Klassik und Klassizismen in römischer Kaiserzeit und italienischer Renaissance: Herausgegeben:Schindler, Claudia; Föcking, Marc 9783515128346, 9783515128353, 3515128344

So positiv das Etikett 'Klassik' und 'Klassiker' besetzt ist, so abschreckend wirkt das des 'Kl

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German Pages 325 [330] Year 2020

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Inhaltsverzeichnis
(Marc Föcking / Claudia Schindler) Einführung
Invented traditions des Klassischen in der Frühen Neuzeit
(Anja Wolkenhauer) Erfinderdenken, typologische Konzepte, Traditionalismus und „invented traditions“ als Konzepte zur Bestimmung des Klassischen in der Vormoderne
(Florian Mehltretter) Klassizität, Kanon und Wissensordnung in L G Giraldis Dialogen über die Dichter
Von Klassikern und Klassizisten
(Dennis Pausch) Plinius’ Bedeutung für Cicero oder: die Kanonisierung seiner Korrespondenz in den Episteln des Epigonen
(Meike Rühl) Improvisation und Innovation: Statius’ Silven auf dem Weg zum Klassiker
(Hartmut Wulfram) ‚Nie wieder Avignon‘: Die Adynata in Petrarcas poetischer Epystola 3,28
(Gerhard Regn) Petrarkismus und Klassizismus im italienischen Cinquecento
(Dietrich Scholler) Bembos Rime im Horizont des Renaissanceklassizismus
Klassik, Klassizismus und Epos
(Florian Schaffenrath) Vom ‚Erzklassizisten‘ zum verhinderten Klassiker. Silius Italicus im Blick der Forschungen der letzten 50 Jahre
(Christine Schmitz) Ovidische Momente in Silius’ Punica. Klassizismus als Orientierung an klassisch gewordenen und werdenden Modellen
(Christiane Reitz) Klassik, Klassizismus und Exemplarität in Silius’ Punica
(David Nelting) Canto l’arme pietose e’l capitano … Torquato Tassos poema eroico zwischen Klassizismus und Modernismus
Die Klassizität ‚kleiner‘ Gattungen
(Nicola Hömke) Pius culex – paraklassizistische Parodie und Literaturkritik in Ps -Vergils ‚Mücke‘
(Petra Schierl) Bukolik als Reflexionsraum literarischer Dynamiken: Calpurnius, Nemesian und der Klassiker Vergil
(Susanne Friede) Klassizistische und antiklassizistische Funktionen des Elegischen in lyrischen Texten des Cinquecento
Gesamtbibliographie
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Klassik und Klassizismen in römischer Kaiserzeit und italienischer Renaissance: Herausgegeben:Schindler, Claudia; Föcking, Marc
 9783515128346, 9783515128353, 3515128344

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Klassik und Klassizismen in römischer Kaiserzeit und italienischer Renaissance Herausgegeben von Marc Föcking und Claudia Schindler

Hamburger Studien zu Gesellschaften und Kulturen der Vormoderne Band 9 Alte Geschichte Franz Steiner Verlag

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Hamburger Studien zu Gesellschaften und Kulturen der Vormoderne Alessandro Bausi (Äthiopistik), Christof Berns (Archäologie), Christian Brockmann (Klassische Philologie), Christoph Dartmann (Mittelalterliche Geschichte), Philippe Depreux (Mittelalterliche Geschichte), Helmut Halfmann (Alte Geschichte), Kaja Harter-Uibopuu (Alte Geschichte), Stefan Heidemann (Islamwissenschaft), Ulla Kypta (Mittelalterliche Geschichte), Ulrich Moennig (Byzantinistik und Neugriechische Philologie), Barbara Müller (Kirchengeschichte), Sabine Panzram (Alte Geschichte), Werner Rieß (Alte Geschichte), Jürgen Sarnowsky (Mittelalterliche Geschichte), Claudia Schindler (Klassische Philologie), Martina Seifert (Klassische Archäologie), Giuseppe Veltri ( Jüdische Philosophie und Religion) Verantwortliche Herausgeberin für diesen Band: Claudia Schindler Band 9

Klassik und Klassizismen in römischer Kaiserzeit und italienischer Renaissance

Herausgegeben von Marc Föcking und Claudia Schindler

Franz Steiner Verlag

Umschlagabbildung: Sechs toskanische Dichter, anonyme zeitgenössische Kopie nach Giorgio Vasari, ca. 1575. © Bibliotheca Reiner Speck, Köln Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2020 Druck: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12834-6 (Print) ISBN 978-3-515-12835-3 (E-Book)

Inhaltsverzeichnis Marc Föcking / Claudia Schindler Einführung

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Invented traditions des Klassischen in der Frühen Neuzeit Anja Wolkenhauer Erfinderdenken, typologische Konzepte, Traditionalismus und „invented traditions“ als Konzepte zur Bestimmung des Klassischen in der Vormoderne

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Florian Mehltretter Klassizität, Kanon und Wissensordnung in L G Giraldis Dialogen über die Dichter

43

Von Klassikern und Klassizisten Dennis Pausch Plinius’ Bedeutung für Cicero oder: die Kanonisierung seiner Korrespondenz in den Episteln des Epigonen

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Meike Rühl Improvisation und Innovation: Statius’ Silven auf dem Weg zum Klassiker

97

Hartmut Wulfram ‚Nie wieder Avignon‘: Die Adynata in Petrarcas poetischer Epystola 3,28

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Gerhard Regn Petrarkismus und Klassizismus im italienischen Cinquecento

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Inhaltsverzeichnis

Dietrich Scholler Bembos Rime im Horizont des Renaissanceklassizismus

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Klassik, Klassizismus und Epos Florian Schaffenrath Vom ‚Erzklassizisten‘ zum verhinderten Klassiker Silius Italicus im Blick der Forschungen der letzten 50 Jahre

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Christine Schmitz Ovidische Momente in Silius’ Punica Klassizismus als Orientierung an klassisch gewordenen und werdenden Modellen

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Christiane Reitz Klassik, Klassizismus und Exemplarität in Silius’ Punica

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David Nelting Canto l’arme pietose e’l capitano … Torquato Tassos poema eroico zwischen Klassizismus und Modernismus

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Die Klassizität ‚kleiner‘ Gattungen Nicola Hömke Pius culex – paraklassizistische Parodie und Literaturkritik in Ps -Vergils ‚Mücke‘ 247 Petra Schierl Bukolik als Reflexionsraum literarischer Dynamiken: Calpurnius, Nemesian und der Klassiker Vergil

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Susanne Friede Klassizistische und antiklassizistische Funktionen des Elegischen in lyrischen Texten des Cinquecento

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Gesamtbibliographie

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Einführung Marc Föcking / Claudia Schindler (Hamburg) Kaum ein Produkt der modernen Welt, das nicht in der Variante ‚classic‘ im Angebot wäre: Ob Nescafé, Hamburger oder Coca-Cola, Bugatti oder Harley-Davidson, ob Kleidungszuschnitte in der Herrenmode – sie alle gibt es auch in ‚classic‘, wenn nicht gar in ‚ultra classic‘ Sportveranstaltungen schmücken sich mit dem Begriff ebenso wie Shampoo, Tätowierstudios und die PlayStation Und für Wanderfreunde bietet ein deutscher Veranstalter die Annapurna-Runde ‚classic‘ an, die wohl deshalb so heißt, weil es sich um einen reizvollen, vor allem aber über einige Jahrzehnte etablierten touristischen Trampelpfad handelt: eben um die ‚klassische‘ Route, die nach wie vor für viele den Einstieg ins Himalaya-Trekking darstellt Während der Begriff des ‚classic‘ und des ‚Klassischen‘ nach wie vor in aller Munde ist und sich werbewirksam auf jede nur erdenkliche Ware der modernen Welt applizieren lässt, käme wohl kein Produktmanager auf den Gedanken, sein Produkt als ‚klassizistisch‘ anzupreisen Verbindet sich mit dem Begriff des ‚Klassischen‘ das Gefühl, etwas Gediegenes, Zuverlässiges, lange Etabliertes zu erwerben, so gilt etwas, das man als ‚klassizistisch‘ anspricht, als zweitrangig, als unoriginell, weil unoriginal, als epigonal, sogar als minderwertig Dieser Makel haftet besonders fest an sämtlichen Gegenständen der Kunst, wenn sie mit dem eher umgangssprachlich gebrauchten Adjektiv ‚klassizistisch‘ belegt werden Gemälde, Statuen, Musikstücke oder Werke der Literatur: Treten sie als ‚klassische‘ Werke auf, so wird man sie ehrfürchtig anstaunen Gelten sie jedoch als ‚klassizistisch‘, so wird man eher an ihnen vorbeigehen und sich nicht weiter mit ihnen befassen wollen: denn sie können ja den Intellekt durch ihre Originalität nicht herausfordern, da ihre Haupteigenschaft zu sein scheint, bereits Dagewesenes in einer schwächeren Variante zu reproduzieren Indes hat die pejorative Note, die dem Begriff des Klassizistischen und seinem dazugehörigen Substantiv, dem Klassizismus (auch wegen seiner unangenehmen –ismus-Bildung) anhaftet, die Tendenz, den Blick auf ein Phänomen zu verstellen, das schon allein aufgrund seiner Frequenz eine gewisse Beachtung für sich beanspruchen darf Klassizismus, eine zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts aufkommende, zu-

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nächst wertneutral oder gar positiv gebrauchte Wortprägung,1 lässt sich grundsätzlich als intentionale stilistische Haltung in Abhängigkeit und Nachahmung von als verbindlich gesetzten Modellen beschreiben Ihre Modelle beziehen Klassizisten aus einer historisch vorgängigen, als zeitlos gewerteten Kultur und ihren Artefakten Sie benötigen den historischen Grundkonsens einer Poetik der Identität als Grundmuster eines Dichtungsverständnisses, das bis zum späten achtzehnten Jahrhundert nicht die ausgestellte Originalität des Einzeltextes, sondern sein Maßnehmen an mustergültigen, ‚klassischen‘ Modellen forderte Erst die moderne, grosso modo seit der Romantik gültige Großwetterlage einer Poetik der Differenz degradiert das ‚Klassizistische‘ zur geistlosen Replik Wenn aber das ‚Klassische‘ bis in die moderne Sprache der Werbung weiterhin Wertschätzung erfährt, dann liegt das an einer ebenfalls auf das neunzehnte Jahrhundert zurückgehenden Begriffsverschiebung weg von einer nachahmungsfähigen Modellhaftigkeit hin zum Postulat des Vertrauten, des Bewährten, der Reife und der einer Neuerung nicht bedürftigen „ewigen Form“ So hat Augustin Sainte-Beuve 1850 in seinem Aufsatz „Qu’est-ce qu’un classique“ das ‚Klassische‘ aufgefasst2, und so rettet sich das ‚Klassische‘ auch in Epochen, denen imitatio ein Gräuel ist: Von einem ‚Klassiker der Romantik‘ lässt sich ebenso sprechen wie von der ‚klassischen Moderne‘ oder von ‚modern classics‘ wie in der gleichnamigen Buchreihe des Penguin-Verlags mit Werken wie Orwells Animal Farm, Nobokovs Lolita oder Flemings From Russia with Love In Antike wie Früher Neuzeit bis ins achtzehnte Jahrhundert jedoch eröffnen ‚Klassiker‘, verstanden als zeitlos modellhaft für Dichtung überhaupt, literarische Reihen von Werken, die sich imitativ, freilich in einer gewissen zeitlichen Versetzung, auf einen ‚klassischen‘ Anfang beziehen und so in Verfahren wie Selbstverständnis ‚klassizistisch‘ sind Der Anschluss an ein als verbindlich anerkanntes und bewertetes ‚klassisches‘ Modell impliziert stets eine doppelte Autorisierung, die des Archegeten als ‚Klassiker‘, aber auch des eigenen Produkts in der Partizipation an dessen Ruhm ‚Klassizismus‘ ist somit stets ein relationaler Begriff Dies gilt für Kunst und Musik, und es gilt in besonderem Maße für die Literatur, mit der sich dieser Band beschäftigt Die verbindlichen Modelle, an denen sich die Verfasser klassizistischer Werke orientieren, leiten sich aus einer kulturellen Praxis der Autorisierung ab, die in der Regel in einem größeren oder geringeren Umfang regional beschränkt sein wird: Das bedeutet im größeren geographischen Raum, dass sich ein europäischer Klassizismus an anderen Modellen orientieren wird als ein chinesischer, im kleineren, dass ein italienischer Klassizist neben allgemein anerkannten europäischen Modellen möglicherweise auch an italienische ‚Klassiker‘ anschließt, deren Status regional beschränkt ist

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Zur Begriffsgeschichte vgl Thomas Gelzer: Klassizismus, Attizismus und Asianismus In: Le classicisme à Rome aux Iers siècles avant et après J -C Hg von Hellmut Flashar Vandoeuvres, Genf 1979, S 4–13 Augustin Sainte-Beuve: „Qu’est-ce qu’un classique“ In: Causeries du Lundi 16 Bde Paris o J Bd III, S 55

Einführung

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Analog hingegen dürften die Mechanismen funktionieren, vermittelst derer sich die Autorisierung der Referenztexte, zumal im Falle des literarischen Klassizismus, vollzieht Grundlage und Bezugspunkt für einen literarischen Klassizismus ist stets ein Kanon von Texten, die als ‚klassisch‘ anerkannt wurden Bei der Festlegung dessen, was als ‚klassisch‘, als ‚kanonisch‘ und somit als ‚modellhaft‘ zu gelten hat, spielen verschiedene Faktoren eine Rolle Kanonisierend wirkt zum einen die Ausbildung im Schul- sowie im akademischen Unterricht Zum anderen kann der Literaturbetrieb von Akademien und Schauspielhäusern einen Einfluss darauf haben, welche Texte als ‚kanonisch‘ oder ‚klassisch‘ gelten können Wichtig für die Konstitution literarischer Kanons ist weiterhin etwas, das man als ‚editoriale Kanonbildung‘ bezeichnen kann: Ob ein Autor oder ein Werk als ‚klassisch‘ und referenzierbar einzustufen ist, kann auch davon abhängen, wie oft es ediert, kommentiert, in Florilegien und Anthologien aufgenommen wurde So beruhte die Autorisierung des Canzoniere Petrarcas als eines volkssprachlichen Klassikers ganz wesentlich auf der editorischen Initiative von Aldo Manutio, den von Pietro Bembo edierten Canzoniere 1501 in einer Taschenbuchreihe herauszugeben, in der auch antike Klassiker erscheinen Poetologische Traktate wie die Poetik des Aristoteles oder Horazens Pisonenbrief (die sogenannte Ars poetica) formulieren schließlich verbindliche oder vermeintlich verbindliche Normen, die sich wiederum an klassischen Referenztexten orientieren oder ihre Beobachtungen an bestimmten Modelltexten verifizieren, die dadurch den Status von Klassikern erlangen: Dem Horaz gelten die im ersten vorchristlichen Jahrhundert längst schon zu Klassikern avancierten Gedichte Homers als Referenztexte für vorbildhafte Epen Aristoteles entwickelt seine Tragödientheorie zu größeren Teilen anhand des Oidipus Tyrannos, der dadurch den Rang eines Musterdramas erhält Die Poetiken können dabei durchaus miteinander konkurrieren und unterschiedliche Normen festsetzen Inwieweit sie normbildend sein können, hängt wiederum von ihrem Wirkungsgrad ab: Dass ein Text einschlägig ist, kann sich überregional über einen längeren Zeitraum hinweg als communis opinio etabliert haben; es kann jedoch genauso gut regional und zeitlich beschränkt sein Zugleich kann es Vorstöße geben, die Normativität einer Poetik zu hinterfragen, wie es etwa im Anti-Aristotelismus der Renaissance geschieht Ein wesentliches Merkmal des Klassizismus ist es, dass seine Repräsentanten sich in hochautoritative literarische Traditionen einschreiben, wie auch immer diese konstruiert sein mögen Sie verwenden dabei autorisierte Stil- und Gattungsmerkmale, die als konventionalisierte ‚Klassizismus-Signale‘ fungieren und die tiefenstrukturellen Eigenschaften von Klassizismus indizieren können, dies aber nicht zwingend tun müssen Explizite und implizite Verweise auf die klassischen Referenztexte sind ein häufiger Marker klassizistischer Texte Klassizismus-Signale sind jedoch nicht in jedem Text in gleicher Dichte vorhanden Sie lassen sich quantitativ skalieren und mit anderen (a-klassizistischen) Elementen mischen Der ‚Klassizismus-Grad‘ eines Textes kann sich daher nach einem ‚Mehr‘ oder ‚Weniger‘ bemessen lassen Hinzu kommt, dass Gattungen mit unterschiedlich starken Normrestriktionen ausgestattet sind, so

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dass sie quantitativ unterschiedliche ‚Signalmengen‘ bereitstellen Die antike und neulateinische Epik zum Beispiel ist in ihren generischen Vorgaben eher restriktiv, die italienische Epik des frühen sechzehnten Jahrhunderts hingegen ist durch ihre hybride Basis aus mittelalterlicher Karls-Geste und Roman courtois weniger orientiert an antiken Normtexten, was sich mit dem Schub der Rezeption der Aristotelischen Poetik, in deren Gefolge auch die Aeneis zum Epenmodell aufrückt, in der zweiten Jahrhunderthälfte ändert Verstöße gegen die ‚klassische‘ Norm, z B der Verzicht auf einen Götterapparat in Lucans Pharsalia, werden unmittelbar sichtbar und markieren das Epos als anti-klassizistisch Dagegen unterliegt die Tragödie verhältnismäßig wenigen normativen Beschränkungen; hier muss ein Klassizismus dementsprechend deutlicher markiert werden Der Zeitindex dieser ‚Klassizismus-Signale‘ ändert sich, je nachdem von welcher historischen Warte sie betrachtet werden: Klassizistische Texte können zwar mehr oder weniger ‚klassizistisch‘ sein, aber sie können innerhalb ihres eigenen Zeitkontextes ihren Status als ‚klassizistische‘ Texte nicht verlieren Werden sie aber in späteren Epochen selbst zu ‚Klassikern‘, verblassen mitsamt der Rückbezüge auch die diese anzeigenden Signale Vom Standpunkt des ersten vorchristlichen Jahrhunderts wäre Vergils Aeneis also ein klassizistischer Text, der sich in starker Abhängigkeit zu zwei Klassikern der griechisch-römischen Epik, Homer und Ennius, befindet Bereits vom Standpunkt des späteren ersten nachchristlichen Jahrhunderts ist die Aeneis ein Klassiker der römischen Epik3 und ein Referenztext, den kein späterer Epiker ignorieren kann Sich selbst definiert der Klassizismus als eine ‚Klassik zweiter Hand‘ oder ‚zweiten Grades‘, was sich in Formulierungen wie alter Homerus oder Nuovo Petrarca niederschlägt 4 Da sich etwa die Epiker der italienischen Renaissance wie Torquato Tasso an Vergil anlehnen, der sich seinerseits auf frühere griechische und römische Modelle (Homer, Ennius) bezieht, steigert sich deren Bezug der Mittelbarkeit zu einer Klassik ‚dritten Grades‘ Das jeweilige Wissen um diese Tiefenstaffelung (und sein möglicher Niederschlag im Text) wäre zu untersuchen Als doppelt relational, also als Klassik dritten (oder gar vierten) Grades ist auf jeden Fall der Antiklassizismus und der ‚Paraklassizismus‘ einzustufen: Antiklassizismus als negative Bezugnahme auf das Klassische kann korrosiv sein wie in Lucans Pharsalia Es kann aber auch im Sinne einer paradoxalen Systemstabilisierung wirken wie im Antipetrarkismus Paraklassizismus liefert im Sinne eines ‚als ob‘ des Klassischen eine Parodie desselben wie im pseudo-vergilischen Culex 5 Signalhafte Referenzen auf klassische Vorbilder können dabei auf Klassizismus-Eigenschaften der Tiefenstruktur, also auf die Gültigkeit einer ahistorischen Idealität des 3 4 5

Vgl den Beitrag von Petra Schierl Vgl den Beitrag von Anja Wolkenhauer Vgl den Beitrag von Nicola Hömke

Einführung

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Modells, hinweisen Sie müssen dies allerdings nicht zwingend tun Die Funktionen von Klassizismus können also unmittelbar und zwangsläufig aus einer tiefenstrukturellen imitatio-Poetik als Systemreferenz folgen, etwa, wenn sich die italienische Tragödie des sechzehnten Jahrhunderts auf griechische oder römischen Modellangebote bezieht Sie können aber auch im strategischen, auf Rezeptionserfolg angelegten ‚Gebrauch‘ von Klassizismen liegen, oder aus einer politischen Funktionalisierung durch eine Kulturpolitik der translatio resultieren Wenn Torquato Tasso in der Gerusalemme liberata Aeneis-Bezüge und römisch-katholische Propaganda amalgamiert, lässt sich das ebenso beobachten wie im französischen ‚republikanischen‘ Neoklassizismus des späten achtzehnten oder im kaiserlichen ‚Empire-Klassizismus‘ des frühen neunzehnten Jahrhunderts, die programmatisch auf die römische Republik oder die Kaiserzeit rekurrieren Während der Klassizismus sich, wie ausgeführt, als ein relationales Verhältnis zu einem klassischen Modell definieren lässt, ist Klassik ein Modellstatus mit Anspruch auf Ewigkeit Ein Klassiker oder ein klassischer Text steht am Anfang einer Traditionslinie, ohne dies allerdings zwangsläufig zu wissen, zu intendieren oder tatsächlich steuern zu können Der Status des Klassikers kann als ‚Projekt‘ einer Fremd- oder Selbstautorisierung vorliegen, wenn etwa Vergil in seiner Aeneis die gens Iulia in die griechische Epentradition einschreibt, Cicero seine eigenen Reden als Muster für den rhetorischen Unterricht publiziert oder der spätantike Panegyriker Claudius Claudianus sich programmatisch als neuer Vergil einer spätantiken Klassik inszeniert 6 Er kann aber auch ex post einem Autor oder einem Werk von außen zugesprochen werden, wie es bei Petrarcas Canzoniere geschieht Beiden Ansätzen ist allerdings gemeinsam, dass sie kulturelle Strategien der Reproduktion durch die Nachgeborenen benötigen Daraus ergibt sich eine zirkuläre Bewegung: Klassizisten machen Klassiker Sie stabilisieren und indizieren deren klassischen Status Umgekehrt kann es ohne Klassiker keine Klassizisten geben Unterschiedlich ist dabei der Zeitindex: Klassizist ‚ist‘ man Klassiker ‚wird‘ man, oder man hört im Verlauf der Geschichte auf, es zu sein Ein Autor kann also zwar durchaus das Projekt haben, mit seinem Werk zum Klassiker zu werden; ob er es aber tatsächlich werden wird, entscheiden aber erst Rezeption, Kanonisierung und Epochenbildungen Ein Klassizist hingegen verfasst ein Werk intentional als klassizistisch, kann aber in der Rezeption ebenfalls zum Klassiker werden: Das gilt auch für Epochenstile wie den des französischen ‚siècle classique‘, der sich zwar auf die italienische Poetik des Renaissance-Klassizismus rückbezieht und so unter systematischen Gesichtspunkten ein Klassizismus dritten Grades wäre, den die

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Vgl Fritz Felgentreu: Wie ein Klassiker gemacht wird: Literarischer Anspruch und historische Wirklichkeit bei Claudian In: Es hat sich viel ereignet, Gutes und Böses Lateinische Geschichtsschreibung der Spät- und Nachantike Hg von Gabriele Thome, Jens Holzhausen München, Leipzig 2001 (Beiträge zur Altertumskunde 141), S 80–104

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Literaturgeschichtsschreibung aber auf die Nullposition des ‚siècle classique‘ oder der ‚doctrine classique‘ zurückgedreht hat Im Gegensatz zum textstrukturellen Klassizismus ist Klassik trotz des ihm zugeschriebenen Ewigkeitsanspruchs stets zeitabhängig Der Verlust des Klassiker-Status ist theoretisch ebenso möglich wie seine stark zeitverzögerte Installation: Ennius, der noch für Cicero den Status eines Klassikers besitzt, verliert diesen seit dem ersten Jahrhundert an Vergil, so dass er bereits in der Spätantike sehr wahrscheinlich nicht mehr im Original gelesen, sondern allein aus Zitaten rezipiert wird Dante wird im Renaissance-Klassizismus von Bembo und andern dezidiert der Klassiker-Status abgesprochen, um spätestens im neunzehnten Jahrhundert umso markanter (wenn auch eher in einem Sainte-Beuve’schen Sinn) in ihn einzurücken Der Begriff des Klassikers ist zudem kein totalisierender, sondern wird ausschließlich in Bezug auf eine bestimmte Gattung verwendet: Dem Epos werden Homer und Vergil zugeschrieben, der Lyrik Sappho, Alkaios und Horaz; der Redekunst Demosthenes und Cicero, der Tragödie die klassische Trias Aischylos, Sophokles und Euripides, der Geschichtsschreibung Thukydides und Livius Klassiker gibt es nur in begrenzter Zahl Die Zahl der Klassizisten hingegen ist unüberschaubar groß Auch daraus wird deutlich, dass man Klassiker bzw Klassik im Gegensatz zum Klassizismus als nicht-relationalen und nicht-relativen Begriff zu verstehen hat Das alles bedeutet, dass es je nach Epoche unterschiedliche historische ‚Klassiken‘ geben kann, dass also unterschiedliche Zeiten unterschiedliche Klassiker haben und aus ehemaligen Klassizisten Klassiker werden können Die römische Literatur der Antike zeigt dies deutlich Aus der Perspektive römischer Autoren des ersten Jahrhunderts v Chr gibt es in der römischen Literatur eine ‚republikanische Klassik‘, deren Repräsentanten heute nur noch in Sekundärzitaten erhaltene Autoren wie z B Ennius, Accius und Varro von Atax sind; diese beziehen sich ihrerseits auf griechische Referenzmodelle, z T auf Klassiker Autoren des mittleren und späteren ersten Jahrhunderts blicken auf die ‚augusteische Klassik‘ zurück Die Repräsentanten dieser augusteischen Klassik (Vergil, Horaz, Properz etc ) sind aber zugleich Klassizisten, da sie sich auf griechische und republikanische Klassiker beziehen Kaiserzeitliche Klassizisten wie Statius und Silius Italicus, die sich vor allem an der augusteischen Klassik orientieren, avancieren spätestens in der Spätantike zu Klassikern: Sie treten als literarische Modelle gleichwertig neben die Autoren der Augusteerzeit Auch die Spätantike bringt Klassiker hervor: im Bereich der politischen Dichtung den schon genannten Claudius Claudianus, im Bereich der christlichen Lyrik Prudentius; beide schreiben sich ihrerseits klassizistisch in klassische Traditionen ein Im Verhältnis zur insgesamt als klassisch erachteten griechischen Literatur ist die lateinische Literatur als Ganze klassizistisch Sie übernimmt von den Griechen ein ausgebildetes Literatursystem und die in diesem etablierten Normen Das Rezeptionsverhalten der Autoren ist dabei einem deutlichen Wandel unterworfen Referenzpunkt für die sich ausbildende lateinische Literatur des dritten und zweiten vorchristlichen

Einführung

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Jahrhunderts ist zunächst die ‚aktuelle‘ Literatur des Hellenismus Im frühen Prinzipat erfolgt verstärkt und teilweise ganz explizit eine Ausrichtung an zeitlich entfernteren Klassikern der griechischen Literatur, etwa an Hesiod und der archaischen griechischen Lyrik, wobei die poetologischen Normen hellenistischer Dichtung weiterhin Bestand haben In Italien wird ab Mitte des vierzehnten Jahrhunderts eine immer größere Bandbreite antiker lateinischer, im Quattrocento verstärkt auch griechischer Texte verfügbar, ohne dass sich zunächst aus dem multiplen Angebot so etwas wie Modellautoren oder verbindliche Gattungsnormen herauskristallisiert hätten Erst die Übertragung des imitatio-Modells des (neu)lateinischen Ciceronianismus auf die italienische Literatur brachte im frühen sechzehnten Jahrhundert die Erfindung eigener ‚Klassiker‘ respektive eigener ‚klassischer‘ Werke hervor Die mit Pietro Bembo einsetzende Kanonisierung des Canzoniere Francesco Petrarcas erhebt einen Text zum Modell für die Liebeslyrik, der selbst nicht ‚klassizistisch‘ ist, weil er sich trotz Bezugnahme auf Ovid, Horaz, Vergil, auf Dante, den Stilnovismus oder die provenzalische Dichtung nicht einlinig in eine Tradition einschreibt Der italienische Renaissance-Klassizismus des sechzehnten Jahrhunderts verhilft weniger Werken zum Erfolg, die sich unter Umgehung der heimischen Tradition an die antiken Klassiker, etwa Homer oder Vergil in der Epik, ketten – Beispiel hierfür ist der Misserfolg von Giangiorgio Trissinos L’Italia liberata dai Goti (1547) –, sondern solchen, die vorhandene volkssprachliche Traditionen in Lyrik oder Epik unter Rückgriff auf aktualisierte imitatio- und Poetik-Normen der Antike – und hier vor allem ab Jahrhundertmitte der Aristotelischen Poetik – renovieren, so in Bembos Rime oder Tassos Gerusalemme liberata Allein dort, wo die italienische Literatur genuine Leerstellen aufwies, konnten sich antike Gattungen wie der Dialog v a Ciceros, die Satire v a Juvenals, die griechische wie lateinische Tragödie v a Senecas oder die Komödien Plautus’ oder Terenz’ als ‚klassische‘ Modelle anbieten, auf die dann Bembos Asolani, Ariosts Satiren, oder die Tragödien Giraldi Cinzios klassizistisch antworten konnten Dabei muss stets mit der Rekombination dieser neuen volkssprachlichen Klassizismen mit lateinischen oder anderen alternativen Klassizismen, aber auch a-klassizistischen Modellen gerechnet werden, etwa wenn in der italienischen Komödie der Renaissance das Plautinische Modell mit Novellenstoffen Boccaccios kombiniert wird oder wenn die neulateinische Dichtung die neuen volkssprachlichen Normen des Petrarkismus in der Dichtung eines Johannes Secundus (Basia) ins Lateinische rückübersetzt und sie mit der lateinischen Liebeselegie und der Epigrammatik rekombiniert Die Beiträge des vorliegenden Bandes sind aus einer Konferenz hervorgegangen, die im Dezember 2016 an der Universität Hamburg und am Italienischen Kulturinstitut Hamburg stattgefunden hat Sie schärfen und vertiefen unterschiedliche Aspekte der Phänomene ‚Klassik‘ und ‚Klassizismus‘ in zwei dem Klassizismus besonders affinen Epochen der europäischen Geistesgeschichte: Der römischen Kaiserzeit, deren literarisches Schaffen der sogenannten augusteischen Klassik stark verpflichtet ist, und des itali-

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enischen sechzehnten Jahrhunderts, in dem die pluralen Bezugnahmen der italienischen Renaissance auf die Antike systematisiert, poetologisch reflektiert und die Isolierung des Prinzips der imitatio auch auf volkssprachliche Texte selbst übertragbar werden Die ersten beiden Artikel gelten den Modi einer systematischen Traditionsbildung, von Autorisierung und Kanonisierung, so wie sie von Intellektuellen wie Plinius d Ä im ersten nachchristlichen Jahrhundert, Polidoro Virgilio und Lilio Gregorio Giraldi im sechzehnten Jahrhundert in theoretisch-expositorischen Texten ins Werk gesetzt wurden Anja Wolkenhauer beschäftigt sich in Erfinderdenken, typologische Konzepte, Traditionalismus und „invented traditions“ mit vormodernen Versuchen, Klassizismus zu beschreiben und zu relationieren Neben den antiken Konzepten der imitiatio und aemulatio spiegeln sich, wie sie zeigt, in den Katalogen von Erfindungen und Erfindern wesentliche Aspekte des Phänomens Am Beispiel des Erfinderkatalogs des siebten Buches von Plinius’ Naturalis Historia, insbesondere in dem Abschnitt über die Erfindung der Schrift, geht sie der Frage nach, wie Erfindung, Tradition und Rückbezug im Katalog konstruiert werden Dabei zeigt sich, dass die Konstruktion der Vergangenheit stets aus der Gegenwart heraus erfolgt Es handelt sich um einen Traditionalismus oder eine „invented tradition“, eine durch Vorannahmen geleitete Auswahl aus der Überlieferung im Gegensatz zur Tradition Eine ähnliche „invented tradition“ liegt beim Klassizismus vor Das Verhältnis der Nacherfindung zum ersten Erfinder entspricht dem des Klassizisten zum Klassiker Charakteristisch für diese „invented traditions“ ist, dass sie sehr variabel sind und sich je nach Bedarfslage nach hinten oder auch nach vorne erweitern lassen Die Erfinderkataloge lassen zudem erkennen, dass die Bewertung von ‚alt‘ und ‚neu‘ sich verschieben kann Während in früheren Erfinderkatalogen das Alte tendenziell als das Bessere gilt, ist in Polidoro Virgilios Schrift De inventoribus rerum die Erfindung des Buchdrucks die Vollendung der Schriftkultur: Das Neue ist dem Alten überlegen Florian Mehltretter untersucht in seinem Beitrag Klassizität, Kanon und Wissensordnung in L G Giraldis Dialogen über die Dichter eine spezifisch auf literarische Texte bezogene Strategie, wie der Ferrareser Gelehrte durch Systematisierung erdrückender literarhistorischer Wissensmengen und Konstruktion von Ursprungserzählungen Evidenz für die Kanonbildung erzeugt, indem er antiken wie modernen Dichtern durch die ihnen zugewiesenen Systemstellen den Status von Klassikern zuspricht Eingebunden in die typische Dialogstruktur des ciceronianischen Dialogs, dessen Setting und binnennarrative Anlage jede traktat- und lehrhafte Doktrin auszuschließen scheint, präsentiert der Textsprecher ‚Giraldi‘ eine Geschichte der vor allem griechischen und lateinischen, in entscheidenden Büchern aber auch italienischen Literatur, deren vorgetäuschte Beschreibung und kommendativer Begriff von poeta einen stark kanonisierenden Impetus entfaltet Er stellt die italienischen Modellautoren des vierzehnten Jahrhunderts Petrarca und Boccaccio unter Aussparung der media aetas umstandslos in die Reihe Vergil, Ovid, Tibull und Properz ein und bewertet deren volkssprachliche Produktion als besonders anmutige Variante ihrer lateinischen Die auch für Pietro

Einführung

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Bembo zentrale Stellung der Lyrik als Inbegriff von Dichtung begründet Giraldi in den abschließenden Büchern IX und X durch die im ersten Buch entworfene Ursprungserzählung der Dichtung als sich vor allem klanglich ausdrückender prisca theologia, die in der Lyrik – auch der Petrarcas – ihre ideale mediale Form findet Wie und unter welchen Bedingungen sich Autoren wie Francesco Petrarca in ihren lateinischen Werken klassizistisch in antike Traditionen einschreiben, andererseits aber Cicero, Statius und Petrarca mit prominenten Texten durch die Nachwelt in den Rang von Klassikern erhoben wurden, untersuchen die Beiträge von Dennis Pausch, Meike Rühl, Hartmut Wulfram, Gerhard Regn und Dietrich Scholler Der Beitrag von Dennis Pausch beschäftigt sich mit der Genese des Klassikers Cicero epistolographus Ciceros Briefe wurden, wie Pausch ausführt, mutmaßlich erst in der Mitte des ersten Jahrhunderts ediert, in einer Cicero nicht wohlgesonnenen, ‚antiklassizistischen‘ Zeit Entgegen der communis opinio der Forschung ist Ciceros Briefcorpus für Plinius nicht von Anfang an dasjenige klassische Modell, auf das er sich beruft Erst im Fortschreiten der plinianischen Briefsammlung avanciert Cicero für Plinius zum klassischen Referenzmodell, wie die späte explizite Auseinandersetzung mit den Cicero-Briefen in ep 9,2 (Ad Sabinum) zeigt Plinius’ Cicero-Rezeption verändert gleichwohl den Blick auf den Klassiker, wie Pausch anhand des Spannungsfeldes otium-negotium-studia litteraria zeigt Plinius’ Brief an Fuscus (ep 9,36) lässt sich mit Ciceros Brief an den Epikureer L Papirius Paetus (fam 9,20,3) verbinden, er kann aber bewirken, dass die im Cicero-Brief geschilderte ganz persönliche Situation nach 46 v Chr ins Allgemeine gezogen wird Im Zentrum von Meike Rühls Beitrag stehen Statius’ Silven, die sich dem Rang eines Klassikers aus verschiedenen Gründen zu verweigern scheinen Sie geben sich als Gelegenheitsdichtungen, als improvisierte Literatur, ein Genre, dem der Charakter des Spontanen und des Ungeplanten anhaftet Ein Blick in Rhetorik-Handbücher wie Quintilians Institutio oratoria zeigt jedoch, dass Improvisationen in der antiken Rhetorik eine hohe Kunst darstellen Sie sind das Ergebnis einer langen Ausbildung und einer großen Gelehrsamkeit Diese Parameter überträgt Statius auf seine Silven, wobei er in den Widmungsbriefen, die den einzelnen Silven-Büchern vorangehen, verschiedene Charakteristika einer Improvisation explizit thematisiert Zum ‚Klassiker‘ werden die Silven dann durch Angelo Poliziano, der sie als innovative Form den Klassikern Vergil etc an die Seite stellt Mit der Analyse von Petrarcas Epystula 3,28 bietet Hartmut Wulfram ein close reading eines Textes, dessen Klassizismen auf verschiedenen Ebenen sichtbar werden Die Reihung von 29 Adynata, die allein die Aussage bekräftigen sollen, dass das poetische Ich niemals der Aufforderung seines Adressaten folgen und nach Avignon zurückkehren werde, ist in der vorliegenden Form zwar innovativ und von exquisiter stilistischer Raffinesse Die Figur des Adynaton an sich hat jedoch ebenso zahlreiche Vorläufer in der antiken Literatur wie die verwendeten Motive, wobei das Adynaton am Schluss von Vergils erster Ecloge das am deutlichsten angespielte Modell ist Die Rezeption

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des Klassizisten Petrarca vermag dabei auch den Blick auf den klassischen Vergiltext zu verändern, der nun nicht nur autobiographisch auf Vergil bezogen werden kann, sondern in den man gemäß der spätantiken Vergilallegorese Konstellationen aus Petrarcas Biographie hineinlesen kann In der Gesamtedition der Epystulae verknüpft Petrarca seine biographische Volte, die ihn entgegen seiner Ankündigung doch nach Avignon zurückgeführt hatte, mit einem Zitat aus Horazens Epistulae und gewinnt der Situation so eine selbstironisch-fatalistische Pointe ab Hatte bereits der Lateinhumanismus des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts Petrarcas lateinische Produktion als den Klassikern Cicero und Vergil unterlegen bewertet, gewinnt seine volkssprachliche Dichtung und vor allem der Canzoniere im sechzehnten Jahrhundert den Status eines klassischen Texts Diese Kanonisierung Petrarcas zum modernen, postantiken Klassiker und die sich davon ableitende Möglichkeit eines nicht auf die Antike bezogenen Klassizismus ist Thema des Beitrags Petrarkismus und Klassizismus im italienischen Cinquecento von Gerhard Regn Ausgehend von Pietro Bembos Ausgaben von Petrarcas Canzoniere (1501) und Dantes Commedia (1502) für die von Aldo Manuzio verlegte Bibliothek vor allem griechischer und lateinischer Klassiker umreißt Regn, wie schon im fünfzehnten Jahrhundert volkssprachliche Texte in denselben humanistischen Horizont des Kommentars, der Wiedergewinnung des Verlorenen und der editionsphilologischen Avanciertheit eingerückt wurden und wie Pietro Bembo in seinen Prose della volgar lingua (1525) vor allem Petrarca zum classico volgare und zum funktionalen Äquivalent für die imitatio-fähigen lateinischen Modellautoren Cicero und Vergil erhebt Basis dafür sind allerdings Ciceros’ Kriterien für den idealen Stil im Brutus, durch die er Petrarcas Liebesdichtung wegen ihres idealen Gleichgewichts zwischen rhetorisch-klanglicher gravità und piacevolezza als jeder antiken Liebesdichtung überlegen ausweist Aus dieser Haltung der Selbstbehauptung der eigenen Gegenwart gegen die Antike und der ‚Erstklassigkeit‘ Petrarcas als postantiker Klassiker speist sich der Klassizismus des Petrarkismus im sechzehnten Jahrhundert, zu dessen prominenten Vertretern Bembo selbst gehört Wie sich Pietro Bembos Rime (1530) in struktureller wie lexematisch enger Nachahmung auf Petrarcas Canzoniere beziehen, aber korrigierend in die Materie der Liebesthematik eingreifen, zeigt der Beitrag von Dietrich Scholler: Signalhaft greift Bembo in der Proömial- wie in der Schlusssequenz Syntax, Lexik, Metaphorik und Pragmatik von Petrarcas Innamoramento-Sonett Canzoniere Nr 3 und des Gebetssonetts Padre del ciel (Canzoniere Nr 365) auf und setzt die in den Prose della volgar lingua kodifizierte Mustergültigkeit der Form des Canzoniere in eine eigene poetische Praxis um Die nicht auf dieselbe Weise festgelegte materia aber bietet Raum für Anpassungen: Bembo stärkt die Thematik der durch die eigene Dichtung errungenen Fama, und er nivelliert den Niveauunterschied zwischen Liebendem und Dame im Proömialgedicht und zwischen lyrischem Ich und Gott im finalen Gebetsgedicht, um dem lyrischen Subjekt eine Petrarca fremde, stärker voluntaristische und theologisch differierende Position zuzuschreiben

Einführung

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Zu den einen besonderen Nachahmungsdruck ausübenden Gattungen der antiken Literatur gehört vor allem die epische Dichtung Homers und Vergils als unhintergehbarer klassischer Fluchtpunkt klassizistischer Bezugnahmen, die in den Beiträgen von Florian Schaffenrath, Christiane Reitz, Christine Schmitz und David Nelting zu Silius Italicus und Torquato Tasso untersucht werden Die forschungsgeschichtliche Studie von Florian Schaffenrath stellt heraus, wie sich das Silius-Bild zunächst von einer negativen Bewertung des Autors als Epigonen zu dem eines Klassizisten wandelt, der sich selbstbewusst als solcher inszeniert und mit den Mechanismen klassizistischer Dichtung selbstbewusst spielt Neuere Forschungen betonen die Eigenständigkeit des kaiserzeitlichen Epikers, der bei aller Verpflichtung dem Klassiker Vergil gegenüber neue Wege gehe und den zeithistorischen Kontexten der Domitian-Ära viel stärker verpflichtet sei als bislang angenommen So werde aus dem Klassizisten Silius in der Forschungsgeschichte ein Klassiker der Flavier Christiane Reitz zeigt, dass die Zuschreibung an Silius Italicus als vergilisierender ‚Erzklassizist‘, wie sie in der Forschung meist unbesehen übernommen wird, zu modifizieren oder zumindest zu erweitern ist Silius ist, wie sie ausführt, nicht nur dem Klassiker Vergil verpflichtet, an den man seine Punica immer rückbindet Viele der Protagonisten dieses Epos tauchen in der Rhetorik und in klassischen Exempla-Sammlungen auf, etwa in den Facta et dicta virorum illustrium von Valerius Maximus In den Punica bestätigen sie diese Exempla-Tradition durch ihr exemplarisches Verhalten; die Punica sind also nicht nur gegenüber der Aeneis klassizistisch, sondern auch gegenüber der klassischen Exempla-Tradition In eine ähnliche Richtung geht der Beitrag von Christine Schmitz Sie untersucht drei aitiologische Erzählungen der Punica, in denen Silius nicht an Vergil, sondern an Ovid anschließt Dabei wird deutlich, dass der Modus der Imitationen höchst variabel ist: In der Falernus-Episode lässt sich ein komplexes Referenzgeflecht auf verschiedene ovidische Vorbilder nachweisen, wobei der Verweis auf die Episode von Philemon und Baucis besonders prominent ist Die Weissagung des Proteus imitiert die ovidische Aeneis insofern, als sie eine ähnliche Technik der Verknappung des vergilischen Textes praktiziert, wenngleich mit einem anderen Schwerpunkt Die Pyrene-Geschichte schließlich imitiert keine Einzelszene, sondern ein typisch ovidisches Erzählmuster (‚vergewaltigte Frau als Opfer einer Gottheit‘) Stets zeigt sich, dass Silius in seiner poetischen Technik nicht auf ein Modell fixiert ist Der Begriff ‚Klassizismus‘ beschreibt seine Arbeitsweise somit nur umrisshaft und bedarf der Präzisierung Wie sich die Auseinandersetzungen mit epischen Modellen noch einmal verkomplizieren, wenn im italienischen sechzehnten Jahrhundert nicht nur die – genau genommen der lateinische – Epenklassiker, sondern auch volkssprachliche Modellautoren und -gattungen integriert werden, zeigt David Neltings Analyse des Verhältnisses von Klassizismus und ‚Modernismus‘ in Torquato Tassos Gerusalemme liberata (1581) Während der Mainstream der Forschung Tassos Kreuzzugsepos gegen eine vermeintlich ‚gegenreformatorische‘ Ideologie an der Oberfläche in Schutz nimmt und die poe-

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tischen und erotischen Lizenzen der ‚Tiefe‘ für Tassos ‚eigentliche‘, ‚moderne‘ Leistung hält, erschließt Neltings diskursarchäologisch-poetologische Lektüre Tassos Amalgamierung der Rekurse auf Vergils Aeneis, auf die Aristotelische Poetik und die Bembeske Theorie des poetischen Stils mit einer auch in der zeitgenössischen Homiletik ins Werk gesetzten römisch-katholischen Persuasionsstrategie So bändigt er einerseits die zentrifugalen Bewegungen des Ariost’schen Romanzo cavalleresco, andererseits bereitet die ins Heroische integrierte erotische Bukolik die stilhöhenindifferente und wirkungszentrierte Dichtung des Barock vor Bereits die spätantike Rota Virgilii hat die Klassizität der kleineren Gattungen Vergils neben die seines Epos gestellt, deren imitatio folglich zum Spielfeld der Klassizismen der kleinen Form werden kann Nicola Hömke untersucht den Culex, ein Epyllion der Appendix Vergiliana, als ein Beispiel für eine paraklassizistische Adaptation: Der Verfasser fingiert ganz bewusst die Autorschaft Vergils, die den Leser täuschen soll, und bietet mit seiner Darstellung der ‚Mücke‘, die den Hirten vor dem drohenden Schlangenbiss rettet und dies mit dem Leben bezahlt, viel mehr als eine epigonale imitatio Vielmehr tritt er in eine konkurrierende Überbietung des großen Vorbilds ein, indem er nicht nur im Schlangenkampf das Vorbild der Georgica parodistisch übersteigert, sondern auch in der Unterweltsfahrt der Mücke die epische Bauform der Katabasis mit der des Traums kombiniert Da Träume im Epos teleologisch sind, bekommt die Katabasis eine Teleologie, die sie im vergilischen Original nicht hatte Der Culex-Dichter verbessert gewissermaßen seinen Referenztext Das relationale Verhältnis von Klassik und Klassizismus sowie die Etablierung eines Autors als Klassiker lässt sich exemplarisch an der Bukolik beobachten, deren Gattungsgeschichte deutlicher als in anderen literarischen Genera eine Rezeptionsgeschichte ist Petra Schierl zeigt in ihrem Beitrag, wie in der Traditionslinie bukolischer Dichtung von Theokrit bis Nemesian eine Sukzession etabliert wird, die sich vor allem an den Hirtennamen festmachen lässt Vergil markiert seine klassizistische Theokrit-Nachfolge explizit in der fünften Ecloge, wenn Menalcas mit dem theokriteischen Daphnis in Wettstreit tritt Vergil selbst wird dann bereits zu Lebzeiten durch den Schul- und Literaturbetrieb als Klassiker autorisiert Calpurnius Siculus und Nemesian, die in neronischer Zeit bzw am Beginn der Spätantike dichten, können an den bestehenden Klassiker-Status Vergils anknüpfen Als Klassizisten verweisen sie auf Vergil über die Figur des Tityrus, der in der römischen Poesie den theokriteischen Daphnis als Bezugsgröße ablöst Sie unterscheiden sich allerdings in dem Fokus ihrer Vergil-Rezeption: Calpurnius nimmt Vergil nicht als Eclogen-Dichter wahr, sondern als panegyrischen Dichter im Zentrum der Macht Nemesian inszeniert seine Vergil-Nachfolge, indem er mit seiner ersten Ecloge unmittelbar an Vergils zehnte Ecloge anknüpft Die Spielarten der Bezüge zur römischen Liebeselegie in der italienischen Lyrik des sechzehnten Jahrhunderts lotet der abschließende Beitrag von Susanne Friede aus

Einführung

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Vor dem Hintergrund einer Verschiebung des elegischen Codes von einer in der lateinischen Antike stark formalen zu einer vor allem inhaltlichen Bestimmung einer Verlusterfahrung (der Liebe, der Jugend, durch den Tod etc ) im Mittelalter sieht Friede für die Dichtung des Cinquecento zwei mögliche, konkurrierende elegische Referenzsysteme, die sich mit anderen Textformen kombinieren und gegeneinander ausspielen lassen: das des petrarkischen Canzoniere, in den seinerseits neben der spätantik-mittelalterlichen Transformation des Elegischen Rückgriffe auf Ovid und Properz eingegangen sind, und das des Rekurses auf die antiken Elegiker selbst Zeigen Luigi Alamannis Sonetti die bewusste Alternative dieser Referenzsysteme, fallen sie bei Vittoria Colonna stark zusammen und vermischen sich mit anderen Formen der Totenklage und prominenter klassischer Modelle wie der Heroides Ovids in deutlicher Opposition zur Episierung der Liebe bei Bembo Einen anders gelagerten, ebenso eklektischen Zugriff verraten die Trauergedichte Michelangelos auf Francesco Braccio im Modus epigrammatischer Epitaphien mit flexiblem Rückgriff auf das elegische Sprechen, während die gleichgeschlechtliche Liebe in Camillo Scroffas Cantici di Fidenzio klassizistisch den elegischen Code verwirklicht und auf Möglichkeiten homoerotischer Liebesklage im Corpus Tibullianum rekurriert, aber antiklassizistisch die Liebe, die bei Petrarca stärker ist als der Tod der Dame, durch den Tod des Liebesobjekts abrupt enden lässt Die Herausgeber danken Christopher Boye, Avi Liberman, Annamaria Piper und Carina Teßmann für das Lesen der Korrekturen und die Unterstützung bei der Einrichtung der Druckvorlage

Invented traditions des Klassischen in der Frühen Neuzeit

Erfinderdenken, typologische Konzepte, Traditionalismus und „invented traditions“ als Konzepte zur Bestimmung des Klassischen in der Vormoderne Anja Wolkenhauer (Tübingen)

1. Einleitung Die folgenden Überlegungen gehen von zwei neuzeitlich geprägten Begriffen aus: Klassik und Klassizismus Die Bestimmung des Klassizismus als ‚Klassik zweiten Grades‘ hebt hervor, dass dieser die als autoritativ erkannten Charakteristika der klassischen Texte im eigenen Sinne signalhaft weiterverwendet Diese Definition bestimmt das Verhältnis zwischen den beiden Konzepten Klassik und Klassizismus aus der Sicht der Nachgeborenen und hat dabei die Konstellationen der Frühen Neuzeit fest im Blick Das ist aber nicht die einzig denkbare Möglichkeit, derartige Konzepte zu beschreiben, und ist zudem durch die Rückprojektion für die Literatur der Vormoderne nur bedingt geeignet Wie aber sind ältere Literaturen mit vergleichbaren Konzepten umgegangen, welche Begriffe haben sie entwickelt, welche Aspekte betont, welche Bedeutung ihnen zugesprochen? Dieser Beitrag soll einige Ansätze aus der lateinischen Literatur zur Identifikation des ‚Klassizistischen‘ zusammenführen und einen bisher noch wenig berücksichtigten neuen Bereich hinzufügen Sie alle haben vor dem Begriff des ‚Klassischen‘ Ordnung in den Dschungel der Literatur gebracht und das Vorbildhafte, Maßstabsetzende der jeweiligen literarischen bzw kulturellen Praxis in den Blick gerückt Ordnungsstiftend in diesem Sinne sind v a die vieldiskutierten Konzepte von Nachahmung und Überbietung (imitatio, aemulatio),1 die Metaphorik der Nachfolge (z B

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Grundlegend Siegmar Döpp: Aemulatio Literarischer Wettstreit mit den Griechen in Zeugnissen des ersten bis fünften Jahrhunderts Göttingen 2001; Bettina Rommel, Gregor Vogt-Spira: Rezeption und Identität Die kulturelle Auseinandersetzung Roms mit Griechenland als europäisches Paradigma Stuttgart 1999 (dort bes der Beitrag von Vogt-Spira); Arno Reiff: Interpretatio, imitatio, aemulatio Begriff und Vorstellung literarischer Abhängigkeit bei den Römern Diss Köln 1959

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der ‚Erste‘ oder ‚ein Zweiter‘ zu sein, Neuland zu betreten oder die Fackel weiterzutragen),2 der Begriff des Kanons3 sowie die Suche nach den Erfindern und Begründern einer Kunstform 4 Bei alldem handelt es sich um Denkfiguren, die dazu dienen, das Verhältnis zu einem großen Vorgänger zu bestimmen Um es am Beispiel zu verdeutlichen: Das Konzept des Zweiten beschreibt eine Denkfigur der Nachfolge, die in der lateinischen Literatur besonders wirkmächtig war 5 Einen Dichter als alter Homerus oder alter Vergilius zu bezeichnen, eröffnet eine epochenüberschreitende Beziehung, die den jüngeren Dichter in ein ganz spezifisches Verhältnis zu seinem großen Vorgänger setzt, dem er nicht nur nachfolgt, sondern den er sogar zu überbieten versucht: In einer Art paganer Typologie führt er das, was der Vorgänger begonnen hat, zur Erfüllung Größer kann ein Anspruch, kann auch ein Lob nicht sein Die ganze Vormoderne hindurch kann das Verhältnis zwischen klassizistischem Autor und klassischem Vorbild mit der alter-Formel ausgedrückt werden, sie kommt dem Konzept des Klassizismus sehr nahe 6 Für die Vormoderne ist neben den Klassiker auch der Erfinder zu stellen, neben den Klassizisten der Zweite und der Nachfolger Der gemeinsame Nenner beider Denkfiguren liegt in den historisch und personal begründeten kulturellen Autorisierungspro-

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Relevante Textpassagen sind gut zugänglich bei George W Pigman: The metaphorics of imitatio and aemulatio Pasadena 1979 (= Humanities working paper 18) Exemplarisch Werner Suerbaum: Tradition Gedanken zur antiken Metaphorik kulturellen Wandels In: Humanismus und Bildung Zukunftschancen der Tradition Hg von Joachim Gruber, Friedrich Maier Bamberg 1991, S 61–77; Werner Suerbaum: Lob des Zweiten Die Römer und ich In: Weltbild und Weltdeutung Hg von Peter Neukam, Bernhard O’Connor München 2002, S 184–220 und Werner Suerbaum: Petrarca – ein Ennius alter oder Vergilius alter? In: Petrarca und die römische Literatur Fünftes Freiburger Neulateinisches Symposion Hg von Ulrike Auhagen Tübingen 2005 (Neolatina 9), S 17–33; vgl auch Anja Wolkenhauer: „Ein Zweiter sein“: Zur Geschichte einer römischen Stil- und Denkfigur In: Antike und Abendland 57 (2011), S 109–128 Exemplarisch Werner Suerbaum: Der Anfangsprozess der ‚Kanonisierung‘ Vergils In: Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion Kanonisierungsprozesse religiöser Texte von der Antike bis zur Gegenwart Hg von Eve-Marie Becker, Stefan Scholz Berlin, Boston 2012, S 171–219 Curtius führt unter dem Begriff der Klassik die ‚Unterkategorien‘ Kanon, Schriftstellerverzeichnisse sowie die Begriffe alt/neu systematisch zusammen Den Erfinderkatalog berücksichtigt er nicht: Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter Bern 1948, S 251–274 Für die Antike grundlegend Klaus Thraede: Das Lob des Erfinders Bemerkungen zur Analyse der Heuremata-Kataloge In: Rheinisches Museum 105 (1962), S 158–186; gelegentlich ist noch heranzuziehen Adolf Kleingünther: Protos heuretes Untersuchungen zur Geschichte einer Fragestellung Leipzig 1933 (Philologus Suppl 26,1) Für spätere Epochen Gerhard Dohrn-van Rossum: Novitates – inventores Die ‚Erfindung der Erfinder‘ im Spätmittelalter In: Tradition, Innovation, Invention Fortschrittsverweigerung und Fortschrittsbewusstsein im Mittelalter Hg von Hans-Joachim Schmidt Berlin, New York 2005 (Scrinium Friburgense 18), S 27–49; Marcus Popplow: Neu, nützlich und erfindungsreich Die Idealisierung von Technik in der Frühen Neuzeit Münster 1998; Catherine Atkinson: Inventing inventors in Renaissance Europe Polydore Vergil’s De inventoribus rerum Tübingen 2007 Forschungsliteratur wie Anm 2 Dies gilt über alle Disziplinen und Sprachen hinweg – etwa, wenn der Maler Fra Angelico in seiner Grabschrift als zweiter Apelles erscheint, Petrarca als zweiter Homer oder Celtis als zweiter Horaz Vgl Suerbaum: Petrarca und die römische Literatur (Anm 2); Wolkenhauer (Anm 2)

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zessen; die Kanonisierung macht aus dem ersten bekannten Vertreter einer Gattung oft auch den ersten Erfinder und den Klassiker, der die Maßstäbe künftiger Entwicklung bestimmt hat Die theoretischen Ansätze des „Traditionalismus“ (Rothermund) und der „invented traditions“ (Hobsbawm), haben die Konsequenzen dieses Denkens an Beispielen der jüngeren Geschichte analysiert 7 Wendet man sie auf die Vormoderne an, wie ich es am Ende des Beitrags skizzieren werde, so können sie, meine ich, dabei helfen, den Klassizismus als spezifische Form des Traditionalismus, als zielgerichtete Erschaffung einer je neuen Vergangenheit zu verstehen 2. Erfinder und Erfinderkataloge (Heurematakataloge) Heuretes- und Heurematakataloge (Erfinder- und Erfindungskataloge) gab es nicht immer und überall in gleichem Umfang Phasen größerer Intensität wechseln mit Jahrhunderten, aus denen kein einziger bekannt ist; im Mittelalter scheinen sie ebenso zu fehlen wie in den Jahren nach ca 1650 Sie sind auf die Fixierung des je ältesten ausgerichtet, weshalb in römischen Erfinderdiskursen in der Regel griechische, manchmal auch ägyptische Erfinder vorherrschen, in den frühneuzeitlichen Diskursen dann die antiken Erfinder Gleichwohl haben ihre Autoren viele Wege gefunden, um nicht beim ersten Erfinder (πρῶτος εὑρετής, primus inventor) stehenzubleiben: Die Erfinderkataloge kennen Zu-, Mit- und Nacherfinder, die Wiederentdeckung vergessener Traditionen, die Weitergabe im Kulturtransfer, konkurrierende Entdeckungen usw Sie fokussieren also, anders als der Name es nahelegt, nicht nur den Anfang, sondern entwickeln lange Schöpfungsreihen mit zweiten, dritten, vierten Erfindern usw , die das Verhältnis der jeweiligen Gegenwart zu früheren Epochen in den Blick nehmen, was sie für die Frage nach den Klassizismen interessant macht Große Erfinderkataloge entstanden sowohl in der frühen römischen Kaiserzeit als auch in der italienischen Renaissance Zu nennen ist zuerst Plinius d Ä , dessen Katalog im 7 Buch der Naturalis Historia8 das einzige umfangreichere Zeugnis der an7

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Eric J Hobsbawm, Terence Ranger: The invention of tradition Cambridge 1983; weiterentwickelt bei Dietmar Rothermund: Der Traditionalismus als Forschungsgegenstand für Historiker und Orientalisten In: Saeculum 40,2 (1989), S 142–148; Klaus Antoni: Tradition und ‚Traditionalismus‘ im modernen Japan In: Japanstudien 3 (1991), S 105–128; vgl für die Antike (mit stärkerem Fokus auf der memoria der materiellen Überlieferung) Andreas Hartmann: Zwischen Relikt und Reliquie Objektbezogene Erinnerungspraktiken in antiken Gesellschaften Berlin 2010 Umberto Eco: Die unendliche Liste München 2009 geht in seiner Differenzierung der Katalogtypen nicht auf Plinius’ Erfinderkatalog ein, hätte ihn aber wohl zwischen den praktischen und den poetischen Listen eingeordnet Beagon betont die Position des Katalogs am Ende des 7 Buches, die ihn zu einem Anhang nach dem ‚natürlichen‘ Ende der Darstellung des menschlichen Lebens mache (Mary Beagon: The elder Pliny on the human animal Natural history book 7 translated with introduction and historical commentary Oxford 2005, S 56 und S 416–472; zu den drei he-

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tiken Katalogüberlieferung darstellt (während Verweise auf einzelne Erfinder in der griechisch-römischen Literatur vergleichsweise häufig auftreten) 9 An ihn knüpft über die Spanne von anderthalb Jahrtausenden der einflussreichste neuzeitliche Katalog an, der dem italienischen Humanisten Polidoro Virgilio (Polydorus Vergilius) zu verdanken ist, der in explizitem Rückgriff auf Plinius d Ä 1499 mit De inventoribus rerum eines der meistgedruckten Bücher der Frühen Neuzeit vorlegte 10 Beide Autoren verbindet die Frage nach den Anfängen der Kultur und ihren Praktiken, deren Aufspüren die jeweilige Gegenwart in ein neues Licht setzt Die folgende Detaillektüre soll zeigen, wie Erfindung, Tradition und Rückbezug in diesen Katalogen konstruiert wurden 3. Im Detail: literaturbezogene Erfindungen bei Plinius d. Ä. Plinius’ Katalog weist mindestens drei deutlich unterscheidbare Teile auf, woraus man (unter Berücksichtigung der Überlegungen, die die Forschung zu seiner Arbeitsweise angestellt hat) schließen kann, dass er neben eigener Arbeit auch ältere Listen inkorporiert 11 Aus seiner Sonderstellung heraus wurde der Katalog klassisch im einfachen Wortsinne: er war das einzige greifbare und weithin bekannte Vorbild für alle spätantiken und frühneuzeitlichen Erfinderkataloge 12

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rausgehobenen Erfindungen s zuletzt Anja Wolkenhauer: Sonne und Mond, Kalender und Uhr Studien zur Darstellung und poetischen Reflexion der Zeitordnung in der römischen Literatur Berlin 2011 (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 103), bes S 70–93 Klaus Thraede: Erfinder (geistesgeschichtlich) In: RAC 5 (1962), S 1191–1278; zur visuellen Tradition s Klaus Junker, Sabrina Strohwald: Götter als Erfinder Darmstadt 2012 Polidoro Virgilio: De inventoribus rerum Erstdruck Venezia 1499 Polydore Vergil: On Discovery Ed & transl by Brian P Copenhaver (The I Tatti Renaissance Library 6) Cambridge (Mass ), London 2002 zählt 30 lateinische Ausgaben zu Lebzeiten des Autors und verwendet die Ausgabe letzter Hand (Basel 1553 bei Isengrin) als Leitdruck für seine kritische Edition der ersten drei Bücher Zu den Editionen s Atkinson (Anm 4), S 54–58; S 117 f ; Dohrn-van Rossum (Anm 4), S 27–49 Der beste Textzugang ist z Zt über eine von Helmut Zedelmaier erstellte und in der HAB Wolfenbüttel gehostete Datenbank möglich, die auch den Vergleich verschiedener Auflagen gestattet: http://dbs hab de/polydorusvergilius Zum Forschungsstand allgemein Beagon (Anm 8), S 416–420 Max Rabenhorst: Der Ältere Plinius als Epitomator des Verrius Flaccus Eine Quellenanalyse des 7 Buches der Naturgeschichte Berlin 1907 hat versucht, das ganze 7 Buch als Auszug aus Verrius Flaccus’ rerum memoria dignarum libri zu erweisen (dagegen überzeugend Alfred Klotz: Die Arbeitsweise des älteren Plinius und die Indices Auctorum In: Hermes 42 (1907), S 323–329), verliert allerdings kein einziges Wort über den Erfinderkatalog Friedrich Münzer: Beiträge zur Quellenkritik der Naturgeschichte des Plinius Berlin 1897, S 202 möchte den Teil des Katalogs, der sich mit der Zeitmessung befasst, Varro zuweisen, wozu die Materiallage aber m E nicht ausreicht (vgl ausführlich Wolkenhauer (Anm 8), S 70–101, bes S 71 f ) Tiziano Dorandi: Den Autoren über die Schulter geschaut Arbeitsweise und Autographie bei den antiken Schriftstellern In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 87 (1991), S 11–33 fokussiert den Prozess des Zusammentragens, nicht den Inhalt Unter den bildlichen Darstellungen gibt es zwar zahlreiche Erfinder, aber keine Kataloge bzw Reihe; Beispiele dafür bei Junker, Strohwald (Anm 9); das einzig mir bekannte Bild einer allegori-

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Der Katalog, der im Druck knapp 10 Seiten umfasst, untergliedert die menschliche Kultur in verschiedene Gegenstandsbereiche: zu den Handwerken, der Waffenkunst und dem Schiffbau treten die freien Künste und Wissenschaften, Staats- und Militärwesen als kulturelle Räume, innerhalb derer die Erfindungen einzelner Kulturheroen das jeweilige Feld abstecken Die Syntax des Katalogs ist eher schlicht; ein Beispiel verdeutlicht die Struktur:13 Versum heroum Pythio oraculo debemus De poematum origine magna quaestio; ante Troianum bellum probantur fuisse prosam orationem condere Pherecydes Syrius instituit Cyri regis aetate, historiam Cadmus Milesius, ludos gymnicos in Arcadia Lycaon, funebres Acastus in Iolco, post eum Theseus in Isthmo, Hercules Olympiae Das heroische Versmaß [den epischen Hexameter] verdanken wir dem pythischen Orakel Über den Ursprung der Dichtungen herrscht große Unklarheit; man nimmt an, dass es sie schon vor dem Trojanischen Krieg gegeben habe 14 Reden in Prosa zu verfassen führte Pherekydes von Syros in der Zeit des Königs Kyros ein, die Geschichtsschreibung begründete Kadmos von Milet, die gymnastischen Spiele Lykaon in Arkadien, Leichenspiele Akastus in Iolkos und nach ihm Theseus in Isthmos; Herakles [begründete die Spiele] in Olympia (Plin Nat 7,205)

Der Katalog ist geprägt von einer stilistisch wenig variablen Parataxe; inhaltlich konzentriert er sich auf die Nennung von Erfinder und Erfindung, Datum und Ort Dabei werden unter den εὑρέματα/inventiones, wie bei allen antiken Autoren üblich, Erfindungen, Entdeckungen und kulturelle Konventionen zusammengefasst; Plinius unterscheidet nicht zwischen Arte-, Mente- und Soziofakten 15 Häufig bietet er Varianten und Ergänzungen an, d h weitere Erfindungen eines bereits genannten Erfinders bzw weitere Orte, die die genannte Erfindung für sich beanspruchen (wie hier z B die Leichenspiele in Iolkos, Isthmos und Olympia) Auch agglutinierende Reihen kommen vor, in denen einer ‚Ersterfindung‘ immer neue Teile hinzugefügt werden – dem Al-

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schen Heuresis findet sich im Wiener Dioskurides; gefolgt von einer Epinoia (Wien, Cod Med gr 1, 4v und 5v) Dazu Beagon (Anm 8), S 449 f Möglicherweise ist dies nicht nur eine allgemeine Feststellung derart, dass der Ursprung der Dichtkunst sich im Dunkel der Geschichte verliere, sondern – nachdem der Hexameter bereits erwähnt ist – ein direkter Reflex der antiken Diskussion darüber, ob die homerischen Epen oder die Sachdichtung Hesiods als älter anzusehen seien Vgl Cic Brutus 75; Gellius 3,11 Francis Bacon scheint der erste gewesen zu sein, der den inventio-Begriff differenzierte, wobei er die sozialen Neuerungen, denen er eine geringere Reichweite zusprach, gegenüber den allgemein verbreiteten technischen Neuerungen abwertete Er erwähnt in diesem Zusammenhang den Buchdruck, das Schießpulver und den Kompass Vgl Francis Bacon: Neues Organon Hg von Wolfgang Krohn Hamburg 1990, S 266–272, hier S 270 (= Novum organum (1620) I,129)

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phabet weitere Buchstaben, den Saiteninstrumenten weitere Saiten 16 Nur gelegentlich gibt der Text an, wie spezifische Probleme vor der jeweiligen Erfindung gelöst wurden 17 Die Quellen bleiben meist unbestimmt (alii dicunt …) und nur vereinzelt treten Plinius selbst oder andere Heurematographen namentlich in Erscheinung 18 Schaut man genauer auf die Erfindernamen, zeigt sich, dass Plinius meist griechische Erfinder anführen kann In Einzelfällen greift er noch weiter zurück und erwähnt auch Ägypter, Phönizier, Syrer und Chaldäer Erst beim wiederholten Lesen fällt auf, dass er im ganzen Katalog keinen einzigen römischen Erst-Erfinder nennt und Rom selbst nur als ‚verspätete Kultur‘ erscheint (dazu s u ) Das entspricht durchaus dem common sense des vormodernen Erfinderdiskurses: Da ‚alt‘ und ‚gut‘ konvergierten,19 waren Erfinder vor allem in den frühen Epochen der Menschheitsgeschichte zu vermuten; die Römer waren demnach viel zu spät auf dem Spielfeld der Weltgeschichte erschienen, um noch etwas Bedeutendes leisten zu können Gleichwohl hätte Plinius, wenn er seine Epoche und seine Stadt stärker in die Erfindergeschichte hätte einschreiben wollen, die Möglichkeit dazu gehabt: Erinnert sei hier etwa an Ciceros Charakterisierung des römischen Kulturtransfers als accepta fecerunt meliora,20 was das Lob des ‚zweiten Erfinders‘ impliziert und Raum für die Nennung aller denkbaren Verbesserungen gibt Für alle Wissensbereiche lassen sich Beispiele finden, die die nötigen Qualitäten besaßen, um in einem Erfinderkatalog auftauchen zu können – seien es die als römisch angesehene Gattung der Satire,21 die Tironische Kurzschrift (notae Tironianae)22 oder die Spezifika der republikanischen Staatsordnung 23 Plinius selbst beschreibt in der Naturalis Historia ausführlich die römischen Wunder der Baukunst, von denen nicht nur die Wasserleitungen einen Platz im Katalog hätten beanspruchen dürfen 24 Er hat diese Möglichkeit nicht genutzt, was eine Reihe möglicher Schlüsse zulässt: z B dass die Römer nach Plinius’ Einschätzung doch nichts Nennenswertes erfunden hätten, dass ihre Erfindungen in die aus ungenannten Gründen widerständige Gattung

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Plin Nat 7,192 f und 204 Plin Nat 7,191, 194 und 206: Ceres frumenta [invenit], cum antea glande vescerentur […] domus constituerunt primi Euryalus et Hyperbius fratres Athenis, antea specus erant pro domibus […] nave primus in Graeciam ex Aegypto Danaus advenit, antea ratibus navigabatur […] Plinius in Nat 7,192 (arbitror); Philostephanos von Kyrene in Nat 7,207 und im Index zu Buch 7; Straton von Lampsakos nur im Index Zu den Indices s Münzer (Anm 11), 119–136 Eine hervorragende diachrone Studie zur Ideengeschichte des Altersbeweises bietet Peter Pilhofer: Presbyteron Kreitton Der Altersbeweis der jüdischen und christlichen Apologeten und seine Vorgeschichte Tübingen 1990 Cic Tusc 1,1: meum semper iudicium fuit omnia nostros aut invenisse per se sapientius quam Graecos aut accepta ab illis fecisse meliora, quae quidem digna statuissent, in quibus elaborarent Quint 10,1,93 Plut Cat Min 23,3 Cf Cic Rep 2,23,42; 2,38,64 u ö Plin Nat 36,101–125

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des Erfinderkatalogs nicht so recht passten, oder aber dass die Römer andere Orte und Verfahren gefunden hätten, um sich über ihre eigenen kulturellen Entwicklungen zu verständigen 25 Zumindest der erste mögliche Schluss wird, wie eben skizziert, in der römischen Literatur und auch von Plinius selbst widerlegt Es bleiben die beiden anderen Schlüsse: eine eventuelle Widerständigkeit der Gattung oder aber die Präferenz anderer literarischer Orte und Verfahren Eines dieser Verfahren ist im Katalog selbst zu erkennen,26 an dessen Ende eine eigentümliche, durch Umfang und Differenziertheit auffällige Trias der ‚Mittelmeererfindungen‘ Alphabet, Rasur und Uhr hervorsticht 27 Ihre umfassende kulturstiftende und kulturerhaltende Kraft hebt diese über den Kreis der allgemeinen Erfindungen empor Die eigentümliche Trias ist nirgends sonst überliefert Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass sie römischen Ursprungs ist, denn in jedem der drei Fälle behandelt der Text die Geschichte der Erfindungen in einer Weise, die den Dazuerfindern, Weiterentwicklern und Ergänzern viel Aufmerksamkeit gewährt Das führt dazu, dass Römer hier nun ganz selbstverständlich einen Platz in der Erfindergeschichte einnehmen, wenn auch, weltgeschichtlich betrachtet, eher spät (tardius, serius) 28 Die römischen Erfindungen erhalten am Ende von Katalog und Buch in der Naturalis Historia also durchaus einen eigenen Platz, vor allem aber eine neue methodische Disposition: Bei der ausführlichen Darstellung der drei weltumspannenden inventiones treten zu den fernen ersten Erfindern auch die zweiten und dritten und vierten hinzu, d h all jene, die Begründung, Entwicklung und Tradition einer kulturellen Praxis aus der Sicht späterer Generationen ausmachen Eine Antwort auf die oben formulierte Frage könnte also lauten: Ja, die Gattung des Erfinderkatalogs war offenbar so widerständig, dass es geboten schien, die alten Texte zu erhalten, sie jedoch nicht fortzuschreiben (was die Katalogform durchaus hergegeben hätte), sondern zusätzliche, neue Kataloge zu bilden, die explizit das Neue herausstellten 29 Dieses Verfahren soll am Beispiel der Schriftentwicklung genauer untersucht werden 30

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Als erstes wären hier die Proömien und andere poetologische Passagen zu nennen, in denen die jeweiligen Autoren sich als erste Kundschafter in einem unbesiedelten Neuland vorstellen Siehe dazu umfassend Isa Gundlach: Poetologische Bildersprache in der Zeit des Augustus Hildesheim 2019 (Spudasmata 182); zu Lukrez auch Anja Wolkenhauer: Lukrez’ Honigbechergleichnis als ästhetische Reflexionsfigur: Struktur, Funktionen, Kontexte In: Ästhetische Reflexionsfiguren in der Vormoderne Hg von Annette Gerok-Reiter u a Heidelberg 2019 (Germanisch-Romanische Monatsschrift, Beiheft 88), S 111–131 Plin Nat 7,192 f Plin Nat 7,210–215 Plin Nat 7,211 und 212 Ob dies de facto ein plinianisches oder allgemein verbreitetes Verfahren war, lässt sich auf der gegebenen Quellenlage kaum ermitteln; eine diachron vorgehende Analyse der Heuremataliteratur wäre in diesem Zusammenhang höchst wünschenswert und sicher ertragreich Ich habe an anderer Stelle ausführlich dargestellt, wie die ‚Romanisierung‘ der Zeitmessung im Katalog erfolgt (Wolkenhauer (Anm 8))

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Die beiden strukturell abweichenden Partien des Katalogs stehen an seinem Beginn und am Ende, wobei ein Thema, das Alphabet, an beiden Orten aufgegriffen wird, so dass eine Art Rahmen sichtbar wird Ob man dies als Relikt eines nicht kaschierten kompilatorischen Verfahrens oder aber als bewusste Ringkomposition auffasst, hängt vor allem damit zusammen, welche literarischen Intentionen und Fähigkeiten man dem Verfasser unterstellt Für die hiesigen Überlegungen kann es außer Betracht bleiben Plinius schreibt in diesem ‚Rahmen‘ über die Erfindungsgeschichte des Alphabets:31 Litteras semper arbitror Assyrias fuisse, sed alii apud Aegyptios a Mercurio, ut Gellius, alii apud Syros repertas volunt, utrique in Graeciam attulisse e Phoenice Cadmum sedecim numero, quibus Troiano bello Palameden adiecisse quattuor hac figura ZYΦX, totidem post eum Simoniden melicum ΦΞΩΘ, quarum omnium vis in nostris recognoscitur Aristoteles decem et octo priscas fuisse et duas ab Epicharmo additas XZ quam a Palamede mavult Anticlides in Aegypto invenisse quendam nomine Menon tradit, XV annorum ante Phoronea, antiquissimum Graeciae regem, idque monumentis adprobare conatur e diverso Epigenes apud Babylonios DCCXX annorum observationes siderum coctilibus laterculis inscriptas docet, gravis auctor in primis; qui minimum, Berosus et Critodemus, CCCCXC ex quo apparet aeternus litterarum usus in Latium eas attulerunt Pelasgi […] Gentium consensus tacitus primus omnium conspiravit, ut Ionum litteris uteretur Veteres Graecas fuisse easdem paene quae nunc sunt Latinae, indicio erit Delphica antiqui aeris, quae est hodie in Palatio dono principum Minervae dicata in bibliotheca […] Ich glaube, dass es immer schon assyrische Buchstaben gab, aber andere Autoren wie Gellius sind der Ansicht, sie seien bei den Ägyptern von Merkur, und wieder andere, sie seien bei den Syrern erfunden worden Nach beiden soll Cadmus sechzehn Buchstaben an der Zahl von Phönizien nach Griechenland gebracht haben Zu diesen habe Palamedes während des Trojanischen Krieges vier hinzugefügt in folgender Gestalt: ZYΦX Ebenso viele hat nach ihm der Dichter Simonides hinzugefügt: ΦΞΩΘ Die Substanz all dieser Buchstaben ist auch bei den unsrigen zu erkennen Aristoteles ist der Ansicht, dass achtzehn Buchstaben alt und die zwei Buchstaben XZ eher von Epicharm als von Palamedes hinzugefügt worden seien Antikleides überliefert, dass ein gewisser Menon in Ägypten sie 15 000 Jahre vor Phoroneus, dem ersten König Griechenlands, erfunden habe, und sucht dies aus Denkmälern zu beweisen Dagegen lehrt Epigenes, dass bei den Babyloniern Be-

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Die zentralen Referenztexte sind nachgewiesen bei Plinius: Naturkunde Buch VII: Anthropologie Hg von Roderich König, Gerhard Winkler 2 Auflage Berlin 2013, S 228–230 und S 243 f Der Aristoteleshinweis bezieht sich auf keine überlieferte Schrift Tacitus Ann 11,14,1 greift diesen Teil des Katalogs mit signifikanten Abweichungen wieder auf, dazu s u Gute Übersichten zur Geschichte des Alphabets bieten Andreas Willi: Epicharmus, Simonides and the ‚Invention‘ of the Greek Alphabet In: Museum Helveticum 70 (2013), S 129–140 und Rex E Wallace: The Latin Alphabet and Orthography In: A companion to the Latin language Hg von James Clackson Malden 2011, S 9–28

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obachtungen der Gestirne von 720 00032 Jahren auf Tonziegeln eingeschrieben seien; vor allem ist er ein gewichtiger Autor Berosos und Kritodemos, welche am wenigsten Zeit annehmen, sagen 490 000 Jahre, woraus der unendlich lange Gebrauch der Buchstaben hervorgeht Nach Latium brachten sie die Pelasger […] Die erste stillschweigende Übereinkunft aller Völker [des Mittelmeerraumes] bestand darin, die ionischen Buchstaben zu gebrauchen Dass die alten griechischen Buchstaben fast dieselben waren wie die heutigen lateinischen wird eine Delphische Tafel aus altem Erz zeigen, die heute als Geschenk der Herrscherfamilie im Palast [auf dem Palatin in der Bibliothek] ist Sie ist der Minerva geweiht […] 33 (Plin Nat 7,192–193; 210)

Plinius führt die Geschichte des Alphabets unter denjenigen Erfindungen auf, die dem gesamten Mittelmeerraum gemeinsam sind, und er führt die Kette der Verbindungen und Übernahmen bis an die Gegenwart heran: Auf den göttlichen primus inventor Merkur folgen weitere Kulturheroen in absteigender Größe (Kadmos, Palamedes, Simonides etc ) Parallel dazu wird ein geographischer Zug ums Mittelmeer von Assyrien über Ägypten und Phönizien bis nach Griechenland vorgeführt,an dessen Ende die allgemeine Verbreitung der Schrift steht Dabei galt die erste inventio dem Prinzip der Schrift, während die späteren den Zeichenbestand ergänzten und ihn den jeweiligen regionalen Bedürfnissen anpassten Das griechisch-römische Alphabet wird hier als historische Einheit behandelt, was zur Folge hat, dass die imitatio/aemulatio-Thematik keine Rolle spielt, da die zur Diskussion stehende Praxis beiden Kulturen gemeinsam angehört Immer weiter konnten neue Akteure sich in die lange Liste der Mitwirkenden einschreiben; die Geschichte der Erfindungen öffnet sich bis auf Plinius’ unmittelbare Gegenwart hin Anders als im übrigen Heurematakatalog legt Plinius bei der Schrift großen Wert auf explizite Referenzen Er führt sowohl materielle Zeugnisse (monumenta; tabula Delphica) als auch Autoren an, die z T außerhalb der heurematographischen Literatur stehen Den Astronomen Berossos, den Philosophen Aristoteles und den Historiker Antikleides als Referenz zu nennen, zielt über die Absicherung der Quellen auf eine Nobilitierung des Katalogs;34 die Vielzahl der angeführten Autoren impliziert einen hohen Anspruch auf wissenschaftlichen Abgleich und Glaubwürdigkeit Zugleich aber spannt Plinius das Netz dadurch weiter aus und verwandelt die lineare Erzählung in

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Zur problematischen Überlieferung der Zahlzeichen bei Plinius s Klotz (Anm 11), S 325 Die folgende griechische Inschrift ist in der Überlieferung entstellt und hat spätestens seit Scaliger zahlreiche Emendationsvorschläge erfahren Mayhoff hat in seiner Edition den Zusatz in bibliotheca athetiert; spätere Herausgeber sind ihm darin nicht gefolgt In die gleiche Richtung weist die Nennung des kaiserlichen Palastes als Auf- und Ausstellungsort der delphischen Tafel (Plin Nat 7,210)

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ein zeit- und ortsübergreifendes Gewebe 35 Rom erscheint zuerst in Gemeinschaft mit den griechischen Staaten, mit denen es das Schriftsystem teilt; dann als Hüter der delphischen Tafel, die eben diese Gemeinschaft bezeugt Genau dort allerdings, wo ein aktueller römischer (Dazu-)Erfinder zu nennen wäre, schweigt der Text Für zeitgenössische Leser erscheint hier eine stark markierte Lücke, ein kaum übersehbarer Gegenwartsbezug: Es war erst wenige Jahrzehnte her, dass Kaiser Claudius dem römischen Alphabet drei Buchstaben hinzugefügt hatte; vermutlich während seiner Censur im Jahre 47 n Chr Die Buchstaben wurden in den Inschriften seiner Regierungszeit verwendet Sie konnten sich im Alltag allerdings nicht wirklich durchsetzen und verloren mit seiner Ermordung 54 n Chr ihren wichtigsten Fürsprecher, waren aber noch lange danach in Rom sichtbar 36 Plinius öffnet die Geschichte des Alphabets durch die Betonung der verschiedenen historischen Ergänzungen auf die Reform des Claudius hin, doch er nennt dessen Namen nicht 37 Möglicherweise lässt sich diese irritierende Lücke damit erklären, dass das hier zitierte 7 Buch als eines der ersten Bücher der Naturalis Historia in der schwierigen Situation kurz nach dem Tod des Kaisers Claudius im Herbst 54 n Chr vollendet wurde 38 Die anschließende Ächtung seiner Person erlaubte es Plinius, der über viele gemeinsame Interessen mit dem Kaiser verbunden gewesen war, zwar, Claudius’ wissenschaftliche Arbeiten gelegentlich zu zitieren, aber nicht, ihn als handelnden Politiker und Kulturstifter zu loben 39 Ich möchte trotzdem den im Katalog angelegten Gedankenversuch unternehmen und versuchsweise den Namen 35

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In ganz ähnlicher Weise verfährt er auch bei der Rasur, wo Augustus’ Rolle als bedeutender ‚Promoter‘ der kulturellen Praxis betont wird, und bei der Uhr, wo die zahlreichen römischen Censoren erwähnt werden, die an der Herstellung immer genauerer Uhren für Rom beteiligt waren (Plin Nat 7,211–215) Suet Claudius 41,3: novas etiam commentus est litteras tres ac numero veterum quam maxime necessarias addidit; de quarum ratione cum privatus adhuc volumen edidisset, mox princeps non difficulter obtinuit, ut in usu quoque promiscuo essent Extat talis scriptura in plerisque libris ac diurnis titulisque operum; vgl Tac Ann 11,13 f (s u ); Quint Inst 1,7,26; Prisc Inst 1,4,20 und 1,7,42 Eine Parodie könnte in Sen Apoc 3,4 vorliegen Siehe dazu Jürgen Malitz: Claudius (FGrHist 276) – der Prinzeps als Gelehrter In: Die Regierungszeit des Kaisers Claudius (41–54 n Chr ) Umbruch oder Episode? Hg von Volker M Strocka Mainz 1994, S 133–141, 140 f Roland Papke: Des Kaisers neue Buchstaben Claudius in Tac Ann 11,14 und Sen Apocol 3,4 In: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft 12 (1986), S 183–196 liest die Passage aus Tacitus als teils wortgenaue Zusammenfassung eines Claudiusfragments Beide kannten einander zumindest aus der Ferne; Plinius war 18, als Claudius die Regierung übernahm, er machte unter ihm seine ersten Karriereschritte und war 31, als er starb Beide teilten die gleichen sprachlich-antiquarischen Interessen; Plinius erwähnt in Nat 7,35 einen „Hippokentauren“, der dem Kaiser Claudius zugesandt worden sei und den er selbst gesehen habe; hier könnte es ein Treffen gegeben haben (Claudius Caesar scribit hippocentaurum in Thessalia natum eodem die interisse, et nos principatu eius adlatum illi ex Aegypto in melle vidimus ) Textimmanente Hinweise führen zu den 50er Jahren des ersten Jahrhunderts als frühestem Abfassungsbeginn (s etwa Plin Nat 10,120); die Widmung an Titus verweist den Abschluss in die späten 70er Jahre Cf Plinius’ Verweis auf die Historiae des Kaisers Claudius (Plin Nat 12,78)

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des Claudius mit seiner Reform verbinden und in den Erfinderkatalog einfügen Was würde geschehen? Die Namensliste, die Plinius so umfänglich referiert, macht eine Tradition sichtbar Schriebe man die Reform des Kaisers hier ein, würde sein Handeln durch den Bezug auf große Vorbilder (Kadmos, Palamedes, …) legitimiert und ließe den Vorwurf des politisch Irrelevanten, Unangemessenen und Normabweichenden hinter sich Dass Claudius, der gelehrte Kaiser, diesen Schutz durch die Tradition mehr als andere nötig hatte, hat Jürgen Malitz am Beispiel seiner historischen Schriften überzeugend gezeigt 40 Claudius’ Handlung gewönne durch die Einschreibung in eine Tradition – zumindest zeitweise – an Gravität und Autorität Er erschiene dort als Nachfolger und Vollender eines großen Projekts; man könnte sagen: als Klassizist der Schriftlichkeit Erst Tacitus weist ihm diesen Platz tatsächlich zu Claudius’ Reform war noch gut 60 Jahre später, als Tacitus in einer stark von Plinius geprägten Darstellung der Schriftentwicklung direkt darauf zu sprechen kam, bekannt und an Inschriften abzulesen Daher konnte Tacitus die Lücke füllen, die Plinius gelassen hatte, und Claudius als bis dato letzten Vollender der Alphabetschrift würdigen:41 Primi per figuras animalium Aegyptii sensus mentis effingebant ea antiquissima monimenta memoriae humanae impressa saxis cernuntur, et litterarum semet inventores perhibent; inde Phoenicas, quia mari praepollebant, intulisse Graeciae gloriamque adeptos, tamquam reppererint quae acceperant quippe fama est Cadmum classe Phoenicum vectum rudibus adhuc Graecorum populis artis eius auctorem fuisse […] at in Italia Etrusci ab Corinthio Demarato, Aborigines Arcade ab Evandro didicerunt; et forma litteris Latinis quae veterrimis Graecorum sed nobis quoque paucae primum fuere, deinde additae sunt quo exemplo Claudius tres litteras adiecit, quae usui imperitante eo, post oblitteratae, adspiciuntur etiam nunc in aere publico † is plebiscitis per fora ac templa fixo Die Ägypter waren die ersten, die die Wahrnehmungen des Geistes durch die bildliche Darstellung von Tieren ausdrückten Diese ältesten Denkmäler des menschlichen Denkens sieht man in Stein eingehauen, die Ägypter halten sich aber auch für die Erfinder der Buchstaben Von ihnen hätten die Phönizier, die das Meer beherrschten, die Buchstaben nach Griechenland gebracht und dadurch den Ruhm erlangt, als hätten sie erfunden, was sie nur übernommen hatten Man erzählt, Cadmus sei mit einer phönizischen Flotte gekommen und sei der Begründer dieser Kunst bei den bis dahin noch rohen griechischen Stämmen gewesen […] In Italien aber lernten die Etrusker die Buchstaben von dem Korinther Demaratus, die ursprünglich dort lebenden Latiner von dem Arkader Euander Das Aussehen ist bei den lateinischen Buchstaben dasselbe wie bei den ältesten griechischen Buchstaben Aber auch wir hatten zuerst nur wenige, die später vermehrt wurden 40 41

Malitz (Anm 36) Die wichtigsten Referenztexte bei Koestermann Der letzte Satz ist im Wortlaut unsicher, inhaltlich aber doch noch ausreichend klar

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Nach diesem Beispiel fügte Claudius drei Buchstaben hinzu, die während seiner Regierungszeit verwendet wurden, später aber in Vergessenheit gerieten Man kann sie auch jetzt noch auf den ehernen Tafeln zur Publikation von Plebisziten [?] auf Marktplätzen und in Tempeln sehen (Tac Ann 11,14)

Was zeigt das Beispiel? Plinius’ Katalog inkorporiert unterschiedliche Typen von Katalogen, deren scheinbar so karge und objektive Form viele Gestaltungsspielräume zeigt Bei der Schriftentwicklung schreibt er die Römer in eine Erfindergeschichte ein, bei der er von einem griechisch-römischen Gemeinbesitz ausgeht, was zur Folge hat, dass die sprichwörtliche Verspätung der Römer gar nicht erst in den Blick gerät Die Betonung der Gemeinschaft, die Wahrung der Tradition und die fortschreitende Vervollkommnung der Schrift, die sich in Rom unter Claudius fortsetzt: Das ist der Kern des letzten Katalogteils (7,212–215) und zugleich das, was ihn vom traditionellen Hauptteil (7,194–209) unterscheidet Aus eher kontingenten Gründen erscheint diese Vollendung der Schriftentwicklung bei Plinius nur angedeutet, bei Tacitus (vorerst) erreicht 4. Heurematakataloge als Instrumente des Traditionalismus Was aber hat nun die Detailarbeit am Erfinderkatalog mit dem Begriff des Klassischen zu tun? Die Listen, die Plinius und Tacitus vorführen, lassen sich eben auch in eine andere Richtung lesen: In ihnen wird ganz offensichtlich aus der Sicht der jeweiligen Gegenwart eine Vergangenheit konstruiert und das an ihr Maßgebliche herausgearbeitet, also ihr Permanenz- und Klassikerpotential Diese Kategorie ist ganz offenbar nicht nur literarisch zu denken, sondern auch auf andere kulturelle Praktiken anwendbar Plinius’ Entwurf endet mit einer markierten Leerstelle, derjenige von Tacitus dagegen explizit mit der Reform des Claudius Eric Hobsbawm hat die besondere Rolle der von ihm so genannten „erfundenen Traditionen“ (invented traditions) betont und an europäischen Beispielen der jüngeren Geschichte vorgeführt: vom venezianischen Karneval bis zum bayrischen Dirndl erzeugen sie erst die Welt, von der sie sprechen, um sie dann zum historischen Referenzrahmen für das Verständnis der Gegenwart zu machen 42 Indem sie mit sprachlichen Mitteln eine neue Tradition erscheinen lassen, eröffnen sie ihrer Zeit neue Möglichkeiten, Normen zu verankern, ein historisches Maß zu definieren und ein (je) neues Selbstbild zu gestalten Ebendies leisten auch die Heurematakataloge: Sie erzeugen neue Traditionen im Sinne Hobsbawms, um den Bedürfnissen der Gegenwart – in

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Hobsbawm (Anm 7)

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diesem Fall nach Alter und Erhabenheit der eigenen Schrift – zu genügen 43 Sie orientieren sich weniger an den Hinterlassenschaften der Epoche, von der sie berichten, als an den Bedürfnissen der Epoche, in der sie entstehen: Die erfundene oder zumindest gut eingerichtete Tradition dient bei Plinius der Akzeptanzförderung für die Maßnahmen eines unpopulären Herrschers und der Aufwertung Roms als zivilisatorischer Macht Hobsbawms Ansatz ist, wie eingangs erwähnt, von Dietmar Rothermund fortgeführt worden, der dem Begriff der Tradition den des Traditionalismus im Sinne einer bewussten Traditionsgestaltung hinzugefügt hat 44 Klaus Antoni hat dies am Beispiel der japanischen Kulturpolitik v a des neunzehnten Jahrhunderts exemplifiziert 45 Ihr Blick richtet sich v a auf außereuropäische Gesellschaften, doch ich glaube, dass das Konzept auch auf das vormoderne Europa anzuwenden ist Rothermund unterscheidet die Tradition, d h die Summe der oft widersprüchlichen kulturellen Konventionen, vom Traditionalismus, womit er die von Vorannahmen geleitete Auswahl aus der Überlieferung bezeichnet sowie ihre Ergänzung, die darauf zielt, eine kohärente Erzählung zu erschaffen Einheitlichkeit und Widerspruchsfreiheit sind für die traditionalistische Vergangenheitsbildung von großer Bedeutung Rothermund weist darauf hin, dass dieses Bemühen mit einem großen Interesse an Begriffsprägungen einhergeht, und ich möchte vorschlagen, auch den Begriff des Klassischen, wie wir ihn seit Gellius erahnen, hier zu verorten: Er bringt uns den Namen für das Vorbildhafte, das in sich die älteren heterogenen Konzepte vereint, und erhebt rückwärtsgewandt zum Modell, was er selbst erschafft Betrachtet man den Erfinderdiskurs aus dieser Perspektive, so erscheint er durch eine Traditionsbildung bestimmt, deren Kern darin liegt, die Verankerung der römischen Kultur in der griechischen zu beschwören und die grundlegende Einheit beider hervorzuheben; eine Haltung, die nicht nur literatur- sondern auch forschungsprägend geworden ist Imitatio meint, als Figur des Traditionalismus begriffen, nicht nur ein beschreibbares Faktum neben anderen, sondern vor allem auch die Fokussierung

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Dabei sind die genannten Erfinder – Simonides, Palamedes, Merkur, die Ägypter etc – durch ihre geläufigen Attribute als geeignete, durch Weisheit und Erfindungsgabe als ausgezeichnete Kandidaten legitimiert Vieles aber ist austauschbar, wie ein Blick in die älteren Fragmente zeigt; wichtig sind allein die Herkunft aus alten Kulturen und die Attribute, die auf die Erfindung und die Nacherfinder übergehen Rothermund (Anm 7) Rothermund betont die Bedeutung von Solidaritätsstiftung, Einheit und Reinheit, erwähnt aber auch die damit einhergehende Begriffsprägung Hier könnte die Frage nach dem Klassischen in weiteren Studien anknüpfen Antoni (Anm 7), bes S 107 f , S 110 f Antoni begründet den besonderen Bedarf Japans an „invented traditions“ u a mit der vergleichsweise späten Reichsgründung (111) Dieser nationalstaatliche Begründungsansatz lässt sich nicht direkt auf die Antike übertragen Es sei aber darauf hingewiesen, dass auch Plinius d Ä wiederholt die ‚Verspätung‘ der Römer hervorhebt, womit er ein eher kulturelles Zu-spät-Sein und Hinterherhinken meint Die Wahrnehmung einer kulturellen Differenz und Unterlegenheit, die ausgeglichen werden soll, verbindet beide Positionen

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auf das griechisch-römische Schülerverhältnis Seine Wirkung entfaltet sich dann genau dort, wo er Wechselwirkungen unterschlägt und andere (karthagische, ägyptische, …) Kulturkontakte ausblendet Die römischen Dichter machen seit Lukrez zögernde Schritte, den Blick in die Vergangenheit neu auszurichten, um der als römisch verstandenen Kultur mehr Raum zu gewähren, indem sie den geographischen Horizont ihrer Aussagen verändern Sie suchen die ersten in Rom, in ihrer Epoche oder in einem bestimmten Bereich Sie fragen nicht nur nach den absolut, sondern auch nach den relativ Ersten; auch das sei eine bedeutende Leistung 46 Die Relativierung des ‚ersten Erfinders‘ behält zwar die Vorstellung bei, die imitatio Graecorum sei Grundlage aller römischen Kultur, eröffnet aber zugleich Raum für alle anderen Begründer, Mit- und Dazuerfinder Wenn derartige Traditionalismen Konstruktionen im Dienste der jeweiligen Gegenwart sind, so sind sie historisch stark variabel: Verändert sich der Selbstentwurf der Gegenwart, verändert sich auch der Blick auf die Traditionen Die Annahme, dass jede „invented tradition“ vor allem prekäre Positionen der jeweiligen Gegenwart zu stützen hat, kann man am weiteren Gang der Erfindungsgeschichte der Schrift überprüfen Denn spätere Jahrhunderte haben im Wechsel entweder den historischen Ursprung der Schrift neu fixiert oder aber Entwicklungen ihrer Gegenwart neu eingereiht: Die erfundene Tradition wächst sozusagen auf beiden Seiten, um das (je) Neue zu stabilisieren Während die ältere Tradition die göttlichen Erfinder in den Vordergrund gestellt hatte,47 betonten Plinius und nach ihm Tacitus die Heroen und Gründerväter Griechenlands Isidor von Sevilla überführte die Schrifterfindung in den jüdisch-christlichen Kulturraum, indem er das Alphabet auf hebräische Vorbilder zurückführt 48 Ein frühmittelalterlicher Merkvers fügt die Schrift, die Ulfila (Wulfilas) für seine gotische Bibelübersetzung entwickelt hatte, hinzu und verleiht ihr damit den gleichen Rang wie den gewichtigen Ahnen 49 Jeder dieser Kataloge eröffnet in seiner scheinbaren Objektivität und inhaltlichen Harmlosigkeit einen je neuen Blick auf das Vorbildliche und Maßstabsetzende vergangener Zeiten und Kulturen Die Schrift erweist sich als anschauliches Beispiel des Tra46 47 48

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Zu den poetologischen Reflexionsfiguren bei Lukrez s Wolkenhauer (Anm 25; mit weiterer Literatur) Am eindrücklichsten bei Hygin fab 277 Isid orig 1,3,4–4,1: Litterae Latinae et Graecae ab Hebraeis videntur exortae […] Hebraeorum litteras a Lege coepisse per Moysen: Syrorum autem et Chaldaeorum per Abraham […] Aegyptiorum litteras Isis regina, Inachis filia, de Graecia veniens in Aegyptum, repperit et Aegyptiis tradidit […] Graecarum litterarum usum primi Phoenices invenerunt […] Cadmus Agenoris filius Graecas litteras a Phoenice in Graeciam decem et septem primus attulit […] Y litteram Pythagoras Samius ad exemplum vitae humanae primus formavit […] Reliquas vero duas summam et ultimam sibi vindicat Christus […] Eugen von Toledo, carmen 39 (= Migne PL 87,366): Moyses primus Hebraeas exaravit litteras, / mente Phoenices sagaci condiderunt Atticas / quas Latini scriptitamus, edidit Nicostrata, / Abraham Syras, et idem repperit Chaldaicas, / Isis arte non minore protulit Aegyptias, / Gulphila prompsit Gaetarum, quas habemus ultimas

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ditionalismus, hier konkretisiert in der Bildung von immer neuen Erfinderreihen Die Konsequenzen der Aufnahme oder Verdrängung der claudianischen Zeichen habe ich im Gedankenexperiment zu zeigen versucht Im Hinblick auf langfristige Entwicklungen fällt es allerdings deutlich schwerer, die Wirkmächtigkeit des Traditionalismus zu erkennen, d h die möglichen Alternativen zu der vorgestellten Tradition zu identifizieren Was würde es ausmachen, wenn die Differenz zwischen Bild- und Hieroglyphenschriften stärker herausgearbeitet würde? Was, wenn die jüdisch-christliche Linie (Moses, Abraham, Ulfila) dominierte? Und was würde eine weibliche Schriftgeschichte (Nikostrata, Carmenta, …) signalisieren? 5. Im Detail: Die Wiederaufnahme des plinianischen Katalogmodells bei Polidoro Virgilio Nach Plinius entstanden für lange Zeit keine Erfinderkataloge mehr Sein Werk aber war im Mittelalter nicht vergessen und musste in der Renaissance nicht wiederentdeckt werden 50 Es gehörte zu den Druckerfolgen der Frühen Neuzeit; mehr als 50 vollständige Ausgaben sind aus der Zeit vor 1600 bekannt, so dass man sicher sein darf, dass Autoren und Leser der Frühen Neuzeit mit ihm vertraut waren 51 Zugleich entstanden in kürzester Frist mehrere eng aufeinander bezogene Schriften mit dem Titel de inventoribus,52 die den Erfinderkatalog zur charakteristischen Literaturform des Zeitalters der Entdeckungen machten Als erstes erschien 1483 das hexametrische Kataloggedicht De rerum et artium inventoribus des venezianischen Humanisten Marcantonio Sabellico im Druck 53 Auch wenn die von ihm gewählte Form neu war, der In-

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Zur Wirkungsgeschichte umfassend Arno Borst: Das Buch der Naturgeschichte Plinius und seine Leser im Zeitalter des Pergaments Heidelberg 1994 Zur handschriftlichen Überlieferung von C Plinius Secundus’ Naturalis Historia s Charles G Nauert: Caius Plinius Secundus Catalogus Translationum et Commentariorum IV Washington 1980, S 297–422 Der Erstdruck erfolgte 1469 Der Gesamtkatalog der Wiegendrucke nennt 18 Inkunabeldrucke; das VD 16 führt allein für den deutschsprachigen Raum 23 Drucke des sechzehnten Jahrhunderts auf, Edit 16 sogar 25 Drucke für Italien, wobei in dieser Zeit auch viele Kommentare hinzukommen Eine erste Übersicht über die heurematographische Literatur des sechzehnten Jahrhunderts bietet Atkinson (Anm 4), S 54–57; vgl auch allgemein Dohrn-van Rossum (Anm 4), S 27–49, bes S 36 f Aus dem siebzehnten Jahrhundert sind zu ergänzen das enzyklopädische ‚Teatro degli inventori di tutte le cose‘ von Vincenzo Bruno di Melfi, Neapel 1603, und die systematische Studie de novis inventis (auch: de curiosis inventis) des norddeutschen Polymathen Georg Pasch (1661–1707); digital zugänglich in der ÖNB unter http://permalink obvsg at/AC10182530 Marcantonio Sabellico (1436–1506): De rerum et artium inventoribus In: Opera Venedig 1502; Wiederabdruck u a in Straßburg 1509 (bei Schürer, gemeinsam mit anderen Texten de inventoribus, ab S 154, digital unter http://data onb ac at/rec/AC10398371), Leipzig 1511 (bei Stöckel, Digitalisat unter http://gateway-bayern de/VD16+ZV+18717) Atkinson (Anm 4), S 308, zitiert nach der Ausgabe der Opera von 1483, die ich nicht habe konsultieren können

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halt war es nicht: Er hob den Katalog des Plinius erstmalig als selbständiges Werk ans Licht der Öffentlichkeit Seine Zusammenfügung einer kurzen Widmungserzählung mit dem versifizierten Plinius könnte man als Lehrgedicht bezeichnen; der Gesamteindruck ist jedoch eher der einer Schulübung: die Versifizierung eines klassischen Textes 54 Nur wenig später publizierte Polidoro Virgilio sein mehrbändiges Prosawerk De inventoribus rerum (1499) Er habe getan, so schreibt Polidoro, was niemand vor ihm im Detail versucht habe, außer Plinius, der die Erfindungen allerdings nur ziemlich knapp behandelt habe, und Marcantonio Sabellico, der sie in einer hexametrischen Dichtung knapp und oberflächlich darstelle 55 Sein Werk galt zuerst nur heidnisch-antiken Erfindungen, wurde dann aber um die inventiones und instituta des Christentums ergänzt und umfasste zuletzt acht Bücher, die bald in alle Sprachen Europas übersetzt wurden 56 Das Werk übertrifft Plinius’ Prosa und Sabellicos carmen an Ausführlichkeit um ein Vielfaches Wie Plinius verbindet Polidoro möglichst jede Erfindung mit einem Namen und macht die kulturelle und technische Entwicklung zu einer Folge göttlicher Geschenke und menschlicher Funde Jede Erfindung wird gegenständlich bestimmt und topographisch, gelegentlich auch chronologisch fixiert Anders als sein Vorgänger legt Polidoro jedoch Wert darauf, das Material über die Katalogform hinaus zu kommentieren und zu systematisieren Er scheidet weltliche und geistliche inventiones voneinander, gruppiert die Wissenschaften und Künste nach dem Prinzip der guten Nachbarschaft und fasst einzelne Erfindungen narrativ zusammen 57 54

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Zu der Tradition der Progymnasmata s Manfred Kraus: Progymnasmata, Gymnasmata In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 7 Hg von Gert Ueding, Gregor Kalivoda Darmstadt 2005, S 159–190 Zum Verhältnis zwischen Polidoros Prosawerk und Sabellicos Dichtung s ausführlich Ruth Chavasse: De inventoribus rerum: Marcantonio Sabellico and Polydore Vergil In: Polidoro Virgilio e la Cultura Umanistica Europea Atti del Convegno Internazionale Hg von Rolando Bacchielli Urbino 2000, S 207–224 Das carmen hat aufgrund seines geringen Umfangs offenbar keine Einzeldrucke erfahren, wurde aber im Rahmen der Opera Sabellicos bzw später auch im Anhang anderer Erfinderschriften vielfach publiziert Polidoro Virgilio, De inventoribus, praef ad Lodovicum Odaxium, 7: quod nemo ante me praeter Plinium particulatim tentaret, qui […] de hac restrictim admodum meminit, et M Antonium Sabellicum, qui hexametro carmine ea fere ipsa itidem praestrinxit Polidoro Virgilio, De inventoribus rerum, Erstdruck Venedig 1499 Die einzige moderne kritische Ausgabe stammt von Copenhaver (Anm 10); alle Zitate aus De inventoribus rerum in diesem Aufsatz sind aus ihr entnommen Darüber hinaus liegt eine englische Übersetzung aller acht Bücher (d h der seit 1521 vorliegenden, um fünf Bücher über die christlichen Erfindungen erweiterten Fassung) von Beno Weiss und Louis C Pérez vor: Beginnings and Discoveries: Polydore Vergil’s De inventoribus rerum An unabridged Translation and Edition with Introduction, Notes and Glossary Nieuwkoop 1997 (Bibliotheca Humanistica et Reformatorica 56) Eine hervorragende und umfassende Studie zum Werk, der der vorliegende Aufsatz viel verdankt, hat Catherine Atkinson (Anm 4) vorgelegt Atkinson hält den ordo artium für die zentrale Ordnungskategorie der ersten drei Bücher und betont daher ihren enzyklopädischen Charakter (Atkinson (Anm 4), S 123 f ) Mir scheint die Binnenstruktur der einzelnen Kapitel zu variabel und vielfältig, um von einem derart starren Schema sprechen zu können Deutlich ist aber in jedem Fall das – von Plinius abweichende – Bemühen um

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Die Schriftentwicklung, die bereits bei der Untersuchung des plinianischen Katalogs als Beispiel diente, kann hier wieder helfen, den Blick zu schärfen Sie steht bei Polidoro weit vorne im Werk, und das bedeutet bei ihm zugleich: hoch in der Hierarchie der Erfindungen Polidoro stellt der paganen eine jüdisch-christliche Tradition an die Seite, die bis zu Moses und in die vorsintflutliche Schriftlichkeit zurückreicht 58 Darin gleicht er Isidor von Sevilla; die doppelte Verankerung in beiden Traditionen ist nicht neu Vor allem aber ergänzt er die Liste um einen aktuellen Eintrag, indem er den Buchdruck als vorerst letzten Schritt der Schriftentwicklung hinzufügt: Fuit illud igitur omnino magnum mortalibus munus, sed nequaquam conferendum cum hoc quod nostro tempore adepti sumus, reperto novo scribendi genere Tantum enim uno die ab uno homine literarum imprimitur quantum vix toto anno a pluribus scribi posset […] Quare tantae rei autor non est sua laude fraudandus, praesertim ut posteritas sciat cui divinum beneficium acceptum referre debeat Itaque Ioannes Cutenbergus, natione Theutonicus […] primus omnium in oppido Germaniae quam Moguntiam vocant hanc imprimendarum literarum artem excogitavit, primumque ibi ea exerceri coepit Es war also [die Bibliothek] in jeder Hinsicht ein großes Geschenk an die Menschen, aber keineswegs zu vergleichen mit dem, das wir zu unserer Zeit erhalten haben, da eine neue Art des Schreibens erfunden worden ist Denn an einem Tag wird von einem Menschen so viel an Buchstaben gedruckt wie kaum in einem ganzen Jahr von vielen Menschen geschrieben werden könnte [Es folgt ein Lobpreis der Buchdruckerkunst] Daher soll der Erfinder einer so bedeutenden Sache nicht um sein Lob gebracht werden, besonders, damit die Nachwelt wisse, wem sie das göttliche Geschenk, das sie erhalten hat, zu danken hat Also hat Johannes Gutenberg, ein Deutscher, […] als erster von allen in einer deutschen Stadt, die die Leute Mainz nennen, diese Kunst des Buchstabendruckens erdacht, und sie wurde dort zuerst ausgeübt (Polydorus Vergilius, De inventoribus rerum 2,7,8 und 2,7,9)

Der Buchdruck stelle, so sagt Polidoro, eine neue Art des Schreibens mit einer neuen Form von Buchstaben dar, die nicht in der Zeichenzahl, sondern in der Geschwindigkeit und Überlieferungssicherheit neue Maßstäbe setze Die Reihe der Dazuerfindungen zur Schrift geht also weiter, wendet sich aber einem neuen Aspekt des Schreibens zu Wenn der Buchdruck ein novum genus scribendi ist, wie mit Polidoro viele Autoren der Zeit betonen,59 dann ist er gar nichts Neues oder Revolutionäres, sondern nur eine

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Struktur und Bewertung, das sich nicht erst in der Hinzufügung der fünf Bücher über die kirchlichen instituta artikuliert Seine Liste beginnt mit Merkur und Cadmus, erinnert aber auch an die Sintfluten, die Schriftverlust und Neuerfindung bewirkten Ausführlich dazu Hans Widmann: Gutenberg im Urteil der Nachwelt In: Der gegenwärtige Stand der Gutenberg-Forschung Hg von Hans Widmann Stuttgart 1972, S 251–272; Ders : Divino quodam numine Der Buchdruck als Gottesgeschenk Festschrift für Karl-Hermann Schelkle

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Anja Wolkenhauer

Zuerfindung Gutenbergs zur großen und alten inventio der Schrift; eine Erfindung, mit der er sich als erster Deutscher hinter Ulfila, Kaiser Claudius und viele Heroen und Götter in die lange Reihe der Schriftverbesserer einschreibt An dieser Stelle wird durch die nova reperta nun – und das ist das wahrhaft Revolutionäre – das platonische πρεσβύτερον κρείττον zu einem καινότερον κρείττον („neuer ist besser“) verwandelt Die Tradition verliert ihre Macht, wenn das beste Modell der jüngsten Gegenwart entstammt Der Lauf der Geschichte erscheint dadurch nicht mehr als absteigend, sondern als aufsteigend; nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft wird zum Maßstab des Möglichen 60 Die Zuschreibung eines Gewinns gegenüber dem vorherigen Stand gibt der Idee Raum, nicht allein der Buchdruck könne über das Maß, das die Antike gesetzt hatte, hinausreichen und derart die tradierten Wissensordnungen und Weltvorstellungen grundlegend verändern, sondern jedes novum repertum wäre dazu in der Lage Die nova reperta sind eine Absage an die Überlegenheit der Antike und ihre Kultur, eine antiklassische und zugleich antiklassizistische Volte Hier kündigt sich die Selbstwahrnehmung der Neuzeit als einer Epoche an, die sich den früheren überlegen fühlt; der Traditionalismus läuft an dieser Stelle ins Leere Ebenfalls erstaunlich ist die Lücke, die sich aus Sicht der genannten Autoren zwischen Ulfila und Gutenberg auftut: Über ein Jahrtausend ist offenbar nichts geschehen, und das gilt nicht nur fürs Alphabet, sondern (wie Stichproben vermuten lassen) auch für die literarischen Gattungen, denen Polidoro weit mehr Aufmerksamkeit widmet als sein antiker Vorgänger Plinius Die bedeutenden Erfinder und Ergänzer aller Gattungen sind Griechen und Römer; kein moderner Dichter findet sich in seiner Liste Die Konstellation, die bei Plinius zu beobachten war, scheint sich zu wiederholen: Die wichtigsten Vertreter der Gegenwart brauchen lange, bis sie in der Tradition Platz finden oder ihre eigene erhalten Die literarischen Vorbilder bleiben antik, die Kataloge bleiben unverändert Der Buchdruck ist tatsächlich eine Ausnahme, ein beeindruckendes Beispiel schneller Integration und zugleich die unübersehbare Markierung einer neuen Perspektive

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Düsseldorf 1973, S 257–273; Ders : Vom Nutzen und Nachteil des Buchdrucks aus der Sicht der Zeitgenossen des Erfinders Mainz 1973 (Kleiner Druck der Gutenberg-Gesellschaft 92); Ders : Die Wirkung des Buchdrucks auf die humanistischen Zeitgenossen und Nachfahren des Erfinders In: Das Verhältnis der Humanisten zum Buch Hg von Fritz Krafft, Dieter Wuttke Boppard 1977, S 63–88 Wolf-Friedrich Schäufele: Zur Begrifflichkeit von ‚alt‘ und ‚neu‘ in der Frühen Neuzeit In: Neue Modelle im Alten Europa Hg von Christoph Kampmann Köln 2012, S 18–36

Erfinderdenken, typologische Konzepte, Traditionalismus und „invented traditions“

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6. Schluss Ziel der vorliegenden Überlegungen war es, die Kategorien von Klassik und Klassizismus zu Kategorien der lateinischen Vormoderne in ein Verhältnis zu setzen und sie vergleichbar zu machen Für die Epochen ante verbum gibt es eine Vielzahl differierender Begriffe, die einzelne Aspekte des Klassizismus sehr deutlich erfassen; darunter der römische imitatio-aemulatio-Diskurs, die alter-Formel oder die Metaphorik der Nachfolge und des Neulands Zu diesen bereits viel diskutierten proto-klassizistischen Begriffen und Diskursen ist hier der Heuretes- bzw Heurematakatalog neu hinzugezogen worden, der sich als traditionserschaffend, historisch sehr stabil und gegenwartslegitimierend gezeigt hat Erfinderkataloge bieten ein Verfahren, um Ereignisse in der Zeit zu fixieren und als relevant zu identifizieren Die bei Plinius sichtbare Art des Weiterdenkens ermöglicht Traditionalismen, Entwicklungsgeschichten, die eine je eigene Vergangenheit entstehen lassen Das Verhältnis der Nacherfindung (des 2 , 3 , 4 Erfinders) zum ersten Erfinder entspricht dem des Klassizisten zum Klassiker Zugleich spiegelt sich in ihm aber auch eine der großen geistesgeschichtlichen Verschiebungen der Frühen Neuzeit wider: denn die Gewichtung von alt und neu verändert sich signifikant Aus dem Leitgedanken des πρεσβύτερον κρείττον wird bei Cicero accepta fecerunt meliora und bei Polidoro die zumindest punktuelle Überlegenheit seiner Epoche durch die nova reperta: Auch die neue Zeit kann gute, ja sogar bessere Werke hervorbringen als frühere Epochen Damit steht der selbstverständliche Rückbezug, der alle Traditionalismen (und damit auch die Klassizismen) begründet, in Frage Die entscheidende Gemeinsamkeit liegt darin, dass sowohl die Erfinderkataloge als auch das Konzept des Klassizismus es stets mit wechselnden Vergangenheiten im Sinne der „invented traditions“ zu tun haben und dass sie sich dieser Vergangenheiten bedienen, um Orientierung für ihre Gegenwart zu erlangen

Klassizität, Kanon und Wissensordnung in L G Giraldis Dialogen über die Dichter Florian Mehltretter (München) Über Klassiker zu reden, heißt fast immer, an Kanonisierungsprozessen mitzuwirken Meine Erwähnung eines Klassikers als eines solchen bestätigt tendenziell dessen Status; ein scheinbar deskriptiver Akt entwickelt insofern quasi im Verborgenen performative Kraft Umgekehrt ist es aber wenig erfolgversprechend, einen Kanonisierungsakt offen vorzunehmen Der Satz ‚Hiermit erkläre ich XY zum Klassiker‘ wird nur selten die gewünschte Wirkung entfalten, auch dann nicht, wenn Gründe gegeben werden Allenfalls wäre ein als Beschreibung getarnter Appell wie ‚aufgrund seiner Qualitäten A und B sollte das Werk des X oder der Y als klassisch anerkannt werden‘ aussichtsreich Aus diesen Beobachtungen ergibt sich, dass Kanonisierungen oft die Form einer vorgetäuschten Beschreibung annehmen, typischerweise einer Beschreibung von Klassizität Diese Beschreibung muss sodann wirkungsvoll mit geltenden Wissensordnungen verknüpft werden, um ihre verdeckte performative Kraft entfalten zu können Im Folgenden möchte ich diese Hypothese anhand der Dialoge über die Dichter des Ferrareser Gelehrten Lilio Gregorio Giraldi überprüfen und mit Blick auf die italienische Hochrenaissance historisieren 1 Es handelt sich um die 1545 (in Basel) er1

Lilio (oder Giglio) Gregorio Giraldi (Gyraldi) wurde 1479 in Ferrara geboren Um die Jahrhundertwende ging er nach Neapel, wo er Pontano und Sannazaro kennenlernte Nach einem Zwischenspiel in Carpi, Mirandola und Mailand (Griechisch-Studien unter Demetrios Chalkondylas), sowie Modena begleitete er seinen Schüler Kardinal Ercole Rangone, Sohn der Gräfin Bianca Bentivoglio Rangone, 1514 nach Rom Er genoss die Protektion des Kardinals bis zu dessen Tod 1527; im gleichen Jahr verlor er beim sacco di Roma seinen gesamten Besitz, namentlich seine Bücher Über Mirandola (sein dortiger Förderer, Pico der Jüngere, wurde 1533 ermordet) kehrte er nach Ferrara zurück, wo er 1552 starb Neben den hier vorzustellenden Dialogen über die Dichter sind besonders sein De Musis syntagma (1511), De sepulchris et vario sepelliendi ritu (1539) und seine für die Renaissance-Mythographie außerordentlich wichtige De Deis gentium varia et multiplex historia (1548) zu erwähnen – alles umfassende Zusammenschauen antiker Quellen zu den genannten Themen Die erste Quelle zur Biographie Giraldis ist ein Dialog des Humanisten Lorenzo Frizzolio: Lilii Gregorii Gyraldi Ferrariensis suarum quarundam Annotationum Dialogismi XXX

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Florian Mehltretter

schienenen Historiae Poetarum tam Graecorum quam Latinorum Dialogi decem und die 1551 (in Florenz) als Ergänzung dazu nachgereichten Dialogi duo de Poetis nostrorum temporum 2 Beide Texte können als wirkmächtige (weil mehr als einmal gedruckte) Kompendien gelten, die Giraldis im Vergleich zu ihm selbst weniger belesenen (und das heißt wohl: beinahe allen) Zeitgenossen eine kaum überbietbare Breite teils abgelegener literarhistorischer Quellen erschlossen 3 Insofern sind sie in ihrer möglichen Wirkung auf die Wahrnehmung dessen, was Literatur sein könnte, nicht zu unterschätzen Schon die hier erfolgende epochenübergreifende Zusammenschau vergangener und gegenwärtiger Literatur bringt die behandelten Dichter und ihre Dichtungen in ein Relationsgefüge, das auch den Blick auf den (antiken wie zeitgenössischen) Einzelfall konditioniert; darüber hinaus werden jedoch auch zahlreiche poetologische Positionen (oft zustimmend) referiert und teils interessant kombiniert Aber die Fülle des Dargebotenen ist auch als solche ein ernstzunehmendes Angebot für die Leser des Cinquecento, nämlich ein solches der Reflexion auf Pluralität von Wissensordnungen im Sinne einer Epochensignatur der Frühen Neuzeit 4 Diese Reflexion ist hier nicht als Ausstellen von Pluralität gestaltet, wie es gelegentlich in Texten des Cinquecento geschieht, sondern sie ist zugleich diagnostische Grundlage

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[…] Item Laurentii Frizzolii Solaniensis Dialogismus unicus de ipsius Lilii vita et operibus Venedig 1552; vgl außerdem Girolamo Baruffaldi, Leopoldo Cicognara: Continuazione delle Memorie istoriche di letterati ferraresi [di G e L Barotti] Ferrara 1811, S 50 f ; weniger zuverlässig (und teils darauf beruhend): William und Thomas Roscoe: The Life and Pontificate of Leo the Tenth Bd II London 1846, S 307–309; vgl außerdem Pandolfi in ihrer Ausgabe der Dialogi duo Lilio Gregorio Giraldis: Due dialoghi sui poeti dei nostri tempi Hg von Claudia Pandolfi Ferrara 1999, S 11 f Beide Dialoge wurden zunächst einzeln veröffentlicht, sodann aber 1580 (in Basel) noch einmal im Rahmen einer bereits in den fünfziger Jahren von einem Verwandten Giraldis, dem heute ungleich bekannteren Giambattista Giraldi Cinzio, besorgten Werkausgabe (Lil Greg Gyraldi Ferrariensis Operum Quae Extant omnium […] Tomi duo) Diese wurde 1696 in Leyden noch einmal gedruckt (Opera omnia […] duobus tomis distincta) Wir zitieren die Dialogi decem nach dem zweiten Band dieser (leichter zugänglichen) letztgenannten Ausgabe: Lilio Gregorio Giraldi: Dialogi decem […] In: Ders : Opera omnia […] duobus tomis distincta Leyden 1696 (abgekürzt: Dialogi decem, dann Nummer des Dialoges und Seitenzahl) Die Dialogi duo werden nach der zweisprachigen kritischen Neuedition von Claudia Pandolfi (s Anm 1) zitiert Im Vorwort erwähnt er bereits „Aristotelen, Zenonem, Antiphontem Rhamnusium, Nicandrum Colophonium, Lobum Argivum, Demetrium Magnesium, Dionysium Phaselitem, Damasten Sigeaeum, Phaniam Peripateticum, & ex Latinis M Varronem, Volcatium Sedigitum, & alios“ (Dialogi decem, Praefatio, ohne Seitenzählung) Zur Pluralisierung als Signatur der Renaissance vgl u a Klaus W Hempfer: Probleme traditioneller Bestimmungen des Renaissancebegriffs und die epistemologische ‚Wende‘ In: Renaissance Diskursstrukturen und epistemologische Voraussetzungen Hg von Klaus W Hempfer Stuttgart 1993, S 9–45; Gerhard Regn: Autorität, Pluralisierung, Performanz – die Kanonisierung des Petrarca volgare In: Questo leggiadrissimo Poeta! Autoritätskonstitution im rinascimentalen Lyrik-Kommentar Hg von Gerhard Regn Münster 2004 (Pluralisierung & Autorität 6), S 7–23; Gerhard Regn, Bernhard Huss: Pluralisierung von Wahrheit im Individuum: Petrarcas Secretum In: Francesco Petrarca Secretum meum – Mein Geheimnis Lateinisch – Deutsch Hg von Gerhard Regn, Bernhard Huss Mainz 2004 (excerpta classica 21), S 493–544

Klassizität, Kanon und Wissensordnung in L G Giraldis Dialogen über die Dichter

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einer Ordnungs- oder Autorisierungsmaßnahme: eben der erwähnten kanonisierenden Einordnung der Dichter in ein – Pluralität bändigendes – Wissenssystem 1. Zunächst zur Binnenpragmatik der beiden Zyklen: Die Dialogi decem machen (im Gegensatz zu den Dialogi duo) eine durchgehend einheitliche Dialogfiktion auf Eine sich als Giraldi präsentierende Erzähler- und zugleich Dialogfigur erzählt davon, mit Giambattista Pisoni und dem nur als Picus puer eingeführten Gian Tommaso Pico (einem der Söhne Giovanni Francesco Picos des Jüngeren, der 1512/13 mit Bembo die für die Stillehre des Humanismus wichtige Briefdiskussion De imitatione führte) an verschiedenen amönen Lustorten nahe Ferrara und Carpi über Dichter und Dichtung gesprochen zu haben; der Zeitpunkt lässt sich aufgrund dieser Angaben auf das erste Jahrzehnt des sechzehnten Jahrhunderts datieren, liegt also zum Erscheinungszeitpunkt bereits in einer geschichtlich auratisierten Vergangenheit – was zugleich (ähnlich wie bei Bembos Prose) eventuelle Originalitätsansprüche anderer inzwischen erschienener Publikationen aushebelt 5 Den Löwenanteil des Dialogtextes nehmen die Äußerungen Giraldis selbst ein, so dass der Gesprächsbericht im Grunde eine Darlegung ist Die Unterhaltung ist daher auch nicht eigentlich ‚dialogisch‘, sondern ein Lehrgespräch, in welchem der Meister sein Wissen entfaltet, selten unterbrochen durch Nachfragen oder Bekräftigungen seiner beiden Gesprächspartner Freilich bedient sich Giraldi eines besonderen Kunstgriffs, um angesichts dieser Lage nicht vollends von der lockeren, eleganten Textordnung des Dialogs in die Systematik der Traktatform hinüber wechseln zu müssen: Er legt seine Ausführungen als Interpretation eines fiktionalen Zyklus von Buchmalereien an Giraldi erzählt seinen 5

Gian Tommaso ist als puer, der einerseits bereits lateinischen Gesprächen über die Dichtung zu folgen vermag, andererseits bei einer Diskussion über die Knabenliebe zum Blumenpflücken weggeschickt wird (vgl Dialogi decem, II, S 66 f ), wohl zwischen 10 und 16 Jahre alt (nach Varros bei Censorinus überliefertem Schema wären Jungen nur usque annum XV pueros dictos – vgl Censorinus: De die natali liber ad Q Caerellium, S 14, zitiert nach: http://thelatinlibrary com/ censorinus html, Zugriff am 17 06 2008; in Rom legte man spätestens im 17 Lebensjahr die toga praetexta, die Tracht des puer, ab, vgl Gerhard Binder, Maren Saiko: Lebensalter In: Der Neue Pauly Hg von Hubert Cancik, Hellmuth Schneider Bd 6 Stuttgart, Weimar 1999, Sp 1207–1212 ) Sein Geburtsdatum ist 1492 (gestorben 1567); damit wäre das Gespräch zwischen 1502 und 1508 zu situieren, also ca 40 Jahre vor Erscheinen des Dialogs Die zwischen Ferrara und Carpi stattfindenden Gespräche sind jedoch nicht auf die Zeit vor Giraldis Neapelaufenthalt Ende des fünfzehnten Jahrhunderts zu datieren (dagegen spricht nämlich, dass Giraldi in Dialogi decem (I, S 35) seine Begegnung mit Pontano als bereits vergangen darstellt), sondern vielleicht auf seine Jahre in Carpi, Mirandola und Modena vor dem Umzug nach Rom In jedem Falle muss man mit einem weitgehend fiktiven oder fiktionalisierten Datum rechnen, das sich freilich vor einem Hintergrund biographischen Wissens der ersten Leser situiert

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Florian Mehltretter

beiden Zuhörern von gewissen Poetices tabulis (Dialogi decem, I, S 3), die er in einem Buch der Bibliothek der Pico della Mirandola gesehen haben will, ausgeführt von einem Unbekannten, möglicherweise, wie es im Text heißt, einem gewissen Cosmas (Dialogi decem, I, S 4) 6 Dadurch ist er vom Zwang systematischer Ordnung weitgehend entbunden So wird der Umstand, dass die Poesie alle Arten von Themen behandeln kann, deshalb erwähnt, weil deren Allegorie, die in einer der Illustrationen dargestellt ist, eine Weltkugel in Händen hält: Poeticae igitur imago picta in tabula, altera manu sphaeram seu globum continebat […] Ratio haec est, quod nihil […] est in toto mundi ambitu, seu quae supra lunam perpetua atque aeterna, seu quae citima sunt mortalia atque caduca, quae non fuerint versibus decantata Das Bildnis der Poetik also, auf einer Tafel gemalt, hielt in der einen Hand eine Sphaera oder einen Globus … Der tiefere Sinn dahinter ist, dass es nichts im ganzen Raum des Kosmos gibt, entweder, was oberhalb des Mondes und ewig, oder, was unterhalb sterblich und vergänglich ist, was nicht in Versen besungen wurde (Dialogi decem, I, S 19)

Seine Ausführungen folgen einer (fiktionsinternen Zuhörern wie textexternen Lesern gleichermaßen unzugänglichen) künstlerisch-allegorischen Bildstruktur, sowie den gelegentlich eingebrachten Nachfragen seiner Hörer, die begierig sind, die geheimnisvollen Bilder erklärt zu bekommen Solche Techniken hat in besonderem Maße Boccaccio angewandt (vor allem in seiner Amorosa visione), ein Autor, der (wie wir sehen werden) für Giraldi besonders wichtig ist Erwähnenswert ist an dieser Stelle noch, dass am Ende des fünften Dialogs von Bildtafeln die Rede ist, die leer geblieben sind: Hier wollte der Maler, wie es heißt, die jüngsten Gegenwartsdichter einmalen (Dialogi decem, V, S 309); dies ist der Anknüpfungspunkt für die beiden später publizierten Dialogi duo de Poetis nostrorum temporum Damit ist bereits die fiktionale Medialität dieser Darlegungen dazu angetan, eventuelle Kanonisierungsakte zu verschleiern Sie verschwinden in interpretierenden Bildbeschreibungen Nicht die Dialogrede vollzieht sie, sondern sie sind bereits vorausgesetzter Gegenstand der bildlichen Darstellungen

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Dass Claudia Pandolfi in ihrer Ausgabe (Anm 1), S 249, Anm 14, so sicher ist, dass es sich dabei um das Haupt der Ferrareser Malerschule des Quattrocento, Cosmè Tura, handeln müsse, scheint voreilig (wenn auch nicht abwegig): Giraldi deutet den Namen nur an, denn er spricht ja über fiktive Illustrationen – wie allein schon die Zahl der von ihm erwähnten Details zeigt, die ganze Deckenfresken füllen würden Das Vorwort macht die Fiktivität der Tafeln auch explizit und weist das Verfahren als imitatio aus: Quod tabulas finxi, & nuncupavi, sum imitatus Anaximandrum Milesium, Cebetem Thebanum […] (Dialogi decem, Praefatio, ohne Seitenzählung) Im Übrigen ist es nicht zwingend, in der Bibliothek der Mirandola Illustrationen des Hofmalers der Este zu erwarten, denn Mirandola liegt zwar nicht sehr weit von Ferrara entfernt, kam aber erst im achtzehnten Jahrhundert an die (zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Ferrara, sondern in Modena residierenden) Este

Klassizität, Kanon und Wissensordnung in L G Giraldis Dialogen über die Dichter

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Die Rahmenfiktion dieser beiden nachgereichten Dialoge über die Gegenwartsdichter ist im Vergleich zu der der ursprünglichen zehn komplexer: Giraldi berichtet, von Altersleiden (insbesondere der Gicht) ans Bett gefesselt, von Marco Antonio Antimaco, Bartolomeo Ricci, dem Griechen Francesco Porto, dem Portugiesen Didacus Pyrrhus (Diogo Pires) und dem Deutschen Andreas Grunther besucht worden zu sein; der Zeitpunkt lässt sich (aufgrund der im Text erwähnten Hochzeit von Anna d’Este) auf 1548 festsetzen Nun kommt die Idee auf, diese günstige Konstellation für ein Gespräch über Dichtung zu nutzen Man beschließt, die vor Jahrzehnten geführten (in den Dialogi Decem enthaltenen) Gespräche Giraldis mit Pisoni und dem Knaben Pico um Einlassungen zu den modernen Dichtern zu ergänzen, zu denen einige der Anwesenden beitragen sollen Aber dies geschieht nicht sofort, denn Giraldi erinnert sich, einen solchen Text bereits verfasst zu haben Ein Diener wird nach diesem Dialogmanuskript geschickt, das wiederum ein Gespräch wiedergibt, welches sich aufgrund der Rahmenumstände auf die Jahre 1513–1515 datieren und dem Schauplatz Rom zuweisen lässt 7 Der Diener liest diesen Dialog, den ersten der Dialogi duo, sozusagen als Dialog im Dialog vor Er erscheint im Druck als selbstständiger Text (mit eigener Widmung) Der Umstand, dass er fiktionsintern als schriftliches Dokument vorgelesen wird, reduziert seine Dialoghaftigkeit, betont seinen Textcharakter Dadurch und durch die zeitliche Ferne des darin dargebotenen Gesprächs wird er in der Ökonomie des Dialogzyklus in ähnlicher Weise zu einer durch historische Distanz geadelten ‚Quelle‘, wie es die Buchillustrationen in den Dialogi decem waren Giraldi erinnert in diesem eingelassenen Dialog seine damaligen Gesprächspartner Alessandro Rangone und Giulio Sadoleto wiederum an seine vergangenen Gespräche mit Pisoni und Pico und die dort leer gebliebenen Tafeln für die Portraits der Gegenwartsdichter Über diese in den Bildern nicht mehr repräsentierten Dichter will er nun sprechen Die Auswahl und Anordnung, die bei den antiken Dichtern auf die Autorität der angeblich vorgefundenen Bildtafeln verrechnet wurde, wird damit in diesem neuen Dialog von Giraldi selbst vorgenommen; sein Urteil entscheidet weitgehend, wer unter die Dichter zu zählen ist Damit rückt ein Aspekt in den Mittelpunkt, der schon in den Dialogi decem eine wichtige Rolle gespielt hat: Noch mehr als dort wird hier die Erwähnung zum Akt der Kanonisierung Aber wir erleben Giraldis Urteil nicht unmittelbar als eventuell kontingent ablaufendes Geschehen, sondern bereits als Er-

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Der Romaufenthalt der Gräfin Bianca Rangone (der Mutter des Kardinals Ercole), auf den im Text angespielt wird, fällt in diese Jahre Vgl Vittorio Rossi: Per la cronologia e il testo dei dialoghi ‚De poetis nostrorum temporum‘ di Lilio Gregorio Giraldi In: Giornale storico della letteratura italiana 37 (1901), S 246–277, hier S 248 Vgl zu Datierungsfragen auch die Ausgabe von Wotke: Lilius Gregorius Gyraldus: De poetis nostrorum temporum Hg von Karl Wotke Berlin 1894 (Lateinische Literaturdenkmäler des XV und XVI Jahrhunderts 10)

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gebnis, das uns in einem nur noch durch den Diener zu deklamierenden schriftlich gefügten Text dargeboten wird Es folgt eine lobende Aufzählung der neulateinischen Dichter Italiens und ihrer Werke bis einige Jahre vor der Dialoggegenwart, teils auch ihrer volkssprachlichen Werke Nachdem so die Technik der Autorisierung durch Vordatierung, die bereits bei den Dialogi decem zum Einsatz gekommen war, wenigstens dem ersten Teil dieser Ausführungen das Gewicht des Vergangenen verleihen konnte, muss nun für den zweiten Teil, der in die unmittelbare Gegenwart hineinreicht, diese Distanz aufgegeben werden Der zweite Dialog, der nach Beendigung der Lektüre des ersten durch den Diener einsetzt, findet in jener Gegenwartssituation statt, die dem ersten Dialog als Rahmen gedient hat Hier wird allerdings das Risiko der Anfechtbarkeit unmittelbar stattfindender Kanonisierungsakte durch eine angedeutete Dialogisierung vermindert (ohne dass freilich der Dialog kontrovers würde), sind es doch die jeweils anwesenden Experten, die nun mit verteilten Rollen die erwähnenswerten Dichter nennen: Antimaco und Porto berichten über moderne griechische Poeten, Pyrrhus über die iberischen und englischen, Grunther über die deutschen und französischen, Ricci und Giraldi wenden sich abschließend den neuesten Italienern zu Der kommendative Dichterbegriff, der schon im ersten Dialog eine Rolle gespielt hat, kommt hier gänzlich zum Durchbruch: Es geht um die Ehre, unter den Poeten genannt zu werden, und diese Ehre wird den Zeitgenossen von den Dialogsprechern zugeteilt, wenngleich naturgemäß in Form einer bloß beschreibenden Wiedergabe bereits unter Experten unstrittiger Kanonizität 2. Es zeigt sich also, dass in diesen Texten nicht nur in assertiven Sprechakten Wissen vermittelt wird, sondern darin verborgen auch durch deklarative Sprechakte Zustände hergestellt werden: Die Erwähnung entreißt den Dichter dem drohenden Vergessen und kanonisiert ihn durch eine nur scheinbar deskriptive Einreihung in die Unsterblichen Man muss sich der Funktion dieses Sprechaktes wohl bewusst sein, um nicht (wie es selbst einem Kenner der Renaissancepoetologie wie Bernard Weinberg unterläuft8) die gewisse Informationsarmut dieser Nennungen für einen Mangel an argumentativer Schärfe zu halten (worauf sie ja nicht zielen) Dies soll aber nicht heißen, dass die bereits mehrfach erwähnten assertiven Akte der Vermittlung von Information in diesen Dialogen eine geringere Rolle spielen wür8

Vgl Bernard Weinberg: A History of Literary Criticism in the Italian Renaissance 2 Bde Chicago 1961 Hier finden sich über Giraldis Texte Urteile wie „backward looking“ (ebd , Bd I, S 127) oder „time-worn epithets that had constituted the only evaluative apparatus of a Pietro Ricci or a Lilio Gregorio Giraldi“ (ebd , Bd I, S 198)

Klassizität, Kanon und Wissensordnung in L G Giraldis Dialogen über die Dichter

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den In der Tat ist die kanonisierende Einreihung in die Literaturgeschichte und das Literatursystem nicht möglich ohne eine Darlegung derselben, und hier sind insbesondere die Dialogi decem mit dem Problem konfrontiert, große Wissensbestände, nämlich möglichst alles, was man über die griechischen, lateinischen (und teils auch volkssprachlichen) Dichter weiß, in eine nachvollziehbare Ordnung zu bringen Dieser Ordnung, die ja das Wissen nicht nur darbietet, sondern auch formt und eventuell systematisiert, wollen wir nun nachgehen Wie oben bereits dargelegt, wehrt Giraldi einen solchen Ordnungsanspruch zunächst dadurch ab, dass er vorgibt, lediglich eine vorgefundene künstlerische Bildstruktur beschreibend zu entfalten Aber erstens wären, selbst wenn es die Bilder gäbe, seine Blickrichtung und die Reihenfolge der Nachfragen seiner Zuhörer nicht durch jene selbst determiniert, zweitens aber macht der Text durchaus Ordnungsangebote, die teils aus der Betrachtungsweise erwachsen, teils auf Modellierungen (etwa chronologischen) fußen, die bereits der angeblichen Formwahl des Bildkünstlers vorausliegen Aber auch die Medialität des Textes trägt zu diesen Ordnungsangeboten bei, denn es handelt sich nicht um eine durchgehende Bildbeschreibung, sondern eben um zehn Dialoge, die zwar einen Zyklus bilden, aber im Prinzip selbstständige Texte sind (mit je eigenen Paratexten, die zudem eine von der Gesprächsebene verschiedene Zeitebene der Verschriftlichung thematisieren9), teils wiederum zu Subzyklen zusammengefasst Hier greift eine Logik des eleganten Arrangements, die nicht unbedingt streng ordnend verfährt, aber Ordnungen teils voraussetzt, teils erzeugt Das erste Buch widmet sich der Theorie der Dichtung; wichtige Aspekte davon werden wir gesondert behandeln Für den Augenblick wollen wir die darin skizzierten gattungspoetologischen Ordnungsangebote herausarbeiten und dann in ein Verhältnis zu der in den folgenden neun Dialogen tatsächlich entfalteten Ordnung setzen Giraldi fragt nach den Möglichkeiten einer Klassifikation der (griechischen und lateinischen) Dichter und damit der von ihnen vertretenen Gattungen Wie an vielen anderen Stellen des Textes auch werden hierzu verschiedene Meinungen referiert: Diomedes geht von sechs Gruppen aus (heroisch, tragisch, komisch, melisch, satyrisch und chorjambisch), Caesius Bassus kommt auf acht (episch, epigrammatisch, jambisch, lyrisch, tragisch, satyrisch, komisch, mimisch), während der byzantinische Gelehrte Isaak Tzetzes (den Giraldi Zezes nennt10) sogar elf unterscheidet Diesem will Giraldi sich anschließen, und das würde folgende Klassifikation ergeben: heroisch, lyrisch, dithyrambisch, jambisch, elegisch, epigrammatisch, anathematisch (d h Tempelinschriften), hymnisch, asmatographisch (Lobgesänge mit Instrumenten), epithalamisch, monodisch (hier ist sich Giraldi nicht sicher, ob Gedichte, die nur ein 9 10

So ist etwa die Widmungsträgerin des dritten Dialogs, Anna d’Este, erst 1531 geboren, also gut zwei Jahrzehnte nach dem fiktiven Gesprächszeitpunkt Giraldi lehnt die Schreibweise Tzetzes als barbarisch ab (Dialogi decem, III, S 158)

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Florian Mehltretter

Thema behandeln, gemeint sein sollen oder aber solche, die explizit von einer singulären Stimme getragen sind (Dialogi decem, I, S 39 f )) Auffällig ist, dass nur die (letztlich abgelehnten) ersten beiden Reihungen Positionen für die Dramatik enthalten (die Epik ist im ‚heroischen‘ Genus berücksichtigt), die präferierte letztgenannte jedoch nicht Wir werden gleich sehen, dass Giraldi in seiner Praxis diesen Mangel jedoch stillschweigend beseitigen wird Auf diese Klassifikation nach metrischen Gattungen und ihren Vertretern folgt sodann ein Überblick über die einzelnen Versformen und ihre Abwandlungen, die extrem detailreich ist Auch hier werden konkurrierende Meinungen referiert Sowohl die Pluralität der Formen und Varianten (bei vielem entsteht der Eindruck, lediglich der Name des Phänomens sei bekannt, so bei confusa oder tibicines11) als auch diejenige der sie überliefernden Quellen wird hier auf die Spitze getrieben Die Konturen verschwinden in einer Vielheit des Wissens, die Systematik in einer lediglich reihenden Aufzählung Dies stellt jedoch für Giraldi deshalb kein Problem dar, weil er in den folgenden Dialogen die Frage noch einmal neu aufrollen wird, nun allerdings in einer historischen Perspektive, welche die hier vorgeführte Unordnung aufhebt – zumal sie (wie wir sehen werden) zugleich systematische Züge hat Die übrigen neun Bücher bieten in der Tat eine teils chronologisch, teils systematisch organisierte Literaturgeschichte von den Anfängen bis in die Nähe der Gegenwart (fast ausschließlich die griechische und lateinische Dichtung betreffend, obwohl Giraldi betont, ‚selbst Germanen und Briten‘ sängen in ihren Sprachen Lieder (Dialogi decem, I, S 34)) Dabei spielt die im ersten Dialog bereits behandelte Frage nach der Klassifizierung der Dichtungsformen eine wichtige Rolle, aber der Text bildet – ohne dass dies gesondert diskutiert würde – eine gegenüber dem Schema von Tzetzes wesentlich vereinfachte Ordnung aus, die teils aus dem bereits erwähnten Prinzip des eleganten Arrangements erwächst Die Dialoge 2 und 3 bilden hier eine erste Untergruppierung, die sich mit der griechischen Literaturgeschichte seit den Ursprüngen der Dichtung befasst Allerdings zeigt ein Überblick über die behandelten Autoren hier auffällige Lakunen, die auch zentrale Dichter wie Pindar oder Euripides betreffen: Bestimmte Dichter sind nämlich aus der Chronologie ausgelagert, weil sie nach systematischen Kriterien in die Subzyklen der Dialoge 6 bis 8 (‚szenische Dichter‘) und 8 bis 10 (‚Lyriker und Epigrammatiker‘) eingegliedert werden Das heißt jedoch keineswegs, dass Giraldi seine Dichter insgesamt nach Großgattungen anordnen würde, dass also in diesen ersten Dialogen schlicht die Epiker zur Sprache kämen und später die Dramatiker und Lyriker Abgesehen davon, dass eine solche Trias erst in der Goethezeit wirklich etabliert wurde (wenn wir hier vielleicht auch einen Teil ihrer Vorgeschichte verfolgen), spricht eine genaue Textlektüre gegen

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Vgl Dialogi decem, I, S 54

Klassizität, Kanon und Wissensordnung in L G Giraldis Dialogen über die Dichter

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einen solchen Befund: So sind Dichter, die sich gattungsübergreifend betätigt haben, durchaus in diesem ersten Subzyklus zu finden, und ihre Tragödien und Oden werden hier genannt, nicht in den Dialogen zur Dramatik und Lyrik; außerdem spielt die Chronologie als Ordnungsprinzip auch in der Gesamtabfolge der Präsentationen eine wichtige Rolle, die durch die systematischen Aspekte nicht außer Kraft gesetzt wird Vielmehr werden zunächst die Ursprünge der Dichtung in den Blick genommen, sodann Phänomene, die wir heute vielleicht Ausdifferenzierungen nennen würden Am Anfang erfahren wir, wie die einzelnen Gattungen entwickelt wurden, und naturgemäß gehören das Epos (Homer, Dialogi decem, II, S 89) und das Lehrgedicht (Hesiod, Dialogi decem, II, S 98, und Parmenides, Dialogi decem, III, S 132) in diese Frühphase Die Ausfaltung der sozusagen medial besonderen Dichtungsformen, nämlich der (sagen wir einmal:) szenisch darzustellenden und der strophisch singbaren Texte, also Dramatik und Lyrik, beginnt zwar nach Giraldis Angaben bereits früh, erreicht aber erst nach der Blüte des erzählenden und lehrenden Gedichtes ihren Höhepunkt Daher ist die spätere griechische Literaturgeschichte zugleich die Geschichte der medial besonderen Gattungen Es ergibt sich so eine Verschränkung von chronologischem und systematischem Ansatz, die daher rührt, dass Literaturgeschichte von ihren Ursprüngen her als Geschichte der Entfaltung eines gegliederten Ganzen erzählt wird Der Ursprung der Dichtung wird auf zwei Ebenen definiert: formal als der Moment der Erfindung des Hexameters, funktional als Etablierung von so etwas wie Gottesdienst durch das Wort, und zwar entweder als vaticinium oder als Lob, auf der Linie einer von der Antike bis etwa Boccaccio üblichen Konzeption (zu dieser unten mehr) Dichtung ist demnach von Anfang an an das Göttliche gebunden (dies prägt Giraldis Darstellung durchgängig), sowie zunächst an die Versform (was sich allerdings im Laufe der Literaturgeschichte ändert12) Der Umstand, dass der alttestamentarische Anfang des dichterisch geformten Gotteslobs und der Prophetie allerdings zeitlich früher liegt als die ältesten griechischen Hexameter, zwingt Giraldi, Moses die Erfindung des Hexameters zuzuschreiben (Dialogi decem, II, S 57) Darin folgt er zwei anderen Texten, die beide (im Gegensatz zu einer Unzahl antiker Quellen sowie zweier ‚moderner‘, auf die wir noch kommen) in Giraldis Ausführungen nicht zu den zahlreichen für die bewundernde Aufmerksamkeit des Lesers geradezu inszenierten Intertexten gehören, sondern eher ein Schattendasein fristen: Isidors von Sevilla Etymologiae und Boccaccios Genealogie Deorum Gentilium Nun ist allerdings Boccaccios Text (im Gegensatz zu dem Isidors) für Giraldi (und auch in der 12

Nachdem in den Dialogi decem (I, S 25 und 29) der historische und logische Vorrang des Verses vor der Prosa behauptet wurde, muss Giraldi (ebd , I, S 38), vor allem aufgrund seiner Entscheidung, neben den leuchtenden und wohlklingenden Formulierungen (die hauptsächlich im Vers, aber auch in der Prosa möglich sind), als wichtigstes Kriterium für Dichtung die Erfindung von Fabeln und Mythen anzusetzen, Prosa und Vers als gleichwertig positionieren Darin folgt er der Gesamtargumentation von Boccaccios Genealogie Deorum Gentilium, in denen die poetische Leistung der Mythenerfinder stark gemacht wird (s u )

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Wahrnehmung seiner Leser) deshalb grundsätzlich ein relevanter Gesprächspartner, weil das gewichtigste Werk Giraldis, De Deis gentium varia et multiplex historia (wenig später, 1548, erschienen, aber vermutlich 1545 bereits als in Arbeit befindlich bekannt), eine humanistische Mythographie ist, die insofern beinahe zwangsläufig Boccaccios Genealogie, den ersten Text dieser Art seit der Antike, zur Voraussetzung und zum Wettstreiter hat Boccaccio behauptet in der Tat im vierzehnten Buch unter Berufung auf nicht näher genannte schriftliche Quellen (cum legamus), Moses habe den größten Teil des Pentateuchs non soluto stilo, sed heroico scripsisse carmine 13 Als Quelle dafür wurde von der Forschung Isidors Etymologiae I, 39, 11 identifiziert,14 wo es ganz wie bei Boccaccio und Giraldi neben etymologischen, technischen und historischen Fragen um die religiösen Ursprünge der Dichtung geht Interessant ist allerdings, dass Giraldi Isidor hier wohl nicht lediglich sekundär zitiert, sondern direkt auf diesen frühmittelalterlichen Text zurückgreift, der so gar nicht zu seiner ansonsten streng humanistisch ausgerichteten Quellenliste zu passen scheint Dies lässt sich anhand eines bei Boccaccio nicht erwähnten, von Giraldi jedoch wiedergegebenen Details von Isidors Einlassung über die Dichtung in Etymologiae I nachweisen;15 aber wichtiger ist, dass Giraldi insbesondere in der Privilegierung des Hexameters als allen späteren Metren vorgeordneter Urvater aller Verse besonders nahe an Isidor ist, dem zufolge das heroische Metrum eben aufgrund dieser geschichtlichen Verhältnisse auctoritate caetera metra praecedit 16 Wo aber sind diese hebräischen Hexameter, warum sind sie uns nicht erhalten? Hier greift Giraldi auf das geschichtstheologische Muster der Bestrafung sündhafter Völker durch die Historie zurück: Weil die Juden in schuldhafte Verstrickung geraten seien, hätten sie propriae […] linguae & sermonis elegantiam verloren (Dialogi decem, II, S 58) So ist die griechische Dichtung ein Neueinsatz, an dem die Entwicklung, die bei den Hebräern abbrach, noch einmal beginnt, nun aber ungleich weiter getragen wird, von den Anfängen der Prophetie und des Gotteslobes über die göttliche Gabe der Lyra und Kithara (je nach antiker Quelle von verschiedenen Göttern) bis zu Orpheus und Her-

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Giovanni Boccaccio: Genealogie Deorum Gentilium In: Ders : Tutte le opere Hg von Vittore Branca Bd 8 Mailand 1998, S 1410 Vgl Giovanni Boccaccio: Genealogie Deorum Gentilium In: Ders : Tutte le opere Hg von Vittore Branca Bd 8 Mailand 1998, S 1707, Anm 87 Giraldi erwähnt bei seiner Geschichte der Odendichtung, die asklepiadeische Strophe sei nicht deshalb nach Asklepiades benannt, weil dieser sie erfunden habe, sondern weil er sie besonders elegant zu gebrauchen wusste (Dialogi decem, IX, S 493); dieses von Boccaccio nicht übernommene Detail findet sich bei Isidorus Hispalensis: Opera Omnia 3–4 Hg von Faustino Arévalo Paris 1850 (Patrologia latina 82) I, 39, 8, wo es allerdings exemplarisch für die Herkunft mehrerer solcher Strophennamen steht, während Giraldi der Ansicht zu sein scheint, es gelte speziell für die asklepiadeische Die Angabe hat möglicherweise bei Giraldi die Funktion, den Umstand zu überbrücken, dass Asklepiades in seinen überlieferten Werken eigentlich nicht als Odendichter, sondern als Epigrammatiker (bzw Elegiker) dokumentiert ist Isidorus Hispalensis (Anm 15), I, 39, 9

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mes Trismegistos, von dem man annimmt, er habe die Schrift erfunden (Dialogi decem, II, S 71–73); auch Zoroaster wird erwähnt, daneben aber vor allem die frühen westlichen Dichter, von Homer bis zu den Sibyllen (respektive Dialogi decem, I, S 79, 89 und 104) Die Literaturgeschichten von Orient und Okzident sind einander in dieser Darstellung einerseits analog oder parallel, andererseits folgen sie aufeinander Diese Struktur betont nicht nur das geläufige Ost-West-Muster der translatio sapientiae, sie scheint auch die historischen Prozesse als notwendige auszuweisen, die immer wieder gleich ablaufen müssen, denn Dichtung ist nach Giraldi stets Gottesdienst und sie bedient sich stets anfänglich des Verses, wo nicht gar des Hexameters Die zweite Hälfte dieses Subzyklus, der dritte Dialog, handelt sodann die übrigen Griechen ab, soweit sie nicht in die Spezialkapitel zu Szene und Lyrik fallen, etwa Pythagoras, dessen Autorschaft an den aurea quae inscribuntur carmina bezweifelt wird (Dialogi decem, III, S 125), Parmenides, die dichterischen ‚Jugendsünden‘ eines Platon oder Aristoteles, die Pleias der hellenistischen Tragiker (die wohl nicht als genügend gewichtig gelten, um im Theaterkapitel genauer gewürdigt zu werden) und die griechischen Dichterinnen (denen breiter Raum zugestanden wird) So weit der erste Subzyklus Es folgen zwei Dialoge, die auf raffinierte Weise zueinander komplementär sind: lateinische Dichter allgemein (Dialog 4), dann dichtende Kaiser und Könige sowie christliche Poeten (Dialog 5) Das bereits erwähnte Verhältnis zwischen den Subzyklen der allgemeinen (und frühen) griechischen Literaturgeschichte einerseits und der Geschichte der medial besonderen Dichter andererseits wird hier, in der Mitte zwischen diesen beiden einander korrespondierenden Teilstücken, noch einmal auf anderer Ebene zwischen zwei unmittelbar benachbarten Dialogen aufgemacht, denn auch hier wird zunächst ein Normalfall abgehandelt, dann das Besondere herausgegriffen Wir werden allerdings gleich sehen, dass diese Vorgehensweise neben der Eleganz des Gesamtarrangements noch strategische Vorzüge besonderer Art aufweist Spiegelbildlich zur Geschichte der (nicht medial besonderen) Dichter Griechenlands wird im vierten Dialog eine ebensolche über die lateinischen Dichter erzählt, und wie Euripides und Pindar dort, so fehlen hier etwa Plautus und Horaz, da sie unter besonderer medialer Hinsichtnahme noch folgen werden Der Ursprung der Dichtung ist auch hier religiös Im Mittelpunkt der Ausführungen steht Vergil, von dem wir erfahren, dass er auch auf den Bildtafeln mittig dargestellt ist, denn er ist poetarum Deus (Dialogi decem, IV, S 203) Neben dem gattungsübergreifend tätigen Ovid folgen hier auch Tibull und Properz, die als Elegiker nicht den ‚Lyrikern und Epigrammatikern‘ des letzten Teilzyklus beigesellt werden Dies folgt wohl antikem Herkommen, aber wir werden sehen, dass Giraldi diese Zuordnung an anderer Stelle noch in Frage stellen und dadurch einem ‚modernen‘ (alle nichtsatirischen und nicht dominant erzählenden kurzen Versgattungen umgreifenden) Lyrikbegriff zuarbeiten wird Die Elegiker bleiben also zunächst in der allgemeinen Dichtungsgeschichte, die strophisch verfahrenden Lyriker werden hingegen ausgegliedert, obwohl von beiden

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gesagt wird, dass ihr Medium (wie im Übrigen auch das der Epiker) der Gesang ist Freilich werden die Epigrammatiker wiederum mit den Lyrikern zusammen abgehandelt, obwohl sie sich doch des gleichen Versmaßes bedienen wie die Elegiker (aber nicht singen, sondern ‚einschreiben‘) Wie im Falle der griechischen Dichter wird auch hier eher das Allgemeine einem aus diesem herauszuhebenden Besonderen gegenübergestellt als dass systematisch unterschieden würde Diese Literaturgeschichte reicht bis Juvenal, Claudian und Martianus Capella Unmittelbar auf diesen folgend, so heißt es, sind Francesco Petrarca und Giovanni Boccaccio auf den zu beschreibenden Bildtafeln dargestellt (dass Petrarca hier und nicht bei den ‚Lyrikern und Epigrammatikern‘ im 9 und 10 Dialog zu finden ist, hängt wohl mit seiner Paarung mit Boccaccio zusammen) Die lateinische Dichtung setzt also nach einem unterschlagenen Abschnitt der Literaturgeschichte (dem Mittelalter, für das an anderer Stelle der Ausdruck media aetas fällt17) erst mit dem Humanismus wieder ein An dieser Stelle zeigt sich zum ersten Mal, dass es Giraldi nicht ausschließlich um lateinische Dichtung geht Er lässt nämlich quasi als Variante der lateinischen Dichtung auch die italienische auf seinem Parnass zu, soweit sie von Autoren stammt, die sich in beiden Idiomen geäußert haben Dieser für unser Interesse besonders relevante Abschnitt sei etwas ausführlicher zitiert: Qui ambo, praeter ea quae multa soluta oratione uterque composuit, nonnulla quoque carmine Latino scripsere, in quibus non multo praestat alter alteri In his licet, quod temporum tamen vitio adscribendum putarim, judicii minus sit & limae, multum tamen poetici spiritus habere videntur Praeter eclogas & epistolas, Africam quoque opus heroicum Petrarcha conscripsit, quo in opere vanus de se vates fuisse videri potest, neque enim id laudis eo poemate est assecutus, quod de se ipse vaticinatus fuerat In eo tamen, quod temporum fuit invidia, ut iam dixi, si quaedam nimis oscitanter & frigide dicta mutentur, & redundans superfluensque oratio cohibeatur, atque omnino aliqua arte limetur, in aliquo poterit poetarum numero haberi At Deus bone, quae illi lingua patria & vernacula uterque scripsere, hic scilicet rhythmis, lyricas cantiones & epigrammata, ille soluto sermone, & cumprimis facetas & jocosas decem dierum narrationes (sic enim illum Graece δεκαήμερον librum inscripsit) qualis est utriusque lepos, quae gratia? nihil fieri potest, omnium bonorum judicio, candidius, suavius, elegantius Ex utriusque certe scriptis illa ipsa germana Hetruria redolere videtur Haec vos vero maxime cupio, etiam moneo […] saepius legere: multum enim ingenio conferent, quando ex iis fere non minus laudis & gloriae, quam ex Latinis, noster Bembus & Thebaldeus, aliique permulti assequuti sunt Sed iam satis …

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In Dialogi decem, I, S 15 wird der media aetas der Verlust diakritischer Zeichen im Lateinischen zugeschrieben

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Diese Autoren haben beide, abgesehen davon, dass jeder von ihnen viel in Prosa verfasst hat, auch Einiges in lateinischer Dichtung geschrieben Darin steht nicht weit der eine dem anderen voran Mag auch bei ihnen weniger an Urteilsvermögen und Feile zu finden sein, was man, das möchte ich glauben, dem Makel der Zeiten zuschreiben muss: Sie scheinen doch sehr viel poetischen Geist zu haben Außer den Eklogen und Briefen hat Petrarca ein heroisches Epos, die Africa, geschrieben In diesem Werk kann es den Anschein haben, als sei er für sich selbst ein Prophet ohne Erfüllung gewesen, denn er hat mit dem Gedicht nicht den Ruhm erlangt, den er für sich angekündigt hatte Wenn aber bei dem, was, wie ich bereits sagte, die Missgunst der Zeiten verschuldet hat, manches, was allzu lässig und kühl gesagt worden ist, geändert würde und die redundante und überquellende Rede gehemmt würde, und gänzlich mit nur etwas Kunst gefeilt würde, dann wird er doch irgendwie unter die Dichter gezählt werden können Doch, guter Gott, was jeder von ihnen in ihrer Mutter- und Volkssprache geschrieben haben, der eine in Reimen lyrische Canzonen und Epigramme, der andere in Prosa und ganz besonders die geistreichen und witzigen Erzählungen der Zehn Tage (so nämlich betitelte er jenes Buch auf Griechisch als „Deka-hemeron“): Wie groß ist nicht bei beiden die Leichtigkeit, die Anmut? Nach dem Urteil aller Guten kann nichts strahlender, angenehmer und eleganter sein Aus den Schriften der beiden scheint gewiss die wahre und echte Toscana hervorzuströmen Dass ihr diese Schriften oft und oft lest, das wünsche ich mir am meisten, ja, ich rate es an … Denn viel werden sie zur Bildung des Intellekts beitragen, da ja aus ihnen beinahe nicht weniger an Ruhm und Ehre als aus den lateinischen Schriften unser Bembo und Thebaldeus und sehr viele andere erreicht haben Aber genug damit … (Dialogi decem, IV, S 263 f )

Die Schelte auf Petrarcas und Boccaccios Latein ist typisch für die späteren Humanistengenerationen, die ja ihre eigenen diesbezüglichen Errungenschaften als Fortschritt gegenüber ihren Vorgängern ausweisen mussten 18 Angesichts dieser Verhältnisse ist es auch nicht verwunderlich, dass die volkssprachliche Dichtung der beiden besser wegkommt Aber es zeigt sich hier eine interessante Ambivalenz, die damit zusammenhängt, dass wir in diesem Text ja eine Geschichte der lateinischen Literatur präsentiert bekommen (denn niemand spricht hier von Cavalcanti oder Pulci; zu Dante kommen wir später) Zunächst werden die Autorität und Relevanz der beiden Toskaner für die lateinische Literaturgeschichte über ihre lateinischen Schriften begründet, in denen man bei allen Mängeln poetischen Geist erkennen könne; in dieser Sprache sind die beiden sozusagen Dichter im Irrealis – man müsste nur Petrarcas Texte (insbesondere die Africa) noch etwas überarbeiten (und dies gilt aufgrund des Zusammenhangs analog für Boccaccio)

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Vgl etwa Martin M McLaughlin: Literary Imitation in the Italian Renaissance The Theory and Practice of Literary Imitation in Italy from Dante to Bembo Oxford 1995

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Dann aber folgt im Modus des Ausrufs die Preisung der volkssprachlichen Texte Petrarcas und Boccaccios, und hier wird in bembesker Weise den besten toskanischen Dichtungen eine spezifische Qualität der Anmut und Grazie zugeschrieben Bembo meinte nämlich, insbesondere in Petrarcas Dichtung realisierten sich tutte le grazie della volgar poesia im Sinne eines dem Toskanischen eigenen Klang- und Eleganzpotentials, und dies war ihm ein Argument für die Kanonisierung Petrarcas zum Klassiker volkssprachlicher Dichtung (Giraldi führt noster Bembus neben Tebaldeo als Nachfolger Petrarcas auf diesem Gebiet) 19 Dass Petrarca mit seiner gratia dicendi thuscis numeris im Feld der Liebeslyrik sogar die Dichter der Antike übertrifft, klingt im Übrigen bereits in der Widmung der zweiten Petrarca-Ausgabe von Aldus Manutius 1514 an und kann in der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts als Allgemeingut gelten 20 Es werden hier also zwei volkssprachliche Dichter kanonisiert, die beide auch Lateinisches geschrieben haben; die italienische Dichtung erscheint als eine im günstigen Falle besonders anmutige Variante der lateinischen, aber Poeten, die sich etwa nur im volgare geäußert hätten, werden nicht erwähnt Diese Verhältnisse gelten dann auch für die den Gegenwartsdichtern gewidmeten Dialogi duo Ein Detail ist freilich hier noch von Interesse, und es ist zunächst sprachlicher Art Wenn Giraldi in lateinischer Sprache von den Errungenschaften moderner italienischer Dichter spricht, so steht er vor einem Problem, das unter den Humanisten kontrovers diskutiert wurde: Wie soll man Gegenstände, die in der Antike nicht vorkamen, in gegenwärtigem Latein benennen? Soll man neue Wörter finden oder die neuen Gegenstände mit antiken Ausdrücken bezeichnen, die eventuell zu unspezifisch sind, um unmissverständlich auf ihre neuen Referenten bezogen werden zu können?21 Dieses Problem betrifft hier weniger Boccaccios Decameron, das zunächst durchaus unproblematisch beschrieben und dessen Titel sodann re-gräzisiert wiedergegeben wird Es betrifft jedoch durchaus die Lyrik Petrarcas, denn diese bedient sich mit dem Sonett, der Canzone, dem Madrigal und der Ballata durchweg unantiker Formen

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20 21

Pietro Bembo: Prose della volgar lingua 2 4 In: Pietro Bembo: Prose della volgar lingua Gli Asolani Rime Hg von Carlo Dionisotti Turin 1966 Nachdruck Mailand 1989, S 135 Zu dem sich darin zeigenden Entelechie-Gedanken und dem Kontext dieser Argumentation vgl auch Gerhard Regn: Petrarca und die Renaissance In: Renaissance – Episteme und Agon Hg von Gerhard Regn, Andreas Kablitz Heidelberg 2006 (Neues Forum für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 33), S 11–45 Vgl zu diesem Zusammenhang außerdem Florian Mehltretter (in Zusammenarbeit mit Florian Neumann, Vorwort von Gerhard Regn): Kanonisierung und Medialität Petrarcas Rime in der Frühzeit des Buchdrucks (1470–1687) Münster 2009 (Pluralisierung & Autorität 17), hier Kap IV 2 2 Vgl Aldus Manutius: Vorrede In: Il Petrarcha Kolophon: (183b) Venedig 1514, a i–ii Zu diesem Problem und seinem Kontext vgl Jörg Robert: Audite simiam Ciceronis Nachahmung und Renaissancepoetik – ein systematischer Aufriss In: Maske und Mosaik Poetik, Sprache, Wissen im 16 Jahrhundert Hg von Jan-Dirk Müller, Jörg Robert Münster 2007 (Pluralisierung & Autorität 11), S 75–128

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Giraldi teilt diese Produktion an rhythmis in obigem Zitat in zwei Gruppen ein, nämlich in lyricas cantiones und epigrammata Das Adjektiv lyricus und das Nomen epigramma gehören dem antiken Wortschatz an, die Bezeichnung cantio ist diesbezüglich ambivalent: Wenn sie allgemein für ‚Lied‘ steht, kann sie als antik gelten, wenn sie im Sinne von ‚Canzone‘ gebraucht wird, ist sie mittelalterlich-frühneuzeitlich Dante etwa belegt in De vulgari eloquentia die Canzone mit diesem Begriff, verwendet aber den Ausdruck cantio auch als Allgemeinbegriff für die lyrischen Gattungen Freilich bietet Dante im zweiten Buch seines Traktats (Kap iii, 2) auch für die anderen hier relevanten mittelalterlichen metrischen Gattungen Bezeichnungen an, nämlich ballata und sonitus (das Madrigal war noch nicht erfunden) Giraldi übernimmt von diesen drei Bezeichnungen nur cantio (in der modernen Bedeutung von ‚Canzone‘) und zwar wohl, weil dieser Ausdruck zumindest antik gedeckt ist (wenngleich nicht genau in dieser Bedeutung), die anderen beiden aber nicht Er entscheidet sich mithin für eine abgemilderte Variante des Verfahrens der Ciceronianer, die neuen Referenten mit antiken Bezeichnungen zu belegen 22 Dabei kommt auf der Ebene der Sprache ein Problem ans Licht, das einer gemeinsamen Behandlung volkssprachlicher und lateinischer Dichtung in der Renaissance immer anhaftet: das Problem der Äquivalenzen zwischen antiken und mittelalterlichen metrischen Gattungen In der Fügung lyricas cantiones kommt unmittelbar das Bestreben zum Ausdruck, beides zur Deckung zu bringen: Die Canzonen sind im engeren Sinne lyrisch, weil sie äquivalent zu Oden gedacht werden – ein Gedanke, der angesichts der komplexen Strophenformen beider nicht abwegig ist und im Cinquecento in verschiedenen Experimenten mit einer ‚Odencanzone‘ (Alamanni, Trissino, Bernardo Tasso, Chiabrera) auch praktischen Niederschlag findet Aber was ist mit dem Sonett, der Ballata und dem Madrigal? Sie müssen irgendwie auf die beiden angebotenen Begriffe, lyricas cantiones und epigrammata, verteilt werden Klar scheint, dass das Sonett mit dem Epigramm gleichgesetzt wird, vielleicht wegen seiner Fähigkeit zu prägnanter, zugespitzter Form (die zumindest eine der Möglichkeiten des Sonetts im sechzehnten Jahrhundert darstellt), vielleicht wegen seiner ursprünglich nicht-musikalischen Medialität 23 Ob Ballata und Madrigal aufgrund ihrer Kürze (und im Falle des Madrigals der möglichen Pointenstruktur) als Epigramme oder aber (wohl eher) wegen ihrer musikalischen Ausrichtung als Canzonen gelten 22 23

Vgl Frizzolio (Anm 1), o S : Amicos habet quam plures Ciceronianos, et ex his precipue, qui Ciceronis animam in se more Pythagorico transfusam putent Noch radikaler wäre es freilich gewesen, die Canzone als carmen im Sinne der Oden des Horaz zu bezeichnen Ulrich Schulz-Buschhaus: Giovanni Della Casa und die Erschwerung des petrarkistischen Sonetts In: Poetica 23 (1991), S 68–94, hat gezeigt, dass das Sonett im Cinquecento zwischen ‚Epigrammatisierung‘ und ‚Erschwerung‘ steht Zur Medialität der Gattungen: Das Sonett ist im Gegensatz zur Canzone von Anfang an ohne Melodie (wird allerdings wie Madrigal und Canzone im Cinquecento zur Vorlage von Vertonungen und insofern nachträglich ‚musikalisiert‘); das Epigramm ist als ‚Inschrift‘ zunächst nicht Gesang

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sollen (in vielen frühen Petrarca-Drucken werden die Madrigale als einstrophige Canzonen gelistet), kann an dieser Stelle nicht entschieden werden Festzuhalten bleibt, dass die Zusammenschau lateinischer und volkssprachlicher Literatur hier zu Äquivalentsetzungen antreibt, die nicht ohne theoretische Folgen bleiben: In diesem Falle erscheinen schon durch die Wortwahl das epigrammatisch zugespitzte Sonett und die odenartige ‚hohe‘ Canzone als die Normalfälle, die die Sprachregelungen und mithin die poetologische Perspektive weitgehend bestimmen; die anderen Gattungen sind dann Varianten hiervon Nun sind in diesem Abschnitt von den drei Großen des Trecento nur Petrarca und Boccaccio zur Sprache gekommen, Dante wird nicht erwähnt Darin folgt Giraldi Bembo, der bekanntlich in seinen Prose diese beiden kanonisiert, Dante jedoch abwertet Aber Giraldi kanonisiert ja nicht nur, sondern er schreibt auch eine Literaturgeschichte, die keine allzu weit klaffenden Lücken aufweisen darf; wie kann Dante hier wegfallen, wenn er doch ebenso wie die anderen beiden der tre corone das Italienische und das Lateinische gleichermaßen gepflegt hat (was ja Giraldis Kriterium zu sein scheint)? Dieses Problem wird elegant gelöst, und zwar wiederum durch die Anordnung der Dialoge Der fünfte Dialog (und zweite im Subzyklus der Dialoge über die lateinische Literatur allgemein) reicht nämlich nach dieser Darstellung des Allgemeinen das Besondere nach: wie schon angedeutet, die dichtenden Herrscher und die christlichen Dichter Über die Erstgenannten, unter denen sich Caesar und Nero befinden, ist nicht viel zu sagen Die christlichen Dichter reichen von spätantiken Autoren wie Boëthius über mittelalterliche wie Hildegard von Bingen bis zu dem nun an dieser Stelle relativ breit abgehandelten Dante Dante nimmt unter den christlichen Dichtern eine derjenigen Petrarcas und Boccaccios bei den allgemein lateinischen analoge Position ein und kann daher sozusagen außer Konkurrenz kanonisiert werden Die Commedia wird als Lehrgedicht in der Art des Lukrez bezeichnet (Dialogi decem, V, S 308), und es wird Dante eine reiche Bildung, nicht zuletzt in theologischen und philosophischen Fragen, bescheinigt Ganz auf der Linie der bembesken Literaturkritik wird jedoch beklagt, es sei in eo salis & mordacitatis ad fastidium usque, und es wird berichtet, viele fänden den linguae nitorem unzureichend (Dialogi decem, V, S 308) Insofern stellt Dante in Giraldis Poetenüberblick nur der Position nach, aber kaum hinsichtlich der expliziten Beurteilung einen Höhepunkt der Dichtung dar Dass allerdings die christlichen Dichter durchaus nicht nur ein ausgelagerter Sonderfall sind, sondern einen besonderen Teil des Pantheons ausmachen, zeigt der Umstand, dass an dieser Stelle (und nicht nach Petrarca und Boccaccio im vierten Dialog) von den leer gebliebenen Bildflächen im Buch die Rede ist, in denen die Gegenwartsdichter Platz finden sollen: Wir befinden uns immer noch im Gesamttableau der lateinischen Dichtung, das noch weiter auszugestalten ist, nicht auf irgendwelchen Nebenschauplätzen; dies ist, wie gesagt, der Ansatzpunkt für die Dialogi duo

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3. Die zweite Hälfte der Dialogi decem wird von den beiden Subzyklen über die medial besonderen (und daher innerhalb der jeweiligen Entfaltungsgeschichte tendenziell späteren) Dichter eingenommen Der Einschnitt zwischen den beiden Hälften der Dialogdekade wird stark markiert: Die Praefatio der sechsten Dialogs zieht nämlich in die Ebene der Niederschrift noch einmal einen Zeitverlauf ein, der nun dazu dient, die idyllische Szenerie der Gespräche über die Dichtung in lieblicher Landschaft als uneinholbar fernes Glück erscheinen zu lassen, denn erst hier erfahren wir, dass der Vater des Picus puer inzwischen ermordet wurde und Pisoni mit seiner Familie der Pest zum Opfer gefallen ist (Dialogi decem, VI, S 311 f ); auch der Widmungsträger des Dialogs muss ausgewechselt werden, da er während der Drucklegung verstorben ist Diese Betonung der Vergänglichkeit und des Unglücks in der Zeit gehört zu der (etwa in den Vorreden der einzelnen Teile von De Deis gentium, aber auch in den Dialogi duo breit ausgespielten) Selbststilisierung des alternden, von Gicht geplagten Giraldi als Verkörperung jenes Niedergangs, den Italien während der guerre d’Italia erleidet und von dem der Gelehrte beim sacco di Roma auch selbst betroffen war 24 Das ferne Arkadien jener poetologischen Gespräche erhält so indes gegenüber der gefallenen Gegenwart zugleich die Autorität einer verschütteten Epoche, einer Art Altertum, das zugleich an die Tusculanae disputationes Ciceros erinnert Als erstes kommen Dialogi tres de tota scena, et ejus poetis (Dialogi decem, VI, S 311) Die ‚Szene‘ als Medium ermöglicht hier die Ausgliederung einer ganzen Gattungsreihe, die in dem Schema von Tzetzes nicht vorgesehen war Dadurch ergeben sich zugleich die Randlinien einer Grobsystematik Die Binnengliederung dieser Dialogfolge reproduziert noch einmal die Abfolge der ersten Dialoge: Theorie und griechische Ursprünge; die übrigen Griechen; die Lateiner Dass die Theorie und die Ursprungserzählung in einem Dialog zusammengenommen sind, erklärt sich wieder durch Giraldis Tendenz, Systeme aus ihrer Entfaltung zu erklären Der Publikationszeitpunkt der Dialogi decem lässt vermuten, dass insbesondere die hier präsentierte Theorie der Tragödie von Interesse sein könnte, denn just in jenen Jahren entzündet sich die Debatte um die Aristotelische Poetik, einen Text, in dem die Behandlung der Tragödie den breitesten Raum einnimmt: 1536 wird die Diskussion durch die lateinische Neuübersetzung durch Alessandro de’Pazzi angestoßen (wenngleich das griechische Original schon 1508 von Aldus Manutius gedruckt wurde); 1546 veröffentlicht Vincenzo Maggi seine In artem poetices Aristotelis lectiones, 1548 folgt Francesco Robortellos Kommentar (In librum Aristotelis de arte poetica explanationes)

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Bei Frizzolio (Anm 1), o S ist auch das von Giraldi für das eigene Grab gedichtete Epitaph abgedruckt, in dem es über den Verstorbenen heißt: Fortunae utranque paginam / Qui pertulit, sed pessima / Est usus altera, nihil / Opis ferente Apolline

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Wie verhält sich Giraldis Werk, das mit 1545 innerhalb dieser Abfolge ein sehr frühes Erscheinungsdatum hat, zur Tragödientheorie des Stagiriten? Sie wird in Auszügen referiert, die durchaus zentrale Punkte wie die Katharsis betreffen (während das Mimesis-Konzept blass bleibt25), aber sie verschwindet auch in einer Pluralität, die teils als solche ausgespielt, teils durch Anordnung gebändigt wird Zunächst teilt Giraldi, wieder von den fiktiven Schaubildern ausgehend, die szenischen Texte in vier Kategorien auf: Tragödie, Komödie, Satyrspiel, Mimus Ihre Entstehung wird sodann in eine historische Abfolge gebracht: Das Gesamtsystem der Dramatik entfaltet sich wieder in der Zeit, von der Tragödie zur Komödie (von beiden werden traditionelle Definitionen gegeben26), dann zum Satyrspiel Die Ordnung des Wissens ist eine historische, und daher interessiert Giraldi der Kern der Nachahmungslehre weniger Die Tätigkeit des Historikers, wie Giraldi sie versteht, ist jedoch nicht nur ordnend (und insofern vereinfachend), sondern sie ist (ganz wie in den übrigen Dialogen, aber auch in seinen mythographischen Werken) auch Einholung aller Quellen und damit aller Meinungen, die zum Gegenstand verfügbar sind (und insofern verkomplizierend) Bei dem für Giraldi zentralen Punkt der Entstehung der Tragödie wird diese Pluralität der Meinungen in einer Weise inszeniert, dass eine Dominanz einer einzigen Position (und sei es die des Aristoteles) gar nicht mehr möglich wäre: Ex quibus, inquam, omnibus quae attuli, videtis quanta sit varietas, quanta pene inexplicata opinionum diversitas Aus all dem, was ich angeführt habe, so sage ich, seht ihr, welche Vielfalt, welche fast schon unentwirrbare Meinungsvielfalt es gibt (Dialogi decem, VI, S 322)

Eine Lösung ist nicht zu finden, aber das Überlieferte kann gesammelt und bis zu einem gewissen Grade geordnet werden, der Kompilator (oder Gelehrte) behält zunächst die Oberhand gegenüber dem Systematiker (oder Philosophen) Für einen radikalen Aristotelismus wäre hier kein Raum Demgegenüber ist jedoch festzuhalten, dass die Fokussierung der Hervorgänge und die dadurch erzeugte Ordnung der Darstellung in Abstammungslinien die Unübersichtlichkeit der Meinungen bei Giraldi dennoch bis zu einem gewissen Grade implizit systematisiert Dies betrifft insbesondere das Satyrspiel, das im Anschluss an die Komödie behandelt wird, weil es Giraldi zufolge später entsteht als diese Hier zeigt sich ein weiteres Mal, dass Giraldis Entfaltungserzählungen Systematiken erzeugen Die Entstehung des Satyrspiels wird nämlich als Systemdifferenzierung beschrieben, ist es doch die darin neu auftretende Personengruppe (nicht mehr die Könige wie in der Tragödie, nicht mehr die Privatpersonen wie in der Komödie, sondern die Satyrn und Silene), 25 26

Vgl Dialogi decem, VI, S 318 Tragoedia est heroicae fortunae in adversis comprehensio (Dialogi decem, VI, S 313); Comoedia est privatae civilisque fortunae sine vitae periculo comprehensio (Dialogi decem, VI, S 320)

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die im Sinne der Aptumspoetik eine neue ihr gemäße Gattung erfordert Mit Livius (und gegen Quintilian27) führt Giraldi sodann auch die horazische und juvenalische Satire auf das griechische Satyrspiel zurück und erzielt durch diese Abstammungslinie wieder eine Ordnung, die es ihm ermöglicht, die Verssatire unter die dramatischen Gattungen einzugliedern (Dialogi decem, VI, S 323 f ) Der sechste Dialog schließt mit Ausführungen zum Mimus und zum Theater allgemein, sowie zu den ersten griechischen Dramatikern (Aischylos), unter die Giraldi aufgrund seiner Herleitung der Satire auch Menippos zählt (ungeachtet dessen, dass die von ihm vertretene Satire weder ein Satyrspiel noch eine Verssatire im römischen Sinne ist, vgl Dialogi decem, VI, S 353) Der siebte bringt die übrigen Griechen, der achte die Lateiner (deren Verhältnis zur griechischen Literatur wieder stark als Ost-West-translatio gezeichnet wird, Dialogi decem, VIII, S 411) Am Ende dieses Dialoges wird das Wiedererstehen des lateinischen Theaters in Ferrara, Mantua und Rom gewürdigt (Dialogi decem, VIII, S 440) Für den letzten Subzyklus von zwei Dialogen bleiben also die Lyriker und Epigrammatiker Heißt das aber, dass sie lediglich der ungeordnete Rest einer Ordnung sind, die nicht ganz aufgeht? Manche stark additiven Formulierungen scheinen in diese Richtung zu weisen 28 Aber erstens erbaut eine solche stark gliedernde Kapiteleinteilung, auch wenn sie keinen explizit strukturierenden Anspruch vorbringt, eine Ordnung des Wissens, und sei es eine zufällige; zweitens macht der Text bei näherem Hinsehen recht präzise Ordnungsangebote, die ein bezeichnendes Licht auf den Lyrikbegriff der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts werfen Hier gilt es zunächst zu unterscheiden zwischen denen, um die es hauptsächlich gehen soll (und quantitativ gesehen auch geht), nämlich die Odendichter und Epigrammatiker, und den sonst noch Hinzugefügten (etwa Jambendichter) Die beiden hauptsächlich zu behandelnden Gruppen werden konsequent von der Medialität ihrer Werke her definiert: die Lyriker als ursprünglich Singende (oder jedenfalls Musiker), als Musicos illos Graecorum veteres (Dialogi decem, IX, S 443), die Epigrammatiker (zumindest ursprünglich) als Verfasser von Inschriften Zwei weitere Arten von Epigrammen, nämlich ein Lob- und Tadelgedicht und ein argutes, unterhaltend pointiertes Gedicht (und mithin das Vorbild für eine bestimmte Variante des Sonetts im Cinquecento), werden als historisch spätere Ausfaltungen der ursprünglichen Gestalt erklärt Eine genetische Erklärung überbrückt hier das Fehlen eines (über die Versform hinausgehenden) gemeinsamen Merkmals (Dialogi decem, X, S 502)

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Quintilianus betont den römischen Ursprung der Satire: „Satura quidem tota nostra est“ (Marcus Fabius Quintilianus: Institutio oratoria Hg von Adriano Pennacini Bd 2 Turin 2001, X, S 93) De poetis Lyricis & Melicis, quibus & epigrammatum & jamborum scriptores addimus (Dialogi decem, IX, S 441); Lyricos et Epigrammatum poetas complectens (Dialogi decem, IX, S 443); [sc imagines] in quibus Lyrici, & Epigrammatographi, aliique nonnulli poetae descripti fuerant (Dialogi decem, IX, S 443)

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Damit sind die beiden Hauptgegenstände dieses Subzyklus als historisch aus zwei besonderen medialen Formen von Dichtung gewachsene Gattungsgruppen erklärt Alle anderen behandelten Gattungen werden dann wieder geschichtlich aus diesen Formen hergeleitet; so scheint Giraldi die jambische Dichtung als eine Variante der lyrischen zu begreifen (Dialogi decem, X, S 451 f ), und Arion, der unter die Lyriker eingereiht ist, wird als möglicher Erfinder des Chorlieds und des Dithyrambos genannt (die als Abwandlungen seiner sonst gepflegten strophischen Dichtung erscheinen) Die kürzeren Versgenera werden so als ein Feld von genetisch Verwandten präsentiert Dies gilt nicht nur für das Verhältnis der beiden in diesen zwei Dialogen vorgestellten Hauptgruppen zu den mitgeführten Nebenphänomenen, sondern es gilt bis zu einem gewissen Grade auch für das Verhältnis der beiden Hauptgenera zueinander: Zwar werden sie, wie gesagt, durch ihre mediale Besonderheit charakterisiert; und hier ergibt sich zwar eine systematische Vergleichbarkeit (als je medial Besondere gegenüber dem vorher präsentierten Allgemeinen), aber auch ein zunächst unüberbrückbarer Unterschied (denn die Lyrik wird als Gesang, die Epigrammatik als Schrift vorgestellt) In einer Nebenargumentation wird aber für die in beiden Gattungen verwendeten Versformen durchaus wiederum ein genetischer Zusammenhang angegeben, der es Giraldi (wie bereits angedeutet) auch ermöglicht, die anfangs in den allgemeinen Teil ausgelagerten Elegiker ebenfalls in das hier aufgemachte ‚Lyriker‘-Feld herüberzuziehen: Das Distichon wird als Besonderheit im Rahmen einer Diskussion der Odenformen erklärt, und die Bezeichnung epodicon carmen für die Elegie wird (aufgrund der Vergleichbarkeit der binären Strophenform) aus der Epode, also einer Position innerhalb der Dreiertypologie der Odenstrophen (neben Strophe und Antistrophe) abgeleitet (Dialogi decem, IX, S 444) Demgemäß ist der als Lyriker präsentierte Terpander auch der Erfinder der Elegie, Simonides besingt ähnliche Themen bald elegisch, bald lyrisch (respektive Dialogi decem, IX, S 447 und 463) Umso verwunderlicher mag es scheinen, dass die Elegiker in der Gesamtordnung nicht in diesen Dialogen ihren Ort finden; auch scheint erstaunlich, dass die Autoren von Dithyramben und jambischer (oder daktylischer) Dichtung lediglich am Rande mitgeführt werden: Alles wird unter die beiden Dominanten der lyrischen und epigrammatischen Dichtung subsumiert Aber erinnern wir uns der beiden Begriffe, mit denen Giraldi Petrarcas volkssprachliche Dichtungen belegte: lyricas cantiones und epigrammata; wir sahen, dass diese sich respektive auf Canzonen und Sonette bezogen und die übrigen, zumindest in der petrarkischen und gehoben petrarkistischen Dichtung weniger präsenten Gattungen irgendwie miterfassen mussten Ob die Dominanz dieser beiden Genera in der gehobenen volkssprachlichen Dichtung hier die Wahrnehmung auch der lateinischen vorstrukturiert hat oder umgekehrt, ist nicht leicht zu entscheiden 29

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Dafür spricht, dass bei der Präsentation der Lyriker in auffallendem Maße jene schon an Petrarca

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In jedem Fall scheint sich in diesen Dialogen ein großes, an den Rändern eventuell unscharfes Feld der kürzeren Versgenera auszubilden, das von Ode und Epigramm respektive von Canzone und Sonett beherrscht wird Es wird zwar nicht einheitlich definiert, erscheint jedoch als relativ homogen, nicht zuletzt, weil potentiell nicht zum Rest passende Phänomene wie der Dithyrambos (über den wir so gut wie nichts erfahren) und die Satire (die wie gezeigt in die dramatischen Gattungen ausgelagert ist) abgeschattet werden Insofern kann man sagen: Nicht ein heterogener Rest wird in diesen Dialogen präsentiert, der etwa nach dem Höhepunkt der dramatischen Gattungen noch abzuarbeiten wäre, sondern etwas, das zumindest den Eindruck eines Wohlumrissenen macht und, wie wir gleich sehen werden, nach der Theaterdichtung alles andere als eine Antiklimax darstellt Die Wichtigkeit der Lyrik in Giraldis Entwurf zeigt sich nämlich nicht zuletzt in einem (bereits erwähnten) Phänomen, das bei der Präsentation der neun griechischen Lyriker (mit dem Gipfel Pindar, aber mit besonderer Aufmerksamkeit für Sappho und damit verbunden überhaupt der weiblichen Dichtung30) aufscheint und dann beim Preis des Horaz vollends durchschlägt (und letztlich in dessen erster Ode grundgelegt ist31): in einem kommendativen Gebrauch des Begriffs ‚Lyriker‘; zu den Lyrikern

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und Boccaccio gewürdigte Qualität der Anmut und Süße durchschlägt, die (wie gezeigt) im sechzehnten Jahrhundert besonders mit der italienischen Vernakulardichtung in Verbindung gebracht wurde: [Sappho:] gratiam […] de orationis dulcedine (Dialogi decem, IX, 459); [Stesichoros:] suavitatis & dulcedinis futuri poetae prodigium (Dialogi decem, IX, S 460); [Simonides:] cognominatus item Melicertes, a cantus suavitate (Dialogi decem, IX, S 463) Dies sind zwar Referate antiker Urteile, sie treten aber so auffällig in Erscheinung, dass eine Perspektivierung der antiken Dichtung aus der Erfahrung der modernen italienischen nicht unwahrscheinlich ist Es ist in der Tat bemerkenswert, welch breiten Raum nicht nur Sappho, quam potius decimam Musam [sc epigramma] ait nominandam (Dialogi decem, IX, S 455), sondern überhaupt die pene innumerabiles foeminae einnehmen, die id studium magnifice exercuerint (Dialogi decem, IX, S 457) Abgesehen von der allgemeinen Erfreulichkeit solcher Aufmerksamkeit bestätigt dies eventuell unsere im Zusammenhang mit Sonett und Canzone als Leitgattungen geäußerte Vermutung, dass hier bei aller humanistischen Erudition die Wahrnehmung der antiken Dichtung bis zu einem gewissen Grade von der volkssprachlichen Gegenwart her strukturiert sein könnte, in der die weibliche Dichtung stark ist In den Dialogi duo werden jedenfalls duae illustres Principes et poetriae genannt, die pene non viris inferiores seien: Victoria Columnia Piscariae [Vittoria Colonna], et Veronice Gambara Corrigiensis [Veronica Gambara], quarum utriusque pro sexus qualitate divina leguntur poemata quae eo cupidius a plerisque leguntur, quo sunt ab illustribus matronis composita; audio et alias emergere quae suo et aliorum praeconio post hac celebrabuntur (Dialogi duo, II, S 220) Giraldi referiert das Urteil Quintilians, Horaz sei (unter den Lateinern) beinahe als einziger würdig, Lyriker genannt zu werden (Dialogi decem, X, S 497; vgl Quintilianus (Anm 27), Bd 2, X, S 93: At lyricorum idem Horatius fere solus legi dignus) In Horazens carmen I geht es darum, unter die lyrischen Seher eingereiht zu werden, also um eine Kanonisierung Vgl auch Giraldis Urteil zu Tertullian (Dialogi decem, X, S 502): Maurum quoque ego Tertullianum in hoc poetarum numero reposuerim, & lyricum non immerito vocaverim, cum lyricorum caeterorumque versuum dimensiones regulasque iisdem ipsis carminum generibus conscripserit Zum kommendativen Lyrikbegriff bei Horaz vgl Oliver Primavesi: Aere perennius? Die antike Transformation der Lyrik und die neuzeitliche Gattungstrinität In: Sprachen der Lyrik Von der Antike bis zur digitalen Poesie Hg von Klaus W Hempfer Stuttgart 2008 (Text und Kontext 27), S 15–32

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zu zählen, unter ihnen genannt zu werden, kommt einer besonderen Kanonisierung gleich In dieser gewissen Betonung der Lyrik zeigt sich Giraldi wieder auf einer Linie mit Bembo Aber Bembo hat für seine Zentralstellung der Lyrik andere Gründe als Giraldi Bei ihm resultiert sie daraus, dass der alleinige Musterautor, den er für die volkssprachliche Versdichtung kanonisieren will, eben ‚zufällig‘ ein Lyriker ist: Francesco Petrarca Bei Giraldi folgt sie eher aus seinem Dichtungskonzept allgemein Dazu nun Näheres 4. Gegen Ende des neunten Dialogs würdigt Giraldi den griechischen Lyriker und Musiker Timotheus von Milet Antiken Quellen zufolge (Artemon und Boetius der Spartiat werden genannt, Dialogi decem, IX, S 480) hat Timotheus mit chromatischer Musik die ihm zur Erziehung anempfohlenen Knaben verweichlicht; seine Musik wurde ebenso wie seine überraffinierte elfsaitige Leier von den Spartanern geächtet Verschiedene Berichte über das Fest des Alexander, bei dem Timotheus die Zuhörer bald zu diesem, bald zu jenem Affekt hinriss, werden resümiert (Dialogi decem, IX, S 481 – ein Topos, der noch bis zu Drydens Ode und Händels Oratorium Alexander’s Feast or The Power of Music reicht), ähnliche Fälle in der Gegenwart (etwa am Hof Papst Leos X) werden angeführt, und es wird kurz (angelehnt an Cassiodor) über die Affektproprietäten der musikalischen Modi diskutiert Damit wird die Behandlung der (gesungenen) Lyrik32 in besonderem Maße an die im ersten Dialog vorgestellte allgemeine Literaturtheorie angeschlossen, denn sie erscheint als ein Idealfall der dort wesentlich vom Gesang aus definierten Dichtung Die Geschichte von Timotheus, die wir im neunten Dialog fanden, ist denn auch in Teilen eine Wiederholung eines Abschnitts des ersten Dialogs (Dialogi decem, I, S 24) Diesen (die Lyrik aufwertenden) Brückenschlag des Textes zurück zum ersten Buch wollen wir nun mitvollziehen und die dort dargebotene Theorie der Dichtung rekonstruieren Dabei gilt es im Auge zu behalten, dass Giraldi (neben einer sehr großen Zahl antiker Quellen, sowie – implizit – den bereits erwähnten Genealogie Boccaccios) vor allem zwei ‚moderne‘ Texte als Intertexte aufruft: Polizians Silva Nutricia und Pontanos Dialog Actius (respektive Dialogi decem, I, S 2; I, S 8 und I, S 36) Bernard Weinbergs These, dass Giraldi als Theoretiker im Prinzip der Tradition horazianisch-rhetorischer Poetik folgt und dieser eine Vielzahl von zusätzlichen Elementen (wie Boccaccios Verteidigung der Dichtung) beimischt, ohne eine profilierte eigene Theorie zu entwickeln,33 kann und soll hier nicht grundsätzlich widersprochen

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Dass Timotheus auch Dithyramben geschrieben hat, spielt bei Giraldi keine Rolle Weinberg (Anm 8), Bd I, S 104–106

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werden Etwas anderes wäre auch nicht wahrscheinlich, denn mehr als jeder andere der zehn Dialoge ist der erste als eine Bildallegorese angelegt, nicht als eine theoretische Darlegung Gleichwohl lohnt es sich, diese Gemengelage genauer zu untersuchen, insbesondere auch auf die Angebote hin, die durch die spezifische Kombination humanistischer Wissensbestände den Zeitgenossen unterbreitet werden Es wird sich nämlich zeigen, dass die Anordnung des Dargebotenen das Wahrnehmungsfeld im Bereich der Poetik in spezifischer Weise zuschneidet, die zwar nicht als konsistente Theorie interpretiert werden kann, durchaus aber als wichtiger Beitrag zur poetologischen Diskussion der Spätrenaissance Giraldi verankert auch hier wieder alles in einer Ursprungserzählung, die in der Tat nahe an Boccaccios (und Petrarcas) Ausformung der bereits älteren Tradition ist, Poesie als prisca theologia zu betrachten 34 Boccaccio stellt ja im XIV Buch der Genealogie (teils, wie wir oben sahen, Isidor folgend) die Dichtung als eine Gabe Gottes an die Menschen dar, die sich in kultischen Handlungen zuerst bemerkbar macht: Die Gottheit inspiriert Auserwählte, unter dem Schleier der Allegorie den Menschen Wissen über die Natur und die Moral zu offenbaren, und dabei spielt die Erfindung von Mythen eine wesentliche Rolle 35 Giraldi folgt (in Dialogi decem, I, S 29) dieser Argumentation (und übernimmt auch Boccaccios Apologie der Dichtkunst gegen eine sich auf Platon berufende Verdammung der Dichter, vgl Dialogi decem, I, S 31–3736), setzt aber teils andere Akzente So arbeitet er die Inspirationslehre dieser Tradition dezidiert platonisch aus – was angesichts der Tatsache, dass in der Zwischenzeit Marsilio Ficino Wirkmächtiges zum Thema publiziert hat, nicht verwunderlich ist37 (Dialogi decem, I, S 4 u 7; jedoch ist das Platonreferat Giraldis nicht spezifisch auf Ficinos Klassifikation der furores zugeschnitten)

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Eine gute Übersicht über diese Tradition gewinnt man bei Rainer Stillers: ‚Mit einem Füllhorn voller Erfindungen geht die Dichtung stets einher‘ Anthropologische Poetik und Bildlichkeit bei Giovanni Boccaccio In: Mimesis – Repräsentation – Imagination Literaturtheoretische Positionen von Aristoteles bis zum Ende des 18 Jahrhunderts Hg von Jörg Schönert, Ulrike Zeuch Berlin, New York 2004, S 131–149 Demnach ist diese bereits bei Albertino Mussato (VII Epistel) vorgeprägte Auffassung der Dichtung als Theologie in ihrer eigentlich humanistischen Version auf ein Missverständnis einer Aristoteles-Stelle zurückzuführen: Petrarca liest in Familiares X, 4 eine Passage aus Aristoteles’ Metaphysik (I, 3; 938b 27), in der eigentlich diejenigen, die in der griechischen Frühzeit über Götter und Natur spekuliert haben, als fabulierende Dichter abgewertet werden, dahingehend, dass umgekehrt die frühen Dichter ernstzunehmende Theologen gewesen sein sollen (bei Stillers S 140, Anm 35) Vgl zum weiteren Kontext auch Craig Kallendorf: From Virgil to Vida The Poeta Theologus in Italian Renaissance Commentary In: Journal of the History of Ideas 56,1 (1995), S 41–62 Vgl Boccaccio (Anm 14), S 1395–1403; S 1547 Vgl ebd , S 1393 Eine Skizze der Inspirationslehre Ficinos bei Bernhard Huss: Regelpoesie und Inspirationsdichtung in der Poetologie Cristoforo Landinos In: Varietas und Ordo Zur Dialektik von Vielfalt und Einheit in Renaissance und Barock Hg von Marc Föcking, Bernhard Huss Wiesbaden 2003 (Text und Kontext 18), S 13–32, hier S 19–23

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Verwirrend ist in seiner Erzählung vom göttlichen Ursprung der Dichtung die Behandlung der Medialität, der Frage nach Stimme und Schrift Zwar behauptet Giraldi nicht, Dichtung sei von Anfang an schriftlich gewesen, aber er erzählt doch, nach kurzen Bemerkungen zur Entstehung der Sprache (einerseits zu Verständigungszwecken, andererseits aber anscheinend von Anfang an poetisch geformt38), zuerst die Geschichte der Schrift (von der er annimmt, sie habe sehr früh eingesetzt und sei ein Universale, das für alle Völker gelte: Dialogi decem, I, S 8); dabei spielen Dichter wie Homer für die Entwicklung der Sprache wie der Schriftzeichen eine gleichermaßen wichtige Rolle (Dialogi decem, I, S 14) Dann erst wird der Ursprung der Dichtung im Gesang (und sogar im Gesang der Engel vor der Schöpfung) dargelegt (Dialogi decem, I, S 23; I, S 29 f ) Es entsteht so ein ambivalenter Blick auf die Dichtung: Sie wird als etwas wesentlich Klangliches, aber auch dominant Schriftliches gesehen, rein mündliche Dichtung spielt kaum eine Rolle Dies hängt wieder mit der bembistischen Tendenz des Textes zusammen, die wir schon an der Behandlung Petrarcas und Dantes erkannten Jörg Robert hat darauf hingewiesen, dass ein Grundzug der Bemboschen Prose eine Ambivalenz von graphozentrischer und phonozentrischer Ausrichtung ist 39 Es lässt sich in der Tat zeigen, dass Bembo Dichtung als so etwas wie schriftlichen Klang denkt Seine Einrichtung klassischer Texte für das Verlagshaus Manutius in den ersten Jahren des sechzehnten Jahrhunderts zeigt die Bemühung um eine klanglich und rhythmisch gut realisierbare ‚Lesepartitur‘, eine auf das Erklingen gerichtete Notation, die gegenüber dem Buch als bloßem Textspeicher eine Neuerung darstellt 40 Auch Giraldi fasst die Klanglichkeit der Sprache als Verhältnis zwischen Notation und Aussprache auf; so behandelt er 38

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Giraldi beginnt seinen Bericht mit der Herleitung der Sprache aus dem praktischen Verständigungsbemühen entstehender Gesellschaften (Dialogi decem, I, S 8) In Dialogi decem, I, S 14, aber heißt es, die Griechen hätten zuerst nur Verse bzw das ‚Lied‘ (carmine) gekannt, erst Cadmus habe sie die Prosa gelehrt Man kann diesen Widerspruch auflösen, indem man annimmt, Giraldi spreche im erstgenannten Kontext von der Sprache schlechthin, im zweiten lediglich von texthaft gefügten, wiederholbaren und evtl sogar schriftlichen Werken; man könnte ihn aber auch als eine Art Vorwegnahme der Sprachauffassung Rousseaus betrachten (vgl Jean-Jacques Rousseau: Essai sur l’origine des langues, où il est parlé de la mélodie et de l’imitation musicale Hg von Jean Starobinski Paris 1990 ), wo Sprache ursprünglich als singende Gefühls-Verständigung unter den Geschlechtern entworfen wird Im Übrigen zieht sich Giraldi bei der Frage nach den Ursprüngen von Sprache und Schrift teils wieder hinter die Pluralität der Meinungen zurück, von denen er viele nur referiert, ut videatis quanta sit huiusce rei varietas (Dialogi decem, I, S 14) Vgl Jörg Robert: Pluralisierung, Differenzierung, Sektoralisierung Kunst- und Fachprosa im rinascimentalen Sprach- und Nachahmungsdiskurs (Erasmus von Rotterdam, Sperone Speroni) In: Pluralisierungen Konzepte zur Erfassung der Frühen Neuzeit Hg von Jan-Dirk Müller, Wulf Oesterreicher, Friedrich Vollhardt Münster 2010 (Pluralisierung und Autorität 21), S 53–69 Vgl Florian Mehltretter: Questione della lingua, questione dello stile Zur Diachronie von Pluralisierung und Autorität in der frühneuzeitlichen Sprach- und Dichtungsreflexion In: Pluralisierungen Konzepte zur Erfassung der Frühen Neuzeit Hg von Jan-Dirk Müller, Wulf Oesterreicher, Friedrich Vollhardt Münster 2010 (Pluralisierung & Autorität 21), S 31–52, und Mehltretter (Anm 19), Kap IV 1 und IV 2

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die Akzente, die die vocum moderamenta bzw rationem pronuntiandae orationis zeigen (Dialogi decem, I, S 16) Deshalb ist es ihm auch so wichtig, die von ihm gepflegte Aussprache der alten Sprachen gegen jenen Germanum hominem (Dialogi decem, I, S 17) zu verteidigen, der die Griechen und Italiener lehren will, wie man richtig liest und spricht 41 Geht man von einer solchen Auffassung der Schriftlichkeit als Notation eines Klanges (und nicht als Speicher eines Sinns) aus, so wird auch verständlich, warum in Dialog IX und X die Epigrammatiker ohne weiteres mit den Lyrikern zusammen geworfen werden, obwohl beide durch die Medialität ihrer Werke definiert werden (siehe oben): Beide befassen sich mit dem Klang der Worte, ob singend oder einschreibend Wie wirkt sich aber diese Auffassung von schriftlichem Klang auf Giraldis (bereits angesprochene) Anbindung der Dichtung an die Musik aus? Um dies feststellen zu können, müssen wir zunächst den Zusammenhang von Musik und Dichtung im ersten Dialog genauer betrachten Unter Berufung auf platonische und pythagoreische Lehre (sowie in Fortführung spätantiker und mittelalterlicher Musikauffassungen) entwirft Giraldi den Menschen als ein ‚harmonisches‘ Wesen, sei es, weil seine Seele harmonisch angelegt sei, sei es, weil er sich der vorgeburtlich gehörten Himmelsharmonien erinnere (Dialogi decem, I, S 23 und 26) Dies bedeutet, dass er durch die Musik in besonderem Maße beeinflussbar ist – hier erscheint, wie gesagt, Timotheus, und zwar in einer ganzen Reihe von Beispielen für die Macht der Musik über den Menschen (Dialogi decem, I, S 24) Zugleich ist die Musik auch himmlisch, sowohl als Verständigungsmittel und Lobesform der Engel, als auch als proportionale Harmonie der Sphären im pythagoreischen Sinne Diese Mischung an sich wenig überraschender Versatzstücke wird nun jedoch brisant, weil Giraldi hier noch eine Kombination aus Orpheus-Sage und Furor-Theorie einbringt: Weil diese Verhältnisse so sind, gelingt es dem Seher-Dichter, die Menschen mitzureißen und mit seinem Gesang a fera agrestique vita ad humanum civilemque cultum pellexere, moresque ac leges constitutis civitatibus dedere (Dialogi decem, I, S 29 – sein Auftrag ist demgemäß auch immer das prodesse42) Diese besondere Konstellation spielt auf eine interessante Stelle aus einem der beiden wichtigen humanistischen Intertexte dieses Dialogzyklus an, Polizians Nutricia Dort wird (in den Versen 146–198) genau diese Konfiguration noch wesentlich prägnanter präsentiert: Der Seher-Dichter wird nach Poliziano durch göttliche Inspiration dergestalt von der Himmelsharmonie erfüllt, dass er erstens mit der Macht der Musik die Hörer bannen und quasi manipulieren kann und zweitens ihnen dabei ein

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Gemeint ist wohl Erasmus von Rotterdam, der 1528 (und also nach dem fiktiven Zeitpunkt von Giraldis poetologischen Gesprächen, wenn auch vor deren im Text impliziten Niederschriftsdatum) seinen De recta Latini Graecique sermonis pronuntiatione dialogus veröffentlichte Das bei Horaz (Ad Pisones 333) angebotene Entweder-Oder von prodesse vs delectare wird denn auch aufgrund dieses gewichtigen Auftrags bei Giraldi (Dialogi decem, I, S 32) durch ein unkorrektes Zitat zu einem Beides-Zugleich: Et prodesse volunt & delectare poetae heißt es dort

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Sittengesetz offenbart, das selbst wieder im Zusammenhang mit der Himmelsmusik, nämlich dem harmonischen Bau des Kosmos steht Der Dichter wird so zu einer Art Medium, mithilfe dessen die Harmonie der Welt die zuvor noch rohen Menschen sozusagen in sich einpassen kann, die in ihnen immer schon angelegte Harmonie zum Mitklingen bewegend Dabei scheint der Harmonie-Gedanke sowohl die Wirkung der Musik zu begründen (die Menschen sind fasziniert von der Musik, die ihrem Inneren entspricht) als auch die Übereinstimmung von Mensch und Kosmos, die sich dann im rechten Leben (in der Moral und Zivilisation) ausdrückt 43 Diese eigentümliche Verbindung eines einerseits harmonistisch-spekulativen (und also theoretischen), andererseits affektlenkenden (also praktisch-rhetorischen) Musikkonzepts mit der Auffassung von der philosophisch-zivilisatorischen Sendung des Dichters, wie sie von Polizian einst im Quattrocento entwickelt wurde, wird von Giraldi ab 1545 (und im Neudruck 1580) wieder in die Diskussion eingespeist und reichert dadurch die horazisch-rhetorische Dichtungsauffassung platonisch und pythagoreisch an, während sie der aristotelischen Mimesispoetik eine interessante Alternative gegenüberstellt Dadurch ist freilich der musikalische Anteil der Dichtung der Schlüssel zum moralischen Nutzen derselben Ganz so musikalisch ist aber die Dichtung des Cinquecento eigentlich nicht, weder die italienische (der Canzone war der Melodieanteil längst abhanden gekommen, das Sonett hatte nie einen), noch gar die lateinische Wohl gab es viele Vertonungen, aber diese sind in der polyphonen Musik der Zeit gewiss als eigenständige Formungen eines bereits gegebenen Ganzen zu verstehen, nicht als etwas der Dichtung ursprünglich Mitgegebenes Dazu kommt, dass (wie wir sahen) die Klanglichkeit des Liedes von Giraldi (und Bembo) von der Schrift aus betrachtet wird Und dies bedeutet wohl, dass der Musikbegriff bei Giraldi weitgehend auf Metrik, Rhythmik und Klang der (schriftlich notierten) Dichtung selbst zu beziehen ist (wie wohl bereits ansatzweise in Dantes De vulgari eloquentia 2 4 2 ), im Sinne der „Konti43

Vgl Angelo Poliziano: Silvae Hg von Francesco Bausi Florenz 1996, S 176–181 Dort in den Anmerkungen auch Nachweis der Herkunft einzelner Motive, sei es aus Cicero (Somnium Scipionis und Kommentar des Macrobius hierzu) oder aber Lukrez Zu Nutricia vgl außerdem das ausführliche einschlägige Kapitel in Tobias Leuker: Angelo Poliziano Dichter, Redner, Stratege Stuttgart, Leipzig 1997 Die eigentliche Zivilisationsgeschichte wird bei Poliziano unmittelbar vor dem oben erwähnten Abschnitt erzählt (S 34–138) Auf den Spuren von Lukrez (De rerum natura V), Cicero (De Inventione 1 2), Horaz (Ad Pisones 391–401 und Sermones 1 3 99–114) und Manilius (Astronomica 1 66–112) wird berichtet, wie der ursprünglich tierische Mensch durch die Poesie die Gesetze gesitteten Zusammenlebens quasi als Offenbarung erhält Die Inspiration der Poesie stellt hier die offenbarten Gehalte bereit, aber sie bewegt auch den Gesang der Dichter so, dass die rohen Menschen (und sogar Tiere) von ihm gezähmt werden und sich beschämt als Wilde erkennen und bessern Vgl hierzu Paolo Paolini: Sul tema dell’incivilimento attraverso la poesia nei ‚Nutricia‘ del Poliziano e in altri autori In: Italianistica 12 (1983), S 217–234 Ein entscheidender Unterschied zwischen Polizian und Giraldi liegt jedenfalls darin, dass ersterer seine Poesiegeschichte dominant als eine der Mündlichkeit und des Gesangs erzählt (die Schrift wird nur en passant erwähnt), während Giraldi von Anfang an die Rolle der Schrift betont

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nuität spekulativ-metaphysischer Musiktheorie“ in der Tradition eines Boëthius oder Augustin, die Philipp Jeserich auch für den Beginn der Neuzeit noch nachgewiesen hat 44 Dies hat freilich zur Folge, dass der für dieses Gebäude so zentrale Harmoniebegriff metaphorisch wird: Was in seinem eigentlichen Bedeutungsfeld ein Verhältnis zwischen Tonhöhen (bzw Saitenlängen oder modern gesehen: Schwingungszahlen) meint, wäre demgemäß allenfalls durch Übertragung auf Verhältnisse zwischen metrisch-rhythmischen Strukturierungen oder zwischen Vokalfarben anzuwenden In der Tat scheint Giraldi seinen Musikbegriff in dieser Weise auf Verhältnisse innerhalb der Sprache zu übertragen, denn diese Ausführungen stehen teils im Zusammenhang mit der Frage, ob denn Vers oder Prosa zuerst verwendet wurden (und die Giraldi, wie gesagt, zugunsten des Verses entscheidet) Auch verrät eine Alternativ-Erklärung der Macht der carmina über den Menschen (mit der die Darstellung der Göttin Peitho auf den Tafeln erklärt werden soll), dass das, was die Hörer von Dichtung mitreißt, mindestens ebenso sehr die Kraft der Sprache ist wie die der Töne 45 Zu dieser Macht der Sprache und insbesondere des Metrums hat Giraldi nun noch eine interessante Theorie, die er einer besonders abgelegenen Quelle entnimmt Es ist der Stoiker Kleanthes, der die Kraft des Verses nach Giraldis Referat folgendermaßen erklärt: […] sicut spiritus noster clariorem sonum reddit cum illum tuba per longi canalis angustias tractum patenti ore novissime effundit, sic sensus nostros carminis arcta necessitas clariores efficit: negligentiusque, ut ille [sc Cleanthes] ait, nos percutiunt, quae soluta oratione dicuntur, quam quae astrictis certis pedibus & numeris, quasi evibrato lacerto in nos torquentur Wie unser Atem einen klareren Ton produziert, wenn ihn die Trompete durch die Enge eines langen Rohres zieht und zuletzt aus weiter Öffnung verströmt, so macht auch unsere Sinne die enge Restriktion eines Gedichtes klarer: Und nachlässiger, wie jener (Kleanthes) sagt, affiziert uns das, was in Prosa gesagt wird, als das, was in der Restriktion gewisser Versfüße und Rhythmen, gleichsam mit emporgeschwungenem Arm, gegen uns geschleudert wird (Dialogi decem, I, S 23)

Die eingeengte Notwendigkeit des Verses, die straff geschnürten Versfüße und Rhythmen, machen die Dichtung klarer und heller und ziehen die Hörer mehr in den Bann als dies die laxe Prosa vermag Illustriert wird dies an einem akustischen Beispiel: Ge44 45

Vgl Philipp Jeserich: Musica naturalis Tradition und Kontinuität spekulativ-metaphysischer Musiktheorie in der Poetik des französischen Mittelalters Stuttgart 2008 Peitho (die ja insbesondere die Göttin der erotischen Überredung ist und also spezifisch zu einer bestimmten Art von Liebesdichtung zu gehören scheint) wird allgemein als lepos, suada, suadela erklärt, quae ideo gratiarum liquorem aliquorum labiis infundere dicitur, quoniam efficacius animis hominum inhaerent quae per carmina traduntur (Dialogi decem, I, S 20) – sie ist also für alle Arten von bezaubernder Überredung und Belehrung geeignet, nicht zuletzt für die sittliche Erziehung

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nauso wird nämlich durch die Enge eines Ansatzrohres die Klangäußerung hell und tönend 46 Die Versform ist also nicht nur ein rhythmisches Ornament oder eine bloße Wiederkehr, sondern sie ist (modern gesprochen:) eine contrainte, die Geformtheit erzwingt Das Ergebnis ist in seiner engen Bedingtheit quasi notwendig und daher für den Hörer eingängig, zwingend und leicht memorierbar (vgl auch Dialogi decem, I, S 25) Die Macht der Sprachmusik gründet auf formaler Erschwerung Wenn aber nun der Vers die Musik ist, dann ergibt sich ein Widerspruch zwischen zwei wichtigen Autoritäten Giraldis: Mit Polizian stellt er, wie gezeigt, die Musik der Verse als zentrales Element der Dichtung dar Mit Boccaccio betont er aber auch, dass die eigentliche (auch philosophische) Leistung der Dichter das Ersinnen (die Fiktion) von allegoresefähigen Mythen sei, in denen das Wissen über die Natur und das rechte Verhalten verhüllt werden kann (Dialogi decem, I, S 27) 47 Deshalb muss er auch die Prosa als Dichtung zulassen und sieht sich sogar gezwungen, das Zentrum seiner Definition von der Musik der Verse auf die inventio von Mythen, auf die Fiktion zu verlegen (Dialogi decem, I, S 27 und 38) Er scheint sich dieses Widerspruchs auch wohl bewusst zu sein, denn er versucht sich in allerlei additiven Kompromissen (a fingendis & fabulis, & versibus, Dialogi decem, I, S 27) Immerhin seien die Fiktionen in Vers wie in Prosa gleichermaßen poetisch, wenn der Dichter nur ore magna sonet (Dialogi decem, I, S 38); hier zeigt sich ein Ansatz zu einer Poetik künstlerischer Klanglichkeit auch in der Prosadichtung Schließlich gelangt Giraldi zu folgender Definition, für die er sich auf Pontanos Actius, mithin auf den zweiten der explizit genannten humanistischen Intertexte, beruft: Dichter sei, qui spiritu afflatus magna egregie appositeque cum admiratione loquatur […] cui definitioni si par carmen addatur, omnia plane comprehensa videbuntur wer von Inspiration angehaucht mit großem Staunen in herausragender Weise und passend spricht … wenn dieser Definition ein angemessenes Gedicht angefügt wird, dann wird alles umfassend deutlich scheinen (Dialogi decem, I, 38 f )

Es soll nicht breiter ausgeführt werden, welche weiteren Ingredienzien Giraldi seiner bereits reichlichen Mischung hier hinzufügt Vielmehr sei ein Bestandteil herausge-

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Diese Äußerung des Kleanthes ist nur bei Seneca d J indirekt überliefert (Epistulae morales ad Lucilium) Lucius Annaeus Seneca: Epistulae morales Hg von Richard Mott Gummere, Thomas H Corcoran, Frank Justus Miller Harvard 1989, Nr 108, Abs 10, diskutiert darüber, wie philosophische Lehren fruchten können Jeder von uns trägt die Keime der Moral in sich, aber am besten werden sie geweckt durch ein befeuerndes Wort, und zwar vor allem im Vers Nam, ut dicebat Cleanthes, quemadmodum spiritus noster clariorem sonum reddit, quum illum tuba, per longi canalis angustias tractum, potentiorem novissimo exitu effudit; sic sensus nostros clariores carminis arta necessitas efficit (als Fragment auch in Alfred Chilton Pearson (Hg ): The Fragments of Zeno and Cleanthes, with introd and explanatory notes London 1891, S 280) Vgl Boccaccio (Anm 14), XV, ix und x

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griffen, der noch einmal einen in der zeitgenössischen Diskussion ins Hintertreffen geratenen quattrocentesken Text für das Cinquecento neu beleuchtet, eben Pontanos Actius (einen Dialog, aus dem Giraldi in Dialogi decem, I, S 35 sogar extensiv zitiert und ihn so besonders in Szene setzt): cum admiratione ist kein so unschuldiger Ausdruck, wie es scheinen mag, denn es ruft eine zentrale Kategorie von Pontanos Dichtungsverständnis auf Pontanos admiratio-Lehre sei daher an dieser Stelle kurz umrissen: Ausgangspunkt ist, wie Ernesto Grassi herausgearbeitet hat, Aristoteles’ Vorstellung vom Staunen als Anfang aller Philosophie, aber auch des Mythos (Metaphysik I, 2; 982 b 12*) 48 Der Dichter zielt nun nach Pontano darauf, das Staunen über die Welt durch seine Darstellung derselben wieder hervorzurufen In dem Dialog Antonius illustriert Pontano seine Konzeption am Beispiel von Vergils Beschreibung des Ätna: Sie ist nicht analytisch oder auf Theoria gerichtet, sondern sie lässt sich leiten vom Staunen und Wundern über das Geschehen (das Krachen der Ausbrüche etwa) Vergil erfüllt seine Leser mit einem schauernden Staunen über dieses Geschehen: animos admiratione simul atque horrore compleat 49 Derartige Vergil-Lektüren nehmen auch einen breiten Raum im Actius ein, der uns hier hauptsächlich beschäftigt 50 Dort erfahren wir auch Näheres darüber, wie dieses Staunen-Machen funktioniert Nicht eine bloß genaue Beschreibung der Vorgänge ist damit gemeint, sondern vielmehr eine exzellente, Bewunderung erregende Vertextung, eine staunenswerte dichterische Gestaltung – vornehmlich auf der Ebene des Klanges, des Metrums, auch der im Textfluss implizierten Geschwindigkeit 51 Es ist also das Analogieverhältnis der beiden Rezeptionsvorgänge, die Parallele zwischen dem Staunen über die sich dem Betrachter zeigende Welt und demjenigen über die virtuose Bedichtung dieses Geschehens, das hier die Gegenstandsangemessenheit der Dichtung sichert; Wirkung wird zum zentralen Kriterium

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Vgl ‚Einleitung‘ in: Giovanni Pontano: Dialoge Übs von Hermann Kiefer, Mitarbeit Hanna-Barbara Gerl, Klaus Thieme, mit einer Einleitung von Ernesto Grassi München 1984, S 17 Vgl ebd , S 178–183, Zitat: S 183 Zu Actius vgl grundlegend Gernot Michael Müller: Vielfalt und Einheit Die Dichtungslehre in Giovanni Pontanos ‚Actius‘ im Horizont einer Dialogpoetik der varietas In: Varietas und Ordo Zur Dialektik von Vielfalt und Einheit in Renaissance und Barock Hg von Marc Föcking, Bernhard Huss Stuttgart 2003 (Text und Kontext 18), S 33–57 Aufgabe des Dichters ist es nach den im Actius zu findenden Angaben, dicere apposite ad admirationem; nihil autem nisi excellens admodum parit admirationem, Pontano (Anm 48), S 333 Das Mittel ist nicht zuletzt das Versmaß: Numerus autem ipse cum primis et movet et delectat et admirationem gignit (ebd , S 332) Gehör und Tempogefühl sind wichtig: In quibus omnibus consulendae sunt aures videndumque ubi aut celeritate maiore aut tarditate aliqua opus sit (ebd , S 376) Dies ist mit ingenium, aber auch mit Fleiß zu erreichen, jedoch darf der Fleiß nicht zu sehr hervorscheinen; in jedem Falle muss der Leser erst vom Staunen überwältigt werden und darf allenfalls danach das planvoll Erarbeitete erkennen (ebd , S 413) Die Exzellenzforderung gilt gleichermaßen für res und verba: Itaque non verbis modo magnificis, sed rebus quoque et inventis excellenter et expressis admiratio a poetis quaeritur (ebd , S 502) Darüber hinaus kennt Pontano durchaus auch das Lehramt des Dichters als Tugendlehrer und Zivilisator (ebd , S 508–510)

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Das ist eine originelle Weiterentwicklung eines ebenfalls bereits bei Boccaccio angelegten Dispositivs: Wie Rainer Stillers gezeigt hat, tritt nämlich in den Genealogie neben die Konzeption der theologischen Poetik eine anthropologische, der gemäß Bildhaftigkeit und sinnlicher Reiz dichterischer Beschreibungen den Leser zur Erkenntnis führen sollen 52 Nicht nur optische Phänomene wie formas oder celi syderumque meatus, sondern auch akustische wie ventorum fragores et impetus, flammarum crepitus gehen in die dichterische Sprache ein, adeo apte descriptos, ut ea ipsa parvis in licterulis carminum inesse arbitrentur 53 Aber bei Boccaccio ist das noch ausschließlich eine Frage der Nachbildung von Bildern und Klängen, in dem eben zitierten Ausschnitt sicher auch von Lautmalerei (die hier in geradezu präbembesker Weise wieder in der Schrift, in den ‚kleinen Buchstaben der Gedichte‘ verortet wird) Diese Art der Nachbildung ist sicher auch bei Pontano wichtig Aber Pontano geht einen Schritt in die Abstraktion, weil für ihn nicht mehr der Wahrnehmungseindruck selbst das Vermittelnde zwischen Welt und Text ist (hier das Krachen des Ätna, dort das Knistern der Wörter), sondern es ist die Wirkung, die sich daraus ergibt (hier das Staunen über den explodierenden Vulkan, dort das Staunen über die Dichtung) Pontano bewegt sich weiter von der Darstellungsästhetik zur Wirkungsästhetik, wie sie dann im Barock dominieren wird Es ist Giraldis Verdienst, sein Jahrhundert auf diese Konzeption nochmals aufmerksam gemacht zu haben Man mag darüber streiten, welche Tiefe der Begriff der admiratio bei ihm wirklich gewinnt; sicher wird er Pontano nicht gerecht 54 Aber er wirft den Begriff wieder ins Spiel und arbeitet damit einem Aufflammen des Interesses daran zu, das in den dann folgenden Jahren verschiedentlich zu beobachten ist: Robortello (1548), Minturno (1559) und Patrizi (1587) machen verschiedene Versionen des Staunens in der Dichtung stark, von einem aus der Aristotelischen Poetik gewonnenen Konzept des Wunderbaren (auf der Ebene der res) über einen (bei Cicero anzutreffenden) rhetorischen Begriff des admirabile als des Unerwarteten (der verba) bis hin zu Patrizis antiaristotelischer, teils an Longin ausgerichteter Poetik in der Deca ammirabile; gemeinsames Element ist immer die Wirkung auf den Rezipienten Welche Rolle in der weiteren Entwicklung dieses Begriffskomplexes bis hin zum Barock die von Giraldi hier nochmals aktualisierte Konzeption Pontanos spielt, bleibt zu erforschen 55

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Vgl Stillers (Anm 34), S 145–149 Boccaccio (Anm 14), XIV, 17; S 1468 Außerdem muss betont werden, dass Pontanos Konzeption auch weiter reicht als das oben im Text davon gegebene Referat; insbesondere ist für seine Auffassung von der Macht der Sprache eine sich von Platon verabschiedende, explizit als hermetisch bezeichnete Vorstellung von der ‚Geistschöpfung im Wort‘ in Anschlag zu bringen, wie sie der Dialogsprecher Chariteus im Aegidius vorbringt; vgl Pontano (Anm 48), S 570–572 Marvin T Herrick: Some Neglected Sources of Admiratio In: Modern Language Notes 62,4 (1947), S 222–226, hat die erste Diskussion der admiratio in Francesco Robortellos Aristoteles-Kommentar gesehen (In librum Aristotelis de arte poetica explicationes, Florenz 1548) Giraldi wäre Robortello

Klassizität, Kanon und Wissensordnung in L G Giraldis Dialogen über die Dichter

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5. Es hat sich zum einen gezeigt, dass Giraldis umfangreiches poetologisches Dialogwerk durch die schiere Breite seiner pluralen Wissensbestände, auch durch die Beimischung abgelegener Elemente, Angebote zur Herausbildung von Neuem macht – nicht zuletzt durch die Aktualisierung von Polizians besonderer Formung des Dichterseher-Konzepts und Pontanos Version der admiratio Zum anderen erwies sich, dass Giraldis – teils eher rhetorischer oder ästhetischer dispositio als argumentatorischer Stringenz folgendes – Informationsarrangement das Wissen über die Poetik und ihre Geschichte in besonderer Weise formt, insbesondere durch eine implizite Gattungssystematik, die die zunächst ostendierte Unübersichtlichkeit besonders der kürzeren Versgenera dann doch unterläuft und zu einem einheitlichen Feld verbindet Von besonderem Interesse war dabei, dass sich sowohl die bembeske Kanonisierung Petrarcas und Boccaccios als auch die Einlassungen zur Gattungspoetik bei Giraldi in einem bis dato kaum erreichbaren großen literarhistorischen Rahmen abspielen, von den frühen Griechen bis zum Humanismus Dies warf allerdings auch die Frage nach dem Verhältnis antiker und volkssprachlicher Gattungen auf, die durch für die poetologischen Entwicklungen der Zeit symptomatische Äquivalenzsetzungen beantwortet wurde Aus allen diesen Gründen sollte trotz des Fehlens einer stringenten Theorie Giraldis Beitrag zum Age of Criticism nicht unterschätzt werden Was nun die Techniken der Kanonisierung angeht, so ordnet Giraldi die pluralen Wissensbestände der Weltliteratur nach teils systematischen und teils historischen Kriterien zu einem autoritätssetzenden System Hierbei erscheinen die griechischen, lateinischen und volkssprachlichen Klassiker jeweils an System- und Narrativ-Podrei Jahre voraus, wenn auch sein admiratio-Begriff andere Quellen und Implikate hat Robortello befasst sich naturgemäß hauptsächlich mit der Diskussion des Wunderbaren in Tragödie und Epos, referiert aber zusätzlich Stellen aus Aristoteles’ Rhetorik und Platons Theaitet, an denen es um den Zusammenhang von Staunen und Lernen geht – er erweitert mithin den Rahmen des Begriffs, wie er in der Poetik fällt (vgl Herrick, S 224, der in diesem Zusammenhang auch auf die Rolle hinweist, die Ciceros Konzeption des admirabile als des rhetorisch Unerwarteten in De Oratore in den Aristoteles-Kommentaren des Cinquecento spielt) Zur meraviglia in den Aristoteles-Kommentaren vgl Danilo Aguzzi-Barbagli: Ingegno, acutezza and meraviglia in the sixteenth century great commentaries to Aristotle’s Poetica In: Petrarch to Pirandello Studies in Italian Literature in honour of Beatrice Corrigan Hg von Julius Molinaro Toronto 1973, S 73–93 Minturno macht dann die admiratio zum gemeinsamen Effekt aller Tätigkeiten des Dichters, sei es Belehren, Erfreuen oder Bewegen: […] sic poetis esse dicendum, ut sive doceant, sive oblectent, sive moveant, hae singula statim admiratio legentis, audientisque consequatur (Antonio Sebastiano Minturno: De poeta Venedig 1559, S 106) Francesco Patrizis Deca ammirabile (ein Bestandteil von Patrizis Della poetica, 1587 entstanden, aber erst 1949 von Paul Oskar Kristeller wiederentdeckt) ist, wie Peter G Platt: ‚Not before either known or dreamt of ‘ Francesco Patrizi and the Power of Wonder in Renaissance Poetics In: Review of English Studies N S 43 (1992), S 387–394, herausgearbeitet hat, dann eine konsequent auf die admiratio ausgerichtete Poetik (auf allen Gebieten, nicht zuletzt aber auf der Ebene der ‚wunderbaren‘ Handlung bzw Welt) Sie hat als Hauptquelle nicht mehr Aristoteles, sondern Longin (Robortello hatte dessen De sublimitate 1554 herausgegeben)

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sitionen, die ihnen etwas geradezu Notwendiges verleihen Ihr Klassikerstatus wird nicht nur in den Fällen, wo er ohnehin unstrittig gewesen sein dürfte, sondern auch in weniger offensichtlichen Fällen wie Tebaldeo oder Bembo aus einem als präexistent vorgestellten Gesamttableau herauspräpariert Dessen Unanfechtbarkeit wird zudem durch zwei Techniken gesteigert: Zum einen weist die schiere Fülle der referierten Informationen und Positionen und ihre Integration in ein pluralitätsbewältigendes Modell jeden weniger Gelehrten sofort in die Schranken Zum anderen verlagern die Erzählungen längst vergangener Gespräche und die Beschreibungen dem Leser nicht präsenter Bildwerke den Ursprung der jeweiligen Kanonizitätszuschreibung in eine auratische Ferne

Von Klassikern und Klassizisten

Plinius’ Bedeutung für Cicero oder: die Kanonisierung seiner Korrespondenz in den Episteln des Epigonen Dennis Pausch (Dresden)*

1. Einleitung Plinius’ Bedeutung für Cicero – das soll natürlich paradox klingen und auf diese Weise für den schon in der antiken Theorie empfohlenen unterhaltsamen Einstieg sorgen, mit dem die Leser angeblich gewogen gestimmt werden Allerdings lässt sich nur schwer abschätzen, wie viel an Überraschungs- oder gar Provokationspotential mit einer Umkehrung der traditionell streng und linear chronologischen Reihenfolge literarischer Beeinflussung heute noch verbunden ist Ein solches ist für David Lodge in seinem Campus-Roman Small World von 1984 jedenfalls noch zu vermuten, wenn er den Protagonisten Persse McGarrigle eine MA-Arbeit zum Einfluss von T S Eliot auf Shakespeare schreiben lässt und eben nicht andersherum 1 Die Lust an der Irritation und dem Infragestellen herkömmlicher Ordnungen, die mit diesem Ansatz in seiner Frühphase verbunden war und erwartungsgemäß auch zu entsprechenden Gegenreaktionen geführt hat,2 dürfte heute einem gesteigerten Bewusstsein für die *

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Den Organisatoren einer so angenehmen wie anregenden Tagung gilt mein Dank für die zahlreichen Einsichten zum Thema Klassik/Klassizismus, aber auch für die wunderbare Aussicht vom 13 Stock des Philosophenturms Nicht weniger weiß ich mich Dr Antje Junghanß (Dresden) und Dr Christopher Whitton (Cambridge) für ihre kritische Lektüre und für vielfältige Verbesserungen verbunden Vgl David Lodge: Small World: An Academic Romance London 1984, v a S 52: „‚Well, what I try to show,‘ said Persse, ‚is that we can’t avoid reading Shakespeare through the lens of T S Eliot’s poetry I mean, who can read Hamlet today without thinking of ‚Prufrock‘? Who can hear the speeches of Ferdinand in The Tempest without being reminded of ‚The Fire Sermon‘ section of The Waste Land?‘“ Vgl z B Richard Oliver Allen Marcus Lyne: Vergil’s Aeneid: Subversion by intertextuality Catullus 66 39–40 and Other Examples In: Collected Papers on Latin Poetry Hg von Richard Oliver Allen Marcus Lyne Oxford 2007, S 167–183, S 183 (Greece & Rome 41 (1994), S 187–204)

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Lenkung unserer Lektüre früherer Autoren durch die Auseinandersetzung mit ihnen in den Werken späterer Schriftsteller gewichen sein – mit anderen Worten also: für die Bedeutung der Klassizisten beim Verständnis der Klassiker Diese allgemeine Beobachtung soll im Folgenden am Beispiel der Briefsammlung, die Plinius der Jüngere (61/62–ca 115 n Chr ) um die Wende vom ersten zum zweiten nachchristlichen Jahrhundert sukzessive veröffentlicht hat,3 näher beleuchtet werden Aus unserer heutigen Perspektive erscheint Ciceros Briefwerk als der Klassiker der lateinischen Epistolographie schlechthin und Plinius’ Orientierung an diesem Vorbild daher als naheliegend, wenn nicht gar zwingend Während an Ciceros Rolle als zentralem Bezugspunkt für Plinius auf anderen Feldern auch kein Zweifel bestehen kann, lohnt sich doch ein genauerer Blick darauf, wie hervorgehoben seine Rolle als Verfasser von Briefen vor der Publikation der plinianischen Sammlung eigentlich gewesen ist Eine überblicksartige Sichtung der Rezeptionszeugnisse, wie sie im Folgenden vorgenommen werden wird, legt vielmehr die Vermutung nahe, der dann im weiteren Verlauf dieses Beitrages nachgegangen werden soll, dass der ‚Epigone‘ Plinius eine zentrale Rolle bei der Kanonisierung der ciceronianischen Korrespondenz spielte und dabei die Bedeutung von Cicero als Epistolographen nicht nur quantitativ gesteigert hat, sondern möglicherweise auch die inhaltliche Wahrnehmung seiner Briefe durch spätere Leser entscheidend modifiziert hat 2. Ciceros Korrespondenz vor den Pliniusbriefen Kommen wir aber zunächst zur Rezeption der Cicerobriefe vor Plinius und damit zu einer der schwierigsten und meistdiskutierten Fragen, die mit diesem faszinierenden epistolographischen Werk verbunden sind Die Probleme resultieren in diesem besonderen Fall nicht zuletzt daraus, dass sich die Frage der Rezeption nicht von der Frage der Publikation lösen lässt und bei dieser wiederum für die verschiedenen Teile der Sammlung unterschiedliche Lösungen im Gespräch sind, was den Zeitpunkt und die Umstände der jeweiligen Veröffentlichung angeht 4 Sicher ist eigentlich nur 3

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Eine aktuelle, wenn auch gegenüber der Selbstdarstellungsabsicht des Autors oft nicht hinreichend skeptische Darstellung von Plinius’ Leben bietet Rex Winsbury: Pliny the Younger A Roman Life in Letters Oxford 2014; zur Frage der Publikation der Sammlung im Ganzen und der Rolle der einzelnen Bücher in diesem Zusammenhang vgl zuletzt die Beiträge in Ilaria Marchesi: Pliny the Book-Maker Betting on Posterity in the Epistles Oxford 2015 Von den zahlreichen Arbeiten, die sich mit dieser Frage beschäftigen, vgl v a David R Shackleton Bailey: Cicero’s Letters to Atticus Bd 1 Cambridge 1965; Aldo Setaioli: On the date of publication of Cicero’s Letters to Atticus In: Symbilae Osloenses 51 (1976), S 105–120; John Nicholson: The Survival of Cicero’s Letters In: Studies in Latin Literature and Roman History 9 Hg von Carl Deroux Brüssel 1998, S 63–105; Mary Beard: Ciceronian Correspondences: making a book out of letters In: Classics in Progress Essays on Ancient Greece and Rome Hg von Timothy P Wiseman London 2002, S 103–144, S 116–119; Peter White: Cicero in letters Epistolary relations

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eines: Cicero hat sich im Juli 44 v Chr mit der Absicht getragen, eine Auswahl aus den Briefen, die er im Lauf seines sechs Jahrzehnte umspannenden Lebens geschrieben hat, einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen 5 Dazu ist es aber – höchstwahrscheinlich – nicht mehr gekommen, da er nach der Ermordung Caesars noch einmal mit aller Energie auf die politische Bühne zurückkehrt und dieses Engagement schließlich im Dezember des Jahres 43 v Chr mit seinem Leben bezahlt Obwohl also eine eigenhändige Publikation nicht mehr stattgefunden haben dürfte, kursierten dennoch einzelne Schreiben in den Netzwerken der Nobilität und konnten daher auch prinzipiell ihren eigenen Weg in die Nachwelt finden 6 Für den Löwenanteil scheint aber zu gelten, dass die Korrespondenz in der Form, wie wir sie kennen, also in nach Adressaten geordneten Buchkorpora (vor allem 16 Bücher Briefe an seinen Freund Atticus und 16 Bücher an verschiedene Bekannte unter dem Titel ad familiares) nicht von Cicero publiziert wurde, sondern postum von einem – oder mehreren – Herausgebern, über deren Motive und Lebenszeit wir strenggenommen nichts wissen Die gängige Vermutung, dass Ciceros Privatsekretär Tiro, der in hohem Alter erst 4 v Chr stirbt,7 hier eine wichtige Rolle gespielt hat, ist zwar aus biographischen Gründen und angesichts des Umstandes, dass er von Cicero im Zusammenhang seiner Publikationspläne erwähnt wird, naheliegend,8 lässt sich aber durch nichts beweisen 9 Der früheste Beleg für eine Verwendung der Atticus-Briefe spricht denn auch eher dagegen: Für seine vita Attici hat Cornelius Nepos als gewissenhafter Biograph auch die von Cicero an diesen gerichteten Schreiben eingesehen und betont dabei, dass es sich bei ihnen im Gegensatz zu den anderen Schriften Ciceros,

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of the late republic Oxford 2010, S 31–61, S 33 f : „How soon after his death the letters came into circulation has been the most contentious question in the scholarly literature surrounding them “ sowie zuletzt Robert W McCutcheon: A Revisionist History of Cicero’s Letters In: Mouseion 13 (2016), S 35–63, S 54, der sich gegen ein festes Publikationsdatum ausspricht und stattdessen den Charakter der Cicero-Briefe als in hohem Maße ‚fluiden Text‘ betont Vgl Cic Att 16,5,5: mearum epistularum nulla est συναγωγή; sed habet Tiro instar septuaginta, et quidem sunt a te quaedam sumendae eas ego oportet perspiciam, corrigam; tum denique edentur („Eine Sammlung von meinen Briefen existiert bis jetzt nicht, aber Tiro hat etwa 70 beieinander Auch Du könntest welche beisteuern Ich muß sie aber erst durchsehen und korrigieren, ehe sie herausgegeben werden “; Übers Helmut Kasten, Marcus Tullius Cicero: Atticus-Briefe Lateinisch – deutsch 5 Auflage Düsseldorf 1998 ) Das lässt sich exemplarisch an Ciceros berühmten Brief an den Historiker Lucceius (ad fam 5,12 mit z B Jon Hall: Cicero to Lucceius (fam 5 12) in its Social Context: valde bella? In: Classical Philology 93 (1998), S 308–321) zeigen, den Cicero nicht nur Atticus zur Lektüre empfahl (ad Att 4,6,4), sondern dessen Kenntnis auch beispielsweise für Livius plausibel gemacht werden kann (vgl z B Anthony J Woodman: Rhetoric in classical historiography Portland 1988, S 151 Anm 55) Vgl Hieron in Euseb Chron ad Olymp 194,1: M Tullius Tiro in Puteolano praedio usque ad centesimum annum consenescit Vgl Cic Att 16,5,5 (s oben) Vgl z B Beard (Anm 4), S 118

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qui in vulgus sunt editi, um bislang unveröffentlichtes Material gehandelt habe,10 das er also folglich in einer Art Archiv aufgespürt haben dürfte 11 Allerdings bewegen wir uns hier noch immer um das Jahr 35 v Chr , so dass auch eine spätere Publikation noch zu Lebzeiten Tiros nicht ausgeschlossen werden kann Das Gegenteil wird aber nicht zuletzt durch die geringe Zahl sicherer Rezeptionszeugnisse aus den folgenden Jahrzehnten wahrscheinlich gemacht So hören wir bis in die 60er Jahre des ersten Jh n Chr eher wenig von den Briefen Die punktuellen Bezugnahmen auf besonders gelungene Stellen und vor allem Aussprüche in einzelnen Schreiben Ciceros durch Domitius Marsus12 in spätaugusteischer Zeit sowie durch den älteren Seneca13 und Valerius Maximus14 unter Tiberius setzen nicht zwingend die Kenntnis der ganzen Korrespondenz voraus und lassen sich genauso gut auf andere Formen der Überlieferung zurückführen, beispielsweise eine Sammlung seiner Witze, wie es sie schon zu seinen Lebzeiten gegeben haben soll 15 Am auffälligsten ist jedoch der Umstand, dass der Grammatiker Q Asconius Pedianus noch in den 50er Jahren des ersten Jh bei seiner gründlichen Kommentierung der Reden Ciceros von dessen Briefen keinerlei Gebrauch macht, obwohl sich das an einigen Stellen angeboten hätte 16 Auch wenn es sich zugegebenermaßen nur um ein argumentum e silentio handelt, bietet es sich doch an, das Schweigen des Asconius mit der prominenten Erwähnung 10

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Vgl Nepos, Atticus 16,2–4: quamquam eum [sc Atticum] praecipue dilexit Cicero, ut ne frater quidem ei Quintus carior fuerit aut familiarior ei rei sunt indicio praeter eos libros, in quibus de eo facit mentionem, qui in vulgus sunt editi, undecim volumina epistularum ab consulatu eius usque ad extremum tempus ad Atticum missarum; quae qui legat, non multum desideret historiam contextam eorum temporum („Cicero freilich schätze ihn [sc Atticus] ganz besonders, nicht einmal die Beziehung zu seinem Bruder Quintus war inniger oder intimer; außer den bereits veröffentlichten Schriften, in denen er von seinem Freund spricht, verdeutlichen dies jene elf Bände Atticus-Briefe aus der Zeit zwischen Konsulat und Tod, die den Leser eine systematische Darstellung der Geschichte dieser Zeit kaum vermissen lassen “; Übers Peter Krafft, Felicitas Olef-Krafft: Cornelius Nepos De viris illustribus/ Biographien berühmter Männer Lateinisch – deutsch Stuttgart 1993 ) Vgl z B Beard (Anm 4), S 119, die von einem ‚archival pre-life‘ der Cicero-Briefe spricht Das Werk des Domitius Marsus, eines Zeitgenossen des Maecenas und Ovids, über den Humor (de urbanitate) ist – bedauerlicherweise – verloren, wird aber von Quintilian (inst 6,3,108 f ) als Quelle für einen berühmten Ausspruch Ciceros angeführt, den dieser in einem Schreiben an Atticus wiedergibt (Att 8,7,2) Dass dasselbe dictum auch von Plutarch (Apopht 205c) und Macrobius (Sat 3,3,7) zitiert wird, spricht aber nicht dafür, in dem Brief die einzige Überlieferung zu vermuten (vgl z B Shackleton Bailey (Anm 4), S 61 f ; Nicholson (Anm 4), S 67 f ) Seneca bezieht sich an einer Stelle in den Suasorien (suas 1,5) offenbar auf Cic fam 15,19, auch wenn er den Wortlaut nicht ganz richtig wiedergibt (vgl z B Nicholson (Anm 4), S 75, der für nur indirekte Kenntnis plädiert) Valerius zitiert Cicero nicht explizit, lehnt sich aber möglicherweise stark an den Wortlaut zweier Atticus-Briefe an: vgl Val Max 9,1,7 = Att 1,16,5 und Val Max 6,2,9 = Att 2,19,3 mit v a Setaioli (Anm 4), S 112–114 Vgl Wolf C Schneider: Vom Salz Ciceros Zum politischen Witz, Schmäh und Sprachspiel bei Cicero In: Gymnasium 107 (2000), S 497–518 sowie Mary Beard: Laughter in ancient Rome On joking, tickling, and cracking up Berkeley 2014, S 104 f [deutsch: Das Lachen im alten Rom Eine Kulturgeschichte Darmstadt 2016 ] Hierzu vgl v a Shackleton Bailey (Anm 4), S 63–73

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der Atticus-Briefe durch den jüngeren Seneca in der Mitte der 60er Jahre zu kontrastieren Er zitiert nicht nur mehrfach einzelne Passagen,17 sondern äußert sich auch an zwei Stellen in zusammenfassender Weise zur Korrespondenz seines Vorgängers im Ganzen So betont er im programmatischen 21 Schreiben das Potential seiner Briefe, ihren Adressaten unsterblich zu machen, und versucht dies Lucilius unter anderem mit dem Verweis auf die parallele Situation im Falle von Cicero und Atticus vor Augen zu führen: nomen Attici perire Ciceronis epistulae non sinunt nihil illi profuisset gener Agrippa et Tiberius progener et Drusus Caesar pronepos; inter tam magna nomina taceretur nisi Cicero illum applicuisset Den Namen des Atticus lassen Ciceros Briefe nicht untergehen Nichts hätte ihm sein Schwiegersohn Agrippa genützt, nichts Tiberius, der Mann seiner Enkelin, und sein Urenkel Drusus Caesar Unter so bedeutenden Namen würde man von ihm schweigen, wenn ihn nicht Cicero zum Freund genommen hätte 18 (Sen ep 21,4)

Die zweite Stelle bietet hingegen einen deutlich kritischen Blick, da Seneca dort seine epistulae morales von Ciceros Korrespondenz abgrenzen möchte und daher deren nichtssagenden Inhalt stark betont 19 Doch auch das hierfür erforderliche Gesamturteil setzt wiederum eine Kenntnis der Sammlung im Ganzen und nicht nur einzelner Schreiben voraus Wenn sich also das Bekanntwerden von Ciceros Korrespondenz in ihrer Gesamtheit – oder aber zumindest der Atticus-Briefe – bei einer breiteren Öffentlichkeit auf die Mitte des ersten Jh n Chr datieren lässt,20 dann handelt es sich hierbei genau genommen um einen denkbar ungünstigen Zeitpunkt Denn das negative Urteil Senecas über den beliebigen Inhalt der Schreiben kann als charakteristisch gelten für die in dieser Zeit vorherrschende Kritik an Cicero, der in einer sich als dezidiert nicht-klassisch

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Vgl z B Sen ep 97,3 f (= Cic Att 1,16,5) (Text: L Annaei Senecae ad Lucilium epistulae morales 2 Bde Leighton D Reynolds Oxford 1965; Übersetzung Gerhard Fink, L Annaeus Seneca: Epistulae Morales ad Lucilium/Briefe an Lucilius Bd 1 Lateinisch – deutsch Düsseldorf 2007) Vgl Sen ep 118,1 f mit Cic Att 1,12,1 4 Zu Senecas Abgrenzung von Cicero hier und allgemein vgl ferner Marion Lausberg: Cicero – Seneca – Plinius Zur Geschichte des römischen Prosabriefes In: Anregung 37 (1991), S 82–100, S 85–88; Roy K Gibson, Ruth Morello: Reading the Letters of Pliny the Younger Cambridge 2012, S 77 f sowie Aldo Setaioli: Seneca e Cicerone In: Aspetti della Fortuna di Cicerone nella cultura Latina Atti del III Symposium Ciceronianum Arpinas Hg von Emanuele Narducci Florenz 2003, S 55–77 Vgl White (Anm 4), S 175: „… a preponderance of scholarly opinion has held that at least the Letters to Atticus, …, did not circulate publicly until about the 60 s A D , …“; dag aber auch Nicholson (Anm 4), v a S 65, der davon ausgeht, dass es in der Antike nie zu einer Publikation der Cicero-Briefe im eigentlichen Sinne gekommen ist

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verstehenden Epoche ein naheliegendes Feindbild darstellt 21 Das ändert sich erst am Ende des ersten Jahrhunderts n Chr und bei dieser klassizistischen Wende spielt bekanntermaßen Plinius’ Lehrer Quintilian eine zentrale Rolle 22 In seiner Mitte der 90er Jahre veröffentlichten institutio oratoria23 finden sich mehr als zwei Dutzend Zitate aus Ciceros Briefen 24 Damit sind wir aber zeitlich schon nur noch wenige Jahre von der Publikation der plinianischen Sammlung entfernt, so dass man diesen Durchgang mit dem Fazit beenden kann, dass die Kenntnis von Ciceros Briefen bei Plinius und seinen Lesern zwar vorausgesetzt werden kann, dass seine Korrespondenz aber – ganz im Gegenteil zu den anderen Teilen seines Œuvres – schwerlich bereits den Status eines Klassikers erreicht haben dürfte 3. Cicero, der unerreichte Klassiker: die traditionelle Sicht Genau dies, dass Cicero auch als Epistolograph bereits ein unhinterfragter Klassiker und daher ein unvermeidlicher Bezugspunkt für Plinius gewesen sei, kann aber als die Grundannahme der Forschung gelten, die gelegentlich beiläufig begründet, häufiger aber für gegeben angenommen wird 25 Eine solche Sichtweise wird nicht zuletzt dadurch nahegelegt, dass Plinius Cicero in anderen Bereichen nicht nur explizit als sein Vorbild benennt, sondern seine Versuche, dessen Leistungen auf literarischem wie politischem Gebiet nachzuahmen, ausgiebig thematisiert 26 21

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Zur Cicero-Rezeption im ersten Jh n Chr vgl z B Rita Degl’Innocenti Pierini: Cicerone nella prima età imperiale In: Narducci (Anm 19), S 3–54 sowie Thomas J Keeline: The Reception of Cicero in the Early Roman Empire: The Rhetorical Schoolroom and the Creation of a Cultural Legend Cambridge 2018 Vgl v a Quint inst 1,6,18; 5,13,52 u 10,1,112 Für eine Datierung bis 94 n Chr vgl Bruno Zucchelli: Sulla data di pubblicazione dell’Institutio oratoria di Quintiliano In: Filologia e forme letterarie Festschrift Francesco Della Corte 4 Urbino 1987, S 47–60, für die Jahre 97 oder 98 vgl William C McDermott, Anne E Orentzel: Quintilian and Domitian In: Athenaeum 67 (1979), S 9–26 Eine Übersicht über die einschlägigen Stellen bietet Nicholson (Anm 4), S 87–90, der vor dem Hintergrund seiner skeptischen Haltung in der Frage der Publikation aber selbst bei Quintilian nicht von direkter Kenntnis ausgeht Vgl z B Alfons Weische: Plinius der Jüngere und Cicero Untersuchung zur römischen Epistolographie in Republik und Kaiserzeit In: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt 2,33,1 (1989), S 375–386; S 379 f : „Angesichts dieses Anschlusses des Redners Plinius an Cicero liegt die Vermutung nahe, er sei zur Veröffentlichung einer Briefsammlung eben durch das Vorhandensein der Sammlungen ciceronischer Briefe angeregt worden “; Lausberg (Anm 19), S 88–90; Étienne Wolff: Pline et Cicéron Quelques remarques In: Epistulae antiquae III Actes du IIIe colloque international „L’épistolaire antique et ses prolongements européens“ (Université François-Rabelais, Tours, 25–27 septembre 2002) Hg von Leon Nadjo, Élisabeth Gavoille Paris 2004, S 441–447 sowie Gibson, Morello (Anm 19), S 76–79 Gesamtdarstellungen zu diesem für Plinius zentralen Themenfeld bieten u a Lidia Winniczuk: De C Plinio Secundo Minore M Tulli Ciceronis aemulatore In: Meander 37 (1982), S 85–97; Ilaria Marchesi: The Art of Pliny’s Letters A Poetics of Allusion in the Private Correspondence Cam-

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Dies geschieht mit Blick auf Ciceros Rolle als Redner und Stilist gleich im zweiten Brief des ersten Buches, der angesichts des kurzen und sich eher mit technischen Fragen beschäftigenden Widmungsschreibens am Beginn der Sammlung die Funktion eines programmatischen Proöms übernimmt Hier finden sich mit den Verweisen auf die ‚Farbtöpfe‘ des großen Sprachkünstlers (Marci nostri λήκυθοι)27 einerseits und auf die Distanz zu den als klassisch begriffenen Autoren früherer Epochen, denen ‚die Götter ihre Gunst schenkten‘, wie es mit einem Vergilzitat heißt,28 andererseits bereits diejenigen Elemente, die für Plinius’ Reflexion über imitatio und aemulatio generell charakteristisch sind 29 Das wird wenig später in ep 1,5 und damit in einem weiteren der – wie Matthias Ludolph zeigen konnte30 – gezielt an den Anfang der Sammlung gestellten acht ‚Paradebriefe‘ noch einmal explizit formuliert und mit est mihi … cum Cicerone aemulatio auf den Punkt gebracht 31 Diese ganz explizite Aussage zu seiner aemulatio Ciceronis bezieht sich zwar im engeren Sinne zunächst wiederum auf den rhetorischen Stil, steht in diesem Schreiben aber zugleich in einem größeren Kontext, in dem er sich als engagierter Anwalt und als verantwortungsvoller Politiker zeigen möchte, und zwar beides ebenfalls in der Nachfolge Ciceros Beide Facetten tauchen im weiteren Verlauf der plinianischen Sammlung immer wieder auf32 und werden noch um weitere Aspekte ergänzt: So beruft er

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bridge 2008, S 207–240; Eckard Lefèvre: Vom Römertum zum Ästhetizismus: Studien zu den Briefen des jüngeren Plinius Berlin 2009; Roy K Gibson, Catherine Steel: The indistinct literary careers of Cicero and Pliny the Younger In: Classical Literary Careers and their Reception Hg von Philip Hardie, Helen Moore Cambridge 2010, S 118–137; Gibson, Morello (Anm 19), S 83–99 sowie Keeline (Anm 21), S 277–335 Vgl Plin ep 1,2,4 mit z B Marchesi (Anm 26), S 218 f , u Keeline (Anm 21), S 293–297 sowie Katrin Schwerdtner: Plinius und seine Klassiker Studien zur literarischen Zitation in den Pliniusbriefen Berlin 2015, S 69–72, die aus dem Umstand, dass die Metapher der λήκυθοι von Cicero in einem Brief verwendet wird (Att 1,14,3), den Schluss zieht, dass Plinius auch hier schon Cicero als Epistolographen mit im Blick hat Vgl Plin ep 1,2,2: nam vim tantorum virorum ‚pauci, quos aequos …‘ adsequi possunt Das nicht vollständig wiedergegebene Zitat stammt aus der Rede der Sibylle im 6 Buch der Aeneis (Verg Aen 6,129 f … amavit // Iuppiter) und soll – wie häufiger bei Plinius – vom Leser ergänzt werden: vgl Helmut Krasser: extremos pudeat rediisse Plinius im Wettstreit mit der Vergangenheit Zu Vergilzitaten beim jüngeren Plinius In: Antike und Abendland 39 (1993), S 144–154, v a S 150 f Für eine von diesen übergreifenden Aspekten ausgehende Interpretation von ep 1,2 weniger als Aussage zu Plinius’ Verhältnis zu Cicero, sondern als selbstbewusste Positionierung zum Konzept der imitatio generell vgl Gregor Vogt-Spira: Die Selbstinszenierung des jüngeren Plinius im Diskurs der literarischen imitatio In: Plinius der Jüngere und seine Zeit Hg von Luigi Castagna, Eckard Lefèvre München 2003, S 51–65, S 53–56, v a S 54: „In Wahrheit geht es vielmehr zunächst einmal um das Bezugssystem selbst, innerhalb dessen Plinius seinen Anspruch formuliert “ Vgl Matthias Ludolph: Epistolographie und Selbstdarstellung Untersuchung zu den ‚Paradebriefen‘ Plinius’ des Jüngeren Tübingen 1997 Vgl Plin ep 1,5,12 Zur komplexen narrativen Rahmung der Aussage vgl Ludolph (Anm 30), S 142–166, v a S 160 f Für weitere Stellen, an denen sich Plinius den Redner Cicero als Vorbild genommen hat, vgl Heribert Pflips: Ciceronachahmung und Ciceroferne des jüngeren Plinius Ein Kommentar zu den Briefen des Plinius über die Repetundenprozesse (epist 2,11; 2,12; 3,9; 4,9; 5,20; 6,13; 7,6) Diss

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sich auf Cicero auch als Vorbild für seine Gelegenheitsdichtung33 oder nimmt seine eigene Ernennung zum Augur als Anlass, um über die Parallelität ihrer Karrieren im Ganzen nachzudenken 34 Letzteres geschieht im achten Schreiben des vierten Buches, das an Arrianus Maturus gerichtet ist, einen römischen Ritter, der noch mehrfach als Adressat fungiert, unter anderem im eben bereits erwähnten Brief 1,2 35 Das Schreiben im vierten Buch bietet einen guten Ausgangspunkt, um kurz über die Perspektive nachzudenken, aus der dieser Vergleich vorgenommen wird: [4] te quidem, ut scribis, ob hoc maxime delectat auguratus meus, quod M Tullius augur fuit laetaris enim quod honoribus eius insistam, quem aemulari in studiis cupio [5] sed utinam ut sacerdotium idem, ut consulatum multo etiam iuvenior quam ille sum consecutus, ita senex saltem ingenium eius aliqua ex parte assequi possim! (4) Dir macht freilich, wie Du schreibst, deswegen mein Augurat am meisten Freude, weil M Tullius Augur war Du freust Dich nämlich, daß ich in die Ehrenstellen desjenigen eintrete, den ich auch in den Studien nachahmen möchte (5) Wie ich das Priesteramt und das Konsulat sogar in viel jüngeren Jahren erlangt habe als er, so möchte ich im Alter wenigstens zum Teil sein Talent erreichen können!36 (Plin ep 4,8,4 f )

Zwar betont Plinius am Ende erwartungsgemäß die Unerreichbarkeit Ciceros mit Blick auf das ingenium, rechnet seinen Lesern aber zugleich mit nicht geringem Stolz vor, dass er Konsulat und Priesteramt sogar früher als sein großes Vorbild erlangt hat 37

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Münster 1973; für eine generelle Übersicht der Bezugnahmen auf Cicero vgl den gründlichen Index bei Marchesi (Anm 26), S 252–257 Vgl Plin ep 7,4 sowie 3,15 (Cicero als Förderer von Dichtung) mit Ulrike Auhagen: Lusus und gloria – Plinius’ hendecasyllabi (ep 4,14; 5,3 und 7,4) In: Castagna, Lefèvre (Anm 29), S 3–14 sowie Marchesi (Anm 26), S 53–96 Vgl Plin ep 4,8 mit Sven Page: Der ideale Aristokrat Plinius der Jüngere und das Sozialprofil der Senatoren in der Kaiserzeit Heidelberg 2015, v a S 126 f Vgl Plin ep 1,2; 2,11; 2,12; 4,12; 6,2 u 8,21 Gelegentlich fehlt in der handschriftlichen Überlieferung zwar das cognomen, doch ist die Vermutung naheliegend, dass es sich jeweils um die gleiche Person handelt: vgl Adrian N Sherwin-White: The letters of Pliny A historical and social commentary Oxford 1966, S 86 sowie Anthony R Birley: Onomasticon to the Younger Pliny Letters and Panegyric München 2000, S 27, S 38 f (Text hier wie im Folgenden: C Plini Caecili Secundi Epistularum libri novem Epistularum ad Traianum liber Panegyricus Mauritius Schuster, Rudolph Hanslik Leipzig 1992 (3 Auflage Leipzig 1958); Übers : Heribert Philips, Marion Giebel: C Plinius Caecilius Secundus: Sämtliche Briefe Lateinisch – deutsch Stuttgart 1998) Genau genommen wurde Cicero mit 43 Jahren Konsul (63 v Chr ) und Plinius wohl mit 39 (100 n Chr ), während Cicero mit 53 Jahren Augur wurde (53 v Chr ) und Plinius wohl mit 41 (103 n Chr ); vgl Marchesi (Anm 26), S 212: „Pliny enables his readers to calculate the dates of his own advance through the cursus honorum and invites them to check his record against Cicero’s Both new men had impressive careers, but Pliny’s was a little faster “

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Vor dem Hintergrund dieser und ähnlicher Stellen hat man in jüngerer Zeit den Umstand stärker hervorgehoben, dass Plinius trotz der ständigen Betonung des gewaltigen Abstands, der ihn vom antiquus Cicero trennt, eine zumindest partielle Konkurrenzfähigkeit sehr wohl für sich in Anspruch nimmt 38 Dass diese aemulatio sozusagen je nach ‚Disziplin‘ unterschiedlich ausgeprägt sein dürfte, liegt ebenso auf der Hand wie die Beobachtung, dass sich im Vergleich zur Politik oder zur Rhetorik gerade die Epistolographie für Plinius in besonderer Weise anbieten musste, wenn er versuchen wollte, zu Cicero aufzuschließen oder ihn sogar zu überholen Auf der Folie des Modells einer solchen ‚Nischenlogik‘ ist Plinius’ Auseinandersetzung mit Cicero als Briefeschreiber vor allem von Ilaria Marchesi in ihrer Untersuchung zur literarischen Technik aus dem Jahr 200839 sowie von Roy Gibson und Ruth Morello in ihrem 2012 gemeinsam vorgelegten Buch Reading the Letters of Pliny the Younger40 gedeutet worden Sie gehen aber gleichwohl davon aus, dass Ciceros Korrespondenz bereits ein unvermeidlicher Bezugspunkt und ein fest etablierter Teil des Kanons ist,41 dort aber mit Blick auf Plinius’ Absicht einer aemulatio cum Cicerone sozusagen die schwächste Stelle bildet In diesem Zusammenhang spielt das Argument eine wichtige Rolle, dass Plinius sich erst spät, nämlich nicht vor dem zweiten Brief des neunten und damit zugleich letzten Buchs der von ihm herausgegebenen Sammlung explizit auf Ciceros Briefe bezieht Dieses Schreiben ist an einen Sabinus gerichtet, der momentan mit einem militärischen Kommando betraut ist, über den wir aber sonst so gut wie nichts wissen:42 C Plinius Sabino suo s facis iucunde, quod non solum plurimas epistulas meas, verum etiam longissimas flagitas; in quibus parcior fui, partim quia tuas occupationes verebar, partim quia ipse multum

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Für die traditionelle Sichtweise, dass Cicero für ihn ein unerreichbares Vorbild bleibt, vgl v a Lefèvre (Anm 26), für die Annahme, dass er eine partiell erfolgreiche aemulatio zeigen möchte, vgl Helmut Krasser: sine fine lecturias Zu Leseszenen und literarischen Wahrnehmungsgewohnheiten zwischen Cicero und Gellius Unveröffentl Habilitationsschrift Tübingen 1996, S 117–125 sowie Vogt-Spira (Anm 29), der generell Plinius’ Selbstbewusstsein bei der Inszenierung als ‚Epigone‘ betont Vgl Marchesi (Anm 26), v a S 207–240 u S xi: „However authoritative, Cicero’s letters were not beyond the reach of Pliny’s emulative game: epistolography was the only genre in which a Bloomian ‚ephebe‘ could challenge the predecessor’s texts and eventually supplant them “ Vgl Gibson, Morello (Anm 19), S 74–103 Vgl z B Marchesi (Anm 26), S 209: „As a whole, Cicero’s epistolographic corpus constituted a powerful and unavoidable point of comparison for Pliny’s work …“ Der Gedanke einer reziproken Wirkung auf Cicero wird als Nachtrag nur angedeutet, aber nicht ausgeführt: vgl Marchesi (Anm 26), S 225: „The transfer of authority that allusions involve, one may add, goes both ways Cicero’s collection becomes a suitable model insofar as Pliny chooses to pattern his texts on its example Pliny’s allusions reinterpret the texts to which they refer while reinforcing the exemplary prestige of their Ciceronian antecedents “ Er ist der Adressat von drei weiteren Briefen: vgl Plin ep 4,10; 6,18 u 9,18 mit Sherwin-White (Anm 35), S 482, der ihn mit Statius Sabinus identifiziert sowie Birley (Anm 35), S 65, der sich für Iulius Sabinus ausspricht Für weitergehende Vermutungen zur Verbindung mit dem als Adressat von Ovid bekannten Sabinus vgl Marchesi (Anm 26), S 232–234

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distringebar plerumque frigidis negotiis, quae simul et avocant animum et comminuunt praeterea nec materia plura scribendi dabatur [2] neque enim eadem nostra condicio quae M Tulli, ad cuius exemplum nos vocas illi enim et copiosissimum ingenium, et par ingenio qua varietas rerum qua magnitudo largissime suppetebat; [3] nos quam angustis terminis claudamur, etiam tacente me perspicis, nisi forte volumus scholasticas tibi atque, ut ita dicam, umbraticas litteras mittere [4] sed nihil minus aptum arbitramur, cum arma vestra cum castra, cum denique cornua, tubas, sudorem, pulverem, soles cogitamus [5] habes, ut puto, iustam excusationem, quam tamen dubito an tibi probari velim est enim summi amoris negare veniam brevibus epistulis amicorum, quamvis scias illis constare rationem vale C Plinius grüßt seinen Sabinus Es ist liebenswürdig von Dir, daß Du nicht nur sehr viele, sondern auch sehr ausführliche Briefe von mir verlangst Bisher war ich damit ziemlich sparsam, teils weil ich Rücksicht auf Deine Beschäftigungen nehmen wollte, teils weil ich selbst durch meist unwichtige Tätigkeiten stark in Anspruch genommen war, die den Geist zugleich zerstreuen und schwächen Außerdem bot sich mir kein Stoff, mehr zu schreiben (2) Denn meine Lage ist nicht dieselbe wie die des M Tullius, auf dessen Beispiel Du mich hinweist Er besaß nämlich eine riesige Begabung, und es bot sich ihm in reichem Maße eine seiner Begabung entsprechende Fülle von vielfältigen, bedeutenden Ereignissen (3) In wie enge Grenzen ich eingeschlossen bin, erkennst Du, auch wenn ich hierüber schweige, es sei denn, ich wollte etwa nur schulmäßige Briefe, sozusagen aus der Studierstube, schreiben (4) Aber ich halte nichts für unpassender, wenn ich an eure Waffen, an euer Lager, wenn ich schließlich an Hörner, Trompeten, Schweiß, Staub und Sonnenhitze denke (5) Nun hast Du, wie ich glaube, eine triftige Entschuldigung; und doch bin ich unsicher, ob ich wünschen soll, daß sie Deinen Beifall findet Denn es ist ein Beweis größter Liebe, seinen Freunden wegen der Kürze ihrer Briefe nicht zu verzeihen, auch wenn man weiß, daß ihre Begründung stimmt Lebe wohl! (Plin ep 9,2)

Die Auseinandersetzung mit Cicero als Epistolographen kommt spät, erfolgt dafür aber umso intensiver, weist dieses Schreiben doch eine ganze Reihe von Bezügen zu seinen Briefen auf Dies gilt bereits für die gleichsam meta-epistolographische Rahmung, wenn zu Beginn und am Ende das seltene oder häufige Schreiben von langen oder kurzen Briefen in eine Korrelation zur Freundschaft zwischen den Korrespondenten gebracht und so ein auch von Cicero vielfach aufgegriffenes Motiv aus der antiken Brieftheorie thematisiert wird 43 Es zeigt sich dann an der effektvollen Gegenüberstellung von ‚schattiger‘ Gelehrsamkeit (umbraticae litterae) einerseits und der 43

Vgl z B Cic ad fam 4,4; 4,13 u ad Att 1,19,1 mit Ruth Morello: Pliny and the Art of Saying Nothing In: Re-Imagining Pliny the Younger (Arethusa 36,2) Hg von Roy K Gibson, Ruth Morello Baltimore 2003, S 187–209, S 191–195 (mit weiteren Beispielen) Plinius verwendet das Motiv

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militärischen Tätigkeit in der prallen Sonne andererseits, die bis in die Aufzählung von Begriffen aus dem zweiten Bereich hinein an gleich mehrere Stellen in Ciceros philosophischen Dialogen erinnert 44 Ferner wird der Bezug auch noch in der umgangssprachlichen Wendung habes (‚Nun hast Du‘) deutlich, die den letzten Abschnitt einleitet und wiederum typisch für Ciceros Briefstil ist, bei dem sie sich an über 30 Stellen findet 45 Die vielfältigen impliziten Bezüge werden jedoch zusätzlich durch den direkten Hinweis auf M Tullius explizit gemacht, den Plinius interessanterweise dem Adressaten Sabinus als fictus interlocutor in den Mund legt Das könnte man, je nachdem wie sehr man Korrespondenzpartner als mehr als nur plinianische Projektionen zu sehen gewillt ist, sogar als Beleg für die Bekanntheit der Cicero-Briefe bei den potentiellen Rezipienten verstehen 46 Von dieser markant aufgerufenen Folie distanziert sich Plinius nun vor allem mit dem Hinweis auf die Unterschiede in der materia, im Stoff zum Briefeschreiben, der sich ihm im Vergleich zu Cicero in viel geringerem Maße biete Der Gedanke, dass die letzten Jahre der Republik und die folgende Epoche der Bürgerkriege gerade wegen ihrer turbulenten Ereignisse nicht nur gute Bedingungen für eine steile politische Karriere, sondern auch für das Entstehen großer Literatur geboten haben, ist für ihn – wie ja auch für Tacitus – generell ein wichtiges Motiv, mit dem die Differenz zur eigenen Zeit betont und die angebliche Uneinholbarkeit der Klassiker begründet werden soll 47 Dennoch ist in jüngerer Zeit zu Recht betont worden, dass dieser Brief sich in anderen Aspekten durchaus selbstbewusst zu Cicero positioniert Dabei ist vor allem auf den Umstand verwiesen worden, dass die späte Platzierung der expliziten Auseinandersetzung im neunten Buch und damit einem Teil der Sammlung, der auf schon veröffentlichte Buchgruppen, wenn deren genaue Grenzen in der Forschung auch umstritten sind,48 zurückblicken kann, dazu führt, dass dem Leser ein anderer wichtiger Unterschied klar vor Augen stehen dürfte: Während Ciceros Briefe ihren Weg zur Nachwelt

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ohne expliziten Bezug auch schon vorher: vgl z B Plin ep 2,2 mit Marchesi (Anm 26), S 230 f sowie Keeline (Anm 21), S 308–310 Vgl Cic de orat 1,157 (educenda deinde dictio est ex hac domestica exercitatione et umbratili medium in agmen, in pulverem, in clamorem, in castra atque in aciem forensem); leg 3,14 (… Phalereus ille Demetrius, …, mirabiliter doctrinam ex umbraculis eruditorum otioque non modo in solem atque in pulverem, sed in ipsum discrimen aciemque produxit) u Brut 37 (processerat enim [sc Phalereus] in solem et pulverem non ut e militari tabernaculo, sed ut e Theophrasti doctissumi hominis umbraculis) mit Philips, Giebel: C Plinius Caecilius Secundus (Anm 36), S 870 f Vgl Philips, Giebel: C Plinius Caecilius Secundus (Anm 36), S 871 Das muss bei aller Skepsis auch John Nicholson einräumen: vgl Nicholson (Anm 4), S 90: „But of course the recusatio itself implies a clear knowledge of the genre being repudiated, and we conclude therefore that Pliny and his correspondents had read Cicero’s epistles and retained a broad idea of their scope and tone “ Vgl v a Plin ep 3,20,10–12 mit z B Weische (Anm 25), S 379 f ; Lausberg (Anm 19), S 82–85 sowie Lefèvre (Anm 26), S 77–79 Vgl zu dieser komplexen Frage jetzt John Bodel: The Publication of Pliny’s Letters In: Marchesi (Anm 3), S 13–108 (mit Hinweisen auf die ältere Literatur)

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nur gleichsam auf Umwegen gefunden haben, handelt es sich bei Plinius’ Episteln um ein vom Autor fertiggestelltes und publiziertes Werk 49 Das ist zugegebenermaßen eine raffinierte Begründung für die späte Platzierung der expliziten Auseinandersetzung mit Cicero Angesichts der – wie wir oben gesehen haben – eher verhaltenen Rezeption seiner Briefe in der Zeit vor Plinius wäre es aber auch durchaus vorstellbar, dass ein Bezug auf ihn gar nicht so evident war und dessen Hinausschieben daher auch nicht unbedingt mit einem besonderen Effekt verbunden gewesen sein muss Der oft mit Erstaunen angemerkte Umstand, dass Ciceros Briefe in Plinius’ Sammlung bis hierhin nur am Rande vorkommen,50 könnte auch darin begründet sein, dass sie zunächst nur eine vergleichsweise geringe Rolle in der Wahrnehmung des Autors wie der Leser gespielt haben und erst durch den fortschreitenden Erfolg der plinianischen Briefe nach und nach an Relevanz gewonnen und damit auch erst ihren Status als Klassiker erlangt haben Vor diesem Hintergrund erschiene dann die von Plinius zu Beginn des neunten Buchs vorgenommene explizite Positionierung zu Cicero auch nicht mehr als nachgetragen, sondern vielmehr als ganz folgerichtig, weil sie sich erst jetzt als notwendig oder zumindest naheliegend erwiesen hat 4. Plinius, der entscheidende Klassizist: ein Versuch Um diese generelle Annahme weiter zu plausibilisieren, würde es naheliegen, auf empirisches Material zurückzugreifen und so die durch Plinius verursachte Aufwertung und Kanonisierung von Ciceros Korrespondenz quantitativ zu belegen Doch dazu bräuchten wir erneut externe Rezeptionszeugnisse, die wir aber aus späteren Zeiten – mit der seltenen Ausnahme von Frontos enthusiastischem Lobpreis51 – nicht greifen können Stattdessen soll es hier daher um die Veränderungen auf einer inhaltlichen Ebene gehen, also darum, wie unsere Wahrnehmung von einzelnen Themen und Mo-

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Vgl Wolff (Anm 25), S 443 f ; Marchesi (Anm 26), S 229–240 sowie Gibson, Morello (Anm 19), S 97–99, v a S 98: „… it seems appropriate that Pliny delays the most explicit and self-conscious acknowledgement of Cicero as an epistolary model until Book 9, when the success both of his public career and of his literary output has been most fully established and documented … Pliny is, therefore, demonstrating, in a letter about the relative weakness of his ingenium and the paucity of his material, just how popular his letters have actually become …“ Zur geringen Rolle der Cicero-Briefe als direkten Bezugspunkt für Plinius vgl z B Nicholson (Anm 4), S 90; Marchesi (Anm 26), v a S 214: „In short, Cicero is audible everywhere in Pliny, but often as a sort of background music “; Gibson, Morello (Anm 19), S 74; Schwerdtner (Anm 27), S 54–57 sowie Keeline (Anm 21), S 317–334 Vgl Fronto, ad Anton Imp 3,8,2 [Michael P J van den Hout: M Cornelius Fronto: Epistulae Leipzig 1988, S 104]: omnes autem Ciceronis epistulas legendas censeo, mea sententia vel magis quam omnis eius orationes: epistulis Ciceronis nihil est perfectius („Ich denke, man sollte alle Briefe Ciceros lesen, meiner Meinung nach sogar noch eher als seine Reden: Nicht ist vollkommener als Ciceros Briefe “)

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tiven in Ciceros Korrespondenz sozusagen rückwirkend durch ihre Aufnahme und Weiterentwicklung in Plinius’ Briefen modifiziert wird Damit begeben wir uns notgedrungen auf ein Gebiet, auf dem allgemeine Aussagen nur in begrenztem Umfang möglich sind und auf dem daher individuelle Lektüreeindrücke eine wichtige Rolle spielen Eine solche qualitative Veränderung ließe sich nun an verschiedenen Beispielen zeigen und ist in einigen Fällen – wenn auch natürlich in der traditionellen Blickrichtung einer Beeinflussung des späteren Autors durch den früheren – auch schon durchgeführt worden 52 Auf thematischer Ebene bieten sich dabei unter anderem die von beiden im Format eines Lehrbriefes gegebenen Ratschläge zur richtigen Verwaltung einer Provinz an, die Cicero seinem Bruder Quintus53 und Plinius einem gewissen Maximus54 gibt,55 ihre Distanzierungen vom Unterhaltungsprogramm der Spiele im Amphitheater56 beziehungsweise der Wagenrennen im Circus Maximus57 oder aber auch die Ausführungen zur Geschichtsschreibung unter besonderer Berücksichtigung ihrer Befähigung, die für beide Autoren zentrale Unsterblichkeit bei der Nachwelt zu verleihen 58 Mit Blick auf die literarische Technik hat besonders der jeweilige Umgang mit Zitaten sowohl allgemein59 als auch in einzelnen Schreiben60 viel Aufmerksamkeit gefunden Im Folgenden soll hingegen zwar von einer konkreten Stelle bei Cicero ausgegangen werden, dann aber weniger ein direkter Dialog zwischen diesem Brief und einem Pendant bei Plinius nachgezeichnet, sondern vielmehr ein größeres Feld in den Blick genommen werden, das zwar für beide Autoren wichtig ist, das durch Plinius aber eine spezifische Behandlung erfährt und daher ein gutes Beispiel dafür bietet, wie sich unsere Wahrnehmung des gleichen Themas bei Cicero durch die Briefe des späteren Autors 52 53 54 55 56 57 58 59

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Vgl allg Marchesi (Anm 26), S 218–226 sowie Gibson, Morello (Anm 19), S 83–99 (u a zu 1,2; 1,20; 3,15; 4,8; 5,3 u 7,4) Vgl Cic ad Q fr 1,1 Vgl Sherwin-White (Anm 35), S 401 u Birley (Anm 35), S 70 f Vgl Plin ep 8,24 mit Friedrich Zucker: Plinius epist VIII 24 – ein Denkmal antiker Humanität In: Philologus 84 (1929), S 209–232; Marchesi (Anm 26), S 223 f ; Lefèvre (Anm 26), S 169–180; Schwerdtner (Anm 27), S 56 f sowie Keeline (Anm 21), S 320–325 Vgl Cic ad fam 7,1 Vgl Plin ep 9,6 mit z B Nicholson (Anm 4), S 93; Marchesi (Anm 26), S 225 sowie Keeline (Anm 21), S 318–320 Vgl Cic fam 5,12; Plin ep 5,8 u 7,33 mit z B Dennis Pausch: Biographie und Bildungskultur Personendarstellungen bei Plinius dem Jüngeren, Gellius und Sueton Berlin 2004, S 79–88; Marchesi (Anm 26), S 221–223 sowie Keeline (Anm 21), S 325–332 Vgl allerdings Schwerdtner (Anm 27), S 54–57, v a S 54 f : „Während Plinius zahlreiche Beispiele aus Demosthenes und mehrere aus Aischines bemüht, zitiert er Cicero weit sparsamer Um sich mit seinem erklärten Vorbild auseinanderzusetzen, bevorzugte er andere Methoden der Bezugnahme “ Vgl z B Cic ad fam 7,6 ~ Plin ep 1,7 mit Anne-Marie Guillemin: Pline et la vie littéraire de son temps Paris 1929, S 114–133; Weische (Anm 25), S 380; Wolff (Anm 25), S 445; Marchesi (Anm 26), S 119 f sowie Schwerdtner (Anm 27), S 186–195, v a S 193–195

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geradezu zwangsläufig beeinflusst und verändert Gezeigt werden soll dies an der Gegenüberstellung von otium und negotium als zwei zentralen Bereichen der Lebensführung, die beide Autoren sowohl theoretisch diskutieren wie dem Leser anhand praktischer Beispiele vor Augen stellen 61 Um letzteres zu erreichen, wählen Cicero und Plinius nicht zuletzt sich selbst als besonders geeignetes Anschauungsmaterial aus, und greifen dafür unter anderem jeweils auf die detaillierte Schilderung ihrer Tagesabläufe zurück 62 Schauen wir uns zunächst an, welche Antwort Plinius dem Cn Pedanius Fuscus Salinator, seinem ehemaligen Schüler und erfolgreichen Anwalt,63 auf dessen Frage gibt, wie er, Plinius, sich seine Tage während des Sommers denn auf einem seiner Landsitze einteile: C Plinius Fusco suo s quaeris, quemadmodum in Tuscis diem aestate disponam evigilo cum libuit, plerumque circa horam primam, saepe ante, tardius raro clausae fenestrae manent; [2] mire enim silentio et tenebris ab iis, quae avocant abductus et liber et mihi relictus non oculos animo sed animum oculis sequor, qui eadem quae mens vident, quotiens non vident alia cogito, si quid in manibus, cogito ad verbum scribenti emendantique similis nunc pauciora, nunc plura, ut vel difficile vel facile componi tenerive potuerunt notarium voco et die admisso, quae formaveram dicto; abit rursusque revocatur rursusque dimittitur [3] ubi hora quarta vel quinta (neque enim certum dimensumque tempus), ut dies suasit, in xystum me vel cryptoporticum confero, reliqua meditor et dicto vehiculum ascendo ibi quoque idem quod ambulans aut iacens; durat intentio mutatione ipsa refecta paulum redormio, dein ambulo, mox orationem Graecam Latinamve clare et intente non tam vocis causa quam stomachi lego; pariter tamen et illa firmatur iterum ambulo, ungor, exerceor, lavor [4] cenanti mihi, si cum uxore vel paucis, liber legitur; post cenam comoedia aut lyristes; mox

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Zum otium-Diskurs in Cicero-Briefen vgl zuletzt Gregory Hutchinson: Muße ohne Müßiggang Strukturen, Räume und das Ich bei Cicero In: Muße und Rekursivität in der antiken Briefliteratur Hg von Franziska C Eickhoff Tübingen 2016, S 97–111 Bei Plinius ist das Thema otium-negotium so zentral, dass es in fast allen umfangreicheren Arbeiten zu seiner Briefsammlung angesprochen wird, vgl v a Hans-Peter Bütler: Die geistige Welt des jüngeren Plinius Studien zur Thematik seiner Briefe Heidelberg 1970, S 41–57; Mario Pani: Sviluppi della tematica dell’otium in Plinio il Giovane In: Potere e valori a Roma fra Augusto e Traiano Hg von Mario Pani 2 Auflage Bari 1993, S 181–192; Eleanor Winsor Leach: Otium as Luxuria Economy of Status in the Younger Pliny’s Letters In: Gibson, Morello (Anm 43), S 147–165; Nicole Méthy: Les lettres de Pline le Jeune Une représentation de l’homme Paris 2007, S 319–442; Yvonne Wagner: Otium und negotium in den Epistulae Plinius’ des Jüngeren In: Diomedes N F 5 (2010), S 89–100; Gibson, Morello (Anm 19), S 169–199; Page (Anm 34), S 154–163 u Margot Neger: Satius est enim otiosum esse quam nihil agere Die Inszenierung von Mußezeit und Mußeräumen im Briefkorpus des Jüngeren Plinius In: Eickhoff (Anm 61), S 133–160 Die Beobachtung stammt von John Nicholson, der eine Beeinflussung durch Cicero aber ausschließt: vgl Nicholson (Anm 4), S 92: „… this theme is a commonplace thing to put in a personal letter, and does not prove a conscious imitation of Cicero, especially in the absence of specific similarities in language and phrasing “ Vgl ferner Plin ep 6,11; 7,9 u 9,40

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cum meis ambulo, quorum in numero sunt eruditi ita variis sermonibus vespera extenditur et quamquam longissimus dies cito conditur Plinius grüßt seinen Fuscus Du fragst mich, wie ich mir auf meinem Landgut in Etrurien im Sommer die Zeit einteile Ich wache auf, wenn es mir passt, meist um die erste Stunde, oft vorher, selten später Die Fenster bleiben geschlossen (2) Erstaunlich gut bewahren mich nämlich Stille und Dunkelheit vor allen Ablenkungen Frei und mir selbst überlassen folge ich nicht den Augen mit meinen Gedanken, sondern den Gedanken mit meinen Augen, die sehen, was der Geist sieht, wenn sie nichts anderes sehen Ich denke nach, wenn ich gerade etwas bearbeite, ich denke nach, als ob ich Wort für Wort aufschreibe und dann verbessere, bald weniger, bald mehr, je nachdem, ob es schwer oder leicht zu verfassen oder im Gedächtnis zu behalten war Dann rufe ich meinen Stenographen, lasse das Tageslicht herein und diktiere, was ich entworfen habe Er geht weg, wird wieder gerufen und wieder weggeschickt (3) Sobald die vierte oder fünfte Stunde gekommen ist – ich habe nämlich keine bestimmte, festgesetzte Zeit –, begebe ich mich, je nach Witterung, auf die Terrasse oder in die Wandelhalle, denke über den Rest nach und diktiere ihn Dann besteige ich meinen Wagen Auch dort tue ich das gleiche wie beim Spazierengehen oder im Liegen Die geistige Anspannung dauert an, gerade durch den Aufenthaltswechsel belebt Dann schlafe ich wieder ein wenig, darauf gehe ich spazieren, dann lese ich laut und mit aller Kraft eine griechische oder lateinische Rede, nicht so sehr der Stimme als der Verdauung wegen; doch wird zugleich auch diese gekräftigt Dann gehe ich wieder spazieren, lasse mich salben, treibe Gymnastik und bade (4) Während des Essens wird mir, wenn ich mit meiner Frau oder wenigen Gästen zusammen bin, ein Buch vorgelesen Nach dem Essen unterhält uns ein Schauspieler oder Lyraspieler Dann gehe ich mit meinen Leuten, unter denen sich gebildete befinden, spazieren So verbringt man den Abend mit abwechslungsreichen Gesprächen, und selbst der längste Tag geht schnell zu Ende (Plin ep 9,36,1–4)

Es folgen noch einige kürzer geschilderte alternative Varianten eines Tagesablaufes,64 ehe er am Ende auf die Klagen seiner Gutspächter eingeht, dass er sich während seines Aufenthalts auf der Villa zu wenig mit ihrem Alltag und ihren praktischen Sorgen beschäftige, was ihm die Gelegenheit gibt, einen eleganten Bogen zu seinen Tätigkeiten in der Stadt zu ziehen 65 Denn der Bereich der negotia fehlt ansonsten in diesem Schreiben gänzlich, obwohl in Plinius’ Gedankenwelt – oder dem, was er in seinen Briefen als solche entfaltet – das eine nie ohne das andere zu haben ist: negotium und otium sind zwar einerseits 64 65

Vgl Plin ep 9,36,5 f So auch in dem kurzen Schreiben 9,40, das ebenfalls an Fuscus gerichtet ist und die Antwort auf dessen Frage bietet, worin sich Plinius’ Tagesablauf im Winter von dem im Sommer unterscheide Vgl Plin 9,36,6

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zeitlich und räumlich voneinander getrennt (Sitzungswochen des Senats und der Gerichte auf der einen, Ferien und Feiertage auf der anderen Seite, die Stadt Rom hier, eine der Villen auf dem Land dort), bilden andererseits aber doch einen komplexen Zusammenhang 66 Ein wichtiges verbindendes Element ist hierbei vor allem die intensive Beschäftigung mit dem gesprochenen wie dem geschriebenen Wort, sei es als Rede in amtlicher Funktion, sei es als Literatur in freier Form Im Zuge der gestiegenen Bedeutung, die gerade einer kulturellen Bildung als Mittel der gesellschaftlichen Distinktion in der römischen Oberschicht an der Wende vom ersten zum zweiten Jh n Chr zukommt, geht das eine vielleicht sogar zwangsläufig in das andere über 67 Vor diesem Hintergrund ist es wohl auch kein Zufall, dass wir in dem oben zitierten Brief gar nicht genau erfahren, an welchem Werk Plinius in der morgendlichen Dunkelheit arbeitet: Es könnte sowohl eine seiner Gerichtsreden als auch eines seiner Gedichte oder etwas ganz anderes gewesen sein Dieser Zusammenhang von Pflichten im Dienste der Allgemeinheit und zum Wohle der eigenen traditionellen politischen Karriere einerseits und der Selbstverwirklichung und möglicherweise Selbstverewigung durch Beschäftigung mit Literatur andererseits wird von Plinius differenziert ausbuchstabiert Zu diesem Zweck greift er wiederholt auf seine eigene Person als exemplum zurück,68 schildert aber auch detailliert die Tagesabläufe einiger seiner Standesgenossen, die er als vorbildhaft empfindet,69 oder gibt den jüngeren unter seinen Briefpartnern Ratschläge, wie sie diesen Spagat seiner Ansicht nach am besten meistern könnten 70 Man kann also mit Fug und

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Vgl hierzu zuletzt Neger (Anm 61), v a S 135: „Die Antithese von otium und negotium bringt überdies auch eine Gegenüberstellung von bestimmten Orten und Zeiträumen mit sich: In den meisten Fällen steht der Stadt Rom als Raum der negotia und occupationes eine Reihe von Heterotopien gegenüber, in denen der Genuss von otium entweder für Plinius selbst oder für seine Adressaten bzw für andere von ihm beschriebene Personen möglich ist – hier handelt es sich zumeist um die Landgüter des Epistolographen und seiner Freunde in verschiedenen Teilen Italiens … Die von Plinius geschilderten otium-Räume unterscheiden sich zudem auch durch die Perspektive auf die Zeit vom Leben in der Hauptstadt, sind also zugleich „Heterochronien““ Zu Plinius im Kontext der Bildungskultur vgl Krasser (Anm 38), S 114–147; Elke Stein-Hölkeskamp: Vom homo politicus zum homo litteratus Lebensziele und Lebensideale in der römischen Elite von Cicero bis zum jüngeren Plinius In: Sinn (in) der Antike Orientierungssysteme, Leitbilder und Wertkonzepte im Altertum Hg von Karl-Joachim Hölkeskamp u a Mainz 2003, S 315–334; Pausch (Anm 58), S 56–98; Andreas Haltenhoff: Wertorientierung, Rollenbewußtsein und Kommunikationspragmatik in den Briefen des Jüngeren Plinius In: Römische Werte und römische Literatur im frühen Prinzipat Hg von Andreas Haltenhoff, Andreas Heil, Fritz-Heiner Mutschler Berlin 2011, S 167–207, S 198–204; William A Johnson: Readers and Reading Culture in the High Roman Empire A Study of Elite Communities Oxford 2012, S 32–62 sowie Page (Anm 34), v a S 267–273 Vgl z B Plin ep 1,9 (s unten) Vgl v a Plin ep 3,1 (Vestricius Spurinna) u ep 3,5 (Plinius der Ältere) mit Pausch (Anm 58), S 114–129 sowie Gibson, Morello (Anm 19), S 104–135 Vgl z B Plin ep 7,3 (an Bruttius Praesens) mit Bütler (Anm 61), S 52 f ; Leach (Anm 61), S 159 f sowie Pausch (Anm 58), S 123 f

Plinius’ Bedeutung für Cicero

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Recht behaupten, dass es in den Episteln des jüngeren Plinius einen ausführlichen Diskurs zu einem Thema gibt, das sich wohl am besten als eine vielfach verwobene Trias von otium, negotium und studia litteraria beschreiben lässt Wenn wir nun von hier zurück auf die Korrespondenz Ciceros schauen, stellen wir fest, dass diese Frage auch ihn beschäftigt hat Ja, mehr noch, dass auch er bereits mithilfe eines typischen Tagesablaufes darüber Auskunft gegeben hat, wie er sich selbst hierzu ganz praktisch verhält Er tut dies in einem Brief vom August 46 v Chr , der als Teil eines kleinen Zyklus von zwölf Schreiben im neunten Buch der Sammlung ad familiares an L Papirius Paetus gerichtet ist71 und in dem er schildert, dass er sich, seit Caesar Diktator ist, nicht mehr als Politiker sieht, sondern nun die epikureischen Neigungen des Adressaten teilt und unter anderem als Gourmet reüssiert: haec igitur est nunc vita nostra: mane salutamus domi et bonos viros multos, sed tristes, et hos laetos victores, qui me quidem perofficiose et peramanter observant ubi salutatio defluxit, litteris me involvo: aut scribo aut lego veniunt etiam, qui me audiant quasi doctum hominem, quia paullo sum quam ipsi doctior; inde corpori omne tempus datur patriam eluxi iam et gravius et diutius quam ulla mater unicum filium So verbringe ich also jetzt meine Tage: morgens empfange ich daheim Besuche, viele Optimaten, aber bedrückt, und diese strahlenden Sieger, die mir persönlich überaus gefällig liebenswürdig begegnen Wenn sich die Besucher verlaufen haben, vergrabe ich mich in meine Bücher, schreibe oder lese; manchmal kommen auch welche, die mich wie einen Professor anhören, weil ich ein wenig gescheiter bin als sie selbst Danach widme ich mich die ganze Zeit dem leiblichen Wohl Um das Vaterland habe ich ausgetrauert, tiefer und länger als eine Mutter um ihren einzigen Sohn 72 (Cic ad fam 9,20,3)

So sehr die Stelle auf den ersten Blick vielleicht zu einer Parallelisierung einlädt, so verschieden ist Ciceros Zugang und Umgang mit dieser Frage von demjenigen des Plinius Zunächst einmal handelt es sich um ein stark auf eine bestimmte Situation und auf seinen Adressaten bezogenes Schreiben: Im Spätsommer des Jahres 46 v Chr ist Caesars Diktatur eine vergleichsweise neue politische Entwicklung, so dass Ciceros Reaktion darauf noch als frisch und damit auch als epistolographisch ‚mitteilenswert‘ gelten kann Zudem scheint Papirius Paetus, obwohl wir ihn nur aus den zwölf von Cicero an ihn gerichteten Schreiben kennen, ein überzeugter Epikureer gewesen zu sein, der im Einklang mit seinen philosophischen Überzeugungen auch schon zuvor

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Für eine Interpretation dieser Briefgruppe vgl jetzt Meike Rühl, Ciceros Korrespondenz als Medium literarischen und gesellschaftlichen Handelns Leiden/Boston 2018, 276–287 (Text: M Tullius Cicero: Epistulae ad familiares Libri ix–xvi David R Shackleton Bailey Stuttgart 1988; Übersetzung Helmut Kasten: M Tullius Cicero: An seine Freunde Lateinisch – deutsch München 1964)

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dem otium den Vorzug vor dem negotium gegeben hat, so dass ein höfliches Eingehen auf seine Interessen von Seiten des Verfassers hier allein schon durch die Praxis wie die Theorie antiken Briefeschreibens nahegelegt wird Schließlich ließe sich zeigen, dass für Cicero – im Gegensatz zu Plinius – kein echtes Dilemma zwischen diesen beiden Optionen der Lebensführung besteht, sondern dass für ihn die Beschäftigung mit Literatur immer nur den zweitbesten Weg bildet, den er notgedrungen einschlägt, wenn ihm die wahrhaft erfüllende Tätigkeit für die res publica aus politischen Gründen versagt bleibt Dennoch lässt sich die Behauptung aufstellen, dass ein Leser, der die betreffenden Pliniusbriefe kennt, gar nicht umhin kann, diese und ähnliche Passagen in der Korrespondenz Ciceros immer auch vor dem Hintergrund der weitaus differenzierteren Debatte über die gleichen Gegenstände zu sehen, wie sie dort vom Verfasser der Schreiben entfaltet wird, die aber eigentlich erst eine Reaktion auf die politischen Entwicklungen im Laufe des ersten Jh n Chr darstellt Daraus ergibt sich eine veränderte Kontextualisierung oder ein neues ‚Framing‘ für die Diskussion bei Cicero Eine modifizierte Wahrnehmung ergibt sich aber auch gleichsam eine Ebene tiefer: Mit Plinius im Hinterkopf neigt man eher dazu, diese Schilderung nicht nur situativ zu verstehen, sondern stärker intentional und damit als Teil ciceronianischer Selbstdarstellung zu deuten Eigentlich erst auf diese Weise wird eine an sich nicht sonderlich auffällige Passage in einem von zwölf Briefen an einen sonst unbekannten Zeitgenossen zu einem autobiographisch ebenso relevanten wie kulturhistorisch interessanten Zeugnis Für einen Leser, der die plinianische Briefsammlung gut kennt, lässt sich daher hier ihr rückwirkender Einfluss auf Cicero plausibel machen 5. Zusammenfassung Am Ende sollen noch einmal beide Ebenen, das konkrete Beispiel der Behandlung der otium-Thematik und die generelle Rolle, die Cicero als Epistolograph für den jüngeren Plinius spielt, zusammengeführt werden In einem der für diese Debatte bei Plinius einschlägigen Schreiben, dem neunten im ersten Buch, wendet sich der Verfasser, der bis dahin sich selbst als exemplum für einen Ausgleich zwischen negotia und studia litteraria herangezogen hat,73 am Ende direkt an den Empfänger, Minicius Fundanus,74 um ihm einen Rat für dessen Lebensführung zu geben:

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Vgl Plin ep 1,9,1–6 Minicius Fundanus, Konsul des Jahres 107 n Chr und Freund Plutarchs, der in seinen Schriften erwähnt wird, scheint im Übrigen auf beiden Gebieten recht erfolgreich gewesen zu sein; vgl ferner Plin ep 4,15 u 6,6

Plinius’ Bedeutung für Cicero

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[7] proinde tu quoque strepitum istum inanemque discursum et multum ineptos labores, ut primum fuerit occasio, relinque teque studiis vel otio trade! [8] satius est enim, ut Atilius noster eruditissime simul et facetissime dixit, otiosum esse quam nihil agere vale (7) Daher lass auch Du diesen Lärm, diese nutzlose Geschäftigkeit und die albernen Strapazen hinter Dir, sobald sich eine Gelegenheit ergibt, und widme Dich Deinen Studien oder Deiner Muße! (8) Es ist nämlich besser, wie unser Atilius sehr geistreich und auch sehr witzig sagt, müßig zu sein als nichts zu tun Lebe wohl! (Plin ep 1,9,7 f )

Das als Begründung angeführte und mit der Doppelbedeutung von otiosus spielende Bonmot wird hier zwar einem Schreiber und Adressaten des Briefes offenbar gleichermaßen bekannten Atilius in den Mund gelegt, bei dem es sich um Atilius Crescens75 handeln dürfte, es geht aber nicht auf ihn zurück Vielmehr wird diese pointierte Formulierung bereits von Cicero in zweien seiner philosophischen Schriften (in de re publica und in de officiis) verwendet, in denen er sie jeweils als vom älteren Cato überlieferten Ausspruch des Scipio Africanus einführt 76 Auch wenn sich angesichts der Beliebtheit dieser Sentenz sicherlich darüber streiten lässt, ob es sich nicht eher bereits um ein Sprichwort als um ein Zitat im klassischen Sinne handelt,77 ist doch wohl davon auszugehen, dass sich Plinius seiner prominenten Verwendung durch Cicero bewusst war und diese auch von seinem Idealleser erkannt wissen wollte Vor diesem Hintergrund ist es dann aber bezeichnend, dass Plinius hier auf Cicero als Verfasser philosophischer Schriften anspielt und eben nicht auf Cicero als Epistolographen Denn trotz der Unterschiede, die ihre jeweilige Konzeption von otium und negotium im Detail aufweisen, hätte es sich durchaus angeboten, einen Bezug zu den Briefen mit gleicher Thematik bei Cicero herzustellen, und sei es, um den bestehenden Kontrast in seinem Sinne nutzbar zu machen Dass er darauf verzichtet und stattdessen einen Bezug zu denjenigen Schriften herstellt, die als Teil des literarischen Kanons schon etabliert sind, ist charakteristisch für seinen Umgang mit Cicero gerade in den frühen Büchern seiner Sammlung Das ist letztlich natürlich nur ein argumentum e si75 76

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Vgl Plin ep 2,14,2 u 6,8 Vgl v a Cic de off 3,1: P Scipionem, Marce fili, eum, qui primus Africanus appellatus est, dicere solitum scripsit Cato, qui fuit eius fere aequalis, numquam se minus otiosum esse, quam cum otiosus, nec minus solum, quam cum solus esset magnifica vero vox et magno viro ac sapiente digna! („Mein lieber Sohn Marcus, Publius Scipio, der als erster den Beinamen Africanus erhielt, habe wiederholt gesagt, wie Cato schrieb, der ungefähr im gleichen Alter war wie er, er sei niemals weniger untätig gewesen als in der Untätigkeit und nie weniger allein als allein Das ist wirklich ein herrliches und eines großen Mannes würdiges Wort; …“ (Übersetzung Rainer Nickel: Marcus Tullius Cicero: De officiis / Vom pflichtgemäßen Handeln Lateinisch – Deutsch Düsseldorf 2008) u ferner Cic de rep 1,26 f (allerdings ohne das Schlagwort otiosus) Vgl Karl Gross: Numquam minus otiosus quam sum otiosus Das Weiterleben eines antiken Sprichwortes im Abendland In: Antike & Abendland 26 (1980), S 122–137 sowie Andrew R Dyck: A commentary on Cicero, De officiis Ann Arbor 1996, S 496–498

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lentio, aber doch ein weiterer Baustein, der die Vermutung stützen kann, dass Ciceros Briefe den Status als Klassiker am Ende des ersten Jh n Chr noch nicht erlangt und erst Plinius’ Episteln ihn auch in dieser Gattung zum kanonischen Vorbild gemacht haben

Improvisation und Innovation: Statius’ Silven auf dem Weg zum Klassiker Meike Rühl (Osnabrück) Ein Beitrag zu Gelegenheitsgedichten in einem Sammelband zu Klassik und Klassizismus mag auf den ersten Blick gewagt erscheinen, scheint just diese Art von Dichtung, die es darauf abgesehen hat, ephemere Ereignisse in Versen festzuhalten, doch wenig prädestiniert, die Kriterien zu erfüllen, die man üblicherweise einem Klassiker stellt Will man sich dem Begriff des Klassischen über eine Definition nähern, so liest man beispielsweise Folgendes: Was zum Beispiel kann nicht alles das Adjektiv ‚klassisch‘ bedeuten! Ganz und gar scheint es dem Bereich sichtender Kennerschaft und überlegten, überlegenen, zuweilen begeisterten Urteilens anzugehören Ein ‚klassisches‘ Werk – das ist ein wertbeständiges, vorbildliches, musterhaftes Werk im Gegensatz zu allem Ephemeren, Unzulänglichen, Mittelmäßigen 1

Aus dieser Definitionsskizze wird deutlich, dass ‚klassisch‘ ein Prädikat der literarischen Kritik ist und damit ein Phänomen der Rezeption: Ein Autor oder ein Werk kann möglicherweise selbst den Anspruch äußern, zu den Klassikern zählen zu wollen, das Etikett ‚klassisch‘ wird ihm letztendlich jedoch nur im Konsens der Rezeption zuteil 2 Was genau es jedoch ist, das ein Werk oder einen Autor in den Augen der Rezipienten als vorbildlich oder wertbeständig erscheinen lässt, bleibt offen 3 Bereits

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Gerhard Schulz, Sabine Doering: Klassik Geschichte und Begriff München 2003, S 7 Dass sich der Konsens über das Klassische durchaus verändern kann, zeigt Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter 9 Auflage Bern 1978, S 253–276 Deutsche Literaturwissenschaftler neigen dazu, mit dem Begriff darüber hinaus eine bestimmte Form oder einen Stil zu verknüpfen (Gegenbegriffe wären Klassizismus, Manierismus etc ), s Horst Thomé: Klassik In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft Hg von Georg Braungart, Harald Fricke, Klaus Grubmüller Bd 2 1 Auflage Berlin, New York 2007, S 266–270 Eine Geschichte des Begriffs in der Antike bietet Mario Citroni: The Concept of the Classical and the Canons of Model Authors in Roman Literature In: Classical Pasts The Classical Tradition of Greece and Rome Hg von James I Porter Princeton (NJ), Oxford 2006, S 204–234

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zu diesem Zeitpunkt scheinen die Silven des Statius unmöglich in den Rang eines Klassikers kommen zu können, behandeln sie als erklärtermaßen extemporierte Dichtung doch gerade Ephemeres und damit keineswegs ‚Wertbeständiges‘ Die modernere Literaturgeschichtsschreibung hat Statius’ Art zu dichten zudem einerseits mit dem als negativen Gegenentwurf zur Klassik konzipierten Stilkriterium ‚manieristisch‘ versehen und andererseits seine am Ende der Thebais dezidiert formulierte Vergil-Nachfolge wörtlich genommen 4 Damit konnte er gegen die als klassisch empfundene augusteische Zeit nicht bestehen und wurde wie die meisten Schriftsteller, die im Dekadenzmodell der Literaturgeschichtsschreibung als ‚nachklassisch‘ bezeichnet werden oder der nur ‚Silbernen‘ Latinität zugerechnet werden, für eine Erforschung lange Zeit als wenig wertvoll erachtet Erst in den letzten zwanzig Jahren beschäftigt man sich unter Verzicht auf eine literaturkritische Bewertung wieder verstärkt wissenschaftlich mit seinen Werken Demgegenüber steht der Befund, dass Statius als Dichter durchweg in Spätantike und Humanismus hochgeschätzt wurde 5 Hier galt die Aufmerksamkeit neben den Epen auch und gerade den Silven, die aufgrund ihrer Variabilität und Andersartigkeit in Form und Stil – einem Merkmal, dessentwegen sie in den Literaturgeschichten meist kritisiert und als ‚unklassisch‘ empfunden wurden – in den Rang eines Vorbilds erhoben wurden 6 Der vorliegende Beitrag hat das Ziel, den Widerspruch aufzulösen und der Frage nachzugehen, wie es geschehen konnte, dass ein Werk, das auf den ersten Blick so gar kein Kriterium des Klassischen zu erfüllen vermag, zeitweise zum veritablen Klassiker avancieren konnte 1. Merkmale und Regeln der Improvisation Wir beginnen mit dem augenfälligsten Merkmal der Silven, ihrem extemporierten Charakter Hier liegt offenbar das Paradox vor, dass extemporierte Literatur in ihrer Zeit zwar anerkannt und geschätzt ist, von der Nachwelt jedoch eher vernachlässigt wird Eine Erklärung für diesen Sachverhalt könnte sein, dass extemporierte Literatur stets den Kontakt zu Situation und Publikum als unmittelbarem Rezeptionsorgan braucht und mit diesem interagiert, dieser Konnex bei einer späteren Rezeption je4 5 6

Dem stehen Ausnahmen wie Hubert Cancik: Untersuchungen zur lyrischen Kunst des P Papinius Statius Hildesheim 1965 gegenüber, der den Begriff des Manierismus wertneutral verwendet Ebenso allgemein zum Manierismus Curtius (Anm 2), S 277–305 Ein guter Ausgangspunkt für die Statius-Rezeption ist der Artikel von Emma Scioli, Harm-Jan van Dam: Statius (Papinius Publius Statius) In: Die Rezeption der antiken Literatur Kulturhistorisches Werklexikon Hg von Christine Walde Stuttgart, Weimar 2010, S 923–946 Siehe Carole E Newlands: Statius, Poet between Rome and Naples Classical literature and society London 2012, S 9, S 73: „There is nothing quite like the Silvae extant in ancient poetry “

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doch nicht mehr vorhanden ist oder erst auf anderem Wege wiederhergestellt werden muss Literatur und Kunst, die auf diesen Konnex verzichtet (der ihr trotzdem natürlich stets inhärent ist), erscheint dagegen eher als zeitlos oder überzeitlich und damit im oben skizzierten Sinne ‚klassischer‘ – nicht weil ihre Produktionsumstände leichter ersichtlich wären, sondern weil sie entweder relevante Angaben zum Kontext integriert hat oder die Besprechung der Welt so allgemein und scheinbar kontextlos gehalten ist, dass die mentale Vervollständigung und Konstruktion des Kontexts, die bei der Rezeption entsteht, durch vermeintlich universale und überzeitliche Konzepte und Erfahrungen ergänzt werden kann 7 Konsultiert man neuere Forschungen zur Improvisationskultur,8 so zeichnet sich eine Improvisation durch folgende Merkmale aus: Die Improvisation als Kunstform bezieht ihren Reiz und ihr Alleinstellungsmerkmal dadurch, dass bei den Rezipienten der Eindruck entsteht, sie geschehe vollkommen ohne Vorbereitung Durch diese Entstehung aus dem Moment heraus folgt, dass der Verlauf und das Ergebnis überraschen, denn das, was nicht vorbereitet wurde und was vielmehr mit der Situation interagiert, kann auch in seinem Ausgang nicht vorhersehbar sein Es entsteht bei einer Improvisation also etwas Einmaliges und Neues Als Kunstprodukt sui generis wird die Improvisation dann anerkannt, wenn darüber Konsens herrscht, dass sie den Kriterien für ein Kunstwerk in diesem Moment entspricht Das heißt allerdings, dass es einen gemeinsamen Referenzrahmen und quasi ein Regelwerk für die Beurteilung geben muss, an dem sich die aktuelle Fassung orientiert, damit sie als Kunst für das Publikum erkennbar bleibt Weiterhin stellt sich die Frage, woran zusätzlich deutlich wird, dass es sich bei der aktuellen Darbietung um eine Improvisation handelt (und z B nicht um eine Lesung eines längst publizierten Werkes) Als eine Bedingung muss gegeben sein, dass die Rezipienten den Eindruck haben, dass das, was dargeboten wird, etwas Neues und Einmaliges ist und nicht das Alte oder Gewohnte Dies ist jedoch nur dann möglich, wenn sowohl Produzent wie Rezipient die Muster und Modelle kennen, die nun variiert

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Es ist bezeichnend, dass es just Stat silv 5,4 ist, die in die exemplarische Sammlung römischer Dichtung, die Michael von Albrecht erstellt hat (Michael von Albrecht: Römische Poesie Texte und Interpretationen Tübingen, Basel 1952, S 256–261), unter die Rubrik ‚Lyrik‘ zusammen mit Catull und Horaz aufgenommen wurde – eine Silve, der keine weiter konkretisierbare Gelegenheit zugrunde liegt, sondern das Erleben von Schlaflosigkeit Diese behandeln Improvisation vor allem im Rahmen musikalischer Darbietungen oder Performances als Phänomen der aktuellen Kunstszene Einschlägig sind die folgenden Untersuchungen und Sammelbände: Maximilian Gröne u a (Hg ): Improvisation Kultur- und lebenswissenschaftliche Perspektiven Freiburg 2009; Hans-Friedrich Bormann, Gabriele Brandstetter, Annemarie Matzke (Hg ): Improvisieren Paradoxien des Unvorhersehbaren Kunst – Medien – Praxis Bielefeld 2010; Edgar Landgraf: Improvisation as Art Conceptual Challenges, Historical Perspectives New York 2014 sowie Sandro Zanetti: Improvisation In: Handbuch Medien der Literatur Hg von Natalie Binczek, Till Dembeck, Jörgen Schäfer Berlin 2013

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werden und von denen sich das neue Kunstwerk abhebt 9 Als zweite Bedingung muss erkennbar sein, dass Produktion und Rezeption in diesem Moment prinzipiell zusammenfallen, d h der Rahmen der Improvisation ist entweder durch die Umstände oder durch einen Hinweis vorgegeben, so dass das Publikum weiß, dass der Produzent aus dem Stegreif einen Text oder ein Musikstück zum Besten gibt Daraus folgt für den Improvisierenden, dass er das geforderte Regelwerk perfekt beherrschen muss, um einerseits die gewohnte Norm erkennbar werden zu lassen, aber andererseits gleichzeitig von dieser Norm abweichen zu können 10 Gerade diese Spannung zwischen dem individuellen Tun und der vorgegebenen Norm, das virtuose Spiel mit den Regeln, die angewendet und gleichzeitig gebrochen oder umgangen werden, macht das Besondere einer Improvisation aus Es gibt also keine Improvisation ohne Regel Schließlich braucht die Improvisation als wesentlichen Bestandteil der situationsgebundenen Interaktion die Anerkennung des Publikums Improvisation gelingt nur dann, wenn die Rezipienten gerade das Spiel mit dem Bekannten und dem Neuen schätzen und die spontane Aufführung, die Überraschung als Leistung anerkennen Das heißt für den Improvisationskünstler allerdings auch, dass Scheitern stets möglich und Teil des Spiels ist Aus den skizzierten Überlegungen ergibt sich vor allem ein wesentliches Merkmal (und aus der Perspektive des vorliegenden Beitrages formuliert auch: Problem) extemporierter Kunst: Sie ist einmalig und schnell vorüber, und, wenn sie mit Sprache operiert, mündlich Daraus folgt, dass auch die Anerkennung des Kunstwerks als solches an die unmittelbare Rezeption des Publikums (als Teil der Interaktion) gebunden ist und auf den Augenblick der Aufführung beschränkt bleibt Eine Wertbeständigkeit kann so durch die Improvisation allein unmöglich erreicht werden Ein Ausweg aus diesem Dilemma ist in mehrere Richtungen denkbar: Zum einen kann das Publikum über die Improvisation berichten und urteilen und damit auch Anerkennung über den Augenblick hinaus erzeugen Zum anderen kann durch technische Hilfsmittel und eine Aufzeichnung in entsprechenden Medien die Improvisation dokumentiert werden – günstigerweise samt Interaktion mit dem Publikum Es bleibt jedoch dabei, dass der Rezipient dieser aufgezeichneten Form einen anderen Status einnimmt als das ursprüngliche Publikum, da ihm die Möglichkeit der Interaktion während des Produktionsprozesses verwehrt bleibt Für den Erfolg der dokumentierten Improvisationskunst gilt dann nur noch eingeschränkt, was für die Stegreifdarbietung galt: Anerkannt wird sie dann, wenn die Rezipienten das Spiel mit Modell und Regel verstehen und gutheißen, die Reaktion auf die Situation wird hingegen nachrangig Die Silven sind nicht die ersten extemporierten Werke, von denen wir wissen In der überlieferten Form als Gedichtsammlung beanspruchen sie allerdings einen Sonder9 10

Dies fällt mit der umgangssprachlichen Bedeutung von Improvisieren zusammen Der Improvisationskünstler hat damit Wesentliches mit dem Klassizisten gemeinsam, der sich ebenfalls an einem starken und erkennbaren Modell orientiert

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status Bevor der improvisatorische Charakter der Silven untersucht wird, scheint es daher lohnend, einen exemplarischen Blick auf die extemporierte Literatur der Antike und ihre mediale Verfasstheit zu werfen 11 Hier soll es vor allem darum gehen, diese an den möglichen Kriterien für einen ‚Klassiker‘ zu messen und zu evaluieren, welche Strategien entwickelt werden, um einerseits den ephemeren Charakter zu überwinden und ihnen andererseits die Anerkennung zu sichern 2. Improvisation als Form der Rede und Teil der Rhetorik-Ausbildung in der Antike Aus der Perspektive des Publikums gibt zu Statius’ Zeiten der jüngere Plinius in seinen Briefen ein begeistertes und werbendes Porträt des Sophisten Isaeus: magna Isaeum fama praecesserat, maior inventus est […] dicit semper ex tempore, sed tamquam diu scripserit […] poscit controversias plures; electionem auditoribus permittit, saepe etiam partes; surgit amicitur incipit; statim omnia ac paene pariter ad manum, sensus reconditi occursant, verba – sed qualia! – quaesita et exculta multa lectio in subitis, multa scriptio elucet […] incredibilis memoria: repetit altius quae dixit ex tempore, ne verbo quidem labitur dices: ‚habeo hic quos legam non minus disertos ‘ etiam; sed legendi semper occasio est, audiendi non semper Dem Isaeus war bereits ein großer Ruf vorausgeeilt, er stellte sich aber als noch größer heraus […] Er spricht stets aus dem Stegreif, aber so, als hätte er es schriftlich lange ausgearbeitet […] Er fordert zur Nennung von mehreren juristischen Fällen auf und überlässt die Auswahl dem Publikum, manchmal auch die zu vertretende Seite Dann erhebt er sich, rückt das Gewand zurecht und beginnt Er hat sofort alles scheinbar gleichzeitig parat, auch abgelegene Ideen sprudeln nur so, seine Worte (aber was für welche!) sind gewählt und exquisit, an unerwarteten Ausdrücken merkt man, dass er viel gelesen und geschrieben hat […] Er hat ein unglaubliches Gedächtnis: Aus seinen Tiefen12 holt er wieder hervor, was er aus dem Stegreif gesagt hat und lässt kein einziges Wort aus Du wirst jetzt sagen: „Ich habe auch zu Hause genug zu lesen, und zwar nicht weniger Eloquentes “ Nun ja, aber eine Gelegenheit zum Lesen bietet sich immer, zum Zuhören nicht (Plin epist 2,3,1 3) 11 12

Ein umfassender Überblick findet sich bei Jürgen Hammerstaedt: Improvisation: A (Terminologie) B (Griechisch-römisch) D (Christlich) In: Reallexikon für Antike und Christentum Hg von Ernst Dassmann Bd 17 Stuttgart 1996, S 1212–1254, S 1257–1284 Christopher Whitton (Hg ): Pliny the Younger Epistles Book II Cambridge 2013, S 95 verweist ad loc auf OLD s v altus 8a und übersetzt „he recalls at length“, bleibt aber unentschieden, ob damit eine Wiederholung für Zuspätkommende oder eine Art Ringkomposition gemeint sei Die Fähigkeit an sich bleibt davon unberührt

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Sophisten wie Isaeus sind Performance-Künstler,13 die Improvisation ist Teil des Konzepts und macht den Vortrag zum ‚Event‘, wie Plinius’ zuletzt zitierter Gedanke unterstreicht Interessant ist, was über die Art der Improvisation gesagt wird: Beeindruckend ist die Performance weniger aufgrund ihrer Kreativität, sondern weil die Spontaneität ein Ausweis langen und intensiven schriftlichen Trainings ist Die Darbietung steht einer schriftlich konzipierten Rede also in nichts nach, sondern fügt vielmehr noch das Plus des Eventcharakters hinzu (Plinius betont die Gleichzeitigkeit von Produktions- und Rezeptionsvorgang: statim omnia ac paene pariter ad manum) Sie lässt trotz aller ‚unerwarteter Ausdrücke‘ erkennen, dass der Sprecher (wie auch das Publikum bzw Plinius) über eine profunde Kenntnis der Regeln verfügt Um die notwendige Dokumentation der Improvisation könnte Isaeus sich dann offenbar selbst kümmern, denn er verfügt laut Plinius über ein phänomenales Gedächtnis und kann das spontan Gesagte ohne Verlust nochmals wiederholen Für die Bewertung und den Ausweis des Musterhaften sorgt in diesem Falle Plinius Mit denselben Qualitäten einer improvisierten Rede, die die Plinius-Passage nennt, beschäftigt sich auch Quintilian in seinem Rhetorik-Handbuch Im zehnten Buch wird die Fähigkeit, aus dem Stegreif reden zu können, sogar als die erste große Belohnung eines intensiven, auf schriftlichen Übungen basierenden Rhetorik-Studiums bezeichnet Und erst wer diese Fähigkeit erreicht habe, sei der Öffentlichkeit als Redner überhaupt zumutbar 14 In Quintilians Ausführungen zur Improvisation werden zwei Stadien genannt: Allgemein ist zunächst intensives und schriftliches Training nötig, für den konkreten Fall empfiehlt sich schließlich eine vorab erstellte Grobgliederung und ein bereits abgestecktes argumentatives Ziel samt Weg dorthin Das intensive Training an Formulierungen und Wendungen belohnt den Redner schließlich mit einem ihm eigenen Stil, der auch dann erhalten und quasi als Markenzeichen erkennbar bleibt, wenn der Redner improvisiert und keine Zeit zum Überlegen oder zur Jagd nach passenden Formulierungen hat:15 et haec quidem ex arte, illa vero ex studio: ut copiam sermonis optimi, quem ad modum praeceptum est, comparemus, multo ac fideli stilo sic formetur oratio, ut scriptorum co-

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Siehe dazu im Überblick Timothy Whitmarsh: The Second Sophistic Cambridge 2005 (Greece & Rome New Surveys in the Classics 35), S 23–40 Quint inst 10,7,1: maximus vero studiorum fructus est et velut † primus quidam plius † longi laboris ex tempore dicendi facultas; quam qui non erit consecutus, mea quidem sententia civilibus officiis renuntiabit et solam scribendi facultatem potius ad alia opera convertet Eine Zusammenfassung der Aussagen zur Improvisation bei Quintilian (und Alkidamas) bietet Wolfram Ax: Improvisation in der antiken Rhetorik In: Gröne u a (Anm 8), S 63–78 Chris Holcomb: „The Crown of All Our Study“: Improvisation in Quintilian’s Institutio Oratoria In: Rhetoric Society Quaterly 31,3 (2001), S 53– 72 ordnet Quintilians Ausführungen zur Improvisation vor dem Hintergrund der rhetorischen Praxis in flavischer Zeit in sein Bild des Redners als vir bonus ein Die Übersetzungen aus Quintilian entstammen der Ausgabe von Helmut Rahn, Darmstadt 1988 (die Rechtschreibung wurde angeglichen)

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lorem, etiam quae subito effusa sint, reddant, ut, cum multa scripserimus, etiam multa dicamus Diese Hilfen nun gewinnen wir aus dem Lehrbuch, die folgenden aber aus unserem Studium: Uns so, wie wir es gezeigt haben, mit einem reichen Vorrat gepflegtester Sprache auszustatten; unsere Rede durch viele und getreuliche Arbeit mit dem Schreibstift so durchzuformen, dass auch das, was wir spontan hingeworfen haben, eine Färbung der schriftlichen Arbeit verrät; wenn wir vieles schriftlich ausgearbeitet haben, auch vieles mündlich vorzutragen (Quint inst 10,7,5)

Der versierte Redner formuliert damit unvorbereitet mündlich nicht anders als schriftlich in der Vorbereitung Genau das war es, was auch Plinius am Vortrag des Isaeus so faszinierend fand: Der Vortrag klang wie eine schriftliche Ausarbeitung, nur geschah er vollkommen spontan und selbstverständlich, so dass er zu seinem Markenzeichen werden konnte 16 Daraus folgt, dass bei der Bewertung des Ergebnisses nicht Kreativität und Originalität im Vordergrund stehen, sondern die Fähigkeit, die Regeln anwenden und variieren zu können Denn das Ergebnis beruht laut Quintilian schlicht auf Routine und einem souveränen Antizipieren und Anwenden der nötigen Regeln Alles andere verdient seiner Meinung nach nicht einmal die Bezeichnung Sprechen: nam mihi ne dicere quidem videtur nisi qui disposite ornate copiose dicit, sed tumultuari nec fortuiti sermonis contextum mirabor umquam, quem iurgantibus etiam mulierculis videamus superfluere: cum eo quod, si calor ac spiritus tulit, frequenter accidit ut successum extemporalem consequi cura non possit deum tunc adfuisse cum id evenisset veteres oratores, ut Cicero dicit, aiebant, sed ratio manifesta est nam bene concepti adfectus et recentes rerum imagines continuo impetu feruntur, quae nonnumquam mora stili refrigescunt et dilatae non revertuntur Denn es handelt sich, scheint mir, gar nicht um Reden, falls jemand nicht in überlegter Anordnung mit bewusstem Redeschmuck und Wortschatz spricht, sondern um ein Wortgetümmel Und ich werde auch niemals den Ablauf eines zufälligen Redeergusses bewundern, den wir ja auch, wenn Weiber sich zanken, im Überfluss erleben können, so wenig wie die Tatsache, dass, wenn Wärme und Begeisterung am Werk war, es häufig geschieht, dass den Erfolg einer solchen Rede aus dem Stegreif sorgfältige Vorbereitung nicht erreichen kann Ein Gott habe dann beigestanden, pflegten, wenn so etwas vorkam, wie Cicero sagt, die alten Redner zu behaupten, jedoch liegt der Grund hierfür auf der Hand Denn die gut erfassten Gefühlswirkungen und die ganz frischen Vorstellungen von den Gegen-

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Plin epist 2,3,3 formuliert: ad tantam ἕξιν studio et exercitatione pervenit Zum Begriff der Hexis an dieser Stelle s Whitton (Anm 12)

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ständen, über die wir reden, reißen hier in einem einheitlichen Schwung mit, während sie zuweilen durch die Verzögerung bei der Niederschrift sich abkühlen und, wenn sie hinausgeschoben werden, nicht wiederkehren (Quint inst 10,7,12–14)

Auch wenn das Einhalten von Regeln und ihre extemporierte Anwendung im Vordergrund stehen, so muss Quintilian doch zugeben, dass das Publikum (zu dem immerhin auch Cicero und andere Redner der Vergangenheit zählen) sich von Spontaneität gefangen nehmen lässt und ein Ergebnis erzielt werden kann, was mit Schriftlichkeit niemals zu erreichen wäre Quintilian pflegt also ein zwiespältiges Verhältnis zum Extemporieren: Einerseits konzediert er, dass eine extemporierte Rede für den Moment wesentlich mitreißender sein kann als eine vorbereitete Der nicht zu leugnende Effekt der Improvisation basiert auf der Vorstellungskraft im Moment und auf dem eintretenden Adrenalinschub (necessitas 10,7,17), auch leistet die Anwesenheit des Publikums einen nicht geringen Beitrag (secundos impetus auget placendi cupido, ibid ) Diese Begeisterung aus dem Augenblick heraus – im Zitat wird hierfür der Begriff ‚Wärme‘ (calor) verwendet – haftet jedoch auch nur diesem einen Augenblick an und geht verloren (refrigescunt, ‚kühlt ab‘), sobald man den Gedanken schriftlich fixiert Auffällig ist das Vorkommen der Warm-Kalt-Metaphorik, die in rhetorischem Kontext oft verwendet wird, um zu kennzeichnen, ob man die Atmosphäre der Situation zu seinen Gunsten ausnutzen konnte oder nicht So äußert beispielsweise auch der jüngere Plinius Bedenken, ob die Rezitation einer bereits gehaltenen und nun ausgearbeitet vorliegenden Rede wirklich eine so gute Idee sei, da sie kaum die ursprüngliche Situation und damit die Interaktion mit den Richtern und Zuhörern rekapitulieren könne 17 Quintilian selbst verwendet den Begriff des Öfteren, um den Eifer, mit dem der Redner bei der Sache ist, zu charakterisieren Grundsätzlich handelt es sich dabei um keine negative Eigenschaft, jedoch kann auch ‚Wärme‘ unangemessen sein, wenn sie unreflektiert erfolgt: diversum est huic eorum vitium qui primo decurrere per materiam stilo quam velocissimo volunt, et sequentes calorem atque impetum ex tempore scribunt: hanc silvam vocant repetunt deinde et componunt quae effuderant: sed verba emendantur et numeri, manet in rebus temere congestis quae fuit levitas Entgegengesetzt ist der Fehler, den diejenigen machen, die zunächst alles, was das Thema enthält, mit dem Schreibstift so schnell wie möglich durcheilen wollen und der Wärme und

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Plin epist 2,19,2: neque enim me praeterit actiones, quae recitantur, impetum omnem caloremque ac prope nomen suum perdere, ut quas soleant commendare simul et accendere iudicum consessus, celebritas advocatorum, exspectatio eventus, fama non unius actoris, diductumque in partes audientium studium, ad hoc dicentis gestus incessus, discursus etiam omnibusque motibus animi consentaneus vigor corporis

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dem Schwung des Augenblicks folgend schreiben Das so Gewonnene nennen sie ihren Rohstoff Sie nehmen dies dann wieder vor und bringen ihren Erguss in Ordnung Aber nur Worte und Rhythmen werden so verbessert, die Leichtfertigkeit, mit der die Gegenstände, von denen wir reden, oberflächlich zusammengehäuft worden sind, bleibt bestehen (Quint inst 10,3,17)

Bei der schriftlichen Komposition sind Eifer und Augenblicksorientierung in Quintilians Lehre also unangebracht Im Kontext der zitierten Passage geht es ihm um die Einübung einer treffenden Ausdrucksweise und, daraus folgend, eine souveräne Einschätzung der eigenen Fähigkeiten im Wortfindungsprozess: Langes Überlegen ist seiner Meinung nach, wenn es zu keiner Verbesserung führt, ebenso fehl am Platze wie allzu rasche Zufriedenheit mit dem bereits Gefundenen Sowohl Quintilian wie auch Plinius wissen also um die Qualitäten wie auch die Nachteile einer Improvisation Den Reiz rednerischer Improvisation macht für beide die situative Gebundenheit aus, die sich in der Praxis günstig auf die Interaktion zwischen Redner und Publikum auswirken kann Die Improvisation geschieht mündlich Den Reiz verliert sie jedoch, wenn sie losgelöst von der ursprünglichen Situation rekapituliert wird, d h bei einer nachmaligen Dokumentation oder Wiederaufführung im Rahmen einer Rezitation, oder wenn eine entsprechende Situation gar nicht gegeben ist wie bei der zuletzt betrachteten rednerischen Stilübung zu Hause am Schreibtisch Die beiden letzten Varianten brauchen zudem als Medium die Schrift 3. Improvisation in der Dichtung der Antike Nun bleibt die Frage, ob für Dichtung dasselbe gilt, wie für Reden Da Quintilian in seiner Institutio oratoria im vorliegenden Buch nicht nur die Techniken bespricht, wie man zu einem angemessenen Ausdrucksvermögen kommt, sondern auch Textsorten nach ihrer Verwendbarkeit und ihrem Wert für die stilistische Schulung des angehenden Redners durchmustert, kommt er auch auf extemporierte Formen in der Dichtung zu sprechen, an denen sich der angehende Redner ein Beispiel nehmen könne Er nennt dabei Licinius Archias und Antipater von Sidon, deren Leistung schon Cicero hervorgehoben habe, verweist pauschal jedoch auch auf Zeitgenossen, die dies praktizierten Besieht man sich, was Cicero an der Improvisation der beiden genannten Dichter faszinierend fand, so ist es bei Archias die Fähigkeit, ohne jegliche schriftliche Vorbereitung eine große Anzahl großartiger Verse über aktuelle Ereignisse aus dem Stegreif zu dichten und diese bei einer Wiederholung variieren zu können 18 Hieran zeigt sich

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Cic Arch 18

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für Cicero sogar noch eindrücklicher die Virtuosität und Spontaneität der Improvisation Auch für Antipater von Sidon galt, dass er nicht nur im Hexameter, sondern auch in anderen Versmaßen zu extemporieren vermochte, und dass er dazu aufgrund von Talent, Gedächtniskapazität und Übung fähig war Mit dieser Leistung kann er ebenfalls ein Ansporn für die Ausbildung des Redners sein 19 Als soziales Phänomen scheint das extemporierte Dichten schließlich so prominent zu sein, dass es im Prinzipat Gegenstand der fiktionalen Literatur wird: So ist Improvisation eines der Grundthemen der Satyrica Petrons 20 Aus diesen Beispielen ergeben sich interessante Einsichten zur Medialität der Improvisation und der Interaktion mit dem Publikum In Petrons Erzähltext reiht sich für den homodiegetischen Erzähler (und in den meisten Fällen auch den Leser) strukturell ein unerwartetes und sich aus der Situation ergebendes Ereignis an das andere Bei genauerem Hinsehen stellt sich jedoch stets heraus, dass die vermeintlichen Zufälle auf akribischer Planung basieren und einem eigenen Muster folgen, sodass es sich paradoxerweise um eine vorbereitete bzw einstudierte Improvisation handelt Der Effekt jedoch zeigt, dass in vielen Fällen offenbar für das Publikum der Schein genügt, dass Produktion und Rezeption sich im selben Moment ereignen Trimalchio ist damit solange erfolgreich, bis auch die Gäste das Muster durchschaut haben Er ‚improvisiert‘ aber weniger zur Unterhaltung des Publikums, sondern eher, damit das Publikum ihm wie ein Claqueur Applaus spendet 21 Dagegen ist Eumolp quasi die personifizierte Improvisation des Romans, der bei jeder Gelegenheit, die sich bietet, ein Gedicht aus dem Stegreif zum Besten gibt 22 Während jedoch Trimalchio in der Lage ist, sein Publikum wenigstens bis zu einem gewissen Grade zu manipulieren, ist Eumolp kaum erfolgreich: ex is, qui in porticibus spatiabantur, lapides in Eumolpum recitantem miserunt at ille, qui plausum ingenii sui noverat, operuit caput extraque templum profugit Manche Spaziergänger in der Säulenhalle warfen mit Steinen nach dem rezitierenden Eumolp Da bedeckte er, dem diese Art von Klatschen für sein Talent schon wohlbekannt war, seinen Kopf und floh aus dem Tempelbezirk (Petron 90,1)

Nach der Ankündigung einer Improvisation in einer Gemäldegalerie, die die Darstellung des Untergangs Trojas aufgreift, ist die Reaktion des Publikums für Eumolp eher schmerzhaft Aus der zitierten Reaktion des Zuhörers und Erzählers Encolp, der die

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Cic de or 3,194 Vgl auch Gianpiero Rosati: The Silvae Poetics of Impromptu and Cultural Consumption In: Brill’s Companion to Statius Hg von William J Dominik, Carole E Newlands, Kyle Gervais Leiden 2015, S 54–72, S 70 Vgl Petron 55,1–3 Die einschlägigen Passagen sind: Petron 89,1; 93,2; 109,8; 115,20; 119

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Darbietung als Rezitation bezeichnet, schließt Niall Slater in einem Aufsatz zu Eumolp als Dichter, dass an dieser Stelle selbst Encolp verstanden habe, dass Eumolp trotz gegenteiliger Behauptung nie improvisiere, sondern stets nur zu extemporieren vorgebe 23 Der Unmut des Publikums liegt also entweder an der mangelnden Qualität des Gedichtes oder daran, dass die Improvisation nicht echt war Wenn wir die oben gestellte Frage wieder aufgreifen, woran man eine Improvisation eigentlich erkennt,24 so hatten wir dort als Kriterien benannt, dass der entsprechende Rahmen für eine Improvisation (durch Ankündigung) gesetzt sein muss, dass Produktion und Rezeption zeitlich zusammenfallen und dass das Publikum das Neuartige und von der Regel Abweichende erkennt Nun ist zwar gegeben, dass es sich wohl um etwas Neuartiges handelt (dafür könnte das Versmaß bereits ein Indiz sein), und auch eine Ankündigung der Improvisation hat es gegeben Allerdings war sie, und das ist den Rahmenbedingungen des Romans zu entnehmen, vorgetäuscht Das negative Bild Eumolps rührt also nicht daher, dass er ein schlechter Improvisationskünstler wäre, sondern dass er nur vorgibt zu improvisieren Niemand im Publikum, nicht einmal Encolp, ist bereit, die extemporierte Darbietung als solche zu bezeugen oder zu dokumentieren In beiden Fällen wird in Petrons Roman die Improvisation ad absurdum geführt, weil der Rahmen zwar gesetzt, aber vom Publikum nicht als gültig anerkannt wurde Den dokumentarischen Weg schlugen die Eltern des Elfjährigen Q Sulpicius Maximus ein, der im Jahre 94 n Chr beim kapitolinischen Agon mit seinem Beitrag den ‚Publikumspreis‘ errungen hatte 25 Die Grabstele, die sie ihm errichteten, zeigt nicht nur eine Statue des Jungen (möglicherweise im Moment des Vortrags)26, sondern weist auch in der lateinischen Inschrift der unglücklichen wie stolzen Eltern darauf hin, dass das junge Talent, das sich mit der Teilnahme am Wettbewerb offenbar gesundheitlich übernommen hatte, unter 52 Teilnehmern aus Griechenland für sein Gedicht aufgrund seines Alters und seiner Fähigkeiten den Ehrenpreis erhalten hatte Der Wettbewerbsbeitrag ist in voller Länge (das sind 43 griechische Hexameter) samt

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Niall W Slater: Eumolpus Poeta at Work Rehearsed Spontaneity in the Satyricon In: Orality, Literacy and Performance in the Ancient World Hg von Elizabeth Minchin Leiden, Boston 2012, S 245–264 S oben S 99 CIL 6,33976 Im Beitrag von Siegmar Döpp: Das Stegreifgedicht des Q Sulpicius Maximus In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 114 (1996), S 99–114 findet man sowohl den Text der Inschrift samt Übersetzung sowie eine Einordnung in den literatur- und kulturhistorischen Kontext Die Darstellung mit Schriftrolle hat dazu geführt, dass man annahm, dass es für die Teilnehmer des Agons trotz Hinweis auf die Improvisation der Beiträge vielleicht doch zuvor die Möglichkeit zu einer schriftlichen Skizze gab Andererseits sind Darstellungen auch von Kindern mit Schriftrollen auf Grabsteinen oder Sarkophagen nicht selten, ohne dass damit auf eine konkrete Situation verwiesen würde, man vergleiche etwa den sog Musensarkophag (Vatikanische Museen) Die Schriftrolle könnte damit auch schlicht die Belesenheit des jungen Mannes versinnbildlichen

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Themenstellung Welcher Worte sich Zeus bedient haben mag, als er Helios tadelte, weil er Phaeton den Sonnenwagen überlassen hatte links und rechts der Statue eingemeißelt In der Inschrift heißt es zum Gedicht: versus extemporales eo subiecti sunt ne parent(es) adfectib(us) suis indulsisse videant(ur) (Die improvisierten Verse wurden deswegen unten hinzugefügt, damit die Eltern nicht den Eindruck erwecken, dass sie sich in ihren Gefühlen haben hinreißen lassen) Die Eltern dokumentieren und bezeugen in dieser Inschrift also nicht nur die Improvisation samt vorgetragenem Text,27 sondern auch die Anerkennung des Publikums Sie wählen mit der Wiedergabe in Stein das Medium, das nach antiker Einschätzung dasjenige ist, das die Zeiten am längsten überdauert Die Lektüre des Wettbewerbsbeitrags ist freilich an den Ort der Grabstele gebunden So ist zwar eine vielfache Lektüre, aber keine Vervielfältigung des Textes möglich Das Gedicht hat ohne Publikation keinen Werkcharakter und ist nicht Teil der handschriftlich überlieferten und damit literarisch rezipierten Literatur geworden Folgendes Zwischenfazit lässt sich ziehen: Improvisation ist in der römischen Kultur sowohl in Prosa als auch in Dichtung ein Thema In der Rhetorik wird sie zu Übungszwecken praktiziert und als Vermögen des versierten Redners geschätzt Einig ist man sich dort, dass das gekonnte extemporierte Sprechen nur durch das Beherrschen der Regeln und mit jahrelangem Training zu erreichen ist Im Gegensatz zur schriftlich konzipierten Rede hat die extemporierte den Vorteil, dass sie passgenau auf die Situation und das Publikum reagieren und so zu einer kongenialen Interaktion mit den Zuhörern führen kann Eine mündliche Wiederholung kann dabei durch die Gedächtnisleistung beeindrucken, denselben Wortlaut noch einmal wiedergeben zu können, oder durch die Flexibilität, dasselbe erneut formvollendet, aber mit anderen Worten sagen zu können Dies funktioniert allerdings nur, wenn das Publikum identisch ist und die Möglichkeit des Abgleiches mit der ursprünglichen Aufführung gegeben ist (woher sollte sonst das Publikum wissen, dass es sich um eine exakte Wiederholung oder Variation handelt?) Für sekundäre Hörer oder Leser bleibt das Erlebnis, dass Produktion und Rezeption zusammenfallen, aus Für die Improvisation in der Dichtung haben die Beispiele gezeigt, dass auch hier die Performance auf die Anerkennung des Publikums angewiesen ist – Eumolp wirkte gerade deswegen so penetrant, weil er die Kritik ignorierte Ferner wurde deutlich, dass es sich bei poetischer Improvisation um ein Phänomen handelt, das spätestens Mitte des ersten Jahrhunderts in Rom etabliert ist 28 In der Dichtung (Archias, Antipater, Q Sulpicius Maximus) sind vor allem adressatenbezogene und panegyrische

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Der Text muss damit entweder vor (s vorherige Anm ) oder nach der Darbietung aufgezeichnet worden sein Die Herkunft aus dem Griechischen ist unverkennbar, schließlich ist der Wettbewerbsbeitrag von Q Sulpicius Maximus auch auf Griechisch verfasst Vgl dazu den Überblicksartikel von Hammerstaedt (Anm 11) sowie Alex Hardie: Statius and the Silvae Poets, Patrons and Epideixis in the Graeco-Roman World Liverpool 1983

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Themenstellungen häufig Die Situationsgebundenheit ist gleichzeitig das Problem der Improvisation, denn für ihren Ruhm braucht sie eine Dokumentation (Grabstein, Erzählkontext) oder einen Zeugen (wie Cicero) Nicht in allen Fällen umfasst die Dokumentation den Wortlaut des improvisierten Textes Die Befähigung zur Improvisation haben die betreffenden Künstler in der Rhetorikund Schulausbildung erhalten, und so erklärt es sich auch, dass Quintilian, der sein Rhetorik-Handbuch schließlich für die Söhne gesellschaftlich distinguierter Römer verfasst, den grundsätzlichen Nutzen des Improvisierens für den Redner zwar anerkennt, auf Stegreif-Dichtung jedoch einen eher skeptischen Blick wirft 29 4. Improvisation bei Statius Bevor wir uns mit Improvisation in den Silven beschäftigen, sollte zunächst noch einmal die Frage geklärt werden, ob es sich bei den Silven überhaupt um improvisierte Gedichte handelt Wie zuvor ersichtlich wurde, assoziiert die Improvisation Mündlichkeit, denn nur dadurch kann eine annähernde Gleichzeitigkeit von Produktion und Rezeption gegeben sein Allerdings kann in der Antike, wie die Diskussion zum Gedicht des Q Sulpicius Maximus zeigte, ein schriftlicher Entwurf durchaus Bestandteil einer Improvisation sein Die Silven sind das Produkt schriftlicher Improvisation, in vielen Fällen ist der anschließende Vortrag oder die Übergabe des improvisierten Werkes wahrscheinlich 30 Nun sind sie jedoch in der vorliegenden Form dem ursprünglichen Rahmen (dem convivium, der Hochzeit, dem Begräbnis etc ) enthoben und in Büchern zusammengestellt publiziert 31 Jedes der vier Silven-Bücher (das fünfte ausgenommen) ist mit einem Vorwort in Briefform versehen Davon ist das erste für das Verständnis der Improvisation am aufschlussreichsten, es lohnt ausschnittsweise einen genaueren Blick:32 diu multumque dubitavi, Stella iuvenis optime et in studiis nostris eminentissime, qua parte et voluisti, an hos libellos, qui mihi subito calore et quadam festinandi voluptate fluxerunt, cum singuli de sinu meo pro […], congregatos ipse dimitterem quid enim […] quoque auctoritate editionis onerari, quo adhuc pro Thebaide mea, quamvis me reliquerit, timeo? 29 30 31 32

Gewidmet ist die Institutio oratoria (1 prooem 6) Marcellus Vitorius, der ebenfalls Widmungsträger von Buch vier der Silven ist, und gedacht für die Ausbildung von dessen Sohn Geta Siehe hierzu Meike Rühl: Literatur gewordener Augenblick Die Silven des Statius im Kontext literarischer und sozialer Bedingungen von Dichtung Berlin 2006 (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 81), S 107–113 Zu den kommemorierten Gelegenheiten und Ereignissen der Silven Rühl (Anm 30), S 91–107 Soweit nicht anders vermerkt, folge ich dem Text der Ausgabe von Courtney, Oxford 1992 Die Praefationes werden unter dichtungstheoretischem Aspekt ebenfalls besprochen von Rosati (Anm 20)

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sed et Culicem legimus et Batrachomachiam etiam agnoscimus, nec quisquam est inlustrium poetarum qui non aliquid operibus suis stilo remissiore praeluserit quid quod haec serum erat continere, cum illa vos certe quorum honori data sunt haberetis? sed apud ceteros necesse est multum illis pereat ex venia, cum amiserint quam solam habuerunt gratiam celeritatis Lange habe ich hin und her überlegt, Stella, Du bester junger Mann und auf dem Gebiet unserer Studien, das Du für Dich gewählt hast, der herausragendste, ob ich diese Skizzen, die mir im Feuereifer und in einem kleinen Geschwindigkeitsrausch aus der Feder geflossen sind, gesammelt herausgeben soll, obwohl sie einzeln bereits meinem Schoß entsprungen sind […] Denn warum […] sollte ich auch sie noch mit der Autorität einer Publikation belasten, wo ich immer noch um meine ‚Thebais‘ fürchte, die mich doch schon längst verlassen hat? Aber wir lesen ja auch den ‚Culex‘ und erkennen die ‚Batrachomachie‘ an und jeder bekannte Dichter hat mit entspannterem Stift ein Vorspiel zu seinen Werken verfasst Es war ohnehin zu spät, sie zurückzuhalten, wo ihr sie ja schon habt, denen sie verehrt wurden Bei den anderen Lesern werden sie natürlich auf viel weniger Nachsicht treffen, da der einzige Reiz, den sie hatten, nämlich schnell entstanden zu sein, verloren gegangen ist (Stat silv 1 praef 1–13)

Im Anschluss an diese Passage wird jeweils geschildert, unter welchen Umständen das Gedicht produziert und dargeboten wurde und welches Ereignis es behandelt Die Praefatio übernimmt also eine doppelte Funktion: Zum einen dokumentiert sie die Improvisation Täte sie dies nicht, wäre der Dichter allein auf die Aussagen der einzelnen Adressaten über die Abfassung ihrer Silve angewiesen Zum anderen liefert das Vorwort nachträglich den Rahmen für die Stegreifdichtung, wie etwa „Diese hundert Verse, die ich auf das große Pferd verfasste, habe ich dem gnädigsten Kaiser am Tag nach der Einweihung des Reiterstandbildes überreichen lassen “ oder die Angabe, Claudius Etruscus habe die poetische Fassung eines neuen Badezimmers „innerhalb des Abendessens“ in Empfang genommen 33 Als Marker für einen Improvisationskontext dienen bei Statius meistens eine Zeit- und Raumangabe sowie die Erwähnung eines Ereignisses bzw einer Gelegenheit und einer dichterischen Handlung Ferner wird durch Metaphern und Isotopien suggeriert, dass es sich um Dichtung handelt, die rasch und aus der Situation heraus entstanden ist: So werden beispielsweise die Silven als libelli bezeichnet Das ist der Begriff, den man in der Antike für ein Notizbuch verwendet, daneben kann er jedoch

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Stat silv 1 praef 17: centum hos versus, quos in ecum maximum feci, indulgentissimo imperatori postero die quam dedicaverat opus tradere ausus sum; 29 f : qui balneolum a me suum intra moram cenae recepit

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auch für ein Gedichtbuch gebraucht werden 34 In diese Rubrik gehört ebenfalls stilus (stilo remissiore praeluserit), ein Schreibstift, der für Wachstäfelchen, auf denen nichts Dauerhaftes notiert wird, verwendet wird Im übertragenen Sinn kann er jedoch auch den Schreibstil eines Textes bezeichnen: So ist hier sowohl der Stift entspannt geführt worden, als auch der Stil ‚entspannt‘ und damit nicht gefeilt und anstrengend 35 In dieselbe Richtung deutet praeludere, das als Vorstudie zu einem größeren Werk gesehen werden kann (wie der Culex zur Aeneis, die Silven zur Thebais) oder auf den Charakter eines Experiments hinweist So werden einerseits die für die Improvisation typischen Schreibutensilien und Tätigkeiten im Text festgehalten, andererseits werden sie gleichzeitig in eine Ausgabe der Silven überführt, die sicherlich nicht auf Wachstäfelchen, sondern auf Papyrus oder Pergament geschrieben und entsprechend ausgestattet beim Buchhändler zu kaufen bzw als Kopie vom Dichter oder einem der Adressaten zu haben war Diejenigen, die bei der Improvisation seinerzeit anwesend waren, sind ohnehin noch im Besitz des Erstentwurfs, der sofort überreicht wurde (cum illa vos certe quorum honori data sunt haberetis) Mit dem Wechsel des Mediums changiert die Bedeutungsnuance der oben zitierten Begriffe Damit verändert auch die Improvisation ihren Seinszustand, denn sie wird in den Text inkorporiert: Von der realen hör- und erlebbaren Improvisation wird sie zur lesbaren dokumentierten und fiktionalisierten Stegreifdichtung Für den vollständigen Rahmen einer extemporierten Darbietung braucht es, wie oben gesehen, auch die Anerkennung dieser Leistung durch das Publikum 36 Dies geschieht, indem in den Praefationes die Adressaten als Zeugen der Improvisation aufgerufen werden: Domitian ist Zeuge (testem, 16) für die Silve auf sein Reiterstandbild, Claudius Etruscus für das improvisierte Badezimmer in Versen usw Die größte Beweiskraft hat mengenmäßig das Publikum, das wie Statius beim Fest der Dezemberkalenden in der Aula des Princeps anwesend war und die Zeugenschaft für das letzte Gedicht dieses Buches übernimmt: So wurden in der Praefatio als Publikum nicht nur die ursprünglichen Adressaten eingeblendet und als Lese-Publikum gesichert Mit der Erwähnung der in der Aula des Princeps anwesenden Römer und dem ‚Wir‘ im letzten Gedicht wird am Ende der Schritt zu einem unspezifischen und größeren Lesepublikum und zur Publikation der Silven vollzogen 37 Die Besonderheiten der eigentlichen Produktionsumstände beeinflussen jedoch nicht nur die Aufführung, sondern auch die Qualität des Textes und seines Verfassers Eine solche Improvisation ist laut Statius nichts für zögerliche Personen, denn sie braucht

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Siehe OLD s v libellus 2 bzw 1 (Notizbuch vgl Cic Verr 2,2,182: inveni duos solos libellos a L Canuleio missos sociis ex portu Syracusis, in quibus erat scripta ratio mensuum complurium rerum exportatarum; Gedichtbuch vgl Cat 1,1: cui dono lepidum novum libellum) Siehe OLD s v remissus 2b bzw 3, folgend s v praeludo a/b Vgl Stat silv 1 praef 14 f : quam timeo ne verum istuc versus quoque ipsi de se probent! Vgl Stat silv 1 praef 30 f : in fine sunt kalendae Decembres, quibus utique creditur

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Verwegenheit und Unerschrockenheit 38 Auch dies ist eine Eigenschaft, die sowohl positiv wie negativ ausgelegt werden kann und mit der hier kokettiert wird Ferner ist auf die Isotopie hinzuweisen, die die Praefationes der Silven durchzieht und die Bewegung und Energie assoziieren lässt: Die Gedichte sind Statius in ‚Feuereifer‘ (calor, s o ) aus der Feder ‚geflossen‘ (fluxerunt) Gekoppelt ist diese Vorstellung mit Begriffen der Zeitlichkeit, hier werden die Lust und der Rausch der Geschwindigkeit betont (subito calore, festinandi voluptate, gratiam celeritatis) Das Netz, das durch diese Lexeme über die erste Praefatio gespannt wird, erweckt beim Leser den Eindruck, dass auch die vorliegende Publikation immer noch von den Eigenschaften der Improvisation geprägt ist und der Leser durch seine Lektüre also an der damaligen ‚Performance‘ des Dichters teilhat Während dieses erste Prosavorwort noch den Eindruck erwecken konnte, der Dichter befinde sich in einer Situation, in der er sich dafür rechtfertigen müsse, dass er Gedichte, die für schnellen Konsum im Augenblick verfasst seien und einer Publikation nicht würdig seien (denn sie hätten ja laut Dichter ihren eigentlichen und einzigen Reiz – den der Improvisation – verloren), sind die vorgeblichen Skrupel im Vorwort zum zweiten Buch bereits verschwunden und die Eigenart der vorliegenden Sammlung wird zum eigentlichen Vorzug der Silven erklärt Die Improvisation wird nun damit begründet, dass die Umstände und die freundschaftliche Pflicht eine schnelle Reaktion des Dichters unbedingt gefordert hätten: Denn Buch zwei enthält insgesamt vier Kondolenzgedichte, zwei zum Tod eines Sklaven, je eines auf den Tod eines Papageis und eines in der Arena verunglückten Löwen Frische Wunden, so der Dichter, erfordern raschen Trost, sonst ist er überflüssig, die Situation verlangt geradezu nach einer Improvisation Die Reaktionsfertigkeit des Dichters ist sogar so schnell, dass er sich dafür beinahe entschuldigen muss, weil er das ursprüngliche Publikum mit seinen Versen in der Trauer überrascht 39 Nicht nur die Abfassungszeit nimmt zu, auch das improvisatorische Leistungsbewusstsein schlägt sich in der Qualität der Gedichte nieder: eandem exigebat stili facilitatem leo mansuetus, quem in amphitheatro prostratum frigidum erat sacratissimo Imperatori ni statim traderem Denselben behenden Stift [bzw Stil] verlangte auch der zahme Löwe – Wenn ich den nicht gleich, nachdem er im Amphitheater zur Strecke gebracht worden war, dem verehrungswürdigsten Kaiser übergeben hätte, wären er [und die Gelegenheit] kalt geworden (Stat silv 2 praef 16–18)

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Vgl Stat silv 1 praef 19: tradere ausus sum; 22: audacter mehercules; 3 praef 4: hanc audaciam stili nostri Dies gilt auch für den Redner, positiv konnotiert bei Tac dial 6,1: sed extemporalis audaciae atque ipsius temeritatis vel praecipua iucunditas est; dass damit eine rhetorische Qualität gemeint sein kann, macht OLD s v audax und audacia jeweils in der letzten Rubrik des Lemmas deutlich Stat silv 2 praef 7–12: huius amissi recens vulnus, ut scis, epicedio prosecutus sum adeo festinanter ut excusandam habuerim affectibus tuis celeritatem nec nunc eam apud te iacto qui nosti, sed et ceteris indico, ne quis asperiore lima carmen examinet et a confuso scriptum et dolenti datum, cum paene supervacua sint tarda solacia

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Die genannte facilitas wie die im Satz zuvor erwähnten leves libellos charakterisieren die Gedichte als ein poetisches Produkt, das nicht nur ‚leicht‘ und ‚schnell‘ von der Hand ging, sondern auch einen ebensolchen Stil aufweist Auch hier ist wieder die Art der Improvisation auf den Text übergegangen In spannungsreichem Kontrast dazu steht das Werkzeug des potentiellen Kritikers, der asperiore lima die Werke rezensiert Zwar ist die Feile das typische Instrument ‚ausgefeilten‘ Dichtens nach hellenistisch-neoterischer Art, mit dem ein sorgfältiger und langsamer Produktionsprozess assoziiert wird Das Ergebnis gilt stets als besonders gelehrt und innovativ 40 Selten jedoch wird die Feile mit einem Attribut versehen, mit dem hier genannten negativ konnotierten sonst nirgendwo Für Gedichte, die so leicht und fragil sind wie die Silven, scheint genau die Feile des Kritikers viel zu grob: Wer sie ansetzt, läuft Gefahr, gleich alles wegzuhobeln Gleicht man die programmatischen Äußerungen der ersten Silven-Praefatio mit den Ausführungen in Quintilians Handbuch in den Abschnitten zur Improvisation ab, so fällt auf, dass in beiden Texten häufig mit den gleichen Lexemen argumentiert wird: Wie bei Statius wurde auch bei Quintilian ein Gegensatzpaar gebildet zwischen der ‚Wärme‘ (calor), die nur für einen Augenblick gilt und aus der Situation heraus entsteht – dann ist alles im Fluss (fluere, fundere) –, und dem ‚Kaltwerden‘ (refrigescere u ä ), wenn man die Gelegenheit nicht nutzt So kennt auch die Rhetorik die Feile als Metapher für Verbesserungen am Text Zu Übungszwecken gilt dort eine stilistische Überarbeitung des Textes stets als hilfreich und erzielt in den meisten Fällen ein zufriedenstellendes Ergebnis Für die tägliche Praxis des Redners, die ein Reifen des Textes in Ruhe nicht zulässt, empfiehlt Quintilian jedoch pragmatisch, mit dem Produkt und sich selbst zufrieden zu sein 41 Wo es für Quintilian einen idealen Redner gibt, der ausreichend Zeit zur Vorbereitung hat, gibt es auch für Statius einen Dichter, der sich einem Werk mit Mühe und langer Hingabe widmen kann, wie er selbst es mit seinem Epos Thebais praktiziert hat Doch wo die Situation es nicht zulässt und eine rasche Reaktion erfordert, kann sowohl der Redner wie auch der Dichter, wenn er die Regeln beherrscht und dank jahrelangem Training über ausreichend Routine verfügt, mit seinem Produkt zufrieden sein Statius’ Improvisation erhebt damit den Anspruch, genauso erfolgreich und genauso anspruchsvoll zu sein wie eine extemporierte Rede – und tritt den Beweis an, dass die Punkte, die Quintilian an Stegreifversen und -reden zu kritisieren hatte (‚Leichtfertigkeit‘/levitas, ‚Rohmaterial‘/silva, s o ), hinfällig sind und als positiv zu gelten haben, wenn ein Experte am Werk ist

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Zu diesem Verweis siehe auch Carole E Newlands (Hg ): Statius Silvae Book II Cambridge 2011, S 60, die hinzufügt, dass es ungewöhnlich sei, die Feile auf Seiten der Leser zu verorten, mit Verweis auf Mart 5,80,13 f Quint inst 10,4,4: sit ergo aliquando quod placeat aut certe quod sufficiat, ut opus poliat lima, non exterat

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Im zuvor zitierten Ausschnitt aus der zweiten Silven-Praefatio war bereits deutlich geworden, dass der Dichter weniger defensiv über seine Verse sprach als im ersten Vorwort, im Gegenteil: Nun setzt er verstärkt auf die rhetorische und stilistische Expertise seiner Erstadressaten, die trotz (oder gerade aufgrund) ihres ästhetischen Urteilsvermögens und ihrer Eloquenz die extemporierten Verse wertschätzen und über eventuelle Lapsus hinwegsehen Die Praefatio schließt mit dem Auftrag an den Adressaten des Buches, Atedius Melior, bei Gefallen das Imprimatur zu geben, bei Nichtgefallen, die Sendung der Gedichte an den Absender zu retournieren Natürlich wurden die Silven nicht zurückgeschickt, denn die Bücher eins bis drei wurden zusammen publiziert 42 Die Fiktion des Briefwechsels spielt aber mit dieser Möglichkeit Greift der Leser der Silven zu Buch drei, bestätigt sich umso gewisser, dass er Dichtung von anerkannter Qualität vor sich hat, deren nachmalige Lektüre trotz vergangener und verpasster Gelegenheit lohnt Das Vorwort zu Buch drei kreist um dieselben Begriffe wie der erste Widmungsbrief Es gibt jedoch einen signifikanten Unterschied: War zu Beginn noch der Dichter selbst ängstlich aufgrund seiner Unerschrockenheit im Improvisieren und skeptisch, ob sich seine Gedichte auch in publizierter Form bewähren würden, so kann er nun vollkommen sorglos sein, da er in Pollius Felix einen Erstadressaten und Widmungsträger gefunden hat, der um die Entstehungsumstände bestens Bescheid weiß und dem man nichts mehr beweisen muss Das Publikum, das bereit ist, sowohl die Improvisation als auch die Qualität der Improvisation zu bezeugen, ist – wie am Ende von Buch eins bereits anvisiert – inzwischen auf eine stattliche Zahl angewachsen und Teil der Dokumentation geworden Im Vorwort zu Buch vier, das getrennt publiziert wurde, triumphiert schließlich der Improvisationskünstler: quare ergo plura in quarto Silvarum quam in prioribus? ne se putent aliquid egisse, qui reprehenderunt, ut audio, quod hoc stili genus edidissem primum supervacuum est dissuadere rem factam; deinde multa ex illis iam domino Caesari dederam, et quanto hoc plus est quam edere! Warum gibt es also mehr Silven im vierten als in den vorangegangenen Büchern? Damit diejenigen, die (wie ich höre) kritisieren, dass ich diese Art von Texten publiziere, nicht glauben, sie hätten Erfolg gehabt Erstens ist es sinnlos, jemandem von einer vollendeten Tatsache abzuraten; zweitens habe ich viele davon bereits unserem Herrn Caesar übergeben und wie viel mehr zählt das als sie herauszugeben! (Stat silv 4 praef 24–29)

Der Adressat dieses Buches, Vitorius Marcellus, wird Statius’ Gedichte nicht mehr nur wohlwollend prüfen, er wird sie sogar verteidigen Eine Möglichkeit der Rückgabe

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Kathleen M Coleman (Hg ): Statius Silvae IV London 1988, S xvi f

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bei Nichtgefallen existiert für ihn nicht mehr Durch die erfolgreiche Publikation der Silven (und erfolgreich waren sie, weil die Edition nicht nur die Improvisation dokumentierte, sondern alle Adressaten auch die verschriftlichte Fassung als Leistung anerkannten) hat die Stegreifdichtung also endgültig einen neuen Seinszustand erreicht: Die mit Leichtigkeit skizzierten Improvisationen sind zur res facta geworden, sie haben damit den Dokumentationscharakter eines einmaligen, aus dem Augenblick geborenen Kunstwerkes verlassen und sind zum Monument und Referenztext geworden Mehr noch: Gewidmet ist dieses Buch Vitorius Marcellus, der auch der Erstadressat von silv 4,4 ist Ebenso ist er der Widmungsträger von Quintilians 96 publizierter Institutio oratoria Die Publikation des vierten Buches lässt sich auf 95 n Chr datieren 43 Man hat bereits oft darüber spekuliert, ob Quintilian Kritik an Statius’ Dichtung übe, oder ob mit den genannten Kritikern umgekehrt vielleicht Quintilian gemeint sei 44 Nun scheint es zwar eine chronologische Reihenfolge zu geben, die das eine plausibler erscheinen ließe als das andere Doch gibt es keinen Grund anzunehmen, hier liege ein Konkurrenzverhältnis vor, wo es sich um ganz unterschiedliche Gattungen handelt Frappierend ist allerdings, wie oben bereits dargelegt, die Ähnlichkeit der Begriffe und Metaphern, die verwendet werden, um eine rednerische oder dichterische Improvisation zu charakterisieren Der Grund hierfür scheint mir viel eher als in einem persönlichen Konkurrenzverhältnis darin zu liegen, dass das Improvisieren in der Kultur der römischen Kaiserzeit eine gängige Erscheinung ist,45 dass sich darüber ein bestimmter Diskurs gebildet hat, der die entsprechenden Begriffe enthält Wenn Vitorius Marcellus ein rhetorisch auch theoretisch interessierter Mann war und praktisch als Praetor und späterer Consul ebenfalls über ausreichend Erfahrung im Halten mehr oder weniger schriftlich vorbereiteter Reden verfügt haben wird, so ist er nicht nur ein prädestinierter Empfänger eines Rhetorik-Handbuches, sondern auch der ideale Adressat improvisierter Dichtung, wie sie die Silven darstellen 5. Statius’ Weg zum Klassiker der Improvisation Die Charakterisierung der Silven durch den Dichter setzte in der Lexik ganz auf Metaphern, die auch für das Extemporieren in der Rhetorik verwendet wurden und die über die Assoziationen ‚leicht‘, ‚noch warm‘, ‚schnell‘, ‚fließend‘ und ‚unvermutet‘ die Bewegung und das Improvisatorische unterstrichen und die situationsgeborene Produktion in den Text transferierten Daneben wurde die Reaktion des Publikums durch die Zeugenschaft der Erstadressaten in den Praefationes eingebunden Als drittes Kriterium für eine Improvisation hatten wir zu Beginn des Beitrages außerdem angeführt, 43 44 45

Details bei Coleman (Anm 42), S xix Eine Zusammenfassung und Evaluation der Diskussion ebenfalls bei Coleman (Anm 42), S 58 f Auch Plinius verwendet etwa den Terminus calor, vgl Anm 17

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dass das Publikum das Neue, das das Gewohnte gleichzeitig repräsentiert wie von ihm abweicht, erkennen können muss Es bleibt also noch zu klären, inwiefern die vorliegende Dichtung regelhaft und routiniert ist Die Autorität, poetischen Regeln zu entsprechen, erhalten die Silven vor allem dadurch, dass sie das Werk des Ependichters Statius sind Die Thebais wird als Referenzwerk gleich zu Beginn der ersten Praefatio gesetzt 46 Der in diesem Zusammenhang zur Schau getragene Habitus des ängstlichen Verfassers ist ganz der des Silven-Dichters Das Selbstbewusstsein des Thebais-Dichters am Ende seines Werkes klingt hingegen sehr selbstbewusst:47 Dort wird nicht nur der lange (und zu ergänzen: wohlüberlegte und akribisch ausgeführte) Entstehungsprozess des Epos über zwölf Jahre erwähnt, dort wird auch wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Thebais eine würdige Nachfolgerin der Aeneis ist und dass ihr Ruhm den Dichter überleben wird, wo sie bereits Schullektüre ist Diese sigelhafte Aussage relativiert die in den Silven geäußerten Befürchtungen und macht deutlich, dass es sich um einen poetischen Habitus handelt, der der Form der Dichtung angepasst ist Als Autorität bleibt der Epen-Dichter in den Silven stets präsent, die Thebais wird mehrere Male erwähnt 48 Für die Qualität der improvisierten Verse suggeriert dies, dass ein Dichter, der kanonische zwölf Bücher Heldentaten verfasst hat, ausreichend Übung und Regelbewusstsein hat, um Hexameter (und wenige andere Versmaße) aus dem Stegreif zu produzieren Um jedoch nicht nur auf die Routine des Epos-Dichters zu verweisen, sondern auch das Innovationspotential der Silven hervorzuheben, schreibt sich der Dichter über den Umweg des Epos systematisch in einen Kanon ‚spielerischer Dichtung‘ ein, indem er bereits im ersten Vorwort auf die den Epikern Homer und Vergil alternativ zugeschriebenen kleineren Werke der Batrachomachie und des Culex verweist 49 Ein ähnlicher Gestus liegt ferner den über die Silven gestreuten Ankündigungen zugrunde, die für das Epos oder seriösere Dichtung zuständigen Inspirationsgottheiten würden nun entlassen, denn man schlage die Saiten nun mit einem ‚neuen Plektron‘,50 auch hier wird die poetische Variation des Gewohnten eigens betont Als intertextuelle Vorlagen und Referenztexte dienen jedoch nicht nur das eigene Epos, sondern auch die hellenistischen und augusteischen Dichter, namentlich genannt werden Philitas, Kallimachos, Properz, Ovid, Tibull, ungenannt sind sie und

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Stat silv 1 praef 6: … quo adhuc pro Thebaide mea, quamvis me reliquerit, timeo? Zum Habitus des Epikers in den Silven s auch Karen Sara Myers: Statius on Invocation and Inspiration In: Dominik, Newlands, Gervais (Anm 20), S 31–53, S 46 und S 53 Stat Theb 12,810–819 Stat silv 1 praef 6; 2,2,61; 3,5,36; 4 praef 18; 4,4,89; 4,7,26; 5,3,234 Zum Culex als kanonischem Text mit Klassikerstatus vgl Hömke in diesem Band Man kann Gottheiten natürlich nur entlassen, wenn sie dem Dichter zuvor zur Seite standen – auch hier wird die Herkunft aus der Eposdichtung unterstrichen (z B 1,5,1–4; 1,6,1); nova plectra in 1,2,2; 4,7,6 und in sinngemäßen Formulierungen öfter

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andere in inhaltlichen und formalen Anspielungen im Text der Silven mehr als präsent 51 Das improvisierte Werk wird durch diese Strategie in der literarischen Tradition verankert und verstetigt Hier wurde also eine Textform produziert, die in hohem Maße Klassiker-affin und -assoziativ ist Hinter den vordergründig leichten und schnell komponierten Gedichten steckt schwere Arbeit und lange Übung, die allerdings elegant versteckt wird – auch das gehört zur Performance eines Improvisationskünstlers dazu Das größte Paradox wird jedoch gleich zu Beginn der Silven erzeugt, indem der Dichter angibt, dass er zwar rasant schnell in der Produktion der Gedichte war, dass er aber sehr lange zögerte und zweifelte, ob er sie publizieren solle Die erste Praefatio beginnt mit den Worten diu multumque dubitavi Das ist ein wörtliches Zitat aus dem ersten Satz von Ciceros Orator: utrum difficilius aut maius esset negare tibi saepius idem roganti an efficere id quod rogares diu multumque, Brute, dubitavi Lange habe ich gezögert und mich gefragt, Brutus, ob es schwieriger und heikler ist, dir immer wieder dieselbe Bitte abzuschlagen oder das auszuführen, worum du batest (Cic orat 1)

Cicero äußert dort zu Beginn seine Bedenken, er könne für die Bearbeitung des vorgesehenen Themas kritisiert werden, doch gilt ihm seine Verpflichtung, Brutus’ Bitte zu erfüllen, wesentlich mehr Für die Silven ergibt sich aus diesem Prätext, dass sie wie der Orator als Auftragswerk zu lesen sind; in beiden Fällen scheint die stilistische Qualität der Werke von einer Publikation zunächst abzuraten In Wirklichkeit wird jedoch genau dadurch in beiden Fällen eine Diskussion um Stil und literarische Qualität in Gang gesetzt Beide Werke legen selbst beredtes Zeugnis über die diskutierte Qualität ab Bei Cicero geht es dabei um nichts weniger als um die beste Art zu reden52 – und bei Statius um die beste Art des Extemporierens 6. Der neue Klassiker: Poliziano liest die Silven Als letzter Schritt der vorliegenden Analyse bleibt zu prüfen, ob die Strategie der Silven, sich als Improvisationen zu präsentieren, aufgegangen ist und ob sie als Klassiker im zu Beginn skizzierten Sinne rezipiert wurden Die Silven sind seit der späteren Antike bis in die Frühe Neuzeit hinein oft rezipiert worden 53 Einer der vehementesten 51 52 53

Allein ein Blick in den Similienapparat der Ausgabe von Friedrich Vollmer ist aufschlussreich (P Papinii Statii Silvarum libri Leipzig 1898) Ferner gibt es zu Einzelphänomenen bereits viele Beiträge Cic orat 3,1: eloquentiae genus […] quod ego summum et perfectissimum iudicem S den Artikel von Scioli und van Dam (Anm 5) mit weiterführender Literatur

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Anhänger der Silven-Dichtung ist Angelo Poliziano, der u a in Reaktion auf Domizio Calderinis Edition der Silven von 1475 nicht nur seine Antrittsvorlesung an der Universität Florenz 1480 über Statius und Quintilian hielt (Oratio super Fabio Quintiliano et Statii Sylvis), sondern auch selbst Sylvae dichtete, die er als poetologisches und programmatisches Vorwort seinen literaturhistorischen und -kritischen Vorlesungen zu einzelnen Autoren voranstellte 54 Die Vorlesung stellt sein Lehrprogramm vor, das nicht gleich die ‚Klassiker‘ Vergil und Cicero unterrichtet und damit scheinbar gegen die Praxis seiner Zeit verstößt, und rechtfertigt, warum er zunächst auf Autoren aus der ‚zweiten Reihe‘ zurückgreift,55 die den jüngeren Studenten, so die Annahme Polizianos, näher lägen und die zum Studieren und Üben des eigenen Stils wesentlich passender seien als Cicero und Vergil So sei z B Quintilians Handbuch wesentlich ausführlicher als die rhetorischen Werke Ciceros und daher für den Unterricht geeigneter Um seine Wahl zu erklären, räumt Poliziano zunächst vermeintliche Vorurteile gegenüber den Autoren in seinem Curriculum aus der Welt So entlarvt er z B die allgemeine Annahme, bei Quintilian sehe man bereits den Verfall der Redekunst, als Vorurteil, das auf zu wörtlich genommenen Aussagen anderer Schriftsteller über die eigene Zeit beruht Von Verfall könne keine Rede sein, so Poliziano, es habe sich lediglich der Stil geändert Statius ist der erste der beiden Autoren, die in der Antrittsvorlesung behandelt werden Der gängige Vorwand, den Poliziano hierzu referiert, ist der, dass nicht einmal Statius selbst seine Werke für publikationswürdig erachtet habe Dass er selbst zu einem anderen Schluss kommt, begründet er damit, dass zwar die Silven durchaus was Wertbeständigkeit und Einfluss betreffe durch andere Werke überboten würden, nicht jedoch, was Flexibilität, Variation und Gelehrsamkeit angehe Diese letztgenannten Qualitäten können in Polizianos Augen nur auf die Anstrengung und die Umsicht des Dichters zurückgeführt werden 56 Dasselbe gelte für den Stil der Silven, der auf die Zurschaustellung der behandelten Gegenstände abziele und dementsprechend poliert sei So kommt Poliziano zu dem Schluss:

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Zu Statius’ Silven verfasst er überdies einen Kommentar (Commento inedito alle Selve di Stazio) Einen allgemeinen Überblick über das Thema Improvisation bei Poliziano bietet Tobias Leuker: Zwischen Gemütserhitzung und Routine Rhetorik und Realität der Improvisation im Œuvre des Humanisten Angelo Poliziano In: Gröne u a (Anm 8), S 79–99; s außerdem David Mengelkoch: The Mutability of Poetics Poliziano, Statius, and the Silvae In: Modern Language Notes 125, S 84–116 Statius und Quintilian werden als hos […] inferioris quasique secundae notae auctores bezeichnet, Vergil und Cicero hingegen als latinae facundiae principes und summos illos (p 870 Garin) Zitiert wird nach der Ausgabe von Eugenio Garin (Prosatori latini del Quattrocento Milano 1952) Atque id ita evenire usu necesse fuit, quod cum singulae ipsae quae Sylvae inscribuntur singula a se invicem disiuncta argumenta continerent, earumque fines haud ita multos intra versus includerentur, nihil profecto sibi reliqui facere ad industriam circumspectionemque poeta debuit, cum et tantae rerum de quibus ageretur varietati respondendum videret, et haud longo in opere somnum obrepere sibi nefas existimaret (p 872 Garin)

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itaque ut in Thebaide atque Achilleide secundum sibi inter eius ordinis poetas suo quasi iure locum vindicarit, ita in his Sylvarum poematis, in quibus citra aemulum floruerit, tam sese ipse, ut meum est iudicium, post se reliquit, quam eundem Virgilius Maro in superioribus antecesserat Und so wie er in der ‚Thebais‘ und der ‚Achilleis‘ gleichsam zu Recht sich den zweiten Platz unter den Dichtern dieser Abteilung sicherte, so ließ er auch in den Gedichten der ‚Sylven‘, in denen er ohne Rivalen brillierte, sich selbst, wie ich meine, hinter sich zurück, wie ihm in den zuvor genannten Virgilius Maro vorangegangen war (Poliziano, Oratio p 872/874 Garin)

Unversehens ist aus seinem von den anderen kritisch beäugten Vorlesungsgegenstand ein Klassiker und Autor ersten Ranges geworden Dies ist auch und vor allem dem Umstand geschuldet, dass es in der Gattung der Silven weder Vorbilder noch Nachahmer gab Für Poliziano selbst, der seine Vorlesung mit eigenen Silven fortsetzen sollte, die er später publizierte, ist das sicherlich ein willkommener Umstand Was den als Einstieg zur Vorlesung gewählten Einwand betrifft, Statius selbst habe bei der Publikation der Silven gezögert, so gibt es dafür laut Poliziano eine einleuchtende Erklärung: Dies sei nur geschickte Strategie gewesen, das Publikum glauben zu lassen, tumultuaria scilicet esse illos subitoque calore effusos („sie seien, natürlich, in der größten Eile produziert und in einer plötzlichen Aufwallung aus der Feder geflossen“; p 874 Garin) Auch wenn Poliziano den Silven den Improvisationscharakter nicht zu glauben scheint, so ist gleichwohl auch er davon überzeugt, dass eine rasche poetische Produktion (ipsa celeritatis commendatio, ibid ) für einen Dichter reputationssteigernd sein kann Zudem geht Poliziano bei den Silven von einer gründlichen Überarbeitung aus; dem nächsten aus den Prosavorworten der Silven vorweggenommenen Einwand, an den Gedichten sei nicht lange genug gefeilt worden, begegnet er mit dem Hinweis, dass er zum einen den Stil der Silven für ausgezeichnet halte, zum anderen, dass zu viel Mühe auch kontraproduktiv sein könne: contra vero saepe usu venit ut scripta nostra nimia cura vel peiora fiant, neque tam lima poliantur quam exterantur Nein, vielmehr geschieht es doch oft, dass unsere Texte durch allzu große Sorgfalt sogar schlechter werden, und sie durch die Feile nicht geglättet, sondern aufgerieben werden (Poliziano, Oratio p 874 Garin)

Betrachtet man Polizianos Urteil über Statius’ Silven in seiner Vorlesung, so scheinen für die vorliegende Untersuchung zwei Punkte besonders relevant: Zunächst einmal ist die Zusammenstellung der beiden flavischen Autoren Statius und Quintilian bemerkenswert Sie ist zum einen natürlich durch die literarische Tradition und Rezeption der beiden Autoren und vor allem durch Polizianos Lesebiographie bedingt Sie hängt aber vor allem mit der dezidierten Perspektive der Stilkritik zusammen, aus der

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Poliziano hier schreibt Bei Statius scheint er gefunden zu haben, was Quintilian in der großangelegten Besprechung von elocutio und ornatus in seinem Werk heraushebt Die terminologischen Übereinstimmungen in Metaphorik und Lexik in der Diskussion über extemporiertes Sprechen waren offenbar so präsent, dass nun auch Poliziano in dieser Diktion formuliert: Wenn er in seiner Beurteilung die Worte tumultuarius, subitus, calor, effundere verwendet, so ist es dieselbe Begrifflichkeit, die Quintilian und Statius verwenden Bei Poliziano lässt der Text jedoch keinen Zweifel, dass sie allesamt positiv konnotiert sind Auch die Warnung vor allzu intensiver stilistischer Arbeit am Text (‚Feile‘) entstammt in diesem Gedankengang Quintilian 57 Poliziano verwendet also Quintilians, wie oben gesehen, durchaus ambivalente Stellungnahmen zur Improvisation dazu, Statius’ Stil zu rechtfertigen Mehr noch: Für Poliziano scheint ‚Improvisation‘ keine Frage der Produktionsumstände mehr zu sein, sondern ein stilistisches Merkmal des Textes Er rezipiert die Silven damit nicht als Dokumentation poetischer Improvisation, sondern als eine Form von Gedichten, zu deren fiktionaler Textwelt es gehört, dass sie aus dem Stegreif verfasst wurden und durch einen bestimmten Stil, der diese Welt spiegelt, geprägt sind Wenn das Extemporieren nur als fiktionaler Habitus des Dichters gilt, der eine Poetik der gelehrten Variation, Leichtigkeit und Flexibilität generiert, dann haben Statius’ Silven in der Rezeption den Schritt von der Gelegenheitsdichtung zum anerkannten, wertbeständigen und musterhaften Vorbild vollzogen Denn nach diesem Muster verhält sich Polizianos Oratio super Fabio Quintiliano et Statii Sylvis zu seinen Sylvae wie Statius’ Prosa-Vorworte zu den Silven: Sie sind angewandte Dichtungstheorie Und aus dem Improvisationsdichter der flavischen Zeit ist spätestens jetzt ein Klassiker geworden

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Siehe oben S 113

‚Nie wieder Avignon‘: Die Adynata in Petrarcas poetischer Epystola 3,28 Hartmut Wulfram (Wien) Die lateinischen Epystole, um sie von den Prosabriefen abzugrenzen, früher auch Episto[u]l[a]e metric[a]e genannt, gehören zu den am wenigsten erforschten Schöpfungen Petrarcas, und dies trotz oder vielmehr gerade wegen ihrer ebenso anspruchsvollen wie originellen Mischung aus ‚moderner‘ Innerlichkeit und antiker Gelehrsamkeit 1 Als ein kleines, aber umso kostbareres Juwel aus dieser verborgenen Schatztruhe darf die Epystola 3,28 gelten, die jedem Leser sogleich durch ihre formalen Besonderheiten ins Auge sticht Das 21 Hexameter umfassende Gedicht besteht nämlich aus nur einem einzigen Satzgefüge, in dem emphatisch nicht weniger als 29 Adynata, also nach allgemeinem Buch- und Erfahrungswissen unmögliche Dinge, die Botschaft ‚niemals‘ periphrasieren Aussagenlogisch könnte man formulieren: Das Ereignis X wird erst dann geschehen, wenn die (‚evident unmöglichen‘) Ereignisse Y1, Y2, Y3, …, Y29 ebenfalls eingetreten sind Mit diesem hohen poetischen Aufwand für einen simplen Sachverhalt entfernt sich Petrarca denkbar weit von der Sprachökonomie der Scholastik, jener zeitgenössischen Bildungsmacht, der er ja auch sonst bekanntlich überaus kritisch gegenüberstand Der Petrarchischen Schwerpunktsetzung entsprechend konzentriert sich der folgende Beitrag in einer Serie von Close readings auf die ästhetischen Dimensionen der genannten Adynatareihe Im Vordergrund stehen dabei zunächst die Sprache und Metrik des Gedichts (1 ) sowie das Verhältnis zur literarischen Vorgeschichte der Gedan1

Einen aktuellen Überblick über das drei Bücher umfassende Werk vermitteln etwa Francesco Petrarca: Epistulae metricae Briefe in Versen Otto Schönberger, Eva Schönberger, Würzburg 2004, S 18–22; Giuseppe Velli: A Poetic Journal: Epystole In: Petrarch A Critical Guide to the Complete Works Hg von Victoria Kirkham, Armando Maggi Chicago, London 2009, S 277–290; Teresa Caligiure: Peregrinus ubique Alcuni tratti del Petrarca politico In: I cantieri dell’italianistica Ricerca, didattica e organizzazione agli inizi del XXI secolo Hg von Beatrice Alfonzetti, Guido Baldassarri, Franco Tomasi Roma 2014, S 1–11, S 1–4 sowie Ronald L Martinez: The Latin Hexameter Works: Epystole, Bucolicum carmen, Africa In: The Cambridge Companion to Petrarch Hg von Albert Russell Ascoli, Unn Falkeid Cambridge 2015, S 87–99, S 88–90

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kenfigur (2 ) Anschließend liegt der Fokus auf der Bandbreite und Anordnung, die die Bildbereiche in Epyst 3,28 annehmen (3 ), bevor der Dechiffrierbarkeit des antiken Bildungsgutes (4 ) und der Einflechtung autobiographischer Informationen nachgegangen wird (5 ) Den Implikationen von Petrarcas näherem und weiterem Werkkonzept, d h dem semantischen Aktionsradius von Editionskontext (6 ), epistularer Gattungstradition (7 ) und Makrotextualität (8 ), soll der Abschluss der Untersuchung vorbehalten sein 1. Sprachliche und metrische Gestalt Petrarcas Epystola 3,28 bietet – unter konsequenter Restituierung klassischer Grapheme – den folgenden Lesetext:2 Quando erit obscuri laribus contentus Amiclae Caesar et imperium spernet bellumque timebit, Appius invisae metuet certamina plebis, mutus erit Cicero, formosus Galba, fidelis Hannibal, infidus Scipio, Catilina pudicus ac pius, armatum Thersites sternet Achillem, Choerilus altisono carmen dictabit Homero, sol Styga perrumpet radio et mirantibus umbris Tartaream subito complebit lumine vallem; aethera bos facili penetrabit et astra volatu; Oceanum formica vado, Tanaisque repente ibit aqua, stringet glacies densissima Nilum, nix aeterna teget Meroen numquamque carebunt imbre Medusaeis infecta cruoribus arva, surget ab occasu nitidis Aurora capillis retrogradumque diem fuscos transmittet ad Indos, et Padus ad fontem Vesulique redibit ad arcem, Aetna vomet fluctus gelidos et Sorgia flammas, aura movebit agros, contemnent nubila ventos, montibus errabunt pisces pelagoque leones: tunc tua propositum convellent carmina nostrum

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Ausgangstext nach Schönberger (Anm 1), S 304; vgl mit geringfügigen Abweichungen Francesco Petrarca: Epystole metriche Rafaele Argenio, http://www bibliotecaitaliana it/testo/bibit000435 2003 (04 11 2019) Eine kritische Edition im Rahmen der ‚Edizione nazionale delle Opere di Francesco Petrarca‘ wird seit geraumer Zeit von Michele Feo vorbereitet

‚Nie wieder Avignon‘: Die Adynata in Petrarcas poetischer Epystola 3,28

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Wenn Caesar sich mit der Hütte des unbedeutenden Amyklas begnügt, die Herrschaft verachtet und vor Krieg zurückschreckt, wenn Appius die Auseinandersetzung mit den ihm verhassten Plebejern scheut, Cicero stumm ist, Galba schön, Hannibal treu, Scipio untreu, Catilina schamhaft und rechtschaffen, wenn Thersites den bewaffneten Achill zu Boden streckt und Choirilos dem hochtönenden Homer ein Lied diktiert, wenn die Sonne mit ihrem Strahl in die stygischen Gefilde einbricht und zur Verblüffung der Schatten das Tal des Tartarus mit jähem Licht erfüllt, wenn ein Rind behände durch die Luft und zu den Sternen fliegt, wenn eine Ameise den Ozean in einer Furt durchschreitet, der Don träge dahin strömt und dichtes Eis den Nil einschnürt, wenn ewiger Schnee Meroe bedeckt und Dauerregen auf die vom Blut der Medusa getränkten Felder niedergeht, wenn sich die Morgenröte mit ihren glänzenden Haaren im Westen erhebt und die Sonne rückwärts zu den dunkelhäutigen Indern schickt, wenn der Po zur Quelle und zur Burg des Vesulus/ Monviso zurückfließt, der Aetna eiskalte Fluten auswirft und die Sorgue Flammen, wenn ein leichtes Säuseln Felder bewegt, während sich Wolken unbeeindruckt zeigen von starken Winden, wenn sich Fische ins Gebirge verirren und Löwen ins Meer, erst dann wird dein Gedicht meinen Vorsatz zu Fall bringen

Dieser auf den ersten Blick vielleicht monoton erscheinende Katalog offenbart bei genauerer Betrachtung ein erstaunliches Maß an stilistischer-poetischer Variation und Raffinement Auf syntaktischer Ebene finden sich futurische Kopulasätze mit der Kopula esse und einem einfachen (vv 4–6a) oder erweiterten adjektivischen Prädikatsnomen (v 1), denen (ebenso futurische) Vollverbsätze gegenübertreten, die – je nach gewählter Perspektive bzw dem zugeschriebenen Verbalaspekt (hier sind durchaus unterschiedliche Auffassungen denkbar) – bald eher eine lineare Zustandsbeschreibung (vv 2 f , 11b–14, 17–20), bald eine punktuelle Erzählsequenz en miniature nahelegen (vv 6b–11a, 15 f ) Des Weiteren kontrastieren sogenannte ἀπὸ κοινοῦ-Konstruktionen, d h Ellipsen einer zuvor schon einmal gesetzten Kopula bzw des nachgestellten oder vorausgeschickten Vollverbs (vv 4–6a, 17 f ), mit semantisch mehr oder weniger redundanten commorationes, also Wiederholungen desselben Gedankens in unterschiedlichen Worten (vv 1 f , 8 f , 10, 15 f , 17) Hinsichtlich des mit souveräner Beherrschung der Quantitäten, ja mit antiker Virtuosität gehandhabten Hexameterbaus fällt zunächst auf, dass die Eigennamen menschlicher Protagonisten markant am Versanfang platziert werden (vv 2, 3, 5, 7) An derselben Stelle stehen auch überraschende Wendungen wie die Stummheit Ciceros oder der Schnee auf der äthiopischen Nilinsel Meroe (vv 4, 13), ebenso nacheinander die vier kanonischen Elemente Feuer, Erde, Luft und Wasser (vv 8–11)3 oder Vokabeln,

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In Epyst 3,28,10 gebraucht Petrarca aether im Sinne von „spatium inferius aere expletum, aer – Luftraum, Luft“ (Mittellateinisches Wörterbuch I, s v aether, II latius: A) Mit dem Interpretament

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die die Gegensätze von Schnee und Regen (vv 13/14), von Sonnenauf- und Sonnenuntergang auf den Punkt bringen (vv 15/16) Einen etwas geringeren programmatischen Effekt erzeugen Positionierungen von Schlüsselwörtern am Versende (z B vv 4–7, 10–12) sowie nach Zäsuren, z B von Catilina und pelago nach der Hephthemimeres (vv 5, 20) oder von astra, einem Begriff, der in metonymischer Periphrase das noch fehlende fünfte Element, den Äther oder die Quintessenz, nachliefert, nach der bukolischen Diärese (v 10) Das auf zwei Prädikate verteilte Hyperbaton facili […] volatu bildet im selben Vers (10) die dynamische Flugrichtung durch die Erdatmosphäre bis zu den Sternen ab, während an späterer Stelle über die Versgrenze hinweg die randständigen Flussnamen Padus und Sorgia den Aufenthaltsort von Absender und Empfänger markieren (vv 17 f , vgl § 5) Mag man zu Anfang des Gedichts den einmaligen Endreim plebis […] fidelis noch überhören (vv 3 f ), so wirkt gegen Ende die Vielzahl von Zäsurreimen fast schon aufdringlich: dreimal reimt sich die Schlusssilbe mit jener vor der Penthemimeres und ergibt so einen der im Mittelalter beliebten Leoninischen Hexameter (fontem […] arcem in v 17, agros […] ventos in v 19, propositum […] nostrum in v 21), ebenfalls dreimal korrespondiert die Schlusssilbe mit jener vor der Hephthemimeres (nitidis […] capillis in v 15, fuscos […] Indos in v 16, pisces […] leones in v 20) 2. Transformationen der traditionellen Gedankenfigur Wenngleich Petrarca auf keine ausformulierte Adynaton-Theorie etwa aus antiken oder mittelalterlichen Poetikdiskursen zurückgreifen konnte,4 stellte ihm doch zumal die römische Dichtung (Vergils Bucolica, die pseudovergilischen Dirae, Ovids Exildichtung, Senecas Tragödien samt Octavia, außerdem Horaz, Properz, Claudian etc )5 – daneben aber auch die Vulgata-Bibel (man denke an Mt 19,24, wo ein Kamel durch das berühmte Nadelöhr gehen muss) und die Kunst und Literatur des Mittelalters (Stichwort ‚Verkehrte Welt‘)6 – zahlreiche praktische Beispiele vor Augen Petrar-

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id est avium ante cervi volabunt more impliziert auch Serv Verg Ecl 1,59 (dazu unten § 2) die Bedeutung aether = ‚Lebensraum der Vögel = Luft‘ Vgl Hans J Scheuer: Adynaton In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik Bd 1 Tübingen 1992, S 139–141 Die Adynata der antiken Dichtung hat Ernest Dutoit: Le thème de l’adynaton dans la poésie antique Paris 1936 in einer grundlegenden Monographie zusammengestellt Methodisch-systematisch tiefer dringen etwa Giancarlo Mazzoli: L’adynaton in Seneca tragico In: Quaderni di cultura e di tradizione classica 10 (1992), S 130–154, S 133–135 und Kai Rupprecht: Cinis omnia fiat Zum poetologischen Verhältnis der pseudovergilischen Dirae zu den Bucolica Vergils Göttingen 2007 (Hypomnemata 167), S 70–75 Ernst R Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter 11 Auflage Tübingen, Basel 1993, S 104–108 mit Michael Kuper: Zur Semiotik der Inversion Verkehrte Welt und Lachkultur im 16 Jahrhundert Berlin 1993, S 10–14; Heinrich Schmidt, Margarethe Schmidt: Die vergessene

‚Nie wieder Avignon‘: Die Adynata in Petrarcas poetischer Epystola 3,28

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cas Vorliebe für das poetische Schema, das als rhetorisches Argumentationsmittel das sinnlich-affektive Vermögen der Seele anspricht,7 schlägt sich zwar auch in anderen seiner lateinischen wie volkssprachigen Gedichte nieder,8 die Epystola 3,28 nimmt jedoch in zweifacher Hinsicht eine absolute Sonderstellung ein Mit ihren 29 Fällen enthält sie zunächst en bloc so viele Adynata wie kein anderer unserem Protohumanisten zugänglicher (und der Klassischen Philologie bis heute bekannter) Text Gewichtiger noch als diese quantitative Ausweitung erscheint die damit einhergehende qualitative Aufstufung Petrarca verwandelt nämlich die traditionell in umfänglichere, übergeordnete Argumentationszusammenhänge integrierte Gedankenfigur in einen eigenständigen Gedichttyp, der sich in ihrer langen Reihung und kurzen Inbezugsetzung erschöpft Subjektiv bzw produktionsästhetisch gesehen haben wir dieses Vorgehen durchaus als literaturhistorische Innovation zu bewerten, ist es doch aufgrund der Überlieferungslage so gut wie ausgeschlossen, dass Petrarca mit typologischen Vorläufern aus der Spätantike vertraut war (Anthologia Latina 390,9 440 und 729 Riese), geschweige denn mit solchen aus der griechischen (Anthologia Graeca 9,575) oder karolingischen Dichtung (Walafrid Strabo, Carm 41, Similitudo impossibilium) 10 Motivisch gesehen stellen Petrarcas Adynata in Epyst 3,28 keine antiken Kopien dar, sondern sind Neubildungen, die in meist überindividueller Form, d h ohne dass sie sich auf eine konkrete Quelle zurückführen lassen, gewisse Standardausprägungen wie umgekehrte Fließrichtungen, paradoxe Verbindungen oder Milieuvertauschungen aufgreifen 11 In zwei Fällen liegen darüber hinaus gezielte literarische Anspielungen vor, die der von Petrarca intendierte, ideale Leser nachvollziehen soll Mit X und XX (nach dem seinerzeit gängigen römischen Zahlensystem) besetzen diese kaum zufällig runde Verszahlen und nehmen symbolische, miteinander korrespondierende

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Bildersprache christlicher Kunst Ein Führer zum Verständnis der Tier-, Engel- und Mariensymbolik 4 Auflage München 1989, S 122 f Vgl mutatis mutandis die Ausführungen zum Exemplum bei Sabrina Ebbersmeyer: Veritas ergo suis locis maneat, nos ad exempla pergamus Fonction et signification de l’exemple chez Pétrarque In: Exempla docent Les exemples des philosophes de l’Antiquité à la Renaissance Hg von Thomas Ricklin Paris 2006, S 355–372, S 371 f Z B Petrarca, Buc carm 11,96–102 und Epyst 1,2,111–113 Im Canzoniere macht Joseph G Fucilla: Petrarchism and the Modern Vogue of the Figure ΑΔΥΝΑΤΟΝ In: Zeitschrift für Romanische Philologie 56 (1936), S 671–681, S 671 f mindestens neun Verwendungen ausfindig Dieses Gedicht der ‚Eucheria‘, das mit 27 (soweit ich sehe) die zweitgrößte jemals von einem Autor in Anschlag gebrachte Zahl an Adynata aufweist, ist ausführlich von Miroslav Marcovich, Aristoula Georgiadou: Eucheria’s Adynata In: Illinois Classical Studies 13/1 (1988), S 165–174 analysiert worden Selbst unter der Voraussetzung, dass es sich hier nicht um Parallelen ohne Berührung handelt, hätten diese Gedichte für Petrarca nicht die poetische Dignität besessen, um als Prätext zu fungieren (Griechisch beherrschte er ohnehin nicht zur Genüge) „Adynata du type ἄνω ποταμῶν […], Adynata représentant des unions paradoxales […], Adynata représentant des êtres hors de leur milieu naturel“ (Dutoit (Anm 5), S 168–171)

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Positionen ein, die Mitte und Abschluss des sich auf zwanzig Verse summierenden Adynatakatalogs markieren Den konkreten Bezugspunkt bilden fünf Hexameter aus Vergils erster Ekloge, ein nicht nur für Petrarca, der ab 1346 selbst ein Bucolicum carmen verfassen sollte, besonders autoritatives Eingangsgedicht 12 Wie wichtig Petrarca die betreffende, ebenfalls auf die Aussage ‚nie‘ hinauslaufende Passage nahm, illustriert der Umstand, dass er sie zuvor schon in seinem berühmten Vergilcodex, dem Ambrosianus 79 inf , gerade hinsichtlich ihrer zwei Naturunmöglichkeiten annotiert13 und 1336 in Familiares 2,6,4 zur Gänze zitiert hatte Während es nun in der Vergilischen Adynatareihe einleitend heißt, leichte und flinke Hirsche würden eher im luftigen Himmel grasen, ante leves ergo pascentur in aethere cervi (Verg Ecl 1,59), ist es bei Petrarca das gemeinhin durch seine Schwere charakterisierte Rind, das als ein Astronaut ante litteram in leichtem Flug gleich bis zu den Sternen vorstößt, aethera bos facili penetrabit et astra volatu (Epyst 3,28,10) Vergils anschließendes Paradoxon, wonach das Meer eher seine Fische nackt bzw trocken am Strand zurücklassen würde, et freta destituent nudos in litore pisces (Ecl 1,60), wird von Petrarca – unter Beibehaltung der vorgegebenen Reihenfolge – zehn Verse später auf ähnliche Weise ins noch Absurdere gesteigert, denn die ihrem angestammten Element entkleideten Fische ziehen nun sogar von der Küste in die Berge hinauf, montibus errabunt pisces (Epyst 3,28,20a) 14 Indem Petrarca die zwei exponierten Vergilischen Adynata unverkennbar evoziert und variierend überbietet, beherzigt er in der Praxis Maximen seiner eigenen imitatio-Theorie 15 Zugleich leitet er programmatisch seinen neuartigen Gedichttyp primär von Vergil ab und partizipiert so an dessen einzigartigem Renommee

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Allgemein zur Vergilrezeption in Petrarcas Epystole Rafaele Argenio: Gli autori congeniali al Petrarca nelle epistole metriche In: Convivium 33 (1965), S 449–464, S 449–455, speziell zu Epyst 3,28 kurz ebd , S 450; zu Verg Ecl 1 im Bucolicum Carmen Thomas Baier: Christliche und heidnische Poetik im Bucolicum Carmen In: Petrarca und die römische Literatur Hg von Ulrike Auhagen, Stefan Faller, Florian Hurka Tübingen 2005, S 147–156 pass Der Ambrosianus wird ausführlich vorgestellt von Marco Baglio, Antoinetta Nebuloni Testa, Marco Petoletti: Francesco Petrarca Le postille del Virgilio Ambrosiano Presentazione di Giuseppe Velli 2 voll Roma, Padova 2006, die auch die zahlreichen Scholien aus Petrarcas Hand komplett edieren Mit den banal wirkenden Anmerkungen ubi nulla sunt pascua und ubi vivere nequeunt (A 79 inf interl Verg Ecl 1,59 bzw 60, Baglio, Nebuloni Testa, Petoletti (Anm 13), S 201) dürfte Petrarca die Adynata Vergils kaum erklären wollen; sie fungieren eher als Hervorhebungen wie heutzutage Unterstreichungen oder Ausrufezeichen Dass die Fische eigentlich ins Meer gehören (und Verg Ecl 1,60 Ausgangspunkt war), verdeutlicht Petrarca im zweiten, antithetischen Teil des Verses, pelagoque leones (Epyst 3,28,20b) Dazu etwa Martin L McLaughlin: Literary Imitation in the Italian Renaissance The Theory and Practice of Literary Imitation in Italy from Dante to Bembo Oxford 1995, S 22–34

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3. Bandbreite und Anordnung der Bildbereiche Die Sequenz der Stoffbereiche in Epyst 3,28 legt eine kunstvolle Mischung aus freien Assoziationen (die in Wirklichkeit freilich oft nur scheinbar frei sind) und hierarchischen Gliederungsansätzen an den Tag Aus der Makroperspektive betrachtet verteilen sich die Themen der Adynata auf zwei Felder, auf Beispiele aus der kontrafaktischen ‚Geschichte‘ oder Uchronie (vv 1–7) sowie auf solche, die der kontrafaktischen ‚Natur‘ entstammen (vv 8–20), wobei jeweils mythische Vorstellungen hinzuzurechnen sind Die Adynata aus der menschlichen Geschichte, für die es – anders als für jene aus der Natur – so gut wie keine antiken Parallelen gibt,16 nehmen gut ein Drittel des Gesamtbestandes ein, d h exakt sieben von zwanzig Hexametern bzw zwölf von 29 Unmöglichkeiten Von Petrarca, der der quadrivial-naturwissenschaftlichen Scholastik nur wenig Gewicht beimaß,17 sind sie vermutlich gezielt als prestigeträchtiges, humanistisches Aushängeschild an den Anfang der Reihe platziert worden Die historischen, ausschließlich antiken Adynata teilen sich in eine römische (vv 1–6a) und griechische Gruppe (vv 6b–7) Mit dieser Abfolge und impliziten Rangordnung, der auch die meisten Anekdoten in den zeitgleich (1344; vgl § 5) entstehenden Rerum memorandarum libri unterworfen werden, orientiert sich Petrarca an der dichotomischen Struktur von Exempla Romana versus Exempla externa aus Valerius Maximus’ Facta et dicta memorabilia, einer seinerzeit hochangesehenen moralischen, historischen und ‚last but not least‘ literarischen Autorität 18 Der Leser meint quasi die Gedankenverknüpfungen des Dichters nachzuvollziehen, wenn Treue und Untreue der beiden militärischen Kontrahenten Hannibal und Scipio – zugleich Protagonisten in Petrarcas Epos Africa, seiner Biographiensammlung De viris illustribus (xvii, xxi) und der Collatio inter Scipionem, Alexandrum, Hanibalem et Pyrrum – gegenübergestellt werden (vv 4c–5b) oder wenn mit Thersites und Achill zuerst zwei Figuren Homers aufgeboten werden, bevor dieser selbst im Dichterwettstreit mit Choirilos unterliegt (vv 6b–7; vgl § 4) Die Reihung der deutlich umfangreicheren Adynata aus der Welt der Natur erweist sich als unübersichtlicher und komplexer Petrarca evoziert einleitend nicht nur die kompletten fünf Elemente (vgl § 1), sondern mit Festland, Luft und Meer zugleich auch die drei großen ‚Lebensräume‘ des Planeten Erde (vv 8–11a) Im Anschluss dient 16 17 18

Dutoit (Anm 5), S 167–173 Klaus Bergdolt: Naturwissenschaften und humanistisches Weltverständnis In: Funktionen des Humanismus Studien zum Nutzen des Neuen in der humanistischen Kultur Hg von Thomas Maissen, Gerrit Walther Göttingen 2006, S 103–124, S 110–114 Marijke Crab: Exemplary Reading Printed Renaissance Commentaries on Valerius Maximus (1470–1600) Wien, Zürich 2015, S 1–5, S 11–45, speziell zu Petrarca ebd , S 14–16 („Valerius Maximus was one of Petrarch’s favourite authors […]“); zu den Rerum memorandarum libri etwa Ebbersmeyer (Anm 7), S 358–360; Paolo Cherchi: The Unforgettable Books of Things to be Remembered Rerum memorandum libri In: Kirkham, Maggi (Anm 1), S 151–164

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ihm offenbar das salzige Meer als gedanklicher Ausgangspunkt dafür, um mit Blick auf starke Strömung, Eis, Schnee und Regen das widersinnige Vorkommen verschiedener ‚Aggregatzustände‘ von Süßwasser hinzuzufügen (vv 11b–14) Danach verkehren die im Westen aufgehende Sonne ebenso wie der bergauf, zurück zu seiner Quelle fließende Po die Mechanik der natürlichen Bewegungsrichtung in ihr Gegenteil (vv 15–17), wobei die neue Fließrichtung – die Vorstellung einer um sich selbst rotierenden Erdkugel vorausgesetzt –19 durchaus von logischer Konsequenz zeugt Zum Abschluss seines Katalogs bringt Petrarca – jeweils in einem einzigen Vers – zwei dualistische Vertauschungen von extremen Temperaturen, Graden der Windkraft20 und zoologischen Lebensräumen unter (vv 18–20), woraus eine stichische und adversative Syntax resultiert, die durch ihre Hast den additiven Charakter der letzten sechs Adynata widerspiegelt 4. Antikes Bildungsgut Mit seinen 29 Adynata stellt Petrarca inhaltlich höchst unterschiedliche Anforderungen an seine Leser So dürfte um die Mitte des Trecento auch jedem Ungebildeten unmittelbar eingeleuchtet haben, dass die Sonnenstrahlen niemals ins Erdinnere vordringen (vv 8 f ), Rinder keine Flügel bekommen (v 10), Ameisen nie das Meer durchwandern (v 11a) oder Raubkatzen sich darin tummeln würden (v 20b) Rudimentäre geographische Kenntnisse reichten aus, um zu verstehen, dass der ägyptische Nil niemals zufriert (v 12b) und ein Vulkan wie der Ätna kein eiskaltes Wasser ausspeit (v 18a), und jeder Lateinkundige wusste aus der Schule, dass Cicero ebenso wenig stumm sein kann (v 4a) wie (Ciceros und Sallusts) Catilina rechtschaffen (vv 5c–6a) Auf abgelegenerer Lektüre fußen dagegen die Aussagen, dass der römische Patrizier Appius Claudius niemals die Konfrontation mit dem gemeinen Volk fürchten wird (v 3 mit Bezug auf die secessio plebis in Liv 2,32,2), dass der für seine Hässlichkeit verschriene Kaiser Galba (Suet Galba 21) unmöglich zu Schönheit gelangen (v 4b), die größte Nilinsel Meroe (bes Plin Nat 5,53) immer schneefrei bleiben (v 13a) und zumal der für seine reißende Strömung berüchtigte Don (Mela 1,115) niemals träge dahin kriechen wird (vv 11b–12a) 21 Lässt sich hier der ursprüngliche Sachverhalt durch

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Von entsprechenden Theorien der zeitgenössischen Spätscholastik (Hans Bieri: Der Streit um das kopernikanische Weltsystem im 17 Jahrhundert Galileo Galileis Akkommadationstheorie und ihre historischen Hintergründe Quellen – Kommentare – Übersetzungen unter der Mitarbeit von Virgilio Masciardi 2 Auflage Bern u a 2008, S 49–56) hat Petrarca sicher gewusst Aura bezeichnet im klassischen Latein das Säuseln, ventus den eigentlichen Wind (Hermann Menge, Otto Schönberger: Lateinische Synonymik 8 Auflage Heidelberg 2007, Nr 250 und 257) Zwar ist Petrarca auch für die Textgeschichte des Livius, Suetons und Plinius des Älteren nicht ohne Bedeutung, eine geradezu grundlegende Rolle spielt er aber für die Überlieferung des damals fast unbekannten Pomponius Mela (Otto Mazal: Die Überlieferung der antiken Literatur im Buchdruck des 15 Jahrhunderts 4 Bde Stuttgart 2003, S 738–740)

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bloße Umkehrung noch hinreichend erschließen, so sind wenigstens an vier Stellen weitere Informationen vonnöten Zum ersten Mal begegnen wir einer derartigen Verschlüsselung gleich im ersten Vers der Epistel, wo der Dichter ausschließt, dass Julius Caesar jemals mit der bescheidenen Hütte des ruhmlosen Amyklas zufrieden sein könne Petrarca bezieht sich auf eine versteckte Episode aus dem fünften Buch von Lukans Bürgerkriegsepos Bellum civile, wo Caesar am Verschlag des armen Fischers Amyklas rüttelt, damit dieser ihn trotz der stürmischen Adria nach Italien übersetzt (Lucan 5,515–539) Wie verwickelt die Anspielung ist, zeigt der Umstand, dass selbst ein verdienter moderner Gelehrter den Eigennamen fälschlich (und unter Inkaufnahme eines sonst kaum belegten Singulars) mit der lazialischen Stadt Amyclae in Verbindung gebracht hat 22 Die zweite Verschlüsselung betrifft gleich zwei Adynata auf einmal Wenn Petrarca hintereinander suggeriert, dass Thersites ebenso wenig je den Achill wie Choirilos den Homer besiegen könne (vv 6b–7), hat er eine Anekdote im Kopf, die er nicht direkt Horaz, sondern den Scholien des Pseudo-Acron entnahm Ihr zufolge soll Alexander der Große einmal ausgerufen haben, er möchte lieber der Thersites Homers sein (eine schäbige Figur, die von Odysseus Prügel bezieht) als der Achill des später sprichwörtlichen Poetasters Choirilos (Ps -Acro Hor Ars 357) 23 Unterschwellig ergibt sich eine Art Nebenadynaton, glaubte doch eine verbreitete biographische Tradition daran, dass Homer blind gewesen sei (Cic Tusc 5,114) – und insofern außerstande die ihm hier von Petrarca zugedachte Schreibertätigkeit zu übernehmen (Choirilos diktiert Homer in die Feder) Der dritte Fall führt uns vom historischen in den geographischen Bereich Mit den vom Blut der Medusa benetzten Gefilden (Epyst 3,28,13b–14) gibt Petrarca seinem Publikum ein regelrechtes Rätsel auf, sofern es nicht ein aitiologisches Detail vor allem aus Ovids Metamorphosen (Met 4,617–20),24 aber auch Lukans Bellum civile (Lucan 9,619–699) präsent hält, wo jeweils von Perseus’ Flug über Libyen die Rede ist und den dabei herabfallenden Blutstropfen aus dem Haupt der getöteten Gorgo, die sich auf dem Wüstenboden in Schlangen verwandeln Wenn Petrarca schließlich den Po zur „Burg des Vesulus“ zurückfließen lässt (Epyst 3,28,17), so liegt auf den ersten Blick der Name eines Burgherren nahe Um zu realisieren, dass Vesuli keine Person bezeich-

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Schönberger (Anm 1), S 305 (Übersetzung) und bes S 382 Anm 1 (Kommentar); vgl Serv Verg Aen 10,564 und Georg 3,345, die einzige Stelle mit dem singularischen Städtenamen Amycla (Tiziana Privitera: Servius and the City of Amyclae Case In: Servio Stratificazioni esegetiche e modelli culturali / Servius Exegetical Stratifications and Cultural Models Hg von Sergio Casali, Fabio Stok Brüssel 2008, S 93–101, S 95) Zum Anekdotenkranz rund um Alexander und Choirilos Hartmut Wulfram: Von Alexander lernen Augustus und die Künste bei Vitruv und Horaz In: Hermes 141 (2013), S 263–282, S 271–275 Petrarcas wichtigster Horazcodex Med Laur xxxiv 1 enthält in margine den Kommentar des Pseudo-Acron (Michele Feo: Petrarca, Francesco In: Enciclopedia Oraziana Hg von Istituto della Enciclopedia Italiana, Scevola Mariotti Vol III Roma 1998, S 405–425, S 405, S 411 f ) Schönberger (Anm 1), S 382 Anm 14

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net, sondern als Genetivus definitivus den heute Monviso genannten Berg in den ligurischen Alpen, an dem die Quelle des Po entspringt, und dass das nachfolgende ad arcem diesen Berg metaphorisch zur Festung erhebt (vgl § 5), benötigte man letztlich den spätantiken Vergilkommentar des Servius bzw die ihn erweiternden sog Scholia Danielis: Vesulus mons Liguriae iuxta Alpes (Serv Aen 10,708), de hoc Vesulo […] Padum nasci dicunt (DS) 25 Obwohl Petrarca bei der Schilderung dieser vier Adynata vergleichsweise weit ausholt und dabei eine den römischen Dichtern abgeschaute, hellenistisch-kallimacheische Ästhetik an den Tag legt, die den poeta doctus ausweist und den lector doctus fordert, sorgt dennoch die Vergesellschaftung mit einfacheren, ja sofort und allgemein verständlichen Adynata dafür, dass sich jeder zeitgenössische Leser darüber im Klaren gewesen sein muss, dass auch das, was er nicht verstand, auf die Botschaft ‚nie‘ hinausläuft 5. Autobiographische Assoziationen Kehren wir noch einmal zu dem zuletzt behandelten Adynaton zurück und beziehen auch dessen syntaktische Fortführung mit ein, so entdecken wir unter der Oberfläche absoluter Negation – wenn man so will als sensus allegoricus – eine zweite, autobiographische Bedeutungsdimension (Epyst 3,28,17 f ): Et P a d u s ad fontem Vesulique redibit ad arcem, Aetna vomet fluctus gelidos et S o r g i a flammas

Automatisch lenkt die Dynamik der Lektüre den Fokus auf die beiden (oben gesperrt gesetzten) Flussnamen, die chiastisch am Rand des Distichons, genauer: an dessen zweiterster und zweitletzter Stelle platziert sind, insbesondere auf die zuhinterst genannte Sorgia

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Der Kommentar des Servius ist Teil von Petrarcas bereits erwähntem Vergilcodex Ambrosianus 79 inv Bezeichnenderweise ‚metaglossiert‘ der Humanist dort auch das Servius-Interpretament zu Aen 10,708 (Baglio, Nebuloni Testa, Petoletti (Anm 13), S 939 f ) Petrarca, der versuchte, gerade von seinen Lieblingsautoren so viele Codices wie möglich zu besitzen (Peter L Schmidt: Petrarca und Horaz In: Peter Lebrecht Schmidt Traditio Latinitatis Studien zur Rezeption und Überlieferung der lateinischen Literatur Hg von Joachim Fugmann, Martin Hose, Bernhard Zimmermann Stuttgart 2003, S 294–303, S 296–299; Francisco Rico: La biblioteca di Petrarca Atlante della letteratura italiana Dalle origini al Rinascimento Hg von Amedeo De Vincentiis Vol I Torino 2010, S 229–234), kannte auch große Teile der Scholia Danielis (Servius auctus), mehr als im Ambrosianus enthalten sind; vgl Michele Feo: Petrarca, Francesco In: Enciclopedia Virgiliana Hg von Istituto della Enciclopedia Italiana, Scevola Mariotti Vol IV Roma 1988, S 53–78, S 59 f ; Giuseppe Ramires: Il testo delle aggiunte danieline del Servio Ambrosiano di Petrarca In: Studi Petrarcheschi 15 (2002), S 25–49; Maria L Delvigo: Ut ait Servius L’auctoritas del commentatore virgiliano nelle ‚Genealogie‘ di Boccaccio In: Giovanni Boccaccio Tradizione, interpretazione e fortuna In ricordo di Vittore Branca Hg von Antonio Ferracin, Matteo Venier Udine 2014, S 133–143

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Tatsächlich fällt die Sorgue hier in zweifacher Hinsicht aus dem Rahmen Zum einen handelt es sich objektiv betrachtet um den unbedeutendsten ‚Naturraum‘ des Gedichts, zum anderen um das einzige Toponym, das im klassischen Latein nicht belegt ist Greifbar wird es erst ab dem Frühmittelalter, denn der Petrarca unbekannte Strabon nennt die Sorgue Σούλγας, der ihm bekannte Florus aber Vindelicus amnis, wobei fraglich ist, ob Petrarca diese Identität durchschaut hat 26 Petrarcas Bemühen, den subjektiv lange Zeit wichtigsten Ort seines literarisierten Dichterdaseins, den persönlichen Helikon Vaucluse mit der Musenquelle Sorgue,27 durch eine antike Archäologie zu nobilitieren, macht sein persönlicher Codex der Naturgeschichte des älteren Plinius augenfällig (Paris, BN, Lat 6802, f 143v) Petrarca konjiziert darin den nebulösen narbonesischen fons Org(a)e mit seinen von Rindern begehrten Unterwassergräsern (Plin Nat 18,190) zunächst interlinear zu ‹S›org(a)e – diese dem italienischen Sorga (z B RVF 135 Schlussstrophe) entsprechende i-lose Kurzform verwendet Petrarca auch in Epyst 3,3,3 –, dann konjiziert er Orgae (in Wirklichkeit ein geographisch unverortbares Hapax legomenon) in Übereinstimmung mit Epyst 3,28,18 auf dem rechten Rand zu ‹S›org‹i›(a)e Diese diachrone Identifikation von Orga mit Sorg(i)a/Sorgue unterstreicht die berühmte Zeichnung von Vaucluse unten auf derselben Seite, die Petrarca mit der Erläuterung Transalpina solitudo mea iocundissima versehen hat 28 Wenn nun die Flüsse Padus und Sorgia so evident am Rand zweier Nachbarverse miteinander interagieren, so soll diese Stellung – in Anlehnung an die Artistik antiker Dichter – die große, ja unüberbrückbare Distanz abbilden, die zwischen Parma auf der einen Seite liegt, wo sich Petrarca im Jahr 1344 befand, als er die Epystola 3,28 abfasste,29 und Avignon, wo der verklausulierte Adressat des Gedichts, sein wohl bester Freund ‚Sokrates‘ alias Ludwig van Kempen verblieben war, auf der anderen (vgl

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Die Toponomastik umreißt Hans G Wackernagel: Sulga(s) In: RE 2 Reihe Vol IV A 1 Hg von Georg Wissowa, Wilhelm Kroll, Karl Mittelhaus Stuttgart 1931, S 727 Annius Florus steht auf Petrarcas Liste der Libri mei peculiares (Rico (Anm 25), S 230, S 234) Zu dieser beim jüngeren Petrarca bis zur Mitte des vierzehnten Jahrhunderts häufig anzutreffenden Idealisierung Rossend Arqués: Per umbram fons ruit Petrarca in Elicona Paesaggio e umanesimo In: Quaderns d’Italià 11 (2006), S 245–272 und Francesco Stella: Spazio geografico e spazio poetico nel Petrarca latino Europa e Italia dall’Itinerarium alle Epistole metriche In: Incontri triestini di filologia classica 6 (2006/2007), S 81–94, S 87 f Ausführlich zum vielgestaltigen Paratext in Paris, BN, Lat 6802, f 143v Maurizio Fiorilla: Marginalia figurati nei codici di Petrarca Firenze 2005, S 52–58, fig 53; Sara Cipolla: Le ‚mani‘ di Petrarca: glosse e disegni autografi del Plinio parigino In: Per Leggere 16 (2009), S 109–156, S 125–128, fig 14 In seinen Familiares gebraucht Petrarca das Toponym Sorgia stolze neunzig Mal, meist im Briefpostskript (Aldo Bernardo, Reta A Bernardo: A Concordance to the Familiares of Francesco Petrarca 2 Bde Padova 1994, S 2251 f ) Petrarcas oszillierende Schreibweise Sorgia/Sorga wird eingehend von Laura Refe: I fragmenta dell’epistola Ad posteritatem di Francesco Petrarca Messina 2014, S 70 f dokumentiert Zu Petrarcas zweitem Aufenthalt in Parma von Dezember 1343 bis Februar 1345 Ugo Dotti: Petrarca a Parma Reggio Emilia 2006, S 37–60 pass

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§ 6) 30 Die doppelte Metonymie ‚Fluss für Stadt‘ ergibt sich zwanglos, wenn man nicht die anachronistisch enge Vorstellung von ‚Stadt = das von Stadtmauern Umgebene‘ zugrunde legt, sondern den suburbanen Contado des Trecento, der das diffuse, rechtlich-politisch abhängige Umland mit einschließt:31 Die Entfernung von Parma bis zum Po beträgt nur gut fünfzehn Kilometer Luftlinie, wobei der Zufluss Parma (von Petrarca erwähnt in Epyst 3,29,15) eine direkte Verbindung übers Wasser herstellt, und die Entfernung von Petrarcas Refugium in Vaucluse bis zur französischen Papstresidenz beläuft sich auf nur rund 25 Kilometer, wobei die Sorgue in die Ouvèze mündet, diese aber zehn Kilometer vor Avignon in die Rhône Das Verspaar Epyst 3,28,17 f spielt jedoch nicht nur auf die Aufenthaltsorte von Briefabsender und Briefempfänger an, Petrarca schwört dort überdies jenen kulturnationalen Gegensatz zwischen einem quasi zeitlos-antiken (oder ‚reantikisierbaren‘) Italien und einem scholastisch-mittelalterlichen Frankreich herauf, den er auch anderswo – je später, desto schärfer – konstruiert 32 Die konkrete Dramatisierung mittels der jeweils größten pränationalen Flusssysteme des Po und der Rhône (dem die Sorgue zugehört) scheint Petrarca wieder vom Vergilkommentar des Servius (auctus)33 eingegeben worden zu sein Obwohl die Rhône in Wirklichkeit über 230 Kilometer nordöstlich im heutigen Schweizer Kanton Wallis entspringt, behaupten die Scholia Danielis nämlich, dass ihr Ursprung ebenso wie der des Po am Vesulus/Monviso liege, von wo aus sie in unterschiedliche Richtungen flössen: sane de hoc Vesulo quidam duo flumina, Rhodanum et Padum, nasci dicunt, quorum unus id est Rhodanus in Tyrrhenum mare, alter id est Padus in Adriaticum fluit (DS Aen 10,709) 34 Wenn der Vesulus in Epyst 3,28,17 als arx firmiert, überhöht ihn Petrarca im Ansatz – wie später in Seniles 7,115 und 17,3,3 – zur alpinen Grenzbastion zwischen Italien und Frankreich, zwischen Zivilisation und Barbarei

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Zum literarischen Niederschlag dieser exemplarischen Freundschaft Jan Papy: Creating an ‚Italian‘ Friendship From Petrarch’s Ideal Literary Critic ‚Socrates‘ to the Historical Reader Ludovicus Sanctus of Beringen In: Petrarch and his Readers in the Renaissance Hg von Karl A E Enenkel, Jan Papy Leiden, Boston 2006, S 13–30, der allerdings übersieht (ebd , S 19), dass – über Epyst 3,32 hinaus – auch Epyst 3,27 und 3,28 an Ludwig van Kempen gerichtet sind (Schönberger (Anm 1), S 381, S 382, S 386; Dotti (Anm 29), S 21, S 54; Simone Gibertini: Le lettere in versi del Petrarca a Barbato da Sulmona Saggi di commento http://dspace-unipr cineca it/handle/1889/1966 Università di Parma 2012 (04 11 2019), S 80 f ) Den historischen Rahmen dieses aus Nord- und Mittelitalien stammenden Territorialkonzepts beleuchtet z B Rudolf Lill: Zur politischen und sozialen Geschichte des Trecento In: Petrarca und die Herausbildung des modernen Subjekts Hg von Paul Geyer, Kerstin Thorwarth Göttingen 2009, S 31–42, S 34–36 Dazu etwa Caspar Hirschi: Wettkampf der Nationen Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit Göttingen 2005, S 194–217 Vgl oben Anm 25 Auf ähnlich abenteuerliche Weise wurden in der Antike (und danach) z B die Flussläufe von Nil und Donau lokalisiert

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6. Intratextualität im Versepistelbuch Die autobiographischen Implikationen des Verspaares Epyst 3,28,17 f (vgl § 5) erschließen sich nicht nur dem Briefempfänger Sokrates, sondern auch dem Buchleser als sekundärem Adressaten, wenn er, wie idealerweise vom Dichter und Redaktor in Personalunion35 beabsichtigt, die Epystole – eine nach augusteischen Vorbildern (Horaz, Ovid, Vergil etc ) nicht strikt chronologische, sondern bisweilen auch nach anderen Parametern wie Thema, Adressat oder Länge strukturierte ‚Gedichtbuch‘-Trias36 – vollständig und in vorgegebener Reihenfolge rezipiert Nachdem Petrarca in Epyst 2,16 explizit von seiner gegen Ende des Jahres 1343 unternommenen Reise von Neapel nach Parma37 und in Epyst 2,18, dem positionsbedingt herausgehobenen, besonders gut im Gedächtnis bleibenden Schlussgedicht des zweiten Buches, von seinem neuen, ebendort im Bau befindlichen Domizil berichtet hatte, fällt es dem intendierten Leser – trotz manches Standortwechsels in den dazwischenliegenden Gedichten – nicht schwer, das in Epyst 3,26,1–3 am Ufer des Po stehende Dichter-Ich wieder im Contado von Parma zu verorten 38 Die anschließende Epystola 3,27 bildet mit dem uns interessierenden Adynatagedicht 3,28 ein zusammenhängendes Paar, wie schon die miteinander korrespondierenden, auf Petrarca selbst zurückgehenden Gedichtüberschriften39 Ad amicum Transalpinum (Epyst 3,27) und Ad eundem (3,28) andeuten Die Gemeinschaft geht soweit, dass die spätere Epistel ohne die vorangehende in einem entscheidenden Punkt nicht verstanden werden kann Wenn Ludwig van Kempen nur in diesem Briefpaar mit der geographischen Antonomasie ‚Freund von jenseits der Alpen‘ apostrophiert wird – und nicht wie in Epyst 3,32 und in über zwanzig Familiares40 als ‚Sokrates‘ –, so reflektiert dies den Umstand, dass er sich im fernen Avignon aufhielt, während Petrarca zeitgleich in Parma Wurzeln geschlagen hatte; ja mehr noch, der Anfang des Gedichts unterstreicht, dass der Freund zuvor in einem Schreiben inständig versucht haben muss, Petrarca zur Rückkehr an die päpstliche Kurie zu bewegen (Epyst 3,27,1–7a): Perdis, amice, operam: mens est mihi certa manere hic, ubi sum Non me validis rapidissimus undis impulerit Rhodanus, recta non Circius aura

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Michele Feo: Petrarca nel tempo Tradizione, lettori e immagini delle opere Pontedera 2003, S 292 f ; Velli (Anm 1), S 277 Kurze Analysen der Buchkomposition bieten Schönberger (Anm 1), S 19 f ; Velli (Anm 1), S 278–283 und Martinez (Anm 1), S 88–90 Ausführlicher philologischer Kommentar zu Epyst 2,16: Gibertini (Anm 30), S 211–277 Ernest H Wilkins: The Epistolae metricae of Petrarch A Manual Roma 1956, S 22 f ; Schönberger (Anm 1), S 363–380 pass ; Dotti (Anm 29), S 21 f , S 37 f ; Gibertini (Anm 30), S 72–81 Ihre Authentizität untermauern Karl A E Enenkel: Die Erfindung des Menschen Die Autobiographik des frühneuzeitlichen Humanismus von Petrarca bis Lipsius Berlin, New York 2008, S 52 und Feo (Anm 35), S 294 f (Abbildungen von Gedichtüberschriften aus frühen Handschriften) Bernardo (Anm 28), S 2223; Papy (Anm 30), S 19 f

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moenia concutiens, ubi tu tibi tempora vitae deligis ac bustum; non compita vestra terentes mille simul, parva quae stridunt urbe, quadrigae (ancora fixa solo est) moveant

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Du vergeudest deine Zeit, mein Freund, denn meine Absicht, zu bleiben, wo ich bin, ist unumstößlich Mich kann weder die Rhône mit ihrer reißenden Strömung noch der Mauern erschütternde Mistral mit seiner steifen Brise dorthin treiben, wo du leben und begraben sein möchtest Tausend Fuhrwerke, die die Gassen eurer unbedeutenden Stadt mit viel Lärm abreiben, können mich ebenso wenig verrücken, denn mein Anker sitzt fest im Boden

Der (verlorene) persuasive Text aus Sokrates’ Feder, auf den hier Petrarca Bezug nimmt, ist offenkundig ganz oder wenigstens zum Teil identisch mit jenen am Ende von Epyst 3,28 erwähnten Versen, die erst in dem Moment den Vorsatz des Dichters ins Wanken bringen würden, wenn sich die zuvor von ihm beschriebenen 29 Adynata bewahrheiteten, quando […] / tunc tua propositum convellent carmina nostrum (v 21) Wie jeder lineare und somit vorinformierte Buchleser aus Epyst 3,27 weiß, läuft der Gegenstand dieses unverrückbaren Entschlusses auf die Formel ‚Nie wieder Avignon‘ hinaus 7. Epistulare Gattungstradition und Bukolisierung Durch Abfassung und Zusammenstellung ‚persönlicher‘ poetischer, genauer: hexametrischer Briefe stellt sich Petrarca programmatisch in die Gattungstradition des von Horaz begründeten Versepistelbuchs, dessen Einflüsse und Transformationen an vielen Stellen der Epystole nachgewiesen werden konnten 41 Das companion piece zu unserem Adynatagedicht, die Epystola 3,27, zeichnet sich entsprechend durch zahlreiche motivische Bezüge zu den beiden ‚Rückzugsbriefen‘ des Horaz aus, die er an seinen Freund und Gönner Maecenas gerichtet hat (Epist 1,1 und 1,7) Besonders ins Auge sticht die analoge Vorstellung, dass Jugend, Eitelkeit (namentlich schöne Haare), kameradschaftliche Geselligkeit und erotische Abenteuer unwiderruflich der Vergangenheit angehörten und untrennbar mit dem städtischen Biotop des Adressaten im augusteischen Rom bzw päpstlichen Avignon verknüpft seien (Hor Epist 1,7,25–28 vs Petrarca, Epyst 3,27,7b–31) Während hier Sokrates selbst die Maecenas-Rolle als Freund übernimmt, fällt sie anschließend Papst Clemens VI als Gönner zu (vv 32–45), bevor der (namentlich nicht genannte, aber unverkennbar 41

Argenio (Anm 12), S 455–462; Feo (Anm 23), S 419 f ; Karlheinz Stierle: Francesco Petrarca Ein Intellektueller im Europa des 14 Jahrhunderts München, Wien 2003, S 69–71; Enenkel (Anm 39), S 52–67; Martinez (Anm 1), S 88

‚Nie wieder Avignon‘: Die Adynata in Petrarcas poetischer Epystola 3,28

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gemeinte) Herrscher von Parma, Azzo da Correggio, beide Funktionen auf eine Art und Weise neu definiert, die der nunmehr erlangten Reife von Petrarcas Alter und Einsichten entspricht und einen idealen, rein italienischen Stadt-Landgegensatz von Parma und seinem Contado, geradezu eine Symbiose, mit sich bringt (vv 46–96) 42 Wie später (1352) in Fam 15,8,5 scheint für Petrarca das einst so geliebte Vaucluse aufgrund der Nachbarschaft zu Avignon jeden Reiz verloren zu haben 43 Die suburbane Komponente von Petrarcas Aufenthalt in Parma – die gegeben ist dank des ihm von Azzo zur Verfügung gestellten Anwesens auf der circa zwanzig Kilometer entfernten Hochebene Selvapiana –44 darf schon deshalb nicht unterschätzt werden, weil die dominante Verortung des Dichter-Ichs auf dem Lande einen zentralen Baustein des horazischen Epistelbuchs darstellt Bei kontinuierlicher Buchlektüre wird Parma in Epyst 3,27 darüber hinaus rückwirkend in eine bukolisch-panegyrische Aura getaucht, eine Einfärbung, die durch das gemeinsame Versmaß von Hexameterepisteln und Eklogen erleichtert wird Verantwortlich für diesen retroaktiven Effekt zeichnet der primäre Bezugstext von Epyst 3,28, die Adynatareihe aus Vergils erster Ekloge (vgl § 2) Deren unmögliche Glieder, so versichert der Hirte Tityrus, würden allesamt eher eintreten, als dass das Antlitz jenes Mannes, dem er den Erhalt des eigenen Besitzes zu verdanken habe, seinem Herzen entfalle, quam nostro illius labatur pectore vultus (Verg Ecl 1,63) Dass Petrarca – darin ganz Kind der Vormoderne – moralisch-ästhetischer Anhänger allegorischer Vergilexegese war, steht trotz philologischer Zweifel (Secr 1,25; Sen 4,5) außer Frage, wie schon die von Simone Martini gemalte und von Petrarca konzipierte Eingangsminiatur aus dem erwähnten Codex Ambrosianus illustriert: Servius gibt dort, einen Vorhang beiseite ziehend, den Blick auf Vergil frei und wird im zweiten darunter stehenden Spruchband als Enthüller von dessen verborgenen Botschaften gefeiert, in einem einprägsamen Hexameter, der interessanterweise just in Petrarcas Epystole wörtlich wiederkehrt, Servius altiloqui retegens archana Maronis (A 79 inf , fol 1v bzw Epyst 2,2,41; vgl 2,10,213–227) 45 Vor diesem Hintergrund ist ernsthaft zu erwägen, ob in Epyst 3,28 der Petrarca vorschwebende Modell-Leser die punktuellen 42

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Zu Azzo da Correggio etwa Dotti (Anm 29), S 15–21; zur Villa suburbana als Motiv in der römischen Literatur Hartmut Wulfram: Stadt und Land in einem Tag Zu einem poetischen Motiv von Horaz bis Ausonius In: Noctes Sinenses Festschrift für Fritz-Heiner Mutschler Hg von Andreas Heil, Matthias Korn, Jochen Sauer Heidelberg 2011, S 162–168 pass Konsequenterweise versuchte Petrarca 1349 umgekehrt Sokrates und andere Freunde aus Avignon zum Umzug nach Parma/Italien zu bewegen; vgl Fam 8,2–5 und 8,7–9; Papy (Anm 30), S 20 f ; Dotti (Anm 29), S 74–80 Petrarca, Epyst 2,16,15b–46; Post 56 f ; Dotti (Anm 29), S 21 f ; Refe (Anm 28), S 85 Feo (Anm 25), S 55–61; Baglio, Nebuloni Testa, Petoletti (Anm 13), bes IV, S 62–64, S 92, S 142; Hartmut Wulfram: Pascua, ager, urbs Virgilio e l’acqua dolce In: La civiltà delle acque tra Medioevo e Rinascimento Hg von Arturo Calzona, Daniela Lamberini 2 voll Firenze 2010, S 3–17, S 2–4, fig 1 Auch das eigene Bucolicum carmen (ca 1346–1364) legt Petrarca stark allegorisch an (Baier (Anm 12), pass ; Martinez (Anm 1), S 91)

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Hartmut Wulfram

biographistischen Allegoresen, die Servius der ersten Ekloge Vergils angedeihen lässt (bes Ecl 1,1; 1,7 und 1,27), mitzudenken und zu aktualisieren hat Unter der Maske des die Adynata formulierenden Tityrus würde sich dann nicht länger Vergil, sondern Petrarca selbst verbergen, und der iuvenis deus aus Rom, dem Tityrus sein Wohlergehen verdankt, mutierte von Octavian-Augustus zu Azzo da Correggio Doch damit nicht genug: die verflossene Galatea wäre statt mit Mantua mit Avignon/Vaucluse zu identifizieren, während Amaryllis, die jetzige Geliebte des Tityrus, nicht länger auf Rom und die dort gewonnene Freiheit deuten würde, sondern auf Italien bzw Parma 46 8. Pointe im Makrotext Um 1350, gut fünf Jahre nach Abfassung der Epyst 3,28, begann Petrarca damit, seine poetischen Briefe zu überarbeiten und in Büchern zu vereinen Das Barbato da Sulmona dedizierte, sich bis 1364 hinziehende Projekt wurde von vornherein flankiert durch die parallele Edition der Prosabriefe unter dem Namen Rerum Familiarum libri In deren Widmungsbrief an Sokrates / Ludwig van Kempen kommt Petrarca expressis verbis auf den sich ergänzenden Charakter der beiden Briefsammlungen zu sprechen (Fam 1,1,11 und 34), wodurch sich das Konzept eines epistularen, dem idealen Rezipienten in all seinen Teilen bekannten Makrotexts manifestiert Der alte Petrarca wird diese werkbiographische Corpusbildung ab 1361 ostentativ vorantreiben, indem er seine zweite große Prosabriefsammlung in sprachlicher Anlehnung an die erste mit dem Titel Rerum senilium libri versieht, deren Widmungsbrief an ‚Simonides‘ um den inzwischen verstorbenen Sokrates und die ihm einst gewidmete Sammlung kreisen lässt (Sen 1,1) und das intentional letzte Buch der Seniles, den monolithischen Brief an die Nachwelt (Post ), zeitlich diametral in Beziehung zum letzten Buch der Familiares setzt, den kommunikationspragmatisch irrealen ‚Hadesbriefen‘ an die antiken Autoren (Fam 24) 47 Nehmen wir diesen epistularen Makrotext näher in Augenschein, so machen wir eine für die endgültige literarische Valenz der Epystola 3,28 – jene, die dem seine Schaffenskarriere überblickenden Spätwerkler vorschwebte – bedeutsame Entdeckung Während editionsintern, also innerhalb der drei Bücher Epystole, nur vage angedeutet wird, dass Petrarca von 1345 bis 1347 und von 1351 bis 1353 zwei weitere Perioden seines Lebens in Avignon/Vaucluse verbringen sollte (Epyst 3,33), vermag der Wunschle-

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Details und Reichweite der Identifikationen von Serv Verg Ecl 1 erläutert Ute Tischer: Die zeitgeschichtliche Anspielung in der antiken Literaturerklärung Tübingen 2006, S 79–85 Über die Entstehungskontexte der vier genannten, von Petrarca auktorial sanktionierten Briefsammlungen (Epyst , Fam , Sen , Post ) geben kurz und präzise die sich ergänzenden Artikel in Feo (Anm 35) Aufschluss: S 292 f (Michele Feo), S 320–322, S 338 f (Vincenzo Fera) und S 521 (Fabio Troncarelli)

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ser des Makrotextes Petrarcas Rückkehr nach Frankreich exakt zu rekonstruieren So berichten die Familiares über die Geschehnisse des Jahres 1345: Subierat iam ante cupiditas transalpini Eliconis, quoniam italus Elicon bellis ardebat; ita ergo hinc odio, hinc desiderio agebar; „schon vorher hatte mich die Begierde nach meinem Helikon jenseits der Alpen beschlichen, weil der italische Helikon in Krieg entbrannt war So wurde ich einerseits von Abneigung, andererseits von Sehnsucht fortgetrieben“ (Fam 5,10,3) Und der Brief an die Nachwelt resümiert lakonisch: Inde [sc Parma] reversus ad fontem Sorgie et ad solitudinem transalpinam redii; „von Parma kehrte ich zur Quelle der Sorgue und in meine Einsamkeit jenseits der Alpen zurück“ (Post 58) Für den lector doctus, der solchermaßen um Petrarcas Biographie weiß, drängt sich mutatis mutandis ein weiterer Prätext aus dem Epistelbuch des Horaz auf, dessen persona direkt nach dem entschiedenen Abgesang auf das Leben in Rom (Epist 1,7; vgl § 7) in Wankelmut verfällt, Romae Tibur amem, ventosus Tibure Romam; „wetterwendisch begeistere ich mich in Rom für Tivoli, in Tivoli aber für Rom“ (Hor Epist 1,8,12) 48 Durch diesen gattungsinternen Vorlauf erscheint Petrarcas eigene Inkonsequenz, die zudem – anders als bei Horaz – durch dramatische äußere Umstände ausgelöst wurde,49 entschuldigt, ja geadelt Als der späte Petrarca am Makrotext/Makrokosmos seiner Briefeditionen webte, hat er offenkundig die Parallele zu Horaz halb selbstironisch, halb fatalistisch in Kauf genommen, auch wenn sie den ursprünglichen Intentionen – jene, die er hegte, als er 1344 den Adynatakatalog der Epystola 3,28 zu Pergament brachte – zuwiderlief „Never say never again“ mag man mit dem Titel eines populären Agentenfilms der achtziger Jahre sagen – schon gar nicht 29 Mal

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Horaz thematisiert die eigene Rückfälligkeit wider besseres Wissen auch in Sat 2,7,28 f ; Epist 1,1,97–100; Epist 2,1,108–113 und Carm 4,1; vgl Wulfram (Anm 42), S 162–164 In Analogie hierzu „in several sonnets Petrarch explicitly prefers Vaucluse to his true paternal homeland in Italy“ (Catherine Keen: Ovid’s Exile and Medieval Italian Literature: The Lyric Tradition In: A Handbook to the Reception of Ovid Hg von John F Miller, Carole E Newlands Chichester 2014, S 144–160, S 157) Zu Petrarcas Flucht aus Parma 1345 vgl Dotti (Anm 29), S 54–58

Petrarkismus und Klassizismus im italienischen Cinquecento Gerhard Regn (München) Petrarkismus und Klassizismus scheinen, zumindest auf den ersten Blick, nichts miteinander gemein zu haben Dies schon allein deshalb, weil der Petrarkismus, definiert als (wie im Einzelnen auch immer geartete) Nachahmung der italienischen Werke Petrarcas,1 und hier zuvörderst seiner Liebeslyrik, primär aus dem Repertoire der volkssprachlichen mittelalterlichen Dichtung schöpft – für die verwendeten Themen und Motive gilt dies weithin, für die gebrauchten Gattungsformen sogar ausschließlich Doch der Schein trügt Denn gerade dort, wo er beansprucht, kulturelle Standards zu setzen, nämlich in der Renaissance-Literatur des italienischen Cinquecento, erhält der Petrarkismus ein Gepräge, das mit guten Gründen klassizistisch genannt werden darf und das zugleich die Vielschichtigkeit sichtbar macht, die dem Konzept des Klassizismus in spezifischen literaturhistorischen Konstellationen zuwächst Dies sei im Folgenden begründet, wobei die Begründung einige rudimentäre Begriffsklärungen voraussetzt 1. Was ist Klassizismus? Offenkundig ein Derivat des Klassischen: Klassizismus resultiert aus der Orientierung an vorgängiger Klassik Dadurch verschiebt sich die Beantwortung der Frage sogleich auf die vorgelagerte Bestimmung dessen, was unter ‚klassisch‘ zu verstehen ist Gebraucht man heute den Begriff des Klassischen, dann ist damit zunächst einmal „Exemplarität, Vorzüglichkeit, musterhaftes Gelungensein“ gemeint 2

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Zu den definitorischen Problemen des Petrarkismus vgl Gerhard Regn: Petrarkismus In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik Hg von Gert Ueding Bd 6 Tübingen 2003, Sp 911–921 Rainer Warning: Möglichkeiten gegenwärtigen Umgangs mit dem Klassischen In: Gadamers philosophische Hermeneutik und die Literaturwissenschaft Marbacher Kolloquium zum 50 Jahrestag der Publikation von ‚Wahrheit und Methode‘ Hg von Carsten Dutt Heidelberg 2012, S 37–52, hier S 39 Zur Geschichte von ‚Klassik‘ und ‚Klassizismus‘ vgl auch die einschlägigen Einträge

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Gerhard Regn

So begriffen ist das Klassische Produkt einer wertsetzenden Rezeptionsgeschichte, und in dieser Eigenschaft ist es historisch relativ und deshalb zugleich plural Es gibt nach Maßgabe der hier skizzierten Begriffsbestimmung nationale Perioden der Klassik wie den siècle classique in Frankreich, den siglo de oro in Spanien oder die Weimarer Klassik; des Weiteren gibt es Klassiker der Weltliteratur wie Dante, Shakespeare oder Goethe; dazu kommen Klassiker des Romans, des Dramas oder der Lyrik; und man kann natürlich auch Klassiker der Literaturwissenschaft und anderes mehr namhaft machen Das Wirkungspotential all dieser Klassiker kann sich in neuen Werken niederschlagen, denen sie als Quelle der Anregung dienen, doch ‚klassizistisch‘ wird man diese in der Regel dennoch nicht nennen wollen, im Gegenteil: Der bloße Hinweis auf die produktive Shakespeare-Rezeption in der europäischen Romantik genügt, um das Gemeinte zu verdeutlichen Was aber ist dann ‚klassizistisch‘? Eine Antwort auf diese Frage erhält man, wenn man unter den vielen und untereinander höchst verschiedenen Ausprägungen des Klassischen eine spezifische herausgreift, und zwar diejenige, die seit jeher als die historische ‚Urform‘ des Klassischen gilt: Die Klassik der Antike, und hier wiederum insbesondere die Ausprägung, die sie in der römischen Kultur zwischen später Republik und früher Kaiserzeit gefunden hat Diese Vorstellung von Klassik hat sich im Renaissance-Humanismus etabliert, wobei spätestens mit Robert Estiennes Latinae linguae Thesaurus von 1531 auch der heutige Begriffsgebrauch in Umlauf gebracht war: Unter Rückbezug auf Budé, der schon 1508 unter Berufung auf Gellius und dessen Gewährsmann Fronto von ‚klassischen Autoren‘ gesprochen hat, hat Estienne den Terminus ‚auctores classici‘ lexikalisiert und so die Grundlage für seine weitere Verbreitung gelegt 3 Klassiker waren für die Renaissance-Humanisten vor allem Cicero, Quintilian, Caesar, Plinius, Vergil, Horaz und Catull 4 Es gab demnach einen im Einzelnen durchaus variablen und zugleich gattungsbezogenen Kanon von ‚erstklassischen‘5 Autoren,6 denen explizit oder implizit eine Reihe

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(„Klassizismus, Klassik“), in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik Hg von Gert Ueding Bd 4 Tübingen 1998, Sp 977–1088 Vgl Franz-Josef Worstbrock: Zum ersten Kapitel einer Begriffsgeschichte des Klassischen Die humanistische Tradition In: Geistiger Handelsverkehr Komparatistische Aspekte der Goethezeit Für Hendrik Birus zum 16 April 2008 Hg von Anne Bohnenkamp, Matías Martínez Göttingen 2008, S 431–452 Zum ersten Kapitel, S 445–450 Budés diesbezügliche Anmerkungen finden sich in seinen Annotationes […] in quattuor et viginti Pandectarum libros, Paris [1508] Vgl ebd , S 443 Vgl ebd , S 444 Die Bezeichnung ‚klassische Autoren‘ wurde in Analogie zum soziologischen Begriff gebildet, der in der Antike die Klassenzugehörigkeit namhaft machte „‚Classici‘ hießen insgesamt die Angehörigen der fünf abgestuften Vermögensklassen, die gemäß ihrem Vermögensstand auch der Steuerpflicht unterlagen “ Worstbrock (Anm 3), S 433 f Die Engführung des Begriffs ‚klassisch‘ mit der Bezeichnung für die erste Steuerklasse (im Sinne von ‚erstklassisch‘) deutet sich bereits bei Gellius an, vgl ebd , S 434, wird aber erst bei Budé zum Definiens des Klassischen, ebd , S 443 Historischer Bezugshorizont ist natürlich die Kanonbildung der Antike, die insgesamt ein vielschichtiges Phänomen ist: Neben den restriktiven (und tendenziell geschlossenen) Listen von

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gemeinsamer Merkmale zugeschrieben wurde, welche die Basis ihrer Klassizität bildeten: Neben der Reinheit der Sprache spielten vor allem Kriterien wie Natürlichkeit, Maß, Angemessenheit, Harmonie der Teile und Einheitlichkeit eine tragende Rolle 7 Die Spezifizität der antiken Klassik besteht darin, dass sie von allen Anfang an als normative Größe gewertet wurde, die aufgrund ihrer Vorbildlichkeit nach Nachahmung verlangte Potentiell diverse Praxen der Nachahmung der als mustergültig erachteten antiken Klassik bringen dann die verschiedenen Klassizismen hervor Es ist leicht ersichtlich, dass die hier vorgeschlagene Definition blinde Flecken hat, die aus der Interferenz von systematischen, axiologischen und rezeptionshistorischen Gesichtspunkten resultieren: Die antike Klassik ist ja offenkundig eine solche im Plural, was sofort die begriffssystematische Frage aufwirft, inwieweit die Abhängigkeit von der vorbildlichen griechischen Klassik der römischen nicht auch ein klassizistisches Profil verleiht – es genügt in diesem Zusammenhang, neben der römischen Bildhauerei auf die Rhetorik-Debatten in der augusteischen Zeit zu verweisen Doch aus rezeptionshistorischer Perspektive spielt das hier angedeutete Dilemma nur eine nachgeordnete Rolle, denn für die Renaissance geht es in erster Linie um die Mustergültigkeit der antiken Klassik als solcher, so dass für den Komplex des rinascimentalen Klassizismus die Frage nach einer Binnendifferenzierung des antiken Bezugspoles zunächst einmal nicht zu Buche schlägt Doch die Feststellung, dass der Begriffsgebrauch von Klassik und Klassizismus nicht nur einer systematischen Logik gehorcht, sondern ganz pragmatisch auch in Abhängigkeit von der Betrachtungsperspektive variieren kann (Sachverhalte, die von einem Standpunkt aus als ‚klassisch‘ etikettiert werden, erscheinen aus einem anderen Blickwinkel als ‚klassizistisch‘), ist auch für die hier im Zentrum stehende Fragestellung von Relevanz Denn die Voraussetzung des petrarkistischen Klassizismus ist die Erhebung Petrarcas zum (postantiken) Klassiker Deren Grundlage wiederum ist die rinascimentale Behauptung einer funktionalen Analogie zwischen dem Petrarca volgare und den großen Klassikern der Antike: In anderen Worten, Petrarca wird zum Klassiker der Moderne, der einen wirkmächtigen rinascimentalen Klassizismus deshalb ermöglicht hat, weil, so die Annahme, sein Werk dem Geist der ihm vorgängigen Antike verpflichtet sei Dies freilich wirft, wie schon das Verhältnis der römischen zur griechischen Antike, die Frage auf, ob der moderne Klassiker nicht selbst schon ein klassizistisches Profil hat Auch hier bestätigt sich: Die Zuweisung der Begriffe ‚Klassik‘ und ‚Klassizismus‘ hängt ganz pragmatisch von der je als relevant an-

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vorbildlichen Autoren, also den Klassikern, gab es auch (vor allem im Schulbereich, etwa bei Quintilian), offene und auf Exhaustivität zielende Listen Vgl dazu im Einzelnen Mario Citroni: I canoni di autori antichi: alle origini del concetto di classico In: Culture europee e tradizione latina Atti del convegno internazionale di studi Cividale del Friuli 16–17 11 2001 Hg von Laura Casarsa u a Triest 2003, S 1–22 Vgl ebd , S 17, wo bezüglich der klassischen Werke festgehalten wird: „la loro superiore qualità deriverebbe dal conformarsi a principi di naturalezza, armonia, equilibrio compositivo, misura nell’impiego dei mezzi espressivi pur nell’elevatezza o sublimità dei contenuti ecc “

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gesetzten Perspektive ab Nach diesen knappen Vorüberlegungen können wir uns nun dem Problem des klassizistischen Petrarkismus des Cinquecento zuwenden 2. Am Beginn des sechzehnten Jahrhunderts besorgte Pietro Bembo im Rahmen der von Aldo Romano neu gegründeten enchiridia 1501 zunächst eine Ausgabe von Petrarcas Rime und dann, 1502, eine Edition von Dantes Commedia Mit seinen kleinformatigen und in elegante Kursivlettern gesetzten ottavini da mano wollte Aldo eine handliche Klassikerbibliothek bereitstellen, die, abgesehen von einigen Ausnahmen, hauptsächlich kanonisierte Autoren der griechischen und lateinischen Antike enthielt Die Reihe wurde 1501 mit Vergil eröffnet, danach fanden in ihr unter anderem Sophokles, Euripides, Pindar, Juvenal, Ovid und Cicero Platz Als Taschenbücher, die man in allen Lebenslagen mit sich führen konnte, waren die Ausgaben kommentarlos, doch sie betrafen mehrheitlich Werke, die aufgrund ihres autoritativen Status bereits in kommentierter Form vorlagen 8 In diese Klassikerreihe wurden, wie eben erwähnt, mit Petrarca und Dante gleich zu Beginn zwei Dichter aufgenommen, die im volgare schrieben Bembos Aldinen markieren keinen Neuanfang Sie prolungieren vielmehr eine Tendenz, die sich bereits im Verlauf des Quattrocento herausgebildet hatte und die dann in den ersten Dezennien des Cinquecento von Gelehrten wie Fortunio oder Liburnio fortgeführt werden sollte Die Rede ist von dem Bestreben, die volkssprachliche Literatur in den Horizont der zu dieser Zeit ebenso avancierten wie geltungsmächtigen Kulturformation des Humanismus einzurücken,9 und zwar zum Zweck der Prestigemehrung Diese Verknüpfung mit dem Humanismus war weder programmatischer Natur noch erfolgte sie systematisch, sondern sie war von vielen – oft lokal bestimmten – Zufälligkeiten geprägt, etwa wenn humanistische Gelehrte (wie etwa Francesco Filelfo im Mailand der Visconti) von ihren signori den Auftrag erhielten, die von diesen geschätzten volkssprachlichen Werke zu kommentieren, selbst wenn dies nicht ihren eigentlichen Interessen als Humanisten entsprach 10 Die wichtigsten Charakteristika dieser humanistischen Durchformung der volkssprachlichen literarischen Kultur hat

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Zu Bembo, Aldo und den Aldinen vgl George H Fletcher: In Praise of Aldus Manutius A Quincentenary Exhibition New York 1995; Brian Richardson: Print Culture in Renaissance Italy The Editor and the Vernacular Text 1470–1600 Cambridge 1994, S 48–63; Marco Santoro: Storia del libro italiano Libro e società in Italia dal Quattrocento al Novecento Milano 1994, S 110–116; Florian Mehltretter: Kanonisierung und Medialität Petrarcas ‚Rime‘ in der Frühzeit des Buchdrucks (1470–1687) Münster 2009, S 81–141 Zum umanesimo volgare vgl Carlo Dionisotti: Gli umanisti e il volgare fra Quattro e Cinquecento Firenze 1968 Zu Filelfo vgl Paolo Viti: Francesco Filelfo In: Dizionario Biografico degli Italiani Hg von Alberto Ghisalberti Bd 47 Rom 1997, S 613–626

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Antonia Tissoni Benvenuti vor einigen Jahren in Erinnerung gerufen 11 Erwähnenswert sind für den hier interessierenden Zusammenhang besonders drei Aspekte: 1 Dichtung in der Volkssprache kann unter bestimmten Voraussetzungen in Analogie zu den großen Werken der Antike (also den ‚Klassikern‘) als kommentarwürdig erachtet werden, und zwar auch unter Rekurs auf Praktiken des Kommentierens, wie sie sich im Humanismus herausgebildet haben; 2 teilweise verloren gegangene bzw vergessene Texte der (volkssprachlichen) Vergangenheit werden, wie etwa das Beispiel der Raccolta Aragonese illustriert, neu zugänglich gemacht – der Aspekt der Wiedergewinnung von zu Verlust Gegangenem, der im Zentrum humanistischer Philologie steht, beginnt also auch für die Dichtung im volgare eine Rolle zu spielen; 3 die Praktiken der Textherstellung richten sich mehr oder minder konsequent an den Standards der humanistischen Philologie aus – ein gutes Beispiel dafür ist die von Bembo besorgte Aldina des petrarkischen Canzoniere: Bembo orientiert sich nicht (wie im Druckereiwesen der Zeit üblich) an bereits vorliegenden Drucken, sondern er arbeitet mit zwei Manuskripten, deren Alter (und damit die Nähe zur Quelle) eigens betont wird, und die er dann mit einem weiteren Kodex abgleicht, auf den er dank seines Bruders Carlo Zugriff erhalten hatte: Es war dies das petrarkische Original des heutigen Vat lat 3195, der nach Petrarcas Tod in den Besitz der Paduaner Familie der Santa Sofia gelangt war 12 Der Text, den Bembo für Aldo erstellte, ist Ergebnis einer konsequenten Kollationierung, die von einer bemerkenswerten philologischen Kompetenz zeugt,13 die der junge Venezianer im Rahmen seiner Zusammenarbeit mit großen Humanisten wie Polizian erworben hatte, mit dem er 1491 die Kollationierung des sog Terenzio bembino vorgenommen hatte 14 Nachdem die Rime Petrarcas und die Commedia Dantes ediert waren, begann Bembo mit der Ausarbeitung seiner Überlegungen zur Normierung der Volkssprache, die sich über einen langen Zeitraum (vermutlich zirka 15 Jahre) hinzogen und die schließlich 1525 mit der Publikation der Prose della volgar lingua zum Abschluss kamen Verglichen mit dem Editionsprojekt vom Jahrhundertbeginn kam es dabei zu einer markanten Neuorientierung: Bembo wollte nämlich nicht bloß die seit langem praktizierte lockere Einbettung der volkssprachlichen Literatur in die humanistische Kultur 11 12

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Antonia Tissoni Benvenuti: Da ‚volgari‘ a ‚classici‘: considerazioni sullo studio degli autori volgari prima di Bembo In: I classici e l’Università umanistica Atti del Convegno di Pavia 22–24 Novembre 2001 Hg von Luciano Gargan, Maria Pia Mussini Sacchi Messina 2006, S 305–325 Den Kodex Vat lat 3195 hat Bembo dann Jahrzehnte später, und zwar 1544, käuflich erworben Vgl Marco Vatasso: Introduzione In: L’originale del ‚Canzoniere‘ di Francesco Petrarca Codice Vaticano latino 3195, riprodotto in fototipia Hg von Biblioteca Vaticana Mailand 1905, S VII– XXXVII, hier S XXVII Stefano Pillini: Traguardi linguistici nel Petrarca bembiano del 1501 In: Studi di filologia italiana 39 (1981), S 57–76; Giuseppe Frasso: Appunti sul Petrarca aldino del 1501 In: Vestigia Studi in onore di Giuseppe Billanovich Hg von Rino Avesani u a Rom 1984, S 315–335; Mehltretter (Anm 8), S 110–119 Vgl Riccardo Ribuoli: La collazione polizianea del codice Bembino di Terenzio Roma 1981

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fortschreiben, sondern er zielte darauf ab, einen veritablen classicismo volgare auf den Weg zu bringen Diese Neuorientierung kennt Gewinner und Verlierer: Der Gewinner heißt Petrarca, der Verlierer Dante 15 Als erstes bringt Bembo, wie zuvor schon Paolo Cortesi, gegen das von Polizian bis Pico dem Jüngeren verfochtene Verfahren der eklektischen Nachahmung das Prinzip der imitatio der Besten in Stellung, und zwar in Analogie zu den Alten: So wie Vergil und Cicero in der römischen Antike (nach Auffassung von Bembo) die großen Modelle für die Dichtungs- bzw die Prosasprache waren, so sollen dies für die Literatur der italienische Gegenwart Petrarca und Boccaccio sein 16 Für jedes Genre – hier Versdichtung, dort Prosaliteratur – gibt es also nur einen Musterautor, und nicht mehrere, wie dies in der Kanonbildung der Antike noch die Regel war 17 Warum Petrarca und Boccaccio? Weil sie Autoren sind, die unangefochtene Geltungsmacht haben Bembo bringt hier das Argument der fama ins Spiel, das wiederum eine Semantik der Zeit impliziert 18 Ansehen ist nämlich nicht von Anfang an gegeben, es kann sich erst im Lauf der Zeit herausbilden Deshalb taugen nur solche Schriftsteller als Modelle, die sich im Verlauf der Zeit durchgesetzt haben und die deshalb auch ein gewisses Alter haben Sie sind also im Rahmen der italienischen Schriftkultur so etwas wie die neuen antiqui Geltungsmacht und Alter gehören somit untrennbar zusammen Alter freilich meint bei Bembo etwas anderes als mythische Ursprünglichkeit Alter, das Vorbildcharakter hat, zeichnet sich nämlich durch zweierlei aus Zum einen bezeugt Alter, wie gerade erwähnt, eine Wertbeständigkeit, die eine wesentliche Basis für Anerkennung ist; zum anderen aber ist Alter auch ein Ausdruck von Reife Mit Petrarca und Boccaccio ist die volkssprachliche Schriftkultur zu einem ersten Höhepunkt gelangt Dies wiederum bildet die Voraussetzung, dass diese Autoren dann als exempla für die weitere Zukunft 15

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Zu Bembos Fiktivisierung der Entstehungsgeschichte der Prose (deren Konzipierung ihr Autor auf das Jahr 1502 zurückdatiert, um auf diese Weise einerseits einen Prioritätsanspruch gegenüber Fortunios Regole grammaticali von 1516 erheben zu können und andererseits eine zeitnahe Korrektur der Erhebung Dantes zum Klassiker, die ja Implikat der Aldine von 1502 war, zu suggerieren) vgl Gerhard Regn: Autorität, Pluralisierung, Performanz – die Kanonisierung des Petrarca volgare In: Questo leggiadrissimo Poeta! Autoritätskonstitution im rinascimentalen Lyrikkommentar Hg von Gerhard Regn Münster 2004, S 7–24, hier S 11 Von Belang ist dabei insbesondere, dass Fortunio noch 1516 Dante uneingeschränkt den Rang eines volkssprachlichen Klassikers zuerkennt – genau diese Position will Bembo mit seinen Prose als obsolet diskreditieren Zu Bembos Theorie der imitatio auctorum vgl Hermann Gmelin: Das Prinzip der imitatio in den romanischen Literaturen der Renaissance In: Romanische Forschungen 46 (1932), S 83–360; Giorgio Santangelo: Il Bembo critico e il principio dell’imitazione Firenze 1950; Wilhelm Theodor Elwert: Il Bembo critico dell’imitazione In: Studi di letteratura veneziana Hg von Wilhelm Theodor Elwert Venezia 1958, S 111–124; Martin L MacLaughlin: Literary Imitation in the Italian Renaissance The Theory and Practice of Literary Imitation from Dante to Bembo Oxford 1995, S 249–274 Vgl Citroni (Anm 6), S 10 Zum Zusammenhang von fama und Semantik der Zeit in Bembos Prose della volgar lingua vgl Andreas Kablitz: Warum Petrarca? Bembos ‚Prose della volgar lingua‘ und das Problem der Autorität In: Romanistisches Jahrbuch 50 (1999), S 127–157

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wirksam werden können Damit ist klar, dass fama, so wie Bembo sie in den Prose versteht, mehr als das brutum factum des schieren Erfolgs ist: fama hat vielmehr auch eine qualitative Dimension Die fiktive Figur des Carlo Bembo, der im Dialog, als der die Prose konzipiert sind, als Sprachrohr des Autors fungiert, bringt dies konzis auf den Punkt: dalla fama si può fare spedito argomento della bontà 19 Fama ist ein Indikator für ästhetischen Wert, der wiederum mit der Kategorie des Alters verknüpft ist Es lohnt, in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass antiquus bereits im Humanismus des Quattrocento, etwa bei Polizian, vor allem als Begriff zur Bezeichnung für die ästhetische Qualität von literarischen Texten in Gebrauch war 20 Im frühen Cinquecento wird dann im europäischen Latein-Humanismus der Begriff des classicus als funktionales Äquivalent von antiquus auf den Plan treten:21 Klassiker sind vorbildlich, deshalb auch nachahmungswürdig, und sie sind zudem Autoren der Vergangenheit Die Qualität, die den beiden Modellautoren zugesprochen wird, wird im Übrigen weniger argumentativ erklärt als vielmehr performativ illustriert, und zwar anhand zahlreicher Beispiele aus den Werken von Boccaccio und, weit mehr noch, von Petrarca,22 die Bembo in seine Abhandlung über die Volkssprache einflicht Die (idealiter laute) Lektüre der zahlreichen Petrarca- und Boccaccio-Zitate soll den Renaissance-Lesern der Prose einen sinnlichen Eindruck von den ästhetischen Vorzügen vermitteln, die die Sprache dieser beiden Modellautoren auszeichnen Bembos Zeitgenossen sollen sich also die Qualitäten der Klassiker mittels einer körperbasierten Rezeption zu eigen machen, indem sie sich diese ‚einverleiben‘ Dies, und nicht die Erlernung von festen Regeln, ist die primäre Ermöglichungsbedingung für gelungene Nachahmung Dieser Sachverhalt ist übrigens ein schöner Beleg dafür, dass Bembo seine Theorie der Nachahmung, die im Dienst der Ausbildung einer klassizistischen Sprachnorm für die Dichtung steht, auch und nicht zuletzt unter Rekurs auf aristotelische Philosopheme konzipiert hat: Der aristotelische Sensualismus ist, wie vor allem Jörg Robert gezeigt hat, für Bembos Nachahmungslehre mindestens genauso wichtig wie die platonisierende Epistemologie, die in der einschlägigen Forschung zu Unrecht meist als alleiniger Referenzhorizont angesetzt wird 23

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Pietro Bembo Prose della volgar lingua In: Ders : Prose e rime Hg von Carlo Dionisotti Zweite erweiterte Ausgabe Turin 1966, II, 2, S 135 Vgl Cecilia Mussini: Apud antiquos La ricostruzione dell’antichità nell’insegnamento di Poliziano In: Imagines antiquitatis Representations, Concepts, Receptions of the Past in Roman Antiquity and the Early Italian Renaissance Hg von Stefano Rocchi, Cecilia Mussini Berlin, Boston 2017 (Philologus Supplemente Bd 7), S 131–153 Vgl Worstbrock (Anm 3), S 439 In den Prose fällt den Petrarca-Zitaten sowohl in qualitativer wie quantitativer Hinsicht der bedeutendste Part zu Vgl dazu Regn (Anm 15), S 8 f Vgl Jörg Robert: Norm, Kritik, Autorität Der Briefwechsel ‚De imitatione‘ zwischen Gianfrancesco Pico della Mirandola und Pietro Bembo und die Nachahmungsdiskussion in der Frühen Neuzeit In: Daphnis 30, H 3 (2001), S 597–644

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Die Illustration der Sprachnorm durch geeignete Beispiele kommt freilich nicht ohne den Rückgriff auf Kategorien aus, welche den zeitgenössischen rhetorischen Doktrinen entstammen, und die nach Auffassung Bembos bereits Petrarca in Anschlag bringt So erinnert Bembo etwa im 4 Kapitel des zweiten Buches der Prose nachdrücklich daran, dass es selbstverständlich gelte, bei der Wahl des Stilniveaus das innere Gegenstandsdekorum24 angemessen in Anschlag zu bringen, so wie dies die Regeln der Rhetorik in der klassischen Antike verlangen 25 An späterer Stelle wird dann vor allem auch die Observanz des äußeren, also des sozialen, Dekorums eingefordert: Texte, die für sich ein klassizistisches Gepräge reklamieren, dürfen keinesfalls die Vorstellungen von Ziemlichkeit verletzen, die in der Zielgruppe, an die sie sich richten, Gültigkeit haben In gesitteten (und das heißt: in sozial gehobenen) Kreisen ist vieles unsagbar, vor allem alles Krude 26 Wie man sieht, bringt das soziale Dekorum die Klassenzugehörigkeit als Kriterium für die rechte ‚klassizistische‘ Sprachverwendung ins Spiel und schlägt so, wenn auch unausgesprochen, den Bogen zum ersten bekannten Beleg von classicus, den die Noctes Atticae dokumentieren, und der stilistische Vollkommenheit und sozialen Rang miteinander in Verbindung bringt 27 Die Verweise auf die Regeln des Dekorums, die wiederum auf die damals noch vorherrschende Lehre von den drei Stilen bezogen werden,28 sind in jeder Hinsicht zu erwarten – man wäre überrascht gewesen, wenn sie unterblieben wären Nicht zu erwarten ist dagegen, dass die allbekannten Regeln des Gegenstandsdekorums durch eine aus Sicht des frühen Cinquecento innovative Positionierung tradierter Stilkategorien überlagert und in den Hintergrund gedrängt werden Dies geschieht unter Rekurs auf den Klassiker Cicero, der dadurch als primärer Referenzautor für den neuen Klassizismus der Renaissance in Dienst genommen wird Die entscheidenden Ausführungen 24 25

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Gemeint ist die Angemessenheit von dargestelltem Thema und Stil der Darstellung Bembo (Anm 19), II, 19, S 172 f : „Potrebbesi a queste tre parti […], al suono, al numero, alla variazione, […] aggiungere ancora […] il decoro […] Con ciò sia cosa che da servare è il decoro degli stili, o convenevolezza che più ci piaccia di nominare questa virtù“; Prose II, 4, S 137: „Da scegliere dunque sono le voci, se di materia grande si ragiona, gravi, alte, sonanti, apparenti, luminose; se di bassa e volgare, lievi, piane, dimesse […]“; Prose II, 21, S 179: „Ma questa voce Signorso, […] bassissima voce [è] e per poco solo dal volgo usata, e per ciò non meritevole d’aver luogo negli eroici componimenti“ In Bembo (Anm 19), II, 5, S 137–139, kritisiert Carlo Bembo, der als Bruder des Autors die Rolle des princeps sermonis innehat, Dante dafür, dass er anstößige Themen unter Einsatz von „parole rozze e disoneste“ beschreibt anstatt sie, sofern ihm gefällige und gesittete Formulierungen nicht zur Hand sind, ungesagt zu lassen: „E se pure aviene alcuna volta, che quello che noi di scrivere ci proponiamo, esprimere non si può con acconcie voci, ma bisogna recarvi le vili o le dure o le dispettose, […] da tacere è quel tanto, che sporre non si può acconciamente“ Vgl Citroni (Anm 6), S 3 f Der berühmte Gellius-Passus, in dem classicus in Opposition zu proletarius steht, findet sich in Aulus Gellius, Noctes Atticae 19, 8, 15 Wenig später wird die Dominanz der Dreistillehre durch die Propagierung der Vierstillehre des (Pseudo)Demetrios ebenso wie durch die Verbreitung von Hermogenes’ Konzept der sieben Stile aufgebrochen Vgl Hermann Grosser: La sottigliezza del disputare Teorie degli stili e teorie dei generi in età rinascimentale e nel Tasso Firenze 1992

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stehen im 9 Kapitel des 2 Buches der Prose Dort bringt Bembo den Leitsatz seines Programms mit größtmöglicher Prägnanz zu Papier: due parti sono quelle che fanno bella ogni scrittura, la gravità e la piacevolezza (Prose II, 9, 146) Gravità umfasst Kategorien, welche die Bandbreite des genus grande abstecken, genannt werden l’onestà, la dignità, la maestà, la magnificenza, la grandezza (ebd ); unter piacevolezza dagegen werden la grazia, la soavità, la vaghezza, la dolcezza (ebd ) subsumiert, also Dinge, die in der Rhetoriktradition als Ausprägungen des mittleren Stils gelten Die Vortrefflichkeit der Literatur resultiert somit aus der gelungenen Verbindung von typischen Realisierungsmöglichkeiten des mittleren und des hohen Stils Das genus humile oder, sofern man es in der Diktion des volkssprachlichen Mittelalters sagen möchte, der stile comico wird dagegen ausgegrenzt Dabei hat Bembo insbesondere diejenige Dimension der Sprache im Auge, die die klangästhetische Seite der Literatur betrifft: Er nennt suono und numero, wobei der letztgenannte Terminus die Verflechtung von Akzent und Silbenzahl meint In den Prose geht es in der Tat über weite Strecken darum, zu zeigen, wie das optimale Zusammenspiel von gravità und piacevolezza vor allem einen in seinen Klangwirkungen vollkommenen Text hervorbringen kann Dazu muss, mittels der ästhetischen Urteilskraft, welche den Wechsel zwischen Anmut und Würde steuert, die variazione als drittes Kriterium neben Klang und Zahl zum Einsatz gebracht werden: le cose poi, che empiono e compiono queste due parti [della gravità e della piacevolezza], son tre: il suono, il numero, la variazione (ebd ) Das stimmige Ineinander von gravità und piacevolezza ist also die Ermöglichungsbedingung für die Hervorbringung des ästhetisch perfekten Sprachkunstwerks, wobei Vollkommenheit das Resultat einer Einheitlichkeit ist, die doch zugleich so facettenreich ist, dass sie vermittels der variazione das Negativum des Überdrusses (sazietà, Prose II, 4, 137) vermeidet Vollkommenheit ist also Ergebnis des rechten – und das heißt: des harmonischen – Maßes, in dem das Potential zweier gegensätzlicher Pole zum Ausgleich gebracht ist Diese perfekte Mitte ist freilich nicht das, was die (mittelalterliche) Schulrhetorik als mittleren Stil bestimmt Die neue perfekte Mitte besteht vielmehr im Ausgleich zwischen dem hohen und dem mittleren Stil, sie verwirklicht sich als ein abgesenkter hoher oder, aus anderer Perspektive, als ein gehobener mittlerer Stil Entscheidend ist dabei weniger die Denomination als vielmehr die Legitimierung durch die klassische Antike Bembo hat sein Modell des vollkommenen literarischen Sprachgebrauchs vermutlich an den Überlegungen ausgerichtet, die Cicero in seinem Brutus zum idealen Stil angestellt hat Dort gibt Cicero zu verstehen, dass vor allem eine nobilitierte mediocritas anzustreben sei, also ein Stil, der attische ‚Magerkeit‘ und asianischen Überfluss ausgewogen miteinander verbindet Doch dies ist nicht alles Insbesondere mit seiner Forderung, dass gravità und piacevolezza mit Blick auf die Entfaltung des optimalen Wirkungspotentials von suono und numero auszubalancieren seien, zitiert Bembo direkt die normativen Vorgaben, die Cicero macht, und zwar von allem im Orator Von Belang ist insbesondere Orator 54, 182 (compositio […] tota servit gravitati vocum aut suavitati) sowie Orator 49, 163 (duae sunt igitur res quae permulceant auris: sonus

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et numerus) Der demonstrative Rekurs auf Cicero macht deutlich, dass für Bembo die Implementierung der in den Prose formulierten Stilnorm für die Literatur in der Volkssprache Resultat der Applikation von Kriterien ist, die aus der klassischen Antike stammen Erst die humanistische Gelehrsamkeit, die nach zeitgenössischer Meinung Petrarca auf den Weg gebracht hat, hat demnach die Voraussetzungen für eine Nobilitierung der Volkssprache aus dem Geist der rhetorischen Kultur der Antike geschaffen Mit anderen Worten, das Modell einer italienischen Literatursprache, dem Bembo Geltung verschaffen möchte, steht nicht bloß in einer funktionalen Analogie zur lateinischen Antike – in einem solchen Fall wären Petrarca und Boccaccio die ‚neuen Alten‘, die nunmehr die Position einnehmen würden, die nach Bembos Auffassung Vergil und Cicero in der römischen Kultur innehatten, freilich ohne dass ihre Werke deshalb hinsichtlich ihrer sprachästhetischen Gestaltung direkte Entsprechungen mit jenen Autoritäten der Antike aufweisen müssten, deren funktionale Äquivalente sie sind Vielmehr ist Bembos Intention weiterreichend Für ihn müssen die Normen, die die Aufwertung der Volkssprache zu einer ‚erstklassischen‘ Literatursprache überhaupt erst ermöglichen, direkt auf Kriterien basieren, welche die vorbildlichen Alten einst im Rahmen ihrer rhetorisch-poetologischen Kultur herausgearbeitet haben, und die dann, wie eben schon erwähnt, die Humanisten wieder neu zugänglich gemacht haben Die ‚neuen Alten‘ zeichnen sich für Bembo demnach dadurch aus, dass sie ein besonderes Gespür für die wahre Natur der antiken Klassiker gehabt hatten Vor allem Petrarca galt ja, nicht zuletzt dank seiner erfolgreichen Selbstvermarktung, zu der übrigens ganz wesentlich sein Briefwechsel mit Boccaccio beigetragen hat,29 seit jeher als der Erneuerer der studia und damit als Vater des Humanismus 30 Eben dieses ausgeprägte Sensorium für die der antiken Literatur immanenten (und im rhetorischen Schrifttum reflektierten) ästhetischen Vorstellungen war eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass sowohl Petrarca wie Boccaccio ihrer eigenen Literatur im volgare eine bis dahin ungekannte Eleganz zugewinnen konnten Die Norm, die Bembo für die Volkssprache implementieren will, ist so beschaffen, dass der Dante der Commedia als ihr exemplarischer Repräsentant ausfallen muss In Dantes Jenseitsgedicht kommt eine werkkonstitutive Bedeutung bekanntlich der genuin mittelalterlichen Poetik der Stilmischung zu, die wiederum in diametralem

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Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die umfangreiche Epistel Sen 17 2, in der Petrarca mit offen zur Schau getragenem Stolz seine Rolle als Erneuerer der studia herausstellt 1533, also nur einige Jahre nach der Publikation der Prose, stilisiert Gesualdo mit großem Nachdruck Petrarca zum Erneuerer der studia humanitatis In der Einleitung zu seiner kommentierten Ausgabe der Rime (Canzoniere und Trionfi) hält er (mittels terminologischer Anleihen bei Petrarca) fest: „Egli fu il primo che […] da profonde e lunghe tenebre a guisa d’un luminoso Sole richiamò in aperta e viva luce le buone lettere latine“, Giovan Andrea Gesualdo: Il Petrarcha Venezia 1533, f b4r Gesualdo möchte auf diese Weise wie schon zuvor Bembo die innere Zusammengehörigkeit von Petrarcas lateinhumanistischem Schaffen und seiner volkssprachlichen Dichtung in den Blick rücken

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Gegensatz zur Idee einer maßvoll-harmonischen Einheitlichkeit steht, die mittels ihres Facettenreichtums zwar sorgsam jedes taedium vermeidet, zugleich aber extreme Registerwechsel ausschließt Verknüpft mit der Stilmischung ist bei Dante der Hang zu Neologismen, die durch keinen Usus gedeckt sind, sowie die Tendenz zum klanglichen Expressionismus, der vor allem mit seinen voc[i] dur[i] e spiacevol[i] (Prose II, 5, 139) einen markanten Kontrast zu jener Euphonie bildet, die für Bembo von herausragender Bedeutung ist Zum Mangel an harmonischer Einheitlichkeit und zum fehlenden Wohlklang gesellt sich darüber hinaus die beständige Verletzung des sozialen Dekorums durch die zahlreichen voci […] vili […] o dispettose (Prose II, 5, 138), wie zum Beispiel bei Dantes Vergleich der scabbiosi, die sich kratzen, mit der scardova, also einem Fisch, dem der Koch mit seinem Messer die dicken Schuppen abschabt (Inf XXIX, 82 f ) Abstoßende Dinge wie diese, so Bembos Fazit, sollten besser ungesagt bleiben, doch bedauerlicherweise sei die Commedia voll davon Disharmonie, Exzess, Ungeschliffenheit und Mangel an convenevolezza sind nach Bembos Meinung wesentliche Charakteristika von Dantes Sprachgebrauch Es ist deshalb zwangsläufig, dass Dante in den Prose von 1525 den Rang eines Klassikers aberkannt erhält, den Bembo ihm noch 1502, und zwar durch die Aufnahme der Commedia in die aldinische Klassikerreihe, zugesprochen hatte Die Herausnahme Dantes aus dem Kanon der Musterautoren ist zugleich Indiz eines grundsätzlich veränderten Literaturverständnisses Für einen Klassizisten wie Bembo bemisst sich die Geltung von Literatur nicht mehr nach dem Gewicht ihrer Inhalte, oder, in zeitgenössischer Terminologie, ihrer dottrina, sondern an der Güte ihrer Form Bezüglich der dottrina behält Dantes Commedia zwar ihre Bedeutung,31 gleichzeitig aber büßt sie ihren Rang als literarisches Vorbild ein Die Autorität der Form schiebt sich so vor die Geltungsmacht der Inhalte Dies impliziert unter anderem, dass die klassizistische Form in ihrer Eigenschaft als Abglanz des Ideal-Schönen einerseits einen ontologischen Wert erhält, und dass ihr andererseits aber zusätzlich noch ethische und damit unmittelbar lebenspraktische Qualitäten zuwachsen Die moralische Verhaltensnorm der aurea mediocritas32 manifestiert sich auch und nicht zuletzt in der Gestalt einer Literatur, die sich an Normen orientiert, die den Alten abgewonnen sind Die Sprachkunst, die Bembo im Auge hat, befindet sich somit

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Bembo zweifelt nie die „grandezza del soggetto“ (Prose II, 20, S 176) der Commedia an Wäre das Gewicht des Inhalts Maßstab der literarischen Bedeutung, dann wäre Dante ohne jede Frage ein „grande e magnifico poeta“ (Prose II, 2, S 129) Doch Bembos ganze Argumentation zielt auf den Nachweis ab, dass das Kriterium des dargestellten Inhalts nicht ausschlaggebend und deshalb dem Gesichtspunkt formaler Perfektion nachzuordnen ist Die Vorstellung von Dante als Autor der dottrina und Petrarca als Dichter formaler Vollkommenheit zirkuliert bereits im späten Quattrocento und behält für das gesamte Cinquecento (fast) uneingeschränkte Gültigkeit Vgl dazu im Detail Bernhard Huss: ‚Esse ex eruditis qui res in Francisco, verba in Dante desiderunt‘ Francesco Petrarca in den Dante-Kommentaren des Cinquecento In: Questo leggiadrissimo Poeta! (Anm 15), S 155–187 Horaz, Carmina 2, 10, 5

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in vollkommener Entsprechung zum Raffinement eines höfischen Verhaltenskodexes, der eine unangestrengte und damit ‚natürliche‘ Eleganz, die Würde und Anmut perfekt verbindet, zur alles bestimmenden Orientierungsgröße macht Dies bedeutet freilich nicht, dass der volkssprachliche Klassizismus ausschließlich über seine Abhängigkeit von der Antike zu definieren wäre Im Gegenteil Der Einklang mit den rhetorisch-poetologischen Normen der lateinischen Antike stellt lediglich sicher, dass sich die Schriftsteller, die sich der Volkssprache bedienen, in optimaler Weise die ihnen gemäßen Ausdrucksmöglichkeiten erschließen können Es wäre nämlich unpassend, wenn sich die Italiener der Gegenwart auf Latein und nicht in ihrer Muttersprache ausdrücken würden Im Begriff der convenevolezza, den Bembo in diesem Zusammenhang (Prose I, 5, 82) wie auch anderswo in seinem Dialog über die Volkssprache bemüht, sind rhetorische und soziale Norm unter dem Rubrum der Vortrefflichkeit enggeführt Doch dies ist nicht alles: Die Italiener, die von den Alten gelernt haben, brauchen diesen gegenüber nicht nur nicht zurückstehen, sondern sie können sogar neue und bis dahin nie erreichte ästhetische Standards setzen So wie die Römer mit Blick auf das, was sie von den Griechen lernen konnten, mit ihrer lateinischen Literatur bis dahin unerreichte Gipfel erklommen hätten, so hätten dies nach den Römern die Italiener getan Den Beleg dafür liefern die beiden toskanischen Klassiker des Trecento, an denen, so zumindest Bembos Vorstellung, sich deshalb auch die eigene cinquecenteske Gegenwart auszurichten habe, und zwar mit dem Ziel einer weiteren Mehrung von Ansehen und Geltung Bembo evoziert das Kulturmuster der translatio, um seinen classicismo volgare als einen Gipfelpunkt kultureller Entwicklung erscheinen zu lassen: Erst die Griechen, dann die Römer und schließlich die Italiener, die sich an ihren toskanischen Klassikern orientieren 33 Dies ist ein Frontalangriff auf den Lateinhumanismus, dem solcherart bedeutet wird, dass er in Hinblick auf die von Bembo skizzierte „Ökonomie des Ruhms“34 ausgedient hat: Die effiziente Mehrung kulturellen Prestiges findet nunmehr im volgare statt 35 Eine bislang nicht gekannte Vortrefflichkeit erlangt das klassizistisch durchformte Italienisch vor allem in einem bestimmten Bereich, der aber für Bembo höchste Priorität hat Die Rede ist von der – schon erwähnten – klanglichen Dimension der Sprache Diese findet ihre optimalen Entfaltungsmöglichkeiten nicht in der Prosa, sondern in der Poesie Am deutlichsten zeigt sich das in Hinblick auf den Reim, den die Antike ja 33 34 35

Vgl bes Bembo (Anm 19), I, 5, S 81–83 Kablitz (Anm 18), S 133 Bembos Argumentation greift Gesualdo in der Einleitung seines großen Petrarca-Kommentars auf: „E perché [il Petrarca] vedeva il suo stile Thoscanamente essere in pregio, non possendo mica Latinamente ne alle prose ne ai versi degli antichi aggiungersi dai moderni ingegni, hebbe un tempo in animo di spendere il suo studio nella materna lingua“ (Gesualdo [Anm 30], f a7r ) Das Unverständnis seiner Zeitgenossen habe ihn jedoch letztlich entmutigt, so dass der Canzoniere unvollendet geblieben sei

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nicht kannte Wenn man dies in Rechnung stellt, wird verständlich, weshalb Boccaccio in den Prose gegenüber Petrarca in den Hintergrund tritt – Boccaccio, der im Unterschied zu Petrarca gelegentlich auch mit durchaus deutlichen Worten kritisiert wird,36 hat deshalb im Vergleich mit dem Laura-Dichter nur den Status einer „halben Autorität“ 37 Die Fokussierung eines Stilideals, für das der Klang von konstitutiver Bedeutung ist, bewirkt nicht nur, dass die Exemplifizierung des schlechthin Vortrefflichen weit seltener unter Rückgriff auf Boccaccio als auf Petrarca erfolgt; sie hat auch zur Folge, dass, ganz im Unterschied zu den Präferenzen des Quattrocento, nunmehr die epischen (und in terza rima verfassten) Trionfi gegenüber dem lyrischen Canzoniere in den Hintergrund treten 38 Wichtig ist dabei, dass die Musikalität, die von jeher mit der Gattung der Lyrik assoziiert war, sich von der Instrumental- und Gesangsbegleitung auf die ‚Musik‘ der Sprache verschoben hat Dass in diesem Zusammenhang neben dem Sonett insbesondere die Gattung der Kanzone mit den spezifischen Möglichkeiten, die aus der heterometrischen Struktur dieser Gedichtform resultieren, eine besonders prominente Rolle spielt, sei nur am Rande erwähnt Bembo weist in den Prose dem petrarkischen Canzoniere eine zentrale Stellung zu Die Anlage seiner Abhandlung über die Volkssprache lässt freilich aus systematischen Gründen nicht zu, dass diese Bevorzugung der Lyrik auch explizit zum Gegenstand gattungspoetologischer Erörterung werden kann Gleichwohl hat die stillschweigende Priorisierung der Lyrik weitreichende Folgen für das Verhältnis Petrarcas zu den Klassikern der Antike Dies wird deutlich, wenn man den Blick weitet und die Diskussion in die Betrachtung einbezieht, die im unmittelbaren kulturellen Kontext der Prose geführt wurde 39 Worum geht es? Um nichts weniger als eine Kanonisierung, die mit dem Lyriker Petrarca einen Autor der Nachantike gleichberechtigt in die Phalanx der großen antiken Musterautoren einreiht 40 Einen ersten Fingerzeig in diese Richtung gibt bereits die Neuauflage der aldinischen Petrarca-Ausgabe, die 1514, also im direkten zeitlichen Umfeld der Ausarbeitung der Prose,41 auf den Markt kam Dort gibt der Verleger Aldo Manuzio in seinem Widmungsschreiben an Desiderio Curzio zu verstehen, dass Petrarca in seinen lateini36 37 38 39 40 41

Vgl Bembo (Anm 19), II, 19, S 175: „Che quantunque del Boccaccio si possa dire, che egli nel vero alcuna volta molto prudente scrittore stato non sia; con ciò sia cosa che gli mancasse talora di giudizio nello scrivere, non pur delle altre opere, ma nel Decamerone ancora […] “ Regn (Anm 15), S 9 Gesualdo etwa stuft die Trionfi als bloßen Appendix des Canzoniere ein (Gesualdo [Anm 30], ff aa ii, r–v) Vgl dazu auch Catharina Busjan: Petrarca-Hermeneutik Die Kommentare von Alessandro Vellutello und Giovan Andrea Gesualdo im epochalen Kontext Berlin, Boston 2013, S 197–199 Vgl dazu im Detail die Beiträge des Sammelbandes Questo leggiadrissimo Poeta! Autoritätskonstitution im rinascimentalen Lyrikkommentar (Anm 15) Vgl näherhin Gerhard Regn: I nuovi antichi Classicismo e petrarchismo fra Bembo e Tasso In: Imagines antiquitatis (Anm 20), S 155–172, hier S 164–169 Spätestens 1512 zirkulierte in Bembos Freundeskreis ein Entwurf der ersten beiden Bücher der Prose Vgl Brian Richardson: Introduzione In: Giovan Francesco Fortunio Regole grammaticali

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schen Werken mit den Großen der Antike nicht mithalten konnte, dass er ihnen aber in seinen italienischen ebenbürtig war Die Bemerkung endet, erneut mit Blick auf die Ökonomie des Ruhmes, mit dem Hinweis, dass es völlig ausreichend sei, in nur einem Bereich der Beste zu sein: Satis est igitur in uno excellere Vergilius Maro summus est heroicis versibus M Tullius prosa oratione, poeta hic tuus [d i Petrarca] thuscis carminibus 42 Wenige Jahre nach dem Druck der Prose wird dann Gesualdo in der Einleitung zu seiner monumentalen Petrarca-Ausgabe von 1533 noch viel deutlicher Er stellt unmissverständlich klar, dass mit den toskanischen carmina, die den Alten den Rang ablaufen, der lyrische Canzoniere gemeint ist und nicht die epischen Trionfi Mit anderen Worten: Auf dem Feld der Lyrik, und zwar insbesondere der Liebeslyrik, die ja Quell des späteren Petrarkismus sein wird, habe Petrarca alle anderen Dichter, die der römischen wie auch die der griechischen Antike, übertroffen: né greco, né latino poeta ho letto anchora, che agguagliarse li possa 43 Es geht also nicht bloß um Gleichrangigkeit mit den Alten, sondern um deren unverhohlene Überbietung: Wahrhaft ‚erstklassisch‘ wird die Gattung der Lyrik erst in Petrarca als ihrem herausragendsten volkssprachlichen Repräsentanten Ganz auf der konzeptuellen Linie vom Bembo begnügt sich Gesualdo also keineswegs damit, Petrarca bloß in den (höchst selektiv gehaltenen) Kanon vortrefflicher Lyriker der Antike einzureihen Dies hatte bekanntlich noch Horaz getan, indem er für sich als römischer Autor den Anspruch erhob, den kanonisierten griechischen lyrikoí zugerechnet zu werden, wodurch der Kanon der lyrischen Klassiker von 9 auf 10 Autoren erweitert wurde 44 Gesualdo geht es weniger um Petrarca als Teil eines in der Tradition der Antike verankerten Kanons als vielmehr um dessen exklusive Rolle als optimus der Gattung Als Bester der Besten habe Petrarca, so Gesualdo, sogar den großen Pindar übertroffen, von dem Horaz gesagt habe, dass er unnachahmbar sei 45 Er erhebt Petrarca zum größten Lyriker, der alle in der Antike kanonisierten Repräsentanten dieser Gattung überragt Wie groß dabei die Nähe zu Bembo ist, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass auch er die Verbindung von piacevolezza und gravità zu einem Markenzeichen des Klassikers Petrarca macht, und zwar indem er die Exzellenz von Stesichoros, der unter den kanonisierten Lyrikern der Meister der gravità gewesen sei,

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della volgar lingua Hg von Brian Richardson Rom, Padua 2001, S XXII Zu weiteren Details der Entstehungsgeschichte der Prose vgl oben, Anm 15 Gesualdo (Anm 30), ff ai–ii Vgl dazu im Einzelnen Mehltretter (Anm 8), S 119–126 Gesualdo (Anm 30), f c3v Zum lyrischen Kanon der Antike und der Rolle von Horaz vgl Oliver Primavesi: Aere perennius? Die antike Transformation der Lyrik und die neuzeitliche Gattungstrinität In: Sprachen der Lyrik Von der Antike bis zur digitalen Poesie Hg von Klaus W Hempfer Stuttgart 2008, S 15–32 Seinen Anspruch auf Integration in den Kanon der großen Lyriker formuliert Horaz in Carm 1, 1, 35 f Gesualdo (Anm 30), f c3v: „il quale [d i Pindar] disse Horatio non potersi imitare “ Ebd , f c3r–v, die Aufzählung der Punkte, in denen Petrarca sich mühelos mit Pindar messen kann („fiume d’eloquentia“, „copia di cose e di parole“, „gravi sentimenti“) Dass Horaz die Unmöglichkeit, Pindar adäquat nachzuahmen, lediglich auf die Metren der freien Strophenformen bezieht, ignoriert Gesualdo geflissentlich

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mit der von Simonides verbunden habe, der wie kein anderer der lyrikoì poietaí im Bereich der piacevolezza brilliert habe Mit dieser Priorisierung des Laura-Dichters wirkt der neapolitanische Gelehrte als italienischer Trend-Setter Schon ein paar Jahre später wird Bernardino Daniello, der seine kulturelle Prägung Trifon Gabriele verdankt46 und folglich dem kulturellen Umfeld des bembismo zuzurechnen ist, die These von der lyrischen ‚Erstklassigkeit‘ Petrarcas in seiner Edition der Rime in abgewandelter Form bekräftigen Daniello betont insbesondere Petrarcas Spitzenstellung im elegischen Fach, das damals häufig als das wichtigste Charakteristikum seiner Liebeslyrik angesehen wurde Mit Blick auf die großen lateinischen Elegiker, die Daniello wie viele seiner Zeitgenossen (und im Unterschied zu den Usancen der Antike) stillschweigend den Lyrikern zuschlägt,47 heißt es unter Berufung auf zwei humanistisch geschulte Autoritäten über den Laura-Dichter: non pur uguale, ma fu di gran lunga superiore, come col testimonio del Pontano soleva il dottissimo Sannazzaro affermare 48 Die Vorstellung von der Erstrangigkeit des Petrarca lirico hält sich bis zum Ende des Jahrhunderts Mehr noch, sie geht sogar in die systematische Gattungs-Poetik ein, die dem poetologischen Aristotelismus des Secondo Cinquecento sein spezifisches Gepräge verleiht Der prominenteste Beleg findet sich bei Torquato Tasso In den 1594 publizierten Discorsi del poema eroico wird der Sänger Lauras zum König der Lyriker gekrönt Als Zeichen von Petrarcas Exzellenz führt Tasso Petrarcas meisterhaften Umgang mit der Stilqualität der vaghezza ins Feld, die ihm als Chiffre für das Wesen der Gattung dient 49 Während die Antike den besten Epiker aufzubieten hat, kann die Nachantike mit dem besten Lyriker punkten: Vergilio superò tutti i poeti eroici di gravità, il Petrarca tutti gli antichi lirici di vaghezza 50 Bei flüchtiger Betrachtung scheint Tassos Fokussierung der lyrischen vaghezza, die ja der epischen gravità gegenüber gestellt ist, Bembos klassizistischem Ideal einer Ausbalancierung von piacevolezza und gravità rundheraus zu widersprechen Bei genauerem Zusehen freilich zeigt sich, dass dem 46 47

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Vgl Gino Belloni: Laura tra Petrarca e Bembo Studi sul commento umanistico-rinascimentale al ‚Canzoniere‘ Padova 1992, S 226–283 Zur Neubestimmung der Elegie als einer bestimmten Spielart der Lyrik (oder vielleicht besser: als einer spezifischen Tonalität innerhalb eines nunmehr generisch konzipierten und nicht mehr auf die Gattung der Ode eingeschränkten Lyrikbegriffs) in der italienischen Renaissance vgl Bernhard Huss u a : Lyriktheorie(n) der italienischen Renaissance Berlin, Boston 2012, S 8–11 Bernardino Daniello: Sonetti, Canzoni e Triomphi di Messer Francesco Petrarcha, con la spositione di Bernardino Daniello da Lucca Venezia 1541, f *3r Daniello vergisst dabei nicht, darauf hinzuweisen, dass die Vortrefflichkeit Petrarcas aus der umsichtigen Nachahmung der Alten erwachsen sei: Man könne gar nicht genug loben, „con quale giuditio […] [il Petrarca] de’ Poeti latini si servisse, come di Catullo, Tibullo, e Propertio, […] di Vergilio, d’Horatio, d’Ovidio […], e di molti altri che soverchio sarebbe annoverare“, ebd Dass Petrarca auch alle volkssprachlichen Lyriker übertroffen habe, wird, da es sich gewissermaßen von selbst versteht, nurmehr noch beiläufig erwähnt Zu Tassos Theorie der Lyrik, unter Berücksichtigung der Rolle der vaghezza, vgl Huss u a (Anm 47), S 102–129 Torquato Tasso: Scritti sull’arte poetica Hg von Ettore Mazzali Turin 1977, S 341 f

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nicht so ist, ganz im Gegenteil Vielmehr impliziert der idealtypische Stil der Lyrik, den Petrarca nach Tassos Meinung so mustergültig verwirklicht hat, dass keiner der Alten mit ihm konkurrieren kann, ganz wie bei Bembo das Austarieren von hoher und mittlerer Stillage: Tasso führt diesen Gedanken vor allem in La Cavaletta ovvero della poesia toscana aus In diesem Dialog über die volkssprachliche Lyrik expliziert er die Unabdingbarkeit einer Mischung (Tasso spricht von mistione) von gravità und piacevolezza Dass diese Forderung nach einem Zusammenspiel vom hohen und mittleren Stil in der gleichen Begrifflichkeit formuliert wird, die Bembo gebraucht, wenn er Petrarca als Vorbild für die klassizistische Dichtungssprache der Renaissance präsentiert, ist kein Zufall Denn auch für Tasso ist der Lyriker Petrarca ein Klassiker par excellence nicht zuletzt, weil er die dafür konstitutiven Stilprinzipien, die Bembo aus dem rhetorischen Denken der Antike herauspräpariert hat, seinerseits in Rechnung stellt 51 Für Bembo ist Petrarca zunächst einmal nur der Modellautor der metrisch gebundenen Dichtungssprache Diese Vollkommenheit hat er in den Augen Bembos und seiner Zeitgenossen aber vor allem in einer ganz spezifischen Gattung erreicht, eben der volkssprachlichen Lyrik, die mehr als alle anderen Genres der Poetik des Wohlklanges Möglichkeiten eröffnete, die den Alten nicht zur Verfügung gestanden hatten Petrarca hat also, so die implizite Argumentation von Bembo und seiner Gefolgsleute, vor allem die Lyrik und die für sie konstitutive Sprache als ein fruchtbares Terrain für den Gewinn einer fama erkannt, die Geltung über den Tag hinaus verspricht Für die Gelehrten der Renaissance, für die Fragen des Kanons und der Kanonisierung von eminenter Bedeutung waren, hat Petrarca damit Eminentes vollbracht Er hat es aus dem Geist der renovatio heraus vermocht, die vorbildlichen und eigentlich für unerreichbar gehaltenen Alten in der noch jungen Volkssprache zu übertrumpfen, indem er die Lyrik, und hier insbesondere die Liebeslyrik, zu einer bis dahin ungekannten Perfektion gebracht hat Die Idee der renovatio wird für Bembo und die vielen, die ihm direkt oder indirekt gefolgt sind, dank Petrarca zum Instrument einer Selbstbehauptung gegenüber der Antike, die sich nicht in bloßer Nachahmung erschöpft Sie wird zur Figur einer literarisch-kulturellen Moderne, die die Antike im vollen Bewusstsein ihrer Möglichkeiten zur Legitimierung ihres eigenen Wertes nutzt: Eine Kultur, die in der ihr konvenienten Sprache, also im volgare, einen Klassiker wie Petrarca hervorgebracht hat, der gleichberechtigt neben den Besten der Alten steht, hat eine glänzende Zukunft, sofern sie ihre eigenen Klassiker nur recht für sich zu nutzen weiß Dies war die große Mission des klassizistischen Petrarkismus, den dann spätere Epochen gänzlich unhistorisch zur „malattia cronica“ der italienischen Literatur degradieren sollten 52

51 52

Zum Zusammenspiel von piacevolezza und gravità in der Lyriktheorie Tassos (unter Berücksichtigung der Beziehung zu Bembo) vgl Huss u a (Anm 47), S 125–128 Diese berühmt gewordene Pathologisierung des Petrarkismus stammt von Arturo Graf: Attraverso il Cinquecento Torino 1888, S 342 f

Bembos Rime im Horizont des Renaissanceklassizismus Dietrich Scholler (Mainz) Bevor sich auf dem Feld der italienischen Lyrik ein rinascimentaler Klassizismus ausbilden konnte, bedurfte es volkssprachlicher Klassiker Als solche galten und gelten Boccaccio und Petrarca ‚Gemacht‘ wurden diese Klassiker in Pietro Bembos sprachpflegerischer Abhandlung Prose della volgar lingua aus dem Jahr 1525 1 Darüber hinaus verdanken sie ihren Klassiker-Status der zeitgenössischen Buchmarktpolitik2 und nicht zuletzt der Tatsache, dass es im italienischen Cinquecento eine beachtliche Zahl volkssprachlicher Humanisten gab, die sich in Wortwahl, Grammatik und Rhetorik an diesen neuen Klassikern ausrichteten und dafür sorgten, dass die toskanische Varietät des Trecento sich zum schriftlichen Standard des Italienischen entwickeln sollte 3 Diese und weitere ideelle und materielle Voraussetzungen bilden in der Summe ein Apriori für die Herausbildung des volkssprachlichen Renaissanceklassizismus im sechzehnten Jahrhundert Pietro Bembo nimmt in diesem Prozess eine doppelte Rolle ein: Einerseits ist er als Philologe und Publizist maßgeblich für die Kanonisierung Petrarcas als dem italienischen Musterautor verantwortlich, andererseits beteiligt er sich mit einem petrarkisierenden Gedichtzyklus auch als Dichter aktiv an der Befestigung und Verbreitung des petrarkischen Sprach- und Stilmodells Ich möchte im Folgenden nicht weiter auf die Kanonisierung des Klassikers ‚Petrarca‘ eingehen, sondern am Beispiel der Auftakt- und Schlusssonette die Frage aufwerfen, inwiefern sich aus Bembos Petrarca-Nachahmung Elemente und Strukturen einer klassizistischen Poetik in volgare ergeben könnten

1 2 3

Vgl hierzu ausführlich Simona Oberto: Poetik und Programmatik der akademischen Lyrik des Cinquecento Heidelberg 2016, insbes S 29–99 Vgl Florian Mehltretter: Kanonisierung und Medialität Petrarcas ‚Rime‘ in der Frühzeit des Buchdrucks (1470–1687) Münster 2009 Vgl Giancarlo Mazzacurati: Misure del classicismo rinascimentale 2 Auflage Neapel 1990

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Dietrich Scholler

Die Auftakt-Sonette Wie jüngst Simona Oberto (2016) festgestellt hat, finden wir in Bembos Prose della volgar lingua wenig Erhellendes zur materia der italienischen Liebesdichtung Immerhin erfahren wir aufgrund wiederkehrender Dante-Invektiven, was in einer klassizistisch gedämpften Lyrik nicht dargestellt werden sollte, nämlich abstoßende Sujets wie etwa augenfällige Krankheiten Darüber hinaus werden auch gelehrte Gegenstände aus dem Kanon der sieben freien Künste nicht als darstellungswürdig angesehen Zuviel dottrina ist schädlich Aber auch wenn Bembo uns die Benennung möglicher literarischer Stoffe schuldig bleibt und damit eine eklatante Leerstelle in den Prose hinterlässt, zeigt sich in seiner literarischen Praxis, dass er die materia der petrarkischen Liebesdichtung bestens kennt Werden doch bei der Sujetfügung seiner Rime eminente Gelenkstellen und damit verbundene Situationsveränderungen angemessen berücksichtigt Das zeigt sich u a bei den Eröffnungs- und bei den Schlussgedichten, die ich im Folgenden unter die Lupe nehmen möchte Neben einem programmatischen Proömialsonett ist insbesondere der Vorgang des Verliebens, wie er bei Petrarca in den Sonetten 2 und 3 erzählt wird, von einiger Bedeutung in petrarkistischen Gedichtzyklen, wenn nicht sogar sammlungskonstitutiv Demzufolge finden wir auch bei Bembo eine entsprechende paradigmatische Insel, die sich deutlich erkennbar im syntagmatischen Fortgang des autobiographisch modellierten iter vitae abzeichnet Aber zunächst zu Petrarca Bei ihm wird der Vorgang des Sich-Verliebens in Sonett Nr 3 dargestellt: Era il giorno ch’al sol si scoloraro per la pietà del suo factore i rai, quando i’ fui preso, et non me ne guardai, ché i be’ vostr’ occhi, donna, mi legaro Tempo non mi parea da far riparo contra colpi d’Amor: però m’andai secur, senza sospetto; onde i miei guai nel commune dolor s’incominciaro Trovommi Amor del tutto disarmato et aperta la via per gli occhi al core, che di lagrime son fatti uscio et varco: però, al mio parer, non li fu honore ferir me de saetta in quello stato, a voi armata non mostrar pur l’arco 4

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Francesco Petrarca: Canzoniere Hg von Marco Santagata 5 Auflage Mailand 2001, S 17

Bembos Rime im Horizont des Renaissanceklassizismus

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Der Tag, von dem in Vers 1 die Rede ist, wird mit einem bestimmten Artikel eingeführt, das heißt, es muss sich um einen Tag handeln, der dem Lesepublikum bekannt ist Durch die näheren Umstände des Sich-Verdunkelns werden wir sogleich an den Karfreitag und somit an den Tod Jesu Christi erinnert Die Karfreitagsperiphrase referiert auf einschlägige Bibelstellen der Evangelisten Bei Matthäus 27,45 können wir Folgendes nachlesen: Und von der sechsten Stunde an ward eine Finsternis über das ganze Land bis zu der neunten Stunde Im Unterschied zu der besagten Bibelstelle enthält Petrarcas Darstellung bereits eine Interpretation des meteorologischen Geschehens Verharrt der Bibeltext im Gestus einer bloßen Feststellung, so liefert das lyrische Ich bei Petrarca eine anthropozentrische Erklärung, indem es dem Kosmos eine ethische Dimension unterstellt: aus Mitleid habe die Sonne ihre Strahlen entfärbt, eine Art Periphrase in der Periphrase Im ersten Quartett bildet also das Karfreitagsgeschehen den erzählerischen Hintergrund und wird daher im Imperfetto dargestellt Durch quando (V 3) wird dann eine Vordergrundhandlung indiziert, die hochproblematisch ist: Ausgerechnet am höchsten Feiertag, an dem die Christenheit den Tod ihres Herrn betrauert, wird der Sprecher von Lauras Augen betört und auf unsterbliche Weise verliebt gemacht Der Aspekt der Plötzlichkeit, der angesichts der herrschenden Umstände völlig unerwartete innamoramento wird durch Genus verbi, Tempus und Aktionsart des Verbs prendere (fui preso, V 3) entsprechend markiert Im zweiten Quartett wird die Vordergrundhandlung zunächst ausgesetzt, weil der Erzähler weitere Hintergründe schildert, die erläutern, warum mit einem solchen Angriff Amors überhaupt nicht zu rechnen war Dabei gibt der Terminus Angriff Anlass zu der Feststellung, dass die Szene des Verliebens wie ein Kampfspiel dargestellt wird, denn durch das gesamte Gedicht hindurch erstreckt sich eine entsprechende isotope Lexemkette: legare (V 4), colpi (V 6), disarmato (V 9), ferir (V 13), saetta (V 13), armata (V 14) und arco (V 14) Im ersten Terzett werden anschließend die beiden Hauptthemen aus dem ersten und dem zweiten Quartett aufgenommen: zum einen die Amor-Allegorie und zum anderen die schönen Augen der Donna Beide Bereiche werden überblendet und in eine Analogiebeziehung überführt: Der Sprecher ist angesichts des hohen Feiertages unbewaffnet, deshalb trifft ihn Amors Pfeil auf der bildlichen Ebene, und auf der Ebene der fiktionalen Realität sind es die Augen, die sich treffen und sich dann durch das nicht bewachte Eingangstor einen Weg zum Herzen bahnen Da über diese Augen außerdem gesagt wird, sie seien uscio e varco di lagrime (V 11), also Aus- und Eingang von Tränen, wird bereits an dieser Stelle des Canzoniere auf die Bedeutung der Schmerzliebe angespielt, nämlich auf die affetti dogliosi, die konstitutiver Bestandteil der petrarkischen Liebeskonzeption sind Im zweiten Terzett schließlich bahnt sich ein Widerspruch gegen diesen Vorgang an Eingeleitet durch den adversativen Konnektor però (V 12) spricht das lyrische Ich in aller Klarheit aus, dass es sich um eine ‚unfaire‘ Attacke handele, was mit zwei Argumenten begründet wird: zum einen durch den Hinweis auf den Karfreitagskontext

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Dietrich Scholler

und zum anderen durch den Vorwurf des einseitigen Angriffs, denn die Pfeile gelten allein dem Sprecher, nicht jedoch der Laura Dadurch aber erscheint Amor als heimtückischer Geselle, der dem frommen und unwissenden jungen Christen, als der sich der Sprecher ausgibt, auf üble Weise mitgespielt hat Da der Verteidigungs- und Rechtfertigungsgestus in diesem Sonett deutlich hervorsticht, könnte man auf die Idee kommen, dass es sich angesichts der Brisanz des Geschehens um diskursive Ausgleichsstrategien handelt, die nötig sind, um den Canzoniere an die überlieferte Lyrik des dolce stil novo weiterhin anschlussfähig zu halten Wenden wir uns im Folgenden dem innamoramento-Sonett Bembos zu, das sich schon auf den ersten Blick als Hommage an Petrarcas Sonett Nr 3 zu erkennen gibt: Io, che già vago e sciolto avea pensato viver quest’anni, e sì di ghiaccio armarme che fiamma non potesse omai scaldarme, avampo tutto e son preso e legato Giva solo per via, quando da lato donna scesa dal ciel vidi passarme, e per mirarla, a pie mi cadder l’arme, che tenendo, sarei forse campato Nacque ne l’alma insieme un fiero ardore, che la consuma, e bella mano avinse catene al collo adamantine e salde Tal per te sono, e non men pento, Amore, purché tu lei, che sì m’accese e strinse, qualche poco, Signor, leghi e riscalde 5

Schon im ersten Quartett werden Signale ausgesendet, die auf einen Petrarca-Bezug hinweisen Das zur petrarkischen Verstrickungsmetaphorik zählende Verb legare steht bei Bembo positionsidentisch als letztes Wort des ersten Quartetts (V 4) Wie bei Petrarca haben wir es mit einem Sprecher zu tun, der auf eine längst vergangene Epoche zurückblickt – bei Bembo als quest’anni (V 2) konzeptualisiert – und sich seinerzeit gegen die Anfechtungen der Liebe gewappnet glaubte, nämlich auf der Basis asketisch erzeugter Gefühlstaubheit, was hier im Bild des ghiaccio (V 2) festgehalten wird Auf den ersten Blick bedient sich Bembo also beinahe klassischer petrarkischer Heiß-Kalt-Metaphorik, wenn man die weiteren Elemente des einschlägigen Wortfeldes noch mitberücksichtigt (fiamma, V 3; scaldarme, V 3; avampo, V 4) Aber – darauf

5

Pietro Bembo: Prose e Rime Hg von Carlo Dionisotti Turin 1960, S 508

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hat Rainer Zaiser hingewiesen6 – Bembo nimmt eine Neubewertung der Kältemetapher vor: Bei Petrarca muss der Sprecher das Erkalten durchweg passiv erdulden Er kann nichts dagegen tun In der Regel geht dieses Erkalten auf einen Stimmungsumschwung zurück, der oft leicht erkennbar durch einen adversativen Konnektor angezeigt wird und der den plötzlichen Umschlag von Freude in Leid ankündigt Beispielhaft wäre etwa Sonett Nr 17: ma gli spiriti miei s’aghiaccian poi ch’i’ veggio al departir gli atti soavi torcer da me le mie fatali stelle 7

Nachdem bereits in den beiden vorangegangenen Quartetten dieses Petrarca-Sonetts von den Wechselbädern der Liebe die Rede war, erfolgt hier im ersten Terzett ein abermaliger Umschlag im Seelenleben des lyrischen Ichs Bei Bembo dagegen wird das Erkalten als volitiver Akt von Seiten des Liebenden dargestellt, ganz so, als handele es sich um eine Kulturtechnik, die im höfischen Spiel der Liebe bei Gelegenheit eingesetzt werden kann Denn eigentlich hält sich Bembos Sprecher für einen unnahbaren, der Liebe unzugänglichen Zeitgenossen Viel wichtiger ist diesem vergleichsweise selbstbewussten Sprecher das Streben nach Ruhm, wie Gerhard Regn gezeigt hat 8 Aber nicht nur in Bezug auf die Semantik des Erkaltens haben wir eine signifikante Variation gegenüber Petrarca zu verzeichnen, sondern auch in Bezug auf den Grund für die unterstellte Unverletzlichkeit: Petrarcas heteronomer Sprecher glaubt sich gewappnet, weil die irdische Liebe am heiligen Karfreitag ‚außer Dienst ist‘ Er vertraut sozusagen auf die unverbrüchliche Gültigkeit der theologischen Ordnung Bembos Sprecher dagegen fühlt sich aus anderen Gründen in Sicherheit: Als vergleichsweise autonomes Subjekt wähnt er sich in dem Glauben, dass er mit Hilfe einer asketischen Technik die Unwägbarkeiten der Liebe auszuschalten vermag Das heißt, bei Bembo wird der theologische Horizont komplett ausgeblendet, und er stellt zumindest an dieser Stelle kein Hindernis für das Ruhmesbegehren des Dichters dar Aber gegen die Attacken Amors ist auch Bembos Sprecher letztlich nicht gefeit Im Unterschied zu Petrarcas innamoramento-Sonett wird dieser Vorgang sowohl auf der Seite der res als auch auf der der verba in tradierter Manier dargestellt, nämlich durch ein klassisches Hitze-Kälte-Skript, dessen Ablaufschema freilich auf ingeniöse und doch klassizistisch eingehegte Weise variiert wird Das erste Quartett wird durch eine doppelte Klammer zusammengehalten: durch ein tradiertes Hyperbaton Io […]

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Vgl Rainer Zaiser: Pietro Bembo Ein orthodoxer Imitator Petrarcas? In: Italienische Studien 17 (1996), S 186–200 Petrarca (Anm 4), S 72 Vgl Gerhard Regn: Petrarkische Selbstsorge und petrarkistische Selbstrepräsentation Bembos Poetik der gloria In: Autobiographisches Schreiben und philosophische Selbstsorge Hg von Maria Moog-Grünewald Heidelberg 2004, S 95–125

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avampo (V 1 und 4) einerseits, andererseits durch das Hendiadyoin vago e sciolto (V 1) bzw preso e legato als dessen Echo in Vers 4 Wozu diese Spreizstellungen? Antwort: Sie stehen syntaktisch und semantisch für die Gefangenschaft des Liebenden, das heißt, sie sperren das Ich ein, jenes Ich, das zunächst in selbstbewusster Weise den Auftakt des Gedichts bildet Das sich zwischen Subjekt und Prädikat bemerkbar machende Selbstbewusstsein, das, wie wir gesehen haben, so gar nicht petrarkisch zerknirscht erscheinen mag, dieses Selbstbewusstsein wird seinem Anspruch zum Trotz dem Zauber der Liebe erliegen Seine zumindest imaginär kontrollierte Triebenergie sucht sich nolens volens ihren Weg Wider Erwarten wird die in der Vorstellung vereitelte Gefangenschaft durch das Hendiadyoin preso e legato (V 4) in doppelter Weise besiegelt: Das Gegenteil dessen, was sich das lyrische Ich als Plan zurechtgelegt hatte, tritt ein, denn durch das Erglühen (avampo, V 4) wird jener Eispanzer zum Schmelzen gebracht, den sich der Sprecher zu seinem eigenen Schutz angelegt hatte Das heißt, Bembo ersetzt die logische Stelle des potenziellen amourösen Hinderungsgrundes, die bei Petrarca mit dem Karfreitagsdatum besetzt ist, durch ein klassisch gewordenes physiologisches Schema, dessen überlieferte Existenz und Güte er mittels Imitation und Variation auf klassizistische Weise bestätigt Mehr noch: Wenn Bembo das heteronome petrarkische Hitze-Kälte-Skript mit einem autonomen Subjekt besetzt, das den physiologischen Vorgang des Erkaltens im Sinne einer Affektdämpfung bewusst steuern möchte, dann könnte man diese Absichtserklärung des liebenden Dichters auch als poetologische Chiffre im Zeichen klassizistischer Nivellierung lesen, nämlich gemäß dem viel zitierten Horaz’schen Postulat simplex et unum 9 Auch im zweiten Quartett spüren wir, dass Bembos lyrisches Ich die zweifellos vorhandene petrarkische Liebesgefangenschaft nicht als unausweichlichen Zwang ansieht Immerhin wird – zumindest hypothetisch – die Möglichkeit angedeutet, dass der Sprecher gegen den Ansturm der Liebe Widerstand hätte leisten können Wie man erfährt, ‚erwischt‘ es ihn im Verlauf eines unschuldigen Spaziergangs (giva solo per via, V 5), als eine donna vom Himmel herabsteigt Da er diese Dame ins Visier nehmen möchte, lässt er – fast möchte man sagen ‚aus Versehen‘ – seine Waffen fallen (cadder l’arme, V 7), und damit ist es um ihn geschehen Immerhin deutet dieses vergleichsweise starke Subjekt an, dass es die Waffen auch hätte behalten können Und wenn das der Fall gewesen wäre (che tenendo, V 8), dann hätte er ungeschoren davonkommen können: sarei forse campato (V 8) Das heißt, wie schon im ersten wird auch im zweiten Quartett angedeutet, dass Bembos Sprecher mit Petrarcas ohnmächtigem Liebesmelancholiker nicht ohne Weiteres gleichgesetzt werden kann, weil Ersterer zur Gegenwehr befähigt ist Das führt offenkundig zu einer merklichen Nivellierung

9

Zur grundlegenden Bedeutung von Horaz und Aristoteles für die lange Epoche des italienischen Classicismo vgl ausführlich Amedeo Quondam: Rinascimento e classicismi Forme e metamorfosi della modernità Bologna 2013

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der angestammten Asymmetrie zwischen Dichter und Dame Dass Ähnliches auch für den Beziehungspol der Dame gilt, sei hier nur am Rande erwähnt 10 Im ersten Terzett wird der Vorgang des innamoramento näher ausgeführt, nicht als Krieg, sondern als ein Verbrennungs- oder Verzehrungsvorgang (un fiero ardore, / che la [l’alma] consuma, V 9 f ) Dieser Vorgang wird zusätzlich gesteigert, indem ein zweites allegorisches Handlungsskript umgesetzt wird Denn die metonymische bella mano (V 10) als Pars pro Toto der Dame legt feste Ketten aus Diamant um den Hals des Liebenden (avinse / catene al collo adamantine e salde, V 10 f ) Die Vertextung dieser zweiten Ähnlichkeitsrelation, nämlich der zwischen ‚Schmuck anlegen‘ und Liebesbanden, ist bemerkenswert und variiert Petrarcas klassische Ketten der Liebe abermals auf ingeniöse Art und Weise Denn die Bindung und Gefangenschaft des Liebenden wird bei Bembo zusätzlich durch den Schriftsatz ins Bild gesetzt: zum einen durch das Enjambement avinse/catene (V 10 und 11), welches die Bindekraft des Syntagmas respektive der Ketten über das Zeilenende hinweg unterstreicht, zum anderen durch die Spreizstellung von catene und adamantine e salde (V 11) Denn zwischen den Ketten und deren Attributen wird der Hals (collo, V 11) eingeschlossen, das heißt, die referentielle Bedeutung wird hier mit Hilfe des poetischen Sekundärcodes in Szene gesetzt Petrarcas Konstrukt der Liebesketten wird demzufolge mittels Edelsteinmetaphorik zugespitzt und dadurch als Konzept eines klassischen Repertoires sichtbar gemacht 11 – Es bleibt hinzuzufügen, dass sich Bembos Sprecher im letzten Terzett zu diesen so gearteten Liebesketten aktiv bekennt und dabei keinerlei Reue verspürt (non men pento, V 12) Diese Form der substanziellen Kontrafaktur wird jedoch im Schlussvers durch neuerliche Imitation gemildert, indem nämlich die petrarkisch überlieferte Gleichgültigkeit der Dame übernommen und in einem chiastischen Kontrast syntaktisch zur Darstellung gebracht wird (m’accese e strinse > leghi e riscalde, V 13 f )

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In Petrarcas monothematischem Canzoniere steht eindeutig Laura im Mittelpunkt der autobiographischen Erzählung, so sehr, dass nur wenig Raum für andere Themen bleibt und der Sprecher streckenweise einem regelrechten Fetischismus der Laura huldigt, der sich im Extremfall bis zur reinen Anbetung des Laura-Zeichens steigern kann Ein viel zitiertes Zeugnis dieser Laura-Verehrung ist Sonett Nr 5, das einschlägige Laura-Paronomasien enthält Bei Bembo dagegen fällt diese Dimension weg Hinzu kommt, dass wir es in seinen Rime mit unterschiedlichen Damen zu tun haben, was einer Heterogenisierung des Adressatinnenkreises gleichkommt Für das Adjektiv adamantino müssen hier zwei Konnotationen veranschlagt werden Zum einen verweist es auf das altgriechische Adjektiv adamántinos = ‚stählern‘, mit den übertragenen Bedeutungen ‚fest, hart‘ (vgl Wilhelm Gemoll: Griechisch-Deutsches Schul- und Handwörterbuch München, Wien 1979, s v ἀδαμάντινος) Im frühneuzeitlichen Italienisch besitzt das Adjektiv darüber hinaus auch die ästhetischen Eigenschaften des Diamants: „splendente, luce, limpidezza adamantina“ (vgl Lo Zingarelli, s v adamantino (https://u ubidictionary com/viewer/#/dictiona ry/¬zanichelli ¬lozingarelli16, Stand: 1 5 2018)

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Die Schlussgedichte Auch im Hinblick auf die Gestaltung der zyklusbeschließenden Gedichte lassen sich starke Parallelen zu den ultime rime in Petrarcas Canzoniere feststellen Zur Erinnerung: In den letzten vier Sonetten des Canzoniere entscheidet sich der Sprecher am Kreuzweg für die via religiosa, indem er allem Irdischen eine radikale Absage erteilt und im letzten Sonett Nr 365 vor den Re del cielo tretend dessen Hilfe für die gnädige Aufnahme im Jenseits erfleht I’ vo piangendo i miei passati tempi i quai posi in amar cosa mortale, senza levarmi a volo, abbiend’io l’ale, per dar forse di me non bassi exempi Tu che vedi i miei mali indegni et empi, Re del cielo invisibile immortale, soccorri a l’alma disvïata et frale, e ’l suo defecto di tua gratia adempi: sí che, s’io vissi in guerra et in tempesta, mora in pace et in porto; et se la stanza fu vana, almen sia la partita honesta A quel poco di viver che m’avanza et al morir, degni esser Tua man presta: Tu sai ben che ’n altrui non ò speranza 12

Ich verzichte an dieser Stelle auf eine eingehende Interpretation und berücksichtige stattdessen zentrale Aussagen aus diesem letzten Sonett des Canzoniere bei meinem folgenden Vergleich mit Bembos Schlusssonett – Auch in Bembos Schlusssonett Nr 164 wendet sich der Sprecher ostentativ dem Herrn und Schöpfer zu Se già ne l’età mia più verde e calda offesi te ben mille e mille volte, e le sue doti l’alma ardita e balda da te donate, ha contra te rivolte; or che m’ha ’l verno in fredda e bianca falda di neve il mento e queste chiome involte, mi dona, ond’io con piena fede e salda, Padre, t’onori, e le tue voci ascolte

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Petrarca (Anm 4), S 1394

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Non membrar le mie colpe, e poi ch’adietro tornar non ponno i mal passati tempi, reggi tu del camin quel, che m’avanza; e sì ’l mio cor del tuo desio riempi, che quella, che ’n te sempre ebbi, speranza, quantunque peccator, non sia di vetro 13

Der Zugang zur Interpretation soll über die Syntax erfolgen: Das Sonett besteht aus zwei langen Sätzen, die sich jeweils über das Oktett und das Sextett erstrecken Das Oktett enthält ein Konditionalgefüge, bestehend aus einem Neben- und einem Hauptsatz Im ersten Quartett wird eine Bedingung formuliert, im zweiten Quartett dann ein möglicher Schluss, der sich aus dieser Bedingung ergibt Der mögliche Hinderungsgrund für ein gutes Ende im christlichen Sinne wird im ersten Quartett formuliert und besteht in den Jugendsünden, die – wie festgestellt – im Proömialsonett keine Relevanz haben Diese Sünden könnten in der Stunde des Todes dazu führen, dass von Seiten des angesprochenen Schöpfers keine Nachsicht geübt wird Allerdings handelt es sich um eine rhetorische concessio, welche die erhoffte Nachsicht oder, besser gesagt, die Vergebung der Sünden, nur als umso größere Tat erscheinen lassen muss Die Hoffnung auf Vergebung wird rhetorisch doppelt abgestützt, nämlich durch die Relativierung des Sündenregisters unter Hinweis auf die anthropologische Konstante ‚Jugendlicher Leichtsinn‘ (l’età mia più verde e calda, V 1) in Kombination mit dem Hinweis auf den aktuellen erbarmungswürdigen Zustand im Angesicht des nahenden Todes Aus dem Gesagten ergibt sich quasi von selbst, dass das Gedicht einen stark konativen Zug hat Schon im zweiten Vers wird der Schöpfer angesprochen, freilich nur mit der semantisch schwach markierten Proform in Gestalt eines Objektpronomens (te, V 2) Daraus kann man im Hinblick auf unser Thema zwei Schlüsse ziehen: Im Unterschied zu Petrarca muss Bembo den Angesprochenen nicht gemäß den Normen der Textlinguistik (unbestimmter Artikel + Klassenbezeichnung, Eigennamen, Proform) einführen, weil die Pragmatik des Skripts ‚Abbitte‘ eben zu jener klassizistischen Vorratskammer an loci communes zählt, die der italienische Renaissancespezialist Amedeo Quondam wahlweise als „grande macchina del Classicismo“14 oder gar als „quel ‚lego‘ che consente con i suoi multicolori mattoncini di produrre una infinita combinatoria di fabbriche sempre nuove e sempre diverse“15 bezeichnet Der überlieferte Kontext kann als bekannt vorausgesetzt werden und erhellt, wer gemeint ist Und selbst dann, wenn Bembo mit diesem Verfahren eine kataphorische Spannung aufbauen wollte,

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Bembo (Anm 5), S 648 Amedeo Quondam: Il naso di Laura Lingua e poesia lirica nella tradizione del Classicismo Modena 1991, S 187 Ders : Note su imitazione, furto e plagio nel Classicismo In: Furto e plagio nella letteratura del Classicismo Studi (e testi) italiani Hg von Roberto Gigliucci Rom 1998, S 387

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erschiene Petrarcas König im Himmel bei Bembo im achten Vers, wo er schließlich benannt wird, mit der Kennzeichnung Padre vergleichsweise sachlich Das heißt, wie schon in Bezug auf die Dame so auch in Bezug auf den Schöpfer wird die eklatante petrarkische Asymmetrie zwischen Sprecher und Angesprochenem erkennbar nivelliert Das liegt nicht zuletzt an der Modalisierung der Sprechinstanz, die periphrastisch als alma ardita e balda (V 3) umschrieben wird, also einen verminderten Zerknirschungsgrad aufweist, wenn man die durchaus positiven Konnotationen des Hendiadyoins ardita e balda berücksichtigt Nebenbei sei bemerkt, dass Bembo damit den Erfordernissen einer reformierten theologischen Dogmatik entspricht, die auf selbsterwählte schmerzhafte Buße keinen Wert mehr legt, weil sich das christliche Subjekt mit einer solchen kasteienden Praxis zum Selbstgesetzgeber aufspielt, was dem Willen Gottes nicht entsprechen kann 16 Die Epoche der jugendlichen Hitze hätte Bembo auch negativ darstellen können, nämlich als mali indegni et empi, wie der Klassiker Petrarca die Jugendsünden seines Sprechers in selbstgeißelnder Absicht brandmarkt Bei Bembo hingegen manifestiert sich ein nivelliertes selbstbewusstes Subjekt wie schon im innamoramento-Sonett auch darin, dass es für sich verminderte Schuldfähigkeit in Anschlag bringt Immerhin habe der Sprecher die Gaben der Jugend von keinem anderen als vom Schöpfer selbst erhalten, der damit – im Sinne der Theodizee könnte man sagen – auch seinen Teil der Verantwortung tragen muss (Verse 3 und 4: le sue doti […] da te donate) Während also das erste Quartett auf die Vergangenheit referiert und auf ein Du ausgerichtet ist, wird im zweiten Quartett mit dem Temporaladverb or (V 5) eine Zäsur gesetzt In Analogie zu Petrarcas zweitem Quartett des Sonetts Nr 365 erfolgt ein doppelter deiktischer Wechsel in Bezug auf Zeit und Person Es ist Winter (verno, V 5), wenn auch nur ein metaphorischer Winter, und der im Winter seines Lebens stehende Sprecher sagt erkennbar ‚Ich‘ (m’ha, V 5 bzw mi und io, V 7) Dennoch bleibt die konative Ausrichtung erhalten, denn der im zweiten Quartett stehende Hauptsatz ist ein Wunschsatz, der einen Appell an den Padre (V 8) enthält Das Sextett enthält zwei Imperativsätze, die mit der Junktion e (V 12) koordiniert werden Im ersten Terzett ergeht an den Schöpfer die Aufforderung, die vergangene

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Diese bei Bembo sich andeutende Umwertung der selbst auferlegten Buße wird mittelfristig zu einer offenen Ablehnung auf Seiten der protestantischen Dogmatik führen Vgl etwa die Ansichten des reformierten Theologen Johann Gottlieb Töllner: „Nicht Casteyungen, d i selbsterwählte schmerzhafte Empfindungen, mit welchen der Sünder seinen Leib wegen begangener Sünden belegt Denn 1 ) Solche sind vermöge der Erfarung bei denen, welch sich dieselbe anfügen, unkräftige Mittel, die Wiederholung derselben verhüten 2 ) Damit wird die Ehre Gottes gar nicht gerettet, sondern vielmehr verleugnet, indem sich der Sünder bei solchen Casteyungen theils als Oberherr über seinen Leib, theils als Gesezgeber aufführet, deme es zukommt zu strafen 3 ) Sie sind schlechterdings kein Zeichen des göttlichen Zorns, weil sie vom Sünder selbst veranstaltet werden “ ( Johann Gottlieb Töllner: System der Dogmatischen Theologie in vier Büchern Band 2 Nürnberg 1775, S 108)

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Schuld nicht in Erinnerung zu rufen Vielmehr solle er das reuige Sprechersubjekt auf dem verbleibenden Weg (camin, V 11) leiten (reggi, V 11) Wir haben gesehen, dass Bembos Sonett Nr 164 sehr starke intertextuelle Bezüge zu Petrarcas ultimo sonetto Nr 365 aufweist Besonders eng ist der Bezug im letzten Terzett A quel poco di viver che m’avanza et al morir, degni esser Tua man presta: Tu sai ben che’n altrui non ò speranza

Aus dem Rest an Leben, der noch verbleibt (Canzoniere: A quel poco di viver che m’avanza, V 12) wird bei Bembo quel, che m’avanza (V 11) Auch das zentrale Lexem im letzten Terzett, die speranza (V 13), wird von Bembo übernommen, ebenso wie der Reim Denn speranza reimt auf avanza Unterschiede lassen sich hingegen wiederum im ‚Zerknirschungsgrad‘ des Sprechers feststellen: Während sich der petrarkische Sprecher dem Herrn und Schöpfer bedingungslos hingibt (che’n altrui non ò speranza, V 14), tritt Bembos Sprecher mit dem Padre in Verhandlungen, was auf eine eher dialogische Einstellung schließen lässt Denn die reuige Umkehr kann nur dann gelingen, wenn Gott dem reuewilligen Subjekt ein entsprechendes Begehren in Gestalt der Hoffnung einpflanzt, und zwar genau dort, wo bislang zu wenig Platz dafür war: [nel] mio cor (V 12) 17 Ziehen wir Bilanz Dass Bembo Petrarca imitiert, ist offensichtlich: Parallelen ergeben sich schon aus der Anlage der narrativen Gesamtstruktur der Rime, aber auch in Bezug auf strategische Gelenkstellen, was wir am Beispiel der Proömialsonette und in den ultime rime nachvollziehen konnten Im Bereich der Mikrostrukturen zeigen sich erstaunliche Übereinstimmungen zwischen beiden Autoren, bis hin zu dem Punkt, dass Bembo an derselben Stelle die gleichen Satzbaupläne, Lexeme und Reime benutzt, also insbesondere im Bereich der sekundären Kodierung Bembo kombiniert diese formalen petrarkischen Versatzstücke aber in neuer Weise, indem er einerseits die Register variiert und indem er andererseits bestimmte, bei Petrarca bereits immanent angelegte Verfahren zuspitzt und damit ihre klassische Bedeutung herausstreicht, wenn nicht klassizistisch kodifiziert 18 Im Bereich der materia konnten wir eine harmonisierende Nivellierung des tradierten asymmetrischen Verhältnisses zwischen Sprecher und Angesprochenen feststellen Sowohl in den innamoramento-Sonetten als 17 18

Zum Verhältnis zwischen lyrischer, religiöser und wissenschaftlicher Rede über das Herz vgl grundlegend Vanessa Schlüter: Wissen im Herzen der Dichtung Kardiozentrische Lyrik von Petrarca bis Marino Göttingen 2018 Vgl hierzu auch Andreas Kablitz: Lyrische Rede als Kommentar Anmerkungen zur Petrarca-Imitation in Bembos Rime In: Der petrarkistische Diskurs Spielräume und Grenzen Hg von Klaus W Hempfer, Gerhard Regn Stuttgart 1993, S 29–76 Kablitz vertritt die These, dass Bembos Art und Weise des Petrarca-Bezugs nicht zuletzt den Zweck habe, Petrarcas Canzoniere zu kommentieren und ihm damit den Rang eines Klassikers zu verleihen

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Dietrich Scholler

auch in den ultime rime präsentiert uns Bembo einen vergleichsweise selbstbewussten Sprecher, der sich in der Auseinandersetzung mit den Heteronomien der Liebe und der Religion zu behaupten weiß, wodurch das angestammte steile Gefälle zwischen den Sprechinstanzen erkennbar flacher wird, zumal im Gegenzug auch der Pol der Angesprochenen an sublimer Größe einbüßt

Klassik, Klassizismus und Epos

Vom ‚Erzklassizisten‘ zum verhinderten Klassiker Silius Italicus im Blick der Forschungen der letzten 50 Jahre Florian Schaffenrath (Innsbruck) Silius Italicus sitzt als ‚Erzklassizist‘ fest in den Köpfen der Menschen, die in unseren Tagen mit der römischen Literatur der Kaiserzeit in Berührung gekommen sind, und ein schneller Blick in Standardwerke zur lateinischen Literaturgeschichte bestätigt dieses Gefühl: Michael von Albrechts Geschichte der römischen Literatur wird im deutschsprachigen Raum (und in Übersetzung weit darüber hinaus) viel benutzt Über das Epos in der frühen römischen Kaiserzeit steht dort in der ersten Auflage von 1992 zu lesen: „Ein Geschmackswandel zum Klassizismus – wie er in flavischer Zeit zu erwarten ist – vollzieht sich im Epos bei Silius Italicus “1 In der späteren Auflage hat sich die Diktion, nicht aber die Aussage geändert: „Das Epos gelangt noch einmal zu politischer Bedeutung in Lucans Pharsalia und findet in Silius’ Punica unter Domitian einen klassizistischen Abschluß “2 Ziel der folgenden Ausführungen ist es, eine Auswahl an einschlägigen Publikationen zu Silius Italicus aus den letzten ca 50 Jahren vorzustellen und dabei jeweils den Aspekt in den Blick zu nehmen, wie diese Publikationen den Epiker einschätzen und einordnen, welchen Aspekt sie als wichtig erachten, was in den Vordergrund, was in den Hintergrund tritt Dabei soll gezeigt werden, wie Silius Italicus am Beginn dieser Periode unhinterfragt als Klassizist wahrgenommen wurde, aber im Laufe der Zeit immer mehr als (zumindest eine Art von) Klassiker gesehen und gelesen wurde Das Adjektiv ‚klassizistisch‘ wird im literarischen Kontext benutzt, um ein bestimmtes normativ-referentielles Urteil über ein Werk zu fällen:3 Ein klassizistisches Werk 1 2 3

Michael von Albrecht: Geschichte der römischen Literatur von Andronicus bis Boethius mit Berücksichtigung ihrer Bedeutung für die Neuzeit Bern 1992, S 716 Michael von Albrecht: Geschichte der römischen Literatur von Andronicus bis Boethius mit Berücksichtigung ihrer Bedeutung für die Neuzeit 3 Auflage Berlin 2012, S 761 Auch das Wort classicus wurde zum ersten Mal in einem Kontext gebraucht, in dem ein späterer Literaturkritiker ein Urteil über einen früheren Autor gefällt hat: Aulus Gellius (Noctes Atticae 19,8,15) bezeichnet einen Autor, der ein Wort korrekt verwendet, als classicus scriptor, vgl Wilhelm Voßkamp: Theorie der Klassik Stuttgart 2009

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Florian Schaffenrath

wird durch diese Denomination als eines beschrieben, das aus der Abhängigkeit von einem als klassisch gesehenen Werk lebt und nur aus dieser Relationalität seine Bedeutung zieht Es definiert sich aus der Referenz auf ein klassisches Werk Im Folgenden soll, von diesem Verständnis des Klassizismus ausgehend, gezeigt werden, wie Silius Italicus um die Mitte des zwanzigsten Jhs eben als ein solcher, stark von seinen klassischen Modellen abhängiger Dichter gesehen wurde und wie sich diese Sichtweise im Laufe der kommenden Jahrzehnte insofern änderte, als Silius größerer Eigenwert zugesprochen wurde 1. Grundlagen Tiberius Catius Asconius Silius Italicus wurde um 26 n Chr geboren und ging zunächst in die Politik:4 Es ist bekannt, dass er im Jahr 68 n Chr unter Kaiser Nero als Ankläger aufgetreten ist; später war er Prokonsul in der römischen Provinz Asia Nach seiner politischen Karriere zog er sich auf seine Landgüter in Kampanien zurück und begann dort seine schriftstellerische Karriere Unter Kaiser Domitian (reg 81–96) verfasste er sein Hauptwerk, ein Epos unter dem Titel Punica in 17 Büchern Um 102 n Chr ist Silius Italicus gestorben In der Briefsammlung des jüngeren Plinius ist uns mit ep 3,7 ein Schreiben erhalten, dem wir viele biographische Informationen verdanken, etwa auch, dass der Dichter durch Verzicht auf Essen seinem Leben selbst ein Ende gesetzt hat Das Thema der Punica ist der Zweite Punische Krieg, d h die folgenschwere Auseinandersetzung zwischen Rom und Karthago in den Jahren 218–201 v Chr , in der v a der karthagische Feldherr Hannibal die Römer wiederholt an den Rand des Untergangs gebracht hat Basierend auf der dritten Dekade der Römischen Geschichte des Historikers Livius stellt Silius den Krieg vom Schwur des jungen Hannibal, an den Römern Rache zu nehmen, über die Einnahme der Stadt Sagunt (Bücher 1–2), über die Schlachten am Trasimenischen See (Buch 5) und bei Cannae (Bücher 9–10) bis hin zur Schlacht von Zama dar (Buch 17) Den Konventionen des Epos in der Nachfolge Homers folgend wird die irdische Handlung von einer Handlung auf der Götterebene begleitet, die dem Geschehen eine teleologische Dimension verleiht Ein auffallendes Merkmal der Punica ist es, dass es zwar auf der Seite Karthagos, also der Feinde Roms, mit Hannibal eine einzelne herausragende Gestalt gibt, dass aber auf der Seite, die vom Erzähler des Textes unterstützt wird, verschiedene Helden auf- und wieder abtreten; Scipio Africanus, der letztlich den Sieg über Hannibal erringt, spielt zwar v a in den

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Grundlegend zur Biographie des Silius Italicus Bernhard Kytzler: Reclams Lexikon der griechischen und römischen Autoren Stuttgart 1997, S 323–325; Christiane Reitz: Silius Italicus In: Metzler Lexikon antiker Autoren Hg von Oliver Schütze Berlin 1997, S 644 f ; Christiane Reitz: Silius Italicus In: DNP 11 Hg von Hubert Cancik, Helmuth Schneider Stuttgart 2001, S 557–559

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späteren Büchern eine wichtige Rolle, aber eben nicht die unumfochtene Hauptrolle auf römischer Seite 5 2. Silius Italicus und der Klassizismus Wie eingangs ausgeführt, wird Klassizismus definiert als intentionale stilistische Haltung in Abhängigkeit und Nachahmung von als verbindlich gesehenen Modellen, d h es handelt sich um einen relationalen Begriff Das Modell, vor dem Silius im Folgenden als Klassizist betrachtet werden soll, ist Vergils Aeneis Damit soll nicht gesagt werden, dass es für Silius nicht eine Reihe weiterer Modelle gegeben habe, sowohl was das literarische Genos betrifft (z B Lucans Pharsalia) oder was seine historischen Quellen betrifft (z B Livius) Für die folgenden Überlegungen liegt der Fokus auf Vergil; dieser war unter Kaiser Domitian bereits zum Klassiker geworden: Seine Aeneis wurde von den Kindern in der Schule gelesen, poetisch-stilistische Normen basieren auf ihm 6 Nicht jeder Epiker nach Vergil kann als Klassizist gelten Klassizisten verwenden autorisierte Klassizismussignale, und der Grad ihres Klassizismus lässt sich daran messen, wie viele nicht-klassizistische Elemente sie einflechten Silius sendet v a im Bereich von Sprache und Stil, aber auch im Bereich von Einzelszenen, die er Vergil nachbildet, eindeutige Klassizismussignale Er geht dabei weit über die starke Normenrestriktion des römischen Epos hinaus; alle lateinischen Epiker nach der augusteischen Epoche spielen mehr oder weniger auf Vergil an, aber Silius verfährt hier besonders intensiv Andererseits machen Klassizisten erst Klassiker, sie stabilisieren und indizieren deren klassischen Status Für Silius stimmt das nicht nur im Blick auf sein Epos, sondern auch auf einer anderen Ebene Aus dem bereits erwähnten Brief des jüngeren Plinius wissen wir, dass Silius Vergil durch das Aufstellen von Statuen verehrte, seinen Geburtstag regelmäßig feierte und sein Andenken in der Nähe von Neapel ehrfürchtig bewahrte: Multum ubique librorum, multum statuarum, multum imaginum, quas non habebat modo, verum etiam venerabatur, Vergili ante omnes, cuius natalem religiosius quam suum celebrabat, Neapoli maxime, ubi monimentum eius adire ut templum solebat (Plin ep 3,7,8)

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Zur Frage des Helden in den Punica vgl Edward L Bassett: Hercules and the Hero of the Punica In: The Classical Tradition Literary and Historical Studies in Honor of Harry Caplan Hg von Luitpold Wallach Ithaca 1966, S 258–273; Kenneth O Matier: Hannibal: The real Hero of the Punica? In: Acta Classica 32 (1989), S 3–17; François Ripoll: Vieillesse et héroisme dans les épopées flaviennes Silius Italicus e Valérius Flaccus In: L’ancienneté chez les Anciens Hg von Béatrice Bakhouche Montpellier 2003, S 653–675; Elizabeth Kennedy Klaassen: Imitation and the Hero In: Brill’s Companion to Silius Italicus Hg von Antony Augoustakis Leiden, Boston 2009, S 99–126 Reiches Material zur frühen Rezeption der Dichtungen Vergils bieten Jan M Ziolkowski, Michael C J Putnam: The Virgilian Tradition The First Fifteen Hundred Years New Haven, London 2008, bes S 45 f zu Silius Italicus

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Wie wurde dieses offenbar klare Verhältnis von Vergil und Silius in der Forschung thematisiert? Als bibliographische Hilfsmittel für die folgenden Ausführungen dienten v a der große Überblick von Enrico Ariemma (2000) und die Arbeit von William J Dominik (2009) zur Rezeption des Silius im Brill’s Companion to Silius Italicus 3. Wende in der Mitte des zwanzigsten Jhs. Wo stand die Forschung, als Mitte des zwanzigsten Jhs ein markanter Neueinsatz der Silius-Forschung zu verzeichnen war? Im neunzehnten Jh und noch in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jhs wurden die Autoren der sog Silbernen Latinität, d h Autoren, die in der Zeit vom Tod des Augustus bis zum Tod Domitians schrieben, und somit eben auch Silius Italicus, wenig geschätzt und waren aus dem Kanon der zu beforschenden bzw in der Schule zu lesenden Autoren zurückgedrängt7 Bezeichnend ist etwa die Geschichte von Lord Thomas Macaulay, der nach der Lektüre der Punica angeekelt unter den letzten Vers des 17 Buches geschrieben haben soll: „Heaven be praised!“8) In dieser Traditionslinie steht 1972 noch Donald R Dudley, der in seiner Studie zur neronischen und flavischen Literatur die Punica „the worst epic ever written“9 nennt 1964 erschien Michael von Albrechts Tübinger Habilitationsschrift unter dem Titel Silius Italicus Freiheit und Gebundenheit römischer Epik, die er mit dem befreienden Startschuss beginnt, Silius sei ein „von der modernen Forschung eigentlich noch nicht recht entdeckter Dichter“ 10 Von allem Anfang an betont er, dass Silius’ poetisches Schaffen von der Auseinandersetzung mit seinen großen Vorgängern im Bereich der epischen Dichtung, v a Vergil, abhängt: „Die Punica leben von der Beziehung zu den Vorgängern […] Silius empfand sein Schaffen durchaus als historisch gewachsen, und er suchte bewußt die ganze Fülle des literarisch vor ihm Geleisteten zu berücksichtigen […] das Geheimnis der Punica liegt nicht im Werke selbst, sondern in den Fäden, die sich von ihnen aus zu früheren Dichtungen, insbesondere zur Aeneis, spannen “11 Von Albrecht unterstreicht einerseits Silius’ Beziehung zu seinen Vorgängern, will aber den Text der Punica deshalb nicht abgewertet wissen, sondern vielmehr ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit stellen: „Unsere Untersuchung unterscheidet sich von ihren Vorgängerinnen dadurch, daß sie mehr die Frage nach der Eigenart der Punica 7 8 9 10 11

Erich Burck: Vom römischen Manierismus Von der Dichung der frühen römischen Kaiserzeit Darmstadt 1971, S 19 Zitiert nach R Joy Littlewood: A Commentary on Silius Italicus’ Punica 7 Oxford, New York 2011, S XCV Donald R Dudley: Neronians and Flavians London 1972, S 265 Michael von Albrecht: Silius Italicus Freiheit und Gebundenheit römischer Epik Amsterdam 1964, S 9 von Albrecht (Anm 10), S 13

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in den Vordergrund rückt “12 Diese Eigenart besteht für ihn darin, dass hier bei Silius Italicus zum ersten Mal ein römisches Geschichtsepos aus dem Geist der Geschichtsmetaphysik Vergils entsteht In einem schönen Bild macht er deutlich, dass für ihn die Punica ohne Kenntnis der Aeneis nicht verständlich sind: „Das Geschehen des zweiten Punischen Krieges ist bei Silius auf die Aeneis hin transparent geworden; diese Dichtung steht als höhere Einheit hinter dem Epos Daher ist das Verhältnis zur Aeneis der Angelpunkt für das Verständnis der Punica “13 Von Albrecht spürt den Beziehungen zwischen Vergil und Silius auf verschiedenen Ebenen nach Einerseits wird er auf der Ebene der Textarchitektur und der Gesamtstruktur fündig: „Man erkennt hier also einerseits den das ganze Werk umspannenden Rahmen in seiner vergilischen Struktur Gleichzeitig aber erweist sich, daß Silius sehr wohl versteht, das vergilische Gerüst eigene Gedanken tragen zu lassen “14 Und er wird, wie nicht anders zu erwarten, auf der Ebene der Sprache und des Stils fündig In der Einfachheit seiner Sprache, die an Kargheit grenze, sei Silius Vergil nahegekommen, wie kein anderer kaiserzeitlicher Epiker Schließlich versucht von Albrecht eine Umdeutung und Neubewertung des Verhältnisses zwischen Vergil und Silius: „Die Abhängigkeit des Silius von Vergil wurde bisher als ‚pedantische Nachahmung‘ verstanden Man verwies – mit Recht – darauf, daß kaum eine epische Szene in der Aeneis zu finden sei, die keine Entsprechung in den Punica hätte Es scheint also, als hätte die starke Stilgebundenheit der antiken Gattungen im Falle des Silius zu einem völligen Aufgeben der Freiheit geführt […] Diese Bezogenheit auf die Aeneis ist geradezu der Lebensnerv des Werkes […] Ist erkannt, daß die Punica kein autarkes Kunstwerk sind, sondern die farbige Brechung des vergilischen Rom-Mythos im geschichtlichen Bereich, Deutung der römischen Historie als Spiegelung der vergilischen Urbilder, so erscheinen die beiden bisher unvermittelt nebeneinander stehenden Gruppen von Beobachtungen zusammenfaßbar, die disparaten Teile fügen sich in der Bezogenheit auf Vergil zur Einheit zusammen, die Allgegenwart der Aeneis klärt die Mannigfaltigkeit des Stofflichen und ‚hebt‘ sie im mehrfachen Sinne ‚auf ‘“15 Was von Albrecht in seiner Studie also macht, ist nicht etwa die Leugnung einer starken Abhängigkeit der Punica von der Aeneis Aber er bewertet diese Abhängigkeit neu: Für ihn liegt in ihr der Schlüssel zum Verständnis des silianischen Epos, nicht etwa ein Grund für ästhetische Abwertung Silius ist für ihn insofern ein klassizistischer Dichter, als er nur mit Blick auf den als vorbildlich empfundenen und deshalb nachgeahmten Klassiker Vergil verstanden werden kann

12 13 14 15

von Albrecht (Anm von Albrecht (Anm von Albrecht (Anm von Albrecht (Anm

10), S 10), S 10), S 10), S

16 22 171 185 f

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Die von von Albrecht entwickelte Herangehensweise greift Erich Burck 1971 in seinem Buch Vom römischen Manierismus auf Auch er sieht Silius als Klassizisten, der seine Aufgabe bewältigt, indem er sich an Vergil orientiert: „In der Dichtung hat man eine […] Charakterisierung als Klassizist gern auf Silius Italicus angewandt, der mit Vergilischen Motiven und Kunstmitteln eine künstlerische Umsetzung und Verdichtung des historischen Stoffs des Zweiten Punischen Krieges versucht hat “16 Mit Blick auf sprachliche Pointen und effektvolle Wendungen in der Handlung findet er Elemente des Manierismus, d h der Gekünsteltheit, in den Punica: „Aber wie er sprachlich seine Meister durch neue Junkturen und Pointen und in effektvoll-rhetorischer Zurichtung von Reden und Schilderungen zu überbieten sucht, so kommt er auch in häufigen Wendungen der Handlungsführung und in der Charakterisierung einzelner Gestalten den manieristischen Gepflogenheiten nahe “16 Im Gegensatz zur grundsätzlich positiveren Bewertung bei von Albrecht, verfällt Burck hier durch den Verweis auf den Manierismus wieder in ältere Bewertungsmuster, wie sie eingangs erwähnt wurden Eine wichtige Studie zu Silius Italicus in den 80er Jahren des zwanzigsten Jhs haben Frederick Ahl, Martha A Davis und Arthur J Pomeroy in der Reihe Aufstieg und Niedergang der römischen Welt 1986 vorgelegt 17 Sie machen es sich darin zur Aufgabe, die Punica zu charakterisieren, aber v a auch in ihrer Beziehung zu Aeneis und Pharsalia darzustellen Sie kommen zu ähnlichen Schlüssen wie Michael von Albrecht: „Silius, having established a major thematic link between his ‚Punica‘ and the ‚Aeneid‘, proceeds to echo numerous other Vergilian motifs The ‚Aeneid‘ constantly moves before our eyes as we read the ‚Punica‘“ 18 Dann aber gehen sie einen Schritt weiter und betonen, wie Silius trotz aller Abhängigkeit von der Aeneis Eigenständiges, ja Originelles schafft: „Silius has not simply reversed some Vergilian motifs; he has reversed the movement and mood of the second book of the ‚Aeneid‘ […] He is doing much more than treating the ‚Aeneid‘ as a quarry for ideas, phrases and motifs Although his intimate knowledge of the ‚Aeneid‘ is at the heart of the ‚Punica‘, he reworks what he uses to good and original effect “19 An einer späteren Stelle ihres umfassenden Aufsatzes kommen die Autoren auf die Idee, dass Silius aus seinen Vorbildern etwas Neues schafft, zurück: „Homer provides motifs (sometimes indirectly through Vergil), and the ‚Aeneid‘ is used as a major source for diction and theme Ovid’s ‚Metamorphoses‘ and ‚Fasti‘ […] are also often drawn on But the synthesis of these elements in the ‚Punica‘ produces something quite new “20

16 17 18 19 20

Burck (Anm 7), S 22 Frederick Ahl, Martha A Davis, Arthur J Pomeroy: Silius Italicus In: ANRW II: Principat Bd 32 4 Hg von Wolfgang Haase Berlin 1986, S 2492–2651 Ahl, Davis, Pomeroy (Anm 17), S 2499 Ahl, Davis, Pomeroy (Anm 17), S 2501 Ahl, Davis, Pomeroy (Anm 17), S 2556

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Ohne es deutlicher auszuführen oder im Einzelnen klar zu machen, deutet das Autorenkollektiv am Ende seines Beitrages dann an, worin dieses Neue besteht: „There is little reason to doubt that his ‚Punica‘ […] is a meditation on Flavian Rome as well as an excursion into the old wars of the past and of myth Small surprise then, that so many of the ‚Punica‘’s protagonists should stir in us, either by their names or by their behavior, thoughts of Silius’ contemporaries or the years when the republic fell “21 Hier ist im Grunde schon eine Tendenz angelegt, die 15 Jahre später breiter ausgearbeitet werden soll und die auf dieses Neue in den Punica abzielen wird 1989 findet in Giovanni Laudizis Monographie zu Silius Italicus eine ganz andere Annäherung an den Klassizismus des Epikers statt: Laudizi beginnt sein Klassizismuskapitel damit, dass die Epen unter den Flaviern zum Instrument der Propaganda werden: „i poemi epici diventano strumento privilegiato di propaganda politica“ 22 Der Klassiszismus besteht für ihn darin, dass sich Silius in einer starken Gegenbewegung zu Lucan wieder der römischen Frühzeit zuwende und eine verklärte Vergangenheit beschwöre: „In Silio […] il passato rappresenta un patrimonio cui far riferimento e a cui ispirarsi, per risalire dal baratro in cui la barbarie del presente ha precipitato Roma Egli non ha perso la speranza che si possa fondare una nuova era, in cui sia ripristinato il vecchio ordine morale, causa vera dell’antico splendore È questo il senso profondo del poema e l’intento che lo anima dall’inizio alla fine Non ha senso cercare nei Punica un riferimento diretto alla realtà presente “23 Die klassizistische Rückbesinnung des Silius bezieht sich für Laudizi also in erster Linie auf die Moral und die Werte der römischen Republik: „Un tema storico per un poema epico poteva dimostrare, concretamente e storicamente, che recuperati gli antichi valori morali, era possibile restaurare anche l’antica grandezza “24 Diese These sollte bald angegriffen und in ihren Grundfesten erschüttert werden 4. Rückschritte Während sich in Detailstudien zu Silius Italicus bereits eine differenzierte Betrachtung anbahnte, blieben v a Überblicksstudien immer noch einer älteren Sichtweise verhaftet: Als dritter Band in der Serie Eidos erschien 1991 in Berkeley die Studie des bekannten Homerforschers John Bryan Hainsworth The Idea of Epic, in der er einen großen Überblick über die Entstehung und Entwicklung des epischen Genres in der westlichen Literatur versucht Da für ihn Epos v a homerisches Heldenepos ist, fallen bestimmte Werturteile über spätere Epen entsprechend aus So verliert etwa schon 21 22 23 24

Ahl, Davis, Pomeroy (Anm 17), S 2557 f Giovanni Laudizi: Silio Italico Il passato tra mito e restaurazione etica Galatina 1989, S 144 Laudizi (Anm 22), S 150 f Laudizi (Anm 22), S 156

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Vergil im fünften Kapitel im ständigen Vergleich mit Homer Die Punica sieht er v a im Vergleich zu Ennius, mit dem sich thematische Überschneidungen ergeben, und im Vergleich zu Vergil: „Silius […] had less inspiration than enthusiasm He tells a short story well enough in unpretentious style […] The Punica (Punic War), both in its genre and its subject, is a reminiscence of Ennius The old poet receives a respectful reference […], but it was not yet time (it came in the second century A D ) when one could actually admire Ennius; it was as much as Quintilian could do to be polite Yet Hannibal and Scipio, dead for three centuries and without the perils of political relevance, begged to be mythologized, and Ennius’ verse clamored for polish If Silius thought to endow his age with the best of Ennius raised to Virgilian standards of taste, he would have been responding to the same instinct as was felt by seventeenth-century English dramatists who rewrote Shakespeare according to the civilized sensibilities of their own time It was a process that extinguished the vital spark “25 5. Der Klassiker Silius Italicus Dieser Einschätzung, dass die Behandlung von Figuren wie Hannibal oder Scipio „without the perils of political relevance“ erfolge, wurde von althistorischer Seite entschieden widersprochen Als 2005 Raymond Marks’ Buch From Republic to Empire Scipio Africanus in the Punica of Silius Italicus in der Reihe Studien zur Klassischen Philologie erschien, wurde es als frischer Zugang zu Silius Italicus willkommen geheißen 26 Marks interpretiert die Punica mit Blick auf die geschichtlichen Hintergründe des Autors, indem er Scipio nicht nur als Helden im Zweiten Punischen Krieg, sondern auch als exemplum für Domitian versteht; Scipio werde als idealer Herrscher präsentiert Die Verbindung zwischen dem Zweiten Punischen Krieg und der Gegenwart des Dichters sieht Marks v a in der großen Prophezeiung Jupiters im 3 Buch Scipio steht für ein neues, ein junges Rom, das nicht von vielen, sondern von einem einzigen geführt wird Das Verhältnis zwischen Scipio und Königtum sieht Marks hier viel positiver und affirmativer als andere Forscher vor ihm 27 Scipio ist „not only a sort of proto-imperialist who anticipates or brings about in some way the imperial future, but an historical prefiguration of Domitian himself “ 28 Marks betont stark den didaktischen Zweck des Epos: Scipio wird als Modell, als Vorbild für Domitian entworfen Deswegen seien die Punica kein eskapistisches Epos: sie erfüllten vielmehr einen didaktischen Zweck: 25 26 27 28

John B Hainsworth: The Idea of Epic Berkeley 1991, S 134 f Als Beleg diene die Rezension von Elizabeth Kennedy Klaassen in Bryn Mawr Classical Review 2006 08 31 Vgl etwa Donald T McGuire: Acts of Silence Civil War, Tyranny, and Suicide in the Flavian Epics Hildesheim, New York 1997 Raymond Marks: From Republic to Empire Scipio Africanus in the Punica of Silius Italicus Frankfurt a M 2005, S 218

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„The epic […] makes the argument that one-man rule can be a stabilizing and unifying force, especially in times of extreme peril To make this argument clear to his readers, Silius portrays Scipio as a king or, better yet, a princeps and his rule as a kind of Principate and thereby draws a close parallel between the political arrangement that Rome adopted in the final years of the Second Punic War and the very form of government under which Silius and his readers lived “29 Für Marks sind die Punica ein Dokument, das mit Blick auf die eigene Zeit geschrieben wurde, mit Blick auf das Rom Domitians, auf Domitian selbst Mit Domitians Tod habe das Epos seinen idealen Leser, seinen didaktischen Zweck, seine raison d’être, verloren Raymond Marks war im selben Jahr 2005 auch für das Kapitel ‚Silius Italicus‘ im Blackwell Companion to Ancient Epic zuständig; es ist bezeichnend, wie er dort die Punica in die Reihe aller anderen antiken Epen einordnet: „Yet however out-of-step or belated the Punica may seem to some today, its poet certainly did not see it as such It embraces unapologetically the vast expanse of the epic tradition, both Roman and Greek, over which it gazes, and although its theme is drawn from the distant, historical past, it strives to speak to its times Moreover, for rejecting the retreat of his contemporaries and successors into the world of Greek mythology, Silius appears all the less resigned to the marginalization of epic within the literary landscape of his day; to the contrary, it bespeaks of an earnest attempt to assert the abiding value and relevance of the genre to Rome’s cultural heritage “30 Was Marks in beiden eben genannten Publikationen unternimmt, ist nicht die Betonung der Ausgerichtetheit der Punica auf einen als exemplarisch verstandenen Vorgängertext (Vergils Aeneis), sondern die Bedeutung, die dieser Text für das Rom unter Domitian hat Ein gültiges Narrativ für dieses Rom wird entwickelt; Marks spricht von der Scipionisierung (Scipionization) Roms, d h ein Epos speziell für die Bedürfnisse des frühen Prinzipats In dieser Lesart sind die Punica ein Klassiker des flavischen Roms geworden Einen der einschlägigsten Beiträge zum Thema verfasste Werner Schubert im Jahr 2007: Silius Italicus – Ein Dichter zwischen Klassizismus und Modernität 31 Der Aufsatz erschien zunächst in den Acta Antiqua et Archaeologica der Universität Szeged, und konnte in der Folge in einem vom Verfasser dieser Zeilen herausgegebenen Sammelband zu Silius Italicus im Jahr 2008 wieder abgedruckt werden Schubert beginnt mit dem Hinweis auf die negative Darstellung der Punica in früheren Literaturgeschichten; z B Wilhelm Sigmund Teuffels Geschichte der römischen

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Marks (Anm 28), S 284 Raymond Marks: Silius Italicus In: A Companion to Ancient Epic Hg von John M Foley Malden u a 2005, S 528–537, S 528 Werner Schubert: Silius Italicus – Ein Dichter zwischen Klassizismus und Modernität In: Acta Antiqua et Archaeologica 30 (2007), S 156–169, wieder abgedruckt in: Silius Italicus Akten der Innsbrucker Tagung vom 19 –21 Juni 2008 Hg von Florian Schaffenrath Frankfurt 2008, S 15–28

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Literatur 191032: „Der Fluch der Langeweile lastet schwer auf der epigonenhaften Arbeit“33 Ausgehend von der auch hier schon besprochenen Arbeit seines Lehrers Michael von Albrecht fragt Schubert dann weiter, inwiefern sich Silius’ Klassizismus als Modernismus beschreiben lässt Klassizist ist Silius für ihn wegen der Orientierung an sprachlichen Eigentümlichkeiten des vergilischen Epos, an der äußeren Form und auch an der Botschaft des Werkes Er betrachtet die einzelnen Kategorien im Detail und findet sehr viele Abweichungen „Wenn wir die Architektur der Punica als Ganzes betrachten, so kann hierbei, meine ich, von klassizistischen Tendenzen am wenigsten die Rede sein Die Buchzahl 17, wie immer sie begründet sein mag, stellt eine markante Abweichung von der herkömmlichen epischen Praxis dar […] Wenn man architektonische Anlehnung an Vorbilder als ein Zeichen von Klassizismus ansieht, so ist Vergil im Verhältnis zu Homer, ist Valerius Flaccus im Verhältnis zu Apollonius Rhodius, und sind Valerius Flaccus, Statius und Lucan im Verhältnis zu Vergil in dieser Hinsicht eher als Klassizisten zu bezeichnen, als Silius in seinem Verhältnis nicht nur zu Vergil, sondern zur gesamten epischen Tradition “34 Mit Blick auf die Werkarchitektur stellt Schubert also den puren Klassizismus in Frage Dann kommt Schubert auch auf das Thema Manierismus zu sprechen: „Was Manierismen betrifft, so muss man allerdings sagen, dass Silius auch dort, wo sich solche innerhalb seines eigenen Werkes […] finden lassen, in Vergil das ‚non plus ultra‘ [Kursivierung im Original] sieht und seine ‚Manierismen‘ an den klassischen ‚Manierismen‘ orientiert, wodurch sie intertextuell betrachtet letztlich ebenfalls zu Elementen des Klassizismus werden “35 Dazu erklärt er in Fußnote 44: „Hier ist die Frequenz im Einsatz ansonsten gleicher Mittel entscheidend, welche Klassizismus und Manierismus voneinander trennt; ist die Frequenz annährend gleich oder gar geringer als im Vorbild, kann man von einer klassizistischen Tendenz sprechen, ist sie deutlich höher, von manieristischer “ Schubert kommt zum Fazit: „Silius Italicus – ein Dichter zwischen Klassizismus und Modernität? Zumindest ist bei ihm wie bei seinen Kollegen das Bestreben zu erkennen, klassizistischen Tendenzen auch andere gegenüberzustellen, vielleicht in der Hoffnung, dass sie von anderen aufgegriffen würden, wodurch sie erst ‚modern‘ geworden wären Aber offensichtlich hat Silius Italicus vor allem die Wirkung der formalen Tradition des Epos auf die Erwartungshaltung der Rezipienten unterschätzt “36 Ganz stimmt diese Einschätzung heute nicht mehr Die Erforschung der neulateinischen Epik hat große Fortschritte gemacht37 und man kennt heute zumindest Robert 32 33 34 35 36 37

Wilhelm S Teuffel: Geschichte der römischen Literatur 6 Auflage Leipzig 1910 Zitiert nach Schubert (Anm 31), S 16 Schubert (Anm 31), S 22 f Schubert (Anm 31), S 25 Schubert (Anm 31), S 26 In jüngster Zeit sind mehrere Überblicksdarstellungen zum neulateinischen Epos erschienen: Heinz Hofmann: Von Africa über Bethlehem nach America: Das Epos in der neulateinischen Literatur In: Von Göttern und Menschen erzählen Formkonstanzen und Funktionswandel vormoderner Epik

Vom ‚Erzklassizisten‘ zum verhinderten Klassike

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Clarkes 1670 in Brügge erschienenes Epos Christiados sive De passione Domini et Salvatoris nostri Jesu Christi, das seinen Stoff ebenfalls in 17 Bücher gliedert, d h es gibt zumindest einen formalen Nachfolger In seiner 2010 erschienenen Monographie Exemplary Epic konzentriert sich Ben Tipping auf die Figuren Hannibal, Fabius und Scipio und die Rollen, die sie im Epos spielen Tipping ist sowohl am Verhältnis des Silius zu seinen epischen Vorgängern Vergil und Lucan interessiert, als auch daran, wie die Punica den Transformationsprozess Roms von der Republik zum Prinzipat beschreiben: „With his very first mention of Scipio, as Dardanus ductor (‚Roman leader‘; 1 14–15), Silius recalls Virgil’s Aeneid, and so associates the republican Scipio with proto-Roman kingship But he also foreshadows the way in which he will focus on one of the Roman epic viri he introduces at Punica 1 5, and so poetically reflects the political emergence of the single ruler […] He thereby offers a poetic paradigm of and parallel for the political emergence of the one from the many“38 Dies ist die Stoßrichtung, die Tipping bereits im ersten Satz seines Buches ankündigt: „Silius Italicus’ Punica should be the example of Roman epic, glorifying hard-won victory over an external enemy at the hight of the republic, between the legendary beginnings that Virgil traces in the Aeneid and the decline into civil war that Lucan laments in the De bello civili […] Silius’ epic merits close attention both per se and for its rich interrelationships with other works, especially its main generic paradigms, Virgil’s Aeneid and Lucan’s De bello civili “39 In Charakterisierungen der Punica jüngsten Datums, etwa in der Darstellung der flavischen Epik, die Neil W Bernstein im Blackwell Companion to the Flavian Age of Imperial Rome 2016 unternimmt, werden die Punica zwar auch mit Bezug zur Aeneis dargestellt, doch es besteht nunmehr kein Zweifel an ihrer Eigenständigkeit, an ihrem Eigenwert: Bernstein betont, dass die Fortschritte, die bei der Erforschung der augusteischen Poesie, v a der Dichtung Vergils, gemacht wurden, auch zu neuen methodologischen Entwicklungen in der Erforschung Silius Italicus’ geführt haben, etwa im Bereich der Intertextualität: „Recognizing the centrality of allusion in Augustan poetry helped change the evaluation of this compositional dynamic in Flavian poetry, as innovative and empowered by tradition rather than as epigonal and derivative “40 Was jetzt interessiert, ist der Beitrag, den dieses Epos zum literarischen und politischen Diskurs seiner eigenen Zeit leisten kann

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Hg von Jörg Rüpke Stuttgart 2001, S 130–182; Craig Kallendorf: The Neo-Latin Epic In: Brill’s Encyclopaedia of the Neo-Latin World Hg von Philip Ford, Jan Bloemendal, Charles Fantazzi Leiden, Boston 2014, S 449–460; Florian Schaffenrath: Narrative Poetry In: The Oxford Handbook of Neo-Latin Hg von Sarah Knight, Stefan Tilg Oxford, New York 2015, S 57–72; Paul Gwynne: Epic In: A Guide to Neo-Latin Literature Hg von Victoria Moul Cambridge 2017, S 200–220 Ben Tipping: Exemplary Epic Silius Italicus’ Punica Oxford 2010, S 194 Tipping (Anm 38), S 1 Neil W Bernstein: Epic Poetry: Historicizing the Flavian Epics In: A Companion to the Flavian Age of Imperial Rome Hg von Andrew Zissos Malden, Oxford 2016, 395–411, S 395

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Florian Schaffenrath

6. Fazit Im Blick auf das übergeordnete Thema Klassik und Klassizismus konnten die im Zuge dieses Beitrages besprochenen Textstellen zeigen, wie Silius Italicus noch vor einem halben Jahrhundert ganz selbstverständlich als Klassizist in starker stilistischer, aber eben nicht nur stilistischer Abhängigkeit von Vergil gesehen wurde Es kam zunächst zu einer positiven Umwertung dieses Klassizismus, der in früherer Zeit Anlass für die drastischste Abwertung der Punica gegeben hatte In einer Reihe von faszinierenden Einzelstudien, aber eben auch in Überblickswerken zur Einschätzung und Bewertung des Silius Italicus hat es sich dann immer mehr eingebürgert, nicht von den Abhängigkeiten zu sprechen, sondern von den spezifischen Eigenheiten, der Bedingtheit des Silius durch die eigene historische Realität Silius wird als Epiker verstanden, der eine Botschaft für das flavische Rom hat, der ein idealtypisches Herrscherbild entwirft, an dem sich Domitian orientieren könnte Silius ist in dieser Darstellungsweise zum Klassiker der Flavier geworden

Ovidische Momente in Silius’ Punica Klassizismus als Orientierung an klassisch gewordenen und werdenden Modellen Christine Schmitz (Münster)*

Mit Vergils Aeneis hatte die Gattung Epos in Rom einen Grad höchster Vollendung erreicht Nachfolgende Epiker meisterten die Herausforderung, wie mit diesem übermächtigen Vorbild umzugehen sei, auf verschiedene Weisen Beginnend mit Ovids Metamorphosen über Lucans Bürgerkriegsepos bis zu den Epen der flavischen Zeit und darüber hinaus liegen unterschiedliche Formen der kreativen Auseinandersetzung mit der Aeneis vor In der literaturwissenschaftlichen Diskussion fällt das Urteil über Dichtung, die sich an klassischen Vorbildern orientiert, selten wertneutral aus, sondern schwankt zwischen positiver Würdigung (innovative Transformation) und pejorativer Abqualifizierung (klassizistische Nachahmung) Während bei den übrigen nachvergilischen Epikern1 gemeinhin die kunstvolle Allusionstechnik, Kontrastimitation und Intertextualität im Zentrum der Lektüre stehen, wurde Silius’ historisches Epos über den Zweiten Punischen Krieg häufig mit dem Etikett eines epigonal-klassizistischen Werks abgestempelt Doch auch diese Beurteilung wird zunehmend einer kritischen Revision unterzogen, haben doch neuere Analysen von Silius’ epischer Technik Formen einer komplexen Intertextualität in den Punica aufgezeigt, ohne zu verneinen, wie eng Silius der epischen Tradition und insbesondere Vergil verhaftet ist So bezeichnet Marcus Wilson Silius’ Epos als „the most intertextual of poems“2, Gesine Manuwald

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Uwe Dubielzig (München) danke ich für kritische Lektüre meines Manuskripts und hilfreiche Hinweise Die Bezeichnung ‚nachvergilische Epiker‘ insbesondere für die flavischen Epiker ist freilich schon Ausdruck einer einseitigen Blickrichtung auf Vergils Epos als Dreh- und Angelpunkt Neben Vergils Epos als Referenzmodell hat sich etwa Silius für seine Darstellung des Zweiten Punischen Krieges auch an anderen epischen Texten wie an Lucans Bürgerkriegsepos oder Ovids Metamorphosen orientiert Marcus Wilson: Ovidian Silius In: Arethusa 37 (2004), S 225–249, hier S 248

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hat multiple Intertextualität in den Punica nachgewiesen,3 und Alison Keith sieht in Silius’ Verfahren, ein vorherrschendes vergilisches Modell mit ovidischen Intertexten zu unterlegen, die Funktion einer vertiefenden Ergänzung 4 In diese Tendenz ordnen sich auch die folgenden Ausführungen ein Nach Vorüberlegungen zu den Begriffen ‚Klassik‘ und ‚Klassizismus‘ sollen an drei Fallbeispielen verschiedene Kategorien der Adaptierung klassischer Vorbilder in Silius’ Punica aufgezeigt werden 5 Hierbei bilden ovidische Momente, d h von Ovids Metamorphosen inspirierte oder an Ovids Verfahren erinnernde Episoden und Erzählweisen den Bezugspunkt, wobei immer auch andere Intertexte zu berücksichtigen sind 1. Zu den Begriffen ‚klassisch‘ und ‚klassizistisch‘ Das Bild von Silius als eines klassizistischen Epikers hat sich – zumindest in der deutschsprachigen – Forschung verfestigt Exemplarisch6 seien zwei Äußerungen zitiert:

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Gesine Manuwald: Epic Poets as Characters: On Poetics and Multiple Intertextuality in Silius Italicus’ Punica In: Rivista di filologia e di istruzione classica 135 (2007), S 71–90, hier S 90 hält als Ergebnis ihrer Untersuchung von Silius’ Verfahren, seine epischen Vorgänger (nämlich Ennius und Homer; Vergil wird erwähnt) als Figuren in seinem Werk persönlich auftreten zu lassen, abschließend fest: „he alludes to details of their biography, typical characteristics of their works and well-known passages Thereby Silius Italicus demonstrates that he is deeply steeped in the epic tradition and at the same time self-confident enough to define his own position within it “ Alison Keith: Ovid’s Metamorphoses in Imperial Roman Epic In: A Handbook to the Reception of Ovid Hg von John F Miller, Carole E Newlands Chichester 2014, S 70–85, hier S 82 = Alison Keith: Ovidian Itineraries in Flavian Epic In: Repeat Performances Ovidian Repetition and the Metamorphoses Hg von Laurel Fulkerson, Tim Stover Madison (Wis ) 2016, S 196–224, hier S 220: „to deepen and supplement the master’s work“ und allgemein zu Silius’ Rezeption von Ovids Metamorphosen: Keith (2016, Anm 4), S 214–220 und Keith (2014, Anm 4), S 81: „despite his Virgilian historical subject, Silius tends to look to Ovid’s Metamorphoses (and Fasti) for the myths that he admits to his poem “ Während Richard T Bruère: Color Ovidianus in Silius Punica 1–7 In: Ovidiana Recherches sur Ovide 5 Hg von Niculae I Herescu Paris 1958, S 475–499 und ders : Color Ovidianus in Silius Punica 8–17 In: Classical Philology 54 (1959), S 228–245 die ovidischen Vorbilder in seiner verdienstvollen Materialsammlung in der Reihenfolge ihres Vorkommens auflistete, versucht Wilson (Anm 2), S 227–230 eine Klassifizierung in vier Typen Auch für meine Untersuchung gilt das von Wilson selbst gegebene Zugeständnis, daß es keine trennscharfe Unterscheidung zwischen den einzelnen Typen geben kann, vgl Wilson (Anm 2), S 227, Anm 9: „The aim is not to prescribe a rigid taxonomy but to illustrate pragmatically something of the variety of uses to which Silius put his knowledge of Ovid’s works “ Eine umfassende Zusammenstellung der Bewertung von Silius als Klassizist bietet Florian Schaffenrath in seinem Beitrag Vom ‚Erzklassizisten‘ zum verhinderten Klassiker Silius Italicus im Blick der Forschungen der letzten 50 Jahre, vgl S 169–180 in diesem Band Zur Rezeption der Punica in der modernen Forschung überhaupt s William J Dominik: The Reception of Silius Italicus in Modern Scholarship In: Brill’s Companion to Silius Italicus Hg von Antony Augoustakis Leiden, Boston 2010, S 425–447

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Wie in der Behandlung der Götter- und Menschengestalten so hält sich Silius auch in der Erzählweise und im Stil an das große Vorbild der ‚Aeneis‘ … Auch Ovid ist in manchen Partien motivisch und sprachlich ähnlich wie Vergil genutzt Mit vollem Recht trägt Silius gerade auch vom Sprachlich-Stilistischen her die Kennzeichnung als Klassizist (Erich Burck: Die ‚Punica‘ des Silius Italicus In: Das römische Epos Hg von Erich Burck Darmstadt 1979, S 254–299, hier S 294)

Wie Burck bezieht auch Baier die Etikettierung „Klassizist“ in seiner konzisen Literaturgeschichte vor allem auf Erzählweise und Stil des Silius 7 Schubert, der in seine Beurteilung neben dem sprachlich-stilistischen Aspekt insbesondere auch die von der epischen Tradition abweichende Werkarchitektur einbezieht, arbeitet mit der Dichotomie Klassizismus versus Modernität8: Und das ist der Ausgangspunkt für mich, bei einem Dichter wie Silius überhaupt die Frage nicht nur nach seinem Klassizismus, der nicht in Abrede gestellt werden soll, sondern auch nach einer potentiell zumindest latent vorhandenen Modernität zu stellen (Werner Schubert: Silius Italicus – ein Dichter zwischen Klassizismus und Modernität? In: Silius Italicus Akten der Innsbrucker Tagung vom 19 –21 Juni 2008 Hg von Florian Schaffenrath Frankfurt/M 2010 [Studien zur klassischen Philologie 164], S 15–28, hier S 17)

Im Sinne einer Arbeitsdefinition verstehe ich Klassizismus als wiedererkennbare Orientierung an einem als verbindlich gesetzten Modell bzw zum Modell erhobenen Text Die Anerkennung der Vorgänger als ‚klassisch‘ im Sinne von ‚erstrangig‘, ‚mustergültig‘ ist ein dynamischer Vorgang: Spätere Autoren erheben frühere in den Rang von Klassikern, indem sie sich an ihnen orientieren und ihnen damit normativen Vorbildcharakter zuweisen Die Orientierung an als vorbildlich angesehenen Autoren ist also konstitutiv für den Klassizismus, der neutral als Verfügen über das Potential der literarischen Tradition verstanden werden könnte Dem Begriff ‚Klassizismus‘ haftet allerdings gemeinhin der negative Beigeschmack einer unproduktiven Abhängigkeit an Zu vergleichen ist etwa: Auch der Klassizismus rezipiert Klassiker … Aber die Vorbilder sind feststehend, eine bestimmte Epoche oder Kunstform wird als vollständige und vollkommene Verwirklichung menschlicher Möglichkeiten anerkannt, als klassisch angesehen und für die Künstler 7

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Thomas Baier: Geschichte der römischen Literatur München 2010, S 24 „Als historische Quelle stützt sich Silius hauptsächlich auf die dritte Dekade des Livius, sprachlich-stilistisch gebärdet er sich vordergründig als Klassizist und versucht auch in der Erzählweise Vergil nachzueifern, wenngleich er, vor allem in der manieristischen Schilderung grausiger Szenen, erkennbar unter dem Einfluß von Seneca und Lukan steht “ Auch die Zweiteilung in das Begriffspaar Tradition und Originalität durch Michael von Albrecht: Tradition und Originalität bei Silius Italicus In: Aevum Antiquum N S 6 (2006), S 101–121 ist insofern problematisch, als die Begriffe suggerieren, es handle sich um entgegengesetzte Extreme einer Bewertungsskala, die jeweils auf ein Phänomen appliziert werden könnten

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zum verbindlichen Dogma erhoben, ihren formalen Möglichkeiten absoluter Rang zugesprochen Es sind Vorbilder, deren Qualität als überwältigend empfunden wird, wobei der Glaube hinzukommt, man könnte ihnen nichts Gleichwertiges oder gar Überlegenes entgegenstellen, das nicht mittels einer mehr oder weniger sklavischen Nachahmung aus ihnen hervorgegangen sei (Pascal Weitmann: Die Problematik des Klassischen als Norm und Stilbegriff In: Antike & Abendland 35 [1989], S 150–186, hier S 165 f )

Die Begriffe ‚Klassik‘ und ‚Klassizismus‘ bzw die jeweiligen Adjektive ‚klassisch‘ und ‚klassizistisch‘ sind freilich als reine Konstrukte zu betrachten Die kritische Frage lautet also: Sind diese Begriffe geeignet, Arten der Adaptierung in der lateinischen Literatur – insbesondere in der auf die augusteische Epoche9 folgenden Literaturphase – adäquat zu beschreiben? Gerade im Hinblick auf gleitende Übergänge zwischen einer Orientierung an einem als klassisch empfundenen Modell bzw zum Modell erhobenen Text (Klassizismus) und der wechselseitigen Interaktion zwischen Texten (Intertextualität) stellt sich umso dringlicher die Frage, was die Begriffe ‚klassisch‘ und ‚klassizistisch‘ zur Beschreibung von Silius’ Verhältnis zu seinen epischen Vorgängern leisten 2. Ovids Philemon-und-Baucis-Episode als Beispiel für den Prozeß, wie eine Erzählung zum klassischen Referenztext erhoben wird Einzelne Episoden konnten dem Kontinuum von Ovids Metamorphosen entnommen und in einen neuen narrativen Rahmen versetzt werden Die Philemon-und-Baucis-Episode in Ovids achtem Metamorphosen-Buch ist eine solche Erzählung, die sich als Referenzmodell mit großem Potential erwies 10 Um die konstanten Elemente, die in modifizierter Form in den verschiedenen Adaptationen wiederkehren, hervorzuheben, sei Ovids Erzählung über Philemon und Baucis (met 8,618–724) kurz in Erinne-

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Zum Verhältnis von Klassik und Klassizismus innerhalb der augusteischen Dichtung vgl Antonie Wlosok: Die römische Klassik: zur ‚Klassizität‘ der augusteischen Poesie In: Klassik im Vergleich Normativität und Historizität europäischer Klassiken DFG-Symposion 1990 Hg von Wilhelm Voßkamp Stuttgart, Weimar 1993, S 331–347 Vgl Bellers stoffgeschichtliche Untersuchung (Manfred Beller: Philemon und Baucis in der europäischen Literatur Stoffgeschichte und Analyse Heidelberg 1967 [Studien zum Fortwirken der Antike 3]) Beginnend mit Homer (Odysseus bei Eumaios im 14 Buch der Odyssee) bis zum christlichen Dichter Prudentius verfolgt Adrian S Hollis: Ovid Metamorphoses Book VIII Oxford 1983, S 106–108 das in der literarischen Tradition immer wiederkehrende Motiv, wenn ein Gott oder Heros in der bescheidenen Hütte meist armer, alter Leute gastfreundlich aufgenommen wird Zum in der antiken Literatur beliebten Topos der Gastfreundschaft vgl auch Patricia A Rosenmeyer: The Unexpected Guests: Patterns of Xenia in Callimachus’ ‚Victoria Berenices‘ and Petronius’ Satyricon In: Classical Quarterly 41 (1991), S 403–413, insbes ihre hilfreiche Stellensammlung in Anm 9

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rung gerufen Das alte Ehepaar nahm die als Wanderer verkleideten Götter Jupiter und Merkur, die von den anderen Bewohnern der Gegend abgewiesen worden waren, in seiner Hütte auf und bewirtete sie gastfreundlich Während die Götter die Nachbarn mit einer Wasserflut bestraften, wurden die frommen Gastgeber vor der Vernichtung verschont, ihre ärmliche Hütte verwandelte sich in einen Tempel, dessen Priester sie wurden Bei ihrem späteren Tod, der ihrem Wunsch zufolge gleichzeitig erfolgte, nahmen sie die Gestalten einer Eiche und einer Linde an Ovid hat mit seiner Erzählung von Philemon und Baucis den Erzähltyp der gastfreundlichen Bewirtung von Göttern, die unerkannt in eine ärmliche Hütte einkehren, in einer Form präsentiert, auf die sich nachfolgende Modellierungen einzelner, charakteristischer Elemente beziehen Ovids Erzählung selbst ist nach dem Modell der Hekale des Kallimachos11 gestaltet Die greise, arme Hekale nahm den attischen Heros Theseus gastfreundlich auf, der, auf dem Weg zum Kampf mit dem Stier von Marathon von einem Regensturm überrascht, in ihrer Hütte Zuflucht suchte Metapoetisch verweist Ovid selbst auf die Hekale des Kallimachos als Prätext, wenn er die Reaktion der Hörer auf die Erzählung des Lelex schildert Seine Erzählung habe alle bewegt, insbesondere aber Theseus (Thesea praecipue, met 8,726), was als Hinweis auf die Rolle des Theseus in Kallimachos’ Hekale gesehen werden kann 12 Die Erzählung über Baucis und Philemon in Ovids achtem Metamorphosen-Buch bildet ihrerseits ein Referenzmodell, auf das spätere Autoren in unterschiedlichen Abstufungen zurückgreifen Erst durch Adaptierung, Transformierung oder auch Parodierung wird Ovids Version in den Status eines klassischen Textes erhoben, erfolgt doch die Zuschreibung als ‚klassisch‘ im Sinne von modellhaft, mustergültig stets nachträglich Auch unabhängig voneinander wird in der antiken (und modernen) Literatur immer wieder auf diese Erzählung in Ovids Metamorphosen rekurriert Hierbei wird die Episode in wechselnder Perspektivierung als Modell für hohen Besuch in niedriger Hütte, für wunderbare Belohnung als Dank für erwiesene Gastfreundschaft, für Alter und akzeptierte Armut der Gastgeber, für frugales Mahl usw aktiviert

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Darüber hinaus weist auch der narrative Rahmen auf Kallimachos: Im achten Buch von Ovids Metamorphosen folgt auf die Philemon-und-Baucis-Erzählung (met 8,618–724) die Partie über Erysichthon (8,738–878), dessen Geschichte von Kallimachos im Demeterhymnos (h 6,25–117) erzählt wurde; zur Anlehnung an Kallimachos’ sechsten Hymnos an Demeter vgl Hollis (Anm 10), S 129 f , S 131 und Franz Bömer: P Ovidius Naso Metamorphosen Kommentar Buch VIII–IX Heidelberg 1977, S 233 Stephen Hinds: Generalising about Ovid In: Ramus 16 (1987), S 4–31, hier S 19 verweist auf Kenneys Anmerkung zu V 726 (Ovid Metamorphoses Translated by Alan D Melville With an Introducton and Notes by Edward J Kenney Oxford 1986, S 424 und Introd , S XXVIII ): „a nudge to the reader“

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a) Silius’ Rekurs auf Ovids Philemon-und-Baucis-Erzählung in der Falernus-Episode (Punica 7,162–211) Silius greift für die Ausgestaltung seiner aitiologischen Erzählung über die Stiftung des Weinbaus durch Bacchus in Diktion und Design vor allem auch auf die Philemon-und-Baucis-Episode in Ovids achtem Metamorphosen-Buch zurück 13 Die Passage ist deutlich als Exkurs innerhalb der Punica markiert, wodurch das epische Erzählen der kriegerischen Ereignisse unterbrochen wird, wie die hymnische Anrufung des Weingottes zu Beginn explizit betont (Sil 7,162 f ): Haud fas, Bacche, tuos tacitum tramittere honores, quamquam magna incepta14 vocent Es wäre nicht recht, deine rühmenswerten Taten, Bacchus, schweigend zu übergehen, obwohl große Unternehmungen zur Schilderung rufen

Unmittelbar nach der aitiologischen Einlage wird das destruktive Eingreifen Hannibals, der bereits vor dem Exkurs als populator15 bezeichnet wurde, nochmals abschließend thematisiert (7,212 f ):

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Zu den literarischen Modellen im siebten Buch der Punica insgesamt vgl R Joy Littlewood: A Commentary on Silius Italicus’ Punica 7 Oxford 2011, Introduction, 2 Kap (XIX–LXII) Zur Falernus-Episode vgl speziell Littlewood (Anm 13), S 90–107; David W T C Vessey: The Myth of Falernus in Silius, Punica 7 In: Classical Journal 68 (1973), S 240–246; von Albrecht (Anm 8), S 107–113; ferner Matthias Korn: Die Falernus-Episode in den Punica des Silius Italicus (7,162– 211) In: Noctes Sinenses Hg von Andreas Heil, Matthias Korn, Jochen Sauer Heidelberg 2011 (Kalliope 11), S 74–78, dessen Schlußfolgerung („Scipio wird so zum Werkzeug des Bacchus, zum Vollstrecker göttlichen Rachewillens“ [78]) einseitig ist Zur Ovid-Rezeption in der Falernus-Erzählung vgl Bruère (1958, Anm 5), S 491–495 und Wilson (Anm 2), S 240–243 Zur poetologischen Dimension des Ausdrucks vgl Vessey (Anm 13, S 241): „The appearance of the word magna signalizes the fact that the poet is turning aside for a time from the ‚grand‘ themes of epic to material more suited to a ‚smaller‘ Callimachean genre“ Silius läßt Hannibal im 12 Buch coepta immania (510) eröffnen, wenn er seine Soldaten zur Erstürmung Roms auffordert, vgl Jan Robinson Telg gen Kortmann: Hannibal ad portas Silius Italicus, Punica 12,507–752 Einleitung, Übersetzung und Kommentar Heidelberg 2018, der die metapoetische Funktion der Ankündigung („ein ungeheures [literarisches] Vorhaben“) in seinem Kommentar zu 12,510b (et coepta immania pandit) herausgearbeitet hat Sil 7,158 Campanas remeat notus populator in oras (kehrt er als dort schon berüchtigter Verwüster ins kampanische Gebiet zurück) Hannibal wird in den Punica öfter als Zerstörer einer zuvor intakten Landschaft dargestellt, vgl etwa seine Zerstörung des durch den Ticinus repräsentierten italischen Naturidylls im vierten Buch In diesem Zusammenhang wird der Fluß, an dessen Ufern eine Schlacht stattfinden wird, zum locus amoenus stilisiert (Sil 4,81–87), so daß die ins italische Land eindringenden Punier und ihr Anführer umso destruktiver erscheinen; hierzu vgl Henning Haselmann: Gewässer als Schauplätze und Akteure in den Punica des Silius Italicus Münster 2018 (Orbis antiquus 53), S 92–98

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Haec tum vasta dabat … Hannibal, et sicci stimulabant sanguinis enses Dieses gab Hannibal damals der Verwüstung preis …, und ihn stachelten seine vom Blut lange trockenen Schwerter an

Der Versauftakt Haec tum vasta dabat ist ein intertextueller Verweis auf Vergils Erzählung über das jugendliche Freundespaar Nisus und Euryalus, die ein Massaker unter den schlafenden Feinden verüben (Aen 9,314–366) Mit dem bis zur Vershälfte fast identischen Wortlaut wird das nächtliche Morden und Plündern der trojanischen, ins Lager der Rutuler eindringenden Späher Nisus und Euryalus aufgerufen Nisus’ prahlerische Ankündigung eröffnet das Gemetzel (Aen 9,323): haec ego vasta dabo Der Erzähler der Punica hat genau diese Worte des Nisus auf Hannibals Aktion übertragen, wobei die Ankündigung (vasta16 dabo, Aen 9,323) zur Durchführung gekommen ist (vasta dabat, Sil 7,212) Durch das Echo aus Vergils Aeneis wird die Verwüstung des ager Falernus in den Punica in Analogie zur Zerstörung im Rutulerlager gesetzt Der fast identische Versbeginn verschränkt die beiden Episoden miteinander und eröffnet mehrere Deutungsmöglichkeiten Weniger dürfte hier allerdings der Gedanke, daß die Akteure ihre Tat später bereuen werden, das Ausschlaggebende sein 17 Die Konsequenz für die Aggressoren selbst, eine mögliche spätere Reue, kann zunächst ausgeblendet werden Vielmehr agiert der blutdürstige Hannibal (vgl sicci stimulabant sanguinis enses, 213) ähnlich impulsiv wie Euryalus, der von allzu mächtiger Mordlust davongetragen wird (nimia caede atque cupidine ferri, Aen 9,35418) Im Mittelpunkt steht jeweils die mutwillige Aktion, die allein dem puren Destruktionswillen entspringt, ohne daß eine militärische Notwendigkeit vorliegt Der durch Einleitung und Abschluß markierte Exkurs über die Stiftung des Weinbaus in Campanien durch den Gott Bacchus wird in dem Moment eingefügt, in dem Hannibal dieses Gebiet mit seinen fruchtbaren Weinbergen verwüsten läßt Als Gegenbild zum destruktiven Einbruch Hannibals in die landschaftliche Idylle gewährt die aitiologische Digression einen Blick auf eine lange zurückliegende, friedliche Zeit:19 Der in Menschengestalt unerkannt umherziehende Bacchus wird auf seinem 16 17

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Zur Konnotation des bei Vergil beliebten Adjektivs vastus s Christian J Fordyce: P Vergili Maronis Aeneidos libri VII–VIII with a Commentary Introduction by Patrick G Walsh Edited by John D Christie Bristol 1985 zu Aen 7,302 So deutet Littlewood (Anm 13) die mögliche intertextuelle Dimension des Verweises in ihrem Kommentar zu 212 f : „By echoing so closely Nisus’ arrogant boast haec ego vasta dabo, Silius may be hinting that the Punic general, like the Trojan invader Nisus in the Rutulian camp, may live to regret his detour of destruction through the vineyards of the Ager Falernus “ Zu den Deutungsproblemen dieser Parenthese (Hendiadyoin von caede atque cupidine?, Subjekt im AcI [nur Euryalus oder beide?]) vgl Philip Hardie: Virgil Aeneid Book IX Cambridge 1994 sowie Joachim Dingel: Kommentar zum 9 Buch der Aeneis Vergils Heidelberg 1997, jeweils z St Zu den Zügen eines Goldenen Zeitalters (vgl meliore … in aevo, 7,166) gehört es, daß es noch keine Schwerter gab (ensibus ignotis, 167) und daß Götter und Menschen noch direkt miteinander

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Weg zur hispanischen Küste vom alten Falernus gastlich aufgenommen und bewirtet Zum Dank für die ihm erwiesene Gastfreundschaft stiftet Bacchus die Gabe des Weins Als Intertext für die Bewirtung göttlicher Gäste in einer bescheidenen Hütte durch arme, aber fromme Bewohner scheint Ovids Erzählung über Philemon und Baucis im achten Buch der Metamorphosen auf Neben der vergleichbaren Szenerie wird auf das Modell von Ovids Erzählung durch enge motivische Parallelen verwiesen Auch durch sprachliche Anklänge sind die Szenen aufeinander bezogen So ist das Motiv des Betretens der ärmlichen Hütte durch die göttlichen Gäste in beiden Szenen ähnlich ausgestaltet: Sil 7,173 f : nec pigitum parvosque lares humilisque20 subire limina caelicolam tecti Nicht verschmähte es der Himmelsbewohner, das kleine Heim und die Schwelle der niedrigen Hütte zu betreten

Ov met 8,637 f : ergo ubi caelicolae parvos tetigere penates submissoque humiles intrarunt vertice postes, … Sobald also die Himmelsbewohner das kleine Haus betreten und mit gesenktem Scheitel die niedrige Tür durchschritten hatten, …

In beiden Partien wird der Kontrast zwischen dem erhabenen Gast, der üblicherweise den Himmel bewohnt (caelicola), und der bescheidenen (parvos)21 Hütte, die metonymisch durch die Schutzgötter des Hauses bezeichnet wird (lares – penates), hervorgehoben Insbesondere wird der Eintritt in die niedrige (humilis) Hütte im Überschreiten der Schwelle in den Blick genommen Einfache, frugale Lebensführung zeichnet die Gastgeber jeweils aus So sind die beiden Partien auch durch Details der aufgetischten Speisen wie das aus dem bewässerten Garten geholte frische Gemüse miteinander verbunden, zu vergleichen ist Sil 7,180 f

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verkehrten Ferner ist die Verneinung dessen, was es noch nicht gab, ein typisches Merkmal in Beschreibungen des Goldenen Zeitalters, vgl nondum (7,168, hierzu s etwa Ov met 1,94 und 97, weitere Belege in Bömers Kommentar (Franz Bömer: P Ovidius Naso Metamorphosen Kommentar Buch I–III Heidelberg 1969 zu 1,94) und nec (169) Da Falernus Ackerbau betreibt (sulcabat … iuga, 166 f ), liegt die Vorstellung eines einfachen, agrarischen Lebens vor Das nach der Hephthemimeres stehende humilis muß auf den Genitiv tecti bezogen werden; anders Littlewood (Anm 13) zu 173 f : „Using the epic -que … -que Silius refers to the cottage by the metonymy of lares which are described as parvosque … humilesque“ Vgl Michael von Albrecht: Silius Italicus Freiheit und Gebundenheit römischer Epik Amsterdam 1964, S 191: „Silius als ‚Textzeuge‘ zu Ovids Metamorphosen“

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nunc irriguis citus extulit hortis rorantes umore dapes Bald holte er rasch aus dem bewässerten Garten von der Feuchtigkeit noch triefende Speisen

mit Ov met 8,646 f quodque suus coniunx riguo collegerat horto, truncat holus foliis; Den Kohl, den ihr Gatte aus dem bewässerten Garten geholt hatte, entblättert sie

Wie ein Echo klingt auch der Versschluß beim Motiv des in Körben servierten Obstes, vgl Sil 7,179 puris22 … poma canistris (Obst in einfachen Körben) mit Ov met 8,675 prunaque et in patulis redolentia mala canistris (Pflaumen und duftende Äpfel in geräumigen Körben) Bei der eigentlichen Theoxenie wird die behende Dienstfertigkeit des alten Falernus hervorgehoben (Sil 7,186 f ): hac sedulitate senili / captus Bacchus ist von der Beflissenheit des Alten beeindruckt – ein Anklang an die geschäftige Baucis in Ovids Version (sedula Baucis, met 8,640) Von Albrecht, der nebenbei die im Kontext des Bacchusbesuchs adäquatere Verwendung des Weinmotivs bei Silius herausstellt, listet knapp folgende gemeinsame Züge der beiden Geschichten auf: Göttlicher Besuch in einem bescheidenen, aber frommen Hause; die Gastgeber bewähren sich als pii, die Götter offenbaren sich zuerst durch ein Wunder am Weine (das bei Silius auf Bacchus besser paßt, als bei Ovid auf Iupiter und Mercur), dann durch die Enthüllung ihrer göttlichen Natur und schließlich – nach einer wirkungsvollen Pause – durch eine Verwandlung des Orts (von Albrecht [Anm 21], S 157)

Silius beschränkt sich für die Ausgestaltung seiner Falernus-Episode freilich nicht auf Ovids Erzählung über Philemon und Baucis 23 Als weiterer Prätext kommt die aitiolo-

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François Spaltenstein: Commentaire des Punica de Silius Italicus (livres 1 à 8) Genève 1986 (Faculté des Lettres de l’Université de Lausanne 28) weist z St auf die schmucklose Einfachheit des Geschirrs hin: „Comme avec fagina … pocula 188, Sil pense à la simplicité de cet âge“ Zu den in der hellenistischen Dichtung besonders beliebten Erzählungen über Götter- und Heroenbewirtungen gehört neben der einflußreichen Hekale des Kallimachos (ein in zahlreichen Fragmenten überliefertes Kleinepos) auch die (nur noch in wenigen Fragmenten erhaltene) Erigone des Eratosthenes, deren aitiologische Erzählung über die Einführung des Weinbaus große Ähnlichkeiten mit Silius’ Erzählung über die Entstehung des Falernerweins aufweist Erigone war die Tochter des Ikarios, der Dionysos gastlich aufgenommen und bewirtet hatte und vom Gott als Belohnung mit Weinreben und der Kenntnis der Weinbereitung beschenkt worden war, vgl Hollis (Anm 10), S 106 f ; Bömer (Anm 11), S 192 sowie Littlewood (Anm 13), S 93

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gische Erzählung über das Sternbild Orion in den Fasti hinzu (Ov fast 5,493–544) 24 Hyrieus, wie Falernus ein Greis und Landwirt (senex Hyrieus, angusti cultor agelli, fast 5,499), lädt bei Sonnenuntergang drei Wanderer, die unerkannt umherziehenden Götter (dissimulantque deos, 504) Jupiter, Neptun und Merkur, in seine kleine, ärmliche Hütte ein Die Götter geben sich beim Mahl zu erkennen Als Dank für seine Gastfreundschaft stellt Jupiter dem alten Mann einen Wunsch frei Dieser, ein kinderloser Witwer, wünscht sich, ein Kind ohne Mutter zu bekommen, was die Götter ihm durch ungewöhnliche Zeugung erfüllen Silius verschränkt die beiden Erzählungen So zeigt seine Falernus-Episode Anklänge sowohl an die Hyrieus- als auch an die Philemon-und-Baucis-Erzählung Ovids: Sil 7,174 f cepere volentem / fumosi postes (Als willigen Gast nahmen rauchgeschwärzte Pfosten ihn auf) Entsprechend heißt es vom Eintritt der Götter in die Hütte des Hyrieus (Ov fast 5,505): tecta senis subeunt nigro deformia fumo (sie betreten das Haus des Greises, das durch dunklen Rauch geschwärzt war) Das rauchgeschwärzte Interieur (fumosi – fumo) ist ein Zeichen einfachen Wohnens bei offenem Feuer Zu subeunt (fast 5,505) ist subire (Sil 7,173) im gleichen Kontext zu vergleichen, und postes (Sil 7,175) nimmt postes in Ov met 8,638 auf Silius’ Falernus-Episode (7,162–211) enthält eine wunderbare Verwandlung und ist auch dadurch eng mit Ovids Metamorphosen verbunden Der eigentliche Verwandlungsvorgang wird durch subito, mirabile dictu (187) angekündigt In einem versus aureus wird das plötzliche Vorhandensein des von Bacchus gestifteten Weins festgehalten (188): fagina pampineo spumarunt pocula suco (die Becher aus Buchenholz schäumten vom Saft der Weinbeeren) Die Juxtaposition des bescheidenen Materials der einfachen Becher25 mit der plötzlich entstandenen Flüssigkeit, die den Becher füllt, erhöht das Wunder noch Charakteristischerweise bildet der durch das Geschenk des dankbaren göttlichen Gastes neue Zustand den abschließenden Höhepunkt der aitiologischen Digression Das vormals kahle Gefilde (vgl 167b–169: pampinus umbras / nondum uvae virides nudo texebat in arvo, / pocula nec norant sucis mulcere Lyaei, Weinlaub flocht der Traube noch nicht grüne Schatten auf dem kahlen Gefilde, und sie verstanden es noch nicht, ihre Becher mit Lyaeus’ Säften lieblich zu füllen) erlangt durch das Geschenk des Weingottes bleibenden Ruhm (vgl Bacchus’ Prophezeiung [192b–194a]: ‚sed olim / viticolae nomen pervulgatura Falerni / munera‘, ‚doch einst wird das Geschenk den Namen des Winzers Falernus weit verbreiten‘) Als dauerhaft bleibendes, bis in die Gegenwart und darüber hinaus fortbestehendes Ergebnis

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Zum Erzähltyp der Götterbewirtung durch Alte und deren Belohnung vgl auch Johanna Loehr: Ovids Mehrfacherklärungen in der Tradition aitiologischen Dichtens Stuttgart, Leipzig 1996 (Beiträge zur Altertumskunde 74), S 282 f mit Anm 311 Auch die Becher in Philemons und Baucis’ Haushalt sind aus Buchenholz, vgl fabricata … fago/ pocula (met 8,669 f ) und fast 5,522 (bei Hyrieus) pocula fagus erant, vgl auch Littlewood (Anm 13) zu 188

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der Verwandlung wird am Ende der Einlage festgehalten, daß seit dieser Zeit die besten und berühmtesten Weine dem Falernerwein im Rang nachstehen (209–211): atque ex illo tempore … lacibus cessere Falernis Trotz aller Markierung als Rückblick in eine ferne Vergangenheit hat Silius die Falernus-Episode doch auch eng mit dem Kontext verzahnt, was sich schon allein an drei ähnlich klingenden Versen zeigen läßt So heißt es über Fabius’ bescheidenes, von den Vorfahren ererbtes Landgut im unmittelbaren Anschluß an den Exkurs (7,263): Massicus uviferis addebat nomina glebis (der Berg Massicus verlieh seinen ruhmvollen Namen den traubentragenden Schollen) Durch das erlesene Adjektiv uvifer26 in Verbindung mit dem Berg Massicus knüpft der Vers an einen früheren Vers aus dem Exkurs an, in dem die von Bacchus geschenkten blühenden Weinberge am frühen Morgen geschildert werden (7,207): uviferis late florebat Massicus arvis (blühte der Massicus weithin mit seinen traubentragenden Fluren) Ganz parallel ist der Vers aufgebaut, der das fruchtbare Land beschreibt, das Hannibal in Brand setzen läßt (161): addunt frugiferis inimica incendia ramis (fügen sie den fruchttragenden Zweigen feindliches Feuer zu) Die Verse 207 (bzw 263) und 161 sind kontrastiv aufeinander bezogen: Während Hannibal aus strategischen Gründen das Landgut des Fabius gerade verschont – eine Kriegslist, um Fabius’ Verzögerungstaktik in den Augen seiner meuternden Truppen in Mißkredit zu bringen (vgl 7,260–275) –, läßt er die fruchtbaren Weinberge im kampanischen Falernergebiet verwüsten Gegenwart und Vergangenheit sind eng miteinander verbunden, wirkt doch die von Bacchus in Aussicht gestellte Berühmtheit des ager Falernus fort Trotz der partiellen Verwüstung durch Hannibal wird das fruchtbare Weingebiet als Geschenk des dankbaren Weingottes für erwiesene Gastfreundschaft nicht gänzlich untergehen, sondern seine Fruchtbarkeit behalten So erweist sich Hannibals Verwüstung der italischen Landschaft, die hier durch das unter dem Schutz des Gottes Bacchus stehende Gebiet repräsentiert wird, als eine Präfiguration seines vergeblichen Angriffs auf Rom im Finale des 12 Buches Auch hier bewähren sich die Götter als Beschützer der von ihnen favorisierten Stadt

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Vgl Littlewood (Anm 13) zu 7,263, die auf das Echo zum Exkurs hinweist: „This line contains several verbal allusions to Silius’ earlier aetiological digression (162–211) “

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b) Weitere Stationen auf dem Weg27 zum klassischen Referenztext Zum Vergleich mit Silius’ Adaptation der Philemon-und-Baucis-Erzählung sollen auch andere Rezeptionen genau dieser Ovid-Erzählung herangezogen werden Eine Variation des Szenentyps begegnet bei Ovid selbst 28 Ovids Hyrieus-Erzählung in den ungefähr gleichzeitig konzipierten bzw überarbeiteten Fasti29 ist durch zahlreiche vergleichbare Motive und Strukturelemente eng mit der Philemon-und-Baucis-Erzählung in den Metamorphosen verbunden 30 Hervorzuheben ist das detailliert ausgemalte Motiv des erneuten Entfachens des Feuers vom vorherigen Tag, das wörtliche Parallelen aufweist: Ov fast 5,506–508: ignis in hesterno stipite parvus erat ipse genu nixus flammas exsuscitat aura et promit quassas comminuitque faces glomm im Holzscheit vom gestrigen Tag nur noch wenig Glut Er selbst kniet nieder, facht mit seinem Atem Flammen an und holt gespaltenes Kienholz hervor und zerkleinert es noch

Ov met 8,641–645: inque (ed W S Anderson; inde ed R J Tarrant) foco tepidum cinerem dimovit et ignes suscitat hesternos foliisque et cortice sicco nutrit et ad flammas anima producit anili multifidasque faces ramaliaque arida tecto detulit et minuit Und im Herd schob sie die warme Asche zur Seite und entfacht die Glut vom gestrigen Tag und nährt sie mit trockenem Laub und Rinde und steigert sie mit ihrem grei-

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Die Wegmetapher suggeriert u U eine zu lineare Entwicklung, handelt es sich doch in Wirklichkeit um einen eigengesetzlichen Vorgang ohne vorgegebenes Ziel Vgl Hollis (Anm 10), S 106: „the story also appears in Ovid’s Fasti (V, 493 ff ), where both in language and in approach it is a doublet of Baucis and Philemon“; ebenso Bruère (1958, Anm 5), S 494 Zum prinzipiellen Phänomen, daß Ovid sich immer wieder zu Variationen über ein von ihm bereits behandeltes Thema herausgefordert fühlt, vgl Irene Frings: Das Spiel mit eigenen Texten Wiederholung und Selbstzitat bei Ovid München 2005 (Zetemata 124) und Sharon L James: Rape and Repetition in Ovid’s Metamorphoses: Myth, History, Structure, Rome In: Repeat Performances Ovidian Repetition and the Metamorphoses (Anm 4), S 154–175 Zur offenen Frage nach dem chronologischen Verhältnis von Metamorphosen und Fasten vgl Bömers Einleitung zur Entstehungsgeschichte der Fasti (Franz Bömer: P Ovidius Naso: Die Fasten Herausgegeben, übersetzt und kommentiert Band I: Einleitung, Text und Übersetzung Heidelberg 1992, S 15) Zu Reminiszenen an die Philemon-und-Baucis- sowie die Hyrieus-Erzählung in Silius’ Falernus-Episode s auch o S 190

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senhaften Atem zu lodernden Flammen und nahm vielgespaltenes Kienholz und dürres Reisig vom Dachsparren herab und zerkleinerte es noch

In beiden Partien werden Alter und bescheidener Lebensstil der Gastgeber, die Einkehr zunächst unerkannt bleibender Götter in einer niedrigen Hütte, die Gastfreundschaft der gottesfürchtigen Bewohner und das Entfachen der Glut vom Vortag hervorgehoben Jeweils geben sich die göttlichen Gäste zu erkennen, was eine gesteigerte Reaktion der Gastgeber hervorruft Mit der wunderbaren Belohnung durch die Götter werden beide Erzählungen abgeschlossen Eine parodierende Abwandlung dieses Erzähltyps von Gastfreundschaft begegnet in Petrons Satyrica 31 Innerhalb der Kroton-Handlung kehrt Encolp bei der PriapPriesterin Oenothea ein, die ihm verspricht, ihn von seiner momentanen Impotenz zu kurieren Encolp läßt sich in seiner Bewunderung für das Interieur der ärmlichen Hütte32 zu einem Gedicht inspirieren, das in einem Vergleich mit einer literarisch verewigten Hütte gipfelt (Petron 135,8 vers 15 f ): qualis in Actaea quondam fuit hospita terra digna sacris Hecale33, … eine Gastgeberin, wie einst im attischen Lande Hecale gewesen ist, kultischer Verehrung würdig

Während in Ovids Philemon-und-Baucis-Erzählung der metapoetische Verweis auf die motivisch verwandte Hekale des Kallimachos nur indirekt in der Reaktion des Theseus liegt, der sich als Zuhörer an sein eigenes – literarisch in der Hekale verar31

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Zu dieser Episode und ihren vielschichtigen literarischen Anspielungen, insbesondere zum zugrunde liegenden Muster der ovidischen Erzählung von Philemon und Baucis, vgl Rosenmeyer (Anm 10); Joachim Adamietz: Circe in den Satyrica Petrons und das Wesen dieses Werkes In: Hermes 123 (1995), S 320–334, hier S 324 f ; Catherine Connors: Petronius the Poet Verse and Literary Tradition in the Satyricon Cambridge 1998, S 43–47; Peter Habermehl: Die Magie des Wortes Thema und Variationen in den poetischen Einlagen Petron, Sat 134–135 In: Gymnasium 121 (2014), S 355–373, hier S 358–362, je mit weiterer Literatur Vgl Petron 135,7 mirabar equidem paupertatis ingenium (Ich staunte über die erfindungsreiche Armut) als Hinführung zur poetischen Einlage im heroischen Versmaß des Hexameters, in der Versatzstücke epischer Modelle entsprechend zitiert werden können Vgl auch Gareth Schmeling (with the collaboration of Aldo Setaioli): A Commentary on the Satyrica of Petronius Oxford, New York 2011, S 525: „The model for the description of Oenothea’s rooms is the house of Philemon and Baucis in Ovid M 8 620–724, the visit of Jupiter and Mercury (theoxeny), and Callimachus Hecale where she welcomes Theseus“ Hecale ist eine Konjektur, überliefert ist Hecates Die Fortsetzung lautet (16b–17): quam Musa loquentibus annis / † Bac(ch)ineas veteres mirando † tradidit aevo Im entstellten Namen in V 17 würde man natürlich gerne Battiades (vgl z B die Konjektur Battiadae vatis), also Kallimachos, erkennen Der hier verwendete, seit langem akzeptierte Text beruht also auf konjekturalen Eingriffen in die offensichtlich korrupte Überlieferung; insbesondere sind die beiden entscheidenden Eigennamen Hecale und – im folgenden Vers – Battiades lediglich durch Konjektur gewonnen

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beitetes – Schicksal erinnert fühlen und daher besonders von der Erzählung berührt sein kann,34 wird dieses kallimacheische Modell in der Verseinlage der Satyrica sehr viel expliziter durch einen Vergleich vergegenwärtigt (qualis … quondam … Hecale, Petron 135,8 vers 15 f ) Indem Encolp seine Wirtin mit ihrer kallimacheischen Vorgängerin parallelisiert, inszeniert er sich selbst als Gast in den Spuren des großen attischen Helden Theseus, der von Hekale gastfreundlich aufgenommen wurde Der Leser aber sieht den Kontrast zwischen dem pathetisch aufgerufenen Modell und der beklemmenden Situation in der schäbigen Hütte der gerade nicht gastfreundlichen Oenothea 35 Auch der Protagonist erkennt schließlich die Diskrepanz zwischen Literatur und Realität, und seine Desillusionierung manifestiert sich in einer überstürzten Flucht (Petron 138,3 f ) Auch wenn das Motiv der gastfreundlichen Bewirtung eines vorüberziehenden Helden in der bescheidenen Hütte eines Armen von Petron konsequent pervertiert wird, scheinen die literarischen Folien dennoch auch in dieser Episode durch Zugleich ist die Passage in den Satyrica auch durch motivische und sprachliche Parallelen mit Ovids Metamorphosen verbunden Zu erinnern ist etwa an das prominente Gänse-Motiv (vgl Petron 136,4–137,12 und Ov met 8,684–688) 36 Sprachliche Anklänge finden sich bei der Beschreibung der Innenausstattung der Hütten So begegnet in beiden Passagen der durch Rauch geschwärzte Balken, an dem haltbare Nahrungsmittel aufgehängt sind: Petron 135,8 vers 11 f : Praeterea quae fumoso suspensa tigillo conservabat opes37 humilis casa Außerdem, was die niedrige Hütte an einem rußigen Balken aufgehängt als Schätze barg

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Thesea praecipue (met 8,726), s o S 185 Zur idyllischen Beschreibung in den 17 Versen vgl Schmeling, Setaioli (Anm 32), S 523: „The reality described in prose is idealized in poetry“; Habermehl (Anm 31): „Gerade der Kontrast zwischen Lied und Prosa, zwischen dem wohlgeordneten Idyll als Ort topischer Gastlichkeit und Encolpius’ elenden Erlebnissen im Quartier der Hexe, entzaubert die Episode und gibt das heroische Ideal der xenía der Lächerlichkeit preis “ Das „heroische Ideal“ bleibt jedoch bestehen; es muß bestehen bleiben, und zwar als Kontrast zu der jämmerlich und lächerlich unheroischen Wirklichkeit des Roman-Geschehens (die natürlich auch eine fiktive ist) Zur übersteigernden Umformung des Motivs durch das von Encolp inszenierte Gänse-Abenteuer vgl ausführlich Rosenmeyer (Anm 10), S 408; Adamietz (Anm 31), S 325; Connors (Anm 31), S 46; Habermehl (Anm 31), S 359 Eine Parallele liegt in Sil 7,179 f vor: donec opes festas puris nunc poma canistris / composuit, nunc … (bis er als Schätze für ein Fest bald Obst in schmucklosen [zur Bedeutung von purus s o Anm 22] Körben vorsetzte, bald …) In ganz ähnlichem Kontext kann auch hier opes wahlweise als Apposition zum Neutr Pl poma oder als Prädikativum stehen In beiden Fällen läßt sich opes bzw opes festas als auktorialer Kommentar zu dem Beschriebenen lesen

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Ov met 8,648 f : sordida terga suis nigro pendentia tigno servatoque diu resecat de tergore partem Den geräucherten Schweinerücken, der am rußgeschwärzten Balken hängt, und schneidet vom lange aufbewahrten Rückenstück eine Scheibe ab

Eine weitere Reminiszenz an Ovids Philemon-und-Baucis-Erzählung liegt in Juvenals 11 Satire vor, in welcher der dekadente Tafelluxus reicher Zeitgenossen kritisiert wird Der satirische Sprecher tritt hier als Gastgeber auf, der Persicus, dessen Name mit orientalischen Luxusgütern assoziiert werden kann, zu einem schlichten Mahl eingeladen hat Die Vorausschau auf die zu erwartenden Speisen kommentiert er in folgender Weise (Iuv 11,77–79 und 82 f ): Haec olim nostri iam luxuriosa senatus cena fuit Curius parvo quae legerat horto ipse focis brevibus ponebat holuscula, … sicci terga suis rara pendentia crate moris erat quondam festis servare diebus Das wäre einst eine schon üppige Mahlzeit für unseren Senat gewesen Curius setzte die Kohlpflänzlein, die er in seinem kleinen Garten geerntet hatte, selbst auf den bescheidenen Herd, … Ehemals war es Brauch, getrockneten Schweinerücken, der von weiten Sparren herabhängt, für Festtage aufzubewahren

Durch wörtliche Anklänge wird Ovids Erzählung von Philemon und Baucis geradezu zitiert, vgl Ov met 8,646–649: quodque suus coniunx riguo collegerat horto, truncat holus foliis; … sordida terga suis nigro pendentia tigno servatoque diu resecat de tergore partem 39

Die Kenntnis der Erzählung in Ovids Metamorphosen wird vorausgesetzt; daher genügen isolierte, zitatähnliche Verweise,40 die geeignet sind, das idealisierte Bild der guten

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In met 8,647 ist illa die zu ille alternativ überlieferte Lesart, vgl Hollis (Anm 10); Bömer (Anm 11) Bereits oben zitiert, vgl S 189 und S 195 Weitere wörtliche Wiederaufnahmen verstärken die Beziehung noch zusätzlich: der identische Hexameterschluß vitibus uvae (Iuv 11,72 und Ov met 8,676) und die variierende Präsentation der in den Körben duftenden Äpfel (vgl Iuv 11,73 f de corbibus isdem / aemula Picenis et odoris mala

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alten Zeit aufzurufen, wie es in der Philemon-und-Baucis-Erzählung gemalt wird Der Gastgeber hatte sich zuvor selbst als einen zweiten Euander inszeniert, der einst die berühmten Helden Hercules und Aeneas in seiner bescheidenen Hütte als Gäste beherbergt hatte 41 Hier nun wird ohne namentliche Nennung von Philemon und Baucis allein durch die wörtlichen Anklänge an Ovids Metamorphosen noch eine weitere literarische Beschreibung eines einfachen Lebensstils eingeblendet Unabhängig vom sozialen Status wird M’ Curius Dentatus, ein römischer Magistrat republikanischer Zeit, als Exemplum bescheidener Lebensführung gewissermaßen in die phrygische Hütte von Philemon und Baucis versetzt 42 Vor dem Hintergrund der aufgezeigten Anklänge an Ovids Philemon-und-Baucis-Erzählung kehren wir zu der Frage zurück, ob Silius’ Adaptierung dieser Episode klassizistisch ist Als klassizistisch läßt sich Silius’ Verfahren allenfalls bezeichnen, insofern er einen klassisch gewordenen bzw klassisch werdenden Text seinerseits rezipiert Allerdings liegt keine klassizistische Adaptation im Sinne einer bloßen Imitation eines kanonischen Vorbildes vor Vielmehr verfährt Silius wie die anderen Dichter, die Ovids Erzählung von Philemon und Baucis adaptieren und in ihren jeweiligen Kontext integrieren Zugleich liegt wiederum multiple Intertextualität vor: nach einem vergilischen Intertext als Auftakt (vasta dabo, Aen 9,323 – vasta dabat, Sil 7,212) wird die Erzählung mit ovidisch getönten Wendungen und Motiven angereichert In Analogie zum Mythos kann man auch bei dem Szenentyp der gastlichen Aufnahme von Göttern und Heroen in der Hütte armer, aber redlicher Menschen von Konstanten der Erzählung ausgehen, die freilich variabel sind In jeweils abgewandelter Form und in verschiedenen Brechungen können Motive (wie etwa Alter und Armut der Gastwirte, Beschreibung des bescheidenen Haushalts und Gastmahls usw ) und Strukturen (Einkehr unerwarteter und zunächst unerkannter Gäste, abschließende Belohnung der Gastgeber durch die hohen Gäste usw ) aufgenommen werden, die mehr oder weniger emphatisch auf die kanonisch gewordene Version in Ovids Metamorphosen verweisen Nachfolgende Dichter haben mit unterschiedlicher Akzentuierung und durchaus auch unabhängig voneinander Ovids Episode über Philemon und Baucis rezipiert,43 eine Erzählung, die ihrerseits auf ein hellenistisches Modell

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recentis [aus denselben Körben Äpfel, die mit Picenischen wetteifern und noch frisch duften] mit met 8,675 in patulis redolentia mala canistris) Iuv 11,60–62: nam cum sis conviva mihi promissus, habebis / Euandrum, venies Tirynthius aut minor illo / hospes, et ipse tamen contingens sanguine caelum (Denn da du mir als Gast dein Kommen zugesagt hast, wirst du an mir einen Euander haben, du wirst wie der tirynthische Gastfreund kommen oder jener, der ihm nachstand, doch ebenfalls durch sein Blut mit dem Himmel verwandt war) Vgl Hollis’ Vermutung, wie die deutlichen Reminiszenzen an Ovids Erzählung von zeitgenössischen römischen Lesern aufgenommen worden sein dürften, Hollis (Anm 10), S 111: „Juvenal was right to take Baucis and Philemon as his model for the good old days Readers must have smiled to see all these Roman virtues attributed to a couple living ‚in the Phrygian hills‘“ Auch anhand der Adaptation einzelner Züge aus Ovids Metamorphosen-Version läßt sich verfolgen, daß es Ovids populäre Erzählung des Schicksals von Baucis und Philemon war, die evoziert

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zurückverweist 44 Einzelne Stationen auf dem Weg zum klassischen Text lassen sich in Abstufungen von engeren bis zu abgeschwächten Rezeptionsformen verfolgen Ein solcher minimaler Verweis liegt vor, wenn der Mythos auf die bloßen Namen des Paares in Goethes Faust reduziert wird 45 Gleichwohl können diese Namen das in Ovids Metamorphosen erzählte Schicksal des alten, frommen und gastfreundlichen Paares in einer ärmlichen Hütte evozieren Silius’ Falernus-Episode erweist sich als eine Station in dem Prozeß, wie sich Ovids Philemon-und-Baucis-Erzählung zum klassischen Referenztext für den Szenentyp eines bescheidenen Gastmahls herausgebildet hat 3. Silius’ und Ovids Versionen einer Aeneis Innerhalb des siebten Buches schaltet Silius eine weitere aitiologische Digression ein, in welcher Proteus den campanischen Nymphen die Ursachen und das Ende des Trojanischen Krieges als Voraussetzung des gegenwärtigen Krieges erklärt und zugleich Roms räumlich und zeitlich unbegrenzte Herrschaft über die Punischen Kriege hinaus prophezeit (Sil 7,409–493) 46 Unmittelbar vor der katastrophalen Niederlage bei Cannae erfüllen die Rekapitulation der Vergangenheit und der Ausblick in die Zukunft die Funktion, die ewige Dauer des siegreichen römischen Volkes, dessen Existenz gegenwärtig durch Hannibal bedroht wird, von der Gründung bis zum Ende des Dritten Punischen Krieges zu skizzieren Eingeleitet wird der Exkurs durch das Signalwort ecce (7,409): Überraschend und plötzlich tauchen Nymphen auf (7,409–415):

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werden konnte, wenn etwa das Alltagsleben in einem ärmlichen, dienerlosen Haushalt zu schildern war So verweist der mittelalterliche Dichter Hugo Primas von Orléans (ca 1093–ca 1160) im Detail des eigenhändigen Anfachens des Feuers durch eine alte Frau auf Ovids Baucis, hierzu vgl Christine Schmitz: Satirische Heimkehr eines epischen Helden Odysseus im Gedicht Post rabiem rixę des Hugo Primas In: Epochen der Satire Traditionslinien einer literarischen Gattung in Antike, Mittelalter und Renaissance Hg von Thomas Haye, Franziska Schnoor Hildesheim 2008 (Spolia Berolinensia 28), S 55–71, hier S 65 Zur dynamischen Entwicklung, daß sich Ovids Erzählung ihrerseits als Modell für spätere Gestaltungen dieses Motivs durchgesetzt hat, vgl Hollis (Anm 10), S 107: „Ovid’s debt to this poem here is obvious even from the meagre fragments remaining But it seems that Baucis and Philemon quickly became no less famous than its model “ Vgl Beller (Anm 10), 137–142 zu Philemon und Baucis in Faust II, Fünfter Akt, Verse 11043–11385 Beller (Anm 10), S 139 zitiert, was Goethe zu Eckermann am 6 Juni 1831 über die Konzeption seiner Figuren mit den bekannten Namen sagt: „Mein Philemon und Baucis hat mit jenem berühmten Paare des Altertums und der sich daranknüpfenden Sage nichts zu tun Ich gab meinem Paare bloß jene Namen, um die Charaktere dadurch zu heben Es sind ähnliche Personen und ähnliche Verhältnisse, und da wirken denn die ähnlichen Namen durchaus günstig“ Vgl Bruère (1958, Anm 5), S 495–499 und Littlewood (Anm 13), insbes S 163–190 [weitere Literatur: S 163])

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Ecce autem flatu classis Phoenissa secundo litora Caietae Laestrygoniosque recessus sulcabat rostris portusque intrarat apertos ac totus multo spumabat remige pontus, cum trepidae fremitu vitreis e sedibus antri aequoreae pelago simul emersere sorores ac possessa vident infestis litora proris Siehe aber, die punische Flotte durchfurchte gerade bei günstigem Wind mit ihren Schiffsschnäbeln die Gewässer an Caietas Strand und die einsamen Buchten der Laestrygonen und war bereits in den offenen Hafen eingelaufen, und das ganze Meer schäumte infolge der vielen Ruder, da tauchen, durch den Lärm aufgeschreckt, die Meeresschwestern zugleich von den kristallenen Sitzen ihrer Grotte aus dem Meere empor und sehen, daß das Ufer von feindlichen Schiffen besetzt ist

Der Auftakt ist intertextuell stark aufgeladen Insbesondere die Beschreibung des Auftauchens der Nymphen wirkt geradezu wie ein Cento aus berühmten Passagen, die auf diese Weise evoziert werden: Mit Sil 7,413 f cum trepidae fremitu vitreis e sedibus antri aequoreae pelago simul emersere sorores

ist Catull 64,14 f zu vergleichen: emersere freti candenti e gurgite vultus47 aequoreae monstrum Nereides admirantes Da hoben die meerbewohnenden Nereiden ihre Gesichter aus dem weißglänzenden Strudel des Meeres empor, und bestaunten die neuartige Erscheinung

und Verg georg 4,350–352 vitreisque sedilibus omnes obstipuere; sed ante alias Arethusa sorores prospiciens summa flavum caput extulit unda und alle erstarrten auf ihren kristallenen Sitzen; doch vor den anderen Schwestern hielt Arethusa Ausschau und hob ihr blondes Haupt aus der Oberfläche des Wassers empor

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Die Konjektur freti und die syntaktische Konstruktion von emergere und vultus sowie verschiedene Emendationsversuche diskutiert ausführlich Mario Puelma: Sprachliche Beobachtungen zu Catulls Peleus-Epos (C 64) In: Museum Helveticum 34 (1977), S 156–190, insbes S 156–172; vgl auch S 168 zur parallelen Beschreibung der auftauchenden Nereiden in Silius 7,412–414

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Die eingeblendete Reaktion der Nymphen markiert jeweils einen kritischen Zeitpunkt Durch ein schicksalhaftes Ereignis aufgeschreckt, eilen die Nymphen aus ihrem Bereich, dem Wasser, herbei Zu Beginn von Catulls Epyllion staunen die Nereiden über die Argo, das erste Schiff, welches je die Meere befahren hat Die hier geschilderte folgenreiche Begegnung von Thetis und Peleus wird zur Geburt des vor Troja kämpfenden Helden Achill führen Im Finale der Georgica rät Cyrene ihrem verzweifelten Sohn Aristaeus, den Seher Proteus zu konsultieren 48 Silius’ Proteus prophezeit, daß auch die gegenwärtige Bedrohung durch Hannibal nichts am Fortbestehen der von Aeneas begründeten römischen Herrschaft ändern könne In seiner Prophezeiung knüpft er unmittelbar an Jupiters Worte in der Aeneis an (Aen 1,278 f ): his ego nec metas rerum nec tempora pono: / imperium sine fine dedi (Ihnen setze ich weder in Raum noch in Zeit Grenzen; vielmehr habe ich ihnen eine Herrschaft ohne Ende gegeben) Mit wörtlichem Anklang wird insbesondere durch die Verneinung jeglicher Begrenzung (metae) die von Jupiter in der Aeneis gegebene Zusage von Roms ewiger Herrschaft bekräftigt: Sil 7,478 hic regna et nullae regnis per saecula metae (nach dreimaligem dum [476 f ] folgt die Prophezeiung: wird hier Roms Herrschaft Bestand haben, und es wird durch die Jahrhunderte keine Grenzen für die römische Herrschaft geben) Proteus’ Rede gipfelt im Hinweis auf den siegreichen Scipio Africanus (7,487–491) und stellt darüber hinaus – in einer externen Prolepse – die Zerstörung Karthagos durch Scipio Africanus minor und damit die endgültige Beendigung der Punischen Kriege in Aussicht (492 f ) Der Episode in den Punica steht, was die Funktion betrifft, am nächsten ein Passus im zehnten Aeneis-Buch, in dem Cymodocea, die Sprecherin der in Nymphen verwandelten Trojanerschiffe, Aeneas den Sieg über die Rutuler prophezeit (Verg Aen 10,219–250) Wie in Sil 7,409 wird das plötzliche Erscheinen der Nymphen durch ecce (Aen 10,219) eingeleitet Mit diesem Signalwort hält die Erzählung der gegenwärtigen 48

Zu vergleichen ist auch die zu Beginn der Achilleis geschilderte Reaktion der Thetis, die sich um ihren Sohn Achill angesichts der Rückkehr des Schiffes sorgt, auf dem Paris die aus Sparta entführte Helena nach Troja bringt (Stat Ach 1,25–28a): cum Thetis Idaeos … expavit vitreo sub gurgite remos / nec mora et undosis turba comitante sororum / prosiluit thalamis (Da entsetzte sich Thetis tief im kristallenen Wasser vor Idas Rudern Unverzüglich sprang sie in Begleitung der Schar ihrer Schwestern aus ihrem Wellengemach hervor) Zur relativen Chronologie von Statius und Silius vgl den Forschungsbericht von Walter Kißel: Statius als Epiker (1934–2003) Göttingen 2006 (Lustrum 2004/46), S 160 Zur Frage der Intertextualität angesichts der nach wie vor unsicheren Datierung von Silius’ Werk vgl ferner Helen Lovatt: Interplay: Silius and Statius in the Games of Punica 16 In: Brill’s Companion to Silius Italicus (Anm 6), S 155–176, hier S 155 f ; speziell zur wechselseitigen Beziehung zwischen Silius’ Punica und Statius’ Achilleis vgl François Ripoll: Statius and Silius Italicus In: Brill’s Companion to Statius Hg von William J Dominik, Carole E Newlands, Kyle Gervais Leiden, Boston 2015, S 425–443, hier S 436–443, besonders S 440 zu unserer Stelle und S 441 zu Statius’ komprimierter Version des Parisurteils (Ach 2,50–54), das er nach dem Modell von Sil 7,437–471 gestaltet habe Jedenfalls wird der Blick jeweils auf die beiden unterlegenen Göttinnen gelenkt (vgl Ach 2,58 ira quatit victas mit Sil 7,472 sed victae fera bella deae vexere per aequor)

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Ereignisse inne, um für die Dauer der Proteus-Prophezeiung in eine mythische Welt überzuwechseln Die beiden Szenen sind darüber hinaus durch die Hervorhebung der jeweiligen Wortführerin der Nymphen verbunden Wie ein Echo auf fandi doctissima Cymodocea (Aen 10,225) wirkt Cymodoce, Nympharum maxima natu / Italidum (Sil 7,428 f ) Wie Proteus den Nymphen den Sieg Scipios über Hannibal prophezeit, kündigt Cymodocea, die Sprecherin der Nymphen, Aeneas den bevorstehenden Erfolg in der Schlacht gegen die Rutuler an (Aen 10,244 f ) Auf den Charakter dieser Episode, die innerhalb des Kampfgeschehens einen Fremdkörper darstellt, läßt sich übertragen, was Harrison (1991) zu Vergils Nymphen-Episode konstatiert:49 „This mildly fantastic episode of the nymphs contrasts with the grim realism of war which is to follow, and is told with a certain lightness and humour […], though it also has a serious aspect “ Auch wenn Silius eine direkte Begegnung von Nymphen mit kriegerischen Helden vermeidet, ist die Funktion der eingelegten Episode doch vergleichbar Unmittelbar vor schweren und verlustreichen Kämpfen erhält der Held (Aeneas im 10 Aeneis-Buch) bzw die Nymphen (im 7 Punica-Buch) eine proleptische Aussicht auf ein siegreiches Ende Wie auch sonst läßt Silius mehrere Intertexte in seiner Ausgestaltung der Szene anklingen, wodurch vielschichtige Beziehungen aufgerufen werden Insbesondere das Bild der angesichts eines aufschreckenden Ereignisses aus dem Meer emportauchenden Nymphen beschwört den Beginn von Catulls Epyllion herauf Die Konsultation des wandlungsfähigen Meeresgottes Proteus erinnert an das Finale von Vergils Georgica, wo Proteus ebenfalls als Seherfigur auftritt Durch die jeweils aus der Schar ihrer Schwestern herausgehobenen Nymphen Cymodoce (Sil 7,428) und Cymodocea (Verg Aen 10,225) ist die Passage in den Punica eng mit Vergils Szene der wunderbaren Begegnung der Nymphen mit dem zum Lager der Trojaner segelnden Aeneas verbunden Jeweils wird die Schilderung der kriegerischen Ereignisse durch eine exkursartige Einlage unterbrochen, die in eine ganz andere, der aktuellen Wirklichkeit enthobene Welt führt Die in diesem Kontext gegebenen Prophezeiungen stellen über die unmittelbar bevorstehenden Kämpfe hinaus eine glückliche Wende des Kriegsverlaufs in Aussicht Eine strukturelle Parallele zu der im siebten Buch der Punica beschriebenen ängstlichen Reaktion der Nymphen liegt im 12 Buch vor, wenn bei Hannibals Anmarsch auf Rom als Auftakt eine verängstigte Reaktion der italischen Nymphen auf die dröhnenden Pferdehufe der punischen Reiterei geschildert wird Während aber die Nymphen des Anio die Flucht ergreifen (12,542–544), eilen sie im siebten Buch der Punica zum Seher Proteus

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Stephen J Harrison: Vergil Aeneid 10 With Introduction, Translation, and Commentary Oxford 1991, S 131 zu Aen 10,219–250

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Die Erzählung des vates Proteus wird folgendermaßen eingeleitet (Sil 7,435 f ): Tunc sic, evolvens repetita exordia retro, incipit ambiguus vates reseratque futura: Dann beginnt der wandelbare Seher, der die Geschehnisse bis zu den Uranfängen zurück wieder aufrollt, in folgender Weise und eröffnet die Zukunft

Wie Vergils Proteus, der über allumfassendes Wissen verfügt,50 geht auch der hier auftretende Seher weit in die Vergangenheit zurück und erschließt zugleich die Zukunft Beginnend mit dem Parisurteil, erzählt er die Vorgeschichte des Trojanischen Krieges, den er in eine Linie mit den Punischen Kriegen stellt Abschließend prophezeit Proteus den aufgeschreckten Nymphen Scipios Erfolge (vgl Sil 7,487–491) Der Seher spannt also einen Bogen von der Zerstörung Trojas bis zum endgültigen Aufstieg Roms zur räumlich und zeitlich unbegrenzten Weltmacht Im Gegensatz zur ausführlichen Schilderung des Parisurteils (7,437–471) als Grund des Trojanischen Krieges stellt Proteus die Folgen der Zurückweisung der beiden unterlegenen Göttinnen Juno und Minerva in äußerster Raffung dar (472–475): sed victae fera bella deae vexere per aequor, atque excisa suo pariter cum iudice Troia tum pius Aeneas terris iactatus et undis Dardanios Itala posuit tellure penates Aber die unterlegenen Göttinnen brachten wilde Kriege übers Meer, und wie sein Richter , so wurde Troja vernichtet Dann etablierte der fromme Aeneas, durch Länder und Meere umhergetrieben, auf italischer Erde die trojanischen Penaten

Vergils Iliupersis (Aen 2) wird in Vers 473, die Irrfahrten der Trojaner (Aen 1 und 3–6) in Vers 474 und die Ankunft in Latium (Aen 7–12) in Vers 475 skizziert Der zitathafte Anklang von terris iactatus et undis (474b) an das Proömium von Vergils Aeneis (multum ille et terris iactatus et alto, Aen 1,3) verweist ebenso wie die Figur des pius Aeneas (474) auf Vergils Epos als Bezugspunkt In der ausgewogenen Form eines versus aureus (475) wird schließlich Aeneas’ erfolgreiche Landnahme in Latium als Abschluß der Irrfahrten festgehalten 51 Das in zwei Versen zusammengefaßte Schicksal des Aeneas (474 f ) bildet dann den Ausgangspunkt für die Gründung des römischen Reiches

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Verg georg 4,392 f novit namque omnia vates, / quae sint, quae fuerint, quae mox ventura trahantur Wie in Proteus’ Prophezeiung (Sil 7,474 f ) wurde das Schicksal des Aeneas bereits vorher, wenn auch in polemischer Brechung, in äußerster Konzentration zusammengefaßt, und zwar in einer Rede Junos unmittelbar nach dem Proömium (Sil 1,42–45): ‚intulerit Latio spreta me Troius‘ inquit / ‚exul Dardaniam et, bis numina capta, penates / sceptraque fundarit victor Lavinia

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Damit liegt Silius’ Version einer Aeneis vor, deren wesentliche Züge auf wenige Verse komprimiert sind, die auf Vergils Epos verweisen Im Bemühen, die Handlung der Aeneis so konzentriert wie möglich darzustellen, steht Silius’ kurzgefaßte Version von Vergils Aeneis der ovidischen Verfahrensweise freilich näher als Vergils Aeneis Die epigrammatische Version der Aeneis in nur vier Versen scheint, was die Reduzierung auf wenige Verse betrifft, sogar noch in Konkurrenz mit Ovids Aeneis (met 13,623– 14,608) zu treten 52 Das Verfahren der äußersten Komprimierung ist in Ekphraseis natürlich ganz geläufig 53 So findet sich in der Beschreibung von Hannibals Schild eine narrative Miniatur der Dido-Aeneas-Geschichte (Sil 2,406–425) und damit eine – wenn auch in der Kürzung anders akzentuierte – Zusammenfassung des ersten und vierten Aeneis-Buches 54 Innerhalb der Proteus-Prophezeiung wirkt vor allem die (Dis-)Proportion der Präsentation ovidisch Während das Parisurteil, das zu elegisch angehauchter Ausführung einlädt, detailreich erzählt wird (Sil 7,437–471), werden die großen Linien der Handlungsebene nur eben skizziert Schon Ovid hatte mit seiner Version einer Aeneis die Handlungslinien äußerst knapp zusammengefaßt,55 um einen strukturellen, um Aeneas gespannten Rahmen für eigene Erweiterungen in Form von Verwandlungsgeschichten ausfüllen zu können 56 Eine nochmalige Kurzfassung dieser Aeneis-Version

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Teucris, / dum …‘ („Mag auch der Trojaner“, sagte sie, „unter Mißachtung meiner Person auf seiner Flucht Dardanien und die Penaten, die zweimal eroberten Gottheiten, nach Latium gebracht und siegreich das lavinische Reich für die Teucrer gegründet haben, solange nur …“) In dieser Aeneis en miniature wird dem Protagonisten selbst aus der Perspektive seiner erbittertsten Feindin eine Entwicklung vom exul (43) zum victor (44) in Latium zugestanden Zu Ovids alternativer Version der Aeneis in seinen Metamorphosen vgl Karen Sara Myers: Ovid Metamorphoses Book XIV Cambridge 2009, S 11–19 (mit weiterer Literatur in Anm 76) Ein vergleichbares Verfahren läßt sich auch in anderen exkursartig eingelegten Partien beobachten So bemerkt Bruère (1959, Anm 5), S 234 zu einer kosmogonischen Passage im zweiten Gesang des Teuthras (Sil 11,453–458): „This is an epitome of Ovid’s account of the creation in the first book of the Metamorphoses “ Zu weiteren Anklängen der Verspartie über die Schöpfungsgeschichte, insbesondere an Vergil (Aen 1,742 ecl 6,31 georg 4,347), s François Spaltenstein: Commentaire des Punica de Silius Italicus (livres 9 à 17) Genève 1990 (Faculté des Lettres de l’Université de Lausanne 28b) zu 11,453 Zur Position innerhalb des zweiten Teuthraslieds (11,440–482) und zu unterschiedlich vorgeschlagenen Versumstellungen s Iosephus Delz: Sili Italici Punica Stuttgart 1987, Apparat zu 453–458 Vgl etwa David W T Vessey: Silius Italicus: The Shield of Hannibal In: American Journal of Philology 96 (1975), S 391–405, hier S 395 und 399: „The device of ecphrasis enables Silius to epitomize vital facets of his historical program in a brief compass “ So verdichtet er auf nur vier Verse (met 14,78–81) die Dido-Aeneas-Episode, die Vergil in seinem ersten und vor allem vierten Buch ausführlich behandelt hatte In nur fünf Verse (met 14,449–453) komprimiert er die zweite Aeneis-Hälfte; mit Recht werden diese fünf Verse von Myers (Anm 52), S 131 als „masterpiece of miniaturization“ bezeichnet Zu Veränderungen der Proportionen ist auch Siegmar Döpp: Vergilrezeption in der Ovidischen ‚Aeneis‘ In: Rheinisches Museum 134 (1991), S 327–346; hier insbes S 331 und S 339 zu vergleichen Während die Flucht des Aeneas aus dem zerstörten Troja in Ovids Metamorphosen ebenfalls den Ausgangspunkt bildet (Ov met 13,623 ff Aeneas erhält auch hier wie in Sil 7,474 sein für die Aeneis typisches Epitheton pius [626]), fügt Ovid in den Rahmen seiner Erzählung über Aeneas’ Irrfahr-

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bietet Silius innerhalb der Prophezeiung des Proteus Für Silius bedeutet eine Epitome der Aeneis-Handlung eine noch größere Herausforderung, insofern er nicht nur Vergils Leerstellen ausfüllt, sondern auch noch Ovids Version variiert Gegenüber Ovids Kurzfassung von Vergils Aeneis nimmt Silius eine andere Akzentuierung vor: Seine im Vergleich zur sogenannten ovidischen Aeneis nochmals wesentlich reduzierte Darstellung verlagert den Fokus auf das in Vergils Aeneis ausgesparte Schicksal des Paris als Vorgeschichte des Trojanischen Krieges, um von hier aus einen Bogen bis zum Ende des Dritten Punischen Krieges zu schlagen Anders als in Vergils und Ovids Version widmet Silius’ Seher (vates, 436) der Ursache des Trojanischen Krieges weiten Raum Das Parisurteil wird im Proömium der Aeneis nur kurz erwähnt (Aen 1,26b–27 manet alta mente repostum / iudicium Paridis spretaeque iniuria formae, tief in ihrem Gedächtnis bleibt das Urteil des Paris aufbewahrt und damit die Kränkung, die in der Verachtung ihrer Schönheit besteht) als ein Grund innerhalb eines Konglomerats von Gründen für Junos unerbittlichen Zorn und Haß auf alle Trojaner Proteus dagegen rückt die beiden durch das Urteil des Paris gekränkten Göttinnen in den Mittelpunkt Juno und Minerva lösen den Trojanischen Krieg aus (472), in dem der Richter ebenso wie seine Heimatstadt vernichtet wird (473) In Ovids Metamorphosen kommt das Parisurteil nicht vor, während es dagegen in den Heroides aus verschiedenen Perspektiven geschildert wird: Oenone geht in ihrem Brief an Paris darauf ein (epist 5,33–40), Paris selbst gibt in seinem Werbebrief an Helena eine ausführliche Darstellung (epist 16,53–88), auf die Helena in ihrer Antwort Bezug nimmt (epist 17,115–120) 57 Mit seiner Darstellung des Parisurteils nutzt Silius damit eine von seinen epischen Vorgängern noch nicht ausgefüllte Leerstelle Gegenüber früheren Versionen wird die Vorgeschichte des Trojanischen Krieges in Silius’ Aeneis also breit geschildert (437–471: 35 Verse) Die Folgen des fatalen Richterspruchs werden dagegen ganz knapp (472 f : zwei Verse) dargestellt, um mit dem Auftreten von Aeneas (tum pius Aeneas, 474) den Siegeszug der römischen Herrschaft beginnen zu lassen, der in der endgültigen Zerstörung Karthagos gipfelt Silius läßt Proteus in elegischer, zum Teil auch pastoraler Diktion den Schönheitswettbewerb der drei Göttinnen mit Paris in der Rolle eines Hirten (pastor, 438 und 465) und Schiedsrichters (iudex, 470 und 473) schildern Bruère, der darlegt, wie Silius in dieser Szene Details und Motive aus ganz verschiedenen Werken Ovids adaptiert hat,58 charakterisiert Silius’ Version des Parisurteils als „a coherent and glitte-

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ten, Landung und Kämpfe in Latium (met 14,445–580 – in Vergils Aeneis die zweite Werkhälfte) etliche Metamorphosen ein Die Apotheose des Aeneas (met 14,581–608) bedeutet Höhepunkt und Abschluß der ovidischen Aeneis Versangabe nach Edward J Kenney: Ovid Heroides XVI–XXI Cambridge 1996 Bruère (1958, Anm 5), S 497–499 Hinzugefügt sei noch der zitathafte Anklang von Sil 7,467 affulsit vultu ridens Venus an Ov epist 16,83 Dulce Venus risit; hierzu vgl auch Anke Walter: Erzählen und Gesang im flavischen Epos Berlin, Boston 2014 (Göttinger Forum für Altertumswissenschaft Beihefte N F 5), S 312, Anm 163

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ring narrative that rivals Ovid at his best“ (497) Auch Wilson betont den ovidischen Charakter der in die Kriegsschilderungen eingeschalteten Erzählung über Proteus’ Prophezeiung „The use of a self-transformative narrator, the epyllion-like structure of the episode […], the elaborate description of Venus attended and groomed by three Cupids […], all point to Ovid as the primary channel through which Silius here reactivates the rest of the epic tradition “59 Abrupt wird die elegisch-pastorale Szenerie von der epischen Welt des Krieges abgelöst, indem die Folge des Parisurteils in wenigen Versen dargestellt wird (472 f ): Die unterlegenen Göttinnen veranlassen den Trojanischen Krieg und die Zerstörung Trojas Dieser generische Wechsel in der Erzählweise paßt zum Charakter des wandlungsfähigen Sehers (ambiguus vates, Sil 7,436), dessen Formenvielfalt auch in der metapoetisch zu verstehenden Beschreibung seiner verschiedenen Verwandlungen betont wird (423): per varias lusit formas 60 Die andere Akzentuierung der beiden Epiker, die Vergils Aeneis in einer Kurzfassung in ihr Epos integrieren, zeigt sich vor allem darin, wie sie ihre Schwerpunkte setzen: Sowohl Ovid als auch Silius fassen die zentralen Ereignisse ganz knapp zusammen Während Vergils Aeneis aber mit der Tötung des Turnus endet und Ovid seine Aeneis bis zur Apotheose des Aeneas führt, zieht Proteus die Linien noch weiter bis zum Ende des Dritten Punischen Krieges Auf knappem Raum (7,437–493) spannt Proteus den myth-historischen Bogen vom Parisurteil als Ursache des Trojanischen Krieges bis zum Dritten Punischen Krieg und damit zur endgültigen Niederwerfung Karthagos, der einstigen Rivalin Roms Der siegreiche Triumph über Karthago bildet das Ende und den Höhepunkt – victor ist bezeichnenderweise das letzte Wort in Proteus’ Prophezeiung (493) Bei dieser zweiten aitiologischen Digression innerhalb des siebten Buches, welche die Ursache von Junos Groll gegenüber den Trojanern und ihren Nachkommen bis zum Parisurteil zurückverfolgt und mit Proteus’ Prophezeiungen weit über die in den Punica erzählte Handlung hinausreicht, sei abschließend wieder die Frage gestellt, ob Silius’ Vorgehensweise klassizistisch zu nennen ist Die multiple Intertextualität, die in der einleitenden Partie (Sil 7,413 f ) weitere Aspekte in die Lektüre einblendet, steigert die Bedeutung des Exkurses noch zusätzlich Schon dies allein spricht gegen eine Bewertung als ‚klassizistisch‘ im engeren Sinne Darüber hinaus liegt in Silius’ Präsentation einer gegenüber der ovidischen Aeneis anders akzentuierten und nochmals gekürzten Aeneis das Prinzip der konkurrierenden Variation vor und gerade keine sklavische Abhängigkeit

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Wilson (Anm 2), S 229 Zum ovidischen, mit elegischen Elementen durchsetzten Design der Episode vgl auch Walter (Anm 58), S 307–320 Zu den wechselnden Registern vgl Walter (Anm 58), S 317: „Proteus, der zunächst auf so elegische Weise erzählt hat, ist hier anscheinend vollständig im Register des epischen Erzählens angekommen “

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4. Erzählung à la Ovid: Das Pyrene-Abenteuer des Hercules und Hercules als Stammvater der gens Fabia In den zwei vorangehenden Fallbeispielen kamen verschiedene Erscheinungsformen und Funktionsweisen der Anverwandlung ovidischer Modelle zum Tragen In der Falernus-Episode bildete Ovids Philemon-und-Baucis-Erzählung einen ergänzenden und erläuternden Intertext für die gastfreundliche Aufnahme eines unerkannt einkehrenden Gottes in der bescheidenen Hütte frommer alter Landbewohner Innerhalb der Prophezeiung des Proteus bietet Silius eine gegenüber Ovids Fassung nochmals aufs Äußerste gekürzte Version der Aeneis Im Gegensatz dazu liegt im folgenden Beispiel, einer aitiologischen Digression, wie die Pyrenäen zu ihrem Namen gekommen sind, kein bestimmtes ovidisches Modell zugrunde Vielmehr greift Silius auf die vor allem in Ovids Dichtungen immer wieder variierte Erzählung der Vergewaltigung einer Königstochter oder jungen Frau durch einen Gott oder Heros zurück 61 In dem Moment, in dem Hannibal mit seinem Heer die Pyrenäen überschreitet, wird ein Exkurs über die Herkunft des Namens der Pyrenäen eingeschaltet (Sil 3,420–441) 62 Die Passage wird durch nomen als erstes (3,420) und letztes Wort (441) gerahmt und damit als aitiologische Digression von der umgebenden Erzählung abgesetzt Als Hercules im Zuge seiner Arbeiten auf dem Weg in den fernen Westen war, um Geryon zu besiegen, vergewaltigt er als Gast des Königs Bebryx in betrunkenem Zustand63 dessen 61

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Aus Ovids vielfältigen Variationen des Themas ergibt sich ein narratives Muster, vgl Leo C Curran: Rape and Rape Victims in the Metamorphoses In: Arethusa 11 (1978), S 213–241, hier S 214: „Ovid has produced a coherent and consistent vision of rape No single story exhibits all the elements, […]; but when the tales are taken together, a unified picture emerges“ Zu diesem Erzähltyp vgl auch Paul Murgatroyd: Plotting in Ovidian Rape Narratives In: Eranos 98 (2000), S 75–92; zur sich wiederholenden Struktur dieser Erzählungen vor allem in den ersten Büchern der Metamorphosen und den entsprechenden Erwartungen der Leser vgl James (Anm 28), S 155, die eine Differenzierung der Erzählmuster nach vier Kategorien vornimmt, S 156–159 Zu dieser Episode vgl Bruère (1958, Anm 5), S 480–482; Antonios Augoustakis: Lugendam formae sine virginitate reliquit: Reading Pyrene and the Transformation of Landscape in Silius’ Punica 3 In: American Journal of Philology 124 (2003), S 235–257 sowie Paolo Asso: Hercules as a Paradigm of Roman Heroism In: Brill’s Companion to Silius Italicus (Anm 6), S 179–192, hier S 190–192 mit Anm 41 Zur mythischen Einfärbung der Erzählung durch ovidische Intertexte vgl François Ripoll: La légende de Pyréné chez Silius Italicus (Punica, III, 415–440) In: Aere perennius Hommage à Hubert Zehnacker Hg von Jacqueline Champeaux, Martine Chassignet Paris 2006, S 643–656, hier S 647 f Parallelen mit Silius’ Pyrene-Erzählung weist eine aitiologische Erzählung auf, die der Argiverkönig Adrast beim Gastmahl vorträgt (Stat Theb 1,557–668): Psamathe, die (namentlich nicht genannte) Tochter des argivischen Königs Crotopus, die von Apollo vergewaltigt wird, verbirgt aus Furcht vor ihrem Vater ihr zur Welt gebrachtes Kind, wird jedoch vom harten Vater bestraft (vgl auch Ov Ib 573f ), sobald dieser ihr Geheimnis entdeckt Zu Ähnlichkeiten in der narrativen Struktur beider Erzählungen s Jean-Michel Hulls: ‘Well Stored with Subtle Wiles’ Pyrene, Psamathe and the Flavian Art of Interaction In: Flavian Epic Interactions Hg von Gesine Manuwald, Astrid Voigt Berlin 2013, S 343–360 Asso (Anm 62), S 191 hebt die komischen Aspekte der Hercules-Figur hervor: „the comic aspects of the demigod are chiefly visible in Silius’ erudite excursuses in the Hellenistic mode“ und etwas

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Tochter Pyrene, die eine Schlange gebiert und daraufhin aus Furcht vor ihrem Vater aus ihrer Heimat flieht In einer einsamen Höhle wird sie von wilden Tieren zerrissen Nach erfolgreicher Erledigung seiner Aufgabe kehrt der Held siegreich zurück, beklagt ihren Tod, beweint und bestattet sie Seither trägt das Gebirge den Namen der Pyrene Charakteristische Elemente lassen an verschiedene Erzählungen in Ovids Werk denken So erinnert das unglückliche Schicksal der vergewaltigten und von ihrem Vater erbarmungslos bestraften Königstochter vor allem an Leucothoe im vierten Buch der Metamorphosen Diese wird, nachdem sie von Sol vergewaltigt wurde, von ihrem strengen Vater zur Strafe lebendig begraben, woraufhin sie von dem um sie trauernden Sonnengott in einen Weihrauchbaum verwandelt wird (Ov met 4,190–255) Vor allem die verzweifelte Geste der Heroine, die ihre Hände hilfesuchend nach ihrem abwesenden Geliebten ausstreckt, verweist auf Ovids Leucothoe Jeweils werden die vergewaltigten Frauen in einer dichten Aufeinanderfolge mehrerer gleichauslautender Partizipien als Objekt präsentiert, vgl Ov met 4,237–239: precantem / tendentemque manus ad lumina Solis et ‚ille / vim tulit invitae‘ dicentem … (während sie bittet, ihre Hände zum Licht der Sonne ausstreckt und beteuert: ‚Er hat mir gegen meinen Willen Gewalt angetan!‘ …) und – mit identischer Junktur – Sil 3,431 f : maerentem ingratos raptoris amores / tendentemque manus atque hospitis arma vocantem … (während sie über die undankbare Liebe ihres Vergewaltigers trauert und ihre Hände ausstreckt und die Waffen des Gastes zu Hilfe ruft …) Ebenso begegnet die vergebliche Bitte mit ausgestreckten Armen in einer vergleichbaren Erzählung in den Metamorphosen Hier erzählt die von Minerva zur Rettung vor Neptuns drohender Vergewaltigung in eine Krähe verwandelte Heroine (auch sie – wie die Tochter des Euander in einer analogen Erzählung innerhalb der Punica64 eine regia virgo, met 2,570) ihr eigenes Geschick als warnendes Beispiel (met 2,580): tendebam bracchia65 caelo (Ich streckte meine Arme zum Himmel) Was das Motiv des unerbittlich strafenden Vaters betrifft (vgl Sil 3,427 patrias … exhorruit iras), ist das vom Flußgott Achelous selbst erzählte Schicksal der von ihm vergewaltigten Perimele vergleichbar, wird die Jungfrau doch von ihrem erzürnten Vater ins Meer gestürzt (Ov met 8,590–594) Ein wörtlicher Anklang an Ov

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später: „There is, I argue, a strong human component in the depiction of the god Hercules in Silius“ Allerdings will die Bewertung des Geschehens durch den Erzähler als crimen (421) und die Klage über den Tod der Pyrene (leti miserae 426) nicht zu einer komischen Auffassung passen Vor allem aber müßte noch stärker differenziert werden, was den schwankenden Status des Hercules zwischen Mensch und Gott betrifft; hierzu s weiter unten S 207 Sil 6,633; zur Junktur regia virgo am Hexameterende vgl auch Ov met 2,868 (Europa) und 13,523 (Polyxena) Ovid verwendet diese Geste der Verzweiflung auch für Scylla, die Tochter des Königs Nisus, die dem davonsegelnden Minos eine lange Klagerede hinterherschickt (met 8,107): intendens … manus Wie Pyrene die Undankbarkeit ihres Liebhabers betrauert (maerentem ingratos raptoris amores, Sil 3,431), erhebt auch Scylla, die sich als verlassene Geliebte inszeniert, diesen Vorwurf an Minos (Ov met 8,119): nos, ingrate, relinquis

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met 8,592 huic ego virgineum dilectae66 nomen ademi (ihr, die ich begehrte, nahm ich das Recht, Jungfrau genannt zu werden) läßt sich in Sil 3,435 vernehmen: palluit invento dilectae virginis ore (er erblaßte, als er das Haupt der einst begehrten Jungfrau fand) Auch der häufige Perspektivenwechsel erinnert an Ovids Erzählweise Auffälligerweise wird in Silius’ Erzählung der göttliche Status des Helden emphatisch betont (3,425 f ): letique deus, si credere fas est, / causa fuit leti miserae deus (und der Gott, wenn man es glauben darf, der Gott war der Grund des Todes für sie in ihrem Elend) In einem Kontext, in dem nicht die Arbeiten (labores), die zur Apotheose des Hercules führen, thematisiert werden, sondern ein Verbrechen (crimen), das der Held an der Tochter seines Gastgebers verübt hat, wirkt die Betonung des göttlichen Status irritierend Die mythisch vorgegebene chronologische Ordnung setzt die Apotheose des Helden als Belohnung ans Ende seiner erfolgreich bestandenen Taten 67 So betont in Ovids neuntem Metamorphosen-Buch der Flußgott Achelous, der von seiner Rivalität mit Hercules um die Hand der Deianira erzählt, in einer Parenthese ausdrücklich den menschlichen Status des Helden (met 9,17): nondum erat ille deus Zum Zeitpunkt des Aufenthalts bei König Bebryx befindet sich Hercules auf der Reise zu seinem Geryon-Abenteuer, was denn auch vom Erzähler als Teil der dem Helden zugelosten Arbeiten dargestellt wird (vgl Sil 3,421 f : hospitis Alcidae crimen, qui, sorte laborum / Geryonae peteret cum longa tricorporis arva …) Im Pyrenäen-Exkurs wechseln die Bezeichnungen für den Heros auffällig häufig: konventionell sind Alcides (zweimal: Sil 3,421 und 429) und Tirynthius (433) 68 Aus der Perspektive der Pyrene erscheinen die elegisch getönten Bezeichnungen vir (3,430 promissa viri) und raptor (431 ingratos raptoris amores) An die Pflichten und Verletzungen des Gastrechts erinnert hospes (421 und 432) Das doppelt gesetzte deus (3,425 f ) kann hier also proleptisch verstanden werden im Sinne von: der Held, dem es bestimmt war, am Ende und als Ergebnis seiner Leistungen ein Gott zu werden Die wechselnden Bezeichnungen für Hercules erklären sich demnach durch die gerade auch für Ovid typische perspektivische Erzählweise: Aus der empörten Bewertung des auktorialen Erzählers ist das rücksichtslose Verhalten des Helden gegenüber der Tochter seines Gastgebers eines künftigen Gottes nicht würdig, aus der Perspektive der Pyrene ist Hercules der vir und raptor Ein bemerkenswerter Wechsel der Perspektive auf knappem Raum begegnet

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Nach Bömer (Anm 11) zu met 8,592 bezeichnet diligere „oft das plötzliche (einmalige) Aufflackern der Begierde, wie V 395 paene simul visa est dilectaque raptaque Diti epist 4,55 f Iuppiter Europen … dilexit “ In der Beschreibung der Türbilder des Hercules-Tempels in Gades (Sil 3,32–44, vgl die Einleitung mit labor als Schlüsselbegriff: In foribus labor Alcidae) steht die Verbrennung des Helden auf Oeta und die Erhebung seiner unsterblichen Seele zu den Sternen denn auch an letzter Stelle (3,43 f ) Im knappen Exkurs über den Ursprung der gens Fabia im sechsten Buch der Punica wird Hercules, als er erfolgreich mit Geryons Herde zurückkehrt, bezeichnenderweise nur Tirynthius genannt (6,628)

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auch bei der Charakterisierung des Königspalastes: In 3,423 saeva69 Bebrycis in aula dürfte es sich um die auktoriale Sichtweise des Erzählers handeln, während dulces … penates (428) die interne Fokalisierung Pyrenes widerspiegelt Motivisch verweist die paradoxe Bezeichnung Pyrenes als lugendam formae (424, die wegen ihrer Schönheit zu Betrauernde) auf ein nicht nur, aber häufig bei Ovid begegnendes Motiv: einer schönen ( Jung-)frau wird ihre Attraktivität zum Verhängnis 70 Sprachliche Versatzstücke, die in Ovids Metamorphosen einem anderen Kontext angehören, können darüber hinaus dazu beitragen, einen ovidischen Ton zu kreieren So klingt Sil 3,429 tum noctem Alcidae solis plangebat in antris (dann beklagte sie in einsamen Höhlen die mit dem Alciden verbrachte Liebesnacht) durch die teilweise an identischer Versposition stehende Junktur solis … in antris im wahrsten Sinne des Wortes wie ein Echo auf Ov met 3,393 f (Echo) spreta latet silvis … / … et solis … vivit in antris (verschmäht verbirgt sie sich in Wäldern … und lebt in einsamen Höhlen) Während Pyrene mit Echo immerhin das Schicksal der vernachlässigten Heroine teilt, ist der Kontext beim folgenden Anklang ein anderer: Sil 3,433–435 laceros Tirynthius artus, / dum remeat victor, lacrimis perfudit et amens / palluit (der Tirynthier übergoß die zerrissenen Gebeine bei seiner siegreichen Rückkehr mit Tränen und erblaßte wie von Sinnen) setzt sich geradezu centoartig zusammen aus laceros artus (Ov met 9,169, hier auf Hercules selbst bezogen) und perfudit lacrimis (met 2,339) sowie amens (Ov met 2,334), was sich jeweils auf die Trauer der Clymene um ihren zerstückelten Sohn Phaethon bezieht Wie eine Kombination aus Ovid und Vergil liest sich schließlich das Ende der aitiologischen Digression über den Namen der Pyrenäen (Sil 3,440 f ): supremum illacrimans, nec honos intercidet aevo, defletumque tenent montes per saecula nomen weint ein letztes Mal um sie, und ein ehrenvolles Andenken an sie wird mit der Zeit nicht verlorengehen, und die Berge behalten durch die Jahrhunderte den Namen der Beweinten

Der typische Abschluß einer Erzählung mit dem Ortsaition und das Motiv des ewig fortdauernden Namens71 erinnern an den Schluß der aitiologischen Erklärung des Vorgebirges von Misenum nach dem Trompeter Misenus in Verg Aen 6,232–235: 69 70

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Zu möglichen Gründen für die Bezeichnung des Königspalastes als grausam s Spaltenstein (Anm 22), S 232 z St Vgl etwa Ov met 1,489 (Daphne) voto … tuo tua forma repugnat (deinem Wunsch bzw Gelübde widerstreitet deine Schönheit) oder met 2,572 (die in eine Krähe verwandelte Erzählerin, die einstige Königstochter Corone, s auch o S 206) forma mihi nocuit (meine Schönheit wurde mir zum Verhängnis); vgl Spaltenstein (Anm 22), S 232 z St und Franz Bömer: P Ovidius Naso Metamorphosen Kommentar Buch I–III Heidelberg 1969, S 380 (zu met 2,572) Zu diesem Merkmal aitiologischer Dichtung im Stile der kallimacheischen Aitia vgl Eduard Norden: P Vergilius Maro, Aeneis, Buch VI 8 Auflage Darmstadt 1984, S 197 f zu Aen 6,234 f

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at pius Aeneas ingenti mole sepulcrum imponit suaque arma viro remumque tubamque monte sub aërio, qui nunc Misenus ab illo dicitur aeternumque tenet per saecula nomen Doch der fromme Aeneas errichtet dem Helden ein Grabmal von ungeheurer Größe und legt ihm dessen eigene Ausrüstung darauf, Ruder und Trompete, am Fuße eines hoch in die Luft ragenden Berges, der jetzt nach ihm ‚Misenus‘ heißt und durch die Jahrhunderte hindurch den Namen ewig bewahrt

Aber auch der Abschluß der Myrrha-Metamorphose ist ganz analog gestaltet (Ov met 10,501 f ): est honor et lacrimis, stillataque robore murra nomen erile tenet nulloque tacebitur aevo Auch ihren Tränen erweist man Ehre, und die aus dem Baumstamm tropfende Myrrhe bewahrt den Namen ihrer Herrin und wird von keinem Zeitalter verschwiegen werden

Bei der Technik des Abschlusses einer aitiologischen Erzählung72 hat Silius also beide Vorgänger im Blick 73 Silius’ ovidische Erzählkunst zeigt sich vor allem aber in der virtuosen Variation, begegnet doch im sechsten Buch eine ganz parallele Erzählung Nach der Niederlage am Trasimenischen See wird Fabius (Cunctator) zum Diktator gewählt In diesem Kontext ist ein kurzer Exkurs eingeschaltet, in dem die ruhmreiche Abkunft seiner gens geschildert wird (Sil 6,627–636) Es wird erzählt, wie Hercules auf der Rückkehr von seinem Sieg über Geryon bei König Euander eingekehrt sei Mehr angedeutet als geschildert wird dann, wie der Held die königliche Tochter vergewaltigte und somit Stammvater der gens Fabia wurde Die Erwartung der Leser, die sich bei dieser Konstellation an die im dritten Buch erzählte Geschichte der Vergewaltigung der Pyrene durch Hercules erinnert fühlen und den weiteren Verlauf erschließen können, erfüllt sich nicht Diesmal nimmt die Begegnung des Helden mit der Tochter des Gastgebers einen glücklichen Ausgang (Sil 6,633–635):

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Ovid rundet aitiologische Erzählungen gern mit einer Ringkomposition ab, vgl Murgatroyd (Anm 61), S 86: „Ovid is also fond of rounding off these myths by means of ring structure, especially involving aetiology, and reversal (of mood, fortune, situation etc )“ (mit weiteren Parallelen) Zum bleibenden Namen am Abschluß einer aitiologischen Erzählung s auch Bömer (Anm 11) zu Ov met 8,235 et tellus a nomine dicta sepulti (über Icarus) Eine Kombination aus Vergil und Ovid findet sich auch in der konditionalen Formel si credere fas est (Sil 3,425) Ebenso wird der Vorbehalt, daß eine Erzählung nicht glaubhaft sei, auch in Verg Aen 6,173, georg 3,391 und Ov met 3,311 angebracht: si credere dignum est

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cum regia virgo74 hospite victa sacro Fabium de crimine laeto procreat Da bringt die jungfräuliche Tochter des Königs, vom heiligen Gast überwältigt, aus diesem frohen Vergehen einen Fabius zur Welt

In paradoxer Formulierung erfolgt die Bewertung des Vorgangs durch den Erzähler: crimen laetum (6,634) Gerade die überraschende Abwandlung einer bereits vorher gegebenen Erzählung ist für Ovid charakteristisch 75 Auch durch die auktoriale Bewertung als crimen wird der Vergleich mit der Pyrene-Erzählung herausgefordert: dort führte das Verbrechen des Hercules (hospitis Alcidae crimen, 3,421) zum Untergang der Königstochter Hier kehrt Hercules wieder als Gast ein, aber diesmal erwächst aus der Vereinigung ein berühmtes Geschlecht 76 Im dritten Buch der Punica wird Hannibal als Feldherr inszeniert, der sich unmittelbar auf Hercules’ Spuren befindet Ganz analog wird die Überschreitung der Pyrenäen geschildert So wie Hercules auf seinem Weg zur Erledigung der Geryon-Arbeit am Hofe des Königs Bebryx (Bebrycis in aula, Sil 3,423) als Gast einkehrte, heißt es von Hannibal direkt im Anschluß an die aitiologische Digression (Sil 3,442 f ): Iamque per et colles et densos abiete lucos Bebryciae Poenus fines transcenderat aulae 77 Schon hatte der Punier auf seinem Marsch über Hügel und durch dichte Tannenwälder das Gebiet des Königshofes des Bebryx durchschritten

Über die Marschroute der beiden Helden wird eine direkte Verbindung zwischen Hercules und dem auf seinen Spuren wandelnden Hannibal hergestellt,78 indem die Periphrase des Gebirges durch den mythischen Namen des Königs Bebryx direkt an Hercules’ folgenreichen Aufenthalt an dessen Königshof (aula) erinnert und Hannibals Überschreiten mit diesem Vorgang verknüpft 74 75 76 77

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Zu dieser auch bei Ovid beliebten Hexameterklausel s o Anm 64 Zu diesem Phänomen s o Anm 28 Zu den beiden kontrastierenden Erzählungen vgl auch Augoustakis (Anm 62), S 246–248, insbes S 248: „the story of Evander’s daughter is an inversion of Pyrene’s episode“, ferner Bruère (1958, Anm 5), S 489–491 Auch durch sprachliche Parallelen wird ein enger Konnex zwischen Hercules und Hannibal hergestellt So heißt es von Hannibals siegreichem Marsch unmittelbar vor der Überquerung der Pyrenäen (Sil 3,409) ibat ovans Genau diese Wendung des triumphal einherschreitenden Feldherrn hatte Vergil auf den Gottesverächter Salmoneus gemünzt (Verg Aen 6,589) Ganz analog heißt es im sechsten Buch der Punica im Abschnitt über den Ursprung der gens Fabia über Hercules, der die Viehherde des Geryon siegreich zu Euander trieb (6,631): egit ovans Vgl auch Sil 15,494 Unmittelbar vor Hannibals Alpenübergang verweist der Erzähler ausdrücklich auf die Pioniertat des Hercules (Sil 3,496): primus inexpertas adiit Tirynthius arces (als erster griff der Tirynthier die nie zuvor auf die Probe gestellten Festungen an)

Ovidische Momente in Silius’ Punica

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Die ambivalente Hercules-Gestalt eignete sich als Modell für ganz gegensätzliche Aktionen von Helden In der Pyrene-Erzählung wird das Verhalten des Hercules, der nicht nur geographische, sondern auch moralische Grenzen überschreitet, indem er die unberührte Tochter des Gastgebers possessus Baccho (Sil 3,423) ihrer Jungfräulichkeit beraubt und verläßt, eng mit Hannibals rücksichtslosem Vorwärtsstreben in Verbindung gebracht Während die Pyrene-Episode das Unkontrollierbare im Hercules-Modell betont,79 dient der mythische Held im sechsten Buch als positive Gestalt,80 erhöht er doch den Ruhm des Fabiergeschlechtes durch einen göttlichen Ursprung (Sil 6,627): stirpe genus clarum caeloque affinis origo (von seiner Abstammung her hatte er ein berühmtes Geschlecht und einen mit den Göttern verwandten Ursprung) Durch die Wiederholung eines Erzählmusters (Vergewaltigung der Königstochter durch Hercules als Gast) mit überraschender Variation wirkt die Passage im sechsten Punica-Buch genuin ovidisch 81 Auch nach diesem Fallbeispiel soll gefragt werden, ob Silius’ Umgang mit seinen Modellen als klassizistisch zu bezeichnen ist Die Pyrene-Erzählung erweist sich in der Diktion als typisch ovidisch, wobei wiederum – im Hinblick auf den Abschluß einer aitiologischen Erzählung – vergilischer Einschlag zu sehen ist Für die aitiologische Digression läßt sich keine konkrete Vorbildstelle ausfindig machen Vielmehr ist die Erzählung in Ovids Manier ausgeführt Insofern könnte man hier am ehesten von Klassizismus sprechen Allerdings muß die Technik, wie virtuos Silius diesen Exkurs in sein Epos integriert hat, berücksichtigt werden Die ambivalente Rolle des mythischen Hercules, die in den aufeinander zukomponierten Partien zum Ausdruck kommt, dient darüber hinaus der Charakterisierung der Protagonisten 5. Fazit Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Silius für seine aitiologischen Episoden (Pyrene, Falernus, in gewisser Weise auch die Szene mit Proteus, der die Ursache des Trojanischen Krieges erklärt), einzelne Wendungen und Motive, aber auch ganze Szenen

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Zu den verschiedenen Aspekten des Hercules-Modells, insbesondere zum schwankenden Status als Vorbild in den Punica vgl Ben Tipping: Exemplary Epic Silius Italicus’ Punica Oxford, New York 2010, S 20 f ; zur Pyrene-Episode vgl S 21: „Most obviously, the episode brings into view a dimension to the Herculean model that is diametrically opposed to the self-control and continence that Hercules also exemplifies“ Zur Rolle des „epic hero par excellence“ Hercules im nachvergilischen Epos vgl Philip Hardie: The Epic Successors of Virgil A Study in the Dynamics of a Tradition Cambridge 1993, S 65–71, zu Silius S 67: „In Silius Hercules is almost monotonously present as a model for the great men of both Rome and Carthage, above all Scipio and Hannibal “ Zu Ovids Erzähltechnik vgl etwa Murgatroyd (Anm 61), S 87: „the dexterity and versatility with which he retells the same type of tale in different ways“; s auch oben Anm 28

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aus Ovid adaptiert hat Die von Ovid inspirierten Erzählungen sind von ihrem Charakter her unkriegerisch und heben sich dadurch von den sie umgebenden Partien ab Mit den ovidisierenden Episoden blendet Silius andere, in die mythische Vergangenheit zurückgehende Momente in sein von Schilderungen der kriegerischen Ereignisse dominiertes Epos ein 82 Als Tendenz zeichnet sich, zumindest für die hier untersuchten Partien, ab: Silius setzt in seinem souveränen Umgang mit einem großen Arsenal an Intertexten gerade nicht in klassizistischer Haltung einen Vorgänger absolut 83 Vielmehr bedient er sich einer komplexen Intertextualität Nur wenn man Klassizismus wertfrei als Orientierung an als mustergültig anerkannten Vorbildern und virtuoses Verfügen über das Potential der Tradition versteht, könnte man Silius mit dem Etikett eines Klassizisten versehen Die pauschale Bezeichnung vermag jedoch nur wenig über Silius’ vielschichtigen Umgang mit seinen Prätexten auszusagen Vielmehr empfiehlt es sich, Stellen im Werk jeweils im Detail auf die Art hin zu untersuchen, wie Silius den Dialog mit seinen Vorgängern aufnimmt Charakteristisch für Silius’ Epos ist eine multiple Intertextualität Souverän blendet er bevorzugt in aitiologische Episoden, die sich von den überwiegend kriegerischen Partien absetzen, ovidische Momente ein Der flavische Dichter wählt aus einem ihm zur Verfügung stehenden Fundus Prä- und Inter-Texte (überwiegend der hexametrischen Dichtung) für seine epische Darstellung des Zweiten Punischen Krieges flexibel aus Silius’ Gedicht ist eine Fortsetzung,84 keine Nachahmung der Aeneis Der in Vergils Epos geschilderte Untergang Trojas wird als Vorgeschichte der Punischen Kriege gedeutet (vgl insbesondere Proteus’ Prophezeiung im siebten Buch der Punica) Auch die poetische Technik derjenigen Dichter, in deren Gattungstradition Silius sich mit seinem Epos in eigener Weise dynamisch einschreibt, wird beibehalten,85 was allein den flavischen Dichter noch nicht zum Klassizisten macht Warum sollte Silius für eine narrative Technik, die man bei anderen Dichtern Intertextualität nennt, als Klassizist abgestempelt werden?

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Den unkriegerischen Charakter der Ovid-Rezeption betonen auch Bruère (1958, Anm 5), S 499: „His debt to Ovid principally manifests itself in the imaginative episodes which relieve his more matter-of-fact historical narrative“ und Wilson (Anm 2), S 238: „The Ovid-inspired scenes are generally different in type and origin: non-martial and non-historical“ Vgl auch Bruère (1958, Anm 5), S 491: „His adaptation is eclectic rather than slavish“ und S 499: „Silius does not ape Ovid; rather he selects and combines scenes, motives, and expressions from all parts of the Ovidian corpus, and adapts them to his poetic purpose with taste and skill“ Dies wurde mehrfach mit Recht hervorgehoben, vgl etwa von Albrecht (Anm 8), S 101 Vgl Wlosok (Anm 9), S 341: „Im Prinzip ist der jeweilige römische Dichter, der sich an der literarischen Tradition orientiert, nicht Erneuerer, sondern Fortsetzer dieser Tradition und steht in einem kontinuierlichen Prozeß“

Klassik, Klassizismus und Exemplarität in Silius’ Punica1 Christiane Reitz (Rostock) Silius Italicus gilt als der Klassizist unter den flavischen Epikern Das hat er vor allem der Tatsache zu verdanken, dass wir durch Plinius’ Zeugnis über seine Vergilverehrung informiert sind Vergils Aeneis war in den Jahrzehnten, bis der gewesene Konsular Silius zur Feder griff, ohne Zweifel zum Klassiker avanciert; die nachfolgende Epik hatte darauf zu reagieren Diese allgemein anerkannte Tatsache möchte ich in meinem Beitrag etwas genauer beleuchten, und zwar durch einen Zugang zu Silius’ Klassizismus, oder allgemeiner, zu seiner Arbeitsweise, die mir vernachlässigt zu sein scheint 2 Dieser Zugang erscheint mir besonders plausibel, seit ich mich in den letzten Jahren intensiver mit dem Thema der Exemplarität beschäftigt habe Die exemplarischen Gestalten der römischen Geschichte in ihrer Polyvalenz sind weit mehr als ein Phänomen von Intertextualität und ‚typisch römischer‘ Art und Weise, moralische Muster aufzustellen Die Polyvalenz ist es, die diese Exempla in der europäischen Geistes- und vor allem Kunstgeschichte lebendig gehalten hat In einem kleinen Versuch habe ich mich dazu am Fallbeispiel des Mucius Scaevola geäußert 3 Ich werde diesen Zugang an Silius’ Epos über den Zweiten Punischen Krieg erproben Ausgehend von einer relecture der Nekyia im 13 Buch der Punica möchte ich vor allem einen wenig gelesenen Autor neben dem Epiker in den Blick rücken, der meist als Quellenreservoir benutzt wird, aber in seiner kulturellen Bedeutung längst nicht die Beachtung erfährt, die er meines Erachtens verdient Gemeint ist Valerius Maximus,

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Ich danke den Veranstaltern Claudia Schindler und Marc Föcking für die Einladung zu ihrer interdisziplinären Tagung und die Möglichkeit, die folgenden Gedanken hier zur Diskussion zu stellen Eine frühere Version des Vortrags konnte ich 2015 in Amsterdam präsentieren Eine Ausnahme bildet der Aufsatz von Claudia Schindler: Republikanische Ideale? Zur Darstellung und Funktion altrömischer Heldengestalten bei Lucan und Claudian In: Lucan and Claudian: Context and Intertext Hg von Valéry Berlincourt, Lavinia Galli Milić, Damien P Nelis Heidelberg 2016, S 43–59 Christiane Reitz: Burning for Rome The fortunes of Mucius Scaevola In: Classico Contemporaneo 2 (2016), S 1–12

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der Autor der Facta et dicta virorum illustrium 4 Wir können ihn in die tiberianische Zeit datieren, und wir können sehr froh sein, dass sein Text uns überliefert ist Es handelt sich um eine Sammlung in neun Büchern, nebst den epitomierten Versionen des Iulius Paris und des Ianuarius Nepotianus, und einem kurzen Fragment des zehnten Buches mit dem Titel De praenominibus Der Text in manchmal nicht ganz leicht zu verstehendem Latein ist durch die Ausgabe von John Briscoe (1998) und eine Übersetzung bei Loeb von Shackleton Bailey (2000) gut erschlossen,5 und es lässt sich feststellen, dass im Zuge der Erforschung des Phänomens Exemplarität und einem vermehrten Interesse an der ‚Zwischenzeit‘ zwischen den Kaisern Augustus und dann Nero einiges an Forschungsaktivitäten in Gang kommt So wird dieser Autor hoffentlich verstärkt aus der Ecke des Reservoirs für kleine Texte von Lateinlernern herausgezogen werden 6 Es ist sehr wahrscheinlich, dass es zahlreiche ähnliche Kompilationen von Aussprüchen und Taten berühmter Männer gegeben hat, auf die man für mannigfache, nicht nur rhetorische Zwecke zurückgreifen konnte Valerius, dessen Werk handschriftlich äußerst breit überliefert ist, und über Jahrhunderte gelesen, exzerpiert und verarbeitet wurde, ist nur ein Beispiel von vielen Die rubrizierende Organisation von historischem und literarischem Material, besonders von Exempla, war weit verbreitet Dafür besitzen wir Beweise in Form von Kompilationen, Florilegien, Epitomai, Inhaltsverzeichnissen oder kurzen Einführungen, die den Zugang zu einzelnen Werken erleichtern oder den Umgang mit schwierig zu handhabenden großen Texten erleichtern sollen 7 Dasselbe trifft auf den rechten Sprachgebrauch zu, auf die Mythographen 4 5 6

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Vgl aber die Arbeit von Isabella Wiegand: Neque libere neque vere Die Literatur unter Tiberius und der Diskurs der res publica continua Tübingen 2013 (Classica Monacensia 45) und meine Rezension dazu (Rez Christiane Reitz, Bryn Mawr Classical Review 2014 10 47) Valerius Maximus: Factorum et dictorum memorabilium libri IX Ed John Briscoe 2 Bde Stuttgart, Leipzig 1998 Valerius Maximus: Memorable Doings and Sayings Ed D R Shackleton Bailey 2 vol Cambridge 2000 Wichtige Arbeiten zum Phänomen der Exemplarität in allgemeinerem Zugriff sind: Exemplarity and singularity: thinking through particulars in philosophy, literature, and law Hg von Michèle Lowrie and Susanne Lüdemann London 2015; Matthew B Roller: Models from the past in Roman culture: a world of exempla Cambridge, New York, NY 2018; Rebecca Langlands: Exemplary ethics in ancient Rome Cambridge, New York 2018 Vgl auch Matthew B Roller: Exemplarity in Roman Culture The Cases of Horatius Cocles and Cloelia In: Classical Philology 99 (2004), S 1–56; Rebecca Langlands: Roman exempla and situation ethics Valerius Maximus and Cicero de Officiis In: The Journal of Roman Studies 101 (2011), S 100–122 sowie Michèle Lowrie: Spurius Maelius Homo Sacer and Dictatorship In: Citizens of Discord Rome and its Civil Wars Hg von Brian Breed, Cynthia Damon, Andreola Rossi Oxford 2010, S 171–186 Vgl auch Ute Luccarelli: Exemplarische Vergangenheit Valerius Maximus und die Konstruktion des sozialen Raumes in der frühen Kaiserzeit Göttingen 2007 (Hypomnemata 172) und Wiegand (Anm 4) Ein Beispiel sind die Periochai zu den Büchern von Livius’ Geschichtswerk Vgl zum Phänomen im Allgemeinen Marietta Horster, Christiane Reitz: Introduction In: Condensing Texts – Condensed Texts Hg von Marietta Horster, Christiane Reitz Stuttgart 2010 (Palingenesia 98), S 3–14; Dies : Handbooks, Epitomes, and Florilegia In: A Companion to Late Antique Literature Hg von Scott McGill, Edward Watts Chichester 2018, S 431–450 sowie Marietta Horster: Livius-Epitome Ein

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als Hilfestellung und Repertoire zum Mythos, und eben auf die historischen Exempla Quintilian inst 12,2,30 spricht über die Verbindung zwischen Rhetorik und anderen Sachgebieten und Themenkreisen, namentlich die Philosophie Dort behandelt er den Unterschied zwischen dem griechischen Paradeigma und dem römischen Exemplum „An fortitudinem, iustitiam, fidem, continentiam, frugalitatem, contemptum doloris ac mortis melius alii docebunt quam Fabricii, Curii, Reguli, Decii, Mucii aliique innumerabiles?“ fragt er dort So können wir mit Gewissheit behaupten, dass der Gebrauch von Exempla, wie wir ihn in der Redekunst dingfest machen können, und in der Philosophie, und eben auch in Silius’ Epos, nicht nur die gängige Praxis darstellt, die ein angehender Redner in seiner Ausbildung erlernt und einübt, sondern dass es ausreichend Material gab, eben Sammlungen, in denen dieses Material gut organisiert leicht zugänglich war zum Memorieren und zum Verwenden Ich möchte nun nicht behaupten, dass Exemplarität in diesem ganz pragmatischen Sinne im Wettbewerb mit anderen Denk- und Redeweisen in Rom stand Aber es ist mir wichtig vorauszusetzen, dass Exempla als rhetorisches Handwerkszeug omnipräsent waren, schnell und sogar impromptu einsetzbar, und ein intellektuelles und rhetorisches Instrument, das jedem Mitglied von Roms politischen und literarischen Eliten – und darüber hinaus – verfügbar war Was hat das nun mit epischer Dichtung, und mit Silius Italicus im Besonderen zu tun? Die neuen methodischen Trends und Turns haben in den letzten Jahrzehnten, in denen ich die latinistische Literaturwissenschaft miterlebt und beobachtet habe, zu einer ganzen Reihe von neuen Interpretationsansätzen und Einsichten geführt: politische Lektüre, metapoetische Lektüre, neuerdings das Interesse am Phänomen der Metalepse seien beispielhaft genannt 8 Aber diese Turns resultieren mitunter, indem sie eine Seite stark machen, in einer einseitigen und simplifizierenden Sichtweise Auf der anderen Seite ist auch die traditionelle Quellenforschung, in modernerem Gewand, nach wie vor präsent 9 Meine Ansicht ist, dass eine einseitige Lektüre häufig nicht zufriedenstellend ist, sondern dass es geboten bleibt, so viele Sichtweisen wie möglich miteinander zu verbinden

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spätantiker Blick auf die (kurzgefasste) römische Republik In: Exzerpieren – Kompilieren – Tradieren Transformationen des Wissens zwischen Spätantike und Frühmittelalter Hg von Stephan Dusil, Gerald Schwedeler, Raphael Schwitter Berlin, Boston 2017 (Millennium-Studien 64), S 25–48 Zur politischen Lektüre vgl z B Neil Bernstein: In the Image of Ancestors Narratives of Kinship in Flavian Epic Toronto 2008; zu metapoetischen Lektüren Mark Heerink: Virgil, Lucan, and the Meaning of Civil War in Valerius Flaccus’ Argonautica In: Mnemosyne 69 (2016), S 511–525; zur Metalepse die Beiträge im Band Ute E Eisen, Peter von Möllendorff (Hg ): Über die Grenze Metalepse in Text- und Bildmedien des Altertums Berlin, Boston 2013 (Narratologia 39), insbesondere Ruurd Nauta: The Concept of ‚Metalepsis‘ From Rhetoric to the Theory of Allusion and to Narratology, S 469–482 Vgl z B Jan Radicke: Lucans poetische Technik Studien zum historischen Epos Leiden, Boston 2004 (Mnemosyne Supplement 249)

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Dies soll im Folgenden an einem Durchgang durch einige Passagen aus Silius Italicus’ Punica im Vergleich mit Exempla aus Valerius Maximus’ Facta et dicta durchgespielt werden, um dann im Anschluss auf die Leitfrage nach Klassik und Klassizismus zurückzukommen Kommen wir nun nach diesem Statement zurück zur Exemplarität, und zum Klassizismus! Dabei geht es nicht vorrangig um den Bezug auf die tatsächlichen Ereignisse und Fakten, sondern darum, Einsichten in die argumentativen Strukturen des Gedichts zu gewinnen Den Ausgangspunkt nehme ich von einer Stelle in Pun 13,666, ein Passus, der weder mir bei meiner lange zurückliegenden Arbeit an meiner Dissertation bemerkenswert erschien noch dem jüngsten Kommentator zu Buch 13, Cornelis Michiel van der Keur 10 Scipio, der Vater, spricht zu seinem Sohn in der Unterwelt: (P Cornelius Scipio) Verum age, fare, decus nostrum, te quanta fatiget militia Wohlan, unsere Zierde, sprich, wie sehr dich die militärische Disziplin beansprucht 11 (Sil Pun 13,666)

Die historischen Persönlichkeiten werden vom epischen Autor in eine mythisch-epische Situation versetzt Denken wir an die Begegnung von Aeneas mit seinem verstorbenen Vater Anchises, wie Vergil sie im 6 Buch der Aeneis wiedergibt, versetzt uns das in eine gewisse Erwartungshaltung, was den emotionalen Ton einer solchen Szene angeht Selbst wenn wir einräumen, dass für römische Militärs Emotionen nicht die Hauptrolle spielen, überrascht es doch, dass in Silius’ Darstellung der Vater den Sohn als allererstes mit dem Terminus militia begrüßt Gerade hatte Scipio, wie es die klassischen Vorbilder erwarten ließen, in der Unterwelt seine Mutter getroffen – das ist natürlich ein Rückgriff auf die Begegnung des Odysseus mit seiner Mutter im 11 Buch der Odyssee – und hatte von seiner möglichen Jupitersohnschaft erfahren, da erscheint der Schatten des Vaters Er ist eben keineswegs ein besorgter Anchises wie in der vergilischen Katabasis, sondern eher ein Offizier, der einen Unteroffizier begrüßt, dem er zufällig im Hauptquartier oder in der Offiziersmesse begegnet Dieser explizite Verzicht auf das Äußern von Gefühlsregungen und die Abgrenzung gegenüber den als klassisch definierbaren Vorbildern, wird verständlicher, wenn wir die Scipiades, fulmina belli12 mit den Augen eines Lesers von Valerius Maximus betrachten (De disciplina militari) P Cornelius Scipio, cui deleta Carthago avitum cognomen dedit, consul in Hispaniam missus […] erecta et recreata virtute […] Itaque neglectae discipli10 11 12

Christiane Reitz: Die Nekyia in den Punica des Silius Italicus Bern, Frankfurt am Main 1982 (Studien zur Klassischen Philologie 5); Cornelis Michiel van der Keur: A Commentary on Silius Italicus’ Punica 13 Intertextuality and Narrative Structure Diss Amsterdam 2015 Wo nicht anders vermerkt, stammen die Übersetzungen von der Verfasserin Vgl Lucr 3,1034; Verg Aen 6,842

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nae militaris indicium Mancini miserabilis deditio, servatae merces speciosissimus Scipionis triumphus exstitit P Cornelius Scipio, dessen schon vom Großvater stammender Beiname von der Zerstörung Karthagos herrührt, wurde als Konsul nach Spanien geschickt … Er hatte die Tugend wieder aufgerichtet und erneuert … Daher bleibt als Zeichen der Vernachlässigung militärischer Disziplin die jämmerliche Kapitulation des Mancinius, als Lohn der geretteten Disziplin der großartige Triumph des Scipio bestehen 13 (Val Max 2,7,1)

Bei Valerius stellt das erfolgreiche Agieren Scipios, des späteren Africanus, in schwieriger Lage in Spanien eines der ganz prominenten Beispiele dar, nämlich für die Fähigkeit eines militärischen Anführers, Ordnung und Disziplin in eine verworrene Lage und sich auflösende Truppe zu bringen Es gibt verschiedene Erwähnungen, wo berichtet wird, wie effizient und zügig der noch so junge Nachfahr des bedeutenden Geschlechts mit den aufständischen Truppen fertig wurde Scipio ist das allererste Beispiel, das bei Valerius unter der Rubrik disciplina militaris aufgeführt wird Generell stellt Scipio eine der prominentesten Figuren in den Facta et dicta dar, sein Verhalten ist häufig als erstes geschildert in der Serie von Anekdoten oder Fallbeispielen, die im Text mehr oder weniger ausführlich aufgeführt sind Die Feststellung, die Scipio, der Onkel, wenig später im Text des Silius von sich gibt, und die ein Faktum enthält, von dem Scipio, der Neffe, doch mit größter Wahrscheinlichkeit bereits wusste, bestätigt die Hypothese, dass die drei Familienmitglieder einander und sich selbst als Exponenten exemplarischer Tugend sehen Scipios, des Onkels, Bericht, dass er in den Tod gegangen sei, hat zwar keine direkte Parallele bei Valerius, aber der Untergang der beiden älteren Scipionen wird häufig erwähnt (Cn Cornelius Scipio) […] nil nomine leti de superis queror: haud parvo data membra sepulcro nostra cremaverunt in morte haerentibus armis Ich beklage mich angesichts meines Todes nicht über die Götter: meine Glieder verbrannten in großer Bestattung und auch im Tode mit den Waffen (Sil Pun 13,691–693)

Es war dies ein Ereignis, für das oft schon eine ganz kurze Anspielung genügt, um es in Erinnerung zu rufen (z B Val Max 8,15,4; über die Familie und ihre Verdienste vgl

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Vgl Liv perioch 57; Frontin strat 4,1,1; Plut mor 201B; App Ib 85,367 f ; Polyaen 8,16,2; Flor epit 1,34,8–10; vir ill 22–37

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3,7,1), denn ihr ruhmreicher Untergang stellt ein vortreffliches Exemplum für eine der höchsten Leistungen dar, die ein Römer vollbringen kann: mors pro patria Die kurze Passage über den Selbstmord der Tiburna ist etwas anders gelagert Tiburna erwacht aus der Raserei, die sie überkommen hatte, und gibt sich den Tod über der Leiche ihres Gatten Natürlich ist das, wie man häufig bemerkt hat, eine dramatische, ja eine tragische Szene Also macht Silius, der klassizistische Epiker, eine Anleihe bei den klassischen Tragikern Die junge Witwe befindet sich in einem emotional höchst aufgewühlten Zustand; äußerlich ähnelt sie einer Furie, und dieser Zustand wird durch das folgende epische Gleichnis bestätigt Ecce inter medios caedum Tiburna furores, fulgenti dextram mucrone armata mariti et laeva infelix ardentem lampada quassans squalentemque erecta comam ac liventia planctu pectora nudatis ostendens saeva lacertis, ad tumulum Murri super ipsa cadavera fertur Sieh dort: Tiburna inmitten des mörderischen Wütens, die Rechte bewaffnet mit dem glänzenden Dolche des Gatten, und mit der Linken, die unselige, schüttelnd die brennende Fackel, das struppige Haar zu Berge stehend und die schon vom Schlagen blauen Brüste mit entblößten Armen wild herzeigend, stürzt sich geradewegs über die Leichen zum Scheiterhaufen des Murrus (Sil Pun 2,665–670)

Aber der Akt selbst, dass eine Witwe in absoluter ehelicher Treue ihrem Gatten in den Tod folgt, stellt ein Exemplum der Tugend der fides coniugalis oder des amor coniugalis dar Valerius hat einige Exempla solcher Taten verzeichnet; unserer Szene am nächsten kommt Porcia Catonis, die ihrem Gatten Brutus in den Tod folgt Als sie von seinem Tode hört, verlangt sie nach einem Dolch, jedoch vergeblich, denn ihre Familie sucht sie zu beschützen Daher greift sie nach glühenden Kohlestücken vom Scheiterhaufen des geliebten Mannes, steckt sie in den Mund und kommt so zu Tode 14 Ben Tipping hat eine höchst einsichtige Studie und einen Aufsatz vorgelegt, in denen er der strukturellen Bedeutung der Exempla in den Punica nachgeht 15 Wie Fabius’, des Cunctators, Aktionen und Strategien den Krieg und die römische Politik insgesamt beeinflussen und formen, ist der hauptsächliche Gegenstand der Bücher 7 und 8 der Punica Fabius stellt die einzige Hoffnung, spes unica (7,1), dar, und in einer Rück-

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Val Max 6,7 De fide uxorum erga viros; cf Marcia Reguli, Sil Pun 6,403 und 675 Val Max 4,6 De amore coniugali (inter al : Porcia Catonis, Bruti uxor) Ben Tipping: Exemplary Epic Silius Italicus’ Punica Oxford 2010 (Oxford Classical Monographs); Ben Tipping: Virtue and Narrative in Silius Italicus’ Punica In: Brill’s Companion to Silius Italicus Hg von Antony Augoustakis Leiden, Boston 2010, S 193–218

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blende 7,16–19 wird er in die historische Ahnenreihe seiner Vorfahren und in Roms lange und glorreiche Geschichte eingereiht – und nicht nur dort, sondern an vielen anderen Stellen der Punica auch Aber Exemplarität wird nicht nur als strukturelles Instrument eingesetzt, wie Tipping es beschrieben hat Die viel kürzere Anspielungstechnik, derer sich Valerius bedient, ist durchaus auch anzutreffen Fabius z B erscheint in einer Folge berühmter Männer, die Ruhm für das Vaterland erwarben: (de institutis antiquis) Maiores natu in conviviis ad tibias egregia virorum opera carmine comprehensa pangebant, quo ad ea imitanda iuventutem alacriorem redderent … quas Athenas, quam scholam, quae alienigena studia huic domesticae disciplinae praetulerim? inde oriebantur Camilli, Scipiones, Fabricii, Marcelli, Fabii, ac ne singula imperii nostri lumina simul percurrendo sim longior, inde inquam caeli clarissima pars, divi fulserunt Caesares Die Ahnen verkündeten bei Gastmählern zum Flötenklang die Taten der Männer im Lied, um die Jugend zur Nachahmung anzuspornen … Welches Athen, welche Universität, welche ausländischen Studien sollte man dieser einheimischen Sitte vorziehen? Von dorther stammen die Leute wie Camillus, wie die Scipionen, wie Fabricius, wie Marcellus, wie Fabius, und um die einzelnen Lichtgestalten unseres Reiches nicht zu umständlich aufzuzählen, von dort leuchteten, abschließend gesagt, als illusterster Teil des Himmels, die göttlichen Caesaren auf (Val Max 2,1,10)

Wie Quintilian in dem Passus aus dem 12 Buch, den ich oben erwähnt habe, zählt Valerius berühmte Männer aus berühmten Familien auf, und zwar nicht mechanisch, sondern im Rückgriff auf einen bekannten Katalog oder Kanon In der zitierten Passage spricht Valerius über die Camilli, Scipiones, Fabricii, Marcelli, Fabii Er setzt die Reihe fort, in panegyrischem Duktus, bis in seine eigene Zeit und die kaiserliche Familie, also wahrscheinlich: C Iulius Caesar, Augustus, Tiberius Der Gebrauch des Plural, also Camilli, Männer wie Camillus, ist eine Ausdrucksmöglichkeit der lateinischen Sprache, die z B auch Cicero gern benutzt 16 Eine solche panegyrische Konsequenz aus exemplarischem Verhalten setzt der Sprecher in den Punica voraus, wenn er den Feldherrn anspricht: (de Fabio, spe unica, cf 7,1) Summe ducum, qui regna iterum labentia Troiae et fluxas Latii res maiorumque labores, qui Carmentis opes et regna Evandria servas, surge, age et emerito sacrum caput insere caelo

16

Z B Cic in Pis 58: o stultos Camillos Curios Fabricios Calatinos Scipiones Marcellos Maximos! amentem Paulum, rusticum Marium, nullius consilii patres horum amborum consulum qui triumpharunt!; vgl auch Cic Phil 11,17

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Größter unter den Heerführern, der du das erneut wankende trojanische Reich und die ungewisse Lage Latiums, die Mühen der Ahnen, die Schätze der Carmentis und den Thron Euanders bewahrst – wohlan, steh auf und erhebe dein Haupt, das es verdient, in den Himmel! (Sil Pun 7,16–19)

Fabius selbst scheint von seiner eigenen Exemplarität Kenntnis zu haben, ja beseelt zu sein Das können wir z B beobachten, wenn er Pun 7,557 Camillus als Beispiel anführt, um Minucius zu überzeugen, dessen Aktionen seien zum Scheitern verurteilt (Fabius de Camillo) quantus qualisque fuisti, cum pulsus lare et extorris Capitolia curru intrares exul! tibi corpora caesa, Camille, damnata quot sunt dextra! pacata fuissent ni consulta viro mensque impenetrabilis irae, mutassentque solum sceptris Aeneia regna, nullaque nunc stares terrarum vertice, Roma Wie groß und großartig warst du (sc Camillus), als du vertrieben von Herd und Heimatland auf dem Wagen zum Kapitol zogst, der Vertriebene! Wie viele Körper wurden von deiner Hand getötet, die verurteilt worden war! Wenn dieser Mann nicht zum Kompromiss bereit und sein Sinn für Zorn unempfänglich gewesen wäre, hätte das Reich des Aeneas seinen Herrschaftssitz vertauscht, und du stündest nun nicht am Scheitelpunkt des Erdkreises, Rom! (Sil Pun 7,557–563)

Ein Exemplum richtig zu verwenden, führt zum Erfolg, es zu missachten, zum Scheitern (omnia devicta: Pun 7,577 f ) Dem richtigen Exemplum zu folgen, heißt Furcht, den Feind, Zorn und Neid zu überwinden (metus, Hannibal, irae et invidia), und schließlich kann auch das scheinbar Unmögliche gelingen: una fama et fortuna subactae Camillus ist ein prominenter Fall auch in der Beispielsammlung des Valerius Maximus: Er führt ihn sowohl unter den Exempla für Undankbarkeit an wie auch für Bescheidenheit 17 Auch im Kampf bezeichnet das Verfolgen des richtigen Exemplum den rechten und oft einzigen Weg zu tapferem Verhalten, zum Erfolg und schließlich zum Ruhm (laus) (Fabius) haud prorsus daret ullus honos tellusque subacta Phoenicum et Carthago ruens, iniuria quantum orta ex invidia decoris tulit; omnia namque dura simul devicta viro, metus, Hannibal, irae invidia, atque una fama et fortuna subactae 17

Val Max 5,3,2 (De ingratis) über das Exil; Val Max 4,1,2 (De moderatione) über den Triumph

Klassik, Klassizismus und Exemplarität in Silius’ Punica

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Nicht die Eroberung des Landes der Punier, noch der Sturz von Karthago könnte eine solche Ehre einbringen wie das Unrecht, das ihm durch den Neid auf seine Vortrefflichkeit widerfuhr; denn alle Widrigkeiten überwand der Mann zugleich, Furcht, Hannibal, Zorn, Neid, und zugleich unterwarf er Nachrede und Geschick (Sil Pun 7,575–579)

Die Soldaten wissen, wem sie Folge leisten und auf wen sie hören sollen, und am Ende preisen sie ihren Heerführern mit einer ovatio Necnon exemplo laudis furiata iuventus Sullaeque Crassique simul iunctusque Metello Furnius ac melior dextrae Torquatus, inibant proelia et unanimi vel morte emisse volebant spectari Fabio Und die Jugend, vom Vorbild des Ruhms angefeuert, ein Sulla und ein Crassus, gemeinsam mit Metellus Furnius und Torquatus, tüchtiger mit der Rechten, traten in den Kampf und waren einhellig sogar zum Sterben bereit – vor Fabius’ Augen (Sil Pun 7,617–621)

Die Erzählung selbst also beweist, dass es zu Erfolg und Ruhm führt, den rechten Exempla nachzueifern In entscheidenden Augenblicken dieser Episode ist es das Exemplum, das den Lauf der Ereignisse verändert Fabius, neben Scipio eine der meist genannten Persönlichkeiten aus dem Zweiten Punischen Krieg bei Valerius Maximus, figuriert für diese Eigenschaften prominent Seine Tapferkeit, Autorität, Strenge, Frömmigkeit und Beständigkeit werden wieder und wieder angeführt 18 Sowohl in Silius’ wie auch in anderen Erzählungen gibt es auch schlechte Beispiele Eines davon ist Varro Der Leser weiß natürlich vom katastrophalen Ausgang seiner übereilten Aktionen Aber warum konnte er in einem Staat, in dem fortitudo, patientia, constantia, moderatio, prudentia, disciplina und andere Tugenden notwendige Voraussetzungen für eine politische Karriere darstellen, so hoch steigen? Silius im 8 Buch der Punica nennt Varro in einer Liste exemplarischer Politiker hunc (sc Varronem) Fabios inter sacrataque nomina Marti Scipiadas interque Iovi spolia alta ferentem

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Val Max über Fabius Maximus: 2,2,4: vir et iam pridem summae auctoritatis; 3,2,8: mira virtute; 3,8,2: Atque ista quidem severitatis, illa vero pietatis constantia admirabilis, quam Q Fabius Maximus infatigabilem patriae praestitit Jene bewundernswerte Beständigkeit in der Strenge, aber auch der frommen Zuwendung, die Fabius unermüdlich dem Vaterland angedeihen ließ […]

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Marcellum fastis labem suffragia caeca addiderant Ihn hatten blinde Wahlergebnisse den Fabii, den Scipionen mit ihren dem Mars geweihten Namen, dem Marcellus, der Jupiter die höchsten Spolien brachte, als Makel zugesellt 19 (Sil Pun 8,253–256)

Varro ist aus niedrigen Verhältnissen aufgestiegen Das ist zunächst einmal nichts Schlechtes, und Valerius nennt auch einige Beispiele von Persönlichkeiten, die dennoch hoch gestiegen sind, z B Sokrates aus der Gruppe der externi, der ausländischen Vorbilder Aber Varro gehört nicht zu diesen positiven Fällen 20 Er wird an mehreren Stellen als aufschneiderisch und verschlagen charakterisiert, jemand, der die Götter nicht achtet und nichts auf gesittetes Betragen gibt, aber, für eine gewisse Zeit jedenfalls, Erfolg hat Val Max 1,1,16 nennt seine mangelnde Götterfurcht unter dem Stichwort De neglecta religione und rügt ihn 4,5,2, allerdings unter der Überschrift De verecundia mit einem letztlich doch positiven Ausgang: confregit rem publicam Terentius Varro Cannensis pugnae temerario ingressu idem delatam ab universo senatu et populo dictaturam recipere non sustinendo pudore culpam maximae cladis redemit, effecitque ut acies deorum irae, modestia ipsius moribus imputaretur Durch seinen unbesonnenen Eintritt in die Schlacht von Cannae erschütterte Terentius Varro die Republik Eben der machte dadurch, dass er die ihm vom Senat und Volk angetragene Diktatur aus Scham anzutreten ablehnte, die Schuld an der gewaltigen Niederlage wett und bewirkte, dass das Schlachtgeschehen dem Zorn der Götter, die Bescheidenheit aber seinem Charakter zugeschrieben wurde (Val Max 4,5,2)

An anderer Stelle habe ich mich ausführlicher zu einer epischen Bauform geäußert, die sich für die Aufzählung von Exempla geradezu anbietet, nämlich zum Katalog 21 In Punica 8 gibt es einen ausgedehnten und stark didaktisch getönten Katalog der italischen Truppen Dieser bietet sich für den hier angestellten Vergleich zwischen 19 20 21

Man könnte sich beinahe zu einer Konjektur ermutigt fühlen und statt labes ‚Makel‘ tabes ‚Fäulnis‘ lesen Tabes metaphorisch gebraucht z B Liv 42,5,7 und Sall Iug 32,3 und Catil 36,5 Vgl Val Max 3,4,4: De humili loco natis qui clari evaserunt Christiane Reitz: Does mass matter? The epic catalogue of troops as narrative and metapoetic device In: Flavian Epic Interactions Hg von Gesine Manuwald, Astrid Voigt Berlin, Boston 2013 (Trends in Classics Supplementary Volumes 21), S 229–243; Christiane Reitz: Das Unendliche beginnen und sein Ende finden Strukturen des Aufzählens in epischer Dichtung In: Anfänge und Enden Narrative Potentiale des antiken und nachantiken Epos Hg von Christine Schmitz, Angela Jöne, Jan Kortmann Heidelberg 2017, S 105–118

Klassik, Klassizismus und Exemplarität in Silius’ Punica

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epischem und rubrizierendem Text besonders an Enrico Maria Ariemma in seinem Kommentar zum 8 Buch ist einer der wenigen Gelehrten, die mitunter auf Valerius Maximus als Parallele verweisen 22 Aber ich bin sicher, dass zwar der heutige Leser mit den langen Namenslisten, die zudem auf Örtlichkeiten und frühere und manchmal auch künftige Ereignisse verweisen, Schwierigkeiten hat Antike Leser aber hätten diese Listen sehr viel weniger mühsam gefunden, und dies nicht nur, weil sie an dem generischen Spiel mit den didaktischen und aitiologischen Elementen Freude gehabt hätten,23 sondern vor allem deshalb, weil das Rubrizieren eine völlig gängige und praktizierte Art des Denkens, Sprechens und Arbeitens war, ein intellektueller Vorgang, um Ordnung in eine vielleicht zunächst verwirrende Menge von Namen und Charakteren zu bringen Auf andere Epochen vermittels des Namens einer gens, oder eines individuellen Akteurs, zu verweisen, stellt einen üblichen Weg dar, Ereignisse und die ihnen zugrunde liegenden moralischen oder unmoralischen Intentionen von bestimmten Entscheidungen und Handlungen miteinander in Verbindung zu bringen Wie eingangs erwähnt, ist uns ein Kapitel in den Facta et dicta als Buch 10 unter dem Namen des Iulius Paris in der Epitome erhalten Es ist dies eine onomastische Studie, die sich offenbar auf frühkaiserzeitliche grammatische Traktate stützt, also auf nicht oder nur fragmentarisch erhaltene Autoren wie Verrius Flaccus und Varro Iulius Paris gibt einen Überblick über Namen, zunächst generell, dann Vornamen und Namen berühmter Familien Es ist meiner Meinung nach kein Zufall, dass dieses kleine Zeugnis antiker Gelehrsamkeit im Kontext von Valerius Maximus’ Sammlung überliefert ist In vollständigem Zustand kann so eine Liste dazu gedient haben, mit komplexeren und vielleicht verwirrenden längeren Texten umzugehen, indem es dem Leser eine Art Handreichung über Namen und ihre Bedeutung bot Besonders interessant ist der Eintrag über Brutus’ freundliche und nette Persönlichkeit (8,607,12), aber leider konnte ich bisher die Tugend der Freundlichkeit und guten Laune bei Valerius selbst nicht finden Stattdessen möchte ich enden mit Torquatus Torquatus hält nach der Niederlage von Cannae eine berühmte Rede Die Senatoren sind niedergeschlagen, einige schlagen sogar vor, Rom dem Feind zu überlassen und sich gen Süden zurückzuziehen In diesem Augenblick tiefer Verzweiflung erhebt sich Torquatus Dieser Augenblick und die Worte, die jetzt gesprochen werden, stellen meiner Ansicht nach den Wendepunkt des Kriegsgeschehens dar Torquatus und seine berühmte Ahnenreihe werden in Pun 11,73 f genannt:

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Enrico Maria Ariemma: Alla Vigilia di Canne Commentario al libro VIII dei Punica di Silio Italico Neapel 2000 Christiane Reitz: Ursprünge epischer Helden Mythologie, Genealogie und Aitiologie im Argiverkatalog von Statius’ Thebais In: Von Ursachen sprechen Eine aitiologische Spurensuche Hg von Christiane Reitz, Anke Walter Hildesheim 2014 (Spudasmata 162), S 59–78

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Hic Torquatus, avum fronte aequavisse severa nobilis […] Dann sprach der edle Torquatus, durch seine strenge Miene dem Ahnherrn gleich […] (Sil Pun 11,73 f )

Die dann folgende Rede war berühmt; man findet sie auch bei Valerius Maximus unter der Überschrift Graviter dicta et facta (5,4,1) Civitate nostra Cannensi clade perculsa […] Tunc Manlius Torquatus, filius eius qui Latinos apud Veserim incluta pugna fuderat, quam poterat clara voce denuntiavit, si quis sociorum inter patres conscriptos sententiam deicere ausus esset, continuo eum interempturum Als unser Staatswesen durch die Niederlage bei Cannae darniederlag […] verkündete Manlius Torquatus, der Sohn des Mannes, der die Latiner am Veseris in einer berühmten Schlacht geschlagen hatte, so laut wie er konnte, er werde, wenn einer von den Bundesgenossen es wage, ein Votum vor den Senatoren abzugeben, diesen sofort töten (Val Max 5,4,1)

Kempf, in dem immer noch sehr nützlichen Index seiner Ausgabe von 1888, beklagt sich: (Torquatus) ubi non solum cum Torquato cs 340, sed etiam cs 234, 224 et cum huius filio confusus est 24 Diese Klage ist ihrerseits exemplarisch: Es geht eben nicht darum, die einzelnen Mitglieder einer gens genau zu identifizieren und prosopographisch vorzuhalten Gerade ihre Exemplarität macht sie im Grunde miteinander austauschbar Dazu äußert sich, in ironischer Art und Weise, auch Cicero, wenn er über die Angewohnheit spricht, sich die exemplarischen Vorfahren, wenn man sie denn nicht hatte, nötigenfalls zu erfinden 25 Man könnte die Reihe klassischer Exempla fortführen Besonders interessant ist das Beispiel des Regulus, insbesondere für unsere Thematik, gilt Silius doch nicht nur als Vergilverehrer, sondern auch als glühender Bewunderer Ciceros Regulus steht für constantia und fides Er ist nicht nur die wichtigste Gestalt in der intradiegetischen Erzählung in Buch 6, sondern er erscheint auch auf Hannibals Schild, und in der Rede des Gestar Es wäre auch lohnend, sich die Beispiele für Freundschaft anzuschauen Auch hier lehnt Silius sich nicht nur an die Sammlung des Valerius an, sondern an als klassisch

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Valerius Maximus: Factorum et dictorum memorabilium libri 9 Ed Karl Kempf 2 Bde Ndr 2 Aufl 1888 Stuttgart 1982 Cic Brut 62 spricht vom großzügigen Umgang der Familien mit der Erinnerung, die vor genera etiam falsa nicht Halt macht

Klassik, Klassizismus und Exemplarität in Silius’ Punica

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einzuschätzende Konzepte von Freundschaft, wobei vor allem wiederum Cicero heranzuziehen ist 26 Ferner ist es von Bedeutung, dass Silius berühmte Namen wiederverwendet, und zwar nicht vor allem deshalb, um eine republikanische Gesinnung an den Tag zu legen Dies ist zwar von einigen Forschern unternommen worden, die Beweisführung scheint mir aber eher aus Sympathie zum Untersuchungsgegenstand herzurühren Nähe zum sich verfestigenden Prinzipat und zumal so wenig sympathischen Principes wie Nero oder Domitian zu unterstellen, ist nicht so erfreulich, wie in dem Epiker einen oppositionellen Republikaner zu entdecken Fruchtbarer indessen ist es, sich klarzumachen, dass die Nennung von Namen bei Autor und Leser Assoziationen und Rückgriffe auf ihren Erinnerungsfundus herstellt 27 Auch eine umfangreichere Untersuchung der negativen Exempla würde sich als fruchtbar erweisen Nur ein Fall sei erwähnt: Juno in Gestalt des Metellus erteilt unehrenhafte Ratschläge und erhält von Paulus, der wie ein Handbuch der Exemplarität daherkommt, sofort die richtige Antwort: er zeigt der Göttin nicht nur, wie echte Römer handeln, sondern auch, wie sie reden (Sil Pun 10,14–16 und 10,61–69) Zusammenfassung Es geht also keineswegs darum, mögliche, oder gar bisher unbekannte Quellen für Silius auszumachen Es ist kein fruchtbares Unterfangen, das historische Epos anhand der verlorenen Passagen aus Livius und anderen Historikern zu erklären Vielmehr möchte ich dafür plädieren, dass die Exempla, die eine so wichtige Rolle in der Redekunst und der Philosophie spielen, vielleicht in höherem Maße als ein kanonischer, als klassisch empfundener Text der gleichen Gattung, auch epische Texte prägen Cicero, der Klassiker par excellence, benutzt die Regulus-Geschichte nicht nur in seiner Schrift De officiis, in der Diskussion über honestum und utile, sondern auch in der elften Philippica und in In Pisonem Valerius Maximus in die Hand zu nehmen und versuchsweise das exemplarische Denken eines römischen Lesers zu simulieren, und sodann den Text der Punica und andere epische Texte durchzugehen, wird uns tiefer über Beharrungsvermögen und Traditionsbindung, also über das Entstehen von klassischen Texten, klassischen Inhalten und das lebendige Konzept von Klassizismus belehren

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Regulus: Sil Pun 2,340 (Gestar); 2,435 (scutum Hannibalis); 6 passim; Scaevola 9,370; Marius et Caper, exempla amicitiae 9,4,1 Vgl dazu beispielhaft zur Verwendung von Namen bei den Leichenspielen, die Scipio ausrichten lässt, Evelyn Syré, Gewalt und soziale Bindung in Silius Italicus’ Punica (Litora Classica 9) Rahden/Westf 2017 (Diss Rostock 2016)

Canto l’arme pietose e’l capitano … Torquato Tassos poema eroico zwischen Klassizismus und Modernismus1 David Nelting (Bochum)

Torquato Tasso ist nicht nur einer der großen Klassiker der italienischen Literaturgeschichte Während Tasso eine Zeitlang als Vertreter eines sogenannten Manierismus empfunden und missverstanden worden ist, dürfte spätestens seit einem 1987 im Romanistischen Jahrbuch erschienenen Beitrag zum Thema klar sein, dass Tasso auch einer der großen Klassizisten der italienischen Literatur ist 2 Tasso hat viel und vieles geschrieben; seine Dialoge etwa sind eine Fundgrube für das diskurshistorisch angemessene Verstehen der Kultur der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts in Italien Tassos Selbstverständnis und seine Selbstrepräsentation als Dichter aber beruhen meinem Eindruck nach vor allem auf dreien seiner Werke: seinem Pastoraldrama Aminta von 1573, seiner Sammlung petrarkistischer Lyrik, vor allem der parte prima seiner Rime von 1591/92, sowie seinem großen epischen Projekt, dem poema eroico der Gerusalemme liberata, die 1581 unautorisiert erstveröffentlicht wurde Es fällt ins Auge, dass Tasso mit diesen drei Werken die drei großen Register der Rota Virgilii bespielt:

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Der vorliegende Beitrag ist Teil eines größeren Forschungsprojekts (‚Hybridisierungen von ‚alt‘ und ‚neu‘ in Epos und Epostheorie des Secondo Cinquecento‘“) im Rahmen der DFG-Forschergruppe 2305 ‚Diskursivierungen von Neuem Tradition und Novation in Texten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit‘ Teile dieses Beitrags gehen zurück auf David Nelting: ‚Hybridisierung‘ als Strukturprinzip Überlegungen zu Poetologie und Epistemologie in Torquato Tassos ‚Gerusalemme liberata‘ In: Working Papers der FOR 2305 Diskursivierungen von Neuem 2 (2016) (http://www for2305 fu-berlin de/publikationen-berichte/publikationen/wp2/index html, 18 10 2019); zum allgemeinen Problemrahmen vgl Bernhard Huss: Diskursivierungen von Neuem Fragestellungen und Arbeitsvorhaben einer neuen Forschergruppe In: Working Papers der FOR 2305 Diskursivierungen von Neuem 1 (2016) (http://www for2305 fu-berlin de/publikati onen-berichte/publikationen/wp1/index html, 18 10 2019) Für wertvolle Hinweise danke ich meiner Projektmitarbeiterin Maria Debora Capparelli sowie in der Diskussion Claudia Schindler und Florian Mehltretter Gerhard Regn: Tasso und der Manierismus Anmerkungen zu einem Forschungsproblem In: Romanistisches Jahrbuch 38 (1987), S 99–129

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Pastoraldichtung, Dichtung im mittleren Stil, denn dieser ist der Ort der Liebeslyrik in der Dichtungstheorie des Cinquecento, sowie die hohe Form des Epos Tassos Bestreben ist dabei nicht nur darauf ausgerichtet, sich gleichsam als zweiter Vergil Zeitgenossen und Nachwelt zu empfehlen und sich in klassizistischer Manier als neuer Klassiker zu etablieren In Aminta und Rime versucht Tasso auch, elementare und im Verlauf des sechzehnten Jahrhunderts pluralisierte Darstellungs-, Argumentations- und Wertbestände des vulgärhumanistischen Klassizismus unter den veränderten Bedingungen des späten Cinquecento zu reaktualisieren, ja in ihrer Gültigkeit zu restaurieren Das Spannende dabei ist, dass er in diesem Zusammenhang durch das Inszenieren von Pluralität diese zunächst aktiv ausstellt und sodann in der Performanz der fiktionalen Diskurshandlung in die Verbindlichkeit einer restaurativen Ordnung und klassizistischen Harmonie zu überführen trachtet 3 Bei Tassos Epos, der Gerusalemme liberata, scheinen die Dinge freilich etwas anders zu liegen Dies zunächst in dem Sinne, dass die Forschung diesem Epos gemeinhin eine irreduzibel unruhige Ambivalenz, ja subversiv unklassische, quasi ‚moderne‘ Sprengkraft zuspricht Wie kommt es dazu? Man braucht keinen stupenden philologischen Scharfsinn aufzubieten, um zu bemerken, dass Torquato Tassos poema eroico Diskurssysteme verbindet, welche ebenso humanistischen Diskurstraditionen wie gegenreformatorischer Kultur zuzurechnen sind Die Frage ist nur, wie man mit diesem Datum umgeht Einen angemessenen Überblick der einschlägigen Forschung zu liefern, ist hier nicht der Ort Die Forschungslage lässt sich aber, auch ohne ins Detail zu gehen, bündig auf den Nenner einer hartnäckigen Modernisierung der komplexen historischen Dynamiken und Verflechtungen bringen Bezeichnend für die aktualisierenden Denkvoraussetzungen moderner und meist auch weltanschaulich modernisierender Hermeneutiken wird die Anlage der Liberata fast durchweg als unhintergehbar dualistisch empfunden, wird Tassos poema gleichsam, um es in den Worten von Bruno Latours prominenter Modernekritik zu sagen,4 dichotomisch ‚purifiziert‘ In der Liberata stehen sich, so die vorherrschende Auffassung, mit ‚Humanismus‘ und ‚Gegenreformation‘ zwei fundamental gegenstrebige kulturelle Normen-, Werte- und Wissenssysteme gegenüber Beispielhaft für gängige Auffassungen von De Sanctis5 über Caretti6 bis Larivaille7 spricht Giulio Ferroni pointiert von „contraddizioni insanabili“ als wesentlichen Eigenschaften, die Tassos poema auf eine (epistemische und anthropologisch-psychologische) „tensione moderna“ hin 3

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Vgl Gerhard Regn: Torquato Tassos zyklische Liebeslyrik und die petrarkistische Tradition Studien zur ‚Parte prima‘ der ‚Rime‘ (1591/1592) Tübingen 1987 (Romanica Monacensia 25); David Nelting: Frühneuzeitliche Pluralisierung im Spiegel italienischer Bukolik Tübingen 2007 (Romanica Monacensia 74), S 141–179 Vgl Bruno Latour: Nous n’avons jamais été modernes Essai d’anthropologie symétrique Paris 1997 Vgl Francesco De Sanctis: Storia della letteratura italiana Napoli 1870 Vgl Lafranco Caretti: Ariosto e Tasso Torino 1971 Vgl Paul Larivaille: Poesia e ideologia Lettura della Gerusalemme liberata Napoli 1987

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öffneten 8 Im Sinn einer solchen tensione moderna werden die tassesken Antinomien meist dahingehend bilanziert, dass unter der Oberfläche des gegenreformatorischen Kreuzzugsepos das prima facie artikulierte Sinnsystem durch poetische Lizenzen, etwa die erotische und ästhetische Sprengkraft der Armida-Figur, untergraben werde, und dass die Liberata tatsächlich, so Sergio Zatti, in „dissimulation“ und „hidden resistance“ gegen die tridentinische Normativität eine emanzipatorische Diesseitigkeit und quasi-moderne Psychologie zur Entfaltung bringe 9 Beiträge, welche die Dichotomie umgekehrt, also zugunsten gegenreformatorischer Eindeutigkeit, auflösen, sind außerordentlich selten,10 was angesichts der vielfach fortschrittsteleologischen Denkvoraussetzungen moderner Literaturwissenschaft freilich auch wenig verwundert Auch die neueste Forschung ist vom Willen zur Dichotomisierung und Modernisierung der Liberata geprägt So liest Helga Giampiccolo 2008 die Liberata als „Epic at the Crossroads of Renaissance Humanism and the Counter-Reformation“ und als Subversion eines hegemonialen katholischen Sinnsystems11; Teresa Staudacher zeichnet 2013 ausgehend von „Widersprüchlichkeiten“ in Tassos Heidendarstellungen das Bild einer Affektpoetik als Demontage repressiver Normen Affekte erscheinen bei Staudacher als Subtexte, welche die ausdrücklichen Normen als „Oberflächentext“ und „fragwürdig“ erscheinen lassen, womit die Dichotomisierung mundaner und gegenreformatorischer Diskurse in der räumlichen Figur von Oberfläche und Tiefe fortgeschrieben (und epistemisch mit dieser Bildgebung vielleicht noch verstärkt) wird 12 Eine Ausnahme in diesem Tableau bildet vor allem – neben Anne Duprats Beobachtungen zum entschieden ‚synthetischen‘ und eben nicht antinomischen Charakter von Tassos poema13 – die 2014 erschienene Studie von Katharina Kerl über die Pragmatik von Tassos Fiktionalitätsbegriff Auch wenn Kerl zunächst von Diskrepanzen, Paradoxien und Gegensätzlichkeiten als Basisstruktur der Liberata ausgeht, und auch

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Giulio Ferroni: Storia della letteratura italiana Dal Cinquecento al Settecento Milano 1991, S 237 Sergio Zatti: The Quest for Epic From Ariosto to Tasso Toronto 2006, S 196 Etwa David Quint: Epic and Empire Politics and Generic Form from Virgil to Milton Princeton 1993 Helga Giampiccolo: Torquato Tasso’s ‚Gerusalemme Liberata‘ (1581) Epic at the Crossroads of Renaissance Humanism and the Counter-Reformation Baltimore 2008 Teresa Staudacher: Volendo far la favola affettuosa Affektpoetik und Heidendarstellung bei Torquato Tasso Wiesbaden 2013 (Culturae 9) Während Anne Duprat Tassos Bestrebungen, klassische bzw klassizistische Traditionen und modernistische Novationen zu verbinden, zunächst mit der rhetorischen Figur der concordia discors fasst („[…] il n’est pas indifférent de souligner que le Tasse y avait développé […] les principes de la concordia discors qu’il cherchera toujours à établir entre théories platoniciennes et aristotéliciennes de la poésie, entre systèmes développés par les Anciens et la production poétique moderne, enfin entre la poésie lyrique et l’héroïque“, Anne Duprat: Vraisemblances Poétiques et théorie de la fiction, du Cinquecento à Jean Chapelain (1500–1670) Paris 2009, S 236), so bezeichnet sie resümierend Tassos dichtungstheoretisches Programm als das einer Synthese, und genau dieser Versuch einer Synthetisierung unterschiedlicher Diskurse und Diskursverfahren mache die „identité et les modes d’écriture d’une épopée chrétienne moderne“ aus (Ebd , S 270)

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wenn sie letzten Endes Tasso auf dem Weg in eine „Autonomie-Ästhetik“ sieht14, so berichtigt sie in Hinblick auf Tassos historisches Fiktionsverständnis die Präsupposition schroffer Gegensätzlichkeit und gewinnt stattdessen einen Eindruck „theoretischer Ununterscheidbarkeit“15 von fiktionaler Wahrscheinlichkeit und christlich-dogmatischem Wahrheitsanspruch 16 Schon Georges Güntert hatte seine wichtige Studie zur Liberata mit der Beobachtung geschlossen, die gemeinhin dualistisch separierten Dimensionen des Werks, also „finzione“, „diletto“, „sensualità“ auf der einen und „idealismo astratto“, „significato“, „utile“ und „bene“ auf der anderen Seite, fügten sich in einem „Oxymoron“ zusammen, und auf diese Weise hatte er das strukturelle Zusammenspiel der beiden Bereiche als Grundprinzip tassesker Textkonstitution betont, wenngleich auch er letzten Endes darauf zielt, die Liberata als Figur protomoderner Ambivalenz zu lesen 17 Kerls griffige Formel der Ununterscheidbarkeit geht in der Sache nun noch einen wesentlichen Schritt weiter, und sie scheint mir damit einen außerordentlich wichtigen Fingerzeig für eine diskurshistorisch18 angemessene, nicht dichotomische Behandlung von Tassos Text zu liefern Angeregt von Kerls Befund ließe sich fragen, ob man die betreffenden Diskursgefüge nicht womöglich als Übergänglichkeiten, Integrationsdynamiken, ja als Hybridisierungen19 humanistischer und gegenreformatorischer Dimensionen rekonstruieren könnte und sollte Mit anderen Worten: Anders als die Forschungsansätze, welche in der purification des historischen Gegenstands den Denkvoraussetzungen ihrer eigenen modernistischen Hermeneutik aufsitzen und humanistische 14 15 16

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Katharina Kerl: Die doppelte Pragmatik der Fiktionalität Studie zur Poetik der ‚Gerusalemme Liberata‘ (Torquato Tasso, 1581) Stuttgart 2014 (Text und Kontext 35), S 395 Ebd , S 393 Vgl synoptisch zu Staudacher und Kerl: Maria Debora Capparelli: Besprechung von Teresa Staudacher, Volendo far la favola affettuosa Affektpoetik und Heidendarstellung bei Torquato Tasso; Katharina Kerl, Die doppelte Pragmatik der Fiktionalität Studie zur Poetik der ‚Gerusalemme Liberata‘ In: Romanistisches Jahrbuch 67 (2016), S 202–207 Georges Güntert: L’epos dell’ideologia regnante e il romanzo delle passioni Saggio sulla ‚Gerusalemme Liberata‘ Pisa 1989, S 206 Dies meine ich durchaus im ‚archäologischen‘ Sinn Zur Aktualität des Paradigmas vgl Joachim Küpper: Grenzen der Horizontverschmelzung Überlegungen zu Hermeneutik und Archäologie In: Poetologische Umbrüche Romanistische Studien zu Ehren von Ulrich Schulz-Buschhaus Hg von Werner Helmich u a München 2002, S 428–451; Huss: Diskursivierungen (Anm 1), S 6 An dieser Stelle sollte erwähnt werden, dass in frappanter lexikalischer Übereinstimmung mit den von mir hier und im Folgenden vorgeschlagenen Beschreibungskategorien der Hybridität bereits Francesco Ferretti Tassos poema als ein „amalgama fittizio di vero, falso e soprannaturale“ bezeichnet (Francesco Ferretti: Narratore notturno Aspetti del racconto nella ‚Gerusalemme liberata‘ Pisa 2010, S 8), ja als einen „testo ibrido, nel quale sacro e profano si mescolano senza rimedio“ (Ebd , S 10) Die semantische Prägnanz von Ferrettis Begriffen ist dabei freilich vor seinem heuristischen Hintergrund eine sehr andere: Tassos Poetik des Amalgams ist für ihn in einem psychologisch-biographischen Sinn begründet, sie ist Ausdruck einer „condizione umana come un abisso sospeso fra un piacere individuale proibito e un oneroso dovere collettivo“ und als solche das Werk „se non di un folle, di un incauto provocatore: un’opera congegnata nei minimi dettagli per ospitare l’incertezza morale o addirittura il delirio“ (Ebd , S 10 f )

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und gegenreformatorische Dimensionen gegeneinander auszuspielen trachten, frage ich mich, ob Tassos Liberata nicht sinnvollerweise und gegenstandsangemessener als ein morphologisch, funktional und rationalitätsgeschichtlich Drittes zu rekonstruieren wäre Dieser allgemeine Problemrahmen hat nun, wie ich finde, Einiges mit der Frage nach Tassos Klassizismus zu tun Wenn man der Frage nach Tassos Klassizismus in der Liberata nachgehen möchte, dann heißt das zu beleuchten, wie Tassos Epos sich form- und auch rationalitätsgeschichtlich spezifisch als poema eroico im Spannungsfeld von klassizistischer Rückversicherung einerseits und modernistisch unklassischer Stilmischung andererseits entfaltet Klassizismus ist, wie ich im Folgenden skizzieren möchte, in Tassos poema nicht nur mit einem historischen Index des normativen Klassikerbezugs versehen, sondern erweist sich als eine dynamische Größe, ja durchaus als Momentum epochalen Übergangs, an dem die kulturell dominanten Regelsysteme von Humanismus und Gegenreformation gleichermaßen Anteil haben Deswegen habe ich den Eindruck, dass im Bereich der formalästhetischen Konstitution von Tassos poema, im Bereich seines formalen Klassizismus, auch der Schlüssel für eine diskurshistorisch angemessene und plausible Rekonstruktion seiner Semantik im Spannungsfeld der Opposition von Humanismus und Gegenreformation liegt Meine diesbezügliche These lautet: Tassos Klassizismus ist notwendig restaurativ, aber auch, salopp gesagt, flexibel auf der Höhe seiner Zeit, und Tassos Versuch, eine als klassisch mimetisch verstandene Epik unter den Gegebenheiten des späten sechzehnten Jahrhunderts zu renovieren, bedeutet nicht nur eine Integration von Anciennitätsbezug und Modernisierung, sondern notwendig auch von humanistischen und gegenreformatorischen Regelsystemen Dies möchte ich nun im Ansatz deutlich machen Tassos Hauptproblem habe ich eben schon angeschnitten, es besteht in der Tatsache, dass formalklassizistische Restauration bestimmter Bereiche antiker Poetologie, und zwar der aristotelischen Mimesis- und Einheitspoetik, und der nachhaltige Einsatz von stilmischenden Verfahren bei Tasso Hand in Hand gehen Es ist bekannt, dass der aristotelisierende Klassizismus die dichtungstheoretischen Diskussionen der zweiten Jahrhunderthälfte in Italien massiv prägt Ab Alessandro De’Pazzis lateinischer Übersetzung des griechischen Textes, die 1536 in Venedig bei Aldus erschienen war (eine bereits 1498 von Giorgio Valla besorgte Übersetzung ist rezeptionsgeschichtlich kaum von Belang) gewinnt die aristotelische Poetik rasant an Autorität, und damit wird die mimetische Ausrichtung von Dichtung zunehmend verbindlich 20 Die imitatio auctorum wird im Rahmen einer spezifisch rinascimentalen Lesart des Aristoteles ergänzt bzw in ihrem Stellenwert teils nachgerade überlagert durch die imitatio naturae, die 20

Vgl Bernard Weinberg: A History of Literary Criticism in the Italian Renaissance Chicago 1961; Brigitte Kappl: Die Poetik des Aristoteles in der Dichtungstheorie des Cinquecento Berlin, New York 2006 (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 83)

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Nachahmung einer Handlungswelt außerhalb der Literatur selbst 21 Erste Versuche, eine gattungseinheitliche, historisch-mimetische Heldenepik als poema eroico vorzulegen, finden sich bereits 1548 mit Giangiorgio Trissinos L’Italia liberata dai Goti und Luigi Alamannis Girone il cortese Dies ist der humanistische Hintergrund für Tassos poema Gleichzeitig aber schließt Tassos poema bis zu einem gewissen Grad an die varietas des unmittelbar vorgängigen romanzo an, und öffnet die Liberata darüber hinaus auch, wie ich andeuten möchte, auf die, so die Formel eines historiographischen Standardwerks, „Modernisierungswut“ der Gegenreformation 22 Unverzichtbar zur Klärung der theoretischen und poietischen Statur der Liberata ist der Blick auf das Proömium, auf propositio und invocatio der Liberata – die dedicatio können wir hier außen vor lassen –, welche die ersten drei Oktaven umfassen Diese Oktaven lauten wie folgt: 1 Canto l’arme pietose e ’l capitano che ’l gran sepolcro liberò di Cristo Molto egli oprò co ’l senno e con la mano, molto soffrí nel glorioso acquisto; e in van l’Inferno vi s’oppose, e in vano s’armò d’Asia e di Libia il popol misto Il Ciel gli diè favore, e sotto a i santi segni ridusse i suoi compagni erranti 2 O Musa, tu che di caduchi allori non circondi la fronte in Elicona, ma su nel cielo infra i beati cori hai di stelle immortali aurea corona, tu spira al petto mio celesti ardori, tu rischiara il mio canto, e tu perdona s’intesso fregi al ver, s’adorno in parte d’altri diletti, che de’ tuoi, le carte

21

22

Vgl ebd ; Andreas Kablitz: Mimesis versus Repräsentation Die Aristotelische Poetik in ihrer neuzeitlichen Rezeption In: Aristoteles Poetik Hg von Otfried Höffe Berlin 2009 (Klassiker Auslegen 38), S 215–232; Bernhard Huss: Literaturtheorie In: Renaissance-Humanismus Lexikon zur Antikerezeption Der Neue Pauly Supplemente Hg von Manfred Landfester Bd 9 Stuttgart, Weimar 2014, S 558–566 Angelica Gernert, Michael Groblewski: Von den italienischen Staaten zum ersten Regno D’Italia Italienische Geschichte zwischen Renaissance und Risorgimento (1559–1814) In: Kleine italienische Geschichte Hg von Wolfgang Altgeld, Rudolf Lill Stuttgart 2004, S 185–255, hier S 196

Canto l’arme pietose e’l capitano …

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3 Sai che là corre il mondo ove piú versi di sue dolcezze il lusinghier Parnaso, e che ’l vero, condito in molli versi, i piú schivi allettando ha persuaso Cosía l’egro fanciul porgiamo aspersi di soavi licor gli orli del vaso: succhi amari ingannato intanto ei beve, e da l’inganno suo vita riceve 23

Die ersten Verse der propositio machen unmissverständlich deutlich, worum es geht: um die heroisch erfolgreiche Befreiung von Christi Grab durch den Heerführer, den capitano, Gottfried von Bouillon im ersten Kreuzzug Mit diesem Gegenstand greift Tasso ein etabliertes Thema der gegenreformatorischen Propaganda auf – schon 1553 hatte Antonio Fiordibello in einer auf Betreiben des Kardinaldiakons und päpstlichen Legaten Reginald Pole verfassten Rede anlässlich der Thronbesteigung von Mary Tudor24 die Befreiung von Christi Grab im ersten Kreuzzug unter Gottfried von Bouillon in ihrer heilsgeschichtlichen Bedeutsamkeit mit der Rekatholisierung Englands verglichen25 und so für die Bekämpfung des Schismas vereinnahmt Die Deutung des Islams als christliche Abspaltung hat dabei in der italienischen Literatur durchaus Tradition; schon mit Dantes Verortung des Religionsgründers Mohammed als Zwietrachtstifter in Inf 28 erscheinen die muslimischen Gegner der Kreuzritter generisch nicht als Vertreter einer zwar falschen, aber eigenständigen Religion (wie Dantes antiker Vergil mit seinen dei falsi, Inf I,72), sondern in der Zeit nach Christi Erlösungstat schlicht als Schismatiker der einen wahren Lehre Dieses in seiner gegenreformatorischen Zielrichtung so höchst durchsichtige Sujet wird nun in einem unverkennbaren intertextuellen Anschluss an Vergils Auftakt der Aeneis vermittelt Das Prinzip gravitätisch gesperrter Syntax (Verse 2 und 6) verweist ebenso auf den augusteischen Klassiker wie die auffällige Doppelung des Lexems molto in den Versen 3 und 4 auf die multum-multa-Wiederholung in den Versen 3 und 5 der 23 24 25

Hier und hinfort zitiert nach Torquato Tasso: Gerusalemme liberata Hg von Lanfranco Caretti Torino 1993 Vgl Franco Pignatti: Art Antonio Fiordibello In: Dizionario Biografico degli Italiani Bd 48 Roma 1997, S 119–121, hier S 120 „Admirari solent plerique vel maxime Res a Gottifredo Boemundo et Balduino clarissimis ducibus gestas, qui cum ingentibus olim copijs ex his occidentis partibus in Asiam profecti, victis ac superatis Christiani nominis hostibus, urbem Hierosolyma, & sanctissimum illud Christi liberatoris nostri sepulchrum receperunt […] Verum meum quidem iudicio factum vestrum gloriosus est […] Illi enim Christianis hominibus, si qui peregrinari religionis causa vellent, ad Christi sepulchrum iter patefecerunt Vos tantae huic nationi aditum ad coelestem patriam et ad Christum ipsum aperuistis “ (Antonio Fiordibello: Ad Philippum et Mariam Reges, de Restituta in Anglia Religione Oratio Leuven 1555, o S )

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Aeneis Vor allem aber wird das berühmte arma virumque cano mit einer Voranstellung des canto unter Beibehaltung der Folge von Waffen und Heldenfigur, arme e capitano, aufgerufen, dies indes mit einer kleinen, aber in Hinblick auf die semantische Konsistenz des Passus wichtigen Hinzufügung: die arme sind pietose Hier klingt zunächst die klassische pietas des Aeneas an (pius Aeneas, etwa Aen I,220; I,378) Diese wird aber umgehend durch das Handlungsziel in v 2 in ihrer Geltung verstärkt und als spezifisch christliche Gottesfurcht ausgewiesen: Die arme pietose sind die gottgefällig frommen Waffen des christlichen Kreuzfahrers Tasso stellt sein Heldenepos so im klassizistisch engen und demonstrativen Rekurs auf das große Autoritätsmodell der römischen Kaiserzeit gleichsam wie eine heilsgeschichtliche Erfüllung des antiken Autoritätsmodells dar; die veritas des christlichen (gegenreformatorischen) Ciel vollendet die klassische Figur epischer Weltgestaltung und -ordnung Dass Tasso dabei mit seiner Aktualisierung der Aeneis als dem großen Klassiker einer narrativ und teleologisch ‚geschlossenen‘ römischen „victor’s epic“ (im Gegensatz zu Lukans Modell einer kontingent ‚offenen‘ „loser’s epic“26) ein Einstiegssignal setzt, in dem sich Autorität und Stabilität einer klassizistischen Dichtungsauffassung einerseits und ideologische Zielsicherheit andererseits höchst wirkungsvoll ergänzen, ist eine ziemlich offenkundige Implikatur der Gegenüberstellung der frommen Einheit, durch die sich der Protagonist und seine Aufgabe auszeichnen, und der heidnischen Vielheit seiner Gegner Gegen den Triumph monosystematischer Ordnung und gottesfürchtig linearer Teleologie, für die das vergilianische Modell in hohem Maße steht, hat die sündhafte Unordnung des popol misto keine Chance Wie dabei im weiteren Verlauf des poema an entscheidenden Stellen Vergil, wohl ausgehend von dem 1562 erschienenen antilutheranischen Traktat L’Heretico infuriato von Girolamo Muzio (einem Lehrer Tassos), in der Liberata als wichtiger Bildspender für die epische Modellierung römisch-katholischer politics herhält27, möchte ich an dieser Stelle nicht weiter vertiefen Eingehen möchte ich aber auf einen für das Thema unserer Tagung zentralen dichtungstheoretischen Gesichtspunkt der Vergil-Nachahmung bei Tasso: der Einsatz Vergils im Rahmen der Profilierung eines klassizistischen poema eroico in Abgrenzung vom vorgängigen romanzo Der klassizistische Anschluss an Vergil signalisiert neben seiner ideologisch stabilisierenden Funktion in poetologischer Hinsicht eine Absage an das beliebte Modell des romanzo cavalleresco, des Ritterromans, wie er im späten fünfzehnten Jahrhundert und in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts das epische Erfolgsmodell in Italien war Der romanzo ist, holzschnittartig vergröbert gesagt, die komisch-parodistische Verarbeitung mittelalterlicher Epenstoffe französischer Provenienz, chanson de geste und roman courtois sind hier gleichermaßen von Belang, die in der mündlichen Vermittlung fahrender Sänger an den oberitalienischen Höfen bekannt und beliebt

26 27

Quint (Anm 10), S 9 Ebd , S 217 f

Canto l’arme pietose e’l capitano …

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waren Im reliterarisierenden Umgang mit diesen Stoffen28, vor allem die Rolandslegende stand hier im Mittelpunkt, setzt der romanzo nun auf varietas, und zwar als allumfassendes Prinzip Während die varietas in der klassischen Rhetorik ihren Ort als maßvoll einzusetzende virtus elocutionis hatte, avanciert sie im romanzo cavalleresco nicht nur zur dominanten Grundfigur eines auf komische Diskrepanzen abgestellten ornatus, sondern dehnt ihren Geltungsbereich auch totalisierend und mit starker mimetischer Entlastung auf inventio und dispositio aus 29 Ebenfalls im programmatischen Rekurs auf Vergil lesen sich in diesem Zusammenhang die ersten beiden Verse von Ariostos Orlando furioso von 1536, dem zweifellos wichtigsten aller romanzi, so: Le donne, i cavallier, l’arme, gli amori / le cortesie, l’audaci imprese io canto30 Was hier passiert, ist evident: Ariosto pluralisiert den Gegenstand der Handlung durch die Ausweitung der Gegenstände selbst und durch den Plural, in dem diese je auftreten Es sind nicht mehr, wie bei Vergil, die Waffen und der eine handlungsmittige Held, um die es gehen soll, sondern Waffen, Damen, Ritter, Liebschaften, höfische Verhalten und kühne Eroberungen, um die es gehen soll, wobei neben diesem pluralisierenden Zerspielen des klassischen simplex et unum durch varietas auf inventio-Ebene auch eine denotative Ambivalenz der Lexeme auf der Hand liegt, liefern doch die den ersten Vers verklammernden donne und amori jene Isotopie, die in einem gewissermaßen ovidianischen Hedonismus die epischen Taten als Liebestaten einfärbt (Liebe als Krieg; vgl Ov am 1,9,1; ars 2,233) Dies wird im Verlauf des ersten Gesangs dieses romanzo übrigens sehr konkret bestätigt, denn der Begriff der impresa taucht im ersten Gesang noch ein einziges Mal wieder auf, und zwar um jenen Moment zu beschreiben, in dem sich ein sarazenischer König anschickt, die schöne Angelica, der die meisten Ritter nachjagen, zu vergewaltigen, auf komische Weise ohne Erfolg, versteht sich 31 Man sieht: die rabiat pluralistische canto-Formel von Ariosto wird in Tassos klassizistischer Wiederherstellung vergilianischer Ordnung auf eine Haupthandlung mit einem zentral gestellten Helden programmatisch kassiert Tasso lässt vor dem Hintergrund der bei seinem Publikum sattsam bekannten und beliebten Eröffnungssequenz von Ariostos romanzo im Proömium seines poema von Anfang an keinen Zweifel daran aufkommen, dass sein Projekt das einer Einheitspoetik klassizistischer Obödienz ist, und dass sich diese klassizistische Poetik, typisch für eine Vielzahl von poetologischen

28 29 30 31

Vgl Klaus W Hempfer: Textkonstitution und Rezeption Zum dominant komisch-parodistischen Charakter von Pulcis ‚Morgante‘, Boiardos ‚Orlando innamorato‘ und Ariosts ‚Orlando furioso‘ In: Romanistisches Jahrbuch 27 (1976), S 77–99 Vgl Franz Penzenstadler: Der Mambriano von Francesco Cieco da Ferrara als Beispiel für Subjektivierungstendenzen im Romano vor Ariost Tübingen 1987 (Romanica Monacensia 27) Ludovico Ariosto: Orlando furioso Hg von Cesare Segre 5 Auflage Milano 1990 (I Meridiani), S1 Vgl ebd , S 15, (I,59): Così dice egli; mentre s’apparecchia / al dolce assalto, un gran rumor che suona / dal vicin bosco gl’intruona l’orecchia, / sì che mal grado l’impresa abbandona: […]

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Autorisierungsfiguren des italienischen sechzehnten Jahrhunderts32, auf den Versuch einer Nihilierung des Vorgängigen gründet Ganz auf dieser Linie einer konstitutiven Verbindung von humanistischem Gattungsklassizismus auf Darstellungsebene und gegenreformatorischer Propagandistik auf der Ebene des dargestellten Gegenstands setzt sich die propositio fort Insbesondere die letzten beiden Verse setzen hier einen nachdrücklichen Akzent, wenn darauf verwiesen wird, dass Gottfried die zuvor fahrenden Ritter, seine compagni erranti, unter den heiligen Heerbannern wieder vereint habe Es geht in diesen Zeilen im Wortlaut also darum, die bis dato selbstbezüglich irrfahrenden Ritter unter den Feldzeichen des Kreuzheeres gemeinschaftlich zu ordnen, wobei die im Enjambement santi/segni (I,1,7 f ) prominent platzierten segni die providentielle Wucht und christliche Siegessicherheit des topischen in hoc signo vinces der konstantinischen Vision vor der Schlacht an der Milvischen Brücke anklingen lassen Und neben der Einhegung der individualistischen Vielheit des romanzo kommen hier gleichsam beiläufig auch Kernbestände der katholischen Lehre zur Darstellung: die Korrektur des menschlichen Irrtums, der in der Konkretheit des errare durchaus auch als Abstraktum anklingt, ist zwar auf die göttliche Gnade angewiesen (Il Ciel gli diè favore), ebenso aber im Gegensatz zu einer Grundlinie der protestantischen Reformation auch auf die aktive Willenshandlung des Frommen (ridusse) Die nun ganz im klassisch vergilischen Schema folgende invocatio schreibt dieses Programm einer nach-romanzesken Epik formalästhetischer und semantischer Eindeutigkeit und Einheitlichkeit konsequent weiter aus In den Oktaven 2 und 3 beteuert der Erzähler einer marianisch stilisierten Muse gegenüber den Wahrheitsgehalt der epischen Fiktion An dieser Stelle nun setzt sich nicht nur die Ordnung des neuen poema eroico im klassizistischen Rekurs auf Vergil vom vorgängigen, betont fiktionsironischen romanzo cavalleresco ab Während man in der ersten Oktave noch den Eindruck gewinnen konnte, dass Tassos poema im formalen Gewand eines humanistischen Klassizismus thematisch einen gegenreformatorisch propagandistischen Gegenstand behandelt, lässt sich nun die komplementäre Verteilung humanistischer und gegenreformatorischer Programmatik je auf Form und Inhalt nicht mehr durchhalten Vielmehr kommt es zu Übergängen, ja Ununterscheidbarkeiten und Verschmelzungen von gegenreformatorischen Kunstauffassungen und humanistischen Regelsystemen Zentral ist hier zunächst der Begriff des vero, wie er in der zweiten Oktave in Vers 7 und in der dritten Oktave in Vers 3 auftaucht Es ist bekannt, dass der humanistische Aristotelismus des sechzehnten Jahrhunderts die bei Aristoteles geforderte handlungslogisch plausible Produktion von Wahrscheinlichkeit unter Absehung vom tatsächlichen Wahrheitsgehalt des Gegenstands massiv verschiebt und die aristotelische Wahrscheinlichkeitslehre zugunsten eines Primats vorgeordneter referentieller Wahrheit in ihrer fiktionalen Lizenz empfindlich

32

Vgl Huss: Diskursivierungen (Anm 1), S 10 f

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beschneidet 33 Schon in Gli heroici von Giovan Battista Pigna aus dem Jahr 1561 heißt es: imitare è sopra una cosa vera colorire un verisimile34, und Ludovico Castelvetro kehrt die aristotelische Priorisierung der mimetischen Produktion künstlerischer ‚Wirklichkeit‘ gegenüber lebensweltlicher Faktizität schlicht um, wenn er ereignishaft gegebene ‚Wahrheit‘ als unhintergehbaren Darstellungsgegenstand ausweist In seiner Poetica d’Aristotele vulgarizzata e sposta von 1570 lautet es in diesem Zusammenhang: Prima di natura fu la verita che la verisimilitudine, & prima di natura fu la cosa rappresentata che la cosa rappresentante, & percio, che la verisimilitudine dipende tutta dalla verita […] è di necessita, che s’habbia prima conoscenza intera & ragionevole della verita […] […] non si puo havere piena notitia della poesia, se non s’ha prima notitia piena dell’historia 35

Zumindest morphologisch ganz genau auf dieser Linie und im ausdrücklichen Rekurs auf Aristoteles’ Poetik erklärt auch der an den Abschlussdekreten des Konzils beteiligte Bologneser Kardinal Gabriele Paleotti in seinem 1582 erschienenen Discorso intorno alle imagini sacre e profane: Il verisimile non si può conoscere se non per notizia del vero […] e perché ogni cosa, naturale o artificiale o morale, o di qualunque altra sorte, si presuppone fatta da certa persona et accaduta in certo tempo, certo luogo, con certa causa e certo modo, però ogni narrazione che vorrà spiegare un azzione o un’altra cosa vera e compita non doverà pretermettere alcuna di queste circostanze […] Laonde narrazione verisimile si dirà quella, la quale spiegherà medesimamente tutte le circostanze dette di sopra […] 36

Tasso schließt in der Liberata implizit an dieses ebenso humanistische wie tridentinische Feld referentieller Wahrhaftigkeit an, und explizit machen den Versuch der Integration beider Regelbereiche seine bereits in den sechziger Jahren entstandenen Discorsi dell’arte poetica e in particolare sopra il poema eroico deutlich Dort fordert er nicht nur einen realen Wahrheitsgehalt des Erzählgegenstands als unerlässlich ein, sondern grundiert historische Wahrheit als tauglichen Darstellungsgegenstand in einer christlichen Ontologie, in der allein auch das für episches Dichten wichtige Übernatürliche wahrscheinlich sei: Deve dunque l’argomento del poema epico esser tolto dall’istoria: ma l’istoria o è di religione tenuta falsa da noi, o di religione che vera crediamo, quale è oggi la cristiana e fu

33 34 35 36

Vgl Kablitz (Anm 21) Giovan Battista Pigna: Gli Heroici di Gio Battista Pigna, a Donno Alfonso da Este II Duca di Ferrara V Venezia 1561, S 11 Ludovico Castelvetro: Poetica d’Aristotele vulgarizzata e sposta Hg von Werther Romani Bd 1 Rom, Bari 1978, S 13 f Gabriele Paleotti: Discorso intorno alle imagini sacre e profane In: Trattati d’arte del Cinquecento Fra Manierismo e Controriforma Hg von Paola Barocchi Bd 2 Bari 1961, S 364 f

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già l’ebrea […] di congiungere il verisimile co’l maraviglioso privi sono que’ poemi ne’ quali le deità de’ gentili sono introdotte, sì come a l’incontra commodissimamente se ne possono valere que’ poeti che fondano la lor poesia sovra la nostra religione Questa sola ragione a mio giudicio conclude: che l’argomento dell’epico debba esser tratto da istoria non gentile, ma cristiana od ebrea 37

Dies ist der Hintergrund für die allem Anschein nach nur verschämt entschuldigende Ankündigung der zweiten Oktave, der zentralen Wahrheit, dem nicht von ungefähr in Versmitte platzieren vero (I,2,7), Verzierungen, fregi, und diletti (I,2,7 f ) beigeben zu wollen Im Gegensatz zu dem außerordentlich defensiven Habitus der zweiten Oktave erlangen diese diletti in der nächsten Oktave aber erhebliches konzeptuelles Gewicht Die dritte Oktave versucht nämlich eine wirkungsästhetische Begründung für Tassos fiktionale Lizenzen zu liefern, und zwar dahingehend, dass diese für die rhetorische Wirkung, für die Veranschaulichung des lehrreichen und bewegenden Gegenstands förderlich, ja nachgerade unverzichtbar sind Der Dichter wird hier zum Arzt, dessen kunstvolle Verse die Welt zu heilen vermögen Dieses Bild geht bis auf die Ebene einzelner Verbalreminiszenzen auf Lukrez’ De rerum natura zurück, wo das Proöm des vierten Buchs genau dieses Bild entwirft Quasi musaeo dulci contingere melle wolle er seine Verse einsetzen, so Lukrez, um wie dem Kind, das die bittere Arznei nur dann trinke, wenn der Rand des Glases mit süßem Honig bestrichen sei, dem Leser seine Einsicht in das Wesen der Dinge zu dessen Nutzen näherzubringen 38 Der Rekurs auf einen Topos gerade des materialistischen Epikureers Lukrez mag an dieser gegenreformatorisch-didaktischen Stelle auf den ersten Blick wundernehmen; hierauf wird noch zurückzukommen sein Vorerst geht es mir aber um etwas Anderes: Die dulcedo der Dichtkunst, die dolcezze der molli versi (I,3,2 f ; sie wiederholen sich bildlich in den soavi licor, I,3,6) werden als unverzichtbar ausgewiesen; und sie sind dabei nicht zuletzt elokutioneller Art, wie die falsche figura etymologica des Reimpaars versi–versi in (I,3,1–3), auffällig präsent macht Nun ist aber die dulcedo, sind die dolcezze der molli versi Eigentümlichkeiten des mittleren Stils, des Stils der poesia lirica, und nicht des Hohen Stils Bereits im vorletzten Vers der zweiten Oktave weist die Verbindung der Lexeme fregi und adorno (I,2,7) in genau diese Richtung, denn hier klingt ostentativ die Kollokation adorni et fregi aus dem letzten Vers von Petrarcas berühmtem Schlüsselsonett Arbor victorïosa triumphale an (Canz 263,14) Dieses Zitat ist Programm, und von Belang dürfte in diesem Zusammenhang u a auch sein, dass der Tasso geläufige Petrarca-Klassizist Bembo in seinen Prose della volgar lingua gerade in dem Bereich stilistischer dolcezza die entscheidenden Möglichkeiten italienischer Überbietung der la37 38

Torquato Tasso: Prose Hg von Ettore Mazzali Milano 1959, S 353–356 Lukrez: De rerum natura / Über die Natur der Dinge Lateinisch und Deutsch Übersetzt von Josef Martin Berlin 1972, 4,11–25, S 222

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teinischen Klassiker verortet hatte 39 Vor diesem Hintergrund ist es insbesondere eine nachantike, volkssprachlich ‚italienische‘ dolcezza, welche Tasso dem heldenepischen Diskurs hinzufügt und welche ihn in diesem Feld überlegen von dem lateinischen Klassiker absetzt Vor diesem Hintergrund wird die dolcezza im Lauf der Liberata noch quantitativ und qualitativ weitreichende Bedeutsamkeit erfahren An anderer Stelle habe ich zu zeigen versucht, dass und wie Tasso rhetorische dolcezza ontologisiert, indem er sie zum Ermöglichungs- und Entfaltungsdispositiv heilsgeschichtlicher Wahrheitsrede (der Vision Goffredos im XIV Gesang) aufwertet, wobei auch die zunächst gegenstrebige, gottlos verführerische dolcezza der schönen Armida schließlich im XX Gesang in der Wahrheit christlicher Heilserfüllung aufgeht, indem die weltliche Schönheit sich in eine christliche Schönheit hinein konsistent fortsetzt 40 – Dies zu vertiefen ist hier gleichwohl nicht der Ort: Auch wenn Tassos poetische Ontologisierung rhetorischer dolcezza von großem Belang für die nachhaltige Ermächtigung der eigenen dichterischen Rede ist, so berührt sie die Frage nach Tassos ‚Klassizismus‘ im engeren Sinn zwar komplementär, nicht aber entscheidend Tassos epischer Klassizismus erweist sich, dies macht bereits die Eröffnungssequenz der Liberata deutlich, als eine schillernde, keineswegs so stabil-monosystematische Größe, wie man nach der ersten Oktave vielleicht glauben könnte Dieses konzeptuelle Problem des poema als einer Mischform, welche neben der gravità des Hohen Stils in deutlichem Umfang auch die dolcezza der mittleren Höhenlage integriert, reflektiert Tasso programmatisch in seinen Discorsi dell’arte poetica Dort betont er im Sinn einer unità mista41 (II Buch) mehrfach die Notwendigkeit, elokutionell für Abwechslung zu sorgen; eine durchaus wünschenswerte varietà lässt die piacevolezza der romanzatori anklingen42 und das poema gerät dadurch schließlich (III Buch) zu einem in between von Tragischem, Erhabenem und Lyrischem: Lo stile eroico è in mezzo quasi fra la semplice gravità del tragico e la fiorita vaghezza del lirico […] Non è disconvenevole al poeta epico, ch’uscendo da’ termini di quella sua illustre magnificenza, talora pieghi lo stile […] verso le lascivie del lirico43

39

40 41 42 43

Dies wird durch einen Traum der Figur des Giuliano de’Medici in den Prose della volgar lingua (II,3) deutlich Dort sind es die soavissimi concenti e dolcezze, welche den ersten Rang der Dichtkunst von den romane alle fiorentine Muse, also von den lateinischen Römern (insbesondere Vergil und Cicero) zum petrarkisch geprägten Toskanisch übergehen lassen Vgl Pietro Bembo: Prose della volgar lingua Gli Asolani Rime Hg von Carlo Dionisotti Milano1993, S 133–135 sowie den Beitrag von Gerhard Regn in diesem Band Vgl Nelting 2016a (Anm 1), S 12 f „[…] la varietà degli episodi in tanto è lodevole in quanto non corrompe l’unità della favola, né genera in lei confusione Io parlo di quell’unità ch’è mista, non di quella ch’è simplice ed uniforme, e nel poema eroico poco convenevole“, Tasso: Prose (Anm 37), S 391 Ebd , S 391 Ebd , S 394

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Gattungsgeschichtlich bedeutet dies zunächst eines: Über ihre didaktische Wirksamkeit funktional salviert schreibt Tasso gewisse Dimensionen der varietas des romanzo in Theorie und Produktion des poema fort; der neue Klassizismus des poema scheint gleichsam nicht ganz ohne die scheinbar getilgte Vielheit des vorgängigen romanzo auszukommen Diese Verschränkung von poema und romanzo im Wechselspiel von Abstoßung und Anziehung ist ein Grundthema der Tasso-Forschung; Sergio Zatti etwa hat die problematische Präsenz Ariostos in Tasso als ambivalentes Verhältnis fortwährender „temptation“ nachgezeichnet,44 Stefano Jossa hat das Verhältnis von romanzo und poema im Detail nicht als Bruch, sondern als Prozess beschrieben,45 und Gerhard Regn hat gezeigt, wie Tasso über die Zwischenstufe eines reformierten romanzo, des Rinaldo von 1562, Darstellungsverfahren des romanzo auch in der Liberata noch substantiell präsent hält 46 Neben dem Fortwirken des romanzo im poema spielt hier aber gleichzeitig noch etwas Weiteres eine, wie ich finde, wichtige Rolle, und zwar die Öffnung von Tassos Poetik auf gegenreformatorische Leitsätze Während in der humanistisch aristotelischen Stildiskussion über das poema die von Tasso eingeforderten und am romanzo geschulten Lizenzen mit ganz wenigen Ausnahmen nicht vorgesehen sind, finden sich genau diese Grundsätze im Bereich der gegenreformatorischen Predigtlehren In einer umfassenden Rhetorisierung, welche das biblische Stilideal der hieronymitischen sancta simplicitas (Epistulae 57,12) verabschiedet, setzen weite Teile der zeitgenössischen Homiletik (die borromäische Rhetorik ist die große Ausnahme klarer Strenge) umfänglich auf elokutionelle varietas und delectatio Und Tasso war recht gut bekannt mit einem der wichtigsten Predigt-Stars seiner Zeit, dem 1548 geborenen und 1594 gestorbenen Bischof von Asti, Francesco Panigarola Dies belegen Tassos Briefe sowie mehrere Sonette von Tasso an bzw über Panigarola Panigarola, der seinerseits in einem Brief von 1593 bekennt, eine buona moltitudine de’ luoghi della Gerusalemme in seine elocuzione sacra eingebracht zu haben,47 hat einer radikalen Stilmischung das Wort geredet und in seinem postum erschienenen Predicatore grundsätzlich erklärt: Ove al Predicator Cristiano si parino innanzi alcune, ò parole, ò strutture, ò lumi, ò precetti retorici, ò altri ornamenti da essere adoperati, pensi subito se essi, adoperati, fanno, maggiormente fruttuosa la loro oratione, e servano a imprimere più, e far più acquisto d’anime […] niun precetto, e niun’ ornamento rifiutato, purché serva alla gloria di Dio 48 44 45 46

47 48

Vgl Zatti (Anm 9), S 113 Vgl Stefano Jossa: La fondazione di un genere Il poema eroico tra Ariosto e Tasso Roma 2002 Vgl Gerhard Regn: Schicksale des fahrenden Ritters Torquato Tasso und der Strukturwandel der Versepik in der italienischen Spätrenaissance In: Modelle des literarischen Strukturwandels Hg von Michael Titzmann Tübingen 1991 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 33), S 45–68 Torquato Tasso: Lettere inedite Poste insieme dall’Abate Pier’ Antonio Serassi Pisa 1827, S 343 Francesco Panigarola: Il Predicatore di Francesco Panigarola Minore osservante, Vescovo d’Asti, overo Parafrase, Commento, e Discorsi intorno al libro dell’Elocutione di Demetrio Falereo Ove

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Eine solche Position spitzt Leitsätze des bereits 1574 gestorbenen Bischofs von Bitonto, Cornelio Musso, zu Schon Musso plädiert für eine entschlossene Verwendung von rhetorischem Ornat in der Predigt, um den Zuhörerinnen und Zuhörern diletto zu verschaffen und sie auf diese Weise wirkungsvoll anzusprechen Und mit Musso schließt sich nun sehr konkret und vor allem schlüssig der Bogen zu der dritten Oktave des Proöms, wenn Musso nämlich erklärt, der Prediger, der den oratori mondani gleich sich mühe, seine Rede in Hinblick auf diletto zu feilen und schmücken (limare und ornare sind seine Worte), gleiche dem medico saggio, che linisce la tazza di dolce, per far bere all’infermo il molto amaro della medicina 49 Nicht nur auf der Ebene dieser Bildgebung, auch in der Sache deckt sich dieser Ansatz mit Tassos Programm Und wenn man diese Verbindung zu Musso für die Einordnung von Tassos dritter Oktave in Anschlag bringt, dann verliert auch die lukrezianische Topik, die im gegenreformatorischen Zusammenhang aufgrund ihrer materialistischen Provenienz zunächst durchaus heikel erscheinen musste, einiges von ihren religionsfeindlich materialistischen und epikureischen Implikaten Mehr noch: das lukrezianische Bild von dem Honig, der am Rand der Tasse dem kranken Kind die bittere Arznei versüßen möge, stellt sich ebenso als eine gegenreformatorisch bereits durch einen Musso autoritativ abgesicherte, rhetorische Formel zur Veranschaulichung des utile der dulcedo dar Das rhetorische dolce am Rand der Tasse mit der bitteren Medizin ist dabei für Musso und für Panigarola ganz wie für Tasso die dulcedo des weltlichen mittleren Stils; Panigarola verortet die einschlägigen Verfahren unter dem Rubrum einer venustà, die sich aus dem leggiadro, florido, vago, gratioso und ornato stile ergibt 50 Dass hier die Grundlage zur Herausbildung des ‚barocken Stils‘ auch weltlicher Dichtung liegt, hat bekanntlich Marc Föcking gezeigt 51 So weit ist man bei Tasso freilich noch nicht, da er die von Seiten der zeitgenössischen Homiletik radikal propagierte und praktizierte Stilmischung funktional klar einhegt, während ein Panigarola die effektvolle Stilmischung deswegen zum umfassenden Stilprinzip erheben kann, weil er sich, anders als Tasso, dem klassizistischen aptum humanistischer Rhetorik nicht verpflichtet fühlt, weil der weltliche Stil für den Kirchenmann allein Mittel zum spirituellen Zweck ist und nicht, wie im Renaissance-Klassizismus, (noch) sprachlicher Ausdruck eines moralphilosophischen

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50 51

vengono i precetti e gli essempi del dire, che già furono dati a’ Greci, ridotti chiaramente alla prattica del ben parlare in prose Italiane, E la vana Elocutione de gli Autori profani accommodata alla Sacra Eloquenza de’ nostri Dicitori e Scrittori Ecclesiastici Con due tavole, una delle questioni, e l’altra delle cose più notabili Venezia 1609, S 32 Cornelio Musso: Delle Prediche Quadragesimali del R mo Mons or Cornelio Musso, Vescovo di Bitono Sopra l’Epistole & Evangeli correnti per i giorni di Quaresima E sopra il Cantico della Vergine per li Sabati Seconda Editione Con la Vita dell’Autore; & due Tavole: l’una delle Prediche, &l’altra delle cose piu notabli Prima parte Con aggiunta di Tre Prediche non più stampate Venezia 1588, S 199 Vgl Panigarola (Anm 48), S 413 f Vgl Marc Föcking: Rime sacre und die Genese des barocken Stils Untersuchungen zur Stilgeschichte geistlicher Lyrik in Italien 1536–1614 Stuttgart 1994 (Text und Kontext 12)

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Wertgefüges Aber wie weit ist man dann eigentlich bei Tasso in dem hier eröffneten, vertrackten Geflecht aus Klassizismus und Modernismus? In aller Kürze lautet die Antwort: Tassos Klassizismus scheint mir im Bereich profaner Literatur eine nicht zu unterschätzende Systemstelle zu besetzen, die einen epochalen Transformationsprozess zumindest strukturell befördert Im Rahmen eines restaurativen Klassizismus bereitet Tasso mit der homiletisch flankierten Aufwertung der dulcedo im poema den Boden für den radikalen Modernismus der italienischen Barockdichtung Das mag auf den ersten Blick paradox anmuten Von entscheidender Bedeutung für Tassos Technik einer imitatio, die zunächst als demonstrativ Vergil-klassizistische Nachahmung auftritt und sich dann aber umgehend als eine modernisierende Technik einer – bembesk gesprochen – Verbindung von gravità und piacevolezza darstellt, ist aber die Tatsache, dass Tasso seine Bezugssysteme, allen voran Aristotelismus, romanzo und Homiletik, im Möglichkeitsraum der Fiktion nicht separiert, sondern zusammenführt, dass er von Anfang an in seinem poema versucht, mögliche diskursive Diskrepanzen nicht als solche auszustellen, sondern zu entdifferenzieren Auf diese Weise positioniert sich Tasso jenseits der Geltungsbereiche der aufgerufenen Systeme und damit auch jenseits der mit diesen verbundenen Dualismen Ermöglichungsbedingung dieser Entdifferenzierung ist die Subjektivität des Dichters selbst Denn dieser verfügt in seiner Vorstellungswelt, so Tasso in den Discorsi dell’arte poetica (III Buch), über concetti als imagini delle cose nell’animo nostro, welche die dingliche Referenz und ihre sprachliche Darstellung verbinden 52 Tassos concetto-Theorie bedeutet daher eine nachhaltige Aufwertung der „mentalen Ideengewinnung“ des Dichters und seiner „subjektiven Verfügungsmacht“ im Feld der elocutio 53 Unter diesen Vorzeichen kann es gelingen, differente Gegenstände und Bezugssysteme auch im Widerspruch zu einer überindividuellen convenientia zusammenzuführen, wenn dies der Meinung des Dichters – parere im Gegensatz zu giudicio – angemessen erscheint Ganz in diesem Sinne schreibt Tasso in den später entstandenen Discorsi sul poema eroico (II Buch) in auffälliger lexikalischer Doppelung des subjektiven parere gegen jene Dichtungstheoretiker an, welche – mit offenkundig normativer Geltung, an der Tasso sich abzuarbeiten genötigt sieht – die Liebesthematik als untauglich für die ernsten Textsorten von eroico und tragico erachten: Ma io fui sempre di contrario parere, parendomi ch’al poema fossero convenienti le cose bellissime; ma bellissimo è l’amore […] Ma non si può negare che l’amor non sia passione propria de gli eroi, perché a duo affetti furono principalmente sottoposti […], a l’ira ed a l’amore; e se l’uno è convenevole, l’altro non deve essere disdicevole […] 54

52 53 54

Tasso: Prose (Anm 37), S 395 f Kerl (Anm 14), S 188 Tasso: Prose (Anm 37), S 546 f

Canto l’arme pietose e’l capitano …

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‚Gattungsmischung‘ entfaltet sich damit nicht nur relational zur historischen Referenz der betreffenden epischen Fiktion, sondern ebenso zur individuellen Vorstellungsund Gestaltungskompetenz des Autors, auf welche die angemessene Darstellung der referentiellen Inhalte angewiesen ist; oder, um es pointiert mit Tasso selbst zu sagen (Discorsi del poema eroico VI): la diversità dello stile nasce da la diversità de’ concetti 55 An die Stelle strikter und überindividuell ebenso transparenter wie verbindlicher Normen humanistisch-aristotelischer Gattungseinheit und, damit zwangsläufig verbunden, scharfer Gattungsdifferenz tritt bei Tasso also die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit einer in der Entscheidung des Dichters begründeten Öffnung der einschlägigen Diskursregeln, welche sich funktional mit der umfassenden Stilindifferenz tridentinischer Homiletik kurzschließt Und mit einer solchen, ebenso synkretistischen wie subjektivistischen Entdifferenzierung der aufgerufenen Regelsysteme liefert der Klassizist Tasso letztlich eine im technischen Sinn der poiesis strukturelle Gründungsfigur für jene rabiat antiklassizistische Barockdichtung, die sich in der italienischen Literatur vor allem mit dem Begriff des ‚Marinismus‘ verbindet 56 Rabiat antiklassizistisch ist diese Barockdichtung deswegen, weil sie die imitatio nicht im Sinn von Senecas klassischem Bienengleichnis als nachvollziehbare Auseinandersetzung mit vorgängigen – und über fiktionsinterne Differenzmarker auch in ihrer honiggleichen Verschmelzung immer noch als distinkt wiedererkennbaren – Autoritäten begreift (Ut etiam si apparuerit unde sumptum sit, Ep mor XI,84,557), sondern als subjektivistisches Spiel, als die schöpferische Laune des capriccio 58 Dieses barocke capriccio tilgt den semantischen Kern der humanistischen imitatio, also die Differenzqualität der Autoritätsbezüge und die mit diesen im Sinne der Verbindung von eloquentia und bonitas bzw sapientia (Cic inv 1,1; 1,5; 3,56 f ; Quint inst 1,9; 1,13; 2,15,34; 12,1,9) gegebene moralphilosophische Relevanz der aufgerufenen Modelle An die Stelle eines konsensuellen aptum in Bezug auf Stil und Sache, auf res und verba, und an die Stelle einer verbindlichen Rückbindung der Dichtung an vorgängige Autoritätsmodelle tritt die absolute Modernität eines individuellen ingegno, der im Gegensatz zu Tasso nicht mehr auf die fiktional bewirkte Einsicht in das vero einer istoria cristiana zielt, sondern auf die ästhetizistische Aufsicht referentieller Unverbindlichkeit 59 55 56 57 58 59

Ebd , S 689 Vgl Marc Föcking: Art Marinismus In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik Hg von Gert Ueding Bd V Tübingen 2001, S 950–954 L Annaeus Seneca: Ad Lucilium epistulae morales Hg von L P Reynolds Bd 1 Oxford 1965, S 84 Giovan Battista Marino: La Lira Parte terza Hg von Maurizio Slawinski Turin 2003, S 33 Vgl David Nelting: ‚La règle me déplaît …‘ Überlegung zur Selbstautorisierung manieristischer Lyrik am Beispiel von Théophile de Viau und Giovan Battista Marino In: Sprachen der Lyrik Von der Antike bis zur digitalen Poesie Hg von Klaus W Hempfer Stuttgart 2008, S 309–330; Ders : Zwischen Komik, Erbauung und Ästhetizismus Imitatio und Zitat in der frühneuzeitlichen Epik Italiens (Ariosto – Tasso – Marino) In: Imitat, Zitat, Plagiat und Original in Literatur und Kultur der Frühen Neuzeit Hg von Andreas Beck, Nora Ramtke Frankfurt a M , Bern 2016, S 15–41

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Salopp gesagt bedeutet dies, dass für einen Autor wie Giovan Battista Marino eben weder ein renaissancehumanistischer, am Stil der ‚Klassiker‘ ausgerichteter Wertekonsens zählt noch der liebe Gott der Gegenreformation Tasso aber versucht noch, beide Seiten und ihre Diskursregeln zu integrieren; die Klassikerbezüge seiner Liberata sind dabei – im Sinne einer klassisch-senecanischen imitatio – ebenso erkennbar und semantisch konsistent wie die gegenreformatorische Rahmung seines poema Um zu einer wechselseitigen Integration der verschiedenen, aufgerufenen Diskursfelder zu gelangen, entfaltet Tasso aber mit der Liberata eine poetische Rede auf der Schnittstelle von klassizistischer Regel und subjektiver Produktivität, die unterm Strich dann weder humanistisch noch gegenreformatorisch ist, sondern im neuen poema humanistische und gegenreformatorische Positionen in einem – die Anspielung auf Homi K Bhabha60 ist durchaus konzeptuell gemeint – gleichsam ‚dritten Fiktionsraum‘ zu hybridisieren trachtet Der Preis für diese Integrationsleistung ist freilich ein Klassizismus, der mit seinen modernistischen Anteilen und deren entdifferenzierender Einbettung in das Projekt eines zeitgemäßen poema eroico den Keim der Selbstaufhebung in sich trägt

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Vgl zu den ausgehend von Homi K Bhabhas Hybriditätskonzept entwickelten Grundannahmen der im Sinn von Anm 1 für den vorliegenden Argumentationsrahmen maßgeblichen FOR 2305 Huss: Diskursivierungen (Anm 1), S 7 f

Die Klassizität ‚kleiner‘ Gattungen

Pius culex – paraklassizistische Parodie und Literaturkritik in Ps -Vergils ‚Mücke‘ Nicola Hömke (Rostock) Bekanntermaßen ist der Klassizismus in seiner Abhängigkeit von, Bewunderung für und Orientierung an einem zur klassischen Norm erhobenen Prätext ein per se relationales Phänomen: Diese Relation kann sich zu einer Abhängigkeit zweiten oder gar dritten Grades erweitern, wenn der Autor aus dem Prätext Aspekte aufgreift, die dessen Autor seinerseits in klassizistischer Weise aus früheren Modellen abgeleitet hatte Eine weitere Spielart des Klassizismus ergibt sich wiederum, wenn ein Autor Aspekte des Prätextes zwar aufruft und diese dadurch in ihrer Normhaftigkeit anerkennt, sie andererseits aber nicht einfach ahistorisch-idealisiert tradiert, sondern deren Gültigkeit durch die Art und Weise seiner Verwendung in Frage stellt oder zumindest neu verhandelt Man könnte diese Form der Referenz in Anlehnung an die auf der Tagung und in einiger Forschungsliteratur1 verwendete Terminologie als ‚Paraklassizismus‘ bezeichnen Für eine solche paraklassizistische Lesart eines antiken Textes bietet sich, wie im Folgenden gezeigt werden soll, das römische Epyllion Culex (‚Die Mücke‘) in besonders ertragreicher Weise an 2 Der Inhalt des 414 Hexameter-Verse langen Gedichts ist – wie bei den meisten Epyllien – schnell erzählt: Als ein Hirte mit seinen Ziegen mittags an einem schattigen Bachlauf rastet und in der Mittagshitze einnickt, ahnt er nicht, dass sich ihm eine monströse Schlange nähert Ihrem tödlichen Biss entgeht er nur, weil ihn der Stich einer Mücke ins Augenlid gerade noch rechtzeitig aus dem Schlaf reißt Das Insekt 1

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In analoger Weise arbeiten mit dem Begriff ‚paraclassicism‘ beispielsweise Dena Gilby: Weeping Rocks The Stone Transformation of Niobe and Her Children Diss Univ of Wisconsin-Madison 1996, ProQuest UMI micr 9622543, bes S 148 f sowie (bezogen auf Skulpturen) Barbara Sliwinska: Venus in the ‚Looking-Glass‘ Paraclassicism and the Trans-Body in the Works of Igor Mitoraj and Marc Quinn Diss Loughborough Univ 2010 (URL: https://dspace lboro ac uk/2134/8335) Für Zitationen aus dem Culex ist im Folgenden die Oxford-Ausgabe zugrunde gelegt: Appendix Vergiliana, rec et adn crit instr Wendell V Clausen u a Oxford 1966; die deutschen Übersetzungen stammen von der Verfasserin (unter Anlehnung an Sabine Seelentag: Der pseudovergilische Culex Text – Übersetzung – Kommentar Stuttgart 2012)

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Nicola Hömke

bezahlt freilich seinen ‚Weckdienst‘ mit dem Leben – es wird erschlagen Doch in der folgenden Nacht kehrt es als Traumerscheinung zum Hirten zurück, um sich bitterlich über seinen Undank zu beschweren und eine adäquate Bestattung einzufordern Die emphatische Klagerede der Mücke über die Trostlosigkeit ihres unterweltlichen Daseins rüttelt den Hirten derart auf, dass er gleich am nächsten Morgen einen mehrstöckigen, mit Marmor, Blumen und Epitaphion geschmückten Mückentumulus errichtet und so voller Reue nachträglich seiner Retterin die gebührenden Ehren erweist Dieser Text ist heute Teil der Appendix Vergiliana,3 eines sukzessive gewachsenen Corpus von Gedichten, als deren Autor die Überlieferung Vergil annahm oder zumindest für möglich hielt Die Sammlung erfreut sich in den letzten Jahren eines gesteigerten Forschungsinteresses, was sich z B im Culex-Kommentar von Seelentag,4 den beiden Monographien zur Ciris von Kayachev5 und Woytek6 sowie den Studien zu römischen Pseudepigrapha von Peirano7 und Stachon8 niederschlägt 9 Über die großen Fragezeichen und Probleme rund um das Epyllion im Generellen und den Culex im Konkreten ist allerdings auch in den neuesten Publikationen keine abschließende Einigkeit erzielt Einige davon seien im Folgenden kurz thematisiert 1. ‚Epyllion‘ und Culex in der philologischen Diskussion Unzweifelhaft ist die Genrebezeichnung ‚Epyllion‘ modern, d h eine Prägung der philologischen Forschung des späten achtzehnten Jahrhunderts 10 Es existieren weder ein antiker Fachterminus noch ein antikes Konzept, da die antiken Autoren nicht über 3 4 5 6 7 8 9

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Die Bezeichnung des Corpus als Appendix Vergiliana geht erst auf die Erstedition 1573 durch Scaliger zurück Seelentag (Anm 2) Boris Kayachev: Allusion and Allegory Studies in the Ciris Berlin, Boston 2016 Erich Woytek: Die Ciris im Kontext der augusteischen Dichtung Wien 2018 (Wiener Studien, Beih 39) Irene Peirano: The Rhetoric of the Roman Fake Latin Pseudepigrapha in Context Cambridge 2012 Markus Stachon: Tractavi monumentum aere perennius Untersuchungen zu vergilischen und ovidischen Pseudepigraphen Trier 2014 (BAC 97) Angekündigt sind u a eine lateinisch-französische Ausgabe in Les Belles Lettres von Régine Chambert (vgl Régine Chambert: Vergil’s Epicureanism in His Early Poems In: Vergil, Philodemus, and the Augustans Hg von David Armstrong u a Austin 2004, S 43–60, hier S 56, Anm 8) sowie eine lateinisch-deutsche Tusculum-Ausgabe von Niklas Holzberg (vgl Niklas Holzberg: Vorwort In: Publius Vergilius Maro Hirtengedichte/Bucolica Landwirtschaft/Georgica Lat -dt Hg u übers von Niklas Holzberg Berlin, Boston 2016 ) Jüngst erschienen ist zudem die Überblicksstudie der Verfasserin: Epic structures in classical and post-classical Roman epyllia In: Structures of Epic Poetry Hg von Christiane Reitz, Simone Finkmann 4 Volumes Berlin, Boston 2019, hier Volume I: Foundations, S 443–486, in der viele der hier dargelegten Überlegungen zum Culex im größeren Kontext des römischen Epyllions diskutiert werden Durch die Forschungen von John F Reilly: Origins of the Word ‚Epyllion‘ In: The Classical Journal 49 (1953), S 111–114; Glenn W Most: Neues zur Geschichte des Terminus ‚Epyllion‘ In: Phi-

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die Zugehörigkeit ihrer Texte zu einer vom Großepos unterscheidbaren Gattung reflektiert haben 11 Dies heißt jedoch nicht, dass heute nicht trotzdem zumindest eine gewisse Gruppierung der infrage kommenden Texte nach inhaltlichen und/oder formalen Kriterien möglich wäre Im Folgenden wird das ‚Epyllion‘ jedenfalls als ein nur mit breiter Grauzone abgrenzbares Subgenre des antiken Epos verstanden, das aus kürzeren, hexametrischen, narrativen, in sich abgeschlossenen Texten besteht 12 Seine lateinischen Anfänge sind möglicherweise in der mehr oder weniger engen Rezeption griechisch-hellenistischer Texte (wie etwa Kallimachos’ Hekale) durch neoterische Dichter wie Valerius Cato, Helvius Cinna und Catull zu suchen Die vordringlichste und lange Zeit nahezu einzige Frage, die konkret an den Culex herangetragen wurde, ist die nach der Identität des Autors: Hier stehen sich, wie Janka 2005 in übersichtlicher Zusammenstellung herausgearbeitet hat,13 die Anhänger der prolusio-These und der Posttext-These gegenüber, wobei beide Lager wiederum untereinander aufgespalten sind 14 Zwar schwindet die Zahl derer, die glauben, es handle sich bei dem dichterischen Ich tatsächlich um den jugendlichen Vergil, der hier schon

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lologus 126 (1982), S 153–156; Étienne Wolff: Quelques précisions sur le mot ‚epyllion‘ In: Revue de philologie, de littérature et d’histoire anciennes 62 (1988), S 299–303 sowie Stefan Tilg: On the Origins of the Modern Term ‚Epyllion‘ Some Revisions to a Chapter in the History of Classical Scholarship In: Brill’s Companion to Greek and Latin Epyllion and Its Reception Hg von Manuel Baumbach, Silvio Bär Leiden 2012, S 29–54 wurde die Erstbezeugung des Terminus ‚Epyllion‘ in heutiger Verwendungsform immer weiter nach vorn verschoben Als ältestes Zeugnis gilt nach Tilg nunmehr Karl David Ilgens Titulatur des Homerischen Hermeshymnus und der Batrachomyomachie als ‚Epyllion‘ (im Sinne eines Diminutivs zu ‚Epos‘) in seiner Ausgabe von 1796 Allerdings gilt dies gleichermaßen für verschiedene andere, heute weit weniger kritisch beäugte antike Genres wie etwa den Roman, die Menippeische Satire oder die Fabel; vgl hierzu Manuel Baumbach, Silvio Bär (Hgg ): Brill’s Companion to Greek and Latin Epyllion and Its Reception Leiden 2012, S ix mit Fußnote 4; Ursula Gärtner: Phaedrus Ein Interpretationskommentar zum ersten Buch der Fabeln München 2015 (Zetemata 149), S 13–16; Stefan Tilg: Eine Gattung ohne Namen, Theorie und feste Form Der griechische Roman als literaturgeschichtliche Herausforderung In: Griechische Literaturgeschichtsschreibung Traditionen, Probleme und Konzepte Hg von Jonas Grethlein, Antonios Rengakos Berlin, Boston 2017, S 83–101, S 87 f Zur Diskussion der genannten Gattungskriterien, ihrer möglichen griechischen Wurzeln und der Ablehnung weiterer inhalts- oder motivgestützter Komponenten (wie etwa der Merkmallisten von Annette Bartels: Vergleichende Studien zur Erzählkunst des römischen Epyllion Göttingen 2004) vgl Baumbach, Bär (Anm 11), S ix–xvi; Hömke (Anm 9), S 446–455 (mit einer Sichtung des lateinischen Epyllionbestands) Dagegen negieren z B Walter Allen Jr : The Epyllion A Chapter in the History of Literary Criticism In: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 71 (1940), S 1–26 und Silvio Bär: Inventing and Deconstructing Epyllion Some Thoughts on a Taxonomy of Greek Hexameter Poetry In: Stereotyped Thinking in Classics Literary Ages and Genres Re-Considered Hg von Christine Walde = thersites 2 (2015), S 23–51 jede Möglichkeit, das Epyllion als eigenes Genre vom Epos abzugrenzen Markus Janka: Prolusio oder Posttext? Zum intertextuellen Stammbaum des hypervergilischen Culex In: Die Appendix Vergiliana Pseudepigraphen im literarischen Kontext Hg von Niklas Holzberg Tübingen 2005, S 28–67 Posttextvertreter lassen sich beispielsweise wiederum in Anhänger einer Datierung post Vergilium und post Ovidium unterteilen

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einmal spielerisch ausprobierte, was er später einmal mit ganzer Erhabenheit zu dichten gedachte;15 aber die Autorschaft Vergils ist bis in die Gegenwart hinein verteidigt worden,16 zumal sich die Meinung bezüglich eines anderen pseudovergilischen Epyllions, der Ciris, (nach der 1901/02 zwischen Skutsch und Leo entfachten und 1999 von Gall wieder aufgegriffenen Debatte) gerade erneut in Richtung Frühdatierung bzw prävergilische Abfassung neigt 17 Inzwischen dürften jedoch genug Indizien zusammengetragen worden sein, die die Verfasserschaft Vergils zumindest für den Culex ausschließen, von der chronologischen Unmöglichkeit der im Text suggerierten Jugendfreundschaft zwischen Vergil und dem späteren Kaiser Augustus über verschiedenste Intertextualitäts- und Rezeptionsphänomene bis hin zu sprachlich-stilistischen und metrischen Auffälligkeiten18 15 16

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Das dichterische Ich kündigt dies selbst in v 8 f explizit an: Posterius graviore sono tibi musa loquetur / nostra Vgl z B Anthony A Barrett: The Authorship of the Culex An Evaluation of the Evidence In: Latomus 29 (1970), S 348–362 und Ders : The Poet’s Intentions in the Culex In: Latomus 35 (1976), S 567–574; Duncan F Kennedy: Gallus and the Culex In: The Classical Quarterly 32 (1982), S 371–389; Pierre Grimal: Virgile ou la seconde naissance de Rome Paris 1985; mit Vorbehalt auch Eva Klopsch: Der Culex Eine Neu-Orientierung zur Echtheitsfrage In: Festschrift für Paul Klopsch Hg von Udo Kindermann (u a ) Göppingen 1988, S 207–232; erstaunlich entschieden hingegen Chambert (Anm 9), S 44: „Vergil’s authorship of at least some of the poems in the Appendix is nowadays generally no longer contested This is especially true of the Culex […] and also of a collection of short epigrams called the Catalepton “ Skutschs Vorschlag (Franz Skutsch: Aus Vergils Frühzeit Leipzig 1901; Ders : Gallus und Vergil Aus Vergils Frühzeit Zweiter Teil Leipzig 1906), Cornelius Gallus als Autor der Ciris anzusehen, wurde von Leo energisch zurückgewiesen (vgl Friedrich Leo: Vergil und die Ciris In: Hermes 37 [1902], S 14–55 [wieder abgedr in: Ders : Ausgewählte kleine Schriften Storia e Lettere 82/3 Bd 2 Roma 1960, S 29–70]; Ders : Nochmals die ‚Ciris‘ und Vergil In: Hermes 42 [1907], S 35– 77 [wieder abgedr in: Ders : Ausgewählte kleine Schriften Storia e Lettere 82/3 Bd 2 Roma 1960, S 71–112] ), 1999 aber von Gall im Rahmen ihrer Prioritätsstudien wieder aufgegriffen (vgl Dorothee Gall: Zur Technik von Anspielung und Zitat in der römischen Dichtung Vergil, Gallus und die ‚Ciris‘ München 1999) Ebenfalls für prävergilische Abfassung spricht sich Kayachev (Anm 5) aus Jüngst hat Woytek (Anm 6) für eine Abfassung um 27/26 v Chr , d h nach Vergils Georgica, aber vor dessen Aeneis, durch Asinius Pollio argumentiert Vertreter verschiedener Varianten einer postvergilischen oder gar postovidischen Spätdatierung sind dagegen neben Leo (Anm 17) beispielsweise Francesco Della Corte: Appendix Vergiliana Volume primo – traduzione Volume secondo – analisi Genova 1974–1975, hier Bd 2, S 151–155; Edward Courtney: s v ‚Epyllion‘ In: The Oxford Classical Dictionary Hg von Simon Hornblower 3 Auflage Oxford 1996, S 550, col 24; Gerlinde Bretzigheimer: Poeta memor ludensque oder The Making of Ciris In: Die Appendix Vergiliana Pseudepigraphen im literarischen Kontext Hg von Niklas Holzberg Tübingen 2005, S 142–224, hier S 148 f u S 156 f ; Riemer A Faber: The Woven Garment as Literary Metaphor The Peplos in Ciris 9–41 In: Roman Dress and the Fabrics of Roman Culture Hg von Jonathan Edmondson, Alison Keith Toronto 2008, S 205–216; Richard O A M Lyne (Hg ): Ciris A Poem Attributed to Vergil Ed with an Introd and Comm Cambridge u a 1978, S 53–56; Pierluigi L Gatti (Hg ): Pseudo Virgilio Ciris Milano 2010, S 28–34; Peirano (Anm 7), S 184; Stachon (Anm 8), S 87 Zu Sprache, Syntax und Stil vgl z B Mark E Bailey: The Pseudo-Virgilian Culex Translation and Commentary Diss Univ of Oregon 1996 (UMI micr 9628517), S 26–32; Seelentag (Anm 2), S 33–40 Zu gänzlich verschiedenen Resultaten gelangen George E Duckworth: Studies in Latin

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sowie Eigentümlichkeiten im Wortschatz Im Folgenden soll daher im Einklang mit der communis opinio beim Culex von einem Posttext, genauer einem „primären Pseudepigraphon“19 ausgegangen werden, d h dem Text eines unbekannten Dichters, der die Fehlzuschreibung an Vergil selbst initiiert oder zumindest billigend in Kauf genommen hat und bei der Gestaltung seines Textes auf den originalvergilischen Dichtungen aufbaut (und nicht umgekehrt) Die zweite Frage schließt direkt an die erste an und betrifft die Datierung: Wenn der Primat von Vergils Aeneis und Ovids Metamorphosen akzeptiert wird, bilden diese Werke natürlich zugleich den terminus post quem für den Culex Begrenzt wird das fragliche Zeitintervall andererseits durch die Tatsache, dass bereits drei Generationen später Autoren wie Statius, Martial, Sueton u a dieses Werk kennen (und allesamt Vergil zuschreiben) 20 Weitere Analysen zur Prioritätsbestimmung von Parallelstellen lassen die Regierungszeit des Tiberius, d h die zwanziger und frühen dreißiger Jahre n Chr als die wahrscheinlichste, wenn auch nicht einzig mögliche Abfassungszeit erscheinen Zu diesen Problemfeldern ist die Diskussionslage vorläufig einigermaßen ausgereizt, so dass jedem, der sich neu mit diesen Texten befasst, nicht mehr bleibt, als die immer gleichen Argumente für ein persönliches Urteil gegeneinander abzuwägen 21 Ein weiterer Aspekt der literaturhistorischen Verankerung des Epyllions betrifft die Frage, ob mit dem im ersten Proömienvers angeredeten Octavius tatsächlich der spätere Kaiser Augustus gemeint ist 22 Denkbar wären natürlich grundsätzlich auch andere Oc-

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Hexameter Poetry In: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 97 (1966), S 67–113, hier S 82 f (Appendix-Gedichte stehen metrisch Vergil nahe) und David O Ross Jr : The Culex and Moretum as Post-Augustan Literary Parodies In: Harvard Studies in Classical Philology 79 (1975), S 235–263, hier S 251–253 (Culex als Werk eines parodierend stümperhaft skandierenden Dichters) bei ihren metrischen Analysen Zur Typologie von Pseudepigraphie immer noch nützlich Wolfgang Speyer: Die literarische Fälschung im heidnischen und christlichen Altertum Ein Versuch ihrer Deutung München 1971 (HAW I,2), der freilich alles unter dem Oberbegriff der literarischen Fälschung subsumiert Einen Eindruck vom langen Ringen um ein moralisch wertfrei bezeichnetes Klassifizierungssystem für pseudepigraphische Texte erhält man bei Norbert Brox: Zum Problemstand in der Erforschung der altchristlichen Pseudepigraphie In: Kairos N F 15 1–2 (1973), S 10–23, wieder abgedr in u zit nach: Ders (Hg ): Pseudepigraphie in der heidnischen und jüdisch-christlichen Antike Darmstadt 1977 (WdF 484), S 311–334 Zur Terminologie vgl auch Peirano (Anm 7), S 1–7 und die Visualisierung als Bäumchen bei Stachon (Anm 8), S 20 Liste der relevanten Testimonien bei Seelentag (Anm 2), S 10 f ; zur Diskussion ihrer Aussagekraft vgl z B Edward J Kenney: The Ploughman’s Lunch: Moretum A Poem Ascribed to Virgil Ed with Transl , Introd and Comm Bristol 1984, S 2–5 und ausführlich mit abschließender tabellarischer Zusammenstellung Stachon (Anm 8), S 80–112 Überblicke über die Authentizitätsdebatte seit dem frühen achtzehnten Jh geben z B Dieter Güntzschel: Beiträge zur Datierung des Culex Münster 1972, S 241–257; Glenn W Most: The ‚Virgilian Culex‘ In: Homo Viator Classical Essays for John Bramble Hg von Michael Whitby u a Bristol, Oak Park 1987, S 199–209, hier S 199–203; Janka (Anm 13), S 35–38; Seelentag (Anm 2), S 9–25; Stachon (Anm 8), S 113–117 Anhänger der Prolusio-These haben in diesem Fall mit der chronologischen Schwierigkeit zu kämpfen, dass (wenn man Donats Angabe in vit Verg 17–19 folgt, wonach Vergil bei Abfassung des

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tavii,23 allerdings scheint auf diese weder die ehrenvolle Anrede sancte puer und venerande (aus v 25 f ) noch der pathetische Wunsch nach ewigem Ruhm und einem Platz im Elysium zu passen Während Güntzschel und Seelentag die Zuschreibung zu Augustus daher als sicher annehmen,24 ist für Stachon gerade die Tatsache, dass die Widmung auf niemanden wirklich passt, Teil des poetischen Spiels und als offensichtlicher Anachronismus ein klares Entlarvungssignal an den kundigen Leser 25 Der Disput um Adressaten und Datierung ist also möglicherweise vom Culex-Dichter selbst intendiert worden Gekoppelt an die Octavius-Identifikation ist wiederum die Frage, ob der abschließend vom Hirten so auffällig aufwändig errichtete, kreisrunde, mit Marmor und Pflanzen verzierte sowie mit einer Inschrift versehene Mückentumulus als eine Karikatur des Augustusmausoleums26 dechiffrierbar sein soll Nicht nur hinsichtlich seiner Architektur und Ausstattung, sondern auch seines Standortes in parkähnlicher Umgebung und am Ufer eines Gewässers weist der Bau auffällige Ähnlichkeiten zum Mausoleum am Tiber auf Für Ax bilden der Octavius-Auftakt und der Tumulusbau am Ende daher eine parodistische Ringkomposition, gemünzt auf Augustus, eventuell auch auf Marcellus und die gesamte fehlgesteuerte augusteische Nachfolgepolitik 27 Entsprechend versteht Ax

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Culex 16 Jahre alt gewesen sei) Vergil sein Werk einem gerade 9-jährigen Knaben gewidmet hätte, für den Attribute wie sanctus und venerandus kaum situationsangemessen waren Posttext-Anhänger favorisieren hier eine ex-eventu-Prophezeiung ähnlich wie beim goldenen Knaben in Vergils ecl 4, z B Seelentag (Anm 2), S 17–25 Anthony A Barrett: Donatus and the Date of the Culex In: Classical Philology 67 (1972), S 280– 287, hier S 287 vermutet etwa in der Musenerwähnung in v 6 und der Widmung an Octavius ein geistreiches Wortspiel mit dem andernorts gelegentlich erwähnten Octavius Musa Güntzschel (Anm 21), S 2–14; Seelentag (Anm 2), S 13; sie versteht die postulierte Jugendfreundschaft aber ebenso wie Stachon (Anm 8) als Teil einer ludistischen impersonatio-Konstruktion, vgl S 20 f Stachon (Anm 8), S 116 f Dagegen besteht das poetische Spiel für Fabre-Serris in der Zuschreibung an Augustus und der Konstruktion einer typisch augusteischen princeps-poeta-Beziehung ( Jacqueline Fabre-Serris: Le ‚Culex‘ et la construction du mythe augustéen Pratiques et enjeux d’un poème faussement adressé à Octave In: La costruzione del mito augusteo Hg von Mario Labate, Gianpiero Rosati Heidelberg 2013, S 285–302) Erstmals bei Franz Dornseiff: Verschmähtes zu Vergil, Horaz und Properz Sächs Akad d Wiss Leipzig Phil -Hist Kl 97 Berlin 1951 [darin S 35–40: Brief von Paul Thielscher], S 35–44, wieder aufgegriffen von Magdalena Schmidt (Hg ): Vergil ‚Die Mücke‘ Lateinisch und deutsch Berlin 1959, S 3 und S 11–14: Sie sieht in dem Spott des Dichters über Augustus’ Mausoleumsprojekt gleichsam die Leitidee, die den v 39 geäußerten Wunsch, auf Octavius möge ein Platz in frommen Gefilden warten, mit der durch die Mückenkatabasis ins Spöttische gezogenen Frage nach Wert oder Unwert des elysischen Daseins und schließlich dem parodierten Mausoleumsbau verbindet Mit der schwierigen archäologischen Rekonstruktion des Augustusmausoleums und den verschiedenen Varianten setzt sich ausführlich Wolfram Ax: Marcellus, die Mücke Politische Allegorien im Culex? In: Philologus 136 (1992), S 89–129, hier S 100–105 auseinander Eine ästhetisch ansprechende Rekonstruktionszeichnung bietet z B Jean-Claude Golvin: Metropolen der Antike 2 , erweiterte Auflage Darmstadt 2019 und auf seiner Website https://jeanclaudegolvin com Erste Ansätze in Wolfram Ax: Die pseudovergilische ‚Mücke‘ – ein Beispiel römischer Literaturparodie? In: Philologus 128 (1984), S 230–249, hier S 246 f ; weiterentwickelt in Ax (Anm 26),

Pius culex – paraklassizistische Parodie und Literaturkritik in Ps.-Vergils ‚Mücke‘

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die Selbstpositionierung des Dichters im Proöm als Ankündigung eben dieser scherzhaft-karikierenden Absicht; und in der Tat scheint der Dichter selbst nahezulegen, dass es sich um eine Parodie handelt,28 schließlich kann er gar nicht oft genug betonen, dass er hier gespielt habe, und setzt das Ergebnis in Kontrast zu seiner späteren Dichtung in ernsterem Tonfall: Lusimus, Octaui, gracili modulante Thalia atque ut araneoli tenuem formauimus orsum; lusimus: haec propter culicis sint carmina docta, omnis et historiae per ludum consonet ordo notitiaeque ducum uoces, licet inuidus adsit quisquis erit culpare iocos musamque paratus, pondere uel culicis leuior famaque feretur posterius grauiore sono tibi musa loquetur nostra, dabunt cum securos mihi tempora fructus, ut tibi digna tuo poliantur carmina sensu

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Wir spielten, Octavius, während die zarte Thalia den Takt schlug und wir wie Spinnchen einen zierlichen Anfang spannen Wir spielten: Und daher soll das Gedicht über die Mücke raffiniert sein, und der Aufbau als Ganzes soll spielerisch mit der Geschichte harmonieren und die Worte mit unserer Kenntnis ihrer Helden Mag auch ein Neider sich zeigen: Wer immer daran geht, unsere Scherze und Muse zu tadeln, der wird davongetragen werden, geringer noch als die Mücke an Gewicht und Bedeutung Später wird in gewichtigerem Ton unsere Muse zu Dir sprechen, wenn der Lauf der Zeit mir sichere Früchte einbringt, auf dass Gedichte für Dich ausgefeilt werden, die Deines Geschmackes würdig sind (Cul 1–10)

2. Der Culex-Dichter: Zwischen impersonatio und aemulatio Seit die Klassifizierung eines Dichters als eines Pseudepigraphen nicht mehr automatisch zum Abbruch weiterer Untersuchungen führt, rückt endlich die Frage nach dessen Intention bzw nach der Wirkungsweise seines Werks in den Mittelpunkt – und damit auch eben jene eingangs erläuterte paraklassizistische Charakteristik des Textes: Warum gibt sich ein unbekannter Dichter das Gepräge eines Vergil und/oder

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dazu kritisch Stachon (Anm 8), S 130 Doch auch andere Parodieziele sind ausgemacht worden: Janka (Anm 13), S 52–59 argumentiert für eine Parodie auf Ovid im Sinne eines parodistischen Weltgedichts, Ross (Anm 18) gar für eine Parodie auf die Gattung Epos oder Epyllion als solche Nach der Terminologie von Gérard Genette: Palimpseste Die Literatur auf zweiter Stufe Übers v Wolfram Bayer und Dieter Hornig Frankfurt a M 1993 (frz 21982) handelt es sich um ein komisches Pastiche: Zur hilfreichen Anwendung von Genettes Hypertextualitätskonzept und Parodieschema auf lateinische Epyllien vgl Hömke (Anm 9), S 456–458

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Ovid und erzählt mit deren alten Mitteln – also mit typisch epischen Szenen wie Heldenkampf und Unterweltsgang, mit formelhaften Kleinelementen und zugehörigem sprachlich-stilistischen Repertoire – eine unverkennbar neue Geschichte? Peirano hat durch ihre wichtige Studie The Rhetoric of Roman Fake von 2012 neue Bewegung in die Diskussion gebracht: Sie versteht die Arbeit eines Pseudepigraphen als besondere Form des Rezeptionsprozesses, als kreative Ergänzung oder Kommentar zu Person und Werk des Dichters, in dessen Namen publiziert wird Diese „creative supplements“ gilt es zu entschlüsseln 29 Sie lenkt damit verstärkt den Blick auf die Entstehungsphase des pseudepigraphischen Textes und die Motivation seines Autors im Moment der Abfassung Auch das oben zitierte Proöm mit seiner Spinnweben-Metaphorik lässt sich als ein solcher Akt künstlerischer Literaturproduktion lesen: Der Pseudepigraph schreibt sich durch imitatio der Klassiker in die autoritative Tradition ein (impersonatio), setzt aber gleichzeitig Signale einer eigenständigen Bearbeitung Das Ziel dieser Bearbeitung beschränkt sich jedoch nicht auf bloße parodistische Verzerrungen des Hypotextes, wie oft konstatiert Vielmehr kann der Epylliondichter, indem er epische Bauformen in veränderte Erzählrahmen stellt, neu kombiniert, neu gewichtet oder verfremdet, ein bisher ungenutztes Wirkungspotential aktivieren Dieser Nachweis soll im Folgenden exemplarisch am Culex geführt werden Was die Gesamtkomposition des Culex betrifft, gibt das Werk eine klare Gliederung vor, bei der auf das Proöm drei Phasen und ein Epilog folgen Die Phasen entsprechen jeweils einem Tagesabschnitt (dem Morgen, dem Nachmittag, der Nacht) und werden durch epentypische Tageszeitumschreibungen30 eingeleitet Allerdings wirken die hochstilisierten Periphrasen angesichts der rustikalen Szenerie komisch übertrieben, etwa wenn „die feurige Sonne in ihren Himmelsbögen“, „das strahlende Licht vom goldenen Wagen“ und vor allem „Aurora mit rosigen Haaren“ (crinibus roseis Aurora, v 44) nicht etwa auf einen ruhmvollen Krieger, sondern einen schlichten Ziegenhirten treffen 31 Es folgt in der ersten Phase der Austrieb der Ziegen auf die Weide mit eingelagertem excursus über das Landleben, in der zweiten Phase die mittägliche Szenerie im schattigen Hain, als der Hirte an der Quelle einnickt, von einer Schlange bedroht wird, dank des Mückenstichs rechtzeitig erwacht, die Schlange erschlägt und vom Kampf

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Vgl Peirano (Anm 7), S 7–24 Tageszeitperiphrasen in v 42–44 (zu Phase 1); v 101–103 (zu Phase 2); v 202 f (zu Phase 3) Most (Anm 21), S 205 bezeichnet sie passend als „astronomical fanfares“ Ein ähnliches Phänomen begegnet zum Auftakt des ebenfalls in der Appendix Vergiliana überlieferten Epyllions Moretum: Dort wird der greise und morgenmüde Kleinbauer Simulus in hochepischer Weise von einem „geflügelten Wächter“ (excubitor ales, v 2) statt einfach von einem Hahn geweckt Vgl hierzu Heinz Reuschel: Episches im Moretum und Culex Beiträge zur Stilistik des Epos Markkleeberg 1935 (zugl Diss Leipzig) und Kenney (Anm 20) ad loc Horaz sat 1,5,9 39 hat solche Tageszeitperiphrasen parodiert; Quint inst 8,6,59–61 brandmarkt ihre überflüssige Verwendung als Stilfehler und Unart der Redner

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ausruht Die dritte Phase gilt nach der Rückkehr des Hirten nach Hause seinem nächtlichen Schlaf, in dessen Verlauf ihm die Mücke erscheint und von der Unterwelt berichtet Der Epilog schließlich, in der Länge ungefähr mit dem Proöm vergleichbar, zeigt den wiedererwachten Hirten beim Bau des Tumulus Glenn Most hat vorgeschlagen,32 hinter jedem dieser Tagesabschnitte die pseudepigraphische Beschäftigung mit einem der drei kanonischen vergilischen Werke zu sehen: Phase 1 erzählt die Geschichte und malt die Szenerie im Stil der vergilischen Eklogen, insbesondere ecl 1, und lehnt sich auch sprachlich eng an sie an; Phase 2 nimmt ihren Ausgang von Vergils drittem Georgica-Buch, wo es in georg 3,425–439 um den Umgang mit Schlangenangriffen geht; Phase 3 wiederum lehnt sich mehr als offensichtlich an die Katabasis aus Vergils Aeneis 6 an Die ansteigende, sich jeweils verdoppelnde Länge der Phasen korrespondiert dabei nach Most in ihrer Relation zueinander mit der Länge der rezipierten Vergil-Werke Mag dieses Schema auch simplifiziert sein, insofern es die Bandbreite und Verteilung an Allusions- und Intertextualitätssignalen nicht adäquat abbildet,33 so erscheint es doch als Grobraster durchaus brauchbar und wirft neues Licht auf die Frage, wie man sich den Umgang des Pseudepigraphen mit seinen Modelltexten auf makroskopischer Ebene vorstellen kann – schließlich geraten mit solchen Beobachtungen statt der stets konstatierten imitatio des Culex-Dichters vielmehr seine aemulatio-Qualitäten in den Blick 2 1 Beispiel 1: Der Schlangenkampf Als erstes Beispiel für die kreative Arbeit des Dichters mag die Gestaltung der Schlangenepisode dienen Vergil gibt in georg 3,414–439 dem Hirten Ratschläge, wie mit verschiedenen Schlangen umzugehen ist Grundsätzlich gilt für alle Arten: cape saxa manu, cape robora, pastor, tollentemque minas et sibila colla tumentem deice! iamque fuga timidum caput abdidit alte, cum medii nexus extremaeque agmina caudae soluuntur, tardosque trahit sinus ultimus orbis

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Greif nach Steinen mit der Hand, greif nach Knüppeln, Hirte, und wenn sie drohend sich hochreckt und zischend den Hals bläht, schlag sie nieder! Schon hält sie flüchtend den 32 33

Most (Anm 21), S 206–209 Zur Kritik vgl Nina Mindt: Vergil zur Mücke machen Zum Culex der Appendix Vergiliana In: Atene e Roma: rassegna trimestrale dell’Associazione Italiana di Cultura classica n s s 5 1–2 (2011), S 26; Stachon (Anm 8), S 117 Anm 21 Im Vergleich z B zum differenzierteren Schema bei Janka (Anm 13), S 38–40 und zum schier überbordenden Similien- und Testimonienapparat in der Textausgabe von Salvatore u a 1997 (Appendix Vergiliana, Armandus Salvatore, Arcturus de Vivo, Lucianus Nicastri, Ioannes Polara recensuerunt Romae 1997)

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ängstlichen Kopf tief unten verborgen, während mittig die Schlingen und hinten das Gleiten des Schwanzes erschlaffen und der letzte Bogen erlahmende Windungen nachzieht 34 (Verg georg 3,420–424)

Im Besonderen nennt er die gefährliche kalabrische Schlange, die in feuchten Wäldern und an Seeufern hause, jedoch gerade in Zeiten größter Sonnenglut gefährlichen Durst entwickele: ne mihi tum mollis sub diuo carpere somnos neu dorso nemoris libeat iacuisse per herbas, cum positis nouus exuuiis nitidusque iuuenta uoluitur, aut catulos tectis aut oua relinquens, arduus ad solem et linguis micat ore trisulcis

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Keinesfalls sollte mir dann einfallen, im Freien in Schlummer zu sinken oder am waldigen Abhang im Gras zu liegen, wenn sie sich nach der Häutung erneuert und strahlend jugendfrisch fortschlängelt oder im Gelege Brut oder Eier zurücklässt und steil zur Sonne emporzüngelt mit dreifach gespaltener Zunge (Verg georg 3,435–439)

An eine solche kalabrische Spezies mag zunächst denken, wer liest, dass der schlummernde Hirte im Culex zur Zeit der Mittagshitze und am Ufer eines Bachlaufs von einer wütenden Schlange attackiert wird Doch der Pseudepigraph geht in der Wahl des Gegners weit über die Textvorlage hinaus, er lässt in v 169–182 eine Schlange von überdimensionierter Monstrosität auf den Hirten los: iam magis atque magis corpus reuolubile uoluens (attollit nitidis pectus fulgoribus et se sublimi ceruice caput, cui crista superne edita purpureo lucens maculatur amictu aspectuque micant flammarum lumina toruo) metabat sese circum loca […] ardet mente, furit stridoribus, intonat ore, flexibus euersis torquentur corporis orbes, manant sanguineae per tractus undique guttae, spiritibus rumpit fauces

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Zitate aus Vergils Georgica stammen hier und im Folgenden aus der Oxford-Ausgabe von R A B Mynors, Übersetzungen von der Verfasserin auf der Grundlage von Vergil: Werke in einem Band Kleine Gedichte Hirtengedichte Lied vom Landbau Lied vom Helden Aeneas Aus dem Lat übertr v Dietrich Ebener Berlin, Weimar 1984 und Holzberg (Anm 9)

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Schon wälzt sie weiter und weiter voran ihren gewundenen Körper (es reckt sich ihre Brust mit glänzendem Schimmer empor und mit erhabenem Hals ihr Kopf, darauf ragt zuoberst der Kamm empor, bunt gefleckt und leuchtend mit purpurroter Gewandung,35 und aus finsterem Antlitz zucken Flammenblicke hervor), und sie durchquert das Gelände ringsum […] Sie brennt vor Zorn, rast mit Gezischel, brüllt aus dem Maul, in gewaltigen Windungen kreisen die Schlingen ihres Körpers, blutige Tropfen rinnen beim Gleiten ringsum herab, mit ihrem Gifthauch bringt sie den Schlund zum Bersten (Cul 169–182 m Ausl )

Eben dieser monströsen Schlange sieht sich der Hirte in v 190–197, nachdem er beim Aufwachen die Mücke auf seinem Augenlid zerquetscht hat, gegenüber Doch gerade noch rechtzeitig löst er sich aus seiner Schockstarre und handelt: inde impiger, exanimis, uix compos mente refugit et ualidum dextra detraxit ab arbore truncum (qui casus sociarit opem numenue deorum prodere sit dubium, ualuit sed uincere talis horrida squamosi uoluentia membra draconis) atque reluctantis crebris foedeque petentis ictibus ossa ferit, cingunt qua tempora cristae;36

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Unverzüglich, geschockt, kaum seiner Sinne mächtig wich er sodann zurück und riss mit der Rechten einen starken Ast vom Baum (welcher Zufall ihm zu Hilfe kam oder welcher Wink der Götter, dürfte schwer zu sagen sein, aber so vermochte er die sich grässlich windenden Glieder der schuppigen Schlange zu überwinden), und obwohl sie sich wehrt und widerlich schnappt, trifft er sie mit seinen Schlägen immer wieder an den Knochen, dort wo der Kamm die Schläfen verbindet (Cul 190–197)

Die Beschreibung der Schlange – darauf ist in der Forschung verschiedentlich hingewiesen worden37 – entstammt in all ihrer epischen Großrahmigkeit, Farbigkeit und Dramatik auf struktureller Makro- und vokabularischer Mikroebene Ovids drittem Metamorphosen-Buch, wo Kadmos sich im heiligen Hain der nahezu unbesiegbaren 35 36

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Zum Kamm als typisch epischer Schlangenausstattung und der autorspezifischen Vorliebe für amictu in Kombination mit einem Farbadjektiv und am Versschluss vgl Seelentag (Anm 2), ad loc Schmidt (Anm 26) und Clausen u a (Anm 2) favorisieren die schlechter überlieferte Lesart cristae und fassen es offenbar als poetischen Plural auf; dagegen halten Salvatore (Anm 33) und Seelentag (Anm 2) das besser bezeugte cristam und verstehen tempora (anders als sonst in der geläufigen Junktur tempora cingunt) ausnahmsweise als Nominativ Bailey (Anm 18), S 22; Janka (Anm 13), S 39; vor allem aber Seelentag (Anm 2), S 15 f

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Schlange des Mars stellen muss Allerdings ist die Schlange im Culex schon vor dem Kampf als ebenso wild und bluttriefend beschrieben, wie Ovids draco es erst mitten im Kampf ist Ja, die ausufernde Beschreibung der Culex-Schlange wirkt angesichts ihrer letztlich problemlosen Überwindung regelrecht ‚kopflastig‘ Die Tatsache, dass der Hirte im Culex ungeachtet der hyperbolischen Bedrohung zum bewährten Hausmittel greift und die Schlange mit eben jenem Stock zu erschlagen vermag, den Vergil für die Beseitigung jeder x-beliebigen Haus- und Hofschlange empfiehlt, wendet die Erzählung geradezu ins Komische: Die Diskrepanz zwischen ovidischem Prätext und Hypertext erzeugt einen parodistischen Effekt 38 Zusätzlich jedoch füllt der Culex-Dichter, um mit Iser zu sprechen,39 eine Leerstelle des Originaltextes aus, indem er in seiner Erzählung umsetzt, was bei Vergil nur als potenzielle Möglichkeit, genauer als verneinter Wunsch, durchgespielt worden ist: die Begegnung mit einer gefährlichen Schlange, während man schläft 2 2 Beispiel 2: Die Mückenkatabasis Besonders anschaulich lässt sich die Vorgehensweise des Culex-Dichters an seinem Umgang mit der vergilischen Unterwelt zeigen, obwohl (oder gerade weil) das Epyllion in diesem Abschnitt auf den ersten Blick einfacher gestrickt und weniger originell zu sein scheint: Ostentativ, simplifizierend und geradezu phantasielos eng, so der v a in der älteren Forschung wiederholt geäußerte Vorwurf,40 orientiere sich der Dichter an Vergils Unterweltsgang des Aeneas Doch bei näherem Hinsehen fallen immer mehr Abweichungen auf, die zusammengenommen eine klare Tendenz aufweisen und im Gegenteil den souveränen Umgang des Culex-Dichters mit seinen epischen Vorlagen (und nicht nur den vergilischen) unter Beweis stellen Zum Auftakt ihrer Unterweltsschau klagt die Mücke: «quis» inquit «meritis ad quae delatus acerbas cogor adire uices! tua dum mihi carior ipsa uita fuit uita, rapior per inania uentis

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Bailey (Anm 18), S 22 spricht von „mock-epic serpent“ Vgl Wolfgang Iser: Der implizite Leser Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett München 1972; Ders : Der Akt des Lesens Theorie ästhetischer Wirkung München 1976 zum rezeptionsästhetischen Begriff der ‚Leerstelle‘, die den ordnungsgemäßen Ablauf des Narrativs unterbricht und zugleich dem Leser die Rolle zuweist, die Lücken kreativ zu ergänzen Zu Isers Textkonzept vgl auch Peirano (Anm 7), S 10 Vgl z B Friedrich Leo: ‚Culex‘ Carmen Vergilio ascriptum recensuit et enarravit – Accedit Copa elegia Berlin 1891, S 89: „Simplicissimam fecit et vulgarem descriptionem Culex“ Ähnlich Anthony A Barrett: The Topography of the Gnat’s Descent In: The Classical Journal 65 (1970), S 255– 257; Sabine Grebe: Die vergilische Heldenschau Tradition und Fortwirken Frankfurt u a 1990, S 91 u a

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tu lentus refoues iucunda membra quiete ereptus taetris e cladibus, at mea manes uiscera Lethaeas cogunt transnare per undas praeda Charonis agor uiden ut41 flagrantia taedis limina collucent infestis omnia templis! obuia Tisiphone, serpentibus undique compta, et flammas et saeua quatit mihi uerbera; pone Cerberus (ut diris flagrant latratibus ora!), anguibus hinc atque hinc horrent cui colla reflexis sanguineique micant ardorem luminis orbes heu, quid ab officio digressa est gratia, cum te restitui superis leti iam limine ab ipso? praemia sunt pietatis ubi, pietatis honores?»

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„Aufgrund welcher Taten“, sprach sie, „bin ich wohin geraten, dass man mich zwingt, solch’ bitteres Los zu ertragen? Da dein Leben mir teurer war als das Leben selbst, werde ich von Winden durch die Leere fortgerissen Du labst gemächlich deine Glieder in angenehmer Ruhe, entrissen dem grässlichen Verderben, wohingegen die Manen meinen Körper zwingen, durch Lethes Wogen zu schwimmen Als Charons Beute werde ich gejagt Sieh nur, wie lodernd im Fackelschein alle Schwellen leuchten in verhassten Tempeln! Tisiphone kommt mir entgegen, überall mit Schlangen frisiert, schleudert wild ihre Flammen und Peitschenschläge gegen mich Dahinter Cerberus (wie lodert sein Maul beim grässlichen Bellen!), dem der Hals starrt von den hier und hier sich windenden Schlangen und dessen blutunterlaufene Augenhöhlen Glut versprühen Ach, warum kam meinem Dienst der Dank abhanden, als ich Dich direkt von der Schwelle des Todes für die Oberwelt rettete? Wo ist der Lohn für Pflichterfüllung, wo der Pflichterfüllung Ehre?“ (Cul 210–225)

Niemand wird bestreiten wollen, dass man es hier mit einer parodistischen Verzerrung der Unterweltsschau zu tun hat: Der komische Effekt basiert beispielsweise auf dem Gefälle zwischen der menschlichen Statur und der nahezu unsichtbaren Winzigkeit eines Mückenkörpers Entsprechend lächerlich erscheint es, wenn die Mücke z B in v 215 die Leiden speziell ihrer uiscera betont und sich als tapferen Schwimmer darstellt (transnare per undas), ebenso wenn sie sich in v 219 als direkte Zielscheibe für Tisiphones Peitschenhiebe ansieht und in v 221 mit hinc atque hinc (man beachte die präzise Wahl des auf die Sprecherfigur bezogenen Pronominaladverbs) dem Hirten offenbar irgendwie an ihrem eigenen Körper zeigt, wo genau bei Cerberus die Schlangen her-

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Zur Konjektur uiden (überliefert sind uides und uidi in Kombination mit ut oder et) s Seelentag (Anm 2), ad loc

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auswachsen Hinzu kommt die fehlerhafte Motivinversion, wenn man sich nämlich bewusst macht, dass üblicherweise ein Großteil der Mücken enden dürfte wie sie (und dies aus menschlicher Sicht auch keinesfalls negativ konnotiert ist), dass zudem binnenfiktional Mücken (wie ‚Ungeziefer‘ generell) in antiker Epik keine personelle Rolle spielen und dementsprechend – unabhängig von der Art ihres Todes und ihrer Bestattung – ohnehin nicht in die Unterwelt kommen Doch jenseits aller Komik zeigt sich, dass der Culex-Dichter in Vergils Schattenreich kräftig umgeräumt hat Dieser hat in Aeneis 6 bekanntlich eine Unterweltstopographie vorgelegt, die so detailliert, umfassend und konsistent erscheint, dass sogar (mehr oder weniger ernst gemeinte) Landkarten und Streckennetze davon angefertigt worden sind 42 Die von der Mücke vorgestellte Topographie weicht signifikant davon ab:43 Die Wälder der (bei Vergil u a traditionell Höhlen am Averner See bewohnenden) Kimmerier sind nun tief in die Unterwelt hineinverlegt und werden von Erzsündern wie Tityos, Tantalos und Sisyphos bewohnt (v 231–247) Der Lethestrom verläuft nicht im hintersten Teil der Unterwelt, sondern gleich vorn am Eingang und wird von Cerberus bewacht (v 214–216) An die Stelle der vergilischen Metempsychose, also der Seelenwanderungs- und Läuterungslehre, ist im Culex wieder die homerische ‚Sackgassenkonzeption‘ mit perseverierter Totenschattenexistenz ohne Läuterungsmöglichkeit getreten Die Furie Tisiphone sitzt offenbar vorn auf der Eingangsschwelle statt wie bisher am Abzweig zum tiefsten Tartarus (v 218 f ) Die vergilischen Heroinen auf den campi lugentes, die aus Liebeskummer gestorben sind, sind vom Culex-Dichter durch einige negative und positive exempla ersetzt worden (Medea, Procne und Philomela werden mit Alcestis und vor allem Eurydike kontrastiert) Viel diskutiert worden ist zudem über den Umstand, dass die Mücke (anders als Anchises) bei ihrer Unterweltsschau so ausführlich auch auf griechische Helden wie die Aiakiden, die Atriden und Odysseus eingeht Most sieht darin das Bestreben des Culex-Dichters, die Nachahmung noch homerisch-epischer wirken zu lassen als das vergilische Original,44 Sypniewski vor allem den Willen zur variatio,45 wieder andere den Ausgleich für die tendenziös-trojanerfreundliche Darstellungsweise Vergils

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Man denke etwa an die Karte von Carlos Parada (Greek Mythology link) unter www thanasis com/homewk06 htm oder von Carlos Parada und Maica Förlag unter www maicar com/GML/ Underworldmap html Besonders phantasievoll erscheint die Unterweltskarte des Iris Project in der Optik der Londoner Tube unter http://baringtheaegis blogspot com/2014/02/from-londonunderground-to-hades html Barrett (Anm 40), S 255 betont die auffällige Wirrheit der Unterweltstopographie, Seelentag (Anm 2), S 164 f spricht von einem „planlosen Zickzack-Flug durch die Unterwelt“ Vgl Most (Anm 21), S 207 Vgl Holly Marie Sypniewski: Becoming Vergil Poetic Persona and Generic Play in the Ps-Vergilian ‚Culex‘ Diss Univ of Wisconsin-Madison 2002 (microform DAI-A 63, 2002/03, 1325), S 206

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Jedoch lassen sich alle diese Abweichungen binnenfiktional durchaus als konsequente Umsetzung einer eigenständigen Darstellungsabsicht verstehen 46 Die Mücke will den Hirten ja zur Reue und zu einer nachgeholten Bestattung bewegen; dafür verfolgt sie – anders als die Ankündigung eines scherzhaften Spielchens es vielleicht erwarten lässt – eine ausgeklügelte Persuasionsstrategie mit drei argumentativen Stoßrichtungen: Erstens betont sie die Ausweglosigkeit ihres jenseitigen Daseins, die sich nach den Gesetzen der Unterwelt nur noch durch ihre Bestattung verbessern lässt 47 Dazu passt, dass der Autor dem vergilischen Seelenwanderungskonzept eine Absage erteilt hat: Für die Mücke gibt es keine Metempsychose, für ihre Seele keine zweite Chance; entsprechend hat der Lethefluss seine vergilische Funktion im Läuterungsprozess verloren und ist zum Grenzfluss des Schattenreichs geworden, in dem die Mücke wegen ausgebliebener Bestattung ebenso verzweifelt herumschwimmen muss wie Aeneas’ tragisch ums Leben gekommener Steuermann Palinurus im Mittelmeer 48 Auf eben dieser Assoziation baut auch die zweite Argumentationsschiene auf: Während Palinurus nämlich von den Göttern zum Wohle der Gefährten, insbesondere eines pius Aeneas, zum Opfer erkoren wurde, muss die Mücke erleben, dass ihr heldenhaftes Opfer nicht gewürdigt wird Sie stellt folglich der impietas des Hirten sich selbst als quasi pius culex gegenüber Diese Kontrastierung bildet die Grundlage für einen Großteil ihrer Ausführungen, etwa auch für die Auflistung der weiblichen und männlichen exempla: In jedem einzelnen Fall arbeitet sie die pietas bzw impietas heraus, was zum Vergleich mit der Handlungsweise des Hirten aufruft Wenn sie obendrein Eurydike die peinlich genaue Befolgung der göttlichen Weisungen attestiert, während sie Orpheus in emphatischen Apostrophen als audax und crudelis beschimpft, und dies mit meminisse graue est (v 295) kommentiert, ist endgültig apparent, dass sich hier in nuce die Situation der aufopferungswilligen Mücke, des pius culex, und des grausam-unbekümmerten Hirten (immemor v 379) abbildet 49 Der Culex-Dichter platziert mit pietas einen ethischen Leitbegriff der (nach dramaturgischer Konstruktion) ‚künftigen‘ Aeneis, der in seiner unangemessenen Anwendung und seiner ex eventu-Konzeption komisch gebrochen erscheint 50

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So grundsätzlich auch Ax (Anm 27), S 35–37 und Ders (Anm 26), S 95–98; Seelentag (Anm 2) Derzeit gehört die Mücke quasi zur Gruppe der ἄταφοι und damit zu den ruhelosen Totengeistern, die den Eintritt ins Schattenreich nicht regelgerecht vollziehen können Vgl zu diesem Konzept Daniel Ogden: Greek and Roman Necromancy Princeton (NJ) 2001, S 225 f Zu dieser Assoziation vgl Sypniewski (Anm 45), S 205 Zu Orpheus und Eurydike ausführlich Marko Marinčič: Die Funktion des Orpheus-Mythos im Culex und in Vergils Georgica In: Živa Antika 46 (1996), S 45–82 und Ders : Der ‚orphische‘ Bologna-Papyrus (Pap Bon 4), die Unterweltsbeschreibung im Culex und die lukrezische Allegorie des Hades In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 122 (1998), S 55–59; Sypniewski (Anm 45), S 220–227; Janka (Anm 13), S 59–66 Vgl Seelentag (Anm 2), S 169 f

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Mit dem Katalog der griechischen und trojanischen Helden tritt in v 322–330 ein dritter Aspekt der Argumentation hinzu: hos erat Aeacides uultu laetatus honores, Dardaniaeque alter fuso quod sanguine campis Hector lustrauit deuicto corpore Troiam rursus acerba fremunt, Paris hunc quod letat et huius † arma † dolis Ithaci uirtus quod concidit icta huic gerit auersos proles Laertia uultus, et iam Strymonii Rhesi uictorque Dolonis Pallade iam laetatur ouans rursusque tremescit: iam Ciconas iamque horret atrox † lestrigone […];

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Über diese Ehren freut sich sichtlich der eine Aiakide, der andere darüber,51 dass er Dardaniens Felder mit Blut benetzte und Hektor mit besiegtem Körper Troja umrunden musste Doch auch sie beklagen ihrerseits ein hartes Schicksal, denn dem einen wird Paris zum Verhängnis und des anderen Tapferkeit fällt, getroffen von der List des Ithakers Ihm hält eine feindliche Miene entgegen der Sohn des Laërtes; dieser, gerade siegreich über Strymons Sohn Rhesus und Dolon, freut sich gerade jubelnd über Pallas; nun wiederum erschaudert er, der Fürchterliche, vor Kikonen und † Laistrygonen […]; (Cul 322–330)

Auch wenn der letzte Vers hier in der Überlieferung verderbt ist,52 wird die grundlegende Darstellungslinie doch deutlich: Jeder genannte Held unterliegt dem raschen Wechsel von Glück und Unglück, die gerade noch triumphierenden Griechen sind im nächsten Moment tot, und der zunächst siegreiche Odysseus gerät kurz danach selbst ins Unglück Auch dieses Konzept der Launenhaftigkeit des Schicksals passt hervorragend zur Persuasionsstrategie der Mücke: Mag der Hirte diesmal auch Glück gehabt haben, dass ihn die Schlange nicht gebissen hat, so kann ihn dieses Glück im nächsten Moment auch wieder verlassen, so wie es zuvor die Mücke buchstäblich ‚schlagartig‘ verlassen hat Die aufrüttelnde Wirkungsabsicht ist wiederum unverkennbar Aus dem Mitleid über die Trostlosigkeit der Unterwelt, dem Appell an pietas und der Androhung der unberechenbaren Wechselhaftigkeit des Glücks formt sich also das argumentativ-tendenziöse Darstellungsmuster, das den Unterweltsbericht der Mücke kennzeichnet Durch Änderungen in der unterweltlichen Topographie und Personalstruktur trägt der Culex-Dichter dieser neuen Wirkungsabsicht Rechnung

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Gemeint sind Aias und Achilleus Ausführliche Diskussion der lacuna und möglicher Lückenfüller bei Seelentag (Anm 2), ad loc

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3. Der Culex-Dichter als eigenständiger Literat Mit der oben analysierten Umgestaltung im Kleinen korrespondiert auf makrostruktureller Ebene die Entscheidung des Culex-Dichters, für seine Unterweltsdarstellung mehrere epische Bauformen zu kombinieren: Die Mückenkatabasis findet ja ihrerseits im Rahmen einer Traumerscheinung statt Vergils Aeneis bietet eine ganze Reihe solcher mahnenden oder warnenden Traumerscheinungen; aber die engste Parallele findet sich in Homers Ilias 23,69–92 Dort fordert der verstorbene Patroklos im Traum Achilleus unter Vorwürfen auf, seinen Leichnam endlich zu bestatten Achilleus hatte den Tod des Gefährten nicht verwunden und deshalb die Bestattung bislang verweigert, so dass die Götter all ihre göttliche Kunst aufwenden mussten, um den Leichnam vor Verwesung zu schützen Auf die engen vokabularischen Bezüge dieses Traums zum Hirtentraum im Culex ist bereits verschiedentlich hingewiesen worden 53 Doch was bezweckte der Culex-Dichter mit der Kombination der verschiedenen epischen Bauformen? Offenbar gelingt ihm dadurch etwas, was in der Aeneis fehlt, nämlich, der Unterweltsschau eine klare Funktion für den Fortgang der Ereignisse zu geben: Die vergilische Katabasis des Aeneas in Aen 6 führt bekanntlich54 nicht dazu, dass der Held nachfolgend eine substantielle Änderung seiner Handlungsweise erkennen lässt – man kann sich als Leser noch nicht einmal sicher sein, ob er die von seinem Vater aufgezeigte Teleologie in ihrem ganzen Ausmaß begriffen hat Anchises erreicht mit seiner Unterweltsführung nur, dass Aeneas „von Liebe zu künftigem Ruhm“ (famae venientis amore, Aen 6,889) entflammt wird und er, wie in den folgenden beiden Versen erwähnt wird, einige Hinweise zu den unmittelbar bevorstehenden Kriegen in Latium erhält Es stellt sich hier – wie bei manch anderer Unterweltsschau – die Frage nach der konkreten binnenfiktionalen Sinnhaftigkeit Anders verfährt die griechische und römische Erzähltradition bei epischen Träumen: Mit Traumvisionen, zumal wenn sie in Krisen- oder Gefahrensituationen auftreten, sind meist klare Handlungsanweisungen verbunden, die alsbald befolgt werden So gibt Patroklos in seiner Mahnrede konkrete Anweisungen, wie und wo er bestattet werden möchte – und Achilleus vollzieht nach dem Erwachen unverzüglich die längst überfällige Bestattung Der Culex-Dichter wiederum gibt dem Leser Gelegenheit, selbst das Neuartige zu entdecken, dass sich aus der Kombination von Katabasis und Traum ergibt, indem er der Mücke zunächst die mit der Katabasis-Tradition verbundene pessimistische Lesererwartung in den Mund legt:

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Bailey (Anm 18) ad v 206/207; ausführlich Marinčič (Anm 49), S 48 f (u a Hirte als „Anti-Achilleus“); Janka (Anm 13), S 41; Peirano (Anm 7), S 57; Seelentag (Anm 2), S 26, S 162 f Dazu ausführlich Therese Fuhrer: Aeneas A Study in Character Development In: Greece and Rome 36 (1989), S 63–72

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Nicola Hömke

«sed tolerabilibus curis haec immemor audis † et tamen ut uadis † dimittes omnia uentis digredior numquam rediturus: tu cole fontes et uiridis nemorum siluas et pascua laetus, at mea diffusas rapiantur dicta per auras » dixit et extrema tristis cum voce recessit

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Aber Du pflichtvergessener Mensch hörst Dir dies mit mäßiger Anteilnahme an, † und schlägst doch, sobald Du gehst, † alles in den Wind Ich gehe fort, um nie zurückzukehren: Bewohne Du Deine Quellen und der Haine grünende Wälder und üppige Fluren, meine Worte hingegen sollen ruhig durch die verwirbelten Lüfte dahingerafft werden “ So sprach sie und verschwand traurig mit dem letzten Wort (Cul 379–384)

Hätte die Mücke ‚nur‘ eine Katabasis vollzogen, hätte ihre Befürchtung gemäß epischer Konvention durchaus ihre Berechtigung gehabt; doch passend dazu, dass der Dichter die Unterweltsschau in den Rahmen einer Traumerscheinung eingebettet hat, lässt er es anders kommen: Der Hirte erwacht, zieht, anders als Aeneas, konkreten Nutzen aus der Katabasis, folgt dem Beispiel des Achilleus und sorgt (auch wenn es sich natürlich nur um ein Kenotaph handeln kann) dank aufwendigem Miniaturmausoleum mit hexametrischem Grab-Epitaphion (v 413 f ) umgehend für eine regelgerechte Bestattung In Umgestaltungen wie dieser liegt meines Erachtens jenseits allen parodistischen Pointenreichtums die eigentliche poetische Qualität des Pseudepigraphen: Er schreibt sich einerseits ostentativ in die autoritative Tradition ein, indem er sich stilistisch, semantisch und vokabularisch am kanonischen Klassiker orientiert Diese ‚Poetik der Identität‘, der Anspruch auf Harmonisierung mit dem Modell, hat im Falle des Culex sogar dazu geführt, dass das Signal zum literarischen Spiel bei antiken und modernen Lesern nicht immer als solches erkannt worden ist55 und wird Andererseits geht aber mit der besonderen Rekombinationsmethode des Culex-Dichters zugleich ein selbstbewusstes Hinterfragen des Originals einher, die in diesem Punkt eine im Vergleich zum Original verbesserte Lösung anbietet Anerkennung der Normativität des Klassikers nicht durch schlichte Nachahmung, sondern durch kreative Parodierung einerseits und Weiterentwicklung andererseits – in diesem paraklassizistischen Spannungs-

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In dieser Hinsicht besonders interessant ist der Einfluss, den der Culex (z B durch das Mückenepitaphion) auf die Vergilviten genommen hat, vgl hierzu die aufschlussreiche Studie von Andrew Laird: Fashioning the poet: biography, pseudepigraphy and textual criticism In: The Ancient Lives of Virgil Literary and Historical Studies Hg von Antony Powell, Philip Hardie Swansea 2017, S 29–50

Pius culex – paraklassizistische Parodie und Literaturkritik in Ps.-Vergils ‚Mücke‘

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feld bewegt sich der Culex-Dichter mit gelehrter und unterhaltsamer Souveränität56 und legt dabei Zeugnis ab vom lebendigen Literaturbetrieb seiner Zeit

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Insofern scheint sein Anspruch, zugleich lusus und carmina docta zu bieten (v 3 f ), erfüllt

Bukolik als Reflexionsraum literarischer Dynamiken: Calpurnius, Nemesian und der Klassiker Vergil Petra Schierl (Bamberg/Basel) 1. Einleitung Publius Vergilius Maro hat als erster lateinischer Dichter die Hirtendichtung Theokrits rezipiert und mit seinen Eklogen die Bukolik als Gattung mit starken Normrestriktionen maßgeblich geprägt 1 Nach dem Vorbild der Bucolica Vergils verfassten Calpurnius, wohl unter Nero,2 und Nemesian gegen Ende des dritten Jahrhunderts Sammlungen relativ kurzer Gedichte in daktylischen Hexametern, in denen ein oder mehrere Hirten als Sprecher bzw Sänger auftreten 3 An diese Tradition knüpften im Trecento zuerst Petrarca und Boccaccio mit Eklogen-Sammlungen in lateinischer Sprache an Dante ebnete dieser Hinwendung zur Bukolik den Weg, als er auf Giovanni del Virgilios Aufforderung zur Abkehr von der volkssprachlichen Dichtung mit einer lateinischen Versepistel antwortete, in der er sich selbst unter Rückgriff auf Vergil als Hirtensänger Tityrus präsentierte Bis zum Ende des sechzehnten Jahrhunderts erlebte die lateinische Bukolik vergilischer Prägung von Italien ausgehend in Europa

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Zur Entwicklung der Gattung im Rahmen der Theokrit-Rezeption vgl Ruurd Nauta: Gattungsgeschichte als Rezeptionsgeschichte am Beispiel der Entstehung der Bukolik In: Antike und Abendland 36 (1990), S 116–137; zur Rezeption der Bucolica Vergils vgl Gerhard Binder: Vergil, Bucolica (Eclogen) In: Die Rezeption der antiken Literatur DNP Supplemente Bd 7 Hg von Christine Walde Stuttgart 2010, S 1073–1098 Die Datierung in neronische Zeit wird kontrovers diskutiert, wird aber gerade in neueren Arbeiten bestätigt; vgl z B Maria A Vinchesi: Calpurnii Siculi Eclogae Firenze 2014, S 15–20; Evangelos Karakasis: T Calpurnius Siculus: A pastoral poet in Neronian Rome Berlin 2016 (Trends in Classics suppl 35), S 1 f Anm 2 Der Überblick konzentriert sich auf Sammlungen und verzichtet auf eine Einbeziehung von einzelnen bukolischen Gedichten, für die ein Anschluss an die vergilische Tradition naturgemäß weniger deutlich ist Mit Calpurnius und Nemesian sind zudem die beiden ersten Dichter genannt, die sich nach Vergil der Bukolik zuwenden Denn die Carmina Einsidlensia sind nach einem neuen Datierungsvorschlag erst Ende des vierten Jahrhunderts entstanden; vgl Justin Stover: Olybrius and the Einsiedeln Eclogues In: Journal of Roman Studies 105 (2015), S 288–321

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Petra Schierl

eine Blütezeit Parallel dazu entstanden in den Volkssprachen Werke verschiedener Gattungen, die im Hirtenmilieu angesiedelt sind und sich kollektiv als Schäferliteratur bezeichnen lassen Die Bukolik erschafft eine Welt von Hirtensängern, in der sich fast alles um Gesang und Liebe dreht, und hat eine ausgeprägte metapoetische Dimension 4 In bukolischen Sammlungen seit Vergil finden sich Eklogen, in denen sich die Dichter jeweils gegenüber maßgeblichen Vorbildern positionieren 5 Diese Form der Selbstdarstellung steht, wie gezeigt werden soll, in der Tradition der Hirtenlieder über den Archegeten Daphnis, die sich bei Theokrit und Vergil finden An die Stelle von Daphnis tritt bei den kaiserzeitlichen Bukolikern Calpurnius und Nemesian jedoch Tityrus, die Hirtenfigur, die emblematisch für Vergils Bucolica steht und in der bisweilen Vergil selbst zu sehen ist Tityrus-Vergil erscheint bei den Nachfolgern als die wesentliche, überzeitliche Bezugsgröße: er entspricht insofern einem Klassiker Die Beispiele werfen die Frage auf, inwieweit die mit dem Begriffspaar ‚Klassik und Klassizismen‘ verbundenen Dynamiken in der bukolischen Dichtung greifbar werden Den Einstieg in diese Untersuchung bietet ein Überblick über die bisherige Verwendung dieser Begriffe in der Forschung zur lateinischen Bukolik der Antike 2. ‚Klassizismus‘ und ‚Klassik‘ in der Forschung zur antiken Bukolik Der im neunzehnten Jahrhundert geprägte Begriff ‚Klassizismus‘ lässt in erster Linie an die Orientierung an einer als vorbildhaft bewerteten Antike in den bildenden Künsten und der Literatur denken 6 Doch fand der Begriff schon früh Verwendung in Studien zur griechisch-römischen Literaturgeschichte 7 Als ‚Klassizisten‘ wurden meist Auto-

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Zur Bukolik als Reflexion von Dichtung im Medium der Dichtung vgl Ernst A Schmidt: Poetische Reflexion Vergils Bukolik München 1972 Zur der in der Dichtung enthaltenen, impliziten Literaturgeschichte vgl Ernst A Schmidt: Das Selbstverständnis spätrepublikanischer und frühaugusteischer Dichter in ihrer Beziehung zu griechischer und frührömischer Dichtung In: L’histoire littéraire immanente dans la poésie latine Hg von Ernst A Schmidt Vandœuvres, Genève 2001 (Fondation Hardt Entretiens sur l’Antiquité classique Tome XLVII), S 97–133, der auf dieser Grundlage die Beziehung der spätrepublikanischen und frühaugusteischen Dichter zur griechischen und frührömischen Dichtung untersucht Vgl z B Wilhelm Voßkamp: Klassisch/Klassik/Klassizismus In: Ästhetische Grundbegriffe Historisches Wörterbuch in sieben Bänden Hg von Karlheinz Barck u a Bd 3 Stuttgart, Weimar 2001, S 289–305, S 294: „‚Klassizismus‘ ist eine ästhetische Position, die die griechische und römische Antike zur stilistischen Norm erhebt […]“ Zur Problematisierung des Begriffs vgl James I Porter: What is „classical“ about classical antiquity? In: Classical pasts The classical traditions of Greece and Rome Hg von James I Porter Princeton 2006, S 1–65 Zur Verwendung des Begriffs in der Altphilologie seit dem neunzehnten und zwanzigsten Jh vgl Thomas Gelzer: Klassizismus, Attizismus und Asianismus In: Le classicisme à Rome aux 1ers siècles avant et après Vandœuvres, Genève 1979 (Fondation Hardt Entretiens sur l’Antiquité classique Tome XXV), S 1–42, S 5–9 und Thomas Gelzer: Klassik und Klassizismus In: Gymnasium

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ren bezeichnet, die nach einer als Niedergang empfundenen Phase eine Erneuerung durch die Orientierung an vorbildlichen Modellen einer früheren Zeit erstrebten 8 Dieses Schema einer Erneuerung nach einer Zeit des Verfalls konstatiert Willy Schetter in einem viel beachteten Aufsatz aus dem Jahr 1975 für die bukolische Dichtung Nemesians, mit der er den Beginn eines neuen Klassizismus im ausgehenden dritten Jahrhundert ansetzt 9 „Als Nemesian seine Bucolica publizierte, waren rund 320 Jahre seit der Veröffentlichung von Vergils Eklogenbuch verflossen, ungefähr 230 Jahre seit den Hirtengedichten des Calpurnius Siculus Der unmittelbare Traditionszusammenhang mit der augusteischen Klassik und der Nachklassik der frühen Kaiserzeit war seit der poesis novella des 2 Jh s abgerissen Das 3 Jh hatte vor Nemesian keine nennenswerten Dichtungen oder poetologischen Neuansätze gezeitigt Eben deswegen stellt die Renaissance der Bukolik nach dem Vorbild Vergils und des Calpurnius Siculus einen entscheidenden Neueinsatz dar Sie bildet den Anfang eines neuen Klassizismus “ Schetter betont zum einen den zeitlichen Abstand von über dreihundert Jahren zur Schaffenszeit Vergils und von mehr als zweihundert Jahren zu Calpurnius Doch vor allem verweist er auf ein Abreißen dieser Dichtungstradition im zweiten/dritten Jahrhundert, demgegenüber Nemesians Orientierung an Vergil in seinen vier Eklogen wie auch in seinem fragmentarisch erhaltenen Lehrgedicht Cynegetica einen Neueinsatz markiere 10 An Schetter anknüpfend sah Antonie Wlosok in Nemesians Werken „den Anfang einer klassizistischen Literaturbewegung, die sich über fünfzig Jahre hindurch verfolgen lässt und zu deren Vertretern der Ciceronianer Laktanz und […] der erste christliche

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82 (1975), S 147–173 in Ergänzung der Untersuchung von René Wellek: Das Wort und der Begriff „Klassizismus“ in der Literaturgeschichte In: Schweizer Monatshefte 45 2 (1965), S 154–173 Dass die Dichtung der augusteischen Zeit als Klassik, nicht als Klassizismus aufzufassen sei, betont Ernst A Schmidt: Historische Typologie der Orientierungsfunktionen von Kanon in der griechischen und römischen Literatur In: Kanon und Zensur Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation II Hg von Aleida Assmann, Jan Assmann München 1987, S 246–258, S 253–255 Gelzer: Klassizismus, Attizismus und Asianismus (Anm 7), S 10–13 und Schmidt (Anm 7), S 252 f , aufgenommen und weitergeführt in Ernst A Schmidt: Augusteische Literatur System in Bewegung Heidelberg 2003 (Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 28), S 34–38; dort S 34: „Jeder Klassizismus ist Reaktion auf einen als negativ beurteilten Zustand vergangener und auch noch gegenwärtiger Kunst im Rückgriff auf eine frühere als klassisch betrachtete Kunstepoche und setzt daher einen Epochendreischritt von einstiger Größe – „Mittel“-Alter des Verfalls – propagierter oder konstatierter Wiederherstellung der einstigen Größe voraus “ Willy Schetter: Nemesians Bucolica und die Anfänge der spätlateinischen Dichtung In: Studien zur Literatur der Spätantike Hg von Christian Gnilka Bonn 1975, S 1–43, wieder abgedruckt in: Willy Schetter: Kaiserzeit und Spätantike Kleine Schriften 1957–1992 Hg von Otto Zwierlein Stuttgart 1994, S 141–181, S 150 Schetter (Anm 9), S 154

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Epiker Iuvencus gehören “11 Kurt Smolak bezeichnete Nemesian als ersten Dichter der Spätantike und bestätigte angesichts der bewussten Herstellung einer Kontinuität zur römischen Literatur gleichzeitig seine auf die Selbsteinschätzung des Dichters zurückgehende Beurteilung als Klassizist 12 Während diese Beiträge den Rückgriff auf den Klassiker nach einer Zeit des Verfalls betonten, versuchte Horst Walter in einer Monographie zu Nemesians Hirtendichtung mit der Normierung der Gedichtlänge, der Vereinheitlichung der Struktur und der Zurücknahme des dichterischen Anspruchs Merkmale zu benennen, die Eklogen als klassizistisch ausweisen 13 Die genannten Beiträge der 1970er und 1980er Jahre etablierten für Nemesian die Bezeichnung ‚Klassizist‘ Neuere Arbeiten greifen dieses Etikett bisweilen auf, ohne es jedoch weiter zu thematisieren,14 oder verzichten auf dessen Verwendung, auch wenn sie Nemesians Orientierung an Vergil in den Blick nehmen 15 Calpurnius hingegen wurde von Schetter als Vertreter der Nachklassik bezeichnet 16 E A Schmidt führte die Eklogen des Calpurnius als Beispiel für epigonale Dichtung an, von der er die antiklassische Auseinandersetzung mit der Klassik eines Lucan oder Seneca abgrenzte 17 Demgegenüber hat Calpurnius in der Forschung der letzten Jahrzehnte eine Aufwertung erfahren 18 Es wird betont, dass er die Bukolik unter Rückgriff 11 12 13 14

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Antonie Wlosok: Originalität, Kreativität und Epigonentum in der spätrömischen Literatur In: Actes du VIIe Congrès de la Fédération internationale des associations d’études classiques Bd 2 Hg von János Harmatta Budapest 1984, S 251–265, S 253 Kurt Smolak: M Aurelius Olympius Nemesianus In: Restauration und Erneuerung Die lateinische Literatur von 284 bis 374 n Chr Hg von Reinhart Herzog München 1989 (Handbuch der lateinischen Literatur 5), S 308–315, S 309 und S 312 Horst Walter: Studien zur Hirtendichtung Nemesians Stuttgart 1988, S 100–103 Roland Mayer: Latin pastoral after Virgil In: Brill’s Companion to Greek and Latin pastoral Hg von Marco Fantuzzi, Theodore Papanghelis Leiden, Boston 2006, S 451–466, S 465 bezeichnet Nemesian mit Verweis auf Schetter als „neo-classicist“; vgl ferner Evangelos Karakasis: Song exchange in Roman pastoral Berlin 2011 (Trends in Classics suppl 5), S 47, Anm 11; Helmut Seng: Spätantike Bukolik Zu den Eklogen Nemesians In: Bukoliasmos Antike Hirtendichtung und neuzeitliche Transformationen Hg von Helmut Seng, Irene M Weiss Würzburg 2016, S 59–84, S 81 Anm 100 So z B Thomas K Hubbard: The pipes of Pan Intertextuality and literary filiation in the pastoral tradition from Theocritus to Milton Ann Arbor 1998, S 178–212; Bernd Effe, Gerhard Binder: Antike Hirtendichtung Eine Einführung 2 Auflage Düsseldorf, Zürich 2001, S 128–141; Roger Green: Refinement and reappraisal in Vergilian pastoral In: Romane memento Vergil in the fourth century Hg von Roger Rees London 2004, S 17–32, S 18–21 sowie Kurt Smolak: Mythos, Bukolik und mehr … Zu Vergil, ecl 6 und Nemesian, ecl 3 In: Wiener Humanistische Blätter 55 (2014), S 27–59, S 46–50 Schetter (Anm 9), S 151, so auch noch Effe, Binder (Anm 15), S 107 Schmidt (Anm 7), S 256 Das zeigen u a das Erscheinen einer kommentierten Gesamtausgabe, Vinchesi (Anm 2), und mehrerer Kommentare zu einzelnen Eklogen, einer Calpurnius gewidmeten Monographie, Karakasis (Anm 2), und einer Aufsatzsammlung, Luciano Landolfi, Roberto Oddo: Fer propius tua lumina Giochi intertestuali nella poesia di Calpurnio Siculo Bologna 2009 (Incontri sulla poesia latina di età imperiale 2), sowie zahlreicher Aufsätze, wie z B Yelena Baraz: Sound and silence in Calpurnius Siculus In: American Journal of Philology 136 (2015), S 91–120

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auf das poetische Programm und die Techniken Vergils eigenständig weiterentwickle19 und sich die von dem Hirten Corydon vollzogene Abwendung von der ländlichen Welt in den panegyrischen Eklogen 4 und 7 im Sinne einer für die neronische Literatur diagnostizierten „Ästhetik der Verkehrung“ verstehen lasse 20 Trotz dieser Abkehr von der Hirtenwelt als dem idealen Aufenthaltsort der Hirtensänger und damit der Dichter, die sie im Rahmen der bukolischen Fiktion vertreten, bleibt auch Calpurnius Vergil verpflichtet und inszeniert sich in der vierten Ekloge als dessen Nachfolger Der kurze Überblick zeigt, dass der Begriff ‚Klassizismus‘ in der Forschung vor allem für die Dichtung Nemesians gebraucht wurde und an das Schema einer Erneuerung nach einer Zeit des Verfalls gebunden war Calpurnius galt als Vertreter der Nachklassik Die neuere Forschung hinterfragt zum einen die Vorstellung von einem Verfall im zweiten/dritten Jahrhundert und betont die Möglichkeit überlieferungsbedingter Verluste 21 Zum anderen hat die Forschung von einer schematischen Unterscheidung von Vorklassik, Klassik und Nachklassik, die die „geschichtliche Betrachtung von Literatur mit literarkritischer Bewertung kontaminiert“, inzwischen Abstand genommen 22 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob und wie sich der Begriff ‚Klassizismus‘ für die nachvergilische Bukolik verwenden lässt, wenn man mit den Herausgebern dieses Bandes „Klassizismus“ primär als relationalen Begriff versteht und damit eine „intentionale stilistische Haltung in Abhängigkeit und Nachahmung von als verbindlich gesetzten Modellen“ bezeichnet 3. Vergilius – scriptor classicus Vergil war schon zu Lebzeiten ein Klassiker, das heißt ein nachahmenswerter Autor im Sinne der von Aulus Gellius (19,8,15) geprägten Wendung scriptor classicus Ein Indiz für ein Erreichen dieses Status ist die Kanonisierung Vergils,23 deren Anfänge Werner

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Enrico Magnelli: Bucolic tradition and poetic programme In: Fantuzzi, Papanghelis (Anm 14), S 467–477, S 469 Karakasis (Anm 2), S 8 mit Verweis auf Luigi Castagna, Gregor Vogt-Spira: Pervertere: Ästhetik der Verkehrung Literatur und Kultur neronischer Zeit und ihre Rezeption München 2002 (Beiträge zur Altertumskunde 51) Nemesianus: Cynegetica Edition und Kommentar Rainer Jakobi Berlin 2014 (Texte und Kommentare 46), S 3 f Anm 1 mit weiterer Literatur Schmidt (Anm 8), S 7 Christian Pietsch: Einführung zu ‚Klassik als Norm – Norm als Klassik‘: Thema und Tagung In: Klassik als Norm – Norm als Klassik Kultureller Wandel als Suche nach funktionaler Vollendung Hg von Tobias Leuker, Christian Pietsch Münster 2016 (Orbis antiquus 48), S 1–26, S 9 regt an, den Klassik-Begriff einerseits normativ zu verwenden und andererseits „als wertfreie[n] Epochen- bzw Stilbegriff zu benutzen“, wenn damit „eine bestimmte Phase innerhalb einer kontinuierlichen historischen Entwicklung“ bezeichnet wird Zur Verbindung von Klassizität und Kanon vgl Mario Citroni: The concept of the classical and the canons of model authors in Roman literature In: Porter (Anm 6), S 204–234

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Suerbaum (2012) untersucht hat: Eine entscheidende Station ist Vergils Aufnahme in einen Lektüre-Kanon in den 20er Jahren, als der Grammatiker Q Caecilius Epirota, wie Sueton (gramm 16,2 f ) berichtet, eine Schule eröffnete und dort als erster Vergil und andere neue Dichter vorzulesen begann 24 Caecilius, der zu seiner Zeit noch eine Ausnahme war, antizipiert die Kanonrevision der augusteischen Zeit, die Horaz in seinem Augustus-Brief (epist 2,1) mit dem Plädoyer für die Anerkennung des „Neuen“ anmahnte 25 Für den unter Tiberius schreibenden Historiker Velleius Paterculus war Vergil dann der princeps carminum (2,36), und Ende des ersten Jahrhunderts führte Quintilian in der Liste von Autoren, die er in seiner Institutio oratoria angehenden Rednern zur Lektüre empfahl, Vergil als den ersten römischen Autor an 26 Er wies Vergil nicht nur den Rang zu, den Homer bei den griechischen Autoren innehatte, sondern betonte, dass Vergil auf eine Stufe mit Homer gestellt werden könne, wenn man der unterschiedlichen Leistung und Stellung der beiden Dichter Rechnung trage Quintilian führt Vergil, ohne auf die Werktitel zu verweisen, unter den Dichtern von Epos und Lehrdichtung an Doch war das Ansehen Vergils nicht an Gattungsgrenzen gebunden Davon zeugt nicht zuletzt die Rezeption der Bucolica, die mit Horaz und den Elegikern schon früh einsetzte Als zeitgenössische Reaktion auf die Bucolica lassen sich ferner die in der Appendix Vergiliana überlieferten Dirae und die in der Suetonvita erwähnten Antibucolica des Numitorius erklären 27 Diese Rezeptionszeugnisse machen deutlich, dass Vergil als Autor der Bucolica, Georgica und der Aeneis und damit der Hexameterdichtung in verschiedenen literarischen Traditionen als Klassiker galt Als Calpurnius und Nemesian sich der Bukolik zuwandten, hatte Vergil bereits den Status eines Klassikers inne Die kaiserzeitliche Bukolik entsteht somit in Abhängigkeit von einem bereits klassischen Modell Durch die Nachahmung und die Selbstpositionierung gegenüber dem Vorbild stabilisieren Vergils Nachfolger dessen Status Der in der Bukolik verankerte Lobpreis eines Meistersängers bot ein Modell, das sich dazu eignete, der Bedeutung Vergils im Medium der Dichtung Ausdruck zu verleihen

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Werner Suerbaum: Der Anfangsprozess der „Kanonisierung“ Vergils In: Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion Kanonisierungsprozesse religiöser Texte von der Antike bis zur Gegenwart Hg von Eve-Marie Becker, Stefan Scholz Berlin, New York 2012, S 171–219, S 183–186 Suerbaum (Anm 24), S 190–193 Quint inst 10,1,85 f sowie Suerbaum (Anm 24), S 201–203, S 213–217 Mayer (Anm 14), S 451–453; zu den Antibucolica vgl Don vit Verg l 178–184

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4. ‚Hitverdächtig‘: Lieder über Daphnis In der von Theokrit erfundenen Welt von Hirtensängern werden Lieder nur mündlich tradiert Meistersänger sind oft Inspirationsquelle und Gegenstand der Hirtenlieder 28 Der sizilische Rinderhirte Daphnis ist als Archeget des bukolischen Gesangs eine zentrale Gestalt Im siebten Idyll ist Daphnis neben Komatas einer der legendären Meistersänger im Lied des Tityros, das der Ziegenhirte Lykidas in seinem Lied imaginiert Im Lied des Thyrsis im ersten Idyll, das wohl bereits antike Sammlungen der Idyllen eröffnete, steht Daphnis im Mittelpunkt 29 Insbesondere das erste Idyll und die darauf rekurrierende fünfte Ekloge Vergils erweisen Daphnis als Bezugsgröße für den Hirtengesang Im ersten Idyll trägt Thyrsis einem Ziegenhirten ein Lied vor, mit dem er zuvor im Wettkampf gegen den Libyer Chromis angetreten ist Das Lied handelt von den Leiden des Rinderhirten Daphnis, und enthält dessen Abschied von der Hirtenwelt Seine Worte, inklusive einer Sphragis (Id 1,120 f ), die mit seinem Hinscheiden zum Epitaph wird,30 werden in direkter Rede von Thyrsis wiedergegeben Dass Daphnis nicht irgendein Hirte ist, sondern ein legendärer Meistersänger, zeigen seine wundersame Verbindung zur ihn umgebenden Natur und seine Nähe zu den Göttern Wenn Daphnis den Hirtengott Pan aus Arkadien nach Sizilien ruft, um ihm seine Syrinx zu übergeben, etabliert er Sizilien als neue Heimat des Hirtenliedes Im ersten Idyll erscheint der Rinderhirte Daphnis somit als Archeget des bukolischen Gesanges Thyrsis verkörpert diesen Sänger in seinem Lied und garantiert, dass er nach seinem Tod gegenwärtig bleibt Dieses Streben nach der Verschmelzung mit legendären Sängern zeichnet Theokrits Hirten aus 31 Thyrsis inszeniert sich in seinem Lied als Nachfolger des Daphnis, der nicht nur der Gegenstand des Liedes ist, sondern diesem letztlich den Erfolg garantiert Vergil lässt in seiner fünften Ekloge gleich zwei Hirten auftreten, die Lieder über Daphnis vortragen Dabei setzen sie die Geschichte des Daphnis über das von Thyrsis geschilderte Entschwinden hinaus fort Das Lied des Mopsus beschreibt die Trauer in der Hirtenwelt nach dem Verlust des Daphnis und endet mit einem Epitaph, den Daphnis für sein Grab bestimmt hat Das Lied des Menalcas versetzt Daphnis an die Schwelle des Himmels, vollzieht seine Apotheose32 und stellt ihm die kultische Vereh-

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Schmidt (Anm 4), S 18 beschreibt Bukolik als „Hirtenlied bzw Dichtung, die Hirtenlieder und insofern auch Hirtensänger zum Gegenstand hat “ Richard Hunter: Theocritus: A selection Idylls 1, 3, 4, 6, 7, 10, 11 and 13 Cambridge 1999, S 60 Hunter (Anm 29), S 99 f Mark Payne: Theocritus and the invention of fiction Cambridge 2007, S 17: „By imagining themselves as Daphnis or Polyphemus, the herdsmen strive to become equivalents of one another […] Being bucolic means becoming bucolic: merging the self with an imagined counterpart is one of the attractions of this world “ Schmidt (Anm 4), S 213 Zur fünften und zehnten Ekloge Vergils vgl jetzt auch Paola Gagliardi, Daphnis ego in silvis, hinc usque ad sidera notus Una lettura dell’ ecl 5 di Virgilio (e della 10) In: Euphrosyne, N S 46 (2018), S 45–63

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Petra Schierl

rung unter den Göttern des Landes in Aussicht Vor dem Hintergrund der consecratio Caesars im Jahre 42 v Chr wird der Daphnis-Hymnus auf diese Weise aktualisiert 33 Durch die Lieder über Daphnis profilieren sich die Hirten als Sänger So gratuliert Menalcas seinem jüngeren Kollegen Mopsus nach dessen Lied dazu, dass er dem Lehrmeister nicht nur im Flötenspiel, sondern auch im Gesang gleichkomme Nec calamis solum aequiperas, sed voce magistrum: fortunate puer, tu nunc eris alter ab illo Nicht nur im Flötenspiel, sondern auch im Gesang kommst du deinem Lehrmeister gleich Glücklicher Knabe, du wirst nach ihm der Zweite sein (Verg ecl 5,48 f )

Mopsus wird in Aussicht gestellt, der Zweite nach oder neben dem Lehrmeister zu sein, womit Daphnis gemeint sein kann Die Formel alter ab illo (ecl 5,49) setzt Lehrer und Schüler zueinander in Beziehung: Der Zweite ist dabei dem Ersten zeitlich nachgeordnet und von ihm insofern abhängig, als dieser das Modell bietet, das es nachzuahmen gilt Unter diesen Voraussetzungen wird seine Leistung jedoch als gleichwertig anerkannt 34 Vergil greift hier eine Formel der zeitgenössischen Literaturkritik auf Denn Ennius galt schon Varro als alter Homerus, bevor Horaz ihn im Rahmen seiner Kritik an der Verehrung der älteren Dichter so bezeichnete 35 Es ist daher verständlich, wenn Servius in seinem Kommentar zur Ekloge die Formel allegorisch auf Vergils Verhältnis zu Theokrit beziehen will 36 Da das Lied des Mopsus dem Thyrsis-Lied und der bukolischen Tradition nach Theokrit, besonders dem Epitaph für Bion, deutlicher verhaftet ist als das Lied des Menalcas, ist die Differenzierung zwischen den beiden Liedern der vergilischen Hirten jedoch nicht vorschnell aufzugeben Auch Menalcas selbst zeigt sich als ein von Daphnis inspirierter Sänger, wenn er seinen eigenen Lobpreis mit den Worten ankündigt (ecl 5,52):37 Daphnin ad astra feremus: amavit nos quoque Daphnis – „Ich werde Daphnis zu den Sternen bringen: auch

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Die fünfte Ekloge wurde oft allegorisch gedeutet, wobei man in Daphnis meist Caesar erkennen will Auch wenn Daphnis’ Apotheose vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund zu sehen ist, spricht Verg ecl 9,46–50 gegen eine Identifikation Zur allegorischen Deutung des Daphnis der Eklogen als Lukrez vgl Leah Kronenberg: Epicurean pastoral: Daphnis as an allegory for Lucretius in Vergil’s Eclogues In: Vergilius 62 (2016), S 25–56 Anja Wolkenhauer: „Ein Zweiter sein“: Zur Geschichte einer römischen Stil- und Denkfigur In: Antike und Abendland 57 (2011), S 109–128, S 112 deutet die Formel als typologische Denkfigur und betont die zeitliche Distanz zwischen den beiden Personen, die zueinander in Beziehung gesetzt werden: „Die zeitliche Distanz zwischen beiden Personen ist […] von konstitutiver Bedeutung, denn beide Personen sind eingespannt in einen Geschichtsentwurf, der von den Begriffen der Nachahmung, Erfüllung und Überbietung des Älteren getragen wird “ Hor epist 2,1,50 und Wolkenhauer (Anm 34), S 117 mit Verweis auf weitere Literatur Serv ecl 5,48 Zum Verhältnis von Handeln und Dichten vgl Schmidt (Anm 4), S 213 f

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mich hat Daphnis geliebt “ Beide Hirten sprechen und singen über Daphnis, als hätten sie ihn persönlich gekannt 38 Im Gedicht wird jedoch deutlich, dass Daphnis nur in den Liedern existiert und dass diese unabhängig von den Situationen entstanden sind, welche sie evozieren Mit den Liedern auf Daphnis erweisen sich Mopsus und Menalcas vor allem als fähige Hirtensänger Die gegenseitige Anerkennung wird durch den Austausch von Geschenken am Ende der Ekloge bekräftigt Wenn Menalcas in ecl 5,85–90 auf das Repertoire seiner Flöte verweist, die ihn Lieder lehrte, die mit der zweiten und dritten Ekloge identisch sind, werden in Form einer Metalepse verschiedene Erzählebenen miteinander vermischt 39 Der Gestus lädt dazu ein, in Menalcas ein alter ego Vergils zu sehen Gleichzeitig betont die Metalepse, dass die Handlung der einzelnen Eklogen ebenso fiktiv ist wie die Lieder der Hirten Das Bewusstmachen der verschiedenen Ebenen des Gedichts erweist letztlich Mopsus und Menalcas als Figuren der Hirtendichtung Vergils Es ist schließlich Vergil, der mit den Daphnis-Liedern der fünften Ekloge das Thyrsis-Lied im ersten Idyll evoziert und sich als Nachfolger Theokrits inszeniert Das Thema der poetischen Nachfolge, das im Rahmen der Fiktion auf der dramatischen Ebene verhandelt wird, ist somit programmatisch für die fünfte Ekloge Insbesondere das Lied des Menalcas geht jedoch über das Modell Theokrits hinaus und erweist Vergil als einen Dichter, der auf dem Boden der griechischen und lateinischen Dichtungstradition Neues schafft 5. Neubesetzung: Von Daphnis zu Tityrus Mit den Liedern auf Daphnis und in enger Auseinandersetzung mit dem ersten wie dem siebten Idyll Theokrits formuliert die fünfte Ekloge den dichterischen Anspruch Vergils Zu Beginn der folgenden sechsten Ekloge wird dann explizit betont, dass die Eklogen die Bukolik in der Tradition Theokrits fortführen:40 Prima Syracosio dignata est ludere versu nostra nec erubuit silvas habitare Thalea

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Zu einer möglichen literarischen Anspielung in diesem Vers vgl Andrea Cucchiarelli: Publio Virgilio Marone: Le Bucoliche Introduzione e commento Traduzione di Alfonso Traina Roma 2012, S 307 Kai Rupprecht: Cinis omnia fiat Zum poetologischen Verständnis der pseudovergilischen Dirae Göttingen 2004, S 108 (Hypomnemata 167) verwendet den Begriff Metalepse für die fünfte Ekloge Vergils, fasst darunter jedoch bereits Mopsus’ Verweis auf die Rinde, in die er sein Lied geritzt hat (ecl 5,10–12) Zur Betonung der Textualität in den Eklogen Vergils vgl Brian W Breed: Pastoral inscriptions Reading and writing Virgil’s Eclogues London 2006, bes S 57–64 Cucchiarelli (Anm 38), S 324 Das Erscheinen von Theons Theokritkommentar dürfte für Vergils Hinwendung zu Theokrit ausschlaggebend gewesen sein, wie Keeline meint; vgl Tom Keeline: A poet on the margins: Vergil and the Theocritean scholia In: Classical Philology 112 (2017), S 456– 478, S 475

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Meine Muse hielt es zuerst für wert, im syrakusischen Versmaß zu dichten, und schämte sich nicht, die Wälder zu bewohnen (Verg ecl 6,1 f )

Der Sprecher dieser Worte ist Tityrus Er berichtet im Folgenden von der Weisung Apolls in poeticis Obwohl bei dieser bukolischen Adaptation des kallimacheischen Aitienprologs die Fiktion einer Welt von Hirtensängern gewahrt bleibt, wird deutlich, dass es hier um die Dichtung Vergils geht Tityrus ist auch der Name des Hirten, der dank eines Gönners in Rom ein friedliches Dasein führen kann und durch den die Welt der Hirtensänger in Vergils erster Ekloge Gestalt gewinnt 41 Die Verweise auf die Landenteignungen in den Eklogen 1 und 9 haben dabei einen Anlass zu biographischen Deutungen dieser Gedichte gegeben Schließlich wird Tityrus auch in der Sphragis der Georgica prominent erwähnt: Tityrus erscheint hier als das Geschöpf des Dichters Vergil, der sich als Hirtensänger inszeniert, und gleichzeitig als dessen alter ego 42 Es ist daher nicht erstaunlich, dass der spätantike Vergil-Kommentar des Servius „unter der Maske des Tityrus“ (sub Tityri persona) Vergil erkennt, wobei er für eine vernünftige Beschränkung des allegorischen Deutungsverfahrens eintritt 43 Servius vermutet auch hinter der Maske anderer Hirtensänger Vergil 44 Der literarischen Eklogen-Rezeption lässt sich jedoch Tityrus’ besondere Bedeutung als alter ego Vergils entnehmen Neben dem Epigrammdichter Martial (8,55 [56],8) verweisen auch die Bukoliker Calpurnius und Nemesian über die Gestalt des Tityrus auf Vergil Die Bedeutung, die Vergil als Archeget der lateinischen Bukolik hat, spiegelt sich dabei in der Aufwertung des Tityrus, der zu einer neuen Bezugsgröße für die Hirtensänger wird und in dieser Rolle an die Stelle des Daphnis tritt 45 In programmatischen Eklogen inszenieren sich Calpurnius und Nemesian über Bezugnahmen auf Tityrus als Nachfolger Vergils

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Eine Hirtenfigur namens Tityrus wird zudem in den Eklogen 3, 5, 8 und 9 erwähnt; dort kommt der Figur jedoch keine besondere Bedeutung zu; vgl Seng (Anm 14), S 74 Anm 75 Richard Hunter: The shadow of Callimachus Studies in the reception of Hellenistic poetry at Rome Cambridge 2006, S 126: „This passage, moreover, seems to play with an identification, one apparently made very early in Virgilian criticism, between Virgil and his character ‚Tityrus‘“ Serv ecl 1,1 mit Martin Korenjak: Tityri sub persona Biographismus und die bukolische Tradition In: Antike und Abendland 49 (2003), S 58–79, S 71 Vgl dazu Korenjak (Anm 43), S 71 Der Name Daphnis wird nur von Calpurnius (ecl 2,94) erwähnt und verweist selbst dort nicht auf einen Meistersänger

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6. Si Tityrus esse laboras (ecl. 4,64): Calpurnius’ Corydon als neuer Tityrus Rahmen und Mittelpunkt der Eklogensammlung des Calpurnius bilden die sogenannten panegyrischen Eklogen (ecl 1, 4, 7) Gemeinsam ist ihnen nicht nur das Lob des als Gott verehrten Kaisers in Rom, sondern auch der Hirte Corydon, der mit seinen Brüdern den Kaiser preist und den es nach Rom zieht Corydon ist als alter ego des Dichters Calpurnius zu sehen 46 Der Name selbst verweist auf den Hirtensänger in Vergils zweiter und siebter Ekloge, wo Corydon als Sieger aus einem Wettsingen hervorgeht 47 Als Nachfolger des Tityrus präsentiert sich Corydon in der durch ihre Länge und zentrale Stellung hervorgehobenen vierten Ekloge Ein Gespräch zwischen Corydon und seinem Gönner Meliboeus (4,1–80, 147–169) rahmt das Loblied auf den Kaiser der Brüder Corydon und Amyntas im Mittelteil der Ekloge (4,81–146) Tityrus ist anders als Daphnis nicht Gegenstand des Liedes Die Verweise auf ihn finden sich vielmehr im rahmenden Gespräch So kündigt Corydon an, dass er das Lied auf den Kaiser auf der Flöte spielen wolle, die er am Vortag von Iollas erhalten habe Die Flöte zeichnet sich Iollas zufolge dadurch aus, dass sie wilde Stiere beruhigt, dem Gott Faunus gefällt und einst Tityrus gehörte: Tityrus hanc habuit, cecinit qui primus in istis montibus Hyblaea modulabile carmen avena Tityrus besaß sie, der als erster in diesen Bergen ein wohltönendes Lied auf hybläischem Halm spielte (Calp ecl 4,62 f )

Hyblaea avena verweist wie schon Vergils Hyblaeis apibus (ecl 1,54) auf die sizilischen Wurzeln des Hirtengesangs und somit auf Theokrit Der eigentliche Bezugspunkt ist für Corydon jedoch der Vorbesitzer der Flöte, der die Hirtenmusik in seiner Region einführte Die Wendung primus in istis montibus lässt sich dabei als Verweis auf Vergil als Archeget der lateinischen Bukolik verstehen, der sich in diesem Fall „unter der Maske des Tityrus“ verbirgt 48 Der Vermittler Iollas dient hingegen dazu, der zeitlichen Distanz zwischen Vergil und Calpurnius Rechnung zu tragen 49

46

47 48 49

So z B Volker Langholf: Vergil-Allegorese in den Bucolica des Calpurnius Siculus In: Rheinisches Museum 133 (1990), S 350–370, S 357; Burghard Schröder: Carmina non quae nemorale resultent Ein Kommentar zur 4 Ekloge des Calpurnius Siculus Frankfurt 1991 (Studien zur klassischen Philologie 61), S 22–25 sowie Korenjak (Anm 43), S 72 Langholf (Anm 46), S 71; Vinchesi (Anm 2), S 38 Dass in Tityrus Vergil zu sehen ist, legen nicht zuletzt die intertextuellen Bezugnahmen auf Vergils erste und sechste Ekloge nahe; vgl Schröder (Anm 46), S 121–124; Vinchesi (Anm 2), S 321 f Schröder (Anm 46), S 122

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Während Corydon sich primär als Erbe des Tityrus präsentiert, verweist die folgende Warnung des Meliboeus auf den damit verbundenen Anspruch, an die Stelle des Tityrus zu treten bzw ein Tityrus für eine spätere Zeit zu sein: Magna petis, Corydon, si Tityrus esse laboras Ille fuit vates sacer […] Du steckst Dir ein hohes Ziel, Corydon, wenn du dich anstrengst, Tityrus zu sein Er war ein göttlicher Sänger […] (Calp ecl 4,64 f )

Tityrus wird von Corydon als göttlicher Sänger (vates sacer) bezeichnet Als Zeichen seiner Göttlichkeit nennt Meliboeus in den folgenden Versen (ecl 4,65–69) die Fähigkeiten, mit der Flöte die Lyra zu übertreffen, wilde Tiere zu bezaubern und Bäume zu versetzen Tityrus werden damit die Qualitäten des mythischen Sängers Orpheus zugeschrieben Dazu passt auch, dass er beim Singen von einer Nymphe mit Akanthusblättern bestreut wird Während Tityrus so zu einem der legendären Meistersänger unter den Hirten stilisiert wird, wird mit vates eine von Vergil erstmals in den Eklogen (9,34) verwendete Bezeichnung für den göttlich inspirierten Dichter aufgegriffen, die in der Dichtung der augusteischen Zeit Verbreitung fand 50 Corydon zeigt daraufhin, dass er sich der Bedeutung seines Vorgängers durchaus bewusst ist Er geht sogar noch weiter als Meliboeus, indem er den Sänger Tityrus als Gott preist: est, fateor, Meliboee, deus – „er ist ein Gott, Meliboeus, ich gestehe es“ (ecl 4,70) So hat er zuvor auch den Kaiser genannt (ecl 4,7 30 48) Sänger und Kaiser stiften Ruhe und Frieden und sind letztlich vor allem in ihrer positiven Wirkung auf die ländliche Welt mit Göttern vergleichbar Corydons Lobpreis des Tityrus erinnert an das Lied des Menalcas in Vergils fünfter Ekloge Dort wurde Daphnis mit den Worten deus, deus ille, Menalca – „er ist ein Gott, ein Gott, Menalcas“ (Verg ecl 5,64) zum Gott erklärt 51 In beiden Fällen preisen Hirtensänger einen Vorgänger als Gott und setzen die Vergöttlichung damit ins Werk 52 Durch die Erhebung zum Gott wird das wohltätige Wirken in und für die Welt der Hirtensänger anerkannt Menalcas verweist in seinem Daphnis-Lied allerdings auch darauf, dass die Verehrung als Gott Daphnis ‚unsterblich‘ macht (Verg ecl 5,78): semper honos nomenque tuum laudesque manebunt – „Deine Ehre, dein Name und dein Lob werden ewig bestehen“ Im Lied des Menalcas wird dieses Fortleben auf die kultische Verehrung zurückgeführt Doch lässt sich die

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Vgl bes Hor ars 391–401 und Schröder (Anm 46), S 125 f ; Vinchesi (Anm 2), S 323 Die Formulierung nimmt ferner Vergils Prätext auf, das Lob Epikurs bei Lukrez (5,8); vgl Schröder (Anm 46), S 131 Langholf (Anm 46), S 364 f betont demgegenüber, dass Motive aus den Daphnis-Liedern zur Schilderung des Wirkens des als Gott bezeichneten Kaisers verwendet werden

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Aussage auch metapoetisch verstehen und auf die Dichtung beziehen, durch die der Name des legendären Daphnis weiterlebt Mit Daphnis und Tityrus werden Hirtensänger, denen im Werk des jeweiligen Vorgängers, bei Theokrit bzw Vergil, besondere Bedeutung zukam, zu Göttern erhoben In zweierlei Hinsicht unterscheidet sich Calpurnius von Vergil Zum einen verweisen seine Hirtenfiguren Corydon und Tityrus, wie erwähnt, auf den Dichter Calpurnius und sein Vorbild Vergil So wird der Dichter selbst von seinem Nachfolger im Rahmen der Fiktion zum Gott erklärt Zum anderen ist Tityrus bei Calpurnius nicht der Gegenstand eines Liedes Kein Hirtensänger, sondern der Kaiser selbst inspiriert bei Calpurnius den Hirtengesang Gerade weil Vergil mit seiner ersten und vierten Ekloge den panegyrischen Eklogen des Calpurnius den Weg ebnet, kommt ihm in der vierten Ekloge seines Nachfolgers jedoch besondere Bedeutung zu Der Wechselgesang zum Lobpreis des Kaisers wird von Meliboeus begeistert aufgenommen Corydon bittet Meliboeus daraufhin, sein Lied in den Palast des Kaisers nach Rom zu bringen und verweist in diesem Kontext auf Tityrus und dessen Patron: Tu mihi talis eris, qualis qui dulce sonantem Tityron e silvis dominam deduxit in urbem ostenditque deos et „Spreto“, dixit, „ovili, Tityre, rura prius, sed post cantabimus arma “ So einer wirst du für mich sein, wie der, der den süßtönenden Tityros aus den Wäldern in die Stadt, die Herrin der Welt, führte, ihm Götter zeigte und sprach: „Wenn der Schafstall verschmäht wurde, Tityrus, werden wir erst das Land, danach aber Waffen besingen “ (Calp ecl 4,160–163)

Dass in Tityrus Vergil zu sehen ist, wird hier durch den Verweis auf die Werktrias Vergils unmissverständlich angedeutet: Schafstall, Land und Waffen stehen für die Bucolica, die Georgica und die Aeneis Ausgehend von der durch Vergil angeregten Gleichsetzung von Tityrus und Vergil ‚bukolisiert‘ Calpurnius die Vita Vergils Bei dem Patron, der nicht beim Namen genannt wird, handelt es sich entsprechend um Maecenas 53 Ihm wird gleichsam als vaticinium ex eventu die Prophezeiung in den Mund gelegt, dass Tityrus-Vergil nicht bei der Bukolik bleiben, sondern sich der Lehrdichtung und dem Epos zuwenden werde Diese Ankündigung lässt sich als Kontrastimitation bzw Umkehrung des Gebots sehen, das der göttliche iuvenis des Tityrus in Vergils erster Ekloge gegeben hatte (Verg ecl 1,45): pascite ut ante boves, pueri; summittite tauros – „Weidet Rinder, Knaben, wie bisher; unterjocht Stiere“ Mit der Aufforderung des Retters in Rom verband sich bei Vergil die Wiederaufnahme des Hirtengesangs Bei Calpurnius macht

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Den Anteil des Maecenas an der Karriere Vergils betonen u a die Laus Pisonis (230–237) und Martial (8,55 [56],5–12); vgl Schröder (Anm 46), S 213; Vinchesi (Anm 2), S 363

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der Verweis auf den Gönner des Tityrus aber deutlich, dass sich Corydon nicht mit der Bukolik begnügen will, sondern Tityrus gerade sein Vorbild ist, weil er die Bukolik hinter sich gelassen hat (spreto […] ovili) Unter Rückgriff auf die Eklogen Vergils wird paradoxerweise die Abkehr von der Bukolik angekündigt Sie deutet sich in der Georgica- und Aeneis-Rezeption in der fünften und sechsten Ekloge des Calpurnius an und findet in Corydons Besuch in Rom in der siebten und letzten Ekloge ihren Höhepunkt: Über Corydons Unzufriedenheit mit dem Landleben und seine Hinwendung zu den Attraktionen der Stadt zeigen die Eklogen des Calpurnius, dass die Bukolik als Gattung für das Kaiserlob nur bedingt geeignet ist 54 Doch auch als alter ego des Calpurnius ist der Hirte Corydon nicht das Sprachrohr des Dichters Er bleibt eine Figur der fiktiven Hirtenwelt, über deren ehrgeizige Ziele man bisweilen schmunzeln darf Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Calpurnius über die Verweise auf Tityrus im Rahmengespräch zwischen Corydon und Meliboeus seine Beziehung zu Vergil erörtert Vergil ist als Archeget der lateinischen Bukolik das maßgebliche Vorbild für Calpurnius Über das traditionelle Motiv der Übernahme der Flöte inszeniert sich Calpurnius als Nachfolger und zeigt sich des damit verbundenen hohen Anspruchs bewusst Tityrus-Vergil ist bei Calpurnius nicht nur ein vates sacer, sondern ein Gott, wie der legendäre Meistersänger Daphnis in Vergils fünfter Ekloge Die Bezeichnung deus trägt der Unerreichbarkeit und der überzeitlichen Gültigkeit des Modells Rechnung, die sich auch mit der Bezeichnung ‚Klassiker‘ verbindet Der Verweis auf die Werktrias Bucolica, Georgica und Aeneis macht schließlich deutlich, dass Calpurnius’ Vergil-Nachfolge nicht auf eine Gattung beschränkt ist 7. Nemesian: Tityrus tritt zurück Vergils poetische Laufbahn, die von der Bukolik über die Lehrdichtung zum Heldenepos führt, hat Nemesian in Ansätzen nachvollzogen Erhalten sind vier Eklogen sowie ein fragmentarisches Lehrgedicht, die Cynegetica Darin kündigt Nemesian den Söhnen des verstorbenen und divinisierten Kaisers Carus ein panegyrisches Epos an 55 Für die Ankündigung des Epos im Rahmen des Lehrgedichts bietet das Prooemium zum dritten Buch der Georgica Vergils das maßgebliche Modell Eine explizite Positionierung gegenüber Vergil und innerhalb der bukolischen Tradition erfolgt bei Nemesian in der programmatischen ersten Ekloge, die Motive von

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Die verschiedentlich vertretene Ansicht, im Subtext der Eklogen des Calpurnius würden Kritik am Kaiser und eine Infragestellung panegyrischer Dichtung deutlich, kann als widerlegt gelten; dazu jetzt Leon Schmieder: non obesis auribus apta – Calp 7 und das Spiel mit dem Leser In: Antike und Abendland 64 (2018), S 112–129, S 112 Vgl Nem cyn 63–65; die Cynegetica lassen sich auf dieser Grundlage auf die Jahre 283/4 n Chr datieren; vgl Jakobi (Anm 21), S 17

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Vergil und Calpurnius adaptiert 56 Die Ekloge ist als Dialog zwischen den Hirten Thymoetas57 und Tityrus gestaltet Thymoetas’ Bitte, ein Lied zu singen, lehnt Tityrus aufgrund seines Alters ab und verweist darauf, dass er seine Flöte Faunus geweiht habe Er legt Thymoetas, der sich kürzlich in einem Wettsingen bewährt hat, nahe, ein Lied zum Lobpreis des verstorbenen Meliboeus vorzutragen Im Anschluss an Thymoetas’ Lied prophezeit Tityrus dem jungen Kollegen, dass ihn Apoll persönlich in die Hauptstadt Rom geleiten werde An die Stelle der Kaiserpanegyrik tritt bei Nemesian im Anschluss an Theokrits erstes Idyll und die fünfte Ekloge Vergils wieder das Totenlied Doch wird Meliboeus nicht als Sänger gepriesen Der Verstorbene spielte zwar mitunter Flöte, zeichnete sich jedoch vor allem als Förderer des Hirtengesangs aus (ecl 1,61–63) und als Richter, der auf dem Land für ein friedliches Zusammenleben sorgte (ecl 1,51–55) Der Sänger Thymoetas tritt daher mit seinem Lied nicht in die Nachfolge des Meliboeus, sondern ist primär als Nachfolger des Gesprächspartners Tityrus zu sehen Thymoetas, der einen in der Hirtenwelt bis dato unbekannten Namen trägt, ist unschwer als alter ego Nemesians zu erkennen 58 Wie schon Calpurnius greift auch Nemesian auf Vergils Eklogen 1, 6 und 7 zurück, wenn er Tityrus als Hirtensänger einführt und Meliboeus als einen Hirten, der Wettsingen verfolgt und Hirtensänger fördert Die Figuren-Konstellation Nemesians variiert jedoch diejenige der vierten Ekloge des Calpurnius Während sich Corydon, das alter ego des Calpurnius, im Gespräch mit Meliboeus befand und sich an den Sänger Tityrus erinnerte, dem seine Flöte einst gehörte, inszeniert Nemesian ein Gespräch zwischen zwei Hirtensängern, das in einem Lied auf den verstorbenen Meliboeus gipfelt Dass hinter der Maske des Meliboeus ein Zeitgenosse Nemesians zu sehen ist, dessen Andenken die Sammlung gewidmet war, ist denkbar 59 Liest man Nemesians Eröffnungsgedicht vor der Folie von Calpurnius’ vierter Ekloge, dann liegt es nahe, in Tityrus Vergil zu sehen Dafür spricht auch, dass Tityrus dabei ist, ein Körbchen zu flechten, als er von Thymoetas zum Singen aufgefordert wird 60 Mit dem Flechten eines Korbes ist auch der namenlos bleibende, auktoriale Sprecher in Vergils zehnter Ekloge befasst, als er als extremus labor das Lied auf Gallus darbietet, mit dem er die Bucolica beschließt 61 Mit dem Motiv des Korbflechtens ruft Nemesian daher in der ersten Ekloge den Schluss der Bucolica Vergils in Erinnerung und knüpft 56 57 58 59 60 61

Seng (Anm 14), S 69–81; Hubbard (Anm 15), S 178–182; Walter (Anm 13), S 6–31; Schetter (Anm 9), S 156–163 Zu Haupts Konjektur Thymoetas für das überlieferte Timetas vgl Schetter (Anm 9), S 149 In diesem Punkt stimmt die Forschung überein vgl z B Schetter (Anm 9), S 146 f Die neuere Forschung schließt aus, dass es sich dabei um einen Kaiser handeln könnte, vgl Schetter (Anm 9), S 151; Walter (Anm 13), S 27 f ; Seng (Anm 14), S 69 f mit weiterer Literatur Nem ecl 1,1 f Dum fiscella tibi fluviali, Tityre, iunco / texitur et raucis inmunia rura cicadis Verg ecl 10,70 f Haec sat erit, divae, vestrum cecinisse poetam, / dum sedet et gracili fiscellam texit hibisco

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direkt daran an; dem Ende des Tages bei Vergil steht bei Nemesian der Beginn eines neuen Tages gegenüber 62 Anders als Calpurnius reichert Nemesian die Figur des Tityrus nicht durch biographische Details aus dem Leben Vergils an 63 Er nimmt weniger den historischen Autor in den Blick als das Sprecher-Ich der vergilischen Eklogen, das er mit dem für das Eklogenbuch emblematischen Hirtensänger Tityrus identifiziert Auch in diesem Fall lässt sich in Tityrus das alter ego Vergils sehen, ohne dass der Tod Vergils im Rahmen der Fiktion thematisiert werden müsste 64 Der Verzicht auf eine Fixierung auf den historischen Autor Vergil ermöglicht so den Kunstgriff, dass Tityrus im Gespräch mit seinem Nachfolger gezeigt werden kann Nemesian fokussiert sich auf Tityrus-Vergil als eine Figur der Hirtenwelt bzw eine Stimme in der bukolischen Dichtung, die nie verstummen wird, jedoch keine neuen Lieder produziert Vor diesem Hintergrund lassen sich die Neuerungen im Hinblick auf die Dramatisierung der poetischen Nachfolge erklären Tityrus übergibt seine Flöte nicht direkt Thymoetas, sondern hat sie bereits dem Gott Faunus geweiht Als Nachfolger autorisiert er ihn, wenn er sich weigert zu singen und Thymoetas auffordert, ein Loblied zu Ehren des Meliboeus darzubieten Die Autorisierung des Nachfolgers erfolgt somit von höchster Instanz und hat als ihren Auslöser den Tod des Meliboeus Calpurnius, an dessen Dichtung sich Anklänge finden, wird aus dieser Dramatisierung der poetischen Nachfolge vollends ausgeblendet Nemesian positioniert sich ausschließlich gegenüber dem Klassiker Vergil 8. Calpurnius, Nemesian und der Klassiker Vergil Mit ihren Eklogen haben Calpurnius und Nemesian eine Tradition lateinischer Bukolik nach dem Vorbild der Bucolica Vergils etabliert Für die Entwicklung der lateinischsprachigen Bukolik seit Petrarca und Boccaccio sind ihre Werke fraglos von großer Bedeutung Ein Klassiker war Vergil jedoch bereits, bevor er in Calpurnius und Nemesian Nachfolger fand Calpurnius’ vierte Ekloge und Nemesians erste Ekloge verleihen diesem Status Ausdruck und demonstrieren seine Gültigkeit für die Gattung Bukolik Der mit der Aufnahme bukolischer Dichtung in Abhängigkeit von diesem klassischen Modell verbundene Anspruch wird von Calpurnius entsprechend problematisiert Über das Motiv der Flöte, die einst Tityrus gehörte und die seinem alter ego Corydon von Iollas überreicht wird, inszeniert er sich als Nachfolger Vergils Die unüberbrückbare Distanz zu Tityrus-Vergil wird durch die Erhebung des Vorbilds zum Gott signalisiert Der Verweis auf die Werktrias macht zudem deutlich, dass Vergil 62 63 64

Seng (Anm 14), S 79 f sowie Anm 94 mit Verweis auf weitere Literatur Seng (Anm 14), S 76 Vgl auch Walter (Anm 13), S 30 f , der den Verweischarakter des Tityrus jedoch partiell unterschätzt

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nicht als Dichter einer bestimmten Gattung, sondern als panegyrischer Dichter im Zentrum der Macht das Vorbild darstellt Auch bei Nemesian ist Vergil die maßgebliche Bezugsgröße Er zeigt sein alter ego im Gespräch mit dem greisen Tityrus Der erfahrene Hirtensänger, der auch die Rolle des Richters in Wettsingen übernimmt, fordert den jungen Hirten auf, an seiner Stelle ein Lied zu singen Der mit dem Flechten eines Körbchens befasste Tityrus evoziert das Sprecher-Ich der zehnten Ekloge Sieht man in ihm Vergil, dann erfolgt eine Autorisierung Nemesians durch die höchste Instanz Die Aufnahme bukolischer Dichtung wird bei Nemesian nicht problematisiert Tityrus ist in der Hirtenwelt nach wie vor gegenwärtig Seine Verweigerung eines Liedes erlaubt es dem Jüngeren, an seine Stelle zu treten Wenn Nemesian mit seiner ersten Ekloge an die letzte Ekloge Vergils anknüpft, setzt er Vergils Bucolica entsprechend fort Die Bedeutung Vergils für die lateinische Bukolik zeigt sich darin, dass Tityrus den Meistersänger Daphnis als Bezugsgröße ablöst Über die Bezugnahmen auf Tityrus inszenieren sich Calpurnius und Nemesian als Nachfolger Vergils und betonen die Bindung an das Modell, mit dem sie sich in ihren Werken auseinandersetzen, auch wenn sie eigene Wege gehen Diese Positionierung gegenüber einem als überzeitlich anerkannten Modell ist in der bukolischen Tradition verankert Der Anspruch, „ein Tityrus zu sein“ (Tityrus esse) findet in der Wendung alter ab illo („der Zweite nach jenem“) bei Vergil eine Entsprechung Mit der Verwendung des Eigennamens legt Calpurnius jedoch die Bezugsgröße fest: Ein Klassiker sein, heißt für einen Hirtensänger nun Tityrus sein Für die römischen Dichter ist Vergil der Klassiker schlechthin Die mit dem Begriffspaar ‚Klassik und Klassizismen‘ verbundenen Dynamiken werden in der bukolischen Dichtung der Antike greifbar Unter Verwendung eines relationalen Klassizismus-Begriffs lassen sich Calpurnius und Nemesian als Klassizisten bezeichnen Die pauschale Verwendung des Begriffs empfiehlt sich jedoch nicht, da so die Unterschiede zwischen den Dichtern verschleiert werden, die durch den zeitlichen Abstand zu Vergil bedingt sind und jeweils im Rahmen der Selbstpositionierung zum Ausdruck kommen

Klassizistische und antiklassizistische Funktionen des Elegischen in lyrischen Texten des Cinquecento1 Susanne Friede (Bochum) 1. Der Innsbrucker Altphilologe Wolfgang Kofler veröffentlichte jüngst einen Beitrag zur „[…] römische[n] Liebeselegie als Sklavin der (griechischen) Literaturgeschichte Überlegungen zur Kontingenz von Gattungszuschreibungen“ 2 Dieser behandelt die in der Literatur- wie in der Forschungsgeschichte in geradezu paradigmatischer Weise kanonisierten Merkmale der Gattung der römischen Liebeselegie,3 um deren ‚Beschreibungsmacht‘ dann jeweils mehr oder weniger dezidiert in Frage zu stellen 4 Was die zur Bestimmung der Liebeselegie traditionell herangezogenen inhaltlichen Kriterien angeht, so beschäftigten Kofler die folgenden Kriterien und deren definitorische Fragwürdigkeit: die ‚Subjektivität‘ einer Sprecherinstanz, die als Protagonist auftritt und von eigenen Erlebnissen spricht, der Bezug auf und die Bindung an e i n e puella mit griechischem Decknamen, welche häufig ein moralisch bedenkliches Verhalten an den Tag legt, sowie der in der Elegie zum Ausdruck kommende Totalitätsanspruch der ‚elegischen‘ Lebensform und die sich daraus vor allem ex negativo ergebene Positionierung gegen andere zeitgenössische Lebensformen Die elegische Liebe ist 1 2

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Dieser Beitrag bezieht sich z T , ohne dass dies im Einzelnen nachgewiesen werden kann, auch auf den mündlichen Vortrag, d h die im Rahmen der Tagung der Görres-Gesellschaft 2016 in Kassel vorgetragene Fassung und deren Diskussion im Plenum Vgl Wolfgang Kofler: Die römische Liebeselegie als Sklavin der (griechischen) Literaturgeschichte Überlegungen zur Kontingenz von Gattungszuschreibungen In: Griechische Literaturgeschichtsschreibung Traditionen, Probleme und Konzepte Hg von Jonas Grethlein, Antonios Rengakos Berlin 2017, S 102–118 Vgl ebd , S 103 Zu den Merkmalen der Gattung der römischen Liebeselegie siehe noch immer Wilfried Stroh: Die Ursprünge der römischen Liebeselegie Ein altes Problem im Licht eines neuen Fundes In: Poetica 15 (1983), S 205–246, bes S 220–224, und vor allem S 222 und S 230 f zur Kategorie des furor, die für die mittelalterliche und frühneuzeitliche Gattungsentwicklung bedeutsam ist, von Kofler jedoch nicht angeführt wird

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zudem notwendig als eine unglückliche, enttäuschte Liebe modelliert; die Elegien haben die Funktion, die Geliebte günstig zu stimmen 5 Im Einzelnen führt Kofler jedoch – gerade angesichts von Beispielen aus Ovids Amores – vor, dass diese inhaltlichen Kriterien keineswegs zwangsläufig Merkmale jeder Liebeselegie sind: So sei z B in ironischer Kontrafaktur der Liebhaber – bei praktisch vollständiger Auflösung der Bindung an eine puella – kein Sklave mehr, während die gewissermaßen ‚degradierte‘ domina selbst sogar weniger wert als eine Sklavin erscheine 6 In formaler Hinsicht werden traditionell die Verwendung des elegischen Distichons, die Länge der einzelnen Elegie von etwa 20–50 Versen sowie die Anordnung der Elegien in Gedichtbüchern vom Umfang etwa einer Papyrusrolle als konstitutive Kriterien der Gattung angesehen 7 Auch diesbezüglich führt Kofler deutlich formulierte Zweifel an deren absolut gesetzter Festschreibung zur Gattungsbestimmung an Induktiv aufgestellte Kriterien entsprächen nicht notwendig denen des Primärlesers; und z B die Gedichte des Gallus wichen eventuell ohnehin in der Länge nach unten ab, so dass es – auch mit Blick auf Catulls Gedichte – sinnvoll sei, in bestimmten Fällen auch Gedichte mit ‚Epigramm‘-Länge als zur Gattung gehörig anzusehen Kofler postuliert also im Grunde zweierlei: zum einen die Notwendigkeit einer ‚Neuverhandlung‘ literarhistorisch verfestigter Vorstellungen bezüglich der Gattung ‚römische Liebeselegie‘ und zum anderen die Notwendigkeit der reflektierten Wahrnehmung möglicher gattungsinhärenter Widersprüchlichkeiten sowie variierender Grenzüberschreitungen und liminaler Auflösungserscheinungen in einzelnen Gedichten oder Gedichtgruppen, wofür allerdings das Vorliegen eines klar abstrahierten Gattungsprofils8 notwendige Voraussetzung ist Den skizzierten Beobachtungen wohnt gerade für die Mittelalter- und Frühneuzeitforschung ein vielleicht weniger beruhigendes als vor allem wegweisendes Potenzial inne Sie tangieren zugleich auch die Modellierung eines abstrahierten Bezugsrahmens für Phänomene, welche im Hinblick auf den Rückgriff der Renaissance auf eine ‚klassische‘ römische Liebeselegie überhaupt potenziell als klassizistisch beschrieben werden können Die zentrale Zusammenschau der Formen elegischen Dichtens vom dreizehnten bis zum neunzehnten Jahrhundert, die das Elegische titelgebend als genuin überzeitliches Phänomen „nella tradizione poetica italiana“ versteht, wurde 2003 von Andrea Comboni und Alessandra Di Ricco herausgegeben 9 Stefano Carrai skizziert die ‚Entwicklung‘ der Elegie von der antiken bis zur volkssprachlichen Literatur der Renais-

5 6 7 8 9

Vgl Kofler (Anm 2), S 104 Vgl ebd , S 107 Vgl ebd , S 103 Vgl ebd , S 107 Andrea Comboni, Alessandra Di Ricco (Hg ): L’elegia nella tradizione poetica italiana Trient 2003

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sance wie folgt: Während die römische Liebeselegie sowohl die unglückliche als auch die glückliche Liebe besungen habe, habe sich die elegische Dichtung des Mittelalters auf den Ausdruck der Traurigkeit und des Elends der conditio humana konzentriert, die allerdings nicht nur durch Liebesleid, sondern auch durch Krankheit oder andere durch das wechselhafte Wirken der Fortuna ausgelöste Unbill hätten verursacht werden können 10 Folgt man dieser Beschreibung, so hätten wir es im elegischen Dichten der Spätantike und des Mittelalters, wirkmächtig zweifellos in Boethius’ De consolatione philosophiae, aber tendenziell auch im Elegienbuch des Maximianus,11 mit einer Verengung auf vornehmlich ‚traurige‘ elegische Inhalte12 und zugleich mit einer Erweiterung – im Sinne einer neuen Pluralität der Ursachen des Leidens – zu tun Bei Maximian tritt z B zu den ‚klassischen‘ Ursachen für das Leiden des Liebenden – Selbstanklage bezüglich des mannigfaltigen eigenen Fehlverhaltens, Widerwille gegenüber der Geliebten, mangelnde Befriedigung, Reue angesichts verpasster Liebeschancen, Verlassenwerden durch die Geliebte etc – wesentlich das Leiden durch und am Alter hinzu, d h die Klage über die aemula senectus (vgl programmatisch Maximianus, Elegie I,1) und mit ihr verbundene gravitas 13 Während die ‚Gattung Liebeselegie‘ als solche also ‚nach der Antike‘ in Auflösung begriffen zu sein scheint, kommen ‚das Elegische‘, eine elegische écriture, der stile elegiaco14oder auch der codice elegiaco15 auf andere, neue Weise zum Tragen Es finden sich – dies kann jedoch im vorliegenden Rahmen nicht ausgeführt werden – Spuren elegischen Dichtens in De vulgari eloquentia, allerdings auf ambige Weise akzentuiert durch den Hinweis auf den elegischen Stil16 als stilus miserorum, dem offenbar für elegische Inhalte si autem elegiace der stilus humilis gleichzusetzen sei 17 Möglicherweise ist Dan10 11

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Vgl Stefano Carrai: Appunti sulla preistoria dell’elegia volgare In: L’elegia nella tradizione (Anm 9), S 1–15, hier S 3–5 Maximians Elegienbuch bezieht sich deutlich auf Boethius, vgl Tullio Agozzino: Introduzione In: Massimiano: Elegie, a cura di Tullio Agozzino Bologna 1970, S 9–92, hier S 84–87, und vor allem Christine Ratkowitsch: Maximianus amat Zur Datierung und Interpretation des Elegikers Maximian Wien 1986 (Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften in Wien Philosophisch-Historische Klasse 463), S 9–12, 53, 71, 99 f sowie Carrai (Anm 10) Vgl Agozzino (Anm 11), S 84 f Siehe Massimiano (Anm 11), S 105, insgesamt besonders die 1 und 5 Elegie; vgl auch Agozzino (Anm 11), S 27 und 68–71 Vgl Carrai (Anm 10), S 4 und 6 Vgl Natascia Tonelli: I ‚Rerum vulgarium fragmenta‘ e il codice elegiaco In: L’elegia nella tradizione (Anm 9), S 17–35 Vgl Dante Alighieri: De vulgari eloquentia Ridotti a miglior lezione, commutato e tradotto da Aristide Marigo, a cura di Giorgio Ricci 3 Auflage Firenze 1953, II, iv, S 5 f Die Stelle lautet im Zusammenhang: Deinde in hiis que dicenda occurunt debemus discretione potiri, utrum tragice, sive comice, sive elegiace sint canenda Per tragediam superiorem stilum inducimus, per comediam inferiorem, per elegiam stilum intelligimus miserorum Si tragice canenda videntur, tunc assumendum est vulgare illustre, et per consequens cantionem [oportet] ligare Si vero comice, tunc quandoque mediocre quandoque humile vulgare sumatur: et huius discretionem in quarto huius reservamus ostendere Si autem elegiace, solum humile oportet nos sumere, Dante (Anm 16), S 190–192

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tes Bezeichnung stilus miserorum auf die Rezeption der Ausführungen in der Poetria des Johannes de Garlandia aus der ersten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts zurückzuführen, in der von einem elegiacum [carmen], id est miserabile carmen quod continet et recitat dolores amantium die Rede ist 18 Das aptum des miserabile carmen wäre dann der stilus humilis; in jedem Fall wird über die (mögliche) Anspielung auf Johannes de Garlandias Poetria das inhaltliche Charakteristikum des miserabile für die mittelalterliche Elegie hervorgehoben Die partienweise Verwendung einer elegischen écriture in Petrarcas Rime steht außer Frage Natascia Tonelli postuliert diesbezüglich eine mehrschichtige intertextuelle Bezugnahme Petrarcas auf die Elegiarum libri des Properz, wodurch die Rime in eine ideale ‚Kontinuitätslinie‘ mit der lateinischen (präziser: der römischen) elegischen Tradition gestellt würden Tonelli zufolge verschiebt sich der elegische Code (mit Blick auf das oben Angeführte wäre wohl zu ergänzen: endgültig) vom Primat der Form zu einem Primat des Inhalts, insofern motivisch-thematische Versatzstücke – die Qualen des Liebenden, der Anlass der Dichtung, i e der „funebre sogetto“,19 ein narratives Substrat sowie zahlreiche weitere Motive –, die die römische Liebeselegie prägten, zudem auch Topoi und Wortmaterial im engeren Sinne20 in den Rime aufgenommen, dabei umfunktionalisiert und damit dominant gesetzt würden 21 Eine besondere Rolle kommt – folgt man Tonellis Verweisen auf Petrarcas Brief an Pandolfo Malatesta – dem Konzept des furor amantium zu, das auch die römische Liebeselegie prägt 22 Unter diesen Prämissen müsste man Petrarcas Rime also eine durch und durch klassizistische Verwendung von elegischen Motiven (und Stilemen) bescheinigen Wie komplex und poetologisch weitreichend der mit Fug und Recht als klassizistisch zu beschreibende Rückgriff des Canzoniere im Einzelnen ist, zeigt der im Jahr 2000 erschienene Aufsatz Marc Föckings zu „Petrarcas Metamorphosen Philologie versus Allegorese in Petrarcas Canzoniere Nr XXIII“ Föcking weist darin für die Canzone Nel dolce tempo nach, wie das lyrische Sprecher-Ich immer wieder „die elegische Grundsituation“ einer unerwiderten erotischen Leidenschaft, Liebesleid, Klagen und das vergebliche Bemühen, die Geliebte zu erweichen, durchlebt, ähnlich wie diese auch in Episoden der Metamorphosen, handelnd von Apoll und Daphne, Echo und Narcissus sowie Byblis und Caunus, variiert werde 23

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Johannes De Garlandia: Poetria magistri Johannis anglici de arte prosayca metraca et rithmica A cura di Giovanni Mari In: Romanische Forschungen 13 (1902), S 883–965, hier S 927 Der Folgesatz lautet: Elegie species est amabeum, quod aliquando est in altercacione personarum et in certamine amantum [sic], ut in Theodolo et in Bucolicis Tonelli (Anm 15), S 20 Vgl ebd , S 21 zum „contestuale riuso di topoi e materiali verbali o metaforici“ Vgl ebd , S 22 f Vgl ebd , S 30–34 Vgl Marc Föcking: Petrarcas Metamorphosen Philologie versus Allegorese in ‚Canzoniere‘ Nr XXII In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 50 (2000), S 271–297, hier S 289 f

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Diese ‚elegische Grundsituation‘ birgt nun in der römischen Liebeselegie wie auch in der petrarkischen Dichtung einen diskursiven Mehrwert in sich, insofern das in ihr verharrende Ich durch das immer wieder erneuerte werbende Sprechen zum Dichter wird, ja gleichsam in den Dichter einer „elegisch reformierten volkssprachlichen Liebesdichtung“24 verwandelt wird, welche vielleicht – so Föcking – in ihrer spezifischen Abgrenzung vom epischen Dichten gerade auch über den Rekurs auf das elegische Dichten ihre eigentliche Selbstautorisierung und Selbstaufwertung vornimmt Mit der Wahrnehmung und Schilderung der Liebesqualen und der Warnung an einen idealen Leser, der gerade nicht dieselben Fehler machen soll wie das klagende Ich, nimmt schon das programmatische Eingangsgedicht der Rerum vulgarium fragmenta wesentliche, topisch gereihte Nuklei des elegischen Codes – die zudem auch im Eingangsgedicht der Elegiarum libri des Properz verwendet werden – auf 25 Entwirft man eine ‚heuristisch konstituierte‘ literarische Reihe, wäre in dieser thematisch-motivischen Perspektive Boccaccios Elegia di Madonna Fiammetta zu nennen, wobei der Text in seiner Konzeption als Prosaroman nicht primär in die hier erörterte Reihe von lyrischen Texten einzupassen ist 26 Leon Battista Albertis Mirtia gilt hingegen als die erste in formaler Hinsicht ‚reguläre‘ italienische Elegie, inhaltlich einschlägiger ist aber wohl der etwas später entstandene Xandra-Zyklus des Cristoforo Landino Während in Petrarcas Rime bei allen nachweisbaren Einzeltextreferenzen vor allem die Systemreferenz auf die Gattung ‚Elegie‘, wenn auch vielleicht idealiter verkörpert in Properz’ Libri, dominiert, verschmelzen bei Landino, wie Gernot Michael Müller gezeigt hat, im Rekurs auf Properz’ Elegie-Korpus Einzeltext- und Systemreferenz Durch die Verschränkung dieser Bezugnahme mit einer imitatio des petrarki24 25

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Ebd , S 290 f Siehe Andreas Kablitz: Die Selbstbestimmung des petrarkistischen Diskurses im Proömialsonett (Giovanni Della Casa – Gaspara Stampa) im Spiegel des neueren Diskurses um den Petrarkismus In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 42 (1992), S 381–414, besonders S 382 sowie Tonelli (Anm 15), S 20 f Auch wenn dieser Argumentationsstrang hier nicht detailliert nachgezeichnet werden kann, ist der Hinweis darauf durchaus zentral Kablitz’ Beobachtungen verweisen implizit darauf, dass das im Petrarkismus vom dolce stil novo abweichende Element eben das elegische Element sein mag, insofern die „anders gewordene Erfahrungswelt der Liebe“ (ebd , S 382) zwangsläufig Trauer und Klage beim Liebenden und damit die elegische Stilisierung nach sich zieht Hierzu wären (ebd , S 385 f ) auch die Bemerkungen zur von Amor selbst angetriebenen „lingua mortale“ in Bezug zu setzen Die Literatur zur Fiammetta ist inzwischen fast unüberblickbar Zentral zum m E entscheidenden Nexus von Ovids Heroides und der Fiammetta, insofern beide Texte unter dem Zeichen von furor und dauerhaftem dolor stehen (und so auch im Cinquecento rezipiert wurden): Janet Levarie Smarr: Boccaccio and Fiammetta The Narrator as Lover Urbana, Chicago 1986, S 129–148, Anm 259–263; zur Rezeption im Cinquecento bes S 247 f ; vgl auch Ulrike Schneider: Volkssprachliche Transformationen der ‚Heroides‘ in der italienischen Renaissance Zu Formen und Funktionen des Ovid-Rekurses am Beispiel zweier Episteln von Niccolò da Correggio und Vittoria Colonna In: Abgrenzung und Synthese Lateinische Dichtung und volkssprachliche Traditionen in Renaissance und Barock Hg von Marc Föcking, Gernot Michael Müller Heidelberg 2007 (GRM Beihefte 31), S 89–107, hier bes S 93 f

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schen Canzoniere kommt es zudem zu einer doppelt klassizistischen Konstitution von Landinos Zyklus 27 Ausgehend von dieser – verkürzten und zugleich ‚von hinten‘ idealisierten – ‚Entwicklungsgeschichte‘ elegischen Dichtens scheint es nicht verwunderlich, sondern geradezu folgerichtig, dass im Cinquecento eine heterogene Ausdifferenzierung der elegischen écriture zu beobachten ist Das Elegische, das wie angedeutet durchaus seinen Platz im Canzoniere hat, wird aufgrund der „Ächtung“ der Elegie durch Bembo nachgerade „gezwungen, sich entweder im Gewand petrarkistisch akzeptabler Sonette usw zu verstecken oder aber mit anderen Traditionssträngen zu verschmelzen“, die Elegie weist jedoch „ungeachtet der immer deutlicheren Betonung der ‚lamentatio amorosa‘ als ihres semantischen Gattungskerns in der Dichtungspraxis sehr unscharfe Ränder auf “ 28 Die Elegie erweist sich im Cinquecento jedenfalls als alles andere als eine ‚einfache Form‘ Dazu gehört im Umkehrschluss auch, dass elegisches Dichten und petrarkistisch-bembistisches Dichten betont und pointiert als alternative Referenzsysteme aufrechterhalten werden können Dies ist, wie Franz Penzenstadler gezeigt hat, in den – allerdings ohne Folgen gebliebenen – Elegie und Sonetti Luigi Alamannis im alternativen Bezug auf Petrarcas und Tibulls Dichtung der Fall, und es geschieht im Grunde kontrastiv zur Verschränkung des elegischen und petrarkistischen Dichtens im Xandra-Zyklus Landinos, jedoch ebenfalls in doppelter, aber eben in im Wesentlichen streng getrennter klassizistischer Manier 29 2. Im Folgenden mögen drei Beispiele – ohne jeden Vollständigkeitsanspruch – illustrieren, wie differenziert sich die Möglichkeiten des Bezugs auf mehr oder weniger ‚klassisches‘ elegisches Dichten um die Mitte des Cinquecento darstellen

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28 29

Vgl Gernot Michael Müller: Zwischen Properz und Petrarca Strategien der aemulatio im ‚Xandra‘-Zyklus des Cristoforo Landino In: Abgrenzung und Synthese (Anm 26), S 133–164, hier S 140 zum „thematischen Grundgehalt“ eines Rückblicks auf eine problematische Liebeserfahrung, der Petrarcas Canzoniere und Properzens Elegiarum libri gemeinsam sei und so Landinos (punktuelle) intertextuelle Engführung dieser Bezugstexte ermögliche Bernhard Huss u a : Lyriktheorie(n) der italienischen Renaissance Berlin 2012 (Pluralisierung & Autorität 30), S 235 Franz Penzenstadler: Elegie und Petrarkismus Alternativität der literarischen Referenzsysteme in Luigi Alamannis Lyrik In: Der petrarkistische Diskurs Spielräume und Grenzen Hg von Klaus W Hempfer, Gerhard Regn Stuttgart 1993 (Text und Kontext 11), S 77–114 Vgl auch Claudia Berra: Un canzoniere tibulliano: Le elegie di Luigi Alamanni In: L’elegia nella tradizione (Anm 9), S 177–213, hier: S 203–206, die – neben dezidierten Bezügen auf Elegien von Properz, Tibull und auf das Corpus Tibullianum sowie punktuell auf Dichtungen von Catull und Ovid – ihrerseits ebenfalls Spuren petrarkischen Dichtens in den Elegien Alamannis nachweist, allerdings vor allem mit Bezug auf die Trionfi

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Ein im Grunde bekanntes Beispiel – auch weil dazu vergleichsweise zahlreiche Untersuchungen vorliegen – sind die Rime Vittoria Colonnas, welche wohl vor 1538 in einer Art Auswahlausgabe zirkuliert sein dürften 30 Bei den Rime handelt es sich um einen in sich mehr oder weniger geschlossenen Canzoniere, in dem ein weibliches Sprecher-Ich in der Fiktion des narrativen Substrats von der Liebe zu seinem verstorbenen Gatten handelt 31 Im Proömialsonett äußert sich diese Konstituierung des Canzoniere als eines ‚Canzoniere ausschließlich in morte‘32 in rhetorisch-motivischer Hinsicht durch die forcierte Ausstellung des Liebesschmerzes Die Verse Scrivo sol per sfogar l’interna doglia (v 1), Giusta cagion a lamentar m’invoglia (v 5) und die Verweise auf l’intensa pena und ’l grave pianto (v 9 f )33 bringen – vermittels einer morphologisch und semantisch maximierten Variation – die durch den Tod des Gegenübers unerfüllte, aber dennoch weiterhin bestehende Liebe sowie, für diese Liebeskonstellation in besonderer Weise zentral, Schmerz und Trauer zum Ausdruck Auch mit Blick auf die variierte Figurenkonstellation erweist sich – unter dem inzwischen unabhängig von der Buchgattung vorherrschenden Primat des Motivisch-Stilistischen – die elegisch modellierte Sprechhaltung endgültig als Konstituens des petrarkistischen Canzoniere Die durch das weibliche Sprecher-Ich und den männlichen Betrauerten vertauschten ‚Geschlechterrollen‘ sind dabei allerdings in nuce in der römischen Liebeselegie angelegt, da bereits in Properz I,3 ein Wechsel der Stimmen aufscheint und mit Cynthia die puella selbst spricht 34 Colonnas Canzoniere greift somit aemulatorisch-variierend direkt auf lateinische Vorbilder zurück, worunter in Bezug auf die weibliche Sprecherrolle auch die Heroides fallen dürften Erst gegen Ende des Sonetts, im zweiten Terzett, wird in den ersten beiden Versen im Kontrast zur schmerzbestimmten gegenwartsbezogenen lyrischen Äußerung auch das potenzielle Besingen einer glücklichen Vergangenheit aufgerufen: Amaro lacrimar, non dolce canto, / foschi sospiri e non voce serena / di stil no ma di duol mi danno vanto (v 12–14) An der pointierten Schlussposition steht die Wendung hin auf eine auch poetologische Aussage, denn bitteres Weinen und dunkle Seufzer, also die gewisser30 31 32 33 34

Vgl Ulrike Schneider: Der weibliche Petrarkismus im Cinquecento Transformationen des lyrischen Diskurses bei Vittoria Colonna und Gaspara Stampa Stuttgart 2007 (Romanische Literaturen und Allgemeine Literaturwissenschaft 25), S 158–171 Eckard Höfner: Modellierungen erotischer Diskurse und Canzoniere-Form im weiblichen italienischen Petrarkismus In: Der petrarkistische Diskurs (Anm 29), S 119–125 Vgl zum Proömialsonett grundsätzlich Schneider (Anm 30), S 171–179; von einem elegischen Element ist jedoch keine Rede Vittoria Colonna: Rime A cura di Alan Bullock Roma: Laterza 1982, S 3 Vgl Jean-Yves Maleuvre: Jeux de masques dans l’élégie latine Tibulle, Properce, Ovide Louvain, Namur 1998 (Collection d’Études classiques 10), S 32 und 62 Maleuvre betont zu Recht, dass es sich immer um eine „scripta puella“ (ebd , S 4) und damit um den rein literarischen Charakter der Figur der femme élégiaque handele, und fasst das Elegienbuch insgesamt als durch die Modellierung eines Ego und eines Anti-Ego, der Rollen und deren Stimmen strukturiert auf

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maßen körperliche Verarbeitung der Trauer, erzeugen im Verbund mit deren ästhetisch-rhetorischer Verarbeitung Ruhm Und dies wird natürlich suggeriert, schon durch die Verwendung des Indikativs, auch wenn der vanto di stil (v 14) formal negiert wird 35 Ähnlich wie im petrarkischen Canzoniere – allerdings in hyperbolischer Manier – haben wir es bei Colonna keinesfalls mit einer Pluralität der Ursachen des Leidens zu tun, sondern im Gegenteil mit einer betont starken Verengung auf die Ausschließlichkeit des Liebesleids Schon aus dem Proömialsonett wird daher im Kontext der Funktion elegischen Dichtens deutlich, wie dicht sich Colonnas Rime am Nukleus petrarkischen Dichtens bewegen und wie ‚imitatorisch‘ es an den vermeintlichen ‚Rändern‘ petrarkistischen Dichtens zugehen kann Durch die klassizistisch-aemulatorische, übersteigerte Übernahme der elegischen écriture wird im Übrigen auch der durch und durch etablierte Status Petrarcas als eines ‚Klassikers‘ angezeigt Hinzu kommt in Colonnas Proömialsonett allerdings, dass ein pragmatischer ‚Sitz im Leben‘ der Dichtung suggeriert wird: Das an den Tod des Geliebten gebundene funebre soggetto36 des flebile carmen (so die ‚Textsortenbezeichnung‘ im ersten Distichon der Consolatio des Boethius)37 vermittelt eine neue Perspektive auf den Liebes-furor petrarkischen Dichtens, insofern dieser auf die kulturanthropologisch verankerten Ausdrucksformen einer ‚tatsächlichen‘ Trauerarbeit und deren planctus verengt wird 38 Die ‚post-römische‘ Engführung des elegischen codice auf die bloße Schilderung unglücklicher Liebe wird in Colonnas Proömialsonett auch dadurch betont, dass das in der Vergangenheit liegende Liebesglück, die voce serena (v 13), im Rahmen der elegischen Stilisierung nur noch punktuell evoziert wird Durch die Dominantsetzung der elegischen écriture sind die Absetzung vom Bembismus und dessen vornehmlichem Bezug auf das Epos sehr deutlich markiert Auch durch den induktiv zu erschließenden Bezug Colonnas auf ein pragmatisches Verständnis der Textsorte der Liebeselegie wird Bembos Rime der unwidersprochene Status eines Klassikers damit zumindest indirekt abgesprochen Innerhalb des Korpus der von Michelangelo Buonarroti über beinahe 60 Jahre hinweg verfassten Rime existiert ein ‚Sub-Korpus‘ von 50 Gedichten, die im Jahr 1544

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Zur poetologischen Positionierung von Colonnas Canzoniere siehe Höfner (Anm 31), S 120–125; Schneider (Anm 30) Vgl Tonelli (Anm 15), S 20 Vgl Ratkowitsch (Anm 11), S 103 Dazu passt, dass die ersten französischen Belege der Termini élégie und élégiaque im sechzehnten Jahrhundert sämtlich aus dem Bereich der ‚plaintes funèbres‘ stammen Vgl Claude Thiry: ‚Elégie‘, ‚elegien‘, ‚élégiaque‘ au XVe siècle In: Hommage au professeur Maurice Delbouille Marche romane Numéro spécial (1973), S 279–292, bes S 288 Der ursprüngliche Terminus élégie hat daher nachweislich technischen Wert: „Il se rapporte en effet de manière constante à la déploration d’un mort – lequel devait, au début, être illustre et de haut rang – et jamais à une épître amoureuse à la manière d’Ovide “ (ebd , S 291)

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anlässlich des Todes von Francesco Bracci, genannt Cecchino, des Neffen von Michelangelos Freund Luigi del Riccio, entstanden sind 39 Del Riccio brachte diese Gruppe von Gedichten später separat in Reinschrift 40 Das Korpus besteht aus einem Sonett, einem Madrigal und 48 vierzeiligen epigrammatischen Epitaphien 41 Del Riccio wünschte eigentlich, dass Michelangelo ein Grabmal für Cecchino entwerfen sollte; und tatsächlich findet sich auf einem Blatt in der Casa Buonarroti ein Entwurf dafür Michelangelo zog es jedoch vor, dem Freund – wie auch andere Freunde dies taten – durch die Übersendung von Texten Trost zu spenden; das Grabmal wurde durch einen Assistenten Michelangelos ausgeführt 42 Die Epitaphien werden von der Forschung zumeist der Textsorte der consolatio zugerechnet;43 und tatsächlich enthalten sie vielfältige Variationen eines ‚tröstenden Sprechens‘ De facto setzt jedoch alles Tröstende in diesem Korpus nicht nur den betrauerten Cecchino und seine Eigenschaften (Schönheit, Jugend etc ) voraus, sondern wird vor allem als Reaktion auf die Empfindungen von Schmerz und die Trauer inszeniert Und so bleibt der elegische Subtext nicht überall ein Subtext, sondern er tritt immer wieder – und innerhalb der Gedichtreihe des Sub-Korpus zunehmend deutlicher – in den Vordergrund Das Sprecher-Ich des toten Cecchino bedauert zum Beispiel, dass es sich als ‚schwacher Braccio‘ nicht gegen den Tod wehren konnte: Qui son de’ Bracci, deboli a l’impresa / contr’a la morte mia per non morire […] (Nr 184, v 1 f ) Der Tod selbst kommt presta e cruda (Nr 185, v 2) Im 15 Gedicht der Reihe, dem einzigen Sonett, verleiht das lyrische Ich der als spontan stilisierten Reaktion des Weinens (conosco e piango, Nr 193, v 5) über den verfrühten Tod Cecchinos Ausdruck 44 Auch im weiteren Verlauf der Gedicht-Reihe, wenn wieder Cecchino spricht, setzt dessen Stimme die Trauer derjenigen, die sein Grab besuchen, ganz selbstverständlich voraus (c’or mi vedi e piangi, Nr 194, v 3) Die Epitaphien 199, 200 und 207 schreiben schließlich das Faktum des Todes jenseits aller Möglichkeiten des Trostes fest und betonen umso stärker die Notwendig-

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Vgl Serge Stolf: La mémoire du ‚Canzoniere‘ dans le ‚Rime‘ de Michel-Ange In: Cahiers d’études italiennes 4 (2006), S 73–98, hier S 79 f Vgl zu unterschiedlichen editorischen Auffassungen dieser Gedichtgruppe: Christopher Ryan: The Poetry of Michelangelo An Introduction London 1998, S 8 f ; Susanne Friede: Die ‚andere Renaissance‘ Michelangelos ‚Rime‘ und der Antiklassizismus In: Romanistisches Jahrbuch 67 (2016), S 105–127, hier S 117–119 Vgl Michelangelo Buonarroti: Rime A cura di Enzo Noè Girardi Bari 1960, Nr 179–228 Vgl Ryan (Anm 40), S 181 Vgl ebd , S 180; Grazia D Folliero-Metz: Michelangelo tra arte figurativa e ‚Rime‘ e l’estetica della bellezza del rinascimento italiano In: Testo Studi di teoria e storia della letteratura e della critica 43 (2005), S 9–28, hier S 19 Siehe Buonarroti (Anm 41), Nr 193, v 5–8: Conosco e piango, e non fu l’error mio, / col cor sì tardi a lor [degli occhi] beltà gradita, / ma di morte anzi tempo, ond’è sparita / a voi non già, m’al mie ’rdente desio

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keit des piangere Die Erinnerung an den Toten – so in Epigramm 20045 – scheint mit der fortschreitenden Zeit, die in ihrem zirkulären Verlauf selbst im Frühling nicht die Auferstehung des Verstorbenen mit sich bringen wird (so betont in Nr 199),46 in den Bereich des Traums überzugehen (gli par sognar, Nr 200, S 3) Der Tote scheint gar nie gelebt zu haben Letztlich – so zeigt das Epitaph 207 – ist es das elegische Element der Trauer (e po’ lasciai tal pianto, Nr 207, S 3), das als Letztes zu überwinden, jedoch mit Zweifeln an der Sinnhaftigkeit des vollzogenen kurzen Lebens verbunden ist 47 In der Untergruppe der Epitaphien Michelangelos tritt daher deutlich die Verwendung einer elegischen écriture zutage, und zwar deutlich expliziter und in völlig anderer Stilisierung als dies in anderen Gedichten, die den Zusammenhang von Tod und Liebe behandeln, der Fall ist 48 Die elegische Stilisierung ist dabei jedoch nachgerade funktionslos geworden Die Klage – hier Freundes- statt Liebesklage – scheint für die beteiligten Figuren des in der Dichtung konstituierten Szenarios aus lyrischem Ich, Sprecher-Ich Cecchinos und den evozierten ‚anderen‘ Trauernden der idealen Leserschaft (zu denen im Grunde auch der z T selbst sprechende Grabstein gehört) keine Erleichterung und auch keinen Ruhm mehr mit sich zu bringen Sie ist in der hyperbolisch übersteigerten Zahl der Epitaphien vielmehr in eine auch formale Exerzitie umgeschlagen 49 Das Elegische tritt im Konvolut der 50 Gedichte zwar deutlich hervor, wird aber dennoch als nur eine von mehreren Möglichkeiten der Stilisierung neben anderen – den „tono drammatico“ der Reflexion über die conditio humana und den „tono basso della lirica grottesca“ – gestellt 50 Zwar sind einzelne sprachliche und motivische Referenzen auf Petrarcas Canzoniere nachweisbar; deren Zitatcharakter mutet jedoch eher wie der von ‚Oberflächenverweisen‘ an, während die inhaltliche Auseinandersetzung mit Petrarcas (oder mit petrarkistischem) Dichten innerhalb des Sub-Korpus der Epitaphien zurückzutreten scheint So liegt der Tendenz nach weder eine klassizistische noch eine antiklassizistische Bezugnahme vor Der codice elegiaco hat seine Funktion weitgehend verloren, das Weiterleben des Verstorbenen wie auch der Ruhm des ihn dichtend betrauernden Spre-

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Ebd , Nr 200: S’i’ fu’ già vivo, tu sol, pietra, li sai / che qui mi serri, e s’alcun mi ricorda, / gli par sognar: sì morte è presta e’ngorda, / che quel ch’è stato non par fusse mai Ebd , Nr 199: Chi qui morto mi piange indarno spera, / bagnando l’ossa e ’l mie sepulcro, tutto / ritornarmi com’arbor secco al frutto; / c’uom morto non risurge a primavera Ebd , Nr 207: Per sempre a morte, e prima a voi fu’ dato / sol per un’ora; e con diletto tanto / porta’ bellezza, e po’ lasciai tal pianto / che ’l me’ sarebbe non esser ma’ nato Vgl Stolf (Anm 39), S 81 f ; Folliero-Metz (Anm 43), S 20 f Daraus folgt nicht, dass den Epitaphien, wie Ryan (Anm 40), S 181–183 tadelnd anführt, ein Mangel an „personal feeling“ (ebd , S 183) vorzuwerfen wäre oder sie als „uninspired testimony to Michelangelo’s recurrent concern with death“ (ebd ) zu werten wären, sondern das Sub-Korpus der Epitaphien als Ganzes bringt in seiner formal-hyperbolischen Übersteigerung eine ‚Verschiebung‘ der Reaktion auf die ebenfalls ‚aufgezeichnete‘ Trauer ins Ästhetische zum Ausdruck Zur Beschreibung der Pluralität von unterschiedlichen toni in den Rime siehe Folliero-Metz (Anm 43), hier S 18 („tono drammatico“) und S 21 („tono basso della lirica grottesca“)

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cher-Ich sind fraglich geworden Während die Inhaltsebene ausgehöhlt oder zumindest in ihrer Heterogenität brüchig anmutet, scheint auf der Formalseite die maximale Oberflächenvergrößerung der Dichtung anvisiert Mit Blick auf die römische Liebeselegie und die von Kofler geäußerten eingangs zitierten Bedenken im Hinblick auf die definitorische Absolutsetzung von Länge und Form zur Bestimmung der Textsorte ließe sich vielleicht eine variierende ‚formale Bewegung‘ des epigrammatischen Epitaphs in Richtung auf die Elegie postulieren, zumal die jeweils vierzeiligen Gedichte in übertragener Manier auch den Duktus von zwei Distichen nachbilden könnten Klar scheint mir der aklassizistische, spielerische Charakter der Epitaphien hervorzutreten, insofern diese nicht subversiv gegen einen (alten) klassizistischen Bezug auf Petrarcas Dichtung oder gegen einen (neuen) auf die römische Liebeselegie vorgehen, sondern die elegische écriture dominant aufrufen und im Rahmen der übersteigerten Variationsmasse flexibel verwenden Als abschließendes Beispiel können die Cantici di Fidenzio des Camillo Scroffa fungieren Die Cantici di Fidenzio Glottochrysio Ludimagistro, so der vollständige Titel, sind eine (wie Colonnas Rime und Michelangelos Epitaphien) um die Mitte des Cinquecento, jedenfalls nach 1545, entstandene Gedichtsammlung; sie behandeln die unglückliche Liebe des Lateinlehrers Fidenzio zu seinem Schüler Camillo In der jüngeren Druckfassung (veröffentlicht 1562 in Reggio Emilia) umfasst das Textkorpus neunzehn Gedichte: fünfzehn Sonette, eine Sestine, zwei Capitoli und ein Epitaph 51 Die Struktur der Cantici wird in der Forschung häufig mit der eines Canzoniere verglichen,52 ohne dass dies allerdings bisher im Detail, besonders auch mit Blick auf die in der Anordnung und im Umfang sehr unterschiedlichen Handschriften und Drucke, wirklich argumentativ abgesichert scheint Die Cantici folgen wie Petrarcas und die petrarkistischen Canzonieri einem Erzähl-Syntagma, dessen narratives Substrat sich einerseits aus dem Innenleben des Sprecher-Ich und andererseits aus wenigen, angedeuteten äußeren Geschehnissen speist Zudem weist das Inauguralsonett, auf das an dieser Stelle nicht ausführlich eingegangen werden kann, – trotz der dezidiert fehlenden pentimento-Struktur – wie die 51

52

Die Textgeschichte ist aufgrund der sehr unterschiedlichen Anordnung und Zusammenstellung der Gedichte in insgesamt sieben Handschriften und den beiden Druckfassungen (Padua, s a , aber jedenfalls vor 1562, sowie der hier zugrunde gelegten Fassung von 1562 aus Reggio Emilia) recht komplex und kann an dieser Stelle nicht aufgearbeitet werden Vgl jedoch den hervorragenden Anhang der Edition Trifones: Pietro Trifone: Nota al testo In: Camillo Scroffa: I Cantici di Fidenzio Con appendice di poeti fidenziani A cura di Pietro Trifone Roma 1981, S 109–128, bes S 133 zur auch hier zugrunde gelegten Fassung von 1562 Vgl auch Katharina Hartmann: ‚I Cantici di Fidenzio‘ di Camillo Scroffa e la pluralità dei mondi Il canone classico, l’eredità del Petrarca e la tradizione giocosa Göttingen 2013 (Super Alta Perennis 13), S 16 f Vgl Alessandro Capata: Il petrarchismo degli anticlassicisti Il caso di Camillo Scroffa e del fidenziano In: I territori del petrarchismo Frontiere e sconfinamenti Atti del Convegno Petrarca, Petrarchismo, modelli di poesia per l’Europa Hg von Cristina Montagnani Rom 2005, S 153–169; Hartmann (Anm 51), S 88–91

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petrarkistischen Canzonieri klar erkennbare Ähnlichkeiten zum ersten Sonett der Rerum vulgarium fragmenta auf 53 Interessant ist für unseren Zusammenhang vor allem die wörtliche Wiederaufnahme der sospiri, wobei aus Petrarcas suono / di quei sospiri (RVF, I, v 1 f ) bei Scroffa il fremito e il rumore / de’ miei sospiri (I, v 2 f ) wird, wodurch die Akzentsetzung auf das erlebte Leiden des Sprecher-Ich verstärkt wird Innerhalb der Sammlung sind des Weiteren intertextuelle Verweise beispielsweise auch auf Vergils Aeneis und Ovids Epistulae ex Ponto bedeutungskonstituierend 54 Die Cantici thematisieren eine homosexuelle Liebesbeziehung unter einer obszön-erotischen Perspektive und verkehren so den ‚Gesamtsinn‘ petrarkistischer Canzonieri im Grunde ins Gegenteil Diese Feststellung bedeutet jedoch nicht automatisch auch Gleiches für die Funktion der im Kern aufgerufenen elegischen Grundsituation Im (wohl wichtigsten) Unterschied zum jeweiligen lyrischen Ich der petrarkistischen Canzonieri, das – unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen – von der Liebeserfahrung einer vergangenen, abgeschlossenen Lebensphase berichtet, erscheint das Sprecher-Ich des Scroffa’schen Cantici-Zyklus unmittelbar und ohne jede Distanz in das erzählte Liebesgeschehen involviert Diese Involviertheit des Ich entspricht eins zu eins der in der römischen Liebeselegie dargestellten Grundsituation Die Gedichte weisen dementsprechend auch – bis auf das abschließende Epitaph für Fidenzio selbst – keinen Memorialcharakter auf;55 und auch wenn das Sprecher-Ich als erfahrener Lehrer und damit – wie in Maximians Elegienbuch, wenn auch indirekt – als älteres Ich gekennzeichnet ist, so bleibt die Beziehung vollständig in der erzählerischen Gegenwart und damit im Stadium des errore 56 Auch andere Merkmale der Cantici verweisen dezidiert auf die römische Liebeselegie: Während die doppelt männliche Besetzung der beiden für die elegische Grundsituation ‚notwendigen‘ Rollen in Bezug auf den petrarkischen und die petrarkistischen Canzonieri, auch im Verbund mit dem Registerwechsel, durchaus als antiklassizistische ‚Subversion‘ bewertet werden kann,57 gilt dies nicht in gleichem Maße in Bezug auf die römische Liebeselegie, z B mit Blick auf das Corpus Tibullianum, in dessen

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Vgl Camillo Scroffa: I Cantici di Fidenzio Con appendice di poeti fidenziani A cura di Pietro Trifone Roma 1981, S 3 und Hartmann (Anm 51), S 116–118 zu den Korrespondenzen mit dem Proömialsonett von Petrarcas Canzoniere Vgl zu einzelnen intertextuellen Bezügen stets Hartmann (Anm 51), z B S 129 und S 229 (zur Aeneis), sowie S 145 (zu den Epistulae ex Ponto) Für weitere Bezüge auf Ovids Werke vgl die im Index, S 273, genannten Seiten Vgl Lucia Brestolini: Folengo, Scroffa e il comico nelle parole La parodia e la satira della pedanteria In: La poesia comico-realistica Dalle origini al Cinquecento Hg von Paolo Orvieto, Lucia Brestolini Rom 2000, S 257–268, hier S 261 Vgl z B Scroffa (Anm 53), VI, v 8 f , wenn Fidenzio Camillo verspricht, dessen Bettgefährte zu sein und ihm zusichert (v 9): „Io ti dò la mia fede inviolabile“ Vgl Capata (Anm 52), S 158 f zur Auffassung der Cantici als Kontrafaktur des petrarkistischen Modells

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Priapeen durchaus von gleichgeschlechtlichen Beziehungen erzählt wird 58 Vielmehr sind wesentliche Aspekte der Bestimmung der römischen Liebeselegie auch in den Cantici erfüllt, so z B die bereits angesprochene konturierte Ineinssetzung des Lebens des Sprecher-Ich als Dichtenden und zugleich als Liebenden Hinzu kommt die deutliche Charakterisierung der Cantici als werbende Dichtung, die wie die römische Elegie nicht nur um die puella (hier um den puer), sondern gleichermaßen um das Publikum wirbt Die in mehreren Sonetten ausgeführten werbenden Bitten an Camillo (besonders in den Sonetten IV–VIII) sind dabei im Ton häufig klagend, so dass eine lamentatio im Sinne des codice elegiaco vorliegt Der klagende und zugleich bittend-flehende Duktus ist wohl das wesentliche Kennzeichen der Stimme des als weitgehend passiv gezeichneten Sprecher-Ich des Fidenzio Eine besondere Position kommt dabei dem Gedicht Venite hendecasyllabi, venite zu In den Handschriften L und F ist es jeweils an sechster Stelle platziert, im Druck von 1562 steht es an 13 Stelle In allen Anordnungen der Sammlung (außer in Handschrift V1) steht das Gedicht ungefähr in der Mitte der Sammlung 59 Wie die beiden vorangehenden Sonette XI und XII gehört das Sonett XIII zu einer Gruppe von Gedichten, welche – anders als die Anfangsgedichte – die glückliche Liebessituation beschreiben, wobei in XIII die Übersendung eines Pflaumenkerns wohl konkret auf einen entleerten Hoden und damit auf einen wie auch immer zeitlich zu verortenden Oralverkehr verweisen soll 60 Dezidiert erfolgt die Abwendung von den elegie querule et dolenti (XIII, v 3), den gridi, pianti, sospir (v 4); vorbei sind die Zeiten der pene (v 5 und v 8), der lamenti (v 6) und tormenti (v 7) 61 Dem für die elegische Grundsituation so typischen Moment der Enttäuschung in der Liebe wird hier eine hyperbolisch übersteigerte Absage erteilt Das Sonett erfüllt innerhalb der Sammlung auch eine metadiskursive Funktion, wobei diese je nach Position in der Handschrift bzw im Druck variiert 62 In den Handschriften L, F und M1 ist z B das Capitolo O d’un alpestre scopulo più rigido durch eine paratextuelle Markierung explizit als Elegia Fidentii Cammifili bezeichnet In F und M1 steht dieses Capitolo an erster Stelle, so dass der Verweis auf die elegie in Venite hendecasyllabi dezidiert auch auf dieses Capitolo beziehbar ist Unabhängig davon – und auch für die Reihungen, in denen das Capitolo nach Venite hendecasyllbi steht – ist ein Bezug

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Vgl Albius Tibullus: Carmina Edidit Georg Luck Stuttgart 1988, Priapeum II, v 2 („candidus mihi puer“) Scroffa (Anm 53), S 109–128 XIII, v 9–14: Di ciò mi manda per presagio chiaro / questo intestino di prune exiccato, / reliquia de la sua bocca docente: / volendo dir ch’egli ha il duro et l’amaro / expulso, et sol il dolce reservato / O inventiva callida et prudente! Vgl Hartmann (Anm 51), S 155 und 233 Man meint fast, die Rede von l’intensa pena und ’l grave pianto aus Colonnas Proömialsonett anklingen zu hören Vgl für die jeweilige Reihenfolge Scroffa (Anm 53), S 109–128

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auf die Sektion der vorgängigen Sonette in Anschlag zu bringen, die die unglückliche Liebessituation besungen hatten In formaler Hinsicht ist die Opposition zwischen den die glückliche Liebesbeziehung bezeichnenden hendecasyllabi und den auf die unglückliche Liebesbeziehung fokussierten elegie konstitutiv Die soavi accenti (v 2) nehmen das Gedicht CCLXXXIII des Canzoniere Petrarcas auf, in dem das lyrische Ich den Tod Lauras und den damit einhergehenden Abbruch der soavi accenti, mit denen es die Liebe besungen hatte, betrauert 63 Während die Formel bei Petrarca den Übergang von glücklicher zu unglücklicher Liebe bezeichnet, unterstreicht sie in den Cantici die gegenteilige Bewegung Das Sprechen von einer glücklichen Liebe dauert jedoch nur kurz an, insofern bereits die Sestine XIV64 und auch das Capitolo XVII65 eine neue, noch grausamere Phase des Liebesleids besingen, die schließlich durch das Einwirken von furor und dolor amoris parodistisch-übersteigert zum Tod des Fidenzio führt Mit Gedicht XX dokumentiert ein Epitaph für das Sprecher-Ich in lakonischen vier Versen das Ende des Leidens 66 Diese zunächst durchgeführte, dann aber wieder außer Kraft gesetzte ‚Verkehrung‘ der narrativen Periodisierung des petrarkischen Canzoniere darf als deutliches Indiz dafür gelten, dass die Cantici als eine dezidiert antiklassizistische Dichtung konzipiert sind 67 Die Distanz zum petrarkischen Canzoniere wird zudem – in antiklassizistisch heterogenem Zugriff – dadurch verstärkt, dass im poetologisch explizitesten Sonett XIII den soavi accenti lepidi versi, und zwar nicht nur zur Seite, sondern programmatisch vorangestellt werden: Venite hendecasyllabi, venite / lepidi versi et voi soavi accenti (XIII, v 1 f ) Sie spielen eindeutig auf die wenig keuschen Carmina Catulls an, auch insofern als eine konkreter intertextueller Verweis auf den Beginn von Carmen XLII vorliegt 68 Auch dieser Bezug deutet – im Verbund mit dem Blick auf die epigrammatisch-elegischen Gedichte Michelangelos – an, dass zumindest aus der Sicht des Cinquecento die Grenze zwischen der ‚klassischen‘ römischen Liebeselegie und benachbarten Gedichtsammlungen wie den Carmina des Catull oder den Epigrammen des Gallus (oder vielleicht auch des Martial) durchaus durchlässig erschien, so dass die Gattungsmodellierung der Elegie – zumindest ‚von hinten‘ gesehen – zu überdenken wäre

63 64 65 66 67 68

Vgl Hartmann (Anm 51), S 156 f ; Scroffa (Anm 53), S 15, not 1 f Vgl Hartmann (Anm 51), S 157–160 Vgl ebd , S 164–183 Scroffa (Anm 53), Nr XX, S 39: Glottocrisio Fidentio eruditissimo / ludimagistro è in questo gran sarcophago / Camillo crudo piú [sic] d’un antropophago / l’uccise O caso a i buoni damnosissimo Anders Capata (Anm 52), S 160–162; vgl aber Hartmann (Anm 51), S 86–96 Siehe C Valerius Catullus: Carmina Recognovit brevique adnotatione critica instruxit Roger A B Mynors 10 Auflage Oxford 1991, S 30: Adeste, hendecasyllabi, quot estis / omnes undique, quotquot estis omnes

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Lefèvre, Eckard (2009): Vom Römertum zum Ästhetizismus: Studien zu den Briefen des jüngeren Plinius Berlin Leo, Friedrich (1891): Culex Carmen Vergilio ascriptum recensuit et enarravit – Accedit Copa elegia Berlin Leo, Friedrich (1902): Vergil und die Ciris In: Hermes 37, 14–55 (wieder abgedr in: Ausgewählte kleine Schriften Storia e Lettere 82/3 Bd 2 Roma 1960, 29–70) Leo, Friedrich (1907): Nochmals die Ciris und Vergil In: Hermes 42, 35–77 (wieder abgedr in: Ausgewählte kleine Schriften Storia e Lettere 82/3 Bd 2 Roma 1960, 71–112) Leuker, Tobias (1997): Angelo Poliziano Dichter, Redner, Stratege Stuttgart und Leipzig Leuker, Tobias (2009): Zwischen Gemütserhitzung und Routine Rhetorik und Realität der Improvisation im Œuvre des Humanisten Angelo Poliziano In: Maximilian Gröne / Hans-Joachim Gehrke / Frank-Rutger Hausmann u a , 79–99 Lill, Rudolf (2009): Zur politischen und sozialen Geschichte des Trecento In: Paul Geyer / Kerstin Thorwarth (Hgg ): Petrarca und die Herausbildung des modernen Subjekts Göttingen, 31–42 Littlewood, R Joy (2011): A Commentary on Silius Italicus’ Punica 7 Oxford/New York Lodge, David (1984): Small World: An Academic Romance London Loehr, Johanna (1996): Ovids Mehrfacherklärungen in der Tradition aitiologischen Dichtens Stuttgart/Leipzig (Beiträge zur Altertumskunde 74) Lovatt, Helen (2010): Interplay: Silius and Statius in the Games of Punica 16 In: Antony Augoustakis (Hg ): Brill’s Companion to Silius Italicus Leiden/Boston, 155–176 Lowrie, Michèle (2010): Spurius Maelius: Homo Sacer and Dictatorship In: Brian Breed / Cynthia Damon / Andreola Rossi (Hgg ): Citizens of Discord: Rome and its Civil Wars Oxford, 171–186 Lowrie, Michèle / Lüdemann, Susanne (Hgg ): Exemplarity and singularity: thinking through particulars in philosophy, literature, and law London 2015 Lucarelli, Ute (2007): Exemplarische Vergangenheit Valerius Maximus und die Konstruktion des sozialen Raumes in der frühen Kaiserzeit Göttingen (Hypomnemata 172) Luck, Georg (Hg ) (1988): Tibullus, Albius: Carmina Stuttgart Ludolph, Matthias (1997): Epistolographie und Selbstdarstellung Untersuchung zu den ‚Paradebriefen‘ Plinius’ des Jüngeren Tübingen Lutherbibel (2017) Lyne, Richard O A M (Hg ) (1978): Ciris A poem attributed to Vergil Ed with an introd and comm Cambridge u a Lyne, Richard O A M (2007): Vergil’s Aeneid: Subversion by intertextuality Catullus 66 39–40 and Other Examples In: Richard O A M Lyne (Hg ): Collected Papers on Latin Poetry Oxford, 167–183 [= zuerst in: Greece & Rome 41 (1994), 187–204] MacLaughlin, Martin L (1995): Literary Imitation in the Italian Renaissance The Theory and Practice of Literary Imitation from Dante to Bembo Oxford, S 249–274 Magnelli, Enrico (2006): Bucolic tradition and poetic programme In: Marco Fantuzzi / Theodore Papanghelis (Hgg ) (2006): Brill’s Companion to Greek and Latin pastoral Leiden/Boston, 467–477 Maleuvre, Jean-Yves (1998): Jeux de masques dans l’élégie latine Tibulle, Properce, Ovide Louvain / Namur (Collection d’Études classiques 10) Malitz, Jürgen (1994): Claudius (FGrHist 276) – der Prinzeps als Gelehrter In: Volker M Strocka (Hrsg ): Die Regierungszeit des Kaisers Claudius (41–54 n Chr ) Umbruch oder Episode?

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Mehltretter, Florian (2010): Questione della lingua, questione dello stile Zur Diachronie von Pluralisierung und Autorität in der frühneuzeitlichen Sprach- und Dichtungsreflexion In: Pluralisierungen Konzepte zur Erfassung der Frühen Neuzeit Hg von Jan-Dirk Müller / Wulf Oesterreicher / Friedrich Vollhardt Münster (Pluralisierung & Autorität 21) Mehltretter, Florian (in Zusammenarbeit mit Florian Neumann, Vorwort von Gerhard Regn) (2009): Kanonisierung und Medialität Petrarcas Rime in der Frühzeit des Buchdrucks (1470– 1687) Münster (Pluralisierung & Autorität 17) Menge, Hermann / Otto Schönberger (2007): Lateinische Synonymik 8 Aufl Heidelberg Mengelkoch, David (2010): The Mutability of Poetics Poliziano, Statius, and the Silvae In: Modern Language Notes 125, 84–116 Méthy, Nicole (2007): Les lettres de Pline le Jeune Une representation de l’homme Paris Mindt, Nina (2011): Vergil zur Mücke machen Zum Culex der Appendix Vergiliana In: A&R n s s 5,1–2, 19–36 Minturno, Antonio Sebastiano (1559): De poeta Venedig Morello, Ruth (2003): Pliny and the Art of Saying Nothing In: Roy Gibson / Ruth Morello (Hgg ): Re-Imagining Pliny the Younger (= Arethusa 36,2) Baltimore, 187–209 Most, Glenn W (1982): Neues zur Geschichte des Terminus ‚Epyllion‘ In: Philologus 126, 153–156 Most, Glenn W (1987): The ‚Virgilian Culex‘ In: Michael Whitby / Philip Hardie / Mary Whitby (eds ): Homo Viator Classical Essays for John Bramble Bristol/Oak Park, 199–209 Mott Gummere, Richard / Corcoran, Thomas H / Miller, Frank Justus (eds ) (1989): Seneca, Lucius Annaeus: Epistulae morales Harvard Müller, Gernot Michael (2003): Vielfalt und Einheit Die Dichtungslehre in Giovanni Pontanos Actius im Horizont einer Dialogpoetik der varietas In: Marc Föcking / Bernhard Huss (Hgg ): Varietas und Ordo Zur Dialektik von Vielfalt und Einheit in Renaissance und Barock Stuttgart (Text und Kontext 18), 33–57 Müller, Gernot Michael (2007): Zwischen Properz und Petrarca Strategien der aemulatio im Xandra-Zyklus des Cristoforo Landino In: Marc Föcking / Gernot Michael Müller (Hgg ): Abgrenzung und Synthese Lateinische Dichtung und volkssprachliche Traditionen in Renaissance und Barock Heidelberg (GRM Beihefte 31), 133–164 Münzer, Friedrich (1897): Beiträge zur Quellenkritik der Naturgeschichte des Plinius Berlin Murgatroyd, Paul (2000): Plotting in Ovidian Rape Narratives In: Eranos 98, 75–92 Mussini, Cecilia (2017): Apud antiquos La ricostruzione dell’antichità nell’insegnamento di Poliziano In: Stefano Rocchi / Cecilia Mussini (eds ): Imagines antiquitatis Representations, Concepts, Receptions of the Past in Roman Antiquity and the Early Italian Renaissance Berlin/Boston 2017 (Philologus Supplemente Bd 7), 131–153 Musso, Cornelio (1588): Delle Prediche Quadragesimali del R mo Mons or Cornelio Musso, Vescovo di Bitono Sopra l’Epistole & Evangeli correnti per i giorni di Quaresima E sopra il Cantico della Vergine per li Sabati Seconda Editione Con la Vita dell’Autore; & due Tavole: l’una delle Prediche, &l’altra delle cose piu notabli Prima parte Con aggiunta di Tre Prediche non più stampate Venezia Myers, K Sara (2009): Ovid Metamorphoses Book XIV Cambridge Myers, K Sara (2015): Statius on Invocation and Inspiration In: William J Dominik / Carole E Newlands / Kyle Gervais (eds ): Brill’s Companion to Statius Leiden, 31–53 Mynors, Roger A B (Ed ) (1963): C Plini Secundi Epistularum libri decem Oxford Mynors, Roger A B (Ed ) (101991): C Valerius Catullus, Carmina Oxford Nauta, Ruurd (1990): Gattungsgeschichte als Rezeptionsgeschichte am Beispiel der Entstehung der Bukolik In: Antike und Abendland 36, 116–137

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Andrea Renker

Streit um Vergil Der bukolische Briefwechsel zwischen Giovanni del Virgilio und Dante Alighieri hamburger studien zu gesellschaften und kulturen der vormoderne - band 8 2020. 348 Seiten 978-3-515-12817-9 gebunden 978-3-515-12819-3 e-book

Die „Eklogen“ Dante Alighieris stehen gerade im deutschen Sprachraum nach wie vor im Schatten der scheinbar alles überragenden Commedia des Florentiner Dichters. Gegen Ende seines Lebens entstanden, oszilliert der lateinisch-sprachige Briefwechsel mit dem Bologneser Grammatiker Giovanni del Virgilio zwischen vergilischer Bukolik, christlicher Allegorese und zeitgenössischer Poetik. Raffiniert kontert Dante Giovannis Vorwurf, mit seiner in italienischem volgare verfassten Commedia „Perlen vor die Säue“ geworfen zu haben. Auf dem Prüfstand steht in ihrer vierteiligen Debatte der Wert der Antike in einem fundamental im Wandel begriffenen Europa zwischen Spätmittelalter und Frührenaissance. Andrea Renker nimmt in dieser wegweisenden Untersuchung die intertextuellen Bezüge der Korrespondenz zu ihren klassischen, biblischen und zeitgenössischen Prätexten in den Blick und zeichnet anhand dessen ein systematisches Bild der widerstreitenden

poetologischen Profile. Damit wirft sie ein Schlaglicht auf die von der Forschung nach wie vor wenig beachteten Eklogenbriefe, die nichts Geringeres beinhalten als das poetologische Testament des Florentiner Dichters. aus dem inhalt Hinführung | Giovanni del Virgilio an Dante | Dante an Giovanni del Virgilio | Giovanni del Virgilio an Dante | Dante an Giovanni del Virgilio | Schlussbetrachtung | Literaturverzeichnis | Stellenverzeichnis die autorin Andrea Renker arbeitet derzeit durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft gefördert als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Fachgruppe Romanistik der Universität Konstanz. Aktuelle Schwerpunkte in Forschung und Lehre liegen in Wissensdiskursen der europäischen Aufklärung, Poetik und Rhetorik sowie der Antikenrezeption.

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Barbara Dimde

Gladiatur und Militär im römischen Germanien hAmburger studIen zu gesellschAften und Kulturen der Vormoderne - bAnd 7 2019. 404 Seiten mit 17 Farb- und 6 s/w-Abbildungen 978-3-515-12490-4 KArtonIert 978-3-515-12499-7 e-booK

Mit Legionären aus dem fernen Rom kam in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr. ein Kulturgut nach Germanien, das dort bis dahin unbekannt war: Amphitheater und Gladiatoren. In Standlagern römischer Legions- und Auxiliareinheiten und in römisch geprägten Zivilsiedlungen hinterließen die Stars dieser Arenen zahlreiche Spuren. Barbara Dimde folgt diesen Spuren und entdeckt dabei die in der Forschung bislang unbekannte Militärgladiatur, die in Germanien den Nukleus der späteren zivilen Gladiatur bildete. Dimde zeigt diese grundsätzliche Trennung in einen kaiserlich-militärischen und einen städtisch-zivilen Sektor mit unterschiedlichen Ziel- und Wirkmechanismen: Der Kaiser als Oberbefehlshaber der römischen Truppen setzte die Militärgladiatur in Germanien gezielt zur Sicherung seiner Macht ein. Er gab finanzielle Ressourcen frei, die die Errichtung von Militäramphitheatern und die Ausstattung von Legions- und Flottenverbänden mit familiae gladiatoriae

ermöglichten. Die Zivilgladiatur unterlag dagegen der Eigenverantwortung der Städte und städtischen Eliten. Diese mussten für den Bau ziviler Amphitheater und die Veranstaltung der populären Gladiatorenkämpfe und Tierhetzen selbst aufkommen – streng reglementiert durch kaiserliche Kontrollauflagen. Aus dem InhAlt Editorial | Vorwort | Einleitung | Raum für Spektakel: Wo kämpften die Gladiatoren in Germanien? | Militär und munera gladiatoria in Germania Superior und Inferior | Zusammenfassung | Römische Gladiatur in Germanien: Funde und Befunde (Katalog ausgewählter Stücke) | Literaturverzeichnis | Indices dIe AutorIn Barbara Dimde studierte Latein, Sport und Archäologie; Mitarbeiterin an Ausgrabungen in Nemea; Lehrtätigkeiten an den Universitäten Bonn, Hamburg, Köln und Athen.

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Kaja Harter-Uibopuu (Hg.)

Epigraphische Notizen Zur Erinnerung an Peter Herrmann HaMBurger stuDien zu gesellscHaften unD Kulturen Der vorMoDerne – BanD 6 2019. 280 Seiten mit 39 s/w-Abbildungen 978-3-515-12456-0 Kartoniert 978-3-515-12459-1 e-BooK

Am 23. Mai 2017 wäre der Hamburger Althistoriker Peter Herrmann 90 Jahre alt geworden. Er hat die griechische Inschriftenkunde weit über Deutschland hinaus nachhaltig geprägt. Dies nehmen Epigraphikerinnen und Epigraphiker zum Anlass, um in diesem Band die neuesten Forschungen zu Inschriften aus dem hellenistischen und kaiserzeitlichen Kleinasien zu präsentieren. Ein erster Schwerpunkt der Beiträge liegt in den Wirkungsstätten Peter Herrmanns, Sardes und Milet. Im zweiten Teil des Bandes werden neue Inschriften erstmals ediert und bekannte Texte grundlegenden Neulesungen unterzogen. Den Abschluss bilden mit thematischen Studien zu prosopographischen Fragen, Ehren und Stiftungen sowie dem Verhältnis zwischen Kaisern und Provinzen Themen, die Herrmann am Herzen gelegen hatten. So sollen – ganz in seinem Sinne – neueste wissenschaftliche Erkenntnisse der Erinnerung dienen.

Mit Beiträgen von Kaja Harter-Uibopuu, Georg Petzl, Norbert Ehrhardt, Hasan Malay & Marijana Ricl, Michael Wörrle, Angelos Chaniotis, Christof Schuler, Klaus Zimmermann, Christian Wallner, Mustafa Adak, Linda-Marie Günther, Werner Eck, Marietta Horster, Helmut Halfmann, Rudolf Haensch Die HerausgeBerin Kaja Harter-Uibopuu ist Professorin für Alte Geschichte an der Universität Hamburg und Vizesprecherin des Exzellenz-Clusters „Understanding Written Artefacts“. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen neben der griechischen Epigraphik vor allem die antike Rechts- und Verfassungsgeschichte sowie das Grabwesen und Grabrecht im griechischrömischen Kleinasien.

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So positiv das Etikett ‚Klassik‘ und ‚Klassiker‘ besetzt ist, so abschreckend wirkt das des ‚Klassizismus‘, scheint es doch Epigonalität und uninspirierte Regelfixiertheit zu signa­ lisieren. Ein Blick auf zwei den beiden Be­ griffen besonders affine Epochen aber zeigt, das ‚Klassik‘ und ‚Klassizismus‘ keine Oppo­ sitionen, sondern dialektisch­dynamisch verbundene Kategorien künstlerisch­litera­ rischer Selbst­ und Fremdzuschreibungen sind: Die römische Kaiserzeit, deren literari­ sches Schaffen der sogenannten augusteischen Klassik stark verpflichtet ist, und das italieni­

ISBN 978-3-515-12834-6

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7835 1 5 1 28346

sche sechzehnte Jahrhundert, in dem die pluralen Bezugnahmen der italienischen Renaissance auf die Antike systematisiert, poetologisch reflektiert und die Isolierung des Prinzips der Imitatio auch auf volks­ sprachliche Texte selbst übertragbar werden. Beide Epochen bilden nicht nur je eigene Klassiken und Klassizismen aus, sie zeigen auch, wie über Jahrhunderte hinweg Auto­ ritätssetzungen durch historische Rückbezüge funktionieren, zugleich aber neue Klassiker jenseits historischer Modellbildung entstehen können.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag