm doch die Freude. Und wenden wir uns anderen Inhalten zu. Sport, so Bourdieu8, ist ein Produkt, das vornehmlich für die Zuschauenden hergestellt wird. Damit ist der »große« Sport gemeint und nicht, fünf Kilometer joggen zu gehen. Es geht auch um die Sport-Journalisten und -Journalistinnen, um die Hersteller von Fanartikeln, die zu Millionen verkauft werden, um die exorbitanten Fernsehrechte und um die Organisation von großen Events. Bourdieu weist in seiner Analyse nach, dass sich der heutige Sport schon längst vom Spiel, das Spaß und Freude bereiten soll, entfernt hat. »Die ›Elite‹ macht sich bestimmte körperliche Betätigungen, Bewegungsmuster im Rahmen traditioneller volkstümlicher Spiele, zu eigen, schneidet sie in der Folge von den damit gekoppelten sozialen Anlässen (etwa Erntefeste) ab und entleert sie so ihrer sozialen – und mehr noch: religiösen – Funktion, die jene rituellen Spiele (z. B. beim Wechsel der Jahreszeit) in vorkapitalistischen Gesellschaften noch aufweisen«9. Sergei. Jetzt geht es dem Sport aber stark und auch wirtschaftlich an den Kragen. Ich merke schon, dass da kein Sieg für mich herausspringt. Es ist wohl so, wie du es hier aufgezeichnet hast. Schlimm, schlimm. Wolfgang. Zu Beginn dieser wirtschaftlich orientierten Sportbewegung war es typisch, dass sehr viele hochgestellte Persönlichkeiten, primär aus dem Adel, Führungspersonen in den sich schnell bildenden Sportverbänden wurden (z. B. Baron de Coubertin, Lord Avery Brundage etc.). So gibt es durchaus eine, wie Bourdieu das nennt, aristokratische Haltung des Sports, die sich im sogenannten Fair Play darstellen soll. Zum Doping, das dieser Haltung ja zuwiderläuft, haben wir uns bereits geäußert. Aber dieses Prin8 9
Bourdieu, Pierre: Historische und soziale Voraussetzungen modernen Sports. In: Soziologische Fragen. Verlag Suhrkamp, Frankfurt/M. 1993, S. 165 ff. Ders., a. a. O., S. 169
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zip des Gehobenen und des eher Ordinären existiert heute noch. So gelten Sportarten wie Tennis, Fechten oder Golf sicher eher als gehoben, was z. B. für Fußball, Rugby, Ringen etc. nicht gleichermaßen gilt. Auch im Fußball an sich kann diese Unterscheidung nachvollzogen werden, da es in größeren Städten jeweils zwei Clubs gibt, wobei häufig der eine eher der Mittel- und Oberschicht zuzurechnen ist und der andere eher als der Vertreter der Arbeitsklasse dient. Milva. Für viele stellt der Sport, wie eingangs bereits erwähnt wurde, eine Show, ein Spektakel dar und die jeweiligen Zuschauer:innen denken gar nicht daran, selbst Sport auszuüben. Dies gilt etwa für Autorennen, die eine Unzahl von Zuschauenden anzulocken vermögen und in keiner Art und Weise dazu da sind, die Zuschauenden zu irgendeiner Eigenaktivität zu animieren. Sergei. Oder dass sie dann auf öffentlichen Straßen rasen. Milva. Leider ist das so. Pirmin. Das Fernsehen tut natürlich noch ein Übriges, dass viele Sportveranstaltungen nur noch als Massenspektakel verstanden werden können, zumal sie noch durch ein Public Viewing aufgepeppt werden. Hier könnte man dann von Fernseh-Sportler:innen sprechen. »Die sicher entscheidendste politische Auswirkung des Sports ist weniger darin zu sehen, dass er chauvinistische oder sexistische Regungen stimuliert, als vielmehr in der von ihm beförderten Kluft, zwischen dem Profi, dem Virtuosen einer esoterischen Technik, und dem auf den Status eines bloßen Konsumenten reduzierten Laien – und diese Kluft nistet sich immer nachdrücklicher in das kollektive Bewusstsein ein: Der sprichwörtliche Mann von der Straße ist nicht nur im Bereich des Sports auf die Rolle eines Fans, jenes zur Karikatur geronnenen Grenzfalls des Aktivisten, zusammengeschrumpft und zu einer rein imaginären Partizipation verurteilt, die im Grunde nichts anderes als Scheinersatz für die Preisgabe eigener Fähigkeiten zugunsten der Experten ist«10. Sergei. Habe ich verstanden. Brutal-krasse Analyse.
10 Ders., a. a. O., S. 177
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Wolfgang. Da kann man das Sport-Publikum mit den Sport-Gladiatoren nicht mehr vergleichen. Die Art der Ausübung sowie die Motivlagen scheinen völlig unvereinbar zu sein. Milva. Genau, zwei Welten sozusagen. Ist das denn noch Sport in einem allgemeingültigen Sinn? Pirmin. Wohl eher nicht. Sergei. Was ist es dann? Pirmin. Versuchen wir die Frage weniger mit Blick auf das Sportgeschehen zu beantworten, sondern indem wir die Zuschauenden näher betrachten. Wolfgang. Gute Idee. Der Aspekt des Fanwesens soll noch einmal besonders betont werden. So sind in den vergangenen Jahren Sportarten in den Blickpunkt des (ver-)öffentlich(t)en Interesses gelangt, die sich besonders gut im Fernsehen präsentieren lassen. Dazu gehören Snooker und Darts. Diese Sportarten, die auf einem sehr eng begrenzten Raum ausgetragen und die auch in vielen Kneipen selbst ausgeübt werden können, vereinen somit zwei sehr wichtige Faktoren. Zum einen der Bekanntheitsgrad, weil diese Tätigkeiten auch ohne Training in der Feierabend-Freizeit ausgeübt werden können, und ihre Telegenität, die es ermöglicht, ohne besonderen Aufwand eine TV-Übertragung zu realisieren. Dies ist bei einem Skirennen schon wesentlich aufwendiger, was wiederum bedeutet, dass der Anlass ein besonders großer sein muss, damit auch genügend Sponsoren- und Werbegelder im Vorfeld eingenommen werden können, damit die Übertragung überhaupt zustande kommt. Sergei. Aber ist das jetzt nicht ein Widerspruch? Der gemeine Mann spielt in der Freizeit in seiner Kneipe Dart oder Snooker und die Großen spielen es, einfach um Level höher, im TV. Wo ist der Unterschied? Also kommen sie doch in irgendeiner Art und Weise wieder zusammen. Beim Fußball ist es doch dasselbe. Wolfgang. Interessante Wendung, die wir da jetzt vollzogen haben. Demnach hat Bourdieu stärker recht, als man im ersten Moment zu glauben meint.
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Milva. Ja, sehe ich auch so. Es gibt doch mehr Verbindungen zwischen den großen und den kleinen, wie ich hier mal sagen möchte, Dart- oder Fußballspielenden. Pirmin. Man muss die Aussagen von Bourdieu noch einmal lesen. Dass es sich bei Sportveranstaltungen gegenwärtig um riesige Massenspektakel handelt, kann man ja nicht bestreiten. Dass auch viele Leute auf einem Bolzplatz Fußball spielen, ebenso nicht. Aber ich denke schon, dass Bourdieu recht hat, wenn er sagt, dass das eine mit dem anderen nichts zu tun hat. Wenn sogenannte kleine Leute in der Kneipe ein Snookermatch austragen, gibt es keine Bühne, und das Preisgeld besteht darin, dass die Verlierer:innen den Gewinnenden ein Bier ausgeben. Sergei. Dem schließe ich mich an. Bier ist Bier und Schnaps ist Schnaps. Das eine ist das eine und das andere eben das andere. Mehr ist da nicht. Wolfgang. Aufgeben gilt nicht. Ein anderer Aspekt ist der, dass heutzutage viele Jugendliche, insbesondere in den hoch entwickelten Industrieländern, gar kein Interesse mehr an Leistungs- bzw. Spitzensport haben. Warum? Sie stellen Vergleiche an zwischen dem Aufwand und dem Ertrag. Da kommt als Erstes die Frage: Was bringt es? Dies ist i. d. R. immer pekuniär gemeint. Natürlich träumen auch Jugendliche in diesen Ländern davon, Weltmeister:in oder Olympiasieger:in zu werden. Aber viele Jugendlichen sind am Ende ihrer Jugendzeit keine Träumer mehr und nicht jeder Mensch will sein Leben einem Traum unterordnen und dies auch noch mit dem Risiko, dass diese Träume, z. B. infolge einer Verletzung, gar nicht erreicht werden können. Milva. Die Frage ist eben, ob sie ihren Beruf z. B. als Automechanikerin oder als Kaufmann mit dem eines Spitzensportlers eintauschen wollen. Spitzensport heißt ja nichts anderes, als eine Ausbildung zu absolvieren. Man erlernt sportmotorische, psychomotorische und taktische Fähig- und Fertigkeiten und versucht, dabei ein höchstmögliches Niveau zu erreichen. Aber die hier erlernten Kompetenzen sind nicht in einen Beruf, in ein Studium zu transferieren. Primin. Hat man nicht früher gesagt, dass man die im Sport erlernten Skills dann ins Berufsleben transferieren kann? Sergei. Das ist doch ein Romantizismus, der noch nie gestimmt hat.
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Wolfgang. Ich habe mit vielen Jugendlichen gesprochen, die als Kinder und Jugendliche in ihrer Sportart sehr gut waren und diese machen dann eine Kosten-Nutzen-Rechnung. Pirmin. Ja, das stimmt. Ich kenne das aus meiner Sportart auch. Diese Rechnung machen, so haben mir zahlreiche Gespräche gezeigt, viele Jugendliche und brechen ihre Ambitionen mit ca. 16 oder 17 Jahren dann ab. Sie vergleichen, welchen Aufwand sie betreiben müssten, um an die Landes- oder an die Weltspitze zu gelangen, mit dem, was sie erreichen können, wenn sie einen Beruf erlernen oder ein Studium absolvieren, und was sie anschließend damit anfangen können. So sind auch diese Vergleiche unmittelbar mit dem Sport verbunden, wenn es auch nicht um die Vergleiche unter Sportlern und Sportlerinnen geht, was man ja gemeinhin annimmt, wenn von Vergleichen im Sport spricht. Milva. Ja, richtig. Aber diese Vergleiche sind existenzieller Natur und deshalb für das betreffende Individuum noch wichtiger. Sergei. Okay, belassen wir es dabei. Hat noch jemand Lust, eine Runde zu joggen, um den Weiher herum, kleine fünf Kilometer im lockeren Trab? Wolfgang. Ich kenne deine Traberei, bin jetzt noch kaputt von vorgestern. Milva. Wir könnten ja auch in die Halle gehen und etwas Badminton spielen. Pirmin. Bin dabei. Wolfgang. Ich auch. Sergei. Wohl oder übel. Wir sollten schon zu viert sein, dann können wir ein Doppel spielen. Die Verlierer bezahlen anschließend an der Saftbar.
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Kann man Gutes und Böses miteinander vergleichen? Ja, man kann! »Das Böse entspringt der Freiheit des Menschen.«1 (Immanuel Kant)
Dennis: männlich, englische Form zu Dionysius. Melchior: männlich, aus dem Hebräischen und meint Gott ist der König des Lichts. Melchior. Ein Vergleich, den wir von klein auf immer wieder hören bzw. ihn auch lernen müssen, ist die Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Jeder Mensch, zu jeder Zeit, in jeder Kultur ist damit konfrontiert. Dabei gehe ich hier auf die Unterscheidung zwischen Werten, Normen, Gesetzen und Ahndungen nicht näher ein. Nur der Vergleich ist es, der hier zählt. Aber wir kommen um einige Grundsätze in der Klärung nicht herum, wenn wir fragen, was ist denn nun gut und was eben nicht, und wenn es, moralisch betrachtet, nicht gut ist, dann ist es eben böse. Dennis. Das klingt so, also, ob man das Gute und das Böse sauber voneinander unterscheiden könnte. Davon bin ich nicht überzeugt, ich denke vielmehr, dass hier die Übergänge fließend sind. Das Böse ist nicht einfach zu definieren. Was ist eigentlich »das Böse«? Die schlechte Handlung, der schlechte Mensch? Melchior. Ich denke vielmehr, dass man da schon klare Grenzen ziehen kann. Jemand, der böse handelt, könnte auch anders handeln. Das Böse wird wissentlich und willentlich vollzogen. Für das Böse ist man deswegen verantwortlich! Dennis. Studien2 haben ergeben, dass sozial positives Verhalten eher dem genetischen Pool eines Menschen zugeschrieben wird. Negatives Verhalten wird eher der Erziehung, der Umwelt, den sozialen Faktoren zugeschrieben.
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Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hrsg. v. Klaus Reich et al. Verlag Felix Meiner, Hamburg 1999, Bd. 519 Vgl. Tages-Anzeiger vom 09.09.2019 Kann man Gutes und Böses miteinander vergleichen? Ja, man kann!
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Kann man Gutes und Böses miteinander vergleichen? Ja, man kann!
Warum? Das ergibt doch keinen Sinn und verweist darauf, wie unklar diese Unterscheidung ist. Melchior. Ja, auf solche Studien gebe ich auch nicht viel. Bei Letzterem kann der/die Täter:in eher zur Verantwortung gezogen werden. Ich denke, dass es damit zu tun hat. Aber das bringt uns hier nicht weiter. Tatsache ist, dass die Wissenschaft diese Frage – nach wie vor – nicht klar beantworten kann. Dennis. Gut, bleiben wir bei den Fakten. Es hat schon immer Vernichtungskriege, Exzesse von Mord und Verrat gegeben. Das Böse hat auch schon immer die Religion und die Jurisprudenz beschäftigt. Das zeigt die Komplexität des Bösen und da willst du eine Klarheit hineinbringen, also ich weiß nicht … Melchior. Aber das Böse betrifft nur den Menschen und damit eben auch die Philosophie. Das scheint mir schon mal klar zu sein. In der Fauna kann man nicht vom Bösen sprechen, weil hier die Instinkte regieren. Dennis. Da würde ich doch gerne Aristoteles ins Spiel bringen. Er meint, dass sich jedwedes Streben dadurch auszeichnet, dass es die praktische Verwirklichung eines Gutes intendiert. Dies kann nur indirekt erlangt werden, indem der Mensch sich bei allem, was er tut, um moralische Vervollkommnung bzw. einen guten Charakter bemüht, und dabei hofft, auf günstige äußere Bedingungen zu treffen. Das bedeutet, der Mensch muss sich um das Gute bemühen, ob er das dann immer schafft, steht auf einem anderen Blatt und zeigt für mich die Relativität des Guten wie auch des Bösen auf. Melchior. Gut, da halte ich mit dem alten Augustinus gegen, der sagt in seiner Predigt »Über das Fegefeuer«, dass es das Böse (Todsünden) in vielerlei Gestalt gebe: Gottlosigkeit, Mord, Ehebruch, Hurerei, falsches Zeugnisgeben, Raub, Diebstahl, Hochmut, Neid, Habgier, aufrechterhaltener Jähzorn und fortgesetzte Trunkenheit. Ein klarer und eindeutiger Katalog, wie ich meine. In der christlichen Lehre ist das Böse mit der Sünde, insbesondere der Erbsünde, gekoppelt. Figuren hierzu sind der Satan, der Teufel, der Antichrist, aber auch Mephistopheles. Das Christentum kennt auch den Begriff des »radikal Bösen«. Dies bezeichnet Taten, mit deren Urheber:innen man sich nicht versöhnen kann, d. h., das hätte nie und nimmer passieren dürfen. Ich denke da an den Holocaust.
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Dennis. Aber ich muss ehrlich gestehen, dass mich diese religiös motivierten Aussagen nun wirklich nicht interessieren. Das ist für mich keine rationale Philosophie, sondern doch eher Volksverdummung zum Zweck der Machterhaltung in früheren Jahrhunderten. Melchior. Schon gut, Dennis. Aber ihre historische Wirkung, die im Übrigen bis in die Neuzeit anhält, ist ja auch nicht so ohne Weiteres vom Tisch zu wischen. Aber ich gestehe dir natürlich zu, dass es uns nicht viel weiterbringt. Wieder alles gut? Dennis. Ja, natürlich, und mit der Historie hast du selbstverständlich recht. Da finde ich, wenn wir denn schon in die Geschichtstruhe greifen wollen, die Aussagen von Thomas Hobbes interessanter, der ja nun, das wird dich freuen, bezüglich des Bösen eine klare und eindeutige Meinung vertreten hat. Er spricht vom bellum omnium contra omnes, d. h. vom Krieg eines jeden gegen jeden, und vom Homo homini lupus, d. h., der Mensch ist des Menschen Wolf. Melchior. Kant schreibt das Böse ausschließlich dem Verhalten des Subjekts zu. Nur die Handlungsart, nur die Maxime des Willens, die handelnde Person selbst, kann als böse bezeichnet werden. Nicht die Begierden oder die Triebe sind Ursachen des Bösen, sondern nur die Vernunft selbst. Er ist frei, die Würde und die Freiheit anderer zu respektieren, oder eben nicht. Er ist verantwortlich! Das Böse entspringt der Freiheit des Menschen. Dennis. Diese Aussagen von Kant gefallen mir. Da kann man sich nicht herausreden. Gesellschaftliche Zustände, kollektives Handeln und Naturkatastrophen können nur in einem übertragenen Sinn als böse bezeichnet werden. Aber der Mensch ist gebrechlich und so geschieht immer wieder und überall Böses. Melchior. Kierkegaard meint, dass das »Gute dadurch ist, dass ich es will, und sonst gar nichts«. Für Kierkegaard ist die Reue ein wichtiger Faktor. Reue ist der Maßstab des Guten und des Bösen im Allgemeinen, aber auch in Hinblick auf sich selbst. Dieser Mensch will in Zukunft das Böse ausschließen. Er bereut. Dennis. Der Ur-Vater des heute so in Mode gekommenen Begriffs der Anerkennung Georg Wilhelm Hegel meint, dass in der Beraubung einer anderen Person ein Subjekt willentlich die allgemeine Form der Anerkennung
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verletzt, die unter Bedingungen der Etablierung von Rechtsverhältnissen bereits ausgebildet worden war. Es handelt sich demnach um eine destruktive Handlung.3 Melchior. Auch für Friedrich Nietzsche liegt der Wille zum Guten oder zum Bösen allein im Individuum selbst. Damit hat Nietzsche den Maßstab für Gut und Böse in den Willen des sich nach Maßgabe seiner Selbstmächtigkeit autonom bestimmenden Individuums verlegt. Er fragt: »Kannst du dir selbst Richter sein und Rächer deines Gesetzes?« Dennis. Böse ist das, was moralisch mehr als nur falsch ist. Böse ist der allgemeinste Ausdruck der moralischen Verurteilung. Hannah Arendt meint denn auch zu Eichmann in Jerusalem: »Außer einer ganz ungewöhnlichen Beflissenheit, alles zu tun, was seinem Fortkommen dienlich sein konnte, hatte er überhaupt keine Motive; … er hätte bestimmt niemals seinen Vorgesetzten umgebracht, um an dessen Stellen zu rücken. Er hat sich … niemals vorgestellt, was er eigentlich anstellte«4. Melchior. Also können wir als Zwischenfazit formulieren: Das Böse kann mich von außen befallen, verführen, verderben, anstecken, aber es kommt auch als Bereitschaft und Neigung aus dem Inneren. Das Böse ist auch das Unheilvolle, Verderbenbringende, das Verwerfliche, früher auch: das Untüchtige, das Schwache, das Unbrauchbare. Bist du damit einverstanden? Dennis. Nicht ganz, weil ich unseren Diskurs noch etwas befeuern möchte, und lege deshalb mit folgendem Brikett nach: Nach meiner Auffassung gibt es das Böse nicht. Es ist ein sprachlicher Ausdruck, der eine negative, subjektive Wertung über eine Handlung, eine Person zum Ausdruck bringt. Das Böse ist reine Metaphysik. Das Böse gibt es nur in der Sprache. Was böse ist, hängt von der Perspektive, den Wertungen und auch dem Wissenshorizont des Sprechenden ab. Auch eine Tötung ist nicht per se böse. Es könnte ja auch Notwehr gewesen sein. Der Kontext verändert die Bewertungen. So kann alles böse sein oder nichts.
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Vgl. Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Verlag Suhrkamp, Frankfurt/M. 2014 (8. Aufl.) Arendt; Hannah: Über das Böse. In: Kohn, J. (Hrsg.): Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. München 2003. Vgl. auch Stangneth, Bettina: Böses Denken. Verlag Rowohlt, Berlin 2016, S. 93
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Melchior. Gut gefeuert, Kollege. Folglich muss ich meinerseits nachlegen und versuche dies mit den folgenden Begriffen und frage dich dann, was du zu denen meinst. Sind die nicht eindeutig und klar: Habgier, Geiz, Hochmut, Eitelkeit, Ruhmsucht, Neid, Eifersucht, Trägheit, Feigheit, Ignoranz, Völlerei, Unmäßigkeit, Wollust, sexuelle Ausschweifung, Perversitäten, Zorn, Vergeltung, Rachsucht etc. Dennis. Schön und gut, aber man kann diese Begriffe immer auch in Relation zu einer Situation setzen und dann verlieren sie – je nachdem – ihren Schrecken oder werden als noch schrecklicher angesehen. Das meinte ich vorhin. Auf mögliche Beispiele möchte ich hier verzichten. Aber ich kann dir mit folgenden Beispielen entgegenkommen. Es gibt einen historischen Wandel der Tugendauffassungen und deshalb fallen m. E. die folgenden Beispiele heute wesentlich stärker ins Gewicht, wenn man anderen Menschen die folgenden Übel antut: Mord, Totschlag, Raub, Diebstahl, Geiselnahme, starke Schmerzen, Ängste, Demütigungen (egal ob fahrlässig, unwissentlich, wissentlich), Egoismus und Konkurrenz, Neugier (Forschung) und Langeweile, Ehrgeiz, Ehrsucht, Karrierismus, Eitelkeit, gekränkte Ehre, Angst vor Fremden, Grausamkeit, Neid, Eifersucht, Hass und Selbsthass, Lust an der Zerstörung, Eifer, Zorn und Fanatismus, Verrat, Lüge und Täuschung, Leugnung von Verantwortung, Lebenslüge, Verschwörung und kollektive Verantwortung, Routine, Rollen, Arbeitsteilung, vielfache Rache als Tradition, Strafen etc.5 Melchior. Es tut mir leid, Dennis. Aber ich sehe mich nach diesen endlosen Aufzählungen gezwungen, noch einmal auf Aristoteles zurückzukommen. Mir scheint, dass wir ihn zu Beginn unserer Debatte etwas arg kurz abgehandelt haben. Das möchte ich hier nachholen. Dennis. Wenn du meinst, dass es für den Erkenntnisprozess ein Gewinn ist. Bitte. Melchior. Danke, Dennis. Berühmt ist die Definition, wenn man denn so sagen soll, die Platon Sokrates sagen lässt, worum es sich beim Guten handelt: »Schaut euch die herrliche Sonne an! Sie spendet Licht und Wärme zugleich. Allein die Sonne ermöglicht es uns, zu sehen und zu erkennen. Und zugleich lässt sie auf der Erde alles wachsen und gedeihen. Und ist es mit dem Guten nicht genauso? Es inspiriert und erhellt unser Denken 5
Vgl. Wolf, Jean-Claude: Das Böse. Verlag de Gruyter, 2011
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und bringt uns näher an die Wahrheit. Und je mehr wir erkennen, umso mehr nehmen wir wahr. Unser scharfer Geist verleiht den Dingen um uns herum ihre Kontur und damit ihre Existenz. So wie die Sonne, über allen Dingen stehend, alles durchwirkt, so durchwirkt das Gute – ebenfalls über den Dingen stehend – unsere menschliche Existenz. Mit anderen Worten: So wie die Sonne das Leben schenkt, so verleiht das Gute unserem Dasein Wert und Sinn.«6 Dennis. Gut. Habe ich vernommen und halte dagegen. Es hat schon immer Vernichtungskriege, Exzesse von Mord und Verrat gegeben. Das Böse hat auch schon immer die Religion und die Jurisprudenz beschäftigt. Man könnte mit Höffding sagen: »Das Böse ist in concreto immer ein soziologisches Phänomen … Und – was das Wichtigste ist – die Gesellschaft in ihren verschiedenen Formen und Funktionen ist immer auch ein mitbestimmender Faktor. Die Art und die Intensität, mit welcher das Böse auftritt, ist durch die sozialen Lebensverhältnisse und Lebensformen bedingt«7. Hierzu ein Beispiel von Heller: »Ein Wolf trifft ein Lamm am Fluss und fragt: ›Warum wühlst du mein Wasser auf? Ich will dich fressen.‹ Das Lamm antwortet: ›Ich kann dein Wasser gar nicht aufwühlen, denn du stehst oberhalb von mir.‹ Der Wolf entgegnet: ›Du hast mich voriges Jahr verleumdet, ich muss dich trotzdem fressen.‹ ›Ich war voriges Jahr noch gar nicht auf der Welt‹, verteidigt sich das Lamm. ›Macht nichts‹, sagt der Wolf, ›deine Mutter hat mich verleumdet.‹ Und er frisst das Lamm.«8 Jegliches Böse, so kann man wohl aus dieser Geschichte ersehen, kann man rationalisieren. Allerdings nur um den Preis einer abstrusen, pervertierten Vernunft, die diesen Namen letztlich nicht verdient. Fromm stellt die Frage, ob der Mensch eher Wolf oder doch eher Schaf ist.9 Für das Böse macht Fromm drei Phänomene verantwortlich. 1. Die Liebe zum Toten, 2. den bösartigen Narzissmus und 3. die symbiotisch-inzestuöse Fixierung. Zusammengenommen bezeichnet Fromm diese psychologischen Ereignisse als ein »Verfallssyndrom«10, wel6
Platon: Der Staat. In: Precht, Richard David: Die Kunst, kein Egoist zu sein. Warum wir gerne gut sein wollen und was uns davon abhält. Goldmann Verlag, München 2010, S. 35 7 Höffding, Harald: Ethik. Eine Darstellung der ethischen Prinzipien und deren Anwendung auf besondere Lebensverhältnisse. Fues’s Verlag (R. Reisland), Leipzig 1888. Erschienen bei: Forgotten books, London 2015, S. 93 ff. 8 Heller, Agnes: Die Welt der Vorurteile. Geschichte und Grundlagen für Menschliches und Unmenschliches. Verlag Edition Konturen, Wien 2014, S. 107 9 Vgl. Fromm, Erich: Die Seele des Menschen. Ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen. Ullstein Materialien, o. O., o. J., S. 11 10 Ders., a. a. O., S. 17
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ches den Menschen dazu bringt, ihn dazu verführt, zu zerstören, und dies allein um der Zerstörung willen, weil es ihm eine Form des Genusses bringt. Der Liebe zum Toten setzt Fromm logischerweise die Liebe zum Leben gegenüber. Innerhalb dieses Vergleichs muss jeder Mensch dann selbst entscheiden, sich beobachten, sich therapieren, in welche Richtung es ihn zieht. Melchior. Gut, dann begeben wir uns in den Hermeneutischen Zirkel und lassen noch einmal Kant zu Wort kommen. Kant schreibt das Böse ausschließlich dem Verhalten des Subjekts zu. Nur die Handlungsart, nur die Maxime des Willens, die handelnde Person selbst, kann als böse bezeichnet werden. Wie ich bereits erwähnte, sind nicht die Begierden, die Triebe sind Ursachen des Bösen, sondern nur die Vernunft selbst. Er ist frei, die Würde und die Freiheit anderer zu respektieren, oder eben nicht. Er steht in der Verantwortung. Das Böse entspringt somit der Freiheit des Menschen. Gesellschaftliche Zustände, kollektives Handeln und Naturkatastrophen können nur in einem übertragenen Sinn als böse bezeichnet werden. Aber der Mensch ist gebrechlich und so geschieht immer wieder und überall Böses.11 Es handelt sich demnach um eine destruktive Handlung. Ich halte die Aussage von Kant für schlüssig, dass das Böse im Menschen ist. Er bietet auch eine Lösung für die Überwindung an, nämlich dass der Mensch qua seiner praktischen Vernunft immer auch in der Lage ist, das Böse zu überwinden. Ob er es dann tatsächlich in diesem Sinne tut, steht auf einem anderen Blatt.12 Dennis. Was böse ist, hängt von der Perspektive, den Wertungen und auch dem Wissenshorizont des Sprechenden ab. Aber im Alltag würden wir wohl ohne den Begriff des Bösen nicht auskommen. Wir brauchen ihn schon allein deswegen, um ihn vom Guten abgrenzen zu können. Das sehe ich jetzt ein. So ist es schon erstaunlich, dass es das eigentlich Böse nicht geben kann, weil es immer einer Wertung unterliegt, und trotzdem tun wir so, als ob das Böse ein Fakt wäre, wie: Es regnet. Durch die Existenz des Bösen als sprachlicher Begriff können wir erst verstehen, was das Gute ist. Hier haben wir den seltenen Fall, dass erst durch den Vergleich ein Begriff, wie hier das Böse, zum Leben erweckt wird. Auch eine Tötung ist, wie wir hier ja bereits erwähnt haben, nicht per se böse. Es könnte auch Notwehr gewesen
11 Vgl. Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Herausgegeben von K. Reich et al. Band 519. Hamburg 1999 12 Vgl. Horster, Detlef: Ethik. Verlag Reclam, Stuttgart 2009, S. 77
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sein. Der Kontext verändert die Bewertungen. So kann alles böse sein oder nichts. Melchior. Der Philosoph Philipp Schwind hat an einem öffentlichen Vortrag seine Darstellung des Bösen dargestellt (unveröffentlicht).1314 1. Eine Handlung ist dann böse, wenn eine Pro-Einstellung des Handelnden zu massivem Schaden für ein empfindungsfähiges Wesen vorliegt (mentale Bedingung). 2. Eine Handlung ist dann böse, wenn sich diese Pro-Einstellung in der Handlung manifestiert (Verhaltensbedingung). 3. Eine Handlung ist dann böse, wenn es tatsächlich keinen guten Grund gibt, der für die Handlung spricht (normative Bedingung). Dennis. So weit, so gut, oder so böse. Was fördert nun die Bosheit: Entwurzelung und Marginalisierung, Despotie, Diktatur, Metropolis, Städte, administrative Massentötung, Krieg gegen das Böse, der Fanatismus der Tugend und der Endsieg über das Böse etc.?15 Melchior. Genau. Und dem hat man ja mittels empirischer Experimente versucht nachzugehen. Das Stanford-Prison-Experiment war ein psychologisches Experiment zur Erforschung menschlichen Verhaltens unter den Bedingungen der Gefangenschaft, speziell unter den Feldbedingungen des echten Gefängnislebens, und wurde unter der Leitung von Philip Zimbardo in Stanford vom 14.08. bis 20.08.1971 durchgeführt. Es erlangte weltweite Bekanntheit, weil es wegen der Ausschreitungen, im Sinne bösen Verhaltens, abgebrochen werden musste. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von einem Luzifer-Effekt nach dem Stanford-Prison-Experiment. Sowohl die Gefangenen als auch die Wärter waren vorerst durch ein Zufallsprinzip für ihre jeweiligen Rollen ausgewählt worden. Die Personen kannten sich vorher nicht. Trotzdem entwickelte sich »böses« Verhalten. Zimbardo formulierte die folgenden Grundsätze, die er aus seinem Experiment ableiten konnte:
13 Schwind, Philipp: Die Manifestationstheorie des Bösen. Unver. Seminarskript, EthikInstitut der Uni Zürich, 2019 14 Auch: Schwind, Philipp; Timmermann, Felix: The Manifestation Account of Evil. In: Grazer Philosophische Studien, Nr. 97, 2020, S. 401–418 15 Vgl. Wolf, Jean-Claude: Das Böse. Verlag de Gruyter, Oldenburg 2011
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1. Gedankenlos macht man den ersten kleinen Schritt 2. Entmenschlichung der anderen 3. Entindividualisierung des Selbst 4. Streuung der persönlichen Verantwortung 5. Blinder Gehorsam gegenüber Autorität (vgl. auch: Milgram-Experiment) 6. Unkritisches Anpassen an Gruppennormen 7. Passive Toleranz gegenüber dem Bösen durch Nichtstun oder Gleichgültigkeit16 Es ist Jean-Claude Wolf, der sich in seinem bereits hier erwähnten Buch über das Böse auch mit dem Guten beschäftigt hat und diese Inhalte als Antipoden zum Bösen formuliert. Er bezeichnet sie als Gegenkräfte zum Bösen: Liebe, Vergebung, Versöhnung, Maß und Mäßigung, innere Abwehrkräfte wie Scham, Schuld, Gewissen, Reue, Hoffnung, Tadel, Strafe und die Schaffung verbesserter Lebensbedingungen.17 Dennis. Letztlich muss man festhalten, dass das Böse nicht rational abzuarbeiten ist.18 Es bleibt ein Rest des Unerklärlichen, wenn es um das Böse geht. Dies bedeutet aber keineswegs, dass der Kampf gegen das Böse sinnlos wäre. Es gilt, ihn immer und überall zu führen, egal, ob wir es verstehen, nachvollziehen, erläutern können etc. Holzhey verweist in seinem Fazit auf das »Trostlose«, wenn es um das Böse geht. Sein Kapitel zur Frage des Bösen endet aus meiner Sicht unbefriedigend, wenn er schreibt: »Die gesuchte Wahrheit bleibt relativ und hypothetisch. Führen die geistigen Ressourcen Glaube und insbesondere Hoffnung, verstanden als philosophische Haltungen, weiter?«19 Aus meiner Sicht ist der Verweis auf den Glauben nicht unproblematisch, weil gerade unter der Fahne des Glaubens, egal welcher Couleur, anderen Menschen sehr viel Böses angetan wurde. Der Mensch kann sich böse verhalten, weil er sich so verhalten kann. Dem ist entgegenzuwirken. Bekannt geworden ist das ebenfalls bereits erwähnte Buch von Arendt, das sie als Reporterin für eine US-amerikanische Zeitung anlässlich des Eichmann-Prozesses in Israel verfasst hat. Sie hat die berühmte Formel 16 Vgl. Zimbardo, Philip: Der Luzifer-Effekt. Verlag Springer, Berlin 2016; aber auch: Milgram, Stanley: Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsams-Bereitschaft. Verlag Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1982 17 Vgl. Wolf, a. a. O., 2011 18 Vgl. Holzhey, Helmut: »Wir sehen jetzt durch einen Spiegel«. Erfahrungen an den Grenzen philosophischen Denkens. Verlag Schwabe, Basel 2017, S. 105 19 Holzhey, a. a. O., S. 106
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kreiert, dass Eichmann für sie die Banalität des Bösen wiedergibt. Dafür ist sie dann, nicht zuletzt von jüdischer Seite, massiv kritisiert worden. Persönlich bin ich der Meinung, dass es weit schlechter gewesen wäre, hätte sie Eichmann als Monster, als Ungeheuer etc. charakterisiert. Es gibt in diesem Zusammenhang die Äußerung von Jan Philipp Reemtsma (Buch: Vertrauen und Gewalt), der darauf hinwies, »dass die in Bezug auf den Holocaust meistgestellte Frage schlicht sinnlos ist. Reemtsma beantwortet die Frage: ›Wie ist es möglich, dass normale Menschen solche Verbrechen haben begehen können?‹ lakonisch mit: ›Wer denn sonst? So viele Sadisten laufen nicht herum‹«20. Melchior. Wenn wir das Böse, wie bereits angeführt, als Verletzung unserer Person betrachten, müssen wir uns mit Versöhnung auseinandersetzen. Versöhnung macht man mit sich selbst aus, sie ist ein innerseelischer Prozess. Es bedeutet nicht vergessen, Akzeptanz, Billigung, Verleugnung, Rechtfertigung etc. Versöhnung ist Schmerz und benötigt eventuell jahrelang. Versöhnung muss als ein Verstehensprozess angesehen werden und steht anstelle von Wut, Groll und Selbstmitleid. Es ist der Versuch, eine Bedeutung darin zu sehen, Frieden zu finden. Aber es gibt Verletzungen, die nicht vergeben werden können, wie Vergewaltigung, Missbrauch oder die Shoa. Betrachten wir erneut, was Aristoteles dazu gemeint hat, wenn jemand nicht in der Lage ist, sich mit sich selbst zu versöhnen: »Verbittert ist der schwer zu Versöhnende, der lange Zeit den Zorn festhält, er verschließt die Erregung in seinem Inneren und hört damit erst auf, wenn er Vergeltung geübt hat. Diese Art von Menschen ist sich selbst und den vertrautesten Freunden die schwerste Last.«21 Aber mit Platon lässt sich sagen22, dass sich normale Menschen von Verbrechern und Verbrecherinnen lediglich dadurch unterscheiden, dass die einen davon träumen, während die anderen ihre Träume verwirklichen. Das Böse kommt dann zum Vorschein, wenn die Verdrängung oder auch das Gewissen überwunden wird. Aber es können ebenso soziale Umstände, etwa eine Kriegssituation, dazu führen, dass das Böse legitimiert bzw. nicht mehr sanktioniert wird. »Im Traum und im Krieg ist die Untat erlaubt«23.
20 Neiman, Susan: Moralische Klarheit. Leitfaden für erwachsene Idealisten. Verlag Hamburger Edition, Hamburg 2013, S. 367 f. 21 Aristoteles: Nikomachische Ethik. Verlag Reclam, Stuttgart 2017; vgl. hierzu auch: Noller, Jörg: Theorien des Bösen. Zur Einführung. Verlag Junius, Hamburg 2017, S. 37 ff. 22 Vgl. Bolz, Norbert: Philosophie nach ihrem Ende. Verlag Klaus Boer, Essen 1992, S. 25 23 Ders., a. a. O., S. 25
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Dennis. Letztlich werden wir dem Bösen nur Herr, wenn wir es wie König Hammurabi machen. Melchior. Der machte was? Dennis. Der führte den Codex Hammurabi ein. Diese Gesetzessammlung, in Stein gemeißelt, legte hammerhart die damals gültigen Regeln fest. Er leitete sie vom babylonischen Sonnen- und Gerechtigkeitsgott Schamasch ab. Melchior. Interessant. Dennis. Natürlich müssen wir hier auf den Zertrümmerer der Werte, Nietzsche, zu sprechen kommen. Er unterscheidet die Herren- von der Sklavenmoral.24 Laut Nietzsche sind es in erster Linie die begüterten Schichten, die ihre eigenen Verhaltensweisen als »gut« bezeichnen. Dabei wird gut als vornehm, edel, glücklich, mächtig verstanden. Im Gegensatz dazu werden alle Handlungen von sogenannt niederen Menschen als schlecht definiert, schlicht im Sinne von allgemein und nicht vornehm. Nietzsche: »Wer die Macht, zu vergelten, hat, Gutes mit Gutem, Böses mit Bösem, und auch wirklich Vergeltung übt, also mächtig ist und nicht vergelten kann, gilt als schlecht. … Man gehört als Schlechter zu den ›Schlechten‹, zu einem Haufen unterworfner, ohnmächtiger Menschen, welche kein Gemeingefühl haben. Die Guten sind eine Kaste, die Schlechten eine Masse wie Staub (kursiv i. O.)«25. Im Gegensatz dazu verstehen sich, so Nietzsche weiter, die Unterprivilegierten (Arme, Kranke, Sklaven) immer als das Pendent zu den Privilegierten. Sie verstehen sich selbst schon als gut, weil sie nicht böse sind. Das heißt, ihr Verständnis stellt die Reaktion auf die Privilegierten dar, denen sie mit Ressentiment begegnen. Sie kehren die Argumentation um. Während die Privilegierten sich selbst von sich aus immer als gut bezeichnen, können die Unterprivilegierten dies immer nur als eine Reaktion darauf tun. Nietzsches Fazit hierzu: »Unsere jetzige Sittlichkeit ist auf dem Boden der herrschenden Stämme und Kasten aufgewachsen«26. Melchior. Schließen möchte ich mit einem Wort von Shaw: »Aufgrund des meiner Ansicht nach unüberwindbaren Problems der Subjektivität sollten 24 Vgl. Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Bd. 676/77. Gesammelte Werke 3. Goldmanns Gelbe Taschenbücher, o. J., S. 70 25 Ders., a. a. O., S. 70 26 Ders., a. a. O., S. 71
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wir weder Menschen noch Taten als böse etikettieren. Denn ich sehe ein komplexes System von Entscheidungen, Einflüssen und sozialen Faktoren, und ich weigere mich, all dies in einem einzigen hasserfüllten Wort, dem Wort ›böse‹, zusammenzufassen«27. Dennis. Ich bin erstaunt. Hast du doch eingangs für eine klare Haltung dem Bösen gegenüber votiert. Melchior. Nichts hindert mich daran, ständig dazuzulernen und einmal eingenommene Meinungen und Haltungen zu überdenken, zu relativieren oder sogar zu ändern. Dennis. Ein großes Wort, gelassen ausgesprochen. Darum beneide ich dich. Ich glaube, ich bin da noch nicht so weit.
27 Shaw, Julia: Böse. Die Psychologie unserer Abgründe. Verlag Carl Hanser, München 2018, S. 284
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Technik: Segen oder Fluch? Eine Vergleichsabwägung »Wir wissen zwar nicht, wohin wir wollen, werden aber als erste dabei sein.« »Die Computer-Revolution ist vorbei. Sie haben gewonnen.« (beide: Volksmund, unbekannt)
Abigail: weiblich, aus der Bibel übernommener Vorname. In der Bedeutung von Vaterfreude. Gratia: weiblich, aus dem Lateinischen übernommener Vorname. In der Bedeutung von die Anmutige. Gunnar: männlich, skandinavische Form zu Günter. Kyra: weiblich, aus dem Griechischen. In der Bedeutung von die Frau aus Kyrenaika. Mombert: männlich, aus dem Althochdeutschen. »Muni« = Geist, Gedanke und »beraht« = glänzend. Hans: männlich, Kurzform von Johannes, als biblischer Vorname. Aus dem Hebräischen »jochanan«, in der Bedeutung von Jahwe ist gnädig. Mombert. Bereits der Philosoph Arnold Gehlen hat sich mit dieser hier im Titel gestellten Frage dezidiert auseinandergesetzt. Er spricht von einer Superstruktur der Technik in der Neuzeit. Dabei ist nicht nur die Entwicklung der Technik als solcher von entscheidender Bedeutung, sondern auch die kapitalistische Produktionsweise, die er für diese Entwicklung verantwortlich macht.1 Kyra. Hinzu kommt natürlich die Entwicklung der Naturwissenschaft. Heute würden wir diese als MINT-Bereiche (Mathematik, Informatik, Na1
Vgl. Gehlen, Arnold: Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft. Verlag Rowohlt, Hamburg 1972, S. 11 ff. Technik: Segen oder Fluch? Eine Vergleichsabwägung
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turwissenschaft und Technik) bezeichnen. Auch Hösle ist überzeugt, dass die Technik ein philosophisches Schlüsselproblem geworden ist, weil das Schicksal der Menschheit, so seine Meinung, »in den Händen der Technik liegt«2. Die Technik, die so alt ist wie die Menschheit, stellt aber, so Hösle weiter, in der heutigen Zeit etwas qualitativ völlig Neues dar. Gunnar. Der Meinung bin ich nun überhaupt nicht. Die Technik gehört zum Menschen, ob seines Verstandes, seiner Denkkapazität. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Dass es gegenwärtig nun anders, mehr oder was auch immer sein soll, halte ich für Gefasel. Das Rad war vermutlich für die damaligen Menschen genauso spektakulär wie für uns heute etwa die Atomkraft oder der Ordinateur. Hans. Ordinateur? Kyra. Gunnar will wieder einfach nur angeben. Die Franzosen nennen den Computer so, weil sie die Anglizismen nicht in ihrer Sprache haben wollen. Wichtig erscheint mir auch, was Harari meint: »Die Beziehung zwischen Wissenschaft und Technologie ist so stark, dass heute viele die beiden verwechseln.«3 Mombert. Das ist ein gutes Stichwort. Wenn man heute über Technik spricht, dann kommt früher oder später, meistens früher, die Frage nach den Neuen Informationstechnologien, sprich: Computer aufs Tapet. Betrachten wir eine Veröffentlichung aus dem Jahre 1987 zu diesem Thema, die – notabene – 35 Jahre alt ist.4 Die Verfasser:innen stellen drei Punkte in den Vordergrund. 1. Dabei geht es um die Schnittmenge von Mensch und Computer. Wo greift der Mensch in die Welt der Computer ein und umgekehrt? Besteht nicht die Gefahr, so die Verfasser:innen, dass sich die beiden Teile diametral gegenüberstehen? Heute kann dazu gesagt werden, dass sie eventuell die Adaptionsfähigkeit des Menschen unterschätzt haben. Gratia. Der Mensch passt sich dem Computer an, ob er will oder nicht. Tut er es nicht, ist er nicht mehr, so meine Meinung, überlebensfähig in der Ge2 3 4
Hösle, Vittorio: Praktische Philosophie in der modernen Welt. Verlag C. H. Beck, München 1992, S. 87 ff. Harari, Yuval Noah: Eine kurze Geschichte der Menschheit. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2013, S. 317 Vgl. Haefner, Klaus; Eichmann, Ernst H.; Hinze, Claudia: Denkzeuge. Was leistet der Computer? Was muss der Mensch selbst tun? Verlag Birkhäuser, Basel 1987, S. 184
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sellschaft. Er müsste ohne Computer ein asketisches Leben in einer Höhle führen. Mombert. Lasst mich das zu Ende führen. 2. Die Mensch-Mensch-Kommunikation wird zunehmend durch eine Computer-Computer-Kommunikation ersetzt. Diese Voraussage ist m. E. in der hier geäußerten Art und Weise, sprich Gefahr, nicht eingetreten. Es ist auch gegenwärtig noch der Mensch, der die Computer-Kommunikation beherrscht oder diese steuert. Ein selbstständiges Austauschen von Daten und Informationen allein durch die Rechner vermag ich nicht zu sehen. Hans. Gibt es in der Science-Fiction-Literatur. Mombert. Immer diese Unterbrechungen, das nervt. 3. Hier wurde von den Verfassenden prognostiziert, dass das Bildungswesen seine Monopolstellung verlieren wird. »Der alte Human-Kapital-Ansatz, der (fast) alle Investitionen in menschliche Qualifikationen als sinnvoll auswies, ist nicht mehr gültig«5. Abigail. So ein Quatsch. Davon kann m. E. nun überhaupt nicht die Rede sein. Natürlich hat der Computer Einzug in die Schule gehalten, aber er hat Bildung und Schule in keiner Art und Weise überflüssig gemacht. Auch das Homeschooling, wie es während des Lockdowns (2020) praktiziert wurde, praktiziert werden musste, hat die Schule und ihre Vertreter:innen, sprich: Lehrkräfte in keiner Art und Weise ersetzt. Im Gegenteil. Hans. Genau. Sie waren stärker gefordert denn je. Kyra. Wir sehen also, dass es eben schon so eine Sache ist mit Vorhersagen und es wohl zum Wesen von Prognosen gehört, dass diese in den seltensten Fällen Wirklichkeit werden. Von Bestehendem auf das Kommende zu schließen, erscheint mir oft ein Glücksspiel zu sein. Hans. Sehe ich auch so wie Kyra. Gunnar. Zurück zum Thema als solchem. Über viele Jahrhunderte wurde die Entwicklung der Technik bzw. ihre Erzeugnisse als ein Segen für die
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Dies., a. a. O., S. 185
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Menschheit angesehen.6 Nordmann7 macht denn auch auf die im 20. Jahrhundert wichtigen Hauptpersonen aufmerksam, die sich besonders mit dieser Problematik auseinandergesetzt haben. Es sind dies vor allem Jonas8 und Marcuse einerseits und Heidegger andererseits. Es war insbesondere Marcuse, der auf den Herrschaftscharakter der Technik und ihrer Förderung sowie ihrer Entwicklung hinwies. Technik, so sein Credo, ist nicht neutral und nie wertfrei. Mit der Naturbeherrschung ist immer auch die Beherrschung von Menschen verbunden; automatisch. Hans. Ich denke, dass die erste Technik, um auch mal wieder daran zu erinnern, Abwassersysteme waren. Die Leute wollten ja nicht in ihren eigenen Exkrementen ersticken oder diese ständig in der Nase haben. Abigail. Das erste Abwassersystem, habe ich mal irgendwo gelesen, gab es bereits vor mehr als 2500 Jahren. Finde ich sehr spannend. Hans. Finde ich auch interessant. Kyra. Es geht. Lasst uns doch in der Jetztzeit bleiben. Abigail. Ja, ich denke auch, dass wir in der heutigen Zeit bleiben wollen. Wir verlieren uns sonst. Im Gegensatz zu Jonas war aber Marcuse nicht unbedingt der Technik und ihrer Entwicklung feindselig gegenüber eingestellt. Marcuses Forderung war ein neues Denken, das die Vernunft stärker in den Vordergrund rücken sollte. »Gesellschaftskritik ist dabei vor allem Kritik an einer technokratischen Gesellschaft mit ihrer eindimensionalen, alles verflachenden technischen Vernunft«9. Gratia. Wenn wir nun den Faden weiterspinnen, und wir müssen dies tun, weil wir mittlerweile längst in einer digitalen, digitalisierten und computerisierten Welt leben, so sind die Bedenken gegenüber der Technik wohl nicht kleiner geworden. Wir haben heute Angst davor, weil wir nicht genau wissen oder schon längst nicht mehr den Überblick haben, was mit unseren
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Vgl. Nordmann, Alfred: Technikphilosophie zur Einführung. Verlag Junius, Hamburg 2008, S. 124 ff. Ders., a. a. O., S. 130 Jonas, Hans: Technik, Medizin und Ethik. Zur Praxis des Prinzips Verantwortung. Insel Verlag, Frankfurt/M. 1990 (3. Aufl.) Nordmann, a. a. O., S. 133
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Daten passiert. Wer überhaupt, verwendet zu welchem Zweck Informationen über uns? Mombert. Aber das ist ja noch nicht alles. Uns beunruhigt auch die Zerstörung der Natur, die Überfischung der Meere, die ohne große Fischtanker gar nicht möglich wäre. Auch die Abholzung des Regenwaldes beunruhigt uns sehr und sie wäre ohne die großen Maschinen gar nicht möglich, wenn noch jeder Baum von Hand mit der Axt gefällt werden müsste. Die Beispiele hierfür sind endlos. Kyra. Das stimmt schon, was Mombert ausführt. Andererseits empfinden wir es als gut, dass es z. B. im medizinischen Bereich den Kaiserschnitt gibt oder bei einem Herzinfarkt ein Stent gesetzt werden kann. Auch genießen wir es, dass wir im Winter über eine zentral gesteuerte Heizung verfügen. Von Automobilen und E-Bikes ganz zu schweigen. Auch diese Beispielliste wäre endlos. Hans. Schon klar. Die Frage ist, ob Technik immer auch unauflöslich die Zerstörung der Natur bedeutet? Die Beantwortung dieser Frage rührt an die Frage, inwieweit eine Technikethik sinnvoll sein könnte. Ethik in diesem Zusammenhang muss zum einen klären, wer handelt oder handelt nicht, wer von dieser Handlung betroffen ist oder auch nicht, und letztlich muss auch der Frage nachgegangen werden, worin diese Handlung überhaupt besteht? Mombert. Genau. Es geht hierbei zugleich um Verantwortlichkeiten. Wenn im Pazifik aufgrund eines technischen Fehlers Öl ausläuft und eine Umwelt-Katastrophe droht, so ist nicht nur die Beantwortung der Frage notwendig, was war hier der Fehler, sondern auch, warum basiert die herzustellende Energie überhaupt auf Öl, wofür wird diese Energie gebraucht und wäre eventuell nicht auch eine andere Transportart, eine andere Transportroute sinnvoller gewesen? Man sieht schon an diesem einfach nur hier so »locker« hingeworfenen Beispiel, dass die Beantwortung der o. g. Frage sehr komplex ist. Damit kommen in einem weiteren Umfeld natürlich zudem die Nutznießer dieses Öls ins Spiel. Kyra. Wenn es aber, als ein weiteres Beispiel, darum geht, wie wir mit unseren Daten und Informationen, die im World Wide Web untergebracht sind, umgehen sollen, wird die Sache noch komplexer und zentrale Personen, die
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sich zur Technik geäußert haben, u. a. Aristoteles, Heidegger, Arendt oder Habermas, können uns, so meine Auffassung, hier nicht weiterhelfen. Hans. Vielleicht ja doch. Man muss deren Aussagen eben auf die gegenwärtige Zeit transponieren. Gunnar. Hans, du bleibst ein Idealist. Die Fehlerquote wäre viel zu hoch und wir haben ja bereits festgestellt, dass Prognosen immer ein hohes, zu hohes Maß an Relativität in sich bergen. Bleiben wir doch bei den Fakten. Hans. Wenn du meinst. Gratia. Ich bin auch für die Fakten. So kann man ohne Weiteres festhalten, dass man viele Herstellungsprozesse in ihrer Kompliziertheit überhaupt nicht mehr auch nur annähernd zu begreifen in der Lage ist. Wie ein Großrechner entworfen, entwickelt und hergestellt wird, kann ich in keinster Art und Weise nachvollziehen. Genauso wenig kann ich dann, wenn er ein Teil des weltweiten Netzes geworden ist, einschätzen, welche Gefahren von ihm ausgehen könnten. Überforderung pur, kann man da ehrlicherweise nur feststellen und hoffen. Hans. Worauf, bitte schön, willst du hoffen? Mombert. Hoffen, dass die Verantwortlichen, wer ist das überhaupt, die Sache im Griff haben, dass sie Sicherheit gewährleisten, was passiert, wenn etwas passiert. Wer haftet dann? Das technische Artefakt begegnet mir als eine Form des King-Kong, als ein Dinosaurier aus einem Fantasyfilm. Dort geht es allerdings immer gut aus. Kyra. Ein großes Problem. Wir haben es nicht mehr im Griff oder nur noch sehr wenige haben den Überblick. Mombert. Ja, eine gefährliche Situation. Hans. Vielleicht wären da eben Prognosen, auf wissensbasierter Ebene, doch nicht so falsch. Abigail. Er gibt nicht auf. Aber vielleicht sollte man sich doch mehr mit der Prognostizierbarkeit unserer Zukunft beschäftigen.
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Gunnar. Es gibt doch die Zukunftsforscher:innen, die Thinktanks. Aber gut, lassen wir das mal so stehen. Gratia. Ein Vorschlag zur Güte. Bekannt sind ja die drei Gesetze bezüglich des Wohlverhaltens von Robotern. Ich zitiere sie hier einmal. Vielleicht helfen sie uns etwas weiter. »1. Ein Roboter darf keinen Menschen verletzen oder durch Untätigkeit zu Schaden kommen lassen. 2. Ein Roboter muss den Befehlen eines Menschen gehorchen, es sei denn, solche Befehle stehen im Widerspruch zum ersten Gesetz. 3. Ein Roboter muss seine eigene Existenz schützen, solange dieser Schutz nicht dem ersten oder zweiten Gesetz widerspricht«10. Mombert. Diesen Gesetzen, das muss kritisch angemerkt werden, kommt wohl nur noch historische Bedeutung zu. Die Komplexität technologischer Entwicklungen hat diese Gesetze längst ad absurdum geführt. Es scheint in hohem Maße unlogisch zu sein, dass technologischen Entwicklungen ein moralischer Status einprogrammiert wird oder werden könnte. Kyra. Da bin ich ganz bei Mombert. Mombert. Dass ich das noch erleben durfte. Gott seis getrommelt und gepfiffen. Kyra. Doof-Mann! Abigail. Wenn das Geplänkel sein Ende gefunden hat, würde ich gerne weitermachen. Da hilft m. E. das Buch von Hans Jonas: »Prinzip der Verantwortung – Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation« wohl eher weiter. Ausgangspunkt von Jonas Überlegungen ist die Feststellung, dass die Entwicklung der Technik eben nicht nur eine Verheißung ist, sondern immer auch mit einem Unheil verbunden sein kann. Hier finden wir einen klassischen Vergleich. Der übergroße Erfolg einer Erfindung, eben 10 Nordmann, Alfred: Technikphilosophie zur Einführung. Verlag Junius, Hamburg 2008, S. 161. Nach: Asimov, Issac: Mein Roboter. Essay. Robotervisionen. Verlag Bastei, Band 21, Bergisch-Gladbach 1994
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eines Artefakt-Monsters, birgt die Katastrophe bereits in sich. Eine dialektisch orientierte Überlegung. Hans. Ich ergänze. Die Umweltzerstörung ist hierfür ein beredtes Beispiel. Wir brauchen Holz, wir brauchen Öl, wir brauchen Erze jeglicher Couleur und können damit unser Leben lebenswerter machen, wir können es sogar verlängern, weil wir besser leben als die Generationen vor uns, die noch nicht diesen hohen technologischen Standard erreicht haben. Wir können mit diesen Erfindungen Armut, Krankheiten, Elend etc. bekämpfen. Dies alles ist ohne Technik nicht möglich. Aber wohin wird uns die Gentechnologie führen? Gratia. Muss diese nun auch noch verhackstückt werden? Hans. Ja. Sie muss, weil sie ein besonders interessantes Gebiet in der Ethik der Technik-Folgen-Abschätzung ist. Gratia. Nun gut, wenn es denn sein muss und der Wahrheitsfindung dient. Hans. Seien wir ehrlich: Wir wissen es nicht, was die Wahrheit ist, und benötigen da wieder die bereits erwähnte Hoffnung. Sollten sich hierbei Probleme ergeben, und von der Wahrscheinlichkeit her betrachtet, kann dies keinesfalls ausgeschlossen werden, so können wir sie höchstens verdrängen. Es bleibt uns auch gar nichts anderes übrig. Gunnar. Na super. Mehr haben wir da als Menschheit nicht zu bieten? Abigail. Eine Konsequenz wäre ja, wenn wir das verhindern wollten, dass wir den technologischen Fortschritt verbieten müssten. Meines Erachtens ein sowohl unmögliches als auch unsinniges Verhalten und kann in der Geschichte der Menschheit auch nicht beispielhaft gefunden werden. Jonas fühlte sich einem physiozentrischen Ansatz verpflichtet. Demgemäß existiert die Natur für sich selbst, ist sich selbst ihres Wertes inhärent. Keinesfalls ist die Natur da, um Bedürfnisse des Menschen zu befriedigen. Gunnar. Aber auch hier wiederum ergibt sich die Frage nach der Verantwortlichkeit. So meint denn Wetz zu den Ausführungen von Jonas, dass sein Ansatz »sicherlich viele Menschen vom Gefühl her«11 anspricht, dass 11 Wetz, Franz Josef: Hans Jonas zur Einführung. Verlag Junius, Hamburg 1994, S. 143
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dieser aber einer rationalen Analyse nicht standhält. Dem würde ich mich anschließen wollen. Es ergibt sich ein nicht unbedingt neues Problem, nämlich wie metaphysische Aussagen, die berechtigterweise auf massive Problemstellungen und Dilemmata hinweisen, um- und durchgesetzt werden können. Dies dergestalt, dass nicht andere ethische Grundsätze verletzt werden. Die Quadratur des Kreises ist wohl noch nicht erfunden worden, auch deshalb nicht, weil sich (vermutlich) noch keine Ingenieure und Ingenieurinnen damit auseinandergesetzt haben. Kyra. Sehr witzig, wirklich. Hilft uns aber nicht weiter. Mombert. Neben der Künstlichen Intelligenz war in der Vergangenheit insbesondere die Gentechnologie stellvertretend hier benannt, für die Frage, ob der technische Fortschritt eher als Segen denn als Fluch zu bezeichnen ist. Wir haben sie bereits erwähnt. Krause schreibt hierzu: »Die Entwicklung der genetischen Forschung gleicht der eines Überschallflugzeuges, dessen großartige Versprechungen uns faszinieren, während wir nur ahnen, welche Risiken in der Technik lauern könnten. Wir stehen kurz vor dem Durchbrechen der Schallmauer, aber welchen Knall wir hören werden, wissen wir nicht«12. Hans. Das ist mir zu blumig. Damit kann ich nicht viel anfangen. Aber die Ängste waren einmal riesengroß und sind heute weitestgehend verschwunden. Kyra. Ja, aber das hängt wohl eher damit zusammen, dass diese Ängste durch die Digitalisierung, Corona, Ukraine und die Klimaerwärmung etc. über- oder verdeckt werden. Hans. Das mag sein. Aber es ist trotzdem einmal interessant, sich anzusehen, wie Gentechnologie in früheren Jahren kolportiert wurde. Aus einem Band »Ästhetik und Kommunikation«13 entnehme ich die folgenden ca. 35 Jahre alten Überschriften:
12 Krause, Johannes; Trappe, Thomas: Die Reise unserer Gene. Eine Geschichte über uns und unsere Vorfahren. Verlag Ullstein, München 2021 (5. Aufl.), S. 253 13 Ästhetik und Kommunikation. Heft 69: Gentechnologie. Die Macht der Wissenschaft über die Phantasie des Alltags, Jg. 18, 1988
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• Ver-rückte Gene. Die inhärenten Risiken der Gentechnologie und die Defizite der Risikodebatte (Regine Kollek) • Grüne Gene (Engelbert Schramm) • Haltlose Ethik (Thomas Kluge) • Biologie als Ingenieurskunst. Zur Dialektik von Naturbeherrschung und synthetischer Biologie (Rainer Hohlfeld) • Gentechnologie als Element der Informationsgesellschaft (Thomas Kluge) • Prometheische Schamlosigkeit (Klaus Gabbert) • Das unpolitisierte Politikum der Gentechnologie. Ein Kapitel aus der Dialektik der Aufklärung (Wolf-Dieter Narr) • Die zweite Generation der Monstren. Biochemische Wissenschaften und Literarischer Horror (Hans Richard Brittnacher) Mombert. Interessant auf jeden Fall. Aus diesen Überschriften der einzelnen Kapitel dieses Sammelbandes lässt sich unschwer erkennen, dass der hauptsächliche Tenor der Veröffentlichungen ein kritischer, ein sehr kritischer ist. Es wäre lohnend, aber hier nicht der richtige Ort, diese Texte einer Analyse zu unterziehen, was aus den Ängsten, Befürchtungen und Weissagungen der Verfasser:innen ca. 33 Jahre später geworden ist. Dabei möchte ich nicht verhehlen, dass ich selbst eine kritische Haltung diesen neuen Technologien gegenüber habe und in der Vergangenheit oft auch in Diskussionen eingenommen habe, dass es aber extrem schwierig ist, so will mir scheinen, wenn man allzu leicht Prognosen auf die Zukunft hin bezogen abgibt. Dieses Thema hatten wir hier ja schon. Hier wäre wohl Kritik als solche oft nicht falsch, aber eventuell wäre weniger mehr. Gratia. Erwähnt werden soll an dieser Stelle auch der Basler Appell gegen Gentechnologie, der am 5./6. November 1988 in Basel hierzu einen Kongress durchführte.14 Hans. Eine gewisse Popularität, sprich Öffentlichkeit, erfuhr auch die Veröffentlichung von Habermas. Er schreibt: »Damit ist das Thema auf die Frage eingegrenzt, ob sich der Schutz der Integrität unmanipulierter Erbanlagen mit der Unverfügbarkeit der biologischen Grundlage personaler Identität
14 Vgl. Keller, Christoph; Koechlin, Florianne (Hrsg.): Basler Appell gegen Gentechnologie. Materialienband. Rotpunktverlag, Zürich 1989
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begründen lässt«15. Habermas kommt aber zum Schluss, dass ein Widerstand »gegen eine befürchtete Veränderung der Gattungsidentität heute«16 durchaus zu rechtfertigen wäre. Abigail. Bereits drei Jahre früher veröffentlichte Hans-Georg Wehling17 ein kleines Sammelbändchen, in dem es bereits um die technologische Revolution und ihre Folgen ging. Er hat natürlich nicht das Renommee eines Habermas und deshalb ist seine Veröffentlichung nicht so bekannt geworden, trotzdem aber lesenswert. Kyra. Wenn wir schon dabei sind: In seinem Eingangskapitel setzte sich Erlwein18 vor nahezu 40 Jahren mit dem Siegeszug der Mikroelektronik auseinander und prophezeite, dass sie unser Leben nachhaltig verändern würde. Er war bereits damals überzeugt, dass die Auswirkungen strittig sein werden, auch deswegen, weil die Menschen technologischen Neuerungen schon immer sehr ambivalent gegenübergestanden hätten. Man war der Meinung, dass die Mikroelektronik den Menschen von jeglicher stumpfsinnigen, repetitiven Arbeit befreien würde. Eine kommunistische Endgesellschaft19 wurde von den Befürwortenden in Aussicht gestellt: »Für das sozialistische und kommunistische Bewusstsein sei kennzeichnend, dass die sich steigernde Revolutionierung der materiellen Produktion ein Stimulans der intellektuellen und physischen Aktivität darstellt«20. Hans. Das war eine Seite. Aber die technologische Revolution wurde von ihren Kritikern und Kritikerinnen überdies als eine große Verführung und damit als eine Entmündigung verstanden. Aber letztlich war man schon der Meinung, dass der technologische Fortschritt nicht aufzuhalten wäre und gewissermaßen als ein Imperativ zu verstehen sei, dem sich niemand entziehen könne. So machte dann das Wort »Computopia« die Runde und man stellte sich die Frage, ob die neuen Technologien ein Mehr oder ein Weniger an politischer Mitbestimmung bedeuten würden. Aber auch bei dieser Frage konnte man sich letztlich nicht einigen. Will sagen, hat der Mächtige 15 Habermas, Jürgen: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik. Verlag Suhrkamp, Frankfurt/M. 2005 (4. Aufl.), S. 51 16 Ders., a. a. O., S. 125 17 Wehling, Hans-Georg: Die technologische Revolution und ihre Folgen. Verlag Kohlhammer 18 Erlwein, Willy in: Wehling, a. a. O., S. 9 ff. 19 Vgl. ders., a. a. O., S. 11 20 Ders., a. a. O., S. 13
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durch die Möglichkeit seines Zugriffs auf unendlich viele Daten noch mehr Macht, als er sowieso schon hat, oder kann die Technologie zu mehr Demokratie führen? Man war sich in der Frage einig, dass man den Prozess, den man ohnehin nicht mehr aufhalten konnte (oder wollte), genau beobachten musste. Die Weichen sollten in Richtung »Gedeih«21 gestellt werden. Eine ähnliche Entwicklung erhoffte sich auch Erich Fromm.22 Gunnar. Ein anderes, wie ich finde, sehr interessantes Beispiel will ich hier noch zum Besten geben. Einen auf den ersten Blick seltsamen Vergleich stellt nämlich Günther Anders23 an. Er vergleicht den Atombombenabwurf auf Hiroshima (und Nagasaki) mit dem Vernichtungskrieg gegen als andersartig deklarierte Menschen bzw. den Konzentrationslagern. Der Vergleich hier wäre, auf eine kurze Formel gebracht, Hiroshima versus Auschwitz. Es geht nicht um die Frage der Ethik, sondern darum, dass in beiden Fällen auf einem technologischen und logistischen Niveau extreme Höchstleistungen vollbracht worden sind. Anders versucht dann, die Frage zu klären, was als schlimmer zu gewichten ist – wäre dann eben doch eine ethische Fragestellung, wie ich meine –, und kommt zum Schluss, dass Auschwitz als das (noch) bösere Übel zu betrachten ist. Dies deswegen, weil hier viele Menschen über Jahre an der Vernichtung mittel- und vor allem auch unmittelbar mitgewirkt und sich dann letztlich mit einem (Führer-)Befehl herausgeredet haben. Hans. Hannah Arendt hat hierfür die weltbekannte Formel von der Banalität des Bösen kreiert. Gunnar. Hm, ob das jetzt hier so passt, lassen wir einmal dahingestellt. Anders folgert im Weiteren, dass es bei Hiroshima um die Beendigung eines Krieges ging, der, darüber mögen sich die Historiker:innen streiten, anders nicht so kurzfristig zu beenden gewesen wäre. Man wäre fast geneigt, das in der Ethik bekannte Prinzip der Doppelwirkung zu beanspruchen, bei dem negative Konsequenzen dann in Kauf genommen werden, wenn sie in der Folge eine positive Wirkung nach sich ziehen. Ich vermag das nicht zu entscheiden. 21 Ders., a. a. O., S. 28 22 Vgl. Fromm, Erich: Die Revolution der Hoffnung. Für eine Humanisierung der Technik. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1991 (2. Aufl.), insbesondere das 5. Kapitel, S. 115 ff. 23 Vgl. Schubert, Elke: Günther Anders. Verlag Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1992, S. 76 ff.
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Abigail. Ein weiteres Beispiel, auf das ich in der gebotenen Kürze eingehen möchte, ist die Frage nach der Förderung von Erdöl. In unser aller Kenntnis sind die immer wieder auftretenden Havarien von Erdöltankern auf den Weltmeeren, die zu massiven Schädigungen an der Flora und Fauna der Meere und ihrer Küsten führen (z. B. Exxon Valdez vor der Küste Alaska 1989). Erinnern möchte ich, exemplarisch, ferner an den Brand auf der Bohrplattform »Deepwater Horizon« im Golf von Mexiko im Jahr 2010.24 Aufgrund der hohen Gewinnmargen in diesem Business ist auch die Gefahr von Korruption enorm hoch. Auf die Problematik reicher, sehr reicher und armer, sehr armer Länder, die über oder über keine Ölvorkommen verfügen, will ich hier gar nicht näher eingehen. Die Vergleiche springen einem ins Auge und sind kaum auszuhalten. Wenn im Persischen Golf kleine Skipisten mit dem durch Erdöl erwirtschafteten Geld gebaut werden können und in anderen Teilen der Welt das Einkommen pro Tag bei ca. einem Dollar liegt, so kann man wohl in etwa den Vergleich herstellen. Das wiederum bedeutet, dass durch die Erfindung der Technologie das Erdöl gefördert werden kann (das gleiche gilt auch für Erdgas oder die Abholzung von Wäldern im großen Stil) und eine endlose Reihe von Folgeproblemen geschaffen worden ist. Durch diese Entwicklung ist an einigen (wenigen) Orten auf der Welt der Reichtum in uferlose Größen entschwunden, während er in anderen Regionen die Erde und damit die Lebensbedingungen unbewohnbar gemacht und die dortigen zahlreichen Bevölkerungen einer enormen Verarmung anheimgestellt hat. Hans. Schlimm, wirklich sehr schlimm. Kyra. Aber auch heute noch werden von nicht unwichtigen (industriellen) Kreisen der Gesellschaft Technik und ihre Folgen mit dem Neutralitätsargument belegt. Dieses besagt, dass die Technik als solche in sich wertneutral ist. Auch die eingangs gewählte, doch etwas provozierende Kapitelüberschrift wird durch diese Brille betrachtet als falsch gewertet. Dies deswegen, weil es nicht der Technik, der Wissenschaft obliegt, hier über Segen oder Fluch, gut oder böse zu urteilen. Es obliegt allein der Gesellschaft, der Politik darüber Entscheidungen zu fällen. Die Frage der Technik ist lediglich, darüber zu urteilen, ob sie funktioniert oder nicht, ob sie verbessert werden kann oder nicht. Der Einsatz der Technik liegt nicht im Aufgabenbereich 24 Vgl. Jakobeit, Cord: Rohstoffreichtum – Erdöl als Segen oder Fluch für die Entwicklung. In: Buchmüller, Wilfried; Jakobeit, Cord (Hrsg.): Erkenntnis, Wissenschaft und Gesellschaft. Wie Forschung Wissen schafft. Verlag Springer, Berlin 2016, S. 129
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der Techniker:innen. Wissenschaft und Technik können, und das ist das Hauptargument der Verfechter:innen der Neutralitätsthese, immer, und die Geschichte hat dies x-mal gezeigt, für unterschiedliche Zwecke eingesetzt werden. Mombert. Eine sehr gute Ergänzung, Kyra, wie ich finde. Der Philosoph Bayertz25 ist damit auch nicht einverstanden und begründet seine Meinung, warum Technik nicht moralisch neutral ist, nicht neutral sein kann. Technische Systeme, so Bayertz »sind sozial, politisch und moralisch auch deswegen nicht neutral, weil ihre Konstruktion, Implementierung und täglicher Betrieb notwendig mit bestimmten Formen der zentralisierten und hierarchischen Organisation verbunden sind, d. h. mit der Ausübung von Macht und Autorität; sie implizieren spezifische Formen der Strukturierung des sozialen Lebens insgesamt und sind daher ›inhärent politisch‹«26. Wenn dem aber so ist, wie Bayertz es hier formuliert, dann kann zwar die Frage, ob die Technik ein Segen oder ein Fluch ist, immer noch eindeutig beantwortet werden, aber es ist offensichtlich, dass die Technik bzw. die ihr zugrunde liegende Wissenschaft einer allgemeinen, d. h. staatlichen Kontrolle unterliegen muss. Technik ist somit, nach Bayertz, immer auch eine Frage der politischen Ethik und der Sozialethik.27 Gratia. Ich mache jetzt hier einmal die advocata diaboli. Eine ganz andere Auffassung soll hier ebenfalls zu Wort kommen: Eine Aufarbeitung des Grundproblems, ob die Technik eher Fluch oder Segen ist, stellt die AkteurNetzwerk-Theorie28 (ANT) dar. Sie will aufzuzeigen, dass sich der Mensch seine Maschinen nach seinem eigenen Bild konstruiert, d. h. nach dem Bild, das er sich von sich selbst macht. »Jedes technische Artefakt, von einfachen Werkzeugen bis hin zu Supercomputern, besitzt nicht nur von seiner Entstehungsgeschichte her, sondern in seiner Organisation und seinem Operieren in irgendeiner Form menschliche und soziale Eigenschaften«29. Hierbei wird die Technik, die Maschine nicht als Werkzeug, sondern als Partner empfunden. Die Forderung des ANT ist denn auch folgerichtig, dass Ma25 Bayertz, Kurt: Wissenschaft, Technik, Verantwortung. In: Bayertz, Kurt (Hrsg.): Praktische Philosophie. Grundorientierungen angewandter Ethik. Verlag Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 173 ff. 26 Ders., a. a. O., S. 181 27 Vgl. ders., a. a. O., S. 207 28 Vgl. Belliger, Andrea; Krieger, David J. (Hrsg.): Anthology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Verlag transcript, Bielefeld 2006 29 Vgl. dies., a. a. O., S. 15
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schinen als soziale Akteure zu betrachten sind. Dabei darf der Verweis nicht fehlen, dass der Mensch nicht nur mit den Maschinen hantiert, sondern mit diesen interagiert, d. h. in einem unmittelbaren Austausch steht. Daraus entwickelt sich die Forderung, »dass es für uns Menschen von Vorteil wäre, sich mit jenen Wesen anzufreunden, die bisher unbeachtet blieben. Dies ist vor allem in jenem Moment angebracht, wo wir erkennen, dass diese Wesen uns Menschen ausmachen«30. Damit ist für Vertreter:innen des ANT klar, dass die Technik ein Segen ist oder sich für sie diese Frage gar nicht (mehr) stellt, weil sie die Technik in eine derart enge Beziehung zum Menschen stellen, dass eine Teilung, im Sinne von hier der Mensch, da die Technik, gar nicht relevant zu sein scheint. Der Mensch ist ein Teil der Maschine geworden und umgekehrt. Da werden dann Vergleiche müßig. Hans. Ich bin damit, rein gefühlsmäßig, nicht einverstanden, aber die Aussagen entbehren nicht einer gewissen Logik. Es wird komplex, Leute. Kyra. Ach was, ich finde das Nonsens und ihr erkenntnisleitendes Interesse besteht wohl in der Hauptsache darin, Kohle zu generieren, und zwar die auf dem eigenen Bankkonto. Abigail. Eine wohl etwas stark vereinfachte Darstellung, meine Liebe. Kyra. Und was soll daran falsch sein, meine Gute? Abigail. Ich habe nicht »falsch« gesagt, sondern vereinfacht. Zuhören, meine Gute. Kyra. Vereinfacht heißt für mich falsch, Abigail. Hans. Meine Damen, es reicht. Gratia. Finde ich auch. Mombert. Tun wir so, als ob nichts gewesen wäre. Einen weiteren Aspekt bringt Böhme in die Diskussion ein.31 Er thematisiert die künstliche Natur und fragt, ob sie ein Paradox sei. Im Grunde schließen sich die bei30 Dies., a. a. O., S. 46 31 Vgl. Böhme, Gernot: Über Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Verlag Suhrkamp, Frankfurt/M. 1992, insbesondere ab S. 183
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den Begriffe gegenseitig aus. Wenn man die berühmte Nachahmungsthese hinzuzieht, sieht die Sache anders aus. So gesehen, ist Kunst und Technik eine Nachahmung der Natur. Bekannt ist hierbei auch, dass noch Leonardo da Vinci versucht hat, zu fliegen, indem man die Technik der Vögel nachahmen wollte. Dass dies dann nicht gelang, weil man den Auftrieb noch nicht kannte, ist dann wiederum eine andere Geschichte. Dennoch war es aber bereits die Meinung von Platon und Aristoteles, dass die Kunst gut daran tut, wenn sie die Natur nachahmt. Natürlich, so Böhme32, erschafft die Natur keine Tische, sie verfährt lediglich zweckmäßig. Aber andererseits führte die Erforschung der Lamellenstruktur des menschlichen Oberschenkels zu den Konstruktionsprinzipien von Brückenträgern. Somit kann die o. g. künstliche Natur in ihrer Paradoxie aufgehoben werden. Die moderne Technik, so Böhme weiter, kann man nun nicht mehr in diesen Zusammenhang stellen, weil sich Technik nicht mehr nach der Natur orientiert, sondern bedürfnisorientiert forscht und arbeitet. Sahen die ersten Automobile noch so aus wie Kutschen, nur ohne Pferde, kann ein heutiges Auto kaum noch mit der Idee einer Kutsche in einen Zusammenhang gestellt werden, außer, dass es sich um ein Fortbewegungsmittel handelt. Gunnar. Ein weiteres noch eindeutigeres Beispiel stellen die Kunststoffe (z. B. Acrylfarben, Plexiglas, Plastik etc.) dar. Hier weist schon die Bezeichnung aus, dass es sich um rein künstliche Stoffe handelt, die dann zum Leidwesen der modernen Gesellschaft auch nicht mehr organisch abbaubar sind. Aber es bleibt, um auf Böhme zurückzukommen, die entscheidende Frage, ob »Technisierungen nur ein an sich bestehendes menschliches Verhalten bzw. an sich bestehende menschliche Verhältnisse verbessern, ausweiten und effektiver machen oder sie grundsätzlich verändern«33. Zum Abschluss seines Buchs erzählt Böhme die Geschichte von Jean-Luc Nancy34, bei dem eine Herztransplantation infolge einer Kardiomyopathie notwendig wurde. Hier wird ein (natürliches) Organ dadurch künstlich, weil es transplantiert wird. Der ganze Vorgang ist ohne eine Spitzenleistung moderner Hochtechnologie gar nicht denkbar, geschweige denn möglich. Neben den ganzen psychischen Belastungen gelangt der Patient aber doch zum Fazit: »Er (der Mensch, R. B.) wird zu dem, was er ist, zu dem schreckenerregendsten und beunruhigendsten aller Techniker, als den Sophokles ihn vor fünfund32 Ders., a. a. O., S. 185 33 Böhme, Gernot: Invasive Technisierung. Technikphilosophie und Technikkritik. Die graue Edition, Zug 2008, S. 13 34 Vgl. ders., a. a. O., S. 316 ff.
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zwanzig Jahrhunderten bezeichnet hat, zu dem, der die Natur denaturiert und neu schafft, zu dem, der die Schöpfung wieder erfindet, zu dem der sie aus dem Nichts heraustreten lässt und vielleicht erneut dem Nichts zuführt …«35 Hans. Vielen Dank für diese, wie ich meine, sehr interessanten Ausführungen. Kyra. Ein Friedensangebot. Betrachten wir die Frage nach dem Segen oder dem Fluch noch aus einer anderen Perspektive. Bereits in den 1980er-Jahren habe ich in mehreren Veröffentlichungen36 darauf hingewiesen, dass die Auswirkungen des technischen Fortschritts auf lernschwächere Menschen evident sein werden. Daran hat sich nichts geändert oder anders formuliert: Die damals von mir geäußerte Sorge hat sich um Vielfaches bewahrheitet. Worum geht es? Moderne Technologien teilen die Menschen, grob gesagt, in zwei Gruppen. Dabei muss man sich vor Augen halten, dass Menschen mit einer Körper- oder Sinnesbehinderung in der Lage sind, auch und vor allem durch die Entwicklung technischer Hilfsmittel, ihre Behinderung ansatzweise oder teilweise kompensieren zu können. Diese technologischen, automatisierten, digital gesteuerten Hilfsmittel ermöglichen es diesen Menschen, ihre Integration voranzutreiben.37 Ganz anders sieht es hingegen bei Menschen aus, die als lern- oder geistig behindert eingestuft werden. Hierzu wurde geschrieben: »Um in einer hoch technologisierten Welt leben zu können, ist die Fähigkeit notwendig, abstrahierend zu denken. Damit unmittelbar einhergehend geht in der modernen Industriegesellschaft die Abnahme manueller Funktionen wie Handarbeit und manueller Transport. Abstrahierendes Denken wird zunehmend verlangt, da Maschinen, die früher von Hand bedient werden mussten, heute mehr und mehr selbstständig arbeiten. Das bedeutet eine Zunahme der die Produktionsprozesse steuernden und überwachenden Funktionen«38. Diese Automatisierung von Arbeitsabläufen führt unweigerlich dazu, dass von den diese Maschinen bedienenden 35 Lancy, Jean-Luc: Der Eindringling. Das fremde Herz (L’Intrus). In: Böhme, a. a. O., 2008, S. 316 36 Bonfranchi, Riccardo: Werkjahr und Berufsfindung. Wege beruflicher Integration lernschwacher Jugendlicher. Verlag Zentralstelle für Heilpädagogik, Luzern 1984 37 Vgl. Bonfranchi, Riccardo: Computer-Didaktik in der Sonderpädagogik. Verlag Zentralstelle für Heilpädagogik, Luzern 1995 38 Bonfranchi, Riccardo: Ethische Handlungsfelder der Heilpädagogik. Integration und Separation von Menschen mit geistigen Behinderungen. Verlag Peter Lang, Bern 2011, S. 88 f.
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Arbeitskräften immer höhere intellektuelle Fähigkeiten und Fertigkeiten verlangt werden. Diesen Anforderungen sind Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung nicht gewachsen. Es werden die im Folgenden hier aufgelisteten Schlüsselqualifikationen verlangt: • H öhere mathematische Kenntnisse • A rbeitsabläufe müssen kognitiv durchgespielt werden können • E s ist ein hohes Maß an abstrakter Denkarbeit zu leisten • M anuelle Fertigkeiten sind nicht gefragt • T eamarbeit ist verlangt, was ebenfalls ein hohes Maß an Empathie fordert • D as heißt, dass jeder wissen muss, was der andere tut, dies im Gegensatz z. B. zur Fließbandarbeit • D ie eigene Arbeit muss selbstständig vorbereitet und geplant werden • I nformationen zur Arbeitsvorbereitung müssen selbstständig abgefragt und koordiniert werden • V ernetztes Denken ist gefragt • U rteilsfähigkeit ist gefragt • L ebenslanges Lernen ist notwendig39 Diese Überlegungen wurden in sechs Thesen zusammengefasst: »1. Die Auswirkungen moderner Technologien, insbesondere auf lernschwächere Menschen im Arbeits- und Privatbereich sind evident. 2. Dabei verändert sich die Bewältigung der Umwelt nicht nur durch die zunehmende Bedeutung von Computern; es ist eine allgemeine Komplexitätszunahme bei der Lebensbewältigung festzustellen. 3. Es besteht die Gefahr, dass insbesondere lernschwächere Menschen durch diese technologische Revolution verstärkt ins Hintertreffen geraten. Es findet damit eine weitere Marginalisierung dieser Menschen statt. 4. Dies hängt u. a. mit einer fortschreitenden Automatisierung insbesondere in handwerklich und intellektuell wenig anspruchsvollen Tätigkeitsfeldern zusammen, was zur Dequalifizierung oder Arbeitslosigkeit (Sockel-Arbeitslosigkeit!) lernschwächerer Menschen führen kann.
39 Vgl. ders., a. a. O., S. 89
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5. Demgegenüber steht eine Zunahme an Anforderungskomponenten wie Flexibilität, Team-Fähigkeit, dauernde Lernbereitschaft, grösseres Symbolverständnis und abstrahierendes Denkvermögen. 6. Pointiert könnte man sagen: Die Intelligenten werden immer intelligenter; die Dummen immer dümmer.«40 Gratia. Aber natürlich können wir das Rad der Technik nicht zurückdrehen, geschweige denn sogar hinter die Zeit des Rades. Insofern muss ich konstatieren, dass Technik für mein Leben einen entscheidenden Einfluss hat. Hans. Selbsterkenntnis ist immer gut. Gunnar. Ich denke, wir müssen so langsam zu einem Ende finden. Mombert. Diese heutige Fragestellung hat kein Ende. Es wäre das Ende der Menschheit. Gunnar. Schon gut, Mombert. Vielleicht geht es auch eine Nummer kleiner. Fenner41 hat hierzu mehrere Vorteile beschrieben, die ohne Technik nicht mach- und nicht denkbar wären. Es handelt sich hierbei 1. um die Wirksamkeit technischer Konstrukte, Erfindungen. Sie erleichtern uns das Leben. 2. Viele Vorgänge sind mittels Technik wirtschaftlicher, d. h. schneller und auch kostengünstiger zu haben. Dies wiederum wirkt sich 3. vorteilhaft auf unseren Wohlstand aus, den wir nicht missen mögen. Und 4. vermögen wir uns durch Technik vor Gefahren zu schützen, was sich wiederum günstig auf unser Leben auswirkt. 5. Unsere Gesundheit wird ebenfalls durch technologische Erfindungen gefördert. Natürlich weisen alle diese hier bewusst als Vorteile formulieren Eigenschaften der Technik immer auch Nachteile auf. Einige sind in unserer Debatte bereits benannt worden. Kyra. So leid es mir tut, aber ich kann das nicht so einfach in die Ecke stellen. Bewegen wir uns deshalb, was die Folgen angeht, positive wie negative, in einem Dilemma des Sowohl-als-Auch und laufen somit gegen die sprichwörtliche Wand. Fenner, man muss sie auch zu Ende lesen, lieber Gunnar, wiederum schlägt hierfür die Neutralitätsthese vor. Diese besagt: »These 1: Technische Geräte und Verfahren (Technik (1)) sind ethisch neutral. These 2: 40 Bonfranchi, 2011, a. a. O., S. 90 f. 41 Fenner, Dagmar: Technikethik. In: Dies.: Einführung in die Angewandte Ethik. Verlag Francke, Tübingen 2010, S. 217 ff.
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Alle Handlungen des Entwickelns und Herstellens technischer Artefakte (Technik (2)) sind ethisch neutral. These 3: Das Wissen um Herstellung, Gebrauch und Reparatur technischer Artefakte (Technik (3)) ist im Unterschied zur Anwendung dieses Wissens ethisch neutral.«42 Gunnar. Ich sehe da keinen Unterschied zu dem, was ich von ihr zitiert habe. Abigail. Ist auch jetzt egal. Aber so einfach kann man es eben wirklich nicht machen und so ist schnell klar, dass technische Artefakte nie neutral sein können, weil sie kein Eigenleben führen. Auch sie unterliegen dem Gesetz der normativen Kraft des Faktischen, weil das Faktische immer durch menschliche, gesellschaftliche Ziele, Bedürfnisse, Werte etc. gestaltet und gesteuert wird. Fenner, auch ich habe sie gelesen, spricht hier von einer Mittel-Zweck-Verbindung43. Man kommt demnach um das Verantwortungsproblem nicht herum, wie es bereits der gute alte Jonas skizziert hat. Dies ist ein gesellschaftlicher Prozess und kann nie von einzelnen Individuen geleistet werden. Kyra. Ergo: Wir haben hier also die mündigen Bürger:innen innerhalb eines Gemeinwesens, die sich über die Technikherstellung und die Nutzung Gedanken machen müssen. Diese Gedanken gilt es dann, in einem politisch-demokratischen Prozess auszuhandeln. Dabei ist dieser Prozess von den Ingenieuren und Ingenieurinnen, von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen abhängig. Beredtes Beispiel, auch dafür, wie schwierig solche Abklärungen und Einigungsprozesse über die Bühne gehen oder auch nicht gehen können, haben wir alle während der Coronapandemie erleben müssen, in der sich Wissenschaftler:innen und Politiker:innen Diskussionen lieferten, wie denn jetzt am besten, was immer das dann eben auch heißen mag, vorzugehen sei. Die (Technik-)Ethiker:innen, die Fenner44 ebenfalls ins Spiel bringt, waren z. B. bei der o. g. Pandemie wenig vertreten. Ihre Meinung war, wenn es denn um konkrete Notfallmaßnahmen ging, kaum gefragt. Das ist so (leider) zu konstatieren. Wenn die Krise vorbei ist, mag es sicherlich Sinn ergeben, wenn sich Philosophen und Philosophinnen re-
42 Dies, a. a. O., S. 224 43 Vgl. dies., a. a. O., S. 227 44 Vgl. dies., a. a. O., S. 243
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trospektiv äußern, wie das z. B. Finkielkraut zu Themen wie Antisemitismus oder zum Heidegger-Schock gemacht hat.45 Gratia. Wir müssen den Blick weiten. Gray meint, dass uns die Geschichte der Menschheit glasklar vor Augen führt, dass man das »destruktive Potential neuer Technologien«46 nicht ignorieren kann oder darf. Dies ist m. E. eine gewagte These, weil er all die Vorteile, die die modernen Technologien auch hervorgebracht haben, völlig ausblendet. Wenn Gray überzeugt ist, dass es ohne Eisenbahnen, Telegrafie und Giftgas keinen Holocaust gegeben hätte, halte ich das doch für eine sehr einseitige Argumentation. Natürlich ist sein Fazit richtig, dass es ohne die moderne Technik die schlimmsten Verbrechen nicht gegeben hätte. Aber diese Ansicht ist, wie gesagt, nicht vollständig. Außerdem kommen wir hiermit auch auf die Argumente von Fenner, ähm, auch ich habe sie gelesen, zurück, dass es stets der Mensch ist, der die Technik einsetzt. Die Frage der Kontrolle über diese Technik ist sicherlich eine der schwierigsten Fragen, ist aber immer noch entscheidend. Bedenkenswert halte ich hingegen die Aussagen von Gray bzgl. der Informationstechnologie, wenn er schreibt: »Die Technologien des 21. Jahrhunderts – Genetik, Nanotechnologie und Robotik – bergen dagegen Gefahren, die sich in ganz anderen Dimensionen bewegen. Und am gefährlichsten ist wohl die Tatsache, dass selbst Einzelne und kleine Gruppen diese Technologien missbrauchen können. Dazu benötigen sie keine Großanlagen und keine seltenen Rohstoffe, sondern lediglich Wissen«47. Massenvernichtungswaffen, so meint Gray, werden durch das hohe Potenzial einer »wissensbasierten Massenvernichtung« abgelöst. Dies wiederum sehe ich nicht so, weil ich davon ausgehe, dass es sich um ein Sowohl-als-Auch handelt. Die Massenvernichtungswaffen bleiben uns erhalten und die Macht der Algorithmen kommt hinzu. Hans. Genau! Die letzten Sätze in Irrgangs Buch lauten: »Die wechselseitige Anpassung von Technologie und eines kulturell geprägten gesellschaftlichen Anwendungsfeldes ist eine der zentralen Aufgaben der Technikgestaltung. Diese kann gelingen, geht häufig genug jedoch auch daneben. Hilfestellung dazu leistet die Technikhermeneutik.«48 45 Finkielkraut, Alain: Ich schweige nicht. Philosophische Anmerkungen zur Zeit. Langen Müller Verlag, München 2021 46 Gray, John: Von Menschen und anderen Tieren. Abschied vom Humanismus. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2010, S. 29 47 Ders., a. a. O., S. 28 48 Irrgang, Bernhard: Grundriss der Technikphilosophie. Hermeneutisch-phänomenologische Perspektiven. Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2009, S. 220
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Mombert. Und im Buch von Kemp lautet der letzte Gedanke: »Technologie-Ethik ist nicht Technologiefeindlichkeit. Im Gegenteil. Sie muss von Anfang bis Ende eine Verteidigung der guten Technologie sein, die den anderen nicht zu einem Werkzeug reduziert, sondern Grenzen setzt, die neue Möglichkeiten für ein reicheres Dasein versprechen und den Mord an unserem Leben mit anderen verbieten«49. Abigail. Es ist der Philosoph Höffe50, der in zehn Thesen über Wissenschaft und deren Verantwortung ihre Legitimation zu untermauern versucht. Sie seien hier, gewissermaßen unsere Debatte zusammenfassend, wiedergegeben: »These 1: Nicht als Tribunal ist die Verantwortungsdebatte zu gestalten, sondern als Diskurs. These 2: Ein Diskurs lässt sich durchaus von Visionen inspirieren; er selbst besteht aber aus dem Begriff, dem Argument und dem Abwägen von Argumenten. These 3: Dem Tribunal, der Rechenschaftsverantwortung, sind die Aufgaben- und die Handlungsverantwortung vorgeordnet, und diese definieren sich durch eine vierfache Frage (1) Wer trägt (2) wofür und (3) vor wem (4) nach Maßgabe welcher Kriterien Verantwortung? These 4: Ohne Gewissenhaftigkeit bleibt die Rede von Verantwortung ein trockenes Versichern; ohne Sensibilität für neue Aufgaben hinkt die Verantwortung immer nach; ohne eine höherstufige Urteilskraft einerseits, ohne die Bildung neuer Verantwortungsträger andererseits bleibt Verantwortung nur ein frommer Wunsch. These 5: In einer funktional gegliederten Gesellschaft sind die Wissenschaften für die Kultur des Wissens verantwortlich: für die Kriterien, für die Themenbereiche, nicht zuletzt für die leitenden Erkenntnisinteressen. Zugleich bieten sie das Vorbild für ein Leben an, in dem nicht die wirtschaftliche und die politische Macht zählen, sondern die Erkenntnis, die sich überprüfen lässt, und die intellektuelle Kreativität. 49 Kemp, Peter: Das Unersetzliche. Eine Technologie-Ethik. Wichern-Verlag, Berlin 1992, S. 277 50 Höffe, Otfried: Moral als Preis der Moderne. Ein Versuch über Wissenschaft, Technik und Umwelt. Verlag Suhrkamp, Frankfurt/M. 1993, S. 291 ff.
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These 6: Die Wissenschaftler als Beruf, die Studenten zumindest auf Zeit suchen in der Wissenschaft als solcher ein sinnerfülltes Leben. Zu diesem Zweck dürfen sie sich allerdings weder in den Accessoires noch den Nebentätigkeiten der Wissenschaft verlieren. These 7: Ein Ratschlag der Klugheit ist es, zudem ein Gebot der Ehrlichkeit, dass die Wissenschaften ein neues Selbstverständnis entwickeln. Ohne die humanen Leitziele aufzugeben, sollten sie sich die Ambivalenz ihrer tatsächlichen Leistung eingestehen, überdies versuchen, dass der Zivilisationsprozess, auch wenn dies nur in Grenzen möglich ist, eine vom Menschen gewollte Richtung nimmt. These 8: Sich selbst vor zu hohen Risiken zu schützen, ist bloß ein Ratschlag der Klugheit: Ein Gebot der Gerechtigkeit ist es aber, andere den Risiken nur mit deren Zustimmung auszusetzen. These 9: Auch hier gebietet die Ehrlichkeit, das Selbstverständnis der Wissenschaft zu modifizieren, außerdem jene Verantwortlichkeit wahrzunehmen, die sich teils aus der praktischen Bedeutung von Grundlagenforschung, teils aus der zur Anwendung hin fehlenden Trennschärfe ergibt. These 10: Statt der Forschung immer nur nachzuhinken, ist der Verantwortungsdiskurs begleitend, sogar prospektiv zu führen: Wenn schon die Eule der Athene nur am Abend fliegt, warum dann nicht am Abend vorher?«51. Gratia. Auch Rohbeck, ein renommierter Wissenschaftsethiker, kürzlich verstorben, ist überzeugt, dass sich die Wissenschaftler:innen so einfach nicht mehr aus ihrer Verantwortung stehlen können, wenn er schreibt: »Die strikte Trennung zwischen der moralisch gerechtfertigten Zielbestimmung der pragmatisch-taktischen Durchsetzung ist demnach nicht mehr haltbar. … Gefragt ist nach einer Vermittlung (kursiv i. O.) zwischen den unterschiedlichen Handlungs- bzw. Rationalitätstypen.«52 Rohbeck ist demzufolge der Meinung, dass man die Technik, wie er meint, »listig« einsetzen soll, was wiederum bedingt, dass es eine reflexive Ethik benötigt. Darunter versteht er eine Ethik, in der Technik und Moral sich in einem Verhältnis 51 Ders., a. a. O., S. 291–296 52 Rohbeck, Johannes: Technologische Urteilskraft. Zu einer Ethik technischen Handelns. Verlag Suhrkamp, Frankfurt/M. 1993, S. 284
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befinden. Dieses muss dann, laut Rohbeck, sich in einer Wechselbeziehung befinden, die zwischen den technischen Handlungsbedingungen und den moralischen Problemlösungen einen Ausgleich findet.53 Hans. Es bringt demnach nichts, sich nicht auf die Technik einlassen zu wollen. Sie ist da, war seit Urbeginn ein Teil des Mensch-Seins, aber das spricht den Menschen nicht davon frei, sich immer wieder mit ihr reflexiv auseinanderzusetzen. So verstehe ich Rohbeck. Gratia. So muss man ihn wohl auch verstehen. Gunnar. Im gleichen Sinn argumentierte zudem Weizenbaum, wenn auch einige Jahre früher, wenn er schreibt: »Und es gibt genau einen entscheidenden Unterschied zwischen dem Menschen und einer Maschine; um ein Ganzes zu werden, muss der Mensch auf immer ein Erforscher seiner äußeren und inneren Realitäten sein. Sein Leben ist voller Risiken, die er jedoch mutig auf sich nimmt, weil er wie der Forscher lernt, seinen eigenen Fähigkeiten zu vertrauen, durchzukommen und auszuhalten. Was für eine Bedeutung könnte es haben, von Risiko, Mut, Ausdauer und Durchhaltevermögen zu sprechen, wenn von Maschinen die Rede ist?«54. Kyra. Schön formuliert, Herr Weizenbaum. Da war der Name wohl Programm. Hans. Finde ich auch. Dann noch schöne Semesterferien, meine Lieben. Mombert. Danke. Ich muss arbeiten. Gratia. Ich besuche meine Eltern. Abigail. Dann viel Spaß. Gunnar. Dann mach ich das Schlusswort.
53 Vgl. ders., a. a. O., S. 286 54 Weizenbaum, Joseph: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft. Verlag Suhrkamp, Frankfurt/M. 1978, S. 366
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20 Urteilen und Vergleichen ist dasselbe »Meide das Urteilen über dich selbst und vor allem das Vergleichen deiner selbst mit andern. Vergleiche dich nur mit der Vollkommenheit.« (Leo Tolstoi1) Urteilen und Vergleichen ist dasselbe
»Etwas als Merkmal mit einem Dinge vergleichen, heißt urteilen.« (Immanuel Kant2) »Der vollkommen tugendhafte Mensch ist ein gedachtes Wesen, und der Geschmack bildet seine Urteile über die verschiedenen Stufen der Vollkommenheit, die er bei den Menschen feststellt, um das, was er ist, mit dem Wesen zu vergleichen, das ihm vorschwebt.« (Friedrich Melchior Grimm3) Roger: männlich. Normannische Form zu Rüdiger. Unter dem englischen und französischen Einfluss kam der Name in deutschsprachige Länder. Johnny: männlich. Ist ein Jungenname und die Kurzform des englischen und des niederdeutschen Namens John, der wiederum eine Kurzform des Namens Johannes ist. Er geht zurück auf den hebräischen Namen Jochanan und bedeutet »Gott ist gnädig«. Johnny. Wenn es hier nun um das Urteilen geht, so werde ich nicht auf die in der Wissenschaft der Logik existierenden Formeln wie den modus ponens oder andere Gesetzmäßigkeiten eingehen. Roger. Dafür bin ich dir schon einmal dankbar. Das macht die Diskussion offener und freier. Johnny. Genau. Sie spielen in der Philosophie eine große Rolle, aber kaum eine im Alltag. Hier würde es im Rahmen eines Kneipenbesuchs oder anlässlich einer Geburtstagsfeier im familiären Kreis schon etwas komisch an1 2 3
Tolstoi, Leo: Für alle Tage. Ein Lebensbuch. Dresden 1906 Kant, Immanuel: Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren. § 1. Allgemeiner Begriff von der Natur der Vernunftschlüsse, 1762 Grimm, Friedrich Melchior: Paris zündet die Lichter an. Literarische Korrespondenz. Herausgegeben von Kurt Schnelle. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, 1977
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muten, wenn man seinem Gesprächspartner vorhalten würde, dass seine zweite Prämisse nicht stimmig wäre und damit wäre auch seine Konklusion nicht korrekt.45 Roger. Genauso sieht es bei den Logikrätseln aus. Auch diese, so meine Meinung, helfen im Alltag nicht viel weiter, aber es macht wesentlich mehr Spaß, darüber zu diskutieren und ihnen nachzuhängen. Ein Beispiel wollen wir uns hier genehmigen.6 Johnny. Bin gespannt. Roger. Du entschuldigst, wenn ich es vom Blatt lese. Es ist genauer so. Also los: »Das Eichhörnchen Stellen Sie sich vor, Sie spazieren durch den Wald. Plötzlich eilt ein Eichhörnchen über den Weg und klettert auf den Stamm eines Baums, der direkt von Ihren steht. Es hat sich jedoch auf der Rückseite des Baumstamms versteckt. Vorsichtig gehen Sie um den Baum herum, aber das Eichhörnchen dreht sich immer wieder von Ihnen weg. Der Baumstamm ist stets zwischen Ihnen und dem Eichhörnchen. Und auch das Eichhörnchen umrundet den Baum, in gleicher Richtung, aber auf gegenüberliegender Seite. Nun kommt die entscheidende Frage: Sind Sie, nachdem Sie den Baum einmal umrundet haben, auch einmal um das Eichhörnchen herumgelaufen?« Johnny. Ich kenne das Beispiel. Bossart bezieht sich auf den US-amerikanischen Philosophen William James, der dieses Rätsel kreiert hat. Ob dieses Rätsel allerdings bei der Lösung von Alltagsproblemen hilft, die man mit seinem Partner oder seiner Partnerin, den Kindern, den Vorgesetzten oder mit der Steuerbehörde (etc.) hat, möchte ich hier dahingestellt sein lassen.
4 5 6
Näheres zu diesen Gesetzen der Logik in: Blackburn, Simon: Denken. Die grossen Fragen der Philosophie. Primus Verlag, Darmstadt 2013 (2. Aufl.), insbesondere das Kapitel »Urteilen«, S. 171 ff. Eine sehr lesenswerte, umfangreiche Darstellung des Urteilens liefert Salloch, Sabine: Prinzip, Erfahrung, Reflexion. Urteilskraft in der Angewandten Ethik. Verlag mentis, Münster 2016 Bossart, Yves: Ohne heute gäbe es morgen kein Gestern. Philosophische Gedankenspiele. Verlag Heyne, München 2018 (2. Aufl.), S. 196
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Roger. Okay. Aber lassen wir solche Spielereien (ernst gemeint) einmal auf der Seite und fragen uns, wie wir zu Urteilen gelangen. Johnny. Oscar Wilde hat ja einmal gesagt, dass nur oberflächliche Menschen nicht nach der äußeren Erscheinung urteilen. Roger. Urteile haben doch auch mit Werten zu tun. Oder sehe ich das falsch? Johnny. Nein, das siehst du schon richtig. Man spricht ja auch von Werturteilen. Schweiberer schreibt hierzu: »Wenn ich jedoch Werte in ein Verhältnis zueinander setze, dann mache ich sie vergleichbar, und wenn Werte vergleichbar sind, dann ist jeder von ihnen etwas bloß Bedingtes. Bedingte bzw. relative Werte sind generell quantifizierbar und kommensurabel.«7 Roger. Hm, da könnte schon was dran sein. Wir sind demnach voll im Trend, wenn wir Urteile schlechthin als einen Prototyp des Vergleichens ansehen. Aber bleiben wir seriös. Johnny. Das heißt? Roger. Es sind m. E. vier Arten, wie wir urteilen können: 1. Durch Erfahrung. Aber weil wir etwas soundsoviele Male erlebt haben, heißt das nicht, dass dies auch so in der Zukunft sein muss. Das sogenannte Argument: Das haben wir schon immer so gemacht und deshalb …, hat sich nur allzu oft als falsch herausgestellt, aber nicht immer. 2. Durch gut bestätigte entgegenstehende Hypothesen. Gut, das sind auch Annahmen, die sich aber in der Praxis bewährt haben, also warum nicht darauf zugreifen. Könnte ja sein, dass dem so ist … 3. Durch Denkmodelle. Da hat man selbst oder auch jemand anders die Sache durchgerechnet, hat eine Kalkulation erstellt und versucht, so viele Imponderabilien, das sind unabsehbare Gegebenheiten, wie nur möglich zu berücksichtigen. Aber vielleicht ereilt einen ein Schicksalsschlag und die ganzen Überlegungen sind nur noch Makulatur. 4. Durch den Aufweis entgegenstehender Überlegungen als generell anzu-
7
Schweiberer, Widukind Andreas: Zur Legitimation von Werturteilen. In: Bauer, Alexander Max; Meyerhuber, Malte Ingo (Hrsg.): Philosophie zwischen Sein und Sollen. Normative Theorie und empirische Forschung im Spannungsfeld. Verlag De Gruyter, Berlin 2021, S. 93
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sehende Überzeugungen. Es spricht eben doch sehr vieles dagegen und deshalb fällt unser Urteil anders aus etc.8 Johnny. Da fällt mir ein Wort von Paul Valéry ein, der gesagt hat: Die Größten haben es gewagt, auf das eigene Urteil zu bauen – und ebenso die Dümmsten. Roger. Dass du immer wieder mit solchen Sprüchen abschweifen musst. Ehrlich, das nervt mich etwas. Johnny. He, was ist los. Du urteilst hier aber ziemlich schnell. Urteilen ist ein komplexes Phänomen und enthält die verschiedensten Facetten. Roger. Gut, gut. Ich entschuldige mich. Johnny. Ich nehme die Entschuldigung nicht an. Roger. Was soll das denn nun wieder. Was verlangst du denn noch? Spinnst du? Johnny. Eine Entschuldigung kann man ablehnen, weil diese besagt ja, ich stehe in deiner Schuld: Vergibst du mir? Habe ich in einer Ethik-Vorlesung an der Uni so gehört. Hat mir gefallen. Der Spruch. Roger. Okay und was mache ich jetzt damit? Johnny. Du könntest sagen: Es tut mir leid. Dagegen kann ich dann nichts mehr sagen, sondern es lediglich zur Kenntnis nehmen. That’s the difference, you know, my dear friend. Roger. Habe verstanden. Du bist ein Affe, so lautet nun mein Urteil. Und zwar ein blöder. Johnny. Affen würden wohl kaum so urteilen. Roger. Menschen urteilen häufig so, dass sie Tiere verwenden, um andere Menschen zu beleidigen. Natürlich tut man den Tieren damit Unrecht. 8
Vgl. Frey, Gerhard: Philosophie und Wissenschaft. Eine Methodenlehre. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 1970, S. 87
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Aber sie erfahren es ja nicht. Also habe ich dabei kein Schuldgefühl, wenn ich so urteile. Johnny. Meines lautet, du bist ein schlechter Verlierer. Wir urteilen also ständig. Vielleicht können wir wieder zum Thema finden. Roger. Wäre nicht übel. Johnny. Wenn es hier um das Vergleichen geht, so kann man natürlich das Urteilen nicht außer Acht lassen. Denn wer im Alltag über kein gut ausgeprägtes Urteilsvermögen verfügt, vermag in den Wirrnissen des Alltags die Fallstricke, die Besonderheiten und Wichtiges nicht zu erkennen.9 Roger. Arendt meint dazu: »Ich werde zeigen, dass meine Hauptannahme für das Herausstellen der Urteilskraft als einer sich von anderer deutlich unterscheidender Fähigkeit unseres Geistes darin liegt, dass Urteile weder durch Deduktion noch durch Induktion zustande kommen. Kurz gesagt, mit logischen Operationen – etwa in der Art der folgenden: Alle Menschen sind sterblich, Sokrates ist ein Mensch, also ist Sokrates sterblich – haben Urteile nichts gemein. Wir werden uns auf die Suche nach dem ›stummen Sinn‹ machen, der – wenn er überhaupt behandelt wurde – stets, selbst bei Kant, als ›Geschmack‹ und daher als der Ästhetik zugehörig gedacht wurde«10. Johnny. Dabei ist es laut Arendt, die sich weiterhin auf Kant bezieht, nicht unbedingt die Intelligenz, die das Urteilen auf ein höheres Niveau hebt, sondern die Vernunft mit »ihren regulativen Ideen, die der Urteilskraft zu Hilfe kommt«11. Dieser gemeine Menschenverstand basiert laut Kant auf drei Maximen, nämlich 1. dem Selbstdenken, 2. vom Standpunkt des anderen her zu denken und 3. bemüht zu sein, stets widerspruchsfrei zu denken.12
9
Vgl. Grondin, Jean: Immanuel Kant zur Einführung. Verlag Junius, Hamburg 1994, S. 120 10 Arendt, Hannah: Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie. Dritter Teil zu »Vom Leben des Geistes«. Aus dem Nachlass herausgegeben und mit einem Essay von Ronald Beiner. Verlag Piper, München 2020 (5. Aufl.), S. 13 f. 11 Dies., a. a. O., S. 14 12 Vgl. dies., a. a. O., S. 181
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Roger. Bender13 hingegen geht bei der ethischen Urteilsbildung von fünf Elementen aus: »1. 2. 3. 4. 5.
Die Thematisierung der Situation Die Kenntnisnahme von elementaren Lebensbedingungen Die Auseinandersetzung mit ethischen Traditionen und Prinzipien Die Urteilsfindung Die Folgerungen für die persönlichen und gemeinsamen Lebensbedingungen (Praxis)«14.
Anfügen möchte ich noch, dass es bei Punkt 3 auch um den historischen und gesellschaftlichen Kontext sowie um die vorherrschenden Werte geht. Es ist Bender aber wichtig, darauf hinzuweisen, dass sich gesellschaftliche Werte, Traditionen etc. verändern und verschieben können. Aus meiner Sicht heißt das, dass diese Werte mit neuen Entwicklungen verglichen werden müssen. Je nachdem kann dann eine Folgerung (5.) anders ausfallen. Beispiele wären die Frage nach der Vermählung gleichgeschlechtlicher Paare, die Frage der Abtreibung, die Frage nach dem assistierten Suizid etc. Johnny. Bereits Montaigne führt in seinem Essay »Über die Unsicherheit unseres Urteils«15 eine Reihe von Beispielen an, bei denen man jeweils ein begründetes Urteil in die eine oder in die andere Richtung abgeben könnte. Sein Fazit ist stets: »Aber ebenso gut könnte man auch die entgegengesetzte Ansicht begründen …«16 Ob man sich dann für die eine oder die andere Seite entscheidet, so Montaignes Meinung, hängt jeweils stark vom Glück ab, und dieses kann dann wiederum als Zufall bezeichnet werden. Roger. Das ist ja bemerkenswert, finde ich, dass Montaigne hier beim Urteilen auch das Glück oder den Zufall mit ins Spiel bringt. Dies mögen wir ja im Grunde nicht gern hören, weil wir doch davon ausgehen und ausgehen wollen, dass Urteilen, wie bereits vernommen, vom Verstand geleitet sein soll und da hat der Zufall nun wirklich nichts zu suchen.
13 Bender, Wolfgang: Ethische Urteilsbildung. Verlag Kohlhammer, Stuttgart 1988, S. 176 ff. 14 Ders., a. a. O., S. 176 15 Montaigne de, Michel: Die Essais. Verlag Anaconda, Köln 2005, S. 146 ff. 16 Ders., a. a. O., S. 151
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Johnny. Trotzdem spielt er mit hinein. Zufall ist wohl überall und immer dabei, würde ich hier behaupten. Roger. Sicher. Aber das führt uns von den Urteilen weg. Lassen wir es mal so stehen. Einverstanden? Johnny. Jawohl, my dear friend. Da Hannah Arendt ihr Werk nicht mehr vollenden konnte, unternahm es Ronald Beiner, weitere Erläuterungen und Interpretationen zum Urteilen zu liefern. Im Folgenden beziehe ich mich auf seine Ausführungen, die im bereits erwähnten Buch von Hannah Arendt zu finden sind: Das Urteilen. Roger. Interessant. Johnny. Als ein exemplarisches Beispiel greifen wir auf den Vergleich zurück, den Beiner mit dem Buch von Arendt »Eichmann in Jerusalem« und dem Buch von Merleau-Ponty »Humanität und Terror« unternimmt. Bei Merleau-Ponty geht es um den Stalinismus. Beide Bücher haben extreme Ereignisse im 20. Jahrhundert zum Inhalt. Beim einen geht es um den Nationalsozialismus und beim anderen um den Stalinismus. Beide Bücher wollen eine das menschliche Fassungsvermögen übersteigende Ereigniskette verstehen. Obwohl man diese Ereignisse als widerwärtig und abscheulich empfindet, gebietet es die Aufarbeitung, dass man versucht ist, diese verstehen zu wollen. Nur weil wir die Geschehnisse aus tiefster Seele ablehnen, entbindet uns das nicht davon, sie verstehen zu wollen, so meint dies auch Beiner17. Es ist bekannt, dass Arendt der Person Eichmann die Fähigkeit abspricht, selbstständig denken und urteilen zu können. Er ist nicht in der Lage, so Arendt, Recht von Unrecht, Schönes von Hässlichem unterscheiden zu können. Diese Ansicht hat ihr viel Widerstand, Häme und Gegnerschaft beschert. Auch bei Merleau-Ponty geht es letztlich darum, dass man erst urteilen kann, wenn man es auch verstanden hat. Nur über die eigene Urteilskraft sind ein Verstehen und auch ein Verzeihen überhaupt möglich. Obwohl diese historischen Ereignisse in sich völlig unterschiedlich sind, können sie im Vergleich der Aufarbeitung als nahezu identisch miteinander verglichen werden. Roger. Verstehe. Diese Vergleiche und die damit verbundenen Urteile, ermöglichen es uns, der Welt einen Sinn zu verleihen. Nach Beiner geht Are17 Vgl. Beiner, a. a. O., 2020, S. 148
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ndt sogar so weit zu sagen, dass es nur über das Urteilen, über das Vergleichen, so meine ich hier, überhaupt möglich ist, dass das Böse, wie es sich bei Eichmann und dem Stalinismus darstellt, erklärt werden kann. Arendt meint, dass eben gerade in der Weigerung, Urteile auf der Basis von Vergleichen zu fällen, das Böse überhaupt entstehen kann. Sie führt dies auf einen Mangel an Einbildungskraft zurück. So war Arendt der Meinung, dass Eichmann von empörender Dummheit war.18 Vergleiche wiederum, so meine ich, sind überhaupt nur auf der Basis von Einbildungskraft möglich. Ich muss mir das eine als Realität denken, damit ich mir das andere überhaupt vorstellen kann. Johnny. Aber Urteilen ist m. E. ohne die Beantwortung der Frage, ob es sich dabei um Vernunft oder um Gefühle handelt, gar nicht möglich. Um hierbei etwas Licht in die Sache zu bringen, gehe ich auf den Philosophen ein, der diesbezüglich bereits vor Jahrhunderten richtungsweisende Erkenntnisse formuliert hat. Es handelt sich um den schottischen Philosophen David Hume. Dieser geht von der Schwäche der Vernunft gegenüber den Affekten19 aus. In der menschlichen Natur sind die Gefühle, so Hume, stärker, d. h., sie bestimmen stärker unser Verhalten und Denken und deswegen sind sie bei moralischen Urteilen von großer Bedeutung. Vor allem wenn es um das Verhalten geht, kann die Gefühlsebene, laut Hume, nie ausgeblendet werden. Sie spielt immer hinein. Was wiederum nicht heißt, dass die Vernunft, das wohlüberlegte Kalkül, die Überlegung keine Rolle spielen. Denn unsere Gefühle haben auch einen rationalen Gehalt. »Nach Hume erkennen wir das moralisch Gute und das Schlechte durch spezifische Lustund Unlustgefühle und er definiert die Tugend geradezu als das an einer Person, was einem Betrachter das angenehme Gefühl der Zustimmung einflöße oder was ihm auf eine bestimmte Art gefalle, die sich von allen anderen Gefühlen unmissverständlich unterscheide«20. Roger. Interessant erscheinen mir in diesem Zusammenhang die Äußerungen von Kant bezüglich der Urteilstafel zu sein. Kant versteht darunter »eine symbolische Darstellung aller logischen Funktionen in Urteilen. Sie enthält vier grundlegende Funktionen, die Titel der Quantität, Qualität, Relation 18 Vgl. Arendt, Hannah; Fest, Joachim: Gespräche und Briefe. Herausgegeben von Ursula Ludz und Thomas Wild. Verlag Piper, München 2013 19 Ich verwende hier die alten und neueren Begriffe wie Affekte, Gefühle, Emotionen etc. synonym. 20 Kulenkampff, Jens: David Hume. Verlag C. H. Beck, München 1989 (2. Aufl.), S. 101
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und Modalität von Urteilen«21. Jeder dieser vier Begriffe enthält nun seinerseits wiederum drei unveränderbare Varianten. Urteile können gemäß ihrer Quantität als allgemein, besonders oder einzeln verstanden werden. Die Qualität von Urteilen kann nach bejahend, verneinend oder unendlich beurteilt werden. Relationen können kategorisch, hypothetisch oder disjunktiv ausfallen. Die Modalität wiederum von Urteilen kann problematisch, assertorisch oder apodiktisch sein. So erhalten wir nach Kant zwölf Variationsmöglichkeiten, wie sich Urteile gestalten können. Johnny. Das vereinfacht es einerseits und verkompliziert es andererseits. Mehr Wahlmöglichkeiten bedeuten auch mehr Uneinigkeit unter den Beteiligten. Roger. Das war wohl nicht unbedingt Kants Problem. Ihm ging es wohl ausschließlich um Erkenntnisgewinn und da scheint mir diese Differenzierung von ihm, wie man Urteile betrachten kann, schon interessant und damit auch wertvoll zu sein. Johnny. Aber hilft es mir in der Praxis, im Alltag? Roger. Auch das war wohl nicht Kants Problem. Er fand zwölf Variationsmöglichkeiten und die Frage ist nur, stimmen sie oder stimmen sie nicht. Kann damit jedes einmal gefällte Urteil erfasst werden. Ich gehe davon aus, ohne es letztlich überprüft zu haben, dass dem so ist. Johnny. Das grenzt ja nahezu an Gottvertrauen. Roger. Nein, es scheint mir vernünftig zu sein, rational. Das genügt vorerst einmal. Kritischer bin ich da schon solchen Veröffentlichungen gegenüber, die das Urteilen im Wesentlichen auf die Schnelle erledigen wollen.22 Gladwell misst der Intuition eine große Rolle bei Entscheidungs- und Beurteilungsprozessen zu. Dies finde ich nicht per se falsch, aber es wird dabei vergessen, dass Intuition auf jahrelanger Erfahrung beruht und dann in Sekundenschnelle abgerufen werden kann. Mit »Blink« allein ist es nicht »einfach und schnell« getan, wie Gladwell einem weiß zu machen versucht. 21 Berger, Larissa; Schmidt, Elke Elisabeth: Kleines Kant-Lexikon. Verlag Wilhelm Fink, Paderborn 2018, S. 260 22 Ein Beispiel hierfür ist das Buch von Gladwell, Malcolm: Blink! – Die Macht des Moments. Campus Verlag, Frankfurt/M. 2005
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Auch sein Beispiel des Improvisationstheaters ist m. E. nicht korrekt, wenn er schreibt, dass Schauspieler:innen in Sekundenschnelle Texte produzieren können. Das können sie eventuell schon, aber nur, wenn sie über ein ausreichend großes Fachwissen und eine dementsprechende Sprach-SprechKompetenz verfügen. Johnny. Das sehe ich genauso. Roger. Ich habe bereits die Vernunft angesprochen und möchte noch einmal, aus einer anderen Warte, darauf zurückkommen. Wenn ich vom Urteilen spreche, wenn auch nur andeutungsweise, darf auch die Vernunft nicht unerwähnt bleiben. Es ist Steinvorth, der darauf hinweist, dass das Urteilen und das Rechtfertigen auch von Vernunft bestimmt sein sollen. Es ist dies, seiner Ansicht nach, einer der großen Unterschiede zu den Tieren, denen dieses Vermögen abgeht. Andererseits ergibt dieses auf Vernunft basierende Urteilen aber Rechte und Pflichten. Durch dieses vernunftgeleitete Urteilen ist es dem Menschen möglich, Sein und Sollen, Schein und Wirklichkeit, Wirklichkeit und Möglichkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit, handelnde und erleidende Subjekte, Erklärungen und Rechtfertigungen, Ursachen und Gründe zu unterscheiden.23 Johnny. Öffnen wir noch ein weiteres Fässchen, das sich in einer ganz spezifischen Situation tagtäglich mit Urteilen beschäftigt. Ich meine die Schule und ihre Notengebung. In unregelmäßigen Wellen wird über Sinn oder Unsinn des Notenverteilens in der Schule diskutiert. Noten und Schule sind ja fast Synonyme. Mal sollen sie abgeschafft werden, dann wieder nicht; dann sollen die Zahlen abgeschafft und an deren Stelle Begriffe gesetzt werden. Die dann im Alltag, insbesondere bei den Eltern der Schüler:innen wiederum in Zahlen zurückverwandelt werden. Die Notengebung wird demnach ständig bewertet und es wird dann gesagt, dass Noten a) nicht gerecht, b) nicht präzise, c) dass ihr Zustandekommen ungenau oder sogar parteiisch ausfällt und dass Noten d) letztlich nur der Machterhaltung der Lehrkräfte dienen. Ein Hauptargument, das oft gegen Noten vorgebracht wird, ist, dass Noten eher ein Motivationskiller sind und weniger leistungsfördernd wirken. Die Notengebung verhindert das intrinsische Lernen, das doch so viel wertvoller ist als das extrinsische. Dann wird auf Rousseau rekurriert,
23 Vgl. Steinvorth, Ulrich: Was ist Vernunft? Eine philosophische Einführung. Verlag C. H. Beck, München 2002, S. 312 f.
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der bereits 1762 in seinem Erziehungsroman »Émile ou de l’éducation« schrieb, dass der Leistungswettbewerb in den Schulen nicht förderlich sei. Roger. Stimmt. Im Bereich der Schule wird das Urteilen immer mal wieder, stellenweise infrage gestellt. Ich möchte noch eine Erweiterung zu diesem Thema anbringen. Johnny. Bitte sehr. Roger. Vor allem in der Heilpädagogik setzte sich die Meinung durch, dass Leistungsbewertungen nur nach individuellen Maßstäben gesetzt werden sollen, weil Vergleiche nicht möglich sind und als kontraproduktiv eingeschätzt werden müssen. Ein Kind mit einer Behinderung soll, nach einem gewissen Zeitraum, nur mit sich selbst verglichen werden, nie mit einem anderen Kind. Hier kommt es m. E. darauf an, wie schwer der Behinderungsgrad bei den Kindern ist. Bei Kindern mit einer geistigen oder auch schweren mehrfachen Behinderung erscheint mir diese Aussage zutreffend zu sein. Bei anderen Gruppen von unterschiedlichen Behinderungen, erscheint es mir schon fraglich zu sein, warum man Kinder nicht mit anderen Kindern vergleichen soll, wenn es um ihre Lernfortschritte geht. Johnny. Interessant. Die Heilpädagogik, so scheint es, zwingt einem eine andere Sichtweise auf. Vor allem dann, wenn es sich um kognitiv beeinträchtigte Kinder handelt. Habe ich das, als Nicht-Heilpädagoge, so richtig verstanden? Roger. Ja, hast du. Aber auch in der Regelpädagogik hat sich der Blick wieder auf die Seite Pro-Notengebung verschoben. Johnny. Ach ja? Roger. Ja. Der mittlerweile pensionierte renommierte Professor für Pädagogik Jürgen Oelkers24 ist der Meinung, dass das Verfahren der Notengebung nicht so schlecht ist wie sein Ruf. Eine Voraussetzung für die Notengebung in der Schule muss sein, dass die Schüler:innen wissen, wie die Lehrperson zu ihrer Bewertung, also zu den Noten kommt, die sie an die Schüler:innen verteilt. Transparenz ist demnach ein entscheidender Faktor. Oelkers geht 24 Oelkers, Jürgen: Sind Noten in der Schule notwendig? In: Blog Condorcet (Zugriff: 11.02.2022)
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noch weiter, wenn er in dem Blog schreibt: »Inzwischen liegen zahlreiche empirische Studien vor, die die gute prognostische Validität der Schulnoten für den späteren Studienerfolg belegen. Die Durchschnittsnote im Maturitätszeugnis gilt als der valideste Einzelprädikator für den Erfolg im anschließenden Studium«25. Also noch einmal: Noten müssen klar und verständlich sein, sie sollen die Schwankungen im Leistungsverhalten aufzeigen, an denen sich sowohl die Lehrkraft als auch der Schüler oder die Schülerin (inkl. der Eltern) orientieren können. Johnny. Finde ich einleuchtend. Dabei muss hervorgehoben werden, dass es bis jetzt noch kein anderes System geschafft hat, das Notensystem, wenn es denn die erwähnten Bedingungen erfüllt, zu ersetzen. Noten sind eine für alle verbindliche Skala und diese ist bis heute das bei Weitem gebräuchlichste Instrument zur Leistungsbeurteilung und damit auch zum Leistungsvergleich. Roger. Ein Gedanke, der bei dem hier erwähnten Blogbeitrag von Oelkers nicht erscheint, und auf den ich hier noch aufmerksam machen möchte, ist der, dass in der Wirtschaft und der Industrie nach wie vor mit Vergleichen, z. B. bei Mitarbeitergesprächen, gearbeitet wird. Hier spielt die Leistung im Vergleich mit anderen Mitarbeitenden die zentrale Rolle. Insofern könnte man den Schluss ziehen, dass eine faire, transparente Notengebung in der Schule auf die Welt nach der Schule vorbereitet. Johnny. Am Rande sei hier vermerkt, wenn sich Schulabgänger:innen um eine Lehrstelle bewerben, geht das heutzutage i. d. R. mit dem Absolvieren einer Schnupperlehre einher. Am Ende der Schnupperlehre stehen ebenfalls meist Tests an. In der Schweiz heißen sie Stellwerk-Test sowie der weitverbreitete Multi-Check. Bei beiden Tests werden die Schulleistungen standardisiert überprüft. Wenn das keine Vergleiche sind, dann weiß ich nicht, was Vergleiche überhaupt sein sollen. Es sind geeichte, standardisierte Tests, die genau aussagen, wo der Schnupper-Lehrling im Vergleich zu seinen Konkurrenten und Konkurrentinnen steht. Auch hierfür erscheint mir ein vorgängiges Notensystem als Vorbereitung besser, als wenn es keine Noten in der Schule geben würde. 25 Oelkers beruft sich bei seiner Aussage über die Vorhersagekraft der Leistung in der Abschlusskompetenz zur Hochschulreife auf: Trapmann, S.; Hell, B.; Weigand, S.; Schuler, H.: Die Validität von Schulnoten zur Vorhersage des Studienerfolgs. In: Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Band 2, Nr. 1, 2007, S. 11–27
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Roger. Wir halten also fest: Noten spiegeln eine Meinung wider, nämlich diejenige der Lehrperson, dass wir etwas sehr gut können oder nur gut, nur befriedigend, ausreichend oder auch mangelhaft oder gar nicht. Da der Mensch eine »überzeugungsbildende Maschine«26 ist, akzeptieren sowohl die Lehrpersonen als als auch die Schülerschaft (inkl. der Eltern) diese Notengebung. Wir urteilen schnell und werden unruhig, wenn wir am Urteilen gehindert werden. Johnny. Einverstanden. Wenn es nun aber um moralische Fragen geht, wird es schon schwieriger, weil wir hier oft keine klaren Fakten, keinen standardisierten Maßstab haben. Bei der Notengebung wird oft so getan, als ob es einen solchen gäbe, was insbesondere bei der Notengebung bei Aufsätzen m. E. sehr problematisch ist. Deshalb fallen auch die meisten moralischen Urteile intuitiv aus. Eine Situation löst eine Reaktion aus und wir können von einer moralischen Empörung sprechen. Niemand beruft sich auf die zwölf Urteilskriterien von Kant. Diese Empörung empfinden wir als richtig und auch als korrekt, denn ansonsten hätten wir diese Empfindung ja gar nicht. Das Gehirn und unsere Wahrnehmung reagieren auf unsere Gefühle. (Hume lässt grüßen.) Roger. Wenn man vom Urteilen spricht und darüber nachdenkt, so darf man die Fantasie, die Einbildungskraft nicht gänzlich außer Acht lassen. Hierüber hat man sich noch kaum Gedanken gemacht.27 Fantasie wird so verstanden, dass sie als aktives und produktives Vermögen verstanden werden soll, »das zentral an der Genese unseres Wissens beteiligt ist und dabei, anders als lange Zeit unterstellt, in seiner Tätigkeit durchaus einigen Regeln gehorcht«28. Auch die berühmte Psychologin Ruth C. Cohn hat sich mit der Intuition auseinandergesetzt. Sie schreibt: »Wir können Intuition einmal versuchsweise als einzigartige und komplizierte Fähigkeit zur spontanen Erkenntnis definieren, die basiert auf: • K larheit der Wahrnehmungen, • A usreichender Speicherung entsprechender Fakten, • G eschultem Denken 26 Gazzaniga, Michael S.: Wann ist der Mensch ein Mensch? Antworten der Neurowissenschaft auf ethische Fragen. Verlag patmos, Düsseldorf 2007, S. 135 27 Vgl. Hepfer, Karl: Die Macht der Phantasie und die Abschaffung des absoluten Wissens. Ein philosophiehistorischer Überblick von Platon bis Kant. Verlag Alber, Freiburg i. Br. 2012, S. 10 28 Ders., a. a. O., S. 10
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• Unblockierten, wachen Gefühlen«29. Natürlich, und das finde ich interessant, ist auch Cohn der Meinung, dass die Vernunft beim Urteilen immer eine Rolle spielt. Wahrnehmung, Speicherung, Wissen sind ja alles kognitive Faktoren, die auf dem Verstand basieren und die Vernunft generieren. Wache Gefühle tun hier ihr Übriges. Johnny. Auch Kiowsky weist der Intuition bei der Urteilsbildung ihren Platz zu. Er stellt sie aber in einen vierfachen Zusammenhang und nennt vier Kriterien, die für die Qualität eines Urteils maßgebend sind: »1. Die intuitive Entscheidung, 2. Empirie 3. Gefühl und 4. Vernunft«30. Letztlich gelangt Kiowsky aber zum Fazit, dass jede Urteilsfindung immer von der individuellen Ermessensfrage abhängt, »die je nach Erfahrung, Argument, Einsicht oder Gewissen zu beantworten ist«31. Roger. Interessant erscheint mir auch die Unterscheidung von Klotz zu sein, der ein verantwortetes von einem unverantwortlichen Urteilen unterscheidet.32 Verantwortete Urteile sind solche, die sich auf ein Regelwerk, z. B. ein Prozessrecht, abstützen. Unverantwortliche Urteile sind etwa Vorurteile. Sodass man sagen kann, laut Klotz müssen Urteile, auch solche, die im Alltag gefällt werden, an Verfahren oder Begründungen gebunden sein, da sie ansonsten nicht als Urteile bezeichnet werden dürfen.33 Aber wie schnell urteilen wir im Alltag über dies und jenes, ohne uns dabei allzu viele Gedanken zu machen. Persönlich halte ich das nicht unbedingt für schlecht. Entscheidend scheint mir zu sein, dass man offen und flexibel ist für andere Urteile und das seinige zu revidieren bereit ist.
29 Cohn, Ruth C.: Von der Psychoanalyse zur themenzentrierten Interaktion. Verlag KlettCotta, Stuttgart 1988, S. 136 30 Kiowsky, Hellmuth: Das Urteil. Wege zur moralischen Urteilsfindung. Verlag Centaurus, Freiburg i. Ue. 2011, S. 236 31 Ders., a. a. O., S. 238 32 Vgl. Klotz, Peter: Werten. Zur Praxis mentaler, pragmatischer und sprachlicher Orientierung. Erich Schmidt Verlag, Berlin 2019, S. 92 ff. 33 Vgl. ders., a. a. O., S. 96
Urteilen und Vergleichen ist dasselbe
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Johnny. Aber gerade die Diskussion um Sinn oder Unsinn der Noten hat gezeigt, dass Urteile der Mode und dem Zeitgeist unterworfen sind. Wer also behauptet, er hätte das Ei des Kolumbus gefunden und dieses Urteil würde für alle Zeiten gelten, irrt gewaltig. Roger. Das unterschreibe ich sofort. Apodiktische Gültigkeit gibt es nicht. Johnny. Ich glaube, damit könnten wir es belassen. Was meinst du? Roger. Ja, im Grunde schon. Urteile sind immer auch Vergleiche. Wenn wir nicht urteilen, können wir keine Vergleiche ziehen. Wir sind dann gewissen Phänomenen gegenüber gleichgültig. Johnny. So kann man das sehen. Aber in »gleichgültig« steckt doch auch ein Vergleich drin. Roger. Wie meinst du das? Johnny. Ganz einfach. Wenn man sagt: A und B sind gleich, dann sind sie gleich gültig. Wenn man aus dem Wort zwei Wörter macht, verändert sich der Sinn völlig. Roger. Kompliment. So habe ich das noch nie gesehen. Das kann einem wohl nicht gleichgültig sein und damit beenden wir das hier, mit der Bemerkung, dass deine Beiträge und meine Beiträge gleich gültig sind. Johnny. Okay, my dear old friend.
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Geld: Der Inbegriff des Vergleichs »Geld ist besser als Armut – wenn auch nur aus finanziellen Gründen.« (Woody Allen1) »Geld ist das Brecheisen der Macht.« (Helmut Plessner2)
Nicole: weiblich. Französische Form zu Nikolaus. Rita: weiblich. Kurzform von Margareta, aus dem Lateinischen, mit der Bedeutung Perle. Christa: weiblich. Kurzform zu Christiane. Britta: weiblich. Kurzform von Brigitte. Aus dem Keltischen übernommener Vorname in der Bedeutung: die Erhabene.3 Britta. Geld ist ein Wert, hat einen Wert. Christa. Und, beim Zeus, was sagt uns das? Nicole. Schön locker bleiben, Mädels. Geld ist ein Wert. Das ist klar, Britta. Der Begriff »Wert« stammt aus der Ökonomie und kommt von dem althochdeutschen Wort »Wird«, welches im Sinne von »Pries« oder »Kaufsumme« verwendet wurde.4 Rita. Man könnte auch sagen, dass es um die Geltung geht, die ein Objekt oder eine Dienstleistung hat. Christa. Entweder man hat es oder man hat es nicht. 1 2 3 4
US-amerikanischer Filmregisseur, Autor, Schauspieler und Komiker Deutscher Philosoph und Soziologe (1892–1985) Im Folgenden beziehe ich mich u. a. auf https://de.wikipedia.org/wiki/Geld (Zugriff: 04.03.2022) Vgl. Schweiberer, Widukind Andreas: Zur Legitimation von Werturteilen. In: Bauer, Alexander Max; Meyerhuber, Malte Ingo (Hrsg.): Philosophie zwischen Sein und Sollen. Normative Theorie und empirische Forschung im Spannungsfeld. Verlag De Gruyter, Berlin 2021, S. 93 ff.
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Britta. Ja, aber die Geltung bemisst sich am Wert oder bemisst sich der Wert an der Geltung? Nicole. Das eine hängt vom anderen ab und umgekehrt. Wenn sich die Geltung von etwas ändert, dann ändert sich auch der Preis. Geld entwickelte sich im Übrigen durch den Handel. Rita. Wie das denn? Nicole. Es hing mit dem Getreideanbau zusammen. Als die Menschen sesshaft wurden, kultivierten sie das wild wachsende Getreide, vornehmlich Weizen, Gerste und Roggen. Davon hatten sie dann plötzlich genug, d. h, zu viel davon, und so machten sie dann mit den Überschüssen ein Geschäft. Britta. Das Geld war geboren als ein Äquivalent für Ware, die verderblich ist. Man kann ja ein Stück Fleisch von einem Tier nicht genauso lang lagern wie Getreide. Also benötigte man ein Zwischenstück, dem man einen Wert verleihen musste. Christa. Genau. Und dann kommt der Kapitalismus ins Spiel. Denn: Die Nachfrage macht den Preis. Ein Ladenhüter verliert ihn. Rita. Du hast es erfasst, Christa. Nicole. Geld ist ein weltweit, also in jeder Gesellschaft, anerkanntes Zahlungsmittel. Das heißt, ich tausche Waren und Dienstleistungen jeglicher Art in Geld um oder umgekehrt. Je nachdem bin ich Käuferin oder Verkäuferin. Reine Tauschgeschäfte, bei denen Waren gegen Waren oder Waren gegen Dienstleistungen getauscht werden, gibt es auch. Die Waren werden aber nicht durch das Geld vergleichbar. Rita. Waren und Dienstleistungen könnten miteinander verglichen werden, was aber einen sehr komplizierten und komplexen Prozess darstellen würde. Das heißt, man könnte den Aufwand für die Herstellung einer Ware bzw. einer Dienstleistung berechnen. Aber man tut das nicht, weil es zu aufwendig wäre. An dessen Stelle tritt nun das Geld als ein scheinbar objektiver Maßstab. Scheinbar objektiv deshalb, weil da die Gefahr von Betrug, Unklarheiten etc. immer auftreten kann.
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Britta. Das ist die eine Seite. Ebenso spielt die Bedürfnislage der Kaufenden mit hinein. Wenn die Verkäufer:innen wissen, dass die Käufer:innen in einer Notlage sind, kann und werden sie mehr berechnen, als die Ware bzw. die Dienstleistung vom Aufwand her eigentlich wert wäre. Umgekehrt verhält es sich gleich. Wenn die Käufer:innen wissen, dass die Verkäufer:innen vom Verkauf abhängig sind, werden sie die Ware oder die Dienstleistung unter Wert zu erhalten versuchen. Nicole. Aber das ist ja noch lange nicht alles. Gleich verhält es sich z. B. bei den Löhnen. Wenn viele eine bestimmte Arbeit zu verrichten in der Lage sind, so sind die Löhne niedrig, wenn ein Fußballspieler so gut ist, dass er es schafft, dass seinetwegen 50.000 Menschen ins Stadium strömen, wird sein Gehalt exorbitant sein. Angebot und Nachfrage sind demnach wichtiger als der eigentliche Wert einer Ware oder einer Dienstleistung. Letztlich fragt gar niemand mehr nach dem eigentlichen Wert, sondern nur noch die Nachfrage entscheidet, wie hoch ein Wert für eine Ware oder eine Dienstleistung angesetzt wird. Wo bleibt da der viel besungene Vergleich, frage ich mich? Christa. Beim Zeus, damit hast du recht. Ich habe mich auch schon gefragt, was da eigentlich miteinander verglichen wird. Wir tauschen ein Papierchen gegen ein Ding oder eine Dienstleistung und gehen davon aus, dass es gleich viel wert ist. Rita. Und müssen feststellen, dass der Vergleich nur auf einer abstrakten Ebene stimmt. Britta. Ihr seid eben auch noch etwas grün hinter den Ohren. Christa. Was soll das denn nun wieder heißen? Machst du wieder einen auf Oberschlaumeierin. Britta. Fühlst du dich angesprochen, Christa? Wir vergleichen zwar Geld mit Dingen oder Dienstleistungen. Das stimmt schon so. Aber die inhaltliche Menge der beiden Elemente, nämlich Geld oder Ware, kann eben immer variieren. Nicole. Mein Interesse gilt aber dem Geld, weil Geld der Inbegriff des Vergleichs ist. Geld ist ein »dokumentiertes Wertversprechen allgemeiner
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Geltung«5. Die Betonung liegt für mich beim Versprechen. Dieses wiederum verweist darauf, dass Geld als Vergleichsmittel nur dann funktioniert, wenn sich alle Menschen an dieses Versprechen halten. Im Gegensatz zu früheren Zeiten hat heute im Zeitalter der Nationalstaaten der jeweilige Staat das Monopol auf das Geld und seinen ihm zugeschriebenen Wert. Der Wert des Geldes liegt demnach in seiner allgemeinen Akzeptanz, die es genießt. Britta. Wir vergleichen folglich eine Arbeit, eine Dienstleistung, eine Ware, mit einer Summe, die wir in Form von staatlich legitimiertem Geld umtauschen können. Das hatten wir ja bereits. Nicole. Deshalb wollte ich auf das Geld als solchem zu sprechen kommen. Heute besteht der größte Teil der Geldmenge in einem (westlich orientierten) Staat aus Girokonten, d. h., die finanziellen Transaktionen werden bargeldlos abgewickelt. Das Geld, das in sich selbst ja wertlos ist, verschwindet ebenso aus unserem Gesichtsfeld und besteht nur noch in Zahlen auf einem Konto, das bei einer Bank hinterlegt ist. Rita. Kommt aber jetzt noch etwas hinzu. Christa. Und das wäre? Rita. Übersteigt das Geldangebot die Nachfrage nach Geld, so steigen die Preise und wir haben eine Inflation, weil zu viel Geld im Umlauf ist, das aber nicht gebraucht und abgerufen wird. Ist das Geldangebot in einem Staat kleiner als die Geldnachfrage, fallen die Preise und man spricht von einer Deflation. Nicole. Ja, das ist ein wichtiger Punkt, den du da angesprochen hast. Wir sehen also, dass kaum etwas so stark von Vergleichen abhängig ist wie das Geld. Da werden Sachen, Dienstleistungen, Geldmengen, Geldmengen im Verhältnis zu Angebot und Nachfrage und was weiß ich noch alles ständig miteinander verglichen. Wer blickt denn da überhaupt noch durch. Christa. Beim Zeus, ich lange schon nicht mehr. Hauptsache, ich habe am Monatsende noch welches. 5
Schmölders, Günter: Gutes und schlechtes Geld: Geld, Geldwert und Geldentwertung. 1968, S. 21
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Britta. Kommen wir mehr auf eine theoretisch-wissenschaftliche Ebene, wenns recht ist. Bemerkenswert sind aus meiner Sicht die Äußerungen, die Canetti6 gemacht hat, wenn er davon ausgeht, dass es in unserer Kultur neben Kriegen und Revolutionen nichts Schlimmeres gibt als eine Inflation. »Die Erschütterungen, die sie bewirken, sind so tiefer Natur, dass man es vorzieht, sie zu verheimlichen und zu vergessen«7. Nicole. Also aus meiner Sicht stellt sich Inflation so dar, dass die Menschen ihr Geld nicht mehr mit dem Geld von gestern vergleichen können, weil der Wert über Nacht schwinden kann. Ohne Vergleiche stoßen wir immer wieder darauf, keine Sicherheit, wir fallen ins Bodenlose und Panik ist die Folge. Deshalb kommt wohl auch Canetti auf den Vergleich mit den Kriegen bzw. den Revolutionen, auch hier kann nichts mehr mit irgendetwas anderem verglichen werden und wir verlieren jegliche Orientierung. Rita. Canetti spricht auch davon, dass die Million als etwas Besonderes gilt. In der Inflation hat jeder Millionen und wenn etwas von jemandem in Besitz genommen werden kann, hat es keinen Wert mehr. Der entscheidende Faktor, nämlich der des Vertrauens, ohne das Geld kein Geld ist, existiert nicht mehr. Nicole. »Wenn die Millionen in die Höhe klettern, wird ein ganzes Volk, das aus Millionen besteht, zu nichts«8. Die Millionen sind das Papier nicht wert, auf dem die Nullen aufgedruckt sind. Britta. Aber so einfach ist es nicht und man kann es so nicht sehen. Gilder schreibt: »Die Inflation wird nicht vorwiegend von den Staatsschulden verursacht. Wenn man das Defizit durch höhere Steuern bei gleicher Geldmenge auszugleichen versucht, werden die Preise in gewohnter Weise nach dem Kostengesetz steigen. Es würde weniger Investitionen, eine geringere Produktion und weniger neue Produkte geben, aber die Preise für das schrumpfende Sortiment alter Produkte müssten steigen, um die zusätzliche Last direkter Staatsausgaben zu tragen. Nur eine expandierende Geldmenge sichert das Überleben der Privatwirtschaft gegen alle staatlichen Mächte, von der OPEC bis zur Gemeindeverwaltung. Der einzige Weg, der Menschheit diese Last zu erleichtern, ist eine Produktivitätssteigerung – insbeson6 7 8
Canetti, Elias: Masse und Macht. Verlag Ex Libris, Zürich 1983, S. 207 Ders., a. a. O., S. 207 Ders., a. a. O., S. 211
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dere bei den staatlichen Leistungen und Diensten, der Wachstumsbranche unserer Phase des Kapitalismus.«9 Christa. Beim Zeus und allen anderen Göttern. Das ist mir zu hoch. Rita. Im Grunde heißt es: Schaffe, schaffe, Häusle baue. Man muss produktiv sein, die Wirtschaft muss am Laufen, am Dampfen gehalten werden, dann gibt es auch keine Inflation. Britta. Finde ich nicht, Christa. Du musst die Textstelle vielleicht noch einmal lesen. Nicole. Es sind klare Worte, die aber auch aufzeigen, dass wir in unserem hochkapitalistischen System gefangen sind. Wir unterliegen demnach einem Zwang zum Wachstum. Dabei steckt der Reichtum eines Staates, so Gilder weiter, nicht in den Maschinen und Fabriken. Denn nicht die Länder, die mit materiellen Dingen gut versorgt sind, haben das größte Wirtschaftswachstum, »sondern die, in denen Freiheit und das Recht auf Privateigentum herrschten«10. Als Beweis führt Gilder Japan und Westdeutschland in der Nachkriegszeit an. Nachdem diese Länder alles verloren hatten, waren sie durch ihr Wirtschaftssystem begünstigt, binnen kürzester Zeit waren sie in der Lage, wieder an die Weltspitze aufzusteigen. Britta. Er kommt anschließend auf die Bedeutung des Geldes zu sprechen und spricht von einem Schatz (kursiv i. O.), den es zu hegen und zu pflegen gilt, und man nicht müde wird, diesen immer wieder heben zu wollen. Die innere Nähe der Menschen zeigte sich früher im Umgang mit den Münzen, zu denen es leichter fällt, ein inniges Verhältnis zu haben, als z. B. zu Papiergeld. Während einer Inflation verliert somit eine ganze Gesellschaft ihr Selbstwertgefühl, weil das Geld selbst keinen Wert mehr hat. Nicole. Es fehlt die Vergleichsmenge. So sehe ich das. Rita. Klotz erzählt in einer Fußnote seines Buches die Passage aus Goethes Faust II, in der Mephisto das Papiergeld einführt, um »des Kaisers ständigen Geldmangel« zu bewältigen, dann findet sich auf dem Geschein folgende, 9
Gilder, George: Reichtum und Armut. Quadriga Verlagsbuchhandlung, Berlin 1981, S. 221 10 Ders., a. a. O., S. 257
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aber eben überhaupt nicht qualifizierte, d. h. gewertete Garantie, Verse 6057 bis 6062: »Zu wissen sei es jedem, der’s begehrt:// Der Zettel hier ist tausend Kronen wert. // Ihm liegt gesichert, als gewisses Pfand. // Unzahl vergrabenen Guts im Kaiserland. // Nun ist gesorgt, damit der reiche Schatz // Sogleich gehoben, diene zum Ersatz.«11 Britta. Interessante Passage. Die Menschen waren wohl damals noch nicht so weit, weil das Papiergeld noch durch ein Äquivalent abgesichert werden musste. Davon sind wir heute weit entfernt, wir brauchen nicht mal mehr das Papier in Noten oder Münzen. Christa. Wenn ich mich an meine Zeit als Sonderschullehrerin erinnere, dann war es immer besonders schwierig, jugendliche, lernbehinderte Schüler:innen in die Konstruktion des bargeldlosen Zahlungsverkehrs einzuführen. Denn wenn sie 18 Jahre alt wurden, durften sie ja auch ein Konto eröffnen. Das bedeutete, dass ich dann jeweils Rollenspiele durchführen ließ, bei denen ein Schüler das Geld, der andere der Sender und der dritte der Empfänger war. Die Transferleistung bestand darin, dass das Geld durch einen Brief ersetzt wurde. Das heißt, meine Bank schreibt mir einen Brief, indem sie mir mitteilt, dass sie einer anderen Bank für einen anderen Begünstigten eine bestimmte Summe überwiesen hat. Dieser sah aber kein Geld, sondern erhielt ebenso einen Brief von seiner Bank, dass ihm eine bestimmte Summe Geld, abgeschickt von mir, auf seinem Konto gutgeschrieben worden sei. Also: Niemand sah auch nur ein bisschen Geld, aber diverse Briefe wurden verschickt. Nicole. Was hat das nun mit dem Vergleichen zu tun? Britta. M. E. sehr viel, weil man von einem ursprünglichen Tausch zu einem Ersatz in Form von Geld kommt und nun auch dieses verschwunden ist. Es müssen folglich mehrere abstrakte Schritte vollzogen werden, die nur dann nachvollziehbar sind, wenn man die eine Stufe der Abstraktion mit der anderen in eine Beziehung setzen und damit vergleichen kann. Nicole. Aha. So kann man es natürlich auch sehen.
11 Klotz, Peter: Werten. Zur Praxis mentaler, pragmatischer und sprachlicher Orientierung. Erich Schmidt Verlag, Berlin 2019, S. 69
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Britta. Vermutlich hatten die Menschen schon immer ein Bedürfnis nach Geld oder anders formuliert, sie benötigten etwas, das sie als Gegenwert von Sachen oder Dienstleistungen einsetzen konnten. So weiß man, dass es Zeiten gab, in denen Muscheln oder auch Reiskörner die Funktion von Geld innehatten. Rita. Genau. Im Mittelalter ging man dazu über, weil immer mehr Waren produziert und in den Handel kamen, dass dem Geld ein wahrer Gegenwert entsprechen musste. Dies war i. d. R. das Gold. Um ca. 1930 wurde dieser Goldstandard aufgegeben, weil man sah, dass es auch ohne diesen funktionierte, wenn nur das Versprechen der Werthaltigkeit von Geldnoten und Geldmünzen unangetastet blieb. Britta. Aber der Goldpreis je Feinunze wird täglich an den Börsen auf der ganzen Welt ermittelt. So ist das Gold selbst von einem fiktionalen, immer wieder neu ausgehandelten Preis abhängig und wird tagtäglich durch ein Hoch oder ein Tief verglichen. Nicole. Aber auch die Devisenkurse sind fiktional und haben kein festes Maß, sondern sind von sehr vielen Faktoren abhängig. Die einzige Konstante, die zu finden ist, ist der Vergleich, dies im Sinne von: Der Kurs hat z. B. 2 Punkte gewonnen oder verloren. Christa. Beim Zeus, es ist schon eine schwierige Materie. Gebt ihr das wenigstens zu? Nicole. Ja, es ist nicht einfach, da einen Durchblick zu gewinnen. Britta. Vor allem dann, wenn man nicht Wirtschaftsingenieurin ist. Rita. So wie du eben. Britta. Dann erlaube ich mir, das Schlusswort zu zitieren, und beziehe mich dabei auf Harari. Er schreibt: »Versuchen Sie mal, ohne Geld Wissenschaft zu betreiben oder ein Imperium zu erobern. Weder eine moderne Armee noch ein Universitätslabor können ohne Banken unterhalten werden. Geld ist untrennbar mit der wissenschaftlichen Revolution verbunden.«12 12 Harari, Yuval Noah: Eine kurze Geschichte der Menschheit. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2013, S. 375
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Nicole. Gut, das fand ich jetzt nicht so revolutionär, nach allem, was wir hier selbst schon zum Besten gegeben haben. Mir fehlt hier noch etwas Handfestes, Praktisches. Christa: Kein Problem. Auch ich habe mir kürzlich Harari zu Gemüte geführt und genau eine Seite weiter als das von Britta hier vorgebrachte Zitat liefert Harari ein absolut praktisch orientiertes Beispiel. Habt ihr dazu noch Lust und Durchhaltevermögen? Ich habs dabei, zufällig (hihi). Britta. Na also dann. Christa. Auch Harari räumt ein, dass Finanzpolitik komplex und damit sehr kompliziert ist, und um »die Sache zu vereinfachen, nehmen wir ein hypothetisches Beispiel: Herr Taler gründet eine Bank. Der Bauunternehmer Maurer hat gerade ein großes Projekt abgeschlossen und 1 Million Euro kassiert, die er auf die neue Bank bringt. Nun hat die Bank ein Kapital von 1 Million. Frau Back träumt davon, eine Großbäckerei zu eröffnen. Leider fehlt ihr das nötige Kleingeld. Also geht sie zur Bank, erzählt Herrn Taler von ihrem Traum und geht mit einem Kredit von 1 Million nach Hause. Frau Back beauftragt Herrn Maurer, ihr für den stolzen Preis von 1 Million eine Grossbäckerei zu bauen, und zahlt im Voraus. Herr Maurer nimmt die Million und trägt sie auf die Bank. Wieviel Geld hat Herr Maurer jetzt auf dem Konto? 2 Millionen. Und wie viel Geld befindet sich wirklich in der Bank? 1 Million. Doch damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende. Wie es in solchen Fällen ebenso geht, informiert Herr Maurer seine Kundin Frau Back, dass sich unvorhergesehene Schwierigkeiten ergeben haben und der Bau nun 2 Millionen kostet. Aber Frau Back lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Sie geht noch einmal zur Bank, überzeugt Herrn Taler, ihr einen weiteren Kredit zu geben und geht mit einer weiteren Million in der Tasche nach Hause. Dieses Geld gibt sie Herrn Maurer, der es auf sein Konto einzahlt. Wie viel Geld hat Herr Maurer jetzt auf seinem Konto? 3 Millionen.
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Und wie viel Geld befindet sich wirklich in der Bank? Immer noch nur 1 Million. Und zwar dieselbe Million, die von Anfang an auf der Bank lag.«13 Britta. Die Geschichte ist aber noch immer nicht zu Ende. Harari fügt nämlich noch an, dass nach den Gesetzen des modernen Bankwesens sich dieses Spiel noch ca. siebenmal wiederholen lässt. Dann hätte Herr Maurer 10 Millionen auf seinem Konto, während die Bank nur eine Million im Tresor hat. Die Bank darf nämlich für jeden Euro, den sie im Besitz hat, 10 verleihen. Rita. Genau, und wenn alle Kunden und Kundinnen ihr Geld zurückhaben möchten, bricht die Bank und Herr Taler zusammen. Ende der Vorstellung. Haben wir alles in der Geschichte schon gehabt. Nicole. Mit diesem unrühmlichen Ende ist für mich für heute Feierabend. Rita. Sehe ich auch so. Christa. Werde mir das Beispiel noch einmal durchlesen. Britta. Tu das.
13 Ders., a. a. O., S. 375
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