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German Pages 240 Year 2015
Anja K. Johannsen Kisten, Krypten, Labyrinthe
2008-02-22 10-16-55 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0302171630887364|(S.
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Anja K. Johannsen (Dr. phil.) studierte Germanistik und Philosophie in Berlin, Providence, Freiburg und Dublin. Sie ist derzeit Postdoktorandin im Fach Komparatistik an der Universität Paderborn und arbeitet als Organisatorin literarischer Veranstaltungen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Literaturtheorie, deutsch- und englischsprachige Gegenwartsliteratur, Geschichte und Gegenwart des Literaturbetriebs.
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Anja K. Johannsen Kisten, Krypten, Labyrinthe. Raumfigurationen in der Gegenwartsliteratur: W.G. Sebald, Anne Duden, Herta Müller
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Diese Arbeit wurde unterstützt durch die DFG (im Rahmen des Graduiertenkollegs Reiseliteratur und Kulturanthropologie an der Universität Paderborn), das Berliner Chancengleichheitsprogramm und den DAAD. Ich danke besonders dem Humanities Institute Ireland am University College Dublin für die herzliche Aufnahme im Herbst 2005.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Tanja Klemm, Berlin Lektorat & Satz: Anja K. Johannsen Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-908-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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INHALT
EINLEITUNG Raum als Welt- und Textmodell 7
Zur Auswahl der Autor/inn/en 8
Die Rezeption Sebalds, Dudens und Müllers 10
Raum in der aktuellen Theoriebildung 14
Positionen und Methoden zur Analyse literarisch konstituierter Räume 18
Räumlichkeit als literaturtheoretische Denkfigur 20
Vorgehensweise 22
W.G. SEBALD Metonymische Gedächtnisräume: Erinnerungs- und Erzählmodelle 25
Ruinen, Schädelstätten, Eislandschaften 50
Der »Setzkasten« der Geschichte: Allegorisierung und Nostalgisierung 91
ANNE DUDEN Diffusionen 109
Der Körper als Gehäuse 126
Transiträume 141
HERTA MÜLLER Figuren des Einschlusses und der Stillstellung 165
Räume aus Dingen und Körpern: relationale Anordnungen von Materie 180
Vergegenwärtigungen: eine texttheoretische Standortbestimmung 205
RESÜMEE 217
BIBLIOGRAPHIE 223
EINLEITUNG Raum als Welt- und Textmodell Kisten, Krypten, Labyrinthe. – Dass in dieser Studie die in der Prosa Sebalds, Dudens und Müllers präsenten Raumfigurationen fokussiert werden, beruht auf der Beobachtung, hier drei Werkkomplexe vorliegen zu haben, für die in hohem Ausmaß gilt, was Jurij Lotman zum »Problem des künstlerischen Raums« ausführt. Lotman hat mittels seiner Analysen russischer Lyrik exemplarisch vorgeführt, inwiefern literarisch konstituierte Räume nicht allein als Weltmodell fungieren, sondern auch zum »organisierenden Element« eines Texts werden können, »um das herum sich auch die nichträumlichen Charakteristiken ordnen«.1 Das meint Folgendes: Die Bedeutung der vielen Entwürfe und Beschreibungen von Räumen bei Sebald, Duden und Müller geht in zweifachem Sinne über die Etablierung eines Settings für die Handlung des Texts hinaus: Anhand dieser Räume entwirft der jeweilige Text nicht allein ein »Modell der Struktur des Raumes der ganzen Welt«,2 wie Lotman formuliert, sondern zugleich ein Modell seiner selbst. Die Texte beschreiben, wie im Einzelnen zu zeigen sein wird, auch ihr eigenes Funktionieren anhand dieser Raumfigurationen. Mit Dudens, Müllers und Sebalds Arbeiten liegen drei Varianten literarischer Selbstreflexion vor, drei stark poetologisch aufgeladene Werke, die auf je sehr spezifische Weise die Potentiale der Gegenwartsliteratur ausloten und sich innerhalb derer an prägnanten Punkten positionieren. Ausschlaggebend für den Entschluss, die Arbeiten der Autor/inn/en parallel zu lesen, ist zunächst die Überzeugung, die Poetik eines einzelnen Schreibenden nehme besonders in der Gegenüberstellung mit der anderer klare Formen an. Die Selbstbeschreibung eines Texts tritt vor allem dann konturiert hervor, wenn man sie im Verhältnis zu der anderer Texte betrachtet, die ihrerseits ebenfalls die Möglichkeiten der Literatur zu ermessen suchen. Stefan Braese formuliert im Band Chiffre 2000 – Neue Paradigmen der Gegenwartsliteratur, »die konkrete Virulenz einer poetologischen Entscheidung« gebe sich »erst in ihrem literatur- und dis1 2
Lotman 1972, 316. Lotman 1972, 316. 7
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kurshistorischen Kontext zu erkennen«.3 Die Zusammenschau dieser drei Prosawerke schafft also einen Kontext, in dem sich diese Virulenzen weitaus besser sichtbar machen lassen, als dies im Rahmen von Einzelanalysen möglich wäre. In der Konfrontation der teils sehr differenten Texte profilieren sich die Eigenheiten der poetologischen Entscheidungen des jeweiligen Autors bzw. der jeweiligen Autorin besonders deutlich. Gemeinsam ist allen hier zur Debatte stehenden Texten der häufige Einsatz räumlicher Figuren, die, den Thesen Lotmans entsprechend, eben jene Funktionen als Welt- sowie als Textmodelle erfüllen. Aufgrund dieser Doppelfunktion der Raumfigurationen verspricht eine Analyse derselben zu einer Textlektüre zu führen, die die Selbstreflexivität der Texte freisetzt, ohne dabei den Weltbezug dieser Literaturen aus dem Blick zu verlieren. Angestrebt wird insofern eine Lesart, die David E. Wellbery ohne Einschränkung folgen will, wenn er schreibt: Es geht [...] um eine Art der Lektüre, die auf die Selbstreferenz der Texte, auf ihre Einzeichnung der eigenen Schreibarbeit abhebt. Selbstreferenz ist nicht mit Selbstbespieglung gleichzusetzen. Sie ist von Fremdreferenz nicht zu entkoppeln, ja sie hat ihren Sinn nur in der Opposition (die eine Art der Zugehörigkeit ist) zu dieser. Weniger abstrakt gesprochen: eine Lektüre, die an Weisen der Selbstreferenz, der Selbsthinterfragung, der Selbstdarstellung interessiert ist, soll und muß auch die Weltentwürfe mit einbeziehen, die in den Texten vorgenommen werden. Weltkonzeption und Textkonzeption bedingen sich gegenseitig, und deren Zusammenspiel zeitigt ein hohes Maß an Varietät.4
Z u r A u s w a h l de r A u t o r / i n n / e n Bereits einige äußere Faktoren rücken die ausgewählten Autor/inn/en in eine gewisse Nähe zueinander. Der 2001 verstorbene W.G. Sebald, gebürtiger Allgäuer und Literaturprofessor im englischen Norwich, hatte, abgeschieden vom deutschen Literaturbetrieb, auf den britischen Inseln geschrieben. Herta Müller und Anne Duden sind ebenfalls zwar deutschsprachige Erzählerinnen, schreiben jedoch mit großem geographischen bzw. biographischen Abstand zur BRD: Auch Duden hält sich vorwiegend in Großbritannien auf, Müller wuchs als Angehörige einer der deutschsprachigen Minderheiten in Rumänien auf und lebt seit 1987 in Berlin. Aus dieser je spezifischen Distanz zur BRD heraus nehmen alle
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Braese 2005, 96f. Wellbery 2006, 234f. 8
EINLEITUNG
drei Autor/inn/en in ihren großenteils in den Neunzigern entstandenen Texten deutlich Bezug auf die deutsche Historie. Wie sehr allen dreien an dem Entwurf und der Ausformulierung einer eigenen Poetik gelegen ist, belegen die zahlreichen poetologischen Essays, die sie verfasst haben. Dass sie auch innerhalb des akademischen Betriebs explizit als Poetolog/inn/en gelten, zeigt sich schon daran, wie häufig man sie zu Poetikvorlesungen einlud; aus diesen Vorlesungen sind besagte Essays teilweise hervorgegangen. So war Herta Müller als eine der ersten Gastdozentinnen im Wintersemester 1989/90 in Paderborn,5 1998 hatte sie die Brüder-Grimm-Professur in Kassel und 2005 die neu errichtete Heiner-Müller-Gastprofessur für deutschsprachige Poetik an der FU Berlin inne.6 In den Jahren 2000 und 2001 hielt sie mehrere Vorträge im Rahmen der Tübinger Poetikdozentur.7 Anne Duden war bereits 1987 als Gastdozentin an der Uni Hamburg, im Jahr 2001 las sie als solche in Nottingham. Wie Müller war auch sie in Paderborn zu Gast – im Winter 1995/96 –, und im Jahr darauf eröffnete sie die damals neu gegründeten Poetikvorlesungen der Uni Zürich.8 Ein Jahr später trat dort W.G. Sebald ihre Nachfolge an.9 Die literarischen Arbeiten aller drei werden also von einer beachtlichen Anzahl von – nicht ausschließlich, aber auch poetologischen – Essays begleitet. Sowohl hinsichtlich dieser essayistischen Texte als auch der im engeren Sinne literarischen Arbeiten ist es oftmals schwierig, eine klare Genre-Zuordnung vorzunehmen; die Mischformen dominieren. Alle drei arbeiten an der Dekonstruktion traditioneller Formen, brechen mit herkömmlichen Darstellungsverfahren wie dem des epischen Erzählens, um neue Ausdrucksmöglichkeiten zu erproben, und stellen sich damit in die Traditionslinie der Moderne. Beispielsweise sind die Zweifel daran, ob der Text tatsächlich als Roman bezeichnet werden kann, hinsichtlich des Judasschafs von Duden genauso berechtigt wie in Bezug auf Sebalds Austerlitz. Ein Text wie dessen Logis in einem Landhaus ist kaum kate5 6
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Der Text Wie Wahrnehmung sich erfindet entstammt diesen Paderborner Vorlesungen. (Vgl. Müller 1990.) Den viel zitierten Essay Der fremde Blick oder Das Leben ist ein Furz in der Laterne, wiederabgedruckt in Der König verneigt sich und tötet (K 130-150), hatte Müller ursprünglich für die Kasseler Vorlesungen verfasst. Vier der Essays in Der König verneigt sich und tötet gingen aus diesen Vorträgen hervor. (Vgl. die Nachweise in K 203.) Der lange, mehrteilige Essay Zungengewahrsam im gleichnamigen Band basiert auf den in Paderborn und Zürich gehaltenen Vorlesungen. (Vgl. den Nachweis in Z 141.) Auf Sebalds Zürcher Poetikvorlesungen geht der Band Luftkrieg und Literatur zurück. (Vgl. Sebald 2001.) 9
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gorisierbar, ebenso wie einige der Arbeiten Dudens, die gemeinhin unter den Begriff der Kurzprosa subsumiert werden.10 Am geringsten waren diese Schwierigkeiten bis Ende der neunziger Jahre bezüglich der Texte Müllers, seit sie jedoch vornehmlich Text-Bild-Collagen produziert, hat sich auch dies geändert. Die Auswahl der Texte, mit denen hier gearbeitet wird, beschränkt sich auf die Prosawerke der drei Autor/inn/en. Anne Duden hat in den vergangenen Jahren fast ausschließlich Lyrik verfasst, und Herta Müller ist, wie erwähnt, in jüngster Zeit vor allem mit ihren unkonventionellen Collagen hervorgetreten; dennoch sollen hier ausschließlich die Prosaarbeiten in den Blick genommen werden. Das essayistische Werk aller drei Autor/inn/en sowie Sebalds langes Prosagedicht werden nur gestreift, wo sie die Lektüre der Prosa kommentierend ergänzen.
D i e R e z e p t i o n S e b a l d s , D u de n s u n d M ü l l e r s Schon lange war innerhalb der Germanistik keine so rasch vollzogene Kanonisierung mehr zu beobachten wie die der Literatur W.G. Sebalds, die sich mit phänomenalem Tempo in den vergangenen Jahren zuerst im angloamerikanischen,11 dann auch im deutschsprachigen Raum abgespielt hat. Bis vor einigen Jahren war Sebald ein kaum gelesener Autor. Zwar datieren vier seiner literarischen Buchveröffentlichungen bereits aus der Zeit von 1988 bis 1995,12 doch erst im Jahr 2001, in dem das Erscheinen von Austerlitz und der Unfalltod des Autors zusammenfielen, wandten sich das deutschsprachige Feuilleton und die literarisch interessierte Öffentlichkeit hierzulande diesem Autor mit gesteigerter Aufmerksamkeit zu. Im englischsprachigen Raum wurde Sebald bereits einige Jahre zuvor als literarische Entdeckung gefeiert, nachdem Susan Sontag Anfang 1996 im Times Literary Supplement anlässlich der englischen Übersetzung des Erzählbands Die Ausgewanderten von einem gar nicht zu überschätzenden literarischen Ereignis geschwärmt hatte.13 10 Vgl. Göttsche 2003. 11 Vgl. zum sagenhaften Erfolg Sebalds insbesondere in den USA Denham 2006. 12 Namentlich das Prosagedicht Nach der Natur von 1988, die Erzählbände Schwindel. Gefühle. von 1990 und Die Ausgewanderten von 1992 und schließlich der Reisebericht Die Ringe des Saturn von 1995. 13 So schrieb Sontag dort: »I know of no book which conveys more about that complex fate, being a European at the end of European civilization. I know of few books written in our time but this one which attains the sublime.« (Sontag 1997.) Im Jahr 2000 legte sie nach: »Is literary greatness still 10
EINLEITUNG
Diesen Umständen – d.h. der plötzlich auftretenden immensen Popularität des relativ schmalen Werks eines zeitgenössischen, aber bereits verstorbenen Autors deutscher Herkunft, der auf den britischen Inseln geschrieben hatte – ist wohl die ungewöhnliche, junge Geschichte der literaturwissenschaftlichen Sebald-Forschung geschuldet. Sowohl diesseits als auch jenseits des Atlantiks ist seit einigen Jahren ein Sebald-Boom in der Germanistik auszumachen, der zuweilen allerdings an den Bedingungen seines Entstehens zu kranken scheint: Es ist die Tendenz zu beobachten, Sebalds Prosa als einzigartige Ausnahmeerscheinung zu verstehen und sowohl Autor als auch Werk stark zu auratisieren. Hinlänglich erforscht wurde in den zahlreichen Veröffentlichungen der vergangenen Jahre, an welche literarischen und denkerischen Vorgänger und Vorbilder der Autor anschließt; so interessiert sich die Sebald-Forschung durchaus für die Konnexionen zwischen beispielsweise Sebald und Stifter, Sebald und Benjamin oder Sebald und Kafka. Kaum wird diese Prosa jedoch als Bestandteil der deutschsprachigen Literatur der neunziger Jahre wahrgenommen und im Kontext anderer zeitgenössischer Texte gelesen. Sehr große Teile der Germanistik begreifen die literarische Geschichtsbearbeitung Sebalds entsprechend als insulares Phänomen, anstatt sie auch als Teil eines literarischen bzw. kulturellen Gesamtgeschehens zu erfassen. Im Gegensatz dazu zeigt Anne Fuchs, die als einzige der Sebald-Forscher/innen mit ihrer 2004 erschienenen umfassenden Monographie eine, wie sie selbst formuliert, explizit »kritische Lektüre von Sebalds Geschichtsbild gegen den Strich der Textintention« vorgelegt hat,14 dass dessen literarische Erinnerungsarbeit weniger die Sisyphusarbeit eines Einzelkämpfers ist, der einsam gegen eine anhaltende Verdrängungskultur opponiert, als durchaus »Ausdruck der [...] obsessiven Erinnerungsexplosion der neunziger Jahre«.15 In dieser Studie werden keine weiteren diachronen Linien, die von Sebald zurück zu älteren Autoren führen, verfolgt – zumindest nicht vordergründig. Stattdessen wird anhand eines synchronen Schnitts eine Verortung der Texte innerhalb der zeitgenössischen Literatur geleistet. Die Konfrontation der in seiner Prosa virulenten Raumfigurationen mit denen Dudens und Müllers wird gerade jene blinden Flecken zu Tage fördern, die in Einzelanalysen meist verdeckt bleiben. Der Umfang der wissenschaftlichen Arbeiten zu Anne Duden ist nach wie vor von erstaunlich geringem Ausmaß. Erst im Jahr 2006 wurpossible? [... W]hat would a noble literary enterprise look like now? One of the few answers available to English-language readers is the work of W.G. Sebald.« (Sontag 2000.) 14 Fuchs 2004, 19. 15 Fuchs 2004, 165. 11
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de die bislang einzige Monographie zum Werk Dudens publiziert,16 und nur drei Jahre zuvor war der erste Sammelband, den britische Germanistinnen anlässlich der Gastdozentur Dudens in Nottingham herausgegeben haben, erschienen.17 Der größte Anteil bisheriger Veröffentlichungen – vorwiegend aus den neunziger Jahren stammende Einzelaufsätze und vier Buchveröffentlichungen, die Dudens Werk mit denen anderer Autorinnen, vornehmlich Bachmann, vergleichen18 – konzentriert sich auf die Zentralstellung des Körpers in ihrer Literatur. Motor dieses Schreibens, so die Grundthese dieser Arbeiten, sei der Versuch, die der Subjektkonstitution eingeschriebene Verdrängung des Körpers rückgängig zu machen und dem Körper selbst eine Stimme zu geben. Dirk Göttsche schreibt in seiner Analyse des mehrteiligen Essays Zungengewahrsam von 1999, in ihrem dortigen Rückblick auf die eigene Schreibgeschichte verbinde Duden eine »dezidierte Geste der Überschreitung jener Ästhetik weiblicher Schmerzerfahrungen, mit denen die Autorin ursprünglich bekannt geworden ist, [...] mit dem vielschichtigen Entwurf einer Poetologie, die zentrale Momente der europäischen Moderne« neu interpretiere.19 Auch die frühen Texte aber zeigen, wie zu sehen sein wird, dass die Überschreitung dessen, was Göttsche Ästhetik weiblicher Schmerzerfahrungen nennt, von Beginn ihrer Literaturproduktion an deutlich bemerkbar ist. Es geht bei Duden niemals allein um das Sichtbarmachen des leidenden weiblichen Körpers, sondern vielmehr um »eine hellwache Intensität gleichzeitig sinnlicher und intellektueller Wahrnehmung und ihrer Versprachlichung«, wie Göttsche bezüglich eines späteren Kurzprosatexts festhält.20 Dieser Versuch, eine intensivierte Perzeption, die die Beschränkungen gängiger Wahrnehmungsstrukturen attackiert, zu etablieren und in Erzähltechniken zu transformieren, wird in dieser Studie anhand der in den Texten virulenten Raumfiguren nachvollzogen. Der Prominenz des Körpers bei Duden wird auch dabei Rechnung getragen. Vernachlässigt wird allerdings der in der Forschung bislang so zentral gesetzte Gender-Aspekt zugunsten einer Fokussierung der ästhetischen, poetologischen Aussagen, die sich in den Raumfigurationen manifestieren. In der Forschungsliteratur sowohl zu Sebald als auch zu Duden spielen der Einsatz des Bildmaterials und entsprechend das Bild-TextVerhältnis eine entscheidende Rolle. In dieser Studie dagegen werden 16 Ludden 2006a. 17 Bartel/Boa 2003. 18 In der Reihenfolge ihres Erscheinens: Greuner 1990, Baackmann 1995, Frei Gerlach 1998 und Bird 2003. 19 Göttsche 2003, 20. 20 Göttsche 2003, 26. 12
EINLEITUNG
diese intermedialen Interferenzen und deren Funktion in der jeweiligen Prosa fast ganz ignoriert. In den Analysen zu Sebald bleibt dessen spezifischer Gebrauch photographischen und anderen bildlichen Materials gänzlich unkommentiert. In dem Teil des Buchs hingegen, der sich Duden widmet, ist am Ende ein kleines Kapitel den ›Bildräumen‹, die sie entwirft, gewidmet. Denn anders als Sebald nimmt Duden sehr häufig auch im Text selbst auf Bilder Bezug und bedient sich, wie zu zeigen sein wird, dabei einer spezifischen Raummetaphorik, die in engem Zusammenhang mit dem Selbstverständnis des Texts steht. Auch in der Rezeption Müllers gab es, ähnlich wie in der Dudens, in den vergangenen Jahren neue Impulse aus der britischen Germanistik. Betonten die Arbeiten zu Müller in den neunziger Jahren vornehmlich den politischen Impetus ihrer Prosa – mit einer gewissen Tendenz zum Biographismus – und die spezifische Bildlichkeit ihrer Sprache,21 so fällt in der neueren Forschungsliteratur ein fast schon inflationärer Gebrauch des Trauma-Begriffs auf.22 Damit einher geht m.E. die Gefahr einer neuerlichen Fokussierung der biographischen Aspekte der Prosa Müllers, die hier bewusst vermieden werden soll. Es ist nicht zu leugnen, dass in Müllers Literatur vielfach von Traumatisierungen erzählt wird; der Alltag ihrer Protagonisten ist häufig von Schikanen und Überwachung durch die Behörden und den Geheimdienst in der rumänischen Diktatur geprägt. Die Lebensumstände der Figuren haben diese schwer geschädigt und deren Welt- und Selbstwahrnehmung verändert. Interessant ist nun aber gerade, wie Müller, von den Prozessen der Wahrnehmungsveränderungen als Folge politischer und sozialer Repression ausgehend, zu Fragestellungen überleitet, die sich mit Wahrnehmungsstrukturen im Allgemeinen befassen und somit weit hinausreichen über die Thematik der spezifischen Situation politisch Verfolgter. Wo bei Müller nun Fragen der Wahrnehmung verhandelt werden, geschieht dies häufig anhand der Beschreibungen spezifischer Raumwahrnehmungen. Und wo immer ein Text sich mit Wahrnehmungsfragen auseinandersetzt, ist er bereits selbstreferentiell insofern, als er sich mit dem eigenen Bezug auf die außertextuelle Welt und mit der Transformierung des Wahrgenommenen in Beschreibung befasst. D.h. auch bei der Lektüre Müllers führt die Konzentration auf die Raumschilderungen direkt zu ästhetischen bzw. poetologischen Fragestellungen, und es wird sich zeigen, dass die Radikalität ihrer Darstellung von Räumen die Radikalität ihres Textverständnisses klar spiegelt.
21 Siehe v.a. Eke 1991a und Köhnen 1997a. 22 Vgl. Marven 2005a, Marven 2005b, Haines 2002 und Eddy 2000. 13
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Raum in der aktuellen Theoriebildung Meine Literaturanalysen fußen auf einem Modell von Raum, das diesen als Produkt sozialer und historischer Bezüge, medialer Repräsentationen und als Effekt körperlicher Praktiken versteht. Seit etwa einem Jahrzehnt ist eine Vielzahl von erfolgreichen Versuchen unternommen worden, Raum und Räumlichkeit neu zu denken und zu theoretisieren. Auf die zentralen, im Folgenden vorzustellenden Theoreme werden die Textanalysen in dieser Studie rekurrieren. Der topographical turn der Kulturwissenschaften23 wie der spatial turn der Geschichtswissenschaften24 sind längst zu Gemeinplätzen geworden, und auch die Soziologie hat sich erstmals wieder seit Georg Simmel und Émile Durkheim ausgiebig Fragen nach dem Wechselverhältnis von Raumkonstituierung bzw. -veränderung und Gesellschaft zugewandt.25 Die Vehemenz, mit der Konzeptionen des Raums in unterschiedlichste Diskussionszusammenhänge zurückgekehrt sind, fällt umso mehr auf, als die vorausgegangenen Dekaden gerade durch eine mangelnde theoretische Auseinandersetzung mit Raumkonzepten gekennzeichnet waren – ein Umstand, der sich, zumindest für den deutschsprachigen Kontext, aus der historisch bedingten Belastung des Begriffs erklärt. Lange Zeit noch war jede Rede vom Raum dem Generalverdacht ausgesetzt, mit derjenigen vom ›Volk ohne Raum‹, dem geopolitischen Großprojekt der Nationalsozialisten, ideologisch in Verbindung zu stehen. Deshalb fristete der Raum, wie Maresch und Werber in ihrem Band Raum Wissen Macht schreiben, »als theoretisch reflektierter Terminus jahrzehntelang ein kümmerliches Dasein«.26 Das hat sich mittlerweile gründlich geändert. Die Hinwendung der Theorie zum Raum lässt sich als Reaktion auf den kultur- und mediengeschichtlichen Prozess begreifen, der gewöhnlich unter den Begriffen Dynamisierung, Virtualisierung und De- bzw. Immaterialisierung gefasst wird – ein Prozess, den Lyotard als eine ›universelle Mobilmachung‹ be-
23 Weigel 2002. 24 Schlögel 2003, v.a. 60ff. 25 Siehe beispielsweise Schroer 2001, Bourdieu 1991, Läpple 1991. Eine umfangreiche, disziplinübergreifende Bibliographie zu aktuellen Raumkonzepten findet sich unter www.raumtheorie.lmu.de [01.11.2007]– siehe dort auch Jörg Dünnes Forschungsüberblick, eine erweiterte Fassung des Vorworts aus Dünne/Doetsch/Lüdeke 2004. 26 Maresch/Werber 2002, 12. 14
EINLEITUNG
schrieben hat.27 Im Kontext von Globalisierung und digitaler Vernetzung war zuerst verstärkt die Rede vom Verschwinden des Raums respektive der Physis,28 das von den einen, allen voran Paul Virilio, als apokalyptisch beklagt,29 von den anderen, vorwiegend den Cybertheoretikern, euphorisch begrüßt wurde.30 Für Dritte wiederum war die These von der Überwindung des Raums Anlass, zur Überprüfung derselben eine weniger aufgeregte Neutheoretisierung des allzu lange vernachlässigten Raumbegriffs zu beginnen.31 Insofern handelt es sich beim topographical turn gewissermaßen um eine paradoxe Figur: Vor allem die Rede von seinem Verschwinden hat den Raum zu einem der wichtigsten Themen der Theoriebildung werden lassen. Begleitet wurde diese Entwicklung, die zunehmende ›Mobilmachung‹, außerdem von der wachsenden Sorge um den Erhalt von Räumen, innerhalb derer trotz enormer Beschleunigungstendenzen kollektiv und individuell erinnert werden kann. So ist die seit den neunziger Jahren boomende Debatte um Erinnerungskulturen und -räume in Verbindung zu sehen mit der unaufhaltsamen Produktion neuer undifferenzierbarer ›Nicht-Orte‹, die sich mit Marc Augé als die Signaturen einer dynamisierten Welt verstehen lassen.32 In eine breitere öffentliche Diskussion ist der Raum also vornehmlich als mnemonisch apostrophierter zurückgekehrt. Obwohl das euklidische Modell des statischen, absoluten Raums innerhalb der Philosophie, der Zoologie und Anthropologie (Heidegger, von Uexküll, Plessner) und selbstredend in der Physik (Einstein) bereits in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts durch Neukonzeptionen von Raum ersetzt worden war, ist dieser Container-Raum nach wie 27 Vgl. Lyotard 1989. Der Begriff der Immaterialisierung ist insbesondere prominent geworden durch die von Lyotard konzipierte Ausstellung Les Immatériaux 1984/85 im Centre Pompidou in Paris. 28 Vgl. dazu Krämer 2002a. Krämer konstatiert: »Die Annahme, dass die Informatisierung der Lebenswelt eine Dematerialisierung bewirke, wird begleitet von einer Rhetorik des Verschwindens.« (Krämer 2002a, 49.) 29 Vgl. Virilio 1990. 30 Ein sehr plastischer Ausdruck dieser Begeisterung ist das Bonmot des Kybernetik-Pioniers Marvin Minsky, Professor am MIT, von der Überwindung der »blutige[n] Schweinerei organischer Materie«. (Zitiert nach Wertheim 2000, 6.) Es verbirgt sich hinter derlei Hoffnungen nichts weiter als das quasireligiöse Modell einer Transzendierung des Fleisches durch die Substituierung des empirischen Raums durch einen rein virtuellen. 31 So erklärt z.B. Georg Christoph Tholen: »Und es sind eben solche kulturkritischen Analysen zum Raum gewesen, genauer: zu seinem angeblichen Verschwinden, die mich irritierten, unbefriedigt ließen und zur Wiederlektüre von Kant und Heidegger drängten.« (Tholen 2003, 11f.) 32 Augé 1987. 15
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vor nicht komplett aus den Raumvorstellungen verschwunden. Der relationale, dynamisierte Raum hat den Behältnis-Raum nicht ganz abgelöst, sondern offensichtlich vielmehr überlagert; die »Reste dieses Raumverständnisses« sind, so das Handwörterbuch der Raumordnung, »auch im gegenwärtigen Denken noch vielfach lebendig. Beispielswiese deuten Formulierungen wie ›Wirtschaft im Raum‹ oder ›Raum und Gesellschaft‹ darauf hin, daß eine von den Gegenständen bzw. Inhalten abstrahierbare Raumexistenz angenommen wird.«33 Es mag erstaunen, mit welcher Beharrlichkeit sich jenseits des philosophisch-anthropologischen bzw. mathematisch-physikalischen Bereichs die Vorstellung des Raums als eines Behälters gehalten hat.34 Der ›Gefangenschaft‹ in traditionellen physikalischen Raumauffassungen ist Läpple zufolge auch das langjährige Zögern der Gesellschaftswissenschaftler geschuldet, sich der Herausforderung eines neuen, in anderen Wissenschaftsbereichen vorgedachten Raumverständnisses zu stellen.35 Erst in den vergangenen fünfzehn Jahren setzte sich auch in den Sozialwissenschaften langsam die Vorstellung eines dynamischen Raums durch. Entsprechend gilt innerhalb der Wissenschaften mittlerweile disziplinübergreifend als unbestritten, dass Raum keine natürliche Voraussetzung aller Kultur, sondern immer Produkt kultureller, sozialer und historischer Bezüge ist. Foucaults These, wir lebten »nicht in einer Leere, innerhalb derer man Individuen und Dinge einfach situieren kann«, sondern »in einem Raum, der mit Qualitäten aufgeladen ist, der vielleicht auch von Phantasmen bevölkert ist«36 – eine These, mit der er 1967 für Überraschung sorgte –, hinterfragt heute 33 Blotevogel 1995, 734. 34 Dieter Läpple schreibt: »Die alltäglichen Raumvorstellungen der meisten Menschen unserer Zivilisation sind mehr oder weniger stark ›kolonisiert‹ durch die Raumauffassung der klassischen Physik in der Form des dreidimensionalen euklidischen Raumes, obwohl dieses Raumkonzept mit seinen axiomatischen Bestimmungen – Homogenität und unendliche Ausdehnung – nicht in Einklang zu bringen ist mit unseren alltäglichen sinnlichen Raumerfahrungen in dem ›gelebten Raum‹.« (Läpple 1991, 36.) 35 Vgl. Läpple 1991, 36. – Edward Soja hatte bezüglich der gesellschaftswissenschaftlichen Vernachlässigung des Raums sogar von der despatialization während des 19. und 20. Jahrhunderts gesprochen. (Vgl. Soja 1989.) Der Kommentar Karl Schlögels dazu lautet: »Was an Edward Sojas und anderer Kritik an der ›Enträumlichung‹ wahr bleibt, ist dies: daß die Fragen des Raums aus dem Gesellschafts- und Geschichtsdenken verdrängt oder ausgelagert worden sind, so daß der Befund, den kritische Soziologen wie Allan Pred, Pierre Bourdieu, Henri Lefebvre oder Anthony Giddens am Ende des 20. Jahrhunderts gegeben hatten, durchaus seine Richtigkeit hat.« (Schlögel 2003, 51.) 36 Foucault 1993, 38 und 37. 16
EINLEITUNG
kaum jemand mehr. An die Stelle des euklidischen ContainerRaumkonzepts ist innerhalb der Wissenschaften nun kein einheitliches neues Raumbild getreten. Raum wird gegenwärtig vielmehr, so Christiane Funken und Martina Löw, »in jedem Fall [...] als relationales, multiples, netzwerkartiges Gebilde« begriffen.37 Nicht nur die Perzeption und Repräsentation von Räumen, sondern bereits ihre Konstituierung ist somit in Abhängigkeit zu denken von denen, die sich in ihm bewegen. Damit rückt der körperliche Aspekt nicht nur der Raumwahrnehmung, sondern schon der Raumgenese in den Mittelpunkt. Henri Lefebvre hatte bereits 1974 – damals ohne allzu großen Widerhall – behauptet, der Körper befinde sich »at the very heart of space«.38 Auch Michel de Certeaus Analysen aus den 1980er Jahren zeigen, dass Räume nicht nur als Produkte je spezifischer Wahrnehmungsmodi lesbar sind, sondern auch als Effekte körperlicher Praktiken wie beispielsweise des Gehens.39 In jüngerer Zeit nun rückt dieser Gedanke mehr und mehr ins Zentrum der Raumdebatten. So mutmaßt Bernhard Waldenfels, im Rahmen der »Revision der Raumauffassung, die seit langem im Gange ist«, sei »der Leib gerade der Dreh- und Angelpunkt, der eine Revision erfordert und ermöglicht«.40 Pierre Bourdieu, durch dessen Arbeiten diese Revision auch in größerem Ausmaß Einzug in die Sozialwissenschaften erhalten hat, konstatiert, die soziale Strukturierung des Raums vollziehe sich vornehmlich mittels Verlagerungen und Bewegungen der Körper, körperlicher Stellungen und Körperhaltungen.41 Und in Martina Löws Raumsoziologie, die den Ansatz Bourdieus weiterverfolgt und vertieft, gewinnt die körperliche Dimension als konstitutive Größe jeder Raumgenese und -wahrnehmung noch an Bedeutung: »Raum ist«, resümiert Löw, »nicht länger der starre Behälter, der unabhängig von den materiellen Verhältnissen existiert, sondern Raum und Körperwelt sind verwoben. Der Raum, das heißt die Anordnung der Körper, ist abhängig vom Bezugssystem der Beobachter.«42 Raum lässt sich nicht mehr unabhängig denken von den körperlichen Praktiken, die ihn generieren. Von Räumen zu sprechen, bedeutet insofern zwangsläufig, über Positionierungen und Bewegungen der Körper zu sprechen. Löws Rede von der Abhängigkeit des Raums vom Bezugssystem der Wahrnehmenden unterstreicht außerdem, wie wenig sinnvoll eine Differenzierung zwischen 37 Funken/Löw 2002, 71. 38 Lefebvre 1976, 159. 39 Vgl. de Certeau 1988, insbesondere den dritten Teil: »Praktiken im Raum«, 177-238. 40 Waldenfels 2001, 183. 41 Vgl. Bourdieu 1991, 27. 42 Löw 2001, 34. Hervorhebungen im Original. 17
KISTEN, KRYPTEN, LABYRINTHE
Raumkonstituierung und -perzeption ist; die Genese ist nicht als vorgängig zu denken, vielmehr fallen Wahrnehmung und Konstituierung in eins.
P o s i t i o n e n u n d M e t h o de n z u r A n a l y s e literarisch konstituierter Räume Wenn nun nicht erst der Beschreibung, sondern bereits der Perzeption von Räumen eine formende, figurierende Kraft eignet, wie ist dann die Spezifik von Räumen, die Gegenstand literarischer Darstellungen sind, d.h. der Sonderstatus textlich verfasster Räume zu beschreiben? Welcher Differenzierungen, welcher Festlegungen bedarf dies? Léroi-Gourhans Ausführungen zu den symbolischen Ordnungen des Raums fortführend,43 schlägt Wolfram Nitsch vor, zwischen primärer und sekundärer Modellierung des Raums zu differenzieren und demgemäß die ästhetischen Konstruktionen von Räumen als Gestaltungen zweiter Ordnung zu lesen.44 Das Handwerkszeug, d.h. die notwendigen Begrifflichkeiten, um »das anthropologisch Erschlossene philologisch zu wenden«, böten beispielsweise Lotmans Unterscheidung zwischen einem räumlichen Kulturmodell und dessen narrativer Erschütterung. Auch de Certeaus Differenzierung zwischen strategischer Raumorganisation und deren Unterwanderung oder diejenige Bachtins und Warnings zwischen historischem Ort und fiktionalem Chronotopos ließen sich hierfür nutzbar machen.45 Nitschs Hinweis auf die zweierlei Modellierungen von Räumen und die Unterscheidung von anthropologisch Erschlossenem und philologisch Gewendetem ist fraglos wichtig insofern, als dies vor Substantialisierungen in der Beschreibung von Räumen bewahren mag. Aber reicht das aus, um die Charakteristik literarischer Raumfigurationen zu erfassen? Einen Schritt weiter als Nitsch geht Karin Wenz in ihrer textsemiotisch ausgerichteten Dissertation, indem sie dessen Differenzierung um eine dritte Kategorie ergänzt.46 Wenz arbeitet mit den Begriffen Raum, Raumsprache und Sprachraum. Auch sie begreift jeden Raum als Ergebnis eines semiotischen Prozesses, ganz im Sinne einer primären Modellierung, die noch nichts mit einer ästhetischen Figuration zu tun hat. Un43 Leroi-Gourhan spricht im dritten Teil seines Buches Hand und Wort davon, dass jede symbolische Organisation des Raums bereits eine ästhetische Tätigkeit an der Grenze zur Figuration sei. (Vgl. Leroi-Gourhan 1984.) 44 Vgl. Nitsch 2004. 45 Nitsch 2004, 180. 46 Vgl. Wenz 1997. 18
EINLEITUNG
ter ›Raumsprache‹ versteht sie dann die ästhetisch geformte Präsentation des Raums, unter ›Sprachraum‹ die dem Text eigene Räumlichkeit. So brauchbar ihr Instrumentarium auf den ersten Blick auch wirken mag, scheint Wenz in erster Linie an der Frage interessiert, wie Raumwahrnehmung prinzipiell zu Sprache transformiert wird.47 Den literarischen Text zieht sie lediglich zur Untermauerung ihrer generellen Thesen heran, gesteht ihm insofern nicht ausreichend Eigenständigkeit zu und trifft keine wirklich originellen Aussagen zur Funktion literarischer Räume. Ebenfalls ein dreigliedriges Analysemuster gebraucht Gerhard Hoffmann in seiner umfassenden Studie zur Räumlichkeit im englischen und amerikanischen Roman. Hoffmann trennt zunächst »zwischen der Struktur des gelebten Raums der außersprachlichen Wirklichkeit und der des erzählten Raums«.48 Zentral für seine Untersuchungen ist allerdings vor allem die Rolle des Raums »als Konstituens der epischen Situation«,49 d.h. als strukturgebendes Element des Texts. Er hält also den ›außertextlichen‹ Raum, den ›innertextlichen‹ und die Funktion des innertextlichen Raums für den Textaufbau auseinander. Fraglos gelingt es Hoffmann, Strökers Konzeption überzeugend auf literarische Raumfigurationen zu übertragen und zu veranschaulichen, inwiefern die Raumentwürfe in Texten immer dazu dienen, die fiktionale Lebenswirklichkeit der jeweiligen literarischen Figur zu strukturieren und zu konturieren. Ihm geht es vor allem darum hervorzuheben, dass jeder Raum – ob faktisch oder fiktiv – als situativ bedingt und in Abhängigkeit vom erlebenden Subjekt gedacht werden muss. Letztlich gelangt er damit jedoch nicht über die Figurenperspektive hinaus und bekommt demgemäß mögliche andere Funktionen der Raumentwürfe gar nicht in den Blick. Anders nun als bei Wenz und Hoffmann sind die drei Ebenen von Räumlichkeit gefasst, die Elisabeth Bronfen in ihrer vor zwanzig Jahren vorgelegten Doktorarbeit Der literarische Raum unterscheidet.50 Bronfen nämlich – und hierin folgt diese Studie der ihren – lässt die faktischen Räume außerhalb des Texts ganz außer Acht. Ihr Interesse gilt weniger der Relation zwischen der sprachlichen Raumdarstellung und faktisch existenten Räumen als der multiplen innertextlichen Funktion literarischer Raumfigurationen. Sie unterscheidet zwischen in der Textwelt konkret vorhandenen, begehbaren Räumen, Raummetaphern und Texträumen. 47 Sie beobachtet zweierlei Strategien zur Linearisierung des mehrdimensional Wahrgenommenen, nämlich die imaginäre Wanderung und den Entwurf einer ebenso imaginären Karte. 48 Hoffmann 1978, 3. Er rekurriert hier auf Elisabeth Strökers Konzeption des gelebten Raums. (Vgl. Ströker 1965.) 49 Hoffmann 1978, 3. 50 Vgl. Bronfen 1986. 19
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Auch sie hält wie Hoffmann fest, die Konzeption und Semantisierung des jeweiligen Raums im Romantext korrespondiere stark der Haltung, Stimmung und Perspektive der wahrnehmenden Figur,51 geht aber von hieraus weiter. Denn in einem zweiten, dem Einsatz von Raummetaphern gewidmeten Schritt, zeigt sie, »wie räumliche Beschreibungen eine übertragene psychische und moralische Bedeutungsebene schaffen« – sie führt hier den Begriff der Psychotopologie ein52 –, d.h. inwiefern die »Raumsemantik als Ordnungsinstanz« im Text fungiert.53 Hiermit befindet sie sich deutlich in der Nähe von Lotman und dessen Anliegen, den Raum im Text als »organisierende[s] Element« zu beschreiben, »um das herum sich auch die nichträumlichen Charakteristiken ordnen«.54 Im dritten Teil ihres Buches dann wendet sich Bronfen den Analogien zwischen Text und Raum, zwischen Lektüre und Raumerlebnis zu. Es liege nahe, schreibt sie, den literarischen Text selbst als Raum zu begreifen aufgrund von dessen Eigenschaft, sich der chronologischen Ordnung zu widersetzen, sowie angesichts seiner Polysemie und des sich somit eröffnenden »Spielraum[s] an Bedeutungen«.55 Mit diesem letzten Schritt nun knüpft Bronfen, ohne dies zu explizieren, an die in der Literaturtheorie häufig anzutreffende Beschreibung der Literarizität des Texts als dessen Räumlichkeit an, wie im Folgenden genauer zu zeigen ist.
Räumlichkeit als literaturtheoretische Denkfigur In seinem 2004 erschienenen Bändchen Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz will Hans Ulrich Gumbrecht eine Lanze brechen für ein neues Verhältnis der Geisteswissenschaften zu ihren Gegenständen. Er kündigt an, »eine weithin institutionalisierte Tradition an[zu]fechten, der zufolge die Interpretation – also die Ermittlung und/oder die Zuschreibung von Sinn – die zentrale Praxis, ja die alleinige Zentralpraxis der Geisteswissenschaften« sei.56 Bezeichnenderweise umschreibt er die seines Erachtens an die Stelle der ›Sinnkultur‹ zu setzende ›Präsenzkultur‹ als ein »räumliches Verhältnis zur Welt«.57 Sowohl mit sei51 Vgl. Bronfen 1986, 165. 52 Siehe zum Gebrauch des Begriffs auch meine Ausführungen zu »Schachtelungsverfahren – Verräumlichung der Erinnerung« im Sebald-Kapitel, 25ff. 53 Bronfen 1986, 166. 54 Lotman 1972, 316. 55 Bronfen 1986, 352. 56 Gumbrecht 2004, 17. 57 Gumbrecht 2004, 11. 20
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ner Forderung als solcher, mit der er gegen längst geöffnete Türen anrennt, als auch mit seinem Einsatz des Räumlichkeitsbegriffs in diesem Zusammenhang wendet sich Gumbrecht weitaus weniger gegen den Strom, als vielmehr mit ihm zu schwimmen. Denn implizit knüpft er damit an eine Traditionslinie der poststrukturalistischen Theorie an, von der sich abzusetzen er hier vorgibt. In der poststrukturalistischen Literaturtheorie – gleich, ob bei Foucault, Kristeva, Derrida oder Deleuze – fällt immer wieder die Verwendung räumlicher Begrifflichkeiten zur Charakterisierung derjenigen Dimension eines Texts, die, um Gumbrechts Terminus zu gebrauchen, nicht von einer reinen Sinnkultur erfasst werden kann. Die gedankliche Figur, die diese Affinität von Text und Raum beschreibt, ist der groben Ausrichtung nach stets dieselbe und nimmt ihren Ausgang von Heidegger zum einen und der strukturalistischen Linguistik zum anderen. Der Zwischenraum, der Heidegger zufolge im Weltverhältnis des Menschen klafft und der jeder Form von Anschauung vorausgeht, bedingt eine originäre Unterbrechung im Weltzugriff des Menschen.58 Dieselbe Figur der Unterbrechung findet sich wieder im Verhältnis von Signifikant und Signifikat nach de Saussure: Wo das Zeichen als arbiträr und entsprechend nicht mehr als quasi-natürlicher Repräsentant des Bezeichneten gilt, öffnet sich ein Spalt zwischen Sprache und Welt, der niemals geschlossen werden kann; demgemäß ist jeder Sprachgebrauch ein gewissermaßen metaphorischer. Während der gängige, diskursive Sprachgebrauch diese grundlegende Metaphorizität der Sprache zu verbergen sucht, stellt derjenige der Literatur seit der Moderne den Illusionscharakter jedes sprachlichen Weltzugriffs aus und verweist damit auf die Fiktivität allen Sprechens und Schreibens. Anstatt die Arbitrarität und Polysemie des Zeichens zu verleugnen, spielt der literarische Text mit ihnen und nutzt sie, um eine andere, nicht-diskursive bzw. konterdiskursive Weise des Sprachgebrauchs zu etablieren. Genau diesen konterdiskursiven Weltbezug des literarischen Texts könnte man mit Gumbrecht nun als denjenigen bezeichnen, der Präsenz statt Sinn herstellt und sich der Interpretation widersetzt. Auch in der poststrukturalistischen Literaturtheorie wird diese Konterdiskursivität des literarischen Schreibens als Räumlichkeit der Sprache bezeichnet bzw. anhand räumlicher Figuren bebildert. So ist bei Foucault die Rede davon, dass dort, wo die Sprache sich selbst zu befragen beginne, d.h. ihm zufolge seit Mallarmé, ein »Zwischenraum« sichtbar werde und die Literatur ihren »eigenen Raum« eröffne.59 Sehr viel weiter holt 58 Vgl. Heidegger 1983. 59 Foucault 1974, 370 und 365f. Vgl. Derridas Rede vom espacement eines entre (Derrida 1972, 240). 21
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Kristeva aus, indem sie mit der semiotischen chora eine räumliche Figur entwirft zur Beschreibung dessen, was aus der diskursiven, der symbolischen Ordnung ausgeschlossen ist. Die chora (griech. für Land, Ort, Gegend) bezeichnet sie als einen »rhythmischen Raum – noch ohne Thesis und Setzung«,60 aus dem heraus erst der Prozess der Sinngebung erwächst und dem sich die Literatur in einer gegen die Begrenzungen der Ordnung andrängenden Bewegung wiederum annähert. Auch Deleuze/ Guattaris Konzept einer littérature mineure gebraucht räumliche Figuren, so zeichnet sich die ›kleine Literatur‹ durch ihren nomadischen, deterritorialisierenden Charakter aus.61 Die Reihung ließe sich fortsetzen – worum es geht, ist rasch klar: Der Lessingschen Rede von der »Zeitfolge« als dem »Gebiete des Dichters« konträr entgegengesetzt,62 versteht die neuere Literaturtheorie gerade die Räumlichkeit des literarischen Texts als dessen Charakteristikum und entdeckt in dieser räumlichen Dimension die konterdiskursive Kraft der Literatur, d.h. die Fähigkeit des literarischen Sprachgebrauchs, sich dem einsinnigen Bedeuten zu widersetzen.
Vorgehensweise Die dritte Ebene Bronfens, d.h. die eben erläuterte Affinität von literarischem Text und Räumlichkeit, soll nun hier nicht erneut beschrieben oder kommentiert werden, spielt aber insofern eine entscheidende Rolle, als es vornehmlich um die poetologische Dimension der innertextlichen Raumbeschreibungen gehen wird. Fraglos fußt die Ausgangsthese, die in den Prosatexten virulenten Raumfigurationen böten Aufschluss über das Selbstverständnis des jeweiligen Texts, ebenfalls auf der Annahme einer Verwandtschaft zwischen Raum und Text und ist insofern durchaus dieser poststrukturalistischen Denkfigur verpflichtet. Um zur poetologischen Dimension der Texte vorzudringen, wird auch hier mit drei Lesarten gearbeitet: einer topographischen, einer topologischen und schließlich der poetologischen Lektüre. Der Gebrauch der Termini Topographie und Topologie stützt sich dabei auf Lotmans Differenzierung.63 Während der Begriff der Topographie die – hier fiktiven – materiell gegebenen Räume der geographischen, aber auch der sozialen Umwelt meint, bezeichnet der der Topologie einen abstrakten Raum, der als eine gedankliche »Ordnung des Koexistierenden« aufgefasst werden 60 61 62 63
Kristeva 1971, 37. Vgl. Deleuze/Guattari 1976. Lessing 1974, 116. Vgl. Lotman 1974. 22
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kann,64 so die Formulierung Dagmar Reicherts. In einem topographischen Schritt wird also erst einmal Bestand aufgenommen, und die in den Texten anzutreffenden Raumtypen werden vorerst schlicht verzeichnet. In dem zweiten, topologischen Lektüreschritt ist zu entziffern, inwiefern diese einzelnen Raumtypen jeweils ein Bild von der ›Einrichtung der Welt‹, d.h. der »Ordnung des Koexistierenden« abgeben. In einem dritten, auf narrative Verfahren konzentrierten Schritt soll dann gezeigt werden, dass die zu analysierenden Raumfigurationen, genau wie Albrecht Koschorke bezüglich des Horizontmotivs gezeigt hat,65 auch formalen Charakters sind. D.h. sie sind strukturbildend für den Text, fungieren also, um noch einmal Lotman zu zitieren, als dessen »organisierende[s] Element« und reflektieren zugleich das jeweilige Selbstverständnis des Texts – womit der dritte Lektüreschritt benannt ist, auf den die beiden vorherigen hinzielen. Im Folgenden nun werden verschiedenste Raumfigurationen vorgestellt, wie beispielsweise das Labyrinth bei Sebald, die Krypta oder die Kiste bei Duden bzw. Müller, und deren im obigen Sinne multiple Funktion innerhalb des Texts analysiert. Die drei Lektüreschritte gehen dabei jeweils direkt ineinander über. Es ist im Vorausgegangenen erläutert worden, inwiefern Räume, dem Raumverständnis der gegenwärtigen Theoriebildung gemäß, nicht unabhängig zu denken sind von den körperlichen Praktiken, die sie generieren. Dass sich nicht über Raum reden lässt, ohne zugleich über Positionierungen und Bewegungen der Körper zu sprechen, wird auch in den Literaturanalysen selbst sichtbar. So spielen Fragen nach der Fortbewegung im Raum, nach Orientierung und Orientierungslosigkeit und nach der visuellen und sensorischen Raumwahrnehmung in allen Teilen der Studie eine wichtige Rolle, wenngleich die Rückschlüsse, die sich aus den in den Texten virulenten Raum-KörperRelationen auf das jeweilige Welt- und Textmodell ergeben, selbstredend deutlich variieren. Aufgabe der drei je einem/r der Autor/inn/en gewidmeten großen Kapitel ist es, die für die jeweilige Prosa spezifischen Funktionen der Raumfigurationen zu entziffern und diese Resultate zu einer Profilierung der jeweiligen Poetik zusammenzuführen. Gelegentlich werden dort zwar Querverbindungen zwischen diesen Kapiteln geschlagen, d.h. Vergleiche der poetolgischen Entscheidungen der Autor/inn/en angestellt und Differenzen aufgezeigt. Die eigentliche Zusammenschau und Engführung der Ergebnisse erfolgt jedoch erst im Resümee. Es wird sich zeigen, dass die Tendenz, Räume immer in Abhängigkeit von der sinnlichen Wahrnehmung und von körperlichen Praktiken zu denken, von Sebald über Duden 64 Reichert 1996, 18. 65 Vgl. Koschorke 1990. 23
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hin zu Müller stetig zunimmt. Anknüpfend an die Frage, welches Literaturverständnis dies jeweils impliziert, ist schließlich darüber nachzudenken, ob das Lotmansche Modell hinreicht, um zeitgenössiche Raum- und Textmodelle zu entschlüsseln, oder ob nicht dort, wo Raum und Körper in engem Verbund gedacht werden, Lotmans Raum-Text-Theorie revidiert und um neue Theoreme erweitert werden muss.
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W.G. S E B A L D Metonymische Gedächtnisräume: Erinnerungs- und Erzählmodelle Schachtelungsverfahren – Verräumlichung der Erinnerung Vermutlich wird jede Sebald-Lektüre hin und wieder von dem Bedürfnis begleitet, ein Blatt Papier zur Hand zu nehmen, um mithilfe eines Diagramms nachzuvollziehen, wie sich die einzelnen Episoden seiner Reiseerzählungen, die dazwischengefügten Anekdoten, die Figuren und Orte, an und von denen erzählt wird, zueinander verhalten. Festhalten möchte man, wo die Verbindungslinien verlaufen, um zumindest ein Mindestmaß an Überblick zu behalten. Was auf solcherlei Papieren entstünde, ergäbe zwar auf den ersten Blick fraglos ein heilloses Durcheinander, bei genauerem Hinsehen ließe sich allerdings eine gewisse Ordnung im Chaos entdecken, und bestimmte wiederkehrende Muster gäben sich zu erkennen. Im Folgenden werden zwei der räumlichen Muster, die in Sebalds Schreiben eine entscheidende Rolle spielen – namentlich die Schachtelung und das Labyrinthische – in ihren jeweiligen Funktionen auf den unterschiedlichen Textebenen in dieser Prosa ausfindig gemacht und beschrieben. Das Prinzip der Schachtelung ist in keinem anderen Text so dominant wie in Austerlitz; darum wird hier mit dem jüngsten längeren Text begonnen, bevor im Darauffolgenden die vorherigen in den Vordergrund rücken. Austerlitz, das letzte zu seinen Lebzeiten erschienene Buch Sebalds und sein einziger Text, der zu Recht Roman genannt wird,66 unterschei66 Im Jubiläumsjahr des Eichborn Verlags 2000 ist zwar unter dem Titel Drei Romane und ein Elementargedicht eine Kassette erschienen, die Die Ausgewanderten, Schwindel. Gefühle., Die Ringe des Saturn und Nach der Natur enthält. In allen anderen Ausgaben trägt Die Ausgewanderten jedoch den Untertitel Vier lange Erzählungen. Schwindel. Gefühle. versammelt ebenfalls, ohne dass ein entsprechender Untertitel dies bereits angäbe, vier eigenständige Prosatexte, und Die Ringe des Saturn kennzeichnet der Zusatz Eine englische Wallfahrt eher als Reisebericht. 25
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det sich insofern maßgeblich von seinen vorausgegangenen literarischen Texten, als hier erstmals die in sämtlichen Texten gleichermaßen melancholisch intonierte Stimme des Sebaldschen Ich-Erzählers67 zurücktritt hinter die eines Protagonisten, der Titelfigur Jacques Austerlitz. Sind es im »Elementargedicht« Nach der Natur, im Prosaband Schwindel. Gefühle. und im Reisebericht Die Ringe des Saturn größtenteils Figuren der Kulturhistorie wie Matthias Grünewald, Stendhal oder Thomas Browne, denen sich der Erzähler zuwendet, so wird in Die Ausgewanderten vor allem von den Biographien semi-fiktionaler oder fiktionalisierter Personen aus der Familie und dem Freundeskreis des Autors erzählt. In Austerlitz hingegen treffen die Leser auf einen durchweg fiktiven Protagonisten, der den Ich-Erzähler in seine Lebensgeschichte einweiht, die dieser wiederum an die Lesenden weitergibt. Die Erzählstimme der Figur Austerlitz ist nun keineswegs weniger melancholisch intoniert als die des Ich-Erzählers, doch in Austerlitz wird mittels dieser Figur der für Sebalds Texte charakteristischen Leidensdisposition ein expliziter Grund gegeben.68 Sie erklärt sich hier aus der Biographie der Figur, denn Austerlitz’ Geschichte, die er – die »Quintessenz aller Ausgewanderten«69 – dem namenlosen Ich erzählt, ist die eines Opfers des Nazi-Terrors. Es ist die Geschichte einer Exilierung und eines lebenslangen Exiliert-Seins.70 Nachdem Jacques Austerlitz, der als Architekturhistoriker an einem Londoner kunsthistorischen Institut angestellt ist, bei den ersten Begegnungen mit dem Erzähler Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre fast ausschließlich von baugeschichtlichen und niemals von persönlichen Belangen gesprochen hat, beginnt er, als sie sich in den Neunzigern wiedersehen, seinen autobiographischen Bericht. Nachdem er die längste Zeit seines Lebens selbst im Unklaren über seine Herkunft gewe67 Wegen der Abwesenheit von Unterscheidungsmerkmalen, insbesondere der offensichtlichen stilistischen Homogenität der Rede des jeweiligen IchErzählers in den Texten Sebalds, werde ich – wie in der Sebald-Forschung ohnehin üblich – ausschließlich von dem einen Sebaldschen Ich-Erzähler sprechen und nicht zwischen den Erzählern der einzelnen Prosawerke unterscheiden. (Vgl. dazu Niehaus 2006, 177f.) 68 Vgl. Niehaus 2006 und Niehaus 2008. Der Band, in dem sich der Aufsatz von 2008 befindet, war zur Zeit der Drucklegung noch nicht erschienen. Ich zitiere deshalb hier und im Folgenden aus dem Manuskript, das Michael Niehaus mir freundlicherweise hat zukommen lassen, ohne die Angabe von Seitenzahlen. 69 Niehaus 2006, 186. 70 Sven Meyer hat im Bezug auf Die Ausgewanderten auf die Signifikanz des vom Partizip Perfekt abgeleiteten Substantivs hingewiesen. (Vgl. Meyer 2003, 78.) In diesem Sinne wird hier vom Exilierten, nicht vom Exilanten gesprochen. 26
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sen war, hat er in der Zwischenzeit seine ihm bis dato unbekannte Kindheitsgeschichte und die Geschichte seiner jüdischen Eltern bruchstückhaft rekonstruiert. Im Romantext, d.h. in dem Bericht des Erzählers, finden sich, ineinander verschachtelt, dessen Erzählung von seinen Begegnungen mit Austerlitz, in diese eingebettet Austerlitz’ Schilderung der Rekonstruktion seiner Geschichte sowie innerhalb derselben – in Fragmenten – die rekonstruierte Geschichte selbst. Diese Verschachtelung bzw. Staffelung der Erzählebenen stellt fraglos das markanteste narrative Verfahren des Romans dar. Ein beträchtlicher Teil der Versuche eines erinnernden Mit- bzw. Nachvollzugs des Geschehens, sowohl in Bezug auf Austerlitz’ Wiederauffinden seiner Kindheitsgeschichte als auch auf den Nachvollzug der Geschichte des erwachsenen Austerlitz durch den Erzähler, manifestiert sich im Text anhand der unternommenen Reisen. Jede der für das Romangeschehen ausschlaggebenden Reisen ist der Nachvollzug einer anderen, vorausgegangenen Bewegung. Der Erzähler ist unterwegs in den Spuren Austerlitz’ und sucht die Orte auf, von denen dieser ihm berichtet hat. Austerlitz selbst folgt den Spuren seiner Vergangenheit und der seiner Eltern, d.h. der deportierten Mutter nach Theresienstadt und dem verschollenen Vater nach Paris. Schließlich wiederholt er die eigene Reise ins Exil von Prag durch Deutschland nach Hoek van Holland und von dort hinüber nach England und legt somit die Wegstrecke noch einmal zurück, auf der er 1939 als Vierjähriger mit einem Kindersondertransport nach London gelangt war. Obgleich Austerlitz auf diesen Reisen von zahlreichen Erinnerungen überwältigt wird und in Vera auf eine Zeugin seiner frühen Prager Kindheit trifft, die viele dieser Erinnerungen bestätigen und durch eigene ergänzen kann, löst dies die Frage nach seiner ihm selbst so lange Zeit verborgenen Identität nur äußerst oberflächlich durch die Klärung der groben Fakten. Zu einem Abschluss kommen kann seine Erinnerungsarbeit nicht. Vielmehr verrätseln sich im Laufe des Romans Eigenarten, Strukturen und Funktionsprinzipien der geschilderten Erinnerungsprozesse zunehmend, und viele der Monologe Austerlitz’ kreisen um die unerklärlichen Eigenheiten des menschlichen Erinnerungsvermögens im Allgemeinen und seines eigenen im Besonderen. Anne Fuchs schreibt, Austerlitz sei ein Text, »für dessen Gesamtkonzeption der Begriff der Erinnerung als potentiell infinite Spurensuche entscheidend ist«.71 Geleitet wird diese Spurensuche weitaus weniger von recherchierbaren historisch dokumentierten Fakten als von »vorrationalen Erinnerungsresten, imaginären Korrespondenzen und gespenstischen
71 Fuchs 2004, 41. 27
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Fantomen«,72 wie Fuchs weiter ausführt. Anhand der Erinnerungsarbeit Austerlitz’ präsentiert Sebald somit ein Modell des Erinnerns, das dem historiographischen Modell eines rational geleiteten, linearen Nachvollzugs vergangener Ereignisse konträr entgegensteht. Es ist mehrfach nachgezeichnet worden, wie deutlich sich in Sebalds Literatur dessen Auseinandersetzung mit den von Freud, Benjamin und Warburg entworfenen Gedächtnismodellen niederschlägt.73 Die Erinnerungstätigkeit der Figuren sowie des Erzählers in sämtlichen seiner Texte wird nirgends als authentische Rekonstruktion des Vergangenen, sondern prinzipiell als produktiver Akt gefasst, wodurch die vermeintlich klaren Grenzen zwischen Faktizität und Fiktionalität, zwischen Authentizität und Täuschung fragwürdig werden. Das zeigen die Texte, wie in der Forschungsliteratur nachzulesen, indem sie mnemonische Prozesse mittels verschiedener Verfahren – insbesondere des Einsatzes von Bildmaterial, inter- wie intratextuellen Verweisen und Zitaten – gerade in ihrer nicht-linearen Struktur ansichtig werden lassen. Was hier nun genauer besehen werden soll, ist die Eigenart Sebaldscher Texte – und hier allen voran Austerlitz –, die im Text virulenten Erinnerungsmodelle anhand räumlicher Figuren auszustellen und zu reflektieren. Dies geschieht im Romantext auf zweierlei Ebenen: Zum einen ist sehr häufig von konkreten Räumen die Rede, von städtischen Räumen, Innenräumen, Gebäuden, insbesondere Bahnhofsgebäuden, anhand derer Sebalds Erinnerungsmodell und Geschichtsverständnis reflektiert werden. Zum anderen aber werden die hier verhandelten Strukturen der Erinnerung anhand der narrativen Techniken der Schachtelung bzw. Staffelung der Erzählinstanzen, d.h. anhand von Verfahren, die räumliche Figuren nachbilden, auch erzähltechnisch nachmodelliert. Diese beiden im Text selbstredend eng verwobenen, hier aber zu Analysezwecken getrennten Ebenen, werden im Folgenden nun in zwei Schritten untersucht. Vorauszuschicken sind allerdings einige Bemerkungen über die zahlreichen – der Begriff wird hier in Anlehnung an Bronfen gebraucht74 – psychotopologisch lesbaren Räume. Unter psychotopologisch lesbaren Räumen sind jene im Text beschriebenen konkreten Räume zu verstehen, deren Beschreibungen als 72 Fuchs 2004, 41. Zum Begriff des Phantoms vgl. Fuchs 2004, 43 und deren dortige Referenz auf Nicolas Abraham. Das Phantom, so Abrahams These, schließe keine Lücke, sondern mache das Vorhandensein der Lücke ansichtig. 73 Siehe z.B. Weber 2001, Meyer 2003, Öhlschläger 2003 und Veraguth 2003. 74 Vgl. in der Einleitung den Abschnitt »Positionen und Methoden zur Analyse literarisch konstituierter Räume«, 18ff. 28
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metaphorische Schilderungen der psychischen Verfasstheit derjenigen Figuren entzifferbar sind, die mit diesen Räumen in Zusammenhang stehen. Die Trostlosigkeit der im Predigerhaus verbrachten Kindheitsjahre schlägt sich beispielsweise deutlich in der Deskription der Räumlichkeiten selbst nieder. Von diversen immerzu verschlossenen, gänzlich ungenutzten und anderen, nur spärlich möblierten Zimmern ist die Rede, von niemals geöffneten, vereinzelt sogar zugemauerten Fenstern, von permanenter Kälte und dem im gesamten Gebäude herrschenden Schweigen. »[D]ieses unglückliche Haus« (A 69), wie Austerlitz es nennt, spiegelt die mentale Verfassung der wortkargen, emotional erstarrten Pflegeeltern und des einsamen Kindes wider. Die trüben Lichtverhältnisse im Haus seien es gewesen, resümiert Austerlitz, wodurch letztlich jedes Selbstgefühl in ihm ausgelöscht (vgl. A 69) und er in jenen erinnerungslosen Dämmerzustand versetzt wurde, aus dem er sich in den darauffolgenden dreißig, vierzig Jahren kaum mehr zu befreien vermochte. Paradiesischer Gegenort zum Predigerhaus ist Andromeda Lodge, das Anwesen der Fitzpatricks mit seinem märchenhaften Garten und den Naturalienkabinetten in den Innenräumen (vgl. A 122f.), mit seiner obskuren Ausstattung und der mystischen Atmosphäre ähnlich unwirklich anmutend wie die bloße Existenz eines solchen bergenden, beglückenden Orts in Austerlitz’ glückloser Biographie. Als ähnlich spartanisch wie das Predigerhaus dagegen beschreibt der Erzähler Austerlitz’ Londoner Wohnung, in der sich wiederum kaum Mobiliar findet, weder Vorhänge noch Teppiche gibt es, »nur graue Bodenbretter und Wände« (A 176). Der Mangel an Einrichtungsgegenständen in dieser Wohnung reflektiert Austerlitz’ »nur provisorisch eingerichtete[s] Leben« (A 64). Michael Niehaus erläutert, beinahe sämtliche Wohnungen, die bei Sebald eine Rolle spielen, seien ausschließlich »Behausungen«, nicht aber Teil eines sozialen Umfeldes, eines Milieus. Die Figuren seien ebenso wenig in ihren Wohnungen und Häusern eingerichtet, wie »sie in ein schützendes Netz institutionalisierter Verhaltensweisen eingelassen« seien.75 Selbst für diejenigen Figuren, die sich niemals vom Fleck bewegt haben, gelte somit, dass sie in quasi ontologischem Sinne Reisende seien, weil sie sich niemals niederlassen und ›einrichten‹ können in einer Lebensform. In unmittelbarem Zusammenhang damit steht fraglos Austerlitz’ »Bahnhofsmanie« (A 53). Dessen anfänglich als rein berufliches Interesse interpretierbare Obsession für Bahnhofsgebäude, insbesondere Wartesäle, erklärt sich schließlich als durch seine frühe Exilierung begründet. Doch bereits bevor die Erinnerung an seine Kindheit zurückkehrt, d.h. noch in der ersten Phase der Bekanntschaft zwischen den beiden Männern, bekennt Austerlitz dem Erzähler gegenüber, schon in seiner Pariser 75 Niehaus 2008 (s. Anmerkung in Fußnote 68). 29
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Zeit während der vielen Stunden, die er dort auf den Bahnhöfen zubrachte, häufig »in die gefährlichsten, ihm ganz und gar unbegreiflichsten Gefühlsströmungen geraten« (A 53) zu sein. Die zahlreichen im Text relevanten Bahnhofsgebäude in Antwerpen, Prag, London und Paris bilden nun aber nicht allein ein »gothic setting«, sondern in der Beschreibung derselben manifestiert sich die »den Roman strukturierende Verräumlichung der Erinnerung« selbst.76 Das gilt insbesondere für die Schilderung des Ladies Waiting Room in der Liverpool Street Station, des zweifellos signifikantesten zu einem Bahnhof gehörigen Raums im Roman. Auch dieses Kernstück des Texts, in dem Austerlitz erzählt, wie er durch eine Art mystischer Entrückung die erste bruchstückhafte Erinnerung an seine frühe Exilierung wiedererlangt, besitzt wiederum eine deutlich psychotopologische Dimension. Das wird dort am offensichtlichsten, wo Austerlitz sagt, es habe ihn während der in diesem Wartesaal verbrachten Minuten oder Stunden schließlich die Frage zu quälen begonnen, ob er »in das Innere einer Ruine oder in das eines erst im Entstehen begriffenen Rohbaus geraten war« (A 199). Denn nicht nur bezüglich des sich damals im Umbau begriffenen Bahnhofsgebäudes selbst ist dies gewissermaßen »beides richtig gewesen« (A 199), sondern auch in metaphorischer Hinsicht: Austerlitz’ Erlebnis im Ladies Waiting Room ist ja lesbar als Eintritt in sein eigenes Inneres, insofern reflektiert der ambivalente Zustand der Räumlichkeiten den mentalen Zustand des Protagonisten. Er selbst ist zu diesem Zeitpunkt Ruine und Rohbau in einem, auf der einen Seite dem Zusammenbruch näher als je zuvor, auf der anderen jedoch erst ganz am Beginn der Rekonstruktion seiner Geschichte stehend. Daraus resultiert sein Empfinden, »jetzt erst geboren zu werden, gewissermaßen am Vortag meines Todes« (A 202). Die Dimension der Passage nun, die zu der Verräumlichung von Erinnerungsstrukturen hinführt, deutet sich bereits in den vorangestellten Ausführungen zur Lokalhistorie des Areals an, auf dem sich der Bahnhof befindet. Austerlitz’ Erläuterungen beschreiben dieses als einen Ort, an dem die Vergangenheit, wie Fuchs formuliert, ein »subkutanes Leben« führt, das die strikte Trennlinie zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem perforiere und somit eine Vision von Geschichte »als ein sich ins Unendliche weiterspinnendes Netzwerk von Beziehungen« entfalte, welche »die Opposition von Synchronie und Diachronie zugunsten der Kopräsenz der Zeiten« letztlich aufhebe.77 Alle ehemals auf dem Bahnhofsgelände lebenden Personengruppen, die Austerlitz aufzählt, scheinen 76 Fuchs 2004, 47. Vgl. auch Kilbourn 2004, 141: »In short: it is only through recourse to highly visual and spatial topological systems that memory in Austerlitz becomes conceivable, let alone representable in textual form.« 77 Fuchs 2004, 48 und 54. 30
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hier auf gewisse Weise noch anwesend zu sein, die Schlittschuhläufer auf den Sumpfwiesen wie die Ordensbrüder und -schwestern, die Bewohner der Elendsquartiere wie die Insassen des Spitals Bedlam (vgl. A 190f.). Anders als in der an späterer Stelle im Roman stehenden Beschreibung des Pariser Geländes, auf dem sich die Neue Nationalbibliothek befindet, entsteht hier der Eindruck eines Zugleichs verschiedener Zeiten im Text gerade nicht durch den Gebrauch eines Beschreibungsparadigmas, das an einem stratifikatorischen Modell orientiert ist.78 Denn hier, an der Liverpool Street Station, scheint jede Schichtung aufgehoben. Das zeitliche Nacheinander wird nicht durch ein räumliches Aufeinander wie im Schichtenmodell ersetzt, sondern jegliche Ordnung, die eine Unterscheidung verschiedener Zeiten zuließe, ist aufgehoben (vgl. A 195f.). Nicht allein die lokalhistorisch mit dem Ort verbundenen Figuren der Vergangenheit sind in dieser Textpassage alle gleichermaßen anwesend; nach Eintritt Austerlitz’ in den Wartesaal selbst gerät ihm die Begegnung mit diesem Raum zur Begegnung mit der eigenen Biographie: Neben der viel zitierten mémoire involontaire an die Abholung durch das Predigerehepaar vor über fünfzig Jahren scheinen auch diverse andere Ereignisse aus den seither vergangenen Jahrzehnten in diesem Raum gespeichert zu sein und hier ansichtig zu werden. Beispielsweise wird auch Marie de Verneuil hier ein erstes Mal erwähnt. Eingebettet sind diese eruptiven, flashback-artigen Erinnerungen in die Vision eines Raums, die vom faktischen Raum des Ladies Waiting Rooms ihren Ausgang nimmt: In der Mitte des leeren Wartesaals stehend, starrt Austerlitz in die Höhe und imaginiert einen sich unendlich fortsetzenden Raum, in dem unterschiedlichste unvereinbare Raumelemente kombiniert zu sein scheinen (vgl. A 198). Trotz der Weitläufigkeit des sich ins Unendliche verlängernden visionären Raums aber scheint dieser keinerlei Ausgang zu bieten. Letztlich ist er trotz seiner Unermesslichkeit ein in sich verschlossener. Austerlitz erzählt: [J]e länger ich, den Kopf schmerzhaft zurückgezwungen, in die Höhe hinaufstarrte, desto mehr kam es mir vor, als dehnte sich der Innenraum, in welchem ich mich befand, als setzte er in der unwahrscheinlichsten perspektivischen Verkürzung unendlich sich fort und beugte sich zugleich, wie das nur in einem derart falschen Universum möglich war, in sich selber zurück. (A 198f.)
Diese Raumvision, die die darauffolgenden Rückblenden vorbereitet, liest sich als räumliche Darstellung des Erinnerungsvermögen selbst: So wie sich dieser Innenraum immer weiter hinausdehnt und fortsetzt, führt 78 Vgl. meine Ausführungen zu »Schädelstätten vs. Eislandschaften – die ›Naturgeschichte‹ und deren Stillstellung«, 68ff. 31
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der Text jeden Erinnerungsvorgang als unabschließbaren und unendlich verzweigten Prozess vor. Diese Verzweigung und Verkettung führt letztlich jedoch nicht ins Offene – der Raum beugt sich »in sich selber zurück« –, sie ermöglicht kein Entkommen aus dem »Verlies«, die Gefängnisvision mutet nur kurzzeitig wie eine Befreiungsvision an (vgl. A 199). Die Anordnung, in der die erinnerten Figuren in diesem visionären Raum auftreten, wiederholt diejenige des Raums selbst: Austerlitz erzählt von »Erinnerungsfetzen«, die zuerst durch die »Außenbezirke [s]eines Bewusstseins« (A 199) treiben, um dann immer deutlicher hervorzutreten in ihrer endlosen Verkettung, Verzweigung und Verschachtelung. Hinter den Erinnerungen verbergen »sich viel weiter noch zurückreichende Dinge [...], immer das eine im andern verschachtelt, gerade so wie die labyrinthischen Gewölbe, die ich in dem staubgrauen Licht zu erkennen glaubte, sich fortsetzten in unendlicher Folge« (A 200). Bruchlos lässt sich dieser Beschreibung jener wohl meistzitierte, an anderer Stelle im Roman zu findende Kommentar Austerlitz’ anfügen, in dem er seiner generellen Skepsis gegenüber einer zeitlichen Ordnung der Geschehnisse Ausdruck gibt: Es scheine ihm nicht, sagt er, daß wir die Gesetze verstehen, unter denen sich die Wiederkunft der Vergangenheit vollzieht, doch ist es mir immer mehr, als gäbe es überhaupt keine Zeit, sondern nur verschiedene, nach einer höheren Stereometrie ineinander verschachtelte Räume, zwischen denen die Lebendigen und die Toten, je nachdem es ihnen zumute ist, hin und her gehen können [...]. (A 269)
Die Überzeugung des Protagonisten, das Vergehen der Zeit sei grundsätzlich illusionär, konkretisiert sich im Ladies Waiting Room. Das Erlebnis hier wird ihm gewissermaßen zu deren Beweisstück: Nichts ist wirklich vergangen, »alle Stunden [s]einer Vergangenheit« (A 200) haben hier im Wartesaal, unverändert gespeichert, auf ihn gewartet. Christopher C. Gregory-Guider bemerkt, die ›stereometrischen Momente‹ in Austerlitz – in Reinform das Schlüsselerlebnis hier in der Liverpool Street Station – seien von zweierlei Deformationen des konventionellen Raum-Zeit-Verhältnisses gekennzeichnet. So werde in den entsprechenden Passagen nicht allein eine Überlagerung disparater Zeiten und Räume, sondern zugleich eine Verräumlichung der Zeit vorgeführt. GregoryGuider spricht von einer »spatialization of time such that the past is visible (perhaps even visitable) as a distant point on a physical plane«, die Vergangenheit wird gewissermaßen ›begehbar‹.79
79 Gregory-Guider 2005, 437. Ein anderes stereometrisches Moment ist Gregory-Guider zufolge beispielsweise die Gemeinde von Llanwddyn in 32
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Natürlich ist diese Kopräsenz der Zeiten in Austerlitz’ Weltwahrnehmung psychologisch-biographisch begründbar. Er selbst bekennt an anderer Stelle, dass er sich »gegen die Macht der Zeit stets gesträubt und von dem sogenannten Zeitgeschehen [...] ausgeschlossen habe, in der Hoffnung [...], daß die Zeit nicht verginge, nicht vergangen sei, daß ich hinter sie zurücklaufen könne, daß dort alles so wäre wie vordem« (A 152). Austerlitz’ gebrochenes Verhältnis zur Macht der Zeit, das ja bereits zu Beginn des Romans in seinen weit schweifenden Betrachtungen zum Verhältnis von Raum und Zeit im Buffetsaal des Antwerpener Bahnhofs Niederschlag findet, erinnert sehr stark an Sebalds Ausführungen zur Erinnerungsstruktur Traumatisierter. Bezug nehmend auf William Niederlands psychiatrische Arbeiten schreibt Sebald in einem seiner Essays zu Améry, die Erfahrung des Terrors bewirke die »Dislokation auch in der Zeit«, denn für die Opfer sei »der Rahmen der Diachronie gesprengt [...], der rote Faden der Zeit zerrissen« (CS 153f.). Mit Austerlitz setzt Sebald eine Figur ein, deren frühe traumatisierende Exilierung die ›Störung‹ seines Erinnerungsvermögens durchaus plausibel erklärt. Die Funktion der Figur Austerlitz’ und – als deren Schlüsselerlebnis – des Ereignisses in der Liverpool Street Station erschöpfen sich jedoch keineswegs darin, die massiven psychischen Folgen einer Traumatisierung darzustellen. Michael Niehaus erklärt, um die Relevanz der Szene im Ladies Waiting Room ganz erfassen zu können, sei es zwingend notwendig, die psychologische durch eine »topologisch-institutionelle« Lektüre zu ergänzen. Was versteht er darunter? Ausgehend von der Beobachtung, dass prinzipiell jede Beziehungsebene in den Texten Sebalds fehlt,80 konstatiert Niehaus, »an die Stelle des sozialen Anderen, der für die Figuren ausgefallen ist, tritt die Andersheit der Orte, der Gebäude, denen sie auf der Reise begegnen«.81 Markanterweise seien diese Orte fast ausnahmslos transitorische Orte,82 vornehmlich Bahnhöfe, Wartesäle
der Unterwasserwelt, die Austerlitz sehr viel realer vorkommt als die ihn umgebenden Lebenden. 80 Vgl. zur fehlenden Beziehungsebene auch Klüger 2003. 81 Dieses und die folgenden Zitate aus Niehaus 2008 (s. Anmerkung in Fußnote 68). 82 Niehaus selbst gebraucht hier Augés Begriff des Nicht-Orts, merkt allerdings selbst an, dass dessen Verwendung in diesem Zusammenhang problematisch sei. Ihm geht es um die Definition des Nicht-Orts als eines Orts, der dem Subjekt, das sich vorübergehend an ihm aufhält bzw. ihn durchquert, keinen Platz zuweist. Der Nicht-Ort hat für das Subjekt insofern keinerlei stabilisierende Funktion. In diesem Sinne ist der Begriff zur Kategorisierung der Sebaldschen Orte sicherlich verwendbar; dennoch scheint er mir nicht ganz passend hier, ist doch bei Augé die Geschichtslosigkeit das 33
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und Hotelräume, Orte also, die dem sich an ihnen aufhaltenden Subjekt keinerlei Möglichkeit bieten, sich niederzulassen, sich zu institutionalisieren, wie Niehaus mit Bezug auf Arnold Gehlens Begriff der Institutionalisierung formuliert. Austerlitz nun trete aber durchaus in Beziehung zu diesen transitorischen Orten, indem er Skizzen der Bahnhofsgebäude anfertigt, sich mit ihrer Historie befasst, sie in aller Ausführlichkeit beschreibt usf. Entscheidend sei nun, dass sich auch die Aufhebung seiner Anamnese in einem solchen transitorischen Raum ereigne. Ausgehend von Austerlitz’ »Gedanken, [...] jetzt erst geboren zu werden, gewissermaßen am Vortag meines Todes« (A 202), fragt Niehaus, »wie kann er davon sprechen, erst jetzt geboren zu werden? Wer hat ihn geboren?« Die topologisch-institutionelle Lesart bringe die Klärung dieser Frage, bei der es darum gehe, »welche Instanz dieses Subjekt in die symbolische Ordnung eingesetzt, instituiert hat im Sinne des vitam instituere. Denn niemand bringt sich selbst zur Welt.« Ausschlaggebend sei, dass dieses Geborenwerden nun statthat an dem transitorischen Ort des Wartesaals, d.h. in einem Raum, der »als eine leere Projektionsfläche fungiert, in der sich das Subjekt selbst begegnet wie in einem Spiegel«. In diesem Raum findet sich nichts, das eine Institutionalisierung, eine ›Begründung‹ des Subjekts ermöglichen könnte außer der visionären Begegnung mit der eigenen Vergangenheit. Insofern ist es letztlich, folgt man Niehaus, die traumatische Erinnerung selbst, die Austerlitz’ ›Wiedergeburt‹ begründet. »In der Explikation des Ausgewanderten-Status, die Sebald in der Figur des Austerlitz vornimmt«, resümiert Niehaus, könnte man paradoxerweise sagen, daß das Trauma instituiert wird. Es gibt der Figur des Austerlitz einen Grund. Bei den anderen Figuren Sebalds, bei den anderen Ausgewanderten, kann kein traumatisches Ereignis lokalisiert werden. In der Distanz, aus der der Ich-Erzähler ihre Spuren sammelt und ihr Leben beschreibt, erscheinen sie wie Traumatisierte ohne Trauma. Sie können keinen Grund dafür angeben, wie ihnen geschieht. Austerlitz hingegen, dem dieser Grund gegeben ist, hat nun zum Beispiel einen Grund dafür, den Spuren seiner Eltern nachzuforschen oder sich in die Geschichte des Konzentrationslagers Theresienstadt zu vertiefen. Er tut Dinge, die auch der Ich-Erzähler zu tun pflegt. Es sind die Dinge, die Sebalds poetische Verfahrensweise begründen. In Austerlitz tritt uns beinahe schon eine allegorische Figur dieser Verfahrensweise entgegen.83
zentrale Charakteristikum des Nicht-Orts. (Vgl. Augé 1987, v.a. 92, und vgl. auch meine Ausführungen zu »Sebalds Hotels – Ruinenästhetik«, 50ff.) Aus diesem Grund wird hier der weniger stark besetzte Begriff des transitorischen Raums benutzt. 83 Niehaus 2008 (s. Anmerkung in Fußnote 68). 34
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Niehaus’ Argument ist von so zentralem Stellenwert, weil es deutlich erklärt, inwiefern Sebald in Austerlitz einen entscheidenden Schritt weitergeht als in seiner vorherigen Texten, einen Schritt allerdings, der letztlich ebenso wenig ins Offene führt wie Austerlitz’ Raumvision im Wartesaal der Liverpool Street Station – darauf ist zurückzukommen. Wenn uns nun, wie Niehaus behauptet, in der Figur Austerlitz eine allegorische Figur der Sebaldschen Verfahrensweise entgegentritt, so ist nochmals genauer zu untersuchen, worin diese Verfahrensweise besteht.84 Die dominierende narrative Technik im Roman ist, wie erläutert, die Schachtelung des Erzählten. Auch die Anordnung des zu Erzählenden folgt keiner Chronologie, sondern vielmehr, gerade wie die Wiederkehr der Austerlitzschen Erinnerungsfragmente selbst, der scheinbar »höheren Stereometrie ineinander verschachtelte[r] Räume« (A 269). Das schlägt sich auf zweierlei Weisen im Text nieder. Erstens sind die Orte, von denen der Text erzählt, und entsprechend die Episoden, die an diesen Orten angesiedelt sind, unterhalb der Textoberfläche und einer eigenen topologischen Ordnung gehorchend, vielfach miteinander verwoben. So spielt beispielsweise die Liverpool Street Station circa hundertdreißig Seiten vor der Erzählung vom Erlebnis im Wartesaal schon einmal eine Rolle. Das Great Eastern Hotel, in dessen Bar sich Erzähler und Protagonist nach Jahrzehnten wiedersehen, liegt ja in der Liverpool Street ganz in der Nähe des Bahnhofs, d.h. die Szene, in der Austerlitz seine Lebensgeschichte zu erzählen beginnt, weist topologisch bereits auf das Kernstück dieser biographischen Erzählung voraus, in dem dann übrigens auch das Hotel ein weiteres Mal kurz Erwähnung findet (vgl. A 190). Die räumliche Nähe der Schauplätze stellt eine Verknüpfung her, die sehr viel später im Text erst evident wird. Außerdem erklärt der Erzähler bereits bei seiner Ankunft in London – lange bevor der Leser von Austerlitz’ Besessenheit von diesem Bahnhof erfährt (vgl. A 188) –, auch ihm würde es kurz vor der Einfahrt in die Liverpool Street Station immer »[b]esonders bang« (A 57); auch die mentale Verwandtschaft des Erzählers zu Austerlitz wird hier subtil mittels der topologischen Ordnung des Texts angedeutet. Die zweite, offensichtlichere und oftmals als für Sebald charakteristisch bezeichnete Verschachtelungstechnik ist die Staffelung der narrativen Ebenen, die meist gleichzusetzen ist mit einer Staffelung der Erzählinstanzen. D.h. je eine erzählende Figur repräsentiert eine Handlungsebene, die verschiedenen Handlungsebenen sind auch zeitlich voneinan84 Vgl. zur Verwendung des Allegoriebegriffs Horn/Weinberg 1998: Die Allegorie, so Horn/Weinberg, »erschöpft sich nicht im bloßen Akt des Verweisens, sondern sie führt zugleich die Struktur der Repräsentation am ästhetischen Gegenstand mit vor«. (Horn/Weinberg 1998, 7.) 35
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der unterschieden. Beinahe schon klassisches Beispiel hierfür ist die Passage, in der Austerlitz dem Erzähler von seinen Gesprächen mit Vera berichtet und Vera wiederum von Austerlitz’ Vater Maximilian und dessen Kommentierung der Entwicklungen in Mitteleuropa erzählt. Das bedeutet, vier verschiedene Stimmen überlagern einander: die des Erzählers, die Austerlitz’, die Veras und die Maximilians. Einschübe wie »Maximilian erzählte gelegentlich, so erinnerte sich Vera, sagte Austerlitz« (A 245) oder »so, sagte Vera, berichtete Maximilian« (A 247) bzw. »so sagte Vera, sagte Austerlitz« (A 249) markieren diese Staffelung. Im gesamten Romantext – auch dort, wo der Erzähler Austerlitz’ autobiographischen Bericht größtenteils in direkter Rede wiedergibt – rufen gelegentliche Einfügungen wie »sagte Austerlitz« oder »erzählte Austerlitz« regelmäßig in Erinnerung, dass der Ich-Erzähler, den Protagonisten fortwährend zitierend, die erste Erzählinstanz des Texts ist. Diese markante Erzähltechnik nun steht in engstem Zusammenhang mit Sebalds anhand der Szene im Ladies Waiting Room erläutertem Erinnerungsmodell. Die Staffelung der Erzählinstanzen leistet zweierlei: Zum einen bildet sie die poetische Form für die gleichzeitige Anwesenheit disparater Zeitschichten. Zum anderen modelliert der Text mittels dieses Verfahrens die Unabschließbarkeit der Erinnerungsprozesse nach. Die Notwendigkeit, narrative Techniken zu entwickeln, die genau das vermögen, leitet sich, wie Anne Fuchs unter der Überschrift »Sebalds Selbstreflexivität« erklärt, aus der Gesamtanlage des Sebaldschen Schreibprojekts ab. Kernstück dieses Projekts ist, die Geschichten Einzelner zu erzählen, deren anhaltendes Leiden an der Geschichte der historische Diskurs selbst nicht zu beschreiben vermag. Ihren Ausgang nehme dieses Projekt, so Fuchs, von der Frage, wie »die Alterität des Anderen zum Ausdruck gebracht werden [kann], ohne dass dabei dessen (Nicht)Ort in der Geschichte usurpiert wird? Anders gewendet: Wie kann der tote Andere erinnert werden, ohne dabei in die Falle eines identifikatorischen Opferdiskurses zu laufen?«85 Fuchs zeichnet sehr plastisch den gedanklichen Weg nach, der die Staffelung der Erzählinstanzen als die notwendige Antwort auf diese Frage erscheinen lässt, und zwar anhand der Bereyter-Geschichte in Die Ausgewanderten und des dortigen Berichts des Erzählers über seinen zwangsläufig misslingenden Versuch des Sich-Einfühlens in Bereyter zum Zeitpunkt von dessen Todesstunde. Dort bekennt der Erzähler, »[s]olche Versuche der Vergegenwärtigung« ermöglichten eine Annäherung an seinen früheren Lehrer höchstens »in gewissen Ausuferungen des Gefühls« (AG 44f.), die ihm aber vollkommen unzulässig erscheinen. Fuchs liest nun »Sebalds selbstreflexives
85 Fuchs 2004, 28. 36
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Verfahren der narrativen Einbettung«,86 wie sie formuliert, als Gegenkonzept zu derlei »Ausuferungen des Gefühls«. Unter Aufwendung dieses Verfahrens bewerkstellige Sebald es zu vermitteln, inwiefern jede Rekonstruktion der Erfahrungen eines Anderen immer indirekt und medialisiert sei. Nur unter dieser Voraussetzung sei es denkbar, eine Form der literarischen Zeugenschaft zu begründen, die der Gefahr einer unzulässigen Identifizierung mit den Opfern zu entgehen vermag. Fuchs bezieht sich hier explizit auf den Historiographen Dominick LaCapra. LaCapra fordert von demjenigen, der die Traumata anderer zu beschreiben versucht, eine Form des empathischen Bezugs zum Anderen – er gebraucht den Begriff »empathic unsettlement«87 –, der die Reflexion und Beschreibung der eigenen Subjektposition mit einschließt. Fuchs’ These nun ist, dass die Protokollierung der Erinnerungsarbeit des Protagonisten durch den Erzähler als dessen Zeugen von genau jener empathischen Verstörung getragen sei, die LaCapra einfordert. Ganz offensichtlich ist aber im Falle vieler Leser/innen diese Irritation nicht der nachhaltigste Eindruck, den die Sebald-Lektüre hinterlässt. So wurde mehrfach, insbesondere im Bezug auf Austerlitz, ein Umkippen der Sebaldschen Melancholie in reinen Kitsch bemerkt. In Thomas Wirtz’ Rezension im Merkur ist von »[s]chwarze[r] Zuckerwatte« die Rede,88 Iris Radisch will Sebald in der ZEIT als nostalgischen Andenkensammler entlarven,89 und Sybille Cramer fragt in der taz: »Warum nur lieben alle den Kitsch W.G. Sebalds?«90 Woran liegt es, dass besagte Verstörung anscheinend nicht alle Lesenden ergreift? Oder präziser: Von welcher Gegenkraft wird sie ausgebremst und durchkreuzt? Die erläuterte Verschachtelungstechnik, die bei Sebald an die Stelle von Gesprächsszenen tritt, bedingt auch, dass es im Sprachduktus zwischen Erzähler und den anderen Figuren keinerlei Differenzen gibt.91 Die stilistische Homogenität der Texte Sebalds wird, wie Susanne Schedel gezeigt hat, von nur sehr raren Ausnahmen92 abgesehen ausschließlich 86 87 88 89
Fuchs 2004, 31. LaCapra 2001, 41. Wirtz 2001. Vgl. Radisch 2001. Siehe zu Radischs Rezension auch meine Ausführungen »Im ›Gravitationsfeld der vergessenen Dinge‹ – museale Räume«, 91ff. 90 Cramer 1993. 91 Auch der Wechsel von direkter zu indirekter Rede markiert nicht zwingend einen Sprecherwechsel: Wie gesehen, stehen die Austerlitz zugeschriebenen Ausführungen mal in direkter, mal in indirekter Rede. 92 Namentlich der beiden in Die Ausgewanderten eingefügten fingierten Tagebücher der Luisa Lanzbach in Max Aurach und Ambros Adelwarths in 37
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von den fremdsprachigen Einfügungen durchbrochen.93 Austerlitz’ Stimme ist in keiner Weise von der des Erzählers unterschieden. Das entspricht nun einerseits fraglos der von Fuchs stark gemachten Forderung LaCapras nach einem Verzicht auf den Versuch, mit der Stimme des Anderen zu sprechen.94 Andererseits fragt sich jedoch, wo sich der Erzähler selbst positioniert und in welchem Verhältnis er als Bezeugender zu seinen Figuren steht. Die Funktion, die der Sebaldsche Ich-Erzähler sich selbst zuweist, ist die des Chronisten. Er will die Schmerzen dokumentieren, die die Figuren, von denen erzählt wird – ihrerseits ausnahmslos tatsächlich Opfer der Geschichte –, erlitten haben. In der Rolle des Chronisten befindet er sich stets in größter Nähe zu seinen Figuren: Sowohl die leidenden Figuren als auch der Ich-Erzähler selbst als deren Medium sind quasi außerhalb des fehlerhaften Gesamtsystems positioniert, da sie keine historische Verantwortung tragen. Denn sie, die Figuren, sind Opfer, und er, der Erzähler, ist ausschließlich Beobachter, Chronist, Bote. Die quasi-identifikatorische Nähe zu den Figuren, in die er sich damit begibt – und das manifestiert sich gerade in der stilistischen Homogenität –, durchkreuzt mitunter die Bemühung, der Gefahr einer unzulässigen Identifizierung mit den Opfern zu entgehen. Der Versuch, Zeugnis abzulegen vom Leid anderer, droht in die Eingemeindung der beschriebenen Schicksale in ein universales Lamento angesichts der »abschüssigen Bahn« des naturgeschichtlichen Prozesses zu kippen, den der Erzähler überall am Werk sieht.95 Im Interview mit dem britischen Guardian sagt Sebald: »I try to let people talk for themselves, so the narrator is only the one who brings the tale but doesn’t instal himself in it. [...] I content myself with the role of the messenger.«96 Diese – angesichts des hohen Grads an Selbstreflexivität der Sebaldschen Texte ohnehin überraschend naive – Bemühung misslingt und muss misslingen: Derjenige, der spricht, kann sich selbst nicht ganz zum Verschwinden bringen, um ausschließlich Gefäß zu sein für die Stimme des Anderen. Der Versuch, durch die Homogenität der Rede die Aufmerksamkeit vom Erzähler weg und hin zu den Figuren zu lenken, zeitigt mitunter eher den gegenteiligen Effekt und lässt die jewei-
93 94 95
96
der gleichnamigen Erzählung. Zum Reisetagebuch Ambros Adelwarths siehe meine Ausführungen zu »Jerusalem – zur Grenze der Ruinenästhetik«, 83ff. Vgl. Schedel 2004, 55-58. Siehe hierzu auch Long 2006, 236. Vgl. Fuchs 2004, 34. Vgl. zum Begriff der abschüssigen Bahn meine Ausführungen zu »Schädelstätten vs. Eislandschaften – die ›Naturgeschichte‹ und deren Stillstellung«, 68ff. Zitiert nach Jaggi 2001. 38
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lige Figurenrede nur als Variation der Erzählerrede erscheinen. Dennoch ist m.E. Thomas Wirtz nicht uneingeschränkt zuzustimmen, wenn er über Austerlitz schreibt, die »totalisierte Komplizenschaft« zwischen dem Erzähler und der Titelfigur habe eine lähmende Wirkung.97 Dass der Protagonist nicht aus der Erzählerstimme entlassen wird und somit kaum zu eigenem Leben erwacht, bedeutet nicht, der Text als solcher bliebe leblos und blass. Das Irritierende des Romans ist nicht einer klaren Profilierung der zentralen Figur geschuldet, wie man vielleicht bei einem Text dieses Zuschnitts erwarten möchte; eine solche klare Profilierung Austerlitz’ sucht man tatsächlich vergebens. Verstörend an diesem Text wirkt vielmehr die Tatsache, dass diese Figur permanent schon im Verschwinden begriffen zu sein scheint – im Verschwinden in der Schachtelstruktur des Texts selbst –, bevor sie tatsächlich an der Pariser Métrostation Glacière aus dem Blickfeld des Erzählers und der Lesenden verschwindet (vgl. A 414). Der Figur des Austerlitz eignet, wiederum im Sinne Nicolas Abrahams, etwas stark Phantomartiges: Das konstant drohende Entschwinden dieses Protagonisten, das Flüchtige und wenig Fassbare, das ihm eigen ist, markiert eine Lücke. Ebenso wenig wie sich Austerlitz selbst – Niehaus hat dies deutlich gezeigt – verorten kann, vermag der Text diese Figur zu greifen und zu halten. Die Lücke, die hier ansichtig wird, ist weniger diejenige, welche die Vernichtung des Lebenszusammenhangs des früh exilierten Kindes gerissen hat, als vielmehr die, an deren Stelle ein ›adäquates‹ Bezeugen dieses Leids stehen sollte, aber aus oben dargelegten Gründen nicht stehen kann. Insofern liest sich Austerlitz nicht als das fiktive Zeugnis eines Shoah-Überlebenden, sondern als Zeugnis des zwangsläufigen Scheiterns an dem Versuch, ein solches Zeugnis im Namen eines Anderen abzulegen.
Labyrinthisches Erzählen – desorientierte Fußwanderungen Dass »Sand Sebolt«, der »Namenspatron« des Ich-Erzählers in Die Ringe des Saturn, sich Zeit seines Lebens auf Wanderschaft befunden hat (RdS 106f.), ist von programmatischer Bedeutung: Mehrfach und mit gutem Grund wurde Sebald als Reiseschriftsteller betitelt,98 in sämtlichen Prosatexten befinden sich zahlreiche seiner Figuren, fast durchgängig aber der Ich-Erzähler selbst, auf Reisen, häufig zu Fuß. Die Eröffnungsszenen der meisten Texte, darauf hat Christopher C. Gregory-Guider hingewiesen,99 97 Wirtz 2001, 534. 98 Vgl. z.B. Sontag 2000 und Klüger 2003. 99 Vgl. Gregory-Guider 2005, 433. 39
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geben Bericht von einer Fußwanderung: In Beyle oder das merckwürdige Faktum der Liebe ist dies der Marsch des napoleonischen Heers über die Alpen, in All’estero sind es die Spaziergänge des Ich-Erzählers durch die Wiener Innenstadtbezirke, während sich dieser in Il ritorno in patria dem Ort W. von der österreichischen Grenze aus ebenfalls zu Fuß nähert. Die Ringe des Saturn werden mit der Erinnerung an den Aufbruch zur Wanderung durch Suffolk ein Jahr zuvor eröffnet, und Austerlitz setzt mit den ziellosen Spaziergängen des Erzählers durch Antwerpen ein. Inwiefern aber wird die Wahrnehmung dieser Landschaften und Städte in Abhängigkeit davon geschildert, dass sie abgeschritten, d.h. ›begangen‹ werden? Wie verlaufen diese Bewegungen im Raum und was wird dabei zur Raumwahrnehmung entwickelt? Für welches Weltmodell stehen die Raumfiguren hier ein und wie korrespondieren die beschriebenen Wanderbewegungen mit den Textbewegungen, d.h. den Verläufen, die die Narration jeweils nimmt? Sebald selbst gibt im Interview an, am liebsten zu Fuß unterwegs zu sein, weil die langsame Fortbewegungsweise die perzeptionelle Genauigkeit fördere, auf die es ihm ankomme. Im Auflesen dessen, was dem Fußgänger begegnet, und im Sammeln und Zusammenfügen des Aufgelesenen, entstehe seine Variante einer »Universalgeschichte«: »Also es liegt da irgendwelcher Unrat am Wegrand sozusagen«, sagt er, »man stößt zufällig mit dem Fuß an irgendein Bruchstück, es wendet sich um und man sieht irgendetwas.«100 Was hier in seiner Kommentierung des eigenen Arbeitsprozesses anklingt, wird in den Texten selbst, allen anderen voran in Die Ringe des Saturn, schnell deutlich: Das Durchwandern der Räume durch den Sebaldschen Erzähler stellt einen spezifischen Zugang zur Historie des jeweiligen Landstrichs oder Stadtbereichs her. Im Gehen liest dieser jene Fragmente auf, aus denen die Mikronarrative entwickelt werden, die er patchworkartig zusammenwebt.101 Der Zusammenhalt des so Entstehenden ergibt sich, zumindest dem Anschein nach und der im Interview präsentierten Selbsteinschätzung Sebalds gemäß, nicht aus einem übergeordneten Makrogeschehen, sondern aus der Vernetzungsstruktur der einzelnen Mikronarrative untereinander.102 Die Bewegung im Raum führt den Erzähler, am deutlichsten wiederum in Die Ringe des Saturn, hin zu diversen Erzählanlässen, die ihrerseits zu 100 Zitiert nach Schlodder 1997, 182. 101 Vgl. Leone 2004, 91. 102 Zur Frage, inwiefern dies tatsächlich zutrifft oder ob diesem Netzwerk nicht doch eine übergeordnete Geschichtsmetaphysik vorausgeht, die die Zusammenschau der Mikronarrative bestimmt, siehe meine Ausführungen »Im ›Gravitationsfeld der vergessenen Dinge‹ – museale Räume«, 91ff. 40
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weiteren Narrativen überleiten. Oftmals webt der Text die einzelnen Erzähleinheiten, auch hier einer Verschachtelungstechnik folgend, ineinander. Es findet sich insofern dasjenige Gestaltungsprinzip wieder, das in Austerlitz in Form der Schachtelung der Erzählinstanzen das dominierende Erzählverfahren bildet, allerdings in anderer Version: Es sind in Die Ringe weniger die Sprecherinstanzen als die Narrative selbst, die ineinander verschachtelt werden wie russische Puppen. So ist die gesamte Erzählung von der ein Jahr zuvor unternommenen Reise entlang der englischen Ostküste eingebettet in die vom Krankenhausaufenthalt des Erzählers. Und während er sich im Rahmen der Binnenerzählung beispielsweise im englischen Southwold aufhält, erinnert er sich, wiederum ein Jahr zuvor an der gegenüberliegenden holländischen Küste gewesen zu sein, und in diese Binnenerzählung zweiten Grades ist die Schilderung der vorausgegangenen Tage in der Schweiz und in Franken eingeflochten, wo er unter anderem das Grabmal seines Namenspatrons aufsucht (vgl. RdS 106f.). Weil auch in Die Ringe dem gesamten Text ein die Zeit verräumlichendes Prinzip, d.h. die Überlagerung disparater Zeiten und deren gleichzeitige Anwesenheit auf engstem Raum unterliegt, wird die Fortbewegung im Raum immer auch zur Zeitreise: »Walking«, schreibt Gregory-Guider, »thus becomes a way of accessing the past [...]. These perambulations also endow Sebald’s narrator and characters with the ability to discern the many compressed, superimposed pasts that coexist at the same point.«103 Dass der Erzähler viele der Erzählanlässe am Wegrand aufliest, d.h. den einander überlagernden Vergangenheiten auf seinen Spaziergängen und Wanderungen begegnet, hat nun weniger dekorative Gründe; das Durchqueren der Städte und Landschaften bildet bei Sebald nicht allein den Rahmen für die zu berichtenden Lebensgeschichten. Die Einbettung der Mikronarrative in den lokalen und damit auch lokalhistorischen Kontext markiert vielmehr die unwiderruflich enge Verknüpfung von Einzelschicksalen und Historie. Die Fokussierung des Biographischen bei Sebald meint ja, wie in den Ausführungen zu Austerlitz gesehen, keineswegs eine Abkehr von den historisch-politischen Zusammenhängen, stattdessen ist diese Aufwertung des Mikrogeschehens konstitutiv für Sebalds Versuch einer anderen Annäherung an Geschichte. In seinen Texten steht das Durchwandern der Räume und die somit zwangsläufig direkte, auch sensuelle Konfrontation mit diesen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem distanzloseren, nicht an einer systematisierenden Übersicht, sondern am empathischen Nachvollzug interessierten Zugang zur Geschichte. Insofern ist Eva Juhl zu widersprechen, wenn 103 Gregory-Guider 2005, 437. 41
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sie schreibt, Sebalds Raumschilderungen seien nur »Staffage und Kulisse einer sich ›in Wahrheit‹ ganz und gar nicht im Außenraum abspielenden Geschichte«.104 Die Außenräume bei Sebald seien, so ihre These, ganz so wie Sebald über Stifters Landschaften festhalte, ausschließlich »Allegorie[n] der ausgeräumten Innenwelten«,105 das hieße, rein psychotopologischen Charakters. Zwar schlägt sie einen interessanten Lektürezugang vor, indem sie die Bewegungen der Sebaldschen Figuren im Außenraum, auf Kristevas Begriff der »strays« rekurrierend, als ruheloses Streunen diagnostiziert. Seien es die sonntäglichen Streifzüge des Erzählers durch Manchester in Max Aurach oder dessen italienische Wanderungen und Fahrten in All’estero, seien es Austerlitz’ nächtliche Spaziergänge durch London oder Ambros Adelwarths und Cosmos Reisen im Nahen Osten106 – mit Gewissheit lassen sich diese ›streunenden‹ Bewegungen durchaus auch, wie Juhl schreibt, als symbolische Hindeutung auf die psychische Prädisposition der Figuren lesen, deren abjektale Persönlichkeitsstruktur zur »Selbstausstoßung« geführt und jede Form der Selbstbeheimatung in der Außenwelt verunmöglicht hat.107 Juhls Argumentation übersieht jedoch die ausschlaggebende Doppelcodierung der Sebaldschen Außenräume: Durchaus reflektieren diese auch den Zustand der Figuren, den Erzähler eingeschlossen, aber nicht, weil der Text sie mit einer Abbildungsfunktion befrachtet, wie sie nahe legt, sondern weil es dieselben Zerstörungsgeschichten sind, die sich in die Biographien der Figuren und in die sie umgebenden Räume eingeschrieben haben. Auch die Außenräume erzählen von den Zurichtungen, die ihrerseits die katastrophischen Einzelschicksale der Figuren verursacht haben. Die Landschaften und Städte Sebalds sind immer als sowohl biographischer als auch historischpolitischer »Erinnerungsraum« gefasst, den der »mit einem archäologischen Blick« ausgestattete Ich-Erzähler in dieser zweifacher Codiertheit zu lesen lernt, indem er ihn durchwandert.108 In welch hohem Maße diese Räume eben nicht allein als Erinnerungsräume einzelner, sondern als zivilisationsgeschichtliche Resonanzräume fungieren, zeigt sich abermals am deutlichsten in Die Ringe, wo die jeweilige lokal- und zerstörungsgeschichtliche Dimension der geschilderten Räume und damit der zivilisationskritische Aspekt der Raumbeschreibungen fraglos dominant ist. Anne Fuchs geht sogar so weit, von einer »anti-anthropozentrische[n] 104 Juhl 1995, 652. 105 Juhl 1995, 654. Sie zitiert hier Sebalds Stifter-Essay aus Beschreibungen des Unglücks. 106 Vgl. zu Ambros Adelwarth meine Ausführungen zu »Jerusalem – zur Grenze der Ruinenästhetik«, 83ff. 107 Vgl. Juhl 1995, 655ff. 108 Fuchs 2004, 222. 42
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Ausrichtung von Sebalds Erzählgestus« in dem Reisebericht zu sprechen.109 Ein wichtiges Stichwort liefert Eva Juhl ohne Zweifel, wenn sie von der Desorientierung der Sebaldschen Figuren und deren Unvermögen, sich zu verorten, geschweige denn niederzulassen, schreibt. Weder Sebalds Erzähler noch die anderen Figuren – allesamt, wie gesehen, Reisende in ontologischem Sinne – sind unterwegs um anzukommen, vielmehr bereitet jede Ankunft wiederum den nächsten, bevorstehenden Aufbruch vor. Gestört wird das beständige Unterwegssein wiederkehrend von einem unerwarteten Orientierungsverlust und der damit einhergehenden Sorge, den Außenraum nicht kontrolliert durchreisen zu können, sondern ihm hilflos ausgeliefert zu sein. Die Schwierigkeit, sich im Außenraum zu orientieren, wird mehrfach anhand der Beschreibung labyrinthischer Räume expliziert.110 Austerlitz verirrt sich, wie beschrieben, in den labyrinthischen Gewölben der Raumvision, die ihn im Ladies Waiting Room überwältigt (vgl. A 200), der Erzähler in Die Ringe findet nur unter einigem Aufwand aus dem Eibenlabyrinth von Somerleyton (vgl. RdS 51f.) und mit weitaus größerer Mühe noch aus der ihm labyrinthisch erscheinenden Heide von Dunwich heraus (vgl. RdS 204f.). Und dessen bereits erwähnte Fußmärsche durch Wien zu Beginn von All’estero werden im Text zwar nicht ausdrücklich als labyrinthische Bewegungen bezeichnet, deren Beschreibung trägt aber einschlägige Merkmale. Beim späteren Blick auf den Wiener Stadtplan bemerkt der Erzähler, dass seine »anscheinend end- und ziellose[n] Wege« durch die Innenstadtbezirke allesamt nicht über einen bestimmten, vorgezeichnet scheinenden Bereich hinausgingen: Hätte man die Wege, die ich damals gegangen bin, nachgezeichnet, es wäre der Eindruck entstanden, es habe hier einer auf einer vorgegebenen Fläche immer wieder neue Traversen und Winkelzüge versucht, um aufs neue stets am Rand 109 Fuchs 2004, 223. 110 Spricht man von Orientierungsverlust und Störungen des Raumempfindens bei Sebald, darf der programmatische Schwindel nicht unerwähnt bleiben. Auch bei den Beschreibungen der wiederkehrenden Schwindelgefühle der Erzählerfigur wird mittels der gestörten Raumwahrnehmung des Erzählers letztlich dessen Relation zu den Gegenständen seines Erzählens reflektiert, wie Doren Wohlleben ausführt. (Vgl. Wohlleben 2006.) Die Funktion des Schwindel-Topos ist insofern derjenigen der hier verhandelten Raumfiguren durchaus verwandt. Weil jedoch beim Schwindel die räumliche Komponente der Subjekt-Raum-Beziehung hinter die des Subjekts selbst zurücktritt, d.h. weniger Raumkonzeptionen als Subjektkonzeptionen verhandelt werden, wird der Schwindel in dieser Studie vernachlässigt. 43
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seiner Vernunft, Vorstellungs- oder Willenskraft anzugelangen und zum Umkehren gezwungen zu werden. (SG 39f.)
Auch hier bewegt sich der Erzähler innerhalb eines imaginären, rätselhaft verschlungenen, labyrinthischen Wegesystems, aus dem es kein Entkommen zu geben scheint.111 Was aber wird verhandelt anhand dieser 111 Die Begriffe Labyrinth und labyrinthisch sind hier, ebenso wie in Sebalds Texten selbst und innerhalb der Sebald-Forschung, nicht sehr eng gefasst. In seinem materialreichen Buch Labyrinthe führt Hermann Kern in der Einleitung aus, dass sich begriffsgeschichtlich zweierlei Verwendungen des Terminus ausmachen lassen: Die sehr weite metaphorische Verwendung sei von jeher besonders häufig in literarischen Texten anzutreffen. Dabei fiele im Grunde jedes Irrwege-System unter den Begriff. (Vgl. dazu auch die knappen, aber aufschlussreichen Ausführungen Thomas Kasturas zum Labyrinth in der Literaturgeschichte in: Kastura 1996, 203.) Ganz anders dagegen sei, so Kern, bei graphischen Darstellungen sehr klar definiert, was ein Labyrinth sei, nämlich eine »geometrische Form, mit runder oder rechteckiger Begrenzung nach außen«, die nur von oben als solche zu erkennen sei. Die »eigentlich maßgebliche, sinnbestimmende Bewegungsfigur« sei folgende: Sie »beginnt in einer kleinen Öffnung der Außenmauer und führt nach vielen Umwegen, die zum Abschreiten des ganzen Innenraumes nötigen, zum Zentrum. Im Gegensatz zu einem Irrgarten ist dieser Weg kreuzungsfrei; er bietet keine Wahlmöglichkeit, führt also zwangsläufig zur Mitte und endet dort.« Dieser »visuell eindeutige Begriff« nun wurde seit der Antike, so Kern weiter, »von der – zunächst nur literarisch formulierten – Vorstellung ›Irrgarten‹ überlagert, es wurden also zwei nach Form und Gehalt höchst unterschiedliche Vorstellungen miteinander vermengt«. So würde »in der neueren Literatur diese Figur verwechselt mit anderen graphischen Figuren, der Terminus ›Labyrinth‹ wird fälschlicherweise angewandt u.a. auf Spiralen, Mäander und konzentrische Kreise, die mit dem Labyrinth meist nichts anderes gemein haben als Linearität und eine gewisse Unübersichtlichkeit«. (Kern 1982, 13.) Entgegen dem Bestreben Kerns, der eine Begriffsentwirrung für notwendig hält und gegen die andauernde metaphorische Verwendung des Begriffs plädiert, folgt der Gebrauch des Terminus hier schlicht der von Kern geschilderten literarischen und literaturwissenschaftlichen Tradition. Zwar geht auch m.E. die Ausdehnung des Begriffs etwas zu weit, wenn sogar konzentrische Kreise als Labyrinthe durchgehen – so geschehen beispielsweise bei Simon Ward, der auch die am Ende von Die Ringe abgebildeten Spiralen kurzerhand den Labyrinthen zugeordnet. (Vgl. Ward 2004, 69.) Es werden hier aber sämtliche Raumfigurationen, die dem Irrgarten-Prinzip entsprechen, als Labyrinthe begriffen. Auch das in obigem Zitat beschriebene verschlungene Wegesystem, das der Erzähler in Wien abschreitet, gilt hier also nicht, wie es nach Kern sein müsste, als 44
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zahlreichen labyrinthischen Bewegungen in Sebalds Texten? Wie ist zu erklären, dass sich der Erzähler wiederholt innerhalb solcher Räume verirrt zu haben glaubt? Für welches Weltmodell stehen die labyrinthischen Figuren hier ein, und lassen sie Rückschlüsse auf das Sebaldsche Textmodell zu? Mit Bezug auf die Passage in Austerlitz schlägt Fuchs vor, die labyrinthischen Formen der die Vergangenheit repräsentierenden Raumvision als Bebilderung der im Text impliziten Auffassung zu lesen, »dass Subjektivität als Verknüpfungspunkt eines unendlichen Netzwerkes von kulturhistorischen Bezugspunkten zu verstehen ist«.112 D.h. die Figur Austerlitz bildet hier das gemeinsame Zentrum der verschlungenen, sich verzweigenden Irrwege, auf deren Bahnen die Vergangenheit sich vollzogen hat. Auch hinsichtlich der labyrinthischen Figuren in den anderen Texten ist damit ein wichtiger Hinweis gegeben: Fraglos explizieren auch die Labyrinthe wiederum die für Sebalds Texte konstitutive Auffassung von Geschichte als unendlichem Netzwerk. Aber die Figur des Labyrinths ist ja durchaus genauer profiliert als die des Netzwerks: Nicht allein die Verbundenheit der Wege untereinander, sondern die Rätselhaftigkeit der Verbindungen und die daran geknüpfte Schwierigkeit, sich innerhalb dieses Geflechts zu orientieren, charakterisieren das Labyrinth.113 Anders als ein beliebiges netzartiges Bezugssystem ist das Labyrinth gekennzeichnet durch die von ihm ausgehende Gefahr eines vollkommenen Orientierungsverlustes und letztlich des Gefangenseins innerhalb des Wegesystems. Nur derjenige, der in es hineingerät, ist selbstverständlich gefährdet. Ein distanzierter Blick auf ein Labyrinth bleibt harmlos. D.h. dort, wo Sebald seine Figuren – und das ist, von besagter Ausnahme in Austerlitz abgesehen, nicht zufällig immer der Erzähler selbst – in labyrinthische Räume schickt, wird deutlich mehr verhandelt als der netzartige Zusammenhang aller Historie. Es geht um die Position und Perzeption desjenigen, der diese Zusammenhänge wahrnimmt bzw. herstellt. Der von Fuchs erwähnte subjektive Verknüpfungspunkt ist hier die wandernde und wahrnehmende Erzählerfigur selbst, die in labyrinthische Räume hineingerät, d.h. Gefahr läuft, sich in den ausweglosen Geflechten zu verlieren und zu verfangen. Wie sehr diese Bedrohung vom Wahrnehmenden selbst ausgeht, unterstreichen die Textpassagen zu Wien und abschreitet, gilt hier also nicht, wie es nach Kern sein müsste, als Flächenmäander, sondern als Labyrinth im weiteren Sinne, denn entscheidend für den gegebenen Zusammenhang ist das ›Prinzip Umweg‹, das dem Flächenmäander und dem streng gefassten Labyrinth gemeinsam ist. (Vgl. Kern 1982, 14.) 112 Fuchs 2004, 49. 113 Vgl. hierzu wiederum Fußnote 111. 45
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Dunwich, indem sie die Verirrungen des Erzählers dessen eigener Verantwortung zuschreiben. Die oben zitierte Passage über seine Wiener Spaziergänge verortet das Labyrinth, aus dem er täglich auszubrechen versucht, ja explizit in seinem eigenen Kopf; schließlich stößt er nicht an sichtbare Grenzen, sondern an den »Rand seiner Vernunft, Vorstellungsoder Willenskraft« (SG 40). Und auch bei der Heide von Dunwich handelt es sich, anders als bei dem Eibenlabyrinth in Somerleyton, keineswegs um ein künstlich geschaffenes Labyrinth als Teil eines Parks oder dergleichen, sondern schlicht um ein Stück offenes Heideland. Dass dieses zum Irrgarten mutiert, verschuldet der Erzähler selbst durch seine Unachtsamkeit und Introvertiertheit: In die unablässig in meinem Kopf sich drehenden Gedanken verloren und wie betäubt von dem wahnsinnigen Blühen, wanderte ich auf der hellen Sandbahn dahin, bis ich zu meinem Erstaunen, um nicht zu sagen zu meinem Entsetzen, mich wiederfand vor demselben verwilderten Wäldchen, aus dem ich vor etwa einer Stunde oder, wie es mir jetzt schien, in irgendeiner fernen Vergangenheit hervorgetreten war. (RdS 204)
Das hier angedeutete Abbildverhältnis zwischen den in seinem »Kopf sich drehenden Gedanken« und dem ihm schlussendlich wie ein »Karussell« (RdS 205) erscheinenden Heidelabyrinth wird in der darauffolgenden Passage, in der er im Traum den Gang durch die Heide wiederholt, aufs Deutlichste ausgeführt: Der anfängliche Eindruck, sich in einem »eigens für [ihn] angelegten Irrgarten« zu befinden, steigert sich dort schließlich zur Gewissheit, dass das Labyrinth »einen Querschnitt darstellte durch [s]ein Gehirn« (RdS 206). Was führt der Text hier vor? Was ist es, das den Erzähler angesichts seines eigenen Orientierungsverlustes in einen solchen »Zustand wachsender Panik« versetzt, so dass die gesamte Umgebung ihm »beängstigend und grauenvoll« vorkommt (RdS 205)? Welche Bedrohung, welche Furcht manifestiert sich in den besehenen Passagen anhand der labyrinthischen Raumfiguren auf der Ebene der Textorganisation? Wie eingangs erwähnt, stehen die Fußreisen des Erzählers durch den Außenraum in engstem Zusammenhang mit der Erzählbewegung selbst. Mit der langsamen, aber stetigen Fortbewegung der Erzählerfigur wandert der Text von Mikronarrativ zu Mikronarrativ. Claudia Albes zeigt in ihrer genauen Lektüre von Die Ringe, inwiefern das dominierende Erzählverfahren dort gekennzeichnet ist von der »Gegenläufigkeit zwischen Fortschritt (durch Verschiebung der gleichen Signifikanten in immer neue Kontexte) und Stagnation (durch das Beharren auf dem Thema des universalen
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Verfalls)«.114 John Beck führt dies aus, indem er, angeregt davon, dass die Fußreise in Die Ringe an der Küstenlinie Suffolks entlangführt, eine Verwandtschaft der narrativen Technik Sebalds mit der fraktalen Geometrie diagnostiziert: Die fraktale Geometrie, die, wie Beck erläutert, auch genutzt wird, um Küstenlinien zu messen, beschreibt Gebilde, die gleichermaßen formenreich wie ›selbstähnlich‹ sind, wie die Geometriker sagen.115 Wie die Küstenlinie selbst ist der Reisebericht einerseits durch die Wiederholung ein und desselben Musters strukturiert, andererseits aber durch die Erschließung stets neuer Kontexte. Verfängt sich die Narration nun in einem labyrinthischen Wegesystem, droht die Gefahr der Erstarrung. Die Gegenläufigkeit von Fortschritt und Stagnation, von der Albes spricht, bzw. von Formenreichtum und Selbstähnlichkeit ist nicht mehr gewährleistet. Mit dem Orientierungsverlust dessen, der sich einen Weg durch das ohnehin kaum zu überblickende, vielfach vernetzte Material des zu Erzählenden bahnen muss, läuft die erzählerische Gesamtkonstruktion Gefahr zusammenzubrechen. Wenn der »systematic flanerie«, wie Massimo Leone die narrativen Bewegungen Sebalds treffend nennt, die Systematik verloren geht, wenn sich die Narration in den eigenen Wirren verliert, steht letztlich das Ende ihrer selbst bevor. Die wiederholt in den Texten auftauchende labyrinthische Raumfigur lässt sich insofern als Signatur der Angst vor dem Ende der Narration lesen. In All’estero findet sich eine Passage, in der die Angst des Erzählers vor dem räumlichen Orientierungsverlust explizit mit der Angst vor dem Verlust des Überblicks über die eigene Arbeit verknüpft wird: Am Mailänder Bahnhof angekommen, kauft der Erzähler einen Stadtplan, was ihm Anlass zu folgender Bemerkung gibt: »Wie viele Stadtpläne habe ich nicht schon gekauft? Immerzu versuche ich, wenigstens vom Raum mir eine zuverlässige Vorstellung zu verschaffen. Mit dem Mailänder Stadtplan hatte ich jedenfalls, so schien es mir, die richtige Wahl getroffen«. Denn, so bemerkt er daraufhin, »auf der Vorderseite des Kartons, in welchem dieser Mailänder Plan sich befand«, ist »das Abbild eines Labyrinths« zu sehen – an dieser Stelle befindet sich, in den Text eingefügt, eine entsprechende Abbildung –, »auf der Rückseite aber die für jeden, der weiß, daß er viel auf Irrwegen geht, vielversprechende, geradezu verheißungsvolle Versicherung: UNA GUIDA SICURA PER L’ORGANIZZAZIONE DEL VOSTRO LAVORO« (SG 122f.). Was den Erzähler letztlich stets davor bewahrt, sich bei der Organisation seiner Arbeit in labyrinthischen Geflechten zu verfangen, was also das Gleichgewicht zwischen Fortbewegung und Stagnation der Narration immer wieder herstellt und sichert, führt dieser selbst aus, wiederum in 114 Albes 2002, 284. 115 Vgl. Beck 2004, 85f. 47
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der Passage zur Heide von Dunwich: Er berichtet, schlussendlich habe er, verirrt zwischen all dem Erikagestrüpp, »keine andere Wahl [gehabt], als auf den krummen Sandwegen zu bleiben und mir jedes kleinste Merkmal, jede noch so geringfügige Verschiebung des Prospekts möglichst genau einzuprägen« (RdS 205). D.h. allein indem er auf die minimalen Differenzen der Umgebung Acht gibt, gelangt er schließlich hinaus auf die Landstraße. Der hier zentrale Begriff der geringfügigen Verschiebung findet sich mehrfach wieder in Sebalds Texten. In All’estero zitiert der sich in Venedig aufhaltende Erzähler aus den Schriften Casanovas, in denen dieser anlässlich der während seiner Gefangenschaft im Dogenpalast auszustehenden Qualen über die Grenzen der Vernunft philosophiert: »Er stellt fest, daß es zwar selten vorkomme, daß ein Mensch verrückt wird, daß aber die meiste Zeit nicht viel dazu fehlt. Es bedarf nur einer geringfügigen Verschiebung, und nichts mehr ist, was es war.« (SG 65) Für den gegebenen Zusammenhang ist selbstredend dieser letzte Satz von Interesse. Was Sebald hier Casanova in den Mund legt, ist eine aufs Engste zusammengeraffte Definition des Strukturprinzips seiner Literatur: Geringfügige, aber permanente metonymische Verschiebungen der immer gleichen Signifikanten in jeweils neue Kontexte sichern das Fortbestehen der Narration.116 In Dr. K.s Badereise nach Riva hebt Sebald Kafkas besondere Vorliebe für geringfügigste sprachliche Verschiebungen hervor und führt in dem Zusammenhang kurz aus, inwiefern gerade die kleinste Verschiebung größten Raum für literarisches Geschehen eröffnet: Es heißt im Text – Sebald zitiert einen in Venedig verfassten Brief Kafkas an Felice –: »Wie es schön ist, schreibt er, mit einem Ausrufezeichen und in einer jener nur um ein weniges verrückten Wendungen, in denen es die Sprache den Gefühlen einen Augenblick lang erlaubt, ganz auszulaufen.« (SG 164) Die stetige geringfügige Verschiebung bildet das Gegenprinzip zum Labyrinthischen, indem sie die Narration davor bewahrt, zu stagnieren und in der reinen Wiederholung zu erstarren. In seinem Text zur Impossibility of Getting Lost bei Sebald bringt John Zilcosky sehr gut zur Anschauung – und obige Ausführungen fügen sich bruchlos daran an –, inwiefern die Besonderheit der Sebaldschen Reisetexte in einer strukturellen Umkehrung der zentralen Trope der traditionellen Reiseliteratur liegt. Die herkömmliche Figur des Reisenden, ruft Zilcosky in Erinnerung, verirrt sich und gerät auf Abwege, um schließlich doch den Heimweg zu 116 Vgl. hierzu z.B. Öhlschläger 2006, 203: »In rhetorische Kategorien gefasst, könnte man von einem metonymischen Prinzip sprechen, von der Herstellung realer Beziehungen, von Kontiguitäten (Berührungen) auf der Grundlage von Ersetzungen. Von einer Synchronisation verschiedener Erlebnisinhalte, die [...] in einer syntagmatischen Linie stehen.« 48
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finden und anzutreten – insofern ist die Odyssee nach wie vor fraglos Inbegriff und Vorbild aller Reiseliteraturen. Nicht so der Sebaldsche Reisende. Sebald unterminiere, so Zilcosky, das traditionelle Erzählmuster allerdings nicht, wie man erwarten möchte, indem er behauptet, wir seien allesamt hoffnungslos verirrt und verloren und außer Stande, jemals wieder zurück nach Hause zu finden. Vielmehr zeige er, inwiefern unsere Desorientiertheit die Gefahr mit sich bringt, zu keinerlei Neuentdeckungen zu führen, sondern allein zu einer Reihe unheimlicher Wiederkünfte:117 More interesting than the fact that we might be always lost is, for Sebald, the fact that we might always know where we are, whether we like it or not [...]. It is this persistence of the familiar, this unheimlich (uncanny) inability to lose one’s way that haunts Sebald’s travel narratives.118
Die im Labyrinth zur Anschauung kommende Gefahr besteht so, auch nach Zilcosky, weniger in der Verirrung selbst als im Ausbleiben der – mit Deleuze gesprochen – Differenzen in der Wiederholung. Zilcoskys an Freud orientierter Ausdeutung zufolge steht die Sorge, dem Wiederholungszwang zu erliegen, in engstem Zusammenhang mit der Sehnsucht nach dem Stillstand, dem Todestrieb.119 Allerdings schlage Sebald vor, »that there might be a journey toward death that transcends the restrictive Freudian model of biological return«.120 Das Erzählen selbst stelle bei Sebald die Alternative zum Wiederholungszwang dar – das Erzählen, das trotz und in der beständigen Angst vor dem Ende der Narration fortfährt, zahllose »nur um ein weniges verrückte Wendungen« (SG 164) zur Beschreibung der Welt zu finden. Im Schlusskapitel in Die Ringe mündet der lange Exkurs zur Seidenspinnerei in eine Analogisierung der Arbeit der Weber und der Schreibenden, die wenige Seiten später noch gekrönt wird durch die Erwähnung eines zweiten ›Namenspatrons‹, des »alte[n] Kunstschönfärber[s] Seybolt« (RdS 339). Diese Analogisierung geht insofern hinaus über den konventionellen Vergleich des Schreibens mit der Herstellung komplexer Gewebe, als sie im Besonderen über die psychi117 Vgl. Zilcosky 2004, 102. 118 Zilcosky 2004, 104. Insofern sei auch, so widerspricht Zilcosky Claudia Albes zu Recht, der Sebaldsche Erzähler keinesfalls eine postmoderne Nomadenfigur, zentral sei für Sebald vielmehr die typisch moderne Spannung eines lost-and-found-Modells. Für seinen Erzähler gebe es ebenso wenig ein Entrinnen aus der Wiener Innenstadt oder der Heide von Dunwich wie für Aschenbach aus Venedig oder K. aus dem Schloss. 119 Vgl. hierzu meine Ausführungen zu »Schädelstätten vs. Eislandschaften – die ›Naturgeschichte‹ und deren Stillstellung«, 68ff. 120 Zilcosky 2004, 110. 49
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sche Disposition der beiden Berufsstände nachdenkt. Was »die Weber und die mit ihnen in manchem vergleichbaren Gelehrten und sonstigen Schreiber« vereine, sei das »auch am sogenannten Feierabend nicht aufhörende Nachsinnen, das in die Träume hineindringende Gefühl, den falschen Faden erwischt zu haben«. Kehrseite dieser Qualen sei aber das Wissen darum, »daß viele der in den Jahrzehnten hergestellten Stoffe [...] von wahrhaft phantastischer Vielfalt und einer in sich leicht changierenden, mit Worten kaum zu beschreibenden Schönheit waren, ganz als seien sie hervorgebracht worden von der Natur selber wie die Federkleider der Vögel« (RdS 334f.). Dieses unter Mühen und durch geringfügigste, aber stetige Verschiebungen hergestellte Seidengewebe ist Vor- bzw. idealisiertes Abbild desjenigen Texts, der sich nicht in labyrinthischen Bewegungen verfängt und somit den Fortbestand der Narration, den Fortlauf des Erzählens gewährleistet und sicherstellt.
R u i ne n , S c h ä d e l s t ä t t e n , E i s l a nd s c h a f t e n Sebalds Hotels – Ruinenästhetik »Die armen Reisenden«, entfährt es dem Erzähler – und er nimmt sich »selber dabei nicht aus« (SG 125) –, als er wieder einmal in einem miserablen Hotel bereits beim Eintreten vor dessen erdrückender, abweisender Atmosphäre zurückschreckt. In diesem Fall handelt es sich um das Mailänder Hotel Boston in All’estero, »ein ungut und schmalbrüstig aussehende[s] Haus«, in dessen schlecht beleuchtetem Foyer ihm eine Signora mit »Vogelblick«, ein »fast völlig ausgetrocknetes Wesen«, »halb mitleidig, halb verächtlich« einen »alte[n] eiserne[n] Schlüssel« aushändigt. Der Lift, der ihn auf sein Stockwerk bringt, ist »ein enges, von einem rasselnden Metallgatter verschlossenes Gehäuse«; im Zimmer selbst schlägt ihm eine »schwere, seit Tagen, wenn nicht seit Wochen stehende Hitze« entgegen. Kein Wunder also, dass ihm nichts anderes bleibt, als sich ermattet auf die zweifelhafte »Bettstatt« zu legen und auf die verdämmernden Geräusche aus dem »schachtartigen Hinterhof« zu lauschen, ohne jedoch vor dem Morgengrauen »zur Ruhe kommen« zu können (SG 124f.). Die Beschreibungen der zahlreichen Hotels, die Sebalds Leser antreffen, sind auffallend homogen: Der Zustand der Gebäude ist tendenziell marode, das Mobiliar abgenutzt und aus der Mode gekommen, und die Hotelbesitzer oder -angestellten sind meist recht leblose Gestalten, die den Eindruck machen, als haben auch sie den »ewigen Umgang«, wie es einmal über eine Mesnerin in All’estero heißt (SG 85). Zielsicher wählt der Erzähler stets diejenigen Etablissements als Bleibe
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für die Nacht, die, sofern sie überhaupt irgendeine Art von Reiz besitzen, einen ausgesprochen morbiden Charme ausstrahlen. Fast immer schläft er schlecht und wird häufig, wie in obigem Beispiel im Boston, eher unwillig empfangen, so dass sich keinerlei Gefühl des Aufgehobenseins einstellt. Stattdessen findet sich die Rast- und Heimatlosigkeit des Reisenden, wann immer er sich für die Nacht niederlässt, in ihrer Alternativlosigkeit nur bestätigt. Trotz deren prominenter Stellung hat die Forschung den Sebaldschen Hotels bislang kaum Beachtung geschenkt, sie finden höchstens kurz Erwähnung. Michael Niehaus weist, das wurde bereits zitiert, auf die Virulenz transitorischer Orte wie Wartesäle und Hotelräume hin.121 Und Ruth Klüger erwähnt im Zusammenhang mit Ambros Adelwarth, dort komme »ein weiteres Lieblingsmotiv Sebalds zur Sprache, nämlich der Verfall der großen Hotels und das Elend der kleinen, miserablen. In seinen Büchern gehören Hotelzimmer jeder Art zu den Standardrequisiten, denn sie sind die Herbergen des Wanderers. Selten fühlt er sich wohl in ihnen«, schreibt sie.122 Besondere Beachtung verdienen die diversen Herbergen allein schon deswegen, weil sich in den Schilderungen derselben und des Befindens des Erzählers während seiner Aufenthalte dort dessen Bezugnahme auf die durchreisten Landstriche auf kondensierte Weise niederschlägt. Die Wahl der Hotels und Pensionen und deren Wahrnehmung durch den Erzähler sind paradigmatisch für dessen Perzeption der jeweiligen Orte. Will man die vielen Etablissements typologisieren, die in den Texten – insbesondere in All’estero, Ambros Adelwarth und in Die Ringe des Saturn – Erwähnung finden, lässt sich gut an Klügers Zweiteilung anknüpfen. Es geht um den »Verfall der großen Hotels und das Elend der kleinen, miserablen«, d.h. abgesehen von wenigen noch anzuführenden Ausnahmen, finden sich tatsächlich nur zwei Kategorien von Hotels bei Sebald: Es gibt die großen, ehemals prächtig ausgestatteten, die ihre prunkvollen Tage, vornehmlich um die vorletzte Jahrhundertwende, längst hinter sich haben; im Besonderen in Ambros Adelwarth spielen diese eine entscheidende Rolle. Und es gibt die kleinen, schäbigen, von denen nicht anzunehmen ist, dass sie je bessere Zeiten erlebt haben, wenngleich auch sie wirken, als befänden sie sich bereits auf der Zielgeraden auf ihr nahes Ende zu. Oftmals entsteht dieser Eindruck bereits aufgrund der Umgebung, in der sich die entsprechende Absteige befindet. So liegt beispielsweise das Haus in Den Haag, in dem sich der Erzähler in Die Ringe einquartiert – er »weiß nicht mehr, war es das Lord Asquith, das Aristo oder das Fabiola« (RdS 99), er kennt diese Hotels offenbar alle –, in 121 Niehaus 2008 (s. Anmerkung in Fußnote 68). 122 Klüger 2003, 98. 51
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einer ihm extraterritorial erscheinenden Gegend, in der »[d]ie Fenster in den Seitengassen [...] größtenteils mit Brettern vernagelt« sind (RdS 101). In Austerlitz verbringt er nach seinem letzten Treffen mit der Titelfigur eine »unruhige Nacht« im Antwerpener Flamingo Hotel am Astridsplein »in einem brauntapezierten, häßlichen Zimmer, das nach rückwärts hinausging auf Brandmauern, Abluftkamine und flache, mit Stacheldraht voneinander getrennte Dächer« (A 416). Der Ausblick auf verlassene Hinterhöfe oder Brandmauern ist charakteristisch für die Kategorie der »kleinen, miserablen« Sebaldschen Hotels. Immer gehen deren Fenster nach hinten hinaus und geben den Blick frei auf eine Facette der jeweiligen Stadt, die quasi die Kehrseite der Postkartenansichten bildet. Es kommt ein verlassenes Eck zum Vorschein, das kurzerhand jegliche Illusionen, den Zustand des entsprechenden Orts betreffend, zu zerstören vermag. In Max Aurach scheint die trübe Aussicht aus dem Hotelzimmer, in dem der Erzähler sich in den sechziger Jahren in Manchester einquartiert, den miserablen Zustand der Stadt gebündelt vor Augen zu führen. Die einstige Industriemetropole ist nur mehr eine einzige Industriebrachlandschaft. Untergebracht ist er im Hotel Arosa, einem Gebäude mit »rußgeschwärzter Fassade«, dessen »Gewirr von Zimmer-, Toilettenund Feuertüren, von blinden Korridoren, Notausgängen, Treppenabsätzen und Stiegen« fast labyrinthische Züge aufweist (AG 223 und 225). Durch das Fenster seines Raums sieht der Erzähler hinab auf allerhand halbverfallene Anbauten mit Schieferdächern und einen Hinterhof, in dem sich den ganzen Herbst hindurch die Ratten tummelten, bis ein paar Wochen vor Weihnachten mehrmals hintereinander ein kleiner Rattenfänger namens Renfield mit einem verbeulten Eimerchen voller Rattengift kam, das er mit einem an einen kurzen Stecken gebundenen Suppenlöffel in verschiedene Ecken, Winkel, Abflußrinnen und Rohre gab, was die Anzahl der Ratten auf ein paar Monate beträchtlich herabminderte. (AG 225f.)
Die Menschenleere der Hinterhöfe der Hotels wiederholt sich im Innern dieser Gebäude, selten nur sind andere Hotelgäste anzutreffen. Die »travelling gentlemen« (AG 228), die der Hotelbesitzerin Gracie Irlam zufolge das Arosa gewöhnlich bevölkern, sind ohnehin kaum zu sehen, und an den Wochenenden bleiben sie ganz aus, so dass der Ich-Erzähler »in dem an den Sonntagen vollkommen verlassenen Hotel jedes Mal von einem solch überwältigenden Gefühl der Ziel- und Zwecklosigkeit erfaßt« wird, dass er sich gezwungen sieht, ebenfalls aus dem Haus zu gehen (AG 230). Auch das Hotel Sole im Ort Limone liegt »leer und verlassen da«, als er in All’estero dort eintrifft; auf der Terrasse findet sich allein »ein einsamer Gast unter einem Sonnenschirm« (SG 104). Die wenigen anderen Reisenden, die Erwähnung finden, beleben den jeweiligen 52
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Aufenthaltsort nicht merklich; man denke beispielsweise an die beiden Männer – »zwei nicht mehr ganz junge, offenbar miteinander seit langem vermählte Herren und zwischen ihnen, an Kindes Statt sozusagen, ein aprikosenfarbener Pudel« (RdS 99) –, die in Die Ringe in bereits erwähntem Hotel am Den Haager Stationsweg in der »Rezeptionsnische« sitzen. Wenig politisch korrekt wird das alternde schwule Paar hier eingesetzt, um die Endzeitstimmung des ohnehin »selbst den bescheidensten Reisenden sogleich mit einem Gefühl der tiefsten Niedergeschlagenheit erfüllenden Etablissements« (RdS 99) noch zu intensivieren. Auch in den Textpassagen also, in denen wie hier andere Reisende in Erscheinung treten, wirken die Etablissements dennoch entleert und entvölkert. Diese Leblosigkeit in deren Innerem korrespondiert stark dem oben skizzierten maroden und ruinösen Zustand der Gebäude. Gesteigert wird der Eindruck, die Hotels befänden sich in einem fortgeschrittenen Prozess der Auflösung, noch erheblich überall dort, wo es nicht um die »kleinen, miserablen« – um auf Klügers Formulierung zurückzugreifen –, sondern um den »Verfall der großen« geht. Die Beschreibungen des gegenwärtigen Zustands der großen Hotels kontrastieren dort jeweils mit denjenigen von der Pracht und dem Glanz vergangener Tage. So ist vom Londoner Great Eastern, dessen »größtenteils bereits stillgelegte« Räume und Salons sich Austerlitz vom Geschäftsführer Peirera zeigen lässt, allein die Bar, der »Trinkplatz« der Geschäftsmänner, geblieben (A 66 und 61). Dass das Victoria in Lowestoft, wie es in einem »kurz nach der Jahrhundertwende gedruckten« Reiseführer des Erzählers in Die Ringe heißt, einst ein Promenadenhotel »of a superior description« gewesen sei, ist jetzt ebenfalls in keiner Weise mehr nachzuvollziehen. Dem Niedergang der Stadt und deren »fortschreitende[r] Verelendung« entsprechend, ist auch das Hotel selbst von einer erschreckenden »Trostlosigkeit«. »[S]ogar mitten in der Saison – wenn von einer Saison in Lowestoft überhaupt die Rede sein kann –« (RdS 57f.) sind die Räume des Etablissements völlig verlassen, als der Erzähler im Jahr 1992 dort unterkommt. Ihren Höhepunkt erfährt die Gegenüberstellung des einstigen mondänen Glanzes großer Hotels und deren heruntergekommenen Zustands in der Gegenwart in der Erzählung Ambros Adelwarth. Im September 1991 reist der Erzähler dort in den französischen Küstenort Deauville, wo sein Großonkel Ambros und dessen Reise- und Lebensgefährte Cosmo Solomon in den Jahren 1912 und ’13 die Sommermonate vornehmlich in den Spielcasinos verbracht hatten. Abermals ist der Erzähler bereits vom Zustand der Ortschaft selbst erschüttert: Die Villen bieten »fast ausnahmslos ein Bild der Verwahrlosung und Verlassenheit«, »beinahe alles« – die Bibliothek, das Stadtarchiv, das Museum, auch das Ho-
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tel Roches Noires – wurde »zugemacht und geschlossen« (AG 172). Und so zeigt sich »sogleich, daß dieses einst legendäre Seebad, genau wie jeder andere Ort, den man heute, ganz gleich in welchem Land oder Weltteil, besucht, hoffnungslos heruntergekommen war und ruiniert vom Autoverkehr, vom Boutiquenkommerz und der auf jede Weise und immer weiter um sich greifenden Zerstörungssucht« (AG 171f.). Das wird wiederum ausgeführt anhand der Beschreibung der Hotels: Das Normandy wird zwar nach wie vor genutzt, ist aber nur noch ein traurig karikaturistisches Abbild seiner selbst – darauf ist zurückzukommen. Im Roches Noires dagegen wurde der Betrieb schon in den fünfziger oder sechziger Jahren eingestellt und das riesenhafte Gebäude in Apartments aufgeteilt, die größtenteils mittlerweile jedoch erneut unbewohnt sind: Heute ist das ehemals luxuriöseste Hotel der normannischen Küste nur noch eine zur Hälfte bereits in den Sand gesunkene monumentale Monstrosität. Die meisten Wohnungen sind seit langem verlassen, ihre Besitzer aus dem Leben geschieden. Einige unzerstörbare Damen aber kommen nach wie vor jeden Sommer und geistern in dem riesigen Gebäude herum. Sie ziehen für ein paar Wochen die weißen Tücher von den Möbeln, liegen in der Nacht still aufgebahrt irgendwo in der leeren Mitte, wandern durch die stillen Korridore, durchqueren die immensen Säle, steigen, vorsichtig einen Schuh vor den andern setzend, in den hallenden Treppenhäusern auf und nieder und führen am Morgen ihre von Geschwüren durchwachsenen Pudelhunde auf der Promenade spazieren. (AG 174f.)
Die Schilderung vom Niedergang des Roches Noires liest sich wie die Klimax aller Sebaldschen Hoteldeskriptionen. Wieder sind es gealterte – diesmal weibliche – Figuren mit überzüchteten Pudeln, deren an Untote erinnernde ›Unzerstörbarkeit‹ gerade den immensen Grad an Zerstörtheit und Zerrüttung des gesamten Orts nochmals reflektiert. An die Stelle von dessen ehemaligem Luxus ist eine morbide Monstrosität getreten – im Text unterstrichen durch den Einschub einer finsteren Photographie des überdimensionierten, verlassen im Sand liegenden Gebäudes (vgl. AG 174) –, die den üblen Zustand nicht nur dieser französischen Ortschaft oder dieses Landstrichs versinnbildlicht, sondern den des gesamten Globus. Denn, so der Erzähler, wie bereits zitiert, »ganz gleich in welchem Land oder Weltteil« man sich heutzutage befinde, überall sei, was man antrifft, »hoffnungslos heruntergekommen [...] und ruiniert« (AG 171). Anhand keines anderen Gebäudetypus manifestiert sich dies deutlicher als anhand der ruinösen Hotels. Wenngleich der Erzähler oftmals erschaudert angesichts der schäbigen Etablissements, auch wenn er deren Zustand beklagt und sich selbst bemitleidet angesichts dieser Schlafstätten – »[d]ie armen Reisenden«! –, 54
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wird er nicht müde, sie aufzusuchen und detailliert zu beschreiben. So steht außer Frage, dass seine Haltung den diversen Absteigen und verrottenden Palästen gegenüber ambivalent bleibt, er mindestens ebenso angezogen wie abgestoßen ist und dass die Texte dementsprechend nicht nur von einem signifikanten Interesse an, sondern auch einer hohen Affinität zu diesen Hotelruinen zeugen. Bezüglich anderer ruinöser Gebäude, Stadtlandschaften oder Landstriche, insbesondere Manchesters in Max Aurach und der Halbinsel Orfordness in Die Ringe, ist mehrfach erörtert worden, inwiefern Sebalds Räume häufig »Ruinenräume« – ein Begriff Eva Juhls123 – darstellen und inwiefern seine Texte ein besonderes Interesse am Ruinösen aufweisen.124 »Die Ruine«, schreibt Norbert Bolz in seiner Einleitung zum Band Ruinen des Denkens, Denken in Ruinen, sei »eine Gestalt zwischen Artefakt und Entropie. Die Natur hat ihr Zerstörungswerk noch nicht vollendet, aber die Totalität des Menschenwerks ist zerschlagen.« Bolz fährt fort: Wir können nun sehr einfach vermuten, daß die Sympathie für die Ruine aus einem Unbehagen an von Menschen gestifteten Totalitäten rührt. Man zieht das Bruchstück dem Ganzen, das Fragment dem System und den Torso der vollendeten Skulptur vor. Statt zu planen und theorierein zu strukturieren, nimmt unsere Arbeit lieber die Formen des patchworks oder der bricolage an.125
Folgt man Bolz, wenn dieser die Favorisierung des Ruinösen als die Signatur der Posthistoire liest, entsprechen Sebalds Vorliebe und die damit in Zusammenhang stehenden Formen, die seine Arbeit annimmt, also ganz dem gegenwärtigen Trend. Auch in Sebalds Fokussierung der Hotelruinen schlägt sich sein »Unbehagen an von Menschen gestifteten Totalitäten« nieder. Diese verdämmernden, entvölkerten Gebäude sind Produkte entropischer Kräfte, die diese Totalitäten zersetzen, ihr Zustand weist auf die Tendenz zur Rückverwandlung des vom Menschen Gemachten in Natur hin. Georg Simmel spricht davon, dass in der Ruine eine ausgleichende »Gerechtigkeit der Zerstörung« ansichtig werde.126 Simmel zufolge liegt in jeder Gestaltung eine gewisse Ungerechtigkeit dem Material gegenüber verborgen, denn Gestaltung heiße, dem Naturstoff gewaltsam eine Idee aufzuprägen. Auf Simmels Thesen Bezug nehmend fragt nun Bolz – und antwortet selbst im gleichen Atemzug – :
123 124 125 126
Juhl 1995, 653. Vgl. Ward 2004, Kastura 1996 und das Kapitel 4 in Fuchs 2004. Bolz 1996, 9. Simmel 1919, 129. 55
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Wie kann man das wieder gutmachen? – Überhaupt nicht. Denn was auch immer der Gestalter unternimmt – er prägt Formen auf und aus, d.h. er unterwirft das Material einer Idee. Mit anderen Worten heißt das aber, daß Menschen überhaupt nicht materialgerecht sein können. Gerechtigkeit widerfährt dem Material nur, wenn dem Gestalter das Handwerk gelegt wird – nämlich im natürlichen Zerfall.127
Dieser Überzeugung nun folgt Sebald bruchlos. Dies ist wichtig zu bemerken, weil sich daran die Beschäftigung mit dem Ruinösen und dem Verfall auch als eine lustvolle zu erkennen gibt und sich somit ihr obsessiver Charakter erklären lässt. Sebalds Deskriptionen ruinöser Räume lesen sich vor dem Hintergrund der Simmelschen Idee der Materialgerechtigkeit gewissermaßen als ein Rachenehmen an der vorausgegangenen Verstümmelung der Natur durch den Menschen. Indem die Texte wieder und wieder den natürlichen Verfall der Gebäude und Kulturlandschaften vorführen, lassen sie insofern Gerechtigkeit widerfahren, als sie ausführen, wie »dem Gestalter das Handwerk gelegt wird«, um Bolz’ Formulierung zu gebrauchen. Die Sebaldsche Ästhetik der Ruine, so schreibt auch Anne Fuchs, entwirft eine »Verschiebung der Balance zwischen menschlicher Naturbeherrschung und Beherrschung durch die Natur zu Gunsten Letzterer«.128 Im Bild der Ruine als dem einst vom Menschen errichteten Gebäude, das von der Natur wieder einverleibt wird, verdichtet sich die für Sebalds Texte konstitutive »Sehnsucht nach der Auflösung der Materie in nichts als Fluchtpunkt« seiner Geschichtsdarstellung.129 In der Beschreibung der Ruinen kündigt sich bereits an, inwiefern Sebalds Texte – wie zu sehen sei wird130 – auf den einen erlösenden Punkt zustreben: auf die Ankündigung einer vom Menschen befreiten Welt. Vor dieser Folie wird deutlich, weshalb die geschilderten Hotels so auffällig leer und entvölkert sind: »[The] depopulation«, schreibt Simon Ward, »is a function of a perspective that views the ruin as a building or buildings (apparently) without human use or function.«131 Kaum mehr dem menschlichen Gebrauch dienend, stehen die Hotelruinen – am deutlichsten das Roches Noires – am Übergang zwischen der vom Menschen gemachten Welt und derjenigen, die folgen wird. Wenn Anne Fuchs anmerkt, an der Ruine sei der »vollzogene Umschlag von der zerstörerischen Geschichte in die Naturgeschichte« zu be-
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Bolz 1996, 8f. Fuchs 2004, 162. Fuchs 2004, 169. Vgl. hierzu meine Ausführungen zu »Schädelstätten vs. Eislandschaften – die ›Naturgeschichte‹ und deren Stillstellung«, 68ff. 131 Ward 2004, 59. 56
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obachten,132 so ist wichtig anzuführen, welcher Naturbegriff sich hier bei Sebald niederschlägt. Die Natur, die sich die Gebäude wieder anverwandelt und einverleibt, wird bei Sebald keineswegs als eine friedliche begriffen, die weniger zerstörerischen Strukturprinzipien als die Historie gehorchte. Vielmehr versteht Sebald die Menschengeschichte, wie er selbst in einem Interview anmerkt, allein als einen »Sonderfall der Naturgeschichte [...] und nicht [als] etwas, das sich autonom und unabhängig von der Naturgeschichte abspielt«.133 Er verklammert hier Natur und Historie auf die Weise, die Adorno in seiner Antrittsvorlesung in Frankfurt 1932 mit dem Titel Die Idee der Naturgeschichte vorschlägt. Adorno konstatiert dort, die Frage nach dem Verhältnis von Natur und Geschichte habe nur dann Aussicht auf eine ernsthafte Beantwortung, »wenn es gelingt, das geschichtliche Sein in seiner äußersten geschichtlichen Bestimmtheit, da, wo es am geschichtlichsten ist, selber als ein naturhaftes Sein zu begreifen, oder, wenn es gelänge, die Natur da, wo sie als Natur scheinbar am tiefsten in sich verharrt, zu begreifen als ein geschichtliches Sein.«134 Auf Benjamins Trauerspiel-Buch rekurrierend plädiert er dafür, Natur als Vergänglichkeit zu denken, was impliziere, dass zum einen Natur immer schon geschichtlich sei, zum anderen Geschichte ihrerseits immer auf Natur verweise.135 Die zentrale Wendung der Idee der Naturgeschichte sei so die »Rückverwandlung der konkreten Geschichte in dialektische Natur«.136 Der Verlauf beider – der Geschichte wie der Natur – ist, in dieser Verschränkung, gleichermaßen katastrophisch. Wenn nun also die Ruinierung der Sebaldschen Hotels deren Rückverwandlung in »dialektische Natur« ankündigt, so weist Sebald damit zurück auf das von Adorno und Horkheimer diagnostizierte Rückschlagen der aufgeklärten Welt in ›Naturverfallenheit‹.137 Die Anverwandlung der Gebäude als Signaturen der Machwerke des Menschen durch die Natur ist nur der letzte Schritt, d.h. die Sichtbarmachung eines längst laufenden Prozesses. Insofern erscheint nicht dieses Rückschlagen als die desaströse Wendung – die Katastrophen sind bereits vorausgegangen. Vielmehr ist es als die Antwort auf den verheerenden Verlauf der Geschichte zu begreifen – eine Antwort, die der Erzähler mit großer Genugtuung in hunderterlei Variationen und mit der für ihn charakteristischen Detailgenauigkeit vorführt, weil in ihr die einzig denkbare Realisierung einer Simmelschen Materialgerechtigkeit aufscheint. 132 133 134 135 136 137
Fuchs 2004, 162. Zitiert nach Schlodder 1997, 180f. Adorno 1998, 354f. (Hervorhebung im Original.) Vgl. Adorno 1998, 358f. Adorno 1998, 355. Vgl. Adorno/Horkheimer 1998. 57
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Auch die »Ruinenräume« legen nun nicht allein nahe, als Weltmodell im Sinne Lotmans gelesen zu werden, sondern verlangen ebenso deutlich nach einer poetologischen Lektüre, wie sich in Bolz’ Erläuterung der gegenwärtigen Favorisierung des Ruinösen ankündigt. Eine solche Lesart der Ruine als Textmodell schlägt Simon Ward vor, der sich die Beschreibungen der ruinierten Gebäude und Landschaften auf ihre texttheoretischen Implikationen hin ansieht.138 Sämtliche Ruinenfelder – Jerusalem in Ambros Adelwarth ebenso wie die Landzunge Orfordness oder das zerstörte Nachkriegsberlin im Bericht Michael Hamburgers in Die Ringe – seien, so Ward, »sites of broken narration, realms where the imagination actively engages with, indeed transforms, the material environment«.139 Insbesondere in der Nebeneinanderstellung des Zustands der Stadt Manchester in Max Aurach und der Maltechnik der Titelfigur – das vielfache »Herunterkratzen und Neuauftragen der Farbe« hinterlässt die Leinwände in einem Zustand, der ähnlich ruiniös ist wie der der heruntergekommenen Stadt (AG 260) – entdeckt Ward den emblematischen Charakter des Ruinösen auch für die Textkonstruktion. Letztlich werde anhand des Arbeitsprozesses Aurachs, der wiederum mit dem des Erzählers parallelisiert wird (vgl. AG 345), vorgeführt, inwiefern sich die künstlerische Repräsentation selbst in einem ruinösen Zustand befinde: »That process leaves the artistic representation in a state of ruin, rather than the traces of the thing that was to be presented. Whereas time or some other process of destruction has ruined the material, the artist sets about destroying his signifiers in order to arrive at an approximation of the trace.«140 Zerstört werden müssen die Signifikanten wiederholt aufgrund ihrer Unzulänglichkeit: Über die eigenen Schreibarbeiten merkt der Erzähler an, »[w]eitaus das meiste« seines »Bleistiftund Kugelschreibergekritzel[s] [...] war durchgestrichen, verworfen oder bis zur Unkenntlichkeit mit Zusätzen überschmiert. Selbst das, was ich schließlich für die ›endgültige‹ Fassung retten konnte, erschien mir als ein missratenes Stückwerk.« (AG 345) Hier mag zu hohem Anteil Koketterie mit im Spiel sein, was die Relevanz der Selbstbeschreibung allerdings eher noch verstärkt als schwächt: Der Erzähler preist seinen Text als ein aus vielfachen Durchstreichungen und Verwerfungen entstandenes Stückwerk an, das damit eine größtmögliche Annäherung an das zu Erzählende – die fragmentierten Lebens- und anderen Geschichten – versucht. Norbert Bolz konstatiert, ein Denken in Ruinen zeichne sich vor allem dadurch aus, dass es dem entspreche, was Benjamin die ›Ansiedlung 138 Vgl. Ward 2004. 139 Ward 2004, 61. 140 Ward 2004, 64. (Hervorhebung im Original.) 58
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von Wissen‹ nennt.141 Dies meine als kritisches Verfahren genau das Gegenteil von Hegels ›auf den Begriff bringen‹, nämlich nicht die Errichtung eines eigenständigen Systems, den Bau eines neuen Gedankengebäudes, sondern den Rückgriff auf das und den Gebrauch dessen, was andere bereits gedacht haben. Sebald lässt sich also auch insofern als ›ruinöser‹ Autor bezeichnen, als die für seine Texte charakteristischen Erzähltechniken – die bricolage, diverse Zitationsverfahren, die Bildmontage usw. – exakt dieser Methodik einer Ansiedlung von Wissen entsprechen. Es zeige sich, so Bolz, »daß ein Denken in Ruinen den metaphorologischen Gegenpol zur tabula rasa darstellt. Wer Wissen in Werkruinen ansiedelt, behauptet gerade nicht, reinen Tisch zu machen.«142 Er behauptet vielmehr, anhand der Neukombination und Vernetzung vorhandener Wissensfragmente ein Gesamtbild zeichnen zu können von einer durch und durch ruinierten, im Zerfall begriffenen Welt. Simmels These, die Ruine repräsentiere die Vergangenheit in der Gegenwart, und zwar weniger eine konkrete Vergangenheit als vielmehr Vergangenheit als solche,143 findet sich bei Sebald insofern bestätigt, als auch Sebalds Ruinen, wie gesehen, in erster Linie die gegenwärtige Präsenz des Vergangenen allegorisierend zur Anschauung bringen wollen. Und dennoch ist bei den Beschreibungen der ersten Kategorie ruinöser Hotels, d.h. der großen, ehemals prunkvollen, noch eine andere im Text jeweils implizierte Spur zu finden. Das Londoner Great Eastern, das Victoria in Lowestoft und – am auffälligsten – die ehemaligen Prachtbauten in Deauville erinnern, wenn auch nur noch mit letzter Kraft, an eine sehr konkrete Vergangenheit, namentlich an ihre Glanzzeiten um die vorletzte Jahrhundertwende bzw. im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. In der benannten Kontrastierung des miserablen gegenwärtigen Zustands dieser Häuser und deren mondäner Vergangenheit ist eine auffällige Neigung zur Glorifizierung dieser Epoche zu bemerken. Besonders augenscheinlich wird dies in Ambros Adelwarth. Die Protagonisten der Erzählung, Ambros und Cosmo, werden beide vom IchErzähler mit den – innerhalb des Sebaldschen ›Wertesystems‹ – feinsten Charakteristika ausgestattet: Der Großonkel selbst wird als der Inbegriff des kultivierten, feinsinnigen und disziplinierten Europäers dargestellt, der sehr jung bereits nach Frankreich gegangen war, um sich in Montreux im Grand Hotel Eden ausbilden zu lassen (vgl. AG 113) –, während der Amerikaner Cosmo, aus einer reichen jüdischen Familie stammend, ebenfalls hochbegabt und außerordentlich weltgewandt, vor allem durch 141 Vgl. Bolz 1996, 10. 142 Bolz 1996, 10 143 Simmel 1919, 132. 59
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einen starken Hang zum Exzessiven und eine ans Übersinnliche grenzende Sensibilität ausgezeichnet ist. Diese beiden Ausnahmefiguren nun verbringen, nachdem Cosmo bereits in den Staaten »in Luxushotels wie dem Breakers, dem Poinciana oder dem American Adelphi ungeheure Mengen Geld« durchgebracht hat (AG 132), mehrere Sommer während der frühen zehner Jahre an den glamourösesten europäischen Orten, in Evian, Monte Carlo und schließlich in der »eleganten Welt« besagten französischen Küstenorts. Dorthin nun begibt sich der Erzähler etwa acht Jahrzehnte später ohne genau zu wissen, ob er sich, »entgegen jeder vernünftigen Annahme, etwas Besonderes von Deauville erwartet ha[t] – einen Rest von Vergangenheit, grüne Alleen, Strandpromenaden oder gar ein mondänes oder demimondänes Publikum« (AG 171). Was er antrifft, ist eine Welt, die derjenigen Ambros’ und Cosmos in jeder Hisicht entgegengesetzt ist – am plastischsten zu sehen an der Schilderung des Hotels Normandy. Noch immer, betont der Erzähler, gelte dieses »[i]m Gegensatz zu dem allmählich zerfallenden Roches Noires« als »ein Haus der gehobensten Klasse« (AG 175), und in exakt dieser Aussage liegt der Kern der Gegenüberstellung: Der heutige Nutzungszustand des Hotels – es wird ausschließlich von japanischen Reisegruppen besucht, die sich als Teil einer »Globusglücksreise« (AG 176) drei Tage fast ohne Unterbrechung in dem gegenüberliegenden Casino an Spielautomaten aufhalten (vgl. AG 176f.) – ist in nichts dem damaligen vergleichbar. Was heute als »gehobenste Klasse« gilt, ist im Grunde fake auf billigstem Niveau. Mit großem Missfallen diagnostiziert der Erzähler den Verlust jeder erdenklichen Authentizität; Fassade und Funktion des Hauses korrelieren überhaupt nicht mehr. Im Casino, das in der selben Zeit erbaut wurde wie das Hotel, finden sich anstelle der Roulettetische größtenteils die von den Japanern genutzten Spielautomaten. An den wenigen verbliebenen Spieltischen sitzen nur »fragwürdige Kunden aus dem Hinterland, irgendwelche Winkeladvokaten, Grundstücksmakler oder Großgaragisten mit ihren Geliebten, und versuchten, das Glück zu übertölpeln, das ihnen in Gestalt eines kurzleibigen und unpassenderweise in der Uniform eines Manegedieners steckenden Croupiers gegenüberstand« (AG 177). An die Position des legendären Cosmo sind die Zeitgenossen des Erzählers gerückt, die ihm sogar zum Übertölpeln zu dumm scheinen. Wo Cosmo mithilfe seiner halluzinatorischen Fähigkeiten, die wiederum seinem späteren Leiden sehr stark korrespondieren – so wie er beim Roulette die richtige Ziffer vor Augen hat, quälen ihn wenige Jahre später Gesichte der im Ersten Weltkrieg elend Zugrundegehenden (vgl. AG 133 und 139) –, einst die Kassen leer räumte, sitzen heutzutage dumpf wirkende Gestalten aus der pseudo-mondänen Welt der Gegenwart. Selbst die Kostümierung des Croupiers ist zur Farce verkommen.
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Dieser Schilderung folgt der Bericht von dem Traum, in dem der Erzähler Ambros und Cosmo an den Spieltischen sitzen und Fuhrwerke, Laufburschen und Flaneure – allesamt Signaturen bzw. Figuren der Vormoderne, wie Starobinski über den Flaneur sagt – auf den Straßen sieht (vgl. AG 179). Der Traum kontrastiert nochmals auf kondensierte Weise eine mystifizierte Vergangenheit und eine Gegenwart, in der die Relikte aus jener Vergangenheit, versinnbildlicht durch die Gebäude, nur noch in erschreckender Kontextlosigkeit erhalten geblieben sind. Das findet am deutlichsten Ausdruck, wenn der Erzähler sagt, man habe heutzutage im Normandy weitaus weniger den Eindruck, man befinde sich »in einem renommierten internationalen Hotel als in einem außerhalb von Osaka anläßlich einer Weltausstellung eigens errichteten französischen Gastronomiepavillon, und mich zumindest hätte es überhaupt nicht gewundert, wenn ich, aus dem Normandy heraustretend, sogleich auf ein balinesisches oder alpenländisches Phantasiehotel gestoßen wäre« (AG 176). Wie die beiden idealisierten Männerfiguren, Ambros und Cosmo, repräsentieren das Hotel Normandy und das Casino hier eine längst zerstörte und im Text stark glorifizierte Kultur, deren Zersetzung – das zeigt am prägnantesten Cosmos psychischer Zusammenbruch – mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs einsetzt und spätestens mit Beginn des ›Dritten Reichs‹ zum Abschluss kommt. Auch in Ambros Adelwarth lässt sich so eine deutliche, von Anne Fuchs vornehmlich in Bezug auf Austerlitz aufgezeigte »Tendenz ausmachen, vor allem die Vorkriegszeit nostalgisch zu verklären«. Dieser Hang zur Verklärung der Vergangenheit gehe, so Fuchs weiter, »Hand in Hand mit der erzählerischen Abschottung gegenüber der eigenen Gegenwart. Die Welt nach 1945 ist für Sebald eine leere Welt«144 – eine Welt, die, wie gesehen, höchstens auf entlarvend schlechte Weise den Glanz vergangener Epochen zu kopieren versucht, aber dennoch nicht verbergen kann, längst im Zerfall begriffen und sinnentleert zu sein.145 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwiefern bezüglich der Sebaldschen Hotels Marc Augés Terminus des Nicht-Orts nutzbar zu machen ist, nochmals neu. Zweifellos sind Hotels prinzipiell jenen Transiträumen zuzurechnen, deren massenhafte Vermehrung und Ausbreitung Augé zufolge die ›Übermoderne‹ kennzeichnen. Wie im vorigen Kapitel ausgeführt, überzeugt die Applizierung des Begriffs des Nicht-Orts auf Sebald, wie sie Michael Niehaus vorschlägt, aber nicht ganz: Zwar stellen die Hotels Sebalds insofern Nicht-Orte dar, als sich die sie durchque144 Fuchs 2004, 19f. 145 Siehe zur Nostalgisierung der Zeit vor ’33 auch meine Ausführungen »Im ›Gravitationsfeld der vergessenen Dinge‹ – museale Räume«, 91ff. 61
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renden Subjekte nur vorübergehend in ihnen aufhalten und während dieser Aufenthalte keine stabilisierende Positionierung erfahren. Es ist jedoch wichtig zu bedenken, dass bei Augé das zentrale Charakteristikum des Nicht-Orts dessen Geschichtslosigkeit ist: »So wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen läßt, einen Nicht-Ort«, legt Augé fest.146 Diese Definition kann auf die besehenen, historisch vielfach codierten Sebaldschen Hotels nicht zutreffen. Selbst wenn die Gebäude dem unbedarften Besucher – wie vermutlich das Normandy dem japanischen Reisenden – wie kontextlose, übermoderne Orte erscheinen mögen, wird demjenigen, der den Raum zu lesen weiß, d.h. dem Erzähler selbst, der ruinierte Zustand desselben vor allem bewusst, weil er dessen Historie kennt. Er kann die letzten Spuren der Vergangenheit an diesen Orten verfolgen und entsprechend die leere Gegenwart mit der angefüllten Vergangenheit vergleichen. Parallel zur beschriebenen Allegorisierung der ruinösen Hotels läuft bei Sebald immer deren Historisierung mit. Das hat nun nicht immer den glorifizierenden Charakter, der bezüglich der Hotels in Deauville, London und Lowestoft zu diagnostizieren war. Das Hotel, in dem der Erzähler in Max Aurach während seines Aufenthalts in Bad Kissingen unterkommt, »war soeben von Grund auf renoviert worden in dem in Deutschland unaufhaltsam sich ausbreitenden neuimperialen Stil, welcher diskret mit Blaßgrün und Blattgold die Geschmacksverirrungen früherer Jahre überdeckt« (AG 329). Vor dem Hintergrund der Geschichte der Luisa Lanzberg, deretwegen sich der Erzähler nach Kissingen begeben hat, gewinnen die baulichen Veränderungen an dem Hotel eine politisch-historische Dimension; der »neuimperiale Stil« erinnert an den verdrängten ›imperialen‹. Im Besonderen die Eindrücke der darauffolgenden Tage bedingen, dass sich die Renovierung des Hauses »von Grund auf« als weiteres Zeichen für die alles dominierende »Geistesverarmung und Erinnerungslosigkeit der Deutschen, [für] das Geschick, mit dem man alles bereinigt hatte« (AG 338), zu erkennen gibt. Gerade die Umgestaltung des alten Hotels zum vermeintlich geschichtslosen Nicht-Ort ist somit als Signatur des verheerenden Umgangs der Kissinger mit ihrer Historie lesbar und insofern ihrerseits hochgradig politisch und historisch relevant. In Die Ringe ist in grobem Zusammenhang mit den Biographien Conrads und Casements von einem Brüsseler Hotel die Rede, in dessen Ausstattung sich dem Erzähler zufolge eine spezifisch belgische Hässlichkeit bemerkbar macht, deren Ursprung er in der Kolonialgeschichte des Landes verortet. Es gebe in Belgien, so heißt es im Text, »bis auf den heutigen Tag eine besondere, von der Zeit der 146 Augé 1994, 92. 62
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ungehemmten Ausbeutung der Kongokolonie geprägte, in der makabren Atmosphäre gewisser Salons und einer auffallenden Verkrüppelung der Bevölkerung sich manifestierende Häßlichkeit, wie man sie anderwärts nur selten antrifft«.147 Entsprechend finden sich in der Deskription des unansehnlichen Hotels am Bois de la Cambre mit der Beschreibung des Mobiliars, des Wandschmucks und der Zimmerpflanzen markante Hinweise auf die belgisch-afrikanische Geschichte. Das Etablissement ist »mit schweren Mahagonimöbeln, allerhand afrikanischen Trophäen und mit zahlreichen, teilweise ganz enormen Topfpflanzen, Aspidistren und Monsterae und bis unter die vier Meter hohe Decke hinaufgewachsenen Gummibäumen derart angeräumt, daß man selbst mitten am Tag den Eindruck einer schokoladenfarbenen Verfinsterung hatte« (RdS 149). Auch bei dem Kissinger und dem Brüsseler Hotel handelt es sich also um historisch codierte Räume, die in keiner Weise von Augés Geschichtslosigkeit zeugen, sondern in denen sich vielmehr die Erinnerung an die Verbrechen der europäischen Geschichte hält. Dort in Sebalds Texten, wo der Erzähler auf europäischem Boden die Spuren europäischer Historie verfolgt – d.h. fast überall in seinem Werk –, sind tatsächlich fast keine Nicht-Orte, die Augés Kriterien entsprächen, zu finden. Einzige Ausnahme bilden die beiden McDonalds-Filialen, eine in London und eine in Den Haag. Indem beide Male die Neonbeleuchtung der Innenräume hervorgehoben wird – in Die Ringe erwähnt der Erzähler 147 Eine quasi-historische Begründung der Hässlichkeit nicht nur der Bauten, sondern auch der Menschen findet sich auch in Max Aurach: Auf der Zugreise nach Bad Kissingen kommt in der Nähe des Erzählers ein Fahrgast zu sitzen, der die Inkarnation der historisch bedingten »Geistesverarmung« der Deutschen zu sein scheint: »Mir gegenüber hatte sich, obschon sonst genügend Platz war, ein dicker, querschädliger Mann von vielleicht fünfzig Jahren hingehockt. Er hatte ein rotfleckig angelaufenes Gesicht und sehr eng stehende, etwas einwärts gedrehte Augen. Schwer vor sich hinschnaufend, wälzte er in einem fort seine unförmige Zunge, auf der sich noch Essensreste befanden, in seinem halboffenen Mund herum. Die Beine gespreizt, saß er da, Bauch und Unterleib auf eine grauenerregende Weise eingezwängt in eine kurze Sommerhose. Ich hätte nicht zu sagen gewußt, ob die Körper- und Geistesdeformation meines Mitreisenden ihre Ursache hatte in einer langen psychiatrischen Internierung, in einer angeborenen Debilität oder allein im Biertrinken und Brotzeitmachen.« (AG 328) – Die Erfahrungen, die der Erzähler nach seiner Ankunft in Kissingen mit den dortigen Anwohnern macht, lassen stark vermuten, dass letztere seiner Mutmaßungen die richtige ist. Sämtliche Kissinger – mit Ausnahme der türkischstämmigen Bootsführerin – weisen gewisse Deformierungserscheinungen auf, die Teil ihres ›deutschen Wesens‹ zu sein scheinen. 63
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den »grellerleuchteten Tresen« (RdS 101), und Austerlitz macht eine »beiläufige Bemerkung über die grelle, nicht einmal die Andeutung eines Schattens zulassende Beleuchtung« (A 167) –, werden die Schnellrestaurants als Orte gezeigt, an denen die für Augés Übermoderne kennzeichnende Absenz jeder Vergangenheit, hier symbolisiert durch die Schattenlosigkeit, Einzug gehalten hat. Nicht zufällig ist dies allein in den Räumen einer US-amerikanischen Fast-Food-Kette der Fall. In Ambros Adelwarth, dem einzigen Text Sebalds, in dem die Vereinigten Staaten eine entscheidende Rolle spielen, zeigt sich, dass die amerikanischen Orte, die der Erzähler durchreist, ganz anders konnotiert sind als die europäischen und viel eher als diese die Qualitäten geschichtsloser Nicht-Orte aufweisen. Interessant ist dabei die ambivalente Reaktion des Erzählers auf die Konfrontation mit der vermeintlichen Ahistorizität der USA. Bei seinem ersten Besuch im Jahr 1981 erscheint ihm die Gegend, die er auf dem Weg von Newark zu der retirement community Cedar Glen West, in der die Verwandten leben, durchfährt, noch völlig reizlos und öde: Ein »licht- und trostloser Tag« sei es gewesen, und in dem Landstrich habe es nichts gegeben »als Krüppelholz, verwachsenes Heidekraut und von ihren Bewohnern verlassene, teils mit Brettern vernagelte Holzhäuser, umgeben von zerfallenen Gehegen und Hütten« (AG 105). Noch steht die neuenglische Landschaft in seiner Wahrnehmung den entvölkerten Landstrichen beispielsweise an der südenglischen Küste in nichts nach. Als er jedoch Jahre später wiederum nach seiner Landung in New York City in einen Mietwagen steigt und diesmal nach Nordwesten in Richtung Upstate New York fährt – dies sind übrigens die beiden einzigen Gelegenheiten in Sebalds Gesamtwerk, in denen der Erzähler am Steuer eines Wagens sitzt –, gewinnt er einen völlig veränderten Eindruck von der Umgebung. Er bekennt: So finster und farblos die vor drei Jahren in Amerika verbrachten Wintertage gewesen waren, so lichtüberstrahlt erschien jetzt die aus lauter verschiedenen grünen Flecken zusammengesetzte Oberfläche der Erde. [...] Beim Anblick dieses anscheinend weitgehend unbewohnten Hochlandes kam mir in den Sinn, mit welchem Fernweh ich als Klosterschüler über meinen Atlas gebeugt gesessen bin und wie oft ich die amerikanischen Staaten, die ich auswendig und in alphabetischer Reihenfolge hersagen konnte, in Gedanken durchreiste. (AG 154f.)
Durch die Erinnerung an die als Junge in Gedanken unternommenen Reisen mischt sich ein neuer, für Sebald ungewöhnlicher Ton in die Beschreibung der Gegend. Diese gewinnt den Charakter einer Sehnsuchtslandschaft, die vom Erzähler den geschichtsträchtigen europäischen
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Landstrichen, die er üblicherweise durchreist, entgegengestellt wird. »[E]s kam mir vor«, sagt er, als bewegte ich mich, ferngelenkt mitsamt dem Automobil, in dem ich saß, durch ein überdimensionales Spielzeugland, dessen Ortsnamen von einem unsichtbaren Riesenkind willkürlich unter den Ruinen einer anderen, längst aufgegebenen Welt zusammengesucht und -geklaubt worden waren. Wie von selber glitt man auf der breiten Fahrbahn dahin. (AG 153)
Die aufgelisteten Namen der passierten Ortschaften, an die sich dieser Eindruck eines »Spielzeugland[s]« knüpft, stellen eine direkte Verbindung zu den »Ruinen einer anderen, längst aufgegebenen Welt«, zum ruinösen Europa, her: Die »Ansiedlungen, die mir trotz ihrer teilweise vertrauten Bezeichnungen im Nirgendwo zu liegen schienen« (AG 153) sind wie tausenderlei Städte und Städtchen in den USA großenteils nach den Heimatorten der europäischen Siedler benannt: Colchester beispielsweise erinnert an den gleichnamigen englischen Ort in Essex, und Monticello lässt natürlich an Italien denken. Hier ist Europa zwar nominell noch anwesend, aber die historische Last ist diesen Signifikanten, mutiert zu harmlosen Kosenamen eines »überdimensionale[n] Spielzeugland[s]«, genommen. Wenn sich hier in das anfängliche Befremden des Erzählers angesichts dessen ein klares Gefühl der Leichtigkeit mischt – »[w]ie von selber« gleitet er »auf der Fahrbahn dahin« –, so ist dies dem Wissen geschuldet, zumindest für kurze Zeit der permanenten Auseinandersetzung mit dem europäischen Geschichtserbe entkommen zu sein. Seine Ambivalenz während dieser Reisen wiederholt gewissermaßen sein frühes zwiespältiges Verhältnis zu den USA. Die Erzählung beginnt ja damit, dass der Erzähler von seiner jugendlichen Vorliebe für alles Amerikanische berichtet. Ihren Ursprung hatte diese in der von ihm bewunderten Lässigkeit der an seinem Heimatort stationierten GIs, »deren allgemeine Moral von den Einheimischen, wie man ihren halb hinter vorgehaltener Hand gemachten Bemerkungen entnehmen konnte, als einer Siegernation unwürdig empfunden wurde. [...] Gerade diese abschätzigen Bemerkungen sind es gewesen«, bekennt er, »die mich damals bestärkten in meiner Sehnsucht nach dem einzigen Ausland, von dem ich überhaupt eine Ahnung hatte.« (AG 102) Kaum eine Passage in sämtlichen Texten Sebalds zeugt von einer größeren Heiterkeit und sympathischeren Selbstironie als diejenige, in der der Erzähler den Höhepunkt der »imaginären Amerikanisierung« seiner Person, wie er es nennt, beschreibt, nämlich den Versuch des Sechszehnjährigen, »die Geistes- und Körperhaltung eines Hemingway-Helden in und an mir auszubilden« – gerade so, als habe die Nonchalance, die er den Amerikanern abzugucken versuchte, an 65
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dieser Stelle auf sein Schreiben abgefärbt. Das »Simulationsprojekt«, gesteht er, sei »aus verschiedenen Gründen, die man sich denken kann, von vornherein zum Scheitern verurteilt« gewesen (AG 102f.). Diesem Scheitern war dann, den bundesrepublikanischen sechziger und siebziger Jahren gemäß, eine lange anti-amerikanische Phase während seiner Studienzeit gefolgt, bis die zufällige Entdeckung eines alten Fotoalbums neues Interesse an den Biographien der in der Weimarer Zeit ausgewanderten Verwandten – unter anderen des Großonkels Ambros – wachruft (vgl. AG 103). Diese Doppelcodierung der USA bleibt in der gesamten Erzählung erhalten: Einerseits werden die Staaten zwar gezeichnet als ein Land, in das sich die europäische Geschichte tief eingeschrieben hat – der Erzähler hält sich ja gerade während seiner zweiten Reise überhaupt nur dort auf, um die zweifellos von der Historie Europas geschädigte und letztlich zerstörte Lebensgeschichte Ambros’ zurückzuverfolgen –, andererseits aber tritt im Erzähltext immer wieder jene Leichtigkeit zu Tage, die bereits während der Autofahrt zu bemerken war und die der Vorstellung eines Amerika, das Erholung von Europa verspricht, geschuldet ist. Exakt diese an den Eindruck der Geschichtslosigkeit geknüpfte Leichtigkeit nun findet sich wieder in der Beschreibung des einzigen Hotels, das der Erzähler in den USA besucht. Das Guesthouse in Ithaca, in dem er unterkommt, um von dort aus die psychiatrische Klinik aufzusuchen, in der Ambros seine letzten Lebensjahre verbracht hatte, unterscheidet sich deutlich von all den ruinösen europäischen Hotels. Der Portier geleitet ihn bei seiner Ankunft über eine wunderbare Mahagonistiege – man hatte auf ihr gar nicht das Gefühl des Treppaufgehens, sondern schwebte gewissermaßen hinan – in die oberste Etage, wo er mir ein geräumiges, nach hinten hinaus gelegenes Zimmer anwies. Ich stellte meine Tasche ab, öffnete eines der hohen Fenster und schaute mitten hinein in den wogenden Schatten einer aus der Tiefe heraufragenden Zypresse. Die Luft war erfüllt von ihrem Geruch und von einem beständigen Rauschen, das aber nicht, wie ich zunächst meinte, von dem Wind in den Bäumen herrührte, sondern von den in einiger Entfernung niedergehenden, wenn auch von meinem Fenster aus unsichtbaren Ithaca Falls [...]. (AG 157)
Wo der Blick aus dem Fenster in den europäischen Hotels, die er wählt, auf verlassene, allein von Ratten bevölkerte Hinterhöfe stößt, erwartet ihn hier das geheimnisvolle Rauschen der Wasserfälle. Als er sich niederlegt, fällt er – ungewöhnlicherweise – »sogleich in einen schweren Schlaf, in den die aus dem Wassertosen aufsteigenden Staubschleier hineinwehten wie weiße Vorhänge in einen nachtschwarzen Raum« (AG 158). Susan Sontag schrieb über Die Ausgewanderten, sie kenne kein 66
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Buch, »which conveys more about that complex fate, being a European at the end of European civilization«.148 Hier in dieser Textpassage ist dem Europäer ein sehr kurzes, aber intensives Ausblenden der Komplexität Europas gestattet: Den »nachtschwarzen Raum« seiner kontinuierlichen Beschäftigung mit der Schreckenshistorie des einen Kontinents überblendet eine erholsame Nacht lang die »weiße«, für ihn unbelastende Präsenz des anderen. Die Art und Weise, in der hier in der Erzählung von den einzigen beiden USA-Reisen des Sebaldschen Erzählers das ruinöse, geschichtsträchtige Europa und das vermeintlich geschichtslose Nordamerika einander gegenüber gestellt werden, erinnert in dieser klassischen Kontrastierung an Stellungnahmen während des ›Dritten Reichs‹ oder im Anschluss Emigrierter. Ruth Klüger begründet ihren Entschluss, in den Staaten zu leben, im Epilog zu weiter leben explizit mit einem Verweis auf die in den USA herrschende Tendenz zur Geschichtsvergessenheit. Sie schreibt über ihren Wohnort, das kalifornische Orange County: Ich lebe gern hier. Diese vom Erdbeben bedrohte Meer- und Wüstenlandschaft, mit Sonne gesegnet, von Wassernot geplagt, hat sich die törichte, tragische Aufgabe gestellt, die Vergangenheit abzuschaffen, indem man sie abstreitet, indem man die Gegenwart durch eine andere Gegenwart ersetzt, bevor die erste alt werden kann. [...] Hierher zurückgekommen, scheint mir das Deutschland, das ich in meinen zwei Göttinger Jahren kennenlernte, wie das verkehrte Spiegelbild meines Kaliforniens. Weil man dort nämlich die Vergangenheit, wie der Gläubige das heiße Eisen beim Gottesurteil, beherzt in die Hand nimmt, um sie mit einem Aufschrei (›Aber ich bin doch unschuldig!‹) fallen zu lassen, wenn sie brennt.149
Dem Sebaldschen Erzähler, den fraglos sein permanentes Bemühen kennzeichnet, das heiße Eisen, von dem Klüger spricht, durchaus in die Hand zu nehmen, ohne es gleich wieder fallen zu lassen, bedeutet der Aufenthalt im Land der ewigen Gegenwart ein kurzes, erholsames Aussetzen von der Mühsal dieser Aufgabe. Die zwei Besuche in den USA gewähren eine Auszeit, die zu nehmen innerhalb Europas kaum vorstellbar ist.
148 Sontag 1996, 15. 149 Klüger 1994, 281f. 67
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Schädelstätten vs. Eislandschaften – die ›Naturgeschichte‹ und deren Stillstellung Die im Vorausgegangenen anhand der ruinösen Hotels nachgezeichnete Rückverwandlung des vom Menschen Errichteten in Natur wird in der Sebald-Forschung meist bezüglich der Nachkriegsruine ausgeführt. Im Zentrum dieser Diskussion steht Sebalds Zürcher Poetik-Vorlesung Luftkrieg und Literatur, die zurückgeht auf einen Text von 1982 mit dem Titel Zwischen Geschichte und Naturgeschichte (vgl. CS 69-100). Die Frage nach der in dem älteren Text bereits im Titel thematisierten Relation von Geschichte und Naturgeschichte wird in Luftkrieg und Literatur wieder aufgenommen. Sebald fragt dort, Bezug nehmend auf den Londoner Kriegsberichterstatter Solly Zuckerman: »Womit hätte eine Naturgeschichte der Zerstörung einsetzen müssen?«150 Und er meint mit dem Begriff der »Naturgeschichte der Zerstörung« eine adäquate künstlerische Bearbeitung des Bombenkrieges. D.h. der Krieg – Kulminationspunkt menschlicher Zerstörungsgeschichte – wird über diesen Terminus in Beziehung gesetzt zum Naturhaften. Andreas Huyssen weist in diesem Zusammenhang nach, inwiefern Sebalds Bearbeitung der Luftkriegsthematik mit seiner Idee einer Naturgeschichte der Zerstörung Elemente einer traditionellen Metaphysik der Natur enthält, die die Behandlung der Thematik bei Alexander Kluge, dem Sebald als einzigem attestiert, auf adäquate Weise über den Luftkrieg geschrieben zu haben, konterkariert.151 Anne Fuchs ergänzt, in Sebalds Beschreibung des Angriffs auf Hamburg, welche Konnotationen eines erhabenen Naturschauspiels aufweise, sei exakt die Art der Allegorisierung der Zerstörung anzutreffen, die er selbst Hans Erich Nossack vorwirft. Sebald verschreibe sich insbesondere in Luftkrieg und Literatur, so Fuchs weiter, »letztlich einer Metaphysik der Naturgeschichte, die [...] den Grundprinzipien seiner Ästhetik der Erinnerung zuwiderläuft«.152 Dass dies in hohem Maße einer an Adorno/Horkheimer geschulten, bei Sebald aber ins Metaphysische kippenden Zivilisationskritik geschuldet ist, die im Beginn der Industrialisierung den ersten großen Schritt einer nicht aufzuhaltenden Abwärtsbewegung zu erkennen glaubt, zeigt sich beispielsweise deutlich an folgender Textstelle aus dem Essay: Die Geschichte der Industrie als das offene Buch des menschlichen Denkens und Fühlens – läßt die materialistische Erkenntnistheorie oder irgendeine Erkenntnistheorie überhaupt sich aufrechterhalten angesichts solcher Zerstörung, 150 Sebald 2001, 40. 151 Huyssen 2001, 84. 152 Fuchs 2004, 160. 68
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oder ist nicht diese vielmehr das unwiderlegbare Exempel dafür, daß die gewissermaßen unter unserer Hand sich entwickelnden Katastrophen in einer Art Experiment den Punkt vorwegnehmen, an dem wir aus unserer, wie wir so lange meinten, autonomen Geschichte zurücksinken in die Geschichte der Natur?153
Auch in Sebalds Prosatexten lassen sich vielerlei Passagen finden, in denen sich der ruinöse Zustand insbesondere der Großstädte als Zentren der Industrialisierung als ein solches Zurücksinken zu erkennen gibt. Paradebeispiel hierfür ist Manchester, wie es in Max Aurach gezeichnet wird, aber nicht allein Städte, deren Glanzzeiten zweifelsohne in der Vergangenheit liegen, bzw. Städte im Nachkriegszustand gelten Sebald als Vorboten eines universalen Verfalls, sondern schlichtweg jede europäische Großstadt. Wenn der Erzähler in Il ritorno in patria und in Paul Bereyter bekennt, er habe als Kind aus den Bildern der Zerstörung Münchens, Hamburgs und Berlins – aus den »Ruinenhaufen« (SG 204) in den Wochenschauen – geschlossen, dass dies der Naturzustand größerer Städte im Allgemeinen sei, so lässt sich noch eine Spur Ironie, ein gewisses Schmunzeln angesichts der Naivität der kindlichen Perzeption in den entsprechenden Zeilen vermuten.154 Wie wenig verändert jedoch der Blick ist, mit dem der Erwachsene europäische Metropolen wahrnimmt, d.h. wie sehr auch der gegenwärtige Zustand der Städte bei Sebald von deren »[Z]urücksinken in die Geschichte der Natur«155 kündet, ist an einigen Passagen aus Austerlitz gut aufzuzeigen. Der Romantext lässt den Protagonisten mehrfach an lokalen Punkten auftreten, die einen panoramatischen Blick über die Umgebung ermöglichen. Ganz anders als in Die Ringe, wo sämtliche Exkurse Ausgang nehmen von den Beschreibungen der menschenleeren englischen Land153 Sebald 2001, 72. 154 In Il ritorno in patria heißt es im Zusammenhang mit den Filmvorführungen im Engelwirt: »[...] und in fast jeder Wochenschau sah man auch die Ruinenhaufen von Städten wie Berlin oder Hamburg, die ich lange nicht mit der in den letzten Kriegsjahren erfolgten Zerstörung, von der ich nichts wußte, in Verbindung brachte, sondern für eine sozusagen natürliche Gegebenheit aller größeren Städte gehalten habe.« (SG 204) In Paul Bereyter berichtet der Erzähler, 1952 sei die Familie »aus dem Dorf W. in die 19 Kilometer entfernte Kleinstadt S.« gezogen. »S.«, erzählt er, sei ihm ausgesucht großstädtisch vorgekommen: »Besonders vielversprechend aber schien mir die Tatsache, daß die Häuserzeilen hie und da von Ruinengrundstücken unterbrochen waren, denn nichts war für mich, seit ich einmal in München gewesen war, so eindeutig mit dem Wort Stadt verbunden wie Schutthalden, Brandmauern und Fensterlöcher, durch die man die leere Luft sehen konnte.« (AG 45f.) 155 Sebald 2001, 72. 69
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schaft, sind es in Austerlitz vor allem Großstädte, auf die geblickt wird. Die drei für die Romanhandlung relevanten Städte sind London, der Lebensort Austerlitz’, Prag, seine Heimatstadt, und Paris. Paris ist derjenige Ort, den Austerlitz’ Eltern nach dem Einmarsch der Deutschen in Prag als Exilort für die Familie vorgesehen hatten (vgl. A 253) und an den Austerlitz, nachdem er als junger Mann bereits einige Studienjahre dort verbracht hat, am Ende des Romans zurückkehrt. Die Beschreibungen der drei Städte weisen deutliche Parallelen auf. Bei einem Spaziergang durch den Prager Seminargarten blickt Austerlitz lange auf das Panorama der Stadt, das ihm »durchzogen schien von den krummen Rissen und Sprüngen der vergangenen Zeit. Ein zweites dieser nach keinem erkennbaren Gesetz entstehenden Muster, sagte Austerlitz, fand ich wenig später in dem verschlungenen Wurzelwerk einer an einem stark abschüssigen Platz sich einhaltenden Kastanie.« (A 238f.) Das Muster, das er in den das Stadtbild prägenden Linien »der vergangenen Zeit« zu erkennen glaubt, weist durch die Ähnlichkeit mit dem Wurzelwerk deutlich biomorphe Züge auf. Signifikanter noch sind die Naturmetaphern zur Beschreibung von Paris, die sich in dem Gespräch finden, das Austerlitz mit dem Bibliotheksangestellten Lemoine im 18. Stock der neuen Nationalbibliothek führt. Von dem dortigen Aussichtspunkt aus erscheine, so Austerlitz, die gesamte Stadtagglomeration wie ein »fahles Kalksteingebilde, eine Art von Exkreszenz, die mit ihren konzentrisch sich ausbreitenden Verkrustungen weit [...] hinausreicht bis an die im Dunst jenseits der Vorstädte verschwimmende äußerste Peripherie« (A 405). Und Lemoine ergänzt etwas später, er habe »hier heroben immer den Eindruck, daß sich dort drunten lautlos und langsam das Leben zerreibe, daß der Körper der Stadt befallen sei von einer obskuren, unterirdisch fortwuchernden Krankheit« (A 405). Die ›kranken Körper‹ der Städte erheben sich auf ehemaligem Sumpfland: Bei ihrem Abschied an der Pariser Métrostation Glacière erklärt Austerlitz dem Erzähler, es seien früher »hier heraußen große Sümpfe gewesen« (A 414), und von dem Gelände, auf dem sich die Liverpool Street Station erstreckt, heißt es ebenfalls, hier hätten »dereinst bis an die Mauern der Stadt heran Sumpfwiesen sich ausgedehnt« (A 190). Das vorherrschende Beschreibungsparadigma ist orientiert an einem stratifikatorischen Modell: Die Rede ist von »verschiedenen Schichten, die dort drunten auf dem Grund der Stadt übereinandergewachsen sind« (A 406f.) – wie Erdsedimente lagern ungezählte Einzelschicksale und historische Ereignisse übereinander. Durch den Gebrauch biomorpher Metaphern, die Beschreibung der Metropolen als Geschwüre und krankhafte Auswüchse und die Bezugnahme zum Sumpf und den Gesteinsschichten wird das Verhältnis von Geschichte und Natur berührt. Die Stadt als Ort der akkumulierten Men-
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schengeschichte wird in Beziehung gesetzt zum Biologischen; Naturhaftes und Historisches greifen im Bild der Stadt ineinander, d.h. das Naturhafte bildet hier eindeutig nicht das Gegenmodell zum Geschichtlichen wie in der klischierten Schilderung der idyllischen Landschaft um Barmouth und des paradiesischen Gartengeländes um das Anwesen Andromeda Lodge (vgl. A 119f.). Vielmehr werden ›kranke‹ Natur und Geschichte wiederum verklammert im Topos des Verfalls und der Zerstörung. In Austerlitz’ Ausführungen zur Stadthistorie Londons und der Entstehungsgeschichte des dortigen Eisenbahnnetzes am Ende des 19. Jahrhunderts steigert sich die biomorphe zu einer anthropomorphen Metaphorik. Die Rede ist dort von »Eisenbahntrassen, die auf den von den Ingenieuren angefertigten Plänen sich ausnahmen wie Muskel- und Nervenstränge in einem anatomischen Atlas« (A 194). Die Anthropomorphisierung gipfelt in Austerlitz’ Exkurs zur Friedhofskultur. Er erörtert dort, mittels welcher Maßnahmen man im Laufe der Zeit die problematische Frage nach der Unterbringung der niemals geringer werdenden Zahl von Toten zu lösen versucht hat, und expliziert, wie viele unzählige Lagen von Gebeinen unter dem Stadtgebiet übereinander geschichtet liegen müssen. »Über die solchermaßen mit dem Staub und den Knochen zusammengesunkener Leiber versetzte Erdschicht hinweg war im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts die Stadt gewachsen« (A 192), fasst er die Entstehungsgeschichte Londons zusammen. Die Metropole wurde, Austerlitz zufolge, auf menschlichen Überresten erbaut, sie ist ein einziges Kolumbarium.156 Abermals rekurriert Sebald hiermit auf Adorno und Benjamin. Die gedankliche Figur, mittels derer Adorno in bereits erwähnter Vorlesung 156 Siehe zum Begriff des Kolumbariums auch die Kommentierung des Erzählers seiner Zugreisen nach London: Dort heißt es, »[b]esonders bang« sei ihm immer zumute »kurz vor der Einfahrt in die Liverpool Street Station, [...] wo die zu beiden Seiten der Geleise aufragenden, von Ruß und Dieselöl geschwärzten Ziegelmauern mit ihren Rundbögen, Säulen und Nischen mich auch an diesem Morgen erinnerten an ein unterirdisches Kolumbarium« (A 57). Das Bild des Kolumbariums taucht – verdeckt – ein zweites Mal auf im Kontext des Aufenthalts in Marien-bad mit Marie de Verneuil. Auf einer »Exkursion nach Königswart« waren sie an einem Taubenhaus vorbeigekommen, das sich »in einem fortgeschrittenen Zustand des Zerfalls« (A 309f.) befand. Dieses Bild »der an die Stätte des Grauens gebundenen Tauben« ist, wie das des »irren Schumann«, eines jener »Marienbader Bilder«, die »durch die ihnen einbeschriebene Qual« (A 310) und ihre ständige Wiederkehr ihm jeden klaren Gedanken rauben. – Die etymologische Verwandtschaft der Begräbnisstätte und des Vogelhauses (lat. columbarium = Taubenhaus; altrömisches Urnengewölbe) unterstreicht die Funktion des Taubenhauses als Bild des Todes. 71
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zur Idee der Naturgeschichte Benjamin und Lukács engführt, ist die »Vorstellung der Schädelstätte«.157 Auf Lukács’ Begriff der Schädelstätte Bezug nehmend schreibt Adorno: »Unter dem radikalen naturgeschichtlichen Denken aber verwandelt sich alles Seiende in Trümmer und Bruchstücke, in eine solche Schädelstätte, in der die Bedeutung aufgefunden wird, in der sich Natur und Geschichte verschränken«.158 Vor diesem Hintergrund erweist sich auch Austerlitz als ein deutlich am »radikalen naturgeschichtlichen Denken« orientierter Text, in dem unter allen vermeintlich intakten Oberflächen nach den Trümmern und Bruchstücken gesehen und die ›Schädelstätte‹ freigelegt werden soll. Im Rahmen seines Exkurses zur Friedhofskultur berichtet der Protagonist von der Geschichte der Broadstreet Station, einem weiteren Bahnhof des Texts, der 1865 auf einem Gelände erbaut wurde, »wo einmal die Bestattungsund Bleichfelder gewesen waren« (A 192). 1984 kamen dort, so Austerlitz, »bei den im Zuge der Abbrucharbeiten vorgenommenen Ausgrabungen unter einem Taxistand vierhundert Skelette zutage. Ich bin damals des öfteren dort gewesen, sagte Austerlitz, teilweise wegen meiner baugeschichtlichen Interessen, teilweise auch aus anderen, mir unverständlichen Gründen, und habe photographische Aufnahmen gemacht von den Überresten der Toten« (A 192). Eine ganzseitige »photographische Aufnahme« ist dem Text an dieser Stelle beigegeben: Ein Skelett und drei weitere Schädel liegen, fast akkurat im Viereck angeordnet, im Schlamm. Das Arrangement der Knochen setzt die Photographie in Bezug zum Bildprogramm des barocken Stilllebens und unterstreicht somit dessen Zitatcharakter. Die Totenköpfe weisen direkt zurück auf Adorno und Benjamin. In Benjamins Trauerspiel-Buch heißt es: Die Geschichte in allem, was sie Unzeitiges, Leidvolles, Verfehltes von Beginn an hat, prägt sich in einem Antlitz, – nein, in einem Totenkopfe aus. Und so wahr alle ›symbolische‹ Freiheit des Ausdrucks, alle klassische Harmonie der Gestalt, alles Menschliche einem solchen fehlt – es spricht nicht nur die Natur des Menschendaseins schlechthin, sondern die biographische Geschichtlichkeit eines einzelnen in dieser seiner naturverfallensten Figur bedeutungsvoll als Rätselfrage sich aus. Das ist der Kern der allegorischen Betrachtung, der barocken, weltlichen Exposition der Geschichte als Leidensgeschichte der Welt; bedeutend ist sie nur in den Stationen ihres Verfalls.159
Inwiefern dies auch der Kern der Sebaldschen Betrachtungen ist, inwiefern seine Bücher ausnahmslos Expositionen der »Geschichte als Lei-
157 Adorno 1998, 360. 158 Adorno 1998, 360. 159 Benjamin 1978, 175. 72
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densgeschichte der Welt« sind, signifikant »nur in den Stationen ihres Verfalls«, muss kaum erläutert werden. In dem Bild der Stadt als Schädelstätte und dem impliziten Rekurs auf Benjamins Ausdeutung des barocken Totenkopfes findet sich Sebalds literarisches Programm aufs Dichteste komprimiert. Die Stadt, selbstredend Sammelpunkt menschlicher Historie, entfaltet bei Sebald gerade als Kulminationsort der Geschichte als Naturgeschichte ihre allegorische Bedeutung. D.h. auch, dass sich Stadt und Land bei Sebald keineswegs kategorial unterscheiden. In einem seiner Essays schreibt er über Thomas Bernhard – und er selbst folgt Bernhard in seinem eigenen literarischen Schreiben hierin bruchlos – : »Die Bernhardsche Kritik des ideologischen Naturbegriffs beinhaltet, daß die Natur immer schon eine wenig erfreuliche Einrichtung gewesen sei [...]. In Wirklichkeit [...] ist die Natur ein noch größeres Narrenhaus als die Gesellschaft. [...] Die Stadt ist krank, aber das Land ist nicht etwa gesund«,160 wie im Folgenden klar zu sehen. Einen weiteren Gewährsmann für seine Konzeption des Abwärtstrends der Naturgeschichte findet Sebald in Stifter. Das Stiftersche »alles nimmt ab«161 bildet die Formel, um die Sebalds Schreiben kreist, wenngleich es in den literarischen Texten nur ein einziges Mal wörtlich zitiert wird. So lässt Sebald in Nach der Natur im zweiten Drittel Theophon dem Steller erklären: »[...A]lles, mein Sohn, ändert sich in das Alter,/ weniger wird das Leben,/ alles nimmt ab,/ die Proliferation/ der Arten ist bloß/ eine Illusion, und niemand/ weiß, wo es hinausgeht« (NdN 43). Ohnehin gibt das »Elementargedicht«, von dem Claudia Albes vermerkt, es trage seine sonderbare Gattungsbezeichnung schon deshalb zu Recht, weil es bereits alle Erzählverfahren und Themen der späteren Texte enthalte und insofern den elementaren Kern des Gesamtwerks bilde,162 am direktesten Aufschluss über Sebalds in der Stifterschen Formel inkarniertes Naturverständnis. Die Menschen- und Tierleiber, die man im ersten, sich Grünewald widmenden Teil antrifft, sind allesamt lesbar als Manifestationen des Vergehens und des Verfalls. In Sebalds dortiger Beschreibung des Isenheimer Altars – der übrigens wiederum eine Rolle spielt in Max Aurach163 – bzw. in seiner Beschreibung des rechten Teils 160 161 162 163
Sebald 1994 [1985], 108. Stifter 1983, 15. Vgl. Albes 2006, 48. Dort löst die Konfrontation mit diesen Altarbildern den Erinnerungsstrom aus, der mit der Rückblende auf den Bandscheibenvorfall beginnt. Aurach fährt, seiner Aversion gegen das Reisen zum Trotz, nach Colmar, um dort die ihm »bei der Malarbeit so oft vorschwebenden Isenheimer Bilder Grünewalds und insbesondere das von der Grablegung in Wirklichkeit zu sehen« (AG 252). Aurach, von dessen eigenen Bildern der 73
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der hinteren Bildseite des Altars, wo der Heilige Antonius der Versuchung zu sehen ist, ballen sich die detaillierten Deskriptionen des Kreatürlichen. »[D]as Leben als solches, so, wie es sich/ furchtbarerweise fortwährend und überall/ vollzieht«, so heißt es, habe Grünewald eingefangen in dem »irrealen und wahnwitzigen Getümmel« in diesem Bildteil. Dort zu sehen seien ineinander verkrebst, haifisch- und lindwurmartige Rachen, Zahnreihen, aufgeworfene Nasen, aus denen der Rotz rinnt, flossenförmige, kaltlappige Flügel, Haar und Hörner, Haut wie nach außen gekehrtes Gekröse, Auswüchse des ganzen Lebens, in der Luft, zu Land und im Wasser. (NdN 22f.)
Hier, bei der Schilderung der degenerierten Körper im Altarbild Grünewalds, steigert sich die Fabulierlust des Erzählers zur Höchstform; mit furiosem Beschreibungseifer stellt er »das pathologische Schauspiel« nach, das »ihm, dem Maler, die Schöpfung/ Bild unserer irren Anwesenheit/ auf der Oberfläche der Erde,/ einer in abschüssigen Bahnen/ verlaufenden Regeneration« (NdN 24 und 23) sei. In dieser Textpassage sind auf engstem Raum die zentralen Topoi enthalten, die, wann immer Sebalds Texte sich dem ›Natürlichen‹ zuwenden, wiederkehren: das Monströse, das den Texten zufolge nahezu allem Organischen innewohnt, das Irrsinnige und Krankhafte der Anwesenheit des Menschen auf Erden sowie die Klage um das als verloren apostrophierte Gleichgewicht
Text sagt, auch sie seien »Zerstörungsstudie[n]« (AG 269), schildert dem Erzähler die Begegnung mit den Grünewaldbildern wie folgt: »Die extremistische, eine jede Einzelheit durchdringende, sämtliche Glieder verrenkende und in den Farben wie eine Krankheit sich ausbreitende Weltsicht dieses seltsamen Mannes war mir, wie ich immer gewußt hatte und nun durch den Augenschein bestätigt fand, von Grund auf gemäß. Die Ungeheuerlichkeit des Leidens, das, ausgehend von den vorgeführten Gestalten, die ganze Natur überzog, um aus den erloschenen Landschaften wieder zurückzufluten in die menschlichen Todesfiguren, diese Ungeheuerlichkeit bewegte sich nun auf und nieder in mir nicht anders als die Gezeiten des Meers.« (AG 253) – Anne Fuchs kommentiert: »Grünewalds bildnerisch extreme Umsetzung der Kreatürlichkeit des Leidens erkennt Aurach als Allegorisierung einer universellen Befindlichkeit, die in seiner eigenen Verfassung einen zeitgenössischen Resonanzboden hat.« (Fuchs 2004, 129.) 74
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der Natur. Im Bild der »abschüssigen Bahnen« verdichtet sich das ›Wissen‹ um die Negativtendenz des naturgeschichtlichen Prozesses. In einem Essay zu Kafka führt Sebald diesen Gedanken etwas weiter aus: Dort diagnostiziert er ein immer weiteres Sich-Entfernen des Lebens »von den einfachen, eleganten Lösungen der Frühgeschichte der Evolution [...]. Verglichen mit dem Wunder der Photosynthese ist die physiologische Konstitution des Menschen ein primitives Machwerk.«164 Jeder evolutionäre Schritt stelle, so Sebald, in dem von Kafka gezeichneten – und von ihm unterstützten – Modell »nur eine Notlösung« vor. Im Grunde habe der »Erwerb der Fähigkeit, über das eigene Leben nachzudenken, aus dem negativen Gradienten der Naturhistorie vollends eine abschüssige Bahn« gemacht – hier kehrt der Ausdruck aus dem Prosagedicht wörtlich wieder.165 Auch in Die Ringe findet sich eine verwandte Formulierung. So merkt der Erzähler an einer Stelle, abermals auf Thomas Browne rekurrierend, an, die Geschichte verlaufe »nicht auf einem stets weiter und höher sich aufschwingenden Bogen«, sondern auf »einer Bahn, die, nachdem der Meridan erreicht ist, hinunterführt in die Dunkelheit« (RdS 35f.). Zwar ist im dortigen Textzusammenhang ausdrücklich von der vom Menschen hervorgebrachten Historie der Zerstörung die Rede, aber auch für Die Ringe gilt, dass Sebald, wie ausgeführt, Geschichte grundsätzlich nur als Teilbereich der Naturgeschichte auffasst. Colin Riordan führt aus, es sei, nachdem der Reisebericht allzu häufig als Text allein über die Ausbeutung der Natur durch den Menschen gelesen wurde, wichtig zu bemerken, dass die Natur selbst dort keineswegs positiv besetzt bzw. ausschließlich als Opfer menschlicher Zerstörungswut gezeichnet sei: Sebald’s text does not posit a benign non-human world entirely at the mercy of human violence. The viciousness of capitalist extravagance is matched by nature, and the book ist full of floods, sandstorms, hurricanes, fires, Dutch elm disease. It is difficult to tell whether human destruction is considered part of a cosmic tendency to annihilation or whether, in order to survive the contingencies of life on earth, human beings have been defensively driven to even more desperate acts of retaliation.166
Wenngleich Die Ringe mit der Konzentration auf »die Spuren der Zerstörung, welche die Geschichte der Technik hinterlassen hat«, wie Claudia
164 Sebald 1986, 198. 165 Sebald 1986, 198. (Hervorhebung von mir – akj.) 166 Riordan 2004, 76. 75
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Öhlschläger schreibt,167 eine andere Schwerpunktsetzung als Nach der Natur aufweisen, sollte dennoch nicht übersehen werden, dass auch der Reisebericht durchaus ein ›naturgeschichtliches‹ Buch im erläuterten Sinn des Begriffs ist. Auch hier geht es Sebald weniger darum, die Katastrophen und Verbrechen des 20. Jahrhunderts in ihrer Spezifik darzustellen, als vielmehr um die strukturellen Analogien, die den »Artikulationsformen der Zerstörung« inhärent sind. Um diese aufzuzeigen wagt er, erklärt Öhlschläger, auch die heikle »kombinatorische Fügung von heterogenen Ereignissen« wie dem Heringsfang und Bergen-Belsen.168 Dass Sebald die spezifisch menschlichen Zerstörungswerke nicht als Gegenbewegung zu den Mechanismen der Natur begreift, sondern diesen eingliedert, zeigt sich sehr deutlich wiederum in Nach der Natur. Dort markiert das im vorletzten Abschnitt des dritten Teils erwähnte AKW von Sizewell (vgl. NdN 94f.), von dem auch in Die Ringe zweifach die Rede ist (vgl. RdS 208 und 294), zwar den Endpunkt der »in abschüssigen Bahnen/ verlaufenden Regeneration« (NdN 23). Diese Bewegung setzt aber, wie im Grünewald-Teil ersichtlich, nicht erst mit der Technikgeschichte ein. »[U]nsere irre Anwesenheit/ auf der Oberfläche der Erde« wird durchaus als die Negativkrönung der Naturgeschichte dargestellt, der Abwärtstrend derselben ist ihr jedoch bereits von Anbeginn eingeschrieben. Greg Bond spitzt zu: »[H]umankind is just one further experiment undertaken by nature on its inexorable path to selfdestruction. It is not primarily that we destroy nature, but that nature, using us as one of its agents, destroys itself.«169 Der Erzähler des Prosagedichts sieht das ›Wissen‹ um die Destruktionskraft der Natur, um die Abschüssigkeit der Bahn, nirgends so plastisch dargestellt wie in der seines Erachtens für die Figuren Grünewalds typischen Haltung des Kopfes. Im Bild des verrenkten Körpers findet die Stiftersche Formel ihre Übersetzung ins Visuelle: [...] Der panische Halsknick, überall an den in Grünewalds Werk vorkommenden Subjekten zu sehen, der die Kehle freigibt und das Gesicht hineingewendet oft in ein blendendes Licht, ist der äußerste Ausdruck der Körper dafür, daß die Natur kein Gleichgewicht kennt, sondern blind ein wüstes Experiment macht ums andre
167 Öhlschläger 2006, 191. 168 Öhlschläger 2006, 201. 169 Bond 2004, 34. 76
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und wie ein unsinniger Bastler schon ausschlachtet, was ihr grad erst gelang. (NdN 24)
In ihrer wüsten Experimentierfreudigkeit bringt diese Natur nichts von Bestand hervor, weil die ihr eigenen Zerstörungsmechanismen stärker sind als jeder Selbsterhaltungstrieb und jeder Reproduktionsdrang. Und bereits diesem ist etwas äußerst Monströses eigen. Die bei Sebald viel zitierte Proliferation, das »Sprossen,/ Sichforttreiben und Fortpflanzen«, mündet »in einem einzigen Wust« (NdN 24) und löst so nur neue Irritationen aus.170 »The theory of evolution, and the progress inherent in it«, kommentiert Bond, »are inverted here«.171 Auf Austerlitz hat kaum ein Erlebnis so verheerende Auswirkungen wie der Besuch im veterinärmedizinischen Museum in Maisons-Alfort: Die Konfrontation mit den wuchernden Auswüchsen menschlichen und tierischen Lebens, die dort zu sehen sind,172 löst die »hysterische Epilepsie« (A 381) aus, die seine Ein-
170 Das bestätigen die beiden einzigen Beischlafszenen, die sich im Gesamtwerk finden: In All’estero, wo der Erzähler sich erinnert, einst die verehrte Engelwirtskellnerin Romana mit dem Jäger Hans Schlag im Holzschuppen erwischt zu haben (vgl. SG 260f.) – in einer Szenerie, die an die fulminante Schlusspassage von Peter Weiss’ Der Schatten des Körpers des Kutschers angelehnt zu sein scheint –, dort also stellt die Perspektive des Kindes sicher, dass der beobachtete Akt in erster Linie verstörend wirkt. In Die Ringe des Saturn hingegen ist der Erzähler durchaus im Erwachsenenalter, als er, über eine Klippe gebeugt, ein kopulierendes »Menschenpaar« am Strand wahrzunehmen meint – »[u]ngestalt gleich einer großen, ans Land geworfenen Molluske lagen sie da, scheinbar ein Leib, ein von weit draußen hereingetriebenes, vielgliedriges, doppelköpfiges Seeungeheuer, letztes Exemplar einer monströsen Art« – und darüber »von plötzlicher Panik« und »Bestürzung« ergriffen wird (RdS 88). Der Geschlechtsakt erscheint als das Monströse schlechthin. Die körperliche Vereinigung selbst gilt schon als ruinös, weil sie Grenzen zersetzt und weil Verschmelzung und Proliferation auf der einen und Zerstörung und Verfall auf der anderen Seite bei Sebald immer in direktem Zusammenhang stehen. 171 Bond 2004, 34. 172 Die Rede ist von »Nierensteine[n] so groß und sphärisch perfekt wie Kegelkugeln«, »Schädel[n] und Skelette[n] der verschiedensten Kreaturen, ganze[n] Eingeweidesysteme[n] in Formaldehyd, pathologisch verformte[n] Organe[n], Schrumpfherzen[n] und aufgedunsene[n] Lebern, Bronchienbäume[n], von denen manche drei Fuß hoch waren« usw. – Austerlitz fasst zusammen, es seien »Monstrositäten jeder nur denkbaren Art« gewesen, mit denen er sich im Museum konfrontiert sah (A 377f.). 77
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lieferung in die Salpêtrière erzwingt. Nach seiner Entlassung wird er in einer Gärtnerei beschäftigt und kommt dort wieder zu Kräften. Dem Stellenwert der Photosynthese im Kafka-Aufsatz entsprechend ist es, darauf weist Ruth Klüger hin, mehrfach der Umgang mit Pflanzen, der auf die beschädigten Figuren Sebalds heilsam wirkt. Auch Paul Bereyter ist Gärtner, und Henry Selwyn hat sich fast gänzlich in seinen großen, verwilderten Garten zurückgezogen. Die Pflanzenpflege, so Klüger, bildet zwar das Gegenstück zur Zerstörung, aber sie hat allein therapeutische Zwecke für den einzelnen Menschen; für die Natur selbst bietet sich bei Sebald keinerlei Ausweg aus der ihr zwingend eingeschriebenen Negativentwicklung.173 So bleibt allein die fortwährende Klage um das »homöostatische Arrangement«174 der Natur, um das Gleichgewicht, das als angeblich verlorenes einen unerreichbaren Sehnsuchtspunkt bildet. An einigen wenigen Textstellen scheint aber dennoch das Ideal einer Lebensform auf, die sich nicht radikal von einem vermeintlich friedlichen, unveränderlichen, ›natürlichen Urzustand‹ entfernt hat. In Austerlitz werden die Vögel, »die Jahrtausende hindurch immer dasselbe Nest bauten« (A 31), und die von Austerlitz so verehrten Motten175 als Repräsentanten eines Rousseauschen ›Naturzustands‹ angeführt. Die mystifizierte ›gesunde‹ Natur der Vögel und Falter wird hier – wie die Photosynthese im Kafka-Essay – dem ›kranken‹, permanent »leicht fiebrig erhitzten Zustand« (A 139) des Menschen entgegengesetzt; die einzige menschliche Lebensform, die ähnlich romantisiert und glorifiziert wird, ist die des Eremiten als demjenigen, der sich dem sinnlosen »Sprossen,/ Sichforttreiben und Fortpflanzen« komplett entzieht.176 Es sind somit, wie es scheint, zweierlei Naturbegriffe bei Sebald dingfest zu machen: zum einen das übermächtige Modell einer zerstörerischen, monströsen Naturverfallenheit und zum anderen das selten aufblitzende Ideal einer positiv besetzten, ›gesunden‹ Natur, das jedoch allein aufgrund seiner Unerreichbarkeit als Moment eines ersehnten widerspruchsfreien Zustands unangetastet bleiben kann und auch als phantasmatisches nur um den Preis der Unveränderbarkeit, d.h. der Stillstellung aufrechtzuerhalten ist. Insofern ist dieser zweite, mit dem ersten unvereinbare Begriff des ›Natürlichen‹ bereits sehr deutlich in die Nähe des Anorganischen ge173 Vgl. Klüger 2003, 98. 174 Sebald 1986, 198. Vgl. auch Sebald 1994 [1985], 166. 175 »[U]nd noch heute«, sagt Austerlitz über Motten, »bringe ich ihnen unter allen Kreaturen die größte Ehrfurcht entgegen.« (A 140) Was er im Besonderen an den unauffälligen Wesen schätzt, ist die Diskretion, mit der sie aus dem Leben scheiden (vgl. A 140f.). 176 Vgl. NdN 24 zur »Ruhe des Eremiten« und A 31 zur Eremitage. Siehe zur Eremitage in der Literatur auch Bachelard 1987, 55f. 78
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rückt. Was Sebald in seinem Essay Bis an den Rand der Natur über Stifter schreibt, trifft durchaus auf ihn selbst zu. Er bemerkt dort: »Wie wenig Stifter im übrigen seinen Hoffnungen auf eine friedliche Fortpflanzung des Lebens getraut haben mag, läßt sich daran ablesen, daß seine Sehnsucht letztlich hinauszielte ins Anorganische«177 – das ist bei Stifter vor allem die Hochgebirgslandschaft, wo »eine unhistorische Weltgegend beginnt«.178 Auch bei Sebald ist das Phantasma einer quasi-natürlichen Ganzheit letztlich jenseits der Naturgeschichte angesiedelt. In Nach der Natur, dem in dieser Hinsicht zweifellos radikalsten Text, bildet den Fluchtpunkt, der herausführt aus dem infernalischen Elend, eine ebenso »unhistorische Weltgegend« wie Sebald sie bei Stifter findet. Man beachte bei einem zweiten Blick auf die bereits zitierte Passage, die Grünewalds verrenkte Figuren beschreibt, die Bewegung der Gesichter: »Der panische Halsknick«, heißt es, gebe »die Kehle frei[ ] und das Gesicht/ hineingewendet oft in ein blendendes Licht«. Innerhalb des Bedeutungshorizonts, den der Text aufspannt, entstammt dieses Licht, zu dem sich die gequälten Gestalten hinwenden, der Schnee- und Eislandschaft, deren blendendes Weiß die Sehnsucht nach einem ambivalenzfreien Zustand wachhält und die in zahlreichen Variationen diesen Text prägt: Das »Schneewunder« im Grünewald-Drittel ist von der ersten Seite an präsent (NdN 7, vgl. NdN 28); die Schlusszeilen dieses Drittels nehmen den Titel desselben »Wie der Schnee auf den Alpen« wieder auf, indem sie Grünewalds Sterben in folgende Formulierung fassen: »So wird, wenn der Sehnerv/ zerreißt, im stillen Luftraum/ es weiß wie der Schnee/ auf den Alpen.« (NdN 33) Im Steller-Teil erklärt sich die Omnipräsenz von Schnee und Eis von selbst – Steller begleitet die Beringsche Große Nordische Expedition –, und auch im letzten autobiographischen Drittel ist bereits zweifach von Schneelandschaften die Rede gewesen,179 ehe der Text in den
177 Sebald 1994 [1985], 27. 178 Sebald 1994 [1985], 28. 179 Von der Gestalt, die dem Ich-Erzähler bereits als Kind, so der Text, als »Sinnfigur der nicht näher identifizierten Katastrophe« erscheint, dem »zwergwüchsige[n] Tartare[n]«, heißt es: »In der Anthropologie/ ist diese oftmals mit gewissen Formen/ der Selbstverstümmelung assoziierte Gestalt/ ausgewiesen als die des Adepten, der/ einen Schneeberg ersteigt und lang/ dort verweilt, wie es heißt, unter Tränen.« (NdN 77) Und der Ingenieur D., der sich selbst als Refiguration des Tartaren beschreibt (vgl. NdN 88), berichtet dem Erzähler: »[U]nd ich lese/ in den Naturbeschreibungen/ des 18. Jahrhunderts, wie ein/ grünendes Land versinkt/ in den blauen Schatten des Jurassus/ und zuletzt nur das verjährte Eis/ auf den Alpen noch einen schwachen Widerschein hat.« (NdN 89) 79
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Schlussakkord mündet: die Beschreibung von Albrecht Altdorfers Alexanderschlacht. Die Darstellung dieser Weltlandschaft lehre die Betrachtenden, anhand »der Winzigkeit/ der Figuren und der unbegreiflichen Schönheit der Natur, die sie überwölbt,/ jene Seite des Lebens zu sehen,/ die man vorher nicht sah« (NdN 98). In der Bildlektüre, die der Text anbietet, bildet den Fluchtpunkt wiederum eine bergige Schnee- und Eislandschaft, mit deren Deskription das Prosagedicht endet: Das Nildelta sei jenseits der Schlacht zu erkennen, die Halbinsel Sinai, das Rote Meer und weiter noch in der Ferne das im schwindenden Licht sich auftürmende Schnee- und Eisgebirge des fremden, unerforschten und afrikanischen Kontinents. (NdN 99)
Die im Kunstwerk gezeigte Natur vermag allein deshalb so unbegreiflich schön zu sein, weil sie als phantasmatische Traumlandschaft der diesseitigen Natur enthoben ist. Altdorfers Alexanderschlacht gehört jener frühen Landschaftsmalerei an, bei der in der Darstellung des Hintergrundprospekts, d.h. hier vor allem der Felsenlandschaft am hinteren Bildabschluss, noch mittelalterliche Weltrandvorstellungen nachklingen.180 Die andere Seite des Lebens, »die man vorher nicht sah«, die aber im Bild zu sehen gegeben wird, ist eine jenseitige. So erschließt sich von der Schlusspassage her nochmals deutlicher die Textstelle im ersten Drittel des Prosagedichts, wo der Erzähler angesichts des Basler Kreuzigungsbilds Grünewalds gesagt hatte, ihn dünke »die Eiszeit, das hellweiße/ Turmgebäude der Gipfel im oberen Bereich der Versuchung,/ die Konstruktion einer Metaphysik,/ und ein Schneewunder« (NdN 28). Es soll hier nicht behauptet werden, Sebald führe an dieser Stelle – hinterrücks gewissermaßen – letztlich eine religiös fundierte Heilslehre in sein Werk ein.181 Vielmehr wird die christliche Eschatologie aufgeru180 Vgl. Koschorke 1990, 52. 181 Vgl. zum Verhältnis Sebalds zur christlichen Eschatologie Kastura 1996, 213f. und Steinmann 2006. Steinmann erklärt dort, anders als noch bei Thomas Browne, bestehe bei Sebald nicht mehr die »Möglichkeit einer heilsgeschichtlichen Umbettung« der Abwärtsbewegung des naturgeschichtlichen Prozesses; der »letzte mögliche Ausweg« ins Reich Gottes, auf welches das Diesseits bei Browne noch zusteuert, »steht in den Texten Sebalds nicht mehr zur Disposition. Er wird supplementiert durch die letztmögliche Eschatologie in der Schrift, oder genauer: in der Graphie, die ja auch ruinös ist, da ihre Verweiskraft sich auf etwas bezieht, das 80
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fen, um einen zwar nach wie vor ersehnten, aber nicht mehr für erreichbar gehaltenen Sehnsuchtspunkt zu markieren – eine Metaphysik ist nur noch als »Konstruktion« zu denken.182 Die Schnee- und Eislandschaft fungiert allein als Zitat eines Sehnsuchtsraums, wie sich – darauf weist Eva Juhl hin – auch in Paul Bereyter zeigt, wenn Lucy Landau über das Alpenpanorama über dem Genfer See sagt, diese Landschaft habe ihr ein »Gefühl vermittelt für die widersprüchlichen Dimensionen unserer Sehnsucht« (AG 68).183 Dass ausgerechnet die Schnee- und Eislandschaft diesen Sehnsuchtsraum besetzt, ist ihrer Unwirtlichkeit und Unbewohnbarkeit geschuldet. Die tiefen Temperaturen schließen die Anwesenheit des Menschen nicht nur längerfristig aus, sondern bilden geradezu das Gegenprinzip zu derselben, zeichnet sich der Mensch bei Sebald doch, wie bereits zitiert, gerade durch seinen »leicht fiebrig erhitzten Zustand« aus, wie Alphonso in Austerlitz im Rahmen seiner Ausführungen über die fehlerhafte Disposition des Menschen anmerkt (A 139). In Die Ringe heißt es entsprechend: Verbrennung ist das innerste Prinzip eines jeden von uns hergestellten Gegenstandes. Die Anfertigung eines Angelhakens, die Manufaktur einer Porzellantasse und die Produktion eines Fernsehprogramms beruhen letzten Endes auf dem gleichen Vorgang der Verbrennung. Die von uns ersonnenen Maschinen haben wie unsere Körper und wie unsere Sehnsucht ein langsam zerglühendes Herz. Die ganze Menschheitszivilisation war von Anfang an nichts als ein von Stunde zu Stunde intensiver werdendes Glosen, von dem niemand weiß, bis auf welchen Grad es zunehmen und wann es allmählich ersterben wird. (RdS 202)
Während das Prinzip der Verbrennung innerhalb der Logik der Sebaldschen Motivik letztlich zu den Naphtalverbrennungsöfen in den Vernichtungslagern führt, wird mit der Schnee- und Eislandschaft der ersehnte Counterpart zu diesem aufgerufen. Charakteristisch für den frostigen Sehnsuchtsraum ist fraglos nicht nur dessen Menschenleere, sondern die absolute Stille und Bewegungslosigkeit. Entsprechend figuriert der Ozean, der zwar gleichermaßen unbewohnbar ist für den Säuger, aber aufgrund des anderen Aggregatzustands weitaus bewegter als die Schnee- und Eislandschaft, eher noch als Bestandteil der ›erhitzten‹
verschwunden ist, während sie selbst überdauert.« (Steinmann 2006, 154.) 182 Entsprechend ist die Anrufung des ›Herrn‹ – »Herr, mir hat es geträumt [...]« (NdN 96) – zu Beginn der Passage als Zitat einer Gebetsformel zu verstehen. 183 Vgl. Juhl 1995, 653. 81
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Welt.184 Auch über die Konzeption anderer »›tabula rasa‹-Utopien«185 geht die der Schnee- und Eislandschaft noch hinaus. Zwar weist beispielsweise der Garten des Major George Wyndham Le Strange in Die Ringe, den dieser – gewissermaßen als Reaktion auf seine Erfahrung in Bergen-Belsen – verwildern lässt (vgl. RdS 80f.), durchaus auch in die Richtung einer »negative[n] Utopie«, die »eine Zeit nach dem Ende der Menschheit anzuvisieren scheint«.186 Und auch die viel kommentierte Halbinsel Orfordness, fraglos die Klimax der entvölkerten Landschaften in Die Ringe,187 lässt sich als Vorstufe zur Schnee- und Eislandschaft lesen insofern, als sich auch dort das Ende der Naturgeschichte, deren Teil die menschliche Historie ist, ankündigt.188 Nirgends aber wird so deutlich wie anhand der Schnee- und Eislandschaft, dass hier nicht allein die Utopie einer vom Menschen befreiten Natur beschworen wird – das würde einen positiv besetzten Naturbegriff voraussetzen, der bei Sebald, wie gesehen, höchstens hie und da auf184 Analog hierzu dient die »Brandung« als Metapher für den Autoverkehr, der als der »neue Ozean« bezeichnet wird. So heißt es in All’estero angesichts der ungewohnten Ruhe beim Erwachen im autofreien Venedig: »Wie oft, dachte ich mir, bin ich nicht schon so in einem Hotelzimmer gelegen, in Wien, in Frankfurt oder in Brüssel, und habe, die Hände unter dem Kopf verschränkt, nicht wie hier auf die Stille, sondern mit wachem Entsetzen auf die Brandung des Verkehrs gehorcht, die zuvor schon stundenlang über mich hinweg gegangen war. Das also ist, habe ich mir dann immer wieder gedacht, der neue Ozean. Unaufhörlich, in großen Schüben über die gesamte Breite der Städte kommen die Wellen daher, werden lauter und lauter, richten sich weiter und weiter auf, überschlagen sich in einer Art von Phrenesie auf der Höhe des Lärmpegels und laufen als Brecher aus über den Asphalt und die Steine, während von den Stauwehren an den Ampeln bereits neue Wogen hereinrauschen. Ich bin im Verlauf der Jahre zu dem Schluß gelangt, daß aus diesem Getöse jetzt das Leben entsteht, das nach uns kommt und das uns langsam zugrunde richten wird, so wie wir das langsam zugrunde richten, was da war lange vor uns.« (SG 72f.) 185 Vgl. zum Begriff Kastura 1996, 208. 186 Fuchs 2004, 99. 187 Bei seinem Besuch der verlassenen militärischen Forschungsanstalt wähnt sich der Erzähler »unter den Überresten unserer eigenen, in einer zukünftigen Katastrophe zugrundegegangenen Zivilisation. Wie einem nachgebornenen Fremden, der ohne jedes Wissen von der Natur unsere Gesellschaft herumgeht zwischen den Bergen von Metall- und Maschinenschrott, die wir hinterlassen haben, war es auch mir ein Rätsel, was für Wesen hier einstmals gelebt hatten.« (RdS 282f.) 188 Vgl. Fuchs 2004, 228f. und Kastura 1996, 211f. 82
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blitzt, sich aber nicht halten lässt. Vielmehr entwirft Sebald – und dafür steht in Nach der Natur bereits der doppelsinnige Titel189 – als Fluchtpunkt eine anorganische, »nachapokalyptische Welt ganz ohne Mensch und Natur«, wie Gunhild Kübler in ihrer Rezension des Prosagedichts schreibt.190 Dieser Fluchtpunkt stellt als Erlösung vom ruinösen IstZustand der Welt ein Moment völliger Stillstellung in Aussicht. Der Anblick der deformierten »Auswüchse des ganzen Lebens,/ in der Luft, zu Land und im Wasser« (NdN 22f.) oder der »Berge von Metall- und Maschinenschrott« (RdS 282) in Orfordness wird letztlich erträglich durch die im Text implizite Ankündigung dieses Stillstellungsmoments. Indem die Texte den genannten Fluchtpunkt anvisieren, antizipieren sie nicht nur den Endpunkt der »in abschüssigen Bahnen/ verlaufenden Regeneration« (NdN 23), sondern weisen bereits über ihn hinaus in einer Sublimierungsbewegung, die letztlich den Schrecken, der von den in aller Detailliertheit und Redundanz geschilderten ruinösen Städten und Landschaften ausgehen mag, beträchtlich dämpft. Im Labyrinth, so war gesagt worden, trete den Lesenden eine Raumfigur entgegen, in der einerseits die Angst des Texts vor dem Ende der Narration, andererseits aber auch dessen Sehnsucht nach dem Stillstand zur Anschauung kommt. Nachgeben kann der Text dieser Sehnsucht selbstredend nicht, ohne sich selbst auszulöschen. Stattdessen vermag er jedoch – und genau dies ist an dem Entwurf der Schnee- und Eislandschaft abzulesen – ein Weltmodell auszubilden, das für diesen Stillstand einsteht. Das Stillstellungsmoment, um das es bei der Schnee- und Eislandschaft geht, meint nicht die Arretierung der Textbewegung, im Gegenteil: Das stillgestellte Weltmodell hält, indem es einen der Fluchtpunkte bildet, auf die der Text zustrebt, die Narration in Gang und sichert ihren Fortbestand. Die Ausrichtung auf dieses Modell einer ›Nachwelt‹ ermöglicht es dem Text, den benannten Sublimierungsvorgang immer wieder zu vollziehen.
Jerusalem – zur Grenze der Ruinenästhetik Es findet sich eine einzige Ausnahme unter all den Deskriptionen von Städten und Landschaften bei Sebald, in der diese Sublimierungsbewegung nicht vollführt wird – eine Passage, der hier, ihrer Exzeptionalität entsprechend, gesonderte Aufmerksamkeit zukommen soll. Die Rede ist von der Beschreibung Jerusalems, die Kernstück des Reisetagebuchs Ambros Adelwarths ist. Zwei Einschübe fiktiver Tagebücher weist das 189 Vgl. Ward 2003, 35, Kübler 1997, 61 und Albes 2006. 190 Kübler 1997, 61 und 63. (Hervorhebung von mir – akj.) 83
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Gesamtwerk Sebalds auf – beide in Die Ausgewanderten –, zum einen dasjenige der Luisa Lanzberg in Max Aurach und jenes »Agendabüchlein« (AG 186) des Großonkels, das mit einem mehr oder weniger subtilen Hinweis auf die Fiktionalität des Textstücks in die Erzählung eingeführt bzw. derselben angehängt wird: Der Erzähler bekennt, die »Entzifferung der winzigen, nicht selten zwischen mehreren Sprachen wechselnden Schrift« des Tagebuchs, das ihm die Tante Fini überlassen hatte, habe »nicht wenig Mühe bereitet und wäre wahrscheinlich nie von mir zuwege gebracht worden, hätten sich nicht die vor beinahe achtzig Jahren zu Papier gebrachten Zeilen sozusagen von selber aufgetan« (AG 188). In beiden Fällen, Luisas sowie Ambros’, erlaubt die Form des vorgeblich wiedergegebenen Tagebuchs einen gänzlich anderen, für Sebald sehr ungewohnten Sprachduktus. Allein hier scheint jeweils ein Ausbrechen möglich aus dem im Zusammenhang mit LaCapra ausgeführten Sebaldschen Gesetz, nicht mit der Stimme des Anderen zu sprechen.191 Nur in diesen beiden Textpassagen ist ein Ausstieg aus der für Sebald charakteristischen stilistischen Homogenität zu bemerken, und entsprechend scheinen hier tatsächlich zwei Alternativen zu dem sonst immer gleichen Verfahren auf: Während mit Luisas Tagebuch tentativ der idealisierte Entwurf einer idyllischen, ungebrochenen Welt der Beheimatung gewagt wird, weist das des Großonkels in die entgegengesetzte Richtung. Was ist damit gemeint und inwiefern markiert diese lange Textpassage – und dort im Besonderen die Schilderung Jerusalems – einen Ausbruch aus dem sonst ungebrochen dominanten Narrationsverfahren Sebalds und dem diesem impliziten Selbstverständnis des Texts? Sprachlich fallen die Tagebucheintragungen, die Ambros während der im Jahr 1913 mit Cosmo unternommenen Reise vornimmt, zum einen durch eine für Sebald ungewöhnliche Interpunktion auf. Zum anderen sind die oft knappen, elliptischen Sätze von einer bemerkenswerten Schlichtheit und Schnörkellosigkeit, die sie – bedenkt man ihr fiktives Entstehungsdatum – paradoxerweise weitaus weniger antiquiert wirken lassen als den üblichen Sebaldschen Text. Ambros’ Notizen berichten von einer Schiffsreise mit dem Dampfsegler von Venedig nach Griechenland und Konstantinopel, dann, nach einem längeren Aufenthalt dort, von einer Bahnreise durch Adana nach Aleppo und Beirut, bevor die beiden Männer im November eine Passage nach Jaffa buchen, um im Anschluss in einem zwölfstündigen Ritt nach Jerusalem zu gelangen. Unterkunft finden sie in der Jaffa Road im Hotel Kaminitz: »Die Einrichtung der Zimmer«, notiert Ambros, »ist äußerst absonderlich. Man weiß nicht, in welcher Zeit oder Weltgegend man sich befindet.« (AG 202) Noch lassen 191 Vgl. die zu Beginn stehenden Ausführungen zu »Schachtelungsverfahren – Verräumlichung der Erinnerung«, 25ff. 84
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sich hier die bekannten Ingredienzien Sebaldscher Raumschilderungen wiederfinden: Die Einrichtung der Hotels ist, wie gesehen, immer »absonderlich« auf die eine oder andere Weise, und einen eigenartig zeitlosen und gewissermaßen extraterritorialen Eindruck hatten beispielsweise auch die Den Haager Gegend, in der der Erzähler in Die Ringe eine Nacht verbringt, die Landzunge Orfordness oder der verlassene Ort Somerleyton auf ihn gemacht (vgl. RdS 101, 279ff. und 49). In der Beschreibung des ersten Gangs durch die Stadt jedoch bricht sich ein Entsetzen Bahn, das sämtlichen anderen Texten Sebalds fremd ist. Die erste, beim Ritt auf die Stadt zu gewonnene Impression – »a ruined and broken mass of rocks, the Queen of the desert« (AG 202) – steigert sich zu dem »[i]m großen und ganzen furchtbare[n] Eindruck«, es hier nicht nur – wie bei Sebald üblich – mit ruinösen Steinmassen zu tun zu haben, sondern mit weitaus Ekelerregenderem: In den Straßen große Mengen von Unrat. On marche sur des merdes!!! Knöcheltief mancherorts der pudrige Kalkstaub. Die wenigen Pflanzen nach der seit Mai andauernden Dürre von diesem Steinmehl überzogen wie von einer bösen Krankheit. Une malédiction semble planer sur la ville. Verfall, nichts als Verfall, Marasmus und Leere. (AG 203f.)
Ambros berichtet weiter von einem Spaziergang entlang eines »Schindanger[s] der Abdeckerei: In der Mitte ein großes Loch. Geronnenes Blut, Haufen von Eingeweiden, schwärzlich braunes Gekröse, an der Sonne vertrocknet und verbrannt . . .« (AG 204). Und fährt fort: Gleich, in welche Richtung wir gingen, immer wieder führten die Wege an den Rand einer der vielen die Stadt durchziehenden und gegen die Täler steil abfallenden Schluchten. Die Schluchten sind heute größtenteils angefüllt mit dem Abraum eines Millenniums, und überall läuft offen der Odel in sie hinein. Ungenießbar geworden ist infolgedessen das Wasser der zahlreichen Brunnen. Die dereinstigen Teiche von Siloam sind nur mehr faule Tümpel und Senkgruben, aus deren Morast das Miasma aufsteigt, die Ursache wahrscheinlich der beinahe jeden Sommer hier ausbrechenden Epidemien. Cosmo sagt wiederholt, ihn grause es maßlos vor dieser Stadt. (AG 206f.)
Mit jedem weiteren Gang oder Ritt durch die Stadt und deren Umgebung setzt sich dieses Grausen fort. Gleich, wo sich die beiden Reisenden aufhalten, überall treffen sie auf dieselben Indikatoren des fortgeschrittenen Verfalls und der Auflösung. Selbst die Erde des Weingartens, den sie besuchen, ist »rostfarben, ausgezehrt und versengt. Kaum irgendein wilder Olivenbaum, ein Dornenstrauch oder ein wenig Ysop.« (AG 208) Die einstige Königin der Wüste, von der Ambros in seinem Handbuch noch
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liest, sie habe in der Vergangenheit »[n]eun Zehntel des Glanzes der Welt« auf sich vereint (AG 209), bietet einen Anblick, dessen Beschreibung durch ihn weit hinausgeht über die bislang besehenen Deskriptionen Sebaldscher Ruinenlandschaften. Nirgends sonst findet sich bei Sebald eine solche Häufung mit Ekel besetzter Termini, solche »Mengen von Unrat«, »Haufen von Eingeweiden« und »Gekröse«, »faule Tümpel und Senkgruben«; man riecht die Stadt förmlich. Entsprechend ist die Reaktion des Berichterstattenden weitaus impulsiver – man bedenke die drei Ausrufezeichen nach »merdes« (vgl. AG 203) – und in ihrem Entsetzen klar von der stets gleichmäßig melancholisch intonierten Stimme der Erzählerfigur zu unterscheiden. In der Forschung ist dies oftmals übersehen worden. So nennt Ward Jerusalem in Ambros’ Schilderung schlicht den »archetype of the ruined city«,192 ohne zu bemerken, dass die Beschreibung dieser Stadt stark abweicht von der Manchesters in Max Aurach oder der des Nachkriegs-Berlins in der Beschreibung Michael Hamburgers (vgl. RdS 212f.). Und auch Kastura ordnet Jerusalem schlicht den anderen Ruinenlandschaften, d.h. den ›tabula rasa‹-Utopien, zu.193 Ambros’ Jerusalem zeichnet sich jedoch gerade durch die völlige Abwesenheit des Ausblicks auf eine andere Nachwelt aus, der, wie gesehen, der Halbinsel Orfordness als dem Inbegriff Sebaldscher Ruinen durchaus eigen ist. Während die gängigen Schilderungen der Ruinenlandschaften in die Imagination einer anorganischen Nachwelt überführt werden, bietet das Reisetagebuch keinerlei Gegenbild zu dem des verrottenden Jerusalem an. Vom Ölberg aus schauen Ambros und Cosmo einige Tage nach ihrer Ankunft auf die Stadt: Jenseits des Tales von Josaphat, wo am Ende der Zeit das ganze Menschengeschlecht leibhaftig zusammenkommen soll, erhebt sich die schweigsame Stadt mit ihren Kuppeln, Zinnen und Ruinen aus dem weißen Kreidegestein. Über den Dächern kein Laut, kein Rauchzeichen, nichts. Nirgends, so weit das Auge ausschweift, erblickt man ein lebendiges Wesen, ein huschendes Tier oder auch nur den kleinsten Vogel im Flug. On dirait que c’est la terre maudite . . .« (AG 208)
Die Stille und Bewegungslosigkeit dieser ›verfluchten‹ Stadt ist nicht dieselbe wie die der Schnee- und Eislandschaft. Der Anblick Jerusalems weist gerade nicht wie derjenige der Weltlandschaft Altdorfers in Nach der Natur über sich selbst hinaus. Der Stillstellung ist hier keineswegs die Verheißung eines beruhigten post-naturgeschichtlichen Weltzustands 192 Ward 2004, 60. 193 Kastura 1996, 208. 86
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eingeschrieben, sondern dies ist ein stillgestellter, eingefrorener Schreckensmoment »am Ende der Zeit«, der von nichts als der eigenen Endlosigkeit kündet. Das bestätigt sich im »letzte[n] Eintrag in dem Agendabüchlein« (AG 214), in dem tatsächlich der Schnee aus den anderen Texten wiederkehrt, ohne jedoch die Stadtlandschaft in eine Schnee- und Eislandschaft zu verwandeln. Am Ende des Reisetagebuchs, so der Erzähler, habe Ambros vermerkt, »daß es in den späten Nachmittagsstunden des Vortags zu schneien begonnen habe und daß er, indem er durch das Hotelfenster hinausschaute auf die weiß in der sich herniedersenkenden Dämmerung schwebende Stadt, viel an früher habe denken müssen« (AG 214f.). Wie wenig willkommen dem Ambros die Erinnerung »an früher« gewesen sein muss, ist einer anderen Passage aus seinem Tagebuch zu entnehmen, wo er, noch in Konstantinopel, notiert, bei einem Spaziergang durch die Stadt habe »sich an einer Straßenecke unvermutet ein Fernblick auf eine blaue Berglinie und das beschneite Haupt des Olymps« eröffnet, woraufhin er sich einen »furchtbaren Herzschlag lang [...] in der Schweiz oder wieder daheim« glaubt (AG 193). Das Bild der verschneiten Stadt weist hier nicht in einer Sublimierungsbewegung über sich selbst hinaus, sondern zurück in die Enge der Heimat; wie wenig Ambros dieser letztlich zu entkommen vermag, ist hier bereits durch seinen Gebrauch des süddeutschen »daheim« indiziert. In einem Aufsatz zur Sebaldschen Ruinenästhetik argumentiert Anne Fuchs, die Spezifik der Jerusalem-Episode im Reisetagebuch bestünde darin, dass hier die Transformation des ruinösen Materials in Imagination nicht mehr gelinge.194 Die Bewegung verläuft vielmehr in der Gegenrichtung: Was aus der Ferne noch für die »Queen of the desert« gehalten werden kann, entpuppt sich beim Näherkommen als fauler, ekelerregender Pfuhl. Während aus der Distanz die Aufrufung des stererotypen Bilds der Stadt noch funktioniert, wird dies beim Eintritt in den Stadtraum selbst sofort vernichtet. Fuchs spricht, auf Kristeva rekurrierend, von Ambros’ Jerusalem als der »abjektal entkodierten Ruine«.195 Die bei Sebald gängige Allegorisierung der Ruine als Welt- und Textmodell wird hier rückgängig gemacht, das Funktionsprinzip der ›tabula rasa‹-Utopien gewissermaßen umgekehrt. Jerusalem, fraglos diejenige Stadt, deren Symbolkraft die eines jeden anderen Orts auf Erden übertrifft, wird hier gezeigt als Inbegriff einer »entvitalisierte[n] Leere, angesichts derer die Sublimierung durch Ästhetisierung völlig versagt«.196 Damit führe
194 Vgl. Fuchs 2006, 102. 195 Fuchs 2006, 103. 196 Fuchs 2006, 102. 87
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Sebald, fährt Fuchs fort, seine Ruinenästhetik an eine ungekannte Grenze, an der sämtliche Sinnstiftungsversuche zerschellten. Es gehe hier um das Ende der Signifikation. Daher entziehen sich die von Adelwarth notierten Bilder des Schmutzes, des Morasts, der Kadaver, der Leere und des Verfalls jedweden ästhetischen, eschatologischen oder historiografischen Sinnangeboten: Als das Andere des Sinnhaften, das von der Ordnung ausgestoßen wird, weil es sich nicht in ihre Kategorien einordnen lässt, bedroht dieser JerusalemKadaver die Grundlage der auf Signifikation beruhenden symbolischen Ordnung.197
Entsprechend liest Fuchs die über eine Seite lange Auflistung der religiösen und weltlichen Einrichtungen in Ambros’ Tagebuch ebenso wie den Besuch der Grabeskirche als Versuch, den Einbruch des Abjekten zu bremsen. Diese zweierlei Modelle der Sinnkonstitution greifen ihrer Lektüre zufolge »auf im Tourismus schematisierte Erfahrungsmodi zurück, die in beiden Fällen jedoch scheitern«.198 Im Fall der Aufzählung der Sehenswürdigkeiten, von der Jan Ceuppens nachweisen kann, dass sie aus der Encyclopedia Britannica aus dem Jahr 1911 stammt,199 sei dieses Scheitern daran zu bemerken, dass diese Liste keinerlei Erfahrungswert mehr zum Ausdruck bringe, schreibt Fuchs. Der Sonderstatus dieser Liste, die in der ihr eigenen Länge und Schmucklosigkeit einmalig im Gesamtwerk ist,200 erklärt sich insofern allein aus dem Kontext, in den sie
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Fuchs 2006, 104. Fuchs 2006, 103. Vgl. Ceuppens 2006, 247. Ceuppens’ These, die Auflistung der Einrichtungen sei exemplarisch für vergleichbare andere Aufzählungen in Sebalds Werk und »keineswegs ein Einzelfall« überzeugt nicht vollends (Ceuppens 2006, 245). Andere Sebaldsche Auflistungen, auch die der Tiernamen zu Beginn von Austerlitz, die Ceuppens als Beispiel anführt (vgl. A 10), sind weitaus weniger schmucklos und deutlich kürzer. Ebenfalls nicht ganz plausibel erscheint mir Iris Dennelers Kommentierung der Auflistung. Sie konstatiert, der gesamte Reisebericht und darin insbesondere besagte Aufzählung sollten in ihrer Langatmigkeit »dem Leser den Unterschied von lebendigem Erinnern und totem Wissensspeicher gleichsam spürbar werden lassen. Erinnern-Wollen, mneme (auf Seiten des Erzähers), und Nicht-Erinnern-Wollen, anamnesis (auf Seiten Ambros’), erweisen sich als zwei Reaktionsweisen der memoria«. (Denneler 2001, 149.) Die Figur des Ambros ist aber m.E. viel zu positiv besetzt, um als Gegenfigur zu der des Erzählers selbst gelesen zu werden; außerdem halte ich es ausschließlich im Bezug auf die Auflistung, nicht 88
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eingefügt ist. Fuchs’ Lesart überzeugt insofern weitaus mehr als die Ceuppens’, der erst die Aufzählung selbst als Störung der symbolischen Ordnung liest. Als »Einbruch von Kontingenz« durchkreuze die Auflistung die üblicherweise ungestört sich fortsetzende Verkettung der Signifikanten zu einem Bedeutungssystem – Ceuppens gebraucht hier den Lacanschen Begriff des automaton.201 Er übersieht jedoch, dass bereits mit der von Fuchs diagnostizierten »bildliche[n] Inventarisierung des Abjektalen«,202 d.h. dem Morast, Unrat und »Gekröse«, und nicht erst mit der Auflistung, die dieser vielmehr entgegengesetzt wird, das automaton, das »metonymische Fortschreiten des Diskurses«,203 massiv gestört wird und unter dieser Störung seine prinzipielle Instabilität und Verwundbarkeit zu erkennen gibt. Unumstritten ist, dass die Jerusalem-Episode – gleich, ob bereits mit den Bildern des Ekels oder erst mit der Auflistung der Sehenswürdigkeiten – einen Bruch mit dem gängigen Sebaldschen Erzählverfahren markiert. Der Text wird hier an eine Grenze geführt, die bei Sebald gewöhnlich ganz im Verborgenen liegt. Im Zusammenhang mit den labyrinthischen Formen bei Sebald erwähnt Kastura, ohne dies weiter auszuführen, im Christentum des Mittelalters gelte es als Ersatz für eine Pilgerfahrt nach Jerusalem, »[d]en Weg durch ein Labyrinthmuster mit dem Finger nachzufahren«;204 im Zentrum der Labyrinthfigur anzulangen steht dann für die Ankunft in der Heiligen Stadt.205 Überträgt man diese bildliche Figur auf die Bewegung des Sebaldschen Texts, ließe sich behaupten, mit Ambros’ Reisetagebuch wagt sich der Text, der sich gewöhnlich in tausenderlei labyrinthischen Gängen windet, erst- und letztmalig in sein eigenes Zentrum vor und wird dort insofern mit seinen eigenen Grenzen konfrontiert, als hier das Ende jeder Signifikation droht. Dem todessehnsüchtigen Begehren nach einem Ende der endlosen Wiederholung wird hier ein einziges Mal versuchsweise nachgegeben. Der Randbereich des Signifizierbaren, in den sich Sebald hier exkursartig begibt, bildet, wie zu sehen sein wird, exakt jene Zone, von der die Texte Dudens ihren Ausgang nehmen. In Dudens Texten bezeichnet dieser Grenzbereich von Beginn an das Gebiet, von dem aus die Texte
201 202 203 204 205
aber auf das gesamte Agendabüchlein für berechtigt, von einer »erzeugten Langeweile« (Denneler 2001, 151) zu sprechen. Ceuppens 2006, 248. Fuchs 2006, 102. Ceuppens 2006, 248. Kastura 1996, 209. Hier ist also von einem Labyrinth im eng gefassten Sinne die Rede, denn dieses besitzt tatsächlich, anders als der Flächenmäander, ein Zentrum. (Vgl. Fußnote 111.) 89
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sich auf die Suche nach einer anderen Sprache jenseits des automaton, jenseits des metonymischen Fortschreitens des Diskurses begeben.206 In Sebalds Prosa aber, so auch Anne Fuchs, bleibt dies, hier in der Jerusalem-Schilderung, »letztlich Episode. Sie deutet darauf hin, dass Sebalds allegorisches Darstellungsverfahren als Umbiegung einer unerträglichen Grenzbelastung zu lesen wäre.«207 Während das bei Sebald gängige Verfahren grundsätzlich dem Zweck dient, die Unerträglichkeit der Sinnlosigkeit allen Seins zu überdecken, wird allein hier, in der Form des Tagebuchs, die »unerträgliche Grenzbelastung« als solche erkennbar. Auch im Bezug auf die Darstellung Jerusalems lässt sich von einem allegorischen Verfahren sprechen, aber der Allegorisierung kommt hier eine andere Funktion zu. Sie bringt an dieser Stelle das Misslingen aller Versuche einer Sinnstiftung zur Anschauung. Denn die »Umbiegung« missrät, und angesichts dessen bricht sich ein Entsetzen Bahn, das nicht in die melancholische Betrachtung der Welt übersetzt werden kann, sondern als solches im Text anwesend bleibt und stark irritiert. Mit Ambros’ Jerusalem wird ein abjektaler Raum entworfen, der sich der Sublimierung widersetzt, weil der Text in dieser Episode auf keinen der beiden Fluchtpunkte der Sebaldschen Prosa zustrebt: weder auf eine stillgestellte Welt, die in einer unbestimmten Zukunft angesiedelt ist, noch auf eine idealisierte vergangene Welt, die im folgenden Kapitel näher besehen wird. Weil diese Fluchtpunkte in der Jerusalem-Episode funktionslos geworden bzw. schlicht nicht existent sind, ist der Text hier – und einzig hier – ganz auf sich selbst zurückgeworfen. Insofern muss die Darstellung Jerusalems sogar entschiedener noch als alle anderen bislang angeführten Raumschilderungen als eine allegorische bezeichnet werden, versteht man die Allegorie als Paradigma ästhetischer Selbstreflexion. Denn ausschließlich hier wagt der Sebaldsche Text, sich seinen eigenen Grenzen zu nähern, und befragt somit das eigene (Nicht-) Funktionieren weitaus entschlossener als irgendwo sonst.
206 Vgl. zur Abjektion bei Duden meine Ausführungen »Das ›versiegelte Innere‹ – klaustrophobische Raumfiguren«, 126ff. 207 Fuchs 2006, 104. 90
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Der »Setzkasten« der Geschichte: Allegorisierung und Nostalgisierung Im »Gravitationsfeld der vergessenen Dinge«208 – museale Räume Unzählige Räume finden sich bei Sebald, in denen Sammlungen oder Ansammlungen ausrangierter Dinge anzutreffen sind. Der Erzähler sucht, gleich wo er sich befindet, mit Vorliebe die etwas abgelegeneren Museen und Ausstellungsräume auf – sei es der in Die Ringe erwähnte Sailors’ Reading Room im ostenglischen Küstenort Southwold, eine »gemeinnützige Einrichtung, die, seit die Seeleute am Aussterben sind, in erster Linie als eine Art maritimes Museum dient« (RdS 114),209 sei es das königliche Observatorium in Greenwich, wo Austerlitz und der Erzähler »die in den Vitrinen ausgestellten kunstreichen Beobachtungs- und Meßgeräte, Quadranten und Sextanten, Chronometer und Regulatoren studierten« (A 148), oder sei es die im Souterrain des Musée Fesch verwahrte »Sammlung napoleonischer Memorabilien und Devotionalien« (CS 9), von der in Kleine Exkursion nach Ajaccio die Rede ist. Wo auch immer mehr oder minder skurrile Anhäufungen alter, aus dem Verkehr gezogener Objekte zu finden sind, zieht es Sebalds Erzähler und seine Figuren gleichermaßen hin. Der attraktivste Flecken für den in den Ort seiner Kindheit Zurückkehrenden in Il ritorno in patria ist der Dachboden über dem Gasthof Alpenrose, wo zwischen haarlosen Porzellanpuppen, Stieglitzkäfigen und alten Kalbsfelleisen verborgen der Jäger Gracchus sitzt (vgl. SG 247). Und das einzige Haus, in dem sich Austerlitz geborgen fühlt – die Villa der Fitzpatricks auf deren Anwesen Andromeda Lodge –, birgt in beinahe jedem seiner Innenräume »irgendein Naturalienkabinett, [...] Muschel-, Mineralien-, Käfer- und Schmetterlingssammlungen, in Formaldehyd eingelegte Blindschleichen, Nattern und Echsen, Schneckenhäuser und Seesterne, Krebse und Krabben und große Herbarien mit Baumblättern, Blüten und Gräsern« (A 126). Diejenigen Figuren, die auf die eine oder andere Weise einer Sammelleidenschaft erlegen sind, werden mit deutlicher Zuneigung gezeichnet, mit Sympathie im Besonderen zu der Sehnsucht, die aus ihnen zu sprechen und sich in ihrer jeweiligen Sammeltätigkeit niederzuschlagen scheint. Man denke beispielsweise an die Kollegin des Erzählers in Die Ringe, Janine Dakyns, die als Sammlerin von Schriftstücken aller Art in ihrem Papier208 A 367. 209 Vgl. zur Funktion des Sailors’ Reading Room auch meine Ausführungen »Im exzentrischen Reading Room – eine Verortung des Sebaldschen Erzählers«, 102ff. 91
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universum zu verschwinden droht (vgl. RdS 16f.), an die Käfer sammelnden Vorfahren Gerald Fitzpatricks (vgl. A 127f.) oder wiederum an Austerlitz, der auch als Sammler toter Motten und zahlloser Photographien vorgestellt wird. Die Häufigkeit, mit der in Sebalds Texten Ansammlungen von Objekten verschiedenster Beschaffenheit beschrieben werden, sowie die Akribie in der Beschreibung dieser Dinge machen bereits deutlich, dass nicht allein die Lust am Skurrilen diese Schilderungen hervorbringt. Auch die Sammlung alter Gegenstände hat einen zentralen Stellenwert innerhalb der Poetik Sebalds, auch sie gibt dem Erzähler mehrfach Gelegenheit zu einer ästhetischen Standortbestimmung. In Die Ringe findet sich eine Passage, anhand derer sich dies gut erläutern lässt: Gleich die erste Etappe seiner Reise durch die Grafschaft Suffolk führt den IchErzähler dort zu dem bereits erwähnten Landschloss von Somerleyton, das Mitte des 19. Jahrhunderts durch seinen ersten bürgerlichen Besitzer, den megalomanen Sir Morton Peto, zu einem morgenländischen Märchenpalast umgestaltet worden war und nun, seit einem Brand 1913, als Ausflugsziel für Touristen dient. Die »Stiegenhäuser und Korridore, durch die man geführt wird«, seien, so der Erzähler, »vollgestellt mit zwecklosem, aus der Zirkulation geratenem Kram« (RdS 48). Es folgt im Text eine lange, akribische Aufzählung dieses Krams, ehe der Erzähler ausführt, er habe während seines Gangs durch die Somerleyton Hall verschiedentlich an eine Pfandleihanstalt denken müssen oder ein Brockenhaus. Aber gerade das Überzählige, gewissermaßen schon auf den Versteigerungstag Harrende der durch die Generationen angesammelten Dinge ist es gewesen, das mich eingenommen hat für diesen letzten Endes aus lauter Absurditäten bestehenden Besitz. Wie abweisend, habe ich mir gedacht, muß Somerleyton zur Zeit des Großunternehmers und Parlamentsabgeordneten Morton Peto gewesen sein, als vom Keller bis zum Dach, vom Tafelgeschirr bis zu den Aborten alles nagelneu war, bis in die winzigsten Einzelheiten aufeinander abgestimmt und von gnadenlos gutem Geschmack. Und wie schön dünkte das Herrenhaus mich jetzt, da es unmerklich dem Rand der Auflösung sich näherte und dem stillen Ruin. (RdS 49)
Was den Erzähler für diese Ansammlung von Dingen einnimmt, ist deren randständige Existenz. Diese Gegenstände haben nicht mehr teil am gegenwärtigen Leben, sind »aus der Zirkulation geraten«, nicht mehr in Gebrauch, nutzlos. Und erst in dieser Nutzlosigkeit beginnen die Dinge offensichtlich, zum Erzähler zu sprechen, erst, wenn sie ihrer jeweiligen Funktion enthoben sind, geben sie sich ihm als Erinnerungsträger zu erkennen. Noch direkt nach seiner Ankunft am verlassenen Bahnsteig in Somerleyton hatte er beklagt, wie leblos dieser Flecken Erde sei: »Und 92
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jetzt nichts mehr und niemand [...]. Eine Schrecksekunde, denke ich oft, und ein Zeitalter ist vorbei.« (RdS 44) Angesichts all der zurückgelassenen, ausgestellten Gegenstände, die ihre ehemaligen Nutzer lang überlebt haben, scheint nun für diese Dinge zu sprechen, dass allein sie das in einer Schrecksekunde verpuffte Zeitalter zu bewahren scheinen, indem sie es in Erinnerung halten. Dass jede Sammlung die Funktion eines Gedächtnisspeichers hat, ist beileibe kein neuer Gedanke. »Sammeln ist eine Form des praktischen Erinnerns und unter den profanen Manifestationen der ›Nähe‹ die bündigste«,210 schreibt Benjamin im Passagen-Werk. Was hier bei Sebald auffällt, ist Folgendes: Einerseits wird der Niedergang dieses Landschlosses bzw. aus diesem Anlass die Vergänglichkeit der Dinge und Zeitalter im Allgemeinen zwar betrauert, andererseits aber bekennt der Erzähler, er stelle sich das einst bewohnte Somerleyton, all die nagelneuen Räume und Gegenstände in Gebrauch, außerordentlich »abweisend« vor. Die Sammlung nutzloser Objekte wird also den Dingen, die in einem belebten Zusammenhang stehen, eindeutig vorgezogen, oder deutlicher: Erst der Gegenstand, der nicht mehr in Funktion ist und die Transformation zum Sammlerobjekt bereits durchlaufen hat, interessiert hier. Das unbeschädigte, in einen Funktionszusammenhang integrierte Ding hat keinerlei Bedeutung für den melancholischen Sammler, der in jedem Stück, dem er begegnet, die Unwiederbringlichkeit und dennoch stille Anwesenheit des Vergangenen lesen will, mehr noch: Es ist ihm zuwider, denn es ist Teil des Umlaufsystems, der »Zirkulation«, die er für verantwortlich hält für den Lauf der Welt. Die zitierte Textstelle über Somerleyton erinnert stark an Sebalds Ausführungen in Logis in einem Landhaus zu Gottfried Keller als frühem Kapitalismuskritiker. Dort leitet Sebald her, was es auf sich habe mit Kellers ausgeprägter Affinität zu altem Zeug, die er selbst fraglos teilt. Er entsinnt sich der Passagen im Grünen Heinrich, in der Keller diesen davon erzählen lässt, wie er als Knabe sich oft aufgehalten habe in einer dunklen, mit jedem denkbaren Trödelkram angefüllten Halle. Und wie immer, wenn Keller seiner Liebe zum Antiquarischen nachgeben kann, wird auch hier auf unvergessliche Weise beschrieben, was da alles an demodiertem, nutzlosem und wunderlichem Zeug, an Tischen, Betten und Gerätschaften jeder Art hinter- und übereinandergelagert ist [...]. Anders als das fortwährend umlaufende Kapital sind diese verdämmernden Dinge aus dem Verkehr gezogen, haben ihren Warencharakter längst eingebüßt und sind gewissermaßen schon in die Ewigkeit eingegangen.211
210 Benjamin 1983, 271. 211 Sebald 2000 [1998], 104f. 93
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In dieser »Liebe zum Antiquarischen«, die Sebald in Kellers Literatur ausmacht und die deutlich auch aus seinen eigenen Texten spricht, verbinden sich Melancholie und Kapitalismuskritik zu einer Haltung, die allein den »verdämmernden Dinge[n]« zugesteht, was keinem Gegenstand, der noch Teil des Warenumlaufs ist, zugetraut wird: mehr zu sein nämlich als ein bloßer Tauschwert. Nur das ausrangierte Ding weist bei Sebald einen gewissen Bedeutungsüberschuss auf, weil allein dem nutzlos gewordenen Objekt die Warenform, die den Gegenständen in jeder Konsumgesellschaft als Existenzweise zugedacht ist, abhanden gekommen ist und gewissermaßen den Platz freigegeben hat für andere Signifizierungen. Ward hebt hervor, es gebe, vor allem bezüglich ihrer poetologischen Relevanz, klare Entsprechungen zwischen der Sebaldschen Ruine und dem alten Ding; entscheidend sei, dass beide gleichermaßen ›aus dem Verkehr gezogen‹ sind und nicht mehr teilhaben am ProliferationsKreislauf.212 Auch die Ruine wird ja dem bewohnten, genutzten Gebäude vorgezogen und ruft, wie ausgeführt, immer den Zusammenhang von Natur und Naturgeschichte auf. Ihre allegorische Funktion besteht vor allem darin, den ersehnten Zerfall des vermeintlich Ganzen, der Totalitäten, zugunsten des Fragmentarischen und Bruchstückhaften zu verbildlichen. Wie verhält sich dies nun in den musealen Räumen Sebalds? Ist den Dingen dort tatsächlich immer in vergleichbarem Maße eine allegorische Funktion eigen? Zeugen auch die Beschreibungen der Sebaldschen Dinge von jener ästhetischen Selbstreflexivität, die die allegorische Denkfigur kennzeichnet? Im Fall der Ruine verweist deren desolate Kondition ja immer auch darauf, dass sich die literarische Repräsentation selbst in einem ruinösen Zustand befindet. Bietet sich bezüglich der Sammlung alter Dinge nun eine vergleichbare poetologische Lektüre an? Inwiefern sind die Ruine und die Sammlung ausrangierter Gegenstände tatsächlich vergleichbar? Anders als die Ruine kann das nutzlose Ding durchaus noch intakt sein, seine Charakteristik leitet sich nicht notwendigerweise von seinem ruinösen Zustand her, und entsprechend ist es nicht zwangsläufig als Allegorie des Verfalls und der Vergänglichkeit zu lesen. Viele der Dinge, die Sebalds museale Räume versammeln – die Messgeräte im Observatorium in Greenwich, die Mineraliensammlungen im Naturalienkabinett der Fitzpatricks oder die »Barometer und Navigationsinstrumente, Galionsfiguren und Schiffsmodelle« im Sailors’ Reading Room (RdS 114) –, sind durchaus noch in brauchbarem Zustand. Von anderen Gegenständen unterscheidet sie, dass sie nichtsdestotrotz von niemandem mehr benutzt werden. Die Signifikanz der aus dem Verkehr gezogenen Dinge speist 212 Ward 2004, 58f. 94
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sich bei Sebald vor allem aus der Annahme, diese wiesen im Verborgenen ein Eigenleben auf, das nichts mit dem normalen Funktionszusammenhang, dem sie nicht mehr angehören, zu tun hat. In Il ritorno in patria, wo der Erzähler mit dem alten Lukas auf den Dachboden der Alpenrose steigt, heißt es, dort oben habe zwar vollkommene Stille geherrscht, aber dieser Ruhe sei keineswegs »zu trauen« gewesen, denn »[m]an konnte sich leicht einbilden, daß diese gesamte Versammlung der verschiedensten Dinge bis zu dem Augenblick, da wir eingetreten waren, sich in Bewegung, in einer Art Evolution befunden hatte und jetzt nur aufgrund unserer Anwesenheit lautlos verharrte, als sei nichts gewesen« (SG 244). Das geheime Eigenleben der Dinge, in das der Beobachter niemals vollen Einblick erlangt, ist der Gegenwart enthoben. In den ausrangierten Gegenständen scheint vielmehr die Vergangenheit weiter fortzubestehen, ohne vom Verlauf der Zeit berührt worden zu sein. Sie haben den Anschein, an eine ehemals existente, verlorene Lebensform zu erinnern, die nicht wieder einzuholen und deren Verlust bitter zu beklagen ist. Im Zusammenhang mit Bruce Chatwins »Manie des Auflesens und Sammelns« schreibt Sebald von der »Transformation der gefundenen Fragmente in geheimnisreich signifikante Mementos, die uns erinnern an das, wovon wir, als Lebende, ausgeschlossen sind. Von den Schichten des schriftstellerischen Verfahrens«, so fährt er dort fort, sei »dies wohl die tiefste.« (CS 220) Natürlich beschreibt er hier seine eigene Arbeitsmaxime: Die benannte Transformation ist ihm als Schreibendem vorderstes Ziel. Er will die Bruchstücke, die ihm, dem fußwandernden Bricoleur, in die Hände oder vor die Füße fallen, in »geheimnisreich signifikante Mementos« verwandeln, die an eine verlorene Welt oder vielmehr diverse verlorene Welten erinnern, die allesamt miteinander verbunden zu sein scheinen. Aus diesem Grund sammelt er, begibt sich auf die Suche nach den verdämmernden Dingen und Geschichten und sucht deren allegorischen Sinn zu ergründen, indem er sie alle als Signaturen einer universalen Verfalls- und Zerstörungsgeschichte begreift: das traurige Siechtum der Tauben in Königswart wie das Wahnsinnigwerden Schumanns (vgl. A 309f.), die schmerzenden Wunden des Ich-Erzählers als Kind wie die verheerende Niederlage der Bauern in der Schlacht von Falkenhausen (vgl. NdN 76f. und 31), den aussterbenden Hering wie die Leichenberge in Bergen-Belsen (vgl. RdS 74ff.). Jeder Griff in den »Setzkasten der vergessenen Dinge« (A 222) fördert ein neues Fundstück zutage, und sämtliche Fundstücke, so scheint es, sind für ihn gleichermaßen bedeutsam, denn aus allen liest er denselben Hinweis auf das bei genauerem Hinsehen allerorten herrschende Desaster. »Man muß nämlich wissen«, so klärt Benjamin auf, »dem Sammler ist in jedem seiner Gegenstände
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die Welt präsent und zwar geordnet. Geordnet aber nach einem überraschenden, ja dem Profanen unverständlichen Zusammenhange«.213 Exakt diese Neigung des Sebaldschen Sammlers, sämtliche Fundstücke in einen eigenen, von ihm geschaffenen Kontext einzuordnen, zeigt ihn als Allegoriker Benjaminscher Definition. Denn der Allegoriker zeichnet sich Benjamin zufolge in seinem Umgang mit den Dingen dadurch aus, dass er »es von Anfang an seinem Tiefsinn [überläßt], ihre Bedeutung aufzuhellen«.214 So stecke grundsätzlich, führt er aus, in jedem Sammler ein Allegoriker und in jedem Allegoriker ein Sammler. Was den Sammler angeht, so ist ja seine Sammlung niemals vollständig; und fehlte ihm nur ein Stück, so bleibt doch alles, was er versammelt hat, eben Stückwerk, wie es die Dinge für die Allegorie ja von vornherein sind. Auf der anderen Seite wird gerade der Allegoriker, für den die Dinge ja nur Stichworte eines geheimen Wörterbuches darstellen, das ihre Bedeutungen dem Kundigen verraten wird, niemals genug an Dingen haben, von denen eines das andere um so weniger vertreten kann, als keinerlei Reflexion die Bedeutung vorhersehen läßt, die der Tiefsinn jedwedem von ihnen zu vindizieren vermag.215
Zweifellos ist die von Sebald angestrebte Transformation der Dinge in »geheimnisreich signifikante Mementos« (CS 220) als allegorisches Verfahren zu bezeichnen. Mitunter entsteht jedoch der Eindruck, dass diese Allegorisierung der alten Dinge überlagert und durchkreuzt wird von einer eher nostalgisierenden Beschreibung derselben. Während die, wie Benjamin unterstreicht, stets unvollständige Sammlung des Allegorikers immer auf die prinzipielle Lückenhaftigkeit und Brüchigkeit eines jeden Weltentwurfs verweist, ist die Sammeltätigkeit des Nostalgikers vielmehr der Annahme geschuldet, die Vergangenheit sei von einem wie auch immer gearteten Reichtum angefüllt gewesen, den die Gegenwart nicht mehr kennt. Die Sammelobjekte fungieren dann als Repräsentanten dieser nicht wieder einzuholenden glorifizierten Vergangenheit. Bereits im Kontext der Sebaldschen Hotels war zu bemerken, inwiefern sich hin und wieder eine stark nostalgisierende Spur in die Texte mischt, indem sie die Vorkriegszeit glorifizieren und verklären. Das wird wiederum greifbar anhand der Sammlungen alter Dinge, die fast ausnahmslos der Zeit vor ’33 entstammen. Fuchs führt hinsichtlich der Sebaldschen Tendenz zur Nostalgisierung der Vorkriegszeit aus, sämtliche seiner Texte beruhten auf der »Grundannahme, dass der Holocaust und Zweite Weltkrieg eine Zäsur darstellen, die die Geschichte in ein be-
213 Benjamin 1983, 274. 214 Benjamin 1983, 279. 215 Benjamin 1983, 279f. 96
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deutungshaltiges Davor und ein leeres Danach aufteilt. Während die Epochen davor als Zeiten der historischen Fülle erscheinen, ist die Zeit nach 1945 die Zeit der großen Leere und Amnesie.«216 Die reiche Vergangenheit, die in der ausufernden Fülle der musealen Räume aufscheint, steht einer leeren gegenwärtigen Welt gegenüber, für die sich Sebald entsprechend wenig interessiert. Während Aleida Assmann im taz-Interview aus Anlass des sechzigsten Jahrestages der Befreiung von Auschwitz hinsichtlich des vergangenen Jahrzehnts von einer »memorymania« spricht, die, so Assmann, »ja nicht nur in Deutschland herrscht, sondern in der ganzen westlichen Welt«,217 nimmt Sebald die Gegenwart insbesondere seines Herkunftslands ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Verdrängungskultur wahr. Wieder und wieder beklagt er, auch Ende der Neunziger noch, die kaum zu ertragende Geschichtsvergessenheit seiner Landsleute. Bis heute sei diese, führt er beispielsweise 1997 im Gespräch mit Sigrid Löffler aus, in der BRD überall deutlich sichtbar: Als Besucher fällt mir auf, daß in Deutschland die Randzonen, die ja eine Ungleichzeitigkeit der Zeit garantieren würden, eliminiert worden sind. Es gibt keine Industriebrachen wie in England, nichts Darniederliegendes, keine Überreste von früher. Das Land hat kein Gefälle mehr. Das Ergebnis ist deprimierend. Alle deutschen Städte sind gleich, man kann sich nach nichts orientieren. Oldenburg, Braunschweig, Paderborn – alles gleich. Trostlos. Die Vergangenheit wird dauernd eliminiert. Deutschland ist ja nach 1945 nicht nur einmal wiederaufgebaut worden, sondern wahrscheinlich fünf-, sechsmal. Und das führen Sie auf das gestörte Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte zurück? Absolut.218
Die Neigung Sebalds, die Jetztzeit einseitig als entleertes Danach zu betrachten, das keinerlei »Überreste« der Vergangenheit mehr bereithält, korrespondiert nun sehr stark der Tendenz seiner Texte, die alten Dinge mit einer Bedeutung zu überfrachten, die der allegorischen zuwiderläuft. Denn die nostalgische Betrachtung des alten Objekts schafft keinerlei »geheimnisreich signifikante Mementos« (CS 220). Sie entlässt den Betrachtenden vielmehr aus der Gegenwart und befördert ihn zurück in ein idealisiertes Damals. Dem nostalgischen Sammler bietet das »demodierte 216 Fuchs 2004, 165. 217 Assmann/Welzer 2005. 218 Löffler 1997, 136. Die ähnlich lautende Klage in Max Aurach angesichts der stetig zunehmenden »Geistesverarmung und Erinnerungslosigkeit der Deutschen« (AG 338) ist an anderer Stelle bereits angeführt worden. (Vgl. »Sebalds Hotels – Ruinenästhetik«, 62.) 97
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Zeug«219 die Möglichkeit zur Evasion, wie Baudrillard sagt, »ein Entfliehen vor dem Alltag, und keine Flucht ist so radikal wie die aus der Zeit«220. »Das alte Objekt«, so Baudrillards Definition des nostalgisierten Dinges, »ist in der gegebenen Form des Gegenstandes die Verewigung eines entschwundenen Wesens, die Elidierung der Zeit in der Vorstellung.«221 Es hat also ganz den Anschein, als sei Sebald hier hin- und hergerissen zwischen zwei einander widerstrebenden Anliegen. Allegoriker und Nostalgiker zugleich, versucht er beides in einem: den Dingen zum einen ihre Geschichte abzulauschen, um diese, wie Benjamin formuliert, als »Stichworte eines geheimen Wörterbuches« diesem einzugliedern – im Wissen um die Unabschließbarkeit eines solchen Wörterbuches –, sie zum anderen aber auch in eine Sammlung nostalgisierter Objekte zu überführen. Sebalds Affinität zum ›alten Objekt‹ als Repräsentant des Nostalgischen und Evasiven steht seinem Projekt, Mementos zu schaffen, d.h. eine unter Umständen stark verstörende Auseinandersetzung mit der Historie zu wagen, eindeutig im Weg. Es soll nun anhand zweier grundverschiedener Lektüren einer Passage aus Austerlitz aufgezeigt werden, inwiefern sich auch in der SebaldRezeption zweierlei Tendenzen abzeichnen, die seiner ›Doppelfunktion‹ als Allegoriker und Nostalgiker korrespondieren. Bei der Textpassage handelt es sich um diejenige, in der sich der Titelheld entsinnt, auf der Suche nach Spuren seiner von den Nazis ermordeten Mutter in Theresienstadt vor dem Antikos Bazar innegehalten zu haben. Austerlitz erzählt, er habe sich dort die Auslagen in den Schaufenstern des geschlossenen Trödelladens angesehen. In den Text sind hier drei Photographien eingefügt: Eine zeigt die Frontseite des Geschäftes, die beiden anderen je eine Schaufensteransicht (vgl. A 280-84). Die dort arrangierten Gegenstände haben auf ihren Betrachter, so berichtet er später dem Erzähler, eine derartige Anziehungskraft, daß ich mich von ihnen lange nicht losreißen konnte und, die Stirne gegen die kalte Scheibe gepreßt, die hundert verschiedenen Dinge studierte, als müßte aus irgendeinem von ihnen, oder aus ihrem Bezug zueinander, eine eindeutige Antwort sich ableiten lassen auf die vielen, nicht auszudenkenden Fragen, die mich bewegten. Was bedeutete das Festtagstischtuch aus weißer Spitze, das über der Rückenlehne der Ottomane hing, der Wohnzimmersessel mit seinem verblaßten Brokatbezug? Welches Geheimnis bargen die drei verschieden großen Messingmörser, die etwas von einem Orakelspruch hatten, die kristallinen Vasen [...]? (A 282f.)
219 Sebald 2000 [1998], 104. 220 Baudrillard 1991, 103. 221 Baudrillard 1991, 97f. 98
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Es folgt im Text die Aufzählung und Beschreibung diverser weiterer Objekte, bis Austerlitz’ Monolog schließlich einmündet in seinen Kommentar: »So zeitlos [...] waren sie alle, die in dem Bazar von Terezín gestrandeten Zierstücke, Gerätschaften und Andenken, die aufgrund unerforschter Zusammenhänge ihre ehemaligen Besitzer überlebt und den Prozeß der Zerstörung überdauert hatten.« (A 285) Damit endet die Passage. Was der Text inhaltlich nahelegt, ist klar: Auch wenn diese Dinge nicht zwingend den Haushalten ermordeter Juden entstammen, so muss doch das Leben, dem diese Gegenstände entstammen, mit Gewissheit das Leben vor 1941 gewesen sein – das heutige Terezín ist Austerlitz’ Erzählung zufolge fast menschenleer. Fuchs weist außerdem auf den spezifischen Charakter der ausgestellten Dinge hin: Sie sind allesamt »festliche Objekte bzw. Ziergegenstände [...], die als Bruchstücke eben jener bürgerlich-liberalen Kultur zu verstehen sind, mit der sich das assimilierte Westjudentum seit dem 19. Jahrhundert identifiziert hatte«; es geht insofern »auch um die Vergegenwärtigung des mit Auschwitz ausgelöschten Kulturbegriffs«.222 Insofern bergen diese Dinge also kein fernes, orakelndes Geheimnis, sondern erinnern konkret an das Massenmorden durch die Deutschen. Ganz »unerforscht«, wie sie dem Protagonisten erscheinen, sind die Zusammenhänge des Verschwindens derjenigen, die diese Gegenstände eventuell besessen und in Gebrauch hatten, sicher nicht. Iris Radisch nun zieht in ihrem Verriss des Romans, kurz nach dessen Erscheinen in der ZEIT abgedruckt, exakt diese Textpassage heran, um zu zeigen, inwiefern Sebald unzulässigerweise ausnahmslos alles, auch die Shoah, in seine Sammlung vergessener Objekte und Geschichten einpasse. Sie fragt: Wie, wenn nicht zum Verzweifeln komisch, klingt es, wenn der Held und Theresienstadt-Besucher [...] den Theresienstädter Nippes in den Auslagen der Geschäfte fotografiert, sich vertieft in die Seemuschelkästchen, die kugelförmigen Briefbeschwerer und deren wunderbare Meeresblüten, die Trachtenkittel und Hirschhornknöpfe, die japanischen Fächer und elfenbeinfarbenen »Porzellankompositionen« [...]. Folgt man dem Theresienstädter Flaneur bei seinem Antiquitätenbummel, wird überdeutlich, dass die Benjaminsche Welterschließung durch den Blick des Pretiosensammlers nur um den Preis unerhörter Naivität auf ein Konzentrationslager angewendet werden kann. 223
An seinem Anspruch, dem angeblich allgegenwärtigen Vergessen ein künstlerisches Erinnern entgegenzusetzen, scheitert Sebald nach Ra-
222 Fuchs 2004, 61f. 223 Radisch 2001. 99
KISTEN, KRYPTEN, LABYRINTHE
dischs Lesart also komplett, da der nostalgische Sammler in ihm den Erinnerungskünstler lauthals überschreit. Eine ganz andere Interpretation des Abschnitts nun bietet Anne Fuchs an. Fuchs konzentriert sich vor allem auf das bricolagierende Erzählverfahren, das in der Passage wiederum zum Tragen kommt, und stellt dieses in einen Zusammenhang mit dem vom Text intendierten Erinnerungseffekt. Sie schreibt: Die bricolage des Trödelladens versinnbildlicht [...] eine Form des Eingedenkens, die gerade in der zufälligen Kombinatorik dem Eigenleben der Dinge auf die Spur kommt. Insofern diese bricolage das Prinzip der Über- und Unterordnung durch ein gleichwertiges Nebeneinander des Ausgestellten ablöst, führt sie eine wesentlich metonymische Mnemotechnik vor, die in der Verschiebung die Erinnerungsspur lebendig hält.224
Dieses dehierarchisierende Erzählprinzip, das ›Trödelladenprinzip‹, leiste nun Folgendes: Indem es sich der akribischen Auflistung einer Reihe von Gegenständen verschreibt, die alle ihre vormaligen Besitzer überdauert haben, verleiht es den Dingen eine gespenstische Aura, die sie zu Stellvertretern zerstörter Leben macht. [...] Die im »ANTIKOS BAZAR« ausgestellten Dinge wären damit zu verstehen als gespenstische Chiffren eines in Auschwitz ausgelöschten Vorlebens.225
Genau das Gespenstische, das Radisch in der Passage vermisst, nimmt also in Fuchs’ Lektüre zentralen Stellenwert ein. Sie sieht in den ausgelegten »Dinge[n] im Trödelladen der Geschichte« – und damit leitet sie von der besprochenen Passage über zu Sebalds Texten im Allgemeinen – »nie nur Chiffren einer erinnerbaren Vorgeschichte, sondern sie liefern vor allem auch das Inventar einer endgültig zerstörten Welt«.226 Sie greift hier wiederum auf den Abrahamschen Begriff des Phantoms zurück, d.h. auch die Dinge machen das Vorhandensein einer Lücke ansichtig. Wie kann es sein, dass ein und dieselbe Textstelle zwei einander völlig entgegengesetzte Lesarten ermöglicht? Selbstverständlich liefert Fuchs eine sehr viel genauere Lektüre als Radisch, das ist bereits der jeweiligen Textgattung geschuldet: Radisch hat eine Rezension geschrieben, Fuchs ein Buch. Insofern läge es nahe, ohne Zögern der wohlwollenden Fuchsschen Lektüre den Vorzug zu geben. Dennoch ist Radischs Kritik nicht ganz von der Hand zu weisen, ist doch dieser Textabschnitt tatsächlich in derselben Manier verfasst, in der auch die verdämmernden 224 Fuchs 2004, 61. 225 Fuchs 2004, 61. 226 Fuchs 2004, 62. 100
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Dinge in Somerleyton oder die in der Trödelhalle des Grünen Heinrichs beschrieben werden. Selbst derjenige Rezipient, der vor seiner AusterlitzLektüre mit keinem der anderen Bücher Sebalds in Berührung gekommen ist, hat bereits an die 300 Seiten Romantext hinter sich, wenn er zu dieser Textpassage gelangt, und ist längst vertraut mit den oftmals nostalgisch gefärbten Sebaldschen Ansammlungen von Dingen und dem, wie Radisch formuliert, »wohligen Gefühl, dass alles mit allem aufs traurigste zusammenhängt«.227 Dieses Gefühl ist nicht allein der äußerst skeptischen Lesart Radischs zuzuschreiben, sondern, wie gezeigt, durch die Sebaldsche Tendenz bedingt, das eigene Projekt des Schaffens von Mementi durch seinen Hang zum Nostalgisierenden auszubremsen. So entsteht zuweilen der Eindruck einer allzu befriedet wirkenden Zusammenschau disparater Geschichtchen und Geschichten, wo Sebald empathische Verstörung hatte evozieren wollen. Auch Anne Fuchs kommt an anderer Stelle zu dem Ergebnis, »[d]ie Wahrnehmung der Vergangenheit als Stilleben« gehöre »zum wohl problematischsten Aspekt der Geschichtsästhetik Sebalds«.228 Was damit angesprochen ist und in Radischs Rezension des Romans zu dem Fazit führt, in Sebalds »Museum der verlorenen Dinge« habe »auch der Holocaust seinen Platz unweit der Hirschhornknöpfe«,229 mündet in die Überlegung, inwiefern die Literatur Sebalds als musealisierend zu bezeichnen ist. Karl-Josef Pazzini beschreibt das Museum als Ort, an dem ein harmloses Zusammentreffen mit bedrohlichen Inhalten, auch individuellen und kollektiven Leiden, möglich ist. Seine Definition des Museums als »Institution der gefahrlosen Präsenz«230 lässt sich insofern auf Literatur übertragen, als man sagen könnte, auch literarische Texte musealen bzw. musealisierenden Charakters böten die Möglichkeit gefahrloser Begegnungen mit dem Bedrohlichen, Grauenerregenden. In genau diesem Sinne wirken die Texte Sebalds mitunter musealisierend. Nicht zufällig wird vom »starke[n] Hauch Patina« gesprochen,231 der diese Literatur kennzeichne. Es ist m.E. das Musealisierende und daher befriedet Anmutende der Sebaldschen Prosa, die diese doch erstaunlich leicht rezipierbar macht und bewirkt, dass die Sebald-Lektüre, obwohl ausschließlich von Zerstörungs- und Verfallsprozessen erzählt wird, durchaus ein Gefühl der Behaglichkeit zurücklässt. In einem kleinen Text, aus Anlass der Eröffnung des Stuttgarter Literaturhauses verfasst, definiert Sebald literarisches Schreiben wie folgt: 227 228 229 230 231
Radisch 2001. Fuchs 2004, 169. Radisch 2001. Pazzini 2001, 51. Dittberner 2003. 101
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»Es gibt viele Formen des Schreibens; einzig aber in der literarischen geht es, über die Registrierung der Tatsachen und über die Wissenschaft hinaus, um einen Versuch der Restitution.« (CS 248) Der Begriff der Restitution bündelt, was häufig als Sebalds Projekt der Rettung vergessener Dinge beschrieben wird. Zugleich impliziert der Terminus aber auch die beschriebene Problematik dieses Projekts: Restitution ist schwerlich vereinbar mit Irritation. Will Sebald das Zerstörte restituieren, wiederherstellen, so dient das zwar selbstredend dem Zweck, auf den immensen durch die Vernichtung entstandenen Verlust hinzuweisen und ein Erinnern einzuklagen. Die Fokussierung des Verlorenen aber bringt in seinen Texten immer wieder eine Klage hervor, die so universal gefasst ist, dass sie von den je spezifischen Zerstörungsprozessen eher ablenkt. Fuchs kommt zu dem Schluss, dass »Sebalds Prosa immer wieder mit einer metaphysischen und damit letztlich ahistorischen Interpretation von Geschichte spielt. Geschichte bei Sebald droht immer wieder in die Metaphysik des Unglücks umzukippen«; daraus resultiere die »ungelöste Grundspannung« der Literatur Sebalds.232 Dieser ahistorisierende Zug zeigt sich gleichermaßen in dem Entwurf einer »unhistorische[n] Weltgegend«233 wie im Rückbezug auf eine idealisierte Vergangenheit. Beiden dieser Fluchtpunkte, sowohl dem postapokalyptischen Weltmodell als auch dem nostalgisierten Modell der Welt vor ’33, ist benanntes Moment der Stillstellung eigen. In beiden Fällen geht es um die Überwindung des Historischen, d.h. es kommt hier eine evasive Tendenz zum Tragen, die das Projekt eines literarischen Erinnerns durchkreuzt.
Im exzentrischen Reading Room – eine Verortung des Sebaldschen Erzählers Versucht man, den imaginären Punkt zu bestimmen, an dem Sebalds Erzähler beheimatet sein mag, einen Ort, von dem aus er »das langsame Sich-Hineindrehen der Welt in die Dunkelheit« (RdS 97) beobachtet und von dem die Texte ihren Ausgang zu nehmen scheinen, so drängt sich der Gedanke an den Sailors’ Reading Room in Die Ringe auf. Die gemeinnützige Einrichtung, die »fast immer leer [ist], bis auf ein, zwei der noch überlebenden Fischer und Seefahrer, die wortlos in einem der Lehnstühle sitzen und die Zeit verstreichen lassen« (RdS 114f.), ist ihm einer der liebsten Orte. Wann immer er in Southwold sei, bekennt er, begebe er sich dorthin. »Significantly«, kommentiert John Beck, »in a text that spatialises mental processes, reading has a room of ist own. Here, 232 Fuchs 2004, 19. 233 Sebald 1994 [1985], 28. 102
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reading remains the designated purpose of the space.«234 Aber der Reading Room ist nicht allein dem Lesen vorbehalten: »Besser als sonst irgendwo«, so der Erzähler, »kann man hier lesen, Briefe schreiben, seinen Gedanken nachhängen oder, während der langen Winterszeit, einfach hinausschauen auf die stürmische, über die Promenade hereinbrechende See.« (RdS 115) Der Reading Room ist ihm Refugium, ein Ort des kontemplativen Rückzugs. Auch in zahlreichen anderen Passagen, nicht nur in Die Ringe, zeigt sich, dass der Erzähler sich stets mit Vorliebe in eine Art selbst gewählter Isoliertheit begibt. Am deutlichsten wird dies dort, wo er sich in den Schilderungen seiner Reisen mittels holzschnittartiger Gegenüberstellungen von unterschiedsloser Masse und dem eigenen vereinzelten Selbst in ausdrücklicher Distanz sowohl zu anderen Reisenden als auch den jeweiligen Ortsansässigen positioniert. Er berichtet beispielsweise, sich in der Nacht nach dem letzten Treffen mit Austerlitz in seinem Hotelbett in Antwerpen gewälzt zu haben, während die ganze Stadt zu feiern schien (vgl. A 416). Und in Limone kann er, von einer einsamen Bootsfahrt auf den See hinaus zurückgekehrt, keinen Schlaf finden, weil die anderen Gäste des Ferienorts – großenteils offensichtlich Süddeutsche und Briten, ausschließlich ›Landsleute‹ des Erzählers aus dessen einem bzw. dem anderen Lebensabschnitt also (vgl. SG 106f.) – bis in die Nacht lautstark »die unsäglichsten Dinge untereinander reden«. Diese Dinge sind ihm »zuwider« bzw. »geradezu eine Pein«, so dass er sich »in diesen schlaflosen Stunden nichts sehnlicher [wünscht], als einer anderen oder, besser noch, gar keiner Nation anzugehören« (SG 107). Der Dünkel des einzelgängerischen ›Reisenden‹ den gewöhnlichen ›Touristen‹ gegenüber expliziert hier dessen permanente Distanznahme zu den ihn gegenwärtig Umgebenden. Dieses Abstandhalten lässt sich als Extension des Entschlusses, überhaupt auf Reisen zu gehen, lesen. Das Fortgehen, schreibt Thomas Macho, zählt zu den ältesten ›Einsamkeitstechniken‹;235 das Alleinbleiben auf Reisen setzt diese quasi fort. Die Nähe, die der Sebaldsche Erzähler sucht, ist nicht die zu seinen Zeitgenossen, sondern die zu den verwandten Geistern, die er vornehmlich in den Büchern findet. John Beck vergleicht den Lieblingsort des Erzählers, den Reading Room in Southwold, mit dem Papieruniversum Janine Dakyns’ und kommt zu dem Schluss: »People like Dakyns and Sebald’s narrator – intellectuals – effectively dwell in a paper world that 234 Beck 2004, 79. 235 Einsamkeitstechniken seien, so Macho, heterotopische Praktiken, die jeweils das Ziel verfolgten, dem Sich-Zurückziehenden eine Klarsicht sich selbst und anderen gegenüber zu verschaffen, die dem sozial Verstrickten und Eingebundenen verwehrt bleibe. (Vgl. Macho 2000, 38.) 103
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no longer represents the ›real‹ world but has replaced it.«236 Die Position des Intellektuellen ist in Sebalds Verständnis, darin hat Beck mit Gewissheit Recht, ein exzentrischer im ursprünglichen Wortsinn: Er befindet sich am Rand der gegenwärtig existenten Welt, und von dort aus entwickelt sich die Vorliebe für Randständiges – randständige Themen und Figuren gleichermaßen. Dem korrespondiert aber auch sehr deutlich die im Vorausgegangenen geschilderte Tendenz zu einer Art der Weltabgewandtheit, die jene Musealisierungsgefahr in sich birgt. Will man wie Beck den abgelegenen Leseraum als den Ort des Intellektuellen definieren, darf nicht vergessen werden, dass der damit aufgerufene Intellektuellentypus – der Intellektuelle als zurückgezogener ›Exzentriker‹ – selbstredend nur einer von mehreren und wohl einer der umstritteneren ist. Beck behauptet zwar, der Rückzug ins Papieruniversum bedeute im Falle Sebalds – er macht hier den Sprung vom Erzähler zum Autor – kein »withdrawal from worldly responsibility«,237 aber diese kaum weiter erläuterte Feststellung überzeugt nicht ganz. Nun ist einem Autor literarischer Texte nicht mehr als allen anderen Menschen, gleich welcher Profession, abzuverlangen, ›weltliche Verantwortung‹ zu übernehmen. Im Falle Sebalds allerdings drängt sich die Frage nach der ethisch-politischen Relevanz seiner Texte stark auf, verfolgt er doch durchaus – wie im ersten Kapitel dargelegt und wie von ihm selbst in zahlreichen Interviews beteuert – in seinem Schreiben einen explizit ethischen Anspruch. In den vorausgegangenen Ausführungen zu den nostalgisierenden Tendenzen nun ist angemerkt worden, inwiefern er dem Anspruch, eine verstörende Literatur der Erinnerung vorzulegen, nicht durchgehend gerecht wird. Die Verfehlung dieser selbst gestellten Anforderung ist nun nicht unabhängig zu denken von der exzentrischen Position, die er für seinen Erzähler wählt und die ihrerseits in engstem Zusammenhang steht mit dem augenfälligen Desinteresse an der Gegenwart bei Sebald. In bereits erwähntem Band Ruinen des Denkens, Denken in Ruinen findet sich ein kleiner Text Dietmar Kampers, in dem er über mögliche Neukonzeptionen des Denkens in einer Zeit, in der von der Moderne längst nur noch Ruinen des Denken übrig geblieben sind, sinniert. Kamper wertet die »Ruinierung«, den vermeintlichen Verfall des Denkens, in die erforderliche Voraussetzung für ein neues, anders geartetes Denken um, das keiner Repräsentationslogik folgt, sondern die eigene Bedingtheit und konstitutive Mangelhaftigkeit mitdenken kann.238 Er argumentiert, wer die Logik der Zeichen hintergehen, sprengen, un236 Beck 2004, 80. 237 Beck 2004, 80. 238 Vgl. Kamper 1996, 174. 104
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terwandern wolle, müsse – im Übergang von der Fundamentalphilosophie zu einem neuen Denken – die Verwandlung durchlaufen, die Deleuze ›devenir femme‹ genannt habe, was nicht ›Verweiblichung‹ heiße, »sondern Parteinahme für das malträtierte Leben«.239 Kampers Ausführungen sind bis hierhin wenig überraschend, präsentieren sie doch eben jene Denkfigur, die den Übergang von der repräsentationslogischen ›Zwei-Welten-Ontologie‹240 zu einem postrukturalistischen und/oder dekonstruktivistischen Denken markiert. Interessant für den gegebenen Zusammenhang wird Kampers Stellungnahme im Folgenden, anhand dessen sich exakt nachvollziehen lässt, bis zu welchem Punkt Sebald und Kamper übereinzustimmen scheinen und wo sich die Wege trennen. Kamper führt bezüglich der ruinierten Gegenwart aus: Es führt kein Weg mehr vom Schlachtfeld zum Garten Eden. Die Ideale modern. Man sollte sie sein lassen. Das Paradies ist auch von hinten nicht offen, sondern bleibt, was es war: ein Ort der Enge und der Langeweile. Die in einem radikalen Sinne alternativlose Existenz, zu der die Menschen auf Erden von nun an verurteilt sind, zwingt zum Nachspüren der Aura, die sich um die sogenannten Siege des Menschengeschlechts gelegt hat. Erst ein solcher Abbau des Glanzes führt zum Begreifen des Elends.241
Bis zu diesem Punkt sind Kampers und Sebalds Denkwege zur Deckung zu bringen, doch die folgende, für Kamper entscheidende Konsequenz aus dieser Diagnose zieht Sebald nicht: »[A]m Ende der Archäologie des Raumes«, fährt Kamper fort, liege die Chance, eine neue Zeitgenossenschaft zu stiften. Ohne eine radikale Neigung zu den Körpern als den Resten einer Geistesgeschichte als Machtgeschichte wäre eine Ausfahrt aus den dann endgültig ruinierten Räumen nicht möglich. Man muß aus den Bruchstücken der Geschichte ein Zeitenfloß bauen, um mit den entlarvten Errungenschaften eine Zweite Ausfahrt zu beginnen.242
Diese »Zweite Ausfahrt« scheint Sebald nicht zu finden bzw. gar nicht zu suchen. Er verharrt darin, die ruinierten Räume genauestens zu verzeichnen, zu vermessen, zu beschreiben, aber es geht nicht um jenes »Anfangenkönnen«, von dem Kamper spricht. Anstatt die Bruchstücke zu einem Zeitenfloß zusammenzuzimmern, belässt er es dabei, sie zu schichten, anzuordnen, konsumierbar zu machen. Ihm fehlt der Glaube daran, aus der Kenntnis dieser Bruchstücke ließe sich ein neuer Aufbruch 239 240 241 242
Kamper 1996, 175. Vgl. zum Begriff Krämer 2002b, 324. Kamper 1996, 76. Kamper 1996, 76. 105
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wagen. »Historische ›agency‹«, schreibt Fuchs, sei unter der Voraussetzung des Sebaldschen Geschichtsbilds, »nur noch als Schwundstufe des Eingedenkens auffindbar: Angesichts einer von Amnesie befallenen Gegenwart engagieren sich Sebalds Figuren nur mehr für die Vergangenheit. [...] Sebalds müder Engel der Geschichte treibt nicht rückwärts der Zukunft entgegen, sondern vorwärts der Vergangenheit.«243 Dieses Engagement »nur mehr für die Vergangenheit« zeigt sich anhand der Allegorisierung der ruinösen Hotels oder der Stadt als Schädelstätte ebenso wie der Nostalgisierung des alten Objekts. Die Chance, »eine neue Zeitgenossenschaft zu stiften«, nimmt Sebald – im doppelten Wortsinn – nicht wahr. Dem ist es letztlich geschuldet, dass Sebalds Projekt des verstörend empathischen Erzählens sich selbst ausbremst. Denn ohne engagierte Bezugnahme auf die Gegenwart läuft die Beschäftigung mit der Vergangenheit Gefahr, zu einem rein konservierenden Projekt zu geraten – einem Projekt der Stillstellung –, weil diesem Rückbezug das lebendige, drängende Fragen danach, was aus dieser Vergangenheit für das Hier und Jetzt zu lernen sei, schlichtweg fehlt. In Die Ringe findet sich eine kurze rätselhafte Passage, die sich bei genauerem Hinsehen als Kommentierung des eigenen Schaffens lesen lässt und m.E. die schwierigsten Punkte der poetologischen Entscheidungen Sebalds verdeckt thematisiert. Eingefügt sind diese Sätze in des Erzählers Wiedergabe von der legendären Lebensgeschichte seines Namenspatrons. In seiner Hochzeitsnacht soll der Heilige Sebolt auf einmal entschieden haben, dem weltlichen Leben komplett zu entsagen. Er flieht aus dem Hochzeitsbett, zieht sich zurück, wird schließlich wundertätig und entfacht unter anderem »im Herd eines ums Holz geizenden Wagners ein Feuer aus Eiszapfen« (RdS 107). Diese Episode nun kommentiert der Erzähler wie folgt: Immer ist die Geschichte von der Verbrennung der gefrorenen Lebenssubstanz für mich von besonderer Bedeutung gewesen, und ich habe mich oft gefragt, ob nicht die inwendige Vereisung und Verödung am Ende die Voraussetzung ist dafür, daß man, vermittels einer Art schwindelhafter Schaustellerei, die Welt glauben machen kann, das arme Herz stünde noch in Flammen. (RdS 107)
Das Irritierendste an dieser Passage ist vermutlich der Sprung vom Eiszapfen in der Legende zur »inwendige[n] Vereisung und Verödung« einer namenlosen Person bzw. von Menschen generell; das wird nicht ausgeführt. Hergestellt wird die Verknüpfung durch den Begriff der »Lebenssubstanz«. Der Erzähler stellt also die Vermutung an, die innere »Vereisung und Verödung« sei vielleicht Voraussetzung dafür, immerhin 243 Fuchs 2004, 168. 106
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vorgeben zu können, »das arme Herz stünde noch in Flammen«, während dies de facto nicht mehr der Fall ist. Diese Täuschung der Außenwelt, die offensichtlich ein Interesse daran hat, dieses Herz »in Flammen« zu glauben, gelingt »vermittels einer Art schwindelhafter Schaustellerei«. Versteht man versuchsweise unter der »schwindelhafte[n] Schaustellerei« das Erzählen selbst und liest obige Zeilen als Beschreibung des Sebaldschen Erzählens bzw. der Bedingtheiten desselben, so ist natürlich auch dann die kausale Relation besonders aufschlussreich, die hier zwischen Vereisung und »Schaustellerei« behauptet wird: Die »Schaustellerei«, d.h. das Erzählen, ist nur denkbar aufgrund der Vereisung, der Stillstellung. Dem Sebaldschen Erzählen wird der ruinöse Ist-Zustand der Welt nur erträglich, weil es sich im Anvisieren des einen oder des anderen Stillstellungsmoments aus der gegenwärtigen Welt entfernt und entweder in nostalgisierender Geste zurück oder in transzendierender Geste voraus weist. Ohne diese Ausrichtung liefe der Text Gefahr, tatsächlich wiederholt an die eigenen Grenzen zu stoßen, wie es in der JerusalemEpisode der Fall gewesen ist. »[S]chwindelhafte Schaustellerei« nach Sebalds Maßgaben ist unter solchen Bedingungen nicht mehr möglich. Was für eine Art des Erzählens dagegen dort entsteht, wo versucht wird, diesen Grenzbereich zum dauerhaften Ausgangsort des Erzählens zu machen und die Ausstellung der eigenen Grenzen ins Zentrum zu stellen, wird im Folgenden am Beispiel Anne Dudens zu sehen sein.
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ANNE DUDEN Diffusionen »Drinnen und Draußen ist ihm gleichviel«244 – Grenzzersetzungen Seit der Publikation ihres ersten Erzählbands Übergang Anfang der achtziger Jahre gilt Anne Duden in erster Linie als »Leidensfrau«.245 In den Rezensionen ihrer Texte ist von einer »Sprache der Qual«,246 von »Schmerzlust«247 und »Lektüre[n] am Rand des Schmerzes«248 die Rede. Während die einen beklagen, Duden quäle mit ihrer Larmoyanz und ihre Literatur tauge bestenfalls als »Notausgang für Märtyrer«,249 zeigen sich die anderen begeistert von dem »Kampf gegen das Schwinden der Sinne«,250 den sie Duden ausfechten sehen, und von der Konsequenz, mit der ihre Texte kollektiv und individuell Verdrängtes wieder einzuholen versuchen. Wie in der Einleitung angesprochen, soll Duden hier nun nicht erneut als Verfasserin einer Literatur, die in den achtziger und neunziger Jahren als ›Körperschreiben‹ bezeichnet wurde,251 sondern vor allem als Poetologin gelesen werden. Es wird zu sehen sein, dass die Überschreitung dessen, was Dirk Göttsche die Ästhetik weiblicher Schmerzerfahrungen genannt hat,252 von Beginn ihres Schreibens an deutlich bemerkbar ist. Es geht bei Duden niemals allein darum, dem leidenden weiblichen Körper eine Stimme zu verleihen. Vielmehr entwerfen ihre Prosatexte ein spezifisches Modell von Wahrnehmung, das sich
244 245 246 247 248 249 250 251
L 16. Braun 1993. Bormann 1986. Widmann 1995. Fessmann 1995. Detering 1995. Schweikert 1995. Vgl. zum Begriff Weigel 1995: Das Kapitel dort, das sich ausführlich mit Duden befasst, trägt die Überschrift »Vom Körper schreiben – Schreibweisen radikaler Subjektivität«. 252 Göttsche 2003, 20. 109
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besonders in den Raumschilderungen niederschlägt und das sehr viel über ihre Poetik aussagt. Auf welche Weise nun die Raumschilderungen zu ästhetischen bzw. poetologischen Fragestellungen überleiten, soll zum Einstieg anhand eines close readings der frühen, von der Forschung erst in jüngster Zeit beachteten Erzählung Das Landhaus anschaulich gemacht werden.253 Der Text ist insofern paradigmatisch für vielerlei Raumbeschreibungen bei Duden, als er plastisch zeigt, welchen Parametern die Raumschilderungen Dudens folgen und welcher Problemkomplex damit eröffnet wird. In der Erzählung, die sich zu Beginn von Dudens erstem Band Übergang findet, steht ein Haus, ein einsam gelegenes Landhaus, im Zentrum. Der circa fünfundzwanzigseitige Prosatext begleitet die Ich-Erzählerin254 in das Haus zweier Bekannter. Sie hat zugesagt, dieses Landhaus während deren dreiwöchiger Abwesenheit zu hüten, und lässt sich von ihrem Geliebten, wie die männlichen Begleiter der Ich-Figur bei Duden meistens genannt werden, an den abgelegenen Ort bringen. Gleich nach dessen Abreise am darauffolgenden Morgen, d.h. von dem Augenblick an, in dem sie sich alleine in dem fremden verwinkelten Haus wiederfindet, beginnen die Einsamkeit und die Furcht vor Eindringlingen langsam, aber bestimmt die Nerven zu ruinieren. Als der Mann sie einige Tage darauf – am Ende der Erzählung – im Landhaus besuchen kommen will, trifft er eine kaum mehr ansprechbare, »ausgestreckt auf dem Teppich« (Ü 37) Liegende an, die auf seine Worte »Das ist ja wahnsinnig. Komm sofort hier raus« nur noch »Wohin denn« (Ü 40) entgegnet. Bei der Lektüre des Texts verfestigt sich zunächst der Eindruck, das verlassene Haus bilde, ähnlich wie die Bahnhofsgebäude in Austerlitz, eine Art gothic setting für die Geschichte einer nervlichen Zerrüttung. Die Abgeschiedenheit des ihr gänzlich unvertrauten Hauses und die damit verbundene soziale Isolation sind Voraussetzungen für den Zustand, in den die Ich-Figur dort gerät: »Mehrere hundert Jahre alt, strohgedeckt, inmitten von Weiden und sanften Hügeln, in der Nähe eines Dorfes, aber doch so abgeschirmt von allem weiteren menschlichen Leben, daß man tagelang die Existenz von Autolärm und anderem vergesse« (Ü 11), werden die Hausbesitzer zitiert. Genau wie die der Bahnhöfe bei Sebald erschöpft sich die Funktion des Hauses für Dudens Erzählung aber weder 253 Vgl. Ludden 2006a, 91-102, Ludden 2006b und Wigmore 2003. 254 Wie schon bei Sebald ist es auch bei Duden geboten, aufgrund der Abwesenheit von Unterscheidungsmerkmalen zwischen den Erzählerinnen der einzelnen Texte von nur einer Dudenschen Ich-Erzählerin zu sprechen. Zur Frage nach der Funktion dieser homogenen Erzählstimme vgl. meinen Aufsatz Schmerzästhetik und Zeugenschaft bei W.G. Sebald und Anne Duden (Maier 2006, 116f.). 110
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darin, atmosphärische Hintergrundfolie für den Plot zu bilden, noch darin, den Zustand der Figur zu reflektieren. Denn, wie im Folgenden auszuführen, wird hier mittels dessen, wie der Text von dem Haus erzählt, eine Art der Raumwahrnehmung entworfen, die ihrerseits Rückschlüsse auf Dudens Konzeption ästhetischer Erfahrung und damit auf das Selbstverständnis des Texts nahelegt. Von Beginn an fokussiert die Erzählung die räumlichen Verhältnisse bzw. die Raumwahrnehmung der Ich-Figur. Gesonderte Aufmerksamkeit erfährt dabei das Verhältnis von Außen- und Innenraum, zunächst vor allem die Unterscheidung zwischen Hausinnerem und dem umgebenden Außen, d.h. Garten und Feldern. Das zeigt sich plastisch anhand der Beschreibungen der Lichtverhältnisse, die anfangs im Inneren noch ganz andere sind als außerhalb; beim Hinaustreten aus dem Haus hat die IchErzählerin »den unangenehmen Eindruck, von gleißender weißer Helle geradezu aufgelöst zu werden, eintretend hingegen war es mir, als würde ich in ein dunkles Loch tappen und womöglich endlos tief stürzen« (Ü 14). Sie fährt fort: Überhaupt war dies eines der wesentlichen Merkmale des Landhauses, das mich von Anfang an verstörte. Befand ich mich im Innern, sah die Außenwelt durch die wenigen niedrigen, fast auf dem Boden liegenden Fenster unerträglich hell und konturenlos aus, war ich draußen, konnte ich ohne ganz nahes Herantreten, Runterbeugen und Abschirmen der Augen nie mehr als zwei oder drei Zentimeter tief in die Räume sehen. (Ü 14)
Am nächsten Morgen allerdings scheinen sich die Lichtverhältnisse draußen denen im Inneren bereits angeglichen zu haben. Als sie aufsteht, nach der Abreise des Geliebten »vollkommen entmutigt und verlassen, auch erschöpft«, hat sie nun nur noch »das Gefühl, draußen sei es etwas heller als in dem Schlafzimmer mit der riesigen Balkendecke« (Ü 16). Am Abend dieses ersten Tages stellt sie beim Blick aus dem Wohnzimmerfenster in den Garten fest: »Draußen war es mittlerweile so dämmrig geworden wie es fast den ganzen Tag über drinnen gewesen war. [...] Bleich und entgeistert lag alles da [...]. Ich drehte mich um, da sah mich das Innere des Zimmers genauso bleich und entgeistert an.« (Ü 23) Und einige Tage später, gegen Ende der Erzählung, heißt es über das Licht: »Es zeigte keine Unterschiede mehr an. Es war dunkel, hell, dämmrig und alles zugleich.« (Ü 38) Dass der Text jeweils eine plausible Erklärung für die veränderten Lichtverhältnisse gibt – das eine Mal naht die Nacht, das andere Mal ein Gewitter –, ist hier nicht von Belang. Wichtig ist festzuhalten, dass im Verlauf des Texts die Möglichkeit, Hausinneres und Äußeres anhand der Differenzierung zwischen Hell und Dunkel zu unterscheiden, kontinuierlich schwindet. 111
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Je weiter die Erzählung fortschreitet, desto näher rückt der Text der Figur selbst und desto stärker perspektiviert er deren Wahrnehmung. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit dieser Figur rücken nun zunehmend die Grenzen zwischen der eigenen Person und dem sie umgebenden Raum. Der Fokus verengt sich gewissermaßen: Nachdem Hausinneres und -äußeres sich aneinander angeglichen zu haben scheinen, setzt nun eine Zersetzung der Grenze zwischen erzählendem Ich und dessen Außenwelt ein. Zu Beginn stehen die Ich-Figur und die Welt jenseits ihrer Haut noch in einem Spiegelverhältnis, sie findet außen reflektiert, was sie empfindet. So beschreibt sie ihren trübsinnigen Blick in den Garten am ersten Morgen mit der Erläuterung, eigentlich habe sie gar nicht hinausgesehen, »sondern stierte nur wie ein seelischer Schwergewichtler nach unbestimmt vielen Niederlagen ins Grau der eigenen Betäubung, für das es ohnehin keine Wände oder gar Fenster gibt, denn Drinnen und Draußen ist ihm gleichviel und vollkommen bedeutungslos« (Ü 16). Weil Dudens Ich-Figur ihr eigenes Verhältnis zum umgebenden Raum selbst so deutlich reflektiert, ergibt es wenig Sinn, bezüglich dieser Raumbeschreibungen von einer psychotopologischen Dimension zu sprechen. Dass sich der Zustand der Figur im Raum spiegelt, wird ohnehin im Text selbst expliziert. Weitaus interessanter als die Feststellung, dass dieses Reflexionsverhältnis offensichtlich besteht, ist die Frage, was mittels dieser Explizierung vorgeführt wird bzw. worauf der Text damit hinweist. In welche Relation setzt Duden die Ich-Figur zum umgebenden Raum? Was für eine Art der Raum- wie Selbstwahrnehmung deutet sich hier an? Zwar ist in der zitierten Textpassage die Wahrnehmung der Ich-Figur durchaus noch durch einen distanzierten Blick auf sich selbst charakterisiert – ein Blick, der noch zwischen Innen und Außen differenziert und der es entsprechend erlaubt, das Verhältnis zwischen den Modalitäten und deren Annäherung aneinander, die Eintrübung der Umgebung durch das »Grau der eigenen Betäubung«, zu beschreiben. Im weiteren Fortgang der Erzählung macht diese Wahrnehmungsweise jedoch einer anderen Platz, die diese Trennung nicht mehr kennt; die Feststellung, »Drinnen und Draußen« seien »gleichviel«, büßt ihre Metaphorizität ein. Die panische Konzentration der Ich-Erzählerin auf bedrohlich erscheinende Außenreize, insbesondere Geräusche, und ihre Beobachtung der eigenen Wahrnehmungsvorgänge überlappen einander zunehmend, bis Wahrnehmung und Wahrzunehmendes nicht mehr auseinanderzuhalten sind: Gegen Ende des Texts ist die Erzählerin nicht mehr als diejenige Instanz erkennbar, welche die Relationen zwischen Innen und Außen, zwischen sich selbst und der Umwelt, zu erläutern vermag. Sie nimmt vielmehr sich selbst als »eine Art Verhältnis« wahr:
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Hinter und vor den Lidern war es ein und dasselbe. Überhaupt war es angenehm, bequem geradezu, daß ich mittlerweile eine Art Verhältnis geworden war, ich meine, eine Partikel, eine Funktion dessen, was war. Anders gesagt, ich brauchte meine einzelnen Sinne nicht mehr. Auch war es eine ungeheure Erleichterung, nichts mehr tun, sich nicht einmal mehr bewegen zu müssen. Küche, Toilette, Schlafzimmer – brauchte ich alle nicht mehr für die Zwecke, für die sie gebaut und eingerichtet waren. Und natürlich war ich zugleich überall anwesend, also auch in ihnen, und sie in mir. (Ü 38)
Was mit der langsamen Entdifferenzierung von Innen und Außen beginnt, mündet so in eine Art völliger Diffusion aller Komponenten des Gesamtsystems. Die Erzählung ist lesbar als Beschreibung einer Bewegung, die auf diese Diffusion zusteuert, d.h. als Deskription des stetigen Aufweichens der Begrenzungen bis hin zu deren vollkommener Auflösung.255 Von entscheidendem Interesse ist die Frage, in welchen Zusammenhang der Text diese Amalgamierungsprozesse zwischen Ich und Außen stellt: Wird die schwindende Fähigkeit der Ich-Figur, gängige Raumgrenzen als solche wahrzunehmen, schlicht als Symptom ihres Zer255 Eine vergleichbare Textpassage findet sich im Judasschaf, in der die Außengrenzen des erzählenden Ichs ebenfalls eine solche Permeabilität erreichen, dass es zu einem Austausch zwischen Innen und Außen kommt: Beim Durchqueren eines Berliner Parks starrt die Ich-Figur dort so lange in die Bäume, »[b]is ein kleiner Wimpernschlag mich und die Umgebung austauschte. Die Sonne ging jetzt sofort hinter meinen Augen unter, und im selben Moment hatte ich die Baumkronen unter mir und einen atemverschlagenden Weitblick über die kaltrosa sich hinstreckende schwarz erstarrte Stadt.« (J 42) Vergleichbar ist auch die Szene in der kürzeren Erzählung Chemische Reaktion, in der zwar nicht die Ich-Erzählerin selbst, aber ihr Gegenüber, trotz all ihrer gegenteiligen Bemühungen, schließlich mit dem umgebenden Raum verschmilzt. Zu Beginn des gemeinsamen Abendessens gelingt es ihr – zumindest weitestgehend – noch, »die Teile einzeln wahrzunehmen und jeweils für sich zu respektieren, also zu verhindern, daß sie permanent neue monströse Verbindungen eingehen. [...] Ich erinnere mich noch ganz deutlich, daß ich jeweils momentelang versuchte, mich auf einen Teil fest zu konzentrieren, einmal zum Beispiel auf das seifige Gewicht des schweren Oberkörpers im dunkelblauen Lambswoolpullover.« Zuletzt kann die jedoch nicht verhindern, dass »der Oberkörper meines Tischpartners sich blitzschnell mit anderem, eigentlich allem, was in diesem Restaurant überhaupt vorhanden war, zu einer gigantischen Einheit verband. Die Wirkung war so gewaltig, daß ich auf eine in dem Augenblick an mich gerichtete Frage, aus welchem Grundelement die Welt denn eigentlich bestehe, ohne Zögern geantwortet hätte: Na, aus diesem.« (Ü 49) 113
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rüttungszustands gezeichnet, oder setzt sich an die Stelle dieser Fähigkeit eine andere Art der Welterfahrung und wenn ja, welche? Proportional zu der abnehmenden Distanz zwischen Innen und Außen, zwischen Ich-Figur und ihrer Umwelt wächst die Präzision ihrer Wahrnehmung. Die vollständige Dekomposition, die ihr im Landhaus widerfährt, scheint Voraussetzung zu sein für eine neue Kategorie der Erfahrung, ihr desolater Zustand notwendige Bedingung für eine um ein Vielfaches sensibilisierte, intensivierte Aufmerksamkeit. Wenn die IchErzählerin angesichts ihrer nächtlichen Panik, des »Terrors« (Ü 32), den sie erlebt, sagt: »Um Mitternacht war mein Wahrnehmungssystem schon völlig zerrüttet« (Ü 30), dann betrifft dies allein den ›alten‹, konventionellen Wahrnehmungsapparat, der nicht mehr funktioniert. Das bedeutet aber nicht, dass ihre Aufnahmefähigkeit gemindert sei, im Gegenteil. Ihre Wahrnehmung gewinnt deutlich an Intensität und Vielfalt, an die Stelle der ›alten‹, nicht mehr störungsfrei funktionierenden Perzeptionsmodi treten neue: »Meine Aufmerksamkeit war in Hunderte fusseliger Fäden zerrupft, die in alle Richtungen zu streben versuchten. Aus den unterschiedlichsten Ecken und Winkeln in Haus und Garten sandten sie mir Impulse. Und die verhedderten und verstrickten sich heillos in meinen Gehirnwindungen.« (Ü 30) Die ›neue‹ Wahrnehmung zeichnet sich durch vollkommene Orientierungslosigkeit aus, sie scheint sich nicht gezielt auf etwas richten zu lassen und kennt keinerlei Selektion, sondern überfällt die Wahrnehmende mit einem Übermaß an Eindrücken aus allen »Ecken und Winkeln in Haus und Garten«. Charakteristisch für diese ›neue‹ Wahrnehmung ist der Wegfall eines stabilen Koordinatensystems als Orientierung im Raum. Noch einmal zwar, als in »unendlicher Höhe [...] gleichmäßig und verhalten ein Flugzeug« zu hören ist, rücken sich »zumindest die Raumverhältnisse wieder etwas zurecht« (Ü 28), aber nur, um gleich darauf wieder verwirrt zu werden. Die Entwicklungspsychologie nach Piaget unterscheidet bei der Beschreibung des Prozesses, im Laufe dessen Kinder ein Raumverständnis ausbilden, zwischen zwei Ebenen, und zwar der Wahrnehmungs- und der Vorstellungsebene.256 Zu Beginn des Lebens bilde sich zunächst ein sensomotorischer Raum um das Kind, der sich ausschließlich aufgrund sinnlicher Perzeptionen entwickle, bis die heranreifenden intellektuellen Fähigkeiten des Kinds diesem erlaubten, einen vorgestellten Raum, unabhängig vom unmittelbar Wahrzunehmenden, zu rekonstruieren. Die Vorstellung eines Raums baue auf den sensomotorisch erfahrenen topographischen Relationen wie zum Beispiel benachbart, getrennt, umschlossen usw. auf. Legt man versuchsweise dieses Modell der Genese
256 Vgl. Piaget/Inhelder 1975. 114
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von Raumerfahrung und -verstehen als Hintergrundfolie unter Dudens Erzählung, zeigt sich, dass diese Entwicklung hier bei Duden quasi rückwärts abläuft: Zuerst verliert die Ich-Erzählerin die Vorstellung fester Koordinaten – Innenraum und Außenraum gleichen sich beispielsweise aneinander an –, bis sie schließlich auch sensomotorisch keine Differenzen in den Raumverhältnissen mehr spürt und sich selbst eins werden fühlt mit der Umgebung. Nun wurde schon einmal, und zwar in der Rezeption der Titelerzählung des Bands Übergang, zur analytischen Lektüre Dudens auf entwicklungspsychologische Theoreme zurückgegriffen: Die Geschichte der Mundverletzung lässt sich, wie Sigrid Weigel gezeigt hat, als rückwärts gelesenes Spiegelstadium im Sinne Lacans verstehen.257 Die Zerstörung des Sprechapparats löst das Korsett, das sich im Laufe der Ich-Bildung um das Subjekt geschlossen hat, sie macht die originäre Verdrängung des Körpers quasi rückgängig und ermächtigt diesen, endlich selbst zu sprechen. Nach dieser Lesart des Texts erzählt Duden dort von der Genese eines anderen, letzthin literarischen Sprechens, das erst aufgrund der Ausschaltung vorgängiger Prägungen möglich wird. Etwas Vergleichbares ist hier in Das Landhaus bezüglich der Raumwahrnehmung zu beobachten: Erst die Zerstörung des festen Koordinatensystems befähigt die Wahrnehmende, ein vollkommen neues Verhältnis zu ihrer Umgebung zu entwickeln. Aus den Trümmern des ›alten‹, gängigen Wahrnehmungsstrukturen gemäßen Raumerlebens erwächst die Fähigkeit, den Raum vollkommen anders zu erfahren. Gerade der Wegfall der Koordinaten schafft eine ungekannte sensorische Intensität, und exakt damit, so ist im Folgenden zu zeigen, entwirft Duden ein Modell ästhetischer Erfahrung, das letztlich das Bestreben des Texts selbst beschreibt. Nach den ersten Tagen und Nächten im Landhaus scheint sich die Ich-Figur in den veränderten Zustand einzufinden und der Metamorphose des eigenen Wahrnehmungsapparats zuerst widerspruchslos beizuwohnen, um dann schließlich völlig in ihr aufzugehen. Die Furcht der ersten Nächte und die Betäubung der darauffolgenden Tage weichen einem Daseinsmodus, in dem sie ausschließlich aufnehmender, rezeptiver Körper ist: Dabei war es nicht etwa so, daß ich krank gewesen wäre oder auch nur geschwächt. Im Gegenteil: Meine Reaktionen – und die bestanden natürlich samt und sonders aus Gedanken und Empfindungen, die alle durch ein bemerkenswert enges Nadelöhr im Kopf mußten – waren unermüdlich. (Ü 32)
257 Vgl. Weigel 1995, 124f. 115
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Diese unermüdlichen Reaktionen sind auf nichts gerichtet, und genau darin sind sie Vor- bzw. Abbild der schreibenden Weltwahrnehmung, deren Verteidigung gegen alle anderen Ansprüche eines der ersten Anliegen Dudens ist: Göttsche schreibt, es gehe Duden »offensichtlich darum, literarisches Schreiben [...] gegen außerästhetische Anforderungen als genuines Medium ästhetischer Erfahrung neuerlich zu begründen«.258 In Das Landhaus erzwingt allein schon die Abgeschiedenheit vom umtriebigen Alltagsleben die Konzentration auf eine Wahrnehmung, die keinerlei Sinn und Richtung unterworfen ist: »Was sonst hätte ich denn auch tun können?«, fragt die Ich-Erzählerin. »Es gab ja keine Möglichkeit, mich einfach irgendwie und irgendwo nützlich zu machen. [...] Es gab derart viel wahrzunehmen, ich war völlig damit ausgelastet und kam so schon kaum nach.« (Ü 32) Überwältigt von dem Zwang zur uneingeschränkten Perzeption, gibt sie schließlich jeglichen Widerstand auf: Von da an ließ ich alles sein. Ich war der Magnet für die Gewichte der Umgebung, wobei ich offenbar eine besonders ausgeprägte Anziehungskraft für die tonnenschwere Luft hatte. Die mir dadurch aufgezwungene Trägheit der Gefühle und die Bewegungsunfähigkeit meines Körpers waren nach einer bestimmten Weile durchaus nicht mehr nur unangenehm. Und zwar weil eine gewisse Aussicht, irgendwann endlich den Geist ganz aufgeben zu können, spürbar wurde, vor allem an Füßen und Händen. (Ü 37f.)
Mit der bedingungslosen Kapitulation tritt für die Ich-Figur erstmalig in der gesamten Erzählung ein gewisses Wohlbefinden ein, bedingt durch die Aussicht, »endlich den Geist ganz aufgeben« und sich dem Zustand vollkommener Reglosigkeit und Passivität überlassen zu können. Diese Passivität bildet den Endpunkt des rückwärts verlaufenden Prozesses der sensomotorischen Raumnahme, die Piaget beschreibt – von völliger »Bewegungsunfähigkeit« ist die Rede. Wieso aber bezeichnet die IchFigur diese Unfähigkeit, sich zu rühren, als »durchaus nicht mehr nur unangenehm«? In der Titelerzählung des Bands stößt man auf dasselbe Phänomen in potenzierter Form. Dort wird die Bewegungs- und Sprachlosigkeit der Ich-Erzählerin während ihres Krankenhausaufenthalts als »Antritt ewiger Ferien« (Ü 63) gefeiert. Stephanie Bird erläutert mit Rekurs auf die Verwendung des Begriffs, die Lévinas vorschlägt, die an Dudens Ich-Figur immer wieder auffallende Passivität sichere deren »heightened awareness« und sei insofern zu verstehen »not as a failure to respond, but as a mode of response which allows for the fundamental perception and awa-
258 Göttsche 2003, 20f. 116
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reness of responsibility by the subject to occur«.259 Damit ist zwar der Zusammenhang von Passivität und Aufnahmefähigkeit überzeugend erläutert. Dennoch wird hier m.E. zu viel Gewicht auf die ethische Dimension der »heightened awareness« gelegt, erscheint es doch heikel, Dudens Konzeption einer spezifischen Ästhetik mit einem vordergründig ethischen Projekt überschreiben zu wollen. Denn die Radikalität von Dudens Literatur besteht, wie Göttsche zu Recht betont, gerade »darin, daß sie (wenn überhaupt) keine andere Utopie mehr kennt als die Intensivierung körperlich-geistiger Bewußtheit und die Anerkennung von Differenz im Medium ästhetischer Erfahrung«.260 In Dudens Essay zu Cézannes Gemälde Mme Cézanne auf gelbem Lehnstuhl finden sich die Zeilen: »[U]nd Madame Cézanne rührt keinen Finger. Sie geht auf in der Passion des Ausharrens. Sie sieht und hört [...].« (Z 128) Genau diese rein rezeptive, hochgradig passionierte, intensivierte Form des Weltbezugs, den Duden hier in der Figur der Gattin Cézannes entdeckt, ist charakteristisch auch für ihre Ich-Erzählerin selbst. Inwiefern sich allerdings diese Totalintensivierung der Erfahrung zwangsläufig immer schon dem eigenen Ende nähert bzw. dieses herbeiführt, das zeigt die Erzählung nirgends deutlicher als in der Schlusspassage. Das Landhaus endet mit einer fulminanten Passage, in der – wie mancherorts bei Duden – unter Aufbietung raffiniertester narrativer Verfahren die Versprachlichung eines vollkommen subjektiven, spezifischen Wahrnehmens gelingt, ohne dass dabei der objektiv erkennbare Vorgang aus den Augen verloren wird. D.h. Duden umschifft gekonnt die drohende Gefahr, die Verständlichkeit des Texts aufs Spiel zu setzen zugunsten des Projekts, Besonderheit und Intensität einer solitären Erfahrung aufzuzeigen. Das glückt, indem erst im Laufe des jeweiligen Textabschnitts, wenn die Lesenden sich längst distanzlos dem Erleben der Figur überlassen und lange schon das »Nadelöhr«261 der Sprache Dudens passiert haben, ein Satz eingeflochten wird, der das Erlebte als ein (auch) äußeres Geschehen zu erkennen gibt.262 Hier, in besagter Schlusspassage, ent259 Bird 2003b, 69. Vgl. auch Bird 2003a, Kapitel 4. 260 Göttsche 2003, 28. 261 Schweikert 1996, 137. Dort heißt es, Duden zwinge den Leser »durchs Nadelöhr einer Sprache, deren Strenge und Leidenschaft er nicht entkommen kann«. 262 Dieselbe Erzähltechnik ist beispielsweise in Übergang anzutreffen, als erst gegen Ende des entsprechenden Textabschnitts der beschriebene Vorgang als Erbrechen erkennbar wird. Dass es sich dort bei dem Inhalt des »zentral gelegen Sacks«, bei der »Masse noch lebenden Aufruhrs« (Ü 69) um das erbrochene Blut aus dem Magen der Ich-Figur handelt, klärt sich erst in dem Augenblick, als durch das Hinzutreten des Freunds auch 117
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puppt sich, was sich zuerst ausschließlich als endgültiger Kollaps des Wahrnehmungsapparats der Ich-Erzählerin liest, schließlich als ein Gewitter. Die anfangs sich aufdrängende Annahme, dass die Veränderungen, die sie wahrnimmt, jeder äußeren Entsprechung entbehren und hier also ein rein innerpsychisches Geschehen geschildert ist, wird so als falsch entlarvt. Zu Beginn der Passage findet sich die bereits zitierte Beschreibung der sich vollkommen aneinander angleichenden Lichtverhältnisse außen und innen. Auch die Geräusche, so ist zu erfahren, »vermischten sich zu einer unauflöslichen Einheit und Endlosigkeit. Die Vogelstimmen häkelten so weiter vor sich hin und hier und da in den Gesamtzusammenhang hinein.« (Ü 38) Erst allmählich, wenn vom »Getöse und Gedröhn« und von »grellstem Zucken und Schlagen und Ausleuchten« die Rede ist, werden die beschriebenen Phänomene als Eintrüben des Lichts, Blitz und Donner entzifferbar. Die »fundamentale Veränderung« gibt sich schließlich als Einsetzen des Regens zu erkennen: Ich spürte die fundamentale Veränderung zuerst durch die Tatsache, daß die Massen des rundum geschlossenen Wasservorhangs gleichmäßig rauschten, und zwar aufeinander zu. Genauer gesagt: der Regen floß von oben herab und von unten herauf. In der Mitte begegnete er sich. Das führte zu einem unnachahmlichen Geräusch der Abgeschlossenheit und des ausbalancierten Stillstandes. Dann bemerkte ich, daß die Grasbüschel von oben und unten aufeinander zuwuchsen mit der eindeutigen Tendenz, sich zu vereinigen. Es entstand dadurch ein haarigwäßriges Schlingern und Wehen wie in Wassertierbäuchen. (Ü 39)
Dass das Szenario, das hier gezeichnet wird, derart apokalyptisch anmutet, ist vor allem der Geschlossenheit des Zusammenhangs geschuldet, in dem die Ich-Figur nun eine Gefangene zu sein scheint, mittlerweile zur Reglosigkeit verdammt und keineswegs mehr sich willentlich ausliefernd. Die »Massen des rundum geschlossenen Wasservorhangs« schotten das Landhaus ab gegen die Außenwelt und löschen die Erinnerung an jegliche Differenzen aus. Die dynamische Verbundenheit von Innen und Außen, bedingt durch die rückhaltlose Öffnung der Ich-Figur im Laufe ihres Aufenthalts im Landhaus, verkehrt sich in ihr Gegenteil: Der kollabierende »Gesamtzusammenhang« (Ü 38) kommt zum endgültigen Still-
der Verletzten selbst der »Vorgang als etwas Endliches erkennbar« (Ü 69) wird. Ähnlich verhält es sich auch mit dem grauenvollen nächtlichen Hörerlebnis in Wimpertier. Dort wird erst während des kurzen Dialogs zwischen einem Erwachsenen und den erschrocken horchenden Kindern klar, dass die zuvor beschriebenen Schreie von deren Mutter ausgestoßen wurden (vgl. W 28). 118
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stand und bildet nun ein »geschlossene[s] System, in dem nichts mehr zu machen war« (Ü 39).263 Wie aber passt nun die im Vorausgegangenen aufgestellte Behauptung, der ›neue‹ Wahrnehmungsmodus der Ich-Figur, d.h. der passivrezeptive Weltbezug derselben, exemplifiziere ein Modell der ästhetischen Erfahrung, die der Text selbst anstrebe, wenn doch, wie in der Schlusspassage zu sehen, dieser Daseinsmodus seine eigene Auslöschung mit sich bringt? Entscheidend ist zu bemerken, inwiefern sich hier die Ebene dessen, was erzählt wird, und die textstrukturelle Ebene – histoire und discours, um Genettes Termini zu gebrauchen – trennen: Innerhalb der Narration hält die Ich-Erzählerin dem Ansturm der Eindrücke nicht stand, ihr Perzeptionssystems kapituliert angesichts der Unmenge an Wahrzunehmendem. Sie schläft ein und träumt »von Aus- und Zugängen, Rückwegen, Bahnhöfen« (Ü 39), sie sehnt sich hinaus aus dem »Gesamtzusammenhang«, in den sie geraten ist. Dem Text aber gelingt es, in diesem Zusammenhang zu verweilen und ihn ansichtig zu machen, indem er mittels komplexer Erzählverfahren Zustände versprachlicht, deren Verbalisierung der Ich-Erzählerin unmöglich erscheinen: Als der Geliebte auftaucht, ist sie zu keiner Erklärung für ihre Verfassung fähig. Während die Auflösung der Grenzen auf inhaltlicher Ebene zwangsläufig zum Stillstand führt, bleibt der Text in Bewegung, indem er sich zwar den Grenzen des Verbalisierbaren nähert und diese aufzuweichen sucht, sie aber nicht überschreitet. Dass Das Landhaus diese Gegenläufigkeit ausstellt – den Stillstand im Text beschreibt, während der Text selbst in Bewegung bleibt – macht ihn zu einem Paradestück Dudenschen Schreibens. Und hieran bereits zeigt sich, inwiefern Dudens Literatur sich genau dort positioniert, wo sich Sebald in besagter Jerusalem-Episode nur exkursartig hinbegibt: an den Rand des Signifizierbaren, dorthin, wo der Text sein eigenes Kollabieren mitdenkt. Inwiefern sich dies auch anhand der Naturdarstellungen Dudens zeigt, wird im Folgenden – mit erneutem Rekurs auf Das Landhaus – ausgeführt.
263 Ludden argumentiert, es ginge gerade nicht, wie vorerst anzunehmen, um ein Kollabieren des Subjekts in Das Landhaus. Sie schreibt: »I would read the becoming fluid of boundaries between house and nature, mind and body as a symbolic re-configuration of oppositional mind-bodyrelations, and the narrator’s ›breakdown‹ not as a collapse of self but expressive of a different self.« (Ludden 2006a, 101.) Selbstverständlich ist ihr darin zuzustimmen, dass es, wie oben dargelegt, um den Entwurf eines anderen Seinsmodus geht; entscheidend ist m.E. aber, dass dieser dem eigenen Stillstand entgegenstrebt. Anders als Ludden liegt mir also daran, die in den Text eingeschriebene Aporie im Vordergrund zu sehen. 119
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Ästhetische Erfahrung im Naturraum Dudens Modell einer intensivierten Erfahrung manifestiert sich in Das Landhaus vornehmlich in den Beschreibungen dessen, wie die Ich-Figur Naturphänomene, zuletzt und im Besonderen das hereinbrechende Gewitter, wahrnimmt. Das soll Anlass sein, am Beispiel dieser Erzählung Dudens Entwurf eines natürlichen Raums unter die Lupe zu nehmen. Die prominente Stellung des Naturerlebens in Das Landhaus ist für Juliet Wigmore Grund zu konstatieren, im Zentrum des Texts stünde die »long established dichotomy between nature and culture« bzw. deren kritische Dekomposititon.264 Auch weil eine solche Lektüre symptomatisch ist für einen Gutteil der Duden-Rezeption, soll im Folgenden dargelegt werden, inwiefern Wigmores Analyse die eigentliche Spezifik der Weise, in der Duden Natur verhandelt, übersieht. Wigmores Lektüre nimmt ihren Ausgang von einer Gegenüberstellung der Ich-Figur und der Hausbesitzer.265 Die beiden in der Erzählung deutlich ironisch gezeichneten Wissenschaftler und die Karteikästen dieses Paares, die einen Teil des Hauses füllen, liest sie als Repräsentanten des Archivs, der Ordnung und des Ausschlusses der Natur, während die Ich-Erzählerin sich im Laufe ihres Aufenthalts der Natur auszusetzen und in ihr aufzugehen beginne, so Wigmore. Durchaus ist die nach kürzester Zeit im Landhaus in »Hunderte fusseliger Fäden zerrupft[e]« (Ü 30) Aufmerksamkeit der Ich-Figur ganz von dem umgebenden Naturraum eingenommen, nachdem sie anfangs mit der stereotypen Naturidylle, mit der die Hauseigentümer für den Aufenthalt dort warben, noch kaum zu locken gewesen war – »Ich sagte trotz Kuckuck und Tiefkühltruhe zu« (Ü 11), heißt es zu Beginn. Wie im Vorausgegangenen ausgeführt, erzählt Das Landhaus m.E. allerdings weniger die Geschichte einer Aussöhnung der zivilisationsgeschädigten Ich-Figur mit der Wildnis. Vielmehr wird dort anhand des hochgradig verfeinerten synästhetischen Naturerlebens der Ich-Figur der Übergang von einem Wahrnehmungsmodus zu einem anderen ausgestellt und damit das Modell einer spezifischen ästhetischen Perzeption entworfen. Im Vorausgegangenen ist erstens gezeigt worden, inwiefern die Auflösung von Begrenzungen für dieses Wahrnehmungsmodell konstitutiv und dieser Wegfall eines Koordinatensystems Vorbedingung dafür ist. Zweitens ist zu sehen gewesen, dass Duden anhand der Beschreibung von Grenzauflösungen ihren poetologischen Kerngedanken narrativ umsetzt: den Gedanken, der Text entstehe dort, wo er mit den eigenen Begrenzungen ringt und diese zu zersetzen
264 Wigmore 2003, 88. 265 Vgl. auch Ludden 2006a, 93. 120
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sucht. Während dies innerhalb der Narration, der histoire, zum Kollaps führt, gewinnt der discours immens an Fragilität, bleibt aber als höchst fragiles Gebilde bestehen – er ›überlebt‹. In Das Landhaus findet sich eine in der bisherigen Textlektüre ausgesparte längere Passage, in der dieses Phänomen – der Kollaps der histoire auf der einen, die hochgradige Fragilität und Feinheit des discours auf der anderen Seite – besonders anschaulich wird und die hier sehr genau und mit Bedacht gelesen werden soll. Es handelt sich um eine Textpassage, die gewissermaßen im Zeitraffer vom Aufgehen einer Mohnblüte am frühen Morgen erzählt. Dabei wird wiederum der Wechsel der Perzeptionsmodi der Ich-Figur zur Anschauung gebracht und literarisch ausgestaltet. Eingeleitet wird der circa einseitige Abschnitt, der sich aufgrund seiner Länge und einer gewissen Hermetik vom Rest des Texts etwas abhebt, durch die schlichte Erklärung: »Als ich diesmal aus schütterem Schlaf aufwachte, schien die Sonne, und ich ging, kaum daß ich mich angekleidet hatte, in den Garten. Dort geschah nämlich etwas.« (Ü 33) Es folgt darauf die überaus detailreiche, präzise Schilderung des Öffnens der Blüte: Ich stellte mich ganz dicht an die behaarten Stämme und Blätter und sah auf die eine pralle, stachelige Kugel herab. Sie verharrte in gelassener Unbeweglichkeit und zeigte genau in der Mitte eine dünne Linie grellsten Rots, das unruhig gegen das mehlig stumpfe Grün anglänzte. Die Kugel schien sich zu dehnen, aus etwas, vielleicht aus sich selber, herauszuwollen. Das Grün gab zuerst Raum, schob sich jetzt voneinander fort, klappte schließlich auseinander und offenbarte, was es wirklich war: zwei gleichgroße Kapselhälften, die das Innere, eine Fülle seidigen Rots, zusammengehalten, gebändigt und möglicherweise beschützt hatten. Dieses begann sich zu regen, entfaltete sich zusehends, war über und über nervös verknittert und wirkte dadurch aufgeschreckt und verschlafen zugleich. Ein kleiner Wimpel schob sich über den einen Kapselrand, es herrschte ziemliches Durcheinander, von koordiniertem Ablauf konnte keine Rede sein. (Ü 33f.)
Die gesamte Passage verlangt – das wird bereits aus dieser ersten Hälfte ersichtlich – nach einer doppelten, wenn nicht dreifachen Lektüre. Denn zum einen führt sie, wie angesprochen, die ästhetischen Qualitäten des veränderten Perzeptionsmodus vor. Nirgends in dieser Erzählung – und insofern ist der Textabschnitt das Herzstück des Texts – wird deutlicher, dass der Wahrnehmungswahn, der von der Ich-Figur Besitz ergreift, weitaus weniger mit psychischen Befindlichkeiten als mit ästhetischen Konzeptionen zu tun hat, d.h. dass der Text von einer psychischen Zerrüttung erzählt, um anhand derselben ein spezifisches Modell ästhetischer Erfahrung vorzuführen. In dieser Hinsicht lässt sich die Passage als
121
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Exempel dessen lesen, was der Text anstrebt: die Versprachlichung einer hochgradig geschärften synästhetischen Perzeptionsweise. Was Göttsche erst für das Hörerlebnis im späten Text Im verlorenen Ton in Anspruch nimmt, dass es Duden dort nämlich »um das ästhetische Erlebnis selbst in seiner zeit- und raumsprengenden, die gesamte Wahrnehmungswelt verändernden Wirkung« gehe,266 ist bereits hier in Reinform dokumentiert. Zum anderen drängt sich eine metaphorische Lektüre dieses Textabschnitts auf: Das Öffnen der Blüte führt vor, was mit dem Perzeptionsapparat der Ich-Figur bzw. mit ihrem gesamten psychophysischen System während ihres Aufenthalts im Landhaus geschieht. Stabilisierende, aber gleichermaßen einengende Konventionen des Weltbezugs werden mühsam abgestreift wie die mehlig grünen Blätter von der aufgehenden Mohnblüte. Sie, die Ich-Erzählerin, scheint »aus etwas, vielleicht aus sich selber, herauszuwollen«, und was bislang »zusammengehalten, gebändigt und möglicherweise beschützt« wurde, bricht sich Bahn, beginnt »sich zu regen, entfaltet sich zusehends« und »offenbart, was es wirklich war«. Beinahe jeder der Sätze der morgendlichen Gartenszene ist als Beschreibung der Metamorphose der Ich-Figur lesbar: »[Ü]ber und über nervös verknittert und [...] dadurch aufgeschreckt und verschlafen zugleich« wie das Innere der Blüte, ist sie überfordert von der Fülle von Wahrzunehmendem, findet keinerlei Raster, in das sich die Sinneseindrücke einfügen ließen, »es herrschte ziemliches Durcheinander, von koordiniertem Ablauf konnte keine Rede sein«. In ihrem automatisierten Nacheinander beruhigende Handlungen wie noch das Teekochen in der ersten Nacht – »[a]lle Bewegungen und Griffe gelangen mir völlig normal, routiniert und sicher. [...] Ein lückenloser, geradezu eleganter Ablauf« (Ü 26) – gibt es nicht mehr. Alle Ordnung weicht einer Form des Weltbezugs, die sämtliche Außenreize in das wahrnehmende Ich einlässt, was zur Folge hat, dass dieses unter der Wucht der Eindrücke zu zerbrechen droht: »ein schöner, gleichmäßig geformter, weitoffener Kelch [...], der aber schon fürs Halten von Luft und Licht zu dünnhäutig erschien« (Ü 34). In dieser doppelten Lesbarkeit führt die Mohnblütenpassage vor, inwiefern der veränderte Perzeptionsmodus zwar einerseits das Ideal eines intensivierten ästhetischen Erlebens ermöglicht, andererseits aber zwangsläufig den Zusammenbruch bedingt. Zum dritten verlangt diese Passage aber auch nach einer poetologischen Lektüre. Denn die Mohnblüte drängt auch wie der Text selbst gegen die eigenen Begrenzungen an, will »aus etwas, vielleicht aus sich selber, heraus«, bis sich das »In-
266 Göttsche 2003, 25. 122
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nere, eine Fülle seidigen Rots« – der Text in seiner fragilsten Form – »sich zu regen« und sich zu entfalten beginnt. Erst der Versuch, die eigenen Beschränkungen zu sprengen, bringt den Text in seiner ganzen Schönheit und Zerbrechlichkeit hervor. Er entsteht an der Schwelle des Signifizierbaren, während innerhalb der histoire vom Kollaps erzählt wird. Vom Zusammenbruch des wahrnehmenden Organismus erzählt der Text explizit in dem sich anschließenden Textteil, der bei einer ersten Lektüre am kryptischsten erscheinen mag. Die Ich-Erzählerin unternimmt, nachdem sie, bereits völlig reizüberflutet, aus dem Garten ins Haus zurückgekehrt ist, eine letzte Anstrengung, sich dem Ansturm von Wahrzunehmendem zu widersetzen, und schleppt sich ins Schlafzimmer im oberen Stockwerk. Die Vögel erscheinen »so laut, als säßen sie in meinen Gehirngängen statt in den Bäumen und pfiffen mir von dort eins« (Ü 34), der Kopf scheint längst ein ganz und gar »schalldurchlässiges Gefäß« zu sein, wie es im Judasschaf einmal über den Kopf der IchFigur dort heißt (J 17). Sie legt sich in einem Zustand völliger Erschöpfung angekleidet aufs Bett und versucht, nichts mehr in sich aufzunehmen. Und tatsächlich tritt der »Vogellärm« zurück, »aber nur, weil er durch einen anderen, seinerseits allmählich anschwellenden Lärm übertönt wurde. Das war Maschinenlärm, klar und eindeutig zum Schluß.« (Ü 35) Detailgenau beschreibt sie, was zu hören ist: Es waren viele verschiedene Tätigkeiten, gebündelt und geballt in Lärmzentren, die in einer Art Halle zusammengefasst und untergebracht waren. Es herrschte Zwang. Ich mußte dem nachgehen. Ja, das war’s: eine Fabrik, die Tag und Nacht in Betrieb war. Ihre Maschinen gingen nicht abzustellen. Der Grund, auf dem sie standen, war ausgetreten und abgetragen, ziemlich uneben. Es gab kein unbetretenes Fleckchen mehr. Arbeiter in dieser Fabrik war ich. (Ü 35)
Und zwar ist sie weit und breit der einzige Arbeiter hier: »Alle Maschinen hatte ich gleichzeitig zu bedienen« (Ü 35); sie selbst ist diese Fabrik. Der herrschende »Zwang«, von dem im Text die Rede ist, meint die Unvermeidlichkeit, sich affizieren zu lassen von der Außenwelt. Was in dieser Fabrik verarbeitet wird, sind Wahrnehmungen, Eindrücke, Reize. Auch das Bild der Maschine repräsentiert den psychophysischen Apparat der Ich-Figur selbst, der die Außenreize in eigene Gedanken und Empfindungen zu transformieren hat. Aber diese Maschine ist der Schwemme an Aufträgen nicht gewachsen – »[m]anchmal kam ich nicht nach« (Ü 36) –, es sind derer zu viele. Das Chaos bricht aus, das in der Fabrik Hergestellte ist nicht zu gebrauchen: »Das Produzierte war monströs, weil es sich zu nichts in Beziehung setzen ließ. Es war weder tierisch noch pflanzlich noch menschlich, aber es war auch kein Objekt. Stellen123
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weise meinte ich unterscheiden zu können zwischen Denk- und Wahrnehmungsüberschuß.« (Ü 35f.) Mit dieser Monstrosität ist wiederum das kapitale Dilemma angezeigt, in welches das Ideal eines grenzenlosen Wahr- und Aufnehmens notwendig mündet: Das Aufweichen und schlussendliche Schwinden der Ich-Grenzen führt letztlich zu einer Zerstörung dieses Ichs. Das Produzierte ist deshalb so monströs, weil es nicht gelingt, all das zu Verarbeitende in etwas umzuwandeln, das sich weitergeben ließe, etwas, das in dem Kreislauf von Produktion und Konsumption erhalten bliebe – es ist »zu nichts in Beziehung [zu] setzen«. Auch in dieser Textpassage geht es insofern um deutlich mehr als den betagten »conflict between nature and technology«, auf den Wigmore hier wiederum stößt.267 Wigmore schließt aus der Textaussage zur Monstrosität des Produzierten, dieses sei »in every sense unnatural« und knüpft daran ihre Diagnose, es handle sich hier um eine Gegenüberstellung von Maschinellem und Natürlichem: »This episode, which can be interpreted as a negative metaphor for modern society and civilization, allows her to experience a sense of relief when the vision disappears and she once again perceives the sound of nature. It is this contrast which reconciles her to nature and allows her to accept her exposure to it.«268 Wie anfangs erwähnt, ist Wigmores Lektüre der Erzählung auf gewisse Weise symptomatisch für einen Großteil der Duden-Rezeption. Allzu häufig werden ihre Arbeiten auf dasjenige eingegrenzt, was in ihren weniger komplexen Texten – wie mancher der fürs Feuilleton produzierten Kurzprosatexte – zugegebenermaßen dominant ist: die Zivilisationskritik und Ausstellung der damit in Zusammenhang stehenden Dichotomien. Es soll hier keineswegs behauptet werden, Dudens Literatur böte sich nicht an für solcherlei, von der feministischen Theorie der siebziger und achtziger Jahre induzierte Interpretationen. Wichtig ist jedoch zu bemerken, dass die meisten ihrer Texte weitaus zu vielschichtig sind, um sich auf diese Aspekte reduzieren zu lassen, zumal die entsprechenden Lektüren die oft augenfälligen poetologischen Implikationen der Texte schlicht übersehen. Wenn Wigmore beispielsweise die Fabrik als Counterpart zur Natur liest, ignoriert sie offensichtlich, dass das »Produzierte« explizit als »Denk- und Wahrnehmungsüberschuß« bezeichnet und somit hier die – letzthin texttheoretische – Frage nach der Möglichkeit, Wahrgenommenes zu transformieren, aufgeworfen wird. Wie wenig es hier um eine Kontrastierung von Natürlichem und Zivilisatorischem gehen kann, zeigt sich unterdessen bereits an Dudens Wahl der Formulierungen, mit denen sie Naturphänomene fasst: Der »Maschinenlärm« weicht schließlich dem
267 Wigmore 2003, 91. 268 Wigmore 2003, 91f. 124
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»Vogellärm«, und vom »Dreinschlagen des Finken« (Ü 37) ist die Rede – eine Aussöhnung mit der Natur als Fluchtpunkt ist hier nur schwer erkennbar. Was Duden anhand der Naturbeschreibungen wie beispielsweise der Mohnblütenpassage verhandelt, hat insofern mit Naturerleben im Sinne eines Zurück-zur-Natur nichts zu tun. Auch die Kategorie des Naturgeschichtlichen, das Aufdecken struktureller Analogien zwischen Historie und Naturhaftem, interessiert sie wenig. Es geht ihr nicht um das Angeschaute, sondern ums Anschauen selbst, und dieses Anschauen wird hier schlicht exemplifiziert am Naturerleben. Sie setzt die Beschreibung von traditionsgemäß als ›natürlich schön‹ Verstandenem ein, um mittels dessen einen Begriff der ästhetischen Erfahrung zu etablieren, der die Trennung von Natur- und Kunstschönem nicht mehr kennt. Dudens Konzentration auf Wahrnehmungsvorgänge korrespondiert der Entwicklung in der ästhetischen Theorie, die man mit dem Begriff des aesthetic turn zu fassen versucht hat, wie Christoph Menke und Joachim Küpper schreiben. Mit der »Wende zur ästhetischen Erfahrung«,269 so Küpper/Menke, d.h. mit der Neuformulierung einer Ästhetik, die vom Begriff der Erfahrung selbst ausgeht, kann das Feld der Ästhetik nicht mehr auf eine Theorie der Künste beschränkt bleiben und dehnt sich entsprechend ungemein aus. »Wenn die Kunst aus der Perspektive ihrer Erfahrung begriffen wird, werden auch die Argumente hinfällig, mit denen die idealistische Ästhetik nicht nur das Kunst- vom Naturschönen abgegrenzt, sondern dieses jenem untergeordnet hatte.«270 Das Ästhetische gilt nun vielmehr als abhängig von den Erfahrungen, die Subjekte mit einem Gegenstand machen, und nicht mehr von der Verfassung des Gegenstands selbst. Ästhetische Erfahrung, so die Autoren, wird somit »beschreibbar als eine spezifische Form des Umgangs mit Objekten, Situationen, Personen überhaupt«.271 Und genau hier setzt Duden an: Sie entwirft eine spezifische Form des Umgangs, der ästhetischen Erfahrung – exemplifiziert am Umgang ihrer Ich-Figur mit deren Umgebung –, die zugleich reflektiert, was der Leser mit dem Text erfährt.
269 Küpper/Menke 2003, 9. 270 Küpper/Menke 2003, 10. 271 Küpper/Menke 2003, 11. 125
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Der Körper als Gehäuse Das »versiegelte Innere«272 klaustrophobische Raumfiguren Kein anderer Satz Dudens ist so häufig zitiert worden wie jener erste der halbseitigen, kursiv gesetzten Nachschrift in Übergang, der lautet: »Mein Gedächtnis ist mein Körper.« (Ü 127)273 Kaum eine andere Formulierung bringt vermutlich so kondensiert Dudens Konzeption des Körpers als Speicher individueller und kollektiver Erinnerungen auf den Begriff. Sie denkt den Körper als Container derjenigen Erfahrungen, die nicht oder nur miserabel in eine diskursive Sprache übersetzbar scheinen.274 Der Körper ist darum permanent der Gefahr des Überlaufens und Berstens ausgesetzt. Im Judasschaf wird einmal über die Protagonistin gesagt: »Es gab keine einzige freie Zelle in ihrem Körper.« (J 40) Von entscheidendem Interesse für den gegebenen Zusammenhang ist, was sich hier in der Doppelbedeutung von »Zelle« andeutet: Vielfach gebrauchen Dudens Texte im Rahmen dessen, wie sie vom Körper als Gedächtnisspeicher erzählen, Raumbilder. Dabei spielen die zentralen Rollen die Figur des Einschlusses und die entsprechende Gegenfigur der Öffnung. Wie ist das zu verstehen? Wie setzt Duden diese gegenläufigen Figuren ein und inwiefern lässt dies wiederum Rückschlüsse auf ihre Poetik zu? In der Titelerzählung des Bands Übergang ist die Reihenfolge der Abläufe im Vergleich zu Das Landhaus auf den ersten Blick umgekehrt, denn der Zusammenbruch der Ich-Figur steht nicht am Ende, sondern zu Beginn des Texts. Erzählt wird die Geschichte einer Frau, die bei einem Überfall eine schwere Gesichtsverletzung erleidet und wochenlang mit bandagiertem Kopf und geschientem Kiefer im Krankenhaus liegt. In den langen inneren Monolog der Patientin während ihres Klinikaufenthalts, der vornehmlich von der medizinischen Behandlung der Verletzung und den damit verbundenen Qualen erzählt, sind zahlreiche durch Kursivdruck gekennzeichnete Retrospektiven eingewoben, die aus der Kindheit und Adoleszenz der Ich-Figur berichten. Anhand dieser Rückblenden und der sich an sie anschließenden Reflexionen zeigt sich, dass innerhalb der Logik der Erzählung die Verletzung selbst nur die erwartbare Fort272 Ü 87. 273 Erich Fried beispielsweise wählte dieses Zitat als Titel für seine hymnische Rezension von Übergang, die im Mai 1983 erstmalig in der ZEIT erschien und später in eine Essaysammlung Frieds aufgenommen wurde. (Vgl. Fried 1988.) 274 »Wenn [die Sätze] schließlich an den Stimmbändern hochkamen, waren sie ausgewaschen und unblutig« (J 47), heißt es im Judasschaf. 126
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setzung der vorausgegangenen Erlebnisse ist. Die Ich-Erzählerin begreift den Prozess der Zerrüttung, den sie bis zum Zeitpunkt des Erzählens durchlaufen hat, als die Vorgeschichte dieses Überfalls. Die Verletzung stellt insofern die Vollendung einer weitaus längeren Entwicklung dar. Die Ich-Figur resümiert: »Ich hatte die Dinge zu nah an mich herankommen lassen, ich hatte sie sogar in mich hereingelassen. Das war es, sie hatten mein Gehäuse zerbrochen.« (Ü 82). Das Herankommenlassen der Dinge ist eine frühe Form des Hereinlassens gewesen, die Verletzung des »Gehäuse[s]« ist letztlich mitbedingt durch die vorausgegangenen Grenzverletzungen bzw. -überschreitungen. Das Zerbrechen selbst ist nun aber sehr ambivalent konnotiert: Während die Ich-Figur an dieser Stelle noch darunter zu leiden scheint, reagiert sie an anderer mit Euphorie auf ihre Versehrung: »Ein Gefühl wie vor Antritt ewiger Ferien breitete sich in mir aus [...]. Ich war frei.« (Ü 63) Vor dem Hintergrund der oben erwähnten Disposition Dudenscher Körper ist dies durchaus schlüssig: Drohte dieser Körper bislang zu bersten unter der Last der zu speichernden Eindrücke, scheint nun durch die Verletzung eine Öffnung des zu engen »Gehäuse[s]« vollzogen und eine Art Ausgang geschaffen zu sein. Die überzeugendsten Lektüren der Erzählung lesen den Text mit dem Rüstzeug der lacanianischen Psychoanalyse.275 Nach dieser Lesart entlässt die Beschädigung des Körpers das Ich vermeintlich endgültig aus der Pflicht, zu repräsentieren, was es nicht ist, nämlich ein in mit sich selbst identisches abgeschlossenes Ganzes. Auch dies kommt im Bild des Gehäuses und seiner Zerstörung zur Anschauung: Der Körper tritt hier auf als Statthalter einer Zwangsidentität, dessen Aufbrechen diesem Zwang ein Ende setzt. Wenn die Ich-Erzählerin hofft, in diesem verwüsteten Körper eher Ruhe finden zu können als in ihrem alten, nichtzerbrochenen »Gehäuse«, so speist sich diese Hoffnung vor allem aus der Annahme, durch die Verwundung habe das Ich eine neue Durchlässigkeit gewonnen gegenüber seiner Umwelt, es könne sich also nun endlich ein Austausch von Außen und Innen in beiden Richtungen vollziehen: »Ich fühlte die Mauerlosigkeit eines wegen der Trümmerüberreste zwar holprigen, aber nach allen Seiten offenen Geländes [...].« (Ü 63) Die Figur des Eingeschlossenseins wird vorerst durch eine der Öffnung abgelöst. Was aber folgt dieser Öffnung »nach allen Seiten«? Als die Schwellungen abgeklungen sind, muss der Mund mit Drahtschlingen, die die Kiefer zusammenhalten, ruhig gestellt werden. Die Ich-Erzählerin reagiert mit panischem Entsetzen: »Als mein Besuch kam, hatte ich es noch immer nicht begriffen. Daß fortlaufend in mir etwas zusammengezwungen werden sollte, was dafür nicht bestimmt war. [...] Ich 275 Vgl. Winkels 1988 und Weigel 1995, 124f. 127
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wälzte mich stundenlang in mir selber herum, auch im Dunkeln noch den eigenen verbarrikadierten Ausgang vor Augen und die brutale Kraft spürend, die ihn zusammenpreßte.« (Ü 84f.) Der vorausgegangenen Öffnung folgt also die erneute Schließung auf dem Fuße, und diese zweite Schließung scheint noch brutaler, noch endgültiger zu sein. An die Stelle des mauerlosen Geländes treten neue Mauern, die das Ich in einem bislang ungekannten Maße von der Außenwelt abzutrennen scheinen. Weigel liest den zugedrahteten Mund als »Symbol für die ›tobende Sprachlosigkeit‹, die zum empfundenen Wahrnehmungsüberschuß in unerträglicher Diskrepanz steht«.276 Der Text gebraucht zur Demonstration dieses Missverhältnisses wiederholt Bilder des viel zu engen, versperrten Innenraums: Der Ausgang ist »verbarrikadiert«, was raus will, wird an der Schwelle »immer wieder zurückgeschickt« (Ü 84). Der oben zitierten Passage folgt eine Traumsequenz, die sämtliche klaustrophobische Bilder der Erzählung zu bündeln scheint: Wenig später lag ich auf dem Steinfußboden eines Raumes. Er ist meinem Körper genau angemessen. Die Decke befindet sich unmittelbar über mir, die Seitenwände stoßen an die ausgestreckten Arme. Es ist vollkommen dunkel und ich kann einfach nicht aufwachen und die Luft ist so eng, daß der Schrei, der die ganze Zeit schon aus mir herauswill, zwischen den Lippen stecken bleibt und da weder vor noch zurück kann. (Ü 85)
Verwandte Passagen, d.h. ähnliche Figuren eines zu klein bemessenen Raums, aus dem kein Entkommen möglich ist, finden sich auch in anderen Texten Dudens häufig. Paradigmatisch hierfür steht der gut einseitige Text Fassungskraft mit Herzweh, wo das Ich die eigenen Einzelteile »neu eingedickt und fest zusammengepreßt« wiederfindet und sich fragt, »wie ich das aushalten soll, auf kleinstem Raum zusammengepfercht zu sein« (W 31). Auch das Bild des überbevölkerten Herzen aus demselben Text gehört fraglos in diesen Zusammenhang.277 Und in Herz und Mund klagt die Ich-Figur, das eigene Gehirn adressierend: »Ich höre dich. Ich und ich, wir hören uns. Obwohl wir viel zu fertig sind füreinander. Wir gehen an unseren Innenwänden hoch, fallen erschöpft immer wieder runter, wir sind miteinander eingesperrt.« (Ü 45) Die Innenwände weisen offensicht276 Weigel 1995, 124. 277 »Oft tut mir auch das Herz so weh, als sei es überbevölkert, als säßen meine weiblichen und männlichen Lieblingswesen, dazu meine Eltern, Brüder und viele andere, als Kinder zusammengekauert und weinend, ja ununterbrochen aufschluchzend in ihm und beutelten es aus, und ihre Tränenflüssigkeit ätzte die ohnehin schon abgewetzte Innenhaut weg und sinterte dann allmählich durch bis auf die Knochen.« (W 31f.) 128
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lich keinerlei Türen auf, Fluchtwege existieren nicht, auch hier ist die Einkerkerung endgültig. In der Gefangenschaft, in die Duden ihre IchErzählerin nimmt, gelten offensichtlich verschärfte Haftbedingungen: Das Ich ist jeweils völlig allein – in Isolationshaft gewissermaßen – und auf sich selbst zurückgeworfen; das »versiegelte Innere« (Ü 87) und dessen Außen stehen in keinerlei Austauschverhältnis mehr. In Entsprechung dazu hat die Ich-Figur in Übergang bei der Rückkehr in ihre Wohnung, in die sie »hinein[geht] wie in eine zu geräumige, überdachte Sackgasse, die ganz für mich allein reserviert war« (Ü 88), bereits sämtliche Kontakte zu ihrer Umwelt verloren; auch nach der Entfernung der Drahtschlingen erfolgt keine nennenswerte Änderung ihres Zustands mehr. Sie fühlt sich zu nichts mehr zugehörig, die Welt scheint ihr »hier im Innersten schon ausgestorben« (Ü 93) und menschenleer. Der Entgrenzung durch den Mundverschluss, dem begrüßten Rauswurf »aus dem Leben in Schönheit – des Körpers und des Verstandes« (Ü 63) folgt letztlich nur die völlige Erstarrung und letztgültige Eingeschlossenheit nach. Für das Subjekt, so erzählt Duden, gibt es keinen Ausweg aus der Haft im engen Gefängnis seiner Identität. Wie in Das Landhaus ist auch hier eine Gegenläufigkeit des Geschehens in der Erzählung auf der einen Seite und der Bewegung des Texts selbst auf der anderen zu bemerken. Denn dem Text gelingt auch hier in Übergang, exakt das zu realisieren, was auf inhaltlicher Ebene zum Scheitern verurteilt ist, nämlich die Veräußerung dessen, was immer hinauswollte, aber nicht konnte. In einer der Retrospektiven heißt es über die erfahrenen, niemals versprachlichten Niederlagen und Verstörungen: »Das einwärts Gegessene wurde zur Grammatik einer schwerzungigen, nicht zu sich kommenden Sprache, einer Sprache im Traumzustand, jenseits der Sinn- und Formenschwelle.« (Ü 65) Während das erzählende Ich »an der Schwelle zum Ausdruck« (Ü 64) verharrt, hat der Text diese Schwelle überwunden. Dort kommt die »schwerzungige« Sprache zu sich, überwindet den Traumzustand und wird – als Literatursprache Dudens – sichtbar, d.h. lesbar. Der Text selbst vollzieht die Gegenbewegung zum Wegschlucken durch den Mund der Ich-Figur (vgl. Ü 65): Ihm gelingt die Umkehrung der Aufnahme, er bringt nach außen, was der Mund nur nach innen hatte befördern können. Insofern überzeugt es sehr, wenn Margret Littler vorschlägt, die Erzählung als Text des Abjekten zu lesen: Abjection is the ultimative figure of transition from inside to out, and thus the central concern of Duden’s ›Übergang‹, which renders so painfully clear the tenuousness of the inside/outside distinction and confronts us with the possibili-
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ty of the narrative subject’s sliding back into the corporeal abyss out of which it was formed.278
Aber das Abjekte ist hier bei Duden – ganz anders als in der Sebaldschen Jerusalem-Episode – durchaus nicht in erster Linie als Bedrohung des Zurückfallens in einen frühen Zustand ungeschiedener Körperlichkeit, sondern vor allem auch als Lustfaktor anwesend. Kristeva zufolge wird präödipale Lust grundsätzlich hervorgerufen durch Bilder des Abjekten, sie geht einher mit dem Horror, den das Abjekte auslöst.279 In unmittelbarer Nähe zu dieser präödipalen Lust siedelt Kristeva die Lust des Texts bzw. die Lust am Text an. Sie sieht die Texte der Moderne gerade dadurch gekennzeichnet, dass diese die vermeintliche Integrität der Grenzen zwischen dem Subjekt und dessen Außenwelt angreifen: »[A]vantgarde texts destabilize and threaten the subject’s coherence. They do so, for Kristeva, by affording us access to the jouissance of the presignifying drives«.280 Die wiederkehrenden Metaphern des Aufbrechens eines vorerst abgeschlossenen Innenraums bebildern genau diese Destabilisierung durch das Heraufdrängen der jouissance. Die der Erzählung eigene Gewalt Dudens, so Littlers Konklusion, spiegle nicht in erster Linie die Gewalt draußen, sondern die innertextliche Bedrohung des Subjekts wider, die der Text ja sucht und feiert. Das ist auch insofern wichtig festzuhalten, als sich so nochmals aufs Deutlichste zeigt, wie wenig diejenigen Interpretationen der Texte Dudens diesen gerecht werden, die davon ausgehen, es ginge bei Duden ausschließlich um eine Perspektive des Mitleidens. Diese Texte sind nicht in erster Linie darum bemüht, weiblichen Opfern männlicher Gewalt eine Stimme zu verleihen, sondern ringen beständig um eine – in obigem Sinne – gewalttätige Sprache. Wo aber nimmt diese gewalttätige Sprache ihren Ausgang? Die bislang besehenen Texte Dudens führen – in einer paradoxalen Wendung – die Unmöglichkeit ihres eigenen Vorhandenseins vor, ohne jedoch dieses Paradoxon selbst zu explizieren. Ein kurzer Text findet sich aber, der genau dies versucht und anhand eines gewissermaßen topographischen Entwurfs den Ursprung des literarischen Texts selbst zu verorten sucht. Dieser Text steht gleich zu Beginn von Dudens erstem Buch und wird im Folgenden einer Lektüre unterzogen, die sich in einem Exkurs bei Freud, Derrida und Haverkamp Entschlüsselungshilfe holen wird.
278 Littler 2003, 46. 279 Vgl. Kristeva 1982. 280 Littler 2003, 48. 130
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»Ein im Inneren des Innen ausgeschlossenes Außen«281 – die Krypta als Entstehungsort des Texts Den insgesamt acht im Band Übergang versammelten Erzählungen vorangestellt findet sich ein kursiv gesetzter einseitiger Text, und der letzten Erzählung ist eine halbseitige, ebenfalls kursiv gedruckte Passage angeschlossen, deren erster Satz bereits zitiert wurde. Diese beiden kurzen Prosastücke – sie werden hier Prolog und Epilog genannt – bilden so schon editorisch einen Rahmen für die Erzählungen, kreisen die Texte in ihrer Mitte aber auch thematisch ein. Wie erwähnt findet der Epilog in der Forschungsliteratur und in den Rezensionen des Bands viel Beachtung. Weitaus weniger Aufmerksamkeit zieht der hermetischere Prolog auf sich, dem, seiner Positionierung zum Trotz, ebenfalls etwas Resümierendes anhaftet, denn das erzählende Ich erweckt hier bereits den Eindruck, am Schlusspunkt eines langen Prozesses angekommen zu sein und zurückzublicken. Der Text beginnt mit den Sätzen: »Ich bin ständig auf der Flucht vor anderen Menschen. Sie haben nur eins im Sinn: mich auszubeuten oder umzubringen./ Sie fangen immer mit ein und derselben Sache an. Erst reißen sie mir die Augen aus und befestigen sie an sich selbst, damit ich sie anzusehen von nun an gezwungen bin.« (Ü 7) In selbst für Duden ungewöhnlich paranoischen Bildern beschreibt die Ich-Figur den eigenen Zustand als fremdbestimmten: Wiederum besteht ein nur in einer Richtung arbeitendes Austauschverhältnis, ein »Drainage-System«, wie es heißt, zwischen ihr und ihrer Umgebung; was aus den anderen »herausläuft« (Ü 7), geht in sie hinein. Der Raub der Augen, so die Logik des Texts, bedingt die Ohnmacht der Ich-Figur über die eigene Perzeption. Die nicht mehr steuerbaren Augen lassen sich nicht abwenden, sie müssen in sich aufnehmen, was sich vor ihnen auftut. Derselbe »Wahrnehmungsüberschuß« (Ü 36), der die Ich-Erzählerin in Das Landhaus niederstreckt und in Übergang das Gehäuse zum Bersten bringt, überwältigt sie auch hier. Die Ich-Figur im Prolog ist allerdings durch eine Besonderheit ausgezeichnet; im zweiten Absatz heißt es: »Sie [die anderen Menschen – akj] wissen nicht von dem Auge, das ich zuviel habe, das nun allerdings ohne die beiden anderen sieht wie eine Axt: spaltend und unerbittlich.« (Ü 7) Dieses dritte Auge hat zwar seine Selbstständigkeit bewahrt, sein Blick entspricht aber offensichtlich ebenso wenig den üblichen Sehgewohnheiten wie der der gestohlenen Augen. Der Perzeptionsmodus dieses dritten Auges erinnert an eine unveröffentlichte Poetik-Vorlesung Dudens mit dem Titel Gesetz und Tod, die 281 Derrida 1979, 10. 131
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sie 1987 in Hamburg hielt und in der sie, die Voraussetzungen der eigenen Literaturproduktion beschreibend, den Begriff der Kryptästhesie einführt,282 der ein Jahr darauf im Prosagedicht Arbeitsplätze und über ein Jahrzehnt später in Zungengewahrsam wiederkehrt.283 Sie beschreibt das, was sie unter Kryptästhesie versteht, als eine »[h]ochgradig verfeinerte [...] Wahrnehmung, die nichts auslassen will und kann [...]. Sie ist eine Schnüffel- und Untergrabungstechnik, sie ist unfein und respektlos. Und als solche ist sie auch monströs.«284 Der kryptästhetische Blick des dritten Auges – »unfein und respektlos«, »spaltend und unerbittlich« (Ü 7) – vermag zu sehen, was dem alltäglichen Blick verborgen bleibt. Er führt hin zu jener hochgradig geschärften synästhetischen Perzeptionsweise, deren Versprachlichung im Vorausgegangenen als Kern des literarischen Projekts Dudens beschrieben wurde. Insofern ließe sich der Blick dieses dritten Auges, wie er hier im Prolog skizziert wird, als Ausgangspunkt dieses Projekts verstehen. Er durchdringt die Oberflächen, überwindet die Distanz zu den Dingen, die der konventionellen Wahrnehmung eigen ist, und dringt so in Bereiche vor, die jenseits der »funktionalen Stereotypen, konventionellen Signaturen und automatischen Selektionen« liegen, mit denen man gewöhnlich, so Hartmut Böhme, »die Welt zu einem vertrauten semiotischen Zusammenhang bilde[t]«.285 Im Rahmen dessen, was der Prolog erzählt, bleibt die Existenz des dritten Auges der Außenwelt verborgen. Auch diejenigen Eindrücke, die das erzählende Ich über dieses Auge in sich aufnimmt, verbleiben in ihrem Innern und überschwemmen den Körper des Ichs. Damit dieses nicht ertrinkt unter der Flut dieser Bilder, hat es sich nun einen Raum in seinem Inneren geschaffen, in den es sich flüchtet: Sie [die anderen Menschen – akj] wissen natürlich auch nicht, daß ich einen verborgenen Raum in mir habe, in den nichts eindringen kann, selbst wenn Poren und andere Körperöffnungen und Sinnesorgane schon alles durchgelassen haben. Es ist eine Art manchmal schwimmender, manchmal schwebender Krypta, ein Unterdauerungsraum. Dieser Raum hat sich selbstverständlich
282 Dudens Terminus setzt sich zusammen aus dem griechischen kryptós für ›verborgen‹ und aisthesis für ›Sinneswahrnehmung‹. 283 Vgl. Z 22. – In Arbeitsplätze, dem ersten explizit poetologischen Text Dudens, heißt es: »Sie [die Worte – akj] benötigen das absolute Gehör des Schmerzes/ die Kryptästhesie der Knochen/ und die Alarmbereitschaft der Grubenorgane./ [...] Sie brauchen meinen lebenden Körper mit Haut und Haar.« (W 88f.) 284 Zitiert nach Greuner 1990, 11f. 285 Böhme 1988, 230. 132
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langsam herausgebildet und wurde erst im Laufe von Jahrzehnten fertiggestellt. Das Baumaterial dafür ist aber von Anfang an gehortet worden. (Ü 7)
Innerhalb der Logik dieses kleinen Texts ist die Funktion der Krypta durchaus klar: Sie bildet das einzige Refugium des von Unmengen zersetzender Bilder gequälten Ichs. Dieses Ich zieht sich dorthin zurück, um sich vor dem Übermaß an Eindrücken zu schützen, die zwar in den löchrigen Körper286 eindringen – »Poren und andere Körperöffnungen und Sinnesorgane« lassen alles durch –, aber niemals in diesen »Unterdauerungsraum« gelangen können. Die Rückzugsmöglichkeit ist teuer erkauft: Sie ist ausschließlich um den Preis völliger Isolation und Bewegungslosigkeit zu haben. Das Ich ruht in diesem Raum zuweilen »wegen der Schwere, auch aufgebahrt. Aber nicht als Schneewittchen oder Lazarus oder anderweitig schöne Seele«, d.h. nicht seiner Erweckung bzw. seiner Wiederbelebung harrend, »sondern als Versteinerung mit vielen geronnenen Spuren.« (Ü 7) Die Bewegungslosigkeit in dieser Krypta scheint endgültig. »Oft ist es mir zu kalt und zu still«, so schließt der Text, »und ich möchte dann lieber in einer Tropfsteinhöhle sein, deren Innereien aufeinander zutropfen« (Ü 7), wo also offenbar zumindest langsamste Bewegungen stattfinden, während in der Krypta vollkommene Starre herrscht. Was für eine Raumfigur aber ist diese Krypta? Was führt Duden hier im Prolog vor anhand dieses eigenartigen topographischen Entwurfs von einer Erzählerin, die sich im Innern ihrer selbst in einer Krypta niederlegt und verbirgt? Tritt den Lesenden in der Krypta schlicht in kondensierter Form ein Phänomen entgegen, das in den Erzählungen ständig wiederkehrt? Lässt sich die Krypta unter die klaustrophobischen Raumfiguren subsumieren, die im Vorausgegangenen aufgespürt wurden, wie der geträumte Raum mit Steinfußboden in Übergang, der den Ausmaßen des Körpers exakt angepasst ist und entsprechend keinerlei Bewegung in seinem Inneren zulässt (vgl. Ü 85), oder der Entwurf des überbevölkerten Herzens aus Fassungskraft mit Herzweh (vgl. W 31f.)? Diese versperrten Innenräume wurden dort als Bilder eines Mangels an adäquater Ausdrucksmöglichkeit, als »Symbol für die ›tobende Sprachlosigkeit‹«287 und deren unüberwindliche Diskrepanz zum Wahrnehmungs- oder Empfindungsüberschuss der Erzählerin gelesen. Ausschlaggebend waren dabei die maximale Enge dieser Räume und deren Verschlossenheit. Die Krypta genauer betrachtend, fällt allerdings ein weiterer Aspekt auf, der auch auf einige der bislang untersuchten Raumfiguren zuzutref286 Vgl. den entsprechenden Satz im Epilog: »Mein Körper ist löchrig.« (Ü 127.) 287 Weigel 1995, 124. 133
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fen scheint: Die Spezifik der Krypta besteht gerade darin, dass sie keinen Außenraum bildet – wie eng bemessen auch immer –, in dem das erzählende Ich eingeschlossen ist, sondern vielmehr einen separaten Raum im Inneren des Ichs. Sie habe, so erklärt die Ich-Figur im Prolog, »einen verborgenen Raum in mir« (Ü 7), und die Erzählerin in Übergang beklagt: »Ich war aufgebahrt in der Hölle meiner selbst« (Ü 67). In Herz und Mund war zu lesen, wie die Ich-Figur die hilflosen Bewegungen beschreibt, die sie und ihr eigenes Hirn wieder und wieder vollführen: »Wir gehen an unseren Innenwänden hoch, fallen erschöpft immer wieder runter, wir sind miteinander eingesperrt« (Ü 45).288 Zu denken ist auch an den »dickwattierte[n] Kugelraum« im «Innere[n] meines Körpers« (W 22), in dem sich die Erzählerin in Die Jagd nach schönen Gefühlen wiederfindet, von dort aus die eigenen Körpervorgänge verfolgend.289 Und im Judasschaf, um ein letztes Beispiel heranzuziehen, wird an einer Stelle über die Protagonistin gesagt: »Sie war Zentrum einer undurchdringlichen Zone geworden, die aus unendlich vielen Teilchen ihrer abgestorbenen und an den Rändern unaufhörlich weiter absterbenden Lebensfläche bestand. Ganze Kontinente ihrer selbst waren untergegangen.« (J 52) Dieses Zentrum der »undurchdringlichen Zone«, der »Kugelraum«, die »Hölle« ihrer selbst und die Krypta – all diese Räume sind inhärenter Teil der jeweiligen Figur, sie befinden sich in deren Innerem. Diese Zonen und Räumlichkeiten scheinen aus körpereigenem Material gefertigt, aber dennoch von anderer Qualität als der Körper selbst zu sein. Sie schließen etwas ein, das dem Restkörper nicht zugänglich oder doch zumindest fremd zu sein scheint. Und dennoch – und darauf kommt es hier an – spricht die jeweils erzählende Stimme von dort aus: »Dort halte ich mich nun meistens auf« (Ü 7), heißt es im Prolog. Auch der eigene Körper wird von diesem separaten Raum im Inneren aus wahrgenommen, d.h. der Ort, von dem ausgehend die Erzählstimme nach außen dringt, ist die Krypta bzw. die ihr verwandten Räume.
288 Hervorhebungen (außer der Kursivsetzung im Prolog) von mir – akj. 289 Es heißt dort: »Ich drückte mir Wachs in die Ohren, bis tief in die Gehörgänge hinein. Damit wenigstens Geräuschferne eintrete. Aber meine Herzohren, diese kleinen Zipfel links und rechts und tief hinter der Brust, sie wirkten nun wie Schallverstärker und zwangen mich ins Innere meines Körpers wie in einen dickwattierten Kugelraum. Draußen war alles dumpf weggepackt bis weit hinter eine pelzige Schicht. Drinnen ein einziges Pumpern, konzentrisch sich weitend und wieder verengend. Ein Schlund, der eine zähflüssige Substanz ansaugte und abgab, aus der Schwärze in die Schwärze, gleichmäßig und ohne Sinn und Verstand.« (W 22f.) 134
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Exkurs: Die Figur der Krypta in der Psychoanalyse und bei Derrida Um das Verhältnis von Krypta und Text fassen zu können, soll hier der Gebrauch des Begriffs der Krypta hinzugezogen werden, den die Psychoanalyse und die Philosophie Derridas in deren Folge vorgeschlagen haben. Karl Abraham, in dessen Schriften der Terminus erstmals in psychoanalytischem Zusammenhang auftaucht, verwendet die Krypta als Bild für die Einschließung eines traumatischen Wissens um den Tod, das niemals ganz gelöscht oder komplett verdrängt sein kann.290 Bei Freud findet sich der Begriff selbst nirgends, ist aber dennoch als eben jenes Bild einer Einschließung insbesondere in Trauer und Melancholie implizit anwesend und entsprechend in der Relektüre des Essays durch Nicolas Abraham und Maria Torok von zentraler Bedeutung.291 Bei Abraham/Torok stehen nun weniger die Begriffe der Trauer und Melancholie selbst als vielmehr die der Einverleibung bzw. Inkorporation im Vordergrund. Die prinzipielle Funktion der Einverleibung für die Ich-Bildung wurde zuerst von Melanie Klein angedacht, deren Ideen Abraham/Torok hier stark variieren, um sie schließlich in eine metapsychologische Theorie zu überführen. In deren Ausführungen ist vor allem die Unterscheidung von Introjektion292 und Inkorporation ausschlaggebend. In Anlehnung an Freuds Differenzierung von Trauer als einem abschließbaren Vorgang und Melancholie als dem Fehlgehen einer gelingenden Trauerarbeit, schlagen Abraham/Torok folgenden Gebrauch der beiden – bei Freud eher synonym gebrauchten, hier aber methodisch klar getrennten – Termini vor: Während sie als Introjektion den ›normalen‹ Vorgang der Verarbeitung eines Verlustes durch dessen Verbalisierung und das ›gesunde‹ Ich insofern als ein System von vollzogenen Introjektionen verstehen, bezeichnet die Inkorporation die phantasmatische Einschließung eines verlorenen Objekts im Inneren des/der Trauernden. [T]he fantasy of incorporation merely simulates profound psychic transformation through magic; it does so by implementing literally something that has only figurative meaning. So in order not to have to ›swallow‹ a loss, we fantasize
290 Vgl. Bronfen 1999, 38. 291 Abraham/Torok 1994a. 292 Der Begriff der Introjektion taucht – darauf weist Anselm Haverkamp hin – erstmals bei Sandor Ferenczi auf. Die Introjektion als orale Einverleibung spielt bei Ferenczi die paradigmatische Rolle für das spätere introjektive Verhältnis zur Welt und wird dort kaum weiter problema-tisiert. (Vgl. Haverkamp 1991, 21.) 135
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swallowing (or having swallowed) that which has been lost, as if it were some kind of thing.293
Das solchermaßen ›Verschluckte‹ wird im Inneren verschanzt, eingemauert und verwahrt, da keinerlei Transformation des Verlustes in Sprache möglich ist. Die Inkorporation ist insofern, nach der Definition Abraham/Toroks, die unfreiwillige Verweigerung der Trauerarbeit und der während eines jeden Trauerprozesses sich vollziehenden libinösen Reorganisation. »Anders als in der gelungenen Introjektion bleibt in der Inkorporation der phantasmatische Übergang von außen nach innen problematisch«, wie Anselm Haverkamp in seiner Zusammenfassung der Thesen Abraham/Toroks formuliert.294 Die Einverleibung hat ihr Ziel und Ende in der Erbauung einer Krypta: »Inexpressible mourning erects a secret tomb inside the subject. Reconstituted from the memories of words, scenes, and affects, the objectal correlative of the loss is buried alive in the crypt as a full-fledged person, complete with its own topography.«295 Durch die Inkorporation wird auf diese Weise im Inneren des Ichs ein diesem Ich heterogenes Innen ausgebildet. Die Krypta ist Ort eines verschlossenen nonverbalen Traumas, ein gewissermaßen atopischer Ort, an dem das Nicht-Verbalisierbare mitsamt dem verlorenen, aber nicht introjizierbaren Objekt konserviert wird.296 Bislang ist kein engerer Zusammenhang zwischen dem hier Referierten und der Krypta in Dudens Prolog zu erkennen. Für den gegebenen Kontext wird Abraham/Toroks Theorem erst dort relevant, wo der Aspekt der Verbalisierung bzw. deren Unmöglichkeit weitaus mehr fokussiert wird als die Frage nach dem Unaussprechlichen selbst. Das ist namentlich der Fall in Derridas Text Fors, der dem Wolfsmann-Buch
293 294 295 296
Abraham/Torok 1994a, 126 Haverkamp 1991, 23. Abraham/Torok 1994a, 130. In den Beispielen endokryptischer Identifikationen, die Abraham/Torok aus ihrer analytischen Praxis anführen, liegt dem Vorgang der Inkorporation selbst immer ein dem Verlust noch vorausgegangenes verbotenes sexuelles Erlebnis in früher Kindheit zugrunde. Weil unumstößliche Schambarrieren die Versprachlichung des Ereignisses verbieten, kommt es, im Falle des Verlustes desjenigen, mit dem das Geheimnis geteilt wird, schließlich zur Ausbildung der Krypta und somit sowohl zur Einschließung des Geheimnisses selbst als auch zur phantasmatischen Einverleibung des verlorenen Mitwissers. Vgl. auch den Text The Lost Object – Me: Notes on Endocryptic Identification (Abraham/Torok 1994b), und siehe ebenfalls Abraham/Toroks Re-Analyse des Wolfmanns (Abraham/Torok 1979). 136
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Abraham/Toroks, Kryptonymie, als Vorwort vorangestellt ist.297 Derrida, so erklärt Haverkamp, überdenkt dort, angeregt durch die Arbeiten Abraham/Toroks, »die grundlegende Rolle der Trauer für die Konstitution des Ichs als eines ›Systems von Introjektionen‹«; die metapsychologische Theorie der beiden Psychoanalytiker würde hier, so Haverkamp weiter, »von Derrida verallgemeinerungsfähig gemacht«.298 Grundsätzlich zweifelt Derrida Freuds strikte Kategorisierung von ›normaler‹, bewusster Trauer und ›pathologischer‹ Melancholie stark an. Er begreift Trauer als prinzipiell nie vollkommen abschließbar, jedes verlorene Objekt als niemals ganz ersetzbar. In Freuds – vermutlich eher als modellhaftes Ideal zu verstehender – Konzeption einer gelingenden Trauerarbeit gibt das Ich ja am Ende des Trauerprozesses das verlorene Liebesobjekt auf, indem es sich an ein neues bindet; d.h. das Objekt gilt hier als ersetzbar, es ist allein durch seine Funktion, nicht durch seine individuelle Prägung definiert. Derrida nun ist von einer derartigen »Korrumpierbarkeit des Ichs«,299 wie Haverkamp formuliert, und von der entsprechend harschen Unterscheidung zwischen Trauer und Melancholie nicht zu überzeugen. Demgemäß sind nun, folgt man Derrida, auch Introjektion und Inkorporation nicht mehr vollkommen in einen normalen Vorgang auf der einen und ein pathologisches Phänomen auf der anderen Seite zu trennen. Er schlägt vielmehr vor, die kryptische Einverleibung als einen Vorgang zu betrachten, der in Anteilen jedem Symbolisierungsprozess innewohnt. Geht man wie Derrida davon aus, dass jedem sprachlichen Ausdruck eine originäre Verfehlung eingeschrieben ist, dass also Sprache niemals anderes leisten kann, als allein eine endlose Kette ausschließlich aufeinander, nicht aber auf ein Signifikat verweisender Signifikanten zu bilden, so hinterlässt jeder Introjektionsprozess, verstanden als Akt der Veräußerung qua Verbalisierung, einen ›Rest‹, der nicht zu versprachlichen ist. Dieses Nicht-Symbolisierbare nun erkennt Derrida in dem einverleibten Objekt wieder, das im Innern der Krypta verwahrt wird. Die Wände der Krypta stellen insofern die Grenze zwischen Sprechen und Schweigen dar. Was also in Derridas weiter gefasstem bzw. – in Haverkamps Worten: verallgemeinerungsfähigem – Verständnis der Krypta in ihrem Innern konserviert wird, ist nicht wie bei Abraham/Torok notwendigerweise ein verlorenes Objekt im Sinne eines anderen Menschen, sondern die Tatsache der Verkennung, die jedem Symbolisierungsprozess ursprünglich zugrunde liegt. In die Krypta eingeschlossen ist, so fasst Martina Wagner-Egelhaaf Derridas These zusammen, das präverba297 Derrida 1979. 298 Haverkamp 1991, 21. 299 Haverkamp 1991, 22. 137
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le Trauma »als unauffindbarer Grund, der eine niemals an den Ursprung ihrer Symbolisierung zurückkehrende Bewegung initiiert«.300 Derrida betont, die Wände der Krypta »trennen nicht einfach einen inneren Hof (for intérieur) von einem äußeren Hof (for extérieur) ab. Sie machen aus dem inneren Hof ein im Inneren des Innen ausgeschlossenes Außen.«301 Und an anderer Stelle fügt er hinzu: Der innere Hof ICH hat sich ins Außerhalb der Krypta versetzt oder, wenn man das vorzieht, hat ›in sich‹ die Krypta als äußeren Hof eingerichtet. Man kann nun unendlich und bis zum Schwindel den Namen der Plätze vertauschen (das Innere als Außen des Außen, oder des Inneren, das Außen als Inneres des Inneren, oder des Außen, usw.), eine Vermengung ist nicht möglich. Die Wandgrenzen sind nämlich hart.302
Für Derrida ist es deshalb so wichtig, vom Außen im Inneren bzw. vom Außen als Innerem zu sprechen, weil anhand der Unterscheidung von Außen und Innen die Fremdheit dieses Einverleibten und seiner ›Umgebung‹ deutlich wird. Man kann zwar die »Namen der Plätze« vertauschen, aber das Nicht-Symbolisierbare, das die Krypta verbirgt, weist eine gänzlich andere Modalität auf als das Introjizierbare, sprich Symbolisierbare. Beide Modalitäten sind nicht zu vermischen, »eine Vermengung ist nicht möglich« aufgrund der Härte der »Wandgrenzen«. Die Figur des Innen als Außen beschreibt insofern die kryptische Spaltung des Ichs als eine unüberwindbare, nicht rückgängig zu machende. Die Krypta, so Derrida, sei der Ort der ›wahren Verdrängung‹ – wie sie Lacan im Spiegelstadium beschreibt – im Gegensatz zur einfachen Verdrängung, die das Nicht-Symbolisierbare ins Unbewusste stoße.303 D.h. sie ist nicht als Metapher des Unbewussten zu lesen, sondern geht der Aufspaltung in Bewusstes und Unbewusstes prinzipiell voraus. Insofern sei sie, so Derrida weiter, Monument der Lévinasschen Spur des Anderen. Der Ort der Krypta begründet, in Haverkamps Formulierung, » – in seiner Unzugänglichkeit eher als seiner Verborgenheit – jenen unverfügbaren Teil des Ichs, der jenseits seiner Introjekte nicht als Subjekt, sondern als ein Anderes sich konstituiert«.304 Und hier nun offenbart sich die Verwandtschaft mit dem literarischen Text. Als Ort des Anderen gleicht die Krypta dem literarischen Text, begreift man diesen als das Andere des Diskurses, in seiner Atopik, wie 300 301 302 303 304
Wagner-Egelhaaf 1997, 169. Derrida 1979, 10. Derrida 1979, 17. Vgl. Derrida 1979, 18. Haverkamp 1991, 26. 138
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Barthes sagt, in seiner Konterdiskursivität. Die Krypta und der literarische Text haben – folgt man den hier zitierten Thesen – ihren Ursprung gleichermaßen im Aufbegehren gegen die Verleugnung des nichtintrojizierbaren, nicht-verbalisierbaren Restes, der aus der symbolischen Ordnung ausgeschlossen ist. »Wie die begriffliche Grenze«, so Derrida, »ist der topische Verschlag, der Introjektion von Einverleibung scheidet, im Idealfall undurchdringlich, doch faktisch schließt er nicht jede Art von ursprünglichem Kompromiß aus«.305 »Wohlgemerkt«, fährt er wenig später fort, wenn man von der Möglichkeit eines Kompromisses oder Übergangs, von der strukturellen Halbdurchlässigkeit der Wand [...] eher ausgeht als von der Scheidewand selbst und den Orten, die sie trennt, kann man versucht sein, bloß eine Polarität, das polarisierte System (Introjektion/Einverleibung) zurückzubehalten, statt der unnachgiebigen Strenge ihres Unterschieds.306
»Halbdurchlässig« nun wird die Wand nämlich genau dort, wo eine andere Art des Sprechens einsetzt, wo der literarische Text an der Zersetzung der starren Ordnung des Begrifflichen arbeitet und dagegen aufbegehrt, von jener harten Wand, die die Grenzen des Sagbaren setzt, in die Schranken verwiesen zu werden. In ihrem Essay Vom Versprechen des Schreibens und vom Schreiben des Versprechens, 1998 veröffentlicht als eine von drei Lobreden auf den poetischen Satz, konstatiert Duden, die »Gangart« der poetischen Sprache – sie zitiert hier indirekt Bachmanns Poetik-Vorlesungen – unterscheide sich von derjenigen der begrifflichen Sprache vor allem durch ihren »überwältigenden Anspruch«. Ihr Anspruch nämlich sei der, »daß alles Denken und Fühlen aus seiner Undenk- und Unfühlbarkeit herauskomme«. Die poetische Sprache habe »eine unruhige, beunruhigende, ja entflammende Präsenz oder Latenz, auch dann, wenn ihr Wortlaut das vorerst für sich behält«.307 Exakt diese Latenz des literarischen Texts, von der Duden hier spricht, ist es, die in der Figur der Krypta im Prolog in Übergang ihren Ausdruck findet. Resümierend erklärt Haverkamp in seiner Kommentierung der Derridaschen Thesen zur Krypta: Worauf es mir ankommt, ist die latent-kommunikative (Nicht-) Funktion dieser (A-)Topik, in der das Subjekt das ungelöste Geheimnis seiner Individualität aufbewahrt. Denn was, wenn nicht die Spur des Anderen im Eigenen, die im
305 Derrida 1979, 14. 306 Derrida 1979, 14f. 307 Duden o.J., 39. 139
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Anderen unlesbar gewordenen Spur des Eigenen, sollte man in diesem Subjekt, abgeteilt aber nicht mehr teilbar, ›individuell‹ nennen?308
* Zur Raumfigur der Krypta in Dudens Prolog zurückkehrend lässt sich nun, an obiges Zitat Haverkamps anknüpfend, Folgendes festhalten: Auch das Ich im Prolog bewahrt das »ungelöste Geheimnis seiner Individualität« im Innern seiner Krypta. Während der Aufenthalt unter den »anderen Menschen« (Ü 7) ausschließlich zur kompletten Fremdbestimmung führt – mittels des Augenraubes drastisch dargestellt –, bietet allein der Rückzug an den atopischen Ort der Krypta die Möglichkeit, Eigenständigkeit zu bewahren. Und Eigenständigkeit meint im Falle dieses Ichs dessen Fähigkeit zur kryptästhetischen Wahrnehmung der Außenwelt, zum Gebrauch des dritten Auges und dessen »spaltend[en] und unerbittlich[en]« Blicks. Im Prolog verschafft sich eine fast trotzige Stimme Gehör, die an ihre Existenz erinnern will: daran, dass sie ein verborgenes, aber machtvolles Dasein führt – machtvoll, weil ihr dieser spezifische Blick eigen ist, der die glatten Oberflächen der Umgebung durchdringt und aufbricht. Diese Stimme nun ist lesbar als die Stimme des literarischen Texts selbst, der immer gegen die Oberflächenordnung des Symbolischen ankämpft, indem er die Erinnerung an den Akt der Ausbzw. Einschließung – die Namen bleiben, wie Derrida erklärt hat, austauschbar – wach hält. Dudens Poetologie, die in größter Nähe zu Derridas differenztheroretischem Denken zu verorten ist, scheint hier im Bild der Krypta auf engstem Raum zusammengefasst. Die Krypta ist der Nicht-Ort, an dem der Text entsteht, sie ist Ausgangsort der Bewegung, die den Text hervorbringt. Jeder Versuch, zu veräußern, was die Krypta beherbergt, und somit diese Trauer zu verbalisieren, initiiert die unmöglich abschließbare Textbewegung. Wagner-Egelhaaf legt dar, die »nicht-metaphorische Metapher der Krypta«, wie Derrida sie beschreibt, sei ein »mit poetischen Qualitäten versehenes Bild, dessen antimimetische Signifikanz die konfigurale narrative Ausfaltung motiviert«.309 Vor diesem Hintergrund erscheint es nochmals schlüssiger, dass die räumliche Figur der Krypta hier in Dudens Prolog gleich am Beginn ihres Schreibens steht: Sämtliche darauffolgende Texte lassen sich als die »narrative Ausfaltung« lesen, die notwendigerweise aus dieser initialen Bewegung hervorgeht. Der ent308 Haverkamp 1991, 28. Siehe zu Haverkamps Ausdeutung des Latenzbegriffs v.a. auch Haverkamp 2002. 309 Wagner-Egelhaaf 1997, 172. 140
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stehende Text selbst bleibt immer ein »Schwellenwesen«,310 die Wände der Krypta werden niemals ganz, sondern immer nur ›halbdurchlässig‹. Der in der Krypta verborgene, nicht verbalisierbare ›Rest‹ überwindet diese Wand nicht, aber der Text transportiert die Botschaft von der verborgenen Existenz dieses Rests nach außen. Er ist unerreichbar, aber die Erinnerung an ihn bleibt bestehen. Insofern ließe sich der poetische Text als eine Art Verlustmeldung begreifen: Während die begriffliche Sprache den Verlust als solchen gar nicht wahrnimmt, weiß die poetische Sprache um ihn und ist gewissermaßen konstant in Trauer um ihn begriffen.
Transiträume Im »Raum des Anderswo«311 – Aufenthalte in der Schrift A mon seul désir, ein sehr dichter, komplex gebauter Essay Dudens, entstand zuerst als Vortrag, gehalten im Rahmen eines Literarischen Colloquiums in Wolfenbüttel im Jahr 2001. Das aus der Veranstaltung hervorgegangene Bändchen, das drei Texte dreier Autor/inn/en versammelt, trägt den Titel Heimaten. Der Titel des kleinen Buchs lässt insofern eher als der des Essays selbst ahnen, dass Duden hier, für ihre Literatur durchaus ungewöhnlich, von konkreten Orten spricht: von London, der Wahlheimat der Autorin, und vom Brocken, dem Berg, zu dessen Füßen die Stadt Ilsenburg liegt, in der Duden einen Teil ihrer Kindheit verbrachte und die zwar im Text nicht namentlich genannt wird, dort aber dennoch eine entscheidende Funktion innehat. Man würde eher nicht vermuten, dass ein Text Dudens unter dem Titel Heimaten Platz finden könnte. Allerdings zeigt die ungewöhnliche Pluralbildung im Titel des Bands bereits eine Distanznahme zum gängigen Gebrauch des Begriffs an,312 und entsprechend wird bei der Lektüre ihres Essays schnell klar, dass Duden sich hier nicht anschickt, ein versöhntes Verhältnis zu ihrem Herkunftsland oder dergleichen zur Schau zu stellen. Der Text beginnt mit einem vernichtenden Urteil:
310 Duden o.J., 41. 311 Bachelard 1987, 186. 312 Gisela Ecker gibt den Hinweis, es zeige sich bereits an der – schon grammatikalisch – nur schwer möglichen Pluralbildung, wie schwierig ein anderer, nicht universalisierender Gebrauch des Heimat-Begriffs sei. (Vgl. Ecker 1997, 26.) 141
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Ich habe es fast geschafft. Alle Orte meines vergangenen Lebens liegen wie Krankheiten mit schweren Allgemeinerscheinungen hinter mir, und ich weiß nicht, ob ich angesichts dessen noch einmal überhaupt Boden unter den Füßen oder im Rücken haben möchte, könnte oder sollte. Überlebt habe ich die Orte ja ohnehin nur in der Luft, durch Abheben und Aufschwingen [...]. (Amsd 29)
Gleich der zweite Satz erteilt eine deutliche Absage an ein HeimatKonzept traditionellen Zuschnitts und weist selbst den bloßen Wunsch nach einem stabilen Bezug zu irgendeinem Stück Erdboden zurück. Was also will Duden in diesem Essay erzählen, worum geht es ihr? Ist dieser Text ein Stück Anti-Heimat-Literatur? Oder strebt sie eine Rehabilitierung des Heimat-Begriffs an? Ist sie überhaupt an Heimat-Konzepten interessiert oder setzt sie die Rede von den Orten ihres Lebens ein, um letztlich zu etwas anderem zu gelangen? Zunächst begibt sich Duden in diesem Text, Rückschau haltend, an einen Ort zurück – es ist nicht der Geburtsort, sondern »der dritte von sechs Orten« (Amsd 31) –, den sie auf den ersten Blick mit dem einschlägigsten aller Heimat-Attribute zu versehen scheint, indem sie sich nun doch einer spezifischen Bodenhaftung entsinnt: »Es gibt da nämlich doch eine Art Mitgift, das heißt einen Ort meines vergangenen Lebens, an dem ich immer Boden unter den Füßen gehabt habe und nie in die Luft zu gehen brauchte [...].« (Amsd 30) An diesem Ort habe sie schon deshalb niemals »[a]bheben« müssen, »weil Boden und Luft untrennbar, aber freizügig miteinander verbunden, also gar nicht auseinanderzuhalten waren«. Denn alles, was dem »Boden unter den Füßen« an diesem Ort »entsprang und entwuchs – ihn bedeckte, überragte, beschattete oder durchlässig überdachte –, verband, verhäkelte, verflocht, verknüpfte und verstrebte ihn mit dem Unaufhörlichen in großer Höhe bis über den Weltberg, den Brocken hinaus« (Amsd 30). Dudens Charakterisierung dieses Bodens fällt gerade dadurch auf, dass sie ihm keine Eigenschaften zuschreibt, die an Solidität, Verankert- und Verwurzeltsein denken lassen, sondern ihm eine gewisse Durchlässigkeit attestieren. Vor allem die zweite Reihung von Verben, die allesamt Formen des Verbundenseins beschreiben, bestärkt, was in eben diesem Satzteil expliziert wird: Der Boden weist weit über sich selbst, auch weit über den nahe gelegenen Berg hinaus ins »Unaufhörliche in großer Höhe«. Hier macht der Boden selbst offensichtlich möglich, was sie an den anderen Orten mühsam aus eigener Kraft zu bewerkstelligen hatte: Das »Abheben und Aufschwingen« (Amsd 29) vollzieht sich hier von selbst. Allerdings, so scheint es, ist es tatsächlich weniger der Ort selbst, den Duden hier einzufangen sucht: »Wenn ich hier, durch Mangel und Armut der verfügbaren Worte und meiner Geistesgegenwart die ganze Zeit genötigt bin, Ort zu sagen, meine ich doch aber ganz anderes.« (Amsd 31) 142
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Es ist vielmehr ein Zustand, den sie mit diesem Ort verbindet und in den die Erinnerung an diesen Ort sie auch gegenwärtig noch versetzen kann. Insofern wird nun klar, wieso sie den Begriff der »Mitgift« – im Sinne eines Mitgegebenen – wählt: Die Möglichkeit eines Rückgriffs auf dieses schwer zu Bezeichnende bleibt offenbar ein Leben lang erhalten. Ein solcher Rückgriff gelingt in London offensichtlich eher als anderswo: »An diesem englischen Ort kann ich jenen einzigen, für den das Wort Ort nur ein Notname ist und eine unzulässige Festlegung [...], an diesem englischen Ort kann ich jenen manchmal, wenngleich nur im Vorübergehen, aus der Luft greifen.« (Amsd 31) Ausgezeichnet ist dieser Zustand, die »Mitgift«, durch zweierlei: erstens durch ein Gefühl der Ungeschiedenheit; so ist hier die Rede von »jenem Ein und Alles des einzig wirklichen Ortes meines vergangenen Lebens, das mich barg und das, als wir es verließen, ich barg« (Amsd 34). Zweitens ist dieser Zustand ausgesprochen instabil und flüchtig, trotz eines gegenteiligen ersten Anscheins: Gestern zum Beispiel, ganz unvorhergesehen wie meistens, kam das wieder über mich, eine unteilbare Gabe. Und ich war sogleich, wie üblich, sicher, den Faden nie wieder verlieren zu können. Den Faden, an dem die ganze Unermeßlichkeit hing [...]. Aber dann, gleich, liegt es schon, eine Verwerfung der Zeit, hinter einem, und ich habe [...] alles hinter mir gelassen. Und während der Himmel bis zum Eingang in die Untergrundbahn noch Weite und Weiteres verheißt und eine Verbindung zu dem anderen Ort noch wenigstens nahelegt, entgleitet mir unaufhaltsam der Faden, der, an dem alles hing, und ich habe gerade noch genug Gespür, um zu ahnen, daß er irgendwo fern ins Unerreichbare schnellt [...]. (Amsd 32f.)
Beiderlei Charakteristika der »Mitgift«, die Ungeschiedenheit der Empfindung sowie ihre Flüchtigkeit, sind in den zwei Wortbildungen, mit denen Duden die Eigenart des mit diesem Ort verbundenen Zustands zu fassen sucht, implizit enthalten: Die erste, die »Unermeßlichkeit auf der Stelle« (Amsd 32) ist ein Ausdruck, den sie der Poetik des Raumes von Bachelard entlehnt.313 Der zweite Begriff ist der der »Horizontal-, Vertikal- und Total-Intensität« (Amsd 32). Beide Formulierungen entwerfen zugleich eine Figur immenser räumlicher Ausdehnung und höchster Verdichtung. Die »Horizontal-, Vertikal- und Total-Intensität« benennt zwei der Achsen, die den euklidischen Raum konstituieren – die Horizontale und die Vertikale –, nur um sie im selben Atemzug gleichsam einzuschmelzen bzw. zu verdichten zu einer »Total-Intensität«. Intensität, d.h.
313 Vgl. Bachelard 1987, 188. 143
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Konzentration, und Ausdehnung in alle Richtungen sind nur mühsam zusammenzudenken. Noch deutlicher gibt sich die »Unermeßlichkeit auf der Stelle« als in sich selbst widersprüchliche Figuration, als Oxymoron, zu erkennen: Die unermessliche Ausdehnung auf einem Punkt ist eine Figur, die Konzentration und Ausdehnung zusammenzwingt. Wohin lässt sich Duden von diesen Wortbildungen leiten? Anders als in den Erzähltexten vollzieht sie hier im Essay selbst ausdrücklich den Sprung von der erzählenden zur poetologischen Ebene. So flicht sie in die Versuche, Verbalisierungen für diesen paradoxalen Zustand zu finden, Beschreibungen der suchenden Bewegung des Schreibvorgangs ein: Ich weiß nicht, was ich, wenn ich spreche, sage; ich weiß nur, was ich meine, und die Sprache gibt es nicht her. Ich muß es suchen, finden und ihr antragen, buchstäblich. Und sie schlägt es aus oder schluckt es oder läßt es, im günstigsten Fall, aber auch nur, wenn ich es schriftlich festhalte, notenähnlich verlauten im Raum, also auftönen und wieder verklingen. (Amsd 31)
Auch hier steht wiederum die Frage nach der Sprache im Mittelpunkt, auch dieser Text ist in erster Linie am Sprachfindungsprozess selbst interessiert. Als sei sie unzufrieden mit den vorausgegangenen Bemühungen, die »Unermeßlichkeit auf der Stelle«, die den Kindheitsort bzw. die Erinnerung an ihn kennzeichnet, zu umschreiben, setzt Duden nach etwa zwei Dritteln des Texts noch einmal neu an mit den Worten: »Eher also muß ich mich noch einmal anders besinnen.« (Amsd 35) Es folgt kurz darauf eine circa eineinhalbseitige Passage aus dem Judasschaf – sie schiebt also ein Selbstzitat ein –, die von einer Kindheitszene erzählt.314 Das Innehalten vor diesem Einschub gestattet den Lesenden gewissermaßen Einblick in die Denk- und Schreibbewegung der Sprechenden. Es lässt die fahndende, kreisende Bewegung der Suche nach einer Möglichkeit der Versprachlichung nachvollziehen. Auch bei der Lektüre des Essays, gilt es, an dieser Stelle innezuhalten, um die ausgelegten Fäden nochmals aufzunehmen, zu ordnen und zusammenzuführen. Dreierlei Stränge, so lässt sich Bestand aufnehmen, laufen in diesem Essay zusammen: Da sind erstens die Erinnerungen an eine ungebrochene Geborgenheit am Ort der Kindheit. Zweitens haben wir hier den zentralen Begriff der »Mitgift«, d.h. des flüchtigen Empfindens, das sich in der Erinnerung an diesen Ort einstellt und das Duden mittels der beiden paradoxalen Raumfiguren umschreibt. Und drittens schildert sie die Schwierigkeiten beim Versuch einer Übersetzung dieses Empfindens in Text. Wie verhalten sich nun diese drei Stränge zueinan314 Vgl. hierzu meine Ausführungen »›Ins Offene‹ – Klangräume«, 149ff. 144
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der? In welchem Verhältnis steht die Figur der »Unermeßlichkeit auf der Stelle« bzw. der »Horizontal-, Vertikal- und Total-Intensität« zum konkreten Ort der Kindheit? Und welcher innere Zusammenhang verbindet die paradoxalen Raumfiguren und die Schreibbewegung selbst? Ein Blick zurück auf Bachelard, von dem Duden, wie erwähnt, den Begriff der Unermesslichkeit borgt, gibt Aufschluss darüber, wie sich der konkrete Ort – hier: Ilsenburg – mit diesem Terminus verbindet. Bachelard schreibt: »Die Unermeßlichkeit ist, könnte man sagen, eine philosophische Kategorie der Träumerei.«315 Die Träumerei des Betrachtenden nähre sich zwar von verschiedenartigen Szenarien – oftmals sei dies der Ozean oder die weite Ebene –, aber »[f]ern von der Unermeßlichkeit des Meeres und der Ebene können wir durch die einfache Erinnerung, meditierend, in uns die Nachklänge dieser Kontemplation der Größe erneuern. Aber handelt es sich wirklich um eine Erinnerung?«, fragt er.316 Von der ersten Betrachtung an sei die träumerische Einbildungskraft originärer Bestandteil der Wahrnehmung. Sie steht insofern nicht in einem Verhältnis der Nachträglichkeit zum Erleben, sondern begleitet dieses und transformiert es im selben Zug. »Die Träumerei ist ein Zustand, der vom ersten Augenblick an vollständig hergestellt ist. Man sieht kaum, wo sie anfängt, und doch beginnt sie immer auf die gleiche Weise. Sie flieht das nahe Objekt, und sogleich ist sie weit weg, anderswo, in dem Raum des Anderswo«.317 Bachelards Reflexionen auf Dudens Essay zurückwendend lässt sich sagen, der Ort der Kindheit am Fuße des Brocken, der konkrete Ort also, ist wie das »nahe Objekt« vor allem als Ausgangspunkt zu verstehen, der sich zu einen »Raum des Anderswo« hin öffnet und von dem die »Träumerei« und die »Einbildungskraft« ihren Ausgang nehmen. Aus der »Einbildungskraft« wiederum erwächst der literarische Text. Bereits im Essay Zungengewahrsam gebraucht Duden den Begriff der Unermesslichkeit und stellt ihn dort sehr viel expliziter als in A mon seul désir in einen Zusammenhang mit dem Schreiben selbst.318 »›Die 315 316 317 318
Bachelard 1987, 186. Bachelard 1987, 186. Bachelard 1987, 187. (Hervorhebung im Original.) Schreiben, so konstatiert sie dort, sei grundsätzlich auch »ein Gewaltakt, [w]eil man sich verschließt, um endlich die eigene, oder besser gesagt, die in einem selbst anwesende Weiträumigkeit nicht nur zu entdecken und zu erkunden, sondern um sie zur Verfügung zu stellen fürs Schreiben; die ›innere Unermesslichkeit‹, die etwas ganz anderes ist als Innerlichkeit, weil sie nur eine für den Moment, für den Prozeß des Schreibens ins menschliche Maß, in den menschlichen Körper und Geist eingestülpte unendliche Möglichkeit bildet, die bebrütet, beträumt, betastet, befühlt wird, vernetzt und verwebt, hingewebt zum Text.« (Z 12) 145
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Unermeßlichkeit ist die Bewegung des unbeweglichen Menschen‹« (Z 12), zitiert sie dort Bachelard. Der unbewegliche Mensch ist hier der Schreibende, der sich träumerisch an einen verlorenen Ort zurücksehnt, immer aber im Wissen darum, dass dieses Begehren weniger die Sehnsucht nach einem konkreten Ort ist als das Vehikel, um wiederum den imaginären »Raum des Anderswo« zu betreten. Diese Differenzierung vorzunehmen, ist von entscheidender Bedeutung, zeigt sie doch, wie wenig Duden tatsächlich an einem Ort der Beheimatung gelegen ist. Stattdessen geht es ihr um einen imaginären Ort, einen Zustand vielmehr, an bzw. in dem der Text entsteht. Das wird – auf den ersten Blick paradoxerweise – vielleicht dort am deutlichsten, wo sie sich überraschend stark in die Nähe zur traditionellen Heimaterzählung begibt, und zwar im Text Ortsausgänge, einem weiteren Essay, der sich ebenfalls im Band Zungengewahrsam findet. Dort wird der Ort der Kindheit vorerst weitaus deutlicher noch als in A mon seul désir phantasmatisch aufgeladen, glorifiziert und idealisiert. Duden erzählt dort, wiederum ohne namentliche Nennung der Stadt, von dem unfreiwilligen Weggang aus Ilsenburg, dem die Übersiedlung in die BRD folgte. Insbesondere die Gegenüberstellung des geliebten Orts mit den anderen, nachfolgenden, samt und sonders ungeliebten Orten ihrer Jugend stellt diesen in ein beinahe apotheotisches Licht. Noch harscher wirkt die Kontrastierung dadurch, dass sie das Leben am nachfolgenden Ort explizit als vom herz- und geistlosen Kapitalismus beherrscht, als eine einzige »Materialabgabe-, Beschaffungs- und Verbraucherzone« (Z 67) darstellt, in der das Kind aus der DDR nichts als Befremden verspürt. Alles, was dem Abschied von Ilsenburg nachfolgt, ist nur ein »wer weiß wie lang sich noch hinziehende[r] Weg der Entgeisterung«, dem es »sich durch Sammlung zu widersetzen« galt, d.h. »durch Bestimmung und Aufrufung jenes Ortes, den es in der neuen Welt nicht gab und gar nicht hätte geben können« (Z 67). Der unfreiwillige Abschied von der ›alten Welt‹ wird als quasi-physischer Prozess des schmerzhaften Heraustrennens phantasiert: Man war davon abgeschnitten, man war bei vollem Bewusstsein aus dem Ortskerngewebe herausgetrennt und -manövriert worden und fand sich – an jenem weit zurückliegenden Ausgangspunkt, das eben wurde ja der Ausgangspunkt – plötzlich entfernt und verloren wieder in einer ungut neuen ausschließlichen Welt. (Z 67)
Unzählige Heimaterzählungen kreisen um die unstillbare Sehnsucht nach einer ›alten Welt‹ während des Aufenthalts in einer »ungut neuen« und speisen sich aus der Kontrastierung dieser beiden unvergleichlichen Welten. In Dudens Essay jedoch wird dieses Erzählmuster durchkreuzt von dem im Text explizierten Wissen um die Unstillbarkeit der Sehnsucht 146
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nach einer Rückkehr an den »Ausgangspunkt« nicht nur aufgrund einer wie auch immer begründeten Unerreichbarkeit dieses Orts, sondern wegen seines immer schon fiktionalen Charakters. Denn er gehört unauflösbar dem »Raum des Anderswo« an. Ganz anders als dem Heimatort, dem die Sehnsucht der traditionellen Heimaterzählung gilt, ist dem Dudenschen »Ortskerngewebe« die eigene Fiktionalität bereits eingeschrieben. Zum Ort eines phantasierten Ursprungs, zum »Ausgangspunkt« verwandelt diesen Ort allein die Entfernung von demselben; das erklärt der merkwürdige Einschub »– an jenem weit zurückliegenden Ausgangspunkt, das eben wurde ja der Ausgangspunkt –« (Z 67) im angeführten Zitat. Der Ort wird zum Ausgangspunkt, er ist es nicht von Beginn an.319 Der Text, der sich dem Ort zu nähern versucht, bildet ihn, den Ort, nicht nach, sondern erschafft ihn erst. Und dieser Erschaffung ist zugleich das Wissen um die Unmöglichkeit einer direkten Transformierung dessen, wofür dieser Ort steht, in Sprache inhärent. Duden betont, die »Aufrufung jenes Ortes [...] durch Nacherschaffung seines magnetischen Feldes und damit seiner Horizontal-, Vertikal- und Total-Intensität« (Z 67)320 – auch hier in Ortsausgänge gebraucht sie diese Formulierung – müsse misslingen: »Der Ort hatte sich nicht verflüchtigt, aber er hatte sich zurückgezogen und abgekapselt und ließ keine Annäherung und keine Berührung mehr zu« (Z 68) – »zurückgezogen und abgekapselt«, aber dennoch anwesend, wie im Innern der Krypta. Aber trotz der Abkapselung, kommt es »doch noch und erst recht zu jenem Übertritt zur Schrift« (Z 69); die Bewegung ist aus den vorausgegangenen Lektüren bekannt. Es gibt zwar »keinen Ausweg aus der Entgeisterung, [...] keinen festen Wohnsitz, nur Stationen, Terminals, Fluglinien und vorüberziehende Aufenthalte«, aber exakt diese Transit-Orte sind die Orte der Sprache der Literatur: »Sie [die Schrift] beschreibt, und auch das immer von neuem, die Bahn des Übergangs und der Ausgänge.« (Z 69) Auch der rätselhafte Titel des ersten der besprochenen Essays, dieses A mon seul désir, wird vor dieser Folie lesbar als Formel, die die Bewegung der Schrift beschreibt. Duden entlehnt diesen Titel einer Gruppe von Wandteppichen aus dem 16. Jahrhundert, die unter dem Namen Les Tapisseries de la Dame à la Licorne bekannt sind. Fünf der insgesamt sechs Wandteppiche zeigen allegorische Darstellungen der Sinne, auf allen Teppichen ist eine Frau auf einer reich bewachsenen Insel im Freien und umringt von Tieren zu sehen. Allein in der sechsten Darstellung befindet sich auf der Insel ein halbgeöffneter Pavillon, eine Art Zelt, in dessen Eingang die Frau steht und hinausschaut. Dieser sechste Teppich, der 319 Elizabeth Boa formuliert: »Heimat is not the place itself but its remembrance from somewhere else.« (Boa 2003, 9.) 320 Hervorhebung im Original. 147
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als der Hauptteppich gilt, trägt als einziger eine Inschrift – am oberen Rand des Pavillons zu lesen –, und diese nun lautet A mon seul désir. In seinem Buch Die fünf Sinne widmet Michel Serres diesen Wandteppichen und insbesondere dem sechsten ein gesamtes Kapitel.321 Ihn beschäftigt vor allem die Frage, wieso allein dieser sechste Teppich, auf dem das Zelt zu sehen ist, eine Inschrift trägt, und weshalb gerade diese. Die letzte der Darstellungen, so lassen sich seine Reflexionen grob zusammenfassen, erzähle von der Ankunft der Sprache in die Welt der Sinne. Vom Eintritt in die Sprache an stehe der sprechende Mensch an einer Schwelle wie die Dame mit dem Einhorn im Eingang des pavillonartigen Zelts, die er nicht überwinden kann. Sich der Sprache zu überlassen heiße, von der Endlosschleife des Begehrens gefangen genommen zu werden.322 Serres liest diesen Wandteppich gewissermaßen als visuellen Vorläufer eines differenztheoretischen Denkens über die Sprache. Seine Ausführungen sind denen Derridas zur Krypta verwandt und ergänzen wie diese die Lektüre der Duden-Texte dort sinnvoll, wo sich deren poetologische Implikationen im Verborgenen halten und mitunter der Decodierung bedürfen. Im ›Zelt der Sprache‹ eingeschlossen, ist – um wiederum direkt auf Duden zu sprechen zu kommen – eine Rückkehr an den »Ausgangspunkt«, ins »Ortskerngewebe« ausgeschlossen. Das ist Anlass zur Trauer, wie im vorausgegangenen Kapitel zur Krypta ausgeführt. Zu der Trauer aber gesellt sich das Verlangen, jene Einsamkeit, in die die Ankunft der Sprache uns zwingt, in Worte zu fassen – ein Verlangen, das dazu antreibt, allem besseren Wissen entgegen immer wieder zu versuchen, die Zelt- bzw. Kryptawände zu überwinden. Und jeder Satz, der diesem Begehren folgt, lässt sich als Feier desselben begreifen, ein Zelebrieren der Sprache selbst, ein Festhalten an der Denkbarkeit einer, wie Duden sagt, Übertragbarkeit dessen, was verloren ist. A mon seul désir endet mit folgender Überlegung: Und ich weiß natürlich, daß kein einzelner Blick zu übertragen ist – weil alles Teil der unzerreißbaren Atmosphäre bleibt – und kein Geruch, kein Gefühl und nicht das Gehör. Aber doch vielleicht der eine oder andere Einblick in die Unermeßlichkeit, die ja immer weiter geduldig darauf zu warten scheint, wahrgenommen zu werden, und die jener Ort offenbar nur in der größtmöglichen, der Horizontal-, Vertikal-
321 Serres 1999, 62-72. 322 Serres formuliert: »Die sich selbst hingegebene Zugehörigkeit gibt sich nur noch dem sprachlich Gegebenen hin, dem Gesagten oder Diktierten. Allein meinem Verlangen.« (Serres 1999, 68f.) 148
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und Total-Intensität eben, für mich bereithielt. Sie wäre also aufgehoben, auf der und der Stelle und an keinem einzigen Ort. (Amsd 37)
Dudens Essay, der sich zu Beginn noch an traditionellen HeimatKonzepten abzuarbeiten schien, hat nichts dergleichen im Sinn. Der eine heimatlich apostrophierte Ort ihres Lebens, von dem sie erzählt, ist, so lässt sich resümieren, ausschließlich insofern von Interesse, als der Rückbezug auf ihn die Verbindung zum imaginären »Raum des Anderswo« herstellt, aus dem seinerseits der Text erwächst. Zur Beschreibung dieses imaginären Raums setzt Duden paradoxale Figurationen ein: Ebenso wie die Figur der Krypta umschreiben die »Unermeßlichkeit auf der Stelle« und die »Horizontal-, Vertikal- und Total-Intensität« das Paradoxon der Schrift. Es geht um den Versuch der Schreibenden, Wohnung zu beziehen in einem immer schon flüchtigen Raum, in dem bestenfalls »vorüberziehende Aufenthalte« (Z 69) möglich sind. Zwei Typen Dudenscher Raumfigurationen sind also im Gesamten bislang hervorgetreten: die geschlossenen, klaustrophobischen Räume, die die Disposition des Subjekts bebildern, und, wie im Prolog und hier in den Essays gesehen, eben jene paradoxalen Raumfigurationen, die den Text selbst bzw. seinen Entstehungsort zu fassen suchen. Während der Raum des Subjekts immer ein verschlossener ist bzw. jede Öffnung nach außen zum Kollaps führt, befindet sich der Text als »Schwellenwesen« immer an der Grenze, die er zu überschreiten sucht. In den paradoxalen Raumfiguren kommt dessen permanentes Ringen um eine Öffnung zur Anschauung. Ein dritter und letzter Dudenscher Raumtypus soll im Folgenden vorgestellt werden: Räume, deren Öffnung nicht im selben Augenblick von einer schließenden Bewegung sekundiert wird, finden sich in ihrem Schreiben allein dort, wo von Musik und Gemälden die Rede ist. Während der sprachlich verfasste Text sich zwar den Grenzen des Verbalisierbaren zu nähern und diese aufzuweichen vermag, sie aber nicht überschreiten und der endlosen differentiellen Verweisung niemals entkommen kann, eröffnen die anderen Künste in der Darstellung Dudens Räume von ungehemmter Ausdehnung.
»Ins Offene«323 – Klangräume Gegen Ende in A mon seul désir eingefügt findet sich, wie erwähnt, ein Textabschnitt aus dem Judasschaf, eine retrospektive Passage, in der die Erzählerin von einem Jahrmarktbesuch ihrer Kindheit erzählt. Während 323 L 22. 149
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eines New York-Aufenthalts lässt sie dort ihr Leben Revue passieren und erinnert sich an den Besuch auf dem »Rummel« als einen derjenigen Momente ihres vergangenen Lebens, die das Gegenstück zu dem gegenwärtig mit deutlichem Übergewicht präsenten Leid bilden (vgl. J 76f.).324 Die Funktion des Selbstzitats im Essay ist eine Art der Exemplifizierung: Das an diesem Sonntagnachmittag Erlebte und Jahrzehnte später Erinnerte dient als Beispiel für das, was sie dort als »Horizontal-, Vertikal- und Total-Intensität« zu fassen sucht.325 Im Zentrum der Episode steht Musik. Schon auf dem Hinweg versetzt die von fern bereits zu hörende Kapelle die Ich-Erzählerin – hier als kleines Mädchen – in einen euphorisierten Zustand: »Die Zusammenstellung der Töne förderte etwas zutage, etwas Außerordentliches, das ich vorher noch nicht erlebt hatte. Bei jedem Schritt auf dem Wällchen, das sich an der sandigen Straße entlangzog, spürte ich es. Aber erst wollte ich noch etwas, ich wollte gewinnen.« (J 76) Erst als sich beide der ergatterten Lose als Nieten entpuppen, sie bis zum Äußersten enttäuscht und entgeistert den Heimweg antritt – »ich hatte nichts mehr zu wollen und war ernüchtert frei« (J 77) – und die Kapelle wiederum von fern zu hören ist, tritt ein, was im Essay dann »Total-Intensität« genannt wird: Die Musik kam nicht mehr aus der Richtung des Orchesters, sondern weich und verhalten und ohne festen Ursprung von überall her, aus der Luft und aus dem Boden. Sie flog, ging, glitt, rollte, schwebte. Dann bewegte sie sich eine kleine Strecke die Straße hinunter und stieg zugleich bis zu einer bestimmten Höhe auf, etwa bis kurz unterhalb der Baumkronen, also bis ins dichte Laub, wo sie
324 »Nein, nein, es ist nicht alles schwarz und ganz im Gegenteil auch nicht alles gleichermaßen grell ausgeleuchtet. Hingegen gibt es Momente, die möchte ich ihrer Schönheit wegen nicht überlebt haben. Es werden sogar unzählige, wenn ich es schaffe, darüber nachzudenken und mich angestrengt erinnern kann. Doch, es hat sich gelohnt. Auch wenn die Nächte jedesmal die Oberhand behielten und ich insgesamt vielleicht nur fünfmal in meinem bisher abgelebten Leben freiwillig und gern morgens aufgestanden bin. Aber das hat nichts weiter zu bedeuten.« – Es folgt direkt im Anschluss die in A mon seul désir zitierte Passage, beginnend mit »Einmal dieser eine Sonntag«. (J 76) 325 Eingeleitet wird das Zitat mit folgenden Worten: »Was jetzt noch unruhig ist, wird zur Ruhe geschlagen oder delirierendes Rädchen im Getriebe werden oder ausbalanciert sein zwischen Veräußerung und Auslöschung oder einfach nur in der Luft hängen und auf der Zunge der ungebundenen Zeit liegen bleiben – wie das Folgende, das ich vor mehr als fünfzehn Jahren schrieb:« – es folgt das »Einmal dieser eine Sonntag« (Amsd 35), hier im Kursivdruck. 150
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alles, was jetzt war, zu einer luftigen Verbundenheit verknüpfte, die Buchenblätter, den Sand, das Unerreichbare und nicht Gewonnene. (J 77)
Die Eigenschaften, die hier der Musik zugeschrieben werden – ihre unbegrenzte Ausdehnung und die Neigung, alles Umgebende »zu einer luftigen Verbundenheit« zu verknüpfen –, sind als diejenigen wiederzuerkennen, mit denen in A mon seul désir der Ort, die »Mitgift«, umschrieben wird. Die enge Verbundenheit von Boden und Luft dort findet sich hier wieder in derjenigen von Buchenblättern und Sand, dem »Unerreichbare[n] und nicht Gewonnene[n]«. Insbesondere das »nicht Gewonnene« spielt hier eine entscheidende Rolle insofern, als die vorausgegangene Pleite mit den Losen Voraussetzung zu sein scheint dafür, dass die Musik im Anschluss ihre Wirkung entfalten kann. Auf dem Hinweg noch hält das dringende Verlangen des Mädchens, etwas zu gewinnen, es davon ab, sich vollkommen der bereits zu vernehmenden Musik zu überlassen – insbesondere das »aber« und das »erst« im Satz »Aber erst wollte ich noch etwas« (J 76) markieren die Gegensätzlichkeit beider Zustände. Erst nachdem das eindeutig zielgerichtete Verlangen enttäuscht und überwunden ist, als das Kind »ernüchtert frei« (J 77) zurückbleibt, kann es in die ganz und gar ziellose Ausdehnung der Musik eintauchen. Einen gesonderten Blick wert ist in diesem Zusammenhang das Lied selbst, das die Verzückung auslöst. Im Text werden einige Zeilen zitiert: »Nun wurde auch noch eine neue Melodie gespielt, ich kannte die Worte dazu. Du hast ja ein Ziel vor den Augen, damit du in der Welt nicht irrst, damit du weißt, was du machen sollst, damit du einmal besser leben wirst.« (J 77)326 Was hier zitiert wird, sind die ersten Zeilen eines DDRPionier-Lieds,327 all denen, die in der DDR aufgewachsen sind, aus ihrer Kindheit vertraut. Wovon Dudens Text hier in der Jahrmarktsepisode erzählt, d.h. der Effekt der Musik, durchkreuzt nun genau das, was der 326 Hervorhebung im Original. 327 Der komplette Liedtext lautet folgendermaßen: «1. Du hast ja ein Ziel vor den Augen,/ damit du in der Welt dich nicht irrst,/ damit du weißt, was du machen sollst,/ damit du einmal besser leben wirst./ Denn die Welt braucht dich, genau wie du sie,/ die Welt mag ohne dich nicht sein./ Das Leben ist eine schöne Melodie,/ Kamerad, Kamerad, stimm ein!// 2. Und hast du dich einmal entschlossen,/ dann darfst du nicht mehr rückwärts gehn,/ dann mußt du deinen Genossen/ als Fahne vor dem Herzen stehn./ Denn sie brauchen dich genau wie du sie,/ du bist Quelle und sie schöpfen aus dir Kraft./ Darum geh voran und erquicke sie,/ Kamerad, dann wird’s geschafft.// Refrain: Allen die Welt und jedem die Sonne,/ fröhliche Herzen, strahlender Blick./ Fassen die Hände Hammer und Spaten,/ wir sind Soldaten, kämpfen für’s Glück.« (Melodie und Text von Louis Fürnberg, 1909-1957, http://ingeb.org/Lieder/duhastja.html [23.02.2006]) 151
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Text des Liedes vorführt: Das »Ziel vor Augen«, hier in Form des Puppenwagens in der Tombola, muss erst verschwinden, damit das erfahrbar wird, von dem es im Anschluss heißt: »Schöneres konnte nicht mehr kommen und hatte es auch zuvor noch nie gegeben.« (J 77)328 Dem »Ziel vor den Augen«, d.h. dem teleologischen und zweckorientierten Weltzugriff, steht die rezeptive, im Sinne Lévinas’ passive Haltung, die für die Ich-Erzählerin Dudens charakteristisch ist, diametral entgegen. Insofern wird der Text des DDR-Liedes hier in der Jahrmarktepisode deutlich konterkariert, zumindest diejenigen Zeilen des Liedes, die direkt wiedergegeben werden. Andere Zeilen des Liedes allerdings, die nicht zitiert werden, dem Prosatext aber gewissermaßen als Subtext unterliegen, spiegelt dieser durchaus, insbesondere die zweite Hälfte der ersten Strophe, in der es heißt: »Denn die Welt braucht dich, genau wie du sie,/ die Welt mag ohne dich nicht sein.«329 Die Musik schafft ja gerade eine Form des ›Einssein‹ mit der Welt, momenthaft entpuppt sich »[d]as Leben« auch hier als »eine schöne Melodie«.330 Aber die Verbundenheit mit der Umgebung, die das Mädchen hier erlebt, ist gerade nicht durch exzessives Tätigsein, durch zupackende Aktivität gekennzeichnet wie im Refrain des Liedes nahegelegt. Ihre Hände fassen nicht »Hammer und Spaten«, sondern finden, am Ende der Episode, vor dem Gartentor ihres Hauses »überwältigend viele kleine Herzen aus Pappe und Glanzpapier, daumennagelgroß«, die sie, »bis zum äußersten verliebt« (J 78), aufzulesen beginnt. Die vollkommene Nutzlosigkeit der Papierherzchen unterstreicht, wie weit entfernt die hier geschilderte Euphorie von der im Lied besungenen ist. Im Hintergrund ist währenddessen nach wie vor die Musik zu vernehmen. Das »Glück«, für das die jungen Pioniere im Lied mit Tatkraft kämpfen, widerfährt ihr auf stille Weise als einer aufmerksam Hörenden. Der ›Ort‹, an dem sich die »Horizontal-, Vertikal- und TotalIntensität« offensichtlich nicht nur erahnen, sondern für eine gewisse Zeit halten lässt, ist die Musik. Man erinnere sich des ersten Abschnitts 328 Dasselbe Pionierlied wird auch in der Erzählung Chemische Reaktion zitiert, dort ohne Kennzeichnung durch Kursivdruck o.Ä. Die IchErzählerin kommt dort, an der Bushaltestelle stehend und über den Unterschied zwischen sich und den anderen Wartenden sinnierend, zu dem Schluss: »Ich konnte deutlich erkennen, daß sie ein Ziel vor den Augen hatten, damit sie in der Welt sich nicht irrten, abgesehen von einer alten, sehr bleichen Frau, die sich mit Hilfe eines Stocks an den Häuserfassaden entlangtastete. Ich hatte das ja nicht. Der Unterschied war einfach und logisch: sie hatten ein Ziel und sahen nichts anderes, ich hatte kein Ziel und sah alles andere.« (Ü 52) 329 Vgl. Fußnote 327. 330 Vgl. Fußnote 327. 152
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in A mon seul désir, wo es heißt, »[ü]berlebt« habe sie »ja ohnehin nur in der Luft, durch Abheben und Aufschwingen; mit dem Flugauge mich an den Rauch haltend, mit ihm zugleich aufsteigend und verwehend und Schall und Ton als Beflügelung und Träger ausnutzend im Spring-, Gleit-, Segel- oder Steilflug« (Amsd 29). »Überlebt« hat sie in und dank der Musik. Die Signifikanz der Musik für die gesamte Literatur Dudens ist – ebenso wie die der Bildenden Kunst – unübersehbar und wurde in der Forschung entsprechend in aller Ausführlichkeit thematisiert, im Besonderen in Suzanne Greuners vergleichender Studie zu Duden und Bachmann.331 Viele der literarischen Texte Dudens nehmen Bezug auf Musikstücke, indem sie einzelne gesungene Zeilen wie die Anfangszeile aus dem Pionierlied collageartig in den Text einfügen – im Judasschaf sind dies vor allem Zeilen aus Claudio Monteverdis Combattimento di Tancredi e Clorinda – oder indem sie von Musik erzählen und diese beschreiben. In Das Landhaus ist beispielsweise von einer vierzigstimmigen Motette des englischen Komponisten Thomas Tallis die Rede, in Übergang von einem Schlager aus den Fünfzigern und einer Kantante Bachs. In zahlreichen anderen Texten wird Musik erwähnt ohne spezifische Nennung oder Zitation bestimmter Musikstücke. Es soll hier nun nicht die umfangreiche Diskussion zu den intermedialen Referenzen in Dudens Literatur wieder aufgenommen werden. Von Interesse sind allein die räumlichen Figuren, mittels derer von Musik bzw. der Wirkung der Musik – und daran anschließend der Bildenden Kunst – erzählt wird. Den Ausgangspunkt hierfür bildet folgende Beobachtung: Nach den Figuren des Eingeschlossenseins, welche die Disposition des Subjekts bebildern, und den paradoxalen Raumfiguren, die als Figurationen der Schrift bzw. des »poetischen Satzes« zu entziffern waren, tritt nun in der Jahrmarkt-Episode ein neues räumliches Phänomen auf: Das Hörerlebnis beschreibend, gebraucht der Text eine neuartige Raummetaphorik insofern, als hier der Ausdehnung der Musik, der Öffnung des Klangraums die Schließung desselben nicht auf dem Fuße folgt. Die »luftige Verbundenheit«, die »die Buchenblätter, den Sand, das Unerreichbare und nicht Gewonnene« (J 77) verknüpft, eröffnet einen Raum, in den die Hörende eintreten und in dem sie tatsächlich verweilen kann. Anders als der poetische Satz ermöglicht die Musik nicht nur »vorüberziehende Aufenthalte« (Z 69), sondern tatsächlich eine Art Refugium, das Bewegtheit und Ruhe zugleich zulässt. Ganz deutlich wird dies beispielsweise in Das Landhaus, wo die »fabelhafte, ja erlösende Wirkung« der Motette von Tallis folgendermaßen geschildert wird:
331 Greuner 1990. 153
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Erst öffnete sie einem eine Kammer, dann einen Raum, der zu einem weiteren größeren Raum führte, und so immer weiter, bis man halb träumend, halb wach wahrnahm, daß man mittlerweile durch alle Räume und Mauern und Dächer hindurchgeschleust war und fortgetragen von einer einzigen großen einsammelnden und aufhebenden Bewegung, einer Luftwoge, die einen schließlich mitnahm ins Offene und einen dort ruhig und gleichmäßig beatmete. (Ü 21f.)
In dritten Teil des Essays Zungengewahrsam zitiert Duden diese Passage aus Das Landhaus. Sie greift dort auf die eigene frühe Erzählung in einem Kontext zurück, in dem es ausdrücklich um Gemeinsamkeiten und Differenzen von Musik und Schrift geht. Zur Beschreibung der Schrift bedient sie sich hier nun einer spezifischen Raummetaphorik. Sie spricht von einem »Balancevermögen«, auf das ein gelingender Text angewiesen sei. Gelinge es beim Schreiben, eine »Einheit aus Fix- und Schwebepunkt« herzustellen, dann füge sich der Text »ins Gewölbe der Existenz – oder des Nichts oder der Leere – wie der Schlußstein ins Firmament der Kathedralen« (Z 51). Dieser Vergleich von Text und Kathedrale, den sie im Folgenden weiter ausführt, stützt sich vor allem auf Begriffe, die dem Bereich der Musik entstammen; zentral stehen Rhythmus und Komposition: Das Gewölbe, auch das der Sprache, steht, weil alles Feste, alle Materie in einen Rhythmus versetzt worden, in eine sicht- und spürbare Bewegung geraten ist, wo auch der Stillstand noch erkennbar wird als Moment anhaltender Gezeitenreibung; weil in und mit einem Raum Böden, Mauern, Decken und Zwischenräume entstanden sind, die Teile einer Komposition bilden. Es ist dann der Raum, der beginnen kann, die eigenen Mauern zu durchstoßen; der irgendwann mühelos durch die eigenen Wände zu gehen vermag, ohne dabei ins Wanken zu geraten, ohne sich selbst der Einsturzgefahr auszusetzen; der, und nicht nur am Ende, abheben kann. (Z 52)
Ausgang nehmend von der Schrift gelangt sie hier also über den Vergleich mit der Architektur zur Musik und schließlich zurück zum Text. In allen drei Kunstgattungen macht Duden dasselbe Grundprinzip aus. Ausschlaggebend ist sowohl für den Text als auch die Kathedrale sowie für Tallis’ Motette, von der dann im Anschluss die Rede ist, ein grundsätzliches Spannungsverhältnis von Bewegung und Einhalten, ein Zusammenspiel von »Rhythmik«, d.h. von Dynamik, und »Komposition«, begriffen als eine Art stabilisierendes Gerüst. Erst müssen »Böden, Mauern, Decken und Zwischenräume« entstehen, bevor deren Wände wiederum »durchstoßen« werden können. Dieses Durchstoßen der Wände allerdings gelingt in der Musik weitaus eher als im Text, wie im Fortgang des Essays ausgeführt wird, und exakt hierin sind die »musikalischen Raum-
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bewegungen« denen des Texts Vorbild: »Die Sprache will sich immer an diesen Gebilden orientieren [...].« (Z 52) Wenn Duden hier von einer Vorbildfunktion der Musik für die Sprache spricht, knüpft sie an eine lange Tradition innerhalb der ästhetischen Theorien an, die ihren Ausgang im 19. Jahrhundert nimmt, insbesondere mit Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung und Wagners musiktheoretischen Schriften.332 Dieser »Aufstieg« der Musik »zur höchsten aller Künste«, wie Kittler formuliert,333 schreibt sich in der Ästhetik über Nietzsches Definition der Musik als der dionysischsten Kunst in Die Geburt der Tragödie bis hin zu Adornos Ästhetischer Theorie fort. Der Musik wird ein Vermögen attestiert, das die Philosophie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts den anderen Künsten nicht in demselben Maße zuspricht. Analog dazu gilt in der Lyrikbetrachtung und gleichermaßen in der Lyrik selbst seit der deutschen Frühromantik die Musikalität der Sprache als deren Kern. In Julia Kristevas Revolution der poetischen Sprache, dem Text, mit dem Greuner in ihrer Studie zur Musik bei Duden bevorzugt arbeitet,334 wird diese Frage nach der Musikalität der literarischen Sprache wieder aufgenommen. Kristevas Erläuterungen dessen, was sie unter Musikalisierung der Sprache versteht, ist insofern auch für den gegebenen Zusammenhang aufschlussreich, als ihr Theoriegebäude explizit mit einem räumlichen Modell arbeitet und darin insbesondere das Durchbrechen bestimmter Schranken von entscheidender Bedeutung ist. Kristeva spricht dort von einer Musikalisierung, wo es um den Einbruch des Semiotischen ins Thetische bzw. Symbolische geht, d.h. wo diejenigen Triebbewegungen, die nicht ins Symbolische überführbar sind, dennoch ihren Weg in die Sprache finden, jenseits allen Bedeutens, mittels dessen, was Kristeva Rhythmus nennt.335 Greuner nun kommentiert, Kristevas Entschluss, den Begriff der Musik zu gebrauchen, um den Einbruch des Semiotischen ins Thetische zu beschreiben, sei »nicht ohne Zusammenhang mit der ›wirklichen‹ Musik. Im Gegenteil, es scheint etwas zu sein an der Musik, das es nahelegt und erlaubt, diese Bewegung der Überschreitung [...] musikalisch zu nennen.«336 Anders als die Sprache, deren Strukturiertheit die symbolische Ordnung konstituiert, verliert die Musik, so die Argumentation, niemals den Bezug zu ihrer Herkunft, dem Körperlichen. Während die Literatursprache von der Schrift repräsentiert wird, bedarf die Musik immer »der Stimme und des Körpers – eines Instruments oder eines 332 333 334 335 336
Vgl. hierzu Caduff 1997. Kittler 1995, 83. Vgl. Greuner 1990. Kristeva 1971, 75. Greuner 1990, 57. 155
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Menschen – «, so Greuner weiter, und entgeht somit »dem einsinnigen Bedeuten [...] mehr, als es der Sprache je erlaubt ist«.337 Die Musik ist, folgt man Kristeva, diejenige signifikante Praxis, in der sich das Semiotische stärker gegen das Symbolische behauptet, wenngleich auch die Musik, wie jedes Zeichensystem, immer beide Modalitäten, d.h. Syntax und Rhythmus, voraussetzt.338 Der Grad der Semiotisierung des Symbolischen ist in der Musik allerdings höher als in jeder Form von verbaler Sprache, und exakt dies macht sie für die Literatur vorbildhaft und mitunter beneidenswert. Der höhere Grad der Semiotisierung in der Musik nun findet bei Duden Ausdruck im Bild des Durchstoßens der eigenen Mauern, von dem in Zungengewahrsam die Rede war (vgl. Z 52). Fast dieselbe Formulierung ist in Dudens Essay O dolorosa sorte anzutreffen, 1996 in Der wunde Punkt im Alphabet erschienen, in dem sie sich Carlo Gesualdo zuwendet, einem für seine zahlreichen Madrigale bekannten Komponisten an der Schwelle vom 16. zum 17. Jahrhundert. Duden schreibt dort über dessen vielstimmige Kompositionen: »Bis an eine unerhörte Grenze ist, was je ausdrückbar erschien, vorgerückt und vorgestoßen. Noch die Grenze selbst wird transparent, gibt sich plötzlich zu erkennen als das, was sie schon immer gewesen sein muß: eine dünne Haut, verwundbar, ja, durchstoßbar.«339 Dieses Vorrücken an die Grenze und schlussendlich 337 Greuner 1990, 57. 338 Vgl. Kristeva 1971, 35: »Andererseits gibt es nicht-verbale Zeichensysteme, die ausschließlich auf dem Semiotischen aufbauen (wie die Musik, z.B.), doch werden wir sehen, daß diese Ausschließlichkeit ganz relativ ist, eben wegen des dialektischen Verhältnisses zwischen beiden Modalitäten im Prozeß der Sinngebung, der dem Subjekt eigentümlich ist. Da das Subjekt immer semiotisch und symbolisch ist, kann kein Zeichensystem, das von ihm erzeugt wird, ausschließlich ›semiotisch‹ oder ›symbolisch‹ sein, sondern verdankt sich sowohl dem einen wie dem anderen.« Vgl. hierzu auch einen ganz ähnlichen Gedanken bei Adorno: »Musik zielt auf eine intentionslose Sprache. Aber sie scheidet sich nicht bündig von der meinenden wie ein Reich vom anderen. Es waltet eine Dialektitk: allenthalben ist sie von Intentionen durchsetzt [...]. Musik ohne alles Meinen, der bloße phänomenale Zusammenhang der Klänge, gliche akustisch dem Kaleidoskop. Als absolutes Meinen dagegen hörte sie auf, Musik zu sein, und ginge falsch in Sprache über. Intentionen sind ihr wesentlich, aber nur als intermittierende. Sie verweist auf die wahre Sprache als auf eine, in der der Gehalt selber offenbar wird, aber um den Preis der Eindeutigkeit, die überging an die meinenden Sprachen.« (Adorno 1978, 255.) 339 Duden 1996, 7. 156
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die Überwindung derselben lässt sich mit Kristeva nun als Einbruch der semiotischen Triebbewegungen ins Thetische lesen; die sexuelle Konnotation der Formulierung Dudens verweist dabei auf die strukturelle Analogie von erotischem Begehren und Ausdrucksbegehren. Bemerkenswert ist im gegebenen Zusammenhang die relative Leichtigkeit, mit der in Dudens Musik-Texten Grenzen überschritten, Wände durchdrungen bzw. als nur dünne Häute enttarnt werden. Auch in Übergang findet sich dieses Phänomen. Im Rahmen der Retrospektive rekapituliert die IchErzählerin exemplarisch für ihre ersten euphorisierenden Begegnungen mit Musik diejenige mit dem Fünfziger-Jahre-Schlager Die Blumen sind für Bellabimba:340 Das war die Nahrung, die ich wirklich brauchte. Wie ein Sturmwind brachte sie etwas in Bewegung, zerschlug blitzschnell alles Feste und Schwere und gab mir ein Gefühl von Durchlässigkeit, wo das Innen genausoviel galt wie das Außen. Die Musik ging einfach hindurch, durch Mauern und Wände, durch die Haut. (Ü 68)
Der Musik gelingt die Dynamisierung des beengend »Feste[n] und Schwere[n]« mit Leichtigkeit, d.h. sie bewerkstelligt ohne jede Mühsal, worum die Textbewegungen selbst so inständig ringen. Die Musik, so Greuner, »diffundiert, könnte man sagen«,341 sie geht »einfach hindurch, durch Mauern und Wände« (Ü 68) und eröffnet jenseits derer neue Räume, die, wie in der Passage zu Tallis gesehen, tatsächlich Aufenthalt bieten. In Übergang – nicht im Rahmen der Retrospektive, sondern in der Erzählung vom Klinikaufenthalt selbst – gebraucht der Text, wo er von den regelmäßigen «Musikbesäufnis[sen]« (Ü 83) der Ich-Erzählerin mit der Bach-Kantate erzählt, ebenfalls eine Metaphorik des Eintretens in einen neuen Raum. »Die Männer- und Frauenstimmen, die Chöre, die Instrumente« fügen »etwas zusammen«, in dem sie sich »mühelos auf[zu]halten« vermag, die Musik eröffnet »ein vollkommen neues Li-
340 Sympathischerweise werden in Übergang die Bach-Kantate Jesu, der du meine Seele und der Schlager gleichberechtigt ohne jeden adornitischen Dünkel nebeneinander gestellt. Musik im Allgemeinen ist »die Nahrung«, die die Ich-Erzählerin »wirklich braucht« (Ü 68). Sicher nicht jede zur selben Zeit, aber grundsätzlich spricht der Text beiden Musikrichtungen dieselbe Fähigkeit zu: Im Alltag der Nachkriegszeit weckt der Schlager »den richtigen Hunger« (Ü 68) in dem Kind, während des Klinikaufenthalts der mittlerweile über Dreißigjährigen übernimmt die Kantate diese Funktion. 341 Greuner 1990, 106. 157
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nien- und Flächensystem, in dem alles Ausdruck finden, also in Bewegung kommen kann« (Ü 83).342 Indem Dudens Texte diese musikalischen Räume entwerfen, ergänzen sie also nicht allein die eigene Polysemie um eine weitere Dimension, sondern diese zusätzliche Dimension ist von einer anderen, bislang ungekannten Qualität. Die Musik kann etwas, das der Text selbst nicht in dem Maße vermag. Die Montagen der Musikstücke in die Prosatexte sind mit Greuner als »notwendig unvollkommene Versuche zu verstehen, die gleichwohl die dichterische Sprache jener ›Idee‹ der Musik nahezubringen vermögen. Und sei es nur, weil sie die Texte um ein Unbegriffenes bereichern«.343 Dieses Unbegriffene hat bei Duden die Gestalt eines weiten Raums, eines »Linien- und Flächensystem[s]« (Ü 83), in dem sich die Balance zwischen Dynamik und Statik, um die der Text selbst permanent ringt, offensichtlich halten lässt – nicht auf Dauer, aber lange genug, um die passioniert Hörende zwischenzeitlich zu beherbergen.
»Residuen einer entregelten Grammatik«344 – Bildräume Im Essay Madame Cézanne in Zungengewahrsam schreibt Duden, das Rot der Jacke der Porträtierten habe »den Vorgang des Sehens eröffnet«, man sei »vor dem Bild in es hineingeraten« (Z 128). Die Metaphorik des
342 Es fällt auf, dass im selben Maße, in dem die Musik bei Duden neue Räume schafft, der Lärm als deren Antipode jeden vorhandenen Raum vernichtet. In Tag und Nacht heißt es über tief fliegende Flugzeuge, sie »[w]alzten die Luft um sich weg, zerrissen und zerhackten sie, machten klar, daß es keine Räume mehr gibt, kleine nicht große nicht, also auch keine Dächer und Mauer, sondern nur noch ein trudelndes Überall«; die Rede ist in diesem Zusammenhang von einer »Lärmwoge [...], eine vom ganzen Raum Besitz ergreifende Woge. Die wie eine Weltwand ankommt.« (Ü 97) 343 Greuner 1990, 72. Alle bei Duden relevanten Musikstücke sind auffälligerweise Vokalmusik, d.h. sie können zitiert werden, indem Fragmente des gesungenen Texts in den literarischen Text eingefügt werden, d.h. es bedarf keiner langen Beschreibungen der Musik oder des Einbaus von Notenzeilen. Der Gesang als die Musik, die vom Klang wie vom Sinn eines jeden Worts lebt, expliziert die spannungsreiche Beziehung zwischen Semiotischem und Symbolischen, die in allen Kunstgattungen herrscht, besonders deutlich und bietet sich deshalb an, um jene Spannung zu thematisieren. 344 Z 117. 158
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Eintretens in einen neuen Raum, wie im Zusammenhang mit den musikalischen Referenzen zu diagnostizieren, fällt ebenso deutlich ins Auge im Kontext der Bildbeschreibungen. Im Essay zu Cézannes Gemälde greift Duden eine Beschreibungsfigur wieder auf, die im Judasschaf sehr häufig anzutreffen ist: Dort werden die Gemälde betreten, der Akt des Betrachtens öffnet einen Raum, der die Schauende in der Folge zum Eintreten einlädt bzw. zwingt. Im Berlin-Kapitel »ließ das Bild mit dem liegenden Toten« – gemeint ist die Grablegung Christi von Vittore Carpaccio – die Ich-Figur »ein« (J 54). Während ihres New York-Aufenthalts hat sie, noch ehe sie die Ausstellungsräume des Metropolitan Museums erreicht, in Gedanken Carpaccios Meditation über die Passion Christi »schon betreten, mit einem mühelosen kleinen Schritt« (J 92), um dann, als sie sich schließlich vor dem Tafelgemälde befindet, »einmal eingelassen, sofort zum Vierten im Bunde« (J 95) zu werden neben den drei Figuren im Bild. Stephanie Bird resümiert: »The paintings are more than images. They are spaces which the narrator enters, places in which she gains a clarity of vision and understanding which otherwise eludes her«.345 Die Metaphorik des Eintretens ist bereits Indiz dafür, wie weit der Einbezug von Bildmaterial bei Duden – meist handelt es sich um Renaissance-Gemälde – über reine Bildzitate hinausgeht. Die spezifische Art der Ekphrasis, die im Vergleich zu den Musikbeschreibungen insofern noch weitaus prägnanter ist für Dudens Literatur, als die Bildbeschreibungen schlicht mengenmäßig deutlich überwiegen,346 stellt dasjenige Charakteristikum ihrer Texte dar, das in der Forschungsliteratur am meisten Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Vor allem mit Bezug auf das Judasschaf werden die medialen Interferenzen zwischen Text und Bild aufs Ausführlichste diskutiert.347 Wie im Musikkapitel schon weitestgehend wird hier nun komplett darauf verzichtet, Forschungsmeinungen zu referieren. Von Interesse ist allein die Frage, inwiefern im Kontext der Bildbeschreibungen eine Raummetaphorik zum Einsatz kommt, die Rückschlüsse auf das Selbstverständnis des Texts im Verhältnis zum Bild zulässt. Geprüft wird dies exemplarisch an einem Essay Dudens zu 345 Bird 2003a, 129f. 346 Neben dem Judasschaf finden sich auch in ihren Essaysammlungen Der wunde Punkt im Alphabet und, wie bereits erwähnt, Zungengewahrsam sowie in der Erzählung Der Auftrag die Liebe in Übergang Beschreibungen von Gemälden. 347 Vgl. z.B. Dieterle 1990, Dieterle 1991, Littler 1996, Bossinade 1997. Siehe auch das erste Kapitel mit dem Titel »Körper- und Bildgedächtnis« in Weigel 1994 und das vielfach zitierte Gespräch zwischen Weigel und Duden (Duden/Weigel 1989). 159
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den Arbeiten der britischen Gegenwartskünstlerin Clea Wallis, der den Titel Vergittert im Gefilde oder Contenance angloise trägt und ebenfalls im Band Zungengewahrsam zu finden ist, bevor dann gegen Ende noch einmal auf Ortsausgänge zurückzukommen ist. Ein Blick auf das letzte Viertel des bereits besprochenen Essays soll das Kapitel beschließen, denn der Text mündet dort in Reflexionen zu den Winterlandschaftsgemälden eines holländischen Barockmalers, die zu einer Gegenüberstellung mit der Funktion der Eislandschaften bei Sebald einladen. Somit bieten sie sich für eine knappe Verdeutlichung der Differenzen zwischen den beiden Autoren an. In der abstrakten Malerei von Clea Wallis stößt Duden auf Bildräume, in denen ausnahmslos alles in Bewegung zu sein scheint. Zu sehen sind auf den Bildern, so Duden, ausschließlich »Linien, Striche, fasrige Stränge, Bahnen und Balken [...], meist mehrmals gebrochen oder angebrochen, geknickt oder lichtgefalzt« (Z 116). Über deren Entstehungsprozess erklärt sie, Wallis fertige die Bilder an, indem sie sie zuerst grundiere, um dann Linie um Linie auf den weißen Grund der immer am Boden liegenden Leinwand oder Pappe aufzutragen. Vom Beginn des Herstellungsprozesses an sei »jedes Geradeaus oder Hindurch ausgeschlossen. Und auch die Schwerkraft wird sich, im Lauf der weiteren Arbeit, mehr und mehr verflüchtigen, sich aus dem Staube machen. Die Erdgewichtung und Gerichtetheit wird gewissen, das heißt eigentlich ungewissen, aber äußerst präsenten Gefilden Platz machen.« (Z 116) Ganz anders als in den Konstellationen des Ein- und Ausschließens in den anderen Texten weicht hier bezüglich der Bilder die Relevanz binärer Strukturen: Sie »erinnern an die Rückseiten von Stickereien oder lassen an die Vorderseite eines immer fadenscheiniger werdenden Stoffes denken, der nun somit Vorder- und Rückseite zugleich zu zeigen beginnt und damit schon ein Drittes« (Z 117). Und dieses »Dritte« fasst Duden wiederum, wie das »Unbegriffene« in den Musikbeschreibungen, um Greuners Wort zu gebrauchen, als einen Raum, der mit allen gängigen Raumvorstellungen bricht: als vollzöge sich etwas neuerlich Gesetzmäßiges, aber nicht nur ohne Netz und doppelten Boden, sondern überhaupt jenseits aller Raumgrenzen, -muster und -vorstellungen. [...] Das also ist entstanden – am Ende, am Boden –: die Sichtbarwerdung eines sonst unsichtbaren Raumes, seine unwiderlegbare und unwiderstehliche, seine entwaffnende Präsenz. (Z 118)
Interessant ist nun vor allem, dass Duden die unzähligen, teils unterbrochenen Linien in Wallis’ Bildern, durch deren hundertfache Überschneidungen und Überkreuzungen die charakteristischen Bildräume entstehen, als »Residuen einer entregelten Grammatik« (Z 117) bezeichnet, d.h. sie 160
ANNE DUDEN
löst den Begriff der Grammatik aus dem Bereich der Sprache, um ihn im gegebenen Kontext ad absurdum zu führen: Die Grammatik, das Regelwerk, ist hier »entregelt«. Wiederum arbeitet sie also mit einer paradoxalen Figur und spricht zugleich davon, was dem Bild, anders als dem Text, zu wagen gestattet ist: zwar nicht der komplette Verzicht auf eine Grammatik – Wallis’ Bilder gehorchen in höchstem Maße dem Regelwerk eines komplex konstruierten Bildaufbaus –, aber die Unterminierung derselben auf einer anderen Ebene, die das Geregelte irgendwann scheinbar zum Verschwinden bringt: Und irgendwann gibt es in diesen Bild-Gebilden dann nicht einmal mehr die Andeutung eines Satzzeichens, kommt alles ohne Punkt und Komma. Nichts Gesetztes, Ge- oder Angehaltenes, kein Satz, auch kein zertrümmerter oder demontierter mehr, nicht mal ein Klecks. Buchstäblich: die Farben setzen sich nicht. Sie sind aufgetragen und befinden sich nun da, transparent eingeschlossen ins Unabschließbare, eingeschlossen in die Atmo- und Stratosphäre, gestrahlt und gesträhnt, und zugleich wie aus sich selbst heraus gestrafft und gesammelt. Die Farben haben sich aufgemacht und bleiben dabei: suspended in space, suspendiert von jeglichem Trägerdienst. (Z 117)
»Suspendiert« sind die Farben – anders als es den Buchstaben je möglich sein wird – von der Aufgabe, Bedeutung zu tragen. Von der Gefahr befreit zu sein, in die Einsinnigkeit zurückzufallen, wo es um Vielsinnigkeit, um die Öffnung aller starren Gefüge geht, verleiht ihnen eine Dynamik, eine »Unruhe«, wie Duden formuliert, »die das Begehren selbst ist« (Z 120). Wie der Musik attestiert Duden dem Bild hier ein Vermögen, das der eigene Text stets anstrebt: die Sichtbarmachung dieser Unruhe, des Begehrens selbst, das den Text hervorbringt und vorantreibt. Wie sehr es Duden um jene Sichtbarmachung des Begehrens zu tun ist, zeigt sich immer wieder daran, mit welcher Vehemenz und Beharrlichkeit sie versucht, Starres zugunsten des Dynamischen aufzubrechen bzw. dessen Überführung ins Dynamische zu erwirken. Kaum je deutlicher ist dies zu sehen als dort, wo sie sich dem Erstarrten, hier in Form des Gefrorenen, direkt zuwendet: In Ortsausgänge kommt sie gegen Ende des Essays fast unvermittelt auf die Eislandschaften des holländischen Malers Hendrick Averkamp (1585-1634) zu sprechen. Als knappe Überleitung von ihren das eigene Schreiben verhandelnden Reflexionen hin zur Malerei Averkamps dient ihr eine knappe, fast kalauernde Analogisierung vom Schreibakt und der Bewegung auf dem Eis: »Ich begebe mich weder in die ewige Gefrornis noch ins Aus, sondern nur auf Eis«, sagt sie; sie »verschreibe« sich selbst diesen Winterbildern, schlicht weil sie »das letzte Wort haben« sollten (Z 70). In sämtlichen der Gemälde, die ausnahmslos Winterszene, Vergnügen auf dem Eis o.ä. betitelt sind, spiele sich »[a]lle Bewegung, alles Leben [...] 161
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spiele sich »[a]lle Bewegung, alles Leben [...] ab auf dem Eis« (Z 70). Ganz im Gegensatz zu der Eislandschaft in Altdorfers Gemälde, in dessen Betrachtung Sebalds Nach der Natur einmündet, sind die Winterlandschaften Averkamps stark bevölkert: »Nahezu alle Bewohner gleich mehrerer Dörfer dürften da auf den Beinen sein«, kommentiert Duden, »und Hunde und Pferde dazu. Das Eis ist ihr Ort.« (Z 70) Sehr viel Leben wird auf diesen Bildern gezeigt, ein »bildewige[r] Ausnahmezustand«, in dem die eisigen Temperaturen keineswegs zur Erstarrung führen, im Gegenteil: Zu sehen sei zwar, »wie Flüssiges sich verfestigt zu Grund und Boden« – das Gewässer hat sich zur begehbaren Fläche gewandelt –, aber, fragt Duden, »hat im Gegenzug nicht zugleich das Feste sich verflüssigt, so daß Kirchen, Häuser, Katen und Verschläge nun am Rande dahintreiben und etliche schon mit der Ferne verschmelzen?« (Z 71) In der Eislandschaft entdeckt Duden nicht den ewigen Stillstand, sondern die Unbeständigkeit und Wechselhaftigkeit der Aggregatzustände. Die Winterlandschaft Averkamps ist keine Weltrandgegend wie die Altdorfers, das steht außer Frage. Dudens Wahl dieser Gemälde als Referenzpunkte zeugt aber weniger von einer schlichten Feier des Vitalen angesichts unzähliger heiterer Dorfbewohner beim Schlittschuhlaufen. Vielmehr sind ihr diese Bilder gerade in ihrer Eigenheit als Zeugnisse eines »Ausnahmezustand[s]« wichtig. Was sie am meisten an Averkamp interessiert, ist der Umstand, dass das Eis trotz seiner Vergänglichkeit als Ort fungiert, auf dem es sich aufhalten lässt. Und gerade angesichts dessen entdeckt sie in diesen Gemälden eine so große Nähe zum eigenen Text: Die Bilder sollten auch deshalb »das letzte Wort« haben, schreibt sie, weil auch sie, so unnachahmlich wie vorbildlich, ins Nichts führen. Und sie tun es in ihrer Sprache, vor allem aber mit dem Alphabet menschlicher Figuren, leutseliger Buchstaben, die ja das Eis als Träger, als Aufenthaltsort sichtlich erst hervorrufen und zum Ausdruck bringen und mit ihm den Raum, in den sie es mit jedem Schritt und jeder Bewegung weiter vortreiben, ins Bild setzen. (Z 71)
Mittels seines »Alphabet[s] menschlicher Figuren« bringe das Bild das Eis als »Aufenthaltsort« und mit diesem Ort den Bildraum selbst hervor, ebenso wie die Buchstaben – nicht die »leutselige[n]«, sondern die gewöhnlichen – den Text hervorbringen. Durch die bewegten Figuren auf dem Eis erst würde das Bild »ein geartetes und lotendes Nichts: Tiefe, Ferne und Weite zugleich, so daß an seinem nicht einsehbaren Ende eine weitere Ferne und eine fernere Weite und tiefere Tiefe entstehen und sich endlos fortzusetzen scheinen.« (Z 71) Im Begriff des »lotende[n] Nichts« findet sich Dudens ästhetische Konzeption des Texts als ein sich stets 162
ANNE DUDEN
selbst riskierender wieder. Anders als bei Sebald wird hier keine Nachwelt ersehnt, auf die sich der Text richtet. Ihre Texte weisen in keiner Sublimierungsbewegung über sich selbst hinaus, sondern suchen immer den Weg ins eigene Zentrum – ins Innere des Labyrinths gewissermaßen –, wo der Text mit dem »Nichts« konfrontiert wird, das es auszuloten und intermittierend zu überwinden gilt. Auch hier in ihrer Beschreibung der Eislandschaften Averkamps spricht sich Dudens Entwurf einer Ästhetik des Übergangs aus, die den Text immer an die eigenen Grenzen führen will – auf die Gefahr hin, dass er diesen Grenzgang nicht übersteht, aber immer in der Hoffnung, er möge sich somit »auf dem Weg zu jenem Magnetfeld der Horizontal-, Vertikal- und Totalintensitäten« (Z 71) befinden.
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HERTA MÜLLER Figuren des Einschlusses und der Stillstellung Das Dorf als »riesengroße Kiste aus Zaun und Mauer«348 Seit Erscheinen der Niederungen, dem Erzählband, mit dem sich Müller Mitte der achtziger Jahre ihre Position als feststehende Größe innerhalb des deutschsprachigen Literaturbetriebs erschrieb, gilt ihre literarische Stimme als eine explizit kritische. Nicht nur gegen das diktatorische System Ceauescus hat sie diese Stimme erhoben. Mit den Niederungen machte sie sich in ihrer banatschwäbischen Heimat unbeliebt, weil sie darin das dort herrschende soziale Klima als geistig eng und tendenziell faschistoid beschreibt.349 Und in Reisende auf einem Bein schildert sie die Kälte, auf die die migrantische Protagonistin bei ihrem Eintreffen in der BRD stößt, nicht weniger schonungslos. Fraglos ist Müller – in ihrer Prosa ebenso wie in den Essaybänden – eine politische Autorin, die in ihrem Schreiben Mechanismen der Überwachung und Unterdrückung sowie deren Auswirkungen auf den Menschen schildert und anklagt. Dies geschieht in ihren Texten vornehmlich, indem sie beschreibt, wie sich Selbst- und Weltwahrnehmung der Geschädigten verändern. Interessant ist nun im Besonderen, wie Müller, ausgehend von diesen Prozessen der perzeptionellen Veränderung infolge der sozialen und politischen Repression, zur Diskussion von Wahrnehmungsstrukturen im Allgemeinen überleitet. Wahrnehmungsfragen werden bei Müller häufiger noch als bei Duden anhand der Beschreibungen spezifischer Raumwahrnehmungen verhandelt; Friedmar Apel schreibt sogar, in ihren Texten setze sich »alles in Raumerlebnisse um«.350 Dies soll im Folgenden im Detail nachvollzogen und dabei gezeigt werden, inwiefern auch bei ihr die Auseinandersetzung mit der (Raum-)Perzeption die Frage nach der Transformierung des Wahrgenommenen in Text miteinschließt und somit poetologische Überlegungen impliziert.
348 N 87 und 91. 349 Zur Rezeption der Niederungen siehe Günther 1991. 350 Apel 2000, 229. 165
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Zunächst werden nun, ähnlich wie im Vorausgegangenen zu Duden, Figuren der Stillstellung und des Einschlusses unter die Lupe genommen, die aber hier eine andere Funktion übernehmen als dort. Die klaustrophobischen Figurationen Müllers sind besonders zahlreich in ihrem Erzählband Niederungen, aber durchaus auch in späteren Texten wie beispielsweise dem Roman Herztier zu finden, der vor kurzem erst wiederaufgelegt wurde. Der topologischen Analyse verschlossener Räume im Kontext des Dorfs wird so die Lektüre ähnlicher Raumfiguren im städtischen Kontext, gezeigt an wenigen ausgewählten Passagen dieses Romans, folgen. In den Niederungen findet sich ein knapp dreiseitiger parabelartiger Text mit dem Titel Der Deutsche Scheitel und der deutsche Schnurrbart, der für die frühen Texte in gewisser Hinsicht modellhaft ist. Erzählt wird vom Kurzbesuch eines Mannes in dessen Herkunftsort. Der Text beginnt lapidar mit den Zeilen: »Kürzlich kam ein Bekannter aus einem nahegelegenen Dorf zurück. Er wollte dort seine Eltern besuchen.« (N 129) Die unbestimmte Zeitangabe und die Namenlosigkeit sowohl des Orts als auch des Protagonisten heben gleich zu Beginn die Exemplarität des Erzählten hervor. Obwohl der Mann »viele Jahre in diesem Dorf gelebt hatte« (N 129), wird er weder erkannt noch erkennt er selbst die Dorfbewohner und irrt in völliger Orientierungslosigkeit auf der Suche nach den Eltern durch die ehemals vertrauten Straßen: Er stieß ununterbrochen gegen Wände und Zäune. Manchmal ging er durch Häuser, die quer über den Weg gebaut waren. Alle Türen schlugen krächzend hinter ihm zu. Wenn er keine Tür mehr vor sich hatte, wußte er, daß er wieder auf der Straße stand. Die Leute redeten, aber er verstand ihre Sprache nicht. Er konnte nicht unterscheiden, ob sie weit von ihm oder nahe neben ihm gingen, ob sie sich auf ihn zu oder von ihm weg bewegten. (N 129)
Als der Besucher nach einem Zusammentreffen mit seinem Vater beim Friseur den Ort schließlich wieder verlässt, sieht er aus dem anfahrenden Zug, dass auf dem Schild neben den Schienen »nicht mehr wie früher der Name des Dorfes, sondern bloß BAHNHOF stand« (N 131). Inwiefern ist dieser kurze Text nun paradigmatisch für diejenigen Texte Müllers, die im schwäbischen Banat angesiedelt sind? Zum einen beschreibt er – hier in knappster Form – die völlige Stillstellung der aussterbenden Ortschaften infolge der ökonomischen Misslage und der entsprechend hohen Zahl an Auswanderungen. Zum anderen erzählt er von dem immensen Grad an Be- und Entfremdung desjenigen, der nicht oder nicht mehr in die Dorfgemeinschaft integriert ist. Der Zusammenhalt der im Dorf Gebliebenen scheint allein durch strikt ritualisierte Abläufe gewährleistet, wie hier synekdochisch anhand des Haareschneidens und 166
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Blechnapfleerens beim Friseur gezeigt (vgl. N 129f.). Dem von außen Hinzukommenden und nicht an diesen Ritualen Teilhabenden verschließt sich diese Gemeinschaft gänzlich.351 Die Erfahrung des Besuchers, nicht wieder in diese Gemeinschaft eingelassen zu werden, zeigt sich am deutlichsten im zweiten, oben zitierten Abschnitt der Erzählung, der den Gang des Besuchers durch das Dorf beschreibt. Josef Zierden nennt diesen Gang einen »labyrinthischen Hindernisparcours, der Häuser, Wege und Menschen zu einem wirren Nebeneinander fügt und jedes Fortkommen hemmt«.352 Die Beschränkungen, mit denen er konfrontiert wird, scheinen sich materialisiert zu haben – der Gast stößt gegen Wände und Zäune –, es werden Türen zugeschlagen, sämtliche Räume verschließen sich. In mehreren Texten im Band Niederungen, am deutlichsten aber in der langen Titelerzählung, finden sich Figuren des Verschließens zur Beschreibung der exkludierenden Funktionsprinzipien der dörflichen und der familiären Gemeinschaft. In der Titelerzählung werden Dorf und Familie aus der Perspektive des Mädchens beschrieben, das als einziges Kind in der Haus- und Hofgemeinschaft eine gewissermaßen randständige Position innehat. Weil es, anders als die Erwachsenen, nicht in die Geschäftigkeit des Alltagslebens eingebunden ist, blickt das Kind distanziert auf diese Gemeinschaft und nimmt so in gewisser Weise die Stellung des außenstehenden Fremden ein. Zugleich befindet es sich natürlich inmitten dieser Gemeinschaft und ist ihr, als ihr schwächstes Mitglied, in jeder Hinsicht ausgeliefert. Ähnlich wie der Besucher in Deutscher Schnurrbart nimmt dieses Kind die dörfliche Gemeinschaft vor allem in ihrer bedrückenden mentalen Enge wahr: »Das Dorf steht wie eine riesengroße Kiste aus Zaun und Mauer in der Gegend« (N 91),353 heißt es an einer Stelle. Analog dazu ist in der kurzen Erzählung Das Fenster 351 Als der Besucher seinen Vater auf dem Friseurstuhl ansprechen will und damit den automatisiert ablaufenden Vorgang zu unterbrechen droht, wird er zugleich mit der Nichtachtung durch den Vater selbst und durch die Drohgebärde des Friseurs gestraft. Vgl. N 130: »Mein Bekannter ging auf Zehenspitzen auf den Stuhl zu. Vater, sagte er, und der Mann auf dem Stuhl schaute stur in den Spiegel. Er tippte ihm mit der Hand auf die Schulter. Der Mann vor dem Spiegel schaute noch sturer in den Spiegel. Der Friseur hielt die Schere weit offen in der Luft. Er drehte die gespreizte Hand und ließ sie einmal rund um seinen Daumen kreisen. Mein Bekannter ging auf seinen Platz zurück«. – Vgl. hierzu auch Zierden 2002, 34. 352 Zierden 2002, 33f. 353 Vgl. auch: »Manchmal ist das Dorf eine riesengroße Kiste aus Zaun und Mauer. Großvater schlägt seine Nägel hinein.« (N 87) 167
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vom »zugeschnürten Dorf« (N 111) die Rede. Bemüht, jegliche Öffnung nach außen zu verschließen bzw. zu vermeiden, verbarrikadiert sich das Dorf in der Schilderung Müllers hinter den eigenen Mauern. Die Dorfgrenzen sind starr und unflexibel wie die Wände einer Holzkiste. Eingeschlossen ist hier nicht eine einzelne Figur, etwa das Mädchen, sondern wohlgemerkt das ganze Dorf. In dieser klaustrophobischen Raumfiguration kommt, anders als bei Duden üblich, nicht die Disposition des Subjekts, sondern die der Dorfgemeinschaft zur Anschauung. Die Starre der ›Kistenwände‹ ist gleichermaßen durch die äußere als auch die innere Verfassung dieser dörflichen Enklave bedingt. Dieses Dorf der deutschen Minderheit, schreibt Claudia Becker, verdanke seine klaustrophobische Enge inmitten des diktatorischen rumänischen Staats »sowohl dem äußeren politischen Un-System als auch seinen eigenen festgefahrenen sozialen Infrastrukturen«.354 Christian Dawidowski ergänzt, hier habe sich der »Übergang vom Faschismus zum sozialistischen Totalitarismus [...] bruchlos vollzogen«, entsprechend funktioniere das banatschwäbische Dorf als »Mikrokosmos eines totalitären Überwachungsstaates reibungslos«.355 Inwiefern die mentale, politische und soziale Enge im Mikrokosmos der Dorfgemeinschaft derjenigen innerhalb des rumänischen Staats, des Makrokosmos, strukturell gleicht, hat Müller selbst in ihrem viel zitierten Essay Wie Wahrnehmung sich erfindet im Band Der Teufel sitzt im Spiegel dargelegt.356 Die Nähe des beengten, kontrollierten Lebensgefühls im diktatorischen Staat zu dem im Dorf der Minderheit schlägt sich deutlich in der Verwandtschaft der Raumfiguren nieder. Auch die Lebensräume in der Stadt werden vielfach in einer Weise beschrieben, die der KistenMetaphorik des Einschlusses korrespondiert. Das karge Wohnheimzimmer beispielsweise, das sich die Ich-Erzählerin in Herztier mit fünf anderen Studentinnen teilen muss, wird im gesamten Romantext ausschließ354 Becker 1991, 39. 355 Dawidowski 1997, 23f. 356 Verfasst wurde der Text als Poetik-Vorlesung und als eine der Paderborner Universitätsreden veröffentlicht (Müller 1990) und dann wieder abgedruckt in dem Band Der Teufel sitzt im Spiegel. Ich zitiere aus dieser Ausgabe. – Müller verwendet dort den aus den Niederungen stammenden (vgl. N 94) und in der Müller-Forschung häufig zitierten Begriff des Froschs – des deutschen Froschs und des Froschs des Diktators (vgl. TS 20f. und 29) –, der als Chiffre für das eine Gemeinschaft dominierende, von deren Mitgliedern längst inkorporierte Kontrollgefüge fungiert, als Versuch, wie sie selbst erläutert, »eine Formulierung zu finden, für das Gefühl überwacht zu werden« (TS 20). Vgl. zum Begriff des Froschs Günther 1991, Zierden 2002. 168
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lich das »Viereck« genannt. Die normierte Inneneinrichtung und die permanente, den gesamten Raum anfüllende Beschallung intensivieren den klaustrophobischen Charakter dieses Vierecks: Ein kleines Viereck als Zimmer, ein Fenster, sechs Mädchen, sechs Betten, unter jedem Bett ein Koffer. Neben der Tür ein Schrank in die Wand gebaut, an der Decke über der Tür ein Lautsprecher. Die Arbeiterchöre sangen von der Decke zur Wand, von der Wand auf die Betten, bis die Nacht kam. Dann wurden sie wieder still, wie die Straße vor dem Fenster und draußen der struppige Park, durch den niemand mehr ging. Das kleine Viereck gab es vierzigmal in jedem Heim. (HT 11)
Die vier Figuren, die im Zentrum des Romans Herztier stehen, die IchErzählerin und die drei Freunde Georg, Kurt und Edgar, kennen sowohl die Kontrolle durch die ländliche Gemeinschaft im Banat als auch die Überwachung durch den Geheimdienst, die ihr gegenwärtiges Leben in der Stadt prägt. Als Kinder deutschsprachiger Dorfbewohner sind sie zum Studieren in die Stadt gegangen. In die Romanhandlung, die von der Zeit während und nach dem Studium erzählt, sind fragmentierte Kindheitserinnerungen der Ich-Erzählerin als Retrospektiven eingefügt, die häufig stark an die Niederungen erinnern. Durch diese Engführung von Dorfkindheit und dem Leben als Regimekritikerin in der Stadt im Aufbau des Romans wird die strukturelle Verwandtschaft der Gewalterfahrungen und der permanenten Kontrolle in der dörflichen Gemeinschaft bzw. der Familie auf der einen Seite und derjenigen durch den Staat auf der anderen hervorgehoben. Mit einer in ihrer pointierten Knappheit für Müller charakteristischen Bemerkung erklärt Georg diese Verwandtschaft, indem er über die rumänische Großstadt sagt: »Alle bleiben hier Dörfler. [...] In einer Diktatur kann es keine Städte geben, weil alles klein ist, wenn es bewacht wird.« (HT 52) Friedmar Apel erläutert, auf diese Bemerkung Georgs direkt Bezug nehmend: »Die Verbindung der unidyllischen Kindheitserinnerungen aus dem Banatschwäbischen mit der zerteilten Erfahrung der Freunde in der Gegenwart des totalitären Staates Rumänien ist so bereits im Räumlichen hergestellt.«357 Es ist die ständige Überwachung und die daraus resultierende einschnürende Enge im einen wie im anderen Lebenszusammenhang, die sich in den Figurationen des Einschlusses niederschlägt. Maßgeblich für diejenigen Raumerlebnisse, von denen in Müllers Dorf-Texten erzählt wird, ist neben der Figur des Einschlusses die der Arretierung. Die Stillstellung, die als quasi-natürliche Folge der Inklusion erscheint, wird außerdem als Vorbote der Auslöschung jedes Lebens 357 Apel 2000, 229. 169
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und entsprechend als existenzielle Bedrohung vorgestellt. Dieser Dreischritt, d.h. Einschluss bzw. Ausschluss der Außenwelt, Stillstellung und Auslöschung, lässt sich gut anhand der Passage aus der Erzählung Niederungen nachvollziehen, in der das erzählende Kind von dem gefürchteten Mittagsschlaf berichtet, zu dem es die Großmutter täglich zwingt: Ich hasse diesen Mittagsschlaf. Ich lieg mit meinem Haß im Bett, und Großmutter verdunkelt das Zimmer und schließt der Reihe nach die Türen: die Zimmertür, die Vorzimmertür, die Eingangstür. Ich darf zwei Stunden nicht heraus aus der Dunkelheit. Ich habe Angst vor dem Einschlafen. (N 89f.)
Dem Kind widerstrebt es zutiefst, am helllichten Tag von der Teilhabe am Leben ausgeschlossen zu werden, mit jeder weiteren geschlossenen Tür scheint diese Exklusion wirkmächtiger. Der andrängende Schlaf ist so bedrohlich, weil er den Ausschluss aus der Welt der Lebenden noch weiter fortzuführen und letztgültig zu firmieren droht. Der Widerstand gegen den Schlaf ist dennoch zwecklos; im Halbschlaf mengen sich in die Angst des Kindes vor der Auslöschung Erinnerungen an die Erzählungen aus der Kindheit der Großmutter.358 Konzentriert sind die Angstphantasien des Kindes in dem Satz »Der Schlaf ist Tod« (N 90). Nach Ablauf der zwei Stunden Ruhezeit wiederholt sich die Sequenz des Türenschließens in Umkehrung: Die Hoftür quietscht, die Gangtür knarrt, die Vorzimmertür krächzt, die Zimmertür schlägt gegen den Kasten. Großmutter steht im Zimmer. Sie poltert die Rollläden hoch. Draußen ist heller Tag. (N 90)
Der hier anhand der Angstbilder des Kindes hergestellte Zusammenhang von Einschluss, Stillstellung und Auslöschung ist nicht allein der kindlichen Phantasie geschuldet. Vielmehr gilt auch für diese Passage, was Norbert Otto Eke über die gesamte Erzählung schreibt: »Sind [...] Sterben und Tod einerseits noch Elemente der subjektiven Wahrnehmung des Kindes, aus dessen Perspektive der Text geschrieben ist, sind sie andererseits auch Makrometaphern des kulturellen Absterbens, die die Wahrnehmungsperspektive des Texts auf den dörflichen Lebensraum bestimmen.«359 Eke macht dies plausibel, indem er wiederum die zitierten
358 Vgl. N 90: »Und ich sage ihm, dass ich noch ein Kind bin. Ich habe schon öfters sterben wollen, doch damals ging es nicht. Und jetzt ist hoher Sommer, und Vogelschwärme zerreißen das Wasser. Und jetzt will ich nicht sterben, jetzt hab ich mich an mich gewöhnt und kann mich nicht verlieren.« 359 Eke 1991, 83. 170
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Wendungen, die das Dorf als Kiste zeigen, heranzieht. Die gesamte Dorfgemeinschaft geht der eigenen Auslöschung entgegen, indem sie sich jeder Außeneinwirkung verschließt, sich der völligen Stagnation überlässt und den inneren Zusammenhalt allein durch ein Klima der gegenseitigen Überwachung sichert. Deutlicher noch als in den Niederungen stehen diese Auflösungserscheinungen der banatschwäbischen Dörfer in einem anderen Text Müllers im Zentrum: Der kurze Roman Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt liest sich wie eine Aneinanderreihung film-still-artiger Momentaufnahmen, die den jeder Dynamik beraubten Lebensalltag einer solchen Dorfgemeinschaft zeigen. Auch hier arbeitet Müller mit Figuren des Einschlusses und der Stillstellung, die die im Dorf herrschende Endzeitstimmung bündeln. Anhand dieses Romans lässt sich plastisch zeigen, inwiefern Müller diese Figuren auch erzähltechnisch nachmodelliert. Wie geschieht dies im Text? Mittels welcher Erzähltechniken gelingt es ihr, die »Semantik des Endes«360 auch auf der Ebene des discours greifbar werden zu lassen? Ein narratives Verfahren, das in Der Mensch ist ein großer Fasan, häufig zur Anwendung kommt, ist das Prinzip der Rahmung als einer Form des Einschlusses, wie Thomas Rohberg zeigt.361 Als Beispiel führt Rohberg die Passage aus dem Romantext an, in der der Protagonist Windisch durch das Fenster den Tischler und dessen Frau im Bett beobachtet. Es heißt dort: Die Frau stellt die Schenkel und biegt die Knie. Ihr Bauch ist aus Teig. Ihre Beine stehen wie ein weißer Fensterrahmen auf dem Bettuch. Über dem Bett hängt ein Bild in einem schwarzen Rahmen. Die Mutter des Tischlers lehnt mit dem Kopftuch am Hutrand ihres Mannes.362
Die dreifache Rahmung – Windischs Perspektive ist bereits durch den Blick durch das Fenster gerahmt, die Beine der Frau bilden einen zweiten Rahmen, den der dritte an den Wand quasi spiegelt – lässt die Szene völlig bewegungslos erscheinen und hebt sie, trotz ihres sexuellen Charakters, nicht aus der Abfolge leblos wirkender Momentaufnahmen hervor. Gerade die Kontrastierung von Erzähltem – einer Beischlafszene – und dem Erzählverfahren, d.h. der Einreihung dieses Bilds in die Abfolge zahlloser anderer unbewegter Bilder, steigert den Eindruck völliger Stillstellung.
360 Eke 1991b, 78. 361 Vgl. Rohberg 1997, 35. 362 Müller 1995, 11f. 171
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Dieses Rahmungsverfahren ist aber nur eine der Techniken, die Einschluss und Stillstellung erzählerisch umsetzen; es stellt einen Sonderfall desjenigen Verfahrens dar, das den kurzen Roman ebenso wie die Niederungen dominiert. Sowohl im Erzählband, und dort vor allem in der Titelerzählung, als auch in Der Mensch ist ein großer Fasan setzt sich der Erzähltext aus zahllosen kunstvoll arrangierten und montierten Momentaufnahmen zusammen, wie in der Forschung mehrfach hervorgehoben. Diese Momentaufnahmen selbst zeigen einzelne Details wie durch ein Vergrößerungsglas. Claudia Becker spricht von »fixierende[n] Großaufnahme[n] des Details, die die Wirklichkeit in überdimensionierte Ausschnitte, in Fragmente ›zerlegt‹«.363 Eke wiederum nennt diese Großaufnahmen Tableaus,364 was deren statischen Charakter noch deutlicher hervorhebt. Sprachlich korrespondiert der Aneinanderreihung dieser stark bildhaften Einzelszenen die Dominanz des parataktischen Stils. Müller reiht – mitunter dem Anschein nach nur lose verbundene365 – Hauptsätze aneinander und erstellt somit Texte, die durch ihre formale Starre auffallen. Die Konstituierung des Erzähltexts aus einer Serie vieler eher lose verbundener Nahaufnahmen führt dazu, dass sich »die Linerarität von Zeit sich auflöst in der Statik der Fläche«.366 Das Textgefüge selbst vermittelt einen stillgestellten, gewissermaßen enttemporalisierten Eindruck.367 Das bedeutet, auf textstruktureller Ebene ist hier reflektiert, wovon im Text die Rede ist: Die Stillstellung, die Auslöschung jedes Lebens wird erzähltechnisch nachmodelliert durch die parataktische Montage der Bilder. Der thematischen Dominanz des Todes, schreibt Eke, korrespondiere »die Statik des Tableaus in der Tiefentektonik des Texts«.368 Das lang-
363 Becker 1991, 37. Dawidowksi ergänzt Beckers Analyse, indem er diesen zweiten Schritt etwas ausführlicher erläutert: »Unter all diesen sedimentierten Erfahrungsbildern selektiert die Autorin, um einen assoziativen Sinnzusammenhang herzustellen. Die Vorbehalte gegen Logizität und Linearität – die sich zeitlich im chronologischen Nacheinander, räumlich in der Ordnung der Dinge manifestieren – zeitigen den Verlust des kohärenten Weltverständnisses und den scheinbaren Zerfall epischen Zusammenhangs durch die Auflösung in lyrische Symbolstrukturen.« (Dawidowski 1997, 19.) Vgl. zur Erstellung des neuen Sinnzusammenhangs meine Ausführungen »Räume aus Gegenständen«, 187ff. 364 Vgl. Eke 1991b, 81. 365 Vgl. hierzu meine Ausführungen »›Sprünge durch den Raum‹ – zur Figur der Auslassung«, 205ff. 366 Eke 1991b, 87f. 367 Vgl. Rohberg 1997, 39. 368 Eke 1991b, 81. 172
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same Verenden des Dorfs scheint sich so in den einzelnen Sätzen niederzuschlagen, bei deren Lektüre greifbar zu werden und bedrückend nah zu rücken.
Die »grüngezahnte Ahnungslosigkeit«369 – korrumpierte Landschaften Im eingangs angeführten Text Der deutsche Scheitel und der deutsche Schnurrbart schlägt sich die Befremdung des Besuchers in einem weiteren Raumerlebnis nieder, das mit der Behinderung durch unzählige Wände und Zäune nichts zu tun hat: Er kann die Distanz zwischen sich und anderen nicht mehr einschätzen, weiß nicht mehr zu beurteilen, »ob sie sich auf ihn zu oder von ihm weg bewegten« (N 129). Neben dem Eindruck, der dörfliche Raum verschließe sich ihm, stellt sich hier bei dem Besucher ein Gefühl des Sich-Verlierens ein, wie es gewöhnlich durch die Erfahrung von Weite ausgelöst wird. Vergleichbar heißt es in der Titelerzählung der Niederungen, wo der Blick von den umgebenden Feldern aus auf das Dorf beschrieben wird: Alles scheint nahe, und wenn man darauf zugeht, kommt man nicht mehr hin. Ich habe diese Entfernungen nie verstanden. Immer war ich hinter den Wegen, alles lief vor mir her. Ich hatte nur den Staub im Gesicht. Und nirgends war ein Ende. (N 22)
Müllers Texte setzen, ganz anders als dies bei Duden der Fall ist, den Raumfiguren des Einschlusses und der Stillstellung keine öffnenden Raumfiguren entgegen. Vielmehr werden klaustrophische und gewissermaßen agoraphobische Raumerlebnisse offensichtlich nebeneinander gestellt. Die für die Beschreibungen des Dorfs charakteristischen Figuren der Enge scheinen hier durch die Schilderung der endlos erscheinenden Weite der Landschaft nicht kontrastiert, sondern komplementär ergänzt zu werden. Was sagt es nun über Müllers Landschaftsentwürfe aus, dass dieses Verhältnis vielmehr eines der Ergänzung als des Kontrasts ist? In einem von der Forschung wenig beachteten Essay aus dem Band Der Teufel sitzt im Spiegel mit dem Titel Gegenstände, wo die Haut zu Ende ist findet sich eine Passage, in der Müller diesen Zusammenhang von Enge und Weite expliziert. Geschildert wird keine konkrete Landschaft, sie formuliert hier generelle Gedanken zum Raumerleben in Landschaften. Sie schreibt: »In den weiten Landschaften schreit die Stille. Die Starre lauert. Landschaft ist Stilleben [...].« (TS 100) Die Land369 K 173. 173
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schaft ist hier nichts Bewegtes, Dynamisches, sondern, ebenso wie der dörfliche Raum in Der deutsche Scheitel bzw. den Niederungen oder der städtische in Herztier, ein stillgestellter Raum, der in dieser Statik bedrohlich wirkt. In ihrem jüngstem Essayband Der König verneigt sich und tötet spricht sie in mehreren der Texte von Landschaften, von den endlosen Tagen, die sie als Kind, die Kühe hütend, einsam auf der Weide mit Blick auf die umgebende Landschaft verbrachte, und von Naturbegegnungen in der Zeit, in der sie bereits politisch verfolgt wurde. Die alle gleichermaßen statischen Landschaften werden dort auf zweierlei im Folgenden zu erläuternde Weise charakterisiert. Die beiden Hauptmerkmale sind allerdings – das sei vorausgeschickt – nicht danach zu differenzieren, ob sie aus der Kinderzeit oder der dem Leben der Erwachsenen erzählt, d.h. es lässt sich nicht eine unbeschadete Landschaft der Kindheit von einem später gänzlich anders wahrgenommenen Naturraum unterscheiden. Vielmehr sind beide Charakteristika ihrer Landschaftsbeschreibungen in allen Schilderdungen, wenn auch mit unterschiedlichen Gewichtungen, präsent und greifen ineinander. Einer der beiden Topoi ist die Indifferenz der Landschaft dem Menschen gegenüber; so heißt es im Essay Die Insel liegt innen – die Grenze liegt außen, Landschaft sei »eine vom Treiben der Tage abgewandte Stille, eine grüngezahnte Ahnungslosigkeit, die sich selber genügt«. Betrachte man sie mit überdrehten Nerven, würde Landschaft »zur flirrenden Inszenierung der Existenz, zum Panorama der Ängste« (K 173). In dieser Passage spricht Müller explizit über die Zeit ihrer Verfolgung durch den diktatorischen Staat. An anderer Stelle im selben Text beschreibt sie jedoch, inwiefern die Betrachtung der Landschaft auch auf das einsame Kind bereits dieselbe Wirkung ausübte: Allein sein mit den Kühen und spüren, wie die Landschaft zu groß wird für die armselig bemessene Haut, weil sich Himmel und Gras miteinander verbandeln. Die landschaftliche Schönheit als Drohung empfinden, als Pendeluhr, die ihr Ticken selber frißt und dich übers Gras ins taumelnd Blaue hebt und dort oben rausschmeißt, oder unters Gras ins gestampfte Grabschwarze drückt und rausschmeißt. (K 162)
Die Weite der Landschaft nimmt das Kind nicht bergend in sich auf, sondern lässt es gewissermaßen verschwinden; »Himmel und Gras« scheinen sich gegen es zu verbünden. Der Mensch schrumpft angesichts der Unermesslichkeit des Naturraums auf eine »armselig bemessene Haut« zusammen.370 Das Kind fühlt sich hinauskatapultiert, ›rausge370 Analog dazu heißt es im ersten Text des Bands, In jeder Sprache sitzen andere Augen: »der Talhimmel ein großer blauer und die Weide ein gro174
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schmissen‹ aus dem Naturraum –, entweder nach oben über eine imaginäre Grenze des Himmels hinweg oder nach unten »ins gestampfte Grabschwarze«. Auch die Landschaft erscheint hier als gerahmte, als handle es sich um ein Landschaftsgemälde. Diejenige aber, die sich in diesem gerahmten Gemälde zu befinden und die Szenerie zugleich zu betrachten scheint, wird aus den durch den Rahmen gesetzten Grenzen ausgewiesen. Mit dem Begriff des »Grabschwarze[n]« klingt bereits an, inwiefern die Konfrontation mit der Landschaft den Menschen immer an dessen Kurzlebigkeit – gemessen an der sich endlos selbst rekreierenden Natur – und Fragilität erinnern. In der Wahrnehmung des Kindes wird das Feld so zur Bedrohung, der es entkommen will, aber nicht kann. Ich wollte von dem blühenden Panoptikum, das alle Farben vergeudet, nicht erwischt werden. Meinen Körper diesem gefräßigen, mit Blüten getarnten Sommerbrennen nicht zur Verfügung stellen. [...] Mit dem Lebendigsein im Freßkreis der Pflanzen, dem Widerschein des Blattgrüns auf der Haut konnte ich mich nicht arrangieren, obwohl ich nur Bauern kannte. Ich sah immer, daß das Feld mich nur ernährt, weil es mich später fressen will. (K 13)
Natur gilt hier allein als Kreislauf der Vernichtung, und dies nicht nur ihrer Schönheit zum Trotz (vgl. K 173), sondern die Schönheit und Lebendigkeit, die »Blüten«, werden als Tarnung des unter dieser Maskerade verborgenen Sterbens gedeutet: »Jeder Acker war das randlos ausgebreitete Panoptikum der Todesarten, ein blühender Leichenschmaus.« (K 12) An wieder anderer Stelle heißt es, »der Acker« sei »erpicht auf Verwesung« (K 75). Anders als Sebald jedoch diagnostiziert Müller keinerlei Abwärtstrend, keine »abschüssige Bahn«, auf der die naturgeschichtliche Entwicklung angeblich verlaufe,371 sondern stellt den »Freßkreis« vielmehr als invariables und gerade in dieser Unveränderlichkeit erschreckendes Faktum dar. Die Starre, das Stilllebenartige der Landschaft (vgl. TS 100) besteht gerade in dieser gleichbleibenden, repetitiven Dauerbewegung des Fressens und Gefressenwerdens. Allerdings – und damit ist man beim zweiten, topisch wiederkehrenden Charakteristikum der Müllerschen Landschaft angelangt – meint diese selbstgenügsame Starre des Naturraums nicht, dass dieser unangetastet bliebe von den Machtstrukturen, die den städtischen und den dörflichen Raum beherrschen. Die Indifferenz der Landschaft prädestiniert diese gewissermaßen dafür, ebenso korrumpierbar zu sein. »Aus eigener Erßer grüner Dreck und ich ein kleiner Dreck dazwischen, der nicht zählte« (K 12). 371 Vgl. meine Ausführungen zu »Schädelstätten vs. Eislandschaften – die ›Naturgeschichte‹ und deren Stillstellung« im Sebald-Kapitel, 68ff. 175
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fahrung weiß ich«, schreibt Müller, »daß die Landschaft sich aus dem Staat nicht heraushalten läßt.« (K 172) Das zeigt sich in ihrer Prosa sehr deutlich immer wieder anhand des Flussmotivs, das sich in fast allen Romanen findet – mal als namenloser Fluss, mal wird die Donau explizit genannt. Die Donau bildet eine der Landesgrenzen Rumäniens, insofern immer auch einen politischen Raum; für zahllose Flüchtende wird der Fluss zum Sterbeort. In Der Fuchs was damals schon der Jäger heißt es, die Leute wüssten, »daß die Donau für jeden, der auf der Flucht erschossen wird, drei Tage ein Kissen auf den Wellen hat, und drei Nächte ein Glänzen unter den Wellen« (FJ 117). In Herztier gilt der nicht benannte Fluss, der durch die Stadt fließt, vor allem als Ort der Selbstmörder (vgl. HT 110ff.). Auch die Ich-Erzählerin selbst hat, am unteren Flusslauf stehend, ihre Taschen bereits mit Steinen gefüllt, bevor sie beschließt: »Der Fluß ist nicht mein Sack. Dich stecken wir ins Wasser gelingt dem Hauptmann Pjele nicht.« (HT 112). Und die Ich-Erzählerin in Heute wär ich mir lieber nicht begegenet verbindet mit dem Anblick des Flusses vor allem die Erinnerung an ihren ersten Mann, der sie über das Brückengeländer zu werfen drohte, weil sie ihn verlassen wollte (vgl. HW 38f.). Entsprechend gelingt es der Erzählerin nicht, wie ihr zweiter Mann Paul beim Baden im Fluss glücklich zu sein (vgl. HW 54f.). Stattdessen wirft sie den Finger, den ihr der Geheimdienst als Drohung in die Tasche geschmuggelt hat, in den Strom (vgl. HW 160f.) – der Fluss taugt nur noch als Hort makabrer Erinnerungen. Wie am Beispiel des Flusses zu sehen, brechen Müllers Naturbilder regelmäßig mit traditionellen Leseerwartungen. Ihre Naturmotivik zeichnet sich durch eine ästhetische Widerständigkeit aus, die immer auch eine politische ist. Natur wird, so führen Hofmann und Schulz in einer Analyse der Naturmotive in Der Fuchs war damals schon der Jäger aus, bei Müller »immer nur in enger Koppelung an das Wissen um eine die gesamte menschliche Lebenswelt umfassende Herrschaftsstruktur« gestaltet.372 Selbst der Himmel, der sich im Fluss spiegelt – »Wer den Fluß kennt, hat den Himmel von innen gesehen« (FJ 39) –, verspricht nicht die Unbegrenztheit eines anderen, vom Menschen unbeeinflussten Raums, sondern wird in den Herrschaftsbereich eingegliedert. »Ich halte nichts von der Magie der Landschaften, der Dörfer oder der unbewohnten Flächen« (TS 17), schreibt Müller in Wie Wahrnehmung sich erfindet. In ihrem Schreiben entlarvt sie den natürlichen Raum demgemäß als nur quasi-natürlichen. Auch der landschaftliche Raum ist, ganz im Foucaultschen Sinn, immer mit Qualitäten aufgeladen und von Phantasmen bevölkert. »Wir leben«, schreibt Foucault, »innerhalb einer Gemengelage
372 Hoffmann/Schulz 1997, 79 und 81. 176
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von Beziehungen, die Plazierungen definieren, die nicht aufeinander zurückzuführen und nicht miteinander zu vereinen sind.«373 So ist beispielsweise der Fluss bei Müller, wie gesehen, zugleich Platz eines Ehedramas, Platz des staatlichen Terrors gegen seine angeblichen Widersacher und Platz des Badevergnügens. Die Qualitäten, die Müllers Landschaften besetzen, sind nicht kategorial verschieden von denjenigen, die den städtischen Raum markieren, sondern gehören ausnahmslos der aus staatlicher Unterdrückung, privatem Elend und raren Glücksmomenten bestehenden »Gemengelage« an, von der die Texte erzählen. Ihre populärste Form haben der literarisch gestalteten Landschaft fraglos die deutschen Romantiker gegeben. In seinem Buch Deutscher Geist und deutsche Landschaft zeichnet Friedmar Apel die literarhistorische Entwicklung von Naturbeschreibungen nach und kommt dabei gegen Ende auf diejenigen Müllers zu sprechen. Apel legt sehr überzeugend dar, inwiefern Müller in einem doppelt codierten Verhältnis zur Romantik steht. Einerseits knüpft sie an die Romantiker an, indem ihr Blick auf Landschaften – wie auf Städte – letztlich immer »auf Autonomiegewinn aus ist und der instrumentellen Vernunft den Gehorsam zu verweigern trachtet«.374 Fraglos sind diese Landschaftsbeschreibungen Bestandteil ihrer in der Tradition der Romantik stehenden literarischen Opposition gegen die herrschenden Verhältnisse. Andererseits jedoch ist bei Müller, so Apel, »die Flucht in die Natur, wie sie den Dichtern deutscher Innerlichkeit als symbolischer Ausweg erschien, versperrt, denn in ihr entziffert sich nur, was ihr selbst und den Menschen angetan wurde«;375 das ist oben mit Rekurs auf Foucault gezeigt worden. Die »deutsche Innerlichkeit« direkt zu persiflieren scheint Müller, wenn sie im Essay Die Insel liegt innen – die Grenze liegt außen schreibt: »Wenn man auf dem Asphalt keinen Ausweg hat, empfindet man Landschaft als arrogantes Material, diese zeitliche Überlegenheit: uralte Steine, das ewiglich Fließende des Wassers, die unzählbare Wiederkehr des Laubs und der Gräser.« (K 173) Mit der Auflistung von Steinen, Wasser, Laub und Gräsern und im Besonderen mit der Wahl der Formulierung des »ewiglich Fließende[n]« zitiert sie für die romantische Naturbeschreibung konstitutive Topoi und entzaubert diese zugleich. Apel schlägt außerdem vor, die zahlreichen Gärten bei Müller als Zitate des romantischen Paradiesgartenmotivs zu lesen, wobei sie auch dieses Motiv aufnehme, um es im selben Zug zu entmystifizieren; Müllers
373 Foucault 1993, 38. 374 Apel 2000, 221. 375 Apel 2000, 227. 177
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Paradiesgarten sei fraglos fester noch verriegelt als derjenige Kleists.376 Die einzige Ausnahme, die Apel in Müllers Gestaltung der Gärten ausfindig macht, ist der Schrebergarten in Herztier, in dem die verbotenen Bücher versteckt gehalten werden. Einzig dieser Garten sei den romantischen Paradiesgärten auf ungebrochene Weise verwandt, vor allem seines verwilderten Zustands wegen. Der Wildwuchs der Pflanzen sei hier freilich Ausdruck des freien Denkens, das die versteckten Bücher bergen.377 Aber auch in diesem Garten macht sich neben dem freien Geist, auf den sich Apel konzentriert, die Angst breit und gewinnt schließlich die Oberhand, als die Ich-Erzählerin die geliehenen Bücher in das Versteck im Brunnen zurückbefördert hat und den Rückweg antritt: Ackerwinden rochen süß in den Abend, oder es war meine Angst. Jeder Grashalm stach an den Waden. Dann piepste ein verirrtes, junges Huhn im Weg und verließ ihn, als meine Schuhe kamen. Das Gras war dreimal höher als sein Rücken und schloß sich über ihm. Es klagte in dieser blühenden Wildnis und fand nicht hinaus und lief um sein Leben. Die Grillen zirpten, aber das Huhn war viel lauter. Es wird mich verraten in seiner Angst, dachte ich mir. Jede Pflanze sah mir nach. (HT 67)
Sogar die Pflanzen selbst scheinen in den Überwachungsdienst zu treten in einem Umfeld, dessen Angstklima alles andere dominiert.
376 Vgl. Apel 2000, 228f. – Bei seiner Aufzählung der versperrten Müllerschen Paradiesgärten beschränkt sich Apel auf Herztier. Er führt den dort mehrfach genannten Garten der Kindheit an, wo der Vater bei der Gartenarbeit die Erinnerung an seine SS-Vergangenheit zu vergessen sucht – er »steckt sein schlechtes Gewissen in die dümmsten Pflanzen und hackt sie ab« (HT 21) –; er erinnert außerdem an den Sommergarten der Bodega, in dem das Proletariat seinen Frust im Schnaps ersäuft (vgl. HT 37f.), und an den an anderer Stelle bereits angeführten struppigen Park, in dem Lola ihre Männer und die Ich-Erzählerin ihre Freunde trifft (vgl. HT 11 und 66). Ergänzen ließe sich die Liste der wenig paradiesischen Gärten durch den Sommergarten des Militärkasinos in Heute wär ich mir lieber nicht begegnet, in dem die Soldaten der »Eroberung schöner Frauen« nachgehen – »denn Eroberungen, sagte man, ölen die Körperscharniere und das innere Gleichgewicht« (HW 65) – und wo die Erzählerin realisiert, ihre beste Freundin an den Mann verloren zu haben, der diese zur Flucht überreden und damit in den Tod treiben wird. Und auch ihr stalinistischer Schwiegervater ist als Aufseher in einer Gärtnerei beschäftigt und dort – ins Selbstgespräch vertieft – bei den Margeriten anzutreffen (vgl. HW 209). 377 Vgl. Apel 2000, 229. 178
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Dennoch verweigert Müller nicht grundsätzlich die Denkbarkeit eines positiv besetzten Naturraums. Was sie ablehnt, ist die Vorstellung einer per se positiv besetzten Natur. Insofern erweist sich ihr Raumverständnis als konsequent konstruktivistisch: Es ist kein Raum vorstellbar, auch nicht ein Naturraum, der seiner Aufladung durch Qualitäten und Phantasmen vorgängig wäre.378 Für die Landschaften, die Müller beschreibt, heißt dies, so sei hier nochmals zusammengefasst: Wo negative Qualitäten wie Macht und Angst diese besetzt halten, ist keine Natur denkbar, die sich diesen zu widersetzen vermag. Eine einzige Stelle findet sich in einem der Essays, die den Eindruck erweckt, Müller entwerfe einen anderen Naturbegriff, der den herrschenden Machtstrukturen widerständig sei. Im ebenfalls bereits zitierten ersten Text aus Der König verneigt sich und tötet mit dem Titel In jeder Sprache sitzen andere Augen verbirgt sich eine Opposition zwischen domestizierter und wilder Natur. Wiederum über die Zeit des Kühehütens schreibt Müller dort: »Ich haßte das sture Feld, das wilde Pflanzen und Tiere fraß, um gezüchtete Pflanzen und Tiere zu füttern«, d.h. hier differenziert sie explizit zwischen verhassten Nutzpflanzen und -tieren und einer zurückgedrängten wilden Flora und Fauna, die dem »Panoptikum der Todesarten« (K 12) weichen muss. Dem Acker als nur quasi-natürlichem Raum stellt sie – in traditionell zivilisationskritischer Geste – eine ›wahre‹ Natur gegenüber, die aber nur in der Verneinung, in ihrer Nicht-Existenz benennbar ist. Das ist ein für Müller ungewöhnlicher Einschlag, der weder in den anderen Essays noch in der Prosa widerklingt. Nirgends sonst bei Müller sind Passagen anzutreffen, in der eine solche unbeschadete Natur, wie sie bei Sebald in einem nostalgischen Rückblick auf die vorindustrielle Epoche projiziert wird, aufgerufen würde. Das verwundert insofern nicht, als sich Müller für nostalgische wie utopische Konzepte grundsätzlich nicht interessiert bzw. diese ablehnt.379 In dem älteren, vielfach zitierten Essay Zehn Finger werden keine Utopie aus dem Band Hunger und Seide hat sie dargelegt, inwiefern für jedweden Utopieentwurf der Versuch, Einzelheiten in ein Ganzes zu zwingen, konstitutiv ist und dies letztlich in eine Form totalitären Denkens mündet oder zumindest in dessen Nähe führt.380 Auch in den Landschaftsdarstellungen ist gemeinhin, das betont auch Apel, ihre Abwehr des Utopischen zu sehen. Es würde auch hier, formuliert er, »die Kategorie des Ganzen, die die literarische Naturerfah378 Vgl. hierzu die folgenden Ausführungen »Syntheseleistungen – zum Zusammenhang von Raumkonstitution und Wahrnehmung«, 180ff. 379 Zu Müllers Zurückweisung jedweder Utopie ist viel geschrieben worden. Vgl. z.B. Gropp 1997, Dawidowski 1997, Müller 2002, 53f. 380 Müller 1997a. 179
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rung immer wieder beschäftigt hatte, mit totalitärer Ideologie in Verbindung gebracht«.381 Ebenso hat der nostalgisch rückblickende Entwurf einer angeblich besseren Vorzeit, die rückwärtsgewandte Utopie sozusagen, bei Müller keinen Platz. Wer sich intensiv mit seiner Gegenwart befasse, führt sie in einem der neusten Essays aus, behalte zwangsläufig auch Vergangenes in bewegter, niemals in nostalgisch stillgestellter Erinnerung (vgl. K 122). Weder ihre korrumpierten Landschaften noch ihre versperrten Paradiesgärten fungieren wie die Sebaldschen Ruinenlandschaften als Signaturen eines ausgreifenden Lamentos angesichts eines vergangenen, verloren geglaubten Naturzustands. Sie sind nicht Teil einer Klage, sondern einer Anklage.
R ä u m e a u s D i ng e n u n d K ö r p e r n : relationale Anordnungen von Materie Syntheseleistungen – zum Zusammenhang von Raumkonstitution und Wahrnehmung Im Essay Gegenstände, wo die Haut zu Ende ist beschreibt Herta Müller folgendes Gedankenexperiment aus ihrer Kindheit: Ich sah der Reihe nach alle Gegenstände an, die man zusammen Zimmer nannte, oder Hof, oder Mittagstisch. Ich versuchte, mir alles, was ich sah, bei dem, was man Zimmer nannte oder Hof, wegzudenken. Da blieb mir nichts mehr. Die Orte selbst verschwanden. Zusammen mit mir. (TS 90)
Inwiefern die Räume, die Müller in den essayistischen wie den Prosatexten entwirft, einem streng konstruktivistisch bzw. relativistischen Raumverständnis entsprechen, klang im vorherigen Kapitel bereits kurz an. Es sei, so ist dort im Zusammenhang mit Müllers Naturbegriff gesagt worden, bei Müller kein Raum vorstellbar, der seiner Besetzung durch Qualitäten und Phantasmen vorgängig wäre. Dem soll hier nun genauer nachgegangen werden. Schon der erste Satz in der zitierten Passage, ist bemerkenswert: Die Rede ist von »alle[n] Gegenstände[n] [...], die man zusammen Zimmer nannte, oder Hof«. Die ungenannten Objekte – Möbel, Gebrauchsgegenstände, eventuell Nippes usw. – füllen hier nicht den Raum, sondern sie bilden ihn, d.h. Müller arbeitet hier mit einer Konzeption von Raum, die mit der euklidischen Vorstellung eines ContainerRaums ganz ausdrücklich bricht. Das Zimmer und der Hof werden nicht 381 Apel 2000, 222. 180
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als den Gegenständen vorgängig gedacht, sie sind vielmehr Produkte der Ansammlung bestimmter, für den entsprechenden Raumtyp charakteristischer Objekte. Foucault schlägt vor, um die »Gemengelage« von Beziehungen, die unsere Lebensräume bilden, klarer bestimmen zu können, zuerst eine »Beschreibung dieser verschiedenen Plazierungen« zu versuchen.382 Er gebraucht hier den Begriff des Relationenensembles, d.h. des Geflechts von Beziehungen, die einen Raum bestimmen. Dieses Geflecht zu entwirren und die einzelnen Bestandteile desselben zu beschreiben, sei der entscheidende Schritt zum Verständnis eines Raums. So könnte man, führt er als Beispiel an, »das Ensemble der Relationen beschreiben, die die Verkehrsplätze definieren: die Straßen, die Züge [...]. Man könnte ebenfalls mit seinem Beziehungsnetz den geschlossenen oder halbgeschlossenen Ruheplatz definieren, den das Haus, das Zimmer, das Bett bilden [...].«383 Was Müller in der anfangs zitierten Passage vorführt, ist im Grunde exakt das, was Foucault zu Analysezwecken zu tun rät, aber unter umgekehrten Vorzeichen: Die Beschreibung der Platzierungen erfolgt bei Müller über die Verneinung, das »Ensemble der Relationen« wird hier geschildert, indem sich das Kind vorstellt, dieses würde ausgelöscht. Es versucht sich auszumalen, wie die Eltern »herumgehen im Leeren [...], Mutter und Vater im Nichts«; in diesem Nichts, so phantasiert es weiter, gäbe es keine Arbeit für sie. Es gäbe nur sie selber für sich und einer für den anderen. Sie müßten sich selber, und einer den anderen, und ich mich, und jeder jeden langsam und immer zerstören. [...] Das taten sie auch. Und ich. Doch weil es die Gegenstände gab, fiel das nicht so auf, als wenn sie sich, und jeder jeden, ohne Gegenstände hätten zerstören müssen. (TS 90f.)
Zweierlei Gemengelagen scheinen hier im häuslichen Raum einander zu überlagern: Zum einen die personale bzw. emotionale, d.h. die offensichtlich verheerenden Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern, und zum anderen die Anordnung der Dinge, deren Funktion darin zu bestehen scheint, den unaufhaltsam vonstatten gehenden Zerstörungsprozess als normales Familien- und Arbeitsleben zu tarnen.384 Das Kind 382 Foucault 1993, 38. 383 Foucault 1993, 38. 384 In den Niederungen heißt es analog dazu über die banatschwäbischen Mütter: »[I]hre Köpfe hängen voll mit der Suche nach Abwesenheit und Flucht vor sich selbst. Sie gehen einen Tag lang aus sich heraus in das Holz und Tuch und Blech ihres Haushalts.« (N 60) Das geschäftige Wer181
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nimmt beide Gemengelagen, die seinen Lebensraum konstituieren, und deren Zusammenwirken in seiner Alternativlosigkeit wahr, denn, wie eingangs zitiert: Versucht es, das Zimmer oder den Hof ohne diese Platzierungen von Familienmitgliedern und Gegenständen zu denken, verschwinden »die Orte selbst« (TS 90). Anders als Foucault, aber gewissermaßen in dessen Spuren, entwickelt Martina Löw in ihrer 2001 erschienenen Raumsoziologie eigene Analysemuster und eine entsprechende Terminologie zur genauen Untersuchung von Raumgenesen. Während Foucault im Anschluss an oben zitierten Vorschlag diesen nicht auszuführen und umzusetzen versucht, sondern dazu übergeht, seine vielzitierte Idee der Heterotopien zu entwickeln, macht sich Löw in ihrem Kapitel »Die Konstitution von Raum« daran, dem innerhalb der Soziologie, aber auch in den alltäglichen Raumvorstellungen nach wie vor virulenten Modell des Behälter-Raums einen streng relativistisch gedachten Raumbegriff entgegenzusetzen. Zentral in ihrer Argumentation ist die Aufhebung der strukturellen Trennung von Raum und Materie. Räume bestünden, so Löw, immer aus angeordneter Materie, jeder Raum sei eine relationale Anordnung von Körpern, wobei sie unter Körpern sowohl Raumbegrenzungen wie Wände, Türen etc. als auch im Raum befindliche Gegenstände und Menschen versteht – das entspricht insoweit den Foucaultschen Platzierungen. Ihre Ausgangsthese konkretisierend formuliert sie: Raum ist eine relationale (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern. Die Einbeziehung von Menschen in das Verständnis von Räumen ist ungewöhnlich, da gemeinhin Räume selbst in relationalen Konzepten als (An)Ordnungen von Dingen dem Sozialen gegenübergestellt werden [...], und erschwert zunächst das Nachdenken über Räume. Es ist aber notwendig, da Räume [...] unter Einbeziehung der anwesenden Menschen konstituiert werden.385
Auch dieser Gedankengang, dass sich Räume immer durch Menschen generieren, findet sich bei Müller in quasi umgekehrter Narrationsrichkeln mit den Haushaltsgegenständen kaschiert die Verlorenheit der Frauen, die Anwesenheit der Dinge verbirgt die Sinnlosigkeit ihres Tuns. In der Wahrnehmung des Kindes, das noch nicht eingebunden ist in diese Geschäftigkeit, funktioniert die Täuschung jedoch nicht. Es bemerkt beispielsweise – im Unterschied offenbar zur Mutter selbst –, dass deren tägliches Aufwischen der Böden die Dielenbretter im gesamten Haus langsam aber sicher faul werden lässt (vgl. N 69). Es nimmt wahr, wie sich das geschundene Material bereits rächt für die undankbare Aufgabe, die es im Alltagsleben der Erwachsenenwelt zu übernehmen hat, d.h. wie die Dinge gegen ihre reine Funktionalisierung rebellieren. 385 Löw 2001, 154f. (Hervorhebung im Original.) 182
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tung wieder, wenn es im Einganszitat heißt, bei dem Versuch, die Gegenstände wegzudenken, »die man zusammen Zimmer nannte, oder Hof«, verschwänden nicht nur die Orte selbst, sondern diese Orte »[z]usammen mit mir« (TS 90). Löst sich das Geflecht aus Gegenständen und Menschen, das den Raum bildet, auf, bleiben die einzelnen Komponenten nicht unabhängig von den anderen bestehen, sondern gehen mit dem Geflecht selbst verloren. Das Müllersche Kind ist in diesem Fall im Raum anwesender, d.h. platzierter Mensch und zugleich die diesen Raum wahrnehmende Instanz. Was sagt dies über Müllers Raumverständnis aus? Inwiefern stehen ihr Raumverständnis und ihr Wahrnehmungsbegriff in engstem Zusammenhang? Wie in der Einleitung dieser Studie bereits angemerkt, ist im Rahmen der Neukonzeption von Raum, wie Löw sie vorschlägt, eine Differenzierung zwischen Raumkonstituierung und -perzeption nicht mehr sinnvoll. Wenn die Raumgenese als nicht mehr vorgängig zu denken ist, fallen Wahrnehmung und Konstituierung in eins. Löw unterscheidet nun zweierlei Prozesse der Raumkonstitution: Neben dem Platzieren von sozialen Gütern und Menschen, das sie Spacing nennt, bedürfe es »zur Konstitution von Raum auch einer Syntheseleistung, das heißt, über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsleistungen werden Güter und Menschen zu Räumen zusammengefaßt«.386 Spacing und Syntheseleistung sind keine unabhängig voneinander zu denkenden Prozesse, einer kann ohne den anderen nicht stattfinden; Löw trennt sie allein zu Analysezwecken. Bei der Analyse des Spacing müsse, schreibt sie, stets berücksichtig werden, dass grundsätzlich mit allen Platzierungen auch Machtverhältnisse ausgehandelt würden.387 Im vorigen Kapitel ist zu sehen gewesen, inwiefern sämtliche Räume bei Müller immer machtbesetzte Räume sind. Fraglos ist aber derjenige Aspekt der Konstituierung von Raum, der Müller weitaus stärker noch interessiert, der der Syntheseleistung. Entscheidend an der Syntheseleistung, d.h. an der Kombination von »Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsleistungen«, mittels derer »Güter und Menschen zu Räumen zusammengefasst« werden, ist die Variabilität und Dynamik, die diesem Modell inhärent ist: Ein Zimmer ist niemals dasselbe, wenn die Konstitution desselben davon abhängt, wer zu welchem Zeitpunkt und in welcher Verfassung dieses Zimmer betritt und welche Erinnerungen und Assoziationen sie oder ihn an den Raum binden. Dieser Gedankengang ist ausschlaggebend für die Raumbeschreibungen Müllers.
386 Löw 2001, 159. 387 Vgl. Löw 2001, 164. 183
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Basis ihrer intensiven Beschäftigung mit Wahrnehmungsfragen sowohl in der Prosa als auch in den Essays ist ihre Verweigerung hierarchisierender Kategorisierungen differenter Wahrnehmungsmodi. Die psychologisierenden und an Traumatheorien orientierten Ausdeutungen ihrer Literatur, die die gegenwärtige Müller-Forschung dominieren,388 zielen m.E. auch deswegen so deutlich an den Texten vorbei, weil sie dies übersehen. Denn um Müller als Expertin für die literarische Repräsentation einer traumatisierten Weltwahrnehmung beschreiben zu können, wird dort immer zunächst unterschieden zwischen einer unbeschadeten und einer beschädigten Wahrnehmung. Es soll hier sicher nicht behauptet werden, es würde in Müllers Prosa nicht auch von Traumatisierungen erzählt. Die Lebensumstände ihrer Figuren, die ständige Kontrolle und Bedrohung durch andere, haben diese ohne Zweifel in einen traumatisierten Zustand versetzt und deren Welt- und Selbstwahrnehmung verändert. Interessant ist nun aber gerade, wie eingangs bereits erwähnt, dass Müller von der Beschreibung dieser spezifischen Wahrnehmungsveränderungen zu Fragestellungen überleitet, die sich mit Wahrnehmungsstrukturen im Allgemeinen befassen und somit weit hinausreichen über die Thematik der Situation politisch Verfolgter. Entscheidend bei Müller ist entsprechend, dass sie über die Unterscheidung zwischen einer traumatisierten und einer ›normalen‹ Wahrnehmung hinausgeht. Wenn sie im zitierten Essay Gegenstände, wo die Haut zu Ende ist schreibt, »Dimensionen spielen in der Wahrnehmung keine Rolle. Die Fingernägel können größer werden als ein Blick über die Dächer« (TS 94f.), dann ist hier mit der »Wahrnehmung« nicht zwingend die eines/r Traumatisierten gemeint. Fraglos steht nach Müllers Verständnis jede Perzeption auch mit dem Zustand der wahrnehmenden Person in engstem Zusammenhang – »[w]as können wir denn sonst tun durch alles, was wir tun, als das, was innen ist, nach außen tragen« (TS 95), fügt sie an. Es gibt zahlreiche Passagen bei Müller, die zu einer psychologisierenden Deutung auch der Raumbeschreibungen durchaus einladen, wenn z.B. die Ich-Erzählerin in Heute wär ich mir lieber nicht begegnet den Finger entdeckt, der vom Geheimdienst in ihre Tasche geschmuggelt worden sein muss, und es im Text an dieser Stelle heißt: »Der Kiosk rutschte auf mich zu, an den Lichtstrahlen nach vorn gezogen.« (HW 160) Natürlich beschreibt der Text hier eine Veränderung der Raumwahrnehmung der Figur, die deren psychischer Verfassung geschuldet ist. Es geht nicht darum zu behaupten, Müller enthalte sich jeglicher Beschreibungen psychischer Zustände. Dennoch ist Hoffmann/Schulz zumindest mit Einschränkung zuzustim-
388 Vgl. Marven 2005a, Marven 2005b, Haines 2002, Eddy 2000. 184
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men, wenn sie – im Hinblick auf Der Fuchs war damals schon der Jäger, das ließe sich aber auf die anderen Texte ausweiten – von einem »Verzicht auf eine tiefergehende Figurenpsychologie« sprechen.389 Denn es finden sich bei Müller nirgends gängige Beschreibungen innerer Gefühlswelten. Vielmehr erzählt sie von der psychischen Verfassung ihrer Figuren, indem sie sich auf Veränderungen, Verschiebungen und Irritationen in deren Verhältnis zur Außenwelt konzentriert. Bei Müller kommt ein Menschenbild zum Tragen, das dem Norbert Elias’ sehr verwandt zu sein scheint. Elias hat Zeit seines Lebens gegen das Bild des homo clausus opponiert und u.a. Freud dafür kritisiert, den Menschen als geschlossene Einheit zu beschreiben.390 Müller vorderstes Interesse gilt dem Menschen als Teil eines Geflechts, einer Foucaultschen »Gemengelage«. Daher werden ihre Figuren ständig im Kontakt mit Anderem, anderen Menschen bisweilen, meist aber mit Gegenständen als den entscheidenden anderen Raumkomponenten, gezeigt. Was den Menschen mit den anderen Komponenten der jeweiligen »Gemengelage« verbindet, ist immer zuerst seine Wahrnehmung derselben. Wenn Müller nun von einem sich bewegenden Kiosk, von Landschaften, aus denen man hinauskatapultiert wird, oder dergleichen erzählt, ist man geneigt zu fragen: Verändert sich nun der entsprechende Raum tatsächlich oder handelt es sich hierbei um die Schilderung eines veränderten Wahrnehmungsmodus? Und sicherlich würde man vorerst dazu tendieren, der zweiten Annahme zuzustimmen. Aber auf diese Frage wird es keine zufrieden stellende Antwort geben, denn die Opposition, auf die sie sich gründet, ist Müller fern. Die einzig mögliche Antwort könnte entsprechend nur sein: Beides, sowohl der Raum als auch die Perzeptionsweise sind verändert, bzw. der Raum hat sich – Löws Modell der Syntheseleistung gemäß – mit der Wahrnehmung gewandelt. Der rutschende Kiosk ist insofern nicht weniger ›wahr‹ als andere, gängigen Raumerfahrungen entsprechende Beschreibungen. Müllers oben zitierte Aussage, Dimensionen spielten in der Wahrnehmung keine Rolle, ist 389 Hoffmann/Schulz 1997, 88. 390 Vgl. Elias/Scotson 1994, 174ff. Die Autoren kritisieren dort, sich auf Louisa P. Howe und Erik. H. Erikson berufend, den beschränkten Radius der Psychoanalyse, d.h. deren Konzentration auf den Einzelmenschen bzw. die Kleinfamilie. Sie zitieren Louise P. Howe, die schreibt, es sei überraschend, »that Freud clung so tenaciously to his idea of primal murder and to the postulation that unconcious memories of this and other ›historic‹ events are passed on through biological inheritance, when he himself described so insightfully the kind of social inheritance that occurs by means of identification«. (Elias/Scotson 1994, 175.) Vgl. auch Elias 1993, 147ff. 185
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durchaus ernster zu nehmen, als man zunächst vielleicht geneigt ist zu tun. Die Dimension ist hier als Inbegriff des Geordneten, Gerasterten zu verstehen. Es geht Müller nicht um die Gegenüberstellung einer wohldimensionierten Welt und der verschobenen Wahrnehmung derselben durch einen traumatisierten Blick, sondern darum, jede Dimensionierung als Akt zu kennzeichnen, der der Wahrnehmung zunächst nicht notwendig eigen ist. Das hier längst fällige Stichwort aus Müllers eigener poetologischen Terminologie ist ihr, wie Rohberg sagt, »Programmwort« der ›erfundenen Wahrnehmung‹.391 Die ›erfundene Wahrnehmung‹ kann zweifellos als der prominenteste Begriff aus Müllers essayistischem Werk gelten, den sie im Band Der Teufel sitzt im Spiegel in den beiden ersten Essays Wie Wahrnehmung sich erfindet und Wie Erfundenes sich im Rückblick wahrnimmt einführt und erläutert. Müller beschreibt dort einen Modus der Weltwahrnehmung, der, anders als ein objektivierender Blick, nicht von rubrizierenden, kategorisierenden Wahrnehmungsrastern präformiert und eingeschränkt ist. Sie will jedoch – und das ist m.E. ausschlaggebend – diese ›erfundene Wahrnehmung‹ als nicht geschieden von der alltäglichen Wahrnehmung verstanden wissen, sondern, wie sie schreibt, als »das lückenlose Einsinken in die Wahrnehmung« (TS 40). D.h. die ›erfundene Wahrnehmung‹ ließe sich als ein intensiviertes, eventuell hypersensibilisiertes Wahrnehmen beschreiben, das aber zu anderen Modi der Perzeption nicht in einem Verhältnis der Abgrenzung steht. Vielmehr scheint die ›erfundene Wahrnehmung‹ »einen Tiefenraum unter der lebensweltlichen Wahrnehmung« zu bilden, wie Stephan Düppe formuliert,392 einen Tiefenraum, der jederzeit oberflächenwirksam werden kann. »Überall«, schreibt Müller in Wie Wahrnehmung sich erfindet, »wo Menschen sich befinden, oder hinsehen, werden sie selbst, wird das, was sie sehen, eine Möglichkeit für das Unvorhersehbare« (TS 18) – als Beispiel für dieses »Unvorhersehbare« ließe sich der in Bewegung geratene Kiosk anführen. Die Fähigkeit oder die Notwendigkeit, dieses »Unvorhersehbare« wahrzunehmen, steht Müller zufolge nicht zwingend mit der Profession des Kunstschaffens in Verbindung. Im Gespräch mit Wolfgang Müller führt sie dies aus: »Ich glaube«, sagt sie dort, »es gibt nur eine Welt. Das was du glaubst, daß da eine zweite dahinter entsteht, das gehört für mich in die erste Welt hinein. Ich glaube, die Poesie ist in der Welt, nicht in der Sprache. Die Poesie der Sprache ist ein Nonsens, es gibt die Poesie
391 Rohberg 1997, 28. 392 Düppe 1997, 156. 186
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der Welt«.393 Den Begriff der Poesie gebraucht Müller hier synonym zu dem oben zitierten des »Unvorhersehbare[n]«, das bedeutet, der »Poesie der Welt« zu begegnen meint jenes »lückenlose Einsinken in die Wahrnehmung«, das die ›erfundene Wahrnehmung‹ kennzeichnet. Der Zusammenhang zwischen Poesie in diesem Müllerschen Sinn und Literatur ist also nicht dergestalt, dass das Poetische der Literatur vorbehalten sei.394 Aber, so ließe sich an ihren Kommentar anfügen, die literarische Sprache findet Wege, die »Poesie der Welt« zum Vorschein zu bringen. Welche konkreten Wege Müllers Literatur einschlägt und wie sie aus dem Perzeptionsmodus der ›erfundenen Wahrnehmung‹ erzählerische Verfahren ableitet, die für ihre Texte charakteristisch sind, wird im Folgenden anhand der Funktion der Gegenstände genauer besehen.
Räume aus Gegenständen In der Textpassage, anhand derer in den Zusammenhang von Raumkonstitution und Wahrnehmung eingeführt wurde, stehen materielle Objekte an prominenter Stelle.395 Nicht nur in den Essays, auch in der Prosa Müllers spielen Gegenstände eine entscheidende Rolle. Ihre Figuren sind ausgesprochen häufig in oftmals irritierendem Kontakt mit Dingen des Alltagslebens anzutreffen. Die exponierte Stellung der Gegenstände bei 393 www.dickinson/glossen/heft1. Zitiert nach Apel 2002, 41. Vgl. dazu auch ihre Kommentierung dessen, was sie den ›Fremden Blick‹ nennt, ein weiteres ihrer Programmwörter: Es sei, betont sie, »ein Mißverständnis der Literaturprofis, [...] den Fremden Blick für eine Eigenart der Kunst [zu halten], eine Art Handwerk, das Schreibende von Nichtschreibenden unterscheidet« (K 144). 394 Vgl. hierzu Apels Kommentierung des Metapherngebrauchs bei Müller: »In der Metaphernbildung, also im Vorgang der Übertragung, sind fundamentale Prinzipien der Wahrnehmung und des Denkens abgebildet, die als Sprachbilder in der konkreten Erfahrung der physischen Umgebung wie zugleich in der Körperlichkeit und im emotionalen Erleben des wahrnehmenden Subjekts wurzeln.« (Apel 2002, 42.) – Die »Poesie«, um Müllers Wortwahl treu zu bleiben, bzw. das Metaphorische ist nicht erst in der Niederschrift der Weltwahrnehmung, sondern im Wahrnehmungsvorgang selbst schon enthalten. Bereits für diesen Übertragungsprozess des Wahrnehmens ist eine Figur der Unterbrechung konstitutiv. 395 Die Passage sei hier nochmals kurz wiederholt: »Ich sah der Reihe nach alle Gegenstände an, die man zusammen Zimmer nannte, oder Hof, oder Mittagstisch. Ich versuchte, mir alles, was ich sah, bei dem, was man Zimmer nannte oder Hof, wegzudenken. Da blieb mir nichts mehr. Die Orte selbst verschwanden. Zusammen mit mir.« (TS 90) 187
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Müller – das soll im Folgenden anhand eines exkursartigen Blicks auf dieselben expliziert werden – hat vor allem damit zu tun, dass den Dingen hier etwas eignet, das die ›erfundene Wahrnehmung‹ besonders herauszufordern scheint. In der Konfrontation mit den Gegenständen öffnet sich besagter »Tiefenraum« offenbar mit Vorliebe. In ihrem 2003 veröffentlichten Essay Einmal anfassen – zweimal loslassen (K 106-129) erläutert Müller den Stellenwert, den Dinge in ihrem Denken und Schreiben besitzen. Sie formuliert dort aus, was für ihre Prosa konstitutiv ist. Müller beginnt den gut zwanzigseitigen Text, der als Vorlesung für die Tübinger Poetikdozentur im Jahr 2000 entstand, indem sie sich einer Zugreise kurz nach ihrer Übersiedlung in die BRD Ende der achtziger Jahre erinnert. Damals warb die Deutsche Bahn für das Reisen im Schlafwagen mit einem Werbebild, das eine entspannte junge Frau in einem weißen Nachthemd mit Spitzenträgern zeigte; überschrieben war dieses Foto mit der Zeile »Inge Wenzel auf dem Weg nach Rimini« (K 107). Dieses Nachthemd löst in Müller dreierlei Erinnerungen aus: Zum einen fühlt sie sich durch den Anblick des Kleidungsstücks in die Zeit ihrer Adoleszenz zurückversetzt, als die Großmutter ihr ein ähnliches »Nachthemd mit dreifingerbreiten Trägern« genäht hatte, weil sie »demnächst aufs Lyzeum in die Stadt gehen« und dafür mit adäquater »Stadtwäsche« (K 111f.) ausgestattet sein sollte. Zum anderen erinnert sie diese Inge Wenzel der Deutschen Bahn an eine frühere Reise »in einem Schlafwagen, acht Stunden durch die Winternacht von Temeswar nach Bukarest. Die Reise wurde damals Todesangst.« (K 113) In der Tasche trug sie in dieser Nacht diverse Listen in Rumänien Inhaftierter, die ins Ausland geschmuggelt werden sollten. Auf dem Bahnsteig hatte der Geheimdienst sie festgehalten und bedroht. Dass man sie dennoch fahren ließ, gab ihr Anlass zu der Annahme, man wolle sie während der Fahrt aus dem Zug stoßen. Entsprechend hatte sie die Mitreisende in ihrem Schlafwagenabteil in Verdacht, Mitarbeiterin der Securitate zu sein. Diese Frau trug nun ebenfalls ein ähnliches »weißes Nachthemd mit gehäkelten Trägern« (K 117). Die dritte Erinnerung ist die an ein billiges Polyesternachthemd, »ein ungarische[s] Imitat«, das der Freund, mit dem Müller, wie sie berichtet, vor ihrer Ausreise in die BRD einen Großteil ihrer Sachen auf dem Flohmarkt verscherbelte, dort als »Fickhemdchen« (K 120) anpries. Dieser Freund wurde zwei Jahre später vom Geheimdienst erhängt (vgl. K 121).396 Die Vieldeutigkeit, die dieses Nachthemd auf dem Werbefoto besitzt, bündelt ganze Lebensabschnitte und zwingt diejenige, die sich mit dem Foto konfrontiert sieht, sich dieser Vergan-
396 Seine Geschichte schlägt sich in der Figur Kurts in Herztier nieder. (Vgl. HT 251.) 188
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genheiten zu entsinnen. In Inge Wenzels Schlafgewand stecken das »Dorfabschiedshemd« (K 119) und mit ihm die banatschwäbische Kindheit und Jugend ebenso wie das Nachthemd der Frau im Schlafwagen nach Bukarest und das »Fickhemdchen« mitsamt den daran geknüpften Erinnerungen an Verfolgung und Todesdrohungen durch den Geheimdienst. Die Polysemie der Gegenstände, die Müller hier im Essay am Beispiel des Nachthemds erläutert, wird in der Prosa niemals derart expliziert, sondern verdeckt eingesetzt: Während im Essay in aller Ausführlichkeit die Narrative, die das Kleidungsstück aufruft, einzeln benannt und somit die Mehrdimensionalität und vielschichtige Bedeutung des Gegenstands erklärt werden, spart die Prosa diese Erläuterungen aus bzw. stellen sich die erhellenden Zusammenhänge, die den Stellenwert des jeweiligen Gegenstands klären, erst im fortlaufenden Text her. Es war bereits die Rede davon, dass sich Müllers Erzähltexte aus komplex arrangierten und montierten Großaufnahmen von Details zusammensetzen. Weil diese Großaufnahmen nun häufig Gegenstände ins Bild setzen, entstehen mittels der parataktischen Montage dieser Close-ups Texte, in denen die Gegenstände bzw. Wörter oder Wortgruppen, die Dinge benennen, eine ausschlaggebende Funktion für die Textkonstitution besitzen. Dem Rezipienten erschließt sich das Erzählte in dem Maß, in dem diese Dingwörter im Fortgang des Texts mit Bedeutung aufgeladen werden. Eine führende Rolle in Herztier beispielsweise, dem Text, in dem dieser Erzählmodus am konsequentesten durchexerziert wird, spielen die Begriffe ›Nagelschere‹, ›die Nuss‹, ›Blechschafe‹ und ›Holzmelonen‹, die ständig in mehr oder weniger stark variierenden Zusammenhängen wiederkehren.397 An dieser Auswahl zeigt sich bereits, dass Müller vornehmlich mit Begriffen arbeitet, die außerhalb des Erzählkontexts eher banal klingen, wie ›die Nuss‹ und die ›Nagelschere‹, oder, wie die Neologismen ›Blechschafe‹ und ›Holzmelonen‹, wenig assoziationsreich sind. Während der ersten Male, die man ihnen im Text begegnet, wirken sie ausgesprochen befremdlich und lassen die Lesenden zunächst etwas ratlos zurück: Was ist anzufangen mit einem Kompositum wie dem ›Blechschaf‹, bei dem auch die beiden Wortteile einander fremd zu sein scheinen?398 Erst durch den Zusammenhang, den der Romantext eröffnet, 397 Vgl. Schmidt 1998, 61ff. 398 Im Verlauf des Texts zeigt sich, dass mit den ›Blechschafen‹ und ›Holzmelonen‹ all diejenigen Produkte gemeint sind, die in der metall- bzw. holzverarbeitenden Industrie hergestellt werden. Die ›Schafe‹ und ›Melonen‹ erinnern daran, dass die Arbeiter in der Industrie ursprünglich ihre Dörfer und die landwirtschaftlichen Betriebe verlassen hatten, um ein 189
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werden die Wörter mit Signifikanz versehen, stellen Verbindungen zueinander her und bilden somit das zunehmend vielschichtige Textgewebe.399 Natürlich beschreibt das einen Vorgang, der sich in gewissem Maß innerhalb eines jeden Texts vollzieht, sogar unabhängig von dessen Literarizität; immer entsteht das Bedeutungsgefüge erst mit dem Fortschreiten des Texts. Müller geht jedoch einen Schritt weiter. Indem sie als tragende Begriffe Wörter wählt, die auf den ersten Blick nur einen belanglosen Haushaltsgegenstand zu benennen oder nicht viel Sinn zu ergeben scheinen, am Ende des Texts jedoch polysemisch schillern, lässt sie diese Semantisierungsprozesse sichtbar werden, mehr noch: Sie stellt diese Prozesse aus. Diesem Sachverhalt ist es geschuldet, dass der Einstieg in die Prosatexte Müllers, anders als in die Essays, gemeinhin als beschwerlich gilt. Immer wieder fällt in den Rezensionen und seltener auch in der Forschungsliteratur der – mit latentem Vorwurf aufgeladene – Begriff der Hermetik. Dagegen wendet Ralph Köhnen zu Recht ein, dass bei Müller prinzipiell »nicht so sehr hermetische Verschlüsselung, sondern vielmehr ein idiosynkratisch überformter Intratext mit dichtesten Verknüpfungen vorliegt«, denn es würden dort vielfach »Dinge zusammengedacht, weil sie simultan erfahren werden, nicht weil sie per se Ähnlichkeit hätten«.400 Dass es nun materielle Gegenstände sind, die disparate Erfahrungen und Narrative zusammenzwingen, kommt nicht von ungefähr. In Einmal anfassen – zweimal loslassen resümiert Müller gegen Ende: Mir kommt es vor, als bestimmten die Gegenstände, wann, wie und wo einem vergangene Situationen und Menschen einfallen. [...] Es sind immer wieder die Gegenstände, die untereinander ihre eigene Komplizenschaft aufbauen, die Personen und Vorgänge um sie herum fügen sich ihnen. [...] Frappierend wie Überfälle schleppen die Gegenstände von jetzt meine Geschichten von damals herbei. In ihnen sitzt latent das Zeitübergreifende, funkelt mit seinen grellen Einzelheiten, bevor es sich wieder in die Gegenstände zurückzieht. (K 121f.)
ganz anderes Leben in der Stadt zu beginnen. Sie ahnten nicht, wie stark die Parallelen zwischen der Arbeit auf dem Land und der in der Stadt sein würden. 399 Vgl. hierzu Müller 1997c, 119f.: »In der Bildlichkeit von Herztier tut sich eine Divergenz des Materials auf: Neben eindeutigen Bilddefinitionen stehen zentrale Motive, die in wechselnden Zusammenhängen und in assoziativer Verbindung zu anderweitigen Textstellen ein bewegliches, nicht endgültiges Feld von Deutungen evozieren. Die Reflexion von Herztier offenbart die innewohnende Dynamik des Textes.« 400 Köhnen 1997b, 124. 190
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Müller schreibt den Gegenständen ein Eigenleben zu, das gewöhnlich im Verborgenen zu sein scheint, aber dort ungebremst zum Vorschein kommt, wo für diese versteckte Dimension der Gegenstände empfängliche Blicke auf diese Dinge treffen – und die der ›erfundenen Wahrnehmung‹ zugehörigen Blicke weisen diese Empfänglichkeit zweifellos auf. Dass eine irritierende, befremdende Begegnung zwischen der mit dem Ding in Berührung kommenden Figur und dem Gegenstand selbst stattfindet, ist also – das gilt es hervorzuheben – nicht allein der Perzeptionsweise des jeweiligen Menschen zuzuschreiben, sondern wird durch das spezifische Zusammentreffen von Wahrnehmendem und dem Ding ausgelöst. An anderer Stelle formuliert Müller: »Erst wenn das Unmaß das, was in den Dingen steckt, berührt, wird es nach außen hin sichtbar.« (TS 41)401 Müllers Terminus des Unmaßes, den sie selbst an keiner Stelle definiert, steht in engem Zusammenhang mit der ›erfundenen Wahrnehmung‹: Die ›erfundene Wahrnehmung‹ ist eine unmäßige, denn, wie ausgeführt, unterscheidet sie sich von anderen Perzeptionsmodi durch das Fehlen eines rubrizierenden, Maß haltenden Rasters. Anders als der Blick desjenigen, der nur die Oberfläche, nicht aber den »Tiefenraum« der Gegenstände wahrnimmt, sieht der unmäßige Blick der ›erfundenen Wahrnehmung‹ in die Dinge hinein und trifft dort auf deren verborgenes Eigenleben. Rohberg spricht bezüglich des Müllerschen Unmaßes von einem »Überschuß an ästhetischem Sinn«;402 das ist dann irreführend, wenn sich der Begriff des ästhetischen Sinns auf den dominanten, aus dem 19. Jahrhundert stammenden Ästhetik-Begriff bezieht und nicht auf die ursprüngliche Bedeutung von aisthesis (›Wahrnehmung‹). Denn, wie gesehen, ist die unmäßige ›erfundene Wahrnehmung‹ zum einen nicht notwendig an eine künstlerische gebunden, wenngleich sie literarisch nutzbar gemacht werden kann. Zum anderen ist wichtig festzuhalten, dass in Müllers Konzeption der Dingwahrnehmung das Ding selbst, wie angesprochen, zur verstörenden Begegnung und ebenso zu der Möglichkeit einer künstlerischen Umsetzung dieses Irritationsmoments einen hohen Anteil beiträgt. Es ist weniger einer Projektions- oder Übertragungsleistung des Menschen geschuldet, dass in der Begegnung mit dem Gegenstand dessen verborgene Dimension zu entdecken ist, sondern vielmehr eine Frage der Empfänglichkeit. In Abhängigkeit von der Weise 401 Vgl. auch den für den Band titelgebendenden Essay Der König verneigt sich und tötet, dort heißt es an einer Stelle: »Das Material, aus dem die Gegenstände bestehen, erfuhr beim Hinsehen jene Zuspitzung, mit der im Kopf der Irrlauf beginnt. Das Gewöhnliche der Dinge platzte, ihr Material wurde zum Personal.« (K 49) 402 Rohberg 1997, 30. 191
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des Menschen, dem Ding entgegenzutreten, nimmt dieser jene Dimension wahr oder nicht – vorhanden ist sie jedoch immer. In der Einleitung zu ihrem Band Umordnungen der Dinge schreiben Gisela Ecker und Susanne Scholz, dass die Gegenstände häufig ein Eigenleben entwickelten, sei zurückzuführen auf einen gewissen den Dingen inhärenten Überschuss, der sich der Einsortierung in ein Ordnungsgefüge widersetze. Dieser Überschuss verursache, daß sie immer wieder umbewertet, anders geordnet und in neue Sinngebungsprozesse eingefügt werden bzw. diese hervorbringen können. Dinge erzählen Geschichten, Objekte oder Arrangements von Objekten repräsentieren Subjekte, funktionieren als Projektionen derer, die sie besitzen oder begehren, oder als ihr alter ego, erzeugen jedoch einen Überschuß an Materialität oder Dinghaftigkeit, der nicht im Dienst des Subjekts aufgeht.403
Mit diesem Überschuss ist genau die Dimension des Dings benannt, die in keiner Signifizierung aufgeht und die hier bei Müller nun mit der für diesen Überschuss empfänglichen ›erfundenen Wahrnehmung‹ in ein reziprokes Verhältnis tritt. In den Essays ist häufig die Rede von den fatalen Auswirkungen dieser Verbindung von unmäßigem Blick und überschüssiger Dinghaftigkeit für den wahrnehmenden Menschen. Dort beschreibt Müller, wie schwerwiegend der Verlust eines gedankenlosen Selbstverständnisses im Umgang mit den Dingen sein kann, wie qualvoll es ist, wenn »die Einheit der Dinge mit sich selbst [...] ein Verfallsdatum« (K 134) hat und keiner der Gegenstände, von denen man umgeben ist, mehr »im Dienst des Subjekts«, wie Ecker/Scholz formulieren, aufzugehen scheint: »Niemand will Selbstverständlichkeit hergeben. Jeder ist auf Dinge angewiesen, die einem gefügig bleiben und ihre Natur nicht verlassen. Dinge, mit denen man hantieren kann, ohne sich darin zu spiegeln.« (K 147) In der Prosa dagegen wird exakt dieses Zusammentreffen von ›erfundener Wahrnehmung‹ und Dinghaftigkeit des Dings nutzbar gemacht insofern, als sich oben beschriebenes, für Müller charakteristisches Verfahren auf das in dieser Konfrontation entstehende Irritationsmoment gründet: Der unmäßige Blick löst das Ding zunächst aus dem Bedeutungsgefüge, in das es zu gehören scheint, heraus, und genau das ist notwendig, damit es in einem zweiten Schritt neue Verbindungen eingehen kann. Allein mittels dieses Wechselspiels von Bedeutungsentzug und erneutem semantischen Aufladen vermag der Text ein neues flexibles Gefüge zu erstellen. Zur Erläuterung sei hier ein einschlägiges Beispiel aus Herztier angeführt: Die Ich-Erzählerin wohnt zur Untermiete bei einer 403 Ecker/Scholz 2000, 11. 192
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älteren ungarischen Katholikin namens »Frau Margit«, die vor jeder Mahlzeit den an der Zimmerwand hängenden »eisernen Jesus am Kreuz« küsst (HT 130). Dem Kruzifix nun widerfährt im Text exakt jene Deund Re-Semantisierung. Es heißt über diesen Gegenstand: Ihren Jesus hatte Frau Margit auf einer Augustwallfahrt in der Eile zwischen dem Bus und den Treppen der Wallfahrtskirche aus einem Sack voller Jesuskreuze gekauft. Der Jesus, den sie küßte, war der Abfall eines Blechschafes aus der Fabrik, das dörfliche Schachern eines Tag- und Nachtarbeiters zwischen den Schichten. Es war das einzig Gerechte an diesem Jesus an der Wand, daß er gestohlen war und den Staat betrog. Wie jeder Jesus aus dem Sack war auch dieser am Tage nach der Wallfahrt ein Saufgeld auf dem Tisch der Bodega. (HT 131f.)
Der religiöse Symbolgehalt des Dings wird ausgestrichen zugunsten einer Einfügung in ein neues Bedeutungsgefüge. Der neue Kontext nun meint zunächst das ökonomische System der Warenzirkulation auf dem Schwarzmarkt. Indem Müller hier aber wiederum den Begriff des Blechschafs verwendet, ist damit weitaus mehr benannt. Mit dem »Blechschaf« wird die ganze Frustration aufgerufen, die den Alltag derjenigen beherrscht, die ihre Dörfer und die landwirtschaftlichen Betriebe verlassen hatten, um als Arbeiter in der metallverarbeitenden Industrie ein ganz anderes Leben in der Stadt zu beginnen, ohne zu wissen, dass ihnen dort derselbe stumpfsinnige Arbeitsalltag bevorstehen würde. Der Gebrauch des Begriffs stellt diese Passage in einen engen Zusammenhang mit sämtlichen anderen Textstellen im Roman, in denen dieser fällt. Der Text setzt also an die Stelle der festgeschriebenen Bedeutung des Kruzifixes dessen Einbindung in diesen vielschichtigen, textimmanenten Kontext und unterminiert durch solcherlei Umcodierungen die Ordnung der Dinge. Diese Umcodierung von Begriffen und Gegenständen, das Herauslösen derselben aus den etablierten Ordnungsgefügen und das Erstellen eines neuen, beweglichen, mehrschichtigen Verweisungszusammenhangs, führt zurück zu der anfänglichen Behauptung, Müller stelle die beschriebenen Semantisierungsprozesse aus: Indem sie Begriffe (bzw. Gegenstände) im Verlauf des Texts nach und nach durch unterschiedliche Kontextualisierungen mit Bedeutung auflädt, wird die Kontextabhängigkeit des jeweiligen Sinns markiert. Es sind allein die immanenten semantischen Bezüge, die dem Erzählten Signifikanz verleihen, d.h. Müllers Texte sind auf keinerlei Sinnarchiv rückbezogen. Konterkariert und scharf kritisiert wird somit jegliche Art von starrem Bedeutungssystem. Anders als Sebald geht es Müller nicht darum, ein verborgenes Eigenleben der Gegenstände zu entdecken, das in einem bedeutungslee193
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ren Jetzt an ein bedeutungshaltiges Vorleben erinnerte. Wenn sie vom Zeitübergreifenden, das in den Dingen sitze, spricht (vgl. K 122), haftet dem nichts Nostalgisierendes an. Müllers Gegenstände haben keinerlei Patina angesetzt, im Gegenteil, das Zeitübergreifende »funkelt« hier, wie zitiert, »mit seinen grellen Einzelheiten«, und sie führt fort: »Je genauer ich die Gegenwart betrachte, um so zudringlicher wird sie zum Paradigma für Vergangenes.« (K 122) Gegenwart und Vergangenheit sind hier so eng verklammert und spiegeln sich ineinander, dass eine nostaligisierende Stillstellung des Vergangenen gar nicht denkbar ist. Müllers literarischer Umgang mit Gegenständen bildet das Gegenstück zu jenen Musealisierungstendenzen, die sich mitunter bei Sebald ausmachen lassen. Denn jede Form der Musealisierung stellt den Versuch eines letztgültigen Einfügens in ein Ordnungsschema dar.404 Müllers Texte aber führen genau die gegenläufige Bewegung aus.
Osmosen – Permeabilität von Räumen, Dingen und Körpern Kehrt man zu der Frage zurück, was bei Müller an die Stelle der ausgesparten »tiefergehende[n] Figurenpsychologie« tritt,405 lässt sich diese nun konkretisieren: Im Wissen um die zentrale Funktion der Gegenstände bei Müller konzentriert sich die Überlegung, welche Position die Figuren innerhalb der Geflechte einnehmen und besetzen, auf diejenige nach der Relation der Figuren zu den Dingen. Wie verhalten sich, um noch einmal Löws Formulierung zu gebrauchen, innerhalb der »(An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern« die Lebewesen zu den Gütern?406 Lässt sich die eingangs mit Rekurs auf Elias aufgestellte Behauptung, Müller erzähle von Menschen nicht als geschlossenen Einheiten, sondern als Komponenten komplexer Geflechte, erhärten, indem man Müllers Beschreibungen der psychischen Verfassungen, der emotionalen Zustände ihrer Figuren betrachtet? Und inwiefern übernehmen dabei wiederum die Gegenstände einen entscheidenden Part? David Midgley schreibt, Müllers Texte besäßen die Eigenart, die Aufmerksamkeit auf ein spezifisches Objekt zu lenken, in dem sich die Signifikanz einer erinnerten Erfahrung verdichte. Emotionale Ereignisse erhielten vor allem dadurch hohe Resonanz im Text, dass sie an bestimmte Gegenstände gebunden würden:
404 Vgl. Pazzini 2001. 405 Hoffmann/Schulz 1997, 88. 406 Löw 2001, 154. 194
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As references to particular objects recur, they carry forward the emotional significance vested in them by the experience of particular characters; and as more and more is revealed about the relationships between the characters and about their past experiences, so the references to objects become vested with the poignancy of the memories and associations which constitute the very identity of the characters concerned.407
Die Dinge fungieren, wie gezeigt, als Erinnerungsträger, an ihnen manifestiert sich der Zustand der einzelnen Figuren und deren Beziehungen zueinander.408 Wie aber wird dies in der Prosa erzählerisch umgesetzt? In Herztier findet sich eine Passage, in der die Ich-Erzählerin ihre regelmäßigen Zusammentreffen mit den drei Freunden in der Bodega schildert. Die vier werden längst vom Geheimdienst beschattet und bedroht und leben in der beständigen Furcht vor Inhaftierung oder Übergriffen durch die Securitate. Sie erzählt: Weil wir Angst hatten, waren Edgar, Kurt, Georg und ich täglich zusammen. Wir saßen zusammen am Tisch, aber die Angst blieb so einzeln in jedem Kopf, wie wir sie mitbrachten, wenn wir uns trafen. Wir lachten viel, um sie voreinander zu verstecken. Doch Angst schert aus. Wenn man sein Gesicht beherrscht, schlüpft sie in die Stimme. Wenn es gelingt, Gesicht und Stimme wie ein abgestorbenes Stück im Griff zu halten, verläßt sie sogar die Finger. Sie legt sich außerhalb der Haut hin. Sie liegt frei herum, man sieht sie auf den Gegenständen, die in der Nähe sind. (HT 83)
Die Verfassung der Figuren, ihre Angst, wird nicht nur auf der Oberfläche der Körper sichtbar, sondern ebenso – gewissermaßen in der direkten Verlängerung der Körper – »auf den Gegenständen« in der nächsten Umgebung. Unmittelbar dort, »wo die Haut zu Ende ist«,409 beginnen die Dinge, und zwischen den Körpern und diesen Dingen scheint ein fließender Übergang zu bestehen. Die Haut trennt nicht das Körperinnere klar vom Äußeren ab. Vielmehr existiert ein Austauschverhältnis zwischen dem Diesseits und dem Jenseits der Haut, dem Körper selbst und den Dingen als seinen Extensionen. D.h. hier wird der Körper als ein durchlässiger entworfen, der in einer Art Osmose etwas nach außen, an 407 Midgley 1998, 35. 408 Vgl. auch Müller in Gegenstände, wo die Haut zu Ende ist: »Im ganz andern Diskurs des Alleinseins verwischt sich die Grenze zwischen Gegenständen und der Haut. Gegenstände können den Zustand der Person wiedergeben.« (TS 97) – Zum Begriff »Diskurs des Alleinseins« siehe das folgende Kapitel, 205ff. 409 Vgl. den Titel des Essays Gegenstände, wo die Haut zu Ende ist (TS 89103). 195
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die ihn umgebenden Gegenstände weitergibt. Die den Körper beherrschenden Empfindungen der Figuren überschreiten die Körpergrenzen und greifen auf die Dinge über. In Heute wär ich mir lieber nicht begegnet heißt es in einem ähnlich bedrückenden Kontext, in dem Angst und Zorn die Ich-Erzählerin überwältigen: »Während ich auf den Lift wartete, war mir, als sei ich nicht mehr in meiner Haut, sondern verteilt in den Briefkästen an der Wand.« (HW 139)410 An anderer Stelle im selben Romantext findet sich eine Szene, in der die Ich-Figur ihre Neigung erklärt, vor Menschen und Dingen befremdet zurückzuweichen: Bei den Menschen, die mir sofort nicht gefallen, wird das Fremdeln kleiner, wenn ich nicht darüber rede [...]. Bei Gegenständen fremdel ich aber, weil sie mir gefallen. Ich denk mir etwas hinein, was gegen mich ist. Wenn ich es nicht sage, verschwindet es, wie das Fremdeln vor Menschen. Ich glaube, es wächst mit der Zeit ins Haar. (HW 190)
Von dort, aus dem Haar, lasse sich das Fremdeln nur durch ausgiebiges Kämmen wieder entfernen: »Dieses Scheitelziehen von der Kopfmitte zur Stirn, man sieht das Fremdeln an den Taschenkämmen. Nur stummes Fremdeln läßt sich auskämmen, und der Kamm wird fettig.« (HW 190) 410 Nicht nur im Umgang mit Gegenständen, auch im Kontakt mit Pflanzen findet diese Übertragung von Innen nach Außen statt. Im titelgebenden Essay im jüngsten Band erzählt Müller von den Nachwirkungen der Verhöre durch die Securitate: »Wenn ich nach quälenden Verhören wieder auf der Straße ging, der Kopf zerwühlt, die Augen starr wie eine Gipsfüllung, die Beine fremd wie von jemand anderem geliehen, wenn ich in diesem Zustand auf dem Heimweg war, zeigten mir diese Pflanzen, was mit mir los – und mit Worten nicht zu sagen war. Sie brauchten, um das zu zeigen, nichts als die Düfte, Farben und Formen, die sie sowieso hatten, und den Ort, an dem sie sowieso standen.« Kurz darauf fügt sie an: «Wie soll ich in Worten erklären, [...] daß in einer Dahlie ein Verhör sitzt, wenn man von einem Verhör kommt, oder eine Zelle, wenn ein Mensch, den man mag und nicht verlieren will, im Gefängnis sitzt. Daß in einer Dahlie ein Kind sitzt, wenn man schwanger ist und das Kind auf keinen Fall haben will, weil man ihm dieses Scheißleben nicht zumuten will, für Abtreibung aber ins Gefängnis kommt, wenn man erwischt wird.« (K 77f.) Der Originalfassung des Essays Wie Wahrnehmung sich erfindet ist ein Zitat von Marieluise Fleißer vorangestellt, das den Kerngehalt dieser Textbeispiele aufs Knappste zusammenfasst und erläutert; der Satz lautet: »Aber was von innen kommt, das kommt auch bald von außen.« (Müller 1990, 3.) 196
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Hier werden Empfindung (das Befremden), Körper (die Haare) und Gegenstand (der Kamm) in eine unauflösliche Wechselbeziehung gesetzt, d.h. der körperliche Vorgang, das Fetten der Haare, wird einbezogen in die De- und Re-Semantisierungsprozesse, die, wie gesehen, an den Dingen vorgeführt werden. Der osmotische Prozess zwischen dem Körperinneren und den Dingen zeigt den Körper nicht als einen Bereich, der dem situations- und kontextabhängigen Bedeuten entzogen ist oder sich dem widersetzt, sondern als den Dingen sehr verwandt. Die Beschaffenheit des Körpers und die der Gegenstände divergieren in Müllers Beschreibungen nicht wesentlich, sondern nur graduell. Der menschliche Körper und das jeweilige Ding, mit dem dieser in Kontakt gerät, werden gefasst als zweierlei ›Materialien‹, die sich allein durch ihre ungleichen Materialeigenschaften unterscheiden. Bei den Vergleichen zwischen sich selbst, dem eigenen »Körpermaterial« und den sie umgebenden materiellen Dingen, die Müller, wie sie in Der König verneigt sich und tötet erzählt, als Kind anstellte, unterliegt immer der Körper dem Gegenstand: Das Material, aus dem die Gegenstände bestehen, erfuhr beim Hinsehen jene Zuspitzung, mit der im Kopf der Irrlauf beginnt. Das Gewöhnliche der Dinge platzte, ihr Material wurde zum Personal. Zwischen zwei gleichen Dingen entstanden Hierarchien, und sie entstanden noch mehr zwischen mir und ihnen. Ich mußte mich den Vergleichen stellen, die ich aufgemacht hatte, und konnte nur den kürzeren ziehen. Verglichen mit Holz, Blech oder einem Federkleid ist Haut der vergänglichste Stoff. (K 49)
Ohne die Verankerung in einem stabilen Bedeutungsgefüge sind Gegenstände und Körper gleichermaßen »Personal« und »Material«; in dieser Angleichung von Dingen und Körpern muss der Körper aufgrund seiner weitaus größeren Verletzbarkeit verlieren. Analog dazu heißt es in einem anderen Essay im selben Band – Bezugspunkt sind wiederum die Gegenstände –: »Es lag nicht an ihnen, sondern an mir, daß ich sie zu lange anschaute und zwang, unheimlich zu werden und mich in Frage zu stellen. Daß ich ein kurzlebiger Stoff wurde angesichts ihres Materials mit seiner selbstverständlichen Haltbarkeit, war mein Versagen.« (K 83) Im Vergleich mit den Gegenständen ist der Körper eindeutig dasjenige Material, das aufgrund seiner hohen Fragilität den (Definitions-)Mächten, gegen die Müller anschreibt, wesentlich hilfloser noch ausgeliefert ist, als die Gegenstände es sind. In einer der beeindruckendsten und erzähltechnisch komplexesten Passagen, die Müller geschrieben hat, erfährt die Gegenüberstellung von Dingen und Körpern eine Zuspitzung, anhand derer sich die beschriebene Koexistenz der großen Nähe von Dingen und Körpern einerseits und der 197
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eklatanten Differenz, was ihre Verletzlichkeit anbelangt, andererseits nochmals sehr deutlich zeigen lässt. In Herztier bricht die Ich-Erzählerin nach langer Zeit den Vorsatz, mit niemandem außer den drei Freunden, die sich in derselben Situation befinden, über die Verhöre, zu denen der »Hauptmann Pjele« sie bestellt, zu sprechen. Sie zieht ihre Freundin Tereza ins Vertrauen: Ich erzählte Tereza, was ein Verhör ist. Ohne Grund, als spreche ich laut mit mir selber, fing ich zu reden an. Tereza hielt sich mit zwei Fingern an ihrem Goldkettchen fest. Sie rührte sich nicht, um die dunkle Genauigkeit nicht zu verwischen. 1 Jacke, 1 Bluse, 1 Hose, 1 Strumpfhose, 1 Höschen, 1 Paar Schuhe, 1 Paar Ohrgehänge, 1 Armbanduhr. Ich war ganz nackt, sagte ich. 1 Adreßbuch, 1 gepreßte Lindenblüte, 1 gepreßtes Kleeblatt, 1 Kugelschreiber, 1 Taschentuch, 1 Wimperntusche, 1 Lippenstift, 1 Puder, 1 Kamm, 4 Schlüssel, 2 Briefmarken, 5 Straßenbahnkarten. 1 Handtasche. Alles war aufgeschrieben in Rubriken auf einem Blatt. (HT 144)
Der Sprung vom ersten zum zweiten Abschnitt der Textpassage ist immens: Wird im ersten allein die Gesprächssituation beschrieben, setzt der zweite bereits dort ein, wo der Bericht darüber, was während des Verhörs ablief, fast schon abgeschlossen scheint. Einen Übergang, der von dem Vorgang als solchem – dem erzwungenen Ausziehen – erzählt, gibt es nicht. Dass sie sich vor dem Hauptmann komplett hatte entkleiden müssen, wird allein durch die Auflistung ihrer Kleidungsstücke verständlich; das nachgeschobene »Ich war ganz nackt« bestätigt nur, was die Liste bereits erzählt hat. Von der Existenz der Liste, d.h. davon, dass die Auflistung innerhalb ihrer Erzählung Tereza gegenüber die Wiedergabe einer faktischen Liste ist, die der Hauptmann, vermutlich während sie sich auszog, erstellte, erfährt der Leser wiederum mit kalkulierter Verzögerung. Erst nach der Auflistung der Dinge, die sich in ihrer Handtasche befanden, im dritten Abschnitt folgt die Erklärung: »Alles war aufgeschrieben in Rubriken auf einem Blatt.« In dieser Rubrizierung der Gegenstände – der Kleidungsstücke wie des Inhalts der Tasche –, in dieser nüchternen Versachlichung, die besonders durch die jeweils vorangestellte Zahl markiert ist, spiegelt sich die Gewalt, die der Ich-Figur in dieser Szene angetan wird. Die der Frau widerfahrene Demütigung wird auf diese Weise, durch ihre Reflexion in den Dingen, überhaupt erst erzählbar. Sie fährt fort: Mich selber schrieb der Hauptmann nicht auf. Er wird mich einsperren. Es wird auf keiner Liste stehen, daß ich 1 Stirn, 2 Augen, 2 Ohren, 1 Nase, 2 Lippen, 1
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Hals hatte, als ich hierher kam. Ich weiß von Edgar, Kurt und Georg, sagte ich, daß unten im Keller Gefängniszellen sind. Ich wollte im Kopf die Liste meines Körpers machen gegen seine Liste. Ich kam nur bis zu meinem Hals. Der Hauptmann Pjele wird merken, daß mir Haare fehlen. Er wird fragen, wo die Haare sind. (HT 145)
Diese dritte Liste – nach der der Kleidungsstücke und der der Dinge aus der Handtasche –, die Liste ihrer Körperteile, ist doppelt codiert: Zuerst wird sie als weitere Liste im Karteikasten des Geheimdienstes imaginiert, die bei ihrer Inhaftierung zwar gerade nicht angefertigt würde, im Grunde aber erstellt werden müsste, um bürokratisch korrekt zu notieren, was man da in der Zelle festhält. In diesem Sinne wäre die Körperteilliste die Verlängerung, die Fortsetzung der vorangegangenen zwei Listen von Dingen. In dieser Funktion zeigt sich anhand derselben äußerst prägnant die Gewaltförmigkeit der rubrizierenden Ordnungsmacht, die alles in Listen bannt: Auch den Gegenständen wird Gewalt angetan, indem man sie rubriziert, kategorisiert, auflistet und somit jeglicher Individualität beraubt; die Absurdität des Verfahrens wird jedoch wesentlich deutlicher noch, wenn mit einem Körper auf diese Weise umgegangen wird. Dessen komplette Parzellierung und die Aufzählung der Körperteile vernichtet jede Eigenheit dieses Körpers: »1 Stirn, 2 Augen, 2 Ohren, 1 Nase, 2 Lippen, 1 Hals« besitzt jeder Mensch, so wie sich in unzähligen Handtaschen diverse Kugelschreiber, Taschentücher, Lippenstifte, Kämme, Schlüssel, Briefmarken und Fahrkarten befinden. Jede Auflistung dieser Art unterschlägt die jeweiligen Details der Gegenstände wie der Körper, die diese von ›ihresgleichen‹ unterscheiden. Der »dunkle[n] Genauigkeit«, mit der die Ich-Erzählerin berichtet und die – das spürt die zuhörende Tereza – nicht »verwisch[t]« werden darf, d.h. der Genauigkeit, die tausenderlei Nuancen und Schattierungen kennt, auf die es ankommt beim Erzählen wie beim Hören bzw. Lesen, dieser Art der Genauigkeit ist die vermeintliche Präzision der Listen entgegengesetzt. Der Rasterung der Liste sind jene mehr oder weniger feinen Differenzen, ist die jeweilige, gewachsene Charakteristik, die Geschichte eines Dings oder eines Körpers fremd; sie leugnet sie. Die Körperteilliste hat allerdings noch eine zweite Funktion in dieser Passage inne. Die Ich-Erzählerin selbst entwirft diese ja, weil sie »im Kopf die Liste [ihres] Körpers machen [wollte] gegen seine Liste«, so erzählt sie der Freundin. Aber dieser Versuch kann nicht gelingen: »Ich kam nur bis zu meinem Hals. Der Hauptmann Pjele wird merken, daß mir Haare fehlen.« Die gemeinten Haare hat sie sich ausgerissen und wie vereinbart in ihre Briefe an die drei Freunde gelegt, damit sie feststellen können, ob der Geheimdienst die Briefe öffnet. Ihre absurde Befürchtung nun, es könne auffallen, dass vereinzelte Haare fehlen, ist Indiz dafür, in 199
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welch hohem Ausmaß die Macht des Geheimdienstes längst auch ihren Körper in Besitz genommen hat. Die Angst sitzt in jedem einzelnen Haar. Ihr Körper taugt nicht, wie erhofft, als Garant ihrer Autonomie, die Fragilität des Körpermaterials ist zu hoch. Der Körper bietet nicht das dringend benötigte Widerstandspotential; längst hat sich die Gewalt, der die Ich-Figur ausgesetzt ist, in ihn eingeschrieben. Ein Refugium, ein winziges geschütztes Rückzugsgelände, das von den Demütigungen durch den Verhörenden nicht erreicht wird, bieten wiederum eher vereinzelte Gegenstände wie der Perlmuttknopf an der Bluse, die die Erzählerin in Heute wär ich mir lieber nicht begegnet zu jedem Verhör trägt, an dem zu drehen ihr zumindest eine gewisse Gelassenheit verschafft (vgl. HW 27). Die Besinnung auf den Körper aber hilft in keiner Weise, im Gegenteil: Noch bevor die Ich-Figur in Herztier beim Erstellen ihrer Gegenliste an den Schultern angelangt ist, ergreift sie Panik angesichts der Feststellung, in welchem Ausmaß ihr Körper längst Austragungsstätte des Kampfes mit den politisch Mächtigen ist und wie machtlos er diesem Geschehen ausgeliefert ist. Nicht überzeugen kann vor diesem Hintergrund Lyn Marvens Analyse dieser Romanpassage. Sie schreibt über die Erstellung der Körperteilliste durch die Ich-Figur, »this act still allows her to regain a vital sense of agency and resist the state«.411 Gerade dies ist jedoch, wie gesehen, nicht der Fall. Marven kann zu dieser optimistischen Lektüre nur gelangen, weil sie den letzten Abschnitt der Passage nicht einbezieht. Sie zitiert das entscheidende »Ich kam nur bis zu meinem Hals« nicht mehr und ignoriert in ihrer Textkommentierung entsprechend die Tatsache, dass der Versuch, eine Gegenliste zu erstellen, durchweg scheitert. Darauf hinzuweisen ist wichtig, weil Marvens Lektüre dieser Passage in gewisser Hinsicht symptomatisch ist für den augenblicklich dominierenden, stark psychologisierenden und an Traumatheorien orientierten Zweig der Müller-Forschung, die teilweise an den Biographismus der frühen Müller-Forschung wieder anknüpft. Marven will in Müllers Gesamtwerk eine bestimmte Entwicklungslinie erkennen, die ästhetische Konzepte und narrative Verfahren an die psychische Verfassung der Autorin rückbindet. Sie konstatiert, die zunehmende Lesbarkeit der späteren Prosatexte Müllers – eine Tendenz übrigens, die Müller durch die seither entstandenen Collagen wieder rückgängig gemacht hat –, sei der fortgeschrittenen Verarbeitung ihrer eigenen traumatischen Erfahrung zu verdanken. Sie liest Müllers Literatur insofern als Quasi-Dokumentation eines Selbstheilungsprozesses. Den gesamten Werkkomplex in eine solche Schablone einpassen zu wollen, führt zwangsläufig zu verkürzenden
411 Marven 2005a, 79. 200
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Lektüren, die, wie oben gesehen, das entscheidende Detail zugunsten des großen Bogens verpassen müssen. Außerdem verbietet sich ein Lektüreansatz von selbst, der Müllers politisch motivierte Ästhetik auch nur in vager Nachbarschaft zu drittklassiger Literatur aus den Siebzigern platziert, in der der Selbstbezug des jeweils schreibenden Ichs tatsächlich im Zentrum des Interesses gestanden haben mag.412 Als noch heikler entpuppt sich Marvens Lesart, wenn sie bezüglich der Essays behauptet, Müllers teils sehr entschlossene Stellungnahmen zu Menschenrechtsfragen »can also be seen as preserving traumatization in outrage, for as Henry Krystal observes, ›moral and ethical judgement is often substituted for self-healing‹«;413 führt dies doch, wenn auch sicher unbeabsichtigt, in die Richtung einer Pathologisierung der politischen Positionen Müllers bzw. der Tatsache, dass sie diese mit Verve vertritt. Interessanter als die Frage, inwiefern sich die obige Romanpassage in einen erahnten Entwicklungsgang der psychischen Verfassung Herta Müllers einpassen lässt, ist m.E. die Überlegung, in welches Verhältnis der Text den Körper, die Dinge und den Außenraum setzt und welches Textverständnis sich letztlich darin verbirgt. Wie der Verhörszene zu entnehmen, hält der fragile menschliche Körper dem Einbruch des Außen keineswegs stand, er befindet sich in einem unbedingten Abhängigkeitsverhältnis zu den Kräften, die den Außenraum dominieren. Das Externe dringt ebenso in das Innere wie sich das Innere in die äußeren Dinge hinein verlängerte; der osmotische Austausch von Innen und Außen findet in beiderlei Richtungen statt. Und nicht immer wird dieses Eindringen des Außen in den menschlichen Körper als gewaltförmig gezeichnet: In den Niederungen ist das Verhältnis des Kindes zum umgebenden Naturraum von Beginn des Texts an als ein osmotisches dargestellt. Das Kind hat teil an dem »unentwegte[n] wechselseitige[n] Durchdringen der Natur«,414 und diese Teilhabe löst Angst und Lust gleicher412 Müller nimmt selbst ablehnend Stellung zu der Idee, Schreiben als Kompensationsarbeit zu begreifen, indem sie bereits über die Entstehungszeit von Niederungen schreibt, vielleicht »war in den Jahren des Frosches die Erfindung der Wahrnehmung die einzige Möglichkeit, die Umgebung zu verändern. Sie wurde nicht erträglicher. Sie wurde bedrohlicher. Doch hatte mindestens dieser Zusatz mit mir selber etwas zu tun.« (T 29. Hervorhebung von mir – akj.) 413 Marven 2005a, 398. 414 Günther 1991, 47. Vgl. beispielsweise folgende Passage aus dem Primärtext: »Der Schlamm ist von Algen grün verfärbt./ Fliegen surren den Gänsen durch das fettige Gefieder./ Wenn der Regen, der im Sommer das Holz faulen läßt, die Erde aufweicht, sieht man, wie tief die Wege sind und wie ausgewaschen die Erde ist./ Die Kühe tragen dann große unför201
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maßen aus. Einerseits fürchtet es zwar, durch die Wunde an seinem Knie könne der Tod in es »hineinfinde[n]« (N 24) und wagt nicht mehr, beim Blumenpflücken zu singen, damit ihm keine Biene in den Mund fliegt (vgl. N 21). Die Furcht wird vor allem durch die zahlreichen Ermahnungen des Großvaters hervorgerufen, der als verbietende, ordnende Instanz jede Form der Einverleibung als Gefährdung beschreibt und den osmotischen Austausch zwischen Kind und Naturraum unterbinden will.415 Andererseits aber sucht es die Verschmelzung mit dem Naturraum gezielt: Ich war eine schöne sumpfige Landschaft. Ich legte mich ins hohe Gras und ließ mich in die Erde rinnen. Ich wartete, daß die großen Weiden zu mir über den Fluß kommen, daß sie ihre Zweige in mich schlagen und ihre Blätter in mich streuen. Ich wartete, daß sie sagen: Du bist der schönste Sumpf der Welt, wir kommen alle zu dir. Wir bringen auch unsere großen schlanken Wasservögel mit, aber die werden flattern in dir und in dich hineinschreien. [...] Ich wollte weit werden, damit die Wasservögel mit ihren großen Flügeln Platz in mir haben, Platz zum Fliegen. (N 78) mige Schuhe aus Schlamm durch die Häusertore. Man riecht das Gras in ihren Bäuchen. Die Grasknollen, die ihnen nach dem ersten Kauen in der Gurgel wieder hochkommen, tun mir selber in der Brust weh. Die Kühe kauen abwesend, und ihre Augen sind trunken vor so viel Weide. Jeden Abend kommen sie mit diesen trunkenen Augen ins Dorf zurück.« (N 24) 415 Nirgends wird der Versuch einer Restringierung der osmotischen Prozesse durch den Großvater deutlicher als in der folgenden, oft zitierten Passage, mit der die Erzählung beginnt: »Die lila Blüten mit den Zäunen, das Ringelgras mit seiner grünen Frucht zwischen den Milchzähnen der Kinder./ Der Großvater, der sagte, vom Ringelgras wird man dumm, das darf man nicht essen. Und du willst doch nicht dumm werden./ Der Käfer, der mir ins Ohr kroch. Großvater schüttete mir Spiritus ins Ohr, damit mir der Käfer nicht in den Kopf kriecht. Ich weinte. In meinem Kopf summte es und wurde heiß. Der ganze Hof drehte sich, und Großvater stand riesengroß mittendrin und drehte sich mit./ Das muß man tun, sagte der Großvater, sonst wird dir der Käfer in den Kopf kriechen, und dann wirst du dumm. Und du willst doch nicht dumm werden. Die Akazienblüten in den Dorfstraßen. Das eingeschneite Dorf mit den Bienenvölkern im Tal. Ich aß Akazienblüten. Sie hatten innen einen süßen Rüssel. Ich zerbiß ihn und hielt ihn lange im Mund. Wenn ich ihn schluckte, hatte ich schon die nächste Blüte an den Lippen. Es waren unzählig viele Blüten im Dorf, man konnte sie nicht alle essen. Die vielen großen Bäume blühten jedes Jahr./ Die Akazienblüten darf man nicht essen, sagte der Großvater, es sitzen kleine schwarze Fliegen drin, und wenn die dir in den Hals kriechen, dann wirst du stumm. Und du willst doch nicht stumm werden.« (N 17) Vgl. dazu Günther 1991, 45ff. und – ausführlicher – Dawidowski 1997, 17ff. 202
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In der Sekundärliteratur zu den Niederungen wird oftmals behauptet, die Grenzauflösungstendenzen seien allein durch die Perspektive des Kindes motiviert;416 ein Blick in die spätere Prosa widerlegt dies jedoch. Topisch kehren in sämtlichen Texten Beschreibungen solcher osmotischer Prozesse wieder. In Herztier beispielsweise ist vielfach von Gegenden in Gesichtern die Rede. Gleich zu Beginn heißt es über Lola: Lola kam aus dem Süden des Landes, und man sah ihr eine arm gebliebene Gegend an. Ich weiß nicht wo, vielleicht an den Knochen der Wangen, oder um den Mund, oder mitten in den Augen. [...] Mehr Gegend als Landschaft. [...] In Lolas Heft las ich später: Was man aus der Gegend hinausträgt, trägt man hinein ins Gesicht. (HT 9f.)
In zahllosen Variationen tauchen im Romantext immer wieder ähnliche Formulierungen auf; die Ich-Erzählerin sieht die Stadtbewohner »Maulbeerbäume aus der Gegend hinaustragen, hinein ins Gesicht« (HT 41), sie sieht die andere Stadt, in die dieser geschickt wird, »gespiegelt in Edgars Gesicht, mitten in seinen Augen, am Rand seiner Wangen und neben seinem Mund« (HT 95). Die Liste vergleichbarer Textbeispiele ließe sich weiter ergänzen; klar ist, dass die Grenze zwischen menschlichem Körper und Außenraum bei Müller prinzipiell als durchlässig, die Haut als permeable Membran gedacht wird. Was lässt sich an dieser Stelle resümierend festhalten? Auf welche Weise geben die Verhältnisse zwischen Lebewesen, »Gütern«, wie Löw sagt, bzw. Gegenständen, Landschaften und Städten in Müllers Prosa Aufschluss über ihr gesamtes literarisches Projekt, über ihre Poetik? Inwiefern beschreiben die osmotischen Prozesse zwischen den Figuren und den sie umgebenden Dingen und Gegenden Abläufe, die für Müllers Textverständnis von entscheidender Bedeutung sind? Wie zu Beginn dieses Kapitels gesehen, zeichnet Müller die Räume, von denen sie erzählt, immer als Produkte je spezifischer Wahrnehmungs- und Erinnerungsleistungen und entwirft somit ein variables und flexibles Modell von Raum im Allgemeinen: Jeder Raum ist nicht mehr und nicht weniger als das Verhältnis der Komponenten, die sich in ihm befinden und ihn entsprechend bilden, zueinander. Betrachtet man diese raumbildenden Komponenten ihrerseits genauer, intensiviert sich der Eindruck, in den Texten Müllers immer mit Beschreibungen äußerst instabiler Bezugsgeflechte konfrontiert zu sein. Selbst die einzelnen Bestandteile der Räume, die Figuren und Dinge, sind nicht – für sich genommen – klar abgrenzbare Entitäten, sondern stehen in einem Verhältnis osmotischer Übergänge zueinander. Indem Müller nun solcherlei Ge416 Vgl. Becker 1991, 36 und Günther 1991, 45f. 203
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flechte bzw., um Foucaults Formulierung noch einmal zu bemühen, Gemengelagen entwirft und beschreibt, schafft sie Textgebilde, die ihrerseits, wie im Exkurs zur Funktion der Dinge ausgeführt, variable, polysemische Gefüge darstellen. Sie setzt die Gegenstände, deren Überschuss an Dinghaftigkeit sie von vorneherein jedes starres Bedeutungsgefüge unterlaufen lassen, sowie die Fragilität des menschlichen Körpers ein, um aus diesen Komponenten Räume zu konstituieren, die als relationale und flexible, immer nur vorübergehende Anordnungen ein Bild des Texts selbst abgeben. Indem sie gewöhnlich als unbeweglich gedachte Gefüge auflöst und durch neue flexible Verweisungszusammenhänge ersetzt, werden statische Arrangements als Zementierungen dominanter Ordnungsgefüge entlarvt und unterminiert. Somit wird wiederum auf textstruktureller Ebene reflektiert, wovon in ihren Texten erzählt wird: Es geht um Rebellion gegen jede Form totalitären Machtanspruchs, um Rebellion gegen Definitionsmächte. Ideologischen Weltmodellen, für die immer die Subsumierung des Details unter das Ganze maßgeblich ist, stellt sie Entwürfe »gebrechliche[r] Einrichtungen des Augenblicks« entgegen.417 Wichtig festzuhalten ist jedoch, wie wenig sich Müllers Texte auf die ideologiekritische Dimension reduzieren lassen. Ralph Köhnen erläutert, inwiefern sich gerade in der für Müllers Prosa charakteristischen Auflösung von Begrenzungen eine spezifische Lust am Text offenbart: »Herta Müllers Bilder« seien »nicht nur todesnahe, verzweifelte, aggressive Visionen eines an Repressalien leidenden Menschen, wie dies in der Literatur fast einhellig durchdekliniert wird. [...] Denn so schließt zwar das Übertreten der Grenze auch die eigene Vulnerabilität mit ein und gibt [...] Hinweise auf das Bedrohliche dieser ›Osmose‹«, dennoch sei Müllers »Sprachbildergemisch« gewiss »nicht pure Thanatographie«. Vielmehr führe, so Köhnen, indirekt Rimbaud zitierend, weiter, »die Entregelung der Sinne und das Überschreiten der semantischen Verabredungen gelegentlich zum Beginn des Schönen, als Einbruch des inkommensurablen Subjektiven in die gewalttätige Prosa der Verhältnisse«.418 Diese wichtige Diagnose Köhnens legt es nahe, hieran anschließend Müllers Textkonstitution mit der Dudens zu vergleichen. Denn mit Müllers Osmosen liegt auf den ersten Blick ein Phänomen vor, das dem der Diffusionen bei Duden stark ähnelt. Bei Duden jedoch, so war gleich zu Beginn in der Lektüre von Das Landhaus zu sehen, mündet die Auflösung der Grenzen zwischen dem Subjekt und seiner Außenwelt immer in 417 Vgl. Müller in ihrer Kleist-Preis-Rede: »Es gibt für das, was das Leben ausmacht, keinen Durchblick. Nur gebrechliche Einrichtungen des Augenblicks.« (Müller 1997b, 7.) 418 Köhnen 1997b, 136. 204
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den Kollaps dieses Subjekts. Insofern handelt es sich bei Dudens Texten weitaus eher um »Thanatographie«, um Köhnens Begriff zu gebrauchen, als bei Müller. Duden stellt, wie dargelegt, anhand ihrer Diffusionen immer den Versuch des Texts als »Schwellenwesen«, die Grenzen des Signifizierbaren aufzuweichen, aus. In dem Auflösungsprozess, den das Subjekt durchläuft, wird die Paradoxie des Texts, die eigene Auflösung anzustreben und sie zugleich gekonnt zu vermeiden, ansichtig. Bei Müller nun wird der osmotische Austausch zwischen Subjekten, Dingen und den anderen Raumkomponenten, wie gesehen, nicht als Endpunkt eines Prozesses gezeichnet; stattdessen erzählt sie vom Menschen – ganz im Sinne Norbert Elias’ – als einer Komponente komplexer Geflechte. Der osmotische Austausch zwischen dem Menschen und seiner Umgebung beschreibt insofern dessen Grunddisposition und nicht einen Ausnahmezustand. In Entsprechung dazu sind Müllers Texte nicht beständig darum bemüht, jenen Grenzgang anzutreten, den Duden so vehement zu vollziehen sucht. Vielmehr verstehen sich diese Texte, wie im Folgenden auszuführen, als immer lückenhafte, offene Gebilde, die sich erst in der Rezeption zu einem – je verschiedenen und nur für den jeweiligen Moment bestehenbleibenden – Ganzen fügen.
Vergegenwärtigungen: eine texttheoretische Standortbestimmung »Sprünge durch den Raum«419 – zur Figur der Auslassung Maßgeblich für Müllers Prosa ist die häufige Verwendung eines Prinzips der Aussparung. Das close reading der Verhörszene aus Herztier hat gezeigt, inwiefern die für den Plot zentralen Handlungsabläufe manchmal gerade nicht erzählt, stattdessen aber durch spezifische Narrationsverfahren – dort durch die nachgeschobene Auflistung der Kleidungsstücke – für den Leser imaginierbar werden. Nun soll hier auch Müllers Einsatz gezielter Auslassungen nicht allein, wie die Verhörszene vielleicht nahelegen könnte, als Darstellungsform traumatischer Erfahrungen gelesen, sondern als ästhetisch bedingte Entscheidung, die auf basale Fragen der Literaturtheorie antwortet, ernst genommen werden. Rohberg konstatiert – und hierin ist ihm fraglos zu folgen –, Müller reagiere mit der »stilistische[n] Eigenwilligkeit« ihrer Prosa zwar durchaus auf die Schwierigkeit, eine Sprache für spezifische Erfahrungen zu finden, diese Schwie419 TS 19. 205
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rigkeit stelle aber ihrerseits schlicht das Grundproblem der Moderne dar.420 Dort, wo es um die Erzählung traumatischer Erlebnisse geht, erfährt diese Problematik lediglich eine Zuspitzung. Die Auslassung als solche ist nicht zwangsläufig als Markierung eines verborgenen Traumas zu lesen. »Das Unsichtbare«, so auch Dawidowski über die Müllerschen Aussparungen, verweise hier nicht auf eine »verschüttete Gefühlserfahrung, für die es gelte, in ästhetizistischer Manier ein Bild zu finden [...]. Das Unsichtbare Müllers ist demgegenüber das Alltägliche.«421 Wie ist das zu verstehen und genauer zu beschreiben? Müller selbst bezieht Stellung zur Auslassung als narrativer Technik im Zusammenhang mit ihrer Beschreibung vom »Diskurs des Alleinseins« (TS 57ff.), einem weiteren ihrer ›Programmwörter‹,422 mit dem sie die Spezifik literarischer Texte zu fassen sucht.423 Indem sie dort zweierlei Sätze, den geschriebenen und den ungeschriebenen, einander gegenüberstellt, gibt sie zu verstehen, inwiefern die Auslassungen für den Text von derselben Relevanz sind wie das schwarz auf weiß Entstehende selbst: Der geschriebene Satz muß behutsam mit dem verschwiegenen Satz umgehen. Der verschwiegene (ausgelassene) Satz muß mit der gleichen Lautstärke sprechen wie der geschriebene Satz. Wenn der geschriebene Satz lauter ist als der verschwiegene Satz, ist er schon schrill. (TS 36)
Das Spannungsverhältnis von Sprechen und Schweigen, von Mitteilung und Auslassung ist für Müllers Poetik zweifellos konstitutiv. Wie aber ist der gezielte Einsatz der Aussparung poetologisch exakter zu bestimmen? Worin genau besteht die Funktion der Lücke? Wenn Müller anhand der Arrangements von geschriebenen und ungeschriebenen Sätzen das Verhältnis von Sagbarem und Unsagbarem verhandelt, worauf deutet das Nicht-Notierte dann hin? Der erste Essay in Der König verneigt sich und tötet beginnt mit folgender Passage:
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Rohberg 1997, 30. Dawidowski 1997, 15. Vgl. zum Begriff des Programmworts Rohberg 1997, 28. Zur Erläuterung der Rede vom »Diskurs des Alleinseins« siehe die Kommentierung Stephan Düppes: »Sprechen ist niemals gleich Schreiben, weiß Herta Müller, und der ›Diskurs des Alleinseins‹, das Selbstgespräch, ›wird zum ganz anderen Diskurs des Alleinseins, wenn man ihn aufschreibt‹.« (Düppe 1997, 163; das Zitat im Zitat findet sich in TS 67). 206
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In der Dorfsprache – so schien es mir als Kind – lagen bei allen Leuten um mich herum die Worte direkt auf den Dingen, die sie bezeichneten. Die Dinge hießen genauso, wie sie waren. Und sie waren genauso, wie sie hießen. Ein für immer geschlossenes Einverständnis. Es gab für die meisten Leute keine Lücke, durch die man zwischen Wort und Gegenstand hindurch schauen und ins Nichts starren mußte, als rutsche man aus seiner Haut ins Leere. (K 7)
In der Folge erzählt der Text, wie die alltägliche Angst und Einsamkeit des Kindes diese Übereinstimmung zwischen Wort und Ding in Frage zu stellen beginnen, wie es beim Hüten der Kühe allein im Flusstal neue Bezeichnungen für diverse Pflanzen sucht, weil ihm die bestehenden nicht zu passen scheinen, und wie aber auch die neu erfundenen Wörter das Einverständnis nicht wieder herzustellen vermögen. Die ergebnislose Wortsuche des Kindes auf der Weide wird als initiationsartiges Erlebnis geschildert: Der »Irrlauf im Kopf« (K 14), der hier aus der Lücke zwischen Benennung und zu Benennendem entsteht, wächst sich aus zum permanenten Schreibanlass, erklärt sie. Denn das Begehren, die Irritation sprachlich fassen zu können, lässt sich von dem Wissen, dass »der Irrlauf sich von den für ihn gefundenen Worten gleich wieder entfernt«, nicht nachhaltig bremsen. »Dennoch der Wunsch: ›Es sagen können‹. Wenn ich den Wunsch nicht ständig gehabt hätte, wäre es nicht so weit gekommen, für die Milchdistel Namen auszuprobieren, um sie mit ihrem richtigen Namen anzureden. Ich hätte ohne diesen Wunsch um mich herum nicht das Fremdeln verursacht als Folge mißratener Nähe.« (K 15) Diese Textpassage verleitet dazu, Müllers poetologischen Standort in direkte Nachbarschaft zur Literaturtheorie psychoanalytisch geschulter, dekonstruktivistischer Ausrichtung – und in die Nähe Dudens – zu verlegen. Leicht ließen sich ihre Formulierungen in die entsprechende Terminologie übertragen: Die »mißratene Nähe« zwischen Signifikant und Signifikat setzt das Fremdeln, den Begehrenskreislauf in Gang. Die nur intermittierend gelingende Sprachfindung lässt die Lücke zwischen Ding und Wort immer wieder neu aufklaffen. Die Sehnsucht danach, diese Lücke dauerhaft schließen, die ursprüngliche Unterbrechung überwinden und das vermeintlich verlorene – präödipale – Einverständnis wiederherstellen zu können, sichert die endlose Produktion von Sprache, lässt die Siginifikantenkette niemals abreißen usw. Mit genau diesem Argumentationsmuster arbeitet die differenztheoretische Lektüre der Essays in Der Teufel sitzt im Spiegel, die Stephan Düppe vorgelegt hat.424 Den Tiefen-
424 Düppe 1997. 207
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raum425 der ›erfundenen Wahrnehmung‹ bezeichnet Düppe, aus Derridas Wie nicht sprechen zitierend, als »Raum eines versprochenen Sprechens«.426 Die gezielt eingesetzten Lücken in Mülles Texten lassen sich demgemäß als Hinweise auf die Nicht-Einlösbarkeit des Versprechens auf ein nicht-existentes Zentrum lesen. Düppe stützt diese Lektüre durch ein einschlägiges Zitat aus Der Teufel sitzt im Spiegel, das ebenfalls das Verhältnis von Schreiben und Auslassung kommentiert: Das, das fällt und aufschlägt oder kein Geräusch macht, das was man nicht aufschreibt, spürt man in dem, was man aufschreibt. Das Gesagte muß behutsam sein, mit dem, was nicht gesagt wird. [...] Das, was mich einkreist, seine Wege geht, beim Lesen, ist das, was zwischen den Sätzen fällt und aufschlägt, oder kein Geräusch macht. Es ist das Ausgelassene. (TS 19)
Düppe folgert daraus, das Aufgeschriebene fungiere »nur als eine Markierung, als Anwesenheit, die auf Abwesenheiten verweist und in dieser endlosen Iteration von Markierungen den Leser und Schreiber in der Bewegung der Sprache ›einkreist‹«.427 Sicherlich kann man einer solchen Lesart nicht ihre Berechtigung, auch nicht ihre Richtigkeit absprechen. Unbefriedigend ist nur, wie unspezifisch derlei Lektüren ausfallen. Die formelhafte Rede von der differentiellen Verweisung sagt wenig über die Besonderheit der Müllerschen Erzählverfahren aus. Und im Unterschied zu Duden ist Müller nicht in erster Linie an dekonstruktivistischen Fragen interessiert. D.h. ihre Texte lassen sich zwar – wie zahllose andere – problemlos einer differenztheoretischen Lektüre unterziehen, sind aber ihrerseits nicht vordergründig mit den entsprechenden Theoremen oder Fragestellungen befasst, wenngleich bestimmte Begrifflichkeiten in den Essays – hier die Rede von der Lücke und der Auslassung – durchaus Anlass bieten, Derridasche Topoi bei ihr wiederfinden zu wollen. Müllers Prinzip der Aussparung aber unter eine Theorie der Verfehlung und Nachträglichkeit allen Signifizierens zu subsumieren, wird der Spezifik des Einsatzes der Denkfigur in ihren Texten nicht ganz gerecht. Denn was sich bei Müller ausmachen lässt, ist weniger die Bemühung, die Abwesenheit eines Zentrums und die Verfehlung einer jeden Repräsentation zu verzeichnen, als der Versuch einer
425 Siehe zum Begriff die vorangegangenen Ausführungen zu »Syntheseleistungen – zum Zusammenhang von Raumkonstitution und Wahrnehmung«, 180ff. 426 Derrida 1989, 15. Zitiert nach Düppe 1997, 161. 427 Düppe 1997, 158. 208
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Herstellung von Präsenz.428 Die ausschlaggebenden Stichworte in dem von Düppe herangezogenen Essay Müllers sind die »Unruhe« und der »Überfall«. Im Anschluss an die oben zitierte Passage heißt es dort: »Die Unruhe ist in der Stille der Wahrnehmung ein Überfall.« (TS 19) Versuche man, so Müller weiter, den Überfall der Unruhe beim Schreiben zu treffen, die Drehung durch die der Sprung ins Unberechenbare einsetzt, muß man in kurzen Takten seine Sätze schreiben, die von allen Seiten offen sind, für die Verschiebung. Es sind Sprünge durch den Raum. (TS 19)
Wiederum fällt hier mit der »Verschiebung« ein Begriff, der einschlägige Theoreme aufruft, das Entscheidende an diesem Textauszug ist jedoch Müllers Erklärung, die Kürze ihrer Sätze sei dem Versuch geschuldet, »den Überfall der Unruhe beim Schreiben zu treffen«. Die Unruhe, das Irritationsmoment, lässt sich nur dann in Text übersetzen, wenn die Satzlänge so knapp bemessen ist, dass möglichst viel Zwischenraum zwischen den Sätzen bestehen bleibt. Als »Sprünge durch den Raum« sind die Sätze untereinander nur lose verbunden, die Intervalle zwischen den Bodenkontakten, die Aussparungen, möglichst groß. Natürlich steht dies wiederum in engstem Zusammenhang mit dem im vorigen Kapitel Festgehaltenen: Es wurde dort der lose Verbund der springenden Sätze, d.h. die meist parataktische Aneinanderreihung der Bilder Müllers, als der flexible Verweisungszusammenhang des Texts bezeichnet und der ideologiekritische Aspekt dieses Textkompositionsprinzips hervorgehoben. Nun führt jedoch die Frage nach den Aussparungen noch auf eine weitere Spur, die wiederum zu der Überlegung zurückleitet, inwiefern es sich bei Müllers Literatur immer um den Versuch handelt, Präsenz herzustellen. Müller selbst beschreibt mit dem Bild der springenden Sätze den Vorgang der Textproduktion. Was aber geschieht 428 Paola Bozzi betont zu Recht, das eine (die Verzeichnung der Verfehlung einer jeden Repräsentation) und das andere (die Herstellung von Präsenz) schlössen einander nicht aus, sondern stünden vielmehr in einem Verhältnis des Sich-Bedingens. (Vgl. Bozzi 2005, 136f.) Wichtig ist jedoch die Schwerpunktsetzung: Während Duden die Mangellogik, das Leiden an der zwangsläufigen Verfehlung, ausstellt, geht Müller weiter. Auch Bozzi schreibt, »das Besondere an den Texten der Autorin liegt darin, wie sie beim ›Zeigen‹ des ›Nicht-Darstellbaren‹ den Akt des Zeigens selbst in den Mittelpunkt rücken: Das Problem der Nicht-Repräsentierbarkeit des Augenblicks wird zum Vehikel für eine Diskussion eines Schreib-Augenblicks, der den Text im Schreiben (wie im Lesen jeweils) neu und prozessual realisiert.« (Bozzi 2005, 137.) Vgl. hierzu auch mein Resümee, 217ff. 209
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mit diesen Lücken, dem Raum zwischen den Sprüngen gewissermaßen, im Anschluss? Wie wirken sie sich auf die Rezeption der Texte aus? Rohberg erläutert, durch die zuweilen unvermittelte Aneinanderfügung der Sätze finde bei Müller »keine Integration in einen ganzheitlichen Sinnentwurf statt« – das berührt abermals den ideologiekritischen Aspekt. »Die Synthese«, folgert er, »bleibt aus, ist allenfalls vom Leser zu realisieren«.429 Dawidowski wird noch deutlicher: Der aus den Fraktalisierungen entstandene dynamische Müllersche Text garantiere, so schreibt er, »seine uneinholbare Offenheit durch die größtmögliche Einbeziehung des Lesers«.430 Ganz anders als Sebald bietet Müller dem Rezipienten keine labyrinthische Fülle kleiner und kleinster Narrative, in der es sich leicht verlieren lässt. Anstatt auf großen Materialreichtum zu stoßen, wird die Leserin durch Müllers Prinzip der Auslassungen vielmehr permanent dazu aufgefordert, selbst die Lücken zu füllen und zu ergänzen. Auch optisch macht sich dies bemerkbar: In Entsprechung zu den ausgelassenen Sätzen gibt es in der graphischen Ausgestaltung der Texte Lücken und Aussparungen, insbesondere in der Form zahlloser Zeilenumbrüche. Damit gebe Müller, so Eke, dem Leser Raum, »sich in den Metaphern einzurichten und die fehlenden Verknüpfungen zu (re-) konstruieren zu einem hypothetischen Bild des Ganzen«.431 Dies wirft auch auf die häufige Kritik an Müllers angeblicher Hermetik ein neues Licht. Die maximale Offenheit ihrer Texte fordert die Lesenden permanent heraus und kann zuweilen überfordern. Müller riskiert dies allerdings bewusst. Ihr vorderstes Ziel bei der Textproduktion ist, wie gesehen, den »Überfall« im Text spürbar werden zu lassen, d.h. die Irritationsmomente, die ihr Schreiben generieren, in Sprache umzusetzen. Das beschriebene Spannungsverhältnis zwischen Sprechen und Schweigen, zwischen geschriebenem und nicht geschriebenem Satz muss hergestellt werden, um die Unruhe fühlbar zu machen – letztlich auch für den Leser. In einem der neueren Essays erklärt Müller, für sie selbst als Literaturrezipientin messe sich die Qualität eines Texts immer an seinem Potential, den gewissen »Irrlauf im Kopf« (K 20) auszulösen. Die Kraft eines Texts, Verstörung hervorzurufen, zwingt den Lesenden immer wieder in den Tiefenraum des Texts, in die Auslassungen, deren Anwesenheit auf der Textoberfläche spürbar gemacht werden muss. Gut zu sehen ist dies beispielsweise anhand der narrativen Technik in Heute wär ich mir lieber nicht begegnet. Auf den ersten Blick mag Müllers Erzählverfahren dort an Sebalds labyrinthische Narrationen erinnern. Die kreisende Erzählbewegung vollzieht die Erinnerungsbewegung 429 Rohberg 1997, 34. 430 Dawidowski 1997, 14. 431 Eke 1991b, 17. 210
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der namenlosen Protagonistin nach. In einem »diffuse[n] Nacheinander vielzähliger Anekdoten, Erinnerungsfragmente und Reminiszenzen«, von »Assoziationen, Motive[n], Analogien, Vergleiche[n] und unerwartbare[n] Korrespondenzen«, schreibt Philipp Müller in seiner kurzen Analyse des Romans, werde deren fragmentarisierte Biographie erzählt. Dieser Reflexions- und Erinnerungsprozess bringe »nichts auf den Punkt, sondern vertraut sich nur der unablässigen Fortsetzung der subjektiven Selbstbetrachtung an. Statt einer zeitlichen und nicht zuletzt leicht zu objektivierenden Ordnung der Ereignisse nachzukommen, verfährt der Rückblick digressiv.«432 Ausschlaggebend aber ist, dass die Rahmenhandlung von der Straßenbahnfahrt diesen Rückblick immer wieder unterbricht und zugleich rhythmisiert. Die Einschübe beschreiben nicht nur andere Fahrgäste und erzählen kleinere Szenen, die sich zwischen diesen abspielen, sondern sie kommen mit verlässlicher Regelmäßigkeit auf den eigentlich Grund dieser Fahrt zurück: Loop-artig kehren Sätze oder Halbsätze wie »Ich bin bestellt«, »wenn ich bestellt bin«, »wenn man bestellt wird«, »an Tagen, an denen ich nicht bestellt bin« usw. wieder und erinnern daran, dass die eigentliche Katastrophe noch bevorsteht. Der Verhörtermin, dessentwegen die Ich-Erzählerin in der Bahn sitzt, bildet insofern die Leerstelle, die große Auslassung, um die sich sämtliche andere Erzählfragmente gruppieren. Wie wenig es dabei wiederum um die Unmöglichkeit einer Verbalisierung traumatischer Ereignisse geht, zeigt sich allein schon daran, dass die Retrospektiven durchaus von anderen Verhören berichten. Die entscheidende Funktion dieses Erzählaufbaus ist ein anderer: Alle anderen Erzählelemente, d.h. die Fragmente gleich aus welcher Lebensphase der Protagonistin, erhalten dadurch, dass sie im Laufe dieser Straßenbahnfahrt erinnert und somit in Beziehung zu dem bevorstehenden Ereignis gesetzt werden, einen Gegenwartsbezug, eine Präsenz, die im Rahmen einer anderen, rein retrospektiven Erzählung nicht herzustellen wäre. Philipp Müller bezeichnet den Erzählstrom, der den Roman in Bewegung hält, als einen »Prozess der Vergegenwärtigung«.433 Das ist im Wortsinn zu verstehen: Sämtliche Ereignisse der Vergangenheit, von denen erzählt wird, erfahren eine Aktualisierung insofern, als offen bleibt – durch die Auslassung, die auf das Bevorstehende verweist –, in welchen Kontext sie schließlich noch eingebettet werden. Die Erzählbewegung ist hier weniger unabschließbar, weil sich die Narrative endlos zu verzweigen scheinen, sondern vielmehr weil unklar bleibt, wohin diese noch leiten werden. Diese Offenheit verhindert per se jede Form der Nostalgisie-
432 Müller 2002, 53. 433 Müller 2002, 53. 211
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rung im Rekurs auf vergangene Ereignisse und stellt das hochgradig verstörende Potential des Texts sicher.
»Wir nennen es ›Horizont‹, was sich eng ums Gesicht legt«434 – die entfallende Demarkationslinie Nirgends zeigt sich die Virulenz der poetologischen Entscheidungen Müllers, die in den vorausgegangenen Analysen nachvollzogen wurden, deutlicher als in einer kurzen Passage im Essay Gegenstände, wo die Haut zu Ende ist. Der Beginn dieser Textstelle ist eingangs in anderem Zusammenhang bereits zitiert worden, dennoch soll der gesamte Abschnitt abschließend noch einmal angeführt werden, da sich hier vieles des Vorausgegangenen auf eine Weise verdichtet, die zu einem resümierenden letzten Blick auf die poetologische Relevanz der Raumkonzeptionen Müllers einlädt. Die Textpassage lautet folgendermaßen: In den weiten Landschaften schreit die Stille. Die Starre lauert. Landschaft ist Stilleben, mit dünnem grünem Boden. Der Einbruch wartet. Er fängt an zwischen den Schläfen und hört unter den Sohlen der Schuhe nicht auf. Die innere Unruhe und die äußere Starre fallen übereinander her. Wir nennen es ›Horizont‹, was sich eng ums Gesicht legt. Wir reden vom ›Gesichtskreis‹. Wir sind eingekreist und werden lächerlich. (TS 100)
Die ersten Sätze der Passage nehmen Bekanntes wieder auf: Die entmystifizierte Landschaft ist von einer bedrohlichen Starre, in ihr lauert »der Einbruch«, Körper und Umgebung befinden sich in einem osmotischen Verhältnis und greifen ineinander. Interessant aber ist vor allem, was dann folgt: »Wir nennen es ›Horizont‹, was sich eng ums Gesicht legt«, schreibt Müller. Das Horizontmotiv, erklärt Albrecht Koschorke in seiner Geschichte des Horizonts, unterscheide sich von allen anderen Landschaftsmotiven in der Literatur und den visuellen Künsten durch seinen formalen Charakter, da anhand desselben prinzipielle Wahrnehmungsstrukturen verhandelt würden und der Horizont als eine »konstituierende Bezugslinie für die Ordnung der Empirizität überhaupt« gelte.435 Der Horizont gliedere sich dem Feld der Wahrnehmung nicht ein, sondern organisiere es. Wenn nun der Horizont selbst, d.h. die Demarkationslinie, die Nähe und Ferne voneinander scheidet, sich »eng ums Gesicht« legt, ist jegliche Orientierungsmöglichkeit zunichte gemacht. Was 434 TS 100. 435 Koschorke 1990, 7. 212
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Müller hier entwirft, ist somit die konsequente Fortführung des stetigen Ungültigwerdens sämtlicher Parameter der gängigen Raumwahrnehmung, das sie in so vielen ihrer Texte vorführt. Der Gegensatz von Nähe und Ferne, von Enge und Weite ist nun vollkommen aufgehoben, innen und außen verschmelzen, oben und unten sind nicht mehr zu unterscheiden: »Wir bewegen uns durch den leeren Himmel, der hoch oben und so weit unten ist, daß er die Knöchel erreicht.« (TS 100) Im Verlust der Raumkoordinaten manifestiert sich die endgültige Unterbrechung der Verbindung von Raumwahrnehmung und -beherrschung. Legt sich der Horizont »eng ums Gesicht«, so ist dies die radikale Umkehrung des literarisch inszenierten Panoramablicks, den Koschorke als den Höhepunkt ›visueller Landnahmen‹ beschreibt und der als Ausdruck der Omnipotenz des Betrachters die literarischen Landschaftsdarstellungen im 18. und frühen 19. Jahrhundert dominiert.436 Bei Müller trifft man insofern auf die völlige Verkehrung dieses Verhältnisses, als sich nicht die Blickende die Landschaft untertan macht, sondern vice versa: »Wir reden vom ›Gesichtskreis‹. Wir sind eingekreist und werden lächerlich.« Der Mensch macht sich »lächerlich«, indem er an einer Fiktion der Raumbeherrschung festhält, unbeirrt vom Horizont spricht und somit an ein tradiertes Wahrnehmungsmuster anknüpft, dessen Gültigkeit längst fragwürdig geworden ist. Müller greift den Terminus des Gesichtskreises allein auf, um ihn zu demontieren: Die mit dem Begriff verbundene Vorstellung von einem souveränen Blick über den Raumausschnitt, der sich vor den Augen zeigt, gilt hier nicht mehr. Im Gegenteil: Der Blickende steht zwar im Zentrum des Gesichtskreises, nicht aber, weil er mittels seines Blicks den Kreis dominiert, sondern weil er seinerseits »eingekreist« wird. Fragt man, wem oder was der wahrnehmende Mensch hier bei Müller ausgeliefert ist, wird mit Rückbezug auf die bisherigen Analysen ihres Raumverständnisses deutlich, dass es die eigene Wahrnehmung des Außenraums sein muss, der sich die Blickende hier nicht entziehen kann. Denn wiederum gilt, dass für Müller, im Sinne des Modells der Syntheseleistung, keine Raumkonstituierung denkbar ist, die unabhängig von der Perzeption des jeweiligen Raums wäre. Was beschrieben wird, ist insofern die Schilderung eines Selbstverhältnisses; hier spitzt sich ein Gedanke zu, der beispielsweise im rutschenden Kiosk bereits vorhanden ist. Besondere Brisanz besitzt Müllers Bild des auf den Leib rückenden Horizonts aufgrund der Wahl des Motivs selbst, denn, anders als der Kiosk, ist der Horizont als Raumfigur, wie erwähnt, immer formalen Charakters. Indem der Horizont Nähe und Ferne scheidet, grenzt er, so
436 Vgl. Koschorke 1990, 155ff. 213
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Koschorke, immer das Feld des Erfahrbaren und damit Deutbaren von dessen Gegenteil ab, er trennt Sichtbares von Unsichtbarem. Thematisiert wird somit vermittels des Horizontmotivs immer auch der Vorgang des Signifizierens selbst, versteht man das Zeichen als eine Konfiguration von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Die Geschichte des Horizonts beschreibt darum, wie Koschorke zeigt, nicht allein die fortwährende Neuverhandlung der Beziehung zwischen Raum und Zeichen, sondern auch die der Binnenstruktur des Zeichens. Entsprechend verbinden sich in seinen Erläuterung des Ungültigwerdens des Horizontbezugs zu Beginn der Moderne eine kulturhistorische und eine zeichentheoretische Argumentationsschiene. In einer restlos durchreisten Welt, so die kulturhistorische Erklärung, existiere keine völlig fremde Ferne mehr. Dieser Wegfall des unsichtbaren Sehnsuchtsziels hinter dem Horizont mache die Entbehrung omnipräsent und ortlos zugleich. Das in der Literatur vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert hinein so zentrale poetische Motiv der Fahrt werde damit obsolet. Dieser »Ungültigkeitserklärung der Motorik im Raum« folgt, wie Koschorke formuliert, eine »Motorik des Schreibens«. Die Literatur wird – wie auch die anderen Künste – selbstreferentiell: »Was auf der Ebene der Bildlichkeit die Entwertung der Ferne des perspektivischen Tiefenraumes ist, stellt sich semiotisch als Absolutwerden des Signifikanten dar.«437 Koschorkes Nachvollzug der Verlaufsform des Horizontmotivs endet in der Moderne. Er beschließt diesen mit der Vermutung, die Horizontstruktur verschwinde letztlich wohl zugunsten eines Denkens, das sich nicht mehr an der Frage nach Identität und Alterität abarbeite.438 Müllers Raumentwürfe nun lassen sich zweifellos einer solchen ›neuen‹ Denkungsart zurechnen, denn ihre Texte versuchen, die Frage nach Immanenz und deren Überschreitung, von der Koschorke spricht, radikal zu beantworten, indem sie an die Stelle der Unterscheidung von Immanentem und Alternem ein System permanenter Überschreitungen setzen.439 Wie gesehen, ist auch das Menschenbild, das in ihren Texten zum Tragen kommt, nicht mehr, wie beispielsweise das der Psychoanalyse, an der Demarkationslinie zwischen Ich und Anderem orientiert, sondern beschreibt den einzelnen Menschen – das wurde ausgeführt – als Teil eines flexiblen Geflechts. Die permanenten Überschreitungen gehen außerdem 437 Koschorke 1990, 321. 438 Koschorke 1990, 322f. 439 Paola Bozzi gibt den Hinweis, die Literatur Müllers sei auch insofern eine permamente Irritation bestehender Grenzen, als sie in keine der Kategorien, die der Literaturbetrieb bereithält, passe und somit Zuschreibungen wie ›Minderheitenliteratur‹ prinzipiell in Frage stelle. (Vgl. Bozzi 2005, 9.) 214
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sehr viel deutlicher, als dies bei Duden der Fall ist, über die Grenze zwischen künstlerischer und nicht-künstlerischer Erfahrung hinweg: Wie im zitierten Interview gesehen, trennt Müller nicht zwischen einem literarischen und einem nicht-literarischen Weltzugang. »Ich glaube«, wurde sie bereits zitiert, »die Poesie ist in der Welt, nicht in der Sprache. Die Poesie der Sprache ist ein Nonsens, es gibt die Poesie der Welt«.440 Jeder Weltwahrnhemung und jeder Weltbeschreibung ist ihre Bedingtheit, ihre Relationalität und Performativität eingeschrieben. Das Poetische – des Texts wie der Welt – wahrnehmen zu können, ist ausschließlich abhängig davon, ob sich der Wahrnehmende auf »das lückenlose Einsinken in die Wahrnehmung« (TS 40) einlässt oder nicht. Dies allein bedingt, ob jene Herstellung von Präsenz gelingen kann.
440 Vgl. Fußnote 393. 215
RESÜMEE
W.G. Sebald, Anne Duden und Herta Müller gelten nicht ausschließlich als Verfasser/inn/en herausragender Gegenwartsliteratur, sondern zugleich als ausgewiesene Poetolog/inn/en. Das zeigt sich in vielen ihrer essayistischen Schriften, vor allem aber auch daran, in wie hohem Maße ihre Prosatexte poetologisch aufgeladen sind. Anlass zu dieser Studie war die Vermutung, die poetologischen Entscheidungen des jeweiligen Autors bzw. der jeweiligen Autorin manifestierten sich innerhalb der literarischen Texte besonders deutlich in den Raumfigurationen, die diese Texte präsentieren. Die Funktion der in den Prosawerken virulenten Räume gehe im Sinne Lotmans, so dort die Behauptung, in zweifacher Weise über die Etablierung eines Settings für die jeweilige Narration hinaus: Die Texte entwürfen anhand dieser Räume nicht nur ein Weltmodell, sondern auch ein Modell ihrer selbst. Um diese Schichten freizulegen, wurde mit dreierlei Lesarten gearbeitet: Die topographische Lektüre, d.h. die Bestand aufnehmende Verzeichnung der in den Texten anzutreffenden Räume, wurde jeweils ergänzt um eine topologische Analyse derselben. Die poetologische Analyse, der dritte Schritt, auf den die beiden ersten hinzielen, baute auf den beiden vorausgegangenen auf. Ausgehend von Lotmans These also sind in der Durchsicht der Topographien, die W.G. Sebalds Texte entwerfen, mehrere Raumfigurationen zu diagnostizieren gewesen, denen diese Doppelfunktion eigen ist. Die Schachtelung und das Labyrinth haben sich als Figurationen erwiesen, mittels derer Sebald, grob zusammengefasst, zum einen die ›Einrichtung der Welt‹ und das Verhältnis der einzelnen historischen Ereignisse, Orte, Figuren usf. zueinander beschreibt. Zum anderen finden sich sowohl die Schachtelung – in der Form einer Staffelung der narrativen Instanzen – als auch das Labyrinthische als Erzählprinzipien in den Texten wieder. Auch für die ruinösen Räume Sebalds gilt – das wurde hier am Beispiel der Hotels und der Konzeption der Stadt als Schädelstätte gezeigt –, dass sie sich bei einer topologischen Lektüre als Signaturen einer ruinierten Welt lesen lassen. Zugleich zeigt sich dabei aber auch der emblematische Charakter des Ruinösen für die Textkonstruktion: Das Denken in Ruinen gibt sich als das zu erkennen, was Benjamin ›Ansied-
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lung von Wissen‹ nennt, und schlägt sich in Sebalds Erzähltechniken, der Bricolage, den Zitationsverfahren, der Bildmontage usw., nieder. Narrative Auswege aus der ruinierten Welt bieten die beiden in der Folge aufgezeichneten Fluchtpunkte an: zum einen der Entwurf einer »unhistorische[n] Weltgegend«,441 der nachapokalyptischen Schnee- und Eislandschaft, und zum anderen der Rückbezug auf eine idealisierte Vorkriegswelt. Beiden Textbewegungen, der Sublimierungsbewegung auf die postnaturgeschichtliche Welt sowie der Nostalgisierung, die in Sebalds musealen Räumen zur Anschauung kommt, ist ein Moment der Stillstellung eingeschrieben. In beiden Fällen geht es um die Überwindung des Historischen, d.h. es kommt hier eine evasive Tendenz zum Tragen, die das Sebaldsche Projekt eines literarischen Erinnerns durchkreuzt. Allein in der Jerusalem-Episode in der Erzählung Ambros Adelwarth visiert der Text keinen dieser beiden Fluchtpunkte an. Die Textpassage markiert insofern einen Ausbruch aus den sonst ungebrochen dominanten narrativen Verfahren Sebalds, denn dort führt er seine Ruinenästhetik an eine Grenze, an der sämtliche Sinnstiftungsversuche zerschellen. Dieser Randbereich des Signifizierbaren, in den sich Sebald dort exkursartig hineinwagt, bildet jene Zone, von der die Texte Anne Dudens ihren Ausgang nehmen. Drei Typen Dudenscher Raumfigurationen sind im Gesamten zu verzeichnen: erstens die klaustrophobischen Räume, die die Disposition des im Körper eingeschlossenen Subjekts bebildern, und zweitens, wie im Prolog des Bands Übergang und in den Essays gesehen, jene paradoxalen Raumfigurationen, die den Text selbst bzw. seinen Entstehungsort zu fassen suchen. Während das Subjekt in seinem Identitätskorsett gefangen bleiben muss und jede Diffusion mit der Außenwelt zum Kollaps führt, wie schon in Das Landhaus beschrieben, befindet sich der Text als »Schwellenwesen«442 immer an der Grenze, die er zu überschreiten sucht. Vermittels der Beschreibungen von Grenzauflösungen setzt Duden somit ihren poetologischen Kerngedanken narrativ um: den Gedanken, dass der Text dort entsteht, wo er die eigenen Begrenzungen zu zersetzen sucht. In den paradoxalen Raumfigurationen wie der Krypta, der »Unermeßlichkeit auf der Stelle« und der »Horizontal-, Vertikal- und Totalintensität« (Amsd 32) kommt dessen aporetisches Ringen um eine Öffnung der Grenze zwischen Signifizierbarem und NichtSignifizierbarem zur Anschauung. Der dritte Dudensche Raumtypus findet sich allein dort in ihrem Schreiben, wo von Musik und Gemälden die Rede ist. Während der sprachlich verfasste Text sich zwar den Grenzen des Verbalisierbaren zu nähern und diese aufzuweichen, sie aber nicht zu
441 Sebald 1994 [1985], 28. 442 Duden o.J., 41. 218
RESÜMEE
überschreiten vermag, eröffnen die anderen Künste in der Darstellung Dudens Räume, deren Öffnung nicht im selben Augenblick von einer schließenden Bewegung sekundiert wird. Bei dieser gerafften Zusammenschau der Raumfigurationen Dudens deutet sich nun an, dass das Modell und die Begrifflichkeiten Lotmans hier nicht ganz ausreichen: Zwar ist es durchaus auch hinsichtlich der Räume Dudens sinnvoll, zwischen einer topographischen Bestandsaufnahme, einer topologischen und einer poetologischen Lektüre zu unterscheiden. Deutlich wird jedoch, dass die topologische Lektüre weniger Weltmodelle im Sinne Lotmans zu Tage fördert, als die Disposition des Subjekts und dessen Weltbezug beschreibt. Bei Duden steht eindeutig nicht die Verfasstheit des Raums, sondern die sensorische Raumperzeption des wahrnehmenden Ichs im Vordergrund. In der Einleitung dieser Studie ist erläutert worden, dass Raumwahrnehmung und Raumgenese, der gegenwärtigen Theoriebildung gemäß, immer in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander zu denken sind und inwiefern damit der körperliche Aspekt nicht nur der Raumwahrnehmung, sondern bereits der Raumgenese in den Mittelpunkt rückt. Es hat nun ganz den Anschein, als sei zur Analyse von Texten – wie denen Dudens –, die sich auf die körperliche Raumperzeption konzentrieren, das Lotmansche Modell nur begrenzt brauchbar. Dies bestätigt sich, besieht man Müllers Raumfigurationen. Bei Herta Müller lässt sich zwar bezüglich der zu Beginn entzifferten Figuren des Einschlusses und der Stillstellung durchaus noch von einem Weltmodell – dem Dorf als ›Kiste‹ – sprechen, das der Text anhand spezifischer Erzählverfahren nachmodelliert: Mittels der parataktischen Montage der Momentaufnahmen gelingt es, die beschriebene Enge und Stagnation, von denen die histoire erzählt, auch im discours umzusetzen. Aber das berührt noch nicht die poetologische Dimension der Räume Müllers. Überall dort, wo ihre Texte durch Raumbeschreibungen das eigene Funktionieren schildern, geschieht dies folgendermaßen: Die in den Texten gezeichneten Räume sind immer Produkte je spezifischer Wahrnehmungs- und Erinnerungsleistungen; jeder Raum ist nicht mehr und nicht weniger als ein Geflecht aus den Komponenten, die sich in ihm befinden und ihn entsprechend generieren. Die raumbildenden Komponenten stellen ihrerseits keine klar abgrenzbaren Entitäten dar, sondern stehen in einem Verhältnis osmotischer Übergänge zueinander. Diese Geflechte sind Abbild des flexiblen, polysemischen Textgefüges selbst. Die Parallelen zu Dudens Texten, die sich auf den ersten Blick aufdrängen, entpuppen sich bei genauerem Hinsehen als nur scheinbare. Denn während Duden anhand der Diffusionen zwischen Ich und Außenwelt einerseits die Unmöglichkeit, die Grenzen des Subjekts zu öffnen,
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ohne dies zu gefährden, und andererseits den Versuch des Texts, die Grenzen des Signifizierbaren aufzuweichen, ausstellt, geht Müller von anderen Prämissen aus. Den Menschen denkt sie – im Sinne Norbert Elias’ – als nur eine Komponente komplexer Geflechte, der osmotische Austausch zwischen dem Menschen und seiner Umgebung beschreibt dessen Grunddisposition und keinen Ausnahmezustand. Es geht bei Müller nicht wie bei Duden um die Problematisierung der Grenze zwischen Ich und Außen – und genau daran zeigt sich, inwiefern ihre Konzeption sowohl des Subjekts und dessen Raums als auch des literarischen Texts einen neuen Weg einschlägt, der nun mit Lotmans Modell gar nicht mehr zu beschreiben ist: Lotman arbeitet in seinen Textanalysen vornehmlich mit räumlichen Parametern wie oben/unten, rechts/links, geschlossen/offen usw.443 Das bedeutet, er gebraucht Parameter, die dem euklidischen Raummodell entstammen. Wichtigstes topologisches Merkmal des Raums sei, schreibt er, prinzipiell die Grenze. Sie teile den Raum »in zwei disjunkte Teilräume« und somit den Text in miteinander konkurrierende Vorstellungen von der Welt.444 Auch Sebalds Räume weichen, so war zu sehen, im Grunde nicht vom Container-Raummodell ab. Weder mit dem Labyrinth und der Schachtelung noch mit seinen ruinösen oder musealen Räumen entwirft er Raumfigurationen, die den euklidischen Raum samt seinen Achsen und seiner klaren Grenze zwischen Innen und Außen in Frage stellen. Allein in der Jerusalem-Episode, in welcher der Einbruch des Abjekten die Ordnung des Raums wie des Texts stark unterminiert, tastet er sich an diese Grenze heran. Dudens Kampf um die Aufweichung von (Sprach-) Grenzen nun lässt sich als ein beständiges Sich-Reiben am euklidischen Raummodell begreifen: Es sind die klassischen, von Lotman benannten Raumparameter, an denen sie sich abarbeitet, im Besonderen der Begriff der Grenze. Dudens literarisches Projekt besteht zweifellos darin, die klassischen Dichotomien abendländischen Denkens zu attackieren und herauszufordern, wie so oft in der Forschungsliteratur betont. Ihre Texte bleiben letztlich aber in ihrem Ringen mit denselben an diesen Begrenzungen orientiert. Müller hingegen kennt keinen euklidischen Raum mehr. Denn, wie geschildert, denkt sie Räume als rein relationale Gebilde, und der relationale Raum weist selbstverständlich keinerlei feste Grenzen auf. Entsprechend ist der Textbegriff, der in Müllers Schreiben zum Tragen kommt, ein anderer als bei Duden: Müllers Text ringt nicht beständig mit der Grenze des Signifizierbaren. Wie anhand ihres Einsatzes der Auslassung ausgeführt, versteht auch dieser sich vielmehr als of-
443 Vgl. Lotman 1972, 313ff. 444 Vgl. Lotman 1972, 327. 220
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fenes, prozesshaftes Gebilde, das in der Relation zum Lesenden als »gebrechliche Einrichtung«445 im besten Fall momenthaft den Augenblick erhellt. Es zeigt sich also, dass dort, wo in der Literatur Raum in Abhängigkeit vom Bezugssystem der Beobachter, d.h. als Produkt sinnlicher Wahrnehmung und körperlicher Praktiken verstanden, kurz, dass dort, wo Raum relational gedacht wird und sich darin ein performatives Textverständnis manifestiert, Lotmans Modell nicht mehr greift bzw. dringend erweitert werden muss. Zwar bleibt seine Unterscheidung der verschiedenen Funktionen von Raumschilderungen für den Text ausgesprochen sinnvoll. Dies muss aber durch Impulse aus der neueren Raumtheorie, die den Körper mitdenkt, ergänzt werden. Nur, wenn der Blick auf Räume in Texten solchermaßen revidiert wird, kann es gelingen, der Bedeutung von Räumen in zeitgenössischen Literaturen gerecht zu werden. Denn, wie gesehen, mag sich die poetologische Dimension der Sebaldschen Räume noch mit Lotman allein erschließen lassen. Dort aber, wo in den literarischen Raumfigurationen dasjenige ansichtig wird, was die poststrukturalistische Literaturtheorie, wie zu Beginn erläutert, als die Räumlichkeit des literarischen Texts bezeichnet, d.h. dort, wo Literarizität als das sich den Kategorisierungen Widersetzende gedacht und zur Anschauung gebracht wird, bedarf es zur Analyse eines Werkzeugs, das dies zu entziffern vermag. Die Literaturwissenschaft muss hierzu Anleihen bei anderen Disziplinen machen und, wie im Müller-Kapitel mit der dortigen Referenz auf Löw geschehen, beispielsweise das Raumwissen der Soziologin mit dem eigenen Textwissen engführen. Albrecht Koschorke beschließt seine Untersuchung des Horizontmotivs, wie erwähnt, mit der Annahme, die binäre Horizontstruktur verschwinde mit dem Ende der Moderne zugunsten eines neuen Denkens, das nicht mehr an der Frage nach Immanenz und deren Überschreitung orientiert sei. Das Horizontmotiv wird in der Folge, so ließe sich ergänzen, durch andere Raumfiguren abgelöst, die ihrerseits ein Denken jenseits der Frage nach Immanenz und Überschreitung, nach Identität und Alterität veranschaulichen. In theoretischen Figuren aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie beispielsweise Homi Bhabhas third space oder Deleuze/Guattaris Rhizom treffen wir auf räumliche Artikulationen eines so gearteten Denkens – und nicht zufällig wird die scharfe Grenzziehung zwischen Literatur und Theorie, zwischen Literatur und Philosophie gerade dort zunehmend hinfällig. Um ein solches philosophisch-literarisches Denken, wie es sich in Herta Müllers System permanenter Überschreitungen niederschlägt, in der Textanalyse nach- und mitzuvollziehen zu können, bedarf auch der literaturwissenschaftliche 445 Müller 1997b, 7. 221
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Blick einer Dynamisierung, um sich über die Beschränkungen der eigenen Disziplin hinweg zu bewegen.
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= =
CS
=
NdN = RdS
=
SG
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* Amsd = J Ü W Z
= = = =
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* HT
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HW
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K
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N
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TS
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März 2008, 356 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN: 978-3-89942-913-8
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Anja K. Maier Kisten, Krypten, Labyrinthe Raumfigurationen in der Gegenwartsliteratur: W.G. Sebald, Anne Duden, Herta Müller
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Lettre Céline Kaiser Rhetorik der Entartung Max Nordau und die Sprache der Verletzung 2007, 242 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-672-4
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Sibel Vurgun Voyages sans retour Migration, Interkulturalität und Rückkehr in der frankophonen Literatur 2007, 322 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN: 978-3-89942-560-4
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Thomas Gann Gehirn und Züchtung Gottfried Benns psychiatrische Poetik 1910-1933/34 2007, 240 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-651-9
Volker Georg Hummel Die narrative Performanz des Gehens Peter Handkes »Mein Jahr in der Niemandsbucht« und »Der Bildverlust« als Spaziergängertexte 2007, 220 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-637-3
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