Wortwechsel: Zehn philosophische Dialoge 9783787340521, 9783787340538, 3787340521

Form und Genre sind in der Philosophie den Gedanken nicht äußerlich und kleiden sie nicht lediglich ein, sondern eröffne

128 10 1MB

German Pages 233 [235] Year 2021

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Wortwechsel: Zehn philosophische Dialoge
 9783787340521, 9783787340538, 3787340521

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Wortwechsel Zehn philosophische Dialoge Andreas Dorschel

Meiner

Andreas Dorschel

Wortwechsel Zehn philosophische Dialoge

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-4052-1 ISBN eBook 978-3-7873-4053-8

Fertiggestellt am Wissenschaftskolleg zu Berlin im Winter 2020/21. © Felix Meiner Verlag Hamburg 2021. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspei­cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, s­ oweit es nicht §§  53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: Jens-Sören Mann. Druck und Bindung: Stückle, Ettenheim. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werk­druck­­papier, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

INHALT

Laut denken · 7 Denken Livre de Prudence · Gespräch in Padua · 23 Vernunf t On le forcera · Gespräch in Paris · 39 My thos Arkona · Gespräch auf Rügen · 57 Vorurteil Ratten · Gespräch in Wien · 73 Einbildungskr af t Aufgerissene Augen · Gespräch in Liverpool · 91 Char akter Wolframus · Gespräch in Erfurt · 105 Form Katzengold · Gespräch in Walden · 127 Lust Anguilla · Gespräch in Lyon · 145 Schönheit Venere d’Urbino · Gespräch in Florenz · 179 Spiel Di yu di dee dee · Gespräch in Cambridge · 197 Knoten · 227 Nachweise · 229 Begriffsregister · 231

Für Mitra und Arianna •

L AUT DENKEN Laut denken  1  Dialog und Vorlesung: diese beiden gegensätzlichen Gattungen, unter anderen, verdankt Europa den Griechen.1 Im Dialog Gesagtes soll ein Gegenüber zum Reden bringen, in der Vorlesung Gesagtes den Studenten zum Schweigen. Die griechische Erfindung der Vorlesung wäre unverzeihlich, machte nicht die Erfindung des Dialogs sie wett. 2  Einst war der platonische Dialog »gleichsam der Kahn, auf dem sich die schiffbrüchige ältere Poesie sammt allen ihren Kindern rettete«2 . Längst muß sich die Poesie nicht mehr retten. Immer noch eignet sich aber der Kahn des Dialogs in Fällen von Seenot – der über Bord Gegangenen der modernen akademischen Philosophie. 3  Die Schulphilosophie des 21. Jahrhunderts ist verengt in ihren Gen­res. Beinah ihre einzigen Äußerungsformen sind der Journalartikel sowie die Abhandlung ; von sonstigem, Tagungsberichten etwa, werden nicht einmal ihre Herausgeber erträumen, daß sie das Denken weiten. Die Abhandlung unterscheidet sich vom Artikel nur in der Länge ; in der Weise, in der sie abgefaßt ist, gleicht sie ihm. Was nicht in diese Form paßt, fällt ins Wasser. Lernt es schwimmen oder ertrinkt es ? 4  Philosophieren heißt: nachdenken und unabhängig bleiben. Unabhängig bleibt das Nachdenken, solange es frei von Furcht vor dem ist, was sich aus ihm ergeben könnte. Die beiden Forderungen sind insofern zwei Seiten der selben Sache. Und zu ihnen paßt Frei Zur Vorgeschichte des Dialogs Martin L. West, Indo-European Poetry and Myth, Oxford University Press, Oxford 2007, 68–69. 2 Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie [1872], § 14, Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, Bd. 1, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, 2. Aufl., Deutscher Taschenbuch Verlag – de Gruyter, München – Berlin/New York, NY 1988, 9–156, 93. 1

7

heit nicht nur der Inhalte, sondern auch der Formen. Frühere Philosophien, insbesondere jene der Renaissance und der Aufklärung, bedienten sich etwa auch des Briefes, der Erzählung, des Monologs und des Dialogs, um philosophische Positionen einzuführen und dann, in der Entfaltung des Gedankengangs, mittels dramatischer sowie epischer Ironie in unterschiedlichem Maß Abstand von ihnen zu nehmen. Den Veranstaltern des modernen akademischen Exorzismus solcher Formen mag vor Ironie bange gewesen sein. Letzte Sicherheit vor ihr erlangen sie vielleicht nur in der ihnen ganz eigentümlichen Form des Dialogs, der Podiumsdiskussion auf dem Philosophiekongreß. 5  Unter den philosophischen Gattungen, die sich einer Heuristik der Fiktion bedienen (¶ 4), bietet der Dialog die besonderen Gelegenheiten – verknüpft, wie alle Gelegenheiten, mit speziellen Grenzen – eines Schauspiels für Leser: übrigens nicht unbedingt für geneigte (¶ 36). Auf den Dialog kam die Philosophie nicht, um sich aufs Gefälligsein zu verlegen. 6  In den Schauspielen für Hörer und Zuschauer hat man verpaßt, was man verpaßt hat. Es gibt kein Zurück, wie bei den Schauspielen für Leser (¶ 5). Diese erlauben auch Innehalten, Nachdenken. Sie können daher andere Schwierigkeiten zumuten. Das Schauspiel für Leser, das philosophische Dialoge bieten, wird zum Theater des Verstandes. Gespräche dieser Art, Schauspiele ohne Schau und Show, inszenieren Begriffe ; diese umkreisend, führen sie vor, wie Bedeutung zwischen Redenden entsteht und vergeht. Im Hinblick auf die Begriffe wird manches gesagt ; dies zählt zum Inhalt des Dialogs (¶¶ 34–35). An seiner jeweiligen Form aber zeigt sich etwas, das nicht mehr gesagt wird. 7  Die philosophischen Begriffe (¶ 6) sind zwar »Griffe«3  – aber nicht Griffe der Hand, unmittelbar am Einzelnen, sondern Griffe des Kopfes, abgelöst vom Einzelnen. Diese Selbständigkeit verleiht Bertolt Brecht, ›Über die Art des Philosophierens‹ [1939/40], Werke, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 22.1, hg. v. Inge Gellert u. Werner Hecht, Aufbau-Verlag  – Suhrkamp, Berlin/Weimar  – Frankfurt am Main 1993, 512–513, 513. 3

8 | Laut denken



ihnen höhere Verfügung, nämlich allgemeine. Darum sagt man, Herrschaftliches andeutend, das Einzelne sei unter dem Begriff begriffen, subsumiert. Keine Verfügung über den Begriff sucht der ihn umkreisende Dialog ; er löst sich seinerseits ab von diesem Element der Ablösung. 8  Wofür die definitionshungrigen Abhandlungen (¶ 3) anfällig sind, dem müssen Dialoge sich entziehen: in Terminologie zu erstarren.4 Sie sind Wortwechsel nicht nur in dem Sinne, daß das Wort hinüber und herüber wechselt, sondern auch in dem Sinne, daß etwas an den Worten wechselt. Da Dialoge vorführen, wie Bedeutung zwischen Redenden entsteht und vergeht (¶ 6), will ihre Sprache fließen. 9  Ein Schauspiel für Leser (¶¶ 5–6): Imaginiert ist, daß die Figuren laut denken. So macht der Dialog Leser zu Zeugen, statt zu Empfängern eines Berichts. 1  0  Ein Kind, das eine Puppe in der Hand hält, findet Sätze, die es ohne die Puppe nicht hätte sagen können. Philosophische Dialoge arbeiten diese Situation aus – bis sie erwachsen wird. 1  1  Nur in und an Widerständen denkt jemand. Wer ganz im Einklang mit sich und anderen wäre, bräuchte nicht mehr zu denken. Die Kunst des philosophischen Dialogs liegt darin, vom Satz zum Gegensatz zu gelangen. Das gilt bis zum Finish: Erst Reibung verleiht Gedanken Politur. Satz und Gegensatz indes reichen nicht ; zu Figuren (¶ 9), mit Worten agierenden und reagierenden, muß der dem Denken unentbehrliche Widerstand im Dialog werden. Das Genre fordert vom Autor, ehe er den Gedanken schreibt, erst einen Jemand zu finden, der fähig ist, den Gedanken zu äußern, und – unter Vorbehalt (¶ 46) – andere, die fähig sind, ihn zu begreifen.   Vgl. Salomon Maimon, ›Geschichte seiner philosophischen Autorschaft, in Dialogen‹, Neues Museum der Philosophie und Litteratur 2 (1804), H. 1, 123– 146. Maimon spricht in seinem Dialog von einer abzulegenden – und von ihm abgelegten – »Definitionswuth« (139). 4

Laut denken | 9

12  Des Widerstands halber ist indes Begreifen (¶ 11) nie genug. Wenn Denken sich nicht einfach in einem Denker, sondern zwischen Sprechern ereignet (¶ 8), dann müssen die Figuren eines Dialogs in der Lage sein, einander zu irritieren ; nur so bleibt das Gespräch lebendig. Jede einzelne der Figuren zählt, aber nichts zählt so sehr wie ihre Zusammenstellung. Das Bild, das sich aus ihr ergibt, braucht nicht schön auszufallen. Zuweilen ist die Sau nötig, der einer seine Perlen hinwerfen kann ; die Sau irritiert den Lieb­ haber der Perlen durch deren Geringschätzung, die Perlen irritieren die Sau durch Unverdaulichkeit. Lebendig muß das Bild sein, das sich ergibt, und wäre es auch in solchem Falle. 1  3  Ein Ort, Figuren dieser Qualität (¶¶ 11–12) zu finden, ist die Geschichte. Aber Finden geht hier einher mit Erfinden – »historical fiction«.5 »Der historische Mensch ist gewissermaßen ein Magnet, und um ihn herum ist ein Feld, in dem man sich erfindend bewegt«, sagt Daniel Kehlmann, seinen Roman Die Vermessung der Welt erläuternd ; es gilt auch für imaginäre Konversationen in der Nachfolge Walter Savage Landors. Einerseits ist es nicht Sinn der Sache, solche Dialoge nur aus belegten Äußerungen, etwa in Briefen und Tagebüchern, zu montieren. Rückt man andererseits den Gestalten der Geschichte so fern, »daß die Kraft ihres Feldes nicht mehr spürbar ist, so hat man das künstlerische Recht verloren, diese Namen zu verwenden«6 – das künstlerische Recht nämlich im Roman, das philosophische Recht im Dialog. 1  4  Das Verhältnis von Figur und Gedanke im philosophischen Dialog ist prekär. Um Dialog zu sein, muß er von Personen geführt werden, nicht von Personifikationen ; wer eine menschliche Figur lediglich dazu benutzt, eine Abstraktion zu vertreten, behandelt sie unter ihren Möglichkeiten, den literarischen und den philosophischen. Zur Person, und nicht bloß Personifikation, wird eine Figur in dem Maße, in dem sie eine eigene Stimme gewinnt. Nur dann Mary Margaret McCabe, Plato and his Predecessors: The Dramatisation of Reason, Cambridge University Press, Cambridge 2000, 10–13 ; vgl. a. 45, 76–77, 90, 134–135, 199. 6 Daniel Kehlmann, Diese sehr ernsten Scherze. Poetikvorlesungen, Wallstein, Göttingen 2007, 26. 5

10 | Laut denken



wird es auch zum Ereignis im Dialog, wenn sie diese verliert, nämlich verloren gibt, etwa weil sie sich opportunistisch anpaßt an die, mit denen sie spricht. 1  5  Jede Stimme sagt mehr als ihre Sätze. 1  6  Wenn zwei miteinander reden und ein paar Einsichten gewinnen, haben beide gewonnen. Folglich ist es eine Dummheit zu glauben, Gespräche seien Spiele, die der eine gewinnt, sofern der andere sie verliert. Aber diese Dummheit, und nicht nur diese, widersteht Einsichten, besonders der genannten. Und sie kann eigentümlich fruchtbar werden. Das stellt den Dialog unter Wittgensteins landschaftliches Gebot: »Steige immer von den kahlen Höhen der Gescheitheit in die grünenden Täler der Dummheit.«7 Diese können, denn es ist ein metaphorisches Grün, auch in der Stadt liegen, ja sie liegen, was das Dialogische betrifft, fast nur dort. 8 1  7  Statt die Dummheit der Rivalität (¶ 16) in Gestalt eines idealen Gespräches zu unterdrücken, muß der philosophische Dialog das Beste aus ihr machen. Also ist sein Bestes ein Zweitbestes, deuteros plous9. 1  8  Polizeiliches oder richterliches Ausfragen ergibt keinen Dialog. Und doch: Die dialektischen Figuren (¶¶ 9, 11–12, 14) agieren, im Kräftemessen und über dieses hinaus, wechselseitig als Erkennungsdienst ; die sachdienlichen Hinweise, die sie einander geben und von einander entgegennehmen, tragen zur Identifikation der Personen bei. Sie tun es selbst dann, wenn sie über die Person täuschen sollen, denn man täuscht auf die eigene, persönliche Art. Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen [1914–51], hg. v. Georg Henrik von Wright, Werkausgabe, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1989, Bd. 8, 445–573, 557. 8 Vgl. Platon, Phaidros [c. 370 v. Chr.], 230d, Sämtliche Werke in zehn Bänden, Griechisch – Deutsch, hg. v. Karlheinz Hülser, Insel, Frankfurt am Main/ Leipzig 1991, Bd. VI, 9–149, 20. 9 Platon, Phaidon [c. 383 v. Chr.], 99d, Sämtliche Werke in zehn Bänden, Griechisch – Deutsch, hg. v. Karlheinz Hülser, Insel, Frankfurt am Main/Leipzig 1991, Bd. IV, 185–347, 298. 7

Laut denken | 11

1  9  Kraft ihrer Figuren (¶¶ 9, 11–12, 14, 18) vergegenwärtigen Dialoge. Wenn sie in der Vergangenheit (¶ 13) spielen, wird auch diese zur vergegenwärtigten  – als ereigne sich das Gespräch hier und jetzt. Solch eine Gegenwart kann nur Hokuspokus sein: Geisterbeschwörung. Aber sie taugt als Korrektiv gegen den Trug der Abhandlungen (¶ 3). Diese legen philosophische Fragen ab in einem abstrakten Irgendwo – einem Nirgendwo – ; Gespräche haben einen Ort. In ihnen kommt es nicht nur darauf an, was gesagt wird, sondern auch darauf, wo es gesagt wird, wie es gesagt wird und wer es sagt. Sie können, dürfen, sollen vom Gelegentlichen ausgehen. Den Fragen, die das Denken aufwirft, geben Dialoge ihren Sitz im Leben zurück, indem sie bestimmte Personen, mit ihrer je eigenen Stimme (¶¶ 14–15), in Situationen sprechen lassen ; Abhandlungen hingegen reklamieren, jenseits von Raum und Zeit, die eine Stimme der Menschheit, der Vernunft, des Seins oder als wessen Bauchredner Philosophen sonst noch auftreten mögen. 20  Daß der Ort des Dialogs (¶ 19) die Öffentlichkeit sei, ist ein Gerücht. Weil sie alles und nichts ist, gibt Öffentlichkeit nur den Ort ab für sogenannte Dialoge. Deren Teilnehmer bestätigen mittels sprachlicher Fertigteile den einen die Zusammengehörigkeit und bestreiten anderen die Zugehörigkeit zu den Anständigen – etwa durch öffentliches Ausrufen von Skandalen. Wo es ein Publikum gibt – in der Öffentlichkeit – endet das Gespräch und beginnt das Spektakel, die Sabotage am Gespräch.10 Sofern die folgenden Dialoge an öffentlichen Orten stattfinden, etwa in einem Museum, auf der Straße, in einem Kaffeehaus, sind diese so beschaffen, daß sie die Redenden einem Publikum entkommen ließen. Öffentlicher Raum kann am Stand der dialogischen Gnade teilhaben, solange er Nischen aufweist, die vor Öffentlichkeit eben noch verschonen. Fiktive Zeugnisse solcher Gnade zu veröffentlichen ist das Paradox des Genres Dialog (¶¶ 4–9, 12). 21  Zum Publikum (¶ 20) reden Demagogen mit nachtwandlerischer Sicherheit. An aller Sicherheit ist etwas von Nachtwandeln. Ari Adut, Reign of Appearances: The Misery and Splendor of the Public Sphere, Cambridge University Press, New York, NY 2018, ix–x, 15, 28–29, 41, 121. 10

12 | Laut denken



In dem Maße, in dem das Bewußtsein heller wird, schwindet die Sicherheit, mehrt sich der Zweifel. 22  ›Zweifel‹ (¶ 21) ist etymologisch, was sich zweimal falten läßt, und Dialog ist Zwei-, Drei-, Viergespräch. Der Abstand, den jeder Text als Text zur Welt hält, dehnt sich im Dialog um den Abstand des Autors zu seinen Figuren sowie um den Abstand der Figuren zu einander. In der Form selbst steckt ein Element der Skepsis,11 das freilich durch den Inhalt des Gesagten entfaltet oder, sofern Dogmatiker am Werke sind, vernichtet werden kann. Diese, notorisch nur den eigenen Gedankengängen folgend, hören schlecht zu, ja hören am Ende den anderen überhaupt nicht mehr zu12 und entziehen so dem Dialog die raison d’être, auch wenn tatsächlich noch das Wort hin und her geht. Übrig bleiben dann abwechselnde Monologe. 23  »In der Form selbst« (¶ 22) ? Grenzen hat der Dialog allerdings ; sind sie eng gezogen, schadet ihm das nicht. Denn Philosophie fordert Genauigkeit, Deutlichkeit, Sorgfalt. Diesen tut Demarkation keinen Eintrag, im Gegenteil. Um alles zu sagen, braucht der Dialog nicht mehr als zwei Leute in einem Raum ; was darüber hinausgeht, ist bereits Luxus. 24  Dialoge, die etwas taugen, sind mit Überlegung gestaltet ; in diesem weiteren Sinne werden sie geformt sein – jedoch zu Formen, entzogen allen einheitlichen Schemata, die gegen die Inhalte der Erörterung gleichgültig wären. Von einer Dialogform in dem engeren Sinne, in dem es etwa (bei allen Varianten) eine Sonettform gibt, kann hingegen keine Rede sein. Auch insofern ist Philosophieren im Dialog fluide (¶ 8). Selbst eine Debatte wie über die Zahl der Akte im Drama wäre mit Blick auf sie – Soll ein guter Dialog drei oder fünf Abschnitte haben ? – kaum denkbar. Johann Jakob Engel, Über Handlung, Gespräch und Erzählung [1774], hg. v. Ernst Theodor Voss, Metzler, Stuttgart 1964, 38, vgl. 37, sowie 48 zu »Situation«. 12 Adam Müller, ›Über die dramatische Kunst‹ [1806], Kritische, ästhetische und philosophische Schriften, hg. v. Walter Schroeder u. Werner Siebert, Luchterhand, Neuwied/Berlin 1967, 139–291, 141. 11

Laut denken | 13

25  Platon verbrannte seine Tragödien vor dem Dionysostheater zu Athen, ehe er sich dem sokratischen Dialog zuwandte.13 Mit dem Drama (¶ 24) teilen Dialoge die Literarisierung von Mündlichkeit (¶¶ 5–6). Doch jenes ist dazu da, auf der Bühne gespielt und gesprochen zu werden ; diese hingegen eignen sich kaum für eine Aufführung14 – nach üblichen Begriffen des Dramatischen geschieht im Grunde nichts. Aber: »Worte sind auch Taten«15 – die Tat besteht jeweils darin, sie zu äußern. Dem Denken (¶¶ 9, 11) können die Worte, die auch Taten sind, eine neue Richtung geben. Ja selbst der Folge der Worte zuzuhören (wie es denjenigen im Dialog zuzuschreiben ist, die jeweils nicht reden) ist eher ein Akt als ein Zustand, in dem man passiv bleiben könnte. Hören kann unaufmerksam sein ; Zuhören entspringt der Aufmerksamkeit. 26  Dialogfiguren sind vor allem durch das, was sie sagen, zu charakterisieren (¶ 18). Entfällt die Aufführung (¶¶ 5–6, 25), dann fehlen die Gebärden, die Sprache des Körpers. Es ist leicht, sich über den Verlust mit der Auskunft zu trösten, die Probleme der Philosophie seien geistige. Tatsächlich gestikuliert ein Mensch ja desto wilder, je schlechter sein Argument und je vitaler sein Verlangen nach dem, wofür er argumentiert, ist. Und doch kann es in bestimmten Partien eines Dialogs entscheidend werden, jenen Verlust ein Stück weit aufzufangen. Die Sätze müssen an solchen Stellen etwas Gestisches annehmen. 27  Die Sprachgebärde des Dialogs (¶ 26) gehört der Sphäre an, in der Begriffe inszeniert werden (¶ 6). Aller Naturalismus verfehlt sie. Auf Papier zu stammeln, zu seufzen und zu stöhnen ist meist unfreiwillig albern. Wert haben Albernheiten im Dialog nur, sofern sie freiwillig begangen werden. Diogenes Laertius, Lives of the Eminent Philosophers [um 240 n. Chr.], 3.5, hg. v. Tiziano Dorandi, Cambridge University Press, Cambridge 2013, 244–245. 14 – und dies obschon Platons Dialoge Schauspiele, etwa Strindbergs, Wildes, Shaws und Pirandellos, hervorgerufen haben, die auf dem Theater leben ; s. Martin Puchner, The Drama of Ideas: Platonic Provocations in Theater and Philosophy, Oxford University Press, Oxford/New York, NY 2010. 15 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen [1951], § 546, Philosophical Investigations, hg. u. übers. v. G.E.M. Anscombe, 2. Aufl., Black­well, Oxford 1958, 146. 13

14 | Laut denken



28  Im ersten Wortwechsel seines Coloquio que pasó entre Cipión y Berganza distanziert Cervantes die »términos de naturaleza«16 . Die Kunstsprache des Dialogs erzeugt sich aus einer Spannung zwischen Sprechsprache und Schriftsprache. Gelingen werden Dialoge nicht dem, der sie zu Abbildern wirklicher Gespräche macht. Solche werden eben nicht gelesen, sondern geführt. Da gesprochene Worte in dem Moment, in dem man sie ausspricht, verschwinden, stellt oft erst ihre Wiederholung sicher, daß sie ins Ohr gehen. Den weißen Sprachschaum, der Konversationen schmiert, muß ein Dialogautor wegwischen. Wo die Anspielung nicht genügt, erübrigt sich der Dialog. Rutschen Gespräche ins Geplauder, dann reden alle weiter, auch wenn sie nichts mehr zu sagen haben. Derlei Nichtssagendes muß der geschriebene Dialog erst recht abstreifen. Ausnahmen sind nur erlaubt, wenn Begriffsstutzigkeit zur Charakteristik gehört ; denn dann besagt das Nichtssagende nicht nichts, sondern etwas über jemanden. 29  Im Dialog gilt es, Wirkliches und Erfundenes, statt sie zu panschen, genau auf einander zu beziehen (¶ 13). Eine Beziehung dieser Art ergibt sich kaum je von selbst ; sie ist nicht natürlich (¶¶ 27–28). Autoren von Dialogen müssen den Mut zur Künstlichkeit aufbringen, und ihre Leser Langmut mit der Künstlichkeit. Das Leben (¶ 19), in dem Dialoge den philosophischen Fragen ihren Sitz verschaffen, ist nicht das Leben, wie es geht und steht. Es herrscht in ihnen zum Beispiel stets Feierabend. Denn wer arbeitet, sagt zwar vielleicht etwas, oder sogar eine Menge, führt aber keine Dialoge. Ihre paradoxe schriftliche Mündlichkeit (¶¶ 5–6, 25, 28) macht Dialoge artifiziell und umständlich  – so artifiziell und umständlich wie, aus anderen Gründen, Sonette von Góngora oder Filme von Visconti. Sie sind dies bereits in ihren Anfängen bei Platon,17 und sobald ein Autor sie ins Schlichte zwingen will, wie Heidegger auf

Miguel de Cervantes Saavedra, ›Coloquio que pasó entre Cipión y Berganza‹ [1613], Obras, hg. v. Buenaventura Carlos Aribau, Rivadeneyra & Co., Madrid 1846, 205–220, 205. 17 Martha C. Nussbaum, The Fragility of Goodness: Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy [1986], Cambridge University Press, Cambridge 2001, 130. 16

Laut denken | 15

dem Feldweg,18 überzieht Monologisieren lähmend die erhaltene äußere Form. Seiner Brechungen beraubt, wird das Zwiegespräch einfältig. 30  In Berlin umkreiste eines Nachts ein Betrunkener eine Litfaßsäule, wankte immer aufs Neue an ihr entlang, tastete sie ab, bis er endlich zu Boden sank und schluchzte: »Hilfe ! Man hat mich eingemauert !« Dieser Satz ist zu denken als der vorläufig letzte eines ausgedehnten Selbstgesprächs. 31  Hamlet, Macbeth, Wallenstein: Der Monolog ist die Redeweise des Unseligen. Er redet sich ins Unheil. Wo eine zweite, ein zweiter da sind, die mit sich reden lassen, im Dialog also, ist ein Glück als möglich gesetzt – nicht unbedingt, wie auch das Leben lehrt, als wirklich. 32  Allerdings läßt sich der Gegensatz des Dialogs zum Monolog (¶¶ 22, 29–31) überdehnen. Es gilt vielmehr, das Monologische am Dialog und das Dialogische am Monolog zu sehen. Einerseits spricht in der Unterredung jeder ein Stück weit für sich, und mit sich. Andererseits imaginiert derjenige, der ein Selbstgespräch führt, oft genug den mit, der an seinen Lippen hängt, oder er zerlegt sich selbst in die Rollen eines Redenden und eines Zuhörenden respektive (im Fall des monologischen Tagebuchs) eines Schreibenden und eines Lesenden. Jemandes Zeichen ist immer ein – mögliches – Zeichen für jemand anderen. Wer spricht, will gehört, wer schreibt, will gelesen werden. Zwar schaffen Zuhören und Lesen noch keinen Dialog. Erst mit der geäußerten Antwort entsteht Zwiesprache. Aber Zuhören und Lesen sind bereits unterwegs ins Dialogische. 33  Daß er elliptisch ist (¶ 28), macht den Dialog nicht weniger umständlich. Umständlich ist, wer viele Einzelheiten einer Sache berücksichtigt. Diese aber rückt der Dialog außerdem noch in zwei oder mehr Blickwinkel.19 So wird er nicht nur umständlich, Martin Heidegger, Feldweg-Gespräche [1944/45], Gesamtausgabe, Abt. III, Bd. 77, hg. v. Ingrid Schüßler, Klostermann, Frankfurt am Main 1995. 19 Oscar Wilde, ›The Critic as Artist‹ [1891], The Collected Works of Oscar 18

16 | Laut denken



sondern umständlicher. Die Figuren stehen um den Gegenstand herum, sofern sie jeweils ihren Blickwinkel beibehalten, oder sie gehen um ihn herum, sofern sie den Blickwinkel während des Gesprächs wechseln. Sie umschleichen ferner einander sowie das, was die anderen ihnen jeweils sagen: Die Replik auf eine Bemerkung deutet diese, und deutet sie um. Solcher Umgang macht noch mehr Umstände. 34  Philosophische Dialoge sind in ihren Inszenierungen von Begriffen (¶ 6) nicht auf einen durch das Wahre, Gute, Schöne umrissenen Themenkreis festgelegt ; aus dem Weizenhandel schlug Galiani Funken des Gedankens.20 Geist hat ein Gespräch nicht, weil Geistiges sein Sujet ist, sondern weil Geist in ihm nicht lockerläßt und den Gedanken weitertreibt. Schlagen muß man, der Funken wegen – selbst so von der Metaphysik verhätschelte Kreaturen wie das Wahre, Gute, Schöne. 35  Man spricht über etwas ; ein Dialog hat ein Thema (¶ 34). Das Thema verwandelt der Dialog in eine Frage. Aber das ist noch zu wenig. Ginge es nur um die Sache, sei’s auch fragend, wäre wirklich eher die Sachlichkeit der Abhandlung (¶ 3) angezeigt als das Spiel der Personen eines Dialogs. Wie beim Essay ist der Gegenstand im Dialog, der einerseits anzieht, ebensosehr dazu da, sich von ihm abzustoßen  – ihn zum Vorwand zu nehmen. Tricks, Abschweifungen, Ausschweifungen, Paradoxien, Frech- und Albernheiten manövrieren um ihn herum. Denn, noch einmal: Personen sind zu schade dafür, an ihnen logische Schlüsse vorhersehbar durchzuexerzieren (¶ 14). Und, auch dies noch einmal: Dialoge gehören in Gegenden, die nicht kahl sind (¶ 16). Jene Manöver weisen dem Wilde, hg. v. Robert Ross, Bd. 8: Intentions, Routledge/Thoemmes, London 1993, 97–224, 193–194 (Gilbert): »By its [sc.: dialogue’s] means he [sc.: the thinker] can exhibit the object from each point of view, and show it to us in the round, as a sculptor shows us things[,] gaining in this manner all the richness and reality of effect that comes from those side issues that are suddenly suggested by the central idea in its progress, and really illumine the idea more completely, or from those felicitous after-thoughts that give a fuller completeness to the central scheme, and yet convey something of the delicate charm of chance.« 20 Fernando Galiano, Dialogues sur le commerce des bleds, Merlin, London 1770. Laut denken | 17

Gegenstand seinen Platz an ; er mag weniger respektabel sein, als man vor dem Gespräch meinte. 36  Der philosophische Dialog, als Genre, trägt in sich eine Spannung aus zwischen disziplinären, disziplinierenden und disziplinierten Qualitäten wie Progression, Genauigkeit, Deutlichkeit, Sorgfalt (¶¶ 23–24), Beharrlichkeit (¶ 34) und kritischer Schärfe einerseits, undisziplinierten und antidisziplinären Haltungen wie Hang zur Digression, Paradoxie, Frech- und Albernheit (¶ 35) andererseits. Das Resultat kann eine ordentliche Unordnung sein, organisiertes Chaos. Es ist nicht auf die einfache Formel eines Kontrapunkts des Schweren und des Leichten zu bringen. Denn einer Lektüre bequemen Verbrauchs bietet sich der eine Zug so wenig an wie der andere. Unbeschadet dieser Gemeinsamkeit bilden sie einen Gegensatz ; George Berkeley21 und Lukian von Samosata 22 markieren die Pole, Platons Symposion die glückliche Balance. 37  Sofern Philosophie ein Gespräch der Nachdenklichen ist, läßt sich mit ihr kein Staat machen. Auffallend am auffallendsten Versuch, es doch zu tun, dem Platons, ist sein Scheitern. Im Unterschied zu Militärmusik, Triumphbogen oder Herrscherportrait bildet der Dialog kein repräsentatives Genre. Staaten lieben Löwen in ihren Wappen. Im Leben solcher Raubkatzen wechselt kurze Jagd mit langer Verdauung. Dösend bieten sie den Anblick erhabener Langeweile. In die Not, vor anderen Tieren weglaufen zu müssen, geraten sie nie. Könnte der Dialog sich Heraldik leisten, müßte er Hasen aufs Schild bringen. In Rede und Widerrede vollzieht sich eine Flucht. Sie beginnt zweckmäßig als Flucht nach vorne. Doch nur sofern in jedem Moment eine Wendung nach links, rechts, selbst zurück erfolgen kann, wird Monotonie, die Lähmung des Dialogs, vermieden. Dem Lepus europaeus steckt Ironie in den Läufen. Die Lehre des Hasen lautet: Haken schlagen. Das ist alles. Der Dialog kann und will sich keine Heraldik leisten. Man soll seine Haken nicht auf Schilden ankündigen. Vgl. Tom Stoneham, Berkeley’s World: An Examination of the Three Dialogues, Oxford University Press, Oxford 2002, 16–30. 22 Vgl. Karin Schlapbach, ›The logoi of Philosophers in Lucian of Samosata‹, Classical Antiquity 29 (2010), H. 2, 250–277. 21

18 | Laut denken



38  Das Gespräch nähert sich der Sache Schritt für Schritt, und dann plötzlich mit einem Sprung, oder es entfernt sich mit Schritt, Sprung und Hakenschlag (¶ 37) von ihr. Es gibt verschiedenen Ansichten der Sache fair play, und dann wieder unfaires. Dialogiker arbeiten gegen das Vorhersehbare, das Chloroform des Dialogs. 39  Reden, das sich in seinen Thesen erschöpft, ist erschöpft. Hinter dem Vordergrund des Gesprächs begibt sich in einem sinnreichen Dialog immer noch etwas anderes. Dieser Hintersinn ist aus den Abschweifungen des Dialogs (¶¶ 33, 35) meist eher zu entziffern als aus seinem logischen roten Faden. 40  Vom Hintersinn (¶ 39) her zerfällt in einem Dialog manchmal bereits, woran im Vordergrund noch gebaut wird. Zwar kommt auch das Umgekehrte vor. Aber wer für das objektive Element des Destruktiven und für das subjektive Element des Boshaften keinen Sinn hat, dem ist mit dem Genre Dialog schlecht gedient. Zu sich selbst gelangt es, dem großen Boëthius zum Trotz, in größtmöglichem Abstand von den Gattungen geistlicher Erbauung, der Trostschrift und der Predigt. 41  Das weltliche Gegenstück zur Predigt (¶ 40), dem Monolog des Pfarrers, ist die Vorlesung (¶ 1), der Monolog des Professors. Beide wollen nicht unterbrochen werden. Vor der Erfindung des Buchdrucks dienten Vorlesungen der Dissemination der Bücher. Der vorlesende Professor redet wie ein Buch, weil er aus seinem Buch liest. 42  Aus einem Dialog oder einer Reihe – vielleicht untergründig verwobener – Dialoge ist seit langem dann und wann ein Buch hervorgegangen (¶ 4). Vom einzelnen Unterredner im Dialog sollte indes besser nicht gelten, er rede wie ein Buch. In diesem Punkt kann die Literatur doch einmal vom Leben lernen. Wie in wirklichen Gesprächen ist auch in der Kunstform des Dialogs die Unterbrechung – der »plaisir de interrompre«23 – ein probates Gegenmittel. Dem professoralen Redestrom in der Vorlesung (¶¶ 1, 41) sind die 23

Rudolf Hirzel, Der Dialog, 2 Bde., Hirzel, Leipzig 1895, Bd. 2, 428. Laut denken | 19

Studenten ausgeliefert, nur unter widrigen Folgen gibt der Gefreite dem Befehl des Offiziers Kontra, selbst gegen Anwürfe in einem Brief vermag sich der Empfänger nicht auf der Stelle zu verteidigen. Den seltenen Vorzug, sich gleich wehren zu können, eröffnet einem der gesprochene Dialog ; der geschriebene hat diesem Vorzug, wenn auch vielleicht nichts anderem auf der Welt, Ehre zu erzeigen. 43  Man kann unterbrochen werden (¶ 42), aber auch sich selbst unterbrechen ; in jenem Fall ergreift der andere das Wort, in diesem fällt es ihm zu. Daß die Rede vom einen auf den anderen übergeht, versteht sich nie von selbst. (Sogar eine Frage könnte, wer sie gestellt hat, selbst beantworten.) Wer das Wort ergreift, ortet eine Leerstelle und setzt dazu an, sie zu füllen. Wann und wie die Rede zwischen den Redenden wechselt, kann so bedeutsam sein wie das, was sie besagt. 44  Der Wirklichkeit nach werden Gespräche, dem Leib sei Dank, etwa durch Müdigkeit beendet oder durch Hunger. Das liegt an den Sprechern, nicht am Besprochenen. An irgendeinem Punkt führt jeder Stoff (¶¶ 34–35) ins Unendliche. Ginge es allein nach dem Geist (¶ 34), wären Dialoge der Möglichkeit nach endlos. Sie könnten stets weitergehen, da es keinen Satz gibt, dem sich nichts entgegnen ließe (¶ 11). Die Position birgt in sich bereits ihre Negation: »Il n’y a pas une idée qui ne porte en elle sa réfutation possible, un mot le mot contraire.«24 Darum kann ein Dialog nicht schließen, sondern nur abbrechen. Mit diesem Akt unterbricht nicht mehr eine Figur die andere (¶ 42), sondern, mittels zweitbester (¶ 17) Kunst, der Autor seine Figuren. Er spricht, als letztes Wort, ein seltsames Machtwort ; hinter ihm steht nicht, wie in normaler Macht, die Fähigkeit, Sanktionen zu verhängen, sondern allein der Umstand, daß die Figuren seine Figuren sind. Als Fragment gibt der Autor den Dialog frei. Obschon kein Schauspiel für die Bühne (¶ 25), ist dieser – wie man es von einem Drama sagt, das sich nicht zur Dichtung erhebt – ein »Stück«.

Marcel Proust, La Fugitive [1925], À la recherche du temps perdu III, hg. v. Pierre Clarac u. André Ferré, Gallimard, Paris 1954, 602. 24

20 | Laut denken



45  Wie enden ? In der Tragödie, im Heldenepos, im Roman, im Opernlibretto, im Thriller wird häufig gestorben: nicht nur gegen Ende, aber auch. Das ist vage  – denn der Tod ist kein bestimmter Gedanke –, doch effektvoll. Mit ein paar Worten ist es leicht bewerkstelligt. Genaugenommen zu leicht. Als genaunehmendes Genre (¶ 23) verzichtet der Dialog auf das Sterben in Worten ; hinter der einen berühmten Ausnahme, dem Schluß des Phaidon, könnte jeder weitere Versuch nur zurückbleiben. Wir sind dem Asklepios immer noch einen Hahn schuldig. 46  Tragödien enden mit dem Untergang des Helden, Komödien mit seiner Hochzeit.25 Die Finalpartie von Dialogen, die insbesondere Lukian so entschieden der Komödie annäherte,26 findet in der Heirat ein besseres Pendant als im Tod. Doch nicht die Übereinkunft ist der Zug der Eheschließung, der sie für die letzten Passagen von Dialogen als – wenngleich ferne – Entsprechung anziehend macht. Dialoge in einen Konsens zu führen, ist öde.27 Anziehend am Komödienschluß ist für Dialoge vielmehr der Zug der wechselseitigen Verkennung. Ein Gespräch gilt es abzubrechen, sobald diejenigen, die es führen, sich in aufschlußreichen Mißverständnissen festgeredet haben. Die Fäden, welche die einzelnen verfolgten, sind dann zu einem Knoten festgezurrt, der allen gemeinsam ist und für den sich darum zugleich jeder und keiner mehr verantwortlich fühlt. Darum ist dem philosophischen Dialog weniges so fatal wie die dialogische Philosophie. Entgegen Buber28 ist Dialog weder die Seinsweise, die den anderen zum authentischen Du werden läßt, noch auch ein Prinzip. George Gordon Byron, Don Juan [1824], III. Gesang, 9. Strophe, The Complete Poetical Works, hg. v. Jerome J. McGann, Bd. V, Clarendon Press, Oxford 1986, 163: »All tragedies are finish’d by a death, | All comedies are ended by a marriage.« Das ist zwar nicht wahr, aber hinreichend für den eng begrenzten Zweck dieser Überlegung. 26 Lukian von Samosata, ›Pros ton eiponta Promētheus ei en logois‹ | ›An den, der mich einen literarischen Prometheus genannt hat‹ [um 170 n. Chr.], Gegen den ungebildeten Büchernarren. Ausgewählte Werke, übers. v. Peter von Möllendorf, Artemis & Winkler, Düsseldorf/Zürich 2006, 74–79. 27 Michael Oakeshott, ›A Conversation‹ [1944], in ders., Notebooks, 1922–86, hg. v. Luke O’Sullivan, Imprint Academic, Exeter 2014, 307–363, 308. 28 Martin Buber, Das dialogische Prinzip [1954], 10. Aufl., Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2006. 25

Laut denken | 21

47  Knoten (¶ 46) befestigen, verbinden, speichern potentielle Energie. So weit, so nüchtern. Aber Knoten werden erfunden, nicht einfach gefunden. In der Odyssee ist es die Zauberin, Kirke, die Odysseus die Kunst des Knotens lehrt.29 Zeit im Dialog zu gestalten heißt, die Fäden, aus denen er gewebt ist, nicht zu früh und nicht zu spät zu verknoten. Daß der Knoten sich dann nicht mehr lösen läßt, macht seine eigentümliche Perfektion aus30 – die einzige, die mit Skepsis (¶ 22) zu vereinbaren ist. 48  Skepsis (¶¶ 22, 47), sofern sie das Denken weitertreibt, ist nicht satt. Die vorletzte Maxime von Graciáns Oraculo manual gilt auch für Dialogschlüsse: »Dexar con hambre«, 31 »Hunger zurücklassen«. 49  Da die Aufführung entfällt (¶ 25), fehlt dem Dialog ein Vorhang, der, indem er sich schließt, die Vorgänge abschließt. Zwar hat in jedem Dialog irgendeiner das letzte Wort. Doch die Gründe, die gegen ein letztes Wort sprechen, wuchern jenseits des Dialogs unaufhaltsam weiter. 50  Vorworte legen Zeugnis ab vom schlechten Gewissen der Verfasser ; gut, wenn sie eines haben.

Homer, Odysseia | Odyssee [8. Jh. v. Chr.], Griechisch – Deutsch, hg. u. übers. v. Anton Weiher, 2. Aufl., Heimeran, München 1961, 8.447–448, 216/217. 30 T. S. Eliot, The Family Reunion, sc. 1, Harcourt, Brace & Co., New York, NY 1939, 21. 31 Baltasar Gracián, Oraculo manual, hg. v. Vincencio de Lastanosa, Blaev, Amsterdam 1659, 199. 29

22 | Laut denken



LIVRE DE PRUDENCE  Gespräch in Padua

 A

uf den friedliebenden Trojanerkönig Antenor, der etwa zwölfhundert Jahre vor der gemeinen Zeitrechnung lebte, führt die Stadt Padua ihren Ursprung zurück. Sie hat freilich wenig Trojanisches an sich. Doch einem Ursprung sollte man, wie das Wort selbst sagt, Sprunghaftigkeit nachsehen. Paduas Entspringen muß nicht logisch, stetig, folgerichtig gewesen sein wie das Denken in der großen Universitätsstadt. Unter ihren Denkern ragte einst Sperone Speroni hervor, geschätzt ob seiner Rede, die mit erstaunlicher Virtuosität durch alle Register lief. Die Accademia degli Infiammati zu Padua ehrte Speroni ; die Sancta Inquisitio zu Rom übergab seine Dialoge den Flammen. Letzteres ehrte ihn erst recht. Seine eigene Leidenschaft war entflammbar durch Schwieriges. Sie galt, wie er in einem Brief sagte, dem, was zu verstehen ihn Mühe kostete, den gelehrten Büchern und den Frauen. Er war keiner jener Männer, denen man nachsagt, sie dächten nur an das eine ; Speroni dachte auch an das andere, das Denken selbst. Da die Kurtisanen der Renaissance, sofern sie auf sich hielten, belesen waren, gelang es ihm zuweilen, seine beiden Leidenschaften zu verbinden. So geschah es auch eines schönen Frühsommertags – es war um das Fest des Sant’Antonio di Padova herum – bei Speronis Zusammentreffen mit Chiara da Camposampiero, Lucia degli Obizzi und Tullia da Peraga im Innenhof des Palazzo Bò. Von dessen oberer Loggia her war eines der neumodischen Gravicembali zu hören ; jemand spielte darauf einen munteren Saltarello. Eine Saite des Instruments mußte gerissen sein, denn immer, wenn eine bestimmte Stelle kam, entstand ein Loch in der Melodie.

 23

Tullia:  So steht es um die Lustigkeit der Scholaren. Lachen sie, dann starren einem ihre Zahnlücken entgegen. Sie starren aus ihren Mäulern und aus ihren Witzen. Selbst ihre Tanzweisen sind, wie ich eben vernehme, perforiert. Sperone:  Und doch, die Universität ! Republik der Gelehrten … Chiara:  Wirklich, sie sind eines Geistes, die Universität und die Republik. Jene verbannt die Frauen aus ihren Hörsälen, diese aus ihren Ratsstuben. Sperone:  Falls Ihr Euch nach der Monarchie sehnt, tut es flüsternd ! Für die Serenissima lauern auch in Padua allerorten Spione. Chiara: Sperone, pardon, Messer Speroni, seid Ihr vielleicht auch einer von ihnen ? Sperone: Agent der Republik bin ich keiner, wenngleich mir Eure weibliche Vorliebe für die Monarchie schlecht begründet vorkommt. Bedenkt, daß auch der Kaiser des heiligen römischen Reiches noch nie eine Frau war. Tullia:  Weil man ihn wählt. Selbst das ist noch zu republikanisch. Oft regieren Frauen in der rechten Monarchie, der hereditären. Denkt an Eleonore von Aquitanien, Margarethe von Dänemark, Isabella von Kastilien. In wahrer Alleinherrschaft erbt das Blut sich fort, also die Natur, und nur diese, selbst ein Weib, meint es gut mit ihrem Geschlecht. Sperone:  Sofern man gut nennen möchte, was einen vom Guten abbringt. Tullia:  Was meint Ihr ? Sperone:  Ach, nichts. Ich gebe mich geschlagen, soweit es die Führung der Staaten betrifft. Doch daß Euch die Universität ihre Hörsäle versperrt, solltet Ihr leichter verschmerzen. Ich überließe Euch ungern dem betreuten Denken der sogenannten Hohen Schule. Sie ist in Wahrheit eine niedrige, kleine, enge Welt, unwürdig solch berühmter und berüchtigter Damen, wie Ihr es seid. Selbst Berüchtigtsein ist ja ein zu großes Ding, als daß Gelehrte es je erreichten. Allenfalls eine Accademia della Fama könnte Euch … Chiara (unterbrechend):  Infamia ! Kaum besitzt ein Mann ein Vorrecht, schon sucht er es als wenig wünschenswert hinzustellen, ja verlästert es. Vor einer Minute noch hattet Ihr wie verklärt von der Republik der Gelehrten gesäuselt. Sperone:  Ihr wißt vielleicht, daß hier noch vor wenigen Jahren 24 | Livre de Prudence 

ein feister Wirt sein Gasthaus betrieb, welches das gußeiserne Schild eines Ochsen zierte. Ja, die mittlere Aula dieses finsteren Baus soll einst ein Ochsenstall gewesen sein. Bis heute nennen die Studenten den Palast der Universität ›Il Bò‹. Seit jeher schien es mir ein bedeutsames Zeichen, daß gerade denkfaules Vieh für die Hohe Schule dieser Stadt steht. Chiara:  Ihr übertreibt es wahrlich nicht mit Eurem Lob der Gelehrtenrepublik. Sperone:  Die Universität war und ist ein Instrument: erst das der Kirche, dann des Staates, künftig vielleicht einmal des Geschäfts. Nur ihre Platonische Idee vermag ich zu loben. Von der hier wirklichen Anstalt muß ich zugeben, daß in ihr, wie Tullia bereits zart andeutete, ab und an die vierbeinigen Ochsen lediglich durch zweibeinige von schnöder Lustigkeit ersetzt wurden. Ochsen sind dienstbar ; Ihr versteht, was ich meine. Übrigens betreibt die Universität eine eigene Vieharzneischule. Lucia:  Wenn schon Europa sich in einen Stier verliebte, würde ich indes ganz gerne einmal Paduas akademischen Ochsenstall inspizieren. Sperone:  Sowohl lieben als denken – trügt uns das Wort Philosophie nicht, dann ist beides verwandt –, könnt Ihr, edle Lucia, auch außerhalb der Hörsäle, ja weit besser als drinnen. Wer vermag zu lieben, wenn einer Haare spaltet ? Wer vermag zu denken, wenn einer paukt ? Sogar schlafen ist unter solchen Umständen leichter, wie ich gerade in unserer Paduaner Universitas scholarium oft genug beobachtete. Chiara:  Denken tut not. Doch jemand muß es uns lehren. Richtete man nicht eben dazu die Universitäten ein ? Sperone:  In den Universitäten habt Ihr die Lehrer einer Zeit und eines Ortes ; doch in den Büchern findet Ihr Lehrer aller Zeiten und aller Orte. Tullia:  Aldus’ Söhne in Venedig, hört man, bezahlen es Euch in Zechinen, daß Ihr so werbend umherzieht. Ihr Verzeichnis der neuesten Bücher lugt aus Eurer Tasche. Chiara:  Gewiß vermögen wir uns einzufühlen in die Sorgen eines Denkers von Gewerbe. In seine Geldsorgen jedenfalls. Doch wir kaufen nichts, ehe Ihr uns nicht erklärt habt, wie ein Buch zum Gefäß unseres Denkens wird. Gespräch in Padua | 25

Sperone: Das weiß ich nicht besser als Ihr Leserinnen. Die Stunde gehört der Dialektik, nicht der Rhetorik. Ich werde Euer Denken nicht betreuen. Aber vielleicht finden wir gemeinsam die rechten Worte für das, wonach Chiara fragt. Lucia:  Soviel steht fest: Das Buch denkt nicht für die, welche es lesen. Wer es liest, muß mit dem Buch denken. Sperone:  Als Muster vor Augen stehen sollte uns ein Buch, das einen Gegenstand durchdenkt, kein solches, das zwischen allerlei hin und her springt. Wer unterhalten will, wechselt oft das Thema ; varietas delectat. Aber denken wird nur, wer, ausdauernd, geduldig, beharrlich an einer Sache bleibt. Tullia:  Monarchie ist eben auch im Geist der natürliche Zustand: Eines waltet über dem Mannigfaltigen. Diese Einheit läßt bei Büchern manchmal schon der Titel erkennen, etwa der des ­Livre de Prudence. Sperone:  Christine de Pizan ? Gerade diese kluge Venezianerin soll ja dem Unterhaltsamen geneigt gewesen sein. Tullia:  Am Denken hinderte sie das nicht, wie wir bezeugen können. Wir übersetzen gerade ihr Buch von der Klugheit, der fürstlichen Tugend, ins Florentinische. Sperone:  Dann wißt Ihr in der Tat, wovon Ihr redet. Wie gelingt es, daß das Buch, als in Schrift verkörpertes Denken, einen Gegenstand festhält ? Chiara:  Das Buch und diejenigen, die es lesen. Sperone:  Allerdings. Vermögen wir das zu erklären ? Chiara:  Wäre das Denken ein Geistesblitz, dann bestünde das Problem nicht. Ein Augenblick fällt nicht in vieles auseinander, sonst wäre er keiner. Das Problem rührt von der Zeit als Dauer her. Tullia:  Und doch ist, wovon das Problem stammt, zugleich dessen Lösung: Indem die Zeit die Wahrheit streckt, verdünnt sie diese und macht sie so, in Phasen, dem Denken erst verdaulich. Chiara:  Wie verschieden aber kann Zeit ablaufen: hier in Disparates zerstückelt, dort, in konzentriertem Denken, ins Stetige gebunden. Lucia:  Sind Bücher nicht seltsame Dinge, weil sie eben dies, Stetigkeit als errungene, vergessen lassen ? Alles an ihnen ist gleichzeitig da, jedes Kapitel, jeder Absatz, jedes Wort. Chiara:  Daß ununterbrochener Zusammenhang der Anstren26 | Livre de Prudence 

gung des Denkens bedarf, vermag ein Buch vergessen zu machen, weil in ihm, und nur weil in ihm Zeit zu Raum verwandelt ist. Die Sätze, in denen ein Gedanke artikuliert wird, stehen im Buch ja neben-, über- und untereinander wie irgendein geistfernes Material, wie Blöcke, die einer aufgestapelt hat. Tullia:  Wir sagen, verräterisch genug: Im Buch ›steht‹ das und das, und wirklich ›steht‹ es da, bewegt sich nicht ; doch Denken ist Bewegung. Sperone:  Ihr habt recht ; die räumlichen Beziehungen, die das Buch zeigt  – das Daneben, Darüber, Darunter  –, symbolisieren bloß jenen zeitlichen Vorgang, den wir Denken nennen. Tullia:  Leser müssen kommen: Leute, welche die Symbole entschlüsseln, damit Raum wieder Zeit werde, wie umgekehrt der Autor, der Monograph, Zeit zu Raum machte. Lucia:  Stellen denkende Leser sich ein, beginnen Bücher zu leben ; tot bleiben sie, falls sich keine finden. Die Leichen sind nicht zu zählen. Sperone:  Wo aber Leben erwacht, machen die Leser die Schrift zur Rede, zur lautlosen Rede der Seele mit sich selbst, wie der göttliche Platon das Denken nannte. Ist nun das Denken ein Sprechen, dann ist es auch Satz. Jeder vollständige Satz aber besteht aus Subjekt und Prädikat. Und nun werdet Ihr verstehen, warum es mir darauf ankam, daß uns ein Buch, das einen einzigen Gegenstand durchdenkt, als Muster vor Augen stehe. Unser gemeinsamer Freund Lattanzio Benucci sagte einmal, ein solches Buch, obschon aus vielen Sätzen bestehend, sei wie ein einziger großer Satz. Sein Gegenstand, zum Beispiel die Klugheit im Fall des Livre der Christine de Pizan, ist das Subjekt dieses großen Satzes. Das ganze Buch aber entfaltet ein höchst verwickeltes, an Facetten und Nuancen reiches Prädikat dieses einen Subjekts. Je reicher das Prädikat, desto besser ist die Monographie, vorausgesetzt, die Unterscheidungen sind keine bloße Wortklauberei, sondern treffen etwas an der Sache. Tullia:  Als Monarchistin … Sperone:  Denkt an Venedigs Spitzel und dämpft Eure Stimme ! Chiara:  In unserer Stadt zu leben heißt ohnehin, jederzeit dem Verdacht ausgeliefert zu sein. Lucia:  Dennoch sollte ein Diplomat wie Messer Speroni niemals Gespräch in Padua | 27

von ›Spitzeln‹ reden. Das hören die Spitzel nicht gern. ›Kundschafter‹ zum Beispiel wäre doch ansprechender. Tullia (ebenso laut wie zuvor):  Als Monarchistin erlaube ich mir darauf hinzuweisen, daß das eine ›Subjekt‹ hier ganz das Gegenteil dessen darstellt, was dieses Wort bedeutet: Untertan. Eher Superstrat als Subjekt, regiert es den Satz. Das Prädikat kommt ihm zu. Seinen Reichtum besitzt das sogenannte Subjekt. Sperone:  Die wahre Leistung eines Autors, so glaube ich gezeigt zu haben, finden wir allein im Prädikat. Die Subjekte liegen auf der Straße, selbst die höchsten: ›Über die Wahrheit‹, ›Von der Ehre‹, ›De amore‹. Vulgäre Monarchen ! Solche Titel braucht man nur aufzulesen. Doch sie zu erfüllen mit einem reichen Prädikat, gelingt nur wenigen, wie allerdings der mit ihrem Geist so generösen Christine. Wobei es, um der Gegenwart die Ehre zu geben, gerade im Verzeichnis von Aldus’ Söhnen … Chiara:  Nichts mehr von diesen, nur zur Sache ! Geht Euer Streit nicht ins Leere, da kein Subjekt ohne Prädikat und kein Prädikat ohne Subjekt etwas sagen würde, das wahr sein könnte ? Sperone:  Allerdings ist eins so nötig wie das andere. Das Subjekt gewährleistet die Einheit des Denkens, das Prädikat seine Fülle. Lucia:  Doch die Einheit des Denkens des Autors, dann des Gedankens des Buches und endlich wieder des Denkens des Lesers: besteht sie nicht einfach aus vielen Gedanken ? Sperone:  Das wäre republikanisch: Die vielen Stimmen in der Ratsversammlung führen zu einem großen Entschluß. Tullia:  Etwa zu dem, die Paduaner zu bespitzeln. Lucia:  Ich denke es mir so: Daß sie alle dazu beitragen, den einen Gegenstand des Buches zu bestimmen, haben die vielen Gedanken allerdings gemeinsam. Und doch trägt jeder einzelne von ihnen Unterschiedliches bei. Bloß Wiederholtes und Überflüssiges lasse ich natürlich aus dem Spiel, wenn ich es so beschreibe. Und je besser ein Autor ist, desto weniger unterläuft ihm Wiederholtes und Überflüssiges. Sehen wir von solcher Spreu ab, dann ist jeder Gedanke ein Weizenkorn für sich, auch wenn man aus allen am Ende eine einzige Ciabatta bäckt. Sperone:  Ich würde mich bedanken für eine Ciabatta, bei der man noch auf die einzelnen Körner bisse. Damit ein Brot aus ihnen werde, müssen sie beim Mahlen untergehen. Im Buch aber treffen 28 | Livre de Prudence 

Leser doch, gerade nach Eurer republikanischen Auffassung, Lucia, auf die einzelnen Gedanken. Lucia:  Wie widrig mir Eure Anspielungen auf die Republik sein müssen, wißt Ihr wohl. Was bedeutet das Wort in unserer Stadt anderes, als daß die Venezianer Padua unterjochen  – ›schützen‹ nennen sie es. Sperone:  Politische Spitzen will ich Euch von nun an ersparen. Soweit ich sie mir verkneifen kann. Lucia:  Der Diplomat Speroni ist Euer besseres Ich. Sperone:  Mein angenehmeres jedenfalls. Lucia:  Zuweilen ist das Angenehmere das Bessere, zuweilen nicht. Das Bild, das ich gebrauchte, gab mir mein Appetit ein, dieser Diversant des Denkens. Es war schief und ich wähle ein anderes, nicht vom niederen Appetit eingeflüstert, sondern vom hohen Geist des Lukrez: Die einzelnen Gedanken sind Atome der Wahrheit – einfach, in sich geschlossen, selbständig. Was immer das Buch zu sagen hat, etwas sehr Schwieriges vielleicht, wird aus diesen Bausteinen gebildet. Ein Haus ist es eher denn ein Brot. Sperone:  Nun ist in sich folgerichtig, was Ihr sagt ; aber es stimmt nicht, will mir scheinen. Denn jeder einzelne Gedanke wäre dann den anderen äußerlich. Sie hängen jedoch in ihrem Inneren zusammen. Wie sie zusammenhängen, darüber instruieren uns die Logiker, mit ihrer Lehre von der Implikation, Konsequenz, Kontradiktion, Kontrarietät und so weiter. Lucia:  Wir müßten also doch in den Ochsenstall, in den man uns nicht läßt. Sperone:  Es wäre schön, wenn Ihr für jetzt mit mir vorlieb nähmet. Zumal wir gerade dem Ochsenstall so nah sind. Tullia: In seinem Dunstkreis gewissermaßen. Ich rieche ihn förmlich. Sperone:  So kommt die Sinnlichkeit der Logik zuhilfe. Dann bedarf es, scheint mir, gar nicht mehr der Logiker der Schule, und der gemeine Menschenverstand kann die Sache richten. Chiara:  Wenn nur nicht der Männerverstand gemeint wäre … Sperone:  Der Verstand ist kein Geschlechtsorgan. Chiara: Wie merkwürdig, daß dann Einrichtungen, die der Pflege des Verstandes gewidmet sind, wie Universitäten und Akademien, sich unserem Geschlecht verschließen. Gespräch in Padua | 29

Lucia:  Das läßt wohl den Schluß zu, sie seien noch ganz anderen Zwecken gewidmet als der Pflege des Verstandes. Daran ist indes nicht Messer Speroni schuld. Gönnen wir ihm und uns, daß er für eine kurze Weile den Universitätsdozenten für Damen spielt. Sperone:  Wie kurz- oder langweilig mein Privatissimum wird, dafür verbürge ich mich nicht. Zuweilen greife ich mir an den Schädel, um zu erfühlen, ob mir Hörner gewachsen sind – so ochsenhaft komme ich selbst mir an manchen Tagen vor. Lucia:  Das erhebt Euch über den Verdacht. Kein wirklicher Ochse greift sich an den Schädel. Sperone:  Gesteht Ihr mir soviel zu, Lucia, dann halte ich meine Belehrung nicht länger zurück. Die Gedanken eines größeren Ganzen, etwa eines Buches, laßt Ihr nur vom Thema, das gleichsam über ihnen steht, verbinden. Sonst erklärt Ihr sie entweder als bloße Wiederholungen für überflüssig oder für in sich geschlossen und selbständig. Alles eigentlich Bemerkenswerte am Leben der Gedanken findet aber zwischen Wiederholung und Isolation statt, in den Momenten, in denen sie in einander verschlungen sind. Das Sujet ist bedeutsam ; das einzige Band zwischen den Gedanken ist es nicht. Chiara:  Auf ein Neues ! Ich will versuchen, die Vorgänge anders zu erklären. Es wird nun allerdings verwickelter. Zunächst: Wer eine Sache durchdenkt, also durch bis zum Ende denkt, der arbeitet sich zu dem Ziel vor, sie vollständig zu bestimmen. Tullia:  Was hieße hier ›vollständig‹ ? Als die kluge Christine den letzten Federstrich unter ihr Buch von der Klugheit setzte, vergaß sie gewiß keinen Augenblick, daß immer noch Weiteres über die Klugheit zu sagen wäre. Und man hat selbstverständlich immer noch Weiteres über die Klugheit gesagt in den hundert Jahren, seit Christine schrieb. Chiara: Das ist wahr. Ich meine indes nicht Vollständigkeit schlechthin. Sie kann kein Mensch erreichen. Verhältnismäßig meine ich das Komplette. Der bestimmten Argumentation, welche das Buch ausmacht  – jenseits blumiger Vorreden und sonstigem schmückenden Beiwerk –, darf kein Glied fehlen. Eine Kette nämlich bilden die Gedanken einer wirklichen Abhandlung. Sperone:  Und ich dachte: Die Gedanken sind frei. Chiara: Ihr selbst bemerktet eben, sie seien ineinander ver30 | Livre de Prudence 

schlungen ; ich möchte sagen, daß sie ineinander greifen. Auf kein Glied kann eine Kette aus Eisen verzichten. Würde auch nur eines zerschlagen, wäre die ganze Kette gerissen. Den Zweck, das eine Ende an das andere zu binden, machte der Riß zunichte. Wer von einem Argument den ersten Gedanken in der Hand hat, der hat auch wirklich nur den ersten in der Hand ; aber wer den siebzehnten in der Hand hat, der muß auch den ersten, den zweiten, den dritten und so fort tragen bis zum siebzehnten. Sperone:  Euch, Tullia, in Eurer Abneigung gegen Zahnlücken, sollte das zusagen. Sind diese nicht wie fehlende Glieder einer Kette ? Tullia:  So leicht lasse ich mir die Freuden des Besserwissens nicht nehmen. Sperone:  Meinem Einwand gegen Lucias Atome trug Chiara jedenfalls Rechnung. Chiara:  So wärt Ihr zufrieden mit meiner Erklärung ? Sperone:  Das nicht ; ich habe einen anderen Einwand. Tullia:  Der Übereifer meiner beiden Freundinnen verhilft Euch zur bequemen Rolle des Schiedsrichters. Sperone:  Ich werde mich redlich mühen, Euch, Tullia, Recht zu geben, sobald Ihr eine dritte Erklärung der Verhältnisse vorbringt. Und zwar dann, wenn Ihr Recht habt. Tullia:  Bevor wir zu diesem krönenden Abschluß schreiten, erst Euer Einwand gegen Chiara. Sperone (zu Chiara gewandt):  Wie Ihr, Chiara, es auffaßt, akkumulieren die Gedanken. Chiara:  Falls das Wort dafür sich so gelehrt spreizen muß – meinethalben. Sperone:  Wer, sagt Ihr, beim siebzehnten Gedanken einer Argumentation angekommen ist, dem müßten auch die sechzehn vorangehenden, von denen er abhängt, gegenwärtig sein. Chiara:  Wem sie es nicht sind, den nennen wir zerstreut. Sperone:  Aber schaut näher zu, was Euer Anspruch mit sich brächte. Die Last, die einer zu schleppen hat, würde mit jedem Absatz, den er liest, schwerer. Wer dem Gedankengang einer Schrift folgte, wühlte sich dann in einen Zustand der Erschöpfung hinein ; am Ende des Buches wäre er total. Aber so erfahren wir die Lektüre ja nicht. Im Gegenteil benötigt man eher am meisten Energie, um in eine Argumentation hineinzukommen, also nah dem Anfang Gespräch in Padua | 31

des Buches ; ist man einmal hineingelangt, wird die Sache minder schwer. Tullia (in die Runde):  Die Bürde, zu der Chiara die Gedanken macht, ist erratisch. Aus dem Blick geriet ihr, daß Denken Bewegung ist. Chiara (zu Tullia):  Ich vermutete gleich, du würdest dir die Sache leicht machen. Tullia:  Nicht mir, sondern uns. Und auch weniger leicht als lebendig. Wir sprechen doch von einem Gedankengang und von Schritten einer Argumentation. Lucia:  Manche fahren lieber, als zu Fuß zu gehen. Tullia:  So oder so: Ihre Bewegung folgt einer Richtung. Ohne Unterbrechung bewegt sie sich auf ein Ziel hin, den Schluß. Bei jeder Bewegung auf ein Ziel wird etwas vorangebracht, etwa die Passagiere und die Ladung eines Schiffes. Bewegung zu einem Ziel hin ist aber auch wirklicher Übergang, das heißt, ein Weg wird zurückgelegt. Man läßt etwas hinter sich. Weil letzteres der Fall ist, sind wir am Ende nicht erschlagen, wie es der Fall sein müßte, hätte Chiara recht. Zugleich ist die ununterbrochene Folge der Gedanken als solche geordnet, statt daß von allen Seiten die Gedankenatome herschössen, wie du, Lucia, meintest, geeint nur durch das übergeordnete Thema, zu dem sie etwas beisteuern. Lucia (spitz):  Wie tief ! Sperone:  Und doch wie einfach ! Tullia:  Ja, tief und einfach wie alles Wahre. Chiara:  An deinem Selbstlob fehlt allein der Hinweis, du habest die goldene Mitte zwischen Lucia und mir getroffen. Sperone:  Ob sie so golden ist, möchte ich gern erwägen. Würde ich in einem Boot von der Gegend nördlich Vicenzas zur Adria fahren, dann bewegte ich mich auf ein Ziel hin. Der Brenta führte mich von Tezze über Valgadena, San Nazario, Campolongo sur Brenta, Bassano del Grappa und Bocchiero nach Rosara – in eben dieser Reihenfolge ; ich kann sie nicht drehen und wenden. Doch solch eine Bewegung ist selbst das genaueste Durchdenken einer Sache nicht. Es ist stets freier. Daß es von vorne anfangen solle, sagt ihm nichts ; es bestimmt selber erst, was vorne ist. Jede Sache hat unbestimmt viele Aspekte, und selbst wenn manche als Ausgangspunkt der Überlegung wenig taugten, blieben genügend viele an32 | Livre de Prudence 

dere, die geeignet wären. Und ist der Ausgangspunkt verschieden, wird es auch der Weg sein, den man dann nimmt. Tullia:  Die bequeme Rolle des Schiedsrichters, sagte ich vorhin, habt Ihr Euch zugeschanzt. Ich hätte mir nicht träumen lassen, welche Beschönigung darin lag. Ihr tretet vielmehr als ein Grobian auf, der jedes zarte Pflänzchen einer Theorie des Denkens, das wir gesät haben, mit dem Stiefelabsatz zerstampft. Vermutlich sind wir nach Eurem Plan nur zusammengekommen, Euch diese rohe Freude zu bereiten. Sperone:  Die Zerstörung Trojas, sagt Christine im Buch vom Wechsel des Glücks, war eine List der Götter ; nur weil die Trojaner gezwungen waren auszuwandern, kam es zur Gründung so herrlicher Städte wie Padua. Auch in unserem Fall liegt, wo Ihr nur Zerstörung seht, ein Fund. Tullia:  Heil dem Finder. Sperone:  Der Fund ist in Wahrheit eher der Eure als der meine. Entzieht sich das Denken einer einzigen, es gleichsam monarchisch regierenden Formel, dann ist es offenbar etwas Freieres, als wir bei unserer Suche nach einer solchen Formel unterstellten ; und etwas kann durchaus in dem Maße besser sein, in dem es freier ist. Chiara:  Es muß ja nicht die sogenannte republikanische Freiheit sein. Sperone:  Frei jedenfalls beuge ich mich vor Euch, Ihr Seherinnen und Hetären, als vor einer dreifachen Diotima, wie Sokrates vor seiner einzigen im Gastmahl des ihn verklärenden Platon. Denn an jedem Eurer Bilder – Atome, Kette, Fahrt – ist, scheint mir, etwas Wahres. Manche Sätze, die ein Autor sagt, sind ja wirklich voneinander unabhängig. Man kann sie herausnehmen und möglicherweise in anderem Zusammenhang wieder verwenden. Die selbständigen Elemente trifft, Lucia, Euer Bild der Atome. Chiara:  Habe ich recht gehört, dann winkt auch mir das Almosen von Kompliment, ein wenig Recht zu haben. Sperone:  Von Almosen aus meiner Hand kann hier keine Rede sein, da ich nun nicht – nicht mehr – mit eigener Stimme rede. Die Wahrheit der Sache selbst spricht aus mir. Was ein Autor sagt, muß zusammenpassen  – dies Wort liberaliter verstanden, da es auch manch andere Weise gibt, in der sich eins zum anderen fügt, als die eines Syllogismus. Doch aneinander schließen müssen sich die Gespräch in Padua | 33

einzelnen Gedanken. Das Ergebnis einer Untersuchung resultiert nicht aus der vorletzten Behauptung, die der Autor aufstellte, sondern, in einer durchdachten Abhandlung ohne nutzlosen Aufputz, aus allem, was er sagte. Das ist, Chiara, deine Kette, die sich hindurchzieht. Wir dürfen sie nur dem Leser nicht mit ihrem ganzen Gewicht aufbürden ; er würde erdrückt, ehe er das Ende erreicht. Kein Mensch vermag jegliches im Gedächtnis zu behalten, das in einem Buch steht ; dessen Schluß kann man auch verstehen, ohne sich alles Vorhergehende gemerkt zu haben. Die Kette ist da – im Text – ; im Bewußtsein vollzieht sich nur mit, wie jeweils ein Kettenglied ins andere greift. Bloß in diesem Mitvollziehen haben Leser genau zu sein. Der Überblick über das Ganze, der dabei nach und nach entsteht, ist befreit von der Zumutung an die Leser, sich der Einzelheiten zu entsinnen ; denn es gibt keinen Überblick ohne ein Maß an Ungenauigkeit. Tullia:  Ob es sich nun um eine milde Gabe aus Eurem Schatz handelt, Messer Speroni, oder um den Richtspruch der Wahrheit selbst: Bang erwarte auch ich ein paar gute Worte über das Scherflein, das ich zur Erkenntnis dessen, was das Denken eigentlich sei, beizutragen vermochte. Es wird wohl doch nur ein Atom sein. Sperone:  Treibt Eure Sarkasmen mir gegenüber nicht zu weit, sonst werde ich wirklich noch zu jenem Grobian  – und diesmal wäre es inniger am Herzen Liegendes als bloße Theorie-Pflänzchen, das mir unter die Absätze geriete. Chiara:  Es fällt mir schwer zu erraten, was das sein könnte. Nicht vergreifen solltet Ihr Euch an unserer Würde, als diplomatischer Autor des Buches Della dignità delle donne, übrigens bei Aldus’ Söhnen erschienen. Töchter hatte Aldus wohl keine. Lucia: Euch, padre severo, so weit zu enragieren, daß Tullia bei der Verteilung der Anteile an der Wahrheit leer ausgeht, wollen wir uns indes hüten. Chiara:  Wir wollen, denn wir müssen. Uns Kurtisanen, die jeden Tag so viel Zeit in der Schönheitskonkurrenz verschwenden, bietet Wahrheitskonkurrenz eine willkommene Abwechslung. Ja, weit mehr als Abwechslung. Eine schöne Frau empfindet, sich im Spiegel betrachtend, zugleich die Schmach, ihr Selbst, dies unendliche Wesen, das alles bedenkt, sogar das Denken selbst, auf eine so enge Fläche beschränkt zu sehen. Über die Ränder des Spiegels, 34 | Livre de Prudence 

die Schranken der Schönheit, führt nur die Wahrheit hinaus. Sagt Diotima es nicht so ähnlich im Symposion ? Sperone:  Für Diotima stand dem Platon Aspasia Modell, die in Athen eine Rolle spielte wie Ihr in Padua. Tullia:  Von Athen nach Padua ist ein weiter Weg. Sperone:  Es ist doch auch wahr – ein Teil der Wahrheit –, daß wir denkend unterwegs sind. Reichen die Überlegungen weit, dann befinden wir uns auf Reisen ; manchmal war das nicht geplant, sondern passierte uns. Dabei kommen wir in die Nähe mancher Dinge und entfernen uns von ihnen, wenn wir weiterfahren. Beim Entferntsein muß es nicht bleiben, wir können auf schon Berührtes zurückkommen, wie auf Reisen manchmal die schönste Route der Rundweg ist. Und wie auf Rundwegen der Reisenden sieht man auch denkend etwas zumeist in anderem Licht, erblickt man es zum zweiten Mal. Ich bleibe dabei, die Bewegung des Denkens sei freier, weniger an Vorgegebenes gebunden als eine Bootsfahrt ; aber das ist lediglich ein Unterschied des Grades. Wer beliebig abspringt von einem zum nächsten, der denkt nicht, sondern spinnt ; nur wer bei der Sache bleibt, also auf der Route, vermag sie zu durchdenken. Chiara:  Was es heißt, eine Sache zu durchdenken, rätselten wir. Wir drei, Amateurinnen der Philosophie, Liebhaberinnen dieser seltsamen Liebe, gerieten, indem wir des Rätsels Lösung suchten, auf drei Bilder: Atome, Kette, Reise. Tullia:  Christine hätte ganze Allegorien aus ihnen gesponnen. Chiara:  Von unseren Bildern hat sich herausgestellt, daß sie sowohl falsch als auch wahr sind ; vielleicht sogar eher falsch als wahr. Ihr aber, Messer Speroni, geltet als Meister des Faches und könnt uns nun sicher jene Frage ohne Umschweife beantworten, indem Ihr statt halbwahrer Bilder den richtigen Begriff angebt: Was heißt es, eine Sache zu durchdenken ? Sperone:  Eure Frage ist obszön. Chiara:  Erstaunlicher Vorwurf ! Sucht Ihr am Ende unser so ungewohnt ernsthaftes Gespräch ins Lächerliche zu ziehen ? Oder gar in den Schmutz ? Sperone:  ›Obszön‹ rührt, wie Varro erklärt, von ›scaena‹, der Bühne, her, nicht etwa von ›caenum‹, Kot, wie viele meinen. Ihr zerrt mich auf die Szene. Gerade hier, im Hof der Universität, sieht Gespräch in Padua | 35

man mich nackt und bloß vor Eurer Frage. Über keinen Begriff, der das Denken erklärt, verfügt die Philosophie, obschon, oder vielleicht gerade weil Denken, als Nachdenken, ihr eigenes Tun ausmacht. Sie steht da, ohne irgend Besseres im Angebot zu haben als Eure Bilder. Diese kleiden zwar die Wahrheit nur ein, aber niemand gelangt unter die Kleider. Nicht Gefangene eines einzigen Bildes für das Denken zu sein, wie manche Metaphysiker früherer Zeiten, sondern mehrere zur Hand zu haben, wie wir, gewahr dessen, was sie jeweils treffen und wo sie jeweils versagen, ist nichts Geringes. Möglicherweise ergänzen diese Bilder einander sogar, indem jeweils das eine trifft, wo das andere versagt. Chiara: Die Cité des Dames genügt sich selbst. Daß uns die Artistenfakultät der Universität verschlossen bleibt, schadet uns offenbar wirklich nicht. Was sie dort zustande bringen, können wir schon lange. Lucia:  In eine der höheren Fakultäten würde ich jedoch gerne schleichen. Tullia:  In welche ? Lucia:  Die theologische sicherlich. Denn wissen die Menschen nicht, was Denken ist, so wird Gott es wohl wissen. Chiara:  Alles zu wissen ist in der Tat sein Beruf. In der theologischen Fakultät lehrt allerdings nicht Gott, sondern Theologen. Lucia:  Er sollte sie zum Teufel schicken und selbst die Lehrkanzel einnehmen. Und die Juristen sind erst recht keine Hilfe. Den süßen Geschmack der Wissenschaft – »le doulx goust de science«, wie Christine schreibt – verheißen uns wohl allein Paduas Mediziner. Sie finden gewiß einmal das Denken, wenn sie eines Menschen Schädel aufsägen und sein Hirn sezieren. Sperone:  Schade, daß Ihr nicht das eigene anbieten könnt. Ich hätte den sägenden Kollegen gern bescheinigt, daß es vorzüglich denkt. Aber man kann eben nicht denken und das eigene Denken beobachten. Tullia:  Auch daß ein totes Hirn nicht denkt, ist mißlich. Lucia:  Wie man ein lebendiges Hirn beim Denken beobachtet, wird eines glorreichen Tages der beste Paduaner Physikus entdecken und uns vorführen. Sobald dies gelingt, haben wir das Denken unmittelbar zu fassen bekommen. All die Worte um es herum, deren wir heute so viele wechselten, werden dann von uns abfallen. 36 | Livre de Prudence 

Sperone:  In einem Tempel, fern von hier, bewahrte man lange Zeit ein Gefäß mit einem wunderbaren Fluidum. Eines Tages trat ein schlauer Mann auf und wies die Verehrer des Grals zurecht: »Ihr Blinden ! Götzendiener ! Weshalb küßt ihr die Schale ? Bloß ihr Inhalt, nicht das Gefäß, ist kostbar. Zerschlagt das Glas ! Dann erst wird Euch das Fluidum unmittelbar Leben spenden.« Der Scharfsinn des Mannes war nicht zu bestreiten ; man schritt zur Tat. Doch die Flüssigkeit rann zwischen den Scherben zu Boden und verdunstete auf der Stelle. Jenes Fluidum ist das Denken. Sein kostbares Gefäß aber ist die Sprache. Eine Stadt, in der Sperone Speroni die Sprachen und, ein Jahrhundert später, Galileo Galilei die Bewegungen der Himmelskörper auf neue Art begreifen lehrten, sollte es entbehrlich finden, ihren Ruhm auf Uraltes zu stützen. Von Antenor ist ohnehin keine Spur auszumachen als die schiere Behauptung seiner Gründungstat. Denn daß im sogenannten Grabmal des Antenor bei San Lorenzo die sterblichen Überreste von Priamos’ Bruder und Aeneas’ Gefährten ruhen, glaubten bereits zu Speronis Zeiten nicht einmal mehr die treuherzigeren unter den damals zahlreichen Verehrern des Altertums. Etwas Trojanisches, freilich nur aufs schlimme Ende der Stadt hindeutend, findet sich indes ausgerechnet im Palazzo della Ragione – letztere bedeutet hier Recht (juris Basilica, meldet die Inschrift), darf aber auch den Philosophen als Grund, Verstand, Vernunft lieb und teuer sein. Auf das hölzerne Modell eines Pferdes, welches eine Nachbildung des trojanischen für einen Karnevalsscherz sein soll, trifft man im großen Saal des Palastes. Die Tollheit unter das Dach der Ragione geholt zu haben, wäre allerdings tiefsinnig. Doch neuerdings heißt es, die Sache verhalte sich ganz anders ; in dem Holztier sei lediglich das Pferd der Reiterstatue Erasmo da Narnis auf der Piazza del Santo vergrößert nachgebildet, dieses Unheiligen – Gattamelata, gefleckte Katze, nannte man den venezianischen General und Diktator von Padua seiner Verschlagenheit halber. So oder so erinnert der Gaul daran, daß die Dinge nicht sind, was sie scheinen. Ob zu Padua oder anderswo, stets sind es solche gefleckten Verhältnisse, in denen Philosophen ihr Metier finden. Gespräch in Padua | 37

ON LE FORCER A  Gespräch in Paris

 I

m Jahr der Schreckensherrschaft, l’an I de la République française, 1793 gemäß dem Gregorianischen Kalender, hatten sie eines Morgens den Bürger Schlabrendorf, ehemals Gustav Graf von Schlabrendorf, mit Schlägen an die Tür geweckt. Um 5 Uhr früh drangen sie in sein Zimmer ein ; Laken und Decken rissen sie von seinem Bett. Zum Ankleiden blieben ihm drei Minuten. Der Anführer des Trupps war einbeinig, einäugig ; stolz trug er seine Verstümmelung, gewiß ein Abzeichen der Revolutionskämpfe. »Du bist verhaftet, Bürger. Lang lebe die Vernunft !« herrschte er den Halbwachen an. Dieser wollte etwas erwidern, war jedoch zu matt, den Gegengedanken zu fassen ; wie abwesend hatte er den Blick in die Ferne gerichtet, aus der keine Hilfe kam. Man führte ihn ab. Was war denn Vernunft, grübelte Schlabrendorf seitdem, in den Gefängnissen, in die sie ihn nacheinander schleiften, im Kerker der Abbaye, dann in Sainte-Pélagie, schließlich, im Jahr II, zu Beginn des Thermidor, in der Conciergerie. Hier hatte ihn, im siebzehnten Monat seiner Gefangenschaft, die englische Freundin ausfindig gemacht, Mary Wollstonecraft. Ein Rest Freiheit, ein Rest Vernunft: Er durfte sie sprechen. Schlabrendorf:  Sie saufen und pissen, sie fressen und scheißen, sie schlafen und schnarchen. Sie fiebern. Sie schwitzen. Sie paaren sich. Sie kommen schreiend zur Welt und krepieren mit aufgerissenen Augen. Tiere ! Menschen sind Tiere. Aber, sagen die Denker, der Mensch erhebt sich über das Tier. Was erhebt ihn ? Ich sagte es. Er erhebt sich. Doch wodurch ? Die Sprache ? Haben andere Tiere auch, nach ihrer Art. Die Seele ? Ungreifbar. La raison ! Sie, wenn irgend etwas, stellt die Menschen höher. Keine andere Kreatur besitzt Vernunft. Und was stellt die einzigartige Kreatur mit ihr an ? Sie steckt ihre Mitmenschen zum Verfaulen in ein drec 39

kiges Loch und sagt dazu: »Lang lebe die Vernunft !« Und muß die Vernunft so nicht länger leben als der in ihrem Namen ins Loch Geworfene ? Fortdauern bis zum Erbrechen ? Wollstonecraft:  Man kotzt die Welt an, die einen ankotzt. Schlabrendorf:  Das verwundert dich ? Wollstonecraft: Überhaupt nicht. In der Gefangenschaft kommen sich alle Lebewesen abhanden: die Löwen im gräflichen Tiergarten, die Grafen im republikanischen Kerker. Sie verunstalten. Du bist zynisch geworden im Arrest. Schlabrendorf:  Eher kynisch. Wollstonecraft:  Erklär’ dich näher. Schlabrendorf:  Ganz einfach: Ich habe eine glänzende Zukunft hinter mir. Wollstonecraft:  Das Kynische wird mir dadurch nicht klarer. Schlabrendorf:  Als Diogenes von Sinope gefragt wurde, wie man ihn begraben solle, sagte er: »Auf dem Gesicht liegend.« Gefragt, weshalb er dies begehre, antwortete er: »Weil in kurzer Zeit das Unterste zuoberst gekehrt werden wird.« Wollstonecraft:  Ein Wort der Hoffnung ? Schlabrendorf:  Hoffnung ? Für Todgeweihte ? Für Tote ? Wollstonecraft:  Die Anekdote ist aus dem sechsten Buch des Diogenes Laërtios ; lerntest du sie im Gymnasium ? Schlabrendorf:  Früher, auf Schulen und in der Stube, hörte und las ich wohl auch Philosophie, aber gelernt habe ich sie erst in den Gefängnissen der Republik. Und die Methode in dieser Hochschule der Weisheitsliebe war in der Tat so ungemein zweckmäßig, daß es mir und meinen Mitgefangenen, oder Schulkameraden, schwergefallen wäre, nichts zu lernen. Wollstonecraft:  So vor den Kopf gestoßen kann nur sein, wer denselben lange sehr hoch trug. Denn das ist die Malaise der Deutschen, sobald ihnen ›die Vernunft‹ zu Kopfe steigt. Ratio, ragione, razón, raison, reason  – das war und ist in Rom, Madrid, Paris, London eine nüchterne Sache. Etwas Handliches. Das Drehen und Wenden des Gegenstandes, bis alle seine Seiten erkannt sind, das Folgern aus Beobachtetem, das Hin und Her von Argument und Einwand – nur darum geht es, wo räsonniert wird. So denkt Europas Westen. Und die Deutschen ? Wen man in ihren Ländern ›zur Raison bringt‹, der hört keine Überlegungen. Wer unter Teutonen 40 | On le forcera 

›endlich Vernunft annehmen‹ soll, vernimmt in diesem Ausdruck die Drohung. Ein Schritt weiter, und es geht bereits um Leben und Tod. Schlabrendorf:  Eben das, beim heiligen Jakob, dem Schutzpatron der Kettenschmiede, scheint eher mein französisches Schicksal zu sein als mein deutsches. Wollstonecraft:  In deutschen Landen gelangt der Fortschritt immer etwas später an als anderswo, dann aber desto gründlicher. Schlabrendorf:  Die Sache in die Zukunft zu verlegen, da du eben noch von Gegenwärtigem sprachst, ist ein schlauer Dreh. Aber ich glaube dir deine unberauschten Franzosen nicht. War es denn nüchternes Volk, das wir rasen sahen auf den Straßen von Paris ? War es nicht vielmehr, wie wir mit Verwunderung und Grausen erlebten, trunken vor Vernunft ? Wollstonecraft:  Zugestanden. Massen sind sich selten darüber im Klaren, wofür sie sich einsetzen – oder einsetzen lassen. Doch du wirst einräumen müssen, daß ihr Deutschen Vernunft weit über das erhebt, was Briten und Franzosen das Räsonnieren nennen. Eure Sprache verbucht ja auch den Verstand als ein etwas inferiores Vermögen, um der Vernunft auf den Sockel zu helfen. Daher eure hohen Erwartungen an sie, daher eure tiefen Enttäuschungen. Enttäuschungen bis zum Ekel. Schlabrendorf:  Der Ekel weicht dem aus, wovor er sich ekelt. Ich weiche der Vernunft nicht aus. Ich will ihr ja auf die Spur kommen. Wollstonecraft:  Dann wärest du im Verhältnis zu ihr immer noch in der ersten deutschen Phase: hohe Erwartungen. Schlabrendorf:  In London belehrtest du mich, die Emanzipation der Weiber, für dich ein Gebot der Vernunft, könne zur Perfektion des Menschengeschlechts beitragen. Vervollkommnung – gibt es eine höhere Erwartung ? Eine gefährlichere ? Denn nichts ist gefährlicher, als das graue Ungeheuer der Volksansicht anzugreifen. Wollstonecraft:  Das allerdings habe ich früh geübt. Vater und Mutter forderten, ich solle mich ihren Befehlen ohne Wenn, ohne Aber unterwerfen – Befehlen, die oft genug miteinander unverträglich waren. Etwas in mir lehnte sich von Anfang an dagegen auf. Das Wort ›Vernunft‹ kannte ich noch gar nicht, aber sie selbst lernte ich in diesem Widerstand kennen. Sie wuchs durch Gespräch in Paris | 41

den nötigen Kraftaufwand, dehnte sich gegen die Eltern aus und rieb sich dann an dem, was du die Volksansicht nennst. Ich bin aus diesen Reibereien immer nur gestärkt, ohne Enttäuschungen hervorgegangen. Schlabrendorf:  Deinen Frohsinn bewundere ich. Als rundum zufriedenen Insassen dieser Anstalt kann ich mich nicht präsentieren. Meine Stimmung hier pflegt eher flau zu sein. Und das, obschon wir Deutschen im Westen Europas auch als besonders gemütliches Volk gelten. Einer solchen Eigenschaft sollte zwar bloße Haft kaum etwas anhaben können, … Wollstonecraft:  … aber sie hat, wie ich sehe, dein Gemüt arg strapaziert. Ein strapaziertes Gemüt wird ungemütlich. Schmerz und Vernunft sind füreinander Gift. Und da ein Gefangener im Bezirk des Schmerzes steht, selbst wenn man ihn nicht foltert, bist du der Vernunft gegenüber vermutlich befangen. Schlabrendorf:  Im Gegenteil. Wenn wir die Vernunft nicht länger parteiisch sehen wollen, wie es die Kalten, die Indifferenten, die Bureaucraten der Rationalität tun, müssen wir durch den Schmerz hindurch. Du auch. Wir bemerken dann, die Vernunft betreffend, einen Widerstreit, der mir jedenfalls keine Ruhe mehr läßt. Wollstonecraft:  Und der wäre ? Schlabrendorf:  Als vernünftig, sagten die philosophes, sollte gelten, wohin man auf vernünftigem Wege gelangte, durch freies Erörtern und öffentliche Kritik. Jetzt haben wir eine politische Ordnung, die sich auf die Vernunft der philosophes beruft, und nichts gefährdet einem so sehr den Kopf wie freies Erörtern und öffentliche Kritik. Kannst du dir einen Reim auf diese ungereimte Wirklichkeit machen ? Wollstonecraft:  Ça ira. Es gibt keine klarere Sache auf der Welt als die Vernunft. Schlabrendorf:  Mich verwirrt keine Sache mehr als sie. Wollstonecraft:  Sie wird es nicht mehr, wenn du selbst mit Vernunft zur Sache – der Vernunft nämlich – schreitest. Schlabrendorf:  Gern ; ich habe mich hier in der Conciergerie ja spezialisiert auf aussichtslose Angelegenheiten. Wollstonecraft:  Dann schreite. Schlabrendorf:  Wie macht man das ? 42 | On le forcera 

Wollstonecraft:  Erster Schritt: Was wird der Mensch im natürlichen Zustand wollen ? Schlabrendorf:  Welchen Menschen meinst du ? Wollstonecraft:  Den Menschen an sich. Schlabrendorf:  Hat sich mir bisher noch nicht vorgestellt. Wollstonecraft:  Man muß ihn sich vorstellen. Schlabrendorf:  Und warum gerade im natürlichen Zustand ? Wollstonecraft:  Weil, wenn man die Sache so angeht, alle Vorurteile aus dem Spiel bleiben. Auf diese Weise gelangt man zu vernünftigen Resultaten. Was also wird er wollen ? Schlabrendorf:  Da er sich mir nicht vorstellt, vielmehr ich ihn mir vorstellen soll, muß ich von mir selber ausgehen. Dann lautet die Antwort: gebratene Wachteleier. Sie waren schon mit zwei Jahren, damals in Schlesien, meine entschiedene Vorliebe. Wollstonecraft:  Vorlieben sind für den Willen, was Vorurteile für den Verstand sind. Schlabrendorf:  Also etwas Unvermeidliches. Wollstonecraft:  Diogenes verachtete Delikatessen. Schlabrendorf:  Idiosynkrasien sind wichtiger als Idole. Wollstonecraft:  Du wirst allmählich seltsam. Schlabrendorf:  Ich bin seltsam. Wollstonecraft:  Vernunft ist das Vermögen des Allgemeinen. Um meine Frage zu beantworten, mußt du von dir selber abstrahieren. Schlabrendorf:  Soviel beginne ich jetzt von der Vernunft zu ahnen: Sie kratzt. Wollstonecraft:  Ich muß mir also selbst die Antwort auf meine Frage geben: Im natürlichen Zustand will jeder sich selbst erhalten. Schlabrendorf:  Das kann nicht ewig gutgehen. Wollstonecraft:  In der Tat nicht. Denn ewig lebt kein Mensch, sondern, wenn es hoch kommt, neunzig Jahre. Schlabrendorf:  Wenn es hoch kommt. Wollstonecraft:  Darum – zweiter Schritt – will der Mensch im natürlichen Zustand noch etwas anderes als sich selbst erhalten. Schlabrendorf:  Jetzt vielleicht die Wachteleier ? Wollstonecraft:  Du scheinst nicht sehr geübt darin, dir Gedanken über das menschliche Zusammenleben zu machen. Gespräch in Paris | 43

Schlabrendorf:  Ich war ein einsames Kind und habe mir ständig Gedanken über das menschliche Zusammenleben gemacht. Schau dir an, wohin mich das gebracht hat. Wollstonecraft:  Jetzt redest du immer noch wie ein Kind. Oder wieder. Schlabrendorf:  Oft wird kindisch, wem der Tod nahe tritt. Wollstonecraft:  Der Tod sei fern. Doch mit so wenig Vernunft, wie du sie bisher, das menschliche Zusammenleben bedenkend, an den Tag gelegt hast, kommst du nie mit der Vernunft ins Reine. Schlabrendorf:  Daß sie etwas Unreines sei, war schon eine Weile mein Verdacht. Höre etwa Sarastros Verse von der Vernunft: »Wen diese Lehren nicht erfreu’n, | Verdienet nicht ein Mensch zu sein.« Ein unreiner Reim. Für einen reinen müßte es entweder »erfrei’n« oder »seun« heißen. Wollstonecraft: Von einem Baß gesungen klingt »seun« besser als »erfrei’n«. Bässe singen die schönsten Us, sogar im Diphthong. Was macht man übrigens mit denen, die ein Mensch zu seun nicht verdienen ? Schlabrendorf:  Zauberflöte, letzter Auftritt, Königin, Mohr: »Wir alle gestürzet in ewige Nacht.« Sie versinken. Die Opernbühne hat zu diesem Zweck ein Loch. Sarastro besaß noch kein Fallbeil. Die Guillotine versieht das Geschäft ohne Melodrama. Wollstonecraft:  Aber mit Vernunft ? Schlabrendorf:  Ich denke, also bin ich, lehrte der Denker der Vernunft im vorigen Jahrhundert. Im jetzigen muß es heißen: Ich denke, und schon bin ich nicht mehr. Wollstonecraft:  Hat nicht auch die Revolution ihren Denker ? Schlabrendorf: Ihr Kopfarbeiter nickt mit dem Kopf dem Köpfen zu. Mit den Worten, die er spricht, kriecht er sodann in den Arsch der Taten. Wollstonecraft:  Dann wird man sie schlecht vertonen können. Schlabrendorf:  Wir leben in einer Zeit, die für die Oper wenig hergibt. Und wir sterben auch in einer solchen Zeit. Es ist der kälteste, platteste Tod, ohne mehr Bedeutung als das Durchhauen eines Kohlhaupts oder ein Schluck Wassers. Doch wir schweifen ab. 44 | On le forcera 

Wollstonecraft:  Nicht ganz ; sterben muß man sowieso, auch im Naturzustand. Da die Natur der Selbsterhaltung die Grenze setzt, die man Tod nennt, will der Mensch im natürlichen Zustand ferner noch sich vermehren. Schlabrendorf:  Wie schön, daß es den Menschen an sich als Mann und Frau gibt. So kann ich ihn mir besser vorstellen. Ihn oder sie. Wollstonecraft:  Schön ist dieser Umstand besonders für den Mann, denn die Lasten der menschlichen Vermehrung hat die Natur recht ungleich auf die beiden Geschlechter verteilt. Schlabrendorf:  Die Natur hat versäumt, den Diskurs über die Gleichheit zu lesen. Sehr unvernünftig von ihr. Wollstonecraft:  Die Tatsache der Ungleichheit und das Recht der Gleichheit gehören zusammen. Wäre die Gleichheit Tatsache, dann hätte ein Recht der Gleichheit keinen Sinn. Schlabrendorf:  Mann und Frau, unterschiedlich involviert, erhalten und vermehren sich also. Könnte das nicht ewig so weitergehen ? Wollstonecraft:  Diese Frage führt uns zum dritten Schritt. Aus den Trieben, sich zu erhalten und sich zu verbinden, ergibt sich nur ein enger Kreis: die Familie. Zur Frage, wie es nun weitergeht, weiß ich meinen Locke auswendig: »The only way whereby any one devests himself of his Natural Liberty, and puts on the bonds of Civil Society is by agreeing with other men to joyn and unite into a community, for their comfortable, safe, and peacable living one amongst another.« Der größere Zusammenhang, Gesellschaft und Staat, bedarf eines neuen Arrangements zwischen den Menschen. Schlabrendorf:  Und nun kann selbst ich mir zusammenreimen, es werde ein vernünftiges Arrangement sein müssen. Wollstonecraft:  Die Individuen werden einen Vertrag schließen. Schlabrendorf:  Gibt es nicht auch unvernünftige Verträge ? Wollstonecraft:  Alle, in denen man übervorteilt wird. Und so wird jeder nur einem Vertrag zustimmen, der ihm selbst die Rechte erteilt, die alle anderen genießen. Schlabrendorf:  Gleiche Rechte. Ich sehe: égalité. Das Prinzip der Revolution. Wollstonecraft:  Vernünftig ist, was sich rechtfertigen läßt. Gespräch in Paris | 45

Ein Prärogativ kann man nicht rechtfertigen, man kann es nur mit Gewalt behaupten gegen all die, welche nicht in seinen Genuß kommen. Warum sollte jemand Vorrechten zustimmen, etwa jenen, deren sich der alte Adel erfreute ? Schlabrendorf:  Die von Schlabrendorfs zum Beispiel. Ich empfing eine privilegierte Erziehung. Sonst wäre ich kaum in der Lage, deiner Vorlesung über gleiche Rechte zu folgen. Es fällt mir selbst mit diesem Vorzug schwer genug. Wollstonecraft:  Manches geht uns schwer ein, nicht, weil wir es kaum verstehen können, sondern weil wir es kaum verstehen wollen. Schlabrendorf:  Für die wahre Einsicht in die Beschaffenheit der Vernunft würde ich sogar auf Wachteleier nach schlesischer Art verzichten. Wollstonecraft:  Da sie auf dem Speiseplan dieser Anstalt fehlen, wird deine waghalsige Behauptung nicht auf die Probe gestellt. Schlabrendorf:  So glaubst auch du nicht mehr an ein Leben nach der Conciergerie ? Wollstonecraft:  Verzeih mir. Aber dein Zynismus steckt an. Schlabrendorf:  Kynismus. Und er hat dich bislang nicht genügend angesteckt. Wollstonecraft:  Die Diagnose macht sich woran noch gleich fest ? Schlabrendorf:  Nach deiner Beweisführung verwirklicht die Revolution, die unter anderem auch diese Stätte jenseits jedes »comfortable living« betreibt, die Vernunft. Und da sind wir eben bei meiner Schwierigkeit zu verstehen. Vernünftig ist die Ordnung der Gleichheit. Allerdings darf der Einbeinige mich Zweibeiner verhaften, nicht aber ich ihn. Kyniker räumen allenfalls Vierbeinern Vorrechte ein. Wenn sie danach bellen. Wollstonecraft:  Der Einbeinige würde dir sicher antworten, daß zwar alle gleich seien, du aber etwas gegen die Ordnung der Gleichheit unternahmst oder sagtest oder jedenfalls dachtest ; deshalb müsse er dich ungleich behandeln und ins Gefängnis werfen. Es geschehe ja alles nur, um die Ordnung der Gleichheit zu retten. Schlabrendorf: Die Beseitigung alter Ungleichheit schafft Platz für neue. 46 | On le forcera 

Wollstonecraft:  So würde es der Einbeinige nicht sagen. Schlabrendorf:  Nein, so würde er es nicht sagen. So sage ich es. Er würde vermutlich sagen, aus Liebe zur Menschheit müsse er gegen deren Feind vorgehen. Wollstonecraft:  Das würde er vermutlich sagen. Schlabrendorf:  Glaubst du es auch ? Wollstonecraft:  Ich glaube es nicht, aber die Logik ist zwingend. Schlabrendorf:  Ja, zwingend. »Ce qui ne signifie autre chose sinon qu’on le forcera d’être libre.« Robespierre hat stets ein Exemplar des Contrat social auf seinem Tisch. Und es bezeichnet den Verlauf der Revolution, daß der Gerechte, der Mann der Phrase, seine elf Kollegen im Wohlfahrtsausschuß, vorwiegend Männer der Tat, in den Schatten stellt. Keine Tat ist so schlecht, daß man nicht gute Gründe für sie auftreiben könnte. Sie aufzutreiben ist die unverzichtbare Gabe und Aufgabe des Manns der Phrase, pardon, des Anwalts der Vernunft. Wollstonecraft:  Nun bin ich etwas verwirrt. Wo stehen wir mit unserer Erörterung ? Schlabrendorf:  Das Zwischenergebnis scheint mir, daß die Vernunft zu unvernünftigen Resultaten führen kann. Und zwar zwingend. Ganz so, wie die Freiheit exekutiert wird von einem Mechanismus, der machine politique, wie Lazare Carnot die Revolutionsregierung nannte, und wie der Comité de Salut public, dem Carnot angehört, die Plagen mehrt, damit die allgemeine Wohlfahrt gedeihe. In deiner Sprache, mit Hamlet: »This was sometime a paradox, but now the time gives it proof.« Das zeitgemäße corpus delicti der vernünftigen Beweisführung bin, unfrei und geplagt, ich selber. Wollstonecraft:  Deine Darlegung wäre, falls sie denn bündig ist, wert, sie der Menschheit zu überliefern. Gerade ein Deutscher sollte, wie Luther, sein Tintenfaß auf den Leibhaftigen werfen, sonst verschwindet er nie. Schlabrendorf:  Den Teufel regten Luthers hundert Bücher nur zu hundert neuen Teufeleien an. Die protestantischen ergänzen seither die katholischen. Von mir sind keine papierenen Werke zu erwarten. Sie kämen auch niemals an gegen jene, die machine politique, Comité de Salut public usw. erzeugen. Verwaltung ist erstarrte Politik: zu Akten erstarrte. Gespräch in Paris | 47

Wollstonecraft:  Dabei wüßte ich bereits einen originellen Titel für dein zu schreibendes Buch: Dialektik der Aufklärung. Oder, wenn es etwas populärer ausfallen soll: Logik für Teufel. Schlabrendorf:  Falls das originelle Vorschläge sind, bedanke ich mich, aber meine Werke sind meine Gespräche. In ihnen verschenke ich mich. Wollstonecraft:  Der Aristokrat schenkt und raubt. Keinesfalls rafft er sich, wie der Bürger, dazu auf, zu arbeiten, zu kaufen und zu verkaufen. Das ist ihm zu vernünftig. Schlabrendorf:  Wohl wahr. Weder raffe ich, noch raffe ich mich auf. Ich kenne meine Schwächen. Wollstonecraft:  Und willst damit sagen, sie seien Stärken. Reden wir uns also weiter durch diese Bescherung hindurch: ­Haben wir den paradoxen Vorgang mit dem Gesagten schon erklärt ? Schlabrendorf:  Die Vernunft wäre nicht, was sie ist, ohne den Anspruch auf Zustimmung. Ein Mensch, der die Vernunft auf seiner Seite hat, wie jener Einäugige, kann sich kaum vorstellen, daß man ihm nicht zustimmt, es sei denn aus Dummheit oder Bosheit ; gegen beide hat er Maßnahmen parat: Erziehung oder Strafe. Wollstonecraft: Nun abstrahierst du zu resolut. Wie verwirklicht sich solche Vernunft in dem, der dich bestraft ? Schlabrendorf:  Nicht schwer zu erschließen. Daß er ein Krüppel an seinem Leib ist, macht ihm keine Schande ; Schande liegt darin, daß er sich zu einem Krüppel des Geistes gemacht hat. Er findet seinen furchtbaren Trost darin, immer mehr Tote um sich zu sehen. Denn der Krüppel besitzt etwas, das der Tote nicht mehr hat: Leben. Dieser Trost ist die Vernunft des Einäugigen, eine einäugige Vernunft. Je mehr Tote sich häufen, desto weniger Stimmen widersprechen ihr, und ihm. Darum bricht er aus in sein Totschlagwort: »Lang lebe die Vernunft !« Du verstehst: Die Extreme  – Tod und Leben – berühren einander ; doch diese Berührung ist Schlag, ein Anschlag des Todes auf das Leben. Wollstonecraft:  Das Motiv des Fanatikers wäre also Rache am Leben ? Schlabrendorf:  Des Fanatikers der Vernunft, ja. Aber dies Motiv bliebe ohne Folgen, würden keine Konditionen walten, die dem Mann Gelegenheit bieten, es auszuleben. Er, die andern der 48 | On le forcera 

Dummheit oder der Bosheit verdächtigend, mag selber dumm sein, er mag böse sein oder auch nicht – das spielt kaum eine Rolle. Ist die Situation nicht danach, vermag Dummheit oder Bosheit wenig auszurichten. Das Verkehrte auf der Welt geschieht, weil die Situation verkehrt ist. Und ist sie es, dann geschieht es notwendig. Wollstonecraft:  Strenge Konsequenz: Da es dem Einäugigen nicht gelang, dich für dumm zu halten, traf dich seine Strafe. Schlabrendorf:  Sie erspart mir seine Erziehung. Wollstonecraft:  Zwei Weisen, den Dissens auszuräumen. Schlabrendorf:  Mit einem Haufen einander mehr oder minder widerstreitender Leute, wie man sie an jeder Straßenecke findet, oder vor dem Terror fand, begnügt Vernunft sich nicht. Sie will nicht weniger als: sie umfassen. Gemeinschaft ist ihr Ideal. Wollstonecraft:  Wäre das aber in Wahrheit nicht etwas Gutes: einem Ideal zu folgen, statt das Reale nur so hinzunehmen ? Schlabrendorf:  In jeder Revolution gibt es noch etwas Fürchterlicheres als den Kampf, der ihr Ideal zu realisieren sucht, und das ist ihr Sieg, der es realisiert. Ich fürchte, der Schrecken, inmitten dessen wir uns wiederfinden, ist eben das real gewordene Ideal der Revolution. Wollstonecraft:  Gibst du Vernunft als Prinzip der Politik auf, welches willst du dann an seine Stelle setzen ? Etwa Unvernunft ? Absurdität ? Wahnsinn ? Schlabrendorf:  Mit der Realität der Vernunft hat es eine eigentümliche Bewandtnis. Ihre Ideale, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, sind nicht Zustände, die, wie der Wasserstand an der Marke des Meßbechers, irgendwann erreicht wären. Man kann ihnen nie Genüge tun. Deshalb läßt sich immer mehr von ihnen fordern, und es findet sich, wie die Revolution zeigt, auch immer eine Schar, die Nutzen daraus zieht, mehr von ihnen zu fordern – mehr bis zur Absurdität, auch zur gewaltsamen. Ihre Ansprüche zehren von innen jedes Verhältnis auf, in das sie eingeführt werden. Es handelt sich nicht um Absurdität statt Vernunft, sondern um jene als Konsequenz dieser. Wollstonecraft:  Weißt du ein Korrektiv gegen einen Fanatismus der Vernunft ? Schlabrendorf:  Die Vernunft ist wenig wert ohne etwas, das nicht Vernunft ist ; sie muß auch lachen können, wie in Sokrates’ Gespräch in Paris | 49

Ironie den Sophisten gegenüber. Und, wichtiger noch: wie in Sokrates’ Ironie sich selbst gegenüber. Wollstonecraft:  An diesen Gefängnisinsassen wirst du nicht herankommen. Schlabrendorf:  Ich weiß. Darf ich aber, statt auf deine Fragen geradewegs zu antworten und statt, gleich dir, etwas aus Begriffen zu konstruieren, eine Geschichte erzählen ? Wollstonecraft:  Gerne, falls sie gut ausgeht. Es wäre zu traurig, im Kerker zu sitzen, wo so vieles schlecht ausgeht, und dann auch noch eine Geschichte zu erzählen oder zu hören, mit der es sich ebenso verhält. Schlabrendorf:  John Locke zu lesen gewöhnt einen ja an Optimismus. Für den guten Ausgang werde ich also sorgen. Wollstonecraft:  Das klingt verheißungsvoll. Schlabrendorf:  So klang vor kurzem auch das Wort ›Revolution‹. Wollstonecraft:  Ich bin der Verheißung noch nicht ganz entwöhnt. Man kann auf dem rechten Wege irren und auf dem falschen recht gehen. Beginne ! Schlabrendorf:  Des Adlers und der Schlange war Sarastro überdrüssig geworden. Er war nun bequemer als früher, gemütlicher, auch beleibter. Eines Tages aber überfiel ihn noch einmal, vielleicht zum letzten Mal, der alte Tatendrang. Oder war es gar ein neuer ? Wie auch immer – er begab sich an diesem Tag in die Ortschaft Hébécrevon, von der die Geschichte der Menschheit bislang wenig Aufhebens gemacht hatte, und verkündete den Dörflern: »Von jetzt an soll dieses Dorf Communauté de Raison heißen.« Wollstonecraft:  Spielst du auf den Benennungseifer der Pariser revolutionären Comités an, die sogar die Monate tauften ? Schlabrendorf:  Fünf Sätze habe ich erzählt und du suchst bereits eine Absicht hinter der Erzählung, um über sie verstimmt sein zu können. Wollstonecraft:  Weil ich dich kenne. Schlabrendorf:  Etwas verdächtig hat noch jeder Tragödiendichter seinen Helden gemacht. Wollstonecraft:  Es wird eine Tragödie ? Schlabrendorf:  Ja, aber mit gutem Ausgang. Wollstonecraft:  Trotz eines verdächtigen Helden ? 50 | On le forcera 

Schlabrendorf:  Vielleicht trotz, vielleicht wegen. Wollstonecraft:  Woran genau würdest du den Verdacht festmachen, den du geweckt hast ? Schlabrendorf:  Etwas verdächtig ist es doch, daß einer an einen Ort kommt, den er nicht kennt, und als erstes sagt, was dieser ist. Wollstonecraft:  Es ist des Menschen Vorrecht auf Erden, daß er die Dinge beim Namen nennt. Dann schlagen sie die Augen vor ihm nieder, wenn er sie anruft. Name ist Macht. Schlabrendorf:  Nichts anderes wollte ich sagen mit dem Anfang meiner Erzählung. Wollstonecraft:  Nun kenne ich deine Absicht. Fahr also fort. Schlabrendorf:  In der Communauté de Raison zu leben statt in Hébécrevon gefiel den Dörflern ; edler als der alte klang der neue Name. Doch der Erleuchtete rief aus: »Ihr müßt euch diesen Namen erst verdienen. Sonst seid ihr seiner nicht würdig.« Die Leute fragten ihn: »Wird es schwierig sein, ihn sich zu verdienen ?« Die Frage verschwindet von selbst, wenn ihr sie nicht stellt, dachte Sarastro. Aber er sprach: »Folgt ihr der Vernunft, wird es leicht sein für euch. Ihr dürft nicht meinen, die Vernunft sei etwas im Kopf des einzelnen. Das glaubten die Meister des Denkens früher, doch sie haben sich getäuscht. Die Vernunft ist gleichsam zwischen euch. Logos, das Wort, nannten die Griechen die Vernunft, und das Wort ist euch allen gemeinsam zu eigen. Bindet es euch aber kraft der Vernunft, die in ihm waltet, dann folgt, daß ihr nicht jeder einzeln für sich in den Himmel zu kommen vermögt, wie ihr bisher glaubtet, sondern nur alle gemeinsam. Begeht dein Nachbar Unrecht, so wirst du nicht ins Paradies eingehen.« Der Blick des Mahners schlug durch sie hindurch. Ersichtlich war dies nicht der Zeitpunkt für weitere Erkundigungen. Die Leute sagten: »Wir wollen es glauben um des edlen Namens willen.« Sie boten Sarastro Wein an, um den feierlichen Anlaß zu begehen. Doch er lehnte den Trank ab. Wollstonecraft:  Es ist wirklich die Geschichte einer Revolution. Vermutlich war Sarastro trunken vor Vernunft. Schlabrendorf:  Ich fürchte, er war von gar nichts trunken. Den Wein lehnte er übrigens nur anfangs ab. Wollstonecraft:  Immerhin. Wie weiter ? Schlabrendorf:  Seitdem lebte man im Einklang miteinander Gespräch in Paris | 51

in Hébécrevon, das nun Communauté de Raison hieß. Jeder der Dörfler fühlte sich verantwortlich für jeden anderen. »Alle für einen, einer für alle«, skandierten die Kinder morgens in der Schule. Die Lehrer, die Eltern, ja zuweilen Sarastro, der Künder, selbst erklärten ihnen, was das bedeutete: »Wenn einer stiehlt, falsch schwört, betrügt, mordet oder den Herrn lästert, tragen die anderen die Schuld mit. Die Vernunft will nichts Halbes, und jeder ist Teil des Ganzen. Das Ganze aber ist nicht besser als sein kleinster Teil. Wie könnte es anders sein ? Wie dürfte es anders sein ?« Jeder, was immer er gerade tat, mußte an die Gemeinschaft denken. So schien es vernünftig. Und die Gemeinschaft mußte an jeden denken, was immer er tat. Dies allerdings wurde manchen, je länger, desto stärker, unheimlich. Wollstonecraft:  Unheimlich ? Schlabrendorf:  Einige waren früher einmal in der großen Stadt gewesen. Mit verhohlenem Neid gedachten die Dörfler nun gelegentlich der Städter. Diese wohnten so nah bei einander und doch so unbehelligt. Der Nachbar fragte nicht nach dem Nachbarn. Der Logos, dessen Grundgestalt die Frage ist, war dort schwach. Gesellschaft eben, nicht Gemeinschaft. Wollstonecraft:  Auch die große Stadt läßt sich zur Gemeinschaft erheben. Will nicht die Revolution Paris in eine große Brüderschaft wandeln ? Schlabrendorf:  Das will sie. Deshalb klopfte ja der Einäugige im Jahre I an meine Wohnungstür und fragte nach mir. Aber so fortgeschritten war man zu Sarastros Zeiten in der großen Stadt noch nicht. Wollstonecraft:  Wäre man es gewesen, dann hätte dies deine Geschichte ja auch der Kontrastfolie beraubt. Schlabrendorf:  Kein Erzähler mag es, wenn man mitten in seinem Erzählen dessen Technik zergliedert. Wollstonecraft:  Muß ich immer Dinge sagen, die du magst ? Schlabrendorf:  Häftlinge besucht man ihnen zum Trost. Gerade jemand wie du, deren Seele, comme une exception, nicht ungreifbar ist. Wollstonecraft:  Dann also etwas Tröstliches. Alle Revolutionen lassen sich, so lehrt die Philosophie der Geschichte, als notwendige Folgen eines früheren Stillstandes ansehen, als gewaltsamere 52 | On le forcera 

Bewegungen, die ein lange unterlassenes Fortschreiten wieder einholen. Sie haben insofern auch immer ein Gutes: Selbst die arge Revolution erspart eine noch ärgere. Schlabrendorf:  Einfühlsame Trostworte an den Insassen eines Revolutionsgefängnisses. Geschichtsphilosophie verheizt eben stets das Individuum. Dank der dabei entstehenden Wärme steigt der Heißluftballon der Allgemeinheit desto rascher seiner höheren historischen Bestimmung entgegen. Aber immerhin nimmst du die Taktik meines Fabelns nicht weiter auseinander. Wollstonecraft:  Fahre also unanalysiert fort. Schlabrendorf:  Unbedingt, denn nun folgt die Peripetie. Fremde, zwei Frauen, erwarben ein Anwesen in der Nähe des Weilers. Bislang hatten sie in der großen Stadt gewohnt. Deren Lärms und Getriebes waren sie müde geworden. Die beiden blieben für sich ; selten nur kamen sie in die Siedlung. Da sie nicht zur Gemeinschaft der Vernunft zählten, brauchte man sich um sie nicht zu scheren. Doch eines Abends, den Kehricht vors Haus tragend, sah einer seinen Nachbarn zum Hof jener beiden Fremden schleichen. Erschreckt und um die paradiesische Bestimmung der Gemeinschaft besorgt, meldete er den Vorfall dem Dorfältesten. Von Stund an begannen alle Dörfler den Verdächtigen zu beschatten. Der Dorfälteste hatte Ermahnungen an die Türen nageln lassen: Ein jeder Dorfbewohner möge sich seiner Verantwortung bewußt sein. Für die Gemeinschaft. Wollstonecraft:  Die vernünftige. Schlabrendorf:  Alle suchten ihre Ohren zu spitzen ; alle mühten sich, die Augen offen zu halten ; kaum einer schlief mehr des Nachts. Indes waren manche, die besonders Vernünftigen, eher vigilant als andere, und so gerieten auch die weniger Wachsamen unter den Dörflern in Verdacht. Männer, Frauen, Kinder fingen an, jeden anderen zu bespitzeln. Jeden außer den Propheten, der mitten unter ihnen hauste, einen munteren Briefwechsel mit Pamina pflegte und es sich auch sonst wohl ergehen ließ. Sarastro war ja selbst die Vernunft, und der Vernunft ist nicht zu mißtrauen. Sonst aber ließ sich viel entdecken, nachdem einmal Argwohn aufgeflackert war. Eine holte etwas mehr Reisig aus dem Wald, als ihr zustand. Ein anderer ließ etwas mehr Wasser, als vereinbart war, auf seinen Acker fließen. Früher hätte man ein Auge zugedrückt oder Gespräch in Paris | 53

gar zwei ; doch nun stand die Seligkeit aller auf dem Spiel. »Alle oder keiner, im Namen der Vernunft.« Mit dem Argwohn regte sich Angst. Und mit der Angst regte sich Haß. Man spürte eine auf, die schwer gefrevelt haben sollte. Sie zu töten, genügte nicht. Um die Schuld von der Erde zu tilgen, fackelten die besonders Vernünftigen, grimmig begeistert, das Dorf ab. Viele kamen in Rauch und Feuer um. Ein hölzernes Schild, am Rande eingepflockt, verbrannte nicht. Auf ihm war zu lesen: La Communauté de Raison. Wollstonecraft:  Nun ist die Geschichte doch schlecht ausgegangen. Schlabrendorf:  Keine Sorge, sie geht gut aus. Sogar lustig. Rechtzeitig hatte Sarastro für seine Sicherheit gesorgt. Er war, die besten Flaschen Wein vor den Flammen rettend, in die große Stadt gezogen. In den heil’gen Hallen von deren berühmter Universität amtete er als Professor für Sozialphilosophie. Pamina, inzwischen von Tamino geschieden, heiratete Sarastro, auch wegen der Altersversorgung. Die Schlange hatte sich wieder eingefunden und verbrachte ihren Lebensabend im Terrarium der Wohnung. Man schätzte Sarastro allgemein als Kritiker des modernen Individualismus. Wie Rauch, pflegte er zu sagen, verflüchtigt sich der Einzelne ins Nichts ; allein die Gemeinschaft, verwurzelt im Logos, bleibt. Pries man ihn seiner Tiefe wegen, so antwortete er bescheiden: Ich bin, was meine Erfahrungen aus mir gemacht haben. Vom Himmel sprach er jetzt nicht mehr. Als geachteter Wissenschaftler, der er nun war, fand er andere Worte dafür. Exzellenz zum Beispiel. Oder Drittmittel. Sein liebstes aber blieb: Vernunft. Wollstonecraft:  Nun könnte es damit weitergehen, daß die Schlange Pamina in Versuchung führt. Schlabrendorf:  Hat mein Schluß dich enttäuscht ? Wollstonecraft:  Das nicht. Was für ein Opernfinale hätte Mozart aus ihm machen können ! Am Ende unterlegt eine C-DurKadenz mit Harfenglissandi die beiden Silben »Vernunft«. Schlabrendorf:  Mozart mochte die Harfe nicht. Wollstonecraft:  Er konnte auch Sarastro nicht leiden. Ist dir je aufgefallen, daß Mozart ihm, laut Schikaneder der erhabensten Gestalt des Dramas, so einfache Strophenlieder zuweist wie Papageno, dem angeblichen Simpel ? Nur sind sie weit langweiliger als jene Papagenos. 54 | On le forcera 

Schlabrendorf:  Desto besser, daß du meine Geschichte kurzweilig fandst. Wollstonecraft: Allerdings verleiht Kurzweil noch lange keine philosophische Dignität. Jeder bringt eine Geschichte zusammen, die sich den eigenen Behauptungen fügt. Zähltest du nicht vor zwanzig Jahren zu den Bundesbrüdern des ›Hains‹ ? »Üb’ immer Treu und Redlichkeit | Bis an dein kühles Grab, | Und weiche keinen Finger breit | Von Gottes Wegen ab.« Schlabrendorf:  In Revolutionszeiten sind sogar die Gräber heiß. Und Hölty meinte gewiß nicht, es sei unredlich, durch eine Geschichte einzusehen, wie etwas wirklich beschaffen ist. Wollstonecraft:  Nein, so gewissenhaft war er noch nicht. Es ist eher so, daß ich mir dies von dir verspreche, zwanzig Jahre nach den Schwärmereien des ›Hains‹. Schlabrendorf:  Was ich dir vortrug, war nur eine Fabel, aber sieh’ dich hier um und du hast die Probe auf ihre Wahrheit vor dir. Du kannst sie ertasten an diesen Mauern, sehen im altbackenen Brot in diesem Blechnapf, riechen am Kot der Ratten in den Ecken dieses Baus. Wollstonecraft:  So ähnlich sieht es in jedem Gefängnis aus, auch dort, wo Herrscher nicht das Wort ›Vernunft‹ im Munde führen. Schlabrendorf:  Die Revolution sollte die absolute Freiheit hervorbringen. Aber keine Tat eines Menschen kann die absolute Freiheit schaffen. Damit gerät jede Handlung unter Verdacht. Sie vollbringt nicht die absolute Freiheit ; vereitelt sie diese vielleicht ? Erst zieht die Tat Argwohn auf sich, dann das Wort, dann der Gedanke – der dem andern unterstellte Gedanke. Auch jedes Nichthandeln gerät unter Verdacht ; denn wen soll es decken, was soll es vertuschen ? Verdächtigwerden heißt hier Schuldigsein ; wer sich rechtfertigt, klagt sich an. Nichts weckt stärkeren Argwohn als eines Menschen Beteuerungen. Vernunft, dazu da, Vertrauen zu stiften – die Gründe darzulegen, warum wir etwas tun –, setzt unter solchen Umständen unentwegt Mißtrauen aus sich heraus. »Wer zittert, ist schuldig«, pflegt Robespierre zu sagen, wenn er wieder jemanden denunziert hat. Irgendwann begannen alle zu zittern. Freilich kann man nicht alle guillotinieren, insbesondere Sanson, den Henker, nicht. Also verhaftet und tötet man nach Gespräch in Paris | 55

Willkür. Die Vernunft verbürgt es: Nur die Toten kommen nicht wieder. Wollstonecraft:  In deinem Reden werden Vernunft und Gewalt eins. Aber du weißt so gut wie ich, daß sie nicht eins sind. Es gibt in der Welt manchmal die Parole ohne den Schlag, manchmal den Schlag ohne die Parole, und, allerdings, manchmal die Parole gefolgt vom Schlag. Die Vernunft des Einäugigen siegt, weil sie die Gewalt auf ihrer Seite hat. Doch was etwas auf seiner Seite hat, bleibt immer noch verschieden von ihm. Die Vernunft des Einäugigen siegt, aber sie überzeugt nicht. Überzeugte sie, dann bräuchte sie die Gewalt nicht. Noch der Einwand gegen den Terror im Namen der Vernunft hat Vernunft nötig. Schlabrendorf:  Es geht uns im Gespräch oft so, daß etwas hemmt – anders gesagt: daß das letzte, schlagende Wort nicht herauswill. Wir werden dann ungeduldig. Aber vielleicht ist Schlagen nicht der Beruf der Redenden. Die Hemmung ist womöglich das, was ein Gespräch zum Gespräch macht. Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Aber wie steht es mit dem Sterben ? Aus den überfüllten Gängen der Conciergerie war Geschrei zu hören. Die Fleischerhunde im Hof schlugen an. Sans­ culotten, mit Piken bewaffnet, hatten das Gefängnis betreten, an ihrer Spitze wiederum ›der ruhmreiche Versehrte‹, wie seine Anhänger ihn nannten, der schmissige Krückengänger, in seiner Hand eine Liste. Vor Schlabrendorf machte er Halt: »Wir führen dich zur Guillotine, Bürger Schlabrendorf. Du hast die Revolution verraten. Ci-devant eben. Lang lebe die Vernunft !« »Kann man zu leben auffordern, was man im selben Moment umbringt ?«, entgegnete der Angeredete. Ein Hieb traf Schlabrendorf am Schädel, aber er hielt sich aufrecht. Die Sansculotten und ihr Anführer schritten weiter durch die Zellen ; seine Liste war lang. Für den würdigen Gang auf den Richtplatz brauche ich meine Langschäfter, dachte Schlabrendorf, zumal es regnet. Keine Exekution ohne Schuhe, auch das ist Sache der Vernunft. Wo sind sie bloß hingekommen ? Ich kann mich nur enthaupten lassen, wenn ich meine Stiefel finde. Doch sie waren nirgends zu entdecken.

56 | On le forcera 

ARKONA 



Gespräch auf Rügen

U

rsprünglich hatten sie einen anderen Weg nehmen wollen. Der, auf den sie geraten waren, führte durch den Wald. Eben begann es zu dunkeln, als sie, von Altenkirchen her kommend, zu dem mächtigen Kreidefelsen gelangten, dessen Höhlen die darin nistenden Seevögel um diese Zeit verließen. Leicht mit oder gegen den Ostwind segelnd, zogen diese auf abendlichen Raub. Die Menschen aber umspielte die starke Brise nicht ; sie schlug ihnen ins Gesicht. Auch der Wall der Tempelburg, welche die Ranen hier vor tausend Jahren zu Ehren ihres viergesichtigen Gottes Svante­ vit errichtet hatten, schirmte sie kaum vor dem rauhen Wetter. Sie wandten sich von Kap Arkona ab und wanderten eine Weile die Steil­küste entlang. Unten schlurfte das Wasser heran, spritzte und staubte in Bogen, bildete kleine Seen in den Felsmulden, fiel in Bächen wieder herunter. Bei dem Fischerdorf Vitt fanden sie sich vor den Böen geschützt ; doch immer noch fröstelten alle vier. Sie lasen Treibholz auf, das trocken genug war, ein Feuer zu entzünden. Lange blickten sie schweigend in die Flammen. Diese schienen spielend Figuren zu bilden, welche sich, kaum entstanden, in andere wandelten. Endlich brach die Älteste das Schweigen. Dorothea:  Und nun ? Caroline:  Tun wir doch so, als ob wir miteinander reden könnten ! Dorothea:  Lux erat in flammis August Wilhelm:  maior quam flamma urebat Caroline:  nam, cum tres pueros Babylonis voluisset perdere rex Friedrich: vidit iunctum quasi quartum. Dorothea:  So wärest du der Vierte, Friedrich, »in quem credere dignum est«, der Erlöser, uns rettend durch eine neue Mythologie ?

 57

Caroline:  In diesem Fall ließe ich mich lieber durch Babylons König verderben … August Wilhelm:  … sofern er dich nicht längst verdarb. Caroline:  Das Feuer, scheint mir, macht dich unverfroren. Dorothea:  Nimm, Caroline, seine Sottise mit Gleichmut. Wohlbedacht ist in dem erhabenen Antiphon nach Daniel, dem Propheten, »pueros« gesetzt und nicht »puellas«. Derselbe Grund salviert selbstredend auch mich. Caroline:  Was täte ich nur ohne deinen philologischen Beistand ? Friedrich: »Salvator erat | quem flamma timebat«  – weshalb fürchtete die Flamme eigentlich den Erlöser ? Dorothea:  Weil sie, anders als das reine Licht, Heidin ist. Ein Beigemisch der Finsternis zum Licht erzeugt erst ihren Reiz, das Flackern. Sehen wir es nicht hier feurig vor uns, Gestalt in Gestalt sich wandelnd, Gestalt mit Gestalt sich gattend ? Flamme sein heißt: nichts bleibt, was es war. Aber wenn das heidnisch ist, mag es ebensosehr menschlich heißen. Friedrich: Keiner gleicht dem anderen, keiner gleicht stets sich selbst. August Wilhelm:  Immerfort sich wandelnd, aber nicht ungreifbar. Die ganze Welt … Caroline:  – es versteht sich, daß damit einer wie du sonderlich die papierne meint – August Wilhelm:  … die ganze Welt ist voller – nun, um es kurz zu machen: Wir sollten, scheint mir, die Mythen aller Völker sammeln und vergleichen. Dorothea:  Mythen in Tüten, je Volk eine ? Caroline:  Tüten werden nicht taugen. Schüsseln bräuchte man für solch ein Ragout. Aber wollen wir es überhaupt, dies Futter zum Verfüttern ? Es zieht Gesellschaft an, die man kaum um sich haben mag: ein Köder für die Plattfische der Tiefsee. Dorothea:  Zieht so ein Gegensatz an: unser Feuerzauber das Wassergetier ? Nun – notfalls könnten wir es über der Flamme rösten. Friedrich: Der Rest ist Verdauung. Caroline:  Ich fürchte, du mutest ihr Unverdauliches zu. Dorothea:  Sei indes unbesorgt, auf Rügen sind wir unter uns … 58 | Arkona 

Friedrich: … und damit sicher vor der platten Tiefe, zu seicht zum Schwimmen und doch bodenlos genug, drin zu ersaufen. Caroline:  Ich will euch gerne glauben, nur: Sind wir, entre nous, auch vor Ennui sicher ? Dorothea:  Wir werden’s sicherstellen. Nun, Wilhelm, dann  – eh’ du in deiner üblichen Manier genauestens berichtest, was du vollbracht hast, du vollbringst und noch vollbringen wirst – sag’ rasch uns an, wozu es gut sein soll. August Wilhelm:  Kraft meiner Kenntnis des Sanskrit wird es mir gelingen, die Mythologie der Veden darzustellen. Ich finde in diesen Schriften, welche die Brahmanen vor drei Millenien niederlegten, die Religion der Griechen, aber natürlicher, einfacher, reiner, abstrakter, ohne lachhafte Anekdötchen aus dem olympischen Gewimmel, ohne allerhand törichten Ehebruch … Caroline:  … der doch die Mythologie erst erträglich macht – unterhaltsam sogar. August Wilhelm:  Ich brauche keine Widersacher. Caroline:  Sondern ? August Wilhelm:  Mir fehlt jemand, der das Tequistlatekische beherrscht. Überhaupt brauche ich Komplizen. Dorothea: Die wirst du für deine Theorien unter uns wohl kaum finden. Zu kompliziert. Caroline:  Eher, will mir scheinen, zu einfach. August Wilhelm:  Mit jemandem, der Unterhaltung sucht, Wissenschaft erörtern zu wollen, wäre offenbarer Widersinn. Dorothea:  Fragen schiene mir hier eher am Platz denn solch selbstgewisses Voraussetzen. Wenn wir über Mythologie reden, was reden wir dann: Wissenschaft oder Mythologie ? Friedrich: Ist nicht die Wissenschaft unsere Mythologie, die des gegenwärtigen Zeitalters ? August Wilhelm:  Du sähst uns gern als Svantevit, den Gott mit den vier Köpfen, und hast uns darum nach dem wilden Kap gelotst. Friedrich: Nach dem rechten Ort, meine ich, uns auszulüften vom Staub der Gelahrtheit. Caroline:  Lassen wir Wilhelm seine stolze scientia. Doch Wissenschaft, frei von Vorurteil, wäre gerade die, welche neben der reinen Konzentration auch das unreine Divertissement zu würdigen wüßte. Gespräch auf Rügen | 59

Friedrich: Wider Carolines losen Sinn, Bruder, sollte ich dich wohl in Schutz nehmen, selbst um den Preis einiger Vorurteile ; allein, es wird mir nicht leicht damit. Mir mißfällt bereits, daß du die Mythen überhaupt vergleichst. Vielmehr ist doch jede Mythe einzig in ihrer Art – ein Kunstwerk. August Wilhelm:  Ob etwas einzig in seiner Art ist oder nicht, wirst du nur herausfinden, indem du es gegen anderes hältst – also: vergleichst. Dorothea:  Du redest ganz wie die verständigen Köpfe, die Herren Aufklärer, Erklärer, Wegerklärer jeden Geheimnisses. August Wilhelm:  Ihr werdet mich doch nicht mit dem alten Gottsched oder gar dem antediluvianischen Fontenelle verwechseln ? Caroline:  Einen Versuch hast du noch frei, dich nicht verwechseln zu lassen. Worum dreht sich deine Wissenschaft der Mythe ? August Wilhelm:  Wer eine Mythe macht, der greift in deren je besond’rer Weise auf die Welt zu. Das folgt aus einem allgemeinen Grundsatz: Wer etwas macht, will etwas bewirken. Friedrich: Bewirken ? Du könntest schnöder nicht benennen, was in Wahrheit die wunderbare Verwandtschaft aller Dinge angeht. August Wilhelm:  Von gewissen Wundertätern ist bekannt, daß sie Nadeln in eine Puppe stechen, um den Menschen zu verletzen, in dessen Bild die Puppe gemacht wurde. Wunderbare Verwandtschaft beider, allerdings … Caroline:  … die dir lächerlich erscheint, weil du die Menschen geradewegs mit Nadeln traktierst, nicht ihre Puppen ? August Wilhelm:  Schwatzen wir nicht davon, wie ich handle ; wie Handeln im Bann einer Mythe beschaffen sei, möchten wir wissen. Caroline:  Eben dies. Als du die lange Reise nach Prag unternahmst, küßte ich das Bild, das Tischbein von dir malte. Wollte ich damit etwas bewirken ? Gewiß nicht an dir. Falls ich etwas zu wirken begehrte, dann meine eigene Befriedigung. Oder: Auch diese wollte ich nicht bewirken ; sie lag in der Handlung selbst. August Wilhelm:  Was nur beweist, daß du mich nicht auf mythische Weise liebtest und liebst. Caroline:  Das ist nun allerdings wunderbar ! Hätte ich etwas be60 | Arkona 

wirken wollen, wäre deine Lehre bestätigt gewesen ; da ich nichts bewirken wollte, bin ich nicht mythisch und bestätige durch den Kontrast gleichfalls deine Lehre. Vielleicht darf ich dir, allein zu weiterer Erhärtung deiner Doktrin, mitteilen, daß ich kürzlich ein Schreiben von dir in Stücke riß – ohne die geringste Absicht, dich selbst zu zerfetzen. August Wilhelm:  Es war, hoffe ich, nicht der Brief über meine mythologischen Entdeckungen im Hinblick auf die Göttlichkeit der Weiber ; die Nachwelt würde ihn unschätzbar finden. Caroline:  Nein, es war ein Zettel vom selben Tag über Besorgungen, die ich für dich zu erledigen hätte. August Wilhelm:  Angesichts solcher Mitteilungen hoffe ich, lieber Friedrich, deine heilbringende moderne Mythologie werde uns keine Neuauflage der Mänaden bescheren. Friedrich: Fabelhaft, daß du langsam beginnst, mich apostolisch zu behandeln, aber … Dorothea: … aber, aber, aber mit deinem neuerlichen Nadelstich gegen die anmutige Caroline und vielleicht auch gegen mich kommst du, Wilhelm, ohne es zu merken, der Wahrheit näher, als dir lieb sein wird. Weder Versuche, etwas zu bewirken, sind die Mythen, noch Befehle, die Welt ihnen gemäß zu sehen. Erst recht nicht sind sie einfach autorisierte Lügen. Eine Mythe ist nicht die Verwandlung eines Ereignisses der Geschichte in Natur und auch kein Abbild dessen, was wirklich geschah. Sie ist, mit anderen Worten, keine Sage. August Wilhelm:  Mytheomai, sagen – das sagt dir jedes griechische Wörterbuch. Dorothea:  Daß Mythen gesagt werden, bestreite ich nicht. Und doch ist der Mythos das Gegenteil der Sage. Die Sage trifft vielleicht zu, aber ist nicht wahr ; der Mythos ist wahr, aber trifft nicht zu. Nehmt eine Sage, wie die von der Päpstin Johanna: Sobald sich erweist, daß die Nachricht, die sie enthält, nicht zutrifft, schwindet das Interesse an ihr. Der Mythos von Herakles hingegen übersteht es ohne einen Kratzer, wenn die Philologen aufzeigen, daß seine Geburt in Theben nicht belegt ist. Die Sagen erzählen nur, oder doch oft, Bedeutungsloses ; im Mythos hingegen hat alles Bedeutung. Darum sind die Sagen bloß Gegenstand der Forschung, die Mythen hingegen zugleich der Deutung. In dem Maße, in dem Gespräch auf Rügen | 61

die Seele höher steht als ein Ding, stehen die Mythen höher als die ­Sagen. Friedrich: Was ist dann ihr bedeutsamer Inhalt ? Dorothea:  Mythen stellen die Träume der Menschheit dar, ihre Wunschträume … August Wilhelm:  … auch ihre Alpträume ? Dorothea:  Allerdings, auch ihre Alpträume – warum auch immer die Mänade gerade dein eigentümlicher Alp ward. August Wilhelm:  Und ich gehe gewiß nicht fehl in der Annahme, daß wir in dir die berufene Deuterin dieser Träume vor uns haben, die Enthüllerin des Verhüllten ? Dorothea:  Ich würde wohl kaum den Mund so voll nehmen und behaupten, die Mythen seien Träume, wagte ich nicht, sie zu deuten. Friedrich: Ist dieses Deuten eine Kunst oder eine Wissenschaft ? Dorothea:  Eine Kunst. August Wilhelm:  Gehorcht also keiner Methode ? Dorothea:  Das Deuten gehorcht der Methode nicht, läßt sie aber zu – sofern sie mit Kunst gehandhabt wird. August Wilhelm:  »Though this be madness, yet there is method in ’t.« Dorothea:  Du grollst nur, da Caroline den Wahn deiner Wissenschaft allzu schnell erkannte. Friedrich: Vierer Köpfe bedarf’s, die Erde zu überschauen, und vielleicht blickt nun gerade der Dorotheens in die richtige Richtung. Zunächst also: Ist die Mythe Rede der Urweisheit oder Gebrabbel der Kinder ? Dorothea:  So oder so zu entscheiden, werde ich mich hüten. Friedrich: Wie also stellst du’s an, die Mythen recht zu deuten ? Dorothea:  Das ist nicht einfach ; dreierlei gehört dazu. Das Erste ist: Sie handeln von uns selbst. Mutato nomine de te fabula narratur. Obschon von der Sage zu scheiden, ist ›Mythos‹  – darin hat Wilhelms Wörterbuch Recht – das Gesagte. Doch was ist gesagt, wenn etwas gesagt ist ? Wer etwas sagt, der offenbart zwar – offenbart etwas und offenbart sich. Indem er dies tut, verhüllt er aber zugleich etwas – vor anderen und vor sich. Indem er eines zeigt, verbirgt er and’res. Auf eines weisend lenkt von anderem er ab. Caroline:  »Auf eines weisend lenkt …« Du sprichst in Jamben. 62 | Arkona 

Und achtest überhaupt eher darauf, daß das Gesagte rhythmisch, als daß es richtig sei. Friedrich: Mit Versfuß oder ohne – wenn zeigend verbergend die Mythen ironisch werden, soll mir die Lehre recht sein. August Wilhelm:  Mir nicht. Sagen die Mythen doch, anders als du, geradeheraus, was sie meinen. Nehmt die Mythe von Orpheus: Ein Mann kann eine Frau so sehr lieben, daß er – ihr Leben aufs Spiel setzt. Caroline:  Wir notieren dies als Zeugnis männlicher Selbstkritik und lassen das geliebte Weib nicht sterben, sondern in seinen Erläuterungen fortfahren. Dorothea:  Ich danke dir ; um mich erkenntlich zu zeigen, werde ich jetzt auch das Metrum vernachlässigen. Caroline:  Prosaisch sprechen ist das größte Opfer unter Romantikern. August Wilhelm:  Das zweitgrößte. Das größte wäre, nicht zu sprechen. Dorothea:  Dann entscheide ich mich für das zweitgrößte. Daher weiter im Stoff und zweitens: Das Verborgene aufzeigen heißt die Rätsel der Mythen lösen. So steht in ihnen Kot für Geld, also das Wertlose für das Wertvolle. Für den Tod, der unsere Lebensreise abbricht, steht gerade die Reise. Für die Geburt, unseren Weg aus dem Fruchtwasser an die Luft, steht das Hineinfallen in ein Gewässer. Und für Nacktheit steht ein Gewand. August Wilhelm:  Ich möchte unserer furchtlosen Allegorikerin ja nicht zu nahe treten – Dorothea:  Das bist du ohnehin längst. August Wilhelm:  Nun denn ; ich suche mir nur zu denken, wie einer nach diesem freundlichen Verfahren deinen eigenen mythologischen Namen, Dorothea, deuten müßte … Caroline:  Keine Regel ohne Ausnahme, werter Wilhelm, gerechterweise, da wir uns sonst stets deinethalben zu Ausnahmen bequemen. Doch zurück zur Regel, Dorothea, nach wie vor Geschenk Gottes: Wer täuscht nun wen in deinen mythologischen Versteckspielen ? Dorothea:  Ein jeder sich selbst und and’re. August Wilhelm:  Sofern einer sich selbst täuscht, wirst du uns sagen müssen, was an ihm welch anderen Bestandteil betrügt. Gespräch auf Rügen | 63

Dorothea:  Betrügt  – ein garstig Wort für solch wohltuenden Schein. Der stolze, frei bewußte Mensch: er wird nicht gern daran erinnert, in welchem Zustand man ihn einst in die Welt setzte, auf der er zum Verrecken ist. Drittens daher: Von dem Bewußten unterscheide ich, nach Hardenbergs treffender Prägung, das Unbewußte. Dieses täuscht, und jenes läßt nur allzugern sich täuschen. Denn das Bewußte liegt obenauf, das Unbewußte rumort unten. Es ist wie beim Meer, das ihr vor euch seht: Die Oberfläche mag nur leicht erzittern, während es in der Tiefe mächtig strömt. Friedrich: Und dort am Grund der See herrscht Rán, die Räuberin. Die Ertrinkenden zieht sie mit ihrem Netz in die Tiefe. Erwarten wir vom Unbewußten keine bürgerlichen Sitten ! Caroline:  Das Wilde, sagt ihr, sei das Unbewußte. Indes, bei vielem kann unser Bewußtsein schlafen, allein schon, weil es seiner nicht bedarf. Was das Bewußtsein nicht zu sehen braucht, ist dann das Unbewußte, statt das, was es nicht sehen will. August Wilhelm:  Du überraschst mich, Caroline. In dir erblüht der Geist der Wissenschaft. Friedrich: Von dieser Blüte Duft haben wir an dir, Wilhelm, mehr als genug. Ich lasse es mit solchem Aroma in der Nase lieber vom Volke her stinken und werde euch die Mythe weitersagen, die mir gestern einer daraus erzählte. Erzählte ? Nein: Mit Händen und Füßen vorgespielt – denn eine Szene ist’s – hat sie mir der alte Bauer bei Poseritz, naiv und zugleich mit scheelem Blick. Mit einem Blick, der Frevel versprach. Caroline:  Du meinst das bucklicht Männlein ? Friedrich: Das selbige, Dorschel genannt, da seine Familie vordem an Pommerns Küsten vom Fischfang sich nährte. Ein trief­ äugiger Hund, wohl aus dem Geschlecht von Odysseus’ treuem ­Argos, zottelt beständig hinter ihm her. Caroline:  So lasse ich mich gern durch dich, »in quem credere dignum est«, kraft des Geistes homerischer Hunde, vom Geist der Wissenschaft erlösen. Friedrich: Es sei versprochen: das Chaos läßt die Mythe durch den Flor der Ordnung schimmern. – In den erzenen Zeiten, als der Himmel noch tiefer hing, lebten in Rügens Mitte, dort, wo jetzo der Weiler Güttin liegt, zwei Oger, Rujevit und Porevit. Obschon Rujevit, der Spieler, von üblem Wesen war, ließ der andere, der 64 | Arkona 

freundliche Porevit, nicht ab von der Freundschaft zu ihm. Rujevit war dem Hang verfallen, bei allem, was er trieb, den bösen Geist Rügens anzurufen, den dreiköpfigen Triglaw. Der arge Brauch war mit Rujevits Wachsen gewachsen und mit seinem Erstarken stark geworden ; endlich vermochte der Oger kaum noch einen Satz zu sagen, ohne ihm »Hol’ mich der Triglaw !« oder »Ich wette meinen Kopf gegen den Triglaw !« hinterherzubrüllen. Als Rujevit und Porevit nun eines Tages Arm in Arm gen Arkona wanderten, kamen sie zu der einst von den Riesen gebauten, überdachten Brücke, die zu jenen Zeiten über den Jasmunder Bodden nach Wittow trug. Die Düsternis des nur mit wenigen Fenstern versehenen Baus drückte Rujevits Übermut nicht ; im Gegenteil. Er frohlockte und hüpfte ausgelassen in der Brücke hin und her. Als die beiden sich dem Ende des Übergangs nahten, gelangten sie zu einer hohen Hürde, die indes nicht schwer zu öffnen schien. »Ich verwette meinen Kopf gegen den Triglaw«, rief Rujevit munter, »daß ich diese Sperre überspringen kann !« Noch ehe Porevit ihm widerraten konnte, hörten sie ein Husten aus dem Gebälk über ihnen. Darin hockte ein lahmer alter Gnom in weitem schwarzem Gewand. Sein Haar war vorn gescheitelt wie bei einem Mädchen ; die Hände hatte er gedankenvoll über dem Leib gefaltet ; sein Blick aber schien vor Neugierde zu brennen, ob Rujevit das Gesagte wahr machen werde oder ob er nur großgetan habe. Dies reizte den Oger erst recht ; er nahm langen Anlauf und sprang gewaltig vom Boden der Brücke ab. Doch gerade unter der Hürde fiel sein Leib jäh rückwärts. Der Gnom griff rasch nach etwas, barg es in seinem Gewand und hinkte von dannen. Als Porevit den Rujevit am Boden liegen sah, merkte er erst, daß diesem das Haupt fehlte – es war auch sonst nirgends zu erblicken. Wieder nach oben spähend, erkannte Porevit, über die Hürde gespannt, eine feine, scharfe Klinge ; sie mußte Rujevit den Hals durchschnitten haben. In der Gestalt des greisen Gnomen hatte sich niemand anders als der dreiköpfige Triglaw verborgen – und er hatte die Wette gegen Rujevit gewonnen. Dorothea:  Dies zu deuten bin erbötig ! Die erste Frau im Leben jedes Knaben ist seine Mutter ; ihr also gilt sein erstes Begehren. Doch dies Weib ist stets schon vergeben: dem Vater gehört es. So sinnt der Knabe unbewußt auf dessen Tod. Ein rebellischer Sohn solchen Schlages ist Rujevit. Aus seinem Lästern des Triglaw spricht Gespräch auf Rügen | 65

das Aufbegehren wider den Vater. Was aber ist, nach dem Gesagten, das schlimmste Erlebnis im Leben eines Knaben ? Wenn er heimlich erspäht, wie der Vater die Mutter besitzt. In diesem Akt verbindet das Werkzeug der Männlichkeit des Vaters die Leiber der Eltern wie – nun, ihr erratet es ! – eine Brücke. So steht auch die Brücke in dieser Mythe einerseits für das große, in der Phantasie des Kindes gewaltig erscheinende Werkzeug der Männlichkeit des Vaters. Die Römer nannten ihren höchsten Priester ›Pontifex‹ ; im Brückenmacher konzentrierte sich die Potenz all ihrer Patriarchen. Der Bau der Mythe von Rujevit ist indes kein bloßer Steg. Die Mythe malt die Brücke zur überwölbten aus ; der runde leere Gang bedeutet andererseits, zugleich, das Organ der Weiblichkeit. In die Mutter dringt Rujevit erregt ein – frohlockend, wie es in der Mythe heißt. Als er jedoch nahezu den Höhepunkt erreicht hat, gegen Ende der umschließenden Höhle, lauert der Vater Rujevit auf. Dies ist der Sinn von Triglaws Schranke. Das mütterliche Organ offenbart sich dem Sohn als unerkanntes Werkzeug väterlicher Macht. Ein letztes Mal begehrt er gegen diese auf. Trotz des Vaters hat der Knabe sich der Mutter genähert, und mehr als nur genähert: Die Wette gilt. Doch der Sprung mißlingt. Der Vater vollzieht am Sohn, mittels der scharfen Schneide, die Entmannung. Die tragische Mythe hat sich erfüllt. Friedrich: In meiner Hoffnung, bei dir werde die Mythe sich ironisch zeigen, finde ich mich getäuscht. Ich stelle mir die Mythologen unter jenen harten Altvorderen als freche, vorwitzige Leute vor  – kaum anders als die neuen Mythologen, die ich mir heut’ erträume. Ihr werdet schon bemerkt haben, daß es in den Mythen sonst selten moralisch zugeht. Aus dem Gebräu, welches mir der Bauer zu Poseritz vorsetzte, trieft aber aus allen Ritzen – und sein Gefäß hat viele Ritzen  – die Moral. Das erkläre ich mir so: Jene Altvorderen werden eines Tages zu dem Geschichtenerzähler des Stammes gekommen sein und ihm verkündet haben, er solle beim nächsten Mal gefälligst der Sitte seine Reverenz erweisen. Dies eine einzige Mal, unter allen Rügenschen Mythen, hat er ihr Begehren erfüllt. Er hat das Fluchen verflucht. So hat er ihr Begehren übererfüllt – bis zur Parodie. Wir irren nämlich, wenn wir uns die alte Menschheit immer ernst vorstellen. Sie war gewiß so witzig wie wir – in ihren besten Geistern, den Mythopoeten, vielleicht witzi66 | Arkona 

ger. Nur wir sind tauber geworden und haben verlernt, das Gelächter aus dem Überlieferten herauszuhören. Dorothea:  Es wäre nur zu vergnüglich für uns, wenn du recht hättest. Ich fürchte indes, du machst dir diese alten Mythenbildner nach der Manier unserer Zeit zurecht – wie du sie uns vorführst, wird sich heut’ ein listiger Zeitungsskribler betragen, nachdem die Redaktion ihn rügte. Caroline:  Du meinst, Friedrich komme in seinem Anachronismus nahezu – an dich selber heran ? Dorothea:  Worauf willst du hinaus ? Caroline:  Dem, was seit Urzeiten die Bauern sich erzählen mögen, legst du die Angst moderner Bürgersöhne unter. Dorothea: Unserem raffinierten modernen Denken vermag eben nichts zu widerstehen – weder das raffinierte Moderne noch das einfältige Alte. Caroline:  Raffiniert ? Mir scheint, just du triebst die Sache allzu simpel. Nicht einmal die Anfänger der Deutungskunst, die Philologen von Alexandria, hielten es so schlicht. Dorothea:  Ob schlicht oder subtil – immerhin suche ich mir die Sache zu erklären. Euch hingegen ist die unerklärte dunkle Sache lieber als die erklärte helle. August Wilhelm:  Mir war sie es nie. Nun rächt sich an dir, daß du mich vorhin einen Wegerklärer nanntest. Caroline:  Sonderlich hell ist mir die Sache nicht geworden durch euch beide. Dorothea:  Erklär’ dich näher. Friedrich: Wie du nun nachfragst, schürst du Carolines Feuer, das ich in ihren Augen lodern seh’  – und eh’ du dich versiehst, wird, was du dir erdachtest, in Flammen aufgegangen sein. August Wilhelm:  Sein großes Gedicht vom Brand Roms schrieb der Dichter Anfang September, bei mäßiger Hitze. Hätte die Kälte schon eingesetzt, wäre er auf ein anderes Thema verfallen, und bei übermäßiger Hitze hätte er nicht schreiben können. Ein Gleichnis. Caroline:  Ich brenne wirklich jetzt vor Geist des Widerspruchs. – Mehr Treue zum Bekannten, nach dem Vorbild homerischer Hunde, fordere ich von der Behandlung der Mythe. Bei dir, Dorothea, darf nichts sein, was es ist. Dasselbe umgekehrt gesagt: Alles muß sein, was es nicht ist. Eine Brücke darf keinesfalls eine Gespräch auf Rügen | 67

Brücke sein: erster Grundsatz deiner Kunst des Auslegens. Weshalb eigentlich ? Dorothea:  Weil das Unbewußte stets anderes will als das Bewußtsein, der große Zensor, zu sagen erlaubt. Caroline:  Deine Arbeit, den wahren Sinn aufzudecken, ließ von der angekündigten Maxime, jedes mythische Bild im gegenteiligen Sinn aufzufassen, nichts übrig. Statt für ihr Gegenteil stehen Brücke, Hürde, Klinge in deiner Deutung für ein gemäß bestimmten Absichten assoziiertes anderes. Dorothea:  Das Unbewußte redet aus der Mythe, doch gebrochen. Wie es bricht, folgt keiner Regel. Mein Deuten aber macht jeden Bruch rückgängig. Caroline:  Dein Dogma. Wir müssen es dir wohl zugestehen, nähmen wir auch selber die Dinge lieber so, wie sie sind ; ohne diese Konzession wären wir mit dem Gespräch zu Ende. Doch selbst mit ihr geht deine Rechnung nicht auf. Dorothea:  Rechne ich denn ? Caroline:  Du rechnest jedenfalls mit etwas, das nicht eintreten kann. Dorothea:  So mach’ die Gegenrechnung auf. Caroline:  Ein Wort bedeutet etwas allein im Satz, der ihm Umgebung schafft, Verwandtes ihm zur Seite stellt und Freundliches ihm beigesellt, auch Feindliches vielleicht ihm gegenübersetzt. Charakter, Farbe, Sinn auch endlich gewinnt das Wort nur da. Ich kann mir leicht zehn Sätze denken, in denen ›Brücke‹ zehnerlei bedeutet. Friedrich: So viel ist wahr: Wie du die Mythe auslegst, Dorothea, läuft jedes Ding, wenn’s länger ist als breit, Gefahr, daß du es einem Vater vorne anhängst – und dann zum »Werkzeug seiner Männlichkeit« erhebst. Caroline:  Damit noch nicht genug: Bedeutung hat ein Satz nun ferner erst in den Geschichten, deren Teil er bildet. Der selbe Satz meint zehnerlei in zehn Geschichten ; er ist insofern nicht der selbe Satz. Friedrich: Ich begreife ; nicht am einzelnen Element haftet der Sinn der Mythe, sondern an der Weise, in der die Elemente zusammengesetzt wurden. Wie weiter ? Caroline:  Nun  – die Geschichten wiederum, selbst wenn sie 68 | Arkona 

gleichen Wortlaut hätten, bedeuten doch Verschiedenes je nach der Art des Lebens. Erzähle die Geschichte von Achill im alten Sparta und heute oder morgen unter uns – so hast in Wahrheit zweierlei Geschichten du erzählt, Ansporn zum Kampf in Sparta und ein fernes, fremdes Echo entsetzlicher Gewalt und Härte hier in uns’rem Zirkel. Dorothea:  Verstündest du es demnach besser, den Mythen auf den Sinn zu kommen ? Caroline:  Was wissen wir denn von der Art des Lebens der alten Mythenbildner – zumal, wenn sie nicht Griechen waren und nicht Römer ? Kaum etwas wissen wir – es ist so gut wie nichts. Die Tänze, die sie tanzten: ausgetanzt sind sie, vergangen. Die Arbeit, die sie taten, ist verrichtet und verschwunden. Ihr Essen, Trinken, Feiern, Lachen, Lieben – es ist fort. All dies, die ihnen eig’ne Art zu leben, gab ihren Mythen erst Bedeutung. So ist auch deren Sinn für immer uns verloren. Nur wer ein Leben führte mitten unter Mythenbildnern, verstünde, was es mit den Mythen auf sich hat. Friedrich: Und wenn ich’s recht verstehe, verstehst du das ›Verstehen‹ auch ganz anders. August Wilhelm:  Anders als wer ? Friedrich: Anders als du, wenn du so mit System, gelehrig und gelehrt durch’s Feld der Veden ackerst. Caroline:  Allerdings. Und anders auch als Dorothea, wenn sie Seelen voll Mißtrau’n abseiht wie mit Netzen, um Triebe, die verborgen wimmeln, einzufangen. Friedrich: Allein an mir hast du nichts auszusetzen, da ich erzählte, nicht erklärte. Caroline:  Wir lesen Satz um Satz und denken dann: dies also ist die Mythe. Doch war sie denn von dieser Art, als sie gedieh ? Zu später Zeit erst wird die Religion geschwätzig, und aufgeschrieben ward die Mythe, als sie tot war – eben weil sie starb: ein Altertum, zu fern und fremd, daß man’s im Kopf behielte. Was wir jetzt vor uns haben, ist bloß Übersetzung – wovon ? Verloren ging das, was man übertrug. Matt spricht ein Dolmetsch zu uns vom Papier. Originales suchen wir vergebens. Solang’ die Mythe noch bei Kräften war, da spielte sie vor allen und durch alle, als Festzug, Tanz und blut’ges Opfer, das ein Priester stumm vollzog. Friedrich: Und das war – gut ? War besser als zu uns’ren Zeiten ? Gespräch auf Rügen | 69

Caroline:  Was nennst du gut ? Was besser ? Tut das zur Sache, wenn es einst so war ? Wird heute zu Berlin ein Pastor und Geheimer Rat den Ochsen Messer in die Kehle treiben und Herrn wie Damen schau’n mit Inbrunst zu ? Was ist, das ist, und was gewesen ist, das ist gewesen. August Wilhelm:  Die Kreid’ an Rügens Küste, | Ist nicht so weich und weiß, | Als dein Geist hart und schwarz ist, | Du aller Mädchen Preis  ! Caroline:  Mit deiner Ironie ist durchaus nicht zu scherzen. August Wilhelm:  In der Tat  ; ich meine es nämlich ganz ernst. Friedrich: Es mag so sein, wie Caroline sagt: Die Mythen sind versunken. Versunken aber ist, ihr wißt es, auch Arkona, Rügens reiche Hauptstadt. Denn wo wir standen, bei dem Tempel Svantevits, war einst ihr Marktplatz. Davor, wo heute Wogen branden, erhoben früher mächt’ge Bauten sich. Dorothea:  Sie stehen noch, so sagt man. Friedrich: Die Welt kennt nicht nur Zeiten ; Gezeiten hat sie auch. Am Grund der Ostsee ruht Arkona jetzt ; zuzeiten aber steigt empor sie, gleich Vineta, aus den Fluten  – man sieht dann ihre Häuser, Wälle, Türme. So ist’s auch mit den Mythen. Versunken sind sie zwar, an manchem Tage aber tauchen sie hervor. August Wilhelm:  Falls es sich wirklich nur um einen Tag handelt, lasse ich mir den abgöttischen Spuk dieser Unstadt gefallen. Friedrich: Der Mythos, muß ich dir leider sagen, rechnet in anderen Zeiten als dein Kleingeist ; was ihm Tag heißt, währt in unserer armseligen Buchführung tausend Jahre. August Wilhelm:  Das überlebe ich nicht. Friedrich: In der Tat ; es überlebt dich. Caroline:  Die Frage ist gestellt: Wer überlebt ? Steigt, wie’s geschieht, Arkona aus den Wellen, dann sind, so raunt man, ihre Straßen menschenleer. Was aber wollen wir mit einer toten Stadt ? Einer durchlöcherten Steinkatakombe ? Die Frage magst du, nach deiner eigenen Analogie, auf die Mythen übertragen. Friedrich: Noch etwas hat das bucklicht Männlein mir vertraut. Triglaw gewann die Wette gegen Rujevit – doch er verlor sie auch. Wie einst die Griechen sagten, daß Orpheus’ abgeschnitt’ner Kopf stets weitersinge, so heißt es auch auf Rügen, das Haupt des Rujevit erscheine noch auf dieser Insel, die Geisterwelt zu lästern. 70 | Arkona 

Caroline:  Was wiegt ein guillotiniertes Haupt, das so fortplappert, gegen Arkonas leere Straßen ? Friedrich: Ich weiß es wohl ; das Tote müssen wir lebendig machen. Caroline:  … das Tote – lebendig ? Friedrich: In Wahrheit meine ich: die Toten ; denn so ist’s Menschenart. Kein Tier sorgt sich um seine Toten ; sie bleiben liegen und verrotten. Die Kadaver lassen ihren Nachwuchs in Ruhe, und daher dieser sie. Die gewesenen Menschen aber stiften Unruhe. Hamlets Vater kehrt zurück, da keiner ihn rächte. Die Menschen müssen ihre Toten stets erst beruhigen, und so gibt es, wo immer Menschen leben, einen Kult der Toten. Der Totenkult des Geistes aber heißt Mythologie. Sie erhebt die toten Helden zu Göttern – gewiß nicht, weil die Mit- und Nachwelt der Helden diese so sehr liebte und liebt. Im Gegenteil. Die Toten lasten wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Sie zu Göttern zu erheben, ist die beste Art, ihrer Last ledig zu werden – sich die Toten vom Gehirne zu schaffen. Ich kann es kaum erwarten, Goethe diese Verwandlung angedeihen zu lassen und, durch den Witz romantischer Poesie, zum Mythologen dieses Herrn zu werden … Caroline:  Die Toten lebendig zu machen, sagtest du. Aber hast du nicht eher im Sinn, sie gründlicher zu töten ? Friedrich: Verhörst du mich ? Gleich einem fahlen Montagmorgen in Potsdams Gendarmerie fühlst du dich an. Solange du das Fabelhafte derart roh und kalt benennst, wirst du es nie zur Mythologin bringen. Ich meine beides. Caroline:  Das widerspricht sich selbst. Friedrich: Was sich nicht selbst widerspricht, bleibt unvollständig. Jener Widerspruch, der wunderbar ewige Wechsel von Enthusiasmus und Ironie, ist nichts anderes als die neue Mythologie. Caroline:  Sie ist, fürchte ich, erfüllt von Enthusiasmus für sich selbst und voller Ironie gegen alles, dem sie nicht gewachsen ist. Friedrich: Wir können wirklich nicht miteinander reden. Caroline:  Doch mit Aplomb haben wir so getan, als könnten wir es. Dorothea:  Etwas, das nicht weiter geht, sollte zu Ende gehen. Diesen Gefallen aber tut uns das Etwas nicht. Denn zu Ende wäre auch ein Weiter. Wir müßten es also zu Ende bringen, es, härter Gespräch auf Rügen | 71

gesagt, umbringen ; das wiederum liegt einem poetischen Gemüt nicht. So beschließen wir, das, was nicht weitergeht, sei eigentlich schon zu Ende. Von selbst. Wir stellen fest, dagegen sei nichts zu machen. Wir erinnern uns, dies von Anfang an gewußt zu haben. Und wir beginnen, sofort, mit der Nostalgie: Wie schön war dieses Gespräch, wie unwiederbringlich ! Jemand hätte es aufschreiben müssen. Das Feuer war heruntergebrannt. Nur einzelne Späne glommen noch und erleuchteten mehrere seltsame Windungen, die sich in der Asche abgesetzt hatten. Wie Schriftzeichen einer fremden Sprache erschienen diese Linien den vier nächtlichen Unterrednern. Sie erhoben sich. Vor ihnen lag das Meer, eine leere Weite: stark genug, Klippen hinaufzukriechen, Inseln zu ersäufen.

72 | Arkona 

R AT TEN  Gespräch in Wien

W  

ann i amal stirb, stirb, stirb«, summte der Zahlkellner vor sich hin, »spielt’s an Tanz, laut und hell, allweil fidel !« Doch besser als ein Wienerlied hätte Cool Jazz in dieses Kaffeehaus gepaßt. Das Prückel, vormals Lurion, steht am Dr.-Karl-Lueger-Platz, den ein Denkmal dieses Bürgermeisters ziert. In den 1950er Jahren, als Naphta und Settembrini einander im Prückel trafen, strahlte dieses Schmuckstück der Schmucklosigkeit: nicht wie neu, sondern neu, denn das war es, inwendig jedenfalls. Luftig, leicht und licht, hob Oswald Haerdtls Interieur es ab von den zahlreichen tiefbraun getäfelten, plüschernen Kaffeehäusern, in denen so unübersehbar wie fühlbar ein trübes Stück 19. Jahrhundert den auch nicht ganz geklärten österreichischen Alltag des mittleren 20. Jahrhunderts färbte. Wo tagsüber durch weite Fensterfronten, abends von den überdimensionalen Kristallustern her Licht die hohen, hallenartigen Räume durchflutete, mochte man hoffen, hier, wenn irgendwo in Wien, werde sich im Gespräch die Finsternis über den Ursprung der Vorurteile lichten.

Naphta:  Wie geht’s  ? Settembrini:  Wie’s geht ? Die Frage ist falsch gestellt. Sie müßte lauten: Wohin geht’s ? Naphta:  Wohin ? Aber wir sind doch beide offensichtlich gut angekommen. Settembrini:  Ach ja, das schon. (gedehnt) Wien. Verheißungsvoller Einsilber. Naphta: Einsilbig Benanntes könnte vielerlei Mucken haben. Man sollte nie vom Namen auf die Sache schließen. Settembrini:  In Ihrem eigenen Falle sind sie, Name und Sache, eins. Bei Naphtalin handelt es sich um einen farblosen bicyclischen Kohlenwasserstoff, der schon bei Raumtemperatur sublimiert. Sein  73

Geschmack ist brennend. In diesem Sinne freue ich mich aufrichtig, Sie, lieber Naphta, nun nach Jahrzehnten – denn so lang ist’s her – steinalt, doch gesund und munter wiederzusehen. Immerhin sagte man Ihnen nach, Sie hätten sich bei unserem absurden Duell mit der automatischen Browning umgebracht. Naphta: Schweigen wir über das kuriose Gerücht, Dottore ; schwei­gen wir erst recht über den großen Ironiker, der es in die Welt setzte. Eine Beleidigung durch über den Haufen geworfene Kategorien ? Bei unserem Duell hätte ich mich gewiß eher totgelacht als totgeschossen. Settembrini:  Ersichtlich sind Sie nicht nur am Leben. Was über­ raschender ist, wenngleich passend zu meiner Philosophie des Namens: Sie haben sich gar nicht verändert. Naphta:  Dann hätte ich etwas falsch gemacht in meinem langen Leben. Settembrini:  Aber vielleicht wollten Sie mich nur wiedersehen, weil Sie sich nicht verändert haben. Naphta:  In den Jahren, seit sich unsere Wege trennten, fehlte mir nichts gründlicher als das Zanken mit Ihnen, in aller Schärfe und doch auch in aller Freundschaft, auf Grund manchen Einverständnisses. Meine nachdenkliche Freude, mit Ihnen nun nach geraumer Zeit erneut zusammenzutreffen, verbindet sich jedenfalls mit der Hoffnung, an unsere einstigen Geplänkel anzuknüpfen. An den paradoxen Zwist. Settembrini:  Paradox ? Naphta:  Von Grund auf paradox. Man muß den Disput so führen, als ob es ums Leben ginge, aber mit einem Witz und Schliff, als ginge es nicht ums Leben, sondern nur um ein distinguiertes Wettspiel. Settembrini:  Sie haben Recht, und die erste Regel dafür lautet: Du darfst üben, du darfst dich vorbereiten, aber du darfst dies niemals zeigen. Alles muß wie Stegreif erscheinen, ein Zeugnis der Schlagfertigkeit und ein Werk reiner Geistesgegenwart. Das ist Ihnen für heute nicht recht gelungen. Sie führen Papiere mit sich, Naphta, raschelnde Notizen. Naphta:  Es läßt sich nicht verbergen und ist mir genierlich ; aber ohne Sie, Signore, bin ich eben aus der Übung geraten. Settembrini:  Ist für Sie präjudiziert, worüber bei dieser Gelegenheit zu streiten wäre ? 74 | Ratten 

Naphta:  Ich habe so meine Ahnungen, worauf es hinauslaufen müßte. Wir werden das Café zum erkenntnistheoretischen Seminar machen, und es wird sich unversehens zum politischen Debattierclub wandeln. Settembrini: Als Menschenfreund bestreite ich den Unterschied zwischen Politik und einem anders gearteten Rest. Es gibt keine Nichtpolitik. Alles ist Politik. Naphta:  Und deren Ursprung ? Er kann nicht selbst wieder Politik sein. Eben darum heißt der Ursprung Sprung und nicht Schritt. Settembrini:  ›Ursprung‹ nennen wir die Grenze unseres Wissens. Die romantischen Naturphilosophen ließen das Leben im Urschleim beginnen – in ihm sieht man nämlich nichts. Naphta:  Grenzen sind immer menschenfreundlich, besonders solche des Wissens. Ach, schon nach so wenigen Minuten in Ihrer Gegenwart fühle ich mich wie zurück im Vergangenen. Settembrini:  Woran mag das nur liegen ? Naphta:  Ist Ihnen noch nicht aufgefallen, daß es bei jedem Streit die Streitenden alsbald juckt, einander endlich die Wahrheit zu sagen ? Diese Wahrheit ist aber immer eine ausgekramte Wahrheit, das heißt: Beide erlangen sie, indem sie längst vergangene Dinge ans Tageslicht zerren – nur eben verschiedene. Settembrini:  Sie meinen wiederanzuknüpfen an unsere alten Streitereien – nun ja. Sie haben sich nicht verändert ; aber die Zeiten sind anders verlaufen, als Sie je geahnt hätten. Der Kampf ­w ider die Aufklärung endete in der Vernichtung der europäischen Juden – Ihres Volkes. Der Vorgang bleibt unendlich traurig ; zugleich aber sehe ich mich durch ihn in meinen früheren Anschauungen vindiziert. Naphta:  Zeigt der Lauf der jüngsten Geschichte nicht eher, wie machtlos Ihre Aufklärung war und ist ? Settembrini:  Am Ende siegten die Mächte, welche ihre Gemeinwesen auf Ideen der Aufklärung gründen. Diese kann folglich so machtlos nicht sein. Ihr Kampf gegen das Vorurteil wird freilich auf lange noch nicht ausgefochten sein. Naphta:  Ich sehe, daß ich gar nicht so verkehrt lag mit dem Anknüpfen. Nur scheint daraus eher eine Drohung hervorzugehen als ein Versprechen. Mühen Sie sich immer noch im Dienste der ›Liga für die Organisierung des Fortschritts‹ ? Wie in jenen Gesprächen Gespräch in Wien | 75

stimmen Sie wieder die alte Leier an, die Vernunft werde endlich siegen. Settembrini:  Leier ? Naphta:  Leiernd wie die dozierenden Verse Albrecht von Hallers aus den goldenen Tagen der Aufklärung: »Klug, wenn die Wahrheit sich an sichern Zielen kennte, | Wenn nicht das Vorurteil die schärfsten Augen blend’te | Und im verwirrten Streit von Not und Ungefähr | Vernunft die Richterin von Wohl und Zweifel wär’.« Kennte, blend’te, wäre. Der ewige Konjunktiv aller Aufklärung. Settembrini: In Wahrheit ein Indikativ der vollendeten Zukunft. Ein Schweizer meint immer den Indikativ, selbst wenn er in Konjunktiven redet. Die Vernunft wird gesiegt haben, sobald ihre stetige Kritik das Vorurteil überwunden hat. Naphta:  Ein Volk ist ermordet worden und Sie begnügen sich damit festzustellen, Vernunft habe nicht rechtzeitig ein Vorurteil beanstandet. Kann man harmloser an den ungeheuerlichen Vorgang herantreten ? Settembrini:  Das kommt darauf an, wie harmlos eine Theorie des Vorurteils ihren Gegenstand faßt. Meine faßt ihn ganz und gar nicht harmlos. Naphta:  Wer voraussetzt, daß der Feind außen lauert, nicht in ihm selber, denkt jedenfalls von sich harmlos. Settembrini:  Vorausgesetzt ist bei mir gar nichts. Satz für Satz wird alles bewiesen. Naphta:  Lassen Sie uns genauer hinschauen. Ein Vorurteil ist, wenn ich recht sehe, eine ohne sattsamen Grund gefaßte Meinung. Settembrini: Das nenne nun ich harmlos. Sattsam: Wollen Sie mir eine Mehlspeise aufdrängen ? Eine Meinung ? Wie schnell schreiben wir eine bloße Meinung in den Wind ! Und wie hartnäckig ist ein Vorurteil ! Naphta:  Nun gut. Ein Vorurteil ist keine bloße Meinung ; es ist ein Urteil, das von einer Sache gefällt wird, ohne sie untersucht zu haben. Das ›Vor-‹ in diesem Wort hat den Sinn, daß über etwas geurteilt wird, die Prüfung des Beurteilten aber nicht stattgefunden hat. Settembrini:  So verstanden, wären Vorurteile unvermeidlich. Wenn ich ein Buch lese, urteile ich gewöhnlich von dessen Titel eingenommen oder auf Treu und Glauben jemandes Empfehlung 76 | Ratten 

folgend, es sei wert, gelesen zu werden. Ergebnis der Prüfung des Buches kann dieses Urteil nicht sein, denn die bestände ja in der Lektüre. Also ist es ein Vorurteil. Ohne das Vorurteil würde ich nicht zu lesen beginnen. Folglich käme es ohne ein solches am Ende auch nie zum kundigen Urteil. Naphta:  Sie haben recht. Keine Erfindung auf Erden wäre je gemacht worden ohne ein derartiges, wie Sie’s gerade nannten, Vorurteil. Erst der technische Prozeß, der von der Idee ausgeht, erprobt diese ja an der Realität. Jenen Vorausurteilen kann die Aufklärung nicht den Krieg erklärt haben. Wir müssen loskommen von allzu treuherzigen Beispielen. Welcher begrifflichen Schärfung bedarf es, das Vorurteil mit Klauen zu versehen ? Wie setzen wir ihm Zähne ein ? Wodurch bringen wir die Bestie in ihm zum Brüllen ? Settembrini:  Ein paar Dezibel werde ich beizutragen suchen. Solange ich von einem vorläufigen Urteil weiß, daß es ein vorläufiges Urteil ist, tut es keinen Schaden. Suspensio iudicii, wie die Schriftgelehrten sagen: Ich bleibe fähig, mein Urteil in der Schwebe zu lassen. Wer sich vom eleganten Titel eines Buches zur Lektüre hat verführen lassen, aber auf Seite 3 merkt, daß er einem Schmarren aufgesessen ist, den er wegzulegen vermag, hatte kein Vorurteil, sondern ein vorläufiges Urteil. Wer aber, vom Titel eingenommen, vor dem Schmarren erstarrt, als sei er eine heilige Schrift, ist einem Vorurteil aufgesessen. Naphta:  Aber warum sollte jemand so etwas tun ? Settembrini:  Da er sich sonst eingestehen müßte, geirrt zu haben – das mag er äußerst ungern tun. Gern eingestehen wird er sich nur, was ihm schmeichelt ; dazu sieht er im Fall eines Irrtums wenig Anlaß. Nehmen Sie die Erfinder, die von ihrer Idee nicht mehr abgehen können, weil sie ihre Idee war. All ihre gescheiterten Versuche, die Prüfungen der Idee sein sollten, werden für sie Gründe, an der Idee festzuhalten: sie haben ja so viel in sie gesteckt. Mancher ist schon wahnsinnig darüber geworden, weil er von vornherein wußte, daß die Sache funktionieren muß. Ist es undenkbar, daß sie nicht funktioniert, dann gibt einer lieber das Denken auf. Naphta:  Ich gebe zu, jetzt haben wir, haben Sie – cui honorem, honorem – das Vorurteil zu einem etwas gefährlicheren Viech gepäppelt. Das Unheilvolle an ihm ist nun die Gewalt der fixen Idee. Settembrini:  Kein Vorurteil ohne diese Portion Dogmatismus. Gespräch in Wien | 77

Dennoch bin ich noch nicht recht zufrieden. Die heroische Seite der Aufklärung kommt doch erst zur Geltung, wenn der Gegner etwas größer ausfällt. Ich gebe zu, daß es in der Sphäre fixer Ideen brenzlig wird. Aber unter sie fallen auch allerhand private Marotten, einschließlich jener von Bücherlesern und Erfindern. Das Vorurteil hätte ich gern nicht nur gefährlich – sondern gemeingefährlich bis zur Tyrannei. Naphta:  Mit Begeisterung sehe ich, wie in Ihrer Gesinnung das Element der Adlerkühnheit mehr und mehr gegen das der Taubenmilde durchschlägt. Settembrini:  Begeistert mögen Sie sein – aber Sie tragen bisher herzlich wenig dazu bei. Naphta:  Sie kränken mich ! Ich tue ja schon mein Bestes, damit der Aufklärung ihr Heldentum gewahrt bleibt. Settembrini:  Ihr Bestes war dafür bisher nicht gut genug. Ist Ihnen schon aufgefallen, daß die meisten Vorurteile, die uns angst und bange machen, oder angst und bange machen sollten, nicht der Laune eines einzelnen entspringen ? Naphta:  Um anderen auf die Nerven zu fallen, reicht es zwar, wenn einer das, was er glaubt, von seinen Launen abhängig macht. Doch die eigentliche Vorurteilsfauna scheint sich wirklich anders zu vermehren: Man gesellt sich gern zum größten Haufen. Settembrini:  Fast jeder tut so, als ob tausend ehrwürdiger wären als einer. Naphta:  Ich bin nur nicht recht überzeugt, daß mich das schrecken sollte. Wer sich nach der herrschenden Mode kleidet, schlägt sich zur Menge. Mir macht das nicht angst und bange. Settembrini:  Die Vorurteile des Geschmacks sind wirklich die harmloseren. Übertragen Sie das Prinzip ins Politische und die Sache schaut anders aus. Naphta:  In der Sprache der Politik nennt man, wenn ich mich nicht täusche, Demokratie, daß der größte Haufen, pardon: die Mehrheit entscheidet. Settembrini:  Daß die Mehrheit entscheidet, bedeutet in einer Demokratie jedoch nicht, daß sie Recht hat. Der Verlierer einer Abstimmung fügt sich dem formal richtig zustande gekommenen Entscheid unter dem Vorbehalt, er könne dennoch der Sache nach im Recht gewesen sein. 78 | Ratten 

Naphta:  Ein Jakobiner, der etwas dazugelernt hat – nämlich die liberale Schizophrenie. Aber hilft uns das hier ? So recht zu fassen bekommen haben wir unser Untier noch nicht. Settembrini:  Noch nicht ganz. Das wahre Vorurteilsmonster verbreitet durch Generalisieren seine arge Brut ; aber Ihre Beobachtung dazu hat erst die Hälfte erfaßt. Die gesuchte Spezies generalisiert nicht nur auf der Seite des Subjekts, vom Ich zum Wir, sondern am liebsten auch auf der Seite des Objekts – aus ein paar Einzelerscheinungen wird eine allgemeine Charakteristik herausgeklaubt, die zur Verdammung taugt. Naphta:  Ist es vom Einzelnen zum Allgemeinen nicht immer ein Sprung ? Settembrini:  Die Voreingenommenen weigern sich, Erfahrungen zu machen – was uns nicht verwundern sollte: Erfahrungen zu machen ist schwer. Ein einzelner Fall ist nie ein für allemal maßgebend. Schon ein einziges Objekt stellt sich in verschiedener Umgebung verschieden dar – erst recht mehrere. Wir müssen vieles durchgehen und vergleichen. Wären alle Objekte gleich, würde uns an ihnen gar nichts auffallen. Der Unterschied des einen vom anderen läßt deren Merkmale hervortreten. Die besondere Eigenschaft eines Dinges bemerken wir oft erst, wenn wir ein anderes, ähnliches sehen, das jene Eigenschaft nicht besitzt. Aber ins Spiel kommen nicht lediglich Unterschiede zwischen Objekten, sondern auch Unterschiede zwischen Objekten und unseren Erwartungen. Erfahrungen vermag allein der zu machen, den die Welt überraschen kann. Und in Summe: Erfahrung macht nur, wer Erfahrungen sammelt. Die Voreingenommenen sind keine Sammler, sondern Jäger. Sie wollen ihr Objekt bloß totschlagen. Naphta:  Aber Jäger, die am liebsten in Rudeln jagen – dies geben wir nicht auf ? Settembrini:  Dabei bleiben wir. Wahre Dummheit wird kollektiv errungen, indem nämlich die einzelnen einander wechselseitig den Verlust der Besinnung als Gewinn instinktiver Sicherheit unterjubeln. Naphta:  So besinnungslos dumm kann einer für sich allein nie werden. Wie alles andere Jubeln hat auch das Unterjubeln in der Einsamkeit keinen Platz. Settembrini:  Auf der einen Seite nehmen die VoreingenommeGespräch in Wien | 79

nen gern die Überzeugungen an, die viele haben, auf der anderen Seite stopfen sie möglichst viele andere in einen Sack, auf den das Vorurteil eindrischt. Naphta:  Eindreschen – meinen Sie das figürlich oder wörtlich ? Imaginierte Prügel oder wirkliche ? Settembrini: Jetzt erst erhält das Gebiß unseres Ungetüms letzten Schliff. Oder vorletzten. Solange man Vorurteile als bloße Überzeugungen pflegt, brauchen sie nicht viel Schaden anzurichten. Doch sobald einer auf ihrer Grundlage handelt, greift er in die Rechte anderer ein. Und es gibt sehr wenige Überzeugungen, aus denen jemand gar keine praktischen Konsequenzen zieht. Über das Objekt generalisierend in die Wirklichkeit einzugreifen: dies erst macht das Vorurteil gemeingefährlich, damit erst steht das Scheusal prachtvoll vor uns … Naphta:  … und wird so, brüllend, zum würdigen Gegenstand aufklärerischen Kampfes – wie vorab gewünscht. Mir steht dabei die Wiener Mariensäule vor Augen, auf deren Sockel ausgerechnet vier Putten, Knäblein also, eine Schlange, einen Drachen, einen Basilisken und einen Löwen bekämpfen. Settembrini:  Sparen Sie sich die Ironie. In der Intoleranz, der Praxis des Vorurteils, bekommen wir es mit der Not der Menschheit zu tun. Naphta:  Der Menschheit ? Sie generalisieren über das Objekt. Ich wittere ein Vorurteil. Settembrini:  Verlassen Sie sich lieber nicht auf Ihre Witterung. Ich dresche doch nicht ein – im Gegenteil. Naphta:  Was spricht dagegen, daß es auch positive Vorurteile gibt ? Ein Kirchenvater der Aufklärung, Francis Bacon, entfaltete seine Theorie des Vorurteils in einer Lehre von den Idolen. Daß Vorurteile gegen etwas gerichtet sein müßten, lag dem Autor des Novum Organum fern. Ihr Freimaurerspleen, die Idolatrie der Menschheit, scheint mir nicht minder ein Vorurteil zu sein denn die üblichen unfreundlichen Gedanken, die Sie mit dem Wort belegen möchten. Verzeihen Sie, aber dem Sohn eines jüdischen Viehschlächters steht es wohl an, heilige Kühe zu metzeln. Settembrini:  Um Verzeihung bitten brauchen Sie mich nicht gerade. Ohne scharf gezielte Grausamkeiten wären solche Debatten doch nur das halbe Vergnügen. Diese allerdings war mir nicht 80 | Ratten 

scharf genug gezielt. Es ist keine Idolatrie, womit ich die Menschheit bedenke. Ich stelle bloß fest, daß das Vorurteil ihr allenthalben zu schaffen macht. Sollten Sie Zonen auf dieser Erde kennen, die von ihm ganz verschont blieben, lasse ich mich mit Freuden eines besseren belehren und werde meinen Satz künftig einschränken. Daß ich in ihm eine Verallgemeinerung ausspreche, weiß ich. Bis zum Nachweis des Gegenteils bin ich überzeugt, daß sie zutrifft. Es gibt nämlich richtiges und falsches Verallgemeinern. Naphta:  Und ein Beispiel für falsches Verallgemeinern wäre ? Settembrini:  »Die Juden sind unser Unglück !« Naphta:  Um Gottes willen – Settembrini:  Den lassen Sie in dieser Angelegenheit besser aus dem Spiel. Er hat sich in sie nicht eingemischt. Naphta:  Auch der Herr muß sie gelesen haben, die Parole des Hetzblatts Der Stürmer: sie stand auf dem Titelblatt jeder Ausgabe. Settembrini:  Hätte sie nur da gestanden, ihre Autorität wäre auf den deutschen Pöbel beschränkt geblieben. Leider stammt der Satz vom Nachfolger Rankes auf dem Lehrstuhl für Geschichte der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität  – von Heinrich von Treitschke. Er prägte ihn in den Preußischen Jahrbüchern von 1879 ; er wiederholte ihn ein Jahr später in einer Broschüre mit dem Titel Ein Wort über unser Judenthum. Ein Wort ? Er machte Myriaden. Naphta:  Ist es zu viel verlangt, an so einer Infamie zu zeigen, inwiefern sie falsch generalisiert ? Settembrini:  Es ist zu viel verlangt. Ich tue es dennoch. So kurz der Satz ist: Er enthält drei Fehler ; sie ergeben sich aus zwei Verallgemeinerungen. Von diesen beiden steckt die eine im grammatischen Subjekt des Satzes, »Die Juden«, die andere im Possessivpronomen der ersten Person Plural, »unser«. Die grammatische Redeweise ist selbstverständlich von der logischen, die ich bisher gebrauchte, zu unterscheiden. »Die Juden« generalisiert logisch gesprochen über das Objekt, den Gegenstand der Aussage, »unser« über das Subjekt, den Aussagenden, der sich in ein Kollektiv reiht, oder, als Professor, als Politiker, als sonstiger Herrenmensch, ein Kollektiv hinter sich reiht. Mit dem Kollektiv beginne ich: Wer ist dieses ›Wir‹ ? Treitschke war, als er den Satz schrieb, Mitglied des deutschen Reichstages ; das ›Wir‹ – insofern hat der grobe Julius Streicher den feinen Herrn von T. durchaus richtig verstanGespräch in Wien | 81

den  – sind die Deutschen. Die Entgegensetzung insinuiert, die Juden seien keine Deutschen, könnten keine sein – erste Verkehrtheit. Naphta:  Was wäre die zweite ? Settembrini:  Zweitens spricht alles dafür, daß manche Juden damals und später manchen glücklich machten und manchen unglücklich – ein Fall falscher Generalisierung. Übrigens wird oft genug just das, was den einen Deutschen glücklich machte, einen anderen unglücklich gemacht haben – Deutschsein ist nämlich keine Eigenschaft, die Einheitlichkeit von Wirkungen garantierte, jedenfalls solange es um Glück und Unglück geht. Und drittens ist es unwahrscheinlich, daß jener Effekt gerade am Jüdischsein der Personen lag und nicht an anderen angenehmen oder unangenehmen Eigenschaften derselben. Drei solche Mißgriffe in einem Satz aus fünf Worten: eine kapitale Leistung, zu der es wohl eines deutschen Universitätsprofessors bedurfte. Naphta:  Ihre Bosheit hat sich frisch gehalten. Settembrini:  Sie ist die schärfste Waffe der Vernunft gegen die Mächte der Ignoranz. Naphta:  Ich sehe in Treitschke dennoch weniger den Trottel als den Rüpel – was sich mit seinem Beruf mindestens so gut vertrug wie die logischen Schnitzer, die Sie ihm zuschreiben. Einen Menschen beurteilen, so fordert es der Anstand, bedeutet: ihn als Person mit eigener Individualität statt als bloßen Fall eines Typus, als austauschbares Muster beurteilen. Jemanden schon daran scheitern zu lassen, daß er unter ein allgemeines Etikett zu subsumieren ist – sei es Jude oder sonst etwas dergleichen –, gilt unter ehrenhaften Menschen als Zeichen von Gemeinheit. Ich bin nicht meine Spezies: für mich selbst nicht, für dich nicht, für keinen sonst – erste Regel allen zivilisierten Umgangs. Wer einen anderen ablehnt, hat sich gefälligst der Mühe eines wohlgeprüften Einzelurteils zu unterziehen. Profiteri, profiteor, professus sum, ›bekennen‹. Der Professor bekennt – seine Niedertracht. Settembrini:  Sie hören Infames aus Treitschke heraus ; ich, als Mann der Aufklärung, ziehe es vor, das Irrige zu notieren. Ihre Empfindlichkeit vermag ich zu begreifen, aber ich bleibe bei meinem Eindruck von der Sache. So oder so klingt sie unrein genug. Naphta:  Allerdings. Und wenn wir Treitschke einen gemeinen 82 | Ratten 

Verallgemeinerer nennen, steckt ohnehin beides darin, die moralische Katzenmusik und die intellektuelle. Settembrini:  Gerade Katzen sollte man ohne Vorurteil begegnen. Naphta:  Sie haben recht, in Wahrheit sind sie ja weit musikalischer als … Settembrini:  … als deutsche Schäferhunde. Naphta:  Verwundern sollte uns freilich weniger Treitschkes unsaubere Musik, scheint mir, als der Applaus, der ihr galt. Wenn es in der Melodie, die er seinen Deutschen vorpfiff, so gellend mißtönte, weshalb fand die Weise dann so hellen Anklang ? Settembrini:  Hell würde ich den Anklang nicht nennen, eher dumpf ; erklären muß man ihn dennoch. Bedenken Sie zunächst, wie gründlich Treitschkes Satz entlastet. Sind die Juden an allem schuld, dann bin jedenfalls ich, sofern ich kein Jude bin, unschuldig. Wer wäre das nicht gern ? Naphta:  Das ist alles ? Settembrini:  Keineswegs  – aller guten Dinge sind drei, auch wenn es hier nur um das Gute am Schlechten geht. Zwei weitere Vorteile greifen ineinander. Zweitens findet man Vorurteile fix und fertig vor, zum Beispiel, weil ein deutscher Universitätsprofessor sie einem vorkaute. Man muß sie nicht durch eigenes Nachdenken machen. Reflexion wäre für viele eine ganz ungewohnte wie – darum – lästige Arbeit. Vorurteile kommen ihrer Faulheit entgegen – und unter allen menschlichen Faulheiten steht die Denkfaulheit obenan. Naphta:  Ist dieser Vorteil nicht ein ziemlicher Nachteil ? Settembrini:  Manche Leute sterben lieber als nachzudenken: gerade so erging es ja auch einigen Lesern des Stürmer, als es mit dem Stürmen im Osten ernst wurde, todernst. Die Denkfaulen meinen billig davonzukommen und zahlen, auch ohne Heldentod fürs Vaterland, besonders teuer: Wir sagen zwar von solchen Leuten, sie hätten Vorurteile ; doch eigentlich haben die Vorurteile sie. Naphta:  Und noch eine Wohltat schreiben Sie dem Übel zu ? Settembrini:  Wir haben sie längst gefunden, die dritte Labsal. Vorurteile erwärmen das Herz durch die Eigenschaft, die Voreingenommenen zu vergemeinschaften. Wenn Sie glauben, daß es sich bei Naphtalin um einen farblosen bicyclischen Kohlenwasserstoff handelt, haben Sie zwar eine zutreffende Überzeugung ; doch Sie Gespräch in Wien | 83

sind mit dieser Überzeugung genau so allein oder nicht allein auf der Welt wie ohne sie. Mit den typischen Überzeugungen eines Antisemiten hingegen ist man sogleich Teil eines größeren Ganzen, zunächst im Kopf, dann im Umgang – ein schönes Gefühl für manchen, und keineswegs nur für Antisemiten. Vorurteile schaffen Clubs, Vereine, Parteien, Kirchen. Naphta:  Ich verbeiße mir an dieser Stelle Bemerkungen über die ›Liga für die Organisierung des Fortschritts‹. Settembrini:  Dann schlucken Sie an etwas anderem. Naphta:  Allerdings. Ich versprach mir eine Theorie von Ihnen und erhalte eine Liste. Wie wirken die Vorteile, die Sie zu erkennen meinen, denn zusammen ? Settembrini:  Entlastung und Denkersparnis sorgen dafür, daß man unschwer in Vorurteile hineinrutscht, ihr Wir-Effekt dafür, daß man nicht so leicht wieder aus ihnen herausrutscht. Naphta:  Mir bleibt das alles recht zweifelhaft. Schon indem Sie das Vorurteil der Trägheit zuschreiben, fassen Sie es zu passiv ; so werden Sie unserer agilen Bestie nicht gerecht. Wer ein Vorurteil hegt, tut etwas. Er verfährt gemäß Matthäus 7, Vers 8: »Und wer da sucht, der findet.« Settembrini:  Ich ahne, welchen Fund Sie da gerade machen wollen. (zum Ober) Ein Großer Brauner, bitt’schön. Naphta:  In anderen Angelegenheiten suchen wir oft und finden nicht. Das Vorurteil hingegen sorgt dafür, daß wir suchend stets auch fündig werden. In Mein Kampf schreibt Hitler über seine Wiener Zeit (er liest aus seinen Notizen ab): »Wo immer ich ging, sah ich nun Juden, und je mehr ich sah, um so schärfer sonderten sie sich für das Auge von den anderen Menschen ab.« Wer so sieht, hat im Judesein das Kriterium festgelegt, unter dem ihm alle Deutschen jüdischer Abstammung prinzipiell verdächtig, weil volksfremd, erscheinen. Von diesem Moment an sammelt er nur noch Belege – sie sind nun seine Erfahrungen. Das Vorurteil bestätigt ihm, was er ohnehin nicht weiß (wieder aufs Papier blickend): »Gab es denn da einen Unrat, eine Schamlosigkeit in irgendeiner Form, vor allem des kulturellen Lebens, an der nicht wenigstens ein Jude beteiligt gewesen wäre ? Sowie man nur vorsichtig in eine solche Geschwulst hineinschnitt, fand man, wie die Made im faulenden Leibe, oft ganz geblendet vom plötzlichen Lichte, ein Jüdlein.« 84 | Ratten 

Settembrini:  Sie meinen, ich hatte Unrecht zu sagen, wer sich im Vorurteil tummle, sei kein Sammler, sondern Jäger ? Naphta:  Er sammelt, um zu jagen. Die Kollektion wird mit dem Messer gemacht. Das Vorurteil schneidet in die Dinge – wohl kaum »nur vorsichtig«, am Rande bemerkt –, es arbeitet hart an der Wirklichkeit, es hebt, sortierend, unermüdlich an ihr heraus, was ihm entspricht. Wir bräuchten im Deutschen, analog zu den Verben ›urteilen‹ und ›beurteilen‹, ein Tätigkeitswort, das lauten würde: ›vorurteilen‹. Settembrini:  Für Ihr vorurteilsloses Studium von Hitlers Machwerk bewundere ich Sie ; nur fürchte ich, es reißt unser Nachdenken aus der Bahn. Wer diskriminiert, macht Unterschiede. Wer in jedem anderen den Menschen sieht, macht, indem er sich ans Allgemeine hält, die diskriminierenden Unterschiede nicht ; Gleichheit ist der Wert, der sein Denken leitet. Ist die Aktivität des Vor-Urteilens ein, mit Hitler zu reden, ›scharfes Sondern‹ – sie scheint es ja wirklich zu sein –, lagen wir dann nicht daneben, als wir sie ein Generalisieren nannten ? Naphta:  Überhaupt nicht. Generalisieren, so meinen wir, heißt: nicht sondern. Und doch liegt gerade im Sondern, wie das Vorurteil es vollzieht, ein Generalisieren. Der Autor von Mein Kampf sondert gemäß den Generalkategorien deutsch und undeutsch. Alle Unterschiede dessen, was Arbeiter, Studenten, Kleinkrämer, Huren, Politiker oder Finanzmagnaten zu tun und zu lassen haben – Unterschiede, die ihre wirklichen Lebensverhältnisse in der Gesellschaft bedingen –, läßt er in seiner Alternative verschwinden: Zu welchem Volk gehörst du ? Bist du Deutscher oder Jude ? Settembrini:  Ist es indes nicht immer so, daß man, um einen Unterschied zu sehen, von anderen absehen muß ? Naphta: Diese Ökonomie der Wahrnehmung ist eine Sache ; eine andere Sache ist die politische Strategie, sich einen Unterschied zurechtzulegen, um von anderen absehen zu machen. Die Unterschiede in Geld und Gut, die in Wirklichkeit die Lebensverhältnisse bestimmen, scheren sich ja nicht fort. Sie sollen sich auch nicht fortscheren. Aber noch der arme Schlucker – gerade der arme Schlucker – versteht die Botschaft des Vorurteils: Es ist nicht wesentlich, daß du ein armer Schlucker bist. Wesentlich ist, daß du Deutscher bist. Darauf kannst du stolz sein. Gespräch in Wien | 85

Settembrini:  Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. Naphta:  Sie sprachen vorhin von drei Vorteilen des Vorurteils. So nah die Worte Vorurteil und Vorteil einander sind, so fern ist einander das, wofür sie stehen. Das Vorurteil verschafft nur eingebildete Vorteile. Je weniger einer an sich selbst als Individuum findet, mit dem er sich schmeicheln kann, desto süchtiger wird er nach einem Kollektiv Ausschau halten, zu dem er sich zählen darf und an dem er Eigenschaften findet oder zu finden glaubt, auf die er sich etwas einzubilden vermag. Settembrini:  Kann man stolz sein auf etwas, für das man nichts kann ? Naphta:  Sie brauchen sich nur umzuschauen, um zu sehen, wie viele das können. Settembrini:  Umschauen – wo ? Naphta:  Natürlich meine ich nicht das Café Prückel. Settembrini:  Natürlich nicht. Aber was Sie nun ausgeführt haben, stützt nicht mehr unsere These, ein Vorurteil sei eine falsche Generalisierung. Es löst sie auf. Ich habe den Satz aufgebracht  – jetzt hoffe ich, Sie wieder von ihm abzubringen. Unter einer falschen Generalisierung versteht man, daß jemand einen Teil sieht und ihn für das Ganze setzt. Demnach hätte Hitler ein paar geldgierige Juden kennengelernt und wäre aufgrund dieser Erfahrung zu der Sicht gekommen, die er in seiner Stellungnahme vom September 1919, ›Regierungssozialdemokratie und Judentum‹  – Sie sehen, auch ich habe mich nicht unvorbereitet in unser Gespräch gestürzt – so formulierte (er kramt einen Zettel heraus): »Aus diesem Fühlen ergibt sich jenes Denken und Streben nach Geld, und Macht, die dieses schützt, das den Juden skrupellos werden läßt in der Wahl der Mittel, erbarmungslos in ihrer Verwendung zu diesem Zweck.« Sollen wir sagen, Hitlers Informationsbasis sei zu schmal gewesen für diese Behauptung ? Eine falsche Generalisierung würde übertreiben. Übertreibungen begegnet man angemessen durch Moderieren. Würden Sie versuchen zu moderieren, was im sogenannten Juden-Gutachten steht, bliebe immer noch antisemitische Hetze. Das liegt am Ausgangsmaterial. Was Hitler sagt, ist keine etwas voreilige Extrapolation ; es ist Wesensschau. In seiner Vision geht er unmittelbar aufs Ganze: Der Jude steht vor ihm, geschlossen, einheitlich, ein Ganzes, ein Singular: die Personifikation 86 | Ratten 

der Geldgier – kein Plural, dessen Reihe ungeschickterweise nicht ganz abgeschlossen wurde und so zum Fehlschluß verleitete. Naphta:  Das ist doch lediglich Rhetorik. Ihr sauberer politischer Schriftsteller … Settembrini:  Meiner ? Naphta:  Dieser saubere politische Schriftsteller weiß, daß ihm, würde er ein Beispiel aus der Erfahrung nennen, schon der Zweifel im Nacken säße ; denn diesem Beispiel ließen sich abweichende aus anderen Erfahrungen gegenüberstellen. Ebenso läßt er jegliche Begründung weg  – wie er weiß, ruft jeder Grund seinen Gegengrund herauf. Hitlers Haß auf den Parlamentarismus war der Haß auf das Argument. Wie er als Volksredner – zu Beginn seiner politischen Laufbahn war er vor allem dies – entdeckte, beeindruckt die Leute nichts mehr als ungeheuerliche Behauptungen, die mit völliger Überzeugung ausgesprochen werden. Er gab sich unwidersprechlich und – in der Tat – keiner widersprach. Daraus machte Hitler das Prinzip jeder seiner Reden – vielleicht das einzige Prinzip, dem sie folgten. Jedenfalls folgte er ihm im sogenannten JudenGutachten. Wenn wir das Vorurteil als Fall verkehrten Generalisierens kennzeichnen, reden wir über die Entstehung des Vorurteils, nicht über die Form seiner Präsentation. Die Art, in der Hitler sein antisemitisches Vorurteil der Öffentlichkeit vorführte, mag mit der Weise, in der sein Kopf es zustande brachte, wenig oder nichts zu tun haben. Settembrini:  Und woher wissen Sie, was in seinem Kopf vorging ? Aus seinen öffentlichen Präsentationen. Die Genese könnte von diesen abgewichen sein oder auch nicht. Der Rückschluß ist uns verwehrt. Mich schaudert es bereits bei der Vorstellung, daß wir uns in Gesindel wie Hitler einfühlen sollen, um etwas über Vorurteile herauszufinden. Die hinterlassenen Dokumente sind widerwärtig genug. Hören wir auf, Psychologen des Vorurteils sein zu wollen ; werden wir Historiker des Vorurteils. Naphta:  Ihre Aufklärung ist bescheiden geworden. Settembrini:  Im Gegenteil, sie hat eine große Aufgabe entdeckt. Die Frage nach – nennen Sie es eben in drei Teufels Namen so ! – dem Ursprung. Naphta:  Würde Aufklärung im Ernst historisch, dann hätte sie die Theorie des Vorurteils aufzugeben, die Sie eben umrissen. Sie Gespräch in Wien | 87

ist ahistorisch. Was Sie ausführten, trifft auf den modernen, totalitären Antisemitismus zu, eine – zu unserem Glück – kleine Provinz der Geschichte. Settembrini:  Sechs Millionen Tote klein. Naphta:  Ich weiß. Und doch: ein Kapitel der Geschichte, das von langen anderen Kapiteln zu scheiden ist. Totalitäre Ideologie braucht das totalisierende Vorurteil. Eine Übertreibung wäre ein bloßer Komparativ, ein Mehr. Mit einem Mehr oder Weniger ist totalitären Ideologen nicht gedient. Anders liegt die Sache beim traditionellen, volkstümlichen Antijudaismus. Da haben Sie ein Vorurteil, das sich aus Übertreibung speist. Settembrini:  Was macht Sie dessen so sicher ? Nehmen Sie einen Hauptsatz des mittelalterlichen Antijudaismus: An der Pest sind die Juden schuld. Sie kennen die Geschichte: Ende September 1347 landeten zwölf aus Konstantinopel kommende genuesische Galeeren in Messina. Zwischen den in ihren Laderäumen gehäuften Waren krabbelten Ratten. Ihre Flöhe trugen das Bakterium Yersinia pestis, den Erreger der Beulenpest. Damit kehrte die Seuche nach fast sechs Jahrhunderten ins Abendland zurück. Sie verbreitete sich von Sizilien aus rasch über den Kontinent. An vielen Orten kam es zu Massakern an Juden. Man lastete ihnen an, giftige Pulver in Wasserstellen, Häuser und Kirchen zu streuen, um den Tod zu verbreiten. Eine Übertreibung ? Nein, eine Erfindung. Wir denken so leicht: Am Vorurteil muß etwas Wahres sein, sonst wäre es nicht in der Welt. Dieses ›muß‹ ist der Irrtum. Dafür, in der Welt zu sein, findet das Phänomen, dem wir hier nachspüren, leicht stärkere Gründe als ein bißchen Wahrheit. Was zutrifft, fällt selten plausibel aus. Das Wirkliche ist bei weitem zu seltsam, als daß es glaubhaft sein könnte. Da hat das Vorurteil von sich aus Besseres zu bieten. Der Satz ›Die andern sind schuld‹ – ich sagte es – entlastet ; er hebt stets das Gemüt: nicht nur gegenüber dem Satz ›Wir selber sind schuld‹, sondern auch gegenüber dem Satz ›Keiner ist schuld‹. Das ist Anthropologie, keine Historie. Im Menschen selbst liegt der Ursprung des Vorurteils. Historisch sind die Umstände, unter denen sich dann die moralische Buchführung, mit ihren dubiosen Überweisungen, geltend macht. Die Schuldigen variieren, auch das, wofür man ihnen die Schuld gibt. Dem nachzugehen, ergibt die trostlose Geschichte des Vorurteils. 88 | Ratten 

Naphta:  Sollten wir nicht fertig sein mit dieser Geschichte ? Settembrini: Das mögen wir uns einbilden. Aber diese Geschichte ist noch nicht fertig mit uns. Naphta:  In Ihnen einen ahistorischen Historiker zu sehen, lasse ich mir so wohl kaum ausreden. »Im Menschen selbst liegt der Ursprung des Vorurteils.« Auch das sagen Sie vermutlich als … Settembrini:  … als Menschenfreund, in der Tat. Naphta:  Da bin ich froh, keiner zu sein. Doch zur Geschichte des Vorurteils: Vielleicht ist sie nicht immer trostlos. Betätigen Sie sich an mir als Historiker ! Ihr Vorurteil besagte, daß ich mich nicht verändert habe. Settembrini: In diesem Punkt habe ich mich ein wenig getäuscht. Aber solange man lernt, hat man von eigenen Vorurteilen nicht viel zu befürchten – allenfalls von denen anderer. Naphta:  Keyner zet nit zayn eygenem hoyker. Settembrini:  Wie bitte ? Naphta:  Ein jiddisches Sprichwort. Keiner sieht den Höcker auf dem eigenen Rücken. Settembrini:  Im Wiener Kaffeehaus sind rundum Spiegel über den Lehnen der Polsterbänke angebracht – für den Blick auf den Höcker. Naphta:  Offenbar ist so ein Lokal der geeignete Ort, Vorurteile lernend abzulegen. Settembrini:  Seit alters her nehmen die Wiener hier den Mokka zu sich, das Getränk ihrer ärgsten Feinde, der Türken. Das hat sie in Europa zu dem vorurteilslosen Menschenschlag schlechthin bestimmt. Sogar das zackige Denkmal, das sie der Pest gesetzt haben, auf dem Graben, muß man ihnen verzeihen. Naphta:  Nun sublimieren Sie schon bei Raumtemperatur. Mich dem zu widersetzen, ginge wider meine Natur. Ich wüßte nicht, wo auf Erden wir beide besser hinpassen würden. Sollen andere sich doch in den Sanatorien dieser Welt einlullen lassen. Geschlossene Anstalten sind auf Erden die eigentliche Brutstätte des Vorurteils. Koffein hält wach – wachsam gegen Vorurteile. Das Kaffeehaus ist stets offen.

Gespräch in Wien | 89

»Sperrstunde, Herrschaften«, rief der Zahlkellner in den Gastraum. Naphta und Settembrini sahen sich um ; nun erst bemerkten sie, daß zu weit vorgerückter Stunde die anderen Gäste sich bereits entfernt hatten. So früh, dachten sie, viel zu früh im Grunde. Nun mußten sie sich doch nicht nur darum kümmern, wie es geht, sondern auch darum, wohin es geht. »Ausländer«, raunzte der Kellner dem Mädchen ins Ohr, das hinten in der Küche den Abwasch besorgte. »Erst ruinieren sie einem den Feierabend, dann geben sie nicht einmal Trinkgeld. Und da soll unsereins keine Vorurteile haben, was, Mizzi ?« »Es könnt’ eh’ noch ein schöner Feierabend werden mit uns beiden«, flüsterte die Mizzi charmant zurück, »wenn du nur keine Vorurteile hast. Mein Vater ist nämlich Zigeuner.«

90 | Ratten 

AUFGERISSENE AUGEN 



Gespräch in Liverpool

S

chmutzige Häuser starrten aus ihren Fenstern wie mit blöden, fremden Augen. Ein brandiger Geruch lag in der Luft, doch nirgends sah man Feuer. Von den Docks her zog eine Brise herüber ; sie pfiff durch Dachgauben und Luken, aus denen die Rahmen gerissen waren: viereckige und runde Löcher. Auf Liverpools Straßen trieb der Wind Abfall vor sich her, Papierfetzen, Lumpen, Zigarettenstummel. Bei The Vines, dem im gewaltsamen Stil eines phantastischen Barock gehaltenen Public House der Brauerei Robert Cain, bog eine Frau vom Copperas Hill in die Lime Street ein. Mühselig suchte ein Mann an einem Backsteinbau dieser Straße die lange Reihe der Klingelknöpfe ab. Die Frau trat rasch auf das Haus zu, musterte den Suchenden, redete ihn an – so vertraulich, als wäre er ihr bekannt.

Sie:  Trüb ist es. Er:  Ach ja, die Krise. Sie:  Ich meine den Himmel. Er (aufblickend): Ist nicht auch der Himmel in der Krise ? Sie:  Dieser Himmel, ja. Er:  Ich sehe aber einen Silberstreif am Horizont. Sie:  Den bilden Sie sich nur ein. Er:  Nicht ein – ich bilde nur ab. Wie eine lichtempfindliche Platte. Ich reagiere sofort. Sie:  Die Phantasie produziert Fehlbelichtungen. Sie haben offenbar keine blühende, sondern eine leuchtende. Er:  Gar nicht. Nur scharfe Augen. Sofern ich die richtige Brille trage. Sie:  Eine, die Graues versilbert ? Er:  Die Gläser sind ganz klar. Sie:  Vielleicht klar genug zum Suchen, offenbar nicht klar genug zum Finden.  91

Er:  Viele Namensschilder sind herausgerissen. Sie:  Verzogen, die meisten. Wen suchen Sie denn ? Er:  Einen William Bradshaw. Er kannte einen Schriftsteller näher, den ich sehr schätze ; er scheint, mit Wissen und Whisky geladen, Auskunft geben zu können über ihn. Sie:  Bradshaw werden Sie hier nicht mehr finden. Er ist letzte Woche gestorben. Auf die tiefste Stufe gesunkener Adel. Ein halbes Leben lang malte Bradshaw Christbaumkugeln an. Dann übernahm das eine Maschine ; für die andere Hälfte seines Lebens war der Mann arbeitslos. Dies ist das Haus meiner Tante und ich kenne jeden Bewohner. Ich habe hier immer wieder einmal für ein paar Wochen gelebt. Er:  Tot. Ich komme immer zu spät. (will gehen) Sie:  Gehen Sie nicht ; kommen Sie herein. (Sie betreten das Haus, dann die Wohnung im Erdgeschoß.) Vielleicht sind Sie besser dran, sich Bradshaw im Kopf zu bilden, als ihm in Wirklichkeit begegnet zu sein. Er war ein garstiger Zeitgenosse. Er:  Das Garstige, das man sich vorstellt, ist nie so gut wie das Garstige, das man trifft. Sie:  Ich zöge es vor, mir Liverpools miserables Wetter vorzustellen, bei strahlendem Sonnenschein, als es noch einen Tag länger wirklich auszuhalten. Er:  Ein wirklicher Regen hat Nuancen, an die keine Imagination reicht. Sie (ein Buch bei ihm bemerkend): Aus Ihrer Anzugtasche lugt Bruce Chatwins In Patagonia. Ein weiteres Medium Ihrer Klarsicht ? Er:  Ich lese das Buch bereits zum dritten Mal. Und entdecke immer Neues darin. Sie:  Sie sehen aber aus wie einer, dem Altes lieber wäre. Er:  Versuchen Sie, mir Chatwin auszureden ? Er ist der Autor, den ich so schätze. Bradshaw kannte Chatwin. Wir haben Briefe miteinander gewechselt ; ich wollte ihn heute über Chatwin befragen. Bradshaw war offenbar fasziniert von dem Mann. Diese Faszination möchte ich verstehen. Sie:  Nichts nutzt sich schneller ab als Faszination. Was ist sie anderes als ein Strohfeuer der Phantasie ? Er:  Chatwin war schon zu Lebzeiten eine Legende ; er blieb es bis heute. 92 | Aufgerissene Augen 

Sie:  An der Legende sind die Phantasien des Publikums zu studieren. Über Chatwin erfährt man nichts aus ihr. Er:  In seiner Legende hat Chatwin offenbar selbst die Ausgeburt des Unverständnisses erkannt, die sie war. Aber er hütete sich, sie anzutasten. Seine Zeit war, wie er ahnte und endlich wußte, zu knapp bemessen, die Legende zu zerstören und eine neue an ihre Stelle zu setzen. Was ich suche, ist nicht ganz und gar von Chatwins Legende zu trennen und doch etwas anderes. Sie:  Sie wollen ihn sehen, wie er war ? Er:  Jedenfalls sehen. Bradshaw kam, wie er mir schrieb, mit Chatwin an Tyson Smiths Kenotaph der Gefallenen des Ersten Weltkriegs vorbei, hier an Lime Street. Eine Viertelstunde blieb Chatwin wortlos vor dem Relief stehen ; dann sagte er: »Der einzige Bildhauer, der den Tod Tod sein ließ, statt ihn zu allegorisieren. Ich hasse Allegorien.« Er lehrte Bradshaw, der jahrelang achtlos an der riesigen Bronze, wie an vielem anderen, vorübergestreift war, seine nächste Umgebung zu sehen. Sie:  Meine nächste Umgebung bestand vor langer Zeit einmal in Bruce Chatwin selber. Beruflich, zu meinem Pech, nicht, zu möglichem noch größerem Unglück, privat. Er umgab mich aber auf lehrreiche Art. Für das Sunday Times Magazine, in dessen Redaktion er und ich uns damals ein Büro teilen mußten, schrieb Chatwin eine phantasievolle Reportage über Toxteth, das in vier Jahrhunderten vom königlichen Jagdgrund, einige illustre Zwischenstationen passierend, zum Slum abgestiegen war. Er hatte kaum nötig zu sehen oder zu hören, worüber er etwas zu Papier brachte. Talent und Frevel gingen da ineinander, wie man ja auch zu jedem Frevel das Talent haben muß. Mit den dunkelhäutigen Toxtethern brauchte Chatwin gar nicht erst zu reden. Statt dessen setzte er sich in die Toxteth Library, las Flaubert, und dachte sich zwischendurch aus, was die Gegenstände seiner Reportage gesagt haben würden, hätte er mit ihnen gesprochen. Er:  Gegenstände, von denen er bloß phantasierte ? Sie:  Nicht ganz. In Sheffield geboren, in Birmingham aufgewachsen, kannte er sich im und mit Heruntergekommenem aus. Auch mit Heruntergekommenen. Sinken war sein Fach. Er:  Er hatte es gern ? Sie:  Im Gegenteil. In steilem Aufstieg begriffen, eingestellt als Be­ Gespräch in Liverpool | 93

richterstatter über die seltenen Höhenflüge der Kunst, haßte er das Gemeine und warf den Scharfblick des Hassenden darauf. Der Haß steht ja der Gleichgültigkeit ebenso fern wie die Liebe ihr fernsteht. Beide dringen ein. Chatwin war in Toxteth am rechten Ort und übrigens auch in diesem Haus. Da er mit dem Zug in Lime Street Station ankommen würde, bot ich ihm an, eine Nacht hier zu verbringen. Er blieb eine Woche. Mit Bradshaw freundete er sich gleich am ersten Abend an. Er:  Mit diesem Absteiger hat er also doch gern geredet. Sie:  Er hatte eine Schwäche für Adlige, selbst für die deklassierten. Gerade für die deklassierten wie den König von Araukanien und Patagonien. Er:  Warum gerade für sie ? Sie:  Wegen der Verwandtschaft mit ihnen. Er:  Sagten Sie nicht gerade, ihr und sein Weg hätten in umgekehrte Richtung geführt, abwärts und aufwärts ? Sie:  Aufsteiger und Absteiger treffen einander notwendig an einem Punkt. Aber die Verwandtschaft lag in einem anderen Aspekt. In einem machtlos gewordenen Adligen ist nicht so sehr er selbst wirksam als vielmehr seine Vorfahren ; aus ihm treten Reden und Gebärden Verstorbener hervor, wie die Reden und Gebärden der Rolle aus einem Schauspieler. Und ein Schauspieler war Chatwin doch in erster Linie. In dieser Analogie liegt die Verwandtschaft. Er:  Wenn Analogie denn je Verwandtschaft stiften kann. Sie: Die erniedrigten Hochgeborenen mochten Chatwin und schenkten ihm alte Orden ; er mochte Orden und sie. Der aristokratische Sinn für Distanz ließ den Umgang beider Parteien erträglich werden. Er:  Ins Büro des Sunday Times Magazine mit Chatwin gepfercht, fehlte offenbar der Abstand und folgerichtig auch der erträgliche Umgang. Sie:  Chatwin war eingebildet. Er:  Vielleicht eine Nebenwirkung starker Einbildungskraft ? Sie:  Man sah ihm an, daß er sich sehen ließ. Alles mußte für ihn zur Szene werden. Er:  Wenn nur die Szene stark war. Sie:  Sie war Teil einer endlosen Theaterprobe zu einem Stück, das niemals aufgeführt wurde. 94 | Aufgerissene Augen 

Er:  Ein Probieren, das, so urteilten die meisten Zuschauer, die festgeschriebenen Stücke des Londoner Westends verblassen ließ. Sie:  Weil es verblüffte. Ich wurde aus Chatwin nicht klug. Er:  Muß das an ihm gelegen haben ? Sie:  Je länger ich mit ihm zu tun hatte, desto weniger mochte ich ihn. Er wollte bloß die Büroarbeit nicht machen. Arbeit, die doch gemacht werden muß und von der ich mehr zu machen hatte, weil Chatwin und seinesgleichen sie nicht machten. Sein legendäres Telegramm an den Chefredakteur, mitten hinein in die vorweihnachtliche Arbeitsflut des Jahres 1974, »Gone to Patagonia for four months«, fand ich so unverschämt wie erfreulich. Er:  Ich habe gehört, das Telegramm sei Chatwins nachträgliche Erfindung gewesen ; er habe es nie gesandt. Sie:  Ich habe es gesehen. Er:  Man meint manchmal zu sehen oder gesehen zu haben, was ins Bild paßt. Wie auch immer: War die schmale Welt des Sunday Times Magazine annehmlicher, seit Chatwin sich in die weite Welt verflüchtigte ? Sie:  Seine Nachfolgerin nahm sich der Büroarbeit an. Er:  Und hinterläßt die Büroarbeit so bemerkenswerte Resultate, wie Chatwins Abneigung gegen Büroarbeit sie hinterließ ? Was halten Sie von seiner patagonischen Reise ? Sie:  Ein Bestseller. Sie ist, wie Bestseller eben sind. Er:  Auch der Kommerz sprießt aus der Phantasie. Wer anderen seine Ware andrehen will, muß sich vorstellen, was an ihr für diese anderen von Interesse sein könnte. Sie:  Tat Chatwin das ? Für mich nicht. Aber ich halte überhaupt wenig vom Reisen. Das Leben ist schon anstrengend genug, wenn man zu Hause bleibt. Er:  Chatwin schreibt wie einer, der hofft, sich so der Anstrengungen wieder zu entledigen – der des Lebens und der des Reisens. Sie:  Daran ist etwas Wahres. Chatwin sagt irgendwo, er sei gereist, um etwas zu erfahren. Das Schreiben sei nur ein Abfallprodukt seiner Erfahrungen. Wer eine Mahlzeit genießt, muß irgendwann ausscheiden. So mußte Chatwin schreiben, weil er reisend etwas erfahren hatte. Ob er einen Brief schrieb, eine Reportage oder einen Roman: Immer lud er auf seinen Lesern ab, was mit sich herumzuschleppen er keine Lust mehr hatte. Selbst darin noch war er selbstsüchtig. Gespräch in Liverpool | 95

Er:  Ein Selbstsüchtiger sucht das Selbst, das da ist, zu befriedigen. Chatwin ist, glaube ich, gereist, um sein altes Ich hinter sich zu lassen und ein neues zu finden. Sie:  Die Welt in den Dienst des alten Selbst nehmen oder eines neuen – ich sehe in dem einen ebensosehr Selbstsucht wie im anderen. Er:  Selbstsucht kann bemerkenswerte Resultate haben, wenn das Selbst danach ist. Oder, wie in Chatwins Fall, danach wird. Den Abfall eines solchen Selbst, wenn es fährt und erfährt, ziehe ich den adretten Ergebnissen seßhafter Büroarbeit vor. Sie:  Beim Fahren erlebte ich ihn später, in meinem Wagen, auf dem Rückweg von Liverpool nach London. Bei jedem Blick in den Rückspiegel war er von seinem eigenen Bild gefesselt und rückte seine Gesichtszüge zurecht. Er:  Auch ich hätte lieber Chatwins Gesicht betrachtet als die M6. Sie:  Für die Wahl zwischen beiden Objekten gebe ich Ihnen zögernd Recht. Aber bei ihm trat das Subjekt immer vor das Objekt. Danach waren dann die Erfahrungen, die er fahrend machte. Absonderliche Dinge stehen in seinem Reisebuch. Er:  Höchst absonderliche. Sie:  Grelles Zeug. Es erinnert mich an Chatwin in den Räumen des Sunday Times Magazine. Sie änderten ihren Charakter, sobald und solange er da war. Halb Irrenhaus wurde die Redaktion dann, halb Probebühne eines Theaters. In unserem Büro stand er plötzlich auf und steuerte auf den Schreibtisch Francis Wyndhams, des leitenden Redakteurs, zu, schrille Schreie ausstoßend. Er:  Das Schrille weckt, statt einzulullen. Sie:  Den Lärm macht das Aufeinanderprallen der Widersprüche. Versichert Chatwin nicht – an welcher Stelle, ist mir entfallen –, er habe die leere Weite Patagoniens aufgesucht, um zum Wesentlichen zu gelangen: sich selbst zu suchen und zu finden ? Sein neues Selbst, wie Sie sagen. Das Zeugnis, das er von dieser Suche hinterließ, ist: Disparates, uns vor die Füße geschüttet. Er:  Darin handelte er wie alle Welt. Nachdem er sich gesammelt hatte, zerstreute er sich. Aber wie er sich sammelte und wie er sich zerstreute, darin ist er nicht wie alle Welt. Absonderlich, was noch kein Kompliment wäre, und, was eines der stärksten ist, bedeutsam. Sie:  Was finden Sie an Chatwins Suche nach einem Stück Faultierhaut bedeutsam ? Much Ado about Nothing. 96 | Aufgerissene Augen 

Er:  Es ist doch gerade Chatwins Pointe, daß dieses Stück Haut so wenig ist – eigentlich fast nichts – und so viel in Gang setzt. Zu Beginn scheint es mehr, als es ist. Das Kind erblickt es als repräsentativen Gegenstand in einer Glasvitrine der Großmutter. Es soll von einem Brontosaurus stammen. Der Junge möchte es erben, doch nach dem Tod der Großmutter wird es versehentlich weggeworfen. Der erwachsene Chatwin bricht in die Weltgegend auf, aus der es stammte – nach Patagonien. Welche Kraft, Wert zu verleihen, muß in der Imagination liegen, wenn ihretwegen das Leben eines Menschen für Monate um ein Stück Dreck kreist. Sie:  Das finden Sie bewundernswert ? Ich finde es lächerlich. Er:  Vielleicht ist es beides zugleich. Sie:  Sie haben mit etwas anderen Worten gesagt, der Mann sei einem Phantom hinterhergehechelt. Das mag man lächerlich finden oder, im Gegenteil, traurig. Dafür zu schwärmen überlasse ich Ihnen. Er:  Ich schwärme nicht. Ich erkenne die Notwendigkeit. Damit ein Leben wert ist, gelebt zu werden, muß es eine Suche sein. Wäre das Gesuchte schon da, als Gegebenes, müßte man es nicht suchen. Also kann das Ziel der Suche nur imaginiert sein. Sie:  Ein Phantom. Er:  Wahrscheinlich hat sich noch nie jemand an große Dinge gewagt, ohne das im Sinn gehabt zu haben, was Sie ein Phantom nennen. Offenbar muß immer das Unmögliche versucht werden, damit einer das Mögliche erreicht. Sie:  Und um dies nützliche Werk zu verrichten, wäre uns die Phantasie verliehen ? Ein Rädchen im Getriebe, das sich höher denn alle Rädchen wähnt ? Er:  Von der Phantasie Rechenschaft geben zu wollen, fällt mir nicht ein. Sie zählt zu den verborgenen Künsten der Seele. Magische Vermögen entziehen sich dem Erklären. An ihnen ist etwas, das wir nie ganz verstehen. Nur eben diesen Zipfel erhaschen wir an der Phantasie: daß sie aufs Unmögliche zielt und daß ihr das Mögliche zufällt. Sie:  Das Mögliche, das sich am Ende von Chatwins Reise, im 93. Kapitel, als Wirkliches enthüllt, sind einige Haufen Faultierkot. Er:  Es enthüllen sich unterwegs außerdem noch ein paar Einsichten. Sie:  Mir haben sie sich nicht enthüllt. Vielleicht springt ihre Nacktheit besser vom männlichen Autor auf den männlichen Leser über. Gespräch in Liverpool | 97

Er:  Keine Sorge, Chatwin war auch in dieser Hinsicht bisexuell. Sie:  Bisexualität verdoppelt jedenfalls die Chance auf ein Rendezvous. Er:  Die Chance auf ein Rendezvous unsererseits, Ihres und meines Kopfes, scheint sich mit jedem Wortwechsel zu halbieren. Wir kriechen von einander weg. Sie:  Dann helfen Sie mir auf die Sprünge. Er:  In einem seiner Essays berichtet Chatwin von seinem Besuch bei Eileen Gray. Die große Designerin hatte an der Wand ihrer Pariser Wohnung zwei Landkarten Patagoniens, von ihr selbst in Gouache gemalt. Chatwin sagte Gray, dies sei eine der Weltgegenden, in die er schon immer habe reisen wollen. Sie auch, antwortete die alte Frau. 94 Jahre war sie damals. Wenn sie jung wäre, würde sie losziehen, um Kap Hoorn zu sehen. »Allez-y pour moi.« Und er versprach es. Sie wird glücklicher gestorben sein, weil jemand ihren Traum wahr machte. Sie:  Chatwin hat ihren Traum falsch gemacht. Sein vorherrschender Affekt war Abneigung gegen die Wahrheit. Gray hatte nicht ersehnt, am Ende in einer Höhle vor Faultierkot zu stehen. Ihre Reise wäre anders gewesen, von Schönheit geleitet, wie so vieles in ihrem langen Leben. Sie starb in einer Illusion. Er:  Aber glücklicher. Sie:  Möchten Sie für sich selber ein Glück, das auf einer Illusion beruht ? Er:  Das Wissen darum, daß es eine sei, unterhöhlt die Illusion. Sie:  Dies Wissen ist immer zu haben, sofern man es haben will. Man kann zum Beispiel nicht ›für jemanden reisen‹. Daß man es könnte, kommt bloß in sentimentalen Tagträumen vor. Denn die Reise – das wäre ja die Erfahrung des Reisens. Eine Erfahrung kann man nur selber machen. Ihre Erfahrungen sind keine Erfahrungen für mich, und Chatwins keine für Eileen Gray. Die alte Frau belog sich selbst, und Chatwin schmierte ihr die Lüge wie Honig um den Mund. Das ist nun allerdings eher traurig als lächerlich. Zu bewundern ist wiederum nichts. Er:  Wenn alle sich an die Tatsachen hielten und ihre Phantasie aus dem Spiel ließen, dann, so meinen Sie, wäre die Welt, wie sie sein sollte. Realistisch finden Sie diese Vorstellung. Aber sie ist blind fürs Reale. Sie könnten zum Beispiel dieses Gespräch mit mir nicht 98 | Aufgerissene Augen 

führen ohne Phantasie. Jede wirkliche Erfahrung schließt Phantasie ein. Was Sie an mir vor sich sehen, ist eine Klappe, die sich öffnet und schließt, Laute ausstoßend. Sie:  Gut beschrieben. Er:  Daß hinter dieser Klappe einer ist, der denkt – Sie unterstellen das auch, wenn Sie meinen, daß ich verkehrt denke –, ergänzt bereits Ihre Einbildungskraft. Sie nimmt im Umriß vorweg, was ich als nächstes sagen könnte. Sonst wären Sie nicht in der Lage, geistesgegenwärtig zu reagieren. Sie:  Eine Geistesgegenwart, die also nicht bloß Gegenwart des Geistes ist ? Er:  In ihr steckt immer schon ein Stück Zukunft des Geistes. Sie:  Und so, finden Sie, reagiere ich ? Es wäre Ihre erste Schmeichelei für heute. Er:  Sie reagieren so im Rahmen Ihrer Möglichkeiten. Sie:  Ich dachte mir schon, daß keine Schmeichelei daraus würde. Er:  Etwas in etwas zu sehen, erfordert stets Einbildungskraft. Man muß nicht gleich in einem Sandkorn die Ewigkeit sehen, wie William Blake es tat. Das vollbringt nur die große Einbildungskraft. Wir, die wir keine Blakes sind, erblicken nicht das Größte im Kleinen. Aber etwas phantastischen Überschuß produzieren auch wir. Im Rahmen unserer Möglichkeiten. Sie:  Käme es nicht auf die Wirklichkeit an ? Er:  Es hat keinen Sinn, das eine gegen das andere auszuspielen. Wirkliches von dieser Art ist, was es ist, aufgrund des jeweils Möglichen. Etwas erleben und etwas mitteilen kann ich nur, sofern ich imstande bin, hinauszugehen über das, was vor mir herumliegt. Phantasie ist kein realitätsfremder Luxus. Sie ist die erste und letzte Bedingung des Umgangs mit Wirklichem. Sie:  Wenn die Phantasie in dieser Weise Gemeingut wird, springt kein Sonderlob Chatwins mehr heraus. Auf ein solches waren Sie aber von Anfang an versessen. Er:  Es gibt verschiedene Formen, mit seiner Phantasie zu arbeiten. Sie:  In welcher hätte denn Chatwin besonders geglänzt ? Er:  Bei vielen betäubt das Phantasieren die Wahrnehmung. Tagträumend sehen sie nicht mehr, was um sie vorgeht. Bei Chatwin war es umgekehrt. Seine außerordentliche Beobachtungsgabe entsprang seinem Einfallsreichtum, statt daß dieser sie narkotisierte. Gespräch in Liverpool | 99

Seine Phantasie brachte fernste Dinge ins Spiel und gerade neben ihnen sprang das Besondere des Nahen, vor Augen Liegenden auch in sein und unser Auge. Chatwins Einbildungskraft ließ ihn das Ungewöhnliche im Gewöhnlichen erkennen. Eine Kraft, zu Recht so genannt: Das Erfundene machte ihn aufmerksamer für das Nicht-Erfundene. Diese Aufmerksamkeit leiht Chatwin uns, wenn wir ihn lesen. Er erzählt keine Unwahrheit, auch keine Halbwahrheit, sondern anderthalb Wahrheiten. Sie:  Ihre Wahrheit Einskommafünf – ist sie die sonst so genannte poetische Wahrheit ? Er:  Die Wahrheit nach Ressorts zu teilen ist immer bloß ein Manöver für den Notfall. Die poetische Wahrheit, die religiöse Wahrheit, die Wahrheit der Gefühle: Wer davon plappert, will eine Sache in Sicherheit bringen, an der die Wissenschaft den Verstand vermißt. Vor solchen Bergungen drücke ich mich. Mir ist es nicht um eine Sparte zu tun. Ich gehe bei Chatwin, dem Nichtbürokraten, aufs Ganze. Man sieht Patagonien anders, man sieht es überhaupt erst, wenn sein Buch einem die Augen für das Land geöffnet hat. Sie:  Schon wieder die Augen ? Wortkram, der das Buch ist, souffliert es eher den Ohren von Touristen, die zu Hause brave Kreaturen des Büros sind. Das Sehen haben sie sich dort abgewöhnt. In Patagonia ist ihr Kult geworden und wirkt auf sie als verbale Droge. Den Patagoniern selbst wurde schlecht über Chatwins anderthalb Wahrheiten. Manche fühlten sich vom Empire noch einmal kolonial überwältigt, durch die Gewalt eines internationalen Bestsellers, der sagte, wer sie seien. Sofern sie mit Chatwin geredet hatten, mühten sie sich, die Lügen zu berichtigen, zu denen das Patagonienbuch Gehörtes und nur halb Gehörtes exaltierte. Unter den Formen, mit seiner Phantasie zu arbeiten, wie Sie es nennen, scheint mir dies Chatwins eigentliches Metier gewesen zu sein. Ich zähle es zur harten Arbeit. Der Lügner geht kraft seiner Phantasie heftig über das hinaus, was vor ihm liegt. Zugleich muß er ein gutes Gedächtnis haben, sonst verheddert er sich in seinen Lügen. Vermutlich kennen Sie die seltenen Produkte der Einbildungskraft, zu denen Chatwin bis zuletzt seine Erkrankung an AIDS erhob. Loulou de la Falaise ließ er wissen, er habe ein tausendjähriges Ei gegessen, das faul gewesen sei. Das wäre eigentlich keine schlechte Geschichte für George Ortiz, den Antiquitätensammler, gewesen. 100 | Aufgerissene Augen 

Ihm erzählte Chatwin aber, er habe sich an den Fäkalien einer Fledermaus angesteckt. Matthew Spender erfuhr, der Verzehr einer Scheibe rohen Kanton-Walfleischs habe die Krankheit verursacht. Seiner Schwiegermutter schrieb Chatwin, die Pilzinfektion des Knochenmarks, die er sich zugezogen habe, sei noch nie an einem Europäer diagnostiziert worden  – es gebe zehn gesicherte Fälle unter chinesischen Bauern, ferner einige wenige in Thailand. Gleiche Symptome habe man sonst nur am Kadaver eines Schwertwals entdeckt, der an den Küsten Arabiens angeschwemmt worden sei. Von einer Krankheit, die ihn zu befallen würdig wäre, verlangte Chatwin, daß sich eine Geschichte aus ihr machen ließ. Mit seinem Phantasieren mußte er am Ende im Orient stranden. Er:  Erzähler leben von Geschichten. Es sollte niemanden wundern, daß sie an ihnen sterben. Haben Sie das letzte Interview gesehen, das Chatwin einem Fernsehsender gab, kurz vor seinem Ende ? Abgemagert bereits bis auf die sprichwörtlichen Knochen und mit grausig weit aufgerissenen Augen erblickt man ihn, wie er von seiner letzten erfundenen Figur erzählt, dem Prager Porzellansammler Utz. Wer solcher unschuldigen Passioniertheit fähig war, ist jeder Verurteilung entzogen. Keine andere Epiphanie einer Schriftstellerperson hat mich so erschüttert. Sie:  Erschütterungen beweisen immer nur die Schwäche dessen, dem sie passieren. Er:  Einem Todkranken fast jedes Mittel zuzugestehen, sich seine Lage erträglich zu machen, ist keine Schwäche. Sie:  Das, wovon ich rede, beginnt ein wenig früher. Kennen Sie die Geschichte von Chatwins Auftritt in Innisfree House Wythall, bei Birmingham ? Es war eine große Enthüllung, mit der Bruce, damals sieben Jahre alt, seine Klasse überraschte. Dramatisch fuchtelnd schlug er den Atlas auf und wies auf das Weiße Meer. Er stamme gar nicht von dem Mann und der Frau, die ihn täglich zur Schule brächten. Vielmehr sei er ein Waisenbub aus dem Norden Rußlands. Aus Archangelsk, der Erzengelstadt. Im tiefsten Winter sei er geflohen: Schlitten, japsende Huskys, schwarze Kiefern, Feuer der Soldaten aus blitzenden Gewehren, Schreie, Blut im Schnee, ein gefrorener Fluß – kein Detail fehlte. Nur er, Bruce, habe überlebt. So tapfer. Den Kindern stand der Mund offen. Ein Mädchen, gerührt wie Sie über Chatwins aufgerissene Augen, brach in Tränen Gespräch in Liverpool | 101

aus. Die Schulleiterin schlug den Eltern später vor, ihren Sohn zum Psychiater zu bringen. Chatwin hat sein Leben lang Mystifikation über sich selbst betrieben. Er war diese Mystifikation. Er:  Sie zu betreiben oder sie zu sein – ist das nicht zweierlei ? Sie:  Worin läge der Unterschied ? Er:  Das Sein hat eine Art Unschuld auf seiner Seite. Sie:  Vielleicht. Der Lügner kann nur lügen, weil er Wahrheit und Unwahrheit auseinanderzuhalten vermag. Bei Chatwin hatte ich manchmal Zweifel, ob er Unwirkliches von Wirklichem zu scheiden vermochte. Wären diese Zweifel berechtigt gewesen, dann müßte man ihn einen authentischen Charlatan nennen. Und das wiederum macht es fraglich, ob er überhaupt phantasiebegabt war. Er:  Erklären Sie sich ! Sie:  Sind Ihnen The Dry Salvages geläufig ? Den Mississippi einen starken braunen Gott zu nennen, beweist T. S. Eliots Phantasie. In einem Volk, das an Flußgötter glaubt, bewiese es nichts dergleichen. Es wäre bloß dessen Routine. Erst aus Unglauben, scharf zwischen Wirklichem und Unwirklichem scheidend, erwächst die Phantasie. Er:  Nur solange Sie Ihre Beispiele draußen aus der Natur beziehen, leuchtet das ein. In der Frage, wer einer ist, oder wer er wird, gibt es keinen harten Schnitt zwischen Unwirklichem und Wirklichem. Unwirkliches, das sich ein Mensch über sich selbst in den Kopf setzt, verwandelt sich fortwährend in seine Wirklichkeit. Bruce Chatwin hat sein Leben lang Bruce Chatwin neu erfunden. Er tat das in und durch Geschichten. Sie:  Worauf wollen Sie hinaus ? Er:  Chatwin hat fünf phantasiereiche Bücher geschrieben, aber sein an Phantasie reichster Beitrag zur Literatur war er selber. Er erfand Dinge, um alles an sich selbst und seinem Leben zu erhöhen. Sie:  Das Ich als Kunstwerk seiner selbst. Als solches mutet es sich den nicht zum Opus gestalteten Mitmenschen wie mir zu. Würdigen wir das Ich dann nicht als das Meisterstück, für das es sich hält, sind wir Banausen. Er:  Ein Kunstwerk wäre fertig. Chatwin betrachtete sich nie als vollendet. Er existierte durch das, was er erzählte, und was er erzählte, waren stets sich wandelnde Geschichten. Wer ihn kannte, so wird mir berichtet, erlebte Chatwin in freiem Fluß. Sie:  Der Mississippi als Laffe. Einen Fluß in seinem Fließen be102 | Aufgerissene Augen 

wundern zu sollen mutet mehr, nicht weniger zu als die Würdigung eines Standbilds. Er:  Auf Ihre Bewunderung kam es ihm, vermute ich, gar nicht so sehr an. Er hat irgendwann entdeckt, daß niemand sich so frei entfalten kann wie eine literarische Figur. Es sollte ihn, Bruce Chatwin, als diese literarische Figur geben, und zugleich wollte er der Autor dieser literarischen Figur sein. Oder, genauer: literarischer Figuren – denn er zerlegte sich in mehrere. Sie:  Das Geschöpf als Schöpfer seiner selbst – ein stolzer Widerspruch. Er:  Ich kann ihn nicht auflösen. Sie:  Dann versuche ich es mit einer Hypothese. Vielleicht war Chatwin ein Rollenspieler, der merkte, er werde andere nur dann ganz überzeugen, wenn ihm etwas Besonderes gelang: Das Künstliche mußte natürlich werden. Falschheit mit gutem Gewissen, den sogenannten Charakter beiseite schiebend, überflutend, schließlich auslöschend. Chatwin hatte zu vergessen, daß er nur eine Rolle spielte. Und er vergaß es. Er:  Ihre Hypothese läßt den Schriftsteller Chatwin aus dem Spiel. Darum verstehen wir durch sie nicht, was wir verstehen wollen. Sie:  Sie haben Recht ; wir werden die Frage nicht los: Was passiert mit einem Menschen, der sich jenem Programm verschreibt: eine literarische Figur zu sein und zugleich deren Autor ? Bleibt er wirklich ? Wird er zur Fiktion ? Er:  Es sollte ihn als Erfindung seiner selbst wirklich geben. So wie Sie die Entscheidungsfrage stellen – Bleibt er wirklich ? Wird er zur Fiktion ? –, läuft sie ins Leere. Sie müßten fragen: Was stellt das ZurFiktion-Werden mit etwas Wirklichem, mit dem Selbst an ? Sie:  Wenn wir das offenbar beide nicht wissen, dann müssen wir auf etwas anderes die Antwort suchen: Warum wollte oder will überhaupt einer, wie Chatwin, eine literarische Figur sein und zugleich deren Autor ? Warum wollte er nicht einfach nur er selber sein ? Er:  Ist es denn einfach ? Die Natur liefert ein Baby, kein Selbst. Ein Selbst kann immer nur daraus gemacht werden. Sie: Ob nun gegeben oder gemacht, irgendwann hat sich das Selbstgefühl eingestellt. An diesem Punkt liegt meine Frage nahe: Warum nicht einfach nur man selber sein ? Gespräch in Liverpool | 103

Er:  Sie finden es beruhigend, einfach nur Sie selbst zu sein. Chatwin fühlte sich von der Anforderung, er selbst zu sein, offenbar beengt. Sie:  Als beengend fühlte sie sich an in einer Idolatrie des freien Menschen. Aber ist es befreiend, sein Leben als Roman zu organisieren ? Und was stand diesem Privileg, falls es eines war, an Kosten gegenüber, an Gefahren, an Beschädigungen ? Er:  Eben das wollte ich William Bradshaw fragen. Er habe, so deutete er in seinem letzten Brief an, davon einiges an Chatwin mitbekommen. Sie:  Ich muß Ihnen danken. Er:  Wofür ? Sie:  Durch Sie, der Sie Chatwin gar nicht in Person kannten, habe ich erfahren, wer er war. Er:  Aber Sie haben mir doch in allem widersprochen. Und am Ende sind wir in lauter unbeantwortete Fragen geraten. Sie:  Das ist meine Art, von jemandem zu lernen. Er:  Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen nun meine Lebensgeschichte erzähle ? Sie:  Nur, wenn sie erfunden ist. Als sie ausgeredet hatten, war es bereits finster geworden. Er verließ die Wohnung. Beim Hauseingang redete ihn ein Herr mit grauen Haaren an, der ihm wie ein gebrochener Würdenträger vorkam. Dieser wußte sofort, wer er war, hatte mit ihm gerechnet, war offenbar gerade jetzt mit ihm verabredet. Eine merkwürdige Ahnung beschlich ihn, er fragte dennoch: »Wer sind Sie ?« »William Brad­ shaw.«

104 | Aufgerissene Augen 

WOLFR AMUS 



Gespräch in Erfurt

D

er eine Gott liebt es mehrfach. Vier Evangelien huldigen ihm ; dreifach ist er selber, Vater, Sohn und Heiliger Geist ; und auf dem Erfurter Domberg meinte man es immerhin noch so gut, daß man ihm, unmittelbar neben einander, zwei Kirchen weihte: St. Severi und St. Marien. Zu dieser, dem Dom, führt eine breite Treppe. Sie steigt an von dem großen Platz Erfurts, einst Friedrich-Wilhelm-Platz genannt, nach dem Soldatenkönig aus dem Hause Hohenzollern. Das zum Platz hin gelegene nordöstliche Doppelportal St. Mariens hat dieser Lage wegen, entgegen den Absichten der Baumeister, den Charakter des Haupteingangs angenommen. Die Mauern der Kirche bilden ein gleichseitiges Dreieck. Dem Herrn, der ihn von oben sieht, präsentiert der Bau im Ganzen so zu seinem Wohlgefallen den Charakter der heiligen Dreifaltigkeit. Nach seinem Bilde haben ihn die Menschen geschaffen. Und damit auch sie den Charakter der Trinität sehen, erhebt sich über jedem der beiden Portale ein steinernes Dreieck. Wohin man blickt: Eines wäre hier, scheint es, stets zu wenig. »In der Einheit des Charakters«, sagt Immanuel Kant, »besteht die Vollkommenheit des Menschen«. Die des Gottes christlicher Monotheisten schleppt überall Mehrheit in seine Einheit hinein. Hat der Herr Charakter ? Und ist menschliche Vollkommenheit irgendwo im göttlichen Multiplex zu entdecken ? Einmal, vor peitschendem Regen hierher geflüchtet, trafen in St. Marien er und sie, zwei an diesem Ort eher unwahrscheinliche Charaktersucher, auf einander. Er tippte ihr auf die Schulter.

Emil Jannings:  Sie hier – eine russische Revolutionärin im Dom ? Natalia Sedowa:  Sie kennen mich ? Jannings:  Erinnern Sie sich jenes Abendessens in Berlin vor ein paar Jahren, das Rathenau für die Führer Rußlands, pardon: der Sowjetunion gab ? Ihr Mann war damals Kriegskommissar. Sie sa 105

ßen mir gegenüber. Offenbar hinterließ mein Charakter keinen tieferen Eindruck bei Ihnen. Sedowa:  Sie sind der Schauspieler … Jannings: Jannings. Sedowa:  Ich kenne Sie eher par renommée als durch unsere Begegnung. Verzeihen Sie meine Vergeßlichkeit. In meinem Leben gibt es zu viel tiefere Eindrücke, und einer löscht den anderen aus. Jannings:  Dagegen hilft vermutlich nur Beten. Das würde auch Ihr Hiersein erklären. Sedowa:  Um Gott anzuflehen habe ich diesen Ort nicht aufgesucht. Schon vor der Revolution war ich von der Frömmigkeit kuriert. Aus dem noblen christlichen Mädchenpensionat von Charkow, in das meine Eltern mich gesteckt hatten, warf man mich heraus, weil ich versuchte, die Mitschülerinnen vom Beten abzuhalten. Statt der Bibel, fand ich, sollten sie lieber Marx und Engels lesen. Jannings:  Einen Schauspieler wie mich werden Sie nicht von einer Sorte dogmatischen Schrifttums zu einer anderen ziehen. Auch scheinen mir ökonomische Prognosen den Gebeten auffallend ähnlich, denn sie pflegen nicht in Erfüllung zu gehen. Sedowa:  Sorgen Sie sich nicht, so wenig wie zum Beten bin ich zum Missionieren hier. Jannings:  Kirchen sind ja, Gott sei Dank, zu vielerlei gut. Man bleibt trocken in ihnen. Und Kirchenschlaf gilt als der gesündeste. Jedenfalls bin auch ich nicht zum Beten hier und zum Missionieren fehlt mir, anders als Ihnen, ein Glaube. Sedowa:  Vermutlich wollen Sie, wie ich, Ihre Ruhe haben. Jannings:  Ich will schauen. Sedowa:  Ist das nicht das selbe ? Jannings:  Die höchste Ruhe wäre blicklos. Sedowa:  Wollen Sie mit prätentiösem Geschwätz den Unterhaltungsonkel vergessen machen ? Jannings:  Ach Sie ! Sollte ich meine Ruhe haben wollen, dann wären meine Gründe, gegen Ihre gehalten, die umgekehrten. Sedowa:  Die umgekehrten ? Jannings:  Sind Sie illegal in Deutschland ? Ich selber bin in diesem Land nur zu erwünscht. Der Lärm, der von allen Seiten fordernd auf mich trifft, ruiniert meine Konzentration. 106 | Wolframus 

Sedowa:  Was Sie von Berufs wegen liefern, dient der Zerstreuung. Über den Ruin der Konzentration sollten gerade Sie sich nicht beklagen. Jannings:  Das Publikum zu zerstreuen ist die anstrengendste Kunst. Wer sich nicht sammelt, vermag auf diesem Gebiet wenig auszurichten. Sedowa:  Und daran hindert Sie Ihr Erfolg ? Jannings:  Das glauben Sie mir nicht, weil Sie selber keinen haben. Sedowa:  Wohl wahr. Nicht einmal in der Sowjetunion bin ich erwünscht – das Weib Trotzkis, des Juden, der die Revolution bewegt halten will. Die anderen wollen sie stillstellen. Jannings:  Sie machen mir diese anderen fast sympathisch. Sedowa:  Warum denn sympathisch ? Jannings:  Der revolutionär Bewegte setzt die Ruhe unter Verdacht. Was sich nicht bewegt, muß sich vor ihm rechtfertigen. Was stillsteht, ist seinen Fragen ausgesetzt. Was nicht weitergeht, wird von ihm verhört. Das ist mir unsympathisch. Sedowa:  Es ist umgekehrt. Wer uns anhängt, wird verfolgt. Die Stillstellenden wissen: Still sind die Toten. Die Agenten des Stillstands würden Trotzki und mich gerne totschlagen. Was uns bleibt, wenn sonst nichts bleibt, ist unsere Konzentration. Es gibt nur ein Ziel: Die Weltrevolution. Jannings:  Sie sind das Licht der Welt – meinen Sie. Sedowa:  Beneiden Sie mich, Sie Märtyrer des Erfolgs ? Jannings (schweigt). Sedowa:  Nun ? Jannings:  Ich wollte noch etwas sagen. Sedowa:  Dann sagen Sie es. Jannings:  Jetzt weiß ich es nicht mehr. Plötzlich weiß ich es nicht mehr. Sedowa:  Sagen Sie einfach etwas anderes. Jannings:  Sehen Sie den bärtigen Mann mit den erhobenen Armen ? Sedowa:  Er trägt das Gesicht eines kommunistischen Revolutionärs. Jannings:  Von einer ehemaligen Studentin der Kunstgeschichte an der Sorbonne – auch das habe ich damals in Berlin mitbekommen – pflege ich feinsinnigere ästhetische Urteile zu erwarten. Gespräch in Erfurt | 107

Sedowa:  Es wird einmal als wertvoller Beitrag zur Ikonographie gelten, auf die physiognomische Ähnlichkeit russischer Revolutionäre und christlicher Heiliger aufmerksam gemacht zu haben. Jannings:  Marx sagt, die Religion sei das Opium des Volkes – sie beruhigt. Die Revolution ist hingegen das Kokain des Volkes – sie putscht auf. Drogen, die sie sind, machen beide süchtig. Das könnte eine physiognomische Ähnlichkeit ihrer jeweiligen Helden, so sie denn wirklich besteht, erklären. Sedowa:  Revolutionär und Heiliger sind aber nicht das Volk, auch wenn sie zum Volk sprechen. Jannings:  Das ist wahr: Hier wie dort Vormund und Nachmund. Nur letzterer schluckt die Drogen. Sedowa:  Sie sind unausstehlich. Jannings:  Das ist der Normalfall bei beliebten Schauspielern. Sedowa:  Aber meiner Beobachtung stimmen Sie zu ? Jannings:  Mir scheint, die Ähnlichkeit russischer Revolutionäre und christlicher Heiliger, die Sie behaupten, berührt eher das Moralische als das Ästhetische. Sedowa:  Rußland hat eben inzwischen Besseres entdeckt als Ästhetik. Dem Interesse an Kunstwerken tut es übrigens keinen Abbruch. Jannings:  Haben Sie den alten Kirchendiener dort hinten bemerkt ? Sedowa:  Ein Gesicht wie brüchiges Pergament. Jannings:  Er hat schon ein paarmal mißtrauisch zu uns herübergeblickt. Sedowa:  Das nenne ich Instinkt. Er spürt das Weltliche an uns beiden – auch wenn es sehr verschieden Weltliches ist. Doch jetzt schaut er weg von uns. Instinkt, aber mit Diskretion: die Doppeltugend des Dieners. In der Diskretion berührt sich das Moralische mit dem Ästhetischen. Jannings:  Zum Kunstwerk also. Wolframus  – ein Mann nach meinem Geschmack. Er macht zwar nur eine Sache, die aber macht er richtig: leuchten. Nicht einmal beten kann, wer so seine Arme spreizen muß. Sedowa:  Den, der nicht betet, können andere anbeten. Sind Sie vielleicht doch dazu hier ? Jannings:  Man betet auf Knien ; in meiner Bewunderung bleibe 108 | Wolframus 

ich aufrecht. Und klopfe, sobald der Kirchendiener wegschaut. (Dieser schaut immer noch weg ; Jannings pocht mit dem Finger an die Figur.) Bronze klingt, wenn sie geschlagen wird. Der Mann findet Resonanz bei mir. Und Sie sind doch gleichfalls von ihm angetan. Sedowa:  Ich habe Grund dazu. Im Grunde, in diesem Grunde, ist Leuchten auch alles, was ich möchte. Was mir nicht einleuchtet, ist gerade Ihre Begeisterung. Sie, der Schauspieler, ein Agent der Vielfalt im Tun und Erleiden, bewundern ausgerechnet solche Einfalt ? Jannings:  Ich finde an diesem Wolfram, was mir selber fehlt: Charakter. Sedowa:  Wollen Sie damit sagen, Charakter sei etwas für Armleuchter ? Jannings:  Da ich selber keinen Charakter habe, wandelt mich diese Überzeugung gelegentlich an – es ist die Versuchung des Ressentiments. Aber heute stehe ich hier und kann kaum anders: Ich preise den Wolfram seines Charakters halber. Sedowa:  Doch ist es sein eigener ? Jannings:  Wie meinen Sie das ? Sedowa:  Der Bronzegießer hat ihm seinen Charakter verliehen. Sie wissen ja, wie es steht mit Leihgaben: Er ist dann nicht sein, des Wolframus, eigener Charakter. Jannings:  Als Kommunistin sollten Sie minder streng sein in Fragen privaten Eigentums. Sedowa:  Ich will es im Materiellen abschaffen, damit sich im Ideellen desto reiner die Individualität entfalte. Jannings:  Aristokratische Herkunft wird offenbar von keiner Revolution getilgt. Sedowa:  Kommunismus ist Aristokratie für alle. Jannings:  Alle: das ist die Masse. Wo sie sich breitmacht, gibt es keinen Charakter. Sedowa:  Das hätte sie mit Ihnen gemein. Jannings:  Es ließ sich nicht vermeiden, da ich in Filmen für die Masse spiele. Sedowa:  Das macht Sie zu einem Teil von ihr. Jannings:  Ich biete mich ihr an, sie fühlt sich in mich ein. Das ist alles. Für die Masse dazusein bedeutet nicht, in ihr zu sein. Sedowa:  In der Masse sieht ein Bürger immer nur die anderen. Gespräch in Erfurt | 109

Jannings:  Was heißt denn in der Masse sein ? Jeder sucht Halt am anderen, keiner findet ihn. Sedowa:  Mir kommt es vor, als habe ich das schon einmal gelesen – in einem schlechten Roman des vergangenen Jahrhunderts. Was Sie als die Masse verachten, heißt unter uns Kommunisten das Proletariat. Wenn ein Adliger, der von seinem Grundbesitz lebt, oder ein Bourgeois, der von seiner Dividende zehrt, nichts tun, dann arbeiten Leibeigene oder Proletarier für sie. Wir nennen das Ausbeutung. Adel und Bourgeoisie saugen fremdes Leben aus ; und wo es ausgesaugt wird, vermag Leben keinen eigenen Charakter zu gewinnen. Sobald das Aussaugen endet, nämlich mit der Revolution, beginnt der Charakter. Jannings:  Der neue Mensch, der gerade und kühn seinem Schick­ sal ins Auge blickt. So steht es im Lehrbuch der Revolution und Sie reden wie ein solches. Besucher der Sowjetunion sagen, sie hätten nicht viel von der allseits entfalteten Persönlichkeit erblickt. Die Kommunistische Partei saugt bloß etwas anders als Adel und Bourgeoisie. Sedowa:  Das ist die Perversion der Revolution. Jannings:  Auch ohne Perversion wird es zu dem Charakterwunder, das Ihnen vorschwebt, nicht reichen. Sedowa:  Wie meinen Sie das ? Jannings:  Keiner kann sich selbst seinen Charakter verleihen, denn dazu müßte er schon einen haben. Verliehen oder nicht, dieser Wolframus mit seinen großen, konzentriert blickenden Augen hat jedenfalls Charakter ; dafür bewundere ich ihn. Sedowa:  Konzentration und Einheit sind bei Standbildern keine Leistung. Wer nicht anders als stehen und leuchten kann, dem werden diese Gaben geschenkt. Nur bewegliche Wesen erringen Konzentration und Einheit. Man wird ein Charakter, indem man aus dem Gewirr seiner Neigungen einige unterdrückt, andere heraushebt. Die Wahl trifft der Wille. Wolfram hat keine Neigungen ; das Stehen und Leuchten fiel ihm willenlos zu. Jannings:  Die von Ihnen bemerkte Ähnlichkeit zu russischen Revolutionären wird nun anrüchig. Sedowa:  Alles Ähnliche ist gleich und auch ungleich. Jannings:  Ich gebe ohnehin nicht viel auf Ihren Einwand gegen den Mann. Auch eines Geschenks muß man sich würdig erweisen. 110 | Wolframus 

Das hat der Künstler sinnreich angedeutet. Unter Wolfram reißen vier Drachenfüße mit Reiterfigürchen diagonal in vier Richtungen. Dieser stetige Charakter aber folgt keiner von ihnen mit seinem Blick, sondern schaut uns unbeirrt, fast frontal an. Sedowa:  Zu ein paar Beirrungen, bis hin zum Sturz, muß es schon gekommen sein. Sehen Sie die Risse an Wolframs linkem Arm ? Man kann durch sie in das hohle Innere der Figur blicken. Jannings:  Links bekommt man überhaupt leichter Risse. Kein Charakter ohne Gefährdung, auch die des Umfallens. Sie spricht nicht dagegen, daß einer Charakter hat. Sonst sprächen Sie Trotzki das Urteil. Sedowa:  Trotzki steht auf eigenen Füßen. Jedenfalls, solange er noch steht. Wolfram hingegen könnte ohne die fehlleitenden Drachenfüße gar nicht stehen. Jannings:  Selbständigkeit ist bei Charakteren ein notwendiger Schein. Ihn zu wahren ist eine große Kunst, gerade weil jeder Charakter von anderem und anderen abhängt. Sedowa:  Ich gebe mich vorläufig geschlagen. Sie sind heute der bessere dialektische Materialist, als ich es gerade war. Kein Überbau ohne Basis. Jannings:  Wer seinen Katechismus so gut kennt wie Sie und die Sünde seiner Abweichung von ihm bekennt, paßt wirklich nicht schlecht in eine Kirche. Und je mehr Dogma einer hat, an das er sich halten kann und das ihn hält, desto weniger Charakter ist ihm nötig. Möglicherweise bin ich Ihnen so wenig aufgefallen, weil wir einander ähneln als Charakterschwache. Sedowa:  Sobald Sie Dogma gegen Charakter auszuspielen suchen, liegen Sie dann doch schief. Was ist denn dieser ? Ein So-und-nichtanders-Sein, das sich in seinem Eigensinn von den wechselnden Gesichtspunkten der jeweiligen Lage im grundsätzlichen Verhalten nicht anfechten läßt. Dogmatik der Existenz. Jannings:  Der Satz muß aus einem bürgerlichen Lehrbuch stammen, keinem kommunistischen. Ein psychologisches Skriptum der Sorbonne ? Aber vielleicht kommt alles darauf an, ob das Dogma von innen herrührt oder von außen. Sedowa:  Das Dogma von innen wäre Selbständigkeit. Nannten Sie diese nicht gerade einen Schein ? Gespräch in Erfurt | 111

Jannings:  Das haben Sie davon, mit einem Schauspieler zu debattieren. Über einem wohlklingenden Satz vergißt er den vorigen. Sedowa:  Sie stimmen mir zu ? Jannings:  Das nicht. Eigensinn soll Charakter sein ? Allenfalls ist er ein billiger Ersatz für Charakter. Sedowa:  Man nennt Sie einen Charakterdarsteller – den größten Deutschlands. Wo Sie sind, sagt man, ist nur Emil Jannings. Neben Ihnen ist nichts. Triumph des Eigensinns. Jannings:  Sind Sie nichts ? Sedowa:  Solche Fragen zu beantworten, sollte man stets anderen überlassen. Jannings:  Ich werde mich hüten. Sedowa:  Von der elementaren Unterscheidung zwischen Nichts und Etwas sollte der größte Charakterdarsteller schon etwas verstehen. Jannings:  Gewissermaßen, ja. Charakterdarsteller kann nur wer­ den, wer selber keinen Charakter hat. Oder wer, sofern er einen hat, diesen aufgibt. Das ist mir naheliegenderweise an mir selber aufgegangen. Sedowa:  Aufgegeben haben Sie Ihren Charakter ? Jannings:  Dazu genügt eine Portion Überdruß. Wenn ich könnte, würde ich selbst mein Alter und mein Geschlecht ablegen. Man hat einen National-, einen Regional-, einen Staats-, einen Klassen-, einen Berufscharakter. Man hat einen Charakter der Handschrift, der Handlinien, der Schädelform und einen, der aus der Konstellation der Gestirne im Augenblick der Geburt folgt. Mir wurde das irgendwann zuviel. Ich wußte nie, welchem meiner Charaktere ich rechtgeben sollte. Also entzog ich mich dem ganzen Syndrom. Sedowa:  Und seither sind Sie erfolgreich ? Jannings:  Seither darf ich immer wieder Anfänger sein. Sedowa:  Auch ich liebe Anfänge. Ich wäre in der Lage, den Niedergang einer Sache zu beschleunigen, um wieder beginnen zu können. Permanente Revolution heißt: Immer ist Anbruch. Jannings:  Revolutionäre sind allerdings blutige Anfänger. Meine eigenen Anfänge, eher unblutig, sind lauter neue Charaktere. Daß ich meinen Charakter aufgab, hat mich allen möglichen Charakteren geöffnet: denjenigen meiner Rollen. Helden und Schurken. Sedowa:  Aber sind das denn Charaktere ? 112 | Wolframus 

Jannings: Im Theater lernte ich den abgefeimten Intriganten kennen, den zärtlichen Vater, den edlen Liebhaber, die komische Person, die teuflische Salonschlange, die bezaubernde Naive. Und ich begriff, daß sie keine Charaktere waren, sondern Typen. Im Moment, als es mir klar wurde, schloß ich auch damit ab. Ich legte die Masken ab und begann Charaktere zu spielen – in manchen Wochen täglich einen anderen. Sedowa:  Deshalb vor allem, scheint mir, habe ich Sie mir in Berlin nicht gemerkt und hier in Erfurt nicht wiedererkannt: Sie wechseln zu häufig. Merkwürdigerweise ist mir dagegen der Charakter des Restaurants, in das Rathenau damals einlud, noch ganz gegenwärtig: Es war von nachlässiger Eleganz. Fauteuils, leicht abgetragener roter Samt. Durchaus unpreußisch. Jannings:  Auch Dinge können einen Charakter haben ? Sedowa:  So sehr wie Menschen. Landschaften zum Beispiel, die ja ganze Ensembles von Dingen sind. Poltawa, die Welt meiner frühen Kinderjahre: Pappeln wie Pyramiden, Weiden am Flußufer, bedeckt mit gelblich grünem Blütenstaub, zarte Rosen, leuchtende Fliederbüsche, die Luft erfüllt vom Summen der Bienen. Jannings:  Keine Produktionsverhältnisse – nur Natur ? Sedowa:  Mir als privilegiertem Kind mußte es so scheinen. Und es war ja auch eine kleine Wahrheit – sinnliche Gewißheit – über den Charakter dieser kleinen Welt, die für mich die ganze war. Jannings:  Schien er Ihnen damals wirklich so ? Sedowa:  Warum zweifeln Sie ? Jannings:  Weil Sie Talmi zubereiten. Angerichtet mit zarten Rosen. So etwas erkennt ein deutscher Schauspieler sofort. Man will ihn nämlich immerfort nötigen, in Schnulzen mitzuwirken. Sedowa:  Schnulzen ? Was ich Ihnen sage, ist echt. Jannings:  Gegen die echten Schnulzen bin ich besonders empfindlich. Aber vielleicht ist die Schnulze die Wahrheit über Ihre Heimat. Es gibt solche Landschaften, aus einer bestimmten Perspektive. Leuchtend – so erkennen Sie den Charakter jetzt, rückblickend, da Sie der Gegend Ihrer Kindheit fern sind. Das Jetzt, das Ihnen die dunkle Seite zeigt, verhilft zu dieser Erkenntnis. Als Kind, selbstverständlich in jenem Landstrich lebend, hätten Sie dessen Charakter nicht erkennen können. Sedowa:  Weshalb glauben Sie das ? Gespräch in Erfurt | 113

Jannings:  Immer bedarf es des Kontrasts zur Erkenntnis des Charakters. Er ist ja das, was jemanden oder etwas von anderen oder anderem abhebt. Und wie ein Charakter beschrieben wird, hängt nie nur davon ab, wie er beschaffen ist, sondern immer auch davon, auf was für einen Charakter er trifft. Bewunderung für einen heroischen Charakter setzt einen Beobachter voraus, der nicht heroisch ist. Trifft ein beschränkter, flacher und kalter Charakter auf einen reichen, tiefen und warmen, dann wird dieser jenen als beschränkt, flach und kalt beschreiben. Trifft hingegen ein beschränkter, flacher und kalter Charakter auf einen beschränkten, flachen und kalten, so werden beide einander einfach nur normal, gesund und vernünftig finden. Ein Charakter wird nicht schlechthin erfaßt, sondern nur aus dem Blickwinkel eines anders beschaffenen Charakters. Alle Charaktere werden erfaßt aus dem Blickwinkel des Charakterlosen. Sedowa:  Wohl wahr. Über meinen eigenen Charakter kann ich Ihnen nichts sagen. Nur andere und anderes haben für mich einen bestimmten Charakter. Das Bild des Charakters bildet sich dem von außen kommenden Blick. Auf das Komischste von außen kamen wir damals in den Kreml. Jannings:  Aber was machen Sie denn für ein Gesicht ? Sedowa:  Auch das kann ich Ihnen nicht sagen ; es weiß immer nur der, der mir gegenübersteht. Jannings:  Sie müssen sich augenblicklich in den Kreml versetzt haben, in Ihre komische Situation. Sedowa:  Wirklich steht mir vor Augen, wie amüsiert und verlegen Trotzki, Lenin, Nadeschda Krupskaja und ich waren, als uns zum ersten Mal ein Diener, der durch die Wirren der Revolution hindurch an seinem Platz verharrt hatte, das Mahl auf Tellern servierte, die das Wappen des Zaren schmückte. Der Alte drehte, wie er es bei Hofe gelernt hatte, sie bald in die eine, bald in die andere Richtung, denn der Doppeladler am Rande des Tellers hatte vor dem Gast in der Mitte zu stehen. Aber Revolution heißt doch Umdrehung ; Lenin und Trotzki hatten den Raubvogel erlegt. Der Charakter der Dinge, der Dinge von ganz oben, prallte auf den von uns Menschen aus dem Untergrund. Nur Ironie konnte uns aus unserer Lage retten. Jannings:  Erfaßte nicht jenes Tellerdrehen des Dieners den umfassenden Charakter der Lage tiefer als Ihre Ironie, da Lenin und 114 | Wolframus 

Trotzki sich aus freien Stücken im Kreml einhausten und die von den Bolschewiki geschaffene Union sich mehr und mehr als der absolutistische großrussische Verwaltungsapparat des Zaren entpuppt, überzogen mit sowjetischer Firnis ? Sedowa:  Vielleicht spürte ich schon damals bei Rathenaus Diner so sehr Ihre kaum verhüllte Feindseligkeit der großen Sache gegenüber, daß ich Ihnen keinen Platz in meinem Gedächtnis einräumte. Jannings:  Es gibt so viele Leute, die mich wiedererkennen, daß es mir nur angenehm ist, Sie so wenig beeindruckt zu haben. Auch dürften Sie andere Sorgen haben als das Personal deutscher Komödien im Kopf zu behalten. Was macht Ihr Mann jetzt ? Sedowa:  Er kämpft um sein politisches Überleben. Jannings:  Der Kampf ums Überleben ist nach einer Revolution jahrelang der Normalzustand. Sedowa:  Trotzkis Vater, der eine Mühle betrieb, wurde von einem Tag auf den anderen durch die Oktoberrevolution, unter deren Führern sein Sohn war, mittellos. Die Bolschewiki hatten seinen Betrieb beschlagnahmt und ukrainischen Bauern übergeben. So machte sich der alte Mann 1918 auf die lange Reise vom Gouverne­ ment Cherson über Odessa nach Moskau. Die Roten, die seinen Weg kreuzten, schimpften auf ihn als einen Kulaken, die Weißen als den Vater des gräßlichen Bronstein-Trotzki. Mehrmals war er nahe daran, totgeschlagen zu werden. In der Hauptstadt angekommen, gelang es ihm nur unter Mühen, zu seinem Sohn vorzudringen. »Wir Väter plagen uns ein Leben lang, um im Alter ein Auskommen zu haben«, sagte er ihm, »und dann veranstaltet ihr Söhne eine Revolution.« »Wer für die Menschheit arbeitet«, antwortete der Sohn, »muß Vater und Mutter vergessen.« Das nenne ich Cha­rakter. Jannings:  Ich nenne es brutal. Sedowa:  Wenn Weichheit Charakterlosigkeit ist – und das liegt auf der Hand –, dann haben Sie in Brutalität eine Steigerungsform von Charakter vor sich. Jannings:  Das wäre desto schlimmer für diesen. Sedowa:  Wären Sie, wenn Sie es recht bedenken, gern der Sohn dieses leuchtenden Wolfram mit dem Prophetenblick, der auch dann noch sein Feuer hochhält, wenn man Wasser braucht ? Sollte es sich übrigens um den heiligen Wolfram handeln, dann nützt vielleicht der Hinweis, daß er der Patron der Metzger ist. Gespräch in Erfurt | 115

Jannings:  Immerhin enteignet er niemanden. Sedowa: Den Bürger entsetzt das Konfiszieren mehr als das Schlachten. Übrigens hat Trotzki seinem Vater nach dem Gespräch umgehend einen guten Posten verschafft. Er machte ihn zum Leiter der Staatlichen Getreidemühle nahe Moskau. Jannings:  Der Vater eines Chefs muß selbst irgendwo Chef werden. Nein, nicht irgendwo, sondern nahe der Zentrale. Revolutionärer Eifer des Worts, Nepotismus der Tat: ein charaktervoller Kompromiß. Sedowa:  Leider unternimmt nun niemand derartiges für Trotzki. Wer es unternähme, müßte sich mit Stalin anlegen. Jannings:  Warum hat Trotzki – man nennt ihn einen mutigen Charakter – sich im Herbst 1923 Josef dem Schrecklichen nicht entschiedener widersetzt ? Sedowa:  Ich sehe, Sie sind im Bilde. Jannings:  Im bewegten, ja. Das ist mein Metier. Sedowa:  Trotzki hatte sich damals bei der Jagd auf Enten im Sumpf nahe Moskau die Malaria geholt und lag fiebernd im Bett. Wo der Zufall so spielt, ist der mutigste Charakter nicht viel wert. Mücken entscheiden die Weltgeschichte. Jannings:  So viel zu Ihrer klassischen Definition des Charakters, die ich als Schauspieler gleich auswendig gelernt habe: ein eigensinniges So-und-nicht-anders-Sein, das sich von den wechselnden Gesichtspunkten der jeweiligen Lage im grundsätzlichen Verhalten nicht anfechten läßt. Klausel: … nicht anfechten läßt, es sei denn das Wechselnde wäre eine Mücke. Sedowa:  Zufall ist chaotische Notwendigkeit. Die Umstände waren überhaupt sehr unglücklich im Herbst 1923. Jannings:  Man hörte von Aufzeichnungen Lenins, die Stalin restlos diskreditierten. Trotzkis Freunde, sagt man, hätten den Kampf ausfechten können. Sofern sie denn Charakter gehabt hätten. Sedowa:  Charakterlose pflegen eher zu überleben. Jannings:  Aber sind solche sogenannten Charakterlosen denn charakterlos ? Auch ein mieser Charakter ist immer noch ein Charakter. Sedowa:  Die miesen Charaktere wären leichter zu bekämpfen als die Charakterlosen. Diese bekommt man nie zu fassen. Jannings:  Sollte Trotzki, nach dem jetzt so viele Hände greifen, 116 | Wolframus 

nicht eben danach streben: daß man ihn, mangels Charakter, nie zu fassen bekäme ? Sedowa:  Ihr Beruf in Ehren, Jannings, aber zu Trotzki gezogen und für immer an ihn gebunden hat mich, daß er kein Schauspieler ist. Vor kurzem las er die Autobiographie des Protopopen Awwakum Petrow, eines Ketzers, der 1682 in Moskau verbrannt wurde. Als in Sibirien dessen Kinder an Krankheit und Hunger starben, fragte ihn sein Weib, Anastasia Markowna, wie lange es so weitergehen solle. Er sprach zu ihr: Bis wir sterben. Und das Weib antwortete: So sei es, laß uns beten. In dieser Frau sah Trotzki, was er von mir erwartete, und in dem Priester erkannte er sich selbst. Jannings:  Beim Beten hätte Anastasia sich die Mantis religiosa zum Vorbild nehmen können. Sedowa:  Wen ? Jannings:  Die Gottesanbeterin. Diese Fangschrecke betet natürlich nicht ; sie ist nur eine exquisite Schauspielerin in ihrer einzigen Partie: der Betenden. Sogar einen Zweck hat die Rolle ; die Mantis hält ihre Fänge vor der Brust zusammengeklappt, während sie auf ihre Beute wartet. Doch sie hätte allen Grund zu beten, nämlich um Vergebung der Sünde, daß sie das Männchen nach und manchmal auch schon während der Begattung verspeist. Hier zögere ich, dies auf den menschlichen Fall zu übertragen. Ich stelle mir einen Protopopen in der Konsistenz sehr zäh vor. Sedowa:  Den letzten Bürgern ist wirklich weit weniger heilig als den ersten Kommunisten. Jannings:  Sie jedenfalls entkommen in Ihrem Leben offenbar nur schwer der Frömmigkeit. Erst ein vornehmes christliches Mädchenpensionat, dann ein vorlauter politischer Protopope. Sedowa:  Das Mädchenpensionat, idealiter fromm, war realiter unfromm ; Trotzkis Charakter ist weniger fromm als rein. Dahin bringen wir anderen es nie ganz. Wir prägen uns unrein aus. Auch ich selber. Jannings:  Seien Sie froh darum. Sedowa:  Warum nur ? Ich dachte, Sie beneiden Wolframus, den reinen Illuminator. Jannings:  Ich sagte nicht, daß ich ihn beneide, sondern daß ich ihn bewundere. Beneidetes wären wir selber gern ; aber wir sind oft froh, daß uns erspart blieb, das zu sein, was wir bewundern. Gespräch in Erfurt | 117

Sedowa:  Sie haben in Film und Theater reüssiert, weil Sie keinen Charakter haben ; aber Sie hätten Höheres erreichen können, wäre in Ihnen die reine Idee als Charakter ausgeprägt. Jannings:  Die reine Idee dessen, wozu wir nur neigen, unser Platonischer Typus, sitzt hinter den hohen Mauern des örtlichen Irrenhauses. Der Herr mit Hut, der Gott zu sein glaubt oder der deutsche Kaiser, die Frau, die stumm bewegungslos wie eine Statue dasitzt, und jene andere, die unaufhörlich redet und umherrennt, der Mann, dessen Gedächtnis ausgelöscht, und sein Gegenstück, das sich an alles erinnert – sie sind purifizierte und komplettierte Muster dessen, was wir Normalen in unseren tatsächlichen Charakteren nur geschwächt, gemildert, vermischt ausgeprägt haben. In den Wahnsinnigen ist das Ideal des machtbesessenen, des stillstarren, des redseligen, des hektischen, des vergeßlichen, des nachtragenden Charakters wirklich geworden. Aber warten wir ab: Wenn wir altern, bringen wir es vielleicht noch von der imperfekten Erscheinung zum reinen Wesen. Und falls wir nicht in besagter Unterkunft reiner Charaktere enden, dann könnte es sein, daß wir uns längst zu Hause unsere private Irrenanstalt eingerichtet haben. Sedowa:  Finden Sie es nicht etwas impertinent, einer liebenden Frau den Gatten als Fall für die Psychiatrie zu präsentieren ? Jannings:  So war es nicht gemeint. Sie verkennen einfach die glücklich unreine, schauspielerische Ader des Leiba Bronstein. Sedowa:  Sie lächeln ? Jannings:  In Berlin damals unterhielt er den ganzen Tisch mit Erzählungen davon, wie er sich, raffiniert um seine Rollen rotierend, durch alle vorrevolutionären Fährnisse schlängelte: als Crux, Antid Oto, Onken, Vidal, Lund, Pjotr Petrowitsch. Fahndete die zaristische Polizei nach dem einen, war er schon ein anderer. Wechselte er die Straßenseite, weil man ihn beschattete, hatte er erneut den Namen getauscht. Sie kennen das doch aus nächster Nähe. Sedowa:  Es geschah ja alles nur um der Revolution willen. Jannings:  Als selbst vom mimischen Fieber Ergriffener hörte ich eine Menge Lust am Schauspielern aus Trotzkis Erzählungen heraus. Und vielleicht ist der Ernste, der Nicht-Schauspieler, der reine Charakter überhaupt die größte seiner Rollen – und Sie das ideale Publikum für dieselbe. Nicht nur die größte übrigens, sondern auch die nötigste. 118 | Wolframus 

Sedowa:  Die nötigste ? Jannings:  Den Charakter einer Revolution, die Befreiung verspricht und Unterdrückung ausübt, macht es aus, in jeder Hinsicht ihren Charakter zu verschleiern. Wie heißt die politische Polizei der Sowjetunion ? »Außerordentliche Kommission für den Kampf gegen die Konterrevolution.« Sedowa:  Damit hatte Trotzki nie zu tun. Jannings:  Wirklich nicht ? Wie man zur Heiligsprechung den Advocatus diaboli benötigt, so zur Verdammung den Heiligen. Wenn schmutzige Arbeit zu tun ist, sucht man den Mann mit den reinen Händen. Den Unbestechlichen, den Selbstlosen, den Furchtlosen, den poetisch Empfindsamen. Sedowa:  Der Reine tut nichts Schmutziges, weil er sich selber treu ist. Jannings:  Der Charakter ist keine verborgene Ursache hinter den Handlungen. Zu sagen, jemand habe nichts Schmutziges getan, weil er einen reinen Charakter habe, ist niemals eine Erklärung. Es ist immer ein Armutszeugnis. Um die Handlung zu erklären, verweist man auf eine Eigenschaft hinter dieser – eine Eigenschaft, welche die Handlung vermuten läßt. Was Aufschluß geben soll, wiederholt in Wahrheit nur. Sedowa:  Und doch: Der eigene Charakter ist das Wort, das einer der Welt gibt. Seinem Charakter untreu werden, das hieße: sein Wort brechen. Jannings:  Es nie zu brechen, wäre eine furchtbare Einengung. Bei aller Bewunderung für Wolfram: Ein Mensch darf nicht metallisch erstarren. Er muß die Poren offenhalten. Was groß ist und umfassend, spottet aller Charakteristik. Das Weltall hat keinen Charakter. Aber der Floh, der mich beißt, hat einen. Sedowa:  Sie verdienen eine Rote Armee charakterstarker Flöhe an den Waden. Und falls die Mücken einmal nicht für Stalin arbeiten, auch diese. Aber das heißt nicht, alles, was Charakter hätte, gliche Flöhen und Mücken. Jannings:  Ihre Wünsche werden schon unchristlicher. Insofern besteht Grund zur Hoffnung. Aber an Ihren Überzeugungen, auch über Trotzki, klebt noch viel vom Ideal des christlichen Mädchenpensionats. Folgen Sie mir in den Materialismus. Sedowa:  Zu Ihrem Glück weiß das Publikum Ihrer Filme nicht, Gespräch in Erfurt | 119

was für einen gefährlichen Menschen es vor sich hat. Dabei bräuchte es nur hinzublicken auf einen Mann, dessen Hände Pratzen sind. Das Äußere verrät das Innere. Jannings:  Reinheit, Treue: Das Bild, das Sie entwerfen, zeugt mit jedem Zug, den Sie hinzufügen, von weit Gefährlicherem. Wenn ein charakterfester Mensch zum Mörder wird, dann wird er, sich selber treu, zum Doppelmörder. Sehen Sie Shakespeares Figuren an: Je fester ihr Charakter, desto gewalttätiger werden sie. Sedowa:  Sie sagten, Sie seien zum Schauen hier – in Berlin damals waren Sie es offenbar nur zu wenig. Jannings:  Was hätte ich denn sehen sollen ? Sedowa:  Trotzkis Charakter. Jannings:  Und wo ? Sedowa:  In seinem Gesicht. Jannings:  Sollte Ihnen das nicht als bloße Oberfläche verdächtig sein – die den Charakter verbirgt ? Sedowa:  Nicht, wenn man ein Gesicht zu lesen weiß. Jannings:  Was offenbar etwas anderes ist als bloßes Schauen. Wer liest, der deutet. Und Sie, die Sie mein Gesicht nicht erkannten, wären gut beraten zuzugeben, daß die meisten Gesichter unlesbar sind, abgerieben, leicht zu verwechseln. Sedowa:  Nicht das Trotzkis. Jannings:  Er verdeckt es mit einem Kneifer. Sedowa:  Und doch … Jannings:  Setzt er ihn nie ab ? Sedowa:  Ihr Mangel an Charakter prädestiniert Sie zum Fragenund Fallensteller. Jannings:  Ist das ein Grund, die Fragen nicht zu beantworten ? Sedowa:  Es ist ein Grund, den Fallen auszuweichen. Jannings:  Vor ihnen bewahrt Sie St. Wolfram. Sedowa:  Trotzki sagt, ohne den Kneifer komme er sich entwaffnet und wie verloren vor. Er sei ein Teil von ihm geworden. Jannings:  Lag ich also richtig: Er setzt ihn nie ab ? Sedowa:  Der Kneifer ist sein öffentliches Gesicht. Aber der öffentliche Führer und der Privatmann sind eins. Einheit des Charakters: Trotzki lebt seine Ideen. Jannings:  Dann gibt es keinen Privatmann. Wer bis zum Äußer120 | Wolframus 

sten geht, macht auch vor dem Innersten nicht halt. Mir bangt um Ihre Intimität. Sedowa:  Ihnen, dem Schauspieler, sollte darum bange sein – e­ inem Händler der Mienen und Gebärden ? Jannings:  Von meiner Intimität war nicht die Rede. Sedowa:  Ich habe meinen Mann dazu gezwungen, den Kneifer beim Küssen abzusetzen. Ohne ihn verwandelt sich der Kopf eines jüdischen Intellektuellen in den eines klassischen Helden mit blitzenden blauen Augen. Jannings:  Wäre der klassische Held nicht das geeignetere öffentliche Bild ? Sedowa:  Trotzki kalkuliert seine Wirkung nicht. Auch darin ist er rein. Jannings:  Und welches wäre nun sein reiner Charakter, der jüdische Intellektuelle oder der klassische Held ? Sedowa:  Sein Charakter ist beides. Der Kneifer selbst ist Teil von ihm und ist es nicht. Jannings:  Wo bleibt da die Einheit des Charakters ? Sedowa:  Wo bleibt Ihre Dialektik, die ich an dem Satz von Selbständigkeit und Abhängigkeit bemerkte ? Jannings:  In Wahrheit bin ich der Dialektik müde. Auch der Film ist jetzt voll davon. Wenn ich Wolframus aufsuche, erholt sich mein Auge im Vordialektischen. Es ist jetzt so selten außerhalb der Kirchen. Sedowa:  Wenn der Kommunismus gesiegt haben wird, endet die Dialektik. Sie wird überflüssig. Nur im Kampf um ihn ist sie nötig. Jannings:  Schwarz liegt die Zukunft vor Ihnen und Sie malen sie golden aus. Sedowa:  Sie leuchtet golden aus Trotzkis Gesicht. Jannings:  Was hat Ihnen die Physiognomie sonst noch über seinen Charakter verraten ? Sedowa:  Manche, die mit Trotzki reden, berichten, daß seine Lippen die Zähne während des Gesprächs streng bedeckt halten. Für mich zog er die Lippen auseinander und ließ die Zahnreihen aufeinanderklacken: Er hat einen Überbiß. Bei der Vorführung erinnerte er mich an einen knurrenden russischen Wolf. Jannings:  Es sind eigenartige Reize, auf die hin Sie sich verlieben. Sedowa:  Leicht machen wir es einander nicht. Trotzki und ich Gespräch in Erfurt | 121

haben oft versucht, uns zu trennen. Es sollte eine Revolution sein – Befreiung von der gemeinsamen Geschichte. Aber nichts befreit von ihr, es gibt keine solche Revolution. Der Charakter des einen hat sich dem anderen eingeprägt. Jannings:  Psychologisch sind Sie bereits zwei Schritt weiter als politisch. Sedowa:  Jede Sphäre hat ihre eigenen Formen. Jannings:  Geknurrt wird überall, individuell und kollektiv. Lag ich so falsch mit meinem Hinweis aufs Gefährlichere ? Sedowa:  Nein, aber es ist reine Gefahr, und treue. Blicken Sie einen Wolf an, dann sehen Sie ein Dreieck. So auch bei Trotzki: Seine Augenbrauen verlaufen schräg aufwärts ; der untere Teil des Gesichts verjüngt sich zum Spitzbart. Jannings:  Mephisto. Der Blick eines Wolfs schiene mir unschuldig dagegen. Was nur zeigt: Wir meinen bloß zu sehen und deuten schon. Sedowa:  Vergessen Sie nicht, daß Mephisto eine Schauspielrolle ist. Die intelligenteste der deutschen Bühne. Ich weiß nicht, ob ich sie Ihnen zutraue. Aber wer eine Revolution siegreich ausfechten will, muß sie spielen können. Jannings:  Sie ist doch nur zu siegreich ausgefochten. Wäre es nicht an der Zeit, den Mephistopheles abzulegen ? Sedowa:  Trotzki ist gerade dabei, die Revolution, der er so herrlich gedient hat, zu verlieren. Wenn er den Mephisto je hatte, ist er ihm nun so nötig wie nie. Jannings:  Der Teufel ist nicht eben Inbegriff von Reinheit und Treue. Sedowa:  Er ist der Trotzki nötige Schutzengel. Solange dieser ihn bewahrt, kann er überleben, ohne seinen Charakter zu verlieren. Jannings:  Wie merkwürdig, daß ihm Züge seines Schutzengels, des Teufels, ins eigene Gesicht geschrieben sind. Sedowa:  Sie haben am Ende wirklich wenig Sinn für Dialektik. Jannings:  Das räumte ich Ihnen bereits ein. Doch kann man seinen Charakter überhaupt verlieren ? Sedowa:  Charakter ist, was die Geschichte eines Lebens zusammenhält. Aber sie zusammenzuhalten gelingt nicht jedem. Zählte Charakter zu den unverlierbaren Gütern, dann wäre Treue keine 122 | Wolframus 

Errungenschaft und also auch kein Wert. Molotow verlor seinen Charakter, indem er vom Revolutionär zum Beamten wurde. Jannings:  Wer sagt Ihnen, daß er nicht vielmehr im Beamten seinen Charakter fand ? Sedowa:  Die Frage ist, wie man das herausfände. Jannings:  Ein Mensch ist die Summe seiner Taten. Sedowa:  Wenn man nur kurz Revolutionär sein kann, aber lange Beamter, addierte sich Molotow wirklich zum Beamtencharakter. Jannings:  Nun verstehe ich, wogegen Trotzkis Theorie der permanenten Revolution sich richtet – gegen die Molotows. Jede Gewohnheit zu stören soll zur revolutionären Gewohnheit werden. Aber Ihre Frage, das Herausfinden betreffend, wäre damit beantwortet. Sedowa:  Vielleicht nicht ganz. Könnte es nicht einen verborgenen Charakter geben ? Einen, der sich nicht heraustraute, gerade weil er so tief sitzt ? Jannings:  Die Philosophen, von denen Sie das borgen, denken im Sitzen und kamen so auf die Idee des Charakters, der tief sitzt. Wir, die wir stehen und gehen, ob Schauspieler oder Revolutionärin, sollten es besser wissen. Was ist denn tief in jemandes Inneren ? Wolframus ist innen hohl, doch das macht mich nicht irre an seinem Charakter. Man meint, der Charakter sei der wahre Kern in der Hülle. Seit ich den »Letzten Mann« spielte, 1924 unter Murnau, denke ich anders darüber. Ich bin da ein Hotelportier, den man austauscht. Man nimmt mir den Dekorrock der Portiere und es fühlt sich an, als würde ich gehäutet: schmerzhaft und tödlich. In der Uniform war ich hoch, ein Riese. Im Traum durchschreite ich endlose Drehtüren und balanciere die schwersten Koffer. Ohne die prunkvolle Hülle zerfließe ich in die Breite, das Rückgrat knickt ein, der Kopf sinkt vorn herab. Um mich nicht ganz zu verlieren, um wenigstens zu Hause die alte Rolle weiterspielen zu können, stehle ich dann den Galarock. Als der Stoff mich wieder umhüllte, habe ich ein Wort verstanden, das Ihr Idol Marx zwar nicht erfand, aber in Umlauf brachte: Charaktermaske. Und zu Marx paßt auch, daß im Wunschtraum der Schlußpartie dieses Films Geld das selbe leistet, was zuvor die Uniform vollbrachte: Charakter zu verleihen. Murnau wehrte sich heftig gegen die Szene, aber die Ufa, mit der Wahrheit über das Geld besser vertraut als er, zwang sie Gespräch in Erfurt | 123

ihm auf. Vielleicht ist der Charakter überhaupt mehr um uns als in uns. Sedowa:  Um uns ? Jannings:  Einen Charakter hat man nicht, man stellt ihn dar. Dabei erreicht man nie vollständige Kontrolle über ihn. Er wird ja von den anderen zugeschrieben. Auch darum ist er alles andere als Eigensinn. Der Charakter entströmt nicht dem Ich, sondern strömt ihm zu. Sedowa:  So liquidiert ein Bürger die moralische Substanz der bürgerlichen Gesellschaft, Verantwortung. Jannings:  Was hätte ich davon ? Sedowa:  Die Klasse hat etwas davon. Was die Arbeiter als vom Schicksal verhängt hinnehmen sollen, hat Namen und Adresse im Villenviertel. Jannings:  Namen und Adresse: ja. Aber Charakter, aus eigener Verantwortung ? Nicht allein, was einer sagt und tut, sondern die Szenen, die sich ergeben, das Reagieren der anderen auf das, was er sagt und tut, erzeugen den Charakter. Ob die Bühne schäbig ist oder prächtig, gut ausgeleuchtet für den Darsteller oder schummrig – selbst das macht einen Unterschied. Sedowa:  Im Villenviertel ist sie prächtig. Und sie ist nicht bloß Bühne. Verbringt man sein Leben auf dem Bretterboden, dann macht dieser einem irgendwann weis, das Leben sei ein Bretterboden. Jannings:  Das Leben selbst, außerhalb des Theaters, jenseits des Films, hat mich gelehrt, daß es eine Bühne ist. Auf der Straße, im Kontor, im Gasthaus, zu Hause in der Familie produziert nicht der Charakter die Szenen ; die Szenen produzieren den Charakter. Eine Sequenz dramatischer Effekte – das ist er. Wir verkennen seinen Ort. Der Charakter steckt keinem im Hirn oder im Herzen ; er passiert in der Welt. Nicht innerlich ist er, sondern öffentlich. Das sogenannte Selbst ist nur der Aufhänger, der festhält, woran viele mitgewebt haben: sein Charakter. Mit einem Aufhänger kann man nicht weben. Sedowa:  Wie leicht Sie es sich machen, Sie charakterloser Charakter. Ich mache es mir schwer. Jedes Individuum ist ein Versuch. Es stellt eine äußerst unwahrscheinliche Kombination dar. Sie war so noch nicht da und kommt so nicht wieder. Gewaltiger Zeiträume 124 | Wolframus 

bedurfte es, bis sie zustande kam. Im Verhältnis zu solcher Dauer ist die Zeit, welche das Individuum hat, aufs Knappste bemessen. Die Frage lautet: War der Versuch die Mühe wert ? Wer sich nur als Aufhänger des Stoffs von anderem und anderen versteht, hat nicht einmal den Versuch gewagt. Und das ist das einzige, das ich nicht ertragen kann. Jannings: Ach. Sedowa:  Vielleicht wollen Sie wirklich nur Ihre Ruhe haben, und sei es auch vor mir. Ist Ihnen übrigens wieder eingefallen, was Sie vorhin noch sagen wollten ? Jannings:  – – ja. Als Kind besaß ich einen Kreisel. Drehte ich ihn ein wenig, sah ich die Bewegung. In der schnellsten Bewegung aber, in die ich ihn versetzen konnte, einer Bewegung, der das Auge nicht mehr zu folgen vermochte, schien er in vollkommener Ruhe. Diesen Schein wirklich zu machen, bin ich da. Ruhelos stelle ich Ruhe her. Absolute Bewegung wäre absolute Ruhe. Diesen Zustand als gegeben ausgemalt zu haben, war die Lüge unserer deutschen Klassiker. Daß über allen Gipfeln Ruhe sei, ist unwahr. Unruhe herrscht dort, meßbare. Jene wahre Ruhe ist nicht gegeben, sondern aufgegeben. Uns ihr anzunähern, müssen wir die Unruhe steigern ; wir dürfen nicht ruhen auf dem Weg zu ihr. Sedowa:  Eine Philosophie für Revolutionäre. Jannings:  Nein, für Schauspieler. Aber manchmal ist es dasselbe. Der berühmte Mime taumelte mehr ins Freie, als daß er schritt. Ihm war, als habe seit dem Gespräch ein Zuschauer in ihm Platz genommen, der alles mißtrauisch beäugte, was er bisher selbstzufrieden betrachtet hatte. Erst der Gedanke, etwas vorzuhaben, brachte ihn wieder zu sich. Er lief los, die Stufen vor dem Dom hinab, um den Regisseur Josef von Sternberg – dessen Debüt, Salvation Hunters, Jannings beeindruckt hatte – in der Bar eines Hotels zu treffen. Auf dem Weg dorthin, entlang von Nässe überspülter Hausfassaden durch eine kalte Dämmerung wandelnd, suchte er sich den Äon vorzustellen, dessen es bedurft hatte, ihn, Emil Jannings, zu erzeugen. Es gelang ihm nicht. Die Zeit war ohnehin nichts Vorstellbares jenseits dessen, was sich in ihr zutrug, und das, was sich in ihr zugetragen hatte, formte sich ihm immer bloß zum Bild zielGespräch in Erfurt | 125

los wimmelnder Zellen, vor denen sich kein Gefühl höherer Verantwortung einstellen wollte. Sie hatten ja auch nie eine Ahnung davon besessen, daß sich aus ihnen eines Tages der Schauspieler Emil Jannings bilden sollte. Im Hotel angekommen, fand er an der Bar keinen Regisseur vor, wohl aber an der Rezeption ein großes Kuvert Sternbergs, mit leeren Entschuldigungen, in ihrem Stil halb Wien, halb Hollywood, sowie der Erstausgabe eines Romans, den Jannings nur dem Titel nach kannte: Professor Unrat oder Das Ende des Tyrannen. Er wurde bitter. War der Titel eine Spitze, auf seine Person gezielt ? Ein netter Mensch war er nicht, das wußte Jannings. Aber Unrat ? Ein Tyrann, dem man das Ende wünscht ? Enttäuscht registrierte er dann das Alter des Buches, zwanzig Jahre ; nun vermutete er Überholtes, epischen Hohn über die Wilhelminische Gesellschaft. Die riesigen Spiegel an den Wänden der Vorhalle zerstreuten ihn. Als er dann doch zu lesen begann – wieder an der Bar und ein Glas Absinth, Vieux Pontarlier, vor sich –, nahm ihn indes die Folge der Worte und Geschehnisse gefangen. Über ihr vergaß er die Zeit. »Sternberg muß einen Film daraus machen«, murmelte er nach einer Weile. »Ein umgekehrter Heilsjäger. Unrat erst ist der letzte Mann, mir aufs Gesicht geschrieben: der Zerfall eines Charakters.«

126 | Wolframus 

K ATZENGOLD 

 Z

Gespräch in Walden

wischen vereinzelten Fichten, mitten durch das weißrauchige strahlende Licht der Julisonne, führte der schmale Weg hin zu dem Waldhaus. Splitter von Katzengold funkelten auf der Erde im Glanz dieses Sommers. Die beiden großen Nußbäume hinter dem Haus hatten die Frauen schon von weitem erblickt. Frei, ohne Zaun oder Gatter stand das Cottage in der Landschaft. Frei gleich seinem Besitzer, dachten sie im selben Augenblick, da dieser, Henry Thoreau, vor die Tür trat. Wie frei, das wollten Lidian Emerson und Sophia Hawthorne genauer untersuchen. Daß bei der Untersuchung der kleine Neid auf diese Freiheit dem Hausbesitzer unbemerkt bleiben müsse, damit er sich so wenig wie möglich auf sie einbilde – auch dieser naheliegende Hintergedanke kam den beiden Stadtbewohnerinnen im gleichen Moment.

Henry Thoreau:  Lidian ! Sophia ! Euer Besuch überrascht mich. Lidian Emerson:  Kommt für den Einsamen nicht jeder Besuch überraschend ? Thoreau:  Was Menschen betrifft, stimmt das. Allerdings besucht mich hier in der Einsamkeit manches, das ich erwarten kann. Auf das ich beinahe ein Recht habe als Einsamer. Eulen zum Beispiel und, dazu passend, gute Ideen. Sophia Hawthorne: Wer gute Ideen hat, wird nicht in Verlegenheit sein, die Fragen zu beantworten, die wir uns auf dem Weg hierher zurechtgelegt haben. Thoreau:  Wer sagt dir, daß meine guten Ideen Antworten sind ? Vielleicht sind sie selber Fragen. Emerson:  Antworten willst du also ausweichen ? Thoreau:  Ich wachte heute früh auf mit dem Gefühl, mir sei im Schlaf eine Frage gestellt worden, die zu beantworten ich mich tausendundeine Nacht gequält hatte. Aber da erschien das Gesicht der  127

Natur in meinem Fenster, heiter und zufrieden, keine einzige Frage auf den Lippen. Emerson:  Ist ›Natur‹ nicht eine gesichtslose Abstraktion ? Thoreau:  In der Stadt wird sie so erscheinen. Hier in Walden trägt sie eine fraglose Miene. Hawthorne: Und nun kommen wir, unnatürlich wie wir sind, und bringen desto mehr Fragen. Thoreau:  Präparierte Fragen machen jedes Gespräch zu etwas Gekünsteltem. Emerson:  Sophia gestand dir ja schon zu, daß wir unnatürlich sind. Thoreau:  Das ist, in der Umkehrung, ja schon die beste meiner guten Ideen: Wir leben nicht mehr natürlich. Emerson:  Wie bist du darauf gekommen – und gerade hier ? Thoreau:  Wo die Natur und mit ihr die Einsamkeit anfängt, erkenne ich erst die Unnatur der Gesellschaft. Hawthorne: »Wir leben nicht mehr natürlich.« Mag sein. Aber deine gute Idee scheint mir so dürftig, daß sie wohl kaum die Entbehrungen eines Eremitendaseins wert war. Erklären läßt sie sich vielleicht als dessen notwendige Folge. Der Rückzug aus der Gesellschaft, so haben auch andere schon beobachtet, macht unbedarft. Emerson:  Oder er verhilft zu der Einfalt, von der es heißt, sie mache selig. Thoreau:  Verschwende lieber keine Ehrfurcht auf meine Meinungen, Lidian ! Hawthorne: Dafür werde ich sorgen. Thoreau:  Lidian wird für sich selber sorgen müssen. Die Ehrfurcht, wie alle Furcht, kann man sich nur selber nehmen. Emerson:  Wirklich ? Vielleicht treibt mir ja das natürliche Leben die Ehrfurcht aus. Wo ist es denn ? Thoreau:  Ihr steht unmittelbar vor ihm: dieses Haus verkörpert natürliches Leben. Emerson:  Dieses Haus ? Thoreau:  Ich weiß, was du denkst – der Bau ist weder originell noch fantastisch, noch eindrucksvoll. Aber die Natur selber ist weder originell noch fantastisch, noch eindrucksvoll. Gerade um der Eigenschaften willen, die euch an meinem Haus enttäuschen, ist es natürlich. 128 | Katzengold 

Hawthorne: Eigenartigerweise macht aber die Natur keine Häuser. Diese fürsorgliche Instanz, die der Schildkröte ihren Panzer verlieh, stattet selbst so zarte Wesen wie dich nicht mit einem Cottage aus. Thoreau:  Ich rechne nicht zu den Zarten. Emerson:  Zähltest du zu ihnen, so wärst du unbehaust. Man macht Häuser, indem man die Natur zerschneidet. Bretter sind gemordete Bäume. Thoreau:  Ein paar weniger wird man gemordet haben als für eure Häuser in Concord. Emerson:  Und weniger ist gleich natürlicher ? Thoreau:  Sobald der Mensch mit der Natur übereinstimmt, entfallen die Gründe, sich gegen sie zu verteidigen. Dann kommt er mit weniger aus. Unbedarft macht der Rückzug aus der Gesellschaft nicht, aber er senkt den Bedarf. Hawthorne: Mehr oder weniger gibt es nur auf der selben Skala. Du hast das Leben unter eine Alternative gestellt: Natur oder Unnatur. Thoreau:  Wirklich habe ich euch schon zu viel zugestanden. Kein Baum ist gemordet worden für mein Haus. Emerson:  Wie das ? Thoreau:  James Collins, ein irischer Arbeiter an der Fitchburg Railroad, westlich des Teiches, hatte eine Hütte, die er aufgeben wollte. Ich kaufte sie ihm ab. Brett für Brett, Nagel für Nagel nahm ich Collins’ Shandy auseinander und trug die Teile hier zu meinem Bauplatz. So macht es auch die Natur: sie verwendet alles wieder. Und darum sage ich, dieses Haus sei natürliches Leben. Ein neues Wort dafür ist mir heute morgen eingefallen. Alles in der Natur verläuft in Kreisläufen. Was ich so gemacht habe, weil es die Natur auf diese Weise macht, nenne ich Recycling. Hawthorne: ›Recycling‹ – das ist gut. Das muß ich mir merken. Vielleicht mache ich mit so einem neuen Wort demnächst einmal Aufsehen in Concord. Emerson:  Erspar’ es mir. Ein unschöner Ausdruck. Thoreau:  Das sind sie immer, die Ausdrücke, die ihrer Zeit voraus sind. Hawthorne: Mir gefällt das Wort ; allerdings stört mich an ihm die Sache. Es macht für die Natur keinen Unterschied, ob Henry Gespräch in Walden | 129

Thoreau ihre Bäume gemordet hat oder James Collins. Sie kennt euch nicht. Und irgendwann werden die Bretter deines Hauses morsch geworden sein ; dann wird wieder einer Bäume fällen für frische Bretter. Thoreau:  Also gut, ich habe zwar nicht gemordet, aber das natürliche Mordopfer gekauft. Was wollt ihr ? Seid ihr gekommen, mir Vorwürfe zu machen ? Eure mitgebrachten Fragen könnt ihr euch selber beantworten, sofern ihr zugleich Augen mitgebracht habt, die sehen. Ein wenig gemordet werden muß auch in der Natur. Es ist nicht so, daß euer Leben Unnatur wäre und meines Natur. Ich kam und komme der Natur nur etwas näher als ihr. Hawthorne: Wenn das gut wäre, wäre es besser, ihr noch näher zu kommen. Die Natur macht Grotten, keine solchen Häuser. Weshalb lebst du nicht in einer Höhle ? Was du bewohnst, ist ein englisches Cottage: vier Wände umschließen einen Raum mit einem Kaminofen an der hinteren Seite. Englische Siedler brachten dies Machwerk der Kultur und Geschichte, nicht der Natur, im 17. Jahrhundert nach Amerika. Thoreau:  Natürlich aussehen, meinst du, müsse das Haus, damit ich meinem Anspruch gerecht werde ; darum glaubst du auch, eine Höhle käme dem näher als ein englisches Cottage. Aber das Natürliche liegt nicht darin, wie das Haus aussieht, sondern wie ich mit ihm umgehe. Ich dressiere dieses Haus, lehre es, mir dies und jenes zu leisten, so wie es umgekehrt mich einiges lehrt. Emerson:  Dressur ist doch das Gegenteil von Natur: ihre Vergewaltigung. Thoreau:  An den Zirkus denkst du – hier, wo wir ihm so fern wie möglich sind. Der Dompteur macht aus den Tieren, was sie nicht sind. Den Bären verzerrt er zum Tänzer. Das ist die niedere Dressur. In der höheren Dressur reizt hingegen die Natur an sich selbst aus, was in ihr steckt. So dressiert der jagende Fuchs den Hasen zum besten Läufer auf dem Feld und der Hase den Fuchs zum schärfsten Beobachter des Hakenschlagens. Emerson:  Aber diesen Erfolg wollen die beiden gar nicht. Thoreau:  Irgend etwas sollte der Mensch doch den Füchsen und Hasen voraushaben, wenn er sie schon im Laufen kläglich unterbietet. Die höchste Dressur führt das, was die höhere unbewußt treibt, mit Willen und Bewußtsein aus. Ich möchte die Leistung. Das Haus 130 | Katzengold 

will ich gar nicht unbedingt. Gibt mir sonst etwas die Leistung, dann nehme ich sie anderwärts her. Emerson:  Du sagst das, als sei es etwas Besonderes. Thoreau:  Ich sehe, wie meine Zeitgenossen sich einsperren in ihre Bauten, ohne das Eingesperrtsein zu spüren. Sie fühlen sich wohl. Ihr Bedürfnis, sich zu bewegen, und mit diesem sie selber schrumpfen ein. Ihre Solidität richtet sie zugrunde. Von ihnen bleibt bloß ihr Haus. Sie wollten sich ihre Wohnung bauen und haben sich ihr Mausoleum gebaut. Hawthorne: Das ist das Gesetz. Die Pyramide überdauert den Pharao, die Krone den König, das Schwert den Ritter, die Stradivari den Geiger, die Pistole den Mörder. Was die Menschen schufen, damit es ihnen diene, triumphiert über sie. Thoreau:  Für mich hingegen zählt nicht das Haus, sondern das Leben, das ich darin und darum führe. Der Erbauer bedeutet mehr als das Erbaute. Fleisch ist wichtiger als Stein. Wie das Schalentier das zu eng gewordene Haus abstreift, muß auch mein Ich, um zu leben – und leben heißt wachsen –, die Hülle des alten Hauses irgendwann abwerfen. Ich habe noch andere Leben zu führen als dieses Leben mit diesem Haus. Es ist nur eine Haut, in diesem Fall eine hölzerne. Sich häuten: das ist das Prinzip der Natur. Hawthorne: Du besitzt die Tollkühnheit, deinen Geschmack zu verallgemeinern – schon wird das Prinzip der Natur daraus. Emerson: Es ist nicht nur sein Geschmack. Amerikanischer Opti­mismus – da schlägt auch mein Herz höher. Thoreau:  So optimistisch war es gar nicht gemeint. Das ganze Leben ist ein Versuch, Form zu erlangen ; man springt periodisch von der einen in die andere hinein und findet jede zu eng oder zu weit, bis man des Probierens müde wird und sich von der letzten ersticken oder auseinanderreißen läßt. Emerson:  Deutscher Pessimismus – mir sinkt das Herz. Eigentlich alles, was an mir sinken kann. Thoreau:  Unvorteilhafte Richtung. Versuch’, meinen metaphysischen Schlenker ironisch zu nehmen. Das hebt. Emerson:  Ich wehre mich gegen das Sinken. Nachdem die Leiber unserer Vorväter das sinkende Schiff, Europa, verlassen haben, muß nun der Geist unserer Generation den gleichen Schritt tun. Gespräch in Walden | 131

Springen wir von dem morschen Pott des alten Kontinents ! Wir brauchen eine amerikanische Philosophie. Thoreau:  Eben sie steht ja vor euch, in Holz und Stein. Emerson: Ein Haus, ergo eine Philosophie zum Wegwerfen, wenn ich deinen Ausführungen gefolgt bin. Thoreau:  Die Natur will es so. Emerson:  Der Natur, scheint mir, kann man alles Mögliche nachsagen. Vorhin war noch Recycling ihr Prinzip, nun das Wegwerfen. Ist das nicht das Gegenteil ? Thoreau:  Es ist nicht das Gegenteil ; es ist dasselbe. Was ich abstreife, werden andere sich überstreifen, so wie ich mir überstreifte, was andere, Collins zum Beispiel, abstreiften. Emerson:  Wie sollte anderen passen, was du so sehr auf dich zugeschnitten hast ? Thoreau:  Sie werden umgestalten müssen, was ich gestaltete. Das gehört zum Recycling. Wie sagt Waldo in Nature: Die Schöpfung endete nicht mit Genesis ; sie geht weiter. So hindern wir die Welt daran, daß sie erstarrt. Nur schöpft kein Yankee aus dem Nichts, wie Jehova, sondern aus dem Etwas. Ich nahm von Collins die Bretter. Aber sein Shandy löste ich auf. Nicht die Form nahm ich ; ich nahm das Material. Aus ihm gestaltete ich mein Cottage. Das war – das ist mein bescheidener Beitrag zur Kreation des Universums. Hawthorne: Die Form gaben dir die englischen Siedler. Thoreau:  Ich sagte schon, es sei ein bescheidener Beitrag. Hawthorne: Das freut mich auf ungewohnte Art. Geschichtenerzähler wie Nathaniel sind nicht so bescheiden. Schließlich nehmen sie alles aus ihrem Kopf – die Form und den Stoff. Fast wie der liebe Gott. Thoreau:  Was sie aus ihrem Kopf nehmen, wird ihnen jemand oder etwas in den Kopf gesetzt haben. Natur und Gesellschaft. Am Ende stammt alles daher. Auch hier: Recycling. Hawthorne: Sei froh, daß Nathaniel uns nicht hört. Er würde dir den Kopf abreißen. Thoreau:  Anders wieder aufgesetzt, produzierte er sicher noch mehr gute amerikanische Ideen. Hawthorne: Noch mehr ? Bisher habe ich nur von einer einzigen gehört, und die war halbschlecht: die Idee einer rezyklierenden Natur. Wenn das schöne Wetter hier am Wald nicht irgendwie 132 | Katzengold 

schöner wäre als in der Stadt, hätte ich wohl schon kehrtgemacht, um mir zu Hause Geschichten anzuhören, die angeblich der reinen Einbildungskraft und in Wahrheit dem unreinen Massachusetts entsprungen sind. Thoreau:  Wo ich Nathaniel eben Unrecht gab, als er zu nah an den lieben Gott rückte, muß ich ihm doch auch wieder ein wenig Recht geben. Am Ende kommt alles Gute von innen, bei Büchern wie bei Häusern. Wo sich Äußeres dem Inneren auferlegt, aufdrängt, aufzwingt, gerät dieses in Haft, auch wenn man es nicht so nennt. Das wenige Schöne, das ich an Häusern sehe, ist von innen nach außen gewachsen, aus den Bedürfnissen und Eigentümlichkeiten des Bewohners, welcher der eigentliche Baumeister ist, hinein in Böden, Wände, Decken und Dächer. Am schönsten werden immer Luftschlösser sein: Äußeres und Inneres sind da eins. Emerson:  Aber wird aus einem unschönen Inneren nicht ein unschönes Äußeres wachsen ? An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Hawthorne: Alle männlichen Emersons waren seit jeher dazu bestimmt, Pfarrer zu werden. Waldo ist keiner geworden. Und doch redest du wie eine Pfarrfrau. »So spricht der Herr: An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.« Ich frage mich, warum in einem Gespräch über etwas so Profanes wie den Hausbau unsere Köpfe zwischen Bibelseiten sinken. Das erste Buch Mose zunächst, nun das Evangelium nach Matthäus. Thoreau:  Obschon eigentlich ein Ketzer, kann ich das so falsch nicht finden. Beim Wohnen geht es um das Heil der Seele. Hawthorne: Die muß allerdings obenan stehen, wo dem Leib so wenig geboten wird wie in deiner Hütte. Thoreau: Weniger ist mehr. Wie die Regierungen die besten sind, die am wenigsten regieren, sind die Häuser die besten, die am wenigsten behausen. Ich habe mich so in der Welt einrichten wollen, daß ich möglichst frei bin. Unabhängig. Emerson:  Wollen wir das nicht alle in diesem Land ? Thoreau:  Es ist leichter, eine Unabhängigkeitserklärung abzugeben, als unabhängig zu leben. Emerson:  Wie machst du es ? Wie hast du es gemacht ? Thoreau:  Um frei zu sein, mußte ich lösen, was mich zuvor gebunden hatte. Jeder hat das zu tun, der frei sein möchte. Und daGespräch in Walden | 133

nach ist auch der Platz zu gestalten, den ein freier Mensch in der Welt einnimmt: sein Haus. Emerson:  Und wenn das Haus nicht so ausfällt ? Thoreau:  Ein Haus kann ein Gefängnis sein. Ein fehlerloses Gefängnis für fehlerhafte Menschen. Hawthorne: Aber ist das enge Haus nicht eher ein Gefängnis als das weitläufige ? Thoreau:  Mein Haus ist nicht eng. Es ist 10 Fuß breit und 15 Fuß lang. Offensichtlich weit genug für meinen Körper. Weit genug, die Dinge in meinem Kopf hin- und herzudrehen: zur Zeit meine vorwiegende Beschäftigung. Also auch weit genug für meinen Geist. Hawthorne: Nach üblichen Maßstäben ist dein Haus eng. Thoreau:  Ich zweifle, so gut ich kann, am Üblichen. Hawthorne: Gut ist nicht gut genug. Das Übliche zeigt sich bisher wenig beeindruckt von deinem Zweifel. Thoreau:  Ich weiß, und völlig Unrecht hat es nicht einmal. Ich selber meide die Enge und begehre sie zugleich. Es ist der Zweck eines Hauses, seinem Bewohner die allzu weite Welt einzuengen: Das ist sein wahrer Komfort. Ein enges Haus entspricht diesem Zweck. Ein weites Haus ist ein Widerspruch in sich. Paläste sind ungemütlich. Hawthorne: Man hat dir welche angeboten und du hast dankend abgelehnt ? Thoreau:  Wer glanzvolle Weite sucht – auch ich suche sie oft –, der soll nicht von Palästen träumen. Es genügt, dies Haus zu verlassen. Selbst wenn man mein Haus nach üblichen Maßstäben und sogar nach meinem Maßstab eng nennen muß, ist die Landschaft um es herum nach allen Maßstäben weit. Dem Wald bin ich gleichgültig. Es gibt keinen Nachbarn, der mich beengt und bedrängt. In der Stadt sind wenigstens die teuren Häuser innen weit, aber von außen beengt durch ständigen Zwang, Rücksicht zu nehmen. Emerson:  Und der Glanz ? Thoreau:  Das Katzengold auf dem Weg vor diesem Cottage glitzert herrlicher in der Sonne als es die Goldvasen in einem Herrenhaus je könnten. Hawthorne: Die Sonne scheint auch in der Stadt. Thoreau:  Mit den Augenblicken, in denen das ein Glück für uns 134 | Katzengold 

sein könnte, wissen wir dort nichts anzufangen. Denn vor ein solches Anfangen schiebt sich aus den zähen Alltagen der Stadt immer gleich das Nächste, das zu erledigen ist. Hawthorne: Im Katzengold lügt eine Natur, die bloß Pyrit ist, dem Auge Gold vor. Thoreau:  Als Lüge erscheint es uns nur, weil wir Gold und Geld überschätzen. Die Natur sagt immer die Wahrheit. Hawthorne: Deiner Wahrheit mangelt, was man seit jeher von ihr forderte: sie solle allgemein gelten. Emerson:  Was du proklamierst, Henry, gilt jedenfalls nicht für mich, es gilt nicht für Sophia, es gilt überhaupt für viele nicht. Du willst die ganze Menschheit in heiterer Vereinzelung über den Erdball verstreuen ? Es würde auch einige säuerliche Vereinzelung dabei unterlaufen. Thoreau:  Ihr habt Recht ; ich rede nur für mich. Hawthorne: Mit anderen Worten: Deine Wahrheit steht und fällt mit deinen eingefleischten Marotten. Daß du nicht gerne Rücksicht nimmst, Henry, ist mir noch aus Concord bestens in schlechter Erinnerung. Thoreau:  Ein Fehler, der mich gerettet hat. Wer freie Sicht nach vorne braucht, kann nicht ständig den Blick rückwärts richten, nur weil dort jemand empfindlich sein könnte. Wichtiger als das Haus, das Gebilde aus Holz oder Stein, ist darum der leere Raum in ihm und um es. Das heißt: Leer ist es um das Haus herum ja nicht, sondern voller Luft, Wasser, Erde, Pflanzen, Tiere – aber eben nicht voller Leute. Strandläufer, Knutts genannt, die über meinem Cottage zum Überwintern gen Süden ziehen, gewinnen in der Masse ansehnliche Form. Menschen, auf Marktplätzen wimmelnd, verlieren sie. Emerson:  Wird nicht auch einiges unternommen, die Menschen in Form zu bringen ? Thoreau:  Das ist es ja. Nachdem Staat und Gesellschaft den vergeblichen Versuch unternommen hatten, mich zu einem ihnen nützlichen Glied – zu einem Mitglied – zu formen, zu einem Beamten zum Beispiel oder zu einem Krämer, habe ich ihnen mit diesem Haus geantwortet. Und meine Antwort liegt nicht in den Brettern und Nägeln, aus denen das Haus gemacht ist, sondern in dem Raum um es herum, aus dem es nicht gemacht ist. Sie lautet: Staat Gespräch in Walden | 135

und Gesellschaft sollen mich in Ruhe lassen. Ich will kein Mitglied von was auch immer sein. Bei jeder Art von Karriere räume ich meinen anstelligeren Zeitgenossen den Vortritt ein. Hawthorne: Dabei bist du einsam auf eine Art und Weise, daß es die ganze Welt mitbekommt. Am Ende wirst du vermutlich ein Buch über deine Einsiedelei unter die Leute bringen. Thoreau:  Das habe ich allerdings vor. Hawthorne: Ein natürliches Buch über das natürliche Haus, nehme ich an. Thoreau:  Die Ironie wird dir vergehen, solltest du das Buch eines Tages lesen. Hawthorne: Das glaube ich ; die Schrift wird dröhnen vor Einfachheit. Auch eine Karriere in der Gesellschaft, so eine Autorenkarriere. Thoreau:  Ich habe daran gedacht, das Buch anonym drucken zu lassen. Mir liegt nichts daran, daß mein Name weiterlebt. Nur daran, daß meine Gedanken weiterleben, liegt mir etwas. Und zwar nicht als meine Gedanken, sondern einfach als Gedanken. Hawthorne: Das findest du vermutlich bescheiden. Es ist das Gegenteil. Den Gipfel der Eitelkeit erreicht ein Autor mit einer anonymen Schrift, die sogenannte Wahrheiten persönlichster Art verewigt. Marotten, in eherne Lettern gegossen. Thoreau:  Ich wage kaum noch, dir in die Augen zu sehen. Hawthorne: Du solltest deiner Inkonsequenz ins Auge sehen: Nach Walden gingst du, um allein zu sein. Allein wolltest du sein, weil du meintest, nur so du selbst sein zu können. Ein Mensch, der ein Buch schreibt, ist nie allein. Immer schaut ihm ein Leser über die Schulter. Bist du aber bücherschreibend zwei, was nützt dir dann die sogenannte Einsamkeit ? Thoreau:  Sibi et musis ! ist am Ende das Los aller, die etwas schreiben. Hawthorne: Eine etwas eitle Lesart des Satzes: Weniger ist mehr. Emerson:  Und belästigen denn Staat und Gesellschaft nur ? Bieten sie nicht auch manches ? Thoreau:  Bieten – es fragt sich: wem ? Jeder muß wissen, wo er hingehört. Nie vergesse ich das Datum, an dem ich hier einzog: den 4. Juli 1845. An diesem Freitag stimmten Concords Bewohner sich patriotisch ein auf einen Feldzug gegen Mexiko. Dessen Regie136 | Katzengold 

rung hatte die Annexion von Texas nicht hinnehmen wollen. Staat und Gesellschaft der USA boten Krieg an. An diesem Tag sinnloser Hochstimmung bot ich mir selber die Einsamkeit an. Hawthorne: Zu sinnvoller Vertiefung ? Thoreau:  Zu innerem und äußerem Frieden. Emerson:  Selbst du – ein Widerspenstiger, der keine Zähmung duldet – wirst nicht behaupten, Staat und Gesellschaft böten nur Krieg an. Thoreau:  Nicht nur ; es genügt, daß sie ihn überhaupt anbieten. Frieden gäbe es erst, wenn die Leute nicht nur gegen Kriege, sondern auch gegen Siege wären. Siege machen süchtig. Emerson:  Ist nicht ein Yankee immer eher Händler als Soldat ? Das sollte helfen gegen Sucht. Jedenfalls gegen die militärische. Thoreau:  In unserem Land ist Krieg die Fortsetzung der Geschäfte mit anderen Mitteln. Emerson:  Selbst du hast gelegentlich Geschäfte gemacht. Thoreau:  Keine blutigen. Emerson:  Immerhin Geschäfte. Thoreau:  Ich kenne die Annehmlichkeiten der Gesellschaft. Und halte sie mir so ziemlich – nicht ganz, wie euer Besuch beweist – vom Leibe. Darum ist eine andere Landschaft wichtiger als die, in der ein Haus steht. Ich meine die Landschaft der Bedürfnisse des Hausbewohners. Was dort wächst, kann jedes Haus zum Kerker, zur Falle oder gar zum Sarg machen: im schlechten Sinne eng. Man muß zunächst die Bedürfnisse in ihrem Wildwuchs beschneiden, ehe man ein Haus bauen kann, das befreit statt beengt. Hawthorne: Gute und schlechte Enge. Ich beginne zu verstehen, was du im Sinn hast. Du gehst aus von der Frage: Was braucht ein Mensch zum Leben ? Das Weitere – nicht nur Bauen und Wohnen – ergibt sich daraus. Meinst du es so ? Thoreau:  Auf der Erde zu Hause ist einer nur, sofern er sich in Dingen bewegt, die er selber hergestellt hat. Aber nicht in möglichst vielen Dingen. Was er hat, gemacht hat oder erworben hat, jedoch nicht braucht, schränkt ihn ein. Es steht ihm im Weg. Alles, was nicht nötig ist, stelle ich unter Verdacht. Hawthorne: Was der eine nötig hat, ist für den anderen überflüssig. Thoreau:  Dieser andere könnte dem einen als Vorbild dienen. Gespräch in Walden | 137

Denken, das ins Relative ausweicht, will es weich haben, bequem. Härte – Hawthorne: – Leben wie ein Indianer ! Thoreau (lacht): Wie ein Indianer ! Als die Spanier in Tenochtitlán einzogen, sahen sie dort ziselierte Geräte aus Schildpatt, Thermophore für Speisen, Gemälde aus Federmosaik, Plafonds aus Schnitzwerk, Parfümzerstäuber. Emerson:  Du allein widerstehst dem Unnötigen ? Thoreau:  Ich halte es nicht aus meinem Leben heraus, weil es unnötig wäre, sondern weil es zum Hindernis des Lebens wird. Wenn ich etwas mache, beschäftigt mich mehr noch als, was da entstehen soll, die Frage, was ich weglassen kann. Als ich vorhin die Seele ins Spiel brachte, meinte ich nichts anderes. Der Gedanke ist kaum so fromm, wie du gefürchtet hast, Sophia, und – feierliche Retraktation – man kann dabei die Bibel aus dem Spiel lassen. Der Christ verzichtet im Diesseits um des Jenseits willen. Ich verzichte im Diesseits um des Diesseits willen. Das heißt: Ich verzichte nicht. Ich lebe. Hawthorne: Mich freut, daß wir ohne die Heilige Schrift auskommen und wieder nüchtern geworden sind. Da du uns nicht einmal einen Gin anbietest, bleibt uns auch wenig anderes übrig. Und nüchtern verstehe ich so viel an deiner Immobilienreklame: Dies Haus war billig. Thoreau:  Allerdings. Es hat mich 28 Dollar und 12 Cents gekostet. Aber mein Ziel war und ist nicht, alles so billig wie möglich zu bekommen, sondern: meine Sache mit so wenig Hindernissen wie möglich zu treiben. Hawthorne: Was billig ist, befreit ein Stück weit vom Zwang zur Arbeit. In diesem Sinne hast du dich mit deinem Haus in der Welt so eingerichtet, daß du frei bist und faul sein kannst. Thoreau:  Die anderen schieben ihr Leben auf – später wollen sie es anfangen. Darauf sparen sie, darauf bereiten sie sich vor. Für die Überzeugung, daß Winzigkeiten an irdischem Gut in ihr Eigentum eingehen könnten, sind sie bereit zu zahlen mit allem, was ihnen zur Verfügung steht, mit allem, was ihnen morgen zur Verfügung stehen müßte, und mit allem, was ihnen nicht zur Verfügung steht. Sie arbeiten für die Zukunft und zahlen mit ihrem Leben ; denn die Zukunft macht Bankrott. Ich lebe jetzt. 138 | Katzengold 

Hawthorne: Soviel ich weiß, ist nur in der Gegenwart zu leben eine Eigenart der Tiere. Befriedigter Tiere. Thoreau:  Dann weißt du ja, wer oder was ich bin. Ich selber weiß es mit den Jahren immer weniger. Desto besser, wenn andere es wissen. Hawthorne: Auch du zahlst einen Preis für das, was du bist: Dein Haus verzichtet auf Schönheit. Du verzichtest auf sie. Thoreau:  Das meinst du nur, weil du bei Schönheit an Schmuck denkst. Hawthorne: Warum sollte ich nicht ? Thoreau:  Schmuck braucht nur der Bau, der scheinen soll, was er nicht ist. Hawthorne: Aber schöner wäre der Bau mit etwas Schmuck. Thoreau:  Du kannst die Einfachheit nicht zieren. Geziertes hört auf, einfach zu sein. Hawthorne: Also das Einfache suchst du vor allem ? Thoreau:  Nicht vor allem. Es ist Mittel zum Zweck. Das heißt: Ich suche das einfache Leben nicht, weil es einfach, sondern weil es weniger abhängig ist. Hawthorne: Aufs Leben gemünzt, verstehe ich diesen Gedanken. Aber die einfache Gestalt ? Sie erscheint mir nicht freier als die geschmückte. Was am Ornament ist denn abhängig ? Thoreau:  Es ist abhängig von einem Anspruch, der über und jenseits dessen liegt, was es schmückt. In der Natur ist nie ein Wesen enttäuscht von sich. Sie kennt kein ›nur‹. Es fällt den Ratten nicht ein, daß sie peinlicherweise nur Ratten sind ; sie sind mit ihrem Rattesein zufrieden, ja von ihm erfüllt und durchdrungen. Recht haben sie ; daß sie keine Löwen sind, setzt sie nicht herab. So soll man auch kein Cottage bauen, das sich danach sehnt, eine herrschaftliche Residenz zu sein, sondern: Das kleine Haus muß mit seinem Kleinsein zufrieden sein, ja von ihm erfüllt und durchdrungen. Das Unnatürliche in der Gestaltung ergibt die Prätention. Etwas will sein, was es nicht ist. Nicht jede Verzierung ist schon prätentiös, aber alles Verzieren ist gefährdet durch Prätention. An meinem Cottage habe ich gar nichts verziert. Alles ist, was und wie es ist. Hawthorne: Mag sein ; davon wird es noch nicht schön. Thoreau:  Schönheit ist nicht Sache des Schmucks, sondern des Schauens. Hat einer ein kompliziertes Heim, dann muß er in ihm Gespräch in Walden | 139

putzen, waschen, wischen sowie umräumen, einräumen, aufräumen, bevor er zum Schauen kommt. Das heißt: Er kommt gar nicht zum Schauen. Er wird zum Hausmeister, aber nicht zum Meister des Hauses. Ist an einer Ecke des Hauses etwas zu Bruch gegangen und gerade ersetzt worden, muß an der anderen Ecke die nächste Sache repariert werden. In solchen Verhältnissen dient der Hausherr dem Haus. Dann ist es nicht weit her mit seinem Herrentitel. Oder er braucht Diener, die er zu beherbergen, zu beaufsichtigen und zu bezahlen hat. So oder so: Menschen werden Werkzeuge ihrer Werkzeuge. Dieses Haus hier dient mir. Während andere den Staub von ihren Nippesfiguren wischen, wische ich mir den Staub aus den Augen und schaue mich um. Eulen können ihre Köpfe um 270 Grad drehen, daran arbeite ich noch. Zeit zum Üben habe ich ja. Weil es einfach ist, läßt mein Cottage mir Muße zum Schauen: in es, aus ihm heraus, durchs Fenster, in mich selbst hinein, oder heute in eure Gesichter. So komme ich zum Schönen: durchs Einfache. Emerson:  Du sagst Schönheit und meinst schmucklose Ehrlichkeit. Thoreau (schweigt). Emerson:  Du verstummst ? Hawthorne: Stille Wasser sind tief, leere Brunnen auch. Thoreau:  Vielleicht hast du recht, Lidian. Dennoch hänge ich an dem Wort, Schönheit. Aber was liegt an Worten ? Meine eigene langnasige Häßlichkeit ist jedenfalls ehrlich und besser, als eine verlogene Schönheit es wäre. Emerson:  Auch ist es ja ganz charmant, daß du für unsere schönen Gesichter Augen hast. Aber die Bedürfnisse, aus denen heraus dein Haus gestaltet ist, sind immer nur deine. Es liegt ein Egoismus darin, der unschön ist. Thoreau:  Es ist nun einmal mein Haus. Emerson:  Nur deines ? Thoreau:  Meines, aber nicht für immer. Ich sprach vorhin vom Sichhäuten. Habe ich es einmal als Hülle abgeworfen, wird dieses selbe Haus vielleicht als Kaninchenstall dienen. Henry Thoreaus Cottage, das ihr jetzt schäbig findet, wird dann pompös erscheinen. Das Urteil gilt gar nicht dem Gegenstand, für sich genommen, sondern es gilt ihm im Verhältnis zu seinem Zweck. Und der Zweck braucht nicht der zu sein, den der Entwerfer oder der Erbauer im 140 | Katzengold 

Sinn hatte ; es ist der Zweck dessen, der den Gegenstand jeweils gebraucht. Vielleicht gebraucht er ihn zu einem Zweck, den Entwerfer und Erbauer nie im Sinn hatten. Solche Benutzer kann es viele nacheinander geben und ebenso viele Zwecke. Hawthorne: So ungefähr ; blieben gar die Bücher im Haus, würden die Karnickel den Raum sicher nicht bloß pompös, sondern, gemessen an ihren schmalen Hirnkästen, transzendent oder transzendental finden – den Unterschied zwischen beidem habe ich nie ganz begriffen und ihr Transzendentalisten, glaube ich, auch nicht. Gewiß sind beide, der Unterschied und der Raum, für Karnickel zu hoch. Thoreau:  Räumt ihr mir das also ein, dann müßt ihr mir auch zugestehen, daß ich dies Haus jetzt schön nenne, im Verhältnis nämlich zu meinen Zwecken und Absichten, die ich nun einmal besser kenne als ihr. Emerson:  Das meine ich ja. Thoreau:  Ich verstehe nicht ganz. Emerson:  Ein Mann versteht nie ganz, wenn er mehr auf das Gesicht einer Frau achtet als auf das, was sie sagt. Ich meine: deine Zwecke ! Als ob du der einzige Mensch auf der Welt wärest. Etwas so Kleines, Kleinliches kann nicht Schönheit heißen. Erst mit den anderen beginnt sie. Mit uns zum Beispiel, deinen Gästen. Ist so ein karges Haus einladend ? Thoreau:  Wer als Fremder in mein Haus kommt, hält sich als Fremder in ihm auf. Die Fremdheit bringt er mit, das Haus zwingt sie ihm nicht auf. Den Empfang bereitet sich jeder selber ; kein Stück der Einrichtung tut es. Emerson:  In dein Haus sind wir ja noch gar nicht gekommen ; von der Einrichtung haben wir nicht das Mindeste gesehen. Thoreau:  Ich habe drei Stühle in meinem Haus ; einen für die Einsamkeit, zwei für die Freundschaft, drei für die Gesellschaft. (Er bietet den Frauen, die bisher draußen gestanden hatten, an, einzutreten und sich zu setzen. Sie nehmen Platz ; dann setzt er sich selber.) Sind wir mehr als drei, stehen alle. Es ist merkwürdig, wie viele große Männer und Frauen ein kleines Haus fassen kann. Ich habe schon fünfundzwanzig, ja dreißig Seelen nebst deren Körpern unter meinem Dach gehabt, und doch gingen wir oft auseinander, ohne zu merken, daß wir einander sehr nahe gekommen waren. Gespräch in Walden | 141

Emerson:  An so einem heißen Tag lobe ich mir die prästabilierte Harmonie zwischen der Zahl der Stühle und der anwesenden Personen. Thoreau:  Falls du die Prästabiliertheit auf den Herrn der Welt zurückführen oder im Ensemble der Stühle einen Widerschein der Trinität erblicken solltest, würden wir uns wieder Zonen nähern, die Sophia äußerst unangenehm berühren. Emerson:  Ich weiß um die Delikatesse meiner Freundin, weshalb ich weder zurückführe noch erblicke, noch berühre oder berühren lasse, erst recht nicht unangenehm. Was ich bemerkte, betraf durchaus weltliche Grenzen deiner Gastfreundschaft. Thoreau:  Mein Haus hat einen einzigen Raum und so seid ihr in meinem ganzen Haus zu Gast. Sein Inneres liegt für jeden Besucher offen da wie ein Eulennest. Das ist wand- und insofern grenzenlose Gastfreundschaft. Hawthorne: Ohne Gin. Thoreau (unbeirrt fortfahrend): Solche Einrichtung ist zugleich Wahrheit. Bei mir hängen, gut sichtbar, Hammer und Kochlöffel an Haken. Ich geniere mich nicht für sie. Ihr sucht Schmuck ? Die Werkzeuge meiner Arbeit sind hier der Schmuck. Emerson:  Vielleicht fordert dein gut sichtbarer Kochlöffel Gäste auf, ihn selber in die Hand zu nehmen ? Andernorts ist man diskreter. Thoreau:  Allzu diskret. Wie geht es denn zu in den Häusern, die jetzt überall gebaut werden ? Da herrscht der Kult des Zimmers, des Kastens in einem Kasten. Der Gast ist von sieben Achteln des Hauses ausgesperrt und in eine besondere Zelle, das Speisezimmer, eingesperrt. Er wird von Küche und Werkstatt ferngehalten, als führe der Hausherr im Schilde, ihn zu vergiften oder zu erschlagen. Emerson:  Wilde Einfälle hast du. Thoreau:  Wohlbegründete. Im Haus des Städters wird die Arbeit verdeckt und versteckt. Man lügt mit Wänden. Emerson:  Vergiftet zu werden fürchten wir hier nicht gerade, da du uns weder etwas zu essen noch etwas zu trinken anbietest. Thoreau:  Ich habe nur einen einzigen Becher. Emerson:  Und du bist stolz darauf ? Thoreau: Sehr. 142 | Katzengold 

Emerson:  Eine Ratte, Leitstern deiner Gestaltung, kommt ohne jeden Becher aus. Thoreau nimmt den Becher zur Hand, als erwäge er, ihn wegzuwerfen. Emerson:  Ich glaube, Sophia, es ist Zeit zu gehen. Thoreau:  Nicht nur Flucht aus der Gesellschaft gibt es  – auch Flucht in sie kommt vor … Emerson:  … sagt der leibhaftige Grund für letztere. Aber was du hier in Saft und Kraft lebst, wird unter deinen Händen ja ohnehin zu Papier eintrocknen. Vielleicht lesen wir es einmal nach. Bei Kaffee und Kuchen. Thoreau:  Es tut mir leid, wenn ich euch enttäuscht habe. Hawthorne: Täuschungen zu verlieren wäre nicht das schlechteste Resultat einer Wanderung. Emerson:  Enttäuscht werden kann nur, wer sich im anderen oder in sich selbst getäuscht hat. Thoreau:  Vielleicht lebe ich hier nicht ganz und gar richtig – jedenfalls aber weniger falsch als zuvor. Emerson:  Angesichts von so viel unverfälschter Natur kehren wir gut gelaunt ins Falsche zurück. Uns erfüllt Vorfreude aufs Überflüssige. Es ist einfach so nötig. Bei den Alcotts, die wie du nie Geld im Hause haben, soll es heute Kuchen geben. Mit Aprikosen. Hättest du auch gerne welchen ? Sei’s auch nur, weil das Kauen zum Schweigen zwingt. Thoreau:  Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Sage ich ja, so findet ihr mich inkonsequent in meinem Denken ; sage ich nein, so haltet ihr mich für einen Heuchler. Emerson:  Wer sich sucht, wird damit bestraft, daß er sich findet. Hawthorne: Selber hat er das aber nicht angestellt. Du hast ihn hineingestupst in ein gleich schreckliches Ja und Nein. Die Philosophen, habe ich gehört, nennen das ein Dilemma. Emerson:  Und was tut der Mensch, wenn er in ein solches gerät ? Hawthorne: Das habe ich nicht gehört ; daher weiß ich es nicht. Emerson (zu Thoreau): Weißt du, was man tut, wenn man in ein Dilemma gerät ? Thoreau: Hoffen. Emerson:  Worauf ? Gespräch in Walden | 143

Thoreau:  Zwei ergeben das Dilemma. Hoffen muß man also auf das Dritte. Hawthorne: Und das wäre ? Thoreau:  Frage die Eulen. Aber denk’ daran, daß ihre Federn sie im Wald tarnen und ihr Flug geräuschlos ist. Sie hingegen können ihre Beute selbst unter dichtem Laub erlauschen. Auf dem Weg von Walden nach Concord blieb Sophia einmal ein Stück weit hinter Lidian zurück. Sie wollte sich gerade sputen, den Abstand aufzuholen, als sie durch die Bäume hindurch eine von Tannen umrandete Lichtung erblickte. Das Bild, das diese bot, war von solch gesammelter Kraft, von so eigentümlicher Vollständigkeit, daß die Wandernde abrupt stehenblieb. Der kleine Ausschnitt Himmel, den sie zwischen den Wipfeln der Tannen sah, leuchtete azuren, eine Hyperbel der Farbe. Aus den Spitzen der Gräser sprühten helle Funken, die der leicht daherfahrende Wind vollends anzufachen schien. Auf der Lichtung erhob sich ein Erdhügel, bedeckt mit kristallisiertem Pyrit. »Das ist es«, dachte Sophia, nahm einen Brocken des Katzengoldes und hielt ihn den Strahlen der Nachmittagssonne entgegen. Den Winkel, in dem diese auf den Stein fielen, mit der Hand stets abwandelnd, vervielfachte die Finderin das Funkeln der Oberfläche. Die Zeit vergaß sie darüber.

144 | Katzengold 

ANGUILL A 



Gespräch in Lyon

A

lbern genug war die Gelegenheit, bei der sie einander kennengelernt hatten – eine Weinprobe am Rand der Filmfestspiele von Cannes, Languedoc-Roussilon: Une philosophie du vin. Von Roger Scruton, dem neuen Weinkritiker des New Statesman, erhoffte man sich vernehmliches Lob der Weine des Midi, vielleicht auf Kosten bisher in dem Magazin zu lesender Ausführlichkeiten über Burgunder und Bordeaux. Irgendwie philosophisch sollte die Eloge auch daherkommen, denn, so meinten die Veranstalter: das adelt. Ihre Hoffnungen mit Blick auf Jeanne Moreau hatte diese bereits mit der geringen Mühe übertroffen, da zu sein. Überraschend schien vielen, daß beide, nachdem sie hier erst Bekanntschaft geschlossen hatten, die meiste Zeit miteinander verbrachten, plaudernd und lachend. Es war freilich unschwer zu erklären. Sie wußte nichts über ihn, er wenig über sie. Das erleichterte jeden Moment ; denn jeder Moment ist leichter in dem Maße, in dem weniger Vergangenheit an ihm hängt. Aber erst daß der jeweils andere nichts wollte, forderte und begehrte, machte das aus, was sie an seiner und er an ihrer Gegenwart genoß. Sie war in dem Alter, dem dieser Genuß naheliegt ; er näherte sich diesem Alter erst. Da sie indes beide Menschen waren, an denen sonst viel gezerrt wurde, verstanden sie sich auf jene entspannte Lust. Es ergab sich, daß beide einige Wochen später in Lyon sein würden. Leicht waren sie darüber einig geworden, daß La Mère Brazier andere Genüsse versprach als Paul Bocuses L’Auberge du Pont, in der längst der Geruch des Reichtums, ein fader, den Duft der Speisen überdeckte. Bocuse war einst Mère Eugénie Braziers Schüler gewesen, aber, entgegen der Fama, ein ungelehriger, der Küche des Lyonnais viel ihrer alten Lust austreibend. Eugénie Brazier war lange tot, aber Mathieu Viannay hielt die Rezepte der Mère in Ehren und mit ihnen die alte Lyoner Lust. Im Restaurant redeten Moreau und Scruton, solange die Speisen auf dem Tisch standen, wenig. Gesprächig wurden sie erst nach der Mahlzeit.  145

Moreau:  Heute Nacht hatte ich einen seltsamen Traum. Ich irrte durch viele Zimmer. Alle Türen standen offen. Aus Kommoden und Schränken nahm ich verschiedene Dinge und wollte sie einpacken wie zu einer Reise. Und wenn ich sie aus einem Möbel herausgetan hatte, lagen sie immer wieder in einem weiteren, anders übereinander gelegt. Ein Unbekannter half mir bei der Suche, aber ich suchte stets zu vermeiden, seine Hände zu berühren. Scruton:  Ein Traum von Unordnung, bei dem es nicht mit rechten Dingen zuging. Moreau:  Aber ich habe Sie noch gar nicht gefragt, ob Sie Ihre Reise hierher genießen konnten. Scruton:  Genießen ? Der Genuß um mich her hat das vermasselt. Moreau:  Der Genuß ? Mich hinderte bisher immer anderes am Genießen. Scruton:  Dies andere kenne ich auch: Leute, die krumm, zeitungslesend, armverschränkt, kleidabstäubend, nägelkauend, langweilig zur Seite sehend im Zug sitzen. Deutsche auf Bahnfahrt. Moreau:  Wir sind ja nicht so. Scruton:  Nein. Aber Sie scheinen zu gut an Ihre eigenen Landsleute gewöhnt zu sein. Sie verderben den Genuß mit Genuß. Landschaft ist nur dessen Kulisse. Diese Genießer sind mit Bedeutenderem beschäftigt. Ihr Baguette muß so krachend knusprig sein, daß ich fürchte, Sie würden die Krume noch jetzt auf meinem Sakko finden, wenn Sie genauer hinschauten. Es war kaum zu ertragen, wie zwanzig oder mehr von ihnen unablässig herumhantierten und je für sich selbst Dinge herunternahmen, herausholten, hochhoben, hinlegten, auswickelten, einwickelten, öffneten, schlossen, entkorkten, zustölpselten, abstellten, um unter dem Dauergeknister ihrer Tüten, dem Geknatter ihrer Plastikbehälter vor aller Augen, Ohren, Nasen deren Inhalt methodisch in sich hineinzustopfen. Moreau:  Methodisch, immerhin. Sollte das einem Philosophen nicht imponieren ? Scruton: Ordnung kann so verheerend sein wie Unordnung. Mich beeindruckt eine Methode nach dem Maße ihres Wozu. Wozu also hier das Ganze ? Um in den zwei Stunden, die der von Paris Gare de Lyon nach Lyon Part Dieu rasende TGV braucht, die gemäß Frankreichs Riten vorgeschriebenen fünf Gänge zu zerkauen, zu zerschmatzen, zu zerschlürfen. Der Buchtitel Kunderas, Die uner146 | Anguilla 

trägliche Leichtigkeit des Seins, enthält bereits die vollständige, der Leserin den schlechten Roman ersparende Theorie zum Phänomen. Moreau: Ein Glück, daß nicht Sie selbst methodisch zerkaut wurden. Scruton:  Frankreichs Küche verachtet alles Englische. Mein Budapester Ratgeber fürs Reisen durch Kontinentaleuropa, Nádas Péter, hatte dennoch Recht, als er mir empfahl, ich solle gerade diese Strecke lieber reiten. Moreau:  Immerhin, Sie hätten das zustande gebracht. Es zählt zur Misere der jetzigen Philosophen in Frankreich, daß sie allesamt nicht reiten können. Hätten Sie sich Lyotard zu Pferde vorstellen können ? Schon bei der Frage zuckt es unwillkürlich um die Mundwinkel. Reiten können sie nicht und tanzen auch nicht. Kein Wunder, daß ihrer Sprache der Rhythmus fehlt. In ihrem knatternden Hedonismus aber stehen sie den Spießern im TGV nicht nach. Scruton:  An der Tafel erkannte Belsazar in Flammenschrift das Menetekel, das seinen Untergang prophezeite. So allein sollte die SNCF mit Reisenden dieser Art kommunizieren. Dabei vollzog sich deren Prozedur nicht einmal, weil sie es ohne den Genuß nicht ausgehalten hätten. Sie vollzog sich, weil die Ideale ihrer Kultur, die wirklichen, nicht die prätendierten – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit –, sie zu solchem Genuß verpflichteten. Am Ende doch noch dreierlei verschiedener Käse, blau, weiß, rot. Ohne ihn hätte jeder sich vor den anderen geschämt. Moreau:  Sie öffnen mir die Augen. Sybariten des Konformismus: sie genießen einzeln und doch en gros. Genuß als nationale Pflicht. Kann es eine dümmere Idee von ihm geben ? Scruton:  Dümmer geht es immer. Manche erleuchtet der Genuß zu Visionen der Steigerung. Etwas ist ein Genuß und etwas anderes ist ein Genuß ; also kombiniert man beides und hat doppelten Genuß. Moreau:  Das kommt mir bekannt vor. Auch Inferni dieser Art zu arrangieren zählt zu den Spezialitäten des Genies meiner Nation. Sie setzte einst auf die Maxime, wer einen der Sinne anrege, der rege alle an. Da es nicht recht klappte, regen ihre Genußbereiter nun geradewegs alle Sinne an. Scruton:  Sie sprechen aus Erfahrung ? Moreau:  Ich wurde einmal in ein solches Inferno gezogen, ohne Gespräch in Lyon | 147

recht zu ahnen, was auf mich zukam. Mozarts C-Dur-Symphonie, seine letzte, ist ein Genuß, und Poularde demi-deuil ist ein Genuß. Also spielte man Nr. 41 und servierte währenddessen Poularde mit Trüffel. Man hatte mir gesagt, es werde ein besonderer Genuß werden ; ich solle mich überraschen lassen. Der Ausgang des Versuchs, wenig überraschend: Ich konzentrierte mich auf die Töne und konnte das Gericht nicht genießen ; ich suchte mich dem Geflügel zu widmen und fühlte mich von der Musik abgelenkt. Scruton:  Früher drohte man dem Genießer mit der Hölle. Er zeigte sich unbeeindruckt. Was bedeutet die Ewigkeit der Verdammnis dem, der in einer Sekunde eine Unendlichkeit an Genuß gefunden hat ? Heute erst schlägt man den Genuß vernichtend, indem man aus den Genüssen selbst Höllen herrichtet. Moreau:  Die jetzige Mode drückt den Genuß in ein Inferno, die Tradition ließ ihn aus dem Inferno aufsteigen. Scruton:  Aus dem Inferno ? Moreau:  Briten ahnen nicht, mit wieviel Leid das Lustvolle, Essen in seiner höchsten Form, verbunden war. Jede französische Restaurantküche, wenn sie etwas taugte, war die Hölle. Diese hier ist es noch. Lernen heißt da: gedemütigt werden. Den apprenti cuisinier trifft im Laufe seiner Lehrzeit ein Bombardement von Pfannen und Töpfen. Am schlimmsten ergeht es den wenigen Frauen. Aus diesem Ort der Wut kommen Gerichte, von denen wir sagen, sie seien mit Liebe gemacht. Wieviel Blut und Grauen ist auf dem Boden aller guten Dinge … Scruton:  Also doch lieber die neue Mode ? Moreau:  Um keinen Preis. Zu viele Lüste schlittern in Unlust. Nur auf den Genuß gebe ich etwas, der apart ist – à part, auf der Seite, seiner eigenen, und anderes auf die andere Seite setzend. Scruton:  Deshalb waren wir beide, in stillschweigendem Einverständnis, während unserer vier Gänge so wortkarg. Moreau:  Und werden es hoffentlich wieder werden über dem noch ausstehenden fünften. Scruton:  Unsere Worte werden erblassen angesichts des Desserts. Moreau:  Immerhin sind sie nicht schon vorher blaß. Wir plappern schließlich nicht, wie die Reitunfähigen, von Postmoderne. Scruton:  Dafür, daß einer postmodern denke, ist nicht erforderlich, daß er zuvor modern gedacht habe ; es hieße auch zu viel 148 | Anguilla 

verlangen. Plappern tröstet die Zerfahrenen. Solange sie plappern, vergessen sie, daß sie nicht mit sich einig sind. Uneins ist Lyotard zwischen einer Unlust und einer Lust: der Unlust zu denken und der Lust, als Denker zu gelten. Das ist Lyotards Widerstreit. Er ist seinem Gesicht eingeschrieben. Er ist seinen Sätzen eingeschrieben. Er erzeugt einen Diskurs. Irgendwann muß man sich entscheiden, ob man einen Diskurs hervorbringen will oder Einsicht. Lyotard hat sich auf seine Art entschieden, ich auf die meine. Moreau:  Ein Gespräch mit Ihnen ist ein Genuß. Mathieu Viannays Aalfilet ist auch ein Genuß. Viannays Aalfilet zu verspeisen und dabei mit Ihnen über den Genuß zu philosophieren wäre allerdings keiner gewesen. Scruton:  Ungestörtes Nachdenken zu den Genüssen zu zählen, fänden die meisten verwegen. Moreau:  Ich sagte: Mit Ihnen sprechend sei es ein Genuß. Scruton:  Auf mich kommt es beim Nachdenken nicht an. Daß es nicht darauf ankommt, wer jeweils denkt, zeichnet das Denken aus. Objektivität nennen das die Philosophen. Moreau:  Sobald Sie vom Gespräch in die Belehrung wechseln, hört der Genuß prompt auf. Scruton:  Sie haben jedenfalls klare Maßstäbe fürs Genießen. Wenn auch andere als die meisten. Moreau:  Ich bin ja auch nicht die meisten. Scruton:  Betonte Vornehmheit ist unvornehm. Moreau:  Warum das ? Scruton:  Das kann ich nur belehrend sagen. Noblesse ist eine dialektische Tugend. Niemand gleicht den anderen mehr, als wer sich für anders hält. Moreau:  Ich hätte nicht fragen sollen. Dialektik schlägt mir auf den Magen. Scruton:  Mir wäre daran gelegen gewesen, ein wenig die Bilanz dieses Ortes zu verschieben, an dem wenig gedacht und viel gegessen wird. Doch dann komme ich eben beim Frühstück darauf zurück. Moreau:  Frühstücken werden wir beide wohl kaum gemeinsam. Scruton:  Wenn schon nicht ich, könnten nicht die meisten ausnahmsweise einmal Recht haben ? Moreau:  Äußerst unwahrscheinlich. Aber womit denn ? Gespräch in Lyon | 149

Scruton:  Immer, glauben sie, entfaltet sich der Genuß über die Sinne: der einer Körpergestalt über das Auge, der von Klängen über das Ohr, der einer Speise oder eines Weins über den Gaumen, der eines Parfüms über die Nase und der Genuß der Liebkosung über die berührende und berührte Haut. Moreau:  Die meisten haben keine Ahnung von Parfüm. Oder von Wein. Scruton:  Würde es ihnen denn helfen beim Genießen, hätten sie Ahnung ? Moreau:  Eine Ahnung zu haben von einer Sache ist im Hinblick auf sie nie hinderlich. Scruton: Erinnern Sie sich an den Grafen Pococurante in Voltaires Candide ? Moreau:  Der Roman war Schullektüre. Also habe ich ihn vergessen. Ich weiß nur noch, daß wir unseren Garten bestellen müssen. Ein Schlußsatz mit ›müssen‹ überzeugt jeden Schüler, davor Gesagtes zu vergessen. Scruton:  Pococurante, ein venezianischer Senator, hat Ahnung im Überfluß. Candide bewundert zwei Gemälde Raffaels im Besitz des Grafen ; doch Pococurante kann keinen Genuß an ihnen finden – er kennt ihre Mängel. Homers Epen öden ihn an durch ihre Wiederholungen, die ein Nichtkenner vielleicht gar nicht bemerken würde oder hilfreich fände, um sich die Handlung einzuprägen. Dieser Herr ist der anspruchsvolle Connoisseur schlechthin – seine Maßstäbe sind so hoch, daß ihnen nichts genügt und eigentlich auch nichts genügen kann. Er lebt in ästhetischem Luxus, besitzt die teuersten Kunstwerke und findet sie doch kümmerlich. Nur wer über etwas steht, kann auf es herabschauen – darum ist Candide vom Grafen beeindruckt. Moreau:  Ich auch. Scruton:  Aber Pococurante zahlt einen hohen Preis dafür, so erhaben über seinen Besitz zu sein: Er kann ihn nie genießen – er kann nichts recht genießen. Moreau:  Urteilsvermögen gehört eben zu den Dingen, die man nicht leicht wieder los wird, wenn man einmal über sie verfügt. Im Unterschied zu Geld etwa, das dem Grafen sicher jeder gern abgenommen hätte. Selbst das Vergessen, der beste Weg zur Ahnungslosigkeit, steht ja nicht in unserer Macht. 150 | Anguilla 

Scruton:  Doch kritische Befähigung und Kenntnis einer Sache verträgt sich dann offenbar weniger gut mit deren Genuß, als Sie voraussetzten. Wer keine oder sehr niedrige Ansprüche hat, vermag alles oder fast alles zu genießen, und mit steigenden Ansprüchen sinkt die Zahl der Dinge, die jemand genießen kann. Moreau:  Was ich zuvor sagte, war wohl ebenso falsch wie das, was Sie nun behaupten. Ahnungslosigkeit kann in einem Fall den Genuß an einer Sache mindern, weil man deren feinere Züge verpaßt, in einem anderen Fall aber den Genuß steigern, weil man ihre Mängel nicht bemerkt. Scruton:  Selbst wo Wissen den Genuß fördert, ist es doch nicht dieses Wissen, das man genießt. Es ist ein sinnliches Etwas. Weiß man, daß ein Wein aus Sauternes nicht zum Essen paßt, dann trinkt man ihn nach dem Essen und kann ihn richtig genießen. Doch es ist dann der Château d’Yquem, den man genießt, nicht das Wissen, wozu er paßt. Die meisten haben Recht: Nur Sinnliches wird genossen. Wir wären freilich besser dran, könnten wir einen bloß gedachten Château d’Yquem genießen. Aber so ist die Welt nicht eingerichtet. Sondern kostspieliger. Moreau:  Château d’Yquem ! Montaignes Weingut. Die Propaganda für das Languedoc in Cannes hat bei Ihnen jedenfalls nicht verfangen. Scruton:  Ihre Unterhaltung hat mich abgelenkt von ihr. Moreau:  Kennen Sie die kleine Statue Ravachol von Fremiet, im Musée d’Orsay ? Scruton:  Halb Wolf, halb gotischer Wasserspeier wie auf Notre Dame, aber mit den Beinen eines Affen – ein Kleinod der Anarchie, herrlich ! Moreau:  Wenn ich ihn mir vorstelle, kann ich den Ravachol schon genießen, etwas weniger als im Museum vielleicht, weil die Vorstellung blasser ist als die Wahrnehmung. Scruton:  Sie haben Recht. Moreau:  Es macht so viel Spaß, Recht zu haben. Scruton: Mit den Sinnen Empfundenes kann also genossen werden, aber auch Vorgestelltes. Warum gelingt es beim Ravachol, doch beim Château d’Yquem nicht ? Moreau:  Kunst ist, was sich nicht verbrauchen läßt. Genußvoll betrachtet bleibt Ravachol doch dem Konsum entzogen. Darum Gespräch in Lyon | 151

kommt die Vorstellung, die nie konsumiert, dem Genuß der Statue wenigstens nahe. Den Wein genießen heißt hingegen, ihn konsumieren. Scruton:  Es spricht nicht gegen den Wein, daß er durch nichts zu ersetzen ist. Auch durch keine Vorstellung von ihm. Unersetzlich zu sein ist das Höchste, was sich von einer Sache sagen läßt. Moreau:  Ich kenne den Taumel, in den Sie geraten, wenn wir auf Wein zu sprechen kommen. Nüchtern betrachtet kann ich eine Flasche Yquem durch eine andere ersetzen, gleich gut gelagert, selber Jahrgang und so weiter vorausgesetzt. Und die neuen Herren des Château, Louis Vuitton Moët Hennessy, lassen sich gerne eine ihrer Flaschen von Roger Scruton durch 100 britische Pfund ersetzen. Mit dem Unersetzlichen kann es bei keiner Handelsware weit her sein. Aber gerade der Handel unterhält ja intime Beziehungen zum Genuß. Das gehört im Fall Lyons zum genius loci. Scruton:  Mein Vertrauen in den genius loci Lyons haben zwei Stunden Fahrt im TGV nach Part Dieu untergraben. Die Genießer im Waggon waren offenkundig vorwiegend Lyoneser Geschäftsleute. Moreau:  Der Gott Merkur sorgt dafür, daß ihre Tupperware stets gut gefüllt ist. Scruton:  Sie kam mir gleich heidnisch vor, Lyon, diese christliche Stätte. Moreau:  Lyons Name leitet sich von dem keltischen Gott Lugos her. ›Lugo-dunom‹ ist ›Festung des Lugos‹. In der interpretatio Romana wurde Lugos zu Merkur, dem Gott der Kaufleute. Scruton:  Sie kennen sich aus. Moreau:  Ich glaubte früher einmal, voller Enthusiasmus, alles Keltische sei subversiv in diesem lateinischen Lande. Aber damit ist es nicht weit her. Scruton:  Ähnlich meinen manche, Genuß sei subversiv in einer geschäftigen Welt. Auch damit ist es nicht weit her. Moreau:  Immerhin ist Geschäft noch lange nicht Genuß. Und das Lyon der Renaissance war zunächst eher der Ort des Austauschs als des Genusses. Tausch ist abstrakt, Genuß konkret. Hier hat man, schon im 16. Jahrhundert, Waren gehandelt, Gelder überwiesen, Seeversicherungen abgeschlossen  – also das vereinbart, was tausende Kilometer von hier wirklich stattfand. Weil aber der 152 | Anguilla 

Tausch viel abwarf, setzte man Teile seines Gewinns dann doch in Genuß um. Man mußte die Händler beherbergen. Vertragsabschlüsse besiegelte man bei Braten und Wein. So kam der Genuß nach Lyon, auf dem Umweg über das, was nicht Genuß ist. Scruton:  Sie erklären die Sache nicht, sondern stellen sie als unerklärlich hin. Wenn beides so gegensätzlich ist – abstrakt versus konkret –, dann versteht man nicht, wie der Genuß aus dem Geschäft hervorging. Der Tausch mag viel abgeworfen haben ; aber man hätte den Gewinn in anderes stecken können als in Genuß: Weitere Geschäftsideen zu finanzieren wäre eher konsequent gewesen. Moreau:  Und doch war folgerichtig, was sich hier in Lyon zutrug ; denn es trägt sich seit jeher so zu. Sobald der Mensch kocht, statt bei Rohkost zu bleiben, wird er ein ökonomisches Wesen. Das Kochen bedingt zunächst Teilung der Arbeit. Der Schwächere, dem die Kraft fehlt, durch Kampf und Jagd das Leben zu sichern, kann sich kochend für die andern nützlich machen. Solange die Natur jedem bot, was er brauchte, konnte er es für sich genießen. Ist aber gekocht worden, dann versammeln sich mehrere zum Genuß der Mahlzeit. Das nötigt sie, sich anders zu benehmen, als wenn jeder für sich allein äße. An der Tafel zeigt sich, wieviel jeder dem anderen gönnt. Wer, was für alle zubereitet wurde, gierig an sich reißt und verschlingt, wird von den übrigen in Schranken gewiesen. Der Gefräßige wird gestutzt. Die gemeinsamen Esser müssen Fairneß und Eigennutz in der richtigen Weise verbinden, nämlich Rücksicht aufeinander nehmen, miteinander teilen, sich vertragen. Das sind die späteren Tugenden der geschäftsfähigen Person. Das Mahl modelliert den Menschen zum sozialen Wesen. Auf jeder Stufe geschieht das neu, auch auf einer so hohen wie der Lyons zur Zeit der Renaissance. Scruton:  Nun erst erkenne ich den Verfall im TGV, bei bis zu 320 Stundenkilometern, in seinem ganzen Grauen. Moreau:  Aufwärts geht es langsam in der Zivilisation, abwärts schnell. Scruton:  Außer in La Mère Brazier. Moreau:  Zum Bollwerk gegen den Abstieg wurde la rigueur. Neh­ men Sie Merlan à l’anglaise, von Viannay so zubereitet, wie es les Anglais niemals könnten. Die Fischportion sollte 62,5 Millimeter Gespräch in Lyon | 153

lang sein. Zweiundsechzig Komma fünf. Viannay verwendet ein Lineal dafür. Dieses Lineal ist das Rückgrat seines gastrosophischen Genies. Für den Genuß wird nicht improvisiert. Und so ist das ­Lineal zugleich das Amulett des soliden Geschäftsmanns Viannay. Scruton:  Nehmen wir an, Genuß und Geschäft seien wirklich so tief miteinander verbunden. Wie aber kam das Geschäft nach Lyon ? Moreau: Der historischen Phantasie nach durch Lugos alias Merkur. Den historischen Quellen nach durch die Frömmigkeit des christlichen Mittelalters. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts krönte man die ersten beiden Avignon-Päpste in Lyon, Clemens den V. in Saint-Just, Johannes den XXII. im Jakobinerkonvent. Mit dem päpstlichen Schisma und der Einrichtung eines Papsthofes in Avignon wurden das Rhônetal und mit ihm Lyon, am Zusammenfluß von Rhône und Saône, Orte, an denen sich viel Geld verdienen ließ. Es folgte also der Andacht das Geschäft und dem Geschäft der unandächtige Genuß. Scruton:  Liegt nicht im wirklichen Genuß eine eigene Andacht ? Wir konzentrieren uns, wenn wir einen Yquem trinken oder Aalfilet verspeisen. Waren Sie nicht deshalb so schweigsam während des Mahls ? Moreau:  Das klingt wie: des Abendmahls. Scruton:  Lassen Sie es klingen ! Der erste Altar war ein Herd. Ist nicht der Gegenstand der Andacht eben doch – unersetzlich ? Moreau:  Wir denken bei ›Ersatz‹ immer an Schlechteres. Warum eigentlich ? Man könnte doch eine Sache durch eine bessere ersetzen. Wäre es wahr, daß Frankreichs letzte Königin auf den Hinweis, das Volk habe kein Brot, geantwortet hat, dann solle es eben Brioche speisen, so hätten wir in Marie Antoinette die wahre Schutzheilige des Genusses vor uns. Le chef würde zustimmen. Er wurde in Versailles geboren. Scruton:  Wie alle guten Anekdoten ist auch die vom Briochespeisen frei erfunden. Moreau:  Ich weiß. Daher der Konjunktiv. Scruton:  Dann wissen Sie sicher auch, inspiriert von der anekdotisch erhöhten Schutzheiligen, was Genuß ist. Im Indikativ. Moreau: Das scheint mir einfach. Wer genießt, den drückt nichts. Er ist unbeschwert und voller Freude. 154 | Anguilla 

Scruton:  Mir scheint vielmehr, Freude sei etwas ganz anderes als Genuß. Sie stehen verschieden zur Zeit. Ein Kind kann sich im Herbst auf den Weihnachtsmann freuen, sein Kommen am 24. Dezember. Es ist der Weihnachtsmann, auf den es sich freut, nicht der Gedanke an den Weihnachtsmann  – denn nicht Gedanken bringen Geschenke, sondern Papa Noël. Vom Genuß hingegen ist Künftiges ausgeschlossen. Das Kind kann nicht im Herbst den Geschenksegen zu Weihnachten genießen. Allenfalls genießt es im Herbst den Gedanken an die Geschenke – die Aussicht auf sie. Genuß ist immer Sache des Präsens ; die Freude braucht es nicht zu sein. Moreau:  Mit Blick auf die Zukunft mag das wahr sein. Sie ist ja nicht. Aber mit der Vergangenheit steht es anders. Sie ist ja wirklich gewesen. Scruton:  Erinnerung an einen Genuß ist nicht Genuß. Eine Erinnerung an einen Genuß kann jemand allerdings selbst noch genießen, oder aber an ihr leiden, weil ihm an ihr klar wird, daß ein solcher Genuß in seinem Leben nicht wiederkehrt. Die genossene Erinnerung ist nicht der erinnerte Genuß. Ebenso kann einer ja auch noch genießen, daß er sich aufs Weihnachtsfest freut  – die Freude darauf gewissermaßen auskosten. Aber als bloße Möglichkeit verweist das auf den Unterschied beider: Ein anderer freut sich einfach auf Weihnachten, ohne das eigens zum Gegenstand eines Genusses zu machen. Moreau:  Nicht an die Freude auf etwas dachte ich, sondern an die Freude über etwas. Auch sie ist an Gegenwart gebunden ; mir scheint, sie ist der Genuß. Scruton: Man kann zwar dieselbe Sache genießen oder sich über sie freuen. Die selbe Sache aber macht aus beidem keineswegs dasselbe. Es ist zweierlei, sich über die Ankunft von jemandem zu freuen und sie zu genießen. Moreau:  Ein Unterschied, über den ein Pedant sich freut und den er genießt. Scruton:  Es ist ein wirklicher Unterschied im Phänomen. Sich über den Sonnenschein freuen und den Sonnenschein genießen: das ist zweierlei. In der Freude wende ich mich hin zu etwas oder jemandem, im Genuß kommt hingegen etwas von ihnen zu mir her. Moreau:  Dies so auseinanderhalten zu wollen, ist es gerade, was Gespräch in Lyon | 155

mir pedantisch scheint. Nichts ist unvermischt. Es scheint nur anders, wenn man es eng sieht. Scruton:  Man muß vieles eng sehen, sonst wird es einem nicht deutlich. Gute Philosophie ist ohne ein Element von Pedanterie nicht zu haben. Das unterscheidet sie von einem guten Drehbuch. Als ich vor dem Restaurant stand und Sie des Weges kamen, habe ich mich über Ihre Ankunft gefreut. Solche Freude läßt immer die Frage zu: Warum eigentlich ? Und mögliche Antworten könnten lauten: Weil ich im Nachhinein prahlend herumerzählen kann, ich habe mich mit Jeanne Moreau in La Mère Brazier getroffen, oder weil ich Ihre Gesellschaft mag. Moreau:  Wenn ersteres der Fall wäre, würde ich jetzt aufbrechen. Scruton:  Weil Sie wissen, daß es nicht der Fall ist, brechen Sie nicht auf. Dennoch behält die Frage nach dem Warum im Fall der Freude ihren Sinn. Man kann hingegen nicht fragen, weshalb ich die bittere Schokolade von Voisin aus Lyon genieße. Ich genieße sie eben. Es gibt keinen Grund dafür, und kein Motiv. Irgendwelche Ursachen wird es schon haben, wie alles auf der Welt ; aber hier muß ich sie nicht kennen. Daß ich sie nicht kenne, ist auch kein Anzeichen einer Selbsttäuschung. Moreau:  Ist das ein Unterschied, der einen Unterschied macht: für mich, für Sie, für die Welt ? Scruton:  Motive und Gründe verhaken die Freude gleichsam in der Welt. Daß dem Genuß Motive und Gründe fehlen, schließt ihn hingegen von ihr ab. Er haust sich ein in glänzender Isolation, dieser britischen Spezialität. Moreau:  Sie ruinieren meine ökonomische Theorie des Genusses. Scruton:  Die glänzende Isolation hat die glänzenden Geschäfte der »nation of shopkeepers«, wie Adam Smith sie nennt, durchaus nicht beeinträchtigt. Moreau:  Ihre gegen andere abgeschlossenen Genießer erinnern mich an die Herren im TGV, von denen Sie behandelt wurden, als seien Sie gar nicht da. Scruton:  Die Herren waren nur zu sehr mit der Welt verbandelt, durch ihre ostentativ erfüllte Pflicht zum Genuß. Moreau:  Nimmt nicht jeder Genuß etwas aus der Welt, und sei’s auch nur ein Stück bittere Schokolade ? Scruton:  Doch mit dem Genommenen genügt er sich selbst. Die 156 | Anguilla 

Welt kann ihn eigentlich nur stören und, im schlimmsten Fall, zerstören. Dieser Isolation halber kann selbst ein Genuß, der einen packt und schüttelt, dennoch als Einzelerlebnis wirkungslos bleiben. Die Erfahrung, Genuß sei flüchtig, rührt daher. Anders als in starker Freude oder starkem Haß löst sich im Genießen alle Intensität von Fortdauer, von einem möglichen Niederschlag im Leben. Moreau:  Ich kann doch den Genuß suchen aus einem Grund oder Motiv, zum Beispiel um etwas anderes zu vergessen. Scruton:  Ja. Nur: Wer Genuß sucht, hat ihn nicht. Genuß kennt keinen Grund und kein Motiv ; die Suche nach ihm kann sich aus solchen speisen. Moreau:  Verrät nicht das Motiv der Suche nach einem Genuß, zum Beispiel etwas zu vergessen, was nachher der Genuß sein wird ? Scruton:  Der Genuß an einem Ritt durch den Wald von Claveisolles mit seinen Douglastannen bleibt der Genuß an einem Ritt durch den Wald von Claveisolles, ob er nun unternommen wird, um etwas zu vergessen oder sich an etwas zu erinnern. Das Motiv ist ihm äußerlich. Wer vergessen will, hat, so steht zu vermuten, Schreckliches hinter sich. Das mag ihn dazu disponieren, im Wald von Claveisolles, das Vergangene hinter sich lassend, ganz im Gegenwärtigen zu sein. So etwas kann eine günstige Vorbedingung von Genuß sein oder ihn intensiver erleben lassen. Der Grund der Freude hingegen ist kein günstiger Umstand für sie. Er ist ihr Kern. Moreau:  Im Grunde sind ja Douglasien im Département Rhône etwa wie Hollywoodfilme in Paris. Ungenießbar. Scruton:  Invasive Neophyten. Immerhin revanchierte sich Ihre Nation, indem sie Lyotard nach Georgia schickte, an Emory University. Moreau: Er hat sich selbst geschickt. Und überhaupt: Starke Stämme bei Claveisolles gegen einen Dünnbrettbohrer in Atlanta – ich bitte Sie ! Scruton:  Ich für mein Teil verdanke den USA genug, um selbst Tannen aus Oregon in den Wäldern Frankreichs zu goutieren. Als ich etwas fahrlässig fürs Rauchen in der Öffentlichkeit eintrat … Moreau:  … mit einem schlagenden philosophischen Argument, versteht sich … Scruton:  Versteht sich, nämlich diesem: Der Genuß ist sicher, die Gefahr ist möglich. Gespräch in Lyon | 157

Moreau:  Cartesisch schlagend ! Scruton:  Sie sagen es. Als ich darum für diesen unschuldigen Genuß eintrat, mußte ich England für eine Weile verlassen. Man sollte seiner Heimat nicht allzu treu sein ; sie ist es auch nicht. In Virginia, dem Land des Tabaks, fand ich Zuflucht. Einer Nation, die Nachsicht mit einem übt, sieht man selber vieles nach. Moreau:  Seid nett zueinander: ein profundes philosophisches Prinzip. Wer Filme macht, kann nicht an die USA denken, ohne daß Hollywood in den Sinn käme ; und Hollywood kommt mir nie in den Sinn ohne Fremiets Ravachol, den ich gerne auf es hetzen würde. Und dabei fällt mir gerade auf und ein, daß ich den Ravachol nicht einfach nur weniger als im Museum genieße, weil die Vorstellung blasser ist als die Wahrnehmung, sondern auch mehr, weil mich keine herumstehenden Gaffer stören. Scruton: Auf Ravachol Gaffende oder auf Jeanne Moreau Gaffende ? Moreau:  Beide. Vor allem aber die zweite Sorte. Es geschieht mir, selbst in meinem Alter, kaum, einem Mann zu begegnen, der mich nicht mit seinen Blicken auszieht. Scruton:  Darin die Ausnahme zu sein meine ich nicht beleidigend. Moreau:  Die anderen meinen ihr Gaffen auch nicht schmeichelhaft. Früher wollten sie sehen, was da ist. Heute würden sie sehen wollen, ob noch etwas da ist. Scruton:  In Paris bin ich dahintergekommen, daß dieses Etwas durchaus eher metaphysisch sein darf als physisch. Moreau: Dahinter bin ich bisher noch nicht gekommen. Erschließt es sich philosophisch ? Scruton:  Eher empirisch. Die gefragtesten Mannequins haben auf eine Weise keine Brust, daß es ihren Reiz nur noch steigert. Moreau:  Auch dahinter bin ich noch nicht gekommen: wie sie das schaffen. Als Mannequin wäre ich gänzlich ungeeignet. Und weil ich keinerlei metaphysisches Talent besitze, ziehe ich wohl die physische Schaulust auf mich, die taxiert, ob noch etwas da ist. Unter den Formen der Lust zähle ich sie zu den erbärmlicheren. Scruton:  Fällt er wirklich heute so aus, dann wäre der Blick ­a llerdings abschätzig. Der frühere war sicher schätzend. Moreau:  Abschätzend war er, im Sinne der Frage: Lohnt es sich ? 158 | Anguilla 

Scruton:  Ich meinte: wertschätzend  – einer Schönheit gegenüber, die ich auch jetzt sehe: nicht trotz des Alters, sondern in ihrem Alter. Moreau:  So gesagt ist es allerdings ein Kompliment. Aber der Blick, der auszog, war keines. Das Kompliment fragt. Auch wenn es wie eine Behauptung klingt, ist es eine Erkundigung. Manche Weisen der Abwehr des Kompliments lassen, konträr, Gefallen an ihm durchblicken – das gehört zum Spiel. Blicke, die ausziehen, gehen direkt zu Werke. Ungefragt. Sie sind zudringlich. Auch auf Schönheit legen sie keinen Wert ; sie kommen aus dem Wissen, daß die Lust unter Unschönen nicht geringer ist. Schönheit ist dem Starren immer nur ein Vorwand. Es ist selber unschön – im äußersten Fall dreckig. Scruton:  Ist der ausgezogene Körper dreckig ? Wirkliche Blöße ist es nicht. Warum sollte es die vorgestellte sein ? Moreau:  Das ist es eben. Nacktheit ist nicht schmutzig ; das obszöne Starren beschmutzt, die ordinäre Geste und die zotige Bemerkung. Scruton:  Sie sind ein Opfer ? Moreau:  Begehren und Begierde sind nicht einerlei, so wenig wie Blicken und Glotzen. Begierde ist unbegehrtes Begehren. Dem Glotzen und seiner billigen Fortsetzung im Kopf fehlt ein zivilisiertes je-ne-sais-quoi, ein Umweg, eine Finesse und eine Freundlichkeit, die das Kompliment an den Tag legt. Scruton:  Gegen dies Manko waren Sie machtlos ? Moreau:  Truffaut hat ein Buch geschrieben, Le plaisir des yeux ; seine Augen sind gewiß an mir auf seine Kosten gekommen. Aber als gefragte Aktrice konnte ich mir aussuchen, wessen Blick mich fixiert. Das war ein Stück Macht. Truffaut samt Jules und Jim: Ihre Blicke suchte ich mir aus ; ich hätte mich ihnen entziehen können. Sie schienen mir damals die besten Blicke im Angebot. Oder jedenfalls unter den besten. Hat sich dies nicht bestätigt ? Der Film wurde klassisch. Auch frühere Blicke verklärt der Rückblick. Scruton:  Sie hätten Ihren Beruf nicht ausüben können, wären Sie prüde gewesen. Moreau:  Renitenz gegen männliches Gaffen Prüderie zu nennen ist bloß noch eine männliche Infamie. In einem Punkt haben Sie freilich Recht: Alle Schauspielerei ist ein Stück weit ExhibitionisGespräch in Lyon | 159

mus. Ich ergänze: Sofern sie etwas taugt, ist sie zugleich noch etwas anderes als Exhibitionismus ; sogar dessen Gegenteil. Scruton:  Und je berühmter eine Schauspielerin ist, vermute ich, desto vertrackter wird dies. Moreau:  Es wird wahrhaft vertrackt für den Star. Ein Star ist nicht einfach ein berühmter Schauspieler. Ein Filmschauspieler besteht aus dem, was von ihm auf der Leinwand zu sehen ist. Aber ein Star ist ein Amalgam seiner Präsenz auf der Leinwand und jenseits der Leinwand. Die zugehörige Phantasie ist, daß beide letzten Endes zusammenfallen. Zwar könnte das niemals wahr sein. Die Rollen, die ich gespielt habe, sind solche unvereinbarer Personen. Aber die Phantasie besteht auf der Identität von Filmfigur und Privatperson. Was das Publikum an mir genießt, ist in Wahrheit dieses Phantasma. Scruton:  Was läßt sich dagegen tun ? Moreau:  Wer sich vor ein Publikum stellt, mit dem macht es, was es will. Niemand kann es beherrschen. Und doch gibt es eine Diskretion selbst vor dem größten Publikum, die einen – selbst eine wie mich – unangreifbar sein läßt. In Les Amants hat Louis Malle bewiesen, daß Takt und Geschmack, konsequent bis zum Letzten, einen Film über die Lust dirigieren können. Mit der Musik des ersten Streichsextetts von Brahms. Scruton:  In halbem Tempo. Moreau:  Die wahre Lust geht es langsam an. Scruton:  Warum ist das Tempo so bedeutsam ? Moreau:  Meistens geht alles zu schnell. Die Lust verschwindet, indem sie sich verausgabt. Scruton:  Kann man sie also steigern, indem man sie vorenthält ? Moreau:  Das ist die Idee des Striptease. Malle hat mich und die Bardot vor langer Zeit – 1965 war es – damit gequält. Und ›quälen‹, das ist es ja, was ›to tease‹ bedeutet. Doch der Striptease ist eine USA-Idee ; nur eine protestantische Leistungsgesellschaft kann es derart reizvoll finden, die Lust immer wieder unerfüllt zu lassen – sie zu sterilisieren. Scruton:  Was die Lust steigern soll, wendet sich dann gegen sie. Es liegt nicht nur daran, daß der Vorgang quälend gestreckt wird. Das sexuelle Begehren, das von der gezeigten Haut gereizt wird, prallt zugleich an ihr ab. Sie hat nichts weiter zu bedeuten als eben: Haut. Das ging mir auf, als ich Viva Maria ! sah. 160 | Anguilla 

Moreau:  Das Sinnliche stellt sich schützend vor sich selbst. Und rettet so die Darstellerin. Die Epidermis versiegelt die Person, macht sie ungreifbar. Scruton:  Die Christen sahen in der Sünde immer etwas Persönliches. Der Striptease aber richtet sich an alle und keinen. Moreau:  An alle und keinen gerichtet, aber jedem einzelnen suggerierend, sie sei für ihn: so plaziert Reklame ihre Botschaft. Striptease ist Reklame für Sex, der dann nicht stattfindet. Ein Werbeversprechen eben. Wirklicher Sex kann für sich selber sorgen und bedarf keiner Propaganda. Scruton:  An alle und keinen gerichtet, paßt der Striptease so besonders zum Film, dessen Publikum anonym ist. Louis Malle hat das glänzend verstanden, auch wenn er die klinische Perfektion eines US-Striptease mit Ihnen und der Bardot nicht erreichen konnte. Moreau:  Er machte, außerhalb der USA, hart an der Grenze zu ihnen, in Mexiko, aus der Not eine Tugend. Mit Brigitte und mir bot er die Persiflage eines Striptease. Übertreibend führten wir das Prinzip der Verzögerung ad absurdum. Malle kostümierte uns in so viele Hüllen, daß die Hoffnung der Lust, zur Haut vorzudringen, ins Lächerliche sinkt. Es war eine komische Qual. Der parodistische Striptease ist offen unerotisch, und legt so bloß, daß der Erotik verheißende Striptease verdeckt unerotisch ist. Scruton:  Unser Gespräch über Genuß und Lust nimmt einen recht unordentlichen Gang. Moreau:  Aber die Lust ist ja selbst etwas Unordentliches ; sie hält es mit dem zerwühlten Bett, nicht mit der glattgezogenen Decke. Scruton:  Ich wüßte kaum zu sagen, warum man über Unordentliches, vielleicht gerade über Unordentliches, nicht ordentlich reden sollte. Moreau:  Im Fall der Lust, der Großen Lust, wie ich sie nenne, kann das Unordentliche ans Außerordentliche reichen. Dahinter bleibt eine wohlgeordnete Abfolge von Worten stets zurück. Scruton:  Die Unordnung, die mich stört, ist keine Frage der Wortfolge. Mir ist nicht wohl dabei, daß wir so übergangslos vom Genuß zur Lust gerutscht sind, und vom Aalfilet zur Erotik. Moreau:  Man hat sich zum Fressen gern, hier wie da. Übrigens war es Aal mit fermentierter Quitte. Gespräch in Lyon | 161

Scruton:  Tut das zur Sache ? Moreau: Die Quitte, pyrus cydonia oder portugalensis, coing, membrillo, marmelata, war die goldene Frucht der Hesperiden, der Liebesapfel, den griechische Mädchen ihren Jünglingen reichten. Mit ihrem süßen, weichen Duft verspricht sie Genuß, aber ihr Fruchtfleisch schmeckt wie nur die wahre Lust: hart und herb. Scruton:  Essen Sie immer so allegorisch ? Moreau:  Nur, wenn ich Ihrem Verständnis nachhelfen muß. Scruton:  Mit einer Eselsbrücke. Moreau:  Wie käme ich dazu, Sie für einen Esel zu halten und Ihnen die entsprechende Brücke zum Übergang anzubieten ? Sind wir in L’Auberge du Pont ? Gerieten wir in eines von Bocuses unsäglichen Interviews ? Die Kulturgeschichte der Quitte verdanke ich einem der gelehrtesten Ihrer ehemaligen Kollegen an Birkbeck College. Scruton:  Ich weiß, wen Sie meinen. Sein Weg zur Kultur Ihres Landes führte durch die Bresse nach Burgund, Roquefort, Bordeaux und Cognac. Dort blieb er hängen. Zur Erotik ist er nie gelangt. Eine englische Karriere in Frankreich eben. Sie müssen es schon anders probieren. Moreau:  Dann verspreche ich mir von unserem Dessert die Verschmelzung beider Sphären – Genuß und Lust, Kulinarik und Erotik. Scruton: Auch dieser Unterschied erscheint Ihnen offenbar schon jetzt spitzfindig. Moreau:  Es ist beim Sex wie beim Essen: Ob es gut war, erkennt man am Nachgeschmack. Scruton:  Aber vorher ? Moreau:  Es sind einfach andere Körperteile angesprochen. Essen erfreut den Gaumen, Sex die erogenen Zonen. Scruton: ›Erogene Zonen‹ ! Nichts eskamotiert ein Gespräch über Sex gründlicher als psychoanalytische Doktorspiele. Moreau:  Wirklich nichts ? Scruton:  Sie haben schon wieder Recht. Freud hat wenigstens eine Wissenschaft vom Sex geschaffen, die keine ist. Den Nebensatz sollte ich ihr zugute halten. Wieviel ärger wäre eine Wissenschaft vom Sex, die eine ist. Eigentlich muß man angetrunken sein, um über Erotik zu reden ; das weiß Alkibiades in Platons Symposion. 162 | Anguilla 

Moreau:  Und Wein aus Sauternes kommt erst nach dem Essen auf den Tisch. Scruton:  Nach dem Dessert. Moreau:  Erst dann könnte man eigentlich reden, meinen Sie ? Jetzt haben Sie demnach nichts zur Sache zu sagen ? Scruton:  Wenn es sein muß, dann dies: Wo die Lust jeweils lokalisiert ist, kann nicht die Hauptsache ausmachen. Moreau:  Sondern ? Scruton:  Tiefer als der Kontrast zwischen Gaumen und Vagina ist der zwischen Appetit und Begehren. Sie waren ihm schon auf der Spur, vorhin, mit Ihrer Bemerkung über den Yquem. Aber ich exemplifiziere den Unterschied lieber an Festem als an Flüssigem. Ihr Appetit auf Aalfilet wird durch – vorausgesetzt, es ist gut zubereitet – jeden Teller Aalfilet befriedigt. Wer beharren würde, er wolle für sich einzig allein Jules, wie er ihn nennt, diesen bestimmten Teller Aal, der da an ihm vorbei und zu einem anderen Gast getragen wird, haben, der wäre verrückt. Oder kindisch. Wem ein Teller Aal weggenommen wird, der will Ersatz ; und kommt Ersatz, dann befriedigt er ein und denselben Appetit, den andernfalls der erste Teller Aal befriedigt hätte. Wer hingegen sein Werben um Brigitte aufgibt und sich um Jeanne bemüht, der ersetzt ein Begehren durch ein anderes – sie sind zwei, weil Brigitte und Jeanne nicht nur numerisch, sondern qualitativ mehrere sind. Moreau:  Das will ich meinen, auch wenn ich es anders ausgedrückt hätte. Scruton:  Die Hauptsache beginnt insofern schon, bevor sie angefangen hat – auf den unterschiedlichen Wegen zu ihr. Im Restaurant schauen Sie sich den Aal an, aber der Aal schaut nicht Sie an. Wäre er noch lebendig und würde es tun, dann könnten Sie ihn nicht essen. Wecken Sie hingegen Ihr Gedächtnis daran, wie die Blicke derer sich treffen, zwischen denen es später zu einer sexuellen Begegnung kommt ! Moreau:  Wie denn ? Scruton:  Wie im Film. Moreau:  Können nicht Blinde sich in Sex ergehen ? Vielleicht ist er sogar intensiver, weil der Blick nicht möglich ist. Ich rate nur, aber denkbar wäre es. Die Berührung muß das nicht Erblickte wettmachen. Gespräch in Lyon | 163

Scruton:  Doch wer blicken kann, wird Blicke tauschen, weil es von beiden Seiten ein Tun ist. Nahrung bleibt passiv: Sie genießen den Aal, aber der Aal genießt Sie nicht. Er kann auch nicht wollen, daß Sie ihn genießen. Beim Sex wollen wir genossen werden ; einer genießt die andere, und die andere genießt einen, und jeder genießt auch den Genuß des jeweils anderen. Moreau:  Vorausgesetzt, es ist ein Genuß. Ist es keiner, unter all den plumpen Griffen und Übergriffen, dann sind wir Frauen gehalten, den Genuß vorzutäuschen. Je weniger da ist, desto mehr muß man schwindeln, und je mehr man schwindelt, desto weniger wird daraus. Scruton:  Ich sage nur, was Sex sein kann. Moreau:  Mich interessiert eher, was er ist. Scruton:  Um sich darüber klar zu werden, muß man begreifen, was er nicht ist. Sexuelles Begehren ist nicht der Appetit eines Tiers. Das Tier hat Trieb, doch kein Begehren. Begehren geht von einem Selbst aus und richtet sich auf ein anderes Selbst. Koitus aus Trieb, der tierische, ist nur Akt der Gattung ; Koitus aus Begehren, der menschliche, ist Akt der einzelnen. Das eine Selbst will vom anderen, und das andere vom einen, durch den eigenen Leib in seiner Individualität anerkannt sein. Moreau:  Hochtrabend ist Ihre Philosophie des Sex. Steigen Sie ab ! Wollen mag einer manches. Was, wenn das Gewollte nicht geschieht ? Scruton:  Wer, zum Beispiel weil er einen unwillkürlich ausgerufenen Namen vernimmt, herausfindet, daß der oder die andere beim Sex an eine dritte Person dachte, fühlt sich, ganz folgerichtig, gekränkt. Kränkend ist die Entdeckung, daß ich nicht gemeint bin. Ginge es nur um die Gattung, wäre das ja egal, solange das Reiben aneinander sich angenehm anfühlt ; aber es geht ums Individuum. Moreau:  Vielleicht liegt es ja am Gekränkten, daß er bei all seinem Gezappel gleichwohl in Vergessenheit geraten konnte. Scruton:  Sie spekulieren, warum es schiefging. Damit k­ önnten Sie oft genug richtig liegen. Entscheidend ist zu sehen, daß es schiefging. Es kann auch auf manch andere Art schiefgehen. Exhibitionisten und Voyeure sind arme Schweine. Sex kann man das nicht nennen, was sie treiben. Am gesammelten Elend läßt sich ablesen, was geschehen muß, wenn es nicht schiefgeht: ein Wechselspiel 164 | Anguilla 

muß sich ereignen. Es sind nicht einfach beide erregt, sondern der eine ist erregt durch die Wahrnehmung des Verlangens der anderen, und umgekehrt. Sie könnten, sie müßten von sich sagen: Ich begehre nicht einfach dich – das gewiß auch – ; doch darüber hinaus begehre ich dein Begehren. Moreau:  Wenigstens rücken Sie nicht mit der fatalen Kategorie der Hingabe an. Als wäre nicht schlimm genug, was Frauen hinnehmen müssen. Scruton:  Hingeben ist allerdings noch unseliger als hinnehmen. Im Wörterbuch stehen beide auf der selben Seite wie Hinrichtung. Sie sind wohl deren Varianten, zeitlich befristet. Moreau:  Da halte ich es wirklich lieber mit dem Wechselspiel. Es würde erklären, warum Liaisons zwischen Regisseuren und Schauspielerinnen immer scheitern. Der Regisseur ist professionell deformiert dazu, in kein Wechselspiel einzutreten. Filmen, mit der Kamera hantieren ist nicht einfach auch ein Sehen. Es ist Sehen mittels eines Apparats, der Abstand hält. Ein Regisseur will niemals dich – er will dein Bild. In seinem Blick steckt eine kalte Lust, die alle heiße Lust an die Schauspielerin delegiert. Der beste von allen, Hitchcock, war ein Basilisk, der nur sah, indem er tötete. Scruton:  So erhob sich der sonst verachtete Voyeurismus zu einem angesehenen Berufsstand. Moreau:  Alle Schauspielerei, sagte ich vorhin, sei ein Stück weit Exhibitionismus, und ergänzte: Sofern sie etwas taugt, sei sie zugleich noch etwas anderes als Exhibitionismus, sogar dessen Gegenteil. Wenn alle Regie ein Stück weit Voyeurismus ist, sollte ich ihr gerechterweise wohl zugestehen, sie sei, wenn sie etwas taugt, zugleich noch etwas anderes als Voyeurismus, sogar dessen Gegenteil. Scruton: Bei so viel Gerechtigkeit stände Liaisons zwischen Schauspielerinnen und Regisseuren dann doch nichts mehr im Wege. Moreau:  Wenn wir schon mit der Gerechtigkeit so schön im Zuge sind, hätte ich sie auch gerne, entgegen Ihrer Herablassung, für das Tierreich restituiert. Zumindest die sexuelle Ehre der Anguilla anguilla möchte ich retten. Sie hat, trotz ihres grammatischen Geschlechts im Lateinischen, etwas eminent Männliches. Oral ist der Europäische Aal einfach unübertroffen. Er ist ja selbst eine Art Zunge. Gespräch in Lyon | 165

Scruton:  Mit der zoologischen Spezies hatte das, was auf Ihrem Teller war, nicht mehr viel zu tun. Es war filetiert, entgrätet, gehäutet, gesalzen, mariniert, gekocht. Moreau:  Und doch dient solche Kunst der Zubereitung Viannay einzig dazu, die Natur dieser wandelbaren Kreatur, dieses Grenzgängers zwischen Süßwasser und Salzwasser, zwischen Fluß und Meer, zur Geltung zu bringen. Scruton:  Von Natur sind Aale giftig. Kochen und Räuchern zerstören das Ichthyotoxin. Moreau:  Mir ist ohnehin der chef cuisinier so lieb wie der Aal. Doch selbst der beste Koch wäre nichts ohne einen guten Fisch. Scruton:  Sie begeben sich da auf gefährliches Terrain. Moreau:  Ich weiß, es ist allzu androzentrisch oder phallozentrisch oder phallogozentrisch oder eurozentrisch oder überhaupt zu zentrisch in irgendeiner Hinsicht. Aber da ich nicht mehr weiß, wie man dies vermeidet, wenn man auch nur irgend etwas sagt, scheue ich selbst vor Bekenntnissen zu Anguilla anguilla nicht mehr zurück. Scruton:  Sie übertragen ihr da eine Mission, von der sie nichts weiß: gegen alle Distinktionen der Philosophie Kulinarik und Erotik zusammenzuhalten. Moreau:  Essen kann man sehr Verschiedenes, industrielles Käseimitat zum Beispiel oder Aal bei La Mère Brazier, und Essen selbst kann sehr Verschiedenes sein: etwas in sich hineinschütten, oder aber sich etwas einverleiben. Das Einverleiben, an dem alle Sinne beteiligt sind, berührt sich mit dem Erotischen. Scruton:  Ich fand die Aalallegorie in einem Roman eines homosexuellen Autors, dessen Name mir entfallen ist, breit ausgeführt. Moreau:  Für Ihre Vergeßlichkeit können Sie sich jedenfalls nicht auf verordnete Schullektüre herausreden. Scruton:  Ich wundere mich über mich selbst, daß ich das freiwillig las. Seine Zweideutigkeiten, die leider zu eindeutig waren, fand dieser Schriftsteller jedenfalls ungeheuer witzig. Moreau:  Diese wundersame Schlange unter den Fischen schlängelt sich seit altersher durchs Komische. Dikaiopolis in den Acharnern treibt seine Scherze mit ihr. Der beste Witz des Narren im Lear handelt von Aalen. Scruton:  Aristophanes ! Shakespeare ! Mein Autor war das Ge166 | Anguilla 

genteil solcher Kraftnaturen. Laut einer kleinen biographischen Studie, die ich danach überflog, ließ sein Asthma ihm wenig Luft zum Lachen ; wo andere wieherten, hustete er schwach in sich hinein. Daß alle schwule Rede sich cachieren mußte, mag der Aalparallele damals immerhin etwas Witz zugeführt haben. Denn das Buch ist schon älter. Unterm Tabu gedeiht die Komik und erreicht selbst Bronchitiker. Moreau:  In Sachen Komik kann ich nicht mitreden. Ich bin ja eine Tragödin. Mein Fach ist eher der Schmerz als die Lust. Scruton:  Was man sein will und was man ist, das ist für einen selber am schwersten auseinanderzuhalten. Andere haben es da leichter. Moreau:  Und andere, das wären Sie ? Scruton:  Nein. Louis Malle nannte Sie eine große Komödiantin. Moreau:  Das sagte er nach dem Ende unserer Affäre. Es war seine Art, Rache für dieses Ende zu nehmen. Nichts ist schwieriger zu verzeihen als eine verflossene Liebe. Scruton:  Vermutlich fand er es selbst komisch, die fatale Frau par excellence als komisch hinzustellen. Moreau:  Die Männer, die ich verlassen habe, litten daran mindestens so sehr wie Ihr Romancier an der Bronchitis. Sie haben vermutlich Recht: Keiner hat Komik nötiger als die Kranken. Man schickt jetzt schon Clowns in die Kliniken. Auf dem Grund chronischer Unlust wächst die Suche nach Lust, manchmal bis zur Sucht. Wer einfach bei der Sache bleibt, denkt gar nicht an Lust oder Unlust. Als Nebenwirkung erreicht die Lust so jemanden manchmal ; zum Ziel wird sie nie. Und woran man nicht denken soll, um es zu erreichen, davon sollte man vermutlich auch nicht sprechen. Scruton:  Das fällt mir schwer, sobald ich einmal im Zuge bin. Moreau:  Es war eine Empfehlung durchaus zu Ihren Gunsten. Bei Philosophen ist auch das Schweigen tiefer als bei anderen Menschen. Scruton:  Die Lust, die wahre jedenfalls, meinen Sie, sei nicht zu nennen ? Nichts, was die Lust betrifft, ist ausführlicher besprochen worden als dies. Das Unsagbare war der liebste Gesprächsgegenstand der deutschen Romantik. Moreau:  Aber wer hält Vorträge im Moment des Orgasmus ? Wer ist kalt genug für Worte, wenn Hitze ihn durchflutet ? Gewiß kein Gespräch in Lyon | 167

deutscher Romantiker. Höchste Lust und Rede schließen einander aus. Scruton:  Und doch braucht die Lust Worte. Moreau:  Sie waren doch selbst gegen das Reden beim Essen. Sie sollten es anderen Genüssen nicht aufdrängen. Scruton:  Reden und Essen vertragen sich schlecht. Und doch ist das Essen kein Fressen, insofern der Mund auch ein spirituelles Organ ist: Organ des Lächelns, des Kusses, der Rede. Ohne sie wäre der Mund bloß ein Maul. Besser gesagt: eine Fresse. Moreau:  Garin erfand sprechende weibliche Geschlechtsorgane, in Le chevalier qui fist parler le Cons ; amüsanter hat Diderot sie ausgemalt, in den Bijoux indiscrets. Und doch bin ich froh, daß uns die Wirklichkeit damit verschont. Scruton:  Wer wäre es nicht ? Moreau: Dann ziehen Sie die Konsequenz: Sprache hat hier nichts zu suchen. Mit Worten verständigen wir uns nur ; wir verstehen uns ohne Worte. Lust will Taten sehen. Scruton:  Sie sieht Untaten. Ohne Worte wird der Weg zur Lust brachial. Verführer, die auch der anderen Seite ihre Lust gönnen, reden. Nur der Vergewaltiger, der sie ihr nicht gönnt, greift wortlos zu. Moreau:  Der Verführer redet lüstern oder, im besseren Falle, lustig. Redet er über die Lust ? Ich zweifle. Er ist doch kein Psychologe. Scruton:  Wenn er Ihr Verführer sein wollte, wäre er mit dieser Profession indiskutabel. Dann schon eher ein Regisseur. Moreau:  Wie auch immer: Worte mögen zwar die Lust einleiten, doch selbst dabei kommt es mehr auf die Stimme an als auf die Worte. Scruton:  Jemand wie Sie wird selbst von der verführerischsten Stimme erwarten, daß sie etwas zu sagen hat und nicht bloß grunzt. Moreau:  Das Vorgeplänkel lasse ich den Worten. Danach aber bedarf es ihrer nicht mehr. Scruton:  Verachten Sie das Vorgeplänkel nicht. Die größte Lust ist das Nahen der Lust. Moreau:  Trostlos, wenn es so wäre. Scruton:  Im übrigen braucht die Lust auch danach noch Worte. Moreau:  Weshalb ? 168 | Anguilla 

Scruton:  Weil sie flüchtig ist. Worte ergreifen, was vergeht, und bewahren es. Moreau:  Ich würde es vorziehen, die Lust im Augenblick vergehen zu lassen. Momente später wartet vielleicht schon die nächste. Scruton:  Wäre Ihnen das genug, Sie würden kein Gespräch wie dieses führen. Denn dazu gehört ein Faden. Sie ziehen an diesem Faden, Sie lassen nicht locker ; ich auch nicht. Menschen schaffen Dauer in ihrem Leben, indem sie Momente festhalten, und sie halten sie fest durch Sprache und Schrift – nicht allein durch sie, aber auch durch sie. Aus vielen Augenblicken weben sie Geschichten. Moreau:  Die Worte kommen immer zu spät. Wenn sie da sind, ist die Lust schon vorbei. Scruton:  Wäre das ein Einwand, dann müßte man ohne Gedächtnis und Erinnerung leben. Moreau:  Wie blaß ist die Erinnerung an eine Lust gegen das Erleben einer Lust. Scruton:  Sie ist weniger als die erlebte Lust und mehr. Moreau:  Dieses Mehr ist mir bisher gründlich entgangen. Scruton:  In dem Moment, in dem eine Lust uns überwältigt, verstehen wir sie nicht. Sie zu artikulieren ist der Versuch, sie zu begreifen. Es ist ja wahr, daß große Lust sprachlos macht. Sie deklassiert die Worte. Aber was sonst als Worte hätten wir, um Sinn und Ordnung in unser Leben zu bringen ? Auch wenn sie der Lust hinterherhinken. Moreau:  Sie sind nicht betrunken genug. Scruton:  Das wird wohl so sein. Moreau:  Wenn ich Lust haben kann, lasse ich mein ohnehin schwach ausgeprägtes Bedürfnis nach Sinn und Ordnung mit Vergnügen weit hinterherhinken. Vielleicht besagt das mein Kommodentraum von letzter Nacht. Scruton:  Sie suchen Sinn im Traum. Zugleich reden Sie so, als ob die Lust ständig da wäre oder jedenfalls da sein könnte. Vielleicht war sie es in Ihrem Leben. Aber die meisten haben anderes zu berichten. Gewöhnlich ist die Lust nicht da. Was einer spürt, wenn sie fehlt, ist das Begehren. Wir begehren nur, was wir nicht haben. Das Begehren aber erfüllt sich regelmäßig nicht in der Weise, in der es phantasiert wird. Das wirft uns zurück auf die Sprache. In ihrer Gespräch in Lyon | 169

zweiten Realität läßt sich bilden, was wir in der ersten Realität der Körper nie ganz so erhalten, wie wir es erträumen. Moreau:  Nun ist es heraus, warum die Worte so wichtig sind: als Ersatz. Scruton:  Vorhin habe ich von Ihnen etwas gelernt über den Ersatz. Oder von Marie Antoinette. Die Fähigkeit zu ersetzen zivilisiert. Wer nicht zu ersetzen braucht, ist zu beglückwünschen ; aber wer nicht zu ersetzen vermag, ist zurückgeblieben. Und übrigens muß jeder und jede ersetzen, irgendwann einmal, früher oder später. Moreau:  Ich weiß nicht. Scruton:  Ich im Grunde auch nicht. Das, was ersetzt, ist allerdings gegenüber dem von ihm Ersetzten das Sekundäre. Was uns hier beschäftigt, ist jedoch weniger klar  – es liegt nicht auf der Hand, was das erste ist und was das zweite. Die stärkste Lust erleben die Verliebten. Der Körper ist das einzigartige Medium dieser Lust. Moreau: Es gibt nichts Einzigartiges. Wenn etwas einzig ist, dann ist es nicht von einer Art und auch selber keine Art. Scruton:  Ich will, auch wenn es gerade anders schien, auf das selbe hinaus. Die meisten Leute, sagt Larochefoucauld, würden sich gar nicht verlieben, hätten sie nicht von der Liebe reden gehört. Ihnen wird, auch wenn sie es im selben Moment vergessen, souffliert. In den Geschichten, die man ihnen erzählt hat oder die sie gelesen haben, findet die Lust, die sie allenfalls erleben, erst ihren Anlaß und sodann den Raum, der ihr Resonanz verleiht. Moreau:  Will man wissen, was die Lust ist, dann muß man sie chemisch rein isolieren, insbesondere gegen die Liebe. Scruton:  Isoliert so nicht der Gaffer, den Sie nicht ausstehen können ? Moreau:  Man muß eben gut isolieren. So, wie Buñuel es tat in La Belle de Jour. Sie kennen den Film ? Scruton:  Es ließ sich nicht vermeiden, ihn kennenzulernen. Übrigens im Fernsehen. Moreau:  Dem Ort, an den alte Filme gehen, wenn sie sterben. Scruton:  Halb und halb ist das in meinem Kopf mit ihm geschehen. Ich habe von Belle de Jour die Handlung ganz vergessen. Einzelne Bilder und Szenen aber stehen mir so lebendig vor Augen, als hätte ich sie gestern gesehen. 170 | Anguilla 

Moreau:  Die Stärke seiner Bilder macht einen großen Film aus. Und selbst ein toter Film könnte noch ein großer sein. Die Handlung ist immer nur der Aufhänger für die Bilder. Scruton:  Aber wer über einen Film nachdenken will, muß seine Handlung verstehen. Moreau:  Die ist schnell erzählt. Séverine liebt ihren Mann Pierre, einen Chirurgen. Aber sie träumt von einer Sexualität, die er ihr nicht bieten kann. Durch eine Freundin erfährt sie von Madame Anaïs’ maison de rendez-vous, in der ehrbare Damen sich tagsüber stundenweise verdingen. Belle de Nuit könnte sie als Gattin nicht sein ; als Belle de Jour arbeitet sie in dem Edelbordell nachmittags von zwei bis fünf – nicht des Geldes wegen, denn davon hat sie zu Hause genug, sondern einer Sexualität halber, die befreit ist von Ehepflichten, von rechtlichen, moralischen und überhaupt persönlichen Bindungen. Hier begegnet sie dem jungen Marcel, einem Ganoven mit glitzernden Goldzähnen, der bald besessen von ihr ist und sie besitzen, ganz für sich haben will. In seiner Eifersucht schießt er Pierre nieder. Dieser überlebt, gelähmt und blind ; Marcel wird von einem Polizisten erschossen. Scruton:  Ich erinnere mich. Dünn, im Grunde, wie alle Geschichten von Buñuel. Als Dünnes auch leicht zu vergessen. Zu real, um surreal zu sein ; zu surreal, um real zu sein. Und doch: Das macht nichts. Moreau:  Der Dreh- und Angelpunkt ist, daß Séverine die Lust findet, indem sie, sich prostituierend, den Körper von der Seele trennt. Das bringt Catherine Deneuves Spiel zum Leben. Scruton:  Mir schien die Deneuve fast leblos in diesem Film  – nicht aus Unvermögen, sondern aus künstlerischer Wahrheit. Tagträume beherrschen sie, gleich Emma Bovary, und sie zeigen ja stets Ablösung vom Leben an. Zwar gibt es Liebe ohne Lust, dem Respekt angenähert, wie die Séverines zu ihrem Mann ; aber das ändert nichts daran, daß Liebe der Lust erst Leben gibt. Reifes Leben. Die Freier nennen Prostituierte Freudenmädchen. Mädchen ist das weibliche Kind. Isolierte Lust infantilisiert. Das Neugeborene ist das reinste Lust- und Unlustwesen. Die Liebe geht die Frau an, nicht das Mädchen. Reife ist alles. Moreau:  Beim Wein. Aber sonst ? Scruton (schweigt). Gespräch in Lyon | 171

Moreau:  Im Theater sitzt das Publikum im Dunkeln, die Schauspielerin bewegt sich im Licht. So genießt es sie. Aber die Schauspielerin genießt es, so genossen zu werden, und das ist der stärkere Genuß. Ich weiß, wovon ich rede. Séverine wird im maison de rendez-vous zur Schauspielerin. Sie hört auf, Madame Sérizy zu sein, und spielt La Belle de Jour. Scruton:  Aus Spiel wird Ernst. Was als ausschließlich sexuelle Affäre gedacht war, diejenige zwischen Marcel und Séverine, wendet sich gegen den Willen der Beteiligten in eine Frage von Leben und Tod, also in eine persönliche, wenngleich verfehlte Beziehung. Die chemisch reine Isolation mißlingt. Sie mißlingt immer, weil sie der Sexualität selbst widerstreitet. Moreau:  Auf eine Moral hatte es Buñuel nicht abgesehen. Scruton:  Vielleicht ist sie ihm passiert, wider Willen. Das hätte er dann mit seiner Belle de Jour gemein. Moreau:  Wenn man bei diesem Regisseur nur wüßte, was Traum, was Realität ist. Er verwirrt uns mit Kalkül. Scruton:  Philosophen haben sich spezialisiert aufs Entwirren, vielleicht zu sehr. Dem Sex ist einiges an Verwirrung schon zu gönnen. Moreau:  So wie unser abschweifendes Gespräch ? Scruton:  Schweift es denn ab ? Moreau:  Wer abschweift, will woanders hin. Ich glaube, Sie mißtrauen der Lust, und wollen ihr daher von der einen oder der anderen Seite etwas anderes aufdrängen, die Sprache oder die Liebe. Scruton:  Ich mißtraue ihr ; ja. Lust ist ein Zugeständnis, gequälten Kreaturen gewährt. Danach ist sie, wie alles bloß Zugestandene: dumm nämlich. Intelligenz äußert sich geschmeidig, wachsam, reaktionsschnell ; umgekehrt ist dumm immer das, was auf sich beharrt und sich nicht korrigieren kann. Die sexuelle Lust, einmal in Bewegung geraten, ist kaum mehr zu bremsen. Daß einer oder eine Lust hat, sagen wir von ihnen eben, ehe die Lust in Fahrt kam ; einmal in Fahrt gekommen, hat eher die Lust ihn oder sie. Darum tun Menschen beim Sex am Ende oft Dinge, die sie gar nicht tun wollten. Weil die Lust so wenig alert ist, kann keiner leichter von einem anderen ausgebeutet und manipuliert werden als der, den sie im Griff hat. Denn dieser Griff ist unwiderstehlich. Moreau:  Sie haben zwar die antiken Autoritäten auf Ihrer Seite. 172 | Anguilla 

Schon Theophrast lehrt, der Mann habe zwar ein Hirn und einen Phallus, doch kaum genug Blut, beide zugleich zu gebrauchen. Aber … Scruton:  Aber ? Moreau:  Wo Sie sich Abhilfe versprechen, ist keine. Gerade aus dem Liebeshimmel fallen ja so viele in die Hölle der Erfüllung, von der Sie reden. Wo Intelligenz mangelt, rettet alles eher denn die Liebe. Scruton:  Sie ist jedenfalls auch Wille, nicht auszubeuten und nicht zu manipulieren. Moreau:  Oder der erfolgreiche Versuch, sich dies einzureden. Scruton:  So gründlich, wie ich die Lust beargwöhne, mißtrauen Sie offenbar der Liebe. Moreau:  Leuten, die aus allem Du der Welt sich ein einziges ausgesucht haben und so von ihm besessen sind, daß sie ohne es zu sterben meinen, kann ich nicht lange trauen. Scruton:  Es kommt vermutlich darauf an, wo man zuerst der Liebe begegnet. Moreau:  Ich bin ihr zuerst im Märchen begegnet. Im Leben stellte ich dann fest, daß sie gerade umgekehrt verläuft: Sie beginnt beim Höhepunkt und endet, wenn die beiden einander kennenlernen. Scruton:  Mit dieser Enttäuschung stehen Sie nicht allein. Moreau:  Gegen die Liebe gehalten ist die Lust direkt etwas Reelles. Darum fehlt sie in den Märchenbüchern. Scruton:  Es ist das Reelle der Lust, der Lust an etwas, dem ich mißtraue. Als etwas Reelles ist die Lust ein angenehmes Gefühl. Schönheit, die nicht verheißen bleibt, sondern da ist und genossen wird, verschwindet im Vollzug. Sie wird verbraucht. Die Lust hat auch eine andere Seite, nicht so reell, weil das, worauf sie sich richtet, noch nicht ganz da ist: die Lust nicht an, sondern auf etwas ist Begehren. Dieser anderen Seite vertraue ich eher. Moreau:  Auch Vertrauen und Mißtrauen sollten einen Grund haben, sonst sind sie blind. Ich wüßte nicht, in welcher möglichen Erfahrung sich dafür ein Grund finden ließe. Scruton:  Nehmen Sie an, Sie liegen am Strand auf dem Bauch und merken plötzlich, daß nicht, wie Sie bis eben glaubten, Ihr Geliebter Sie streichelt, sondern jemand anders, der sich herangeschlichen hat, Sie befummelt. Gespräch in Lyon | 173

Moreau:  Louis Malle besaß wirklich mehr Diskretion als Sie. Scruton:  Da müssen Sie nun durch. Moreau:  Brahms kann man dazu nicht spielen. Scruton:  Was Wagner komponierte, um Alberich zu charakterisieren, könnte passen. Moreau:  Im vorgeschriebenen Tempo zu spielen. Scruton:  Nur so. Die unmittelbare Reaktion auf die Entdeckung, daß sich ein anderer zu schaffen macht, ist Ekel, selbst wenn sich die Berührung bis zum vorhergehenden Moment ganz reell noch angenehm anfühlte. Was hier korrigiert, was sich im Ekel auflehnt gegen das Weitermachen, ist das Begehren, das dem Geliebten gilt. Einem angenehmen Gefühl könnte es egal sein, wer oder was es verursacht. Dem Begehren ist es nicht egal. Beides nennen wir manchmal Lust. Aber es ist zweierlei. Moreau:  Zwei statt eins: wieder ein Triumph der Philosophie ! Scruton:  Deren Anfang ist, sich zu wundern. Ist es nicht denkwürdig, daß eine Lust verschwinden kann in dem Augenblick, in dem das Innewerden einer Wahrheit einen Irrtum verscheucht ? Finden Sie es nicht erstaunlich, daß sie, die scheinbar nur körperliche, von einem Gedanken abhängt ? Moreau:  Zum Teufel mit dem Grapscher. Aber Sie tun so, als ob es für die Frauen mit ihren Geliebten immer so herrlich zuginge. Von den Ehemännern schweige ich. Jean Seberg sagte mir einmal über einen ihrer Geliebten: Hätte er ein Bügelbrett unter sich gehabt, wäre es kaum anders gewesen. Scruton:  Dann war Geliebter in diesem Fall nur ein Wort. Moreau:  Und ist es das nicht in der Regel ? Die Männer können es nicht lassen, auf uns herumzuliegen, einsam in uns zu zucken. Hinterher grunzen sie zufrieden wie satte Säuglinge, oder rauchen eine Zigarette. Aus Virginia. Wir Frauen müssen uns dann hüten, sie spüren zu lassen, wie wenig Angenehmes, das auch Sie verachten, wir dabei fühlten ; in diesem Punkt ist das starke Geschlecht äußerst empfindlich. Einer Frau, die es mit ihm nicht genießt, stempelt der Maulheld das Wort ›frigid‹ auf ihren Schoß, und das heißt für ihn so viel wie: unbrauchbar. Scruton:  Selbst wenn Sexualität aus dem Begehren kommt, kann sie einen ziemlich tristen Ausgang nehmen. Moreau:  Überstehen ist alles. 174 | Anguilla 

Scruton:  Es ist wohl kaum alles, nicht einmal im Leben der unglücklichen Jean Seberg. Kommt es nicht vor, daß der eine Körper den anderen Körper versteht ? Ihn zu verstehen lernt ? Moreau:  Wenn das Verstehen wortlos bleibt, ist es mir willkommen. Scruton:  Es trägt sonst einen anderen Namen. Er lautet: Zärtlichkeit. Moreau:  »Is  love  a  tender thing ? It is  too rough,  too rude,  too boisterous ; and it pricks like thorn.« Scruton:  Romeo im ersten Akt. Ich weiß. Es gibt zweierlei Liebkosungen, die der Zuneigung, etwa wenn ich ein Kind oder einen Freund umarme, und die des Begehrens, wenn ich die Geliebte umarme. Das Streicheln der Zuneigung ist ein Wohltun. Es entdeckt nichts, sondern bestätigt nur das Band, das zwischen zweien besteht. Sanft, und nur sanft. Die begehrende Liebkosung hingegen erforscht den Körper des sexuellen Gegenübers. Wie es sich anfühlt, wie es reagiert auf diese Erkundung und, auf diesem Wege, an seinem Körper entlang, wer dieses Gegenüber ist: das ist es, was ein solches Liebkosen entdecken will. Sanft, aber nicht nur sanft. Moreau:  Wo bleibt da Romeos Dorn ? Zu schön nimmt die Welt sich aus im liebenden Blick der Philosophie. Scruton:  Ich behaupte nicht, die Welt sei zärtlich. Vielleicht ist das, wovon ich geredet habe, selten. Aber wenn es vorkommt, dann nicht ohne Begehren. Und dieses richtet sich auf die andere Person. Es will einer nicht einfach Fleisch anfassen, sondern sie, die andere, oder ihn, den anderen. Selbst die lieblosen Formen, Sex zu zeigen, Striptease und Porno, lassen den Betrachter nicht einfach Sexualorgane sehen, sondern führen, wie krude auch immer, Personen ein, an denen ein Interesse geweckt sein muß, ehe der Blick auf die Geschlechtsteile fällt. Moreau:  Sprachen Sie dem Striptease nicht vorhin selber ab, daß es in ihm je um die Person geht ? Scruton:  Um die wirklichen Personen der Darsteller geht es in Striptease und Pornographie nie. Sie werden bloß als Vehikel der vorhersehbaren Männerphantasien benutzt. Bezeichnend ist nur, daß der Umweg über Personen, sei’s auch zurechtgestutzte, überhaupt nötig ist. Das erzwingt das Begehren. Es kann nicht, wie ein Gespräch in Lyon | 175

Appetit, direkt aufs Fleisch zugreifen. Und Onanie befriedigt eben nur einen Appetit, kein Begehren. Moreau:  Sie sei, fand Woody Allen, endlich einmal Sex mit jemandem, den er liebe. Scruton: Eigenliebe ist eine Zuneigung, die nie unerwidert bleibt. Die Affäre zwischen Woody Allen und Woody Allen wird als eine der schönsten Liebesgeschichten des Films fortleben. Sein Satz darüber, den Oscar Wilde achtzig Jahre zuvor besser formuliert hat, um die entscheidende Nuance weniger vulgär, funktioniert als Witz, weil er so tut, als sei ich selbst für mich ein anderer, wie eben andere es sind, während ich weiß, daß es sich nicht so verhält. Allens Pointe ist das Mißverhältnis zwischen einer sehr großen Leidenschaft, der Liebe, und einem sehr kleinen Vergnügen samt Taschentuch. Moreau:  Plötzlich sind Sie wieder unzufrieden mit dem Ersatz: der Hand im Dienst des Geistes. Scruton:  Exquisit benannt. Der Onanist weiß selbst nur zu gut, wie weit sein Ersatz zurückbleibt hinter dem, was er notgedrungen ersetzt. Und nicht nur weit – das wäre bloß Sache des Grades. Er ist eine Klasse darunter. Moreau:  Onanie ist der billige Weg aus dem sexuellen Notstand und zugleich selbst ein Notstand. Es gibt auch einen teuren Weg, die Prostitution. Da erhält man keinen Ersatz, sondern die Sache selbst. Scruton:  Nur von außen sieht es aus wie die Sache selbst. Ein Mensch, der sexuell begehrt, will nicht lediglich als austauschbarer Bestandteil im Körpergewühl behandelt werden. Es soll um ihn gehen. Daß er dies aber wert ist, versteht sich nicht von selbst. Weil er vielmehr eine andere Person davon überzeugen muß, er sei es wert, entgeht er nicht dem Aufwand, sich von seiner besten Seite zu zeigen. Solche Umstände erspart die Prostitution. Was dem Freier unter diesen Bedingungen geboten wird, ist indes nur Theaterroutine. Die Prostituierte mag vor, während und nach dem Koitus so tun, als ginge es ihr um ihn. Er aber müßte schon sehr dämlich sein, es ihr auch zu glauben. Denn daß es um sein Geld geht, liegt auf der Hand. La Belle de Jour ist die Surrealität der Prostitution, nicht ihre Realität. Sex kann man kaufen. Was nicht käuflich ist und nicht käuflich sein kann, ist das Wechselspiel, das seinen wahren Reiz ausmacht. 176 | Anguilla 

Moreau:  Solche Theaterstücke, aber sehr ausgedehnte, gibt es auch im Eheleben. Eine Frau, die eine große Partie macht, ist eine Prostituierte en gros. Indem sie den Mann aus Geldgier heiratet, verkauft sie ihre Reize und deren Genuß auf Lebenszeit, während die Hure en détail die ihren lediglich stundenweise vermietet. Scruton:  Wir geraten in immer trübere Bezirke. Moreau:  Ja, in die der Wahrheit. Scruton (schweigt). Moreau:  Wo einst Montaigne waltete, hat heute Louis Vuitton das Sagen. Geht es überhaupt noch trüber ? Scruton:  Und all das Trübe zeigt sich uns im Verfolgen von etwas, das eine Leuchtspur über uns ziehen müßte – Genuß, Lust, Begehren. Am Ende wird es noch derart finster werden, daß sich jedes Dessert verbietet. Moreau:  Das wäre unverzeihlich, gerade an diesem Ort. Scruton:  Und doch vielleicht unvermeidlich. Mit der Sexualität kam der Tod in die Welt, und beide enthalten etwas vom jeweils anderen. Die Amöbe lebt ewig, da sie sich asexuell, durch Teilung, vermehrt. Sexualität wird bezahlt durch das Sterbenmüssen. Moreau:  Sie suchen nun den Showdown. Scruton:  Den Showdown ? Moreau:  Die Szene des Sterbenmüssens. Aber Viva Maria ! ist, gegen die Philosophie gehalten, der bessere Western. Scruton:  Noch besser, in Sachen Liebe und Tod, ist Wagners Tristan. Wenn auch eher ein Eastern als ein Western. Moreau:  Mir scheint, es ist genug. Scruton:  Wir wissen erst, was genug ist, wenn wir merken, was mehr als genug ist. Daher das Exzessive im Tristan. Moreau:  Ist Ihnen schon aufgefallen, wie wortkarg wirkliches Begehren ist ? Es äußert sich in lauter einfachen Sätzen. Sie behaupten nicht, sie dementieren nicht, sie argumentieren nicht, sie beschreiben nicht, sie erklären nicht. Diese Sätze kennen nur zwei Modi. Sie fragen ; sie fordern. Die Sätze lauten: »Ich erwarte dich.« Oder: »Wo warst du ?« Oder: »Verlaß mich nicht !« Vielleicht ist das die einzige Sprache, die dem Begehren gemäß ist. Haben wir es heute Nacht mit unseren gescheiten und nicht so gescheiten Behauptungen, Dementis, Argumenten, Beschreibungen, Erklärungen zerredet ? Gespräch in Lyon | 177

Weder sie noch er wußte auf diese Frage zu antworten, und so verharrten beide im Zustand der Verwunderung. »Auch der Mund, der redet, wenn er nichts zu sagen hat, wird zum Maul«, bemerkte Scruton. Schweigende Verwunderung war, in diesem Lokal, ja auch kein unangenehmer Zustand. In der Küche war die gewagte Idee aufgekommen, den bekannten Auflauf aus dem Limousin, statt mit Kirschen, gemäß der Saison mit weißem Spargel zu bestücken, die fleischigen Köpfe lustig nach oben gereckt. Der Duft frischen Estragons stieg von dem Clafoutis d’asperges blanches auf. »Mit dem Maul sollte man sich nicht einmal einer Stange weißen Spargels nähern«, schloß Moreau, »oder, eher noch, ganz besonders einer Stange weißen Spargels nicht.« Genuß ? Lust ? Über dieser Nachspeise hätte man alle philosophischen Distinktionen vergessen können. Ihn schien das jetzt nicht mehr zu stören, und sie warf ihm dafür einen Blick zu, wie Verschwörer es tun.

178 | Anguilla 

VENERE D’URBINO 



Gespräch in Florenz

Z

um Fest des San Giovanni Battista bleibt es in den Uffizien ruhig. Die Mehrheit derer, die an einem 24. Juni Florenz heimsuchen, verfolgt auf der Piazza Santa Croce lautstark ein rauhes Match. Fußball, wie er an diesem Tag gespielt wird, kennt nicht das Foul als Verstoß, um so mehr Fälle für die Sanitäter. Das macht die Sache unterhaltsam. Eine, wie man meinen sollte, sanfte Minderheit, die vom Calcio in costume nichts wissen will oder wirklich nichts weiß, hat am Ehrentag des Täufers in ungewohnter Muße die Galleria für sich. Nicola Abbagnano:  Zu diesem Bild wollen Sie ? Wie sehr es Sie auch zur Schönheit drängt, Signora – es rechtfertigt nicht, einem alten Mann wie mir auf die Füße zu steigen. Lena I. Crayers:  Einem Herrn doch wohl und nicht bloß einem Mann. Abbagnano:  Gewiß, aber lassen Sie den schönen Worten nun bitte eine schöne Tat folgen. Crayers:  Oh, Verzeihung, mein Absatz drückt noch immer Ihre große Zehe. Ich hoffe, es war nicht zu schmerzhaft. Abbagnano:  Zuweilen ist Schmerz eben der Preis der Schönheit. Crayers:  Der Schönheit abermals ! Ein großes Wort – das Sie wie definieren ? Abbagnano:  Gewisse Gespräche sind nur möglich, wenn man darauf verzichtet, ihren Gegenstand zu definieren. Dessen Wirklichkeit drängt sich uns ganz von selber auf. Was wäre das Weib ohne den hohen Absatz ? Crayers:  Sie scheinen nur zu sehr Herr zu sein – einer der alten Schule. Abbagnano:  Hat sie einen Namen ? Crayers:  ›Benevolent sexism‹ würde man in meinem Land sa 179

gen. Sie würden sie vermutlich eher als Schule der Galanterie bezeichnen. Abbagnano:  Wollen Sie damit sagen, die alte Schule sei schon zu alt ? Crayers:  Es gibt Blödsinn, für den man nie zu alt ist. Abbagnano:  Eben diese Eigentümlichkeit zieht mich alle paar Wochen von Turin nach Florenz – und gerade vor dieses altmeisterliche Werk. Es bereitet mir ein Spiel mit Erwartung und Enttäuschung ; ich werde es wohl bis an mein Lebensende spielen. Crayers:  Eine verzeihliche Passion in diesem besonderen Fall, selbst wenn das Spiel blödsinnig sein sollte. Venere d’Urbino – Abbagnano:  Eine Venus nannte erst Vasari die Schöne, nicht Tizian selbst. Crayers:  Vasari hatte Recht. Ich entdeckte das Gemälde mit fünf oder sechs Jahren in einem coffee table book meiner Eltern, The 100 Greatest Works of Fine Art. Papa und Mama schauten nie hinein ; es war, nach dem Brauch der Kulturbourgeoisie, zum Daliegen angeschafft worden. Je weniger sie der Inhalt des Buches interessierte, desto mehr reizte er mich. Unter unserem Bild hier fand ich ein vielversprechendes Zitat von Mark Twain: »You enter, and proceed to that most-visited little gallery that exists in the world – the Tribune – and there, against the wall, without obstructing rag or leaf, you may look your fill upon the foulest, the vilest, the obscenest picture the world possesses – Titian’s Venus.« Kindern imponieren Superlative im Weltmaßstab ja noch ; dieses Bild hatte gleich drei auf sich gezogen, wenngleich ich den dritten nicht verstand. Ich hütete mich, meine Eltern nach dessen Bedeutung zu fragen. Wie oft mag ich versucht haben, Tizians Göttin mit Buntstiften nachzumalen ? Sie kam immer ganz anders heraus, vor allem schlanker, eher wie Lauren Bacall. Abbagnano:  Das wäre nicht das schlechteste Ergebnis. Crayers:  Und geschah doch gegen meinen Willen. Ich wollte das Schöne, das ich sah, Tizians Venus – wie man sagt – festhalten, und sie lief mir fort. Abbagnano:  Auch im Abweichen ahmen wir noch nach, und es gibt kein lebendiges Nachahmen, ohne daß wir uns entfernen. Gerade die mechanische Nachahmung, die am wenigsten absticht – scheinbar gar nicht –, gilt als die niederste. 180 | Venere d’Urbino 

Crayers:  So oder so bringt das Schöne lauter Abbilder seiner selbst hervor, variierend in Stoff und Form. Abbagnano:  Die Variationen können hinter dem Original zurückbleiben, aber auch von bewundernswerter Freiheit ihm gegenüber zeugen. Crayers:  Solange wir meine kindlichen Krakeleien entschieden in die erste dieser beiden Schubladen stecken, bin ich einverstanden. Abbagnano:  Als Verehrer Lauren Bacalls folge ich Ihnen da nur zögernd, beuge mich aber endlich der Selbstkritik der Künstlerin. Crayers:  Ich will es hoffen. Abbagnano:  Dabei war Tizian doch selber ein Nachahmer, und dies sollte die Kluft zwischen ihm und Ihnen, die Sie aufreißen, ein wenig verringern. Crayers:  Sie wird nur desto größer an dieser Stelle. Abbagnano:  Größer ? Crayers:  Tizian hat Giorgione zum Vorläufer degradiert, zu seinem lumpigen San Giovanni Battista. Giorgiones Venere dormiente erweckt der Messias der venezianischen Malerei zu zivilisierter Geistesgegenwart. Er versetzt sie von der Wiese auf die Damastcouch im Boudoir. Die dösende Landpomeranze wandelt sich zur wachen Städterin. Eine Dame wird sie, für den Geschmack von Herren. Abbagnano:  Auch für den Ihren – seit dem fünften Lebensjahr. Crayers:  Die Natur läßt Tizian draußen. Ein wenig dämmrigen Himmel sieht man gerade noch durch das säulengeteilte Fenster. Wir weilen mit Venus unter einem Dach und auf einmal geht sie uns an. Tizian hat es anders gemacht als Giorgione, weil er wollte. Ich habe es anders gemacht als Tizian, weil ich es nicht besser konnte. Abbagnano:  Ich meine nicht die Nachahmung einer anderen Darstellung, sondern die Nachahmung der Dargestellten. Crayers:  Sie wollen nicht behaupten, Tizian habe die Göttin Venus alias Aphrodite auf dem Olymp gesehen und dann diesen Akt gemalt ? Abbagnano:  Er hat Angela del Moro gesehen. Crayers:  Angela del Moro ? Abbagnano:  Kennen Sie die Ragionamenti Pietro Aretinos ? Er hatte sich, als einer der ersten, überzeugt, der blöde Trieb könne Gespräch in Florenz | 181

schlau werden  – durchtrieben. Aretino zählte zu Tizians engen Freunden. Seine Kurtisanengespräche dürfen Sie lesen, als spräche del Moro zu Ihnen. Sie war eine käufliche Dame der teuersten Sorte im Venedig der 1530er Jahre. Sie vergnügte Tizians Tischgesellschaft. Und sie wurde – das Modell der Venus von Urbino. Crayers:  Wenn der Meister aus der Nobelhure del Moro eine griechische oder römische Göttin gemacht hat, möchte ich den Fall in die zweite Ihrer Schubladen stecken: ›bewundernswerte Freiheit‹. Abbagnano:  Möglicherweise ist das Schubladisieren hier wie in allem, was die Schönheit betrifft, überhaupt nicht das gescheiteste Verfahren. Müssen wir nicht vermuten, die Venus von Urbino sei mehr und weniger als Angela del Moro ? Das Mehr, das Sie selbst behaupten, schenke ich Ihnen. Aber auch weniger: Denn wird man sich um Angela del Moro gerissen haben, wenn sie nicht anmutig ging, hinreißend tanzte und mit Witz sprach – schöne Züge, von denen die auf Leinwand erstarrte Farbe nichts wissen kann ? Der Preis der Kunst war das Leben. Crayers:  Kein zu hoher Preis. Abbagnano:  Finden Sie ? Crayers:  Tizian hat die frisch gebadete schöne Frau eben festgehalten – das Ziel, von dem ich vorhin sprach und das ich selbst verfehlte. Das Festhalten des Nichtfesten, des Beweglichen muß stets einen Preis haben. Fällt der Preis aber stets an, wird daraus kein Einwand gegen Tizian – gegen diesen Tizian. Abbagnano:  Vielleicht mag es die Göttin der Schönheit nicht leiden, wenn man über sie disputiert, und verfügt über die List und die Hinterlist, jedes unserer Gespräche von ihr auf die ärgsten Platitüden zu lenken, uns gähnend abzuschieben zu Faust, und schnarchen zu lassen im Studierzimmer. Crayers:  Ihr Vorrecht, Superiore, allzu rasch ins Gähnen und Schnarchen zu fallen. In Provinzlerinnen der Neuen Welt wecken solche Gemeinplätze eine Einsicht, die ihnen neu ist. »Werd’ ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch ! Du bist so schön !« – weil er schön ist, soll der Augenblick verweilen. Abbagnano:  Avanti, avanti ! Crayers:  Sie haben auch ein Faible dafür, wie Billy Wilder mit amerikanischer Hektik abrechnete ? Das Schöne und das Verweilen, jedenfalls das Verweilenwollen, gehören zusammen. Schönes 182 | Venere d’Urbino 

setzt Betrachter in ein bestimmtes Verhältnis zur Zeit: sie begehren, sie anzuhalten und so zu verlängern. Abbagnano:  Was der Maler ja auch tut. Diese Botschaft steckt im Bild. Angela alias Venus sehen wir nur darum nackt, weil das Personal hinten rechts im Bild, an der Truhe hantierend, so lange braucht, ein passendes Kleid zu finden. Es gibt für Venus kein passenderes Gewand als die Nacktheit, das ahnen die dienstfertigen Geister. Hinhaltender Service ist doch der einzig wahre. Crayers:  Hinhaltend ! Tizian hat Angela del Moro so verewigt. Abbagnano:  Ewigkeiten zum Erbarmen, welche davon abhängen, daß Ölfarben nicht bröckeln und zerfallen. Crayers:  Immerhin, viereinhalb Jahrhunderte haben die Lasuren gehalten, mit ein wenig Nachhilfe der Restauratoren ; die Galleria leistet sich die besten Italiens. Del Moros Gang, ihr Tanzen und Reden – so schön sie gewesen sein mögen – sind lang schon hin. Ihr schöner nackter Leib blieb und bleibt. Abbagnano:  Was blieb und bleibt denn da genau ? Glauben Sie im Ernst, Sie sähen in dem Bild das Gleiche wie, sagen wir, George Sand im 19. Jahrhundert und Marie Antoinette im 18., Artemisia Gentileschi im 17. oder Caterina de’ Medici im 16. Jahrhundert ? Die Farbe auf der Leinwand mag halten  – der Blick, der auf sie fällt, ist niemals gleich. Ewige Schönheit – die ewige Phrase. Tizian wußte darum: Die Rosen in Venus’ rechter Hand beginnen schon zu ­welken. Crayers:  Und sind noch im Verwelken schön. Ich kann, bilde ich mir ein, nicht nur begreifen, wie die Tochter des Herzogs von Urbino, Caterina, Schönes sah, sondern weit fernere Gestalten. Abbagnano:  Zum Beispiel ? Crayers:  Zum Beispiel Odysseus in dem Moment, in dem Venus, pardon: Aphrodite ungenannt die Finger im Spiel hat: in seiner Begegnung mit Nausikaa. Sie kennen die Stelle ? Abbagnano:  Sechster Gesang, etwa in der Mitte – ich weiß die Verse heute noch auswendig. Anfang November 1940, als das starke Königreich Italien gerade das schwache Königreich Griechenland überfallen hatte, hielt ich einen vielbeachteten Vortrag in der Accademia toscana di scienze e lettere über die Passage. Der Duce wollte einen Sonderdruck des Vortrags ; es hieß, er begehre etwas Schönes zu lesen. Etwas, das zugleich eine gewisse Zuständigkeit des itaGespräch in Florenz | 183

lienischen Geistes für Hellas manifestiere. Unsere Panzer steckten gleich zu Beginn der Offensive im Westen Griechenlands im Dreck. ›Etwas Schönes‹, stutzte ich damals  – der nackte Odysseus wird selbst verdreckt an Kerkyra angeschwemmt. Crayers:  Kein Herr, wenngleich immer noch ein Mann. »Fürchterlich schien er den Mädchen, beschmutzt mit salziger Kruste ; | Zitternd stoben sie hierhin und dorthin auf hohes Gestade. | Einzig Alkinoos’ Tochter blieb ; denn es hatte Athene | Mut in den Sinn ihr gelegt und die Angst aus den Knieen genommen. | Aug’ in Auge bewahrte sie Haltung.« Auch ich bin gut im Auswendigen. Es ist so inwendig. »Knowing by heart«, wie wir sagen. Abbagnano:  Stē d’ anta schomenē. Daß Nausikaa so sehr Haltung bewahrt, erleichtert es Odysseus nicht gerade, eine zu finden. Ihren Blick stelle ich mir vor wie den der Venus von Urbino: fest. Stark ist sie und schön – beides macht Odysseus betreten. In Sachen Schönheit spricht das kaum gegen ihn. Für Schönheit empfänglich ist nur, wen sie in Verlegenheit bringen, ja in Frage stellen kann. Da Odysseus selbst beschädigt ist, muß ihn die intakte Schönheit doppelt stark erschüttern. Er schwankt. Wie soll er sich in seiner Not verhalten ? Soll er bittend Nausikaas Knie umfassen ? Oder soll er respektvoll auf Abstand bleiben und der Schönen nur mit schmeichelnden Worten näher zu kommen suchen ? Das zweite scheint ihm besser, die aus dem Abstand wirkenden Worte. Er sagt Nausikaa, er wisse nicht, ob sie ein Mensch sei oder eine Göttin. Jedenfalls müsse er sie der Artemis vergleichen, Zeus’ Tochter, der schönen und starken Göttin der Jagd. Crayers:  Ich wünschte, alle italienischen Philosophen erinnerten sich so genau der Vorträge, die sie zu Zeiten des Faschismus hielten. Abbagnano:  Ich bitte Sie ; bei einem so unschuldigen Thema pflegt das Gedächtnis stets zu funktionieren. Crayers:  Ist es so unschuldig ? Abbagnano:  Es ist jedenfalls klassisch. Seine Unschuld hängt davon ab, mit was und mit wem Sie vergleichen. Crayers:  Giovanni Gentile wurde beizeiten ermordet. Wer weiß, woran er sich noch erinnert hätte ? Abbagnano:  Sie haben recht, er hatte ein miserables Gedächtnis. Crayers:  Und erfüllte so die allererste Anforderung an einen faschistischen Philosophen. 184 | Venere d’Urbino 

Abbagnano:  Genug der Seitenblicke, vielleicht auch Seitenhiebe. Zurück zur Insel der Phäaken. Der Vergleich mit der Jagdgöttin ist nicht so zu verstehen, als werde Nausikaa dem Kult der Diana eingereiht. Jede Schöne ist ihre eigene Religion. Deshalb erklärt Odysseus Nausikaa im nächsten Augenblick … Crayers:  … für unvergleichlich. Abbagnano:  Ich entdecke in Ihren Augen einen Ausdruck verschwommener Euphorie. Crayers:  Meine eigenen Augen kann ich nicht sehen. Von denen des Vielgewandten las ich: »Nie noch sah’n meine Augen so eine Sterbliche ; keinen | Mann und nie eine Frau ; ich staune beim Schauen vor Ehrfurcht.« Das ist es, was ich über 2700 Jahre hinweg zu verstehen glaube, wenn einem Schönes über den Weg läuft: das Staunen. Abbagnano: Und doch ist’s nur die am gründlichsten abgebrauchte Masche des Manns als Verführer, ein Weib unvergleichlich zu nennen. Das allein ist das Zeitlose daran. Crayers:  Haben Sie dies den Florentiner Akademikern 1940 auch so handfest erklärt ? Daß Sie, Signore, vor Tizians Venus solche abgebrühten Reden führen, ohne schamrot zu werden, könnte mich verleiten – Abbagnano:  Sagen Sie lieber nicht wozu. Crayers:  Übrigens sind auch jene Komplimente des Odysseus nicht sein letztes Wort. Er wendet sich noch einmal zu einem Vergleich. Es ist jedoch ein Vergleich mit etwas, das ihm selbst, als er es erfuhr, unvergleichlich schien. Abbagnano:  »Ja, ich sah beim Altar des Apollon einstens in Delos, | Wie dort ein Dattelpalmsproß grad aus dem Boden emporwuchs.« Und dann weiter: »Grad so stand ich und staunte gar lang im Gemüte beim Anblick. | Niemals war noch ein solcher Trieb dem Boden entsprossen.« Anfangsgründe einer Botanik des Weibes. Crayers:  Wohl kaum. Odysseus vergleicht nicht Nausikaa mit einer Palme, sondern das damalige Staunen vor nie so Erfahrenem mit seinem jetzigen Staunen. Abbagnano:  Ich sehe das heute als Kombination seiner beiden vorigen Tricks ; wie Sie ahnen werden, fand ich dafür vor den Herren der Akademie – es waren natürlich nur solche – etwas edlere Worte. Gespräch in Florenz | 185

Crayers:  Sosehr ich sonst zum Staunen neige, verwundert es mich nicht, daß man unter akademischen Mitläufern des Faschismus zum Zyniker wird. Abbagnano:  Sie hingegen finden Odysseus’ Worte tief wie das Jonische Meer. Crayers:  Tief sind sie durch ihre Paradoxie. Nausikaa ist ohne Vergleich. Dennoch vergleicht Odysseus sie: mit Göttlichem, der Artemis, sowie das Staunen vor ihr mit dem Staunen vor etwas Natürlichem, dem Palmsproß. Was hat es damit auf sich ? Das Schöne ist unvergleichlich, ohne Präzedenz. Deshalb scheint es immer wie neugeboren. Abbagnano:  Sie denken an die zyprische Aphrodite, die wir gewiß beide vorhin im Saal Botticellis sahen, ehe unsere Füße unschön einander trafen – Nascita di Venere. Crayers:  Nausikaa, wie sie mit ihren Freundinnen am Strand Ball spielt, schwebt mir noch kindlicher vor. Abbagnano:  Wer weiß ? Wie mag sie gewesen sein ? Crayers:  Wir sagen »unvergleichlich«, als ob wir alles uns Bekannte durchgegangen wären und nichts gefunden hätten, das dem gerade Erfahrenen auch nur nahekommt. In Wahrheit aber erfüllt uns dessen Anblick so ganz und gar, daß wir nicht daran denken, anderswo zu suchen. Das macht die Ironie dieses Prädikats »unvergleichlich« aus oder sogar, wie Sie sagen würden, seine kleine Lüge. Abbagnano:  Seine große, würde ich sagen. Crayers:  Wie anders Odysseus. Er sucht wirklich. Die gewöhnliche Angst, ein Vergleich werde verkleinern, überwindet der Held – darum ist er einer. Und Vergleiche verkleinern ja wirklich oft genug. Am Tag nach dem Calcio in costume wählen sie draußen in Florenz’ bombastischstem Nightclub die Miss Tuscany. Alles gafft ; keiner staunt. Die Schönheitskonkurrenz konkurriert die Schönheit in Grund und Boden. Aber Nausikaa ist keine Miss Corfu. Der Vergleich mit Artemis verleiht der Ballspielerin von eben jäh Größe. Die Erfahrung beim Altar des Apollon zeigt Odysseus als einen, der aufrichtig spricht – so redet kein Phrasendrescher. Abbagnano:  Sondern ? Crayers:  Ja, wie sollen wir ihn nennen ? Er spürt wohl: Nichts Schönes – auch nichts erstaunlich Schönes – steht für sich in der 186 | Venere d’Urbino 

Welt. Jedes Neue erscheint als Gestalt vor einem Grund von schon Gesehenem ; sonst würde es sich gar nicht erschließen. Es gibt einen Vergleich, der nicht schal macht, sondern Schönes erst recht heraushebt. Das ist der poetische Vergleich. Nur an dieser einen Stelle, die den Apollon nennt, redet Odysseus wie sein Meister, der ihn machte. Er spricht wie Homer – wie ein Dichter. Abbagnano:  Und Dichter sind Nachahmer der Dinge. Ich sehe, wie Sie mich in ein Räsonnement einwickeln, rückwärts, von Lauren Bacall zu Nausikaa. Im besten Fall, dem poetischen, regt das Schöne zu weiteren schönen Dingen an, die jeweils auch einmalig sind. Also widerstreitet die Einmaligkeit von etwas Schönem nicht dem Reiz zur Nachahmung, der von ihm ausgeht. Crayers:  Wenn Sie es behaupten, werde ich keinen Einspruch einlegen. Abbagnano:  Ich behaupte es nicht ; ich berichte Ihnen, daß ich durchschaut habe, worauf Sie hinauswollen. Crayers:  Und ist das, worauf ich hinauswill, etwas Arges ? Abbagnano:  Arg nicht, eher zu wenig arg, herzerweichend naiv. Crayers:  Wenn Sie so benennen, was nicht zynisch ist, finde ich mich gern mit Ihrer Charakterisierung ab. Abbagnano:  Sie sollten sich lieber nicht mit ihr abfinden, denn sie bescheinigt Ihnen etwas mehr, als Ihnen lieb sein kann: daß Sie die Odyssee schlecht gelesen haben. Crayers:  Dies Urteil von deren maßgeblichem Interpreten während des Feldzugs gegen Griechenland gefällt – ich zitt’re. Abbagnano:  Das sollten Sie auch. Sie reden so, als bewundere Odysseus Nausikaas Schönheit, ohne etwas im Schilde zu führen. Aber er ist ja ein Schiffbrüchiger, den das Meer nackt an den Strand spülte: Was bleibt ihm anderes übrig, als von der schönen Nausikaa Rettung zu erhoffen ? Das ist das ganze Geheimnis seiner – Hymne an die Schönheit. Crayers:  Wäre es das Geheimnis aller Hymnen an die Schönheit, ich hätte wenig Not damit. Meistens wollen wir etwas vom Schönen und von den Schönen. Abbagnano:  Das klang eben, beim »Staunen vor Ehrfurcht«, noch ein wenig anders. Crayers:  Seit wann kommt es unter Philosophierenden darauf an, wie etwas klingt ? Gespräch in Florenz | 187

Abbagnano:  Italien erwartet Musikalität von seinen Philosophen. Deshalb gibt es hierzulande so wenige. Crayers:  Più deprecabile. Jedenfalls: Weil wir wünschen und wollen, erlangt Schönheit solche Macht über uns. Sie, die selber Haltung hat, zwingt uns, Haltung vor ihr einzunehmen. Bloß so daherzukommen genügt ihr nicht ; sie fordert einen Auftritt. Dem rohen Stoff nötigt sie Form ab. Je nach dem Stil, den wir pflegen, ziehen wir den Bauch ein, rücken die Krawatte zurecht, fallen auf die Knie, besorgen eilends Blumen oder versuchen etwas Gescheites zu sagen, sobald wir vor einen Schönen oder eine Schöne treten. Vor den Häßlichen können wir uns gehen lassen ; im Angesicht der Schönen versuchen wir, uns von unserer besten Seite zu zeigen. Abbagnano:  Ich bemühe mich ja. Crayers:  Angela del Moro wäre schwerlich zufrieden gewesen mit Ihnen. Abbagnano:  Solange Sie es sind. Crayers:  Der Zweifel, ob Sie meinem Gedankengang noch folgen, ist nicht ganz verscheucht. Abbagnano:  Grundlos, Signora. Dieser Gang hat eine zweifache Bewegung beschrieben: Sie geht vom Schönen aus und führt wieder zu ihm zurück. Einerseits regt das Schöne an, weitere schöne Dinge zu machen ; andererseits läßt es sich nie gefallen, nur als Mittel, Anstoß, Sprungbrett benutzt zu werden. Um seiner selbst willen möchte es geschätzt werden. Es will im Neuen nicht verschwinden, sondern wiederentdeckt werden. Crayers:  Ach, eine vollkommene Zusammenfassung gelingt doch stets nur jemandem, der kein Wort des Zusammengefaßten glaubt. Ich hätte es niemals so hinbekommen. Abbagnano:  Das immerhin glaube ich Ihnen. Und gegen den Glauben ans Schöne gibt es nun einmal gute Gründe. Crayers:  Als da wären ? Abbagnano:  Schönes, wenn, weil und insofern es unsere Aufmerksamkeit ganz und gar in Anspruch nimmt, lenkt uns von Anderem, Wichtigerem, Drängenderem ab, nämlich vom Unrecht, das die Welt plagt. Solange wir Tizians Venus betrachten oder eine Oper Rossinis hören, können wir nicht an Massaker in Afrika denken. Wer aber einer Sache keine Aufmerksamkeit schenkt, wird irgendwann stumpf gegen sie. 188 | Venere d’Urbino 

Crayers:  Das ist Ihnen aber nicht eingefallen, als der Duce Ihren Sonderdruck orderte ? Abbagnano:  Es ist jedenfalls dem Duce damals nicht eingefallen, sosehr er auch ein Auge auf Afrika geworfen hatte. Er hat ja selber dort für mehr als ein Massaker gesorgt. 1937 ließ er ein Fünftel der Bevölkerung von Addis Abeba abschlachten. Wußten Sie übrigens, daß Mussolini Geige spielte ? Crayers:  Musikalische Philosophen, musizierende Politiker  – über so viel Schönem kommt Ihren Beiträgen zu unserem Gespräch die Stringenz abhanden. Abbagnano:  Ich sagte ja, daß es ablenkt. Besonders in Italien. Crayers:  Haben Sie durch späte Empörung etwas aus Ihrem früheren Leben gutzumachen ? Leisten Sie Vorarbeiten zu einem schönen Nachruf ? Oder ist es Altersweisheit, die Ihr Herz Afrikas Massakrierten öffnete ? Abbagnano:  Der Gedanke kam mir voriges Jahr, als ich hier zu Florenz Rossinis pompöses Grabmal besah – in Santa Croce, der Kirche des Bettelordens der Franziskaner. Die Absurdität selbst hat sich dort ihr Monument errichtet. Dem Opernhanswurst stifteten die Fratres Marmor und für die Armen blieben – deshalb – Steine statt Brot. Herr, vergib ihnen, denn sie wußten nicht, was sie taten. Ach was, sie müssen es gewußt haben. Crayers:  Eine fromme Erleuchtung ? Oder spielen Sie den Anwalt des Teufels ? Abbagnano:  Ich spiele ? Crayers:  Sie meinen: Sie sind der Anwalt des Teufels ? Abbagnano:  Der Anwalt ? Crayers:  Sie sind der Teufel selbst ? Abbagnano:  Wenn ich es wäre, hätte ich jedenfalls in der Rolle des politisch Korrekten die perfekte Einkleidung. Crayers:  Sie haben Recht, sie keine Verkleidung zu nennen. Abbagnano:  Ich weiß. Crayers:  Zur Sache. Abbagnano:  Von der habe ich Ihnen erst die Hälfte gegeben. Ich halte nämlich noch einen zweiten Grund gegen das Schöne bereit. Beide Beine braucht der Gedanke, um zu stehen. Crayers:  Sogar um schön dazuliegen  – siehe Tizians donna ­ignuda. Gespräch in Florenz | 189

Abbagnano:  Aber meine Logik steht nun einmal. Crayers:  Lassen Sie sie aufmarschieren. Abbagnano:  Der Blick verkehrt das Angeblickte in einen bloßen Gegenstand seiner Bewunderung. Konzentrieren wir uns auf Schönes, dann starren wir es an. Wir machen es zum Objekt. Schon von hinten spürt man es auf der Straße, wenn man angeschaut wird. Fixiert, wie die Sprache es genau und treffend benennt. Ein schönes Gesicht kann stillhalten. Es soll stillhalten, statt auf uns einzureden, wie ein Subjekt es tut. So haben die Männer das Tafelbild erfunden. So wurde aus Angela del Moro die Venus von Urbino. So hat Tizian die redegewandte cortigiana onesta zum Schweigen gebracht. Crayers:  Ich erlaube mir, Ihnen zu widersprechen. Das Schöne macht die Welt nicht ungerechter – weder, indem es unsere Blicke ablenkt, noch indem der Blick zum Ding macht, was kein Ding ist. Schönes ist verbündet mit Gerechtigkeit. Abbagnano:  Sie werden kitschig. Schauen Sie sich um in der Welt. Die schönen Babys werden gegenüber den unansehnlichen bevorzugt. Können diese etwas dafür, zu sein, wie sie sind ? Schönheit ist die Stätte der Ungerechtigkeit in der Welt – eine ihrer Stätten. Crayers:  Im Gegenteil. Der Umgang mit Schönem schult Sorgfalt und Aufmerksamkeit. Vieles auf der Welt fassen wir zunächst ruppig an ; bemerken wir aber Schönheit an einer Sache, gehen wir achtsamer mit ihr um. Schönheit bringt uns dazu, Güter, statt sie wegzuwerfen, aufzubewahren – manchmal über Generationen. Sie drängt uns dazu, solche Dinge vorzuzeigen, ihre Wahrnehmung mit anderen zu teilen. Abbagnano:  Da liegt ja die Misere, die geballte Ungerechtigkeit. Nimmt man eine schöne Vase vorsichtiger in die Hand, dann wird man weniger schöne Vasen auch weniger vorsichtig zur Hand nehmen. Etwas gern haben heißt, es lieber haben ; das geneigte Gefühl ist nicht zu denken ohne das minder geneigte, das abgeneigte. Schiebt unsere Suche nach Schönem etwas in den Brennpunkt unserer Aufmerksamkeit, dann rückt anderes eben dadurch an Ränder unserer Aufmerksamkeit – an Ränder außerhalb unserer Aufmerksamkeit. Einen Brennpunkt gibt es, viele Ränder. Wenn etwas besondere Beachtung findet, fällt anderes in rauhen Mengen unserer Unachtsamkeit zum Opfer. 190 | Venere d’Urbino 

Crayers:  Bei Vasen finde ich es ganz in Ordnung, wenn die schönen mit Samthandschuhen angefaßt und die häßlichen auch ab und an zerbrochen werden. Abbagnano:  Und bei Menschen ? Crayers:  Da wird die Sache anders liegen ; nur: Ihre beiden Argumente sind nicht mit einander zu vereinbaren. Abbagnano:  Wie das ? Crayers:  Zuerst verlangen Sie mehr Aufmerksamkeit. Sie bemängeln, wir sähen nicht auf Afrikas Massaker, wenn wir Tizians Venus betrachten. Und das heißt: Sie wünschen unser Hinschauen – auf die richtige Stelle natürlich –, ja fordern es. Blicke sind da etwas Gutes, und sollten gerecht verteilt werden. Das zweite Argument hingegen brandmarkt Aufmerksamkeit als den eigentlichen Sündenfall. Würden wir Leidende anschauen, dann sänken sie zu Objekten herab. Hier ist der Blick böse. Auch zornige alte Männer wie Sie müssen sich entscheiden. Selbst zornige alte Herren müssen es. So oder so. Abbagnano:  Vielleicht kann die Wahrheit doch auf einem Bein stehen. Crayers:  Ich kann gut treten. Abbagnano:  Ich weiß. Crayers:  Und ich fürchte die Diagnose stellen zu müssen, daß Ihr eines Bein so lahm ist wie das andere. Beginnen wir mit dem zweiten ? Abbagnano:  Ich bleibe stehen auf ihm. Es ist, wie es ist: Der Blick verdinglicht. Crayers:  Ich vermute, Ihre Sorge gilt nicht den Vasen ? Abbagnano:  Vasen sind bereits Dinge. Was gäbe es an ihnen zu verdinglichen ? Lassen Sie endlich Ihr Meißner Porzellan im Schrank. Crayers:  Sie reden als Menschenfreund ? Abbagnano:  Das verwirrt Sie, denn Sie hatten mich in Ihrer plumpen intellektuellen Typologie unter den Zynikern abgelegt. Crayers:  Doch nicht unter den verläßlichen. Sie zählen zu den unzuverlässigen Zynikern. Solche kommen an sicheren Orten, Gemäldegalerien zum Beispiel, auch einmal philanthropisch daher. Abbagnano:  Gerade in den Uffizien, der Bastion des Schönen, fordert derartige Philanthropie Heldenmut ; denn hier bin ich umstellt von Süchtigen des Liebreizes, Junkies der Anmut. An den übGespräch in Florenz | 191

lichen Galerietagen jedenfalls, wenn die Säle voll sind. Der Blick, der auf Schönheit lauert, macht den lebendigen Menschen zu etwas Starrem, zu einem toten Ding, das sich nicht mehr verändern darf, weil es sonst von dem festgehaltenen Ideal der Schönheit abweichen könnte. Mir wäre ein Rendezvous mit Angela del Moro, mir ist selbst unsere Causerie lieber als die Venus von Urbino. Gemälde sind Oberflächen. Crayers:  Oberfläche ist nicht gleich tote Oberfläche. Unsere Venere giovanetta hier hat Epidermis ; die grobkörnige Leinwand, die Tizian so schätzte, verleiht ihr lebende Haut. Abbagnano:  Sie sagen mir, wie der Maler es gemacht hat ; mich beschäftigt, was es ist. Und es ist ein Scheinleben, auf das die Schliche dieser alten Illusionisten hinauslaufen. Crayers:  Deren Studium, in allen Künsten, haben Sie Ihr Leben gewidmet. Abbagnano:  Manche Traditionen muß man in sich haben, um sie recht zu hassen. Crayers:  Verraten Sie mir, weshalb Sie in die Uffizien gekommen sind ? Abbagnano: Vielleicht suchte ich dem Calcio auszuweichen. Vielleicht betrachte ich die Gemälde mit geschlossenen Augen, damit meine Phantasie nicht gestört werde. Vielleicht habe ich gehofft, Sie zu treffen. Crayers:  Sie kennen mich ? Auch ich glaube Sie zu kennen. Abbagnano:  Mich, den zu Lebzeiten längst Vergessenen ? Einen Philosophen aus Salerno, von Italiens terra insipida ? Crayers:  Unternehmen Sie denn etwas gegen das Vergessenwerden ? Abbagnano:  Man muß, glaube ich, auf dieses irdische Leben verzichten, wenn man unsterblich werden will. Crayers:  Nichts für ungut. Zu treffen hoffte ich nicht Sie, sondern die Venus von Urbino. Die Göttin hat mich nicht enttäuscht. Meine Erfahrung, gegen Ihre gehalten, ist die umgekehrte, nämlich daß tote Dinge, wenn wir sie als schön zu verehren beginnen, für uns zum Leben erwachen. Die stumpfe Handwerkelei von einem Bild bleibt, was sie ist: farbige Striche auf einer Fläche ; das schöne Bild wird wie zu einer Person, mit der wir leben. Das Metall, Bronze zum Beispiel, ist leblos, aber das zu einer schönen Figur geformte 192 | Venere d’Urbino 

Standbild scheint uns anzublicken wie auch das schöne Gedicht uns anredet. Allerdings entsteht jenes Leben im Auge oder Ohr des Betrachters, Lesers, Hörers ; doch daß die Sinne auf etwas im Bild, im Text oder in der Musik reagieren, ist damit nicht ausgeschlossen. Und es wäre merkwürdig, wenn von dem, was das Tote lebendig macht, gelten würde, daß es das Lebendige tötet. Abbagnano:  Merkwürdiges geschieht indes überall. Crayers:  Mag sein. Wo Schönes ins Spiel kommt, kann es gefährlich werden. Mir leuchtet nur nicht ein, daß diese Gefahren immer den Betrachteten drohen und Betrachter sich in Sicherheit wiegen können. Nichts anderes wollen Sie mir weismachen: daß Menschen, die von Bewunderern ihrer Schönheit angegafft werden, Gefahr laufen, damit zum Objekt zu werden. Spricht nicht einiges für das Umgekehrte ? Der Betrachter wird verführt vom Schönen, überwältigt, mag sich ihm nicht entziehen, kann ihm verfallen, wird also unfrei ihm gegenüber, manches Mal besessen von ihm, während die Betrachtete ihn gar nicht zu bemerken braucht. Abbagnano:  Diese hier bemerkt mich, habe ich manchmal gedacht. Crayers:  Man redet nie befangener über ein Kunstwerk als in dessen Gegenwart. Ich weiß indes, was Sie meinen. Giorgiones Dresdner Venus schauen nur wir an und sie weiß nicht einmal darum ; die göttliche Kurtisane Tizians hingegen wird gesehen, weiß, daß sie gesehen wird, sieht uns an – und was für ein Blick das ist. Sie senkt ihn nicht, wie ein braves Mädchen. Er hat Schärfe. Mir scheint, Sie, der Sie sich alle paar Wochen mit der langen Reise vom Piemont in die Toskana plagen, haben erfahren, wie riskant es ist, in die Augen der Venus von Urbino zu blicken. Abbagnano:  Aber ich bin doch selber schuld daran. Wie man sie anblickt, so blickt sie zurück. Crayers:  Und dann blickt man ja nicht nur in die Augen. Abbagnano:  Was meinen Sie ? Crayers:  Venus’ linke Hand zwischen ihren Schenkeln – sollen wir sagen, daß sie ihr Geschlecht verdeckt oder auf es weist ? Am Punkt ihrer pudenda läßt Tizian hinter ihr die schwarze Wandfläche enden. Ein Zwang geht aus von diesem senkrechten Vektor in der Mitte des Tableaus. Wer könnte der Versuchung widerstehen, dorthin zu schauen ? Streichelt sie sich etwa ? Gespräch in Florenz | 193

Abbagnano:  Genug, oder ich bleibe künftig in Turin und lese Homer. Crayers:  Herr ! Sie müssen es ertragen, dieser Venus nie so nahe zu kommen wie der Maler selbst. Denn malen heißt: berühren ; betrachten aber heißt: nicht berühren. Abbagnano:  Ein alter Mann wie ich sollte sich heraushalten aus Streitereien, wer die Täter sind und wer die Opfer. Crayers:  Ich weiß nicht, weshalb in einer ästhetischen Debatte mit Ihnen jedes Detail an das Thema Faschismus streift. Abbagnano: Es hätte mich gewundert, wenn gerade Sie das wüßten. Crayers:  Sagen Sie es mir ? Abbagnano:  Der Faschismus statuierte das Exempel, wie man Politik ästhetisiert. Crayers:  Und so wurde Ihnen in den nachfaschistischen Tagen allmählich die politische Kritik ästhetischer Qualitäten lieb und teuer. Abbagnano:  Weil sie das Wesentliche trifft. Crayers:  Fern vom Wesen, hängt es von allerhand Zufällen ab, ob Aufmerksamkeit, die wir dem Schönen widmen, am Ende weniger Schönem fehlen wird, das sie dringender braucht. Wer einen Araberhengst geschenkt bekam, mag das Pony, das er schon hatte, vernachlässigen. Es kann aber auch geschehen, daß das schöne, empfindliche Roß die Achtsamkeit des Halters für alle Pferde erhöht, was gutes Futter, Pflege, einen sauberen Stall angeht. Die schönen Dinge sind lauter Weckrufe an die Wahrnehmung, über die Welt verteilt, um uns aus der Stumpfheit, in die wir allzuleicht verfallen, zurückzuholen. Wir erwachen. Schönes schließt uns auf, und dies kommt am Ende nicht nur einzelnen ausgewählten Objekten, sondern unserem Verhältnis zur Welt insgesamt zugute. Abbagnano:  Das arme Pony ! Mit einer Göttin begannen wir und enden im Tierstall. Schade, daß wir Sturschädel so wenig Talent haben, geschmeidig schön zu reden, denn ich ermüde. Crayers:  Tun Sie es gleich hier dem göttlichen Spaniel nach, den Tizian der Venus zu Füßen legte. Es gibt wohl keinen schöneren Schlaf als den Museumsschlaf, er kann einen sogar nach Abessinien versetzen ; darüber geht nur noch ein schöner Tod. Ruhen Sie wohl. 194 | Venere d’Urbino 

Abbagnano:  Wer alle Gefahren kennt, weiß, wieviel Mut zum Schlafen gehört. Welche Begegnung ! Von jetzt an hat mein Leben einen Inhalt. Jedenfalls für die nächsten Stunden. Als Lena I. Crayers die Uffizien verlassen hatte, sah sie die begeisterten und die enttäuschten Zuschauer des Calcio in costume über die Piazza della Signoria ziehen. Viele Spieler zogen mit ihnen. Zuletzt hatten die Azzurri gegen die Bianchi gekämpft ; gewonnen hatten die Blauen, aus dem Viertel der Franziskaner. Hoch trugen sie ihr Maskottchen, den Fuchs von Santa Croce. Die Weißen, von Santo Spirito, schleiften das ihre, den Wolf, durch den Staub des Platzes. – Auch wir in den Uffizien haben in Kostümen Fußtritte getauscht, dachte Crayers. Ich war der Wolf, er der Fuchs der Fabel. Indem er den Streit zu verlieren schien, hat er ihn gewonnen. Abbagnano – nun wird er vor der Mediceischen Venus ausruhen und gedankenverloren im Hochgefühl seiner Klassizität baden.

Gespräch in Florenz | 195

DI YU DI DEE DEE  Gespräch in Cambridge

 I

m Anfang war der Klang. Wie ein Klang beschaffen ist, hängt von seiner Quelle ab sowie vom Raum, den er füllt. The Evangelist St John my patron was, Three gloomy courts are his ; and in the first Was my abiding-place, a nook obscure ! Right underneath, the college kitchens made A humming sound, less tuneable than bees, But hardly less industrious ; with shrill notes Of sharp command and scolding intermixed. Near me was Trinity’s loquacious clock, Who never let the quarters, night or day, Slip by him unproclaimed, and told the hours Twice over with a male and female voice. Her pealing organ was my neighbour too. Evangelist Johannes mein Patron, Drei düst’re Höfe hat er ; in dem ersten War meine Unterkunft, ein finst’rer Winkel ! Darunter schallt’ Gesumm der Collegeküche, Gestimmt war’s weniger als das von Bienen, Doch rührig klang’s nicht minder, mit Tönen Untermischt von schrillem Kommandieren und Geschimpf. Nah mir ließ Trinitys redsel’ge Uhr, Niemals, nachts oder tags, die Viertelstunden Verstreichen ohne Schlag. Die vollen Stunden gar Verkündete zwei Mal mit Männer- und mit Frauenstimme sie. Ihr Glockenspiel war Nachbar mir desgleichen.

 197

In diesen Versen des dritten Buches von The Prelude beschrieb William Wordsworth sein Quartier der 1780er Jahre in St John’s College, Cambridge. »Sound«, »notes«, »voice« – es war eine Art Musikzimmer, allerdings mit Zustrom der Klänge von außen. Um die Mitte des 20. Jahrhunderts handelte es sich nicht mehr um eine obskure Ecke: Der Raum war erweitert worden und hatte, dank Wordsworths autobiographischem Gedicht, Berühmtheit erlangt ; denn manchmal sind ja Dinge berühmt, ohne gekannt zu sein, wie Versepen zu einer Zeit, die Romane und Memoiren verschlingt. In der vergrößerten Dichterstube also traf Ludwig Wittgenstein, Professor der Philosophie an der Universität Cambridge seit 1939, an einem Frühlingstag des Jahres 1947 mit drei seiner Bekannten zusammen: der Komponistin Elisabeth Lutyens, der Pianistin Myra Hess und der Sängerin Rae Woodland. In der Mitte des Raumes stand ein Blüthner-Flügel aus den 1880er Jahren. Myra Hess hatte gerade die letzten Takte des C-Dur-Präludiums aus dem ersten Band von Johann Sebastian Bachs Wohltemperiertem Klavier gespielt. &c ‰

{

œ œ œœ œœ

? c ≈ œj ™ œ ˙



œ œ œœ œœ

≈ œj ™ œ ˙

& ‰



‰ œ œ‰ œ œ ‰ œ œœ œ œ œ œ œ œ b œ œ œ œ œ œ œ œœ œœ

≈ œj ™ œ ˙

≈j œ™ œ ˙ U œ ‰ œœœ œœœœœœ œœ w w œ œ w

œœœœœ œœ œ œ ≈ ? ≈ œj ™ œ ˙ œ œ œ œ œ œj ™ ˙ ˙ ˙

{

≈ œj ™ œ ˙

œ

≈j œ™ œ ˙

˙ ˙

w w u

Elisabeth Lutyens:  Du spielst das unnachahmlich. Myra Hess:  Und doch ist das bloß etwas ›vor dem Spiel‹ – ein Präludium. Für Bach begann das eigentliche Spiel erst mit der Fuge. Lutyens:  So hätte es sich wohl verhalten, wäre Bach auf Sprache versessen gewesen. Und wäre er auf Sprache versessen gewesen, dann hätte er es zum wohlbesoldeten Prediger gebracht, statt zum karg entlohnten Musiker. Hess:  Was, gebe ich zu, schade gewesen wäre. Lutyens:  Schade für uns. Was ist ›Präludium‹ ? Ein Wort. Und was ist ein Wort ? Luft. Luft, mit der uns besser in einer Orgel ge198 | Di yu di dee dee 

dient ist, die Präludien von Bach spielt, als in einem Mund, der uns sagt, was Musik in Wirklichkeit ist – ihr Wesen. Ludwig Wittgenstein: Wenn ich die Worte ›Wirklichkeit‹ und ›Wesen‹ höre, sinkt mir mein Herz – es sinkt vollends, wenn ich beide Worte im selben Satz höre. Rae Woodland:  Was können wir tun, damit dein Herz sich hebt ? Wittgenstein:  Wo ist Elizabeth mit z: Anscombe ? Lutyens:  Krank. Etwas mit den Nerven. Oder mit Philosophie. Wittgenstein:  Sicher mit beidem. Sie hängen zusammen. Woodland:  Sonst eine Sache, die dir Auftrieb geben könnte ? Wittgenstein:  Sehr fürsorglich. Wie Russell mir erzählte, befindet sich in diesem Raum ein Humidor aus Mahagoni, der reichlich Zigarren enthält. Havannas. Hess:  Das ist leider nur eine von vielen Legenden, die sich um dieses College ranken. Wittgenstein:  Dabei hätte man Jahrhunderte Zeit gehabt, einen solchen Vorrat anzulegen. Hess:  Immerhin macht der Raum jetzt etwas her. Das ist schon ein Fortschritt gegenüber Wordsworths Tagen. Um von den vorausgehenden Jahrhunderten zu schweigen. Können wir irgend etwas anderes für dich tun ? Wittgenstein:  Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, daß er viel größer ausschaut, als er ist. Was ihr für mich tun könntet ? Vielleicht – spielen … Lutyens:  Ich spiele gut Schach. Soll ich … Woodland: So leicht kommst du nicht davon. Ludwig spielt seine eigenen Spiele – mit Worten. Und er spielt sie nur zu gut. Wittgenstein:  Ich spiele sie nur zu schlecht. Aber sonst hat Rae Recht. Es wird ein Spiel werden, das die Worte ›Wirklichkeit‹ und ›Wesen‹ aus Miss Lutyens’ Wortschatz tilgt. Lutyens:  Gibt es ein derart gnadenloses Spiel ? Woodland:  Ich habe dich gewarnt. Er nennt es Philosophie. Lutyens: Ist Philosophie denn jemals ein Spiel gewesen ? Sie scheint nicht viel zu teilen mit dem, was wir sonst Spiele nennen. Wittgenstein:  Schau dir einmal an, was wir (spöttisch) sonst Spiele nennen. Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiele, Kampfspiele und so weiter. Haben sie alle etwas gemeinsam ? Gespräch in Cambridge | 199

Lutyens:  Sie müssen etwas gemeinsam haben, sonst würden wir sie nicht Spiele nennen. Wittgenstein:  Was ist dieses Etwas ? Hess:  Sie machen alle Vergnügen, oder ? Lutyens:  Das könnte ich von dem Spiel, das gerade begonnen hat, nicht behaupten. Es fühlt sich eher an wie ein Verhör. Wittgenstein:  Richtig gefühlt. Vergleicht auch einmal Schach mit Blindekuh. Hess:  Es gibt hier wie dort Wettstreit zwischen den Spielern. Die einen gewinnen, die anderen verlieren. Wittgenstein: Es wird allerdings berichtet, der Ober eines Wiener Kaffeehauses habe sich dem Spieltisch genähert und mit seinem unergründlichen Lächeln in die Runde gesagt: »Ich hoffe, die Herrschaften gewinnen.« Woodland:  Gegen Ludwig verliert man immer. Wittgenstein:  Denk’ ans Spielen von Patiencen ; da spielt nur einer. In Ballspielen gibt es Sieg und Niederlage. Doch wenn das Spiel darin besteht, daß ein Kind den Ball gegen die Wand wirft und wieder fängt, ist von diesem Zug nichts mehr zu entdecken. Hess:  Können gehört immer dazu. Es ist nicht das Einzige, aber es zählt zum Nötigsten, um Bach zu spielen. Wittgenstein:  Achtet auf den Anteil von Können und den Anteil von Glück oder Zufall in Spielen. Dann achtet auch auf den Unterschied zwischen Geschicklichkeit im Tennisspiel und Geschicklichkeit im Schach. Oder schaut euch ein Spiel wie Ringelreihen an ; das Vergnügen spielt mit, aber wieviel anderes fällt hier wieder fort. Wir könnten allerhand Spiele durchgehen ; Ähnlichkeiten würden aufscheinen und wieder verschwinden. Lutyens:  Spiel ist also, kurz gesagt, ein Ding, das es nicht gibt ? Ein Unding ? Wittgenstein:  Wie sich herausgestellt hat, ist es kein Ding, das durch einen Wesenszug definiert wäre. Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen. Lutyens:  Wenn es keine Gemeinsamkeit gibt, dann gibt es auch keine Sache, die nicht Spiel werden könnte. Der Begriff würde offen für alles und jedes. Das kann nicht sein. Was zählt noch als Spiel 200 | Di yu di dee dee 

und was nicht ? Wo liegen die Grenzen ? Kann deine Philosophie mir das verraten ? Wittgenstein: Nein. Lutyens:  Du weißt nicht, wo die Grenzen des Begriffs verlaufen ? Wittgenstein:  Das ist nicht Unwissen. Wir kennen die Grenzen nicht, weil keine gezogen sind. Wir können selber welche ziehen, zu einem bestimmten Zweck. Ist das notwendig, um das Wort ›Spiel‹ zu gebrauchen ? Keineswegs. Außer eben zu dem bestimmten Zweck. (Er stutzt.) Aber du schaust wie abwesend. Wohin sind deine Gedanken gewandert ? Lutyens:  Sie sind ganz hier und sinnen nach über Wordsworths Verse in The Prelude: »that false secondary power, by which |  In weakness we create distinctions, then |  Deem that our puny boundaries are things |  Which we perceive, and not which we have made.« Wittgenstein:  Darunter geht bei Wordsworth nichts. Hess:  Es ist seine Größe, daß unter einem bestimmten Maß bei ihm nichts geht. Welche poetische Kraft muß allein schon besessen haben, wer ein derart langes Gedicht schuf. Wittgenstein:  Die wahre poetische Kraft hätte darin gelegen, es abzubrechen. Sein »langes Gedicht« ! Ein langes Gedicht ist ein Widerspruch in sich. Das sogenannte lange Gedicht besteht aus einigen wenigen Gedichtfragmenten, zusammengeleimt durch Prosa. Diese maskiert sich als Lyrik. Die Maske, die sie dafür benutzt, sind Verszeilen. Hess:  Offenbar kennst du das wahre Wesen des Gedichts. Keinem indes lag das Tragen einer Maske ferner als Wordsworth. Sein Thema ist das Selbst. Wittgenstein:  Das Selbst ist seine Maske. Bevor Wordsworth auftrat, hatten Epen von Göttern oder Helden gehandelt, vorzugsweise von beiden. The Prelude handelt vom Autor ; so macht Wordsworth sich selbst zum Gott und Helden, die Macht der Falschheit niederringend. »False Power« ! Er muß die Schwäche der Grenzen zum Drama bauschen, dieser Lyriker ! Vielleicht ging es in der Küche unter ihm hoch her, als ihm die Zeilen einfielen. Lutyens:  Dich stört es nicht, daß Grenzen fehlen ? Wittgenstein:  Es hat auch dich nie gestört, wenn du das Wort ›Spiel‹ verwendetest. Bis jetzt. Gespräch in Cambridge | 201

Lutyens:  Das waren noch Zeiten, damals, bevor ich in dein Verhör geriet. Wittgenstein:  Seit Sokrates’ Tagen haben schon viele den Moment verwünscht, in dem ein Philosoph sie ins Gespräch zog. Lutyens:  Der Fluch ist wohl Teil des Spiels, das du Philosophie nennst. Wittgenstein:  Nach einer Zeit erweist sich der Fluch als Segen – als Therapie. Lutyens:  Bin ich denn krank ? Und wenn ich’s wäre: Spielt man denn in so ernster Lage ? Wittgenstein:  Denk’ nicht, Spiel müsse lustig sein. Bach hat das besser gewußt. Denk’ nicht, sondern schau ! Woodland:  »Of sharp command and scolding intermixed.« Lutyens:  Sobald in unserer philosophischen Partie der Kommandoton aufkommt, zweifle ich keinen Augenblick mehr, daß Spiel eine ernste Angelegenheit sein kann. Hess:  Wenn sowohl Wittgenstein als auch Bach uns lehren, wie ernst Spiel sein kann, dann ziehe ich es vor, von diesem zu lernen. In vierundzwanzig Tonarten. Wittgenstein:  Im Unterschied zu anderen Philosophen kommt bei mir zumindest mehr als eine Tonart vor. Ob ich es allerdings auf vierundzwanzig bringe … Lutyens:  Auch das würde mich nicht ohne weiteres aus meiner Schwierigkeit hieven. Du sagst, die Anwendung des Wortes ›Spiel‹ sei ungeregelt. Woodland:  Dir, einer Engländerin, sollte es lästig sein, daß etwas ungeregelt ist ? Lutyens:  Ihn sollte es stören – wie jeden Deutschen. Woodland (tritt mit Absicht Lutyens auf den Fuß): Psst. Er ist aus Wien. Hess:  Das erklärt vielleicht manches. Wittgenstein:  Philosophen kann man nicht erklären. Lutyens:  Aber sie sollten manches erklären können. Und da ist immer noch dies Rätsel, das ich gern gelöst sähe. Wie kann das Wort ›Spiel‹ seine Aufgabe erfüllen, wenn das Spiel, das wir mit ihm spielen, regellos ist ? Wittgenstein:  Es ist nicht überall von Regeln begrenzt ; aber es gibt ja zum Beispiel auch keine Regel dafür, wie hoch man im Ten202 | Di yu di dee dee 

nis den Ball werfen darf, oder wie stark. Und doch ist Tennis ein Spiel und hat auch Regeln. Lutyens:  Also ? Wittgenstein:  Man könnte sagen, ›Spiel‹ sei ein Begriff mit verschwommenen Rändern. Lutyens:  Das soll mir helfen ? »Puny boundaries«, in der Tat. Ist ein verschwommener Begriff überhaupt ein Begriff ? Wittgenstein:  Ist eine unscharfe Photographie ein Bild von jemandem ? Ja, kann man ein unscharfes Bild immer mit Vorteil durch ein scharfes ersetzen ? Ist das unscharfe nicht manchmal gerade das, was wir brauchen ? Lutyens:  Ich bin erleichtert, daß du als Philosoph tätig bist und keine Paßphotos anbietest. Nicht alle Künste haben zu gleicher Zeit ihre impressionistische Periode erreicht. Was das Philosophische betrifft, gibt es nur noch einen Haken bei der Sache: Wie sollten wir anderen erklären, was ein Spiel ist ? Wittgenstein:  Wir werden ihnen Spiele beschreiben. Und der Beschreibung könnten wir hinzufügen: Dies, und ähnliches, nennt man Spiele. Wissen wir denn selber mehr ? Können wir etwa nur anderen nicht genau sagen, was ein Spiel ist ? Woodland:  Oder ein Spiel in einem bestimmten Rahmen ? Wittgenstein:  Nehmen wir an, eine Mutter bittet mich, den Kindern ein Spiel zu zeigen. Ich bringe ihnen bei, um Geld zu würfeln. Sie empört sich: So ein Spiel habe sie nicht gemeint. Mußte ihr da, als sie mich bat, vorschweben, das Würfelspiel sei ausgeschlossen ? Woodland:  Was ihr selbstverständlich war, daran hat sie eben deshalb nicht gedacht. Hess:  Wenn die Frage nicht einfach lautet, was ein Spiel ist, sondern was ein angemessenes Spiel ist und für wen, dann ist sie auch schon beantwortet innerhalb einer bestimmten Weise, zu leben und zusammenzuleben. Alles Leben geschieht vor einem Hintergrund, den, weil er hinter uns ist, wir nicht vor Augen haben und auf den wir uns doch fortwährend beziehen. Er ist nicht notwendig so, wie er ist ; vielmehr hätte er anders ausfallen können. Man kann sich zum Beispiel vorstellen, daß Kinder abgerichtet werden, Feinde niederzuballern und das als tolles Abenteuerspiel zu betrachten. Lutyens:  Das kann man sich nicht lediglich vorstellen. Es war Gespräch in Cambridge | 203

vor kurzem noch wirklich: in der Hitlerjugend. Daher mein Unbehagen an Spiel als einem offenen Begriff, den jede Form von Leben sich zu eigen machen kann. Wittgenstein:  Begriffe sind nicht dazu da, uns Moral zu lehren. Sie stehen bereit zum Gebrauch für die Guten und die Bösen. Woodland:  Nur gut, daß wir die Guten sind. Hess:  Gut darin, Musik zu spielen. Woodland:  Ich spiele sie nicht. Hess:  Warum nicht ? Woodland: Zunächst einmal, weil manche Musik jedenfalls kein Spiel ist. Lutyens:  Professor Wittgenstein wird das infame Wesen, das wirkliche Wesen sogar, ausmachen in dem, was du da sagst. Nichts ist, was es ist. Die Bedeutung einer Sache ist ihr Gebrauch. Woodland:  Es gibt Gebrauch und es gibt Mißbrauch. Gestern, in King’s College, sang ich in Beethovens Missa solemnis. Manches an ihr habe ich nicht ganz begriffen – aber so viel habe ich an ihr verstanden: daß sie nie entstanden wäre ohne die Aspiration, sie möge mehr sein als bloßes Spiel. Beethovens Vertonung des Messetextes ist selbst ein religiöser Vorgang. Und dieser Vorgang macht den kirchlichen Ritus überflüssig. (Summt Dona nobis pacem aus der Missa solemnis, op. 123.) p

Sopran

# 6 Ϫ & #8 do

-

œ

Ϫ

Ϫ -

-

œ J

Ϫ

na

no

œ -

j œ bis

Ϫ pa

œ -



cem

Lutyens:  Das ist gut. Für uns jedenfalls. Hess:  Wenn wir etwas gelernt haben von Ludwig – Woodland:  Von welchem Ludwig ? Hess:  Wittgenstein. Wenn wir bisher etwas von ihm gelernt haben – denn wer könnte seinen Lehren widerstehen ? – und wenn wir vermeiden wollen, daß ihm das Herz wieder sinkt, dann dürfen wir jetzt nicht fragen: Ist alle Musik Spiel ? Woodland:  Wie sollte die Frage statt dessen lauten ? Hess:  Wir sagen oft, Musik sei Spiel oder sie werde gespielt – darin mag bereits ein Unterschied liegen. Was meinen wir damit ? Eine Sache oder mehrere ? Lutyens:  Wo Wittgenstein im Spiel ist, immer mehrere. 204 | Di yu di dee dee 

Wittgenstein:  Und ist das schlecht ? Oder nicht eher lehrreich ? »I will teach you differences.« Woodland:  King Lear, erster Akt. Kent spricht diese Worte. Am Ende der Handlung gibt Kent dem König zu verstehen, daß er ihm die ganze Zeit hindurch treu gefolgt war. Aber Lear hört nicht zu. Wittgenstein:  An Lear kann man sehen, wie es einem ergeht, der den Lehrer der Unterschiede mißachtet. Woodland:  Nach dem Tod des Königs bietet Albany Kent die Herrschaft an. Kent lehnt ab und deutet an, er werde Lear in den Tod folgen. An Kent kann man sehen, wie es den Lehrern der Unterschiede ergeht. Wittgenstein:  Es hängt von den Schülern ab, an die sich der Lehrer der Unterschiede wendet. Ihr zum Beispiel seid ja nicht wie Lear. Musikalisch hat er abgewirtschaftet – er ist verstimmt. Lutyens:  »O you kind gods |  Cure this great breach in his abused nature ; |  The untuned and hurrying senses O wind up |  Of this child-changed father !« Cordelias Worte. Woodland:  Eingestimmt auf den Lehrer glaube ich, ein paar Unterschiede gelernt zu haben. Wir sagen manchmal, daß Leute spielen, weil wir das, was sie tun, unterhaltsam finden oder weil sie im Wettstreit sind, mit ungewissem Ausgang – Verlieren, Gewinnen, Unentschieden  –, oder weil sich in ihrem Treiben sei’s ­Geschicklichkeit, sei’s Zufall manifestiert. Wittgenstein:  Wenn Lernen Sache des Gedächtnisses ist, dann sind wir wirklich eingestimmt. Aber denk’ nicht, die Liste sei vollständig. Keiner dieser Züge wird an allen Spielen vorkommen, und sie werden in manchem erscheinen, das kein Spiel ist. Woodland:  Auch das werde ich mir einprägen. Hess:  Und doch, mit solcher Vielfalt zur Hand, sagst du von dir selber nicht, du spieltest Musik ? Woodland:  Ist dir nie aufgefallen, daß wir die musikalischen Instrumentalisten Spieler nennen, doch nie die Sänger ? Hess:  Weshalb ist das wohl so ? Woodland:  Wir sagen, jemand spiele mit etwas, zum Beispiel ein Kind mit Bauklötzen. Ein Instrument paßt zu diesem Muster, nicht aber mein musikalisches Tun: Ich bin meine Stimme. Hess:  Du weißt, daß ich Jazz ganz gern habe. Gestern war ich in diesem seltsamen schottischen Jazzclub auf Bishopsgate, Boisdale. Gespräch in Cambridge | 205

Eine amerikanische Sängerin trat auf, Ella Fitzgerald, erstaunlich in ihrer Artikulation, Phrasierung und Intonation. Und dann war da noch ein Tenorsaxophonist mit großem, doch leichtem, warmem und seidigem Ton, ein Rhapsode auf seinem Instrument, Paul Gonsalves. Ihn würde man einen Spieler nennen, sie nicht – so zu reden sind wir gewohnt. Doch mein musikalischer Instinkt wehrte sich dagegen, und tut es noch. In ihrem musikalischen Dialog spielten beide mit dessen Elementen. Fitzgerald spielte auch mit ihrer Stimme. Und endlich kam mir eine seltsame Formulierung in den Sinn: Sie spielte ihre Stimme. Woodland:  Welcher der Züge von Ludwigs Liste bringt dich darauf ? Hess:  Das Können vielleicht. Fitzgeralds Meisterschaft ist so außerordentlich wie die von Gonsalves. Woodland:  Du wirst dich erinnern, daß wir letzte Woche dank der BBC Kathleen Ferrier mit der Altrhapsodie von Brahms hörten. Vollendet in ihrer Kunst auch sie. Hess:  Allerdings. Dabei in manchem, was sie kann, ganz verschieden von Fitzgerald – aber nicht in allem. Woodland:  Du hättest indes keinesfalls gesagt, daß Ferrier die Altrhapsodie spielte. Hess:  Das wäre mir wirklich nie in den Sinn gekommen. Woodland:  Ich weiß, was du meinst, wenn du vom Spielen mit der Stimme sprichst, und sogar, wenn du – mag auch das Wörterbuch sich dagegen sträuben – vom Spielen der Stimme redest. Aber die Stimme kommt eben ganz zu sich selbst, wenn sie nicht gespielt wird und wenn nicht einmal mit ihr gespielt wird. Darum berührte Ferriers Gesang uns so, selbst aus dem Radio. Und darum auch versuche ich nicht einmal, meine Stimme zu spielen. Lutyens:  Saure Trauben ? Und, nebenbei: Wer berührt werden will, soll einen Masseur bestellen. Meine Musik ist mir zu schade dafür. Woodland:  Saure Trauben ? Hess:  Remis. Ich schlage vor, wir entkorken die letzte der drei Flaschen Weingut Dönnhoff Roxheimer Höllenpfad Riesling Kabinett 1921, über die St John’s noch verfügt – aus Trauben, die nicht sauer waren. 82° Oechsle. (Sie öffnet die erste Flasche und schenkt zunächst den anderen, dann sich ein Glas ein.) 206 | Di yu di dee dee 

Wittgenstein:  Du tust dein Bestes, das Verhör in ein veritables Symposion zu verwandeln. Lutyens:  Solange du schweigst, ist das leicht. Selbst des Weins bedürfte es dazu kaum. Wittgenstein:  Schweigen ist Cordelias Tugend, obschon es im Stück lange dauert, bis man es als Tugend erkennt. Lutyens:  Was an Cordelia Tugend ist, könnte an dir der schiere Überdruß sein. Ist auch die Bedeutung eines Schweigens sein Gebrauch ? Woodland: Jedenfalls bekommt Lears jüngster Tochter ihr Schweigen nicht besser als Kent seine Differenzenlehre. Hess:  Wohl bekomm’s, statt dessen. (Sie stoßen miteinander an und trinken.) Woodland:  Glaubst du, Myra, es sei bekömmlich, etwas umzuformen in das, was es von sich aus nicht ist – eine Stimme in ein Instrument ? Hess:  Was etwas von sich aus ist, wäre sein Wesen. Dieses wurde vorhin abgeschafft. Lutyens:  Ich bin noch gar nicht überzeugt von der Abschaffung. Also bleibt Raes Frage zu beantworten. Hess:  Verwandeln kommt aus einem Können. Fitzgerald bewältigt mit ihrer Stimme Schwierigkeiten, die zu meistern man nur Gonsalves auf seinem Instrument zugetraut hätte ; eine untrainierte Sängerin vermag herzlich wenig von dem auszuführen, was ein Saxophonist leicht zustande bringt. Und auch einer geübten, aber eben in anderem geübten Stimme bleibt vieles unerreichbar, was das Blasinstrument, oder besser der Spieler auf ihm, vollbringt. Lutyens:  Nicht sehr philosophisch, diese Antwort, aber desto besser. Musikalischer. Woodland:  Instrumente klingen wortlos. Folgerichtig sollte die Worte aufgeben, wer aus der eigenen Stimme ein Instrument macht. Hess:  So hielt es Fitzgerald auch in vielen Passagen. Scatgesang nennt sich dieses Aneinanderreihen von Silben, die keine Worte bilden, etwa (sie singt) »di yu di dee dee doohdun di di oohnbee«. Wittgenstein:  Das erinnert mich an einen der Züge, der im Netz der Ähnlichkeiten aufscheint. Solche Silben ergeben keine Bedeutung. Sie verweisen nicht. Spiele machen manchmal eine Welt für sich aus. Von Landwirtschaft brauche ich nichts zu verstehen, Gespräch in Cambridge | 207

um im Schachspiel die Bauern richtig zu bewegen. Ich muß nur die Regeln verstehen, die das Spiel ausmachen: in diesem Fall, daß der Bauer in Grundstellung zwei Schritte, sonst nur einen nach vorne machen darf. Das gilt auf den 64 schwarz-weißen Feldern, und nur auf ihnen. Lutyens:  Eine Welt für sich. So sollte Musik sein, statt uns zu berühren. Hess:  Manchmal streute Fitzgerald ein paar Worte zwischen den Silben ein, zum Beispiel: »That was Paul Gonsalves playing«. Solche Sätze bezogen sich auf die Situation des Spiels selbst – nie auf etwas jenseits von ihr. Sie kamen aus dem Stegreif. Improvisiertes hat einen Platz in vielen Spielen. Woodland:  Denk’ an Ludwigs Liste. Spontanes kann die sonst entgegengesetzten Züge des Könnens und des Glücks verbinden. Lotto spielen oder Würfeln erfordert Glück, aber fast kein Geschick ; beim Schach oder beim Tennis ist es umgekehrt  – wenn auch die Fähigkeiten, die jeweils nötig sind, sich scharf voneinander unterscheiden. Hess:  Man nennt Lotto und Würfeln ja Glücksspiele. Das Ergebnis des Spiels hängt von einer Zufallsmaschine ab, dem Ziehungsgerät oder dem Würfel. Es scheint spontan, weil es sich nicht vorhersagen läßt. In Geschicklichkeitsspielen hingegen ist Spontaneität Geistesgegenwart. Auf dem Sprung sein, das Vermögen zur raschen Reaktion, ja musikalische Schlagfertigkeit war es, was mich an Fitzgeralds und Golsalves’ Spiel begeisterte. Lutyens: Wie viel Üben wird nötig gewesen sein, um solche Spontaneität zu erreichen ! Ein Klarinettist aus Liebhaberei wie Ludwig Wittgenstein, der sich solchen Exerzitien nie unterzog, hat es gut. Mir schauert manchmal davor, wie der spielerische Charakter der Musik und die Disziplin, die sie als Profession fordert, auseinanderstreben. Diese Spannung kann einen zerreißen. Woodland:  Aber Disziplin vertrug sich schon immer mit Spiel aller Art. Wittgenstein:  Nichts gilt für Spiel aller Art. Woodland:  Für manche Art von Spiel ist Disziplin jedenfalls die Vorbedingung. Hess:  Das Vermögen zur raschen Reaktion stellt sich nicht von selber ein. Musiker wie Fitzgerald und Gonsalves haben das, was sie 208 | Di yu di dee dee 

können, jahrelang an den immer gleichen Jazzstandards ausgebildet. Aus dieser Praxis erwächst etwas, das alles andere als Standard ist. Es hat die Unvorhersehbarkeit einer singulären Improvisation. Woodland:  Und das wirft Licht auf das Spiel, das da gespielt wird. Zufall ist eine solche improvisatorische Qualität nicht. Und Glück nur in dem entlegenen Sinne, daß ein guter Stern über der Begegnung zweier so kongenialer Spieler steht. Fügung, sagen wir, aber das ist genauso mythologisch. Hess:  Was täten wir ohne Mythologie ? Lutyens:  Oder ohne ein ums andere Mal Glück zu haben ? Damit es uns nicht zerreißt. Und doch: Spiel, glaube ich, nennen wir eine Musik nie mit Blick auf das Muster der Glücksspiele. Selbst wenn der Komponist würfeln würde, um die Tonhöhen festzulegen, oder die Spieler dies täten, ehe sie loslegen, nähme das Publikum das Ergebnis nicht anders entgegen als das Werk einer Komponistin, die nichts dem Zufall überließ und überläßt. Wie ich. Hess:  Da der Höllenpfad uns nun einander näher bringt, schwindet mir der Glaube, ich, die ich spiele, sei getrennt von dir, die du singst, Rae ! Woodland:  Was meinst du ? Hess:  Gewinnen und Verlieren jedenfalls kommt bei mir kaum anders als bei dir ins Spiel. Das Publikum, ob es nun in meinem Klavierabend sitzt oder in deinem Arienrecital, ist gespannt. Es will, daß uns alles gelingt. Denn das gibt ihm das Gefühl, es habe sein Geld nicht verschwendet. Es will auch, daß wir scheitern. Denn darüber kann es lästern. Konzertsaal oder Sportstadion: beides ist Arena ; Jubel und Buhruf liegen nah beieinander. Was zählt, ist allein das Hier und Jetzt. Die Vorbereitung wird nicht wahrgenommen, und nachträgliche Erklärungen können nicht retten, was immer schiefgelaufen sein mag. Es geht nicht um Gerechtigkeit. Woodland:  So ist es. Und doch macht das nur den Rahmen unserer Kunst aus. Sie findet jetzt in diesem Rahmen statt ; es könnte auch ein anderer sein. Der Rahmen berührt nicht die Kunst selbst. Lutyens:  Träum’ weiter. Woodland:  »I was the Dreamer, they the Dream.« Hess:  Von Arenen hat Wordsworth wirklich nichts verstanden. Denn die Arena ist nicht der Ort des Selbst, sondern der Ort der Maske. Darum konnte er auch nicht für die Bühne schreiben. VerGespräch in Cambridge | 209

sucht hat er’s ja, mit denen an der Grenze, The Borderers. Aber da stieß er an eigene Grenzen. Wittgenstein:  Wir sollten ihn hinunter in die Küche schicken ; vielleicht kochen sie ihm dort gerade seinen heißen Brei, um den herum er so gern von Kunst redete. Lutyens:  Oder sie kochen ihm noch nicht einmal den, da man sie in der Schule mit seinen Narzissen quälte. »A poet could not but be gay, | In such a jocund company.« Kaum zu glauben, daß der große Dichter so trivial werden konnte. Wittgenstein:  Er schaut – für euch – größer aus, als er ist. Woodland:  Wo bleibt der Sinn für Gerechtigkeit ? Hess:  Wo bleibt er bei dir ? Was unser beider Paragone betrifft, oder dessen Beilegung, kommt nämlich noch etwas anderes ins Spiel: eine Sache, von der nicht einmal du im Ernst behaupten könntest, sie berühre die Musik selbst nicht. Woodland:  Ich brenne vor Neugier zu erfahren, was ich nicht behaupten könnte. Hess:  Kühl die Sache zur Kenntnis zu nehmen würde genügen. Woodland:  Dann wäre ich eine schlechte Königin der Nacht. Hess:  Zur Sache. Instrumentalmusik und Vokalmusik haben in Europa seit drei Jahrhunderten einander dazu herausgefordert, von der jeweils anderen etwas zu lernen. Einerseits hat man von Spielern verlangt, sie sollten auf ihren Instrumenten ›singen‹ – selbst wir Pianisten, deren Instrumente, mit ihren Hämmern, nicht gerade dazu prädestiniert schienen. Woodland:  Ihr armen Schlagzeuger … Hess:  Die Forderung, auf dem Instrument zu singen, kann als einschränkend empfunden werden. Aber dann wäre es eine Einschränkung, die der Phantasie Flügel hat wachsen lassen. Lutyens:  Cantabile. Und der Flügel des 19. Jahrhunderts ist, verglichen mit dem Cembalo des 18., der bessere Sänger. Sing’ uns mehr Bach auf dem Blüthner. Und Scarlatti. Und Mozart. Und Chopin. Woodland:  Um dich zu berühren ? Lutyens:  Um die Hämmer so die Saiten berühren zu lassen, daß man meint, sie seien keine Hämmer. Woodland:  Aber wir haben ja noch gar nicht das Andererseits zum Einerseits gehört. Hess:  Andererseits hat man den Sängern abverlangt, alle Figuren 210 | Di yu di dee dee 

zu meistern, welche die Instrumentalisten beherrschen. Nicht eingeschränkt wird das Feld der Stimme so, sondern erweitert. Eins der hinreißenden Resultate dieses Anspruchs ist die Bravourarie. Woodland:  Immerhin hat man die Sänger nicht dazu gepreßt, Klaviere nachzuahmen. Hess:  Das ist wahr ; so weit hättet ihr es nicht gebracht. Für die Virtuosität der Stimme geben immer Blas- oder Streichinstrumente den Maßstab ab. Woodland:  Hier fühl’ ich mich zu Hause mit meinem Sopran. Rossini schickt auch den Mezzo durch die Koloraturen. »Nacqui all’affanno« – das muß man von Conchita Supervia gehört haben. Notfalls, wie ich, auf dem Grammophon. Hess:  Der eine Punkt, in dem mir Kathleen und die anderen Altistinnen leid tun: diese Welt ist ihnen verschlossen. Offenbar wird nicht gespielt in der Tiefe. Woodland:  Wenn ein Komponist Bläser, Streicher und die virtuose Stimme neben oder gegen einander setzt, treffen wir auf einen anderen Zug von Ludwigs Liste: die Konkurrenz. Lutyens:  Sie schien mir von Anfang an fragwürdig. Denk an einen Marathon: Wettbewerb, wohin man blickt. Doch niemand würde sagen, die Läufer nähmen an einem Rennspiel teil. Auf dem Fußballfeld rennen die Sportler auch – doch hier wird ein Spiel gespielt. Es heißt so, Fußballspiel, nicht der Konkurrenz halber, sondern weil es diskrete Spielzüge gibt. Der Paß, der zum Tor führen kann, ist in der Art so etwas wie die Rochade im Schach. Der Lauf hingegen ist ein Kontinuum. Woodland:  Du suchst eben immer noch das Wesen des Spiels ; daß du es in ihr nicht findest, nimmst du der Konkurrenz übel. Lutyens: Ach, überhaupt: Konkurrenz gibt es außerhalb der Kunst schon genügend – ja mehr, als zu ertragen ist. Woodland:  Gerade deshalb wird sie in der Kunst willkommen sein. Diese zieht das Publikum nicht in die Konkurrenz, sondern zeigt sie ihm von außen: in sicherer Entfernung. Als Kathleen und ich bei Roy Henderson studierten, an der Royal Academy of Music, durfte ich Mozarts »Martern aller Arten« singen – nicht, wie Studenten sonst meist, mit Klavier, sondern mit vollem Orchester. Hess:  Ein Fest. Woodland:  Die Arie ist ja ein C-Dur-Konzert, oder eine SinGespräch in Cambridge | 211

fonia concertante, für Sopran und vier Soloinstrumente  – Flöte, Oboe, Violine, Cello. Während sie einander in ihrer Bravour auszustechen suchen, hält das Spiel die Zuhörer in entzücktem Unglauben, was die »Martern aller Arten« angeht. (Sie singt) œ™ œ #œ œ j œ™ œ œ ™ œ œ c J Ó Sopran & œ J Mar

-

tern

al

-

ler

Ar - ten,

al

-

ler

Ar - ten

Und wer wird einer so lustvollen vokalen Feuerwerkerin abnehmen, daß sie, wie sie am Ende singt, sich den Tod wünscht ? Hess:  Könnte es ein Spiel sein, wenn man ihr glaubte ? Lutyens:  Ungläubig und doch ganz bei der Sache: so spielen wir, so schauen und hören wir dem Spiel selbst noch zu. Woodland:  Die Instrumente nehmen sich viel Zeit für das erste Wort, das ihnen im Wettstreit zukommt. Konstanze, die der Augenschein der Opernbühne als Protagonistin zeigt, scheint dazu verurteilt zu sein, Däumchen zu drehen. Hess:  Manche Inszenierungen der Entführung sinken zu unfreiwilliger Komik an dieser Stelle, andere erheben sich zu freiwilliger. Woodland:  Ich sang es ja im Konzert. Kein Regisseur konnte die Sache verderben. Konstanze zeigt dann, daß sie alle Sprünge und Figuren beherrscht, die Flöte, Oboe, Violine, Cello vollführt hatten, und erweist sich so wirklich als der überragende Spieler. Und doch ist sie zugleich auch mehr als ein Spieler. Wenigstens habe ich mir das eingebildet, damals auf dem Podium. Lutyens:  Ehre, wem Ehre gebührt. Doch ist nicht der Komponist der Spieler hinter den Spielern ? Woodland:  Auf diese Pointe hattest du es in unserem Gespräch schon lange abgesehen. Lutyens:  Wenn es denn die wahre Pointe ist … Woodland:  Es ist etwas Wahres an ihr. Hess:  Das klingt ungeheuer gerecht. Woodland:  Ich tue mein Bestes. Der Dramatiker und Komponist spielt sein Spiel mit allen. Konstanze, obschon Selims Gefangene, konkurriert mit diesem um die Macht. Er hat zwar die Macht auf seinem sexuellen Spielplatz, dem Serail. Doch deren dürftiger Modus ist: Befehl und Gehorsam. Daß dieser Modus, Konstanze gegenüber, zu dürftig ist, vermag er gerade noch zu sehen. Es ist eine hilflose Einsicht. Denn die sinnliche Macht der Oper, die Mu212 | Di yu di dee dee 

sik, hat Mozart dem Bassa vorenthalten. Er kann nicht singen. Außer seiner Reichweite liegt, worauf es ankäme: zu verführen. Lutyens:  Daß er Gewalt androht, läßt die einzige Macht erkennen, über die Selim verfügt, und darum auch seine Ohnmacht. Woodland:  Seine Impotenz. Am Ende der Oper wird er sie zur Gnade umetikettieren. Lutyens:  Er muß froh sein, die loszuwerden, vor der er versagte. Woodland:  Da der Bassa im Reich der Töne nicht satisfaktionsfähig ist, komponiert Mozart, statt der vom Libretto nahegelegten Konkurrenz zwischen ihm und Konstanze um die Macht, eine musikalische Konkurrenz um die Bravour zwischen den Instrumenten und der Stimme. Und entscheidet sie für diese. Lutyens:  Aber eben nicht gleich. Während der Dialog im Libretto direkt ist – Konstanze nimmt Selims Worte, »Martern aller Arten«, unmittelbar auf –, bricht die Musik die Unmittelbarkeit ; das Orchester, besonders aber die Solisten nehmen für sich in Anspruch, sagen zu können, was hier zu sagen ist. Woodland:  Aber dann sage ich es. Lutyens:  Weil der Komponist dir den Part gibt, es zu sagen. Woodland:  Und doch bin immer noch ich nötig, es zu sagen. Singend. Komponisten schreiben nur. Sie bleiben für das Publikum unhörbar. Wittgenstein:  Spiele bilden eine Familie. Und Spieler sollten keine sein können ? Lutyens:  Dein grenzenloses Spiel macht es möglich. Du solltest zu uns sagen: Seid umschlungen ! Die ganze Familie der musikalischen Spieler – Pianistin, Sängerin, Komponistin ! Wittgenstein:  Man muß mich nicht auffordern zu etwas, das ich die ganze Zeit über praktiziere. Und das ihr nur noch nicht bemerkt habt. Lutyens:  Verschaffe uns auch die Theorie der Umarmung ! Wittgenstein:  Philosophie ist keine Theorie. Sie ist eine Praxis. Woodland:  Des Umarmens ? Wittgenstein:  Nur zu sehr. Bei einigen, die sie praktizieren, ist die Umarmung geradezu erstickend. (Ein Glockenspiel ertönt.) Hess:  Was ist das ? Wittgenstein:  Nichts, sozusagen. »Bells, the poor man’s only music.« Gespräch in Cambridge | 213

Woodland:  Wordsworth ? Lutyens:  Coleridge. Das Spielwerk nebenan aber, nach Wordsworth, »Trinity’s loquacious clock«. (zu Wittgenstein gewandt) Du bist Fellow von Trinity College ? Wittgenstein:  1930 wurde ich dreifaltig. Lutyens:  Dann laß’ uns teilhaben an deiner redseligen Praxis. Wittgenstein:  Sie ist vergleichsweise wortkarg. Lutyens:  Im Vergleich zu wem ? Wittgenstein:  Sieh dich um und wähle. Lutyens:  Dann sprich jetzt deine kargen Worte. Wittgenstein:  Wenn wir von Spiel sprechen, denken wir zuerst an ein Tun, nicht an ein Machen. Aber, siehe Mozart, das Spiel kann auch Werk werden. Lutyens:  Di yu di dee dee doohdun – das ist mein Auftritt. Eine Instrumentalistin, wie Myra, spielt mit wirklichen Klängen, eine Komponistin, wie ich, hingegen mit dem Material ihrer musikalischen Imagination. Und weil eine notierte Komposition für die Aufführung geschrieben ist, kann man beide direkt vergleichen. Ein Werk dieser Art ist ein Bild möglichen Spiels, aus einer Vorstellung von Spiel entstanden, und von Instrumentalisten und Sängern in wirkliches Spiel zu übersetzen. Wittgenstein:  Nun entwirfst du die Philosophie, die du von mir erwartet hast. Lutyens:  Du bist so wortkarg. Wittgenstein:  Der Dritte der Trinität wirkt durch mich nur noch negativ. Anstelle dessen, was gesagt werden sollte, gibt der heilige Geist mir stets eher ein, was nicht gesagt werden sollte. Lutyens:  In meinem Fall zum Beispiel ? Wittgenstein:  In deinem Fall zum Beispiel: »ein Bild«. Früher glaubte ich, ein Satz sei das Bild der Welt. Aber die Welt hat mir das Bild verleidet. Wie verhält sich eine Komposition zu Aufführungen ? Um Besseres zu finden als dein vorwegnehmendes »Bild«, müßte ich lang und hart nachdenken. Lutyens:  Denk’ nicht, sondern schau ! Hess:  Oder höre. Sowohl an Ella Fitzgeralds Improvisation als auch an Mozarts Arie – Gwen Catley sang sie kürzlich in Sadler’s Wells – fiel mir das Element schneller Bewegung auf, die mit kleinen Veränderungen wiederholt wird. So etwas findet sich oft in ein214 | Di yu di dee dee 

fachen Spielen, schon beim Seilspringen. Kinder suchen dabei fortwährend zu beschleunigen, manchmal, bis ihnen fast schwindlig wird. Solches Spiel ist ohne scharfe Grenze zum Tanz. Woodland:  Ludwig erwähnte Ringelreihen. Lutyens:  Aber er würde es nicht mit uns spielen. Woodland:  Du hast nie versucht, ihn dazu zu zwingen. Lutyens:  Könnte man ihn zwingen, dann wäre er kein Philosoph. Woodland:  So versuch’ ihn zu überzeugen. Da er Praxis der Theorie vorzieht, sollte er sich dafür gewinnen lassen. Wittgenstein:  Von Kinderspielen zu reden ist kein Grund, kindisch zu werden. Lutyens:  Aber kindisch zu sein könnte unser Grund sein, in Wordsworths Zimmer an St John’s College Cambridge, diesem Heiligtum des Intellekts, ausgerechnet über Kinderspiele zu reden. Woodland:  Wahrlich, ich sage euch, es sei denn, daß ihr euch umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich der Kunst kommen. Wittgenstein:  Wir sind ohnehin bereits auf dem Höllenpfad. Woodland:  Zur Kunst ? Lutyens:  Eher weg von ihr, in Richtung Philosophie. Hess (die zweite Flasche Wein öffnend): Seht euch also vor, daß ihr nüchtern bleibt. Ringelreihen ist zugleich ein Spiel, ein Lied und ein Tanz. Und es gibt dabei eine Strafe für das langsamste Kind. Lutyens:  Es kommt in die Hölle, oder ? Woodland:  Überrascht dich das ? »Was du tust, das tu’ schnell«, spricht der Herr. Johannes 13.27. Lutyens:  Kein Motto fürs Trinken von Wein. Diesem nimmt der Handruck, mit dem man einen Schnaps herunterkippt, alles. Adagio ist hier das Tempo fürs Riechen, fürs Kosten auf der Zunge, fürs Schmecken am Gaumen. Hess:  Es ist ein Motto für Musikkritik. Wittgenstein:  Jesus sagt es zu Judas. Hess:  Das werden Musikkritiker nicht nachschlagen. Sie haben keine Zeit. Lutyens:  Da ich ein langsames Kind war, landete ich immer wieder in der Hölle. So wird man eine moderne Komponistin. Thomas Mann soll gerade einen Roman darüber geschrieben haben, Doktor Faustus. Ich werde ihn lesen. Langsam. Auf Deutsch. Gespräch in Cambridge | 215

Hess:  Das langsamste Kind kommt nicht in die Hölle, denn bei Ringelreihen gibt es keine. Doch ich bin nicht überrascht, daß du es so erinnerst. Die Schwierigkeit ist immer, bei der Sache zu bleiben ; besonders hier und heute. Aber es wird euch gelingen, wenn ihr mir folgt. Lutyens:  Präludium. Nun die Fuge. Hess:  In vielen Kulturen hat die Musik Anteil einerseits am Tanz, andererseits an der Sprache. Prosaische Sprache wehrt sich gegen Wiederholung – nur wenn man uns nicht verstanden hat, sagen wir das selbe noch einmal –, während Tanz geformt wird durch Wiederholungen. Weil er aber Bewegung des lebendigen Leibs ist, dürfen die Wiederholungen nicht mechanisch sein. Sie erlauben Varianten, ja fordern sie, denn ohne Abwandlung würde Langeweile das Tun lähmen. Doch die Abwandlung bietet Varianten eines Musters, das durchläuft – nur wer Gespür für das Muster hat, kann sie als Varianten erleben und ausführen. Nur so jemand ist ein Tänzer. Woodland:  Bei der Sache bleiben heißt offenbar, einen steinigen Weg beschreiten. Gibt es einen angenehmeren Pfad ? Ich nähme in Kauf, daß er am Ende in die Hölle führte. Hess:  Er könnte nach Wien führen. Wittgenstein:  Ist das nicht dasselbe ? Woodland:  Das sagt der Lehrer der Unterschiede ? Wittgenstein:  Zu sagen, wo keine sind, gehört auch zur Lehre. Übrigens ist nicht nur Wien die Hölle. Auch der Himmel ist die Hölle. Er hängt voller Geigen ; den ganzen Tag spielt man dort Musik. Infernalisch. Hess:  Vom Walzer sollten wir sprechen, diesem Spiel der Geschlech­ ter aus dem 19. Jahrhundert. Er verbindet das Wiederholen mit dem Beschleunigen und konnte die Tanzenden in einen Rausch führen – Joseph Strauss komponierte einen Walzer mit dem Titel Delirien. Wittgenstein:  Mich macht er schwindlig, aber vielleicht ist der sogenannte Rausch nichts anderes als das. Eine Art Übelkeit. Das Bewußtsein trübt sich, die Orientierung geht verloren. Immerhin ist Delirien »Den Herren Hörern der Medizin an der Hochschule zu Wien« gewidmet ; das sah ich selbst auf dem Titelblatt, als mein älterer Bruder Paul diesen Walzer auf dem Klavier spielte. Hess:  Die Introduktion würde Richard Wagner zur Ehre gereichen. Dennoch hat Joseph Strauss Delirien für einen wirklichen 216 | Di yu di dee dee 

Schwof geschrieben, den Medizinerball im Sophiensaal. Respekt vor Wiens Tänzern ! Die Achterbahn bietet heute das kleine Delirium als fertige Technologie zum Konsum an. Wer sich damals im Walzertakt drehte, mußte es selber produzieren. Wittgenstein:  Sachen werden nicht gut davon, daß es schlechtere gibt. Hess:  Andere Komponisten schrieben freilich Walzer für imaginäres Tanzen. Sie spielten ein anderes Spiel. Wittgenstein:  Eines, bei dem es mir gleich besser geht. Hess:  Chopin war der Meister eines Doppelspiels. An der Oberfläche spielt er das gängige Spiel mit, aber darunter spielt er ein anderes. Lutyens:  Mit dem Walzer, als Genre, sind bestimmte Regeln festgelegt ; doch latent unterläuft Chopin sie. Hess:  Selbst im kürzesten und beliebtesten seiner Walzer, dem Minutenwalzer, ist ein solch subversives Spiel angelegt. (Sie setzt sich an den Blüthner und spielt das Stück ganz.) Woodland:  Was genau ist denn nun das gängige Spiel ? Und was ist das andere Spiel, von dem du sprachst ? Hess:  Zunächst das gängige Spiel. Seltsamerweise ist es bereits eine Abweichung, und zwar vom Gängigsten, dem Alltag. Aber diese Abweichung ist eben selbst gängig. Spiele lassen uns oft dem Alltag entkommen. Wir ziehen uns mit ihnen aus einer Sorte von Wirklichkeit zurück in eine andere. Der Ballsaal, in dem der Walzer im 19. Jahrhundert zu Hause war, bot eine solche andere Sphäre. An die Stelle der geradlinigen Bewegung des vom Verstand geleiteten, zielbewußten Einzelnen trat hier die Kreisbewegung eines Paars. Das im Heim und im Bureau fehlende Delirium fanden Mann und Frau in ihren Drehungen. Ihr Kreisen, in drei Schritten um die Körperachse, hatten sie auf einander abzustimmen. Und so bedurfte gerade der Rausch einer durchaus regelmäßigen, vorhersehbaren Form. Lutyens:  Wer die Regression will, mußte schon immer vereinfachen. Woodland:  Nur du, Myra, wirst immer komplizierter. Verleitet dich das College dazu, meine kleine Frage mit einer Vorlesung totzuschlagen, dieser Gattung der Spielverderber ? Ich sehne mich nach unserer Konversation in raschem Wechsel. Lutyens:  Inhaliere statt dessen das wohlige Studentenphlegma, das, von den Hörsälen herüber, auch hier in der Luft hängt. Gespräch in Cambridge | 217

Woodland:  Oder die eintönige Atmosphäre des Flachlands von Cambridgeshire ? Grauer Himmel und kahles Land, dessen Gemarkungen, wie mit dem Lineal gezogen, sich bis zum Horizont wiederholen. Lutyens:  Es dauert eine Weile, bis man die schwarze Schönheit der Fens entdeckt ; dir, Königin der Nacht, gelingt es sicher noch. Falls du aber deinen Widerwillen unbedingt aufrechterhalten möchtest, empfehle ich dir Vaughan Williams’ In the Fen Country, komponiert 1904, zehn Jahre nach seinem Bachelor in Geschichte, 2nd class, von Trinity. Die Tondichtung, wie man das wohl nennt, ist seine erste Meditationsübung in orchestraler Langeweile ; gleich auf Anhieb zweitklassig. Hess:  Danke, Elisabeth. In Cambridge sind Landschaft und akademischer Geist eins. Woodland:  Dem werde ich nicht widersprechen. Hess:  Kunstwerke von Rang überlassen sich nie einfach dem Impuls der Flucht vor dem Alltag, aus dem heraus wir zu den Spielen rennen. Sie halten ihn auf Abstand. In Chopins Des-Dur-Walzer wird das Markieren dieser Distanz selbst auf subtile Weise zu einem Spiel. (Sie nimmt die Noten vom Flügel ; was sie beschreibt, deutet sie jeweils kurz auf dem Instrument an.) Der Komponist setzt ein Perpetuum mobile in Gang. Die Kette der Achtelnoten umspielt den Ton As. Dies Rotationsmodell spielt auf das Kreisen des Walzertanzens an. Für die ersten beiden Takte läßt sich die Figuration auf ein Walzermetrum beziehen, nicht jedoch für die folgenden. Das Rotationsmodell besteht aus vier Achteln, es widerstrebt dem 3/4Takt. Und es setzt sich auch der Periodizität entgegen, die wir von einem Tanz erwarten. Die Takte 3 – 4 und 5 – 6 sind in der rechten Hand gleich. So gruppiert Chopin durch die Art und Weise, in der er das Rotationsmodell behandelt, statt der erwarteten 4 + 4 Takte vielmehr 2 + 4 + 2 Takte. Sobald die linke Hand in Takt 5 regelmäßig eintritt, wird die unregelmäßige Anordnung für einen Moment verdeckt. Aber es ergibt sich eine Spannung zur rechten Hand – die Begleitung hat entweder zu spät oder zu früh eingesetzt. Wenn aber die Achtelfiguration nicht wirklich tanzt, obschon sie auf die kreisende Bewegung des Walzers anspielt, dann versteht man sie besser als Versuch zu entkommen, als jene Flucht vor dem Alltag ins Spiel, 218 | Di yu di dee dee 

von der ich sprach, bevor ich unterbrochen wurde. (Sie spielt den Anfang des Stücks durch.) Molto vivace

b 3 & b b b b 4 >œ nœ œ œ œ nœ œ œ œ œ œ nœ œ œ œ œ œ œ œ nœ œ œ œ nœ œ œ œ leggiero œœ ? b b 43 œ œ ∑ ∑ ∑ ∑ bbb ° 6 b œ œ b œ œ ™ œ œ œ œ œ mœ nœ & b b b b œ œ nœ œ œ œ nœ œ œ œ œ œ œ œ œ

{

{

œœ ? bb b œ œ bb °

œœ œ

œœ œ

œ

œœ œ

œ

œœ œ

œœ œ

*

œ °

œœ œœ œ œ

œ

œœ œ

œœ œœ œ œ

*

œœ œ

* °

* °

* °

*

˙

Ÿ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ œ œ œ ∫œ œ œ nœ ˙™ ˙™ ˙™

Lutyens:  An dir ist eine Professorin verloren gegangen ! Schade für Cambridge. Chopins gebrochenes Tanzen – und mir scheint, ich habe auch ein gebrochenes Singen gehört, als du vorhin das Ganze spieltest. Hess (mit Blick in die Noten): In Takt 64 setzt Chopin zu einer Kantilene an. Aber sie bleibt Fragment, hängt in der Luft auf ihrem höchsten Ton. Ein Triller der rechten Hand auf As, dem Zentralton des Perpetuum mobile, folgt, und sodann dieses selber. (Sie spielt, mit einem Anflug von Parodie, von Takt 64 bis zum Schluß.) (Molto vivace)

b 3 ˙™ & b bbb 4

64

{

œ ˙

n œœ œœ Œ œ n œ œ bn œœ œœ ˙ œ Œ ? b b b 3 œœ œœ œ Œ ∑ ∑ ∑ ∑ b b4 œ ° * ° * ~~~~ 72 b & b b b b ˙ ™ nœ œ œ œ œ œ œ œ nœ œ œ œ nœ œ œ œ œ œ œ œ nœ œ œ œ nœ œ œ œ œ œ cresc. f œœ œœ œ œ ? bb b ∑ ∑ ∑ ∑ ∑ bb œ * ° 78 œ b œ œ ™ œ œ œ œ œ mœ nœ œ œ b œ b œ œ œ œ & b b b œ nœ œ œ nœ œ œ œ œ œ

{

{

œœ ? bb b œ œ bb °

œœ œ

œ

* °

œœ œ

œœ œ

œ

* °

œœ œ

œœ œ

œ * °

œœ œœ œ œ

œ

œœ œ

œœ œ

* °

Gespräch in Cambridge | 219

*

Zu dem Spiel, das drei Jahrzehnte zuvor, beim Wiener Kongreß, seinen Durchbruch erlebt hatte und der Bourgeoisie zur Sucht geworden war, trug Chopin im Jahr 1846 nicht bei. Statt dessen spielte er mit diesem Spiel. In Pariser Salons jener Zeit waren die Ohren fein genug dafür ; zu grob für das Spiel mit dem Spiel sind sie heute in den Lounges der Pariser Hotels, die Chopins Musik zur klingenden Tapete auswalzen. Woodland:  Und doch sitzt die Bourgeoisie nicht nur in der Hotellounge, sondern auch im Konzertsaal, in dem sie dir beim Spielen von Chopinwalzern, hoffe ich, konzentriert lauscht. Die Bourgeois und eigentlich niemand sonst sind unser Publikum. Gehören wir nicht sogar selbst zu dieser Klasse ? Hess:  Ich weiß nie so recht, wer zur Bourgeoisie zählt und wer nicht. Selbst die, von denen ich meine, sie müßten zu ihr gehören, verkleiden sich als etwas anderes. Woodland:  Und auch dafür hatte und hat die Bourgeoisie ja den Ballsaal. Denn er gibt nicht nur Spielen, die herumwirbeln lassen, Raum. Ebenso ist er der Ort von Maskenspielen. Hess: Und das imaginäre Gegenstück zum Maskenball findet sich nicht bei Chopin, sondern bei Schumann – Carnaval und Faschingsschwank aus Wien. (Sie spielt aus Faschingsschwank die ersten Takte.) Sehr lebhaft (M.M. h. = 76) . ˙ œ nœœ. b œœ. œœ ˙˙˙ ™ b3 n œ œ œ œ œ œ œ b œ n œ b œ œ œ œ ™ œ œœ & 4 œœ œœ œ œ œ œ œ nœ. ˙˙ b œœ œœ œ œ œ œ b œ. œ œ œ œœ œœ œ œ œ œœœ œ . . . f > > > > ? b b 43 œ ˙ ™ ˙™ bœ œ œ œ ™™ œ ˙™ ˙™ bœ œ œ œ œ ™ œ ˙ ˙™ b œ. œ. . œ˙ œ. ˙ ™ ˙™ b œ. œ. œ. œ˙ .

{

Wittgenstein:  Bin ich eigentlich nach Cambridge gekommen, damit man mich fortwährend nach Wien zerrt ? Hess:  Solange wir über Musik reden, wirst du das aushalten müssen. Nennt mir auch nur einen Komponisten von Cambridge. Woodland:  Sir Charles Villiers Stanford von Trinity College war der berühmteste. Hess:  Talent, und gerade Talent an Trinity, läßt Ludwig nicht gelten. Geadeltes musikalisches Talent verachtet er etwa so tief wie philosophische Konferenzen. In Betracht kommt für ihn nur Ge-

220 | Di yu di dee dee 

nie. Eine Ausnahme davon macht er für den k.u.k. Hoforganisten Josef Labor. Keinesfalls für Stanford und Vaughan Williams. Wittgenstein:  Vielleicht verkleiden sich auch die wahren Komponisten von Cambridge. Zum Beispiel als Philosophen. Lutyens:  Was das betrifft, stehst du außer Verdacht. Hattest du dir etwa Illusionen in dieser Richtung gemacht ? Woodland:  Illusionen sind das Nonplusultra aller Spiele. Illudere, lateinisch, eigentlich zunächst nur ein unschuldiges ›spielen in‹, ›an etwas hinspielen‹, ›umspielen‹. Dann aber, finsterer, ›jemanden oder etwas aufs Spiel setzen‹, ›sein Spiel mit jemandem treiben‹, ›täuschen‹, ›jemandem übel mitspielen‹. Die Vulgata verwendet es von den Soldaten, die Jesus als König der Juden verspotten, bevor er zur Hinrichtung geführt wird. Lutyens:  Deine Kenntnisse sind beeindruckend. Für eine Sängerin. Woodland:  Sängerinnen sind in der Kirche zu Hause. Daher auch im Lateinischen. Die moderne Welt, im Lateinischen schwach, kramt aus dem weiten Feld der Bedeutungen von illudere die Täuschung heraus, versteht sie endlich als Selbstbetrug. In der Illusion täuscht man sich. Sie ist die Maskerade seiner selbst, an die man glaubt. Es wird mit uns gespielt, aber wir selber sind es, die mit uns spielen und uns mitspielen. Übel. Hess (öffnet die letzte Flasche Wein und füllt die Gläser wieder): Bleib nüchtern ! Spiel ist eine Illusion nur so lange, wie wir sie als Illusion erkennen – die Drohungen der Kinder an Halloween, die Maskerade auf der Redoute, Lears Sterben und Tod auf der Bühne. Wenn jemand uns im Ernst Illusionen macht und wenn wir uns Illusionen machen, durchschauen wir sie nicht mehr als solche. Dann hat das Spiel aufgehört. Der Betrug funktioniert eben darum als Betrug, weil er für den Betrogenen kein Spiel mehr ist. Lutyens:  Könnte er aber nicht für den Betrüger ein Spiel bleiben ? Denk’ an den Heiratsschwindler, der einem halben Dutzend Frauen, die ihn ernst nehmen, Illusionen macht und das Ganze als Spiel genießt. Hess:  Wie wahr – und manchmal sogar komisch, zuweilen auch unheimlich. Es gibt offenbar kein Tun, das nicht, von irgendeinem absonderlichen Wesen, als Spiel vollführt werden könnte. Oder vielleicht muß das Wesen nicht einmal absonderlich sein. Katzen Gespräch in Cambridge | 221

sind es in der Regel nicht ; doch was die Katze als Spiel vergnügt, ist für die Maus wirklich bis zum Tod. Krieg kann Spiel, ein strategisches und taktisches, für den darstellen, der ihn führt, aber nicht für den, der von der Bombe zerrissen wird. Lutyens:  Mit der Harmlosigkeit unserer Beispiele hat es nun ein Ende. Schach, Tennis, Ringelreihen: In unseren Köpfen herrscht die Idee, daß wir miteinander spielen. Wechselseitigkeit, glauben wir, liege im Begriff des Spiels. Aber das ist eine Illusion. Hess:  Die wir durchschauen müssen. Der militärische Stratege spielt mit seinen Soldaten und mit den Zivilisten des Feindes, aber sie spielen nicht mit ihm. Liebe ist ein Spiel für Don Giovanni, doch nicht für Donna Elvira. Ein Dichter könnte in virtuoser Ironie oder Parodie mit Passagen der Bibel spielen, aber ein frommer Christ würde sich weigern, das Spiel mitzuspielen. Mit dem Wort Gottes ist es ihm so ernst, daß er bestreiten könnte, hier sei überhaupt ein Spiel zu spielen. Lutyens:  Spiel wäre dann gar keine Eigenschaft von Dingen, den sogenannten Spielen ; es wäre nur eine Einstellung zu Dingen. Und eine Haltung dieser Art, die spielerische eben, würde manchmal von anderen geteilt, manchmal nicht. Hess: Die Haltung, die sie erwarten, können Spieler anderen kenntlich machen. Dadurch werden diese anderen, wenn sie wollen, zu Zuschauern eines Spiels. Ein Rahmen markiert den Schein als Schein. Wir finden die Bühne gleichsam eingeklammert vor, durch einen Rand getrennt vom Rest des Lebens, obwohl Spieler innerhalb des Randes auf tausend Arten zu diesem Rest Stellung beziehen können. Woodland:  Würde ich noch wagen, irgend etwas allen Spielen nachzusagen, dann dies: sie beziehen sich aufs Leben. Schau dir das ganz und gar abstrakte, ganz und gar intellektuelle Spiel an, das Schachspiel, und du erkennst im Versuch, eine Figur zu schlagen, die Gewalt des Lebens, Verfolgung, Verteidigung, Vernichtung. Und um wieviel näher dem Leben als das Schachbrett ist doch die Bühne. Hess:  Nah – und doch getrennt durch den Rahmen. Er kann mit Händen zu greifen sein, ein Gebilde aus Holz, Metall, Stein, oder aber ungreifbar wie ein gemeinsames Vorstellen, eine gedankliche Klammer um eine Folge von Sätzen und Bildern. Handgreiflich ist 222 | Di yu di dee dee 

er, wenn Vivien Leigh im Old Vic die Cordelia spielt, ungreifbar hingegen, und doch nicht weniger wirksam, wenn ein Kind eine Fee spielt. Woodland:  Was tun diese Spielerinnen eigentlich ? Ich bin selbst eine von ihnen, in der Oper, und weiß es doch nicht. Lutyens:  Du spielst eine, die es nicht weiß. Hess:  Zur Strafe dafür geht meine Vorlesung in die nächste Runde. Es ist so: Die Fee gab es schon, im Kopf des Kindes ; Cordelia gab es schon, bei Shakespeare. Jetzt ahmen die Spielerinnen ihre Vorbilder nach, dank des Rahmens ohne Gefahr, einfach für diese gehalten zu werden. Wer bei Harrods wie Cordelia handelt und redet, wird für irre gehalten. Vivien Leigh landet nicht im Bedlam, weil einerseits wir für die Dauer der Aufführung zu uns sagen, das, was wir da sehen, sei Spiel, und weil andererseits sie in der Lage bleibt, sich selbst, Vivien Leigh, von Cordelia zu unterscheiden. Und doch muß sie zugleich vom Anfang bis zum Ende der Aufführung des Lear für uns Cordelia sein. Wittgenstein:  Wenn es sich um so etwas handelt, sagen wir nicht, jemand spiele mit jemandem oder mit etwas. Statt einer solchen Wendung, mit Präposition, gebrauchen wir das einfache Objekt. Grammatik des Spiels. Wir sagen, jemand spiele jemanden oder jemand spiele etwas. Woodland:  Etwas ? Wittgenstein:  Auch das. Es ist nicht immer eine Person, die jemand spielt. Kinder stürzen sich manchmal mit Lust in die Rolle des Wassers, des Feuers, des Windes. Lutyens:  »We see into the life of things.« Tintern Abbey. Wittgenstein:  Die Tiefsinnigen, wie Wordsworth, sind immer zu flach. Hineinblicken ist nicht genug. Man muß es annehmen, das Leben der Dinge. Im Ringelreihen, jedenfalls wie ich ihn in England gesehen habe, spielt jeweils ein Kind eine Pflanze. »Ringa-ring o’ roses, | A pocket full of posies, | A-tishoo ! A-tishoo ! | We all fall down.« Lassen sich alle fallen, dann wird das langsamste Kind zum angewurzelten »rosie«, dem Rosenbusch, um den die anderen Kinder tanzen. Lutyens:  Es gibt also wirklich keine Hölle dabei ? Hess:  Dabei bleibt es: Keine Hölle. Dein Gedächtnis hat dir einen Streich gespielt. Gespräch in Cambridge | 223

Lutyens:  Solange alles nur gespielt ist, kommt es auf den Unterschied, Hölle oder Rose, vielleicht gar nicht so sehr an. Woodland: Wagner hat ihn verwischt. Im Parsifal nennt er Kundry »Höllenrose«. Das heißt: Klingsor nennt sie so. In seinem Zaubergarten wird auch der sublimste aller Ringelreihen gespielt, mit seligen Blumenmädchen, doch grundiert von Hölle. Lutyens:  Das mag die Verwechslung erklären. Mein Vater war Wagnerianer, daher auch mein Vorname, Elisabeth mit ›s‹, wie im Tannhäuser, nicht mit ›z‹, wie in England üblich. Das Eheleben meiner Eltern kam mir oft so vor, als ahme es Szenen aus Wagner nach. Wittgenstein:  Ich werde euch einen Unterschied lehren. Noch einen. Es gibt Nachahmung und Nachahmung, von außen und von innen. Von außen: Wenn ein Kind einen Hund zeichnet, braucht es Abstand zu ihm. Es imitiert. Spiel würden wir das nicht nennen. Von innen hingegen: Ein Kind kann einen Hund nachahmen, indem es gleichsam in die Hundeseele und den Hundekörper kriecht. Auf dem Teppich herumrutschend und bellend, spielt es den Hund. Imitation auch hier, doch wie verschieden ist sie ausgefallen. Hess:  Letzten Freitag dirigierte Beecham Straussens Alpensinfonie in der Royal Albert Hall. Wenigstens dieser Bau hat ja im Krieg seines Führers kaum etwas abbekommen. Einige fanden die Musik erhaben, andere banal. Was auch immer sie ist: imitatives Spiel finde ich nicht in ihr. Der versierte Illustrator bleibt vor seinem Gegenstand. Er ist draußen, nicht in ihm. Als ich hingegen kürzlich wieder Debussys Préludes vornahm, ging mir endlich auf, weshalb der Komponist die Titel der einzelnen Stücke nicht über sie setzen ließ, sondern darunter. Er wollte der Freiheit der Phantasie im Spiel keine Schranke setzen. Woodland:  Daß die Spieler die Titel vorher kennen, läßt sich nicht vermeiden. Hess:  Das ist wahr. Und doch ist es eine Geste, die auf Spiel verweist – auf das Element der Ungebundenheit in ihm. Ein Titel über einem Stück nimmt ein äußeres Objekt als gegeben und bringt uns dazu, das eine mit dem anderen zu vergleichen  – eine Prozedur fern alles Spielerischen. Hingegen Debussy. (Sie setzt sich ein letztes Mal an den Flügel und spielt Debussy, Préludes, Buch 1, Nr. 6: Des pas sur la neige.) 224 | Di yu di dee dee 

plus lent

nœ œ œ œ œ œ œ œ nœ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ 4 &b4 pp pp œ 4 n ˙ œ ˙ ˙ œ #œ œ #œ œ˙œ œœ Œ œœ &b4 Œ Œ Œ .. .. . . ..

{

très lent

˙™ ˙™

Œ morendo



U w w w

U ˙˙˙ ™™ ? œ. œ. œ. œ œ .œ w . . w

ppp

(Nach dem Verklingen des letzten Akkords hält sie inne.) »Schritte im Schnee.« Musik geht nicht. Sie kann vielleicht ein Gehen auf Alpenfirn abbilden, von außen ; Strauss hat das gemacht, so gut, wie es sich machen läßt. Debussys Musik versetzt sich in den Gehenden. Nicht in seinen Geist, nicht in seine Seele, sondern in ihn selber. Sie verkörpert die Schritte. Wie Vivien Leigh Cordelia spielt, indem sie zu ihr wird, so spielt Debussys Musik Schritte im Schnee, indem sie zu ihnen wird. Wittgenstein:  Du hast recht. Jemanden oder etwas zu verkörpern ist ein anderer Zug im Spiel, und auch im Spiel der Musik. Was bedeutet es, wenn wir sagen, daß Musik, oder manche Musik, Spiel ist ? Durch eine Eigenschaft zu definieren, was alle Musik zu Spiel macht, ist der Weg der Gewalt. Der behutsame Weg ist die Suche nach vielen einzelnen Zügen, die sie zu Spiel machen können, nicht müssen. Woodland:  Aber ist das nicht ein Zirkelschluß ? Lutyens:  Eben das. Die Aufforderung, nicht zu denken, sondern zu schauen, ist brüchig. Das Entweder–Oder versandet in Widersinn. Wir haben schon gedacht, wenn wir schauen. Es gibt unendlich viel, das wir anschauen könnten. Warum schauen wir einen Walzer von Chopin an ? Weil wir schon dachten, bevor wir schauten, dies könne ein Beispiel für Musik als Spiel sein. Das ist der Zirkel. Denkende Tiere, die wir sind, können ihn nicht vermeiden. In ihm drehen wir uns, tanzend oder holpernd ; er umschreibt das Spiel der Menschen. Ihr wirkliches Wesen. Wittgenstein:  Ich verstehe dich nicht. Lutyens:  Ich verstehe mich. Das genügt. Wittgenstein:  Was für ein Gedanke. Ich werde ihn mir anschauen.

Gespräch in Cambridge | 225

KNOTEN

Thus with most careful devotion Thus with precise attention To detail, interfering preparation Of that which is already prepared Men tighten the knot of confusion Into perfect misunderstanding T. S. Eliot

 227

NACHWEISE

›Laut denken‹, unveröffentlicht. ›Livre de Prudence. Gespräch in Padua‹, unter dem Titel ›Einen Gegenstand durchdenken. Gespräch in Padua‹, Topologik, Sondernummer 26 (Dez. 2019/Jan. 2020), 50–59. ›On le forcera. Gespräch in Paris‹, unveröffentlicht. ›Arkona. Gespräch auf Rügen‹, unter dem Titel ›Arkona. Gespräch über die Mythologie‹, Athenäum XXVI (2016), 161–174. ›Ratten. Gespräch in Wien‹, unter dem Titel ›Der Ursprung des Vorurteils. Nachrede zum Zauberberg‹, Variations XXIV (2016), 191–202. ›Aufgerissene Augen. Gespräch in Liverpool‹, unter dem Titel ›Starke Einbildungskraft. Gespräch über Chatwin‹, in Musik im Zusammenhang. Festschrift Peter Revers zum 65. Geburtstag, hg. v. Klaus Aringer, Christian Utz u. Thomas Wozonig, Hollitzer, Wien 2019, 845–855. ›Wolframus. Gespräch in Erfurt‹, unter dem Titel ›Wolframus. Gespräch in St. Marien zu Erfurt‹, Lettre International 126 (Herbst 2019), 78–83. ›Katzengold. Gespräch in Walden‹, unter dem Titel ›Thoreaus Cottage. Eine Philosophie der Gestaltung‹, in Philosophie des Designs, hg. v. Daniel Martin Feige, Florian Arnold u. Markus Rautzenberg, Transcript, Bielefeld 2019 (Schriftenreihe des Weißenhof-Instituts zur Architekturund Designtheorie), 33–52. ›Anguilla. Gespräch in Lyon‹, unveröffentlicht. ›Venere d’Urbino. Gespräch in Florenz‹, unter dem Titel ›Venere d’Urbino. Florentiner Gespräch über die Schönheit‹, in Neue Literatur  229

2017/2018, hg. v. Anna Maniura u. Matthias Deußer, Frankfurter Verlagsgruppe, Frankfurt am Main/London/New York, NY 2017, 253–269. ›Di yu di dee dee. Gespräch in Cambridge‹, unter dem Titel ›Music as Play: A Dialogue‹, in Virtual Works – Actual Things: Essays in Musical Ontology, hg. v. Paulo de Assis, Leuven University Press, Leuven 2018 (Orpheus Institute Series), 115–133.

230 | Nachweise 

BEGRIFFSREGISTER

Allegorie  35, 63, 93, 162, 166 Anfang  31–32, 72, 99, 112, 138, 174, 197 Appetit  29, 163–164, 175–176 Arbeit  48, 69, 85, 95–96, 100, 110, 115, 119, 124, 138, 142, 153 Aufklärung  48, 60, 75–82, 87 Aufmerksamkeit  100, 188–191, 194 Bedeutung  28, 44, 61–62, 66–69, 131, 160, 180, 204, 207, 221, 225 Bedürfnis  129–133, 137, 140 Begehren  40, 60, 65–66, 134, 145, 159–165, 169, 173–177, 182–183 Begriff  35–36, 50, 77, 200–204, 222 Bewegung  27, 32, 35, 52–53, 107, 110, 118, 125, 131, 137, 172, 182, 188, 214–218 Bild  29, 33–36, 60–61, 68, 91, 93, 95–96, 105, 110, 114, 120–121, 125– 126, 144, 165, 170–171, 179–195, 203, 214, 222, 225 Blick  35, 39, 51, 57, 62, 64–65, 89, 94, 96–97, 99, 101, 105–115, 120– 122, 127, 135, 142, 144, 158–159, 163–165, 175, 178, 183–186, 190– 193, 223 Bourgeoisie  110, 180, 220 Buch  23–34, 47–48, 76–78, 92, 96, 100–102, 110–111, 126, 133, 136, 141, 146–147, 159, 166–167, 173, 180, 197–198 Bühne  35–36, 44, 96, 122–124, 209–212, 221–222

Charakter  68, 96, 103, 105–126, 208 Definition  116, 179, 200, 225 Denken  23–37, 39–40, 44, 51–52, 67–69, 76–77, 83–88, 99, 123, 138, 148–149, 202, 214, 225 Deuten  61–69, 120–122 Dialektik  26, 111, 121–122, 149 Diskretion  108, 142, 160, 174 Dogma  68, 77, 106, 111 Dressur 130 Dummheit  48–49, 79, 172 Ehrfurcht  128, 185–187 Eigensinn  111–112, 116, 124 Einbildungskraft  66, 91–104, 133, 154, 160, 169–170, 175, 192, 210, 224 Einfachheit  29, 32, 54, 59, 62, 103– 104, 136, 139–140, 177, 217 Einheit  26–28, 82, 86–87, 105, 110, 120–121 Einsamkeit  44, 79, 127–128, 136– 137, 141, 174 Eitelkeit 136 Ekel  41, 174 Ende  30–34, 37, 54, 65–66, 71–72, 75, 97–98, 101, 104, 110, 118, 121, 126, 132, 167, 173, 177, 194, 205, 213, 216 Enthusiasmus  71, 152 Enttäuschung  41–42, 54, 126, 128, 139, 143, 173, 180, 192, 195 Erfahrung  54, 79, 84–87, 95–99, 147–148, 157, 173–174, 185–186, 192–193  231

Erinnerung  72, 118, 155–157, 169, 184, 216 Erkenntnis  40, 93, 100, 113–114, 117, 128, 147, 162, 207, 213, 221–222 Erklären  25–26, 30–31, 36, 48, 60, 67, 69, 83, 97, 119, 128, 153, 177, 202–203, 209 Ernst  35, 66–67, 70, 83, 118–119, 172, 202, 221–222 Erotik  161–162, 166 Ersatz  25, 112, 140, 152–154, 163, 170, 176, 203 Erwartung  41, 79, 127, 180, 218, 222 Erzählen  50–52, 61, 64–69, 100– 104, 118, 132, 170–171 Erziehung  46, 48–49 Exhibitionismus  159–160, 164–165 Fiktion 103 Form  87, 99–100, 122, 127–144, 181, 188, 192–193, 204, 207, 216–217 Fortschritt  52–53, 75–76, 84, 199 Freiheit  30, 32–35, 39, 42, 47–49, 55, 59, 64, 103–104, 119, 122, 127, 133–135, 137–139, 147, 171, 181–182, 193, 224 Freude  33, 44, 74, 154–157, 162 Gaffen  158–159, 170, 186, 193 Gattung 164 Geld  25, 63, 85–87, 90, 123–124, 135, 143, 150, 152, 154, 171, 176–177, 203, 209 Gemeinschaft  49, 52–54, 83 Genuß  95, 145–164, 168, 172, 174, 177–178, 221 Geschäft  25, 137, 152–156 Geschichte  52–53, 61, 75, 88–89, 116, 130 Gesellschaft  45, 52, 85, 124, 126, 128–129, 132, 135–137, 141, 143, 160 232 | Begriffsregister

Gewalt  46, 49, 52–53, 56, 69, 120, 213, 222 Gleichheit  45–46, 49, 85, 147 Gott  36, 55, 81, 105–106, 118, 132– 133, 222 Grenze  45, 75, 142, 201, 210, 213, 215 Haltung  184, 188, 222 Haß  54, 87, 94, 157, 192 Haut  96–97, 123, 131, 140, 150, 160– 161, 166, 192 Hoffnung  40, 143–144, 161, 187, 200 Idee  25, 75, 77, 118, 120, 123, 127– 128, 132, 147, 160 Illusion  98, 221–222 Improvisieren  154, 208–209, 214 Individuum  45, 53–54, 82, 86, 109, 122, 124–125, 164 Ironie  49–50, 63, 66, 70–71, 74, 80, 114, 131, 136, 186, 222 Kausalität  119, 156 Klugheit  26–27, 30, 76 Komik  113–114, 161, 166–167, 212, 221 Kommunismus  107–111, 117, 121 Können  200, 206–209 Konsum  151–152, 173, 217 Körper  26, 48, 65–66, 128, 133–134, 141, 150, 159, 162–164, 170–171, 174–176, 183, 216–217, 224–225 Krieg  75, 93, 136–137, 222, 224 Kritik  42, 54, 63, 76, 151, 181, 194 Kulinarik  162, 166 Kunst  60, 62, 93–94, 102, 107–108, 150–152, 182, 193, 206, 209–211, 215, 218 Leben  27, 32, 36–37, 41, 46, 48, 56, 63, 68–69, 71, 74–75, 97, 110, 122,

124, 128–131, 138–139, 153, 157, 163, 169, 171–173, 180, 182, 192–193, 203–204, 216, 222–223 Leidenschaft  23, 176, 180 Leistung  28, 82, 110, 130–131, 160 Lesen  23, 26–29, 31, 34, 45, 50, 69, 76–78, 81, 83, 92, 95, 97, 100, 106, 110, 120, 126, 136, 143, 146–147, 150, 166, 170, 181–184, 187, 193– 194, 215 Liebe  25, 35, 60, 63, 69, 71, 94, 118, 121, 148, 150, 167, 170–177, 222 Lüge  61, 98, 100–102, 125, 135, 142, 186 Lust  118, 145–178, 212, 223 Macht  51, 66, 75, 86, 94, 118, 159, 188, 201, 212–213 Masse  41, 109–110, 135 Materialismus  111, 119 Menschheit  47, 62, 66, 80–81, 115, 135 Metaphysik  36, 131, 158 Methode  40, 62, 146–147 Mitgliedschaft 135–136 Moral  66, 82–83, 88, 108, 124, 171–172, 204 Motiv  48, 156–157 Musik  148, 160, 187–189, 197–225 Mythos  57–72, 209 Nachahmung  180–181, 187, 198, 211, 223–224 Namen  51, 63, 73–74, 118, 124, 136, 152, 164, 166, 179, 224 Natur  24, 45, 61, 102–103, 113, 127– 132, 135, 139, 143, 153, 166, 181, 205 Nuance  27, 92, 176 Nüchternheit  40–41, 138, 152, 215, 221 Obszönität  35, 159, 180

Öffentlichkeit  42, 87, 120–121, 124, 157 Ordnung  42, 46, 64, 146, 161, 169, 218 Philologie  58, 61, 67 Philosophie  25, 35–37, 40, 52–55, 123, 125, 132, 143, 145–149, 156–158, 164, 166–167, 172, 174–178, 184, 187–189, 192, 198–199, 201–203, 207, 213–215, 220–221 Poesie  71–72, 100, 119, 187, 201, 210 Politik  29, 42, 47, 49, 75, 78, 81, 85, 87, 115, 117, 119, 122, 189, 194 Prädikat  27–28, 186 Publikum  93, 107, 118–120, 160– 161, 172, 209, 211, 213, 220 Raum  27, 130, 135, 141–142, 197–199 Recycling  129, 132 Regel  63, 68, 74, 82, 202–203, 208, 217–218 Reinheit  44, 58–59, 117–122, 133, 170–172 Religion  59, 69, 100, 108, 117, 185, 204 Revolution  39, 44–56, 105–119, 122–125 Romantik  63, 71, 75, 167–168 Ruhe  42, 71, 106–107, 125, 136, 194–195 Satz  27–28, 68–69, 76, 81–82, 214 Schauspiel  94, 106–109, 112–113, 116–118, 121–126, 159–160, 165, 172 Schein  37, 64, 111, 125, 192, 208, 222 Schicksal  41, 110, 124 Schlaf  25, 39, 64, 106, 127, 194–195 Schmerz  42, 123, 167, 179 Schmuck  30, 73, 114, 139–140, 142 Schönheit  34–35, 98, 133, 139–141, 159, 173, 175–176, 179–195, 218 Begriffsregister | 233

Schrift  26–27, 72, 147, 169 Schuld  52–55, 83, 88, 102, 122, 184, 193 Schweigen  57, 143, 148, 154, 167, 178, 190, 207 Seele  27, 39, 52, 61–62, 69, 97, 133, 138, 141, 171, 224–225 Sexualität  98, 160–166, 171–177, 212 Sinnlichkeit  29, 151, 161, 212–213 Spiel  23, 57, 64, 109, 113, 122–123, 159, 171–172, 180, 186, 189, 195, 197–225 Spontaneität 208 Sprache  37, 39, 41, 72, 78, 147, 168– 169, 172, 177, 190, 198, 216 Staat  24–25, 45, 112, 135–137 Stimme  28, 33, 48, 168, 197, 205– 207, 211, 213 Stoff  132, 181, 188 Strafe  48–49, 143, 215 Streit  28, 49, 74–76, 194–195 Subjekt  27–28, 79, 81, 96, 190 Tanz  24, 69, 73, 147, 182–183, 215– 219, 223, 225 Terror  49, 56 Theorie  33–34, 59, 76, 80, 84, 87, 123, 147, 156, 213, 215 Tier  39–40, 71, 130, 135, 139, 164– 165, 194, 225 Tod  40–41, 44–45, 48, 63, 65, 83, 88, 93, 101, 172, 177, 194, 205, 212, 221–222 Traum  62, 98–99, 123, 146, 169, 171–172, 209 Trieb  45, 69, 164, 181 Typus  82, 113, 118, 191 Unbewußtes  64–65, 68, 130

Ursprung  23, 73, 75, 87–89 Urteil  76–77, 107, 140, 150, 187 Verdacht  27, 30, 44, 48–51, 53, 55, 84, 107, 137 Verführung  54, 168, 185, 193, 213 Vergangenheit  145, 155 Vergleich  58, 60, 79, 184–187, 200, 214, 224 Vernunft  37, 39–56, 76, 82, 114 Vertrag  45–46, 153 Verzicht  46, 138–139, 192 Vornehmheit  117, 149 Vorurteil  43, 59–60, 73–90 Voyeurismus 164–165 Wahn  49, 62, 77, 118 Wahrheit  26, 28–29, 33–36, 55, 75– 76, 88, 98, 100, 102, 113, 135–136, 142, 171, 174, 177, 191 Wahrnehmung  85, 99, 151, 158, 165, 190, 194 Wissen  36, 69, 75, 87, 92, 98, 103, 139, 151, 159, 170, 177, 201, 203 Wissenschaft  36, 54, 59–64, 100, 162 Zärtlichkeit  113, 175 Zeit  25–27, 44, 67, 69–70, 124–126, 129, 140, 144, 155, 182–183, 185, 212, 215 Zufall  116, 194, 200, 205, 208–209 Zukunft  40–41, 76, 99, 121, 138, 155 Zwang  47, 123–124, 133–134, 138, 141, 143, 175, 188, 193, 215 Zweck  30–31, 86, 117, 134, 139–141, 201 Zweifel  76, 84, 87, 102, 113, 134, 188 Zynismus  40, 46, 186–187, 191