Kempowski-Jahrbuch: Band 2 2023 9783111234427, 9783111330938, 9783111330945

Volume 2 of the Kempowski Yearbook is devoted to the novel Schöne Aussicht (1981). From the viewpoint of family Kempowsk

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German Pages 332 Year 2023

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort der Herausgeber
Teil A: Aus dem Archiv
Robert Kempowskis Spazierstock
Teil B: Schöne Aussicht
Passivität als Handlungsmodus
»Wir haben unsere Bildung auch nicht in der Tüte gekauft«
Fräulein Schlünz und die Bewertungsstrategien pädagogischen Handelns
»Drinnen löst sich die Ordnung sofort auf« – Kleine Kosmologie der Schule in Walter Kempowskis Schöne Aussicht
Gemischte Temperaturen – Männlichkeit und Bürgertum in Walter Kempowskis Schöne Aussicht und Tadellöser & Wolff
Zwischen Trinkkultur und (maskulinem) Rollenspiel – Performativitäten des Stammtischs in Walter Kempowskis Schöne Aussicht (1981) und Heinrich Manns Der Untertan (1918)
Das Bodenlose, der Kugelbau und die (literarischen) Konstruktionen der Zwischenkriegszeit
Schöne Aussicht: eine stilistische Positionierung im Romanwerk Walter Kempowskis mit digitalen Methoden
Schöne Aussicht? Mutmaßungen über das Bürgertum in der Provinz – In Erinnerung an Peter A. Berger (1955–2018)
Schlimme Aussichten – Politisches Handeln und Versagen der Zwischenkriegszeit in Kempowskis Roman Schöne Aussicht
Teil C: Varia
»Ich kämpfe um mein Recht, soweit ich es vermag« – Die Personal-Abbau-Verordnung von 1923 und die prekäre Lebenssituation verheirateter Lehrerinnen in Hamburg in der Weimarer Republik
Der »Herr Lehrer« und seine Schüler – von Lars Lohrisch ins Bild gesetzt
Teil D: Spatien: Kempowski im Kontext
Die Wahrheit über Ernst Böckelmann – Kempowskis Lehrerfigur im Kontext
Teil E: Literaturbericht
Der Mittmensch Walter Kempowski – Vorbemerkungen und Anmerkungen zu: Tom Kindt/Marcel Lepper/Kai Sina (Hgg.): Poetik der Mitte. Walter Kempowski im literatur- und ideengeschichtlichen Kontext. Göttingen: Wallstein 2022
Teil F: Kempowski-Projekte
Echolot und Kirchenhall – Eine 24-Stunden-Lesung im Rahmen der Rostocker Kempowski-Tage 2023
Die Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge
Personenregister
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Kempowski-Jahrbuch: Band 2 2023
 9783111234427, 9783111330938, 9783111330945

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Kempowski-Jahrbuch

KempowskiJahrbuch Für das Kempowski-Archiv-Rostock. Ein bürgerliches Haus e.V., die Kempowski Stiftung Haus Kreienhoop und den Lehrstuhl für Neuere und neueste deutsche Literatur der Universität Rostock Herausgegeben von Lutz Hagestedt, Carolin Krüger, Katrin Möller-Funck und Stephan Lesker

Band 2 2023

ISBN 978-3-11-123442-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-133093-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-133094-5 ISSN 2751-4323 Library of Congress Control Number: 2023944936 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Bernhard Springer, „Im Kreidestaub”, 2022, 65 x 90 cm, Acryl & Sprühlack auf Wellpappe / Leinwand, nach einer Aufnahme von Lars Lohrisch aus dem Jahre 1980. Entwurf der Einbandgestaltung von Ricardo Ulbricht. Satz: Ricardo Ulbricht Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Vorwort der Herausgeber  IX

Teil A: Aus dem Archiv Karen Duve Robert Kempowskis Spazierstock  3

Teil B: Schöne Aussicht Zum Geleit: Schöne Aussicht im Kontext der Deutschen Chronik Passivität als Handlungsmodus  9 Christian Dawidowski »Wir haben unsere Bildung auch nicht in der Tüte gekauft« – Kempowskis Schöne Aussicht und der Bildungsdiskurs der Weimarer Republik  41 Vera Jürgens Fräulein Schlünz und die Bewertungs­strategien pädagogischen Handelns  63 Lutz Hagestedt »Drinnen löst sich die Ordnung sofort auf« – Kleine Kosmologie der Schule in Walter Kempowskis Schöne Aussicht  85 Niklas Gödde Gemischte Temperaturen – Männlichkeit und Bürgertum in Walter Kempowskis Schöne Aussicht und Tadellöser & Wolff  101 Torsten Voß Zwischen Trinkkultur und (maskulinem) Rollenspiel – Performativitäten des Stammtischs in Walter Kempowskis Schöne Aussicht (1981) und Heinrich Manns Der Untertan (1918)  115

Gustav Frank Das Bodenlose, der Kugelbau und die (literarischen) Konstruktionen der Zwischenkriegszeit  131 Ulrike Henny-Krahmer Schöne Aussicht: eine stilistische Positionierung im Romanwerk Walter Kempowskis mit digitalen Methoden  159 Nikolaus Werz Schöne Aussicht? Mutmaßungen über das Bürgertum in der Provinz – In Erinnerung an Peter A. Berger (1955–2018)  191 Sabine Koburger Schlimme Aussichten – Politisches Handeln und Versagen der Zwischenkriegszeit in Kempowskis Roman Schöne Aussicht  211

Teil C: Varia Sabine Kienitz »Ich kämpfe um mein Recht, soweit ich es vermag« – Die Personal-Abbau-Verordnung von 1923 und die prekäre Lebenssituation verheirateter Lehrerinnen in Hamburg in der Weimarer Republik  235

Lutz Hagestedt/Carolin Krüger/Katrin Möller-Funck/Stephan Lesker Der »Herr Lehrer« und seine Schüler – von Lars Lohrisch ins Bild gesetzt  265

Teil D: Spatien: Kempowski im Kontext Carolin Krüger/Stephan Lesker Die Wahrheit über Ernst Böckelmann – Kempowskis Lehrerfigur im Kontext  273

Teil E: Literaturbericht Hans Jörg Hennecke Der Mittmensch Walter Kempowski – Vorbemerkungen und Anmerkungen zu: Tom Kindt/Marcel Lepper/Kai Sina (Hgg.): Poetik der Mitte. Walter Kempowski im literatur- und ideengeschichtlichen Kontext. Göttingen: Wallstein 2022.  295

Teil F: Kempowski-Projekte Katrin Möller-Funck Echolot und Kirchenhall – Eine 24-Stunden-Lesung im Rahmen der Rostocker Kempowski-Tage 2023  307 Die Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge  311 Personenregister  317

Vorwort der Herausgeber Am 14. April 1989 notiert Walter Kempowski anlässlich eines von ihm geleiteten Blockseminars in Düsseldorf: Ich hatte nicht den Eindruck, daß ich mit meiner Gastrolle die Wissenschaft gefördert hätte. Es interessiert sie nicht, ich interessierte sie nicht. Aber: Wenn ich auch im Literaturbetrieb nichts gelte, so ist eben doch das Werk getan, sie werden’s zur Kenntnis nehmen müssen eines Tages.1

Schriftsteller, die eine wissenschaftliche Würdigung ihres Werkes befördern und sie nicht von vornherein ablehnen, dürften so häufig nicht sein. Kempowski hat die Rezeption seines Œuvres geradezu eingefordert, sodass natürlich Skepsis geboten ist. Aber auch Zuwendung, denn sein Werk ist mittlerweile breit zur Kenntnis genommen worden, wie sich bspw. anhand der Dissertationen zeigen lässt, die seit geraumer Zeit entstanden sind.2 Und auch das Kempowski-Handbuch belegt ein steigendes wissenschaftliches Interesse an unserem Autor. Uns selbst wird dies in jedem Jahr durch die Tagungen in Nartum bewusst, deren Themen und Vorträge Grundlage für das jeweils folgende Kempowski-Jahrbuch sind. So traf sich am 18. und 19.11.2022 eine Vielzahl von Forscherinnen und Forschern, um über Kempow­ skis Roman Schöne Aussicht, dem sich der vorliegende Band widmet, zu diskutieren. Es ist unmöglich, diesen Roman, der die Geschicke der Familien Kempowski und de Bonsac im Interbellum betrachtet, in kurzen Worten zu beschreiben. Vielleicht nur soviel: Es ist ein Roman über die Fährnisse der Weimarer Republik, über das Fortkommen einer bürgerlichen Familie in Zeiten politischer und wirtschaftlicher Krisen, über Erziehung und Schule, über das Aufkommen bzw. Erstarken von

1  Walter Kempowski: Alkor. Tagebuch 1989. München: Knaus ²2001, S. 175. 2  Amani Ghaly: Die literarische Darstellung von Zeitgeschichte als Familiengeschichte in Walter Kempowskis Deutscher Chronik. Dissertation. Oldenburg/Kairo: 1996. Gita Leber: »Die Spiegelung Gottes«. Walter Kempowski theologisch gelesen. Berlin: Eb-Verlag 2011 (Texte zur Wirtschafts- und Sozialethik, 9). Kai Sina: Sühnewerk und Opferleben. Kunstreligion bei Walter Kempowski. Göttingen: Wallstein 2012 (Göttinger Studien zur Generationsforschung, 9). Anna Brixa: Der ›dunkle‹ Kempowski. Kempowski anders lesen. München: Belleville 2023 (Theorie und Praxis der Interpretation, 13). Stephan Lesker: Poetik der Implikation. Referentialität und Kombinatorik im Werk Walter Kempowskis. München: Belleville 2023 (Theorie und Praxis der Interpretation, 14). Jasmine Wendenburg: Die Werkästhetik Walter Kempowskis. Dissertation. Ludwig-MaximiliansUniversität München 2022. https://doi.org/10.1515/9783111330938-203

X 

 Vorwort der Herausgeber

Antisemitismus und Nationalsozialismus, über »gehemmte« Sexualität, über das Ausloten extremer Lebensentwürfe bei gleichzeitigem Bewahren einer »mittleren« Lebensführung – und vieles mehr. Nicht zuletzt ist das Buch aber auch ein »Robert-Roman«. In vielen Szenen ist das mittlere (!) Kind der Kempowskis so etwas wie die heimliche Hauptfigur, ein nachdenklicher Ruhepol, der die Welt betrachtet – mit den Händen auf dem Rücken. Neben der unauffälligeren Ulla wirkt er im Roman ungleich präsenter. Auch, weil er seinen Eltern größeren Kummer bereitet. So erkrankt er bspw. an einer Knochenmarksentzündung oder büxt seiner Mutter in Warnemünde aus.3 Weiterhin wird immer wieder geschildert, was der allerliebste Robert in bestimmten Szenen tut oder wie er sich verhält. So hört er bspw. aufmerksam zu, als Herbert Schnack, eigentlich ein Freund Karls, der aber zu Verhaltensweisen neigt, die dieser ablehnt,4 Äußerungen von sich gibt, die seine völkisch-nationale Gesinnung verraten: Das Art-Eigene wird den Deutschen entwunden, sie sollen verniggern und sollen internationalistisch-synkopistisch-kubistisch verwurstet werden, sagt Herbert Schnack, und die Eheleute hören ihm zu. Sogar der kleine Robert hört zu, der auf dem Pott sitzt und die Rolle mit dem Klopapier abrollt. (SchA 148)

Oftmals wird das Verhalten des kleinen Robert zum impliziten Kommentar der Zeitläufte. Einmal sogar wird auf ihn ein Verfahren projiziert, das für die Werkstiftung seines Autors zentral ist: »Die vielen Flugblätter auf der Straße, meist kleine Zettel, hält Robert für Stimmen, er sammelt davon, soviel er kriegen kann.« (SchA 167) Auch in unserem Jahrbuch soll dieser wichtige Robert-Bezug herausgestellt werden: Karen Duve, die diesjährige Preisträgerin des Walter Kempowski Preises für biographische Literatur des Landes Niedersachsen, eröffnet den Reigen der Beiträge mit einer Betrachtung, die sich nicht nur mit dem Spazierstock des »echten« Robert Kempowski beschäftigt, sondern auch eine unvergessliche Begegnung mit ihm schildert. Ein weiteres zentrales Thema des Romans (wie auch insgesamt bei Kempowski) stellen die Schule und die zeitgenössische Pädagogik dar. Und so ist auch unser Jahrbuch in gewisser Weise ein Buch über Schule und Lehrer geworden. Gleich fünf Beiträge befassen sich mit diesem Thema: Christian Dawidowski beleuchtet in seinem Beitrag den Bildungsdiskurs in Kempowskis Roman und in der Weimarer

3  Auch im handlungschronologisch folgenden Roman wird Robert eine Sonderstellung einnehmen. Swing und Jazz werden für ihn Zufluchtsräume vor der NS-Diktatur. 4  So taucht er einmal mitten in der Nacht bei den Kempowskis auf und will zwischen ihnen im Bett liegen. Vgl. Walter Kempowski: Schöne Aussicht. Roman. Hamburg: Knaus 1981, S. 149. Im Folgenden zitiert mit der Sigle SchA und der entsprechenden Seitenzahl.

Vorwort der Herausgeber 

 XI

Republik. Vera Jürgens stellt die Pädagogik von Kempowskis Fräulein Schlünz in den Mittelpunkt ihres Aufsatzes und vergleicht sie mit der Lehrerin Inge Lohmark aus Judith Schalanskys Roman Der Hals der Giraffe (2011). Lutz Hagestedt entwirft eine »kleine Kosmologie der Schule« anhand von Kempowskis Raumsemantik. Sabine Kienitz widmet sich in ihrer quellenreichen Untersuchung den Auswirkungen der zum Zwecke notwendiger Einsparungen ins Leben gerufenen PersonalAbbau-Verordnung der Senatskommission für die Verwaltungsreform in Hamburg. Betroffen hiervon waren vor allem verheiratete Lehrerinnen, die aus dem Schuldienst entlassen wurden, sofern ihr Mann als Alleinverdiener den Haushalt tragen konnte. Evident ist, dass dies zu persönlichen und finanziellen Tragödien führte, denn nicht immer war das, was nominell für einen Mehrpersonenhaushalt erwirtschaftet werden musste, auch realiter ausreichend, um über die Runden zu kommen. Carolin Krüger und Stephan Lesker schließlich betrachten den Lehrer Ernst Böckelmann und seine Rolle für Kempowskis Werkstiftung. Ein Jahrbuch, das sich dem Roman Schöne Aussicht widmet, kommt nicht um das Thema (prekärer) Männlichkeit herum. Zu denken wäre da nur an die Stammtischrunden, die Karl im Zuge atmosphärischer Sondierungen besucht, in deren Parolen er aber nicht einzustimmen vermag. Widerspruch freilich äußert er nur in Gedanken. Dem Problem von Männlichkeit und dem Stammtisch als patriarchal geprägte Form der Geselligkeit (im Gegensatz zu Kaffeekränzchen) gehen Niklas Gödde und Torsten Voß in ihren Beiträgen auf den Grund. Die Themenpalette der Aufsätze wird komplettiert und bereichert durch Gustav Frank, der Kempowskis Roman in das Spektrum der literarischen Darstellungsmöglichkeiten der Zwischenkriegszeit einordnet und dabei auch den gegen Moderne und Avantgarde gerichteten »Kampfbegriff« der ›Mitte‹ analysiert. Sabine Koburger thematisiert das Versagen der Mittelschicht resp. des Bürgertums in der Zwischenkriegszeit – mit Seitenblicken auf Hans Fallada und Erich Maria Remarque. Ulrike Henny-Krahmer innoviert einen Weg, den bereits Alan Keele mit seiner Wortkonkordanz der Deutschen Chronik beschritten hat. Ihr Beitrag verortet Kempowskis Roman unter Zuhilfenahme computergestützter stilometrischer Methoden im gesamten Œuvre: Kempowski ist damit nun auch in den Digital Humanities angekommen. Das eröffnende Geleitwort ordnet Schöne Aussicht in die Deutsche Chronik und diese in den Werkszusammenhang ein. Mit Schöne Aussicht beginnt – handlungschronologisch betrachtet – der Untergang des Bürgertums, dargestellt am Beispiel der Familie Kempowski: Den Zeitläuften kann man sich nicht mehr entziehen, so sehr man es auch versucht, so sehr man sich auch in das beschauliche Idyll der eigenen vier Wände zurückziehen möchte, das ja durch den Umzug in die verrufene Werftgegend zunächst auch gar kein Idyll mehr

XII 

 Vorwort der Herausgeber

ist: Die Wäsche wird einem mit Dreck beworfen, die prekären Nachbarn schütten Abwaschwasser ins Oberlicht und grenzen sich ab. Die sogenannten »Ascheimerleute«, also der NS-Pöbel, werden lauter und vorlauter, und durch die Jüdin Rebecca werden die Kempowskis sogar persönlich mit den Auswirkungen der »Neuen Zeit« konfrontiert (»›Neue Zeit‹ – dabei denkt jeder an etwas anderes.« [SchA 321]). Wie da noch einen Lebensentwurf der Mitte (politisch, ästhetisch, moralisch) bewahren? Unlängst ist ein Sammelband erschienen, der die Rolle der Mitte für Kempowskis Werkstiftung beleuchtet. Hans Jörg Hennecke hat diesen Band für uns kritisch gelesen und rezensiert. Den zweiten Band unseres Jahrbuchs beschließt ein Bericht von einem ganz und gar nicht mittleren, sondern extremen Unterfangen: Im Rahmen der KempowskiTage 2023 sollte in der Marienkirche zu Rostock 24 Stunden ununterbrochen aus dem Echolot. Abgesang ’45 gelesen werden. Von dieser Lesung, die von Joachim Gauck eröffnet wurde und für die eine Vielzahl von Helfenden und Lesenden benötigt wurde, berichtet Katrin Möller-Funck. Die Herausgeber danken den Beiträgern und dem De Gruyter Verlag dafür, dass sie Kempowskis wissenschaftliche Rezeption begleiten und befeuern. Carolin Krüger, Katrin Möller-Funck, Lutz Hagestedt und Stephan Lesker Rostock, August 2023

 Teil A: Aus dem Archiv

Karen Duve

Robert Kempowskis Spazierstock Irgendwann war er weg, der Spazierstock. Einfach aus dem Straßenbild verschwunden. Wenn man heute doch einmal jemanden damit sieht, schaut man dreimal hin und denkt – aha, ein Dandy! Aber die Dandys sind auch verschwunden oder sie fürchten, für gebrechlich gehalten zu werden, wenn sie mit einem Spazierstock an der Ampel stehen: He Opa, grüner wird’s nicht! Wer wirklich gebrechlich ist, benutzt einen Rollator. Der sieht zwar nicht halb so chic aus wie ein Spazierstock, aber man kann seine Einkaufstasche dranhängen und sich notfalls auch noch draufsetzen. Wer nur ein wenig Stütze braucht, greift zu Nordic-Walking-Stöcken, da kann man so tun, als wolle man seine Ausdauer trainieren. Eine gewisse Mindestgeschwindigkeit braucht es dann allerdings schon.

Abb. 1: Robert Kempowskis Spazierstock, Haus Kreienhoop, Nartum. Foto: Katrin Möller-Funck.

Auch der Spazierstock von Robert Kempowski entlastet die Beine und bietet Halt in unebenem Gelände. Der silberne Handgriff weist ihn aber noch als etwas Anderes aus: Eigentlich, so signalisiert dieser Griff, ist mein Benutzer nämlich ein Flaneur. Spazierstöcke mit versilberten Handgriffen hatten ihre beste Zeit im 19. Jahrhundert. Sie waren hübsche und überflüssige Accessoires, deren Anwesenheit bewies, dass man gerade nicht arbeiten musste. Zum Arbeiten hätte man ja die https://doi.org/10.1515/9783111330938-001

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 Karen Duve

Hände freihaben müssen. Das brauchte er nicht, der Flaneur. Er verstand, das Leben zu genießen, der Schmuck seines Stockgriffs verriet seinen Status, die Verzierung seinen Übermut. Statt sich darauf zu stützen, hielt er ihn unter die Achsel geklemmt, während er einem Freund die Zigarette anzündete. Beim Gehen schwang er ihn vor sich her, die Hand locker um den Griff, Schwung nach oben, dann Richtung Boden, kurzer Bodenkontakt und wieder Schwung nach Vorne-Oben. Virtuosen berührten den Boden überhaupt nicht. Der junge Robert Kempowski hätte so einer sein können, so ein Virtuose, so ein Flaneur, wie man sich ihn auf den Pariser Boulevards des 19. Jahrhunderts vorstellt. Da hätte er hingehört, mit seinem schrulligen Humor und den hoheitsvoll vorgetragenen Sentenzen zu jeder Lebenslage. Wo war er? Im »Dritten Reich«, zwischen drahtigen Hitlerjungen, ausrasierten Nacken und trampelnden Militärstiefeln. Schnell den Stock gegen den Boden gestoßen und weitergeeilt. Nur gut, dass es wenigstens die Swing-Jugend gab. Nur gut, dass es Robert Kempowskis Spazierstock noch gibt. Nun streckt er sich mir aus der Vergangenheit entgegen, lockt mich mit dem silbernen Griff wie mit einem hexenhaft gekrümmten Zeigefinger, doch ein wenig näher zu treten, und kaum bin ich so unvorsichtig, reißt es mich durch ein kosmisches Portal in die Vergangenheit. Aber nicht in die 40er Jahre, wie man erwarten könnte, nicht in das Rostocker Wohnzimmer der Familie Kempowski. Ich weiß ja auch gar nicht, ob Robert Kempowski den Stock damals schon besaß. Meine Zeitreise geht in die späten 80er Jahre des 20. Jahrhunderts, und ich lande auf dem Fahrersitz eines Taxis, meinem damaligen Arbeitsplatz. Es ist später Abend, schon dunkel ist es, das Taxi steht am Hamburger Gänsemarkt, und das Licht, das durch die Fensterscheiben von McDonald’s fällt, beleuchtet einen Herren mit altmodischem Hut, mit Mantel, Stock und melancholischem Schnauz im Gesicht. Wie ein Wiener Caféhaus-Literat sieht er aus. Etwas steif steigt er in den Fond ein, platziert den Stock über seinen Beinen, legt die Hände darauf und sagt, dass er nach Niendorf wolle. Er hat einen kleinen Schwips, und wie viele ältere Herren mit einem Schwips, die bereits in meinem Taxi gesessen haben, nölt und quengelt er während der Fahrt vor sich hin, dass das Leben ihm böse mitgespielt habe. Allerdings ist er viel unterhaltsamer und berührender, als es einer der anderen Griesgrame je gewesen ist. Der Herr ist ein richtiger Herr, er spricht in den allergewähltesten Worten, altertümlich wie ein Mensch aus einem anderen Jahrhundert, und gleichzeitig knapp und präzise. Seine Sätze sind Extrakte, und dabei weiß ich nie so recht, macht er sich gerade über mich lustig, oder über sich selber oder meint er das jetzt ganz genauso. Wahrscheinlich von allem ein bisschen. Ich bin so bezaubert von seiner ganzen Art, dass erst allmählich zu mir durchdringt, wen ich da vor mir habe. Ich erkenne es an den Eckpunkten seiner Lebensgeschichte: Rostock – Gefängnis – Bruder – Mutter – Schuld. Vor allem aber erkenne ich es daran, wie er spricht. Die Bücher von Walter Kempowski habe ich

Robert Kempowskis Spazierstock 

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da noch gar nicht gelesen, nur die Verfilmungen gesehen. Fünffache Meisterschaft steckt dahinter, dass ich jetzt weiß, wen ich vor mir habe. Da ist zuerst die Meisterschaft Robert Kempowskis, sich zu einem einzigartigen Charakter mit einer Diktion von so großem Unterhaltungs- und Wiedererkennungswert herauszubilden und dies ein Leben lang beizubehalten. Dann die Meisterschaft seines Bruders Walter, eine untergegangene Welt samt dem jugendlichen Robert Kempowski allein durch Worte wieder auferstehen zu lassen. Drittens die Meisterschaft des Regisseurs Eberhard Fechner, aus diesen Worten zwei großartige Filme zu machen und viertens und fünftens die Meisterschaften der Schauspieler Martin Semmelrogge und Jens Weisser, die Figur des Robert so genau herauszuspielen, dass nun ich, vierzig Jahre später, in der Lage bin, ihn in einer Person, der ich nie zuvor begegnet bin und die zufällig auf dem Rücksitz meines Taxis gelandet ist, wiederzuerkennen. Ein märchenhafter Moment, als wäre eine literarische Figur ihrem Buch entstiegen, um sich ein wenig in der Wirklichkeit umzusehen. Doch als ich Robert Kempowski zum Abschied die Hand reiche und er sie mit seinen beiden Händen fest umschließt und »Du süßes, süßes Mädelchen, du« zu mir sagt, da dreht sich die Situation um: Nicht er ist aus einem Buch gestiegen, sondern ich in seines hinein.

 Teil B: Schöne Aussicht

Passivität als Handlungsmodus Zum Geleit: Schöne Aussicht im Kontext der Deutschen Chronik »Das ehrbare Handwerk der Chronisten ist in Verruf gekommen«, schrieb Franz  Josef  Görtz  1973 in seinem Aufsatz Walter  Kempowski als Historiker.1 Er bezog sich damit auf die Philosophen Gadamer und Habermas, die der Historikerzunft einen irreführenden »Objektivismus« vorgeworfen hatten.2 In welchem Lichte Walter Kempowski als Chronist betrachtet werden kann – er verstand sich ausdrücklich nicht als Historiker –, wäre noch zu diskutieren, und auch, ob und in welchem Sinne seine Romane der Deutschen  Chronik den »zeitgenössischen Objektivationen« zugerechnet werden können, von denen Jürgen Habermas gesprochen hatte.3 Der Zyklus aus Romanen und Befragungsbänden sollte nach Kempowskis Wünschen »Sisyphus« heißen.4

1 Kempowski als Chronist Von einer »Chronik« im eigentlichen Sinne wird nicht ausgehen können, wer Kempowskis Romanzyklus in den Blick nimmt, und auch nicht von »Objektivität«. Allerdings hat es Literatur (im Sinne von Belletristik) ohnehin mit anderen Parametern zu tun, sodass die Erzähltheorie von »Literatur auf zweiter Stufe« spricht: nach dem Modell der Wirklichkeit entworfen, wird Literatur quasi über ihr errichtet. Entsprechend lässt sich auch ein Roman nicht nur als Ausdruck subjektiver Weltwahrnehmung begreifen, sondern auch als »Objektivierung« auf zweiter Stufe. Dies gälte etwa dann, wenn sich ein Autor anschickte, ein Gesellschaftspanorama zu erzählen, das – soweit möglich – eine Gesamtheit der zeitgenössischen Stimmen berücksichtigt. Dann also, wenn er einen Schirm aufspannte, unter dem viele Per­ spektiven Platz fänden, ohne dass eine einzige verabsolutiert würde.

1  Franz Josef Görtz: Walter Kempowski als Historiker. In: Akzente. Bd. VII: 1972 bis 1973. Reprint des 19. und 20. Jahrgangs. Frankfurt/M.: Zweitausendeins o. J. [1974], S. 243–254, hier S. 243. 2  Vgl. Görtz: Walter Kempowski als Historiker o. J. [1974], S. 243. 3  Vgl. Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt/M.: Suhrkamp  1968 (Theorie, 2), S. 227. 4 Vgl. Walter Kempowski: Sisyphos und die Seinen. Übersichtsplan zur Deutschen Chronik, Januar 1974 (Kempowski-Archiv, Inv.-Nr. K525). https://doi.org/10.1515/9783111330938-002

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 Zum Geleit: Schöne Aussicht im Kontext der Deutschen Chronik

Wir neigen der Auffassung zu, dass Kempowski etwas Ähnliches intendiert und auch erreicht habe, indem er ein Erzähltableau vor dem Leser ausbreitete, Montage­effekte aus einer Vielzahl unterschiedlicher Quellen erzielte und sich selbst als wertende Autorinstanz radikal zurücknahm. Dieses sein Darstellungsprinzip ist oft missverstanden worden, so, als wolle sich der Autor um eine Stellungnahme angesichts des Grauens der Zeitläufte drücken. So, als arrangiere er bloß, ohne zu gewichten. Damit traf ihn ein Verdikt, das eigentlich den Historikern gegolten hatte, deren »Arrangements« bemüht waren, »das Unverbundene [zu] verbinden, täuschende Zusammenhänge [zu] stiften und alles in allem die Einheit zeitlicher Sequenz [zu] verfestigen.«5 Nichts davon trifft auf Kempowskis Erzählweise zu. Wie Franz Josef Görtz bereits 1973 einleuchtend herausarbeitete, fußt Kempowskis »mehrbändige Saga« auf der Emanzipation »des Lesers«: Der Autor hat auf ausdrückliche Erklärungen und verbalisierte Wertungen verzichtet. Er zählt nirgendwo Ursachen auf; nennt selten Gründe für das Eintreten bestimmter Ereignisse; versucht nie, mit ein paar zusammenraffenden Sätzen Zusammenhänge herzustellen. Und gelegentlich kostet es einiges Blättern, will man heraussuchen, in welchem Kalenderjahr genau man sich befindet.6

Görtz kommt auf die collagierende Rastertechnik des Erzählens zu sprechen: Einzelne Abschnitte scheinen gegeneinander austauschbar; keine Chronologie scheint ihre Reihenfolge zu reglementieren. [...] Das Erinnerungsvermögen, die Auswertung von Quellen, die Befragung von Zeugen haben keinen fortlaufenden Film reproduziert, sondern bloß eine Fülle einzelner Einstellungen, einzelner Bruchstücke und Splitter; eine Fülle isolierter Zeit­ atome also, aber keine Kontinuität.7

Snap-shots der Darstellungsweise entstehen: Sinnfälliger Ausdruck für die Heterogenität, die Inkonsistenz der Erzähl-Partikel in Kempowskis Romanen sind die nur wenige Zeilen, nie mehr als eine halbe Druckseite umspannenden Text-Blöcke: monadenartige Erzähl-Einheiten, deren Verknüpfung sich auf die unterschiedlichste Weise vollzieht, deren Beziehungen zueinander vielfältiger Natur sind.8

5  Vgl. Siegfried Kracauer: Allgemeine Geschichte und ästhetischer Ansatz. In: Ders.: Schriften, Bd. 4: Geschichte – Vor den letzten Dingen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1971, S. 168. 6  Görtz: Walter Kempowski als Historiker o. J. [1974], S. 253. 7  Görtz: Walter Kempowski als Historiker o. J. [1974], S. 253. – Das Binnenzitat stammt von Walter Kempowski: Uns geht’s ja noch gold. Roman einer Familie. München: Hanser 1972, S. 151. 8  Görtz: Walter Kempowski als Historiker o. J. [1974], S. 253.

Passivität als Handlungsmodus 

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Görtz, der nur Im Block (»wo die Zeit drastisch für acht Jahre angehalten wird«), Tadellöser & Wolff sowie Uns geht’s ja noch gold kennen konnte, resümiert hellsichtig: Eine historische »Objektivität« – Fiktion der in Verruf gekommenen Chronisten – war nie das Ziel. Alle Arrangements bezogen sich auf die autobiographische, die »bürgerliche« Perspektive (die Lebenspraxis, die Ausgangslage) des verantwortlichen Erzählers. Schon die geschickt und mit Hintersinn ausgewählten Gattungsbezeichnungen (Ein bürgerlicher Roman – Roman einer Familie) signalisieren entsprechende Absichten.9

Damit sind schon früh, vor aller wissenschaftlichen Rezeption, die wesentlichen Erzählanlässe, Gestaltungsmomente und Intentionen erkannt und benannt worden, wenngleich sie im Einzelfall relativiert werden müssten: Denn natürlich ist Kempowskis Erzählweise auch selbsterklärend – bloß eben niemals dozierend. Auch ergibt sich Chronologie (und damit Kontinuität) aus den präsupponierten Abläufen, entsteht die fortlaufende Bewegung wie im Film aus Einzelbildern und Wiederholungsstrukturen: ohne Isotopien und literarische Topik würde Kempowskis Erzählen nicht funktionieren. Kempowskis Erzähler sind, systemtheoretisch gesprochen, als »Beobachter« eingesetzt, und als Erzähler und Beobachter (teils mit Fokalisierung auf »Personal«, auf einzelne »Figuren«) treffen sie Unterscheidungen (gewöhnlich/sonderbar, einfach/umständlich, frech/allerliebst usw.) und strukturieren die Wahrnehmung der dargestellten Welt. Als textinterne Klassifikatoren nehmen sie eine Vielzahl von Perspektiven ein, vergrößern die Wahrnehmungs­ tiefe, die von einem einzelnen (isolierten) Supra-Erzähler nur begrenzt erzielt werden könnte, und fächern »die« Realität in verschiedene Realitätsverhältnisse auf. Als Anspruch, »Realität in der Fiktion zu konstruieren«, wertet dies Jasmine Wendenburg.10 Dadurch, dass wir verschiedene »Bewusstseine« kennenlernen, teils auch durch interne Fokalisierung, können sich unterschiedliche Haltungen artikulieren, sogar abwegige, ohne dass sie aus der Beobachtung herausfielen. Der Fokus richtet sich daher nicht nur auf das Zentrum des Geschehens (den, theologisch gesprochen, Tun-Ergehen-Zusammenhang der Familie Kempowski), sondern gleichermaßen auf die Ränder der Gesellschaft, da die Gemengelage und Qualität der Konflikte nur aus diesem Verhältnis von Zentrum und Peripherie heraus verstanden und umfassend dargestellt werden kann.

9  Görtz: Walter Kempowski als Historiker o. J. [1974], S. 254. 10  Vgl. dies.: Die Werkästhetik Walter Kempowskis. München: Inaugural‐Dissertation zur Er­ langung des Doktorgrades der Philosophie der Ludwig‐Maximilians‐Universität 2022, S.  105 (https://edoc.ub.uni-muenchen.de/29946/1/Wendenburg_Jasmine.pdf, letzter Zugriff am 28.8.2023).

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 Zum Geleit: Schöne Aussicht im Kontext der Deutschen Chronik

Dadurch wird mitunter fraglich, wem man welche Haltungen und Überzeugungen überhaupt (wann) zurechnen kann, denn nur wenige politische Positionierungen in dieser Umbruchsphase von ›alter‹ und ›neuer‹ Zeit und Weimarer Republik dürften Common sense (gewesen) sein: Das Allermeiste war, auch ideologisch, ständig in Bewegung, wohingegen Gewissheiten großflächig bröckelten. Weithin geteilt wurde wohl die Auffassung, dass »Versailles« den Deutschen eine Übervorteilung durch die Siegermächte und einen brüchigen Frieden beschert habe. Als Minderheitenposition im Sinne unrealistischen Wunschdenkens und nicht als emergente Wahrheit scheint sich hingegen herausgeschält zu haben, dass »es wirklich Zweck gehabt hätte«,11 den Krieg zu verlängern (um ihn womöglich doch noch zu gewinnen). Karl Kempowski vermag daran nicht zu glauben (vgl. SchA 45–46), und er steht damit im Einklang, so unsere These, mit der Textposition. Also gibt es doch Haltungen, die der Text als Ganzes vertritt? Unbedingt lässt sich, unterm Strich, ein ethisches Substrat dieser Erzählweise ermitteln, wenn es auch nirgendwo plakativ herausgestellt wird: Es ist die ruhige Besonnenheit des Bürgers, der hier eine Stimme gegeben werden soll, und es sind die ›guten Kräfte‹ der Gesellschaft, die Verantwortung übernehmen auch dort, wo sie versagt haben. Sehr geteilt sind im Rückblick die Meinungen über das Regierungshandeln zur Zeit der Weimarer Republik, es findet Gegner gleichermaßen wie Unterstützer, und man erfährt nicht, wem die Kempowskis ihre Stimme jeweils gegeben haben mochten: den Sozialdemokraten, den Liberalen, den Konservativen? Sicherlich dem bürgerlichen Lager und nicht den radikal Linken oder radikal Rechten, keinesfalls den Kommunisten oder den Nationalsozialisten. Nein, sie haben sich sehr wahrscheinlich in der bürgerlichen Mitte orientiert, die freilich längst in sich zerstritten und zersplittert war. Das Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie einerseits und der Ruf nach einer Diktatur des Proletariats andererseits stellen einen »unüberbrückbaren Gegensatz« dar.12 Schöne Aussicht erzählt uns, wie ein neues politisches System, die parlamentarische Demokratie, derart große und umfassende Möglichkeiten der Partizipation schafft, dass die Frage zwingend wird, wie sich aus dieser ungewohnten Offenheit des »einerseits und andererseits« (SchA 57) Ordnung ableiten lässt, sodass

11  Walter Kempowski: Schöne Aussicht. Roman. München: Knaus 1981, S. 45. Im Folgenden zitiert mit der Sigle SchA und der entsprechenden Seitenzahl. 12  Vgl. Heinrich August Winkler: Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik. Von der Revolution zur Stabilisierung 1918–1924. 2., völlig durchgesehene und korrigierte Auflage. Berlin/Bonn: Dietz 1985 (Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, 9), S. 11.

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demokratische Stimmenvielfalt nicht in Anarchie umschlägt. Wie nötig die Erfordernis verantwortlicher Teilhabe ist, wird am Beispiel bierseliger Stammtischdebatten deutlich, die in defaitistischem Sentiment und im reaktionären Autoritarismus Deutschlands Zukunft sehen – und es ist offensichtlich, dass dieser paternalistische Versorgungsanspruch von keiner Regierung in der Zwischenkriegszeit erfüllt werden kann und Deutschlands Probleme damit letztlich unregierbar wären. Die Luft über den Stammtischen ist dünn, die Debatten sind fruchtlos. Kempowskis Schilderungen gleichen der politischen Karikatur, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vom Deutschen Michel kursiert.13 Das wirre Ideengetümmel der Epoche wird in nuce vom Weltkriegsveteran Berkhof entwickelt. Der Deutsche Demokrat äußert gegenüber Karl allerlei absurde Gedankenspiele: So könne man der Entente mit Moskau drohen, indem man so tut »als ob man sich den Russen in die Arme wirft«. (SchA 61) Doch sind nicht alle Ideen und Überzeugungen Berkhofs von der Hand zu weisen: So repräsentiert er mutmaßlich die Textposition,14 wenn er »auf die Einsicht kultivierter Kräfte« (SchA 60) hofft, die es – in England zum Beispiel – doch auch geben müsse; zudem argumentiert er, dass man nicht mit dem »Kopf durch die Wand« komme, sondern sich »diplomatischer als sonst in unserer Geschichte verhalten« müsse. (SchA 60) Solche Kunst des Regierens mit Augenmaß und Vernunft scheint unmöglich zu sein. Zum einen mangelt es vielen Parteien an parlamentarischer Erfahrung, zum anderen fehlen die wirtschaftlichen Ressourcen, um die Kriegs- und Reparationsfolgen abzufedern, zum dritten verhindert der weltanschauliche Vorbehalt gegenüber der neuen Regierungsform demokratischer Legitimation einen pragmatischen Umgang mit den gesetzten Verhältnissen. Da eine emphatische Teilhabe am parlamentarischen Ringen, ein allseitiges Bemühen um gesellschaftlichen Konsens und ein plausibler Ausgleich der Interessen vielfach Illusion bleiben, und da außerdem unsicher ist, für welche Gesellschaftsform man sich künftig rüsten muss – wird die Republik von Dauer sein, wird das Kaiserreich wiedererrichtet werden, kann die kommunistische Weltrevolution auch Westeuropa ihrer Zwangsherrschaft unterwerfen? –, bleiben die Teilhabeauspizien am Gesellschaftsleben meist ungenutzt. Wer nicht selbst politische Ambitionen entwickelt und sich exponieren möchte, zieht sich schon im Vorfeld des Totalitarismus in die private Nische zurück. Somit werden

13  Vgl. Karl Riha: Der Deutsche Michel. Zur Ausprägung einer nationalen Allegorie im 19. Jahrhundert. In: Jürgen Link/Wulf Wülfing (Hgg.): Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität. Stuttgart: KlettCotta 1991 (Sprache und Geschichte, 16), S. 146–171. 14  Als Textposition sei die Haltung definiert, dass »(n)ur die parlamentarische Demokratie […] der deutschen Gesellschaft ein ihrem kulturellen und materiellen Entwicklungsstand entsprechendes Maß an politischer Freiheit geben« kann. Vgl. Winkler: Von der Revolution zur Stabilisierung, S. 12.

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die schönen Verheißungen der Demokratie im Handumdrehen zur schlechten Aussicht der Diktatur, wie Politologe Nikolaus Werz in (s)einem Aufsatz herausstellt.15 Der mecklenburgische Landesherr Friedrich  Franz  IV. hatte »eine durch Wahlen zu erreichende Volksvertretung« als »das einzig richtige« erkannt, sah jedoch die Gefahr, dass »unruhige Zeiten« zu einer »sehr liberalen« Verfassung führen könnten, wohingegen er es für »erstrebenswert« hielt, »in einer ruhigen Zeit wie jetzt [scil. 1907] mit den Ständen in Verhandlungen zu treten, um eine möglichst konservative Verfassung zu erlangen.«16 Im Vorgriff auf Schöne  Aus­ sicht wird dieser schwärende Verfassungskonflikt in Kempowskis Roman Aus großer Zeit (1978) thematisiert. Dort bleibt er ungelöst, und es ist schließlich die weltpolitische Lage, die dem Land die Weimarer Verfassung beschert, sodass auch die Mecklenburgische Verfassung von 1920 keine Wirkung erzielen kann.17 Wie oben in aller Kürze angedeutet, kann ›Weimars‹ politische Ordnung nicht umsetzen, was sie wirtschaftlich erreichen will, und sie wird auch die sozialen Konflikte nicht befrieden: Sie hat es mit über die Maßen strapazierten Erwartungen zu tun, die kaum auf einen Nenner zu bringen sind. Zumal sich aus den mit Destruktivität, Revanchismus und Indolenz abgehaltenen »Versammlungen« der Traditionsvereine und Freikorpsverbände »keine nagelneuen Perspektiven«  (SchA  55) ergeben: »Deutschlands Jammer« wird beklagt, und »Widerstand« gegen den Versailler Vertrag, »dieses entsetzlichste Prosawerk der Menschenverachtung« (SchA  45), wird gefordert, sodass zur neuen politischen Ordnung kaum Bindungen aufgebaut werden – ein persönliches Eintreten für die Republik erscheint dem bürgerlichen Milieu nicht als opportun, es verhält sich reserviert und wartet ab. Dadurch überlässt es den peu à peu erstarkenden radikalen Kräften das Feld. Nur am Biertisch tun die ›Bürgerlichen‹ ihre Einstellungen zum Politischen kund, aber das bleibt ohne Auswirkung auf die Handlungsweise der gewählten Entscheidungsträger. Erst die Regierungsnähe Richard de Bonsacs, der »sich dem neuen Staate ganz widmen« und »mit Haut und Haar

15  Vgl. den Beitrag von Nikolaus Werz: Schöne Aussicht? Mutmaßungen über das Bürgertum in der Provinz in diesem Band. 16  Friedrich Franz IV., Brief an Adolf Friedrich vom 9.2.1907. Zitiert nach: Suzanne  Nicholas: Parlamentarische Repräsentanz oder Ständevertretung? Der Verfassungskampf in Mecklenburg 1908–1918. In: Modernisierung und Freiheit. Beiträge zur Demokratiegeschichte in MecklenburgVorpommern. Hg. von der Stiftung Mecklenburg und dem Innenministerium des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Schwerin: Stock-&-Stein-Verlag 1995, S. 722–743, hier S. 725. 17  Vgl. dazu Fred Mrotzek: Die Verfassung des Freistaates Mecklenburg-Schwerin vom 17.  Mai  1920. In: Jubiläumsjahre – Historische Erinnerung – Historische Forschungen. Festgabe für Kersten Krüger zum 60. Geburtstag. Hg. von Wolf D. Gruner. Rostock: Universität Rostock 1999 (Rostocker Beiträge zur Deutschen und Europäischen Geschichte, 7), S. 77–95.

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verschreiben« möchte (SchA 443), trägt den Dissens über die neuen Machthaber in die Familie: Die gängigen Themen sind durchgegangen, die alten aus der Kindheit – »O Gott, wißt ihr noch?« – und die neuen, vom nationalen Aufschwung, bei dem es erfreuliche, leider aber auch unerfreuliche Aspekte zu erwähnen gibt, die sich Richard allerdings verbittet. Auch im Familienkreis kann er keinen Miesmacher dulden, das sagt er klipp und klar. Und er kann es auch nicht dulden, daß Robert – ja Robert! – hier deutsche Lieder verhunzt. Drei Lilien, drei Lalien, die pflanzt’ ich auf dein Grab... hatte Robert gesungen. Das sei eine Verunglimpfung. (SchA 467)

Ullas Faible für die Hitlerjugend scheint außer Onkel Richard kaum Nährboden im eigenen Milieu zu finden, allerdings sperrt sich auch niemand gegen das ›gesunde‹ Gedankengut, das der Nationalsozialismus scheinbar verbreitet: »Sechs Männer also und ein Mädel, aus dem hoffentlich mal eine tüchtige Mutter wird«. (SchA 444) Erst später wird man die gespenstischen Folgen dieser Familienpolitik erzählen können: Eine Frau Goebbels, die ihre Kinder mit in den Tod nimmt?18 Oder eine Mutter, die es stolz erträgt, ihre Söhne den ›Heldentod‹ sterben zu sehen?19 Die Düsternis, die als heitere Verheißung hier gedanklich-ideologisch einsickert und die Bevölkerung fast unmerklich, ja gleichmütig auf die kommende Kriegswirtschaft vorbereitet, was hier wie beiläufig und die Folgen noch nicht absehend erzählerisch angebahnt wird, ist so ungeheuerlich, dass uns Nachgeborenen das kalte Grausen überkommt. Die Wirkungsmacht dieser Erzählweise liegt gerade darin begründet, dass uns Kempowski auf die Abgründe und Untiefen des damit Implizierten nicht vorbereitet. Er vertraut auf den emanzipierten Leser und nimmt ihm die mitdenkende Teilhabe nicht ab – das tut nur der ungeschickte Autor, wie das ähnlich gelagerte Beispiel Stefan Heyms belegen soll: Dem jungen Flieg wurde es bange. Dann aber […] hob Hitler den Arm zu dem nach ihm benannten Gruß, und der junge Flieg sah plötzlich den dunklen, feuchten Fleck in der Achsel­ höhle des Mannes und dachte: Nein, der nicht, der ist kein Prophet und kein Held, der schafftʼs nicht.20

18  Vgl. Marcel Beyer: Flughunde. Roman. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995. 19  Vgl. Walter Kempowski: Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch. Band III. 1. bis 15. Februar 1943. München: Knaus 1993, S. 183. 20  Stefan Heym: Nachruf. München: C. Bertelsmann 1988, S. 44. – So etwas würde Kempowski nie passieren. Hier trennt sich die Spreu vom Weizen, denn der gute Autor emanzipiert seinen Leser, bevormundet ihn nicht – und erklärt ihn vor allem nicht für dumm.

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Stefan  Heym geht im Typus des »unterhaltenden Zeitroman[s]« größtenteils von »Selbsterlebte[m]« aus, denn der jüdische Gymnasiast Flieg aus Chemnitz gilt als autornaher Protagonist.21 Der quasi-autobiographische ›Nachruf zu Lebzeiten‹ gerät Heym zur Kolportage: Noch heute ist mir nicht ganz erklärlich, wieso dieser unappetitliche Fleck, dem ein anderer kaum Beachtung geschenkt hätte, den jungen Flieg so erleichterte, daß er die Gefahr, die auch auf ihn zukam, […] durch die Tatsache, daß der Kerl sich sein Hemd unterm Arm durchgeschwitzt hatte, ad absurdum geführt war.22

Bis zu diesem Passus mag das alles angehen, atmosphärisch wie auch erzählerisch. Doch schon mit dem nächsten Satz unterläuft Heym eine Ungeschicklichkeit, die »sich kein ernst zu nehmender Autor« leisten kann, denn er resümiert: »Flieg sollte sich getäuscht haben.«23 Dem harten Verdikt Erich  Loests, der dem »Weltautor« (Heym über Heym) attestierte, »immer mehr an Weltsicht und Weitsicht verloren« zu haben, indem er seinen Leser entmündigte, ist nichts hinzuzufügen.24

2 Ordnung und Tumult – zwischen Ruhe/Unruhe und Störung In Kempowskis »Instrumentarium« (SchA 429) gibt es solche Paukenschläge nicht. Seine Erzählweise verbindet »das [so] noch nicht Gewusste« mit dem erst noch »zu Erkennenden«: sie dispensiert den Leser nicht von »jener Bewegung«, die man »gemeinhin Denken, Erkennen oder Lernen nennt.«25 Das Telos seiner Poetik ist ein Erkenntnisakt, der uns zugemutet, aber nicht abgenommen wird – weder dem

21  Vgl. Konrad Franke: Die Prosa der Deutschen Demokratischen Republik. In: Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart. Autoren, Werke, Themen, Tendenzen seit 1945. Die Literatur der Deutschen Demokratischen Republik II: Prosa. Aktualisierte Ausgabe. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1980, S. 25–182, hier S. 59. 22  Heym: Nachruf 1988, S. 44. 23  Heym: Nachruf 1988, S. 44. 24  Vgl. Erich Loest: Bastion Schreibtisch. »Nachruf«. Stefan Heym legt seine Memoiren vor. In: F.A.Z. »Literatur« (Bilder und Zeiten) vom 15.10.1988. Zitiert nach: Ein Büchertagebuch. Buch­ besprechungen aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Frankfurt/M.: Frankfurter Allgemeine Zeitung 1989, S. 66–68, hier S. 67. 25  Vgl. dazu Volker Ladenthin: Kinderliteratur als Sprachkunstwerk – die ästhetische Darstellung des Erkennens. In: Lutz Hagestedt (Hg.): Walter Kempowski. Bürgerliche Repräsentanz – Erinnerungskultur – Gegenwartsbewältigung. Berlin/New York: De Gruyter 2010, S. 307–317.

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Kinde, noch dem Erwachsenen. Das emanzipatorische Gesamtkonzept seiner Darstellungsweise zielt auf den explorativen Leser und nimmt dafür weltanschauliche Zurückweisungen in Kauf, auch wenn sie schmerzlich sind und seine Rezeption wie ein Basso continuo begleitet haben. Folglich erfährt der Rezipient nichts Explizites über die persönliche Haltung des Autors zum Geschehen, sondern muss sie sich erschließen (lernen) – aus dem Arrangement der Textblöcke etwa, aus der Art und Weise des Arrangements, aber auch aus dem Dazwischen des Arrangements, aus den Fugen und charakteristischen Fügungen, die aus dem Kompositions- und Collageprinzip seiner Prosa (und Poesie!) nicht wegzudenken sind:26 Das Lärmen wird lauter und wüster, und die älteren Herren da unten, mit ihrem liberalen Verständnis, machen, daß sie wegkommen aus diesem Saal, das ist ja ganz verflixt. (SchA 57)

Die aufgeheizte Stimmung der Zwischenkriegszeit, die wogende Gemengelage radikaler Parteiungen und Passionen, die rasch umschlagende politische Wetterlage, die oft brenzligen Debatten bei fehlender Debattenkultur – alldas treibt die gemäßigten Kräfte in die Defensive, in die Resignation. »Die Hölle, das sind die anderen«, könnte man mit Sartre sagen, als »wüste Entartung«  (SchA  59) bezeichnet Karl  Kempowski – ganz im Jargon der Zeit – »diese Störungen« (SchA 59) der Ordnung, die mit dem »Vorrecht« der »Jugend«, »übers Ziel hinauszuschießen« (SchA 59), nicht mehr erklärt werden können, weil sie den sozialen Frieden gefährden, weil sie die Arbeit der Parlamente, Parteien und Verbände torpedieren, weil sie explosive Stimmungslagen nutzen, um den politischen Kampf auf die Straße oder in die Familien zu tragen. Die moderne Soziologie der Erziehung unterscheidet nicht zwischen Ruhe und Unruhe, sondern zwischen Ruhe/Unruhe und Störung. Denn Ruhe und Unruhe sind aus Schule und Gesellschaft nicht wegzudenken, ja nicht einmal aus der Person: Unruhe erscheint als Phänomen der Schulklasse selbst, dem man nicht durch eine Entfernung der »größten Unruhegeister entgeht«, auch nicht durch eine Verkleinerung der Klasse.27

26  Wenn Kempowski politisches »Kolorit« in sein »Opus« einfügen möchte, stellt er ein Klangbild aus unterschiedlichen Instrumenten zusammen, um die Stimmen- und Meinungsvielfalt zu orchestrieren. Dabei entstehen mitunter auch Mißtöne: In einem nachgelassenen Gedicht beschreibt Kempowski drei Möglichkeiten der Rezeption: »Lieder« prallen ab, dringen »zwischen Fuge und Stein« oder quellen »auf in dir«. Vgl. ders.: Langmut. Gedichte. München: Knaus 2009, S. 58. 27  Karl Eberhard Schorr: Erziehung. Zwischen Unruhe und Absicht. In: Niklas Luhman/ders. (Hgg.): Zwischen Absicht und Person. Fragen an die Pädagogik. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992 (stw, 1036), S. 155–175, hier S. 158. – Das Binnenzitat stammt von Job-Günter Klink: Klasse H 7e. Aufzeichnungen aus dem Schulalltag. Bad Heilbronn: Klinkhardt 1974, S. 21.

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Die Störung hingegen ist als »Devianzbegriff der Unruhe« ein Phänomen der Sozialstruktur – sei es der Schulklasse, sei es der Gesellschaft.28 Störung ist als »Absorption von Aufmerksamkeit« erfahrbar (das betrifft die Schule), oder auch als Irritierung der »Realitätsverhältnisse« (das betrifft die Gesellschaft).29 Entsprechend können Störungen einer Gesellschaft gefährlich werden, wenn und sobald sie sich im Medium der Unruhe zur »Provokation« und »Revolution« aufschaukeln.30 »Ruhe ist die erste Bürgerpflicht«, mit dieser Losung überschrieb Willibald Alexis seinen »vaterländischen Roman«, in dem alles, was geschieht, »Großes und Kleines, Bedeutendes und Unbedeutendes«, »inneren Zusammenhang« hat und »Historie« ist.31 Grethe Kempowski hat sich vorgenommen, »in aller Ruhe, und Beschaulichkeit« (SchA 155) Die Hosen des Herrn Bredow zu lesen, jenen anderen Erfolgsroman von Alexis, der als Spiegel einer Revolutionszeit gelesen werden kann. (Vgl. SchA  155) Und als nationale Revolution feierten Goebbels und die National­sozialisten den 30. Januar 1933.32 Im scharfen Kontrast zum Tumult einer politischen Versammlung steht im zweiten Kapitel von Schöne Aussicht der Besuch eines Bruckner-Konzertes: »Endlich wird es still und, kaum merklich, auch etwas dunkler. [...] Das ist es ja, daß man auch mal wieder leiser werden muß, wenn man mal laut war.« (SchA 70–71) Entsprechend lässt sich vielleicht auch Schöne Aussicht in die Gattung des historischen Romans einordnen, der als »Mischung von Realismus und Romantizismus« (Fontane) die Geschichte selbst als »Lehrmeisterin« auftreten lässt, indem er Epochen gärender Unzufriedenheit und bürgerlicher Bonhomie als Spiegel der Gegenwart erzählt.33 Damit wäre ein Texttyp benannt, der »dargestellte Historie« und »dargestellte Privatgeschichte« auf den »mittleren Helden« fokussiert, der nicht in exponierter gesellschaftlicher Verantwortung steht, sondern Geschichte quasi »erleidet«.34

28  Schorr: Erziehung 1992, S. 159. 29  Schorr: Erziehung 1992, S. 161. 30  Vgl. Schorr: Erziehung 1992, S. 169. 31  Vgl. Kindlers Neues Literaturlexikon. Hg. von Walter Jens. Bd. 1: Aa–Az. München: Kindler 1988, S. 298 (Artikel »Die Hosen des Herrn von Bredow«). 32  Joseph  Goebbels: Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei. München: Franz Eher Nachfolger  1934, S. 254 (Aufzeichnung vom 30.1.1933). 33  Vgl. dazu Hermann  Sottong: Transformation und Reaktion. Historisches Erzählen von der Goethe­zeit zum Realismus. München: Fink 1992 (Münchener germanistische Beiträge, 39), S. 28–33 (Kapitel 3.1: »Geschichte als Lehrmeisterin«). 34  Vgl. Sottong: Transformation und Reaktion. Darin vor allem die Kapitel 3.2.7 (Positivität der »Mitte«) und 3.4.2.2 (Der Held der »Mitte«), S. 72–78 und 96–100.

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Denn es lassen sich historierende Sujets unterschiedlicher Spielarten unterscheiden: Jene, die auf historische Ereignisträger im Sinne von »Personen« fokussieren (wie sie Stefan  Zweig beispielsweise häufig gewählt hat), oder ferner jene, die als historische Kolossalgemälde verschiedene Milieus in den Blick nehmen oder Zeitgeschichte kollagieren (Döblin mit seiner »November«-Tetralogie), außerdem jene, die von den Rändern her Geschichte erzählen, die quasi aus der Peripherie einen Blick auf das Zentralgestirn der Zeitläufte werfen (Gertrud  Fussenegger, Werner  Koch oder Luise Rinser haben sich in diesem Genre versucht), und weiterhin jene, die eine soziale Schicht oder Klasse zum Handlungsträger sich erkiesen. Die von der Sozialgeschichtsschreibung (auch der Literatur) ›entdeckte‹ »Bürgerlichkeit« beispielsweise wäre ein solcher Anwendungsfall des (kollektiven) »mittleren Helden«, wie er im 19. Jahrhundert in Mode kommt, sich mit Autoren wie Willibald Alexis, Felix Dahn, Heinrich Laube, Ludwig Rellstab oder Friedrich Spielhagen etabliert und sich von der »Tendenz«-Literatur des »sozialen Romans« absetzt.35 Denn mit dem Aufkommen liberaler Autorschaft tritt in dieser Phase die weltanschauliche Agenda zurück und das Gesellschaftspanorama hervor, das quasi leidenschaftslos und mit breitem Fokus auf alle sozialen Belange und Schichten ausgeleuchtet wird. Betrachtet man Kempowskis Deutsche Chronik, die ja quasi eine »verspätete« Bürgerlichkeit erzählt, vor diesem literarhistorischen Hintergrund, dann steht sie in Konkurrenz zu einem anderen Modellfall »epigonaler« Ästhetik, nämlich zur (agitatorischen) Aufbauliteratur, wie sie in der Sowjetischen Besatzungszone und in der frühen DDR massenhaft entstanden ist, sodass wir nur noch deren exponierteste Vertreter überhaupt kennen – zu übermächtig war der Einfluss des qualitativ überragenden literarischen Vorbildes ›bürgerlicher‹ Erzähler. Wohingegen Kempowski seinerseits versuchte, das ›bürgerliche‹ Erzählen zwischen John Galsworthy und Thomas Mann um eine Qualität der Moderne zwischen Franz Kafka und Arno  Schmidt zu erweitern. Von letzteren sind seine literarischen Frühversuche stark geprägt, wie wir sowohl aus Selbstaussagen des Autors wie auch aus Gutachten wissen, die Kempowskis erster Lektor Fritz J. Raddatz bei prominenten Kollegen (Hans Magnus Enzensberger, Joachim Kaiser, Peter Rühmkorf) eingeholt hatte.36

35  Vgl. dazu Sottong: Transformation und Reaktion, S. 36–37. – In Abgrenzung zum historischen Roman dieser Spielart nimmt Hans Adler die »Tendenzliteratur« der Kunstperiode in den Blick. Vgl. Hans Adler: Soziale Romane im Vormärz. Literatursemiotische Studie. München: Fink 1980. 36  Vgl. dies. in Walter Kempowski: Wenn das man gut geht! Aufzeichnungen 1956–1970. Hg. von Dirk  Hempel. München: Knaus  2012, S.  344–347 (Enzensberger), S.  394–398 (Kaiser), S.  417–418 (Rühmkorf).

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3 Im Kosmos bürgerlicher Erzählweisen Die Gestirne am Himmelsgewölbe bieten dem menschlichen Auge Ordnung und Struktur, denn die Sternbilder sind über Flandern dieselben wie über Rostock, ob Krieg ist oder Frieden. Eine andere Perspektive ergibt sich, wenn man das kosmologische Geschehen auf die irdischen Verhältnisse bezieht, etwa so, wie Al­brecht Altdorfer dies in seinem Kolossalgemälde »Die  Alexanderschlacht«  (1528/29) getan hat.37 Das Kampfgetümmel der Schlacht bei Issos wird überstrahlt von einer ebenso aufgewühlten Himmelspartie, die der Maler zum Kosmos hin öffnet. Alle Bewegung scheint für den Moment stillzustehen, die dem Bild eingeschriebene »apokalyptische Prophetie« vernichtet die Zeit, »von deren Ende sie gerade lebt«.38 Entsprechend gespenstisch wirkt die Zeit über den Stammtischen der Weimarer Republik wie eingefroren. Die Kellergewölbe der politischen Versammlungen hingegen bilden die Kulisse für sozialen Unfrieden; sie bekommen quasi mit, wie »hier vom alten treuen Kurse abgewichen wird«: Die Glocke des Ordners klingelt, Menschentrauben wogen hin und her. Bierkrüge fliegen durch die Gegend. Eine sehr erregte Alt-Sozialistin sieht man gar mit der Handtasche dreinschlagen. (SchA 68)

Die »Ruhe und Besonnenheit« (SchA 68) des Kaiserreichs ist dahin, der Mesokosmos ist voller Aufruhr: Nun kommen Autos gefahren mit hohen Zwitscherton-Sirenen, und Schupos springen ab, links und rechts, mit Gummiknüppel in der Faust, die drängen in den Saal, aus dem, ziemlich gleichzeitig, und zwar aus den hinteren Türen, Menschen herausquellen mit abgerissenen Knöpfen und ohne Mütze. Polizei – es ist prachtvoll, diese Mensch gewordene Idee der Ordnung zu beobachten. (SchA 69)

Die »Mensch gewordene Idee der Ordnung« wird sich in den nächsten zehn Jahren auf Kriegswirtschaft umstellen und dann sechs Jahre lang Elend, Tod und Zerstörung über die Welt bringen, dergestalt, »daß von Tötung und Mord zu sprechen blaß und konventionell klingt«.39 Wie der Mensch den Holocaust organisiert, ist seit Hans Günther Adlers Buch Theresienstadt (1955) oft beschrieben worden, und

37  Vgl. Walter Kempowski: Im Block. Ein Haftbericht. München: Knaus 2004, S. 37. 38  Zu Altdorfers Bild vgl. Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979, S. 17–37, hier S. 29–30. 39  Vgl. Reinhart Koselleck: Terror und Traum. Methodologische Anmerkungen zu Zeiterfahrungen im Dritten Reich. In: Ders.: Vergangene Zukunft 1979, S. 278–299, hier S. 293.

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meist waren es Entscheidungsträger aus dem bürgerlichen Lager, die dafür die nötige Expertise entwickelten.40 Wo wird das bei Kempowski angedeutet? Da sind zum einen die verrohten Stammtisch-Gesellschaften der Veteranen, die mit »Schaum vo[r]m Mund« vom »Dezimieren« ihrer Gegner sprechen: »hier wird Tacheles geredet!« (SchA 44) Diese ›Heimatfront‹, Remarque hat sie in seinem Roman Im Westen nichts neues (1928) eindrucksvoll beschrieben, wird sich nicht so leicht befrieden lassen. Sie sieht im Versailler Vertrag einen »Schmachfrieden« (SchA 64) und möchte ihn revidieren. Karl Kempowskis leitmotivische Frage »Was macht meine Haut?« lasse sich, so Stephan  Lesker, als Rückbezug auf den verlorenen Weltkrieg und den ›Knebelvertrag‹ beziehen, denn eine Revision von ›Versailles‹ stehe an, wie sie – fast gesamtgesellschaftlich – in der Weimarer Republik gefordert wurde.41 Ein entsprechender Beleg findet sich in Schöne Aussicht: Ja, wird dann gesagt, in dieser verworrenen Zeit bedarf es eines genialen Mannes, der den Gordischen Knoten des Elends zerschlägt! Eines Mannes mit Visionen und Tatkraft, der ohne Rücksicht auf Verluste den Versailler Vertrag hinwegfegt und über Trümmer hinwegschreitend eine neue Zeit herbeizwingt! (SchA 321)

Da ist er wieder, der schillernde Begriff der »Neuen Zeit«, die alle herbeisehnen und die herbeigeführt zu haben die meisten verfluchen werden.42 Die politischen Versammlungen im Rostocker »Sportpalast« (SchA 67) deuten auf die Einpeitscher voraus, die im Berliner Sportpalast den »totalen Krieg« einforderten – in seinem Hitler-Buch hat der Historiker und Germanist Joseph Peter Stern diese Form der ›Volksbefragung‹ (»Wollt Ihr den totalen Krieg?«) einmal treffend mit der »alte[n] Kasperfrage« »Seid Ihr alle da?« (SchA 457) verglichen.43 Die ›neue Zeit‹ verstärkt den ›alten‹ latenten Antisemitismus im Bürgertum, den der Leser in Karl Kempowski repräsentiert findet. Karl hat zwar Augen für

40  Vgl. dazu Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903–1989. Bonn: Dietz 1996. – Vom »Antisemitismus der Vernunft« oder vom »seriöse[n] Antisemitismus« der »Geistigen« – in Abgrenzung zum »Radauantisemitismus« Julius Streichers – sprachen drei Gruppen respektive Institutionen: Das Rassepolitische Amt der NSDAP, das Judenreferat im Reichsministerium des Inneren und die zuständigen Stellen im Hauptamt Sicherheitspolizei bzw. im Sicherheitsdienst. Vgl. Herbert: Best 1996, S. 203–224. 41  Vgl. dazu Stephan Lesker: Poetik der Implikation. Referentialität und Kombinatorik im Werk Walter Kempowskis. München: Belleville 2023 (Theorie und Praxis der Interpretation, 14), S. 185. 42  Für den Terminus »Neue Zeit« finden sich verschiedene Lesarten. Bei Hermann Lenz bedeutet es soviel wie »die Zeit des Nationalsozialismus« bzw. die »abzulehnende Zeit«, da man der »alten Zeit« nachtrauert. Vgl. Hermann Lenz: Neue Zeit. Roman. Frankfurt/M.: Insel 1975. 43  Vgl. Joseph Peter Stern: Hitler: der Führer und das Volk. Aus dem Englischen vom Autor und von Fred Wagner. München: Hanser 1978.

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das (attraktive) jüdische Mädchen Rebekka, kann sich aber lange nicht entschließen, ihr zur Flucht aus dem ›Reich‹ zu verhelfen. Es spricht für Kempowski, dass er einer Hauptfigur das historische Versagen der deutschen Öffentlichkeit ins Stammbuch schreibt und nicht einfach die eigene Familie, die sich zu den »guten Kräften« zählte, von der historischen Hypothek des größten Menschheitsverbrechens dispensiert. Das bürgerliche Milieu der Familie  Kempowski, das weder die Massenbewegungen dieser Umbruchsphase speist, noch zu den führenden Eliten zählt, gleichwohl aber – und maßvoll – nach Einfluss und Bildung strebt, repräsentiert recht geschickt die Mitte dieses Mesokosmos, die zugleich Opfer und Träger der historischen Ereignisgeschichte ist. Am Beispiel der Familie Kempowski lässt sich das Denken, Handeln – und Nichthandeln der Protagonisten dieser Zwischenphase innert der Weltkriege aus nächster Nähe studieren. Im Rückgriff auf die Kaiserzeit (Aus großer Zeit) und im Vorgriff auf den Zweiten Weltkrieg (Tadellöser & Wolff) und die Nachkriegszeit (Uns geht’s ja noch gold) sowie auf die Inkubationsphase von Bautzen (Im Block, Ein  Kapitel für sich) entsteht ein Abgesang auf menschliche Gesittung, sozialen Frieden, politische Ordnung – und familiale Allianz. Die jahrhundertelange Tradition, den Staat im Modell der Familie zu denken und zu erzählen, muss aufgegeben werden. Noch die großen Gesellschaftspanoramen – man denke an die Comédie humaine oder an den Rougon Macquart-Zyklus – hatten ihre durchaus aspektreichen Zeiterzählungen um den Preis der Komplexität familial-hierarchisch strukturiert, um die soziale Welt und die Halbwelt, um das Aufkommen und Erstarken neuer gesellschaftlicher Schichten sowie die Schwächung und den Abschwung alter Überzeugungen und Glaubenssysteme effektvoll zu intonieren. Mit der Deutschen Chronik hingegen gewinnt eine Differenzierungstechnik Raum, die – quer zu hierarchischen Stufungen und über sie hinweg – auf die Gesamtschau des Panoramas zielt und flächige Effekte erzielt. Hier erfindet sich der »Roman des Nebeneinander« neu, der vom individuellen exponierten Protagonisten auf eine Vielzahl durchschnittlicher Existenzen abstrahiert, die im Grunde genommen Allerweltsleben führen und nur aufgrund der beharrlichen Recherche und Fokussierung seitens ihres Autors diesen besonderen Stellenwert bekommen und einnehmen, der ihnen im Œuvre jeweils gebührt. So mag es zwar durchaus Kempowskis Anspruch gewesen sein, die (wie er glaubte) von ihm selbst zerstörte Familie auf dem Papier wieder zu heilen, aber die Kompositionsweise seiner Chronikromane lässt doch eher ein anderes Ziel erkennen und vermuten, nämlich die belletristisch-historiographische Herausforderung, am Beispiel der Familie die vielfältigen und tiefgreifenden Brüche und Zäsuren zu thematisieren, die sich auf die annähernd hundert Jahre des Erzählzeitraumes geradezu fokussiert zu haben scheinen, so zwar, dass die Lebensgeschichten quasi emblematisch

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sowohl die Longue durée der weltpolitischen Konstellationen wie auch der kurzfristigen Dynamiken der Umbruchszeiten abzubilden vermögen.

4 Wer hat die Schuld? – vom Versagen des ›mittleren Helden‹ Obwohl Kempowski bemüht war, jedem seiner Romane die verhängnisvolle Stoßrichtung der deutschen Politik in Richtung Entrechtlichung, Entwürdigung und schließlich Vernichtung des europäischen Judentums einzuschreiben, konnte er den Generalverdacht unbekümmert-heiterer Bürgerromantik im Stile der erinnerungsseligen Feuerzangenbowle nicht mehr abschütteln. Fechners Verfilmungen haben zu dieser Fehleinschätzung mit Sicherheit beigetragen. Erst mit dem Echolot-Projekt gelang es ihm, die Stimmenvielfalt und Multiperspektivität seines Erzählens zu verdeutlichen, wovon letztlich auch die Deutsche Chronik profitierte, die im Nachhinein differenzierter gelesen und gewürdigt werden konnte. Dabei wurde in der Rezeption übersehen, dass Kempowski mit seiner Familiensaga den Grundstein für die ›kritische‹ Väter- und Mütterliteratur der 70er und 80er Jahre gelegt hatte, die das historische Versagen der Elterngeneration aus der Sicht der Nachgeborenen thematisierte. Das Totalversagen des ›mittleren Helden‹ wird am Beispiel Karls deutlich herausgestellt; es kommt hinzu, dass ihm das Schicksal durchaus nicht wohlwollend begegnete: Als ungeliebter Sohn in eine Reedersfamilie hineingeboren (»Der fällt ja doch.« [SchA 98]), die eher einer mittelständischen Schiffsmaklerei glich, in der er kaum die erfüllende Tätigkeit auszuüben vermochte, auf die er vorbereitet worden war. Eine Kriegsversehrung schädigte ihn fürs ganze Leben. Vom eigenen Vater vor versammelter Mannschaft abgekanzelt (SchA  106–107), von der Belegschaft gemobbt, sah er sich in den eigenen Erwartungen und wenigen Initiativen, die er im väterlichen Betrieb zu ergreifen vermochte, enttäuscht und um den Erfolg gebracht. Berufliche Fortune stellt sich ebensowenig ein wie Eheglück. Als auch noch der längst überfällige Nachwuchs auf sich warten lässt und er in eine sozial anrüchige Vorstadtgegend ziehen muss, statt standesgemäß in der Villengegend zu residieren, ist sein Ansehen dauerhaft geschädigt. Seinen Kindern erscheint er als kauziger Vater, ohne echte Autorität: »Er hat von seinem Vater auch Schläge gekriegt, sagt Karl, so ist das nun mal. Wer nicht hören will, muß fühlen.« (SchA  157–158) Im dritten seiner Befragungsbände, Immer so durchgemogelt, skizziert Kem­powski in Kollektiv-Geschichten »aus unserer Schulzeit« die Folgen solcher BrachialPädagogik, die von Ulla beherzt abgewehrt wird: »Tu ihm nichts! Tu ihm nichts!« (SchA 157) Kempowski wolle die Verhaltensweisen seines Vaters nicht entschuldi-

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gen, so Anna Brixa, er könne sie auch nicht erklären: »Auf mildernde Umstände plädieren aber, und auch hier innerhalb der Zeitläufte kontextualisieren – das möchte er schon.«44 Als Hanswurst und Sprücheklopfer, mit Macken und Marotten überreich gesegnet, ging er schließlich auch in die Filmgeschichte ein, genial verkörpert von Karl Lieffen.45 Noch sein Kriegseinsatz, den er gegen Ende mit dem Leben bezahlte, war ein nutzlos entrichteter Blutzoll, und wie so vielen Opfern des Zweiten Weltkrieges wurde auch ihm kein eigenes Grab gelegt. Mit ihm zerstob seine Familie, sein bürgerliches Besitztum, das Ansehen der Familie Kempowski für die bleierne Nachkriegszeit bis zum Ende der DDR. Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass dieses tragische, verpfuschte Leben zum großen Hallraum der Werkstiftung seines Sohnes werden sollte, zum Dreh- und Angelpunkt der Restitution der Familie. Insofern bilden die beiden Romane Schöne Aussicht und Tadellöser & Wolff das zentrale Scharnier der Deutschen Chronik, letzterer mit dem Untertitel »Ein bürgerlicher Roman«, wobei ausgerechnet diesem Stück Zeitgeschichte zwischen dem Beginn und dem Ende des Zweiten Weltkrieges die dazugehörige Bürgerkultur abging. Die republikanische Öffentlichkeit hatte mit ihrer Stimmabgabe für die Nationalsozialisten auch ihr freiheitlich-demokratisches Mandat abgegeben und ihre bürgerliche Gesittung aufgegeben. Die Frage nach der »Regierbarkeit« der wirtschaftlich »gefesselten« Weimarer Republik führt in der bürgerlichen Stadtgesellschaft kaum zu parteipolitischem Engagement. Auch Karl lässt die Gelegenheit verstreichen, der Deutsch-Demokratischen Partei beizutreten (SchA 61), die sich für die Aussöhnung mit Frankreich einsetzt (SchA 61–62): »Da den Hebel ansetzen, Kultur zeigen, und beweisen, Reife, Selbstbewußtsein und so fort«. (SchA 60 – Hervorhebung im Original) Grethes diffuse Rede von den »guten Kräften« verhallt, die häufigen Regierungswechsel und parlamentarischen Mißtrauensbekundungen, die zur innenwie außenpolitischen Schwächung der Reichsregierung(en) wesentlich beitragen, verstärken die Konfliktbereitschaft auch des Bürgertums, das doch eigentlich für konsensdemokratische Lösungen einstehen müsste, zumal es sich über die alteuropäische Vitalität keine Illusionen macht: Die Amerikaner zum Beispiel, die hat er damals gesehen, durch das Scherenfernrohr, daran kann er sich noch gut erinnern, diese frischen, graden Söhne des wilden Westens mit ihren enormen Brisanzgranaten – ob es wirklich Zweck gehabt hätte, den Kampf zu verlängern? (SchA 45)

44  Anna Brixa: Der ›dunkle‹ Kempowski. Kempowski anders lesen. München: Belleville 2023 (Theorie und Praxis der Interpretation, 13), S. 55–56. 45  Vgl. dazu Bernd Kiefer: Ein Kapitel bürgerlicher (Fernseh-)Geschichte. Zur Wahlverwandtschaft von Walter Kempowski und Eberhard Fechner. In: Hagestedt: Walter Kempowski 2010, S. 261–274.

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Mit Ausnahme des gewesenen Jagdfliegers Krüger, der als »junge[r], schöne[r] Mensch« eine kraftvoll-gesunde Erscheinung in dieser stammtischpolitischen Bierdunstatmosphäre bürgerlicher Streitkultur darstellt, wenngleich keine durchweg positive, da er für radikale Lösungen plädiert und »windelweiche Haarspaltereien« demokratischer Provenienz ablehnt (SchA  56), ist Vitalität kaum erfahrbar. Die halbe Familie Kempowski wirkt angekränkelt: Anna, die ihrem Mann den weichen Schanker eingeschleppt hat, laboriert an Krebs und verstirbt. Ihr Mann ist paralysiert und in seiner Schiffsreederei kaum noch anzutreffen. Sein Sohn Karl ist mit seiner Kriegsversehrung auch psychisch anfällig; sein Sohn Robert kommt mit einer verschleppten Knochenmarkserkrankung (SchA  232) ins Lazarett, und der kleine Walter wird von einem Maybach angefahren. (SchA 398) Karl und Grethe werden, wie auch Kempowskis Personal insgesamt, charakteristische Formen und Weisen von Inklusion und Exklusion erfahren. Als Mieter einer kleinen Wohnung in der Borwinstraße sind sie Eingeschlossene und Ausgeschlossene zugleich. Dank ihres Hauswirtes werden sie in die Hausgemeinschaft aufgenommen, bleiben aber Fremdkörper, »Kapitalisten«, denen man »Abwaschwasser« ins »Oberlicht« schüttet oder die »Wäsche« mit »Dreck« bewirft. (SchA 16) Entsprechend ist Karl in der väterlichen Reederei zwar angestellt, wird von der übrigen Belegschaft jedoch geschnitten und sogar veralbert; auch von eigentlicher Arbeit im Betrieb wird er ausgenommen – der »leere Schreibtisch« erscheint ihm wie ein Menetekel. (SchA 17, 25) Ganz analog gerät Grethes Einführung in die »Rostocker Gesellschaft« zum Eklat, in dessen Verlauf und Gefolge Anna  Kempowski ihre »kleine Schwiegertochter« gleich wieder verstößt: »Scher dich raus!« (SchA 34) Nach solchen »Kriegserklärungen« muss man auf »Friedensangebote« (SchA 35) hoffen oder sie selbst herbeizuführen suchen – denn sie bestimmen nicht nur die große Politik, sondern auch die kleine Welt des Privaten, die man treffend in die Zwillingsformel »Willkommen und Abschied« kleiden könnte. Sie betrifft beispielsweise auch Herbert Schnack, den ehemaligen Schulkameraden mit Motorrad, der es sich mit den Kempowskis verscherzt und eines Tages nicht mehr eingelassen wird (SchA 147–150); ganz ähnlich macht sich der kleine Robert bei Frau Mommer unmöglich (SchA 392–395), und schon das Kind Ulla ist zu brüsken Zurechtweisungen in der Lage: »Ich suchʼ mir meine Freundinnen selber aus.« (SchA 162) Wer da noch glaubt, dass Kommunikation allein der Verständigung und des Ausgleichs der Interessen diene, sitzt einem Irrglauben auf. Schmerzlich erfahrbar ist das für die oben erwähnte Rebekka, das jüdische Dienstmädchen, dem Karl zur Flucht aus dem »Reich« verhelfen soll. Rebekka ist eingeschlossen und ausgeschlossen zugleich und rechnet mit ihrer Deportation. Ihr gelingt schließlich die Flucht ohne Karls Mitwirkung (SchA 378), zumal sich Karl zunächst nicht entschließen kann, ihr beizustehen. Der Fall Rebekka macht deutlich, wohin sich die Gesellschaft mittlerweile entwickelt hat und wohin sie noch

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treiben wird – ein stetiger Prozess schleichender Entrechtlichung, mit dem sich die Deutschen selbst aus der Gemeinschaft zivilisierter Völker ausschließen. Die Schizophrenie des »Tätervolkes«, das den Holocaust organisiert und Mozart liebt, illustriert Kempowski am Beispiel des Schlachters, der »am Wasser gebaut« hat und bei Grethes Küchengesang von Tränen übermannt wird: Nun zieht er hoch und rotzt aus […]. Er hat den Unterkiefer vorgeschoben und fletscht die Zähne. Jetzt hat er das Huhn erwischt, an den Beinen hält er es, und nun verschwindet er mit dem klagenden Vogel im Holzschuppen. (SchA 292 – Hervorhebung im Original)

Friederike Reents vermutet darin bereits »die Verdrängung der NS-Gräueltaten«.46 Das traute Heim, sollte man meinen, wäre ein Ort, an dem man die Fährnisse des Alltags, die Sorgen um das Wohl der Familie, ja sogar den Weltschmerz für einen Moment vergessen kann: Der leere Schreibtisch in der Firma wird vergessen und Sodemann, der dicke Prokurist, der neuerdings häufiger den Lehrling zu ihm rüberschickt, ob der dem jungen Herrn wohl was helfen soll, der den Lehrling ziemlich oft herüberschickt, was man nicht recht verstehen kann und ihm eines Tages heimzuzahlen verspricht. Einst wird kommen der Tag! Einstweilen muß man noch stille sein, alles still erdulden, an dem riesigen, Tag für Tag leerer werdenden Schreibtisch: Es wird sich schon noch etwas finden für ihn in der Firma seines Vaters. Kommt Zeit, kommt Rat. ... da sitzt der dicke Bösewicht und wartet auf sein Leibgericht... Frikadellen, Bratwurst, Kotelett – das sind Göttergaben, derentwillen man es nicht versteht, daß es eine Menge Vegetarier gibt auf dieser Welt, Leute wie »gustav  nagel«, der ja wohl barfuß herumläuft und sich das Haar nicht schneiden läßt. (SchA 25–26)

Gleichwohl nagt der Berufsalltag auch privatim an Karl, der sich (noch) nicht als nützlicher Mitarbeiter in der väterlichen Reederei erfährt. Die mal mehr, mal weniger subtilen Invektiven Sodemanns würde man heute »Mobbing« nennen. Auch mangels Alternativen entwickelt Karl einen Modus des Stillhaltens und Abwartens: »Treckt sick all’ na’n Lif«. (SchA  17) Damit tröstet er nicht nur seine Frau, als ihnen in der Borwinstraße auf das Türschild gespuckt wird. Der Spruch aus dem Schneiderhandwerk, wonach ein nicht ganz passendes Kleidungsstück im Tragen noch seine endgültige Passform annimmt (»Es hebt sich ja auch noch durch

46  Vgl. Friederike Reents: Schöne Aussicht. Roman. In: Carla A. Damiano/Andreas Grünes/Sascha Feuchert (Hgg.): Walter-Kempowski-Handbuch. Berlin/Boston: De Gruyter 2020 (de Gruyter reference), S. 48–50, hier S. 49.

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das Eintragen der Sitzfalte im Knie«, heißt es bei Loriot), wird zu einer Art Lebensmaxime.47 Extreme Verhaltensweisen sind Karls Sache nicht. Er kann eher als Durchschnittscharakter gelten, der sich zum Spielball der Entscheidungsträger und Autoritäten machen lässt: ein tragischer Komparse der Weltgeschichte, der auf der Kurischen Nehrung sein trauriges Ende findet. Karl repräsentiert den klassischen Bürger, der sich auch im Unbehagen einzurichten weiß, der zufrieden ist mit dem, was man hat. Denn zwischenzeitlich hat man reichlich: Auf den Tisch der allmählich wachsenden, am Ende fünfköpfigen Familie kommt Fleisch in allen Variationen und Zubereitungsarten.48 Wenngleich auch hier gilt: In guten Zeiten ißt man gut, in schlechten schlechter. Doch nie ganz schlecht. Grethes Schwiegervater hat, was das Essen betrifft, »seine Philosophie«: Morgens als Edelmann, mittags wieʼn Bürgersmann und abends ein Bettelmann. (SchA 166)

So ist immerhin für das leibliche Wohlbefinden gesorgt, wenn es schon in der Firma nicht läuft und man von den Nachbarn angefeindet wird. Aber sogleich kommt ein weiterer Störfaktor aufs Tapet, nämlich der radikale Lebensentwurf des Vegetarismus und der Lebensreformbewegung, die durch die Nennung des Namens »gustav nagel« (SchA 26) aufgerufen wird. Solche Leute versteht man nicht, weil sie in jeder Hinsicht aus der Norm fallen, barfuß durch die Straßen laufen, sich die Haare nicht schneiden und zu allem Überfluss demonstrativ alles klein schreiben. Die Ablehnung Karls, auf den im Zitat fokalisiert ist, drückt sich graphisch in den distanzierenden Anführungszeichen aus: Es ist leicht vorstellber, in welch abfälligem Ton Karl von Nagel spricht. Schöne Aussicht erzählt von der Konfrontation des bürgerlichen Milieus mit Extremen und von der Konfiguration einer mittleren Lebensführung: Karls abwartende Haltung wäre ein Beispiel für den Habitus der Mitte,49 der über

47  Vgl. Loriots Dramatische Werke. Verbesserte Neuausgabe. Zürich: Diogenes 1983, S. 129 und 132 (»Herrenmoden«). 48  Vgl. SchA 23–25, 53, 81–84. Der vestimentäre Code ist hier als Indikator für die soziale Schichtung Rostocks ebenso wie für die wirtschaftliche Lage und für Besonderheiten und Neuerungen im Außenhandel lesbar. Vgl. SchA 91, 97, 100, 109–110, 165–166. 49  Zu Kempowskis »Poetik der Mitte« vgl. den gleichnamigen Sammelband, herausgegeben von Tom  Kindt, Marcel  Lepper und Kai  Sina. Göttingen: Wallstein  2022 sowie die Besprechung Hans Jörg Henneckes in diesem Jahrbuch. Zum gesellschaftlichen Gefüge der Zwischenkriegszeit vgl. Hagen Schulze: Weimar. Deutschland 1917–1933. Berlin: Severin und Siedler 1982 (Die Deutschen und ihre Nation, 4), S. 47–66 (»Gesellschaft und Interessen«).

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»keinen ausgeprägten politischen Gestaltungswillen«50 verfügt, der ihm freilich auch aufgezwungen wird – denn um sich gegen die genannten Widrigkeiten zu stemmen, hat Karl nicht die richtige Kragenweite. Er ist neu in der Firma und hat seinen Platz in ihr noch nicht gefunden. Und so wird sich auch die angestrebte mittlere Lebensführung seiner jungen Ehe und Familie eher pragmatisch ergeben, als dass sie aktiv gesucht oder vorangetrieben würde: er ›erleidet‹ Geschichte, er ›gestaltet‹ sie nicht. Ausschweifungen ins Extreme sind ohnehin weder Karls noch Grethes Sache, jedenfalls nicht auf Dauer. Ihre pragmatisch geschlossene Ehe – beide haben sich eigentlich nach anderen Partnern gesehnt und träumen von ihnen – mag zwar Resultat einer reduzierten Form emphatischer Liebe sein, aber sie gibt Sicherheit – und man kommt miteinander aus. Abschweifungen leisten sich, zumindest gedanklich, beide Ehepartner: Karl geht auf einer Reise ein Verhältnis mit der Schwedin Cecilie ein. »Dies ist anders als alles, was ich je erlebt habe«, denkt er nach einer Nacht ›freier‹ Liebe mit ihr. (SchA  103) Das für ihn, nicht aber für Cecilie normsprengende Erlebnis führt kurzzeitig gar zu weiteren gedanklichen Eskapaden: In Schweden bleiben? denkt Karl am nächsten Morgen, als ihm im Wintergarten das Frühstück serviert wird. Statt nach Haus zu fahren, einfach hierbleiben! Mit Cecilie ein neues Leben anfangen, ein anderes, irgendwo im Norden? An einem See? (SchA 103)

Aber es bleibt beim Tagtraum. Die Beharrungskräfte des Bequemen, des Gewohnten, des Sicheren sind stärker als die leidenschaftlichen Aufwallungen des Moments. So ergeht es auch Grethe mit ihrer alten Liebe August Menz, die ihr eines Tages unverhofft in Rostock über den Weg läuft. Das Blut, das ihr bei der Vorstellung, ihm jederzeit begegnen zu können, in Wallung gerät, ist Ausdruck mangelnder Robustheit der ehelichen Paarung, die wiederum auf das flaue Liebesleben der Kempowskis zurückgehen dürfte. (Vgl. SchA 136) Wohin solche Bindungsschwäche führen kann, hat Goethe in seiner ›chemischen Gleichnisrede‹ Die Wahlverwandt­ schaften beschrieben: Man vertraut seiner eigenen Gefühlsfestigkeit nicht, und insofern tut Grethe gut daran, August im weit entfernten Südamerika zu vermuten (vgl. SchA 135), wo er für sie keine Versuchung mehr darstellt.51 Sollen wir es als Insinuation verstehen, dass infolge der Wiederbegegnung Grethes mit Menz nach vielen vergeblichen ehelichen Vereinigungsversuchen nun doch endlich gesegnete Umstände eingetreten sind? Dergestalt, dass Grethe ›durch eine höhere Hand‹

50  Schulze: Weimar 1982, S. 53. 51  Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. In Zusammenarbeit mit Christoph Brecht hg. von Waltraud Wiethölter. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1994 (Bibliothek deutscher Klassiker, 109), S. 974.

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quasi ein illegitimes Kind in ihrem Leib trägt? Das muss Spekulation bleiben, die dadurch freilich befeuert wird, dass sich ihr eheliches Sexualleben auf eine eigenartige »Wühlerei« (SchA 39) zu beschränken scheint, die als sexuelle Unerfahrenheit gewertet werden kann. Die Mischung aus Vagheit und Diskretion, aber auch Spekulation und Provokation gehört zu den Stärken dieses spannungsvollen Erzählens, das die Fantasie des Lesers herausfordert und bisweilen befriedigt, bisweilen düpiert. Zumal die schön-riskante Nebensache mit Menz noch keineswegs erledigt ist: Angesichts der Tatsache, dass er sich ein Gut an der Recknitz gekauft hat, wird die ›Vernunft-Freiheit‹, die man sich mit ihm und von ihm versprochen hätte, neu belebt. Grethe träumt sich als Gutsherrin an seine Seite, wird aber aus Sorge um ihren kranken Sohn Robert in der Rostocker Tristesse festgehalten. Sie wird sich allerdings noch viele Male wehmütig und tagträumerisch auf Abwege begeben: »Grethes Augen füllen sich mit Tränen, als sie sich das so ausmalt.« (SchA 369) Als sie dann aber tatsächlich an die Recknitz fährt, um Menz zu besuchen, stellt sich Ernüchterung ein: »Weißt du noch?« möchte August gerne sagen, aber das hat er schon mal gesagt, vor einiger Zeit, das kann er nicht noch einmal sagen. Daß er immer noch gut aussieht, denkt Grethe, und daß sie es wohl ausgehalten hätte bei ihm. Sie bleiben stehen, nebeneinander, er hier, sie dort, jeder an einem Pfosten, die Arme übereinandergeschlagen. (SchA 529–530)

Man hat sich nicht mehr viel zu sagen: Die emphatische Liebe ist verflogen, man würde es lediglich miteinander »aushalten«. Aber ein ›aushaltbares‹ Leben bietet eben auch Karl. Und so lassen beide den Kairós des ›rechten Augenblicks‹ an sich vorüberziehen: Zwar wäre man durchaus füreinander bestimmt gewesen, aber »[d]amit ist es nun nichts.« (SchA 533) Das Extreme als das Gewagte stellt nur in Gedanken oder für eine beschränkte Zeit einen möglichen Lebensentwurf dar – verpasste Augenblicke, versäumte Gelegenheiten, ausgeschlagene (Liebes-)Abenteuer bilden gewissermaßen das ›Schwarzbrot‹ bürgerlicher Existenz. Die motivischen Anleihen bei – oder soll man vorsichtiger sagen: Ähnlichkeiten mit? – Goethes Wahlverwandtschaften, Fontanes Effi Briest oder Thomas Manns Buddenbrooks sind unübersehbar. Generell führen die Kempowskis ein gemäßigtes (um nicht zu sagen: reduziertes) Leben, von ethischem Gleichmut unaufhaltsam durchzogen. Der Ausschluss des Emphatischen aus dem eigenen Dasein lässt sich auch an den dargestellten Zeitläuften zeigen. So besuchen unsere Protagonisten zwar einige politische Versammlungen durchaus mit Interesse und Neugier, doch engagieren sie sich nicht, und wenn es zu Handgreiflichkeiten kommt, ziehen sie sich aus der Affäre und ins gesichert Private zurück. Kultivierte Konzertbesuche sind ihnen da schon lieber, denn sie bringen ohne Risiko Kurzweil in den tristen Alltag:

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Konzerte, ja das sind […] angenehme Abwechslungen, erfreulicher als diese politischen Versammlungen, bei denen doch nichts herauskommt. Wenn es allerdings auch nicht ganz ohne Reiz ist, sich anzuhören, wie die Leute sich da öffentlich anschreien, oder mit anzusehen, wenn sie sich prügeln. (SchA 75)52

Passivität ist der Handlungsmodus »in des Lebens Einerlei«: Man bleibt Zeitzeuge, wo Leidenschaften überkochen und Differenzen handgreiflich ausgetragen werden. Mitmachen im Sinne des Einmischens kommt nicht in Frage, Schaulust jedoch schon: Karl »stößt seine Frau an und sagt, daß es gleich richtig losgehen wird, das kennt er, und sie soll sich mal die Weiber angucken, was das für Megären sind!« (SchA 68) Wenn es dann aber wirklich brenzlig wird, sucht man doch lieber das Weite und flüchtet sich ins Beschauliche: Nein, da geht man lieber schnell hinaus, in die klare Nacht mit all den Sternen am Himmel, dem Kleinen und dem Großen Bären, dem Siebengestirn und dem Orion, die Karl immerhin kennt und seiner kleinen Frau erklären kann, die sie zwar auch kennt, aber irgendwie nicht so gut. Daß Karl die Sterne in Flandern gesehen hat, sagt er, dieselben Sterne, und ob die Leute im Saal nun schreien oder nicht, daß die Sterne »sich da nicht um kümmern«. (SchA 69)

Wer sich den Zeitläuften und ihren radikalen Ausschlägen nicht ganz entziehen möchte, wird Mitläufer. So tritt Karl beispielsweise – trotz aller Abneigungen gegen diese »Ascheimerleute« – in die SA ein. Überhaupt schwankt seine Einstellung zum Nationalsozialismus zwischen unfreiwilliger Faszination und bewusster Distanznahme. Die augenscheinlich umstrittenen Maßnahmen der neuen Machthaber werden zunächst gleichmütig und im Gestus des Abwartens aufgenommen: Kommt Zeit, kommt Rat. Es wird nichts so heiß gegessen, wie’s gekocht wird. Man kann direkt sehen, wie’s wieder aufwärtsgeht. Die Nazis mögen sein, wie sie wollen, aber organisieren können sie. Die kartenspielenden Arbeitslosen auf dem Neuen Markt sind jedenfalls verschwunden, schlagartig, und mit den Hausierern wird’s auch schon weniger. (SchA 341)

Als Karl dann aber mit den NS-Verbrechen konfrontiert wird, ist es wiederum die Maxime der Schicksalsergebenheit, die ihm und den Seinen das Leben unter »Herrn Hitler« ermöglichen soll:

52  Auch in den Konzertbesuchen offenbart sich ein Hang zum Gemäßigten. Man sitzt nämlich »zweiter Rang, erste Reihe. Das ist billig und auch akustisch günstig. Auf dem zweiten Rang sitzen all die Leute, die von Musik eine Ahnung haben: die genau wissen, wann man klatschen muß.« (SchA 70) Man platziert sich demnach bei denjenigen, die nicht erste Garde sind, aber eben auch keine Banausen.

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Im Nachbarrevier habe man KZ-Häftlinge arbeiten sehen. »Fahren Sie schnell weiter«, habe der SS-Mann gesagt. Die hätten böse ausgesehen. Schlimm. »Konzertlager«, wurde gesagt, und: »Das rächt sich.« Aber bloß den Mund halten – »Junge, hörst du?« – Herr Hitler müsse es ja wissen.53

Dieser gleichmütige Gestus des sich Duckens und Stillhaltens erlaubt es Margarethe Kempowski dann am Kriegsende auch, den Sieg über das Extreme für die gemäßigten Kräfte zu reklamieren. Sie würden »irgendwie sauber« aus der ›Neuen  Zeit‹ hervorgehen, nicht nur, weil man schuldenfrei sei, sondern eben auch, weil man einen gemäßigten Lebensentwurf durch zermürbende Zeiten gerettet habe.54 Genau das wird sich allerdings als trügerisch herausstellen, denn dieser Lebenswandel bürgerlicher Saturiertheit ist, kaum entstanden, schon wieder obsolet geworden. Allseitiges Maßhalten im Leben – davon zeugt besonders der Roman Schöne Aussicht – wäre den Kempowskis pragmatisch möglich, ist aber nicht alternativlos oder erste Wahl: Der überschuldete Großvater und Firmenchef lebt aus dem Vollen und muss sich von der eigenen Tochter Geld leihen – gegen acht Prozent, wie empört konstatiert wird. (Vgl. SchA 275) Am Ende hinterlässt er seiner Familie kein Vermögen, sondern einen Schuldenberg, sodass auch die letzte verbliebene Villa in der Stephanstraße veräußert werden muss, statt – als Erbe – selbst dort einziehen zu können. Dieses Ende kann als ferne Buddenbrooks-Reminiszenz gelten, wo ebenfalls, eingangs wie ausgangs, der Besitzwechsel der (künftig oder bislang) eigenen Wohnimmobilie ins Haus steht, weil man bankrott gemacht hat. Als Erben des Literarischen Realismus erzählen Thomas  Mann und Walter  Kempowski damit eine vage Reprise einer fast ›schicksalhaften‹ Realitätsannahme, der zufolge nicht nur Besitz und Eigentum, sondern auch Rationalität und Normativität in der Spätphase des Bürgerlichen Realismus gefährdet sind, verloren gehen, geopfert werden und eine Neustrukturierung der Welt erzwingen. Die psychische Konstitution des Personals im Übergang zum 20. Jahrhundert wird, nicht zuletzt Freuds wegen, neu und anders konzeptualisiert, ermöglicht eine Ausdifferenzierung sozial- und individualpsychologischer Bewusstseinslagen und Motivationen und erschafft eine bis dato unbekannte Dimension besonders komplexen und expliziten normierten respektive normabweichenden Verhaltens. Davon profitieren auch die ›mittleren Helden‹ der Deutschen Chronik, die trotz ihrer Gewöhnlichkeit und durchschnittlichen Repräsentanz eine Tiefendimension bekommen, die sie von vormodernen Erzählkonzepten unterscheiden. Auch motivationale Lücken sind plötzlich zugelassen

53  Walter Kempowski: Tadellöser & Wolff. Ein bürgerlicher Roman. Hamburg: Knaus 1978, S. 190. 54  Vgl. Kempowski: Tadellöser, S. 475.

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und implizieren eine (psychische) Gefährdung der Person. Erfahrbar wird dies in der ›zweiten Chronik‹, beispielsweise in Kempowskis »Episode« Mark und Bein, wo die Epochentransformation der Synthetischen Moderne an ihr Ende gekommen ist und die Menschen jenseits des Eisernen Vorhangs in die Dystopie des Stalinismus entlassen hat.55 Dort führen unrealisierte und unrealisierbare Möglichkeiten der Person, zum Beispiel die moralisch-psychische Erwartung, die Schuldfrage stellen zu dürfen, zu existenziellen Friktionen und individuellem Scheitern, zum Selbstverlust im Wahnsinn und drastischen Transformationen wie der ›Wiedergeburt zu neuem Leben‹ – letztere am Beispiel von Jonathan  Fabrizis erzählt.56 Durch die Longue durée seiner Familiensaga, die eine neue Spielart von Fortsetzung in seiner ›zweiten Chronik‹ erfährt, gelingt es Kempowski, diesen Brückenschlag vom Realismus über die Moderne in die Nachkriegszeit zu vollziehen und auch die erwartete Anthropologie seines Personals diesem mehrfachen Epochenwandel anzupassen: Sie wird im Grunde genommen immer anstößiger und prekärer, mit dem Roman Hundstage vielleicht als Scheitel- und Wendepunkt.57 Wie keinem zweiten Autor seiner Generation gelingt es Kempowski, sich im Anschluss an die Deutsche Chronik neu zu erfinden und doch treu zu bleiben. Auch hierfür wäre »Willkommen und Abschied« eine passende Formel im infiniten Regress. Zurecht hebt Raul Calzoni hervor, dass Kempowski aus der Longue durée der ersten und der »sogenannten Zweiten Chronik« als »Beobachter« des bundesrepublikanischen Deutschlands und des westdeutschen Literaturbetriebs der 1980er Jahre hervorgeht, sondern auch als »Beobachter« seiner selbst, der sich – satirisch – wie der »typische bundesdeutsche Schriftsteller« geriert und sich zugleich in »Abgrenzung gegenüber einem behaupteten Mainstream« gefällt.58 Möglichkeiten des Ausbruchs aus der bürgerlichen Konvention scheinen auf und werden dann und wann auch genutzt. Die handlungschronologisch folgenden

55  Zum Terminus der »Synthetischen Moderne« vgl. Gustav Frank und Stefan Scherer: Fallada als populärer Autor der Synthetischen Moderne. In: Dies. (Hgg.): Hans-Fallada-Handbuch. Berlin/ Boston: De Gruyter 2018, S. 208–223. 56  Vgl. Marianne Wünsch: Das Modell der »Wiedergeburt« zu »neuem Leben« in erzählender Literatur 1890–1930. In: Karl Richter/Jörg Schönert (Hgg.): Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß. Walter Müller-Seidel zum 65. Geburtstag. Stuttgart: Metzler 1983, S. 379–408. 57  Argumente für diese Lesart finden sich bei Edo Reents: Mein Lieblingsbuch: »Hundstage«. In: F. A. Z., Nr. 182 vom 7.8.2004, S. 31. Sowie ders.: Zum Verwechseln unähnlich. Walter Kempowski als Sch...liberaler. In: Tom Kindt/Marcel Lepper/Kai Sina (Hgg.): Poetik der Mitte. Walter Kempowski im literatur- und ideengeschichtlichen Kontext. Göttingen: Wallstein 2022, S. 125–136. 58  Vgl. Raul Calzoni: Hundstage. Roman. In: Damiano/Grünes/Feuchert: Walter-Kempowski-Handbuch 2020, S. 66–68. Zitiert wird hier Kai Sina: Sühnewerk und Opferleben. Kunstreligion bei Walter Kempowski. Göttingen: Wallstein 2012, S. 85.

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Romane werden diese Haltung als zunehmend prekär erweisen. Tadellöser & Wolff handelt gewissermaßen vom nun auch für die Kempowskis unleugbaren und unentrinnbaren Eindringen verderblicher Fährnisse in den Alltag der bürgerlichen Familie. Uns geht’s ja noch gold erzählt vom bösen Erwachen im Nachkriegselend unter kommunistischen Vorzeichen. Die bürgerliche Familie zerfällt, ihr Oberhaupt ist im Krieg geblieben, die Tochter lebt verheiratet im dänischen Exil, die Söhne lavieren sich mehr schlecht als recht durch die Wirrnisse der frühen Nachkriegszeit. Und wenn ein Roman in der Nachfolge der Buddenbrooks vom »Verfall einer Familie« erzählt, dann ist es Ein Kapitel für sich, in dem sich alles noch Verbliebene auflöst oder mutwillig zerstört wird. Den bürgerlichen Haushalt gibt es bald nicht mehr, das Wohneigentum der Familie wird in alle Winde verstreut. Die Mutter und die beiden Söhne kommen in russische Gefangenschaft und verschwinden für viele Jahre ihres Lebens in einem rechtlosen Raum der Willkür. Herzlich willkommen handelt dann von der versuchten, aber misslingenden Restauration dieser bürgerlichen Fassade sowie dem Versuch eines Neubeginns in Westdeutschland. Jetzt erstmals unter den Auspizien einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung, nachdem das liberale Experiment von Weimar gescheitert war. In einer Szene, in der Walter seine Kindheit mit Märklin-Autos wiederauferstehen lassen möchte, wird dies eindringlich demonstriert.59 In Schöne  Aussicht wird der weitere Verlauf und der immer virulenter werdende Einbruch des Zerstörerischen an mehreren Stellen vorweggenommen – und zwar nicht nur durch Andeutung einer normverletzenden, letztlich aber folgenlos bleibenden Liebschaft. So wird die Integrität der Kempowskis durch die ehemalige Hausangestellte Rebekka ernsthaft auf den Prüfstand gestellt. Sie bittet Karl, sie aus dem »Reich« hinauszuschaffen »mit dem Schiff« (SchA 377), denn als Jüdin muss sie um ihr Leben fürchten. Unter dem Eindruck der Rassengesetze kann man sich nicht mehr auf das Maßvolle verlassen, man hat nur zwei Optionen: Hilfe leisten und dabei den eigenen Kopf riskieren oder wegschauen und ein Opfer der Barbarei preisgeben. Und genau zwischen diesen beiden Extremen schwankt Karl (zu) lange: Dies ist das erste Mal, daß Karl etwas zu tun kriegt mit den Anfangsschwierigkeiten des 3. Reiches. Gehört hat er schon allerhand davon, wüste Geschichten, aber so direkt? Nicht viel fragen darf man in einem solchen Fall und nicht viel überlegen. Am besten gleich aufstehen und das Ansinnen das Gehirn passieren lassen, ins eine Ohr hinein, zum andern wieder hinaus. In der Nacht fällt es ihm aber wieder ein, er schläft gerade so schön, da tun sich ihm die Augen auf: Was war das? So soll man nun also die Familie aufs Spiel setzen, um die Existenz eines anderen Menschen zu retten? Gerade jetzt, wo alles so schön läuft? (SchA 377)

59  Vgl. Walter  Kempowski: Herzlich willkommen. Roman. München/Hamburg: Knaus  1984, S. 112–113.

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 Zum Geleit: Schöne Aussicht im Kontext der Deutschen Chronik

Karls Gedankenrede verrät, wie schwer es ihm fällt, die Zeichen der Zeit zu erkennen: denn die rabiate völkische Rassenpolitik des ›Dritten Reiches‹ lässt sich kaum mehr als »Anfangsschwierigkeit« bezeichnen, zumal das Hitler-Regime die umwälzenden Konflikte, die sich daraus ergeben, geradezu heraufbeschwört. Immerhin haben ihm mögliche Konsequenzen der Anteilnahme und Hilfestellung Alpträume und Schlafstörungen eingebracht: sein Gewissen schlägt noch. Kempowskis Darstellung fängt die Unangemessenheit bürgerlicher Reaktionsweisen auf die Zumutungen der ›Neuen Zeit‹ bewusst ein und stellt sich nicht besserwisserisch-moralisierend gegen diejenigen, die damals Geschichte erlebt und erlitten haben. Hier taucht wie aus dem Nichts eine Frage auf, die so selbstverständlich ist, dass sie eigentlich gar nicht erst gestellt zu werden bräuchte: Wer hat die Schuld?

5 »Wer weiß, was noch alles kommt? « – Zur Autonomie in Griffweite Die Schuldfrage, die bei der Entrechtung, Vertreibung und Vernichtung der Juden ansetzt und immer weitere Kreise zieht, muss damals schon die Zeitzeugen beschäftigt haben, wie wir aus zahllosen Dokumenten wissen, die Kempowski für sein Echolot zusammengetragen hat. Die Schuldfrage bestimmte die gesamte Nachkriegszeit, beispielsweise in Form der – vielfach erbittert zurückgewiesenen – Kollektivschuldthese, in Gestalt des Schuldbekenntnisses der großen Kirchen, in der Anerkenntnis der Verantwortung für den Holocaust durch die Bundesrepublik Deutschland, durch die Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen im Zuge der Frankfurter Auschwitzprozesse usw. Diese Frage frappiert in ihrer Simplizität, weil sie allumfassend ist und durch nichts konkretisiert werden muss, um verstanden zu werden – die Millionen KZ-Opfer und Kriegstoten, die Versehrten und die Vertriebenen, selbst Gott und die Gerechten unter den Völkern sind von ihr betroffen, stellen diese Frage und können sich doch keine befriedigende Antwort darauf geben. Nur individuelle Schuld lässt sich bemessen, scheint es, während allgemeine Schuld und kollektives Versagen dieses Ausmaßes bloß eingestanden werden können. Es ist ein genialer Schachzug von Kempowski, dass er diese Frage in ihrer verblüffenden Simplizität doch noch formuliert und – in seiner »Episode« Mark und Bein – einer psychisch Kranken in den Mund gelegt hat.60 Seit Hitlers Machtantritt muss man sich zum ubiquitär Bösen verhalten. Zwar versucht Karl, Rebekka zu helfen und findet sogar eine Möglichkeit, allerdings

60  Vgl. Walter Kempowski: Mark und Bein. Eine Episode. München: Knaus 1992, S. 128.

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ist es zu spät, denn Rebekka ist schon fort. So löblich seine Bemühungen sind, so halbherzig sind sie auch und gehen nur mit größter Vorsicht vonstatten. Geradezu befremdlich wird sein Gedankengang, als Rebekka ihn eines Tages abpasst und flehentlich bedrängt, weil ihr (und somit ihm) keine Zeit mehr bleibt. Er hat keinen Blick für die Not der jungen Frau und wundert sich nur darüber, dass sie jemandem, von dem sie Hilfe erwartet, derart ungepflegt gegenübertritt: An sich ja furchtbar unklug, sich für einen solchen Anlaß nicht ein wenig feinzumachen. Wenn man von einem Menschen etwas will, dann muß man ihn von sich einnehmen. Da darf einem doch nicht alles wurscht sein? (SchA 377–378)

Karls Gedanken sind klar unangemessen und negieren pars pro toto die existenzielle Not der zwischen Auswanderungsdruck und Auswanderungshemmnis verzweifelt schwankenden jüdischen Bevölkerung. Er lädt allerdings durch seine ebenso unangemessene wie schwankende Haltung noch keine Schuld auf sich, denn Rebekka wird nicht in die Hände der Nazis fallen, sondern kann sich nach Brasilien retten. Allerdings geht mit diesem glücklichen Umstand eine Gefährdung der eigenen Familie einher, denn aus ihrem Exil hat die Jüdin an Grethe einen Blumenstrauß geschickt, den sie sich nun bei der Gestapo abholen muss. Eine Mitwirkung der Kempowskis an Rebekkas Flucht kann ihnen jedoch nicht nachgewiesen werden. So geht auch diese Konfrontation mit dem NS-Staat glimpflich ab und bietet Grethe Gelegenheit, sich vom Nazi-Pack abzugrenzen, denn sie zeigt sich empört über das Benehmen des Gestapo-Mannes, der »ihr nicht mal einen Platz angeboten« habe – und »ist selbst sitzengeblieben, dick und brösig.« (SchA 382) Die eigene Familie, das Beharren im Passiven ist in Schöne Aussicht durchgängig beobachtbar: Die Machtübernahme der Nationalsozialisten und der damit einhergehende wirtschaftliche Aufschwung sowie die scheinbar wiederhergestellte Ruhe und Ordnung werden begrüßt, aufkommende Vorbehalte werden rasch verdrängt […]. Die weiterhin mehr oder minder zeitcharakteristisch arglos-bürgerliche Familie zieht sich immer mehr in ihre sichere Gegenwelt, ihr Zuhause in einer nun geräumigeren Wohnung in der Alexandrinenstraße zurück, um die zunehmend inakzeptablen Zeiterscheinungen von der schönen Aussicht ihres Erkers aus […] passiv und distanziert zu beobachten.61

Kempowski hat keine Heldenfiguren gezeichnet, und so ist es Karl und Grethe nicht möglich, aus dieser Haltung auszubrechen. Sie bewegen sich in engen Grenzen und sind nicht in der Lage, ihr Werte- und Normensystem zu revolutionieren – und dies

61  Reents: Schöne Aussicht 2020, S. 48–49.

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scheint auch der Autor selbst zu spüren, als er in seinem Tagebuch über seinen Vater nachsinnt und den Eindruck gewinnt, er habe »sich am Ende seines Lebens ›verdrückt‹«,62 dergestalt, dass er bewusst in den Tod gegangen sei, weil ihm eine Rückkehr in sein altes Leben unmöglich erschienen war.63 Der Vater in Kempowskis Keller-Hörspiel Moin Vaddr läbt verdrückt sich, Lehrer Matthias Jänicke begibt sich aufs Land, Sowtschick geht nach Amerika, die Mutter von Jonathan Fabrizius verstirbt, auch die Mutter des Erzählers in Alles umsonst, der Erzählung vom großen Treck: die Verantwortlichen entziehen sich, die Betroffenen flüchten; die Stammtischler in Schöne Aussicht verdrücken sich, sobald die Luft brennt. Und so habe sich eben auch Kempowskis Vater aus dem Staub gemacht. Biograph Dirk Hempel schreibt dazu: »Kempowski vermutet, daß sein Vater den Tod gesucht hat – er soll nachts vor dem Bunker eine Zigarette geraucht haben, was Tiefflieger aufmerksam machte, weil er die Rückkehr ins bürgerliche Leben fürchtete, ohne den Halt der Uniform, den Status des Hauptmanns.«64 Einer These Anna Brixas zufolge handelt es sich hier allerdings um eine biographische Legende, die dem Vater – wenigstens im Tode – so etwas wie Autonomie und Würde zuschreiben wolle: Es ist nachvollziehbar, dass Kempowski sich den sterbenden Vater lieber als einen aufrechten, vielleicht seine letzte Zigarette mit bewusstem Genuss rauchenden Mann vorgestellt hat – der zwar eine für die Familie folgenreiche und schmerzvolle Entscheidung trifft, aber doch sein Leben immerhin selbstbestimmt aus der Hand gibt.65

Autonomie ist etwas, das Karl – nicht nur im Roman Schöne Aussicht, aber da ganz besonders – fehlt. Auf seine unmögliche Stellung im väterlichen Kontor haben wir schon hingewiesen. Darüber hinaus zeichnet der Roman ihn als Kriegsversehrten,

62  Walter  Kempowski: Sirius. Eine Art Tagebuch. Mit 245  Abbildungen. München: Knaus 1990, S. 209 (21.5.1983). 63  Diese Vermutung bricht sich auch in Kempowskis Träumen Bahn. In einem davon ist der (noch lebende) Vater von seiner Familie durch eine klare, wenngleich nicht näher bestimmbare Grenze getrennt: »Aber einen Traum, den ich häufig wieder träume, ist dieser, dass ich denke, er lebt doch irgendwo unerkannt, unerkannt, weil er sich schämt. Wohnt in einer Kellerwohnung, überlebt also. Ein Bein ist ab. Nun sitzt er da, möchte gerne zu uns, aber er kann es nicht aus irgendwelchen Gründen, die ich nicht kenne.« Walter Kempowski. Interview mit Tim Horst, 1989. AdK/WKA, Nr. K-701/18. Zitiert nach: Carla A. Damiano: Moin Vaddr läbt. A Ballahd inne Munnohrd kinstlich med Mosseg unde Jesann von Wullar Kinnpussku. In: Damiano/Grünes/Feuchert: Walter-Kempowski-Handbuch 2020, S. 207–213, hier S. 207. 64  Dirk Hempel: Walter Kempowski. Eine bürgerliche Biographie. München: btb ³2007 (btb, 73208), S. 30. 65  Anna Brixa: Vater. In: Damiano/Grünes/Feuchert: Walter-Kempowski-Handbuch 2020, S. 355–369, hier S. 365.

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dessen Wunden – abgesehen von seiner Hautverätzung – allerdings nicht jedem und sofort offensichtlich sind. Nie hat er es verwunden, dass er seinen besten (und einzigen nennenswerten) Freund Erich Woltersen, genannt Erex, im Felde hat sterben sehen müssen. Erinnerungen daran holen ihn immer wieder ein: An Erex denkt er, Scheiße mit Reiße: »Ich kann ja gar nichts mehr sehen...« Wie der im Graben lag mit aufgerissenem Leib... Dieses Bild hat sich ihm eingeprägt, und wie er selbst daneben stand, ein Stück seitab, und es nicht fertigbrachte, zu ihm hinzugehen. Und Wut und Trauer überkommen ihn, und er weiß nicht, wohin mit dieser Wut und dieser Trauer. (SchA 112)

Ein Trauma, das Karl an Suizid denken lässt: »Er greift in die Nachtschrankschublade, da liegt seine Pistole, sechs Schuß Munition.« (SchA 112) Diese Waffe taucht fast leitmotivisch an verschiedenen Stellen der Ereignisfolge auf – sie repräsentiert Karls Kriegstrauma, gleichzeitig jedoch fungiert sie auch als Möglichkeit eines letzten Auswegs aus Lebenskrisen, denn als sein Vater Karl vorwirft, er habe Firmengeheimnisse ausgeplaudert, ist auch der Gedanke an die Schusswaffe nicht weit: »Seine Pistole hat er noch, die liegt in der Nachtschrankschublade. Die Pistole und die sechs Schuß Munition. Die wird er dort auch liegen lassen. Wer weiß, wann man sie mal braucht. Sein Vater würde schön gucken, denkt er. Was?« (SchA 107–108) Auch in Zeiten der großen Inflation gibt der Gedanke, das Leben jederzeit beenden zu können, ihm tatsächlich so etwas wie Halt: »Die deutsch-französische Pistole, die immer noch auf dem Wäscheschrank liegt, hat Karl schon wiederholt betrachtet. Es war gut, daß er sie aus dem Felde mitbrachte. Wer weiß, was noch alles kommt.« (SchA 276–277) Immerhin: Sie liegt jetzt nicht mehr in unmittelbarer Griffweite (wahrscheinlich auch der Kinder wegen), aber sie bleibt jederzeit erreichbar. Auch diesen Weg will Karl sich offenhalten. Von »Erinnerungsbehaglichkeit«66, die man dem Roman in der Erstrezeption vorgeworfen hat, kann somit keine Rede sein. Friederike Reents ist zuzustimmen, wenn sie argumentiert, dass »eine genauere Analyse dringend erforderlich« sei, vor allem, »um die bisherige – in Teilen sehr ablehnende – Kritik zu ergänzen.«67 Die Beiträge dieses Jahrbuches mögen einen Anstoß dazu liefern.

66  Otto Köhler: Hundert Zeilen Behaglichkeit, eine Zeile des Entsetzens. In: betrifft: erziehung 14 (1981), S. 58–59, hier S. 58. Zitiert nach: Reents: Schöne Aussicht 2020, S. 49. 67  Reents: Schöne Aussicht 2020, S. 50.

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 Zum Geleit: Schöne Aussicht im Kontext der Deutschen Chronik

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Christian Dawidowski

»Wir haben unsere Bildung auch nicht in der Tüte gekauft« Kempowskis Schöne Aussicht und der Bildungsdiskurs der Weimarer Republik Kempowskis Roman nimmt eine Scharnierstellung in seiner Deutschen Chronik ein; spät verfasst (1981), scheint er auf den ersten Blick die notwendige Hinführung zu den Erfolgsromanen und die Verbindung zur Familiengeschichte des 19. Jahrhunderts (Aus großer Zeit) zu liefern. Entsprechend abwertend fielen die zeitgenössischen Rezensionen aus. Ein genauerer Blick in die Werkchronologie lässt jedoch stutzen: Gleichzeitig mit der Arbeit an Schöne Aussicht (SchA1) fällt eine Periode intensivster Auseinandersetzung mit Fragen von Schule und Pädagogik auf, beispielsweise im Böckelmann-Komplex (1979, 1983), der Einfachen Fibel (1980/81), den Kinderbüchern, gipfelnd schließlich 1984 im letzten Teil der Familienchronik, Herzlich Willkommen, der sich zu großen Teilen mit dem Werdegang des IchErzählers als Lehrer beschäftigt.2 Um 1980 widmete sich Kempowski offensichtlich Gedanken um Erziehung und Bildung, die er in der späteren Phase seines Schaffens nur noch ein einziges Mal wieder aufnahm, nämlich im Schul- und Dorfroman Heile Welt (1998). Es mag kein Zufall sein, dass seine Tätigkeit als Lehrer zum früheren Zeitpunkt (1980) durch eine Abordnung an die Universität Oldenburg vervollständigt wurde, wo er sich im Rahmen der Lehrerausbildung auch mit Fragen der Pädagogik befasste.3 Bereits diese einleitenden Überlegungen legen es nahe, Schöne Aussicht unter dem Aspekt von Bildung und Bildungsvermittlung zu betrachten, zumal die Augenfälligkeit dieser Komplexe angesichts der Schulkapitel im zweiten und dritten Teil unmittelbar gegeben ist. Die Forschung weist mittlerweile übereinstimmend darauf hin, »dass das Pädagogische in den Romanen Kempowskis nicht eines unter vielen

1  Im Folgenden wird Schöne Aussicht mit der Sigle SchA und der entsprechenden Seitenzahl im laufenden Text nach folgender Ausgabe zitiert: Walter Kempowski: Schöne Aussicht. Roman. Hamburg: Knaus 1981. – Das Zitat im Titel siehe SchA 342. 2  Als Vorläufer erscheint das Befragungsbuch Immer so durchgemogelt (1974), das auch einen Gedanken- und Materialfundus für die Romane abgibt. 3  Vgl. Dirk Hempel: Biographie. In: Carla A. Damiano/Andreas Grünes/Sascha Feuchert (Hgg.): Walter-Kempowski-Handbuch. Berlin/Boston: De Gruyter 2020 (de Gruyter reference), S. 4–9, hier S. 7. https://doi.org/10.1515/9783111330938-003

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 Christian Dawidowski

Themen ist, sondern als ein fundamentales Thema verstanden werden muss.«4 Der vorliegende Aufsatz setzt es sich daher zum Ziel, den Roman unter dem weiter gefassten Aspekt »Bildung« und ausgehend vom Text zu strukturieren und analytisch zu erfassen, wobei deutlich werden wird, dass die teils vernichtende zeitgenössische Kritik5 keine Berechtigung erfährt, wenn man den Text als Spiegel bildungssoziologischer und -historischer Strukturen versteht – im Gegenteil scheint die Bildungsthematik der Schlüssel zum Text insofern, dass unter dieser Betrachtungsweise auch der Vorwurf der »Erinnerungsbehaglichkeit«6 zumindest relativiert werden muss, denn (so hier die These) Kempowski unternimmt in Schöne Aussicht nicht nur den Versuch, (Institutionen-)Logiken der Bildungsvermittlung und des Bildungserwerbs in einer dahingehend zutiefst gespaltenen Bildungsepoche abzubilden.7 Er führt im Schlussteil am Beispiel des Familientreffens und Walters Rolle darüber hinaus vor, welche (wenigen) Wege aus den faschistischen Zwängen der Sozialisation führen. Möglicherweise spricht auch die Terminierung des Übergangs hin zum Tadellöser für eine solche an Fragen der Bildung orientierte Untersuchung:8 In den späten 1930er Jahren erst nahm die NS-Bildungspolitik schulpolitisch einschneidende Änderungen vor (das Einheitslesebuch, die klar rassistische Ausrichtung auch durch neue Lehrpläne und Prüfungsordnungen9), die dann in der Regel durch den ausbrechenden Krieg kaum kontrollierbar wurden. In den Jahren 1933–1937/38 hingegen dominierten nach wie vor Erlasse und Regelungen der Weimarer Zeit. So scheint auch im Roman eine Zäsur dort gesetzt, wo Schule und Erziehung sich eindeutig positionieren – wie auch im

4  Volker Ladenthin: Pädagogik. In: Damiano/Grünes/Feuchert: Walter-Kempowski-Handbuch 2020, S. 297–313, hier S. 310. 5  Vgl. Friederike Reents: Schöne Aussicht. In: Damiano/Grünes/Feuchert: Walter-Kempowski-Handbuch 2020, S. 48–50, hier S. 50. 6  Vgl. Reents: Aussicht 2020, S. 50. 7  Insofern liefert sich der vorliegende Ansatz dem Vorwurf aus, Literatur als Widerspiegelung gesellschaftlicher Verhältnisse zu begreifen, im Grunde also literatursoziologisch zu arbeiten. Tatsächlich werden die folgenden Argumentationen wenig auf Darstellungsweisen eingehen, sondern sich nahezu ausschließlich im Sinne der These mit Bildungsstrukturen und -einstellungen beschäftigen. Dabei erscheint diese Vorgehensweise insofern berechtigt, als Schöne Aussicht ein isoliertes Element der Deutschen Chronik darstellt, deren besondere Ästhetik längst von der Forschung erfasst ist. Chronikalisches Erzählen setzt es sich darüber hinaus zum Auftrag, sozialhistorische Wirklichkeit im Längsschnitt abzubilden, umso mehr, wenn Kempowskis Verfahren zur Archivierung von Sozialgeschichte über Befragungen und strukturierte Sammlungen die Grundlage des Erzählens bilden. Ein Verfahren, das zumindest in Teilen diesen Erzählprozess rückgängig und transparent macht, indem die »Schlacken der Realität« im Roman sichtbar gemacht werden, erscheint vor diesem Hintergrund legitim. 8  In der Diegese löst der Umzug der Familie in die Augustenstraße den Übergang zwischen den Romanen aus. 9  Vgl. Heinz-Elmar Tenorth: Geschichte der Erziehung. Einführung in die Grundzüge ihrer neuzeitlichen Entwicklung. Weinheim/München: Juventa 2010 (Grundlagentexte Pädagogik), S. 259.

Kempowskis Schöne Aussicht und der Bildungsdiskurs der Weimarer Republik 

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Familientreffen im Schlussteil angedeutet. In methodischer Hinsicht soll nach einem Strukturierungsversuch zunächst ein Blick auf die Bildungsdimensionen und -medien im Roman erfolgen, bevor das Hauptaugenmerk auf die Logiken der Bildungsinstitutionen gerichtet wird. In über den Text hinausführenden Betrachtungen sollen die Interpretamente jeweils eine bildungshistorische Kontextuierung erfahren. In der Forschung wird mittlerweile anerkannt, dass die Deutsche Chronik den Niedergang des Bürgertums nicht nur in ökonomischer und sozialer Dimensionierung, sondern eben auch in kultureller Hinsicht illustriert. Letzteres vereint als »kulturelles Kapital« neben der höheren Schulbildung das Benehmen und den Umgang mit kulturellen Gütern, vor allem mit Literatur und Musik.10 Thesenhaft führt Sabine Kyora vor, dass Schöne Aussicht illustriere, wie »bürgerliche Normen und Werte scheinbar unbeeinflusst bleiben«11 – inwiefern dies mit Bezug zum Bildungsdiskurs behauptet werden kann, werden die folgenden Ausführungen diskutieren. Kempowskis Aussage, der »Ansatz der Chronik« sei möglicherweise »ein pädagogischer«,12 soll hier also ernst genommen werden. Schöne Aussicht weist in struktureller Hinsicht eine klare, vom Autor gesetzte Dreiteilung auf, wobei zwar die ersten beiden Teile voneinander durch die Geburt der Kinder geschieden sind, die Zäsurierung des mittleren und dritten Teils auf den ersten Blick jedoch nur durch den Moment der »Machtergreifung« motiviert scheint. Die gesamte Zäsurierung spricht also deutlich für das chronikalische Erzählen entlang von biographisch-sozialpolitisch gedoppelten Stationen, kann aber auch unter dem Blickwinkel der Auseinandersetzung Kempowskis mit dem Bildungsdiskurs gelesen werden: So schildert der erste Teil Karls und Grethes sozialisatorische Verankerung in Bildungsmomenten wie der Musik, vor allem aber ihre größtenteils selbstgesteuerten Bemühungen um Selbstbildung, teils ergänzt durch die staatlich dirigierte Ausweitung der Erwachsenenbildung, deren Angebote das junge Paar dankbar annimmt. Der zweite Teil konzentriert sich mit der Ankunft der Kinder dann auf Aspekte der Bildungsvermittlung im Rahmen der familiären frühkindlichen, im Falle der älteren Geschwister dann auch der schulischen Bildungsvermittlung. Der dritte Teil ist in kompositorischer Hinsicht diesen im zweiten Teil aufbrechenden Linien von einerseits privater, andererseits institutionalisierter Bildungsvermittlung gewidmet, indem insbesondere die Kernkapitel 13 und 14 zur Schürzung des Knotens führen, denn hier werden diese Linien gegeneinander geführt, und es zeigen sich nur noch instantane und momenthafte Fluchtpunkte aus den vor allem

10  Vgl. Sabine Kyora: Das deutsche Bürgertum. In: Damiano/Grünes/Feuchert: Walter-KempowskiHandbuch 2020, S. 245–253, hier S. 246. 11  Kyora: Bürgertum 2020, S. 246. 12  Zit. nach Ladenthin: Pädagogik 2020, S. 301.

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institutionellen, teils aber auch familiären Zwängen heraus. Diesem Entwurf einer Strukturierung werden die folgenden Argumentationen gehorchen.

1 Medien und Dimensionen des traditionellen Bildungsdiskurses (Teil I) Der erste Teil fokussiert, wie oben genannt, Bildungsvoraussetzungen und Aneignungsstrategien hinsichtlich der Protagonisten Karl und Grethe. Gleichzeitig geht es in ihren Aushandlungsprozessen auch um ihre Überzeugungen hinsichtlich des Wertes von individueller Bildung – aber auch um deren Struktur und Inhalte. Letztlich manifestieren sich in Gesprächen des Paares und Erzählerkommentaren Derivate von Bildungsvorstellungen, die auf das deuten, was Georg Bollenbeck »Deutungsmuster« nannte, anhand derer man »Sinnbildung und symbolische Vergesellschaftung entziffern« könnte. Solche Deutungsmuster sind dann »Elemente der Weltdeutung mit möglicher Handlungsanbindung«, »kollektiv verfestigt« auch als »Typus vorangegangener Erfahrung.«13 An anderer Stelle kennzeichnet Bollenbeck das Deutungsmuster, Mead folgend, treffend als ein »aggregiertes Symbol«14 und fächert im Folgeband über die kulturelle Moderne (1880–1945) deren Dimensionen auf, die sich insbesondere nach 1919 maßgeblich verschieben und damit der symbolischen Neuordnung im Nationalsozialismus zur Grundlage werden können. Das Deutungsmuster »Kultur und Bildung« enthält drei Dimensionen (»Argumentationsfiguren«), deren Ineinanderwirken und Abstoßung das jeweils herrschende Paradigma kennzeichnen (im Roman erscheinen die Protagonisten immer wieder aufgefordert, sich den Paradigmen gemäß zu verhalten): 1. die »ursprungsmythologische Geste«, mit der das volkhafte Element von Kunst und Bildung gemeint ist (die »deutsche Bildung« also); 2. die »bildende Funktion«, mit der die jeglicher Ökonomie und Politik enthobene ästhetische Erziehung gemeint ist; 3. der »schöne Schein«, in dem die zeitenthobene und an die Kalokagathia gemahnende Dimension der Kunst anklingt.15 Bollenbeck zeigt in kulturgeschichtlichen Analysen, wie dieses das Bildungsbürgertum kennzeichnende Deutungsmuster im Zuge radikalliberaler Haltungen in der Weimarer Republik erodiert, wobei im Umkehrschluss nationale Argumentationsfiguren

13  Alle Zitate bei Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996 (st, 2570), S. 19. 14  Bollenbeck: Bildung 1996, S. 19. 15  Vgl. Georg Bollenbeck: Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne. Frankfurt/M.: Fischer 1999, S. 50 und passim.

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gestärkt werden, die schließlich im Nationalsozialismus institutionalisiert werden, während die bildungsbürgerliche Kunstsemantik und deren Bildungsvorstellungen gleichzeitig verschwinden. So weit, so bekannt, und wie sich dieser Vorgang im Einzelnen im Denken und Handeln mit Bezug auf die drei oben genannten Argumentationsfiguren manifestiert, kann eine Analyse von Schöne Aussicht illustrieren. Zunächst also der erste Teil. In Übereinstimmung mit der Forschung spielen traditionelle Bildungsmedien, allen voran Literatur und Musik, eine absolut zentrale Rolle in der nach Kriegsende derangierten und entmachteten Kleinfamilie, zunächst noch kinderlos. Hinzu kommen im weiteren Verlauf eher untypische Medien wie der Film und das Monatsheft, die dem herrschenden Deutungsmuster hinsichtlich ihrer »bildenden Funktion« und ihrer Ästhetik (»schöner Schein«) eingegliedert werden müssen. Dies entspricht auch den Orten der Bildungsvermittlung: Museum, Theater, Oper waren Orte des hegemonialen Bildungsdiskurses des 19. Jahrhunderts, die nun aber um Kino, Gesellschaft (Zirkel) und Vortrag ergänzt werden. Der Roman setzt ein mit dem Leitmedium Literatur. Grethes und Karls Leseverhalten ist – ein vor dem Hintergrund ihrer wirtschaftsbürgerlichen Sozialisation in den Familien de Bonsac und Kempowski erstaunlicher Umstand – durch das Moment des Autodidaktischen geprägt. Nach dem Essen zieht Karl sich zurück, denn »an sich selbst muß man natürlich auch arbeiten« (SchA 132): Sucht vorher noch sechs Bücher aus dem Bücherschrank zusammen, nach genauester Prüfung, »Professor Unrat« zum Beispiel – »wohl aufgemerkt nun also« –, und »zieht sich zurück«, wie er sagt, ins Schlafzimmer, zu ernstem Studium. (SchA 26–27)

Diese Passage aus dem einleitenden Kapitel enthält brennglasartig wesentliche Momente des Bildungsdiskurses, die auf das Moment des Autodidaktischen rückverweisen. Der Bücherschrank als zentrales bürgerliches Inventar ist, wie man später erfährt, nach genauen Strukturprinzipien geordnet und wird durch die Familie gepflegt und erweitert (kultiviert i.e.S.: »sie nimmt Ibsen heraus und stellt ihn mehr nach links, und Strindberg […] stellt sie mehr nach rechts. Das Sinngedicht kommt in die Mitte.« [SchA 58]). Die Auswahl erfolgt nicht intuitiv, sondern gehorcht ebenfalls hier nicht explizierten Prinzipien, denn es geht letztlich immerhin um »ernstes Studium«. Die Wahl des Buches fällt auf: Professor Unrat als Teil der Gegenwartsliteratur, eben nicht des tradierten Klassikerkanons, der aber, ganz den Regeln der bürgerlichen Zitatkultur folgend, direkt mit einem Zitat eingehegt wird, das, aus dem Unrat stammend, schließlich der Leserschaft Kempowskis vor allem über den Tadellöser nahegebracht worden war (hier also auch als meta­ poetischer Kommentar verstanden werden kann). Im Hinblick auf den den Roman prägenden Bildungsdiskurs sicherlich keine zufällige Wahl, sondern als Prolepse verstehbar, illustriert Manns Roman doch wie kaum ein zweiter die Bildungskritik

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in einem musterhaften Schulroman. Zuletzt ist natürlich die offensichtliche Ironie zu erwähnen, die sich in der zu hohen Anzahl der Bücher, dem Attribut »ernst« und der distanzierenden dicit-Formel manifestiert. Die Auswahlprinzipien und Strukturierungsversuche des Autodidakten fließen im Moment des Systemischen zusammen, nach Bourdieu ein zentraler Aspekt des Autodidaktischen als »ängstliches Bemühen um richtige Zuordnungen«:16 Eine dreibändige Literaturgeschichte zum Beispiel, die schenkt man sich gegenseitig, alles von Grund auf zu erlernen, damit man mal ne Ordnung hineinkriegt in die Dinge: Daß mit Walther von der Vogelweide die deutsche Dichtung losging irgendwie, steht darin und die Sache mit der Neun: Lessing 1729 geboren, Goethe 1749 und Schiller 1759. (SchA 35)

Karl liest zu diesem Zeitpunkt mit verstärktem Eifer eher politische Broschüren »vom Schandfrieden und vom Dolchstoß« (SchA 30), Grethe jedoch frequentiert die Universitätsbuchhandlung Leopold und lässt sich vom Händler beraten: Nein, etwas Schönes sucht Herr Reimers heraus, etwas Erhebendes, von Blütensträuchern und von Schmetterlingen, daß die Blütensträucher über den Zaun hängen und Schmetterlinge im Sonnenglast darüber hinweggaukeln […]. Was gibt es jetzt aber auch schon wieder für entzückende Bücher! Strindberg, gelb eingebunden mit braunem Druck, und Fritz Reuter in rotem Leder mit Goldschnitt! (SchA 30–31)

Auch hier sind es gerade nicht Repräsentanten des bildungsbürgerlichen Kanons, sondern es ist das Gemütvolle und Betuliche, das Haptische und die Literatur der Gartenlaube, die Grethe bevorzugt und damit wie auch Karl die Prinzipien weiblicher bürgerlicher Lesehaltungen auf die Gegenwartsdichtung überträgt – durchaus aber auch auf Dichtungen mit kritischer und avantgardistischer Intention. Aufschlussreicher sind dann die zahlreichen Momente gelingender Anverwandlung des Gelesenen in Situationen der Identifikation und der Empathie, häufig in Anschlussgesprächen zwischen Karl und Grethe über Vorgelesenes: Jetzt kommt das Vorlesen an die Reihe. […] Fritz Reuter, »Ut mine Festungstid«. Schlimm, was der Mann alles erlebt hat, dieser Fritz Reuter. Eingesperrt zu sein für nichts und wieder nichts! Und sieben Jahre! Grethe meint, sie würde keine drei Tage aushalten in so einem Loch, und zählt die Maschen nach, an dem Pullover, den sie für ihren Gatten strickt. (SchA 38)

Neben den wiederkehrenden Prinzipien wie dem metapoetisch-ironischen Selbstbezug (Kempowski ist genau acht Jahre inhaftiert, was die Leserschaft von Im Block

16  Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987 (st, 658), S. 514.

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[1969] und Ein Kapitel für sich [1975] weiß) sind es solche Prinzipien der Anverwandlung des gemeinsam Gelesenen, die die Lesehaltungen kennzeichnen: Das Ziel besteht in der Identifikation und dem Nachempfinden, aber auch der kritischen Durchdringung, also letztlich im Transfer zwischen Leseerfahrung und Leben. In den Termini der (historischen) Bildungsvermittlung strebt das Paar an, das Gelesene zu einem Erlebnis werden zu lassen, damit es persönlichkeitsbildend wirkt – sicherlich keine bildungsbürgerliche Haltung, sondern eine durch und durch von Reformgedanken durchdrungene, worauf bereits die Lesestoffe verweisen, auch das Niederdeutsche als dialektale Herkunftssprache, die eben nicht die klassische Hochsprache ist. Die Geltung dieser Befunde zeigt sich in der Übertragung auf den Kosmos der Musik. Neben der unmittelbaren Präsenz des Kirchenliedes, des Volksliedes, des Schlagers und des Gassenhauers, die gesungen und gepfiffen werden, geht der Roman an vielen Stellen auf die Bedeutung klassischer Musik und des Klavierspiels ein – sowohl in der Rezeption als auch in der ästhetischen Produktion. Die musikalische Praxis ist für Karl und Grethe selbstverständlich: Und dann geht er in die Bibliothek, in der ein Flügel steht, und die Schweden wundern sich, daß er so wundervoll Klavier spielen kann. Na ja, die Deutschen, Kultur haben sie eben doch. (SchA 102) Sie blättert in einem Buch, schlägt Akkorde an auf dem Klavier. […] An den langen Abenden spielt Karl Klavier. (SchA 114) Donnerstags […] singt Grethe im Chor die zweite Stimme. (SchA 117)

Die textuellen Kontexte deuten hier bereits die tiefe innere Verbindung der Musik zu Emotionalität und Erotik an, geht doch dem ersten Zitat der Kuss in Karls ›CecilienErlebnis‹ unmittelbar voraus, und in den folgenden geht es um den zunächst unerfüllten Kinderwunsch Grethes, der seinen Grund vor allem in der nur latent praktizierten Sexualität der Ehepartner hat. Deutlicher werden dann die Beschreibungen der Konzertbesuche, denn hier spielen die aus dem Literaturkonsum bekannten Parameter wieder eine entscheidende Rolle. Den Konzertführer hat man früh angeschafft, und hier wird nachgelesen, »wie man diese Symphonie aufzufassen hat« (SchA 71), wobei allerdings in den folgenden Beschreibungen sehr deutlich wird, dass Karls Empfinden weit über die dürren Worte des Führers hinausgeht. Wie auch der Eindruck Grethes: Grethe kuschelt sich an ihren Mann – hört! hört! – und sie freut sich, daß nun all das Schöne kommt, dieses: Einerseits – Andererseits und dies Trotzdem! Das Immer-leiser-und-leiserWerden, das Harmoniegewoge, von dem man sich einhüllen und weit wegtragen lassen kann… […] Grethe denkt an das Bild von Hans Thoma, das bei ihren Eltern über dem Sofa hing, das Bild von dem Wanderer, der auf die weite deutsche Landschaft hinunterblickt, den Hut neben sich und den Stock, über dem sich allerdings jetzt Wolken zu ballen scheinen, wenn man die Musik richtig deutet. (SchA 71)

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Ähnlich auch der nächste Besuch im »Konkert«, Rigoletto: »Karl hatte sich nicht geirrt, wie schön, daß er sich ›etwas auskennt in der Welt des Musikalischen‹«; »Karl pfeift leise mit, Grethe wiegt den Kopf: Musik, ja, wie ist sie schön!« (SchA 78) Auch mit Bezug zur Musik finden sich also, wenngleich bei weitem nicht so ausgreifend, die Kennzeichen des Autodidaktischen und der intensiven Anverwandlung, worauf vor allem die synästhetische Bezugnahme auf Thomas Gemälde hindeutet. Erlebnis und Gemüt sind darüber hinaus wesentliche Elemente musikalischer Aneignung, nicht aber der Bezug zur Gegenwartskunst oder gar Avantgarde.17 Dies leistet im Roman vor allem der Film: Lustig und interessant sind die Kinobesuche. Ein dreiteiliger Film über den Weltkrieg zum Beispiel, mit Aufnahmen von der anderen Seite. Sehr interessant! Von Franzosen, die sich zum Sturmangriff fertigmachen, von Tommies, die deutsche Gefangene nach hinten führen. Daß sich das so abgespielt hat: das hatte man nicht gedacht. Man hatte sich das irgendwie anders vorgestellt. […] Eines Tages wird der »Student von Prag« angezeigt. »Das müssen wir unbedingt sehen!« sagt Karl. […] Hinterher macht er das dann nach, in der Borwinstraße steht er plötzlich neben der Kredenz mit starrem Gesicht […]. (SchA 123)

Offensichtlich folgt der (häufige) Kinobesuch des Paares traditionellen Mustern der Bildungsaneignung, wie sie die bisherige Argumentation am Umgang mit Literatur bereits nachgewiesen hat. Die einleitende Formel Kempowskis ruft unmissverständlich das Horaz’sche Diktum des »aut delectare aut prodesse« auf, und die Schilderungen der Kinoeindrücke funktionieren entlang dieser Linien: Information (über den erlebten Krieg), die einen Perspektivwechsel gelingend anstößt (Karl begreift sich als Opfer der deutschen Kriegspropaganda), Unterhaltung, die als »Erlebnis« verarbeitet wird und zur inneren Anverwandlung überleitet. Auch die Unterhaltungsangebote werden – wie im Falle der Oper, des Konzerts und der Literatur – systematisiert und ihrem kulturellen Wert folgend eingeschätzt und konsumiert: »der Film ›Metropolis‹ macht ihnen Eindruck«, heißt es, etwas später: »Der Film ›Panzerkreuzer Potemkin‹ ist an sich abzulehnen« (weil »Sowjetschwindel«). (SchA 250) Andere Medien und Orte der Bildungsaneignung und -vermittlung werden diesem Muster folgend integriert: »Im Theater erlebt man eine herbe Enttäuschung« (SchA 251); »Politische Vorträge also und bildungspolitische« (SchA 132); »davon werden die ›Mecklenburgischen Monatshefte‹ abonniert, mit den interessanten Nachrichten über Ausgrabungen bei Ludwigslust und mit Gedichten«. (SchA 144) Kempowskis Darstellungen der staatlichen (Erwachsenenbildung) und

17  Abgesehen von der Episode um das Grammophon, das einen Abend hindurch Schlager zu einer Party spielt, die – auch hier ist die Verbindung im Kontext logisch – erotisch aufgeladen ist. (SchA 124–127)

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individuellen Bildungsaneignung lassen sich in jeder Hinsicht sozialgeschichtlich verifizieren. So diente das ausgreifende Angebot in der Erwachsenenbildung (meist im Kontext der neu errichteten Volkshochschulen) der »Wiederherstellung bzw. Neugewinnung der geistigen Volksgemeinschaft«,18 im Roman zunächst nationalkonservativer Ausrichtung, dann aber auch sozialreformatorisch: »Ein entschiedener Schulreformer hält einen Vortrag über sexuelle Reform« (SchA 132) – viele Veranstaltungen nehmen in der Zeit die »Linie der Schulkritik«19 auf. Wie auch im Roman betont die Forschung, dass die Erwachsenenbildung der Weimarer Republik sich abseits der Reformbewegungen schwer tat mit ihrem Verhältnis zur Demokratie; so wurde »die Volksbildung zum Nährboden politischer Mythologien, die von der Demokratie wegführten.«20 Im Roman: »Die Franzosen in Deutschland. Eine moralische Eiterbeule in Europa«, oder der Vortrag des Antisemiten, der mit Zahlenmystik belegt, »daß die Juden am Krieg schuld sind«. (SchA 132) Insgesamt aber gehorcht die Selbstsozialisation des Paares in Bildungsdingen deutlich den emanzipativen Anstrengungen ihrer Generation, die, obgleich mit Überzeugungen von bildungsbezogenen Wertigkeiten sozialisatorisch ausgestattet, insbesondere motiviert durch Kriegs- und Verelendungserfahrungen einen Generationenbruch vollzieht, indem neue Medien und Bildungsorte aufgesucht werden: Im Zuge der Zeit erwartete die junge Generation die Formung ihres Lebens nicht mehr durch die Kräfte der Erwachsenenwelt; sie sucht vielmehr einen »neuen Lebensstil« aus sich selbst zu entwickeln, indem sie der »Stimme in der eigenen Brust« folgte […].21

Insbesondere die Gesprächskreise und -zirkel, in denen Karl und Grethe nur teilweise heimisch werden, zeigen das Ringen um die Deutung der Nachkriegswelt. Drei sind es im Roman: der Zirkel um Dr. Jäger, den beide besuchen, Karls vom Nationalisten Dr. Kleesaat dominierter Offiziersstammtisch, Grethes Teekränzchen. Hier kommt es zu sehr intensiven Austauschen über Fragen der Bildung und Politik; besonders der Humanist Jäger nimmt eine klare geistige Führungsrolle in Angelegenheiten klassischer und moderner Bildung und Kultur ein; er

18  Wolfgang Scheibe: Die Stellung der Erwachsenenbildung im Bildungssystem des Weimarer Staates. In: Manfred Heinemann (Hg.): Sozialisation und Bildungswesen in der Weimarer Republik. Stuttgart: Klett 1976 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, 1), S. 325–338, hier S. 331. 19  Scheibe: Erwachsenenbildung 1976, S. 332. 20  Franz Pöggeler: Zum Verhältnis der Pädagogik zur Demokratie in der Weimarer Republik, dargestellt am Beispiel der Erwachsenenbildung. In: Manfred Heinemann: Sozialisation und Bildungswesen in der Weimarer Republik 1976, S. 245–249, hier S. 247. 21  Wilhelm Roeßler: Schichtenspezifische Sozialisation in der Weimarer Republik. In: Manfred Heinemann: Sozialisation und Bildungswesen in der Weimarer Republik 1976, S. 17–38, hier S. 27.

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hält ausgreifende Vorträge und Dichterlesungen: »Im Wohnzimmer öffnet Dr. Jäger den quietschenden Bücherschrank«. (SchA 252) Auch diese folgen wiederum den oben erwähnten Prinzipien von Erlebnis, Einfühlung, Diskurs und Rationalisierung: »als man genug gelesen hat und noch ganz erschüttert ist, wird über das Leiden gesprochen«. (SchA  173) Die politische Haltung ist dabei eindeutig »Abscheu vor den Nazis«. (SchA 350) Die Zerrissenheit der Gesellschaft spiegelt sich auch im offenen und liberalen Zirkel Jägers, in dem vor allem in den Figuren Inge von Dallwitz und Fräulein Stier sich kulturkonservativer Patriotismus und Feminismus begegnen, »wunderliche Ansichten, die an sich ganz vernünftig sind«. (SchA 171)22 Insgesamt kann mit Bezug auf den ersten Teil und Karls und Grethes Bildungseinstellungen auch vor dem Hintergrund der oben referierten Theorie Bollenbecks der Schluss gezogen werden, dass beide Protagonisten trotz einer bildungsbezogenen Sozialisation sich zunächst autodidaktisch und im Modus der Emanzipation Bildungsorte eigenständig erschließen. In vielerlei Hinsicht ist der Bruch mit den Generationen des Kaiserreichs vollzogen, vor allem hinsichtlich des Kanons. Ihre Überzeugungen allerdings, meist auf neue Medien und Inhalte bezogen, verbleiben im bildungsbürgerlichen Rahmen der »bildenden Funktion« und des »schönen Scheins« von Kunst und Kultur, wobei die »ursprungsmythologische Geste« in Bezug auf Kunst keine Relevanz beansprucht. Eine Erosion der Geltungskraft hinsichtlich der ästhetischen Eigenlogik der Kunst im Zeitalter zunehmender Vermassung und Trivialisierung auch der Kunst ist kaum ablesbar, aber auch eine Verherrlichung des Nationalkanons nicht.

2 Bildungslogiken der Schule (Teil II) Der zweite Teil bezieht sich mit der Geburt der drei Kinder in bildungsanalytischer Hinsicht vor allem auf die Lehrerfiguren im bildungspolitischen Spannungsfeld der Weimarer Zeit. Auffällig scheint die Repräsentation verschiedener, die Zerrissenheit des Bildungssystems spiegelnder Haltungen in synchroner Hinsicht, aber auch die Andeutung einer Entwicklung, in deren Verlauf militärisch-nationalistische Überzeugungen rasch die Oberhand gewinnen. Auch darin gibt Kempowski die bildungspolitische Entwicklung bis hin zur Durchsetzung einer natio-

22  Angelika Schaser informiert über die Spaltungen auch innerhalb der Frauenverbände, die die Jahre der Weimarer Republik auszeichnen. Vgl. Angelika Schaser: Frauenbewegung in Deutschland: 1848–1933. Darmstadt: WBG 2006 (Geschichte kompakt), S. 97–109.

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nalsozialistischen Schule in seinen montierten Erzähleinheiten exakt wieder. Die Eingangsstufen der neu eingeführten Grundschule werden über Fräulein Schlünz als Klassenlehrerin Ullas23 und später den Lehrer Jonas als Klassenlehrer Walters repräsentiert; beide sind als ReformerInnen Teil der Anhebung der Volksschule und damit der Einführung des Abiturs und eines Studiums als Voraus­setzung für die Ausübung des Lehrerberufs auch im »niederen« Schulwesen.24 Dabei ist trotz aller Reformbegeisterung davon auszugehen, dass »sich durchaus nicht die Mehrheit der Volksschullehrer nach 1918 dem Sozialismus verschrieben hat«;25 vielmehr war am Ende der 1920er Jahre »charakteristisch für die jüngeren Lehrer […] eine radikale Kritik am kapitalistischen Wirtschaftssystem und am parlamentarischen Staat, in der sich völkisches Gedankengut mit sozialistischen Ideologieelementen verband.«26 Als Exponentin solcher Haltungen kann Fräulein Schlünz gelten: Fräulein Schlünz ist eine junge sportliche Lehrerin, die gerne in den Harz fährt und da herumklettert, im Winter sogar Ski läuft! Auf der Brust trägt sie eine silberne Brosche mit germanischen Lebensrunen, und im Nacken hat sie einen Knoten. Morgens geben ihr alle Kinder die Hand, und dann fragt sie jedes mit rollendem »r«, wie’s ihm geht […]. (SchA 232)

Der Schulrat kommt, um »von der Jugend zu lernen« (SchA 233), unterrichtet wird »vom Kinde her« (SchA 233), man »greift nach dem Leben« (SchA 234), aber mit klar jugendbewegt-germanischen Ingredienzien. Schlünz wird aufgenommen in den »Pestalozzi-Kreis«, wo »aufstrebende Kräfte zueinander finden, die deutsche Jugend von Grund auf zu erneuern«. (SchA 235)27 Worum es dann im Kern geht, ist »Heimatliebe« – »ein Hohelied von jubelnder Heimatliebe und Heimatseligkeit« (SchA 284), in der durchaus auch solche, die »’n Bock haben«, die »an Gerechtigkeit zum Beispiel« glauben (SchA 283) »an einen Pfahl gebunden und angezündet werden«. (SchA 238) Offensichtlich geht es Kempowski mit Schlünz um den »Über-

23  Vgl. dazu den Beitrag von Vera Jürgens im vorliegenden Band. 24  Vgl. Hans-Georg Herrlitz/Wulf Hopf u. a.: Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart. Weinheim/München: Juventa 2005, S. 121 und passim. 25  Rainer Bölling: Sozialgeschichte der deutschen Lehrer. Göttingen: Vandenhoeck 1983 (Kleine Vandenhoeck-Reihe, 1495), S. 126. 26  Bölling: Sozialgeschichte 1983, S. 134. 27  Kaum ein Zufall, denn »das ›Heimat‹- und ›Heimatkunde‹-Syndrom gewann seine Legitimität aus Überlegungen, die seit Pestalozzis Plädoyer für Anschauung und Lebensnähe als Prinzip eines jeden Elementarunterrichts geachtet wurden.« Heinz Elmar Tenorth: Pädagogisches Denken. In: Dieter Langewiesche/Heinz Elmar Tenorth (Hgg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Band V: 1918–1945, München: Beck 1989, S. 111–154, hier S. 137.

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gang von der Lern- und Buchschule zur Arbeitsschule«28 »durch stärkere Heranziehung der Selbsttätigkeit« in einem »lebensvollen Gesamtunterricht« im Sinne der »Ganzheitlichkeit« und »Kindgemäßheit«: »Im Mittelpunkt dieses Gesamtunterrichts steht der heimatkundliche Anschauungsunterricht«, ist doch »die einzig nennenswerte inhaltliche Neuerung der ›Richtlinien‹ [seit der Reform von 1872, C. D.] – die Heimatkunde«, um »die Kinder erkenntnis- und gefühlsmäßig in die sie umgebende soziale Welt einzubinden, sie Wurzeln schlagen zu lassen«. In bildungsgeschichtlicher Hinsicht leitete die Heimatkunde mit den Richert’schen Reformen 1924/25 in das Paradigma der Deutschkunde über.29 Der Lehrer Jonas an der Volksschule stellt da einen Gegenpart dar: Zutiefst humanistisch und reformorientiert eingestellt, verliert er sich im Einerlei des Schulalltags und in der Komplexität von Erziehungsprozessen, denn ihm fehlt jene »Zucht« und »Autorität« der Schlünz (SchA 236): Hilflos ist er ein wenig, freundlich-hilflos, aber wo er hinguckt, da kuckt er hin, da kann er nicht noch woanders hingucken. Die Mütter, die sich am ersten Schultag vor seiner Tür drängen, schiebt er zur Seite, er will zu den Kindern […], er will die Kinder beruhigen, daß sich das schon alles findet, mit dem Schreiben, Lesen, Rechnen. (SchA 405)

Am ersten Tag lässt er die Kinder Zuckertüten kneten,30 dabei »faltet er die Hände unterm Kinn« und »denkt an einen schönen Sommerabend auf dem Lande und guckt sich die Kinder an«. (SchA 407) An manchen Tagen möchte er »ganz großartig unterrichten«, aber »wenn er sich dann der Schule nähert und den hirnzerstörenden Lärm hört«, »dann ist die ganze Planung zum Teufel«. (SchA 409) Aber »er hört ihnen zu« (SchA 409), und »Geschichten erzählt er« (SchA 409), und »dann sitzen die Jungen bei Herrn Jonas immer noch und lauschen«. (SchA 410) Jonas wird im

28  Alle folgenden Zitate zur Heimatkunde: Hellmut Becker/Gerhard Kluchert: Die Bildung der Nation. Schule, Gesellschaft und Politik vom Kaiserreich zur Weimarer Republik. Stuttgart: Klett 1993, S. 254–258. 29  Die Deutschkunde galt seit Mitte der 1920er Jahre als das völkische Konzept, das an weiterführenden Schulen und besonders an Deutschen Oberschulen die herrschenden Fächer dem Fach Deutsch unterordnet, das sie gleichzeitig integriert und unter der Ägide des Germanischen anleitet und systematisiert. Vgl. Reinhard Dithmar: Der Deutschunterricht in der Weimarer Republik als Wegbereiter des Faschismus. In: Ders./Angela Schwalb (Hgg.): Schule und Unterricht in der Weimarer Republik. Ludwigsfelde: Verlagshaus 2001 (Interdisziplinäre Forschung und fächerverbindender Unterricht, 6), S. 52–76; Horst Joachim Frank: Geschichte des Deutschunterrichts von den Anfängen bis 1945. München: Hanser 1973, S. 571 und passim. 30  Das »Formen in Plastilin« geben die neuen Richtlinien für die Grundschule als »Ausübung von Handtätigkeiten« vor; vgl. Becker/Kluchert: Bildung der Nation 1993, S. 256.

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Roman über seinen Antipoden Hagedorn eingeführt, der als überzeugter Herbartianer dem Formalismus huldigt: [V]on dem heißt es, daß er vor der Stadt wohnt, Vegetarier ist und Bienen züchtet. Er ist immer gut vorbereitet, weiß, wie man eine Stunde »baut«, auch ohne die Formalstufen. Ein netter, freundlicher Mensch, den seine Schüler lieben, der derartig in seinem Beruf aufgeht, daß sie ihn sogar vergessen werden, wenn sie eines Tages ins Leben hinaustreten. (SchA 405)

Hagedorn funktionalisiert Bildungsprozesse im Hinblick auf Bildungserfolge; er »weiß, wie man so was macht: ›Kinder einfädeln‹, auch der hört sich lächelnd an, was die Kinder ihm erzählen« (SchA 409) – aber er hört eben nicht zu. Der ungeheure didaktische Erfolg der Formalstufentheorie Herbarts im 19. Jahrhundert zeigt sich in Hagedorn in einer letztlichen Entmenschlichung der Theorie, die nur noch als Mechanismus greift – und auch darin die Entmenschlichung der schulischen Bildung im Nationalsozialismus ermöglicht, geht es doch nur noch um das Funktionieren.31 Darin steht die im 20. Jahrhundert im Zeichen der geisteswissenschaftlichen Bildungstheorie beispielsweise Otto Willmanns längst überholte Formalstufen­theorie auf einer Stufe mit der wilhelminischen Paukschule, die Kempowski im Lehrer Zimmermann, Klassenlehrer Roberts, verkörpert. Vorgeschriebene »Lernhaltung«, sokratisches Fragen, »der beste Schüler sitzt hinten links, der schlechteste vorne rechts« (SchA 289), Kopfrechnen, »danach gibt’s welche mit dem Stock«, »und auch dafür gibt es jeden Tag, zack! welche auf den Buckel.« (SchA 290) Gleich mehrere Episoden weisen dann im Ausgang von germanisierender Heimatliebe, bloßem Funktionalismus und Prügel den Weg in die Gewalt, aus dem nur der Lehrer Jonas einen Ausweg andeutet. Dabei sind die Übergänge in das nationalsozialistische Schulsystem in jeder Hinsicht fließend, denn »tatsächlich sind die Nationalsozialisten weder vor noch nach 1933 in der Lage und willens, umfassende Konzepte zur Umgestaltung des Schulsystems planvoll in Angriff zu nehmen.«32 Reichseinheitliche Regelungen griffen erst nach 1937, stehen also außerhalb der Diegese von Schöne Aussicht – wie oben vermerkt, ist dies möglicherweise ein Grund, den Roman in seiner bildungsgeschichtlichen Ausrichtung hier enden zu lassen. Im vorletzten Kapitel 14 ereignet sich die Engführung der bildungsgeschichtlichen Stränge des Romans auf die Militarisierung von Schule. Entsprechend

31  Zur Ablösung des Herbartianismus in der Volksschullehrerausbildung vgl. Sebastian MüllerRolli: Lehrer. In: Langewiesche/Tenorth: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte 1989, S. 240–258, hier S. 242. 32  Bernd Zymek: Schulen. In: Langewiesche/Tenorth: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte 1989, S. 155–208, hier S. 190. Vgl. auch Herrlitz u. a.: Deutsche Schulgeschichte 2005, S. 152, die der NS-Schulpolitik »ein chaotisches Bild« attestieren.

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seiner Ausrichtung auf die institutionellen Bildungslogiken erscheint dieses Kapitel somit als Gegenentwurf zum Kapitel 13 (s. unten), das die familiären Logiken der Bildungsvermittlung und des sozialen Miteinanders im Binnenkosmos Familie am Beispiel der Geburtstagsfeier und also der letzten Zusammenkunft vor Kriegsausbruch avisiert. Die Ausrichtung des Unterrichts an Grundschule und Gymnasium ist eindeutig durch verschiedene Episoden markiert. Robert, mittlerweile ein Teenager an der weiterführenden Schule, soll im Zeichenunterricht ein Bild zum Thema »Rache für die Deutschland« malen und verkennt das Thema, weil ihm nicht klar ist, dass es sich bei der Deutschland um ein Panzerschiff handelt, das 1937 im spanischen Bürgerkrieg von Republikanern bombardiert wurde. Da weiß er dann »ganz genau, was er malen mußte: das zurückschießende Kriegsschiff und die brennende Stadt. So was macht Spaß.« (SchA 478) Der Sportlehrer Ballon verbindet die Szientifizierung des Unterrichts mit Sport und Gewalt: »Euch lasse ich nicht verfaulen«, ist dabei das Motto: »Der Körper steht mit der Front zum Ziel, das linke Bein wird zu einem leichten Ausfall vorgesetzt. Die rechte Hand mit dem Ball wird vor den Leib nach der linken Körperseite herumgeschwungen, so daß sie an die Außenseite des linken Knies zu liegen kommt. Der linke Arm wird etwas rückwärts gehoben. Der Oberkörper beugt sich leicht vor, der Mensch steht völlig locker, gleichsam als ob er das nun Folgende noch einmal überdenkt…« Hier wird der Vortrag des Lehrers unterbrochen durch zwei Jungen, die »Nebendinge treiben«. »Kommt mal her«, sagt Herr Ballon, schlägt ihnen je zwei Ohrfeigen und setzt den Vortrag fort. (SchA 484)

Diese Episode zum Schlagballwurf zeigt schlaglichtartig die Relevanz eines paramilitärischen Sportunterrichts für heranwachsende Jungen, der die Aggression von Thema und Bewegung mit der Gewaltausübung durch den Lehrer metaphorisch verdichtend zusammenbringt – nicht zufällig vergleicht der Lehrer die Jungen mit »Gardegrenadieren«. (SchA 486) Das städtische Herbstmanöver setzen die Schulen aller Kinder im Sinne des Arbeitsschulgedankens pädagogisch um; so lässt Ullas Handarbeitslehrerin »aus Stoffresten Soldaten ausschneiden und auf ein Bettlaken kleben«. (SchA 492) Kempowski konterkariert alle diese Episoden durch ironische Einlassungen, die nur in der Gegenüberstellung zum offiziell Intendierten dessen Wirkungslosigkeit und Pompösität entlarven. Die zwei »Nebendinge« treibenden Jungen entsprechen hier den grotesken Größenunterschieden zwischen »daumengroßen« und »riesengroßen« Soldaten, weil die Lehrerin vergessen hat, die Größe vorzugeben. Kempowskis Verfahren, das die Selbstinszenierung politischer Größe im Detail alltagsmenschlichen Versagens implodieren lässt, zeigt sich hier in seiner satirischen Reinform. Die der Deutschen Chronik von der Kritik vorgeworfene Unangemessenheit der Darstellung von Nationalismus und Faschismus als Betulichkeit kann so zumindest am Beispiel der Schulepisoden nicht verifiziert werden.

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Auch die Querele um Karls Vortrag der lateinischen Übersetzung des Horst-WesselLiedes, angezeigt von Studienrat Deiker beim SA-Sturmführer, weist auf die Verfassung des Bildungssystems hin33 – Karl muss sich vom »Zigarettenvertreter« vorwerfen lassen, er verwende »seine Bildung nur dazu, die Ideale des neuen Deutschland in den Dreck zu ziehen«. (SchA 495) Dr. Jäger »erzählt, wie ihn das ankotzt, faustdicke Lügen in gläubige Kinderaugen erzählen zu müssen«. (SchA 495) Auch der kleine Walter erlebt in der Grundschule einen Sportunterricht bei Herrn Zarges, »ideenreich und eindrucksvoll, Spaß machend und den Arbeitsschulgedanken, von dem er im Seminar gehört hat, konsequent umsetzend«. (SchA 492) Es geht um das Thema »Krieg«, das als Wecken, Waschen und Marsch an die Front lebendig inszeniert wird, auch mit Toten auf das »Bumm« des Lehrers hin: »Jeder zweite fällt hin, die sind also tot. Die andern räumen die Toten beiseite, tragen sie an den Zaun, wo sie wieder lebendig werden und die nächsten Toten beiseite räumen.« (SchA 492) Nur der Idealist und Träumer Jonas zeigt einen Umgang mit solchen Entwicklungen, denen Dr. Jäger mit dem Rat »Totstellen, Kempowski!« (SchA 494) begegnet. Auch Jonas lässt Soldaten malen, als es um das Herbstmanöver geht, »und er krempelt – im Sinne des Prinzips der Anschauung – sein linkes Hosenbein auf und zeigt den Kindern die Stelle, wo ihm eine Handvoll Fleisch fehlt.« (SchA 489) Der kleine Walter malt ein U-Boot, im Wasser überall Leichen, von Jonas beobachtet, während Hagedorn nebenan den Kindern ein Lied zum Opfertod aufspielt: Mehrmals will er sagen: »Aber Junge, was hat das mit dem Manöver zu tun?«, aber mehrmals schluckt er es hinunter. Jonas sagt stattdessen: »Junge, willst du denn deine Eltern gar nicht mit in das Schiff nehmen? Denkst du denn nur an dich?« (SchA 490)

Der Rückverweis zielt in die kindliche Erfahrungswelt, denn Jonas muss einsehen, dass er die Gewaltverherrlichung im Sinne der verordneten Bildungspolitik längst irreversibel eingeleitet hat, indem er die Phantasien der Kinder über Leichen ohne Gliedmaßen eigenständig zuvor angeregt hat. Mit Bezug auf die Schule und die Lehrerschaft ist also im Horizont der Zeit ablesbar, dass die oben genannten Argumentationsfiguren im Verlauf des zweiten und dritten Teils enggeführt werden: Verblieben die familiären Überzeugungen oft noch im bildungsbürgerlichen Rahmen der »bildenden Funktion« und des »schönen Scheins« von Kunst und Kultur, beansprucht nun im Gegensatz dazu in der Schule die »ursprungsmythologische Geste« eine totale Relevanz.

33  Der Roman endet mit Roberts verheerenden Leistungen im Lateinischen in der Schule.

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3 Bildungsdimensionen im Diskurs der Zeit (Romanschluss) Schöne Aussicht bildet die komplexen Diskurse der Weimarer Zeit ab, die sich verschachteln und kaum vereinheitlichen lassen. Reformbemühungen mündeten sowohl in Demokratisierungsbestrebungen wie auch in restaurative Natio­ nalisierungen und Militarisierungen ein, und zwischen Bildungsverachtung, Intellektualismusfeindlichkeit, Chauvinismus und Feminismus, Hedonismus und Antisemitismus verliefen die Grenzen oft fließend und konnten letztlich in republikanisch-demokratische oder konservativ-nationale Gesinnungen umschlagen und sich quer durch Familien bewegen. Schulreformer erscheinen als entschiedene Sexualreformer, und »reichlich oft werden Sexualvorträge gehalten« (SchA 133) – Karl und Grethe verwehren sich zu Beginn noch deutlich gegenüber der Erziehungspolitik der »Sozis« (SchA 132), denn »es kann den Kindern gar nichts schaden, wenn sie mal etwas ruppig angefasst werden«. (SchA 132) Auch das »Fröbelsche Spielzeug, genormte Würfel, Walzen und Kugeln, das man kauft, um die Kinder auf logische Weise von Grund auf zu bilden, ist ein krasser Fehlschlag«. (SchA 151) Sexualaufklärung und die »Rationalisierung der Kinderaufzucht«34 in männer- und kinderarmen Zeiten bei »zeittypisch intensivem Interesse für Fröbel«35 spiegeln sich auf der Seite demokratisierender Bemühungen der frühen Weimarer Zeit ebenso wie ihr Gegenteil, beispielsweise im Schulfreund Schnack oder im Kriegsveteran Kleesaat. Schnack verwehrt sich gegen die sittliche Entartung im Theater, denn Schiller habe man eine »Ludenmütze« aufgestülpt und ließe ihn nach »Jazzbandklängen umherhüpfen«. (SchA 166) Seiner Forderung, »Jungen in dem Alter müssen die Haare abhaben« (SchA 164) entspricht Karl sofort. Als Schnack auch im weiteren Verlauf zu Besuchen erscheint, verweigern sich Karl und Grethe seinem zunehmenden Nationalismus und öffnen nicht mehr. Was sich an Schnack zeigt, entspricht der Darstellung Kleesaats als den Roman durchziehenden Indikator einer zunehmenden gesellschaftlichen Radikalisierung. Seine Grüße ändern sich »Guten Tag« – »Treudeutsch« – »Heil Hitler« (SchA 44, SchA 226, SchA 337) und spiegeln im sozialen Raum die Verengungen der »ursprungsmythologischen Geste« im Bildungsraum. Kleesaat wird zunehmend als Antipode Jägers aufgebaut, der als Leiter des konkurrierenden Zirkels an den Deutungsmustern der »bildenden Funktion« und des »schönen Scheins« von Kunst und

34  Adelheid Castell Rüdenhausen: Familie, Kindheit, Jugend. In: Langewiesche/Tenorth: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte 1989, S. 65–110, hier S. 78. 35  Tenorth: Pädagogisches Denken 1989, S. 120.

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Kultur festhält – auch hier enden die Kleesaat-Episoden mit dem Fernbleiben Karls vom Offiziersstammtisch. Der Epilog zeigt ihn als distanzierten Teilnehmer des Veteranentreffens in der Tonhalle, zuvor ausgeschieden aus der SA wegen seiner Mitgliedschaft in der Rostocker Loge. Auch Grethes Teekränzchen erschöpft sich schließlich darin, dass man »die Juden der Stadt« durchgeht und auch »die Juden in der Kunst«. (SchA 382–383) Sogar der Zirkel um Dr. Jäger befleißigt sich in der Figur der Inge von Dallwitz, die Karl heimlich bewundert (und sogar berührt), patriotischer und heimatverbundener Bestrebungen. Die Wanderung durch die Rostocker Heide zur Ostsee gipfelt in einem deutschtümelnden Vortrag der Dallwitz, die einen Hymnus deklamiert »mit erhobenem Arm«. Die Verse entstammen Publikationen des deutschnationalen Juden Ernst Lissauer36 und provozieren Reaktionen anderer Wanderer, denn: »das ist ja etwas ganz Besonderes, das spürt wohl jeder.« (SchA 357) Der Ausflug endet mit Distanznahmen: gegenüber der vorbeimarschierenden SA, gegenüber dem »Pöbel«, der heute bestimmt – und dann »diese Geschichten da, von denen man jüngst hörte…?« (SchA 360) Bildungsverachtung zeigt sich in Episoden um Randfiguren wie dem Dienstmädchen Lisa (»Immer lesen, lesen, lesen, Herr Kempowski?«; SchA 226) oder dem namenlosen Studenten, »verkrachtes Genie« (SchA 387), der der ganzen Verachtung des italienischen Wirtes im Eissalon ausgesetzt wird. »Alle Examen mit Auszeichnung« – darauf bekommt er nur »Zermatschtes« vom Spültisch. Ein präsenterer Student im Roman ist Untermieter Wirlitz, untätiger Hedonist, der Tag und Nacht an einem Diorama mit Spielfiguren baut, denn »seine medizinischen Bücher hat er lange nicht mehr angefasst«. (SchA 472) Kindlichkeit, Unreife, Untätigkeit stehen im Roman an einigen Stellen in direkter Verbindung zur Bildungsaneignung in bildungsfeindlicher Zeit. Typen mit figurativen Dimensionen eines Christian Buddenbrook sind neben Wirlitz auch Schwester Silbi und Nachbar Heini Schneefoot, erstere mit (unproduktiven) Ambitionen zum Theater – »ganze Dramen führt Silbi auf« (SchA 312) –, zweiterer mit seinem kindlichen Hang zum Puppentheater, das ihn schließlich wie auch Manns Christian auf die »abschüssige Bahn« geraten lässt, obgleich ihm »dramatische Begabung« (SchA 474) nicht abgesprochen werden kann: »Nein, dieser Junge kann nun doch nicht mehr geduldet werden.« (SchA 477) Das Kapitel 13 führt das Panorama der konträren und ineinander verlaufenden Bildungseinstellungen und -ambitionen zu einem Kulminationspunkt in der Familienfeier im Schloss Schwarzenpfost 1936. Im Spiegel der familiären

36  Vgl. Arne Offermanns: Ernst Lissauer. Identitätskonstruktion und Weltanschauung zwischen Deutschtum und Judentum. Berlin: De Gruyter 2019 (Conditio Judaica, 95), S. 150.

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Gespräche und Riten wiederholt sich hier, was die Struktur des Romans insgesamt ausmacht: Ein Beginn im unschuldig-apolitischen Miteinander, geprägt von unverkrampfter Bildungsaneignung auf Seiten der Kinder, ein Verlauf mit zunehmender Politisierung vor allem in nationaler Hinsicht, ein Ende in Diskursverboten. Der kleine Walter erscheint als unbeteiligter Zuschauer, der sich gegen Ende entzieht. Die Ankunft im Schloss ist noch von der Freude an der Gemeinsamkeit geprägt. Nebenher lernt Robert Lateinvokabeln, Rita absolviert »ihre Übungen« an der Violine, »bis Seite 22 will sie unbedingt noch schaffen«. (SchA 441) Das Treffen gehorcht Wilhelms Gedanken »Einig sein, zusammenhalten! Und: Einander kennenlernen. Den Familiensinn pflegen, der kommt nicht aus heiterem Himmel.« (SchA 411) Die gemeinsamen Abende dienen eben diesen Anweisungen: »Rita bringt Etüden zu Gehör, und Ferdinand hat sogar ein längeres Gedicht verfasst« (SchA 455); »Der Rest des Abends vergeht mit allerhand Späßen« (SchA 457), natürlich auch mit gemeinsamem Gesang, »Nicht das Deutschlandlied, natürlich nicht, und das andere natürlich auch nicht, sondern ein Lied, das Richard aus seiner Wandervogelzeit noch kennt«. (SchA 458) Statt Hymne oder Horst-Wessel-Lied ist es dann also Kein schöner Land. Allmählich aber verändert sich der Ton der Gespräche, und auch die gelesenen Bücher und die Lieder sind andere: »Die Saar, das ist der erste Schritt. Und Elsaß-Lothringen kriegen wir auch noch wieder!« (SchA 442) Neben Eroberungsphantasien sind es rassistische Urteile: »Merkwürdig, dass die Juden alle so schwammig aussehen«; »und da passt es denn auch, dass die Gesellschaft ein zweites Lied singt, das Rudolf Alexander Schröder verfasst hat. Heilig Vaterland…«. (SchA 459) Statt zu lernen, liest Robert »unentwegt« (SchA 460) Hans Dominik, der wie Schröder auch über seine populären Jugendbücher die nationale Überlegenheit der Herrenrasse propagierte. Schließlich sind »die beiden Söhne wie Hund und Katze ineinander verkrallt. Karl verteilt Maulschellen«. (SchA 461) Am letzten Tag trägt Vetter Hartmut Pimpfen-Uniform, und das zuvor offene Miteinander wird diskursiv eingehegt: Die gängigen Themen sind durchgegangen, die alten […] und die neuen, vom nationalen Aufschwung, bei dem es erfreuliche, leider auch unerfreuliche Aspekte zu erwähnen gibt, die sich Richard allerdings verbittet. Auch im Familienkreis kann er keine Miesmacher dulden, das sagt er klipp und klar. Und er kann es auch nicht dulden, daß Robert – ja Robert! – hier deutsche Lieder verhunzt. (SchA 467)

Walter, zu klein, um eine wesentliche Rolle in der Großfamilie einzunehmen, begleitet den Ausflug meist stumm. Auf seinen einsamen Erkundungsgängen trifft er den alten Mann, der im Winter im Schloss Aufsicht führt, in seiner Hütte. Hier macht er ein wirkliches Bildungserlebnis, denn der Alte lässt ihn ohne Worte an einer Schöpfung teilhaben:

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Der alte Mann setzt sich, nimmt den Knorren zur Hand und dreht ihn hin und her. […] Der Alte winkt den Jungen heran und deutet mit dem krummen Zeigefinger auf das Holz. Ob er es sieht? Nein? Na, dies ist der Kopf und dies… dies sind die Beine. (SchA 451)

Die Phantasie des Jungen ist in Gang gesetzt, und das Erlebnis erzeugt Nachhall, aber: »Am nächsten Tag ist der Alte nicht da.« (SchA 452) Wie auch im Fall des Lehrers Jonas sind es letzte Nischen, die die sich verhärtende Gesellschaft zulässt, die als Bildungserlebnisse dem kleinen Walter zu phantasiereichen Fluchtlinien werden, Fluchtlinien, die letztlich Funktionen von Kunst wie die verdrängte Bildungsaufgabe und die des »schönen Scheins« noch erfahrbar werden lassen, wenn sie in bildungsinstitutioneller Hinsicht auf der Makroebene der Gesellschaft und auf der Mesoebene von Schule und Familie entweder gar nicht oder nur noch im Bereich der bürgerlichen Kleinfamilie teilweise existieren. Im Ganzen belegt die Analyse also Bollenbecks These von der »Erosion bildungsbürgerlicher Kunstsemantik«37 an der Wende von der Weimarer Republik zum »Dritten Reich«. Zumindest in Bezug auf den Bildungsdiskurs muss also in Frage gestellt werden, ob mit Kyora in Schöne Aussicht tatsächlich bürgerliche Normen und Werte unbeeinflusst bleiben (s. oben). Immerhin illustriert Kempowski den Zusammenbruch selbiger innerhalb der Makro- und Mesoebene der Bildungsaneignung und -vermittlung und zeigt nur innerhalb der Kleinfamilie Kempowski ein noch teilweises Gelingen in der Aufrechterhaltung bildungsbürgerlicher Argumentationsfiguren – und dies auch nur im Rückzug und in der Maskerade.

37  Bollenbeck: Tradition 1996, S. 340.

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Literaturverzeichnis Becker, Hellmut/Kluchert, Gerhard: Die Bildung der Nation. Schule, Gesellschaft und Politik vom Kaiserreich zur Weimarer Republik. Stuttgart: Klett 1993. Bollenbeck, Georg: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996 (st, 2570). Bollenbeck, Georg: Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne. Frankfurt/M.: Fischer 1999. Bölling, Rainer: Sozialgeschichte der deutschen Lehrer. Göttingen: Vandenhoeck 1983 (Kleine Vandenhoeck-Reihe, 1495). Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987 (st, 658). Castell Rüdenhausen, Adelheid: Familie, Kindheit, Jugend. In: Dieter Langewiesche/Heinz Elmar Tenorth (Hgg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Band V: 1918–1945, München: Beck 1989, S. 65–110. Dithmar, Reinhard/Schwalb, Angela (Hgg.): Schule und Unterricht in der Weimarer Republik. Ludwigsfelde: Verlagshaus 2001 (Interdisziplinäre Forschung und fächerverbindender Unterricht, 6). Dithmar, Reinhard: Der Deutschunterricht in der Weimarer Republik als Wegbereiter des Faschismus. In: Ders./Angela Schwalb (Hgg.): Schule und Unterricht in der Weimarer Republik. Ludwigsfelde: Verlagshaus 2001 (Interdisziplinäre Forschung und fächerverbindender Unterricht, 6), S. 52–76. Frank, Horst Joachim: Geschichte des Deutschunterrichts von den Anfängen bis 1945. München: Hanser 1973. Hempel, Dirk: Biographie. In: Carla A. Damiano/Andreas Grünes/Sascha Feuchert (Hgg.): WalterKempowski-Handbuch. Berlin/Boston: De Gruyter 2020 (de Gruyter reference), S. 4–9. Herrlitz, Hans-Georg/Hopf, Wulf, u. a.: Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart. Weinheim/München: Juventa 2005. Kempowski, Walter: Schöne Aussicht. Roman. Hamburg: Knaus 1981. Kyora, Sabine: Das deutsche Bürgertum. In: Carla A. Damiano/Andreas Grünes/Sascha Feuchert (Hgg.): Walter-Kempowski-Handbuch. Berlin/Boston: De Gruyter 2020 (de Gruyter reference), S. 245–253. Ladenthin, Volker: Pädagogik. In: Carla A. Damiano/Andreas Grünes/Sascha Feuchert (Hgg.): WalterKempowski-Handbuch. Berlin/Boston: De Gruyter 2020 (de Gruyter reference), S. 297–313. Müller-Rolli, Sebastian: Lehrer. In: Dieter Langewiesche/Heinz Elmar Tenorth (Hgg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Band V: 1918–1945, München: Beck 1989, S. 240–258. Offermanns, Arne: Ernst Lissauer. Identitätskonstruktion und Weltanschauung zwischen Deutschtum und Judentum. Berlin: De Gruyter 2019 (Conditio Judaica, 95). Pöggeler, Franz: Zum Verhältnis der Pädagogik zur Demokratie in der Weimarer Republik, dargestellt am Beispiel der Erwachsenenbildung. In: Manfred Heinemann (Hg.): Sozialisation und Bildungswesen in der Weimarer Republik. Stuttgart: Klett 1976 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, 1), S. 245–249. Reents, Friederike: Schöne Aussicht. In: Carla A. Damiano/Andreas Grünes/Sascha Feuchert (Hgg.): Walter-Kempowski-Handbuch. Berlin/Boston: De Gruyter 2020 (de Gruyter reference), S. 48–50. Roeßler, Wilhelm: Schichtenspezifische Sozialisation in der Weimarer Republik. In: Manfred Heinemann (Hg.): Sozialisation und Bildungswesen in der Weimarer Republik. Stuttgart: Klett 1976 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, 1), S. 17–38.

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Schaser, Angelika: Frauenbewegung in Deutschland: 1848–1933. Darmstadt: WBG 2006 (Geschichte kompakt). Scheibe, Wolfgang: Die Stellung der Erwachsenenbildung im Bildungssystem des Weimarer Staates. In: Manfred Heinemann (Hg.): Sozialisation und Bildungswesen in der Weimarer Republik. Stuttgart: Klett 1976 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, 1), S. 325–338. Tenorth, Heinz Elmar: Pädagogisches Denken. In: Dieter Langewiesche/Heinz Elmar Tenorth (Hgg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Band V: 1918–1945, München: Beck 1989, S. 111–154. Tenorth, Heinz-Elmar: Geschichte der Erziehung. Einführung in die Grundzüge ihrer neuzeitlichen Entwicklung. Weinheim/München: Juventa 2010 (Grundlagentexte Pädagogik). Zymek, Bernd: Schulen. In: Dieter Langewiesche/Heinz Elmar Tenorth (Hgg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Band V: 1918–1945, München: Beck 1989, S. 155–208.

Vera Jürgens

Fräulein Schlünz und die Bewertungs­ strategien pädagogischen Handelns 1 Kempowski und die Darstellung des Pädagogischen Bildung und Erziehung sind mit dem literarischen Schaffen von Walter Kempowski untrennbar verbunden.1 Wie von Carla Damiano zugespitzt formuliert, sind in seinen Romanen vor allem drei Themen prominent: »Hitler, Konzentrationslager und Schule.«2 Da Kempowski selbst Pädagoge gewesen ist und sich als einen Lehrer »mit Leib und Seele«3 bezeichnet hat, ist es naheliegend, die schulbezogenen Passagen der Erzähltexte im Hinblick auf sein eigenes pädagogisches Handeln zu lesen – und genau so sind viele Literaturwissenschaftler in der (jüngsten) Vergangenheit verfahren, wenn auch in dem Bewusstsein, dass die Romane nicht unmittelbar die Haltung des Autors widerspiegeln, Kempowskis eigene Position also nie »schlüssig und bruchlos«4 aus den Bezugstexten abgeleitet werden kann. Dieser relativierenden Prämisse zum Trotz hat die einschlägige Forschung die fiktiven Lehrer aber in Typen eingeteilt. Sie folgt damit einer Überlegung, die Kempowski 1995 in einem Gespräch mit Damiano geäußert hat. Demnach lassen sich zwei pädagogische Grundhaltungen unterscheiden, die die Forschungsliteratur in den Lehrerfiguren reflektiert sehen will:

1 Vgl. so auch Xavier Monn: »Unser Lehrer heisst Herr Böckelmann« – Walter Kempowski, Pädagoge und Schriftsteller. In: kids+media. Zeitschrift für Kinder- und Jugendmedienforschung 2 (2012), Heft 1, S. 2–22, hier S. 2: »Das Thema Schule ist für Walter Kempowski zentral«. 2 Carla A. Damiano: Walter Kempowski: Lehrer und Schriftsteller. Das Montage-/Collage-Prinzip als Baustein des Unterrichts und des Schreibens. In: Dies./Jörg Drews/Doris Plöschberger (Hgg.): »Was das nun wieder soll?« Von Im Block bis Letzte Grüße. Zu Werk und Leben Walter Kempowskis. Göttingen: Wallstein 2005, S. 171–187, hier S. 177. 3 Damiano: Lehrer und Schriftsteller 2005, S. 178. 4 Volker Ladenthin: Pädagogik. In: Carla A. Damiano/Andreas Grünes/Sascha Feuchert (Hgg.): Walter-Kempowski-Handbuch. Berlin/Boston: De Gruyter 2020 (De Gruyter reference), S. 297–312, hier S. 303. https://doi.org/10.1515/9783111330938-004

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Und da gibt es (ganz grob ausgesprochen) zwei verschiedene Arten von Pädagogen: der eine ist vom Lehrer her und der andere ist vom Kinde aus, d. h. entweder der Lehrer nimmt sich vor, so heute sollen die Kinder den Buchstaben ›A‹ lernen. Das ist die autoritäre Form, und das andere ist umgekehrt. Der Lehrer kommt morgens in die Klasse und fragt: »Ja, was wollt ihr denn gerne lernen?« Umgekehrt: »Was gibt’s Neues?«, und so. Das ist die zweite Methode, der habe ich mich verschworen!5

Diese Typenbildung ist in der Folge auf den Roman Schöne Aussicht (1981) übertragen worden. Bei der Unterscheidung der Lehrerfiguren zwischen »dem autoritären und dem nicht-autoritären«6 Typ bleibt aber – und dies ist der Aufhänger des vorliegenden Beitrags – perspektivisch ausgeklammert, dass im Roman zur Beschreibung von Fräulein Schlünz nicht nur die Leitsätze von reformpädagogischen Strömungen aus den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts verarbeitet werden. In den Forschungsarbeiten, die sich der Pädagogik von Kempowski und ihrer literarischen Spiegelung im Roman annehmen, kommt ein entscheidendes Moment zu kurz, das für die Deutsche Chronik insgesamt und für die Bewertung des pädagogischen Handelns von Fräulein Schlünz aber wesentlich ist. Als Teil der Chronik will Schöne Aussicht »ein Stück Ideologiegeschichte nachzeichnen«,7 somit nicht nur reformpädagogische Maximen darlegen, sondern auch den aufkeimenden Nationalismus darstellen.8 Die Figurengestaltung von Schlünz also ausschließlich auf die Reformpädagogik zu beziehen, blendet die Gesamtkomposition des Werkes aus. Schöne Aussicht schildert die Jahre von 1920 bis 1939 und damit die Anfänge der Weimarer Republik sowie die politische Entstehung des Nationalsozialismus bzw. seine ersten Jahre.9 Es im Hinblick auf zeitgeschichtliche Einlassungen zu lesen, drängt sich aus diesem Grunde wohl geradezu auf – und dass sich diese Einlassungen auch in dem pädagogischen Handeln der Lehrerfigur Schlünz spiegeln, soll im vorliegenden Beitrag veranschaulicht werden. Nachstehend wird also erstens zu zeigen sein, dass Schlünz zwar als eine Vertreterin der Reformpädagogik interpretiert werden kann, so, wie es jüngste Forschungsbeiträge vorschlagen, sich neben diesen Klischees aber auch prägnante

5 Damiano: Lehrer und Schriftsteller 2005, S. 178. 6 Damiano: Lehrer und Schriftsteller 2005, S. 178. 7 Manfred Dierks: Walter Kempowski. München: Beck 1984 (Autorenbücher, 39), S. 78. 8 Mit Dierks soll an dieser Stelle betont werden, dass Kempowski die Deutsche Chronik »in Romanform [geschrieben hat]. Er ist weder Soziologe noch Sozialpsychologe. Doch er muß das vorgefundene biographische Material aus der Distanz schließlich deuten«. (Dierks: Kempowski 1984, S. 87) 9 Vgl. in diesem Kontext den Aufsatz von Christian Dawidowski im vorliegenden Band, der sich mit dem Bildungsdiskurs der Weimarer Republik in Schöne Aussicht beschäftigt und damit den hier untersuchten pädagogischen Kontext um Schlünz in einen größeren Funktionszusammenhang einbindet.

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nationalsozialistische Motive zur Beschreibung der Lehrerfigur finden. In dieser Weise nimmt der vorliegende Aufsatz eine Anmerkung von Volker Ladenthin ernst: »Auch oder gerade am Pädagogischen ließe sich aufzeigen, was sich an jedem Beispiel eines katastrophalen Jahrhunderts in Deutschland zeigen lassen müsste: die Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit.«10 Beides verdichtet sich in Kempowskis Lehrerfigur Fräulein Schlünz, die im Folgenden als widersprüchlich dargestellt werden soll. Um diesen Widerspruch in den Kontext von literarischen Bewertungsstrategien pädagogischen Handelns einzugliedern, unternimmt der vorliegende Beitrag einen Exkurs zum Schul- und Lehrerroman Der Hals der Giraffe (2011) von Judith Schalansky. Er dient zunächst als Inspirationsquelle, weil sich den Lehrerdarstellungen im Roman Gestaltungsweisen abgewinnen lassen, die auch bei der Analyse von Schlünz erkenntnisstiftend sind. So wird nicht nur in der Art und Weise der Unterrichtsgestaltung ersichtlich, mit welchem Lehrertyp Kempowski selbst sympathisiert. Denn obwohl er laut Xavier Monn »den nicht-autoritären Lehrertyp«11 bevorzugt, weil dessen Unterricht »vom Kinde aus[geht]«,12 wird das Figurenhandeln von Schlünz im Text ironisiert – und diese Darstellungsweise ist eine von mehreren, die auch in Schalanskys Roman Anwendung finden. Ironie und Kontraste beschreiben demnach Gestaltungsmöglichkeiten von literarischen Bewertungsstrategien, die Schalansky nutzt und die schon bei Kempowski angelegt sind. In dieser Hinsicht ist auch seine Lehrerfigur Schlünz von Bedeutung, weil sie die reformpädagogischen und autoritären Einschläge von Schalanskys Lehrerinnen in nuce verdichtet. Anders formuliert: In der Schlünz-Figur verquicken sich die Wesenszüge, die dreißig Jahre später in Der Hals der Giraffe überspitzt ausgestaltet werden. Das Synergiepotenzial, das sich aus dieser aspektorientierten und vergleichenden Interpretation der Lehrerfiguren ergibt, wird im Folgenden zu beleuchten und auf den Kontext der Lehrausbildung zu übertragen sein, für den Reflexionsprozesse maßgebend sind.

10 Ladenthin: Pädagogik 2020, S. 306. 11 Monn: Pädagoge und Schriftsteller 2012, S. 11. 12 Damiano: Lehrer und Schriftsteller 2005, S. 178.

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2 Reformpädagogische Klischees, Strafen und einschlägige Symbole – ein anderer Blick auf Fräulein Schlünz Es sind im Vergleich zum Lehrer Jonas in Schöne Aussicht zwar wenige Passagen, in denen von Fräulein Schlünz erzählt wird, aber die einschlägige Forschung hat auch diese Lehrerfigur in die Tradition reformpädagogischen Handelns eingeordnet. In dieser Weise behauptet zum Beispiel Damiano, diese Figur sei »zweifellos eine Anhängerin der Reformpädagogik«,13 weil sie ihren »Unterricht nach den Bedürfnissen des jeweiligen Kindes«14 gestalte. So ist die Lehrerin mit ihren Schülern beispielsweise noch nicht bei der Buchstabenkombination »au«15 angekommen, die laut Lehrplan »eigentlich schon lange dran« (SchA 233) gewesen ist. Vielmehr orientiert sich ihr Unterricht am Lerntempo der Kinder. Auch die Art und Weise der Vermittlung richtet sich nach ihnen, denn es wird »›[v]om Kinde her‹ […] unterrichtet, gesund, frei, ja geradezu wohltuend«. (SchA 233)16 Wie die Anführungszeichen schon hervorheben, werden zur Beschreibung des Unterrichts prominente Signalwörter der Reformpädagogik genutzt. Dass sich wesentliche Prinzipien dieser Strömung im Unterricht von Schlünz wiederfinden, wird deutlich, als Ulla von ihrem kranken Bruder Robert erzählt: Ulla [...] meldet sich schon die ganze Zeit [...] und nun darf sie erzählen, daß ihr Bruder krank ist. Das paßt ja ausgezeichnet. Das kann man ja für den Unterricht verwerten! Da sieht man’s mal wieder! Die neue Methode funktioniert: Die Kinder kommen lassen, dann klappt alles. Zähne machen »au«, wird also gesagt, Bäuche machen »au«, und bei dem kleinen Robert macht das Bein eben »au«. (SchA 233)

13 Damiano: Lehrer und Schriftsteller 2005, S. 189. – So heißt es auch in Schöne Aussicht, dass Fräulein Schlünz eine »Anhängerin der neuen Methode [ist], die auch der freundliche Schulrat vertritt«. (SchA 233) Auf den Schulrat wird im Folgenden noch einzugehen sein. 14 Damiano: Lehrer und Schriftsteller 2005, S. 189. 15 Walter Kempowski: Schöne Aussicht. Hamburg: Knaus 1981, S. 233, im Folgenden zitiert mit der Sigle SchA und der entsprechenden Seitenzahl. 16 Die Lehrerfigur verzichtet außerdem darauf, den Unterricht entlang ihrer Unterrichtsvorbereitung zu gestalten (»Eigentlich hatte Fräulein Schlünz das ›au‹ mit dem Wort ›Schaukel‹ einführen wollen. (Das steht auch in der Unterrichtsvorbereitung, die der Schulrat in der Hand hält.) Sie hatte sich ein Tafelbild ausgedacht [...]«. [SchA 234]) Indem Fräulein Schlünz ihre Stundenvorbereitung kippt, unterscheidet sie sich nicht nur von Herrn Hagedorn, auf den nachstehend noch eingegangen wird. In Anlehnung an die Forschungsliteratur zeigt sich so möglicherweise auch Kempowskis eigene »Abneigung gegen einen nach allen Regeln der Kunst und bis ins letzte Detail vorbereiteten Unterricht« (Monn: Pädagoge und Schriftsteller 2012, S. 9).

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Indem die Lehrerin an Ullas Erzählung anknüpft und deren Inhalte zum Ausgangspunkt des Unterrichtsgeschehens macht, folgt sie nicht nur den Interessen und »Bedürfnissen«17 des Mädchens. »Die neue Methode« (SchA 233), wie der Erzähler sie nennt, ist offensichtlich die Reformpädagogik, da sie doch für gewöhnlich als eine »Epoche außerordentlich innovativen pädagogischen Denkens und Handelns«18 bezeichnet wird. Der zitierte Kommentar der erzählenden Instanz ist für den vorliegenden Problemkontext aber nicht nur deshalb relevant, weil er wiederholt auf reformpädagogisches Handeln rekurriert. Wie noch auszudifferenzieren sein wird, lobt er den Verlauf des Unterrichtsgeschehens, das in der dargelegten Weise »ganz natürlich« (SchA 234) ist. In der Forschungsliteratur ist diese Art des Unterrichts ebenfalls schon umfassend mit der Methodik des Autors verglichen worden. So lassen nicht nur Romanfiguren wie Schlünz und Jonas zu Beginn des Schultages erzählen, auch für den Lehrer Walter Kempowski ist das morgendliche Erzählen ein fester Bestandteil des Unterrichts.19 Seine Unterrichtspraxis bildet sich diesem Deutungsansatz nach in dem literarisch dargestellten Unterricht der Lehrerfiguren ab.20 Während das Figurenhandeln wegen der Verwendung von reformpädagogischen Klischees also bislang vor allem »behutsam diskursiv«21 gelesen worden ist, ist für den vorliegenden Aufsatz relevant, dass diese Lesart ein wesentliches Moment ignoriert, das mit dem literarischen Schaffen von Walter Kempowski aber untrennbar verbunden ist. Denn die in den Lehrerfiguren reflektierte pädagogische Grundhaltung zum Zwecke »einer tiefer begründeten Interpretation«22 heranzuziehen, mag zwar

17 Damiano: Lehrer und Schriftsteller 2005, S. 189. 18 Roland Bast: Kulturkritik und Erziehung. Anspruch und Grenzen der Reformpädagogik. Dortmund: Projekt 1996, S. 5. 19 Vgl. auch Kempowski selbst: »Ich verstehe nicht, wie man mit einer gedruckten Fibel zurechtkommen kann. Ich habe mir nach Art der alten Reformpädagogen morgens immer zuerst die Kinder angesehen, bevor ich irgendwelchen ›Unterrichtsstoff‹ auf sie losließ, habe herauszufinden versucht, was sie bewegt, und darauf meinen Unterricht aufgebaut« (Walter Kempowski: Sirius. Eine Art Tagebuch. München: Knaus ²1990, S. 192). In diesem Zusammenhang ist auf das Schulmeister-Buch (Kempowski der Schulmeister. Beschrieben von Michael Neumann. Fotografiert von Lars Lohrisch. Geleitwort von Werner Remmers. Nachwort von Richard Meier. Braunschweig: Westermann 1980, S. 26) zu verweisen, wo es heißt: »Wer nicht weiß, was das morgendliche Erzählen der Kinder zu Beginn des Unterrichts bedeuten kann, der versteht den Lehrer Kempowski nicht. Das morgendliche Erzählen ist Ausgangspunkt, Kern- und Keimzelle seines Unterrichts«. 20 Kempowski notiert auch während der Arbeit an Schöne Aussicht: »Morgen mit Lehrer Jonas weiter. Das wird vielleicht ein bißchen ein Selbstporträt« (Walter Kempowski: Culpa. Notizen zum Echolot. München: Knaus 2007, S. 31). 21 Ladenthin: Pädagogik 2020, S. 297. 22 Damiano: Lehrer und Schriftsteller 2005, S. 178.

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gelingen, aber sie klammert aus, dass in den Romanen der Deutschen Chronik Zeitgeschichte verhandelt wird. Diese ist in der Forschungsliteratur zu Schlünz bislang weitestgehend blass geblieben, wohl aufgrund der besonderen pädagogischen Akzentsetzung einiger literaturwissenschaftlicher Untersuchungen. Dabei hat schon der Germanist und Schriftsteller Manfred Dierks in einer im Jahr 1984 veröffentlichten Monografie angemerkt, dass diese Lehrerfigur nicht nur »ersichtlich aus der Jugendbewegung«23 kommt, sondern auch »erkennbar auf den ›Bund Deutscher Mädel‹«24 zusteuert. Obwohl aber Dierks seine These kaum am Text belegt und lediglich darauf verweist, dass Fräulein Schlünz »eine junge sportliche Lehrerin [ist], die gern in den Harz fährt und da herumklettert, im Winter sogar Ski läuft«,25 ist zu ergänzen, dass sich hier charakteristischer Motive bedient wird, die mit der Jugendbewegung und dem späteren Bund Deutscher Mädel zusammenhängen.26 Um Schlünz zu charakterisieren, greift der Autor also – so eine an Dierks anschließende These meines Beitrags – auch auf »Merkmale der Weiblichkeitsdiskurse«27 zurück, wie sie in früheren Mädchenbewegungen zur Zeit des Nationalsozialismus charakteristisch gewesen sind. Zum damaligen Ideal der weiblichen Jugend zählen zum Bespiel die im Zitat skizzierten »Abenteuer«,28 also das Wandern in der Natur, »das Erleben von Wind und Wetter, Sonne und Kälte«29 und im Rekurs auf das Skifahren besonders der Sport. Mit dieser Form der »körperlichen Ertüchtigung«30 ist außerdem ein Lebensstil verbunden, der über die Weiblichkeitsideale der Zeit hinausragt. So ist in den jugendverbandlichen Organisationen der Mädchen »ein naturverbundenes Leben«31 tonangebend: Mädchenwanderungen und Lageraufenthalte sind nicht nur in der Jugendbewegung veranstaltet worden, sondern auch in dem späteren Bund Deutscher Mädel. Die Weiblichkeitsideologie, wie sie vor und nach 1933 vertreten wurde, ist dementsprechend mit Schlagworten wie Erlebnis und Gemein-

23 Dierks: Kempowski 1984, S. 232. 24 Dierks: Kempowski 1984, S. 232. 25 Dierks: Kempowski 1984, S. 232, vgl. ebenso SchA 232. 26 Zur Geschichte des Bundes Deutscher Mädel vgl. exempl. Irmgard Klönne: Kontinuitäten und Brüche: Weibliche Jugend und Bund Deutscher Mädel. In: Dagmar Reese (Hg.): Die BDM Generation. Weibliche Jugendliche in Deutschland und Österreich im Nationalsozialismus. Berlin: Verlag für Berlin-Brandenburg 2007 (Potsdamer Studien, 19), S. 41–85, hier S. 66–80. 27 Klönne: Weibliche Jugend und Bund Deutscher Mädel 2007, S. 50. 28 Klönne: Weibliche Jugend und Bund Deutscher Mädel 2007, S. 58. 29 Klönne: Weibliche Jugend und Bund Deutscher Mädel 2007, S. 58. 30 Louise Willmot: Zur Geschichte des Bundes Deutscher Mädel. In: Reese: Die BDM Generation 2007, S. 89–157, hier S. 122. 31 Willmot: Geschichte des Bundes Deutscher Mädel 2007, S. 122.

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schaft, aber auch mit Volks- und Brauchtum verbunden.32 Diese aus dem Selbstverständnis der bündischen Gruppen gewonnenen Aspekte finden sich auch in der Figurenbeschreibung von Fräulein Schlünz wieder. Die von Dierks postulierte Nähe der Lehrerin zu Idealen des Bundes Deutscher Mädel lässt sich freilich nicht nur durch ihr jugendliches und sportliches Auftreten begründen: »Auf der Brust trägt sie eine silberne Brosche mit germanischen Lebensrunen, und im Nacken hat sie einen Knoten«. (SchA 232) Genau dieser Dutt ist als »Schneckenfrisur«33 typisch für die Weiblichkeitsdarstellungen im Nationalsozialismus und auch die zitierte Anstecknadel spielt auf einschlägige Kontexte an, da germanische Runenzeichen für die nationalsozialistische Propaganda instrumentalisiert wurden.34 Diese Details in der Figurenbeschreibung von Schlünz sind hinsichtlich ihrer politischen Bedeutung bislang unberücksichtigt geblieben. Sie drängen sich jedoch auf, da die Lehrerfigur zwar auf eine Einladung des Schulrats den »Pestalozzi-Kreis« (SchA 235) besucht, aber ausgerechnet dort »ein Trachtenjäckchen« (SchA 240) strickt. Die Forschung tut zwar recht daran, wenn sie die Anspielung auf Johann Heinrich Pestalozzi mit ganzheitlicher Erziehung verbindet. Aber daneben handelt es sich doch bei der Tracht um eine »ideologisch aufgeladene, wirkmächtige«35 Kleidung, die in enger Verbindung zum Nationalsozialismus steht. Sie ist in der NS-Zeit zu einem Kleidungsstück von »nationaler Integrität«36 geworden, sodass sie ein politisch stark aufgeladenes Symbol abgibt. Da sie so »im Zuge der nationalsozialistischen Volkstumsideologie als Zeichen deutscher Stammeskultur lanciert wurde«,37 ist mit Blick auf Fräulein Schlünz’ Tracht außerdem interessant, dass sie »von der Art [ist], wie die Tiroler sie tragen«. (SchA 240) Diese Bezeichnung verweist möglicherweise auf das Tiroler Volkskunstmuseum in Innsbruck bzw. auf dessen Leiterin Getrud Pesendorfer, die bei der »Trachtenerneue-

32 Vgl. Klönne: Weibliche Jugend und BDM 2007, S. 81. 33 Ernst Bloch: Die Frau im Dritten Reich. In: Ders.: Vom Hasard zur Katastrophe. Politische Aufsätze 1934–1939. Mit einem Nachwort von Oskar Negt. Zusammengestellt von Volker Michels. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1972 (edition suhrkamp, 534), S. 129–136, hier S. 136. 34 Vgl. Rudolf Simek: Runen gestern, heute, morgen. In: Bundeszentrale für politische Bildung. https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/257816/runen-gestern-heute-morgen/ (letzter Zugriff am 26.1.2023). 35 Reinhard Bodner: Die Trachten bilden. Sammeln, Ausstellen und Erneuern am Tiroler Volkskunstmuseum und bei Gertrud Pesendorfer (bis 1938). In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde (2018), Heft 1, S. 39–84, hier S. 43. 36 Elsbeth Wallnöfer: Tracht Macht Politik. Mit Illustrationen von Marie Vermont. InnsbruckWien: Haymon 2020, S. 13. 37 Wallnöfer: Tracht 2020, S. 209.

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rung der NS-Zeit«38 eine wichtige Rolle gespielt hat.39 Dass es ausgerechnet eine Tiroler Tracht ist, ließe sich auch als ein Verweis auf die deutsch-nationalistische Glorifizierung des Tiroler Volksaufstandes gegen Napoleon im Jahr 1809 werten, wie sie in der Geschichtsschreibung vorgefunden werden konnte: »Hatte bis zum Ende der Monarchie in der Tiroler Historikerzunft die Frage nach einer spezifischen Wehrhaftigkeit des Tirolers tendenziell eine untergeordnete Rolle gespielt, so erlebte sie in den zwanziger und dreißiger Jahren [des 19. Jahrhunderts] einen signifikanten Aufschwung.«40 Der österreichische Historiker und Volkskundler Hermann Wopfner führt die genannte Wehrhaftigkeit beispielsweise auf ein ›völkisches Element‹ zurück: »Er wollte die besondere Wehrhaftigkeit des Tirolers in der ›völkischen Eigenart‹ des Tirolers verorten und als dessen allgemeines Wesensmerkmal nachweisen.«41 Auch wenn die »Propagierung des Bildes vom wehrhaften Tiroler«42 als Querverbindung nur angedeutet werden kann, zeigt sie doch, dass Schlünz mehr repräsentiert als Kempowskis eigene Lehrmethode. Sie ist darüber hinaus – wie wohl sämtliche Figuren bei Kempowski – in einen größeren Funktionszusammenhang eingebunden, da in Schöne Aussicht »Zeitgeschichte weiterhin durch die [...] subjektive Erfahrungsmöglichkeit«43 der literarischen Figuren dargestellt wird. Wie andere Romane der Deutschen Chronik kommt auch dieser Roman der »Aufgabe [nach], Zeit als Alltagsgeschichte zu vermitteln«44  – und weil er die Anfänge der Weimarer Republik sowie die Entstehung des deutschen Faschismus schildert, liegt es nahe, dass neben reformpädagogischen Leitsätzen auch sozialhistorische Aspekte thematisiert werden. In Anlehnung an Dierks lässt Kempowski zwar auch über Fräulein Schlünz von reformpädagogischen Prinzipien »aus den zwanziger Jahren«45 erzählen, aber für die Interpretation dieser Figur sind doch ebenso andere Momente maßgebend.

38 Bodner: Trachten bilden 2018, S. 39, vgl. auch Ivona Jelcic: Schürzen schnüren für den Führer. In: Tiroler Tageszeitung vom 19.8.2016, S. 14. 39 Vgl. hierzu auch Wallnöfer: Tracht 2020, S. 189–192. 40 Martin P. Schennach: Revolte in der Region. Zur Tiroler Erhebung von 1809. Innsbruck: Universitätsverlag Wagner 2009 (Veröffentlichungen des Tiroler Landesarchivs, 16), S. 623. Wenn nicht anders erwähnt, stammen alle Anmerkungen in Zitaten von mir – V. J. 41 Schennach: Revolte in der Region 2009, S. 623. 42 Schennach: Revolte in der Region 2009, S. 624. 43 Dierks: Kempowski 1984, S. 11. 44 Manfred Dierks: Walter Kempowski. In: Kritisches Lexikon zur Deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. München: edition text + kritik 2008. 45 Dierks: Kempowski 1984, S. 14.

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Im Rekurs auf die vorangegangenen Ausführungen muss folglich überprüft werden, ob Schlünz tatsächlich »zweifellos eine Anhängerin der Reformpädagogik«46 ist. Denn der Figurengestaltung mengen sich neben den oben dargelegten Attributen ebenfalls Facetten bei, die wohl nicht uneingeschränkt mit reformpädagogischen Prinzipien vereinbar sind. Fräulein Schlünz nutzt, wie nachstehend zu zeigen sein wird, auch disziplinarische Mittel, um ihre Schüler zu erziehen. Dies mag im Hinblick auf grundlegende Erziehungsfragen zunächst wenig verwundern, aber aus disziplinartheoretischem Blickwinkel betrachtet, sind diese Erziehungsmaßnahmen mit normierenden Sanktionen gleichzusetzen. Anders ausgedrückt: Schlünz erzieht die Kinder in einer Art, die mit der Wirkungsweise von disziplinarischen Strafmechanismen zu vergleichen ist. Dies ist erneut in gewisser Weise zeittypisch, weil hinsichtlich der Figurengestaltung von Schlünz wieder nicht nur reformpädagogische Tendenzen, sondern auch sozialhistorische Aspekte zum Tragen kommen. So waren Verquickungen von reformpädagogischen und völkischen Ideen wohl durchaus gängig, auf »die ideologischen Zusammenhänge zwischen Reformpädagogik und nationalsozialistischen Bildungsvorstellungen und -praktiken«47 soll hier aber nicht näher eingegangen werden. Nur so viel: »Speziell in der Reformpädagogik«48 haben sich »Denkfiguren [finden lassen], die vom Nationalsozialismus aufgegriffen und auch nach 1945 weiter tradiert«49 worden sind. Für den vorliegenden Problemkontext ist hieran anschließend nun bedeutend, dass Schlünz ihren Schülern bestimmte Handlungsweisen aufdrängt und sich in diesem Zusammenhang disziplinarischer Techniken bedient.50 Es beginnt im Anschluss an den eingangs skizzierten Unterricht: Der Diphthong ist am Beispiel des kranken Roberts eingeführt worden und zu einem bestimmten Zeitpunkt des Unterrichtsgeschehens soll »[n]un [aber] mal wieder Ruhe einkehren«. (SchA 235)

46 Damiano: Lehrer und Schriftsteller 2005, S. 189. 47 Peter Dudek: Reformpädagogik und Nationalsozialismus. In: Heiner Barz (Hg.): Handbuch Bildungsreform und Reformpädagogik, Wiesbaden: Springer VS 2018, S. 55–64, hier S. 57. 48 Dudek: Reformpädagogik und Nationalsozialismus 2018, S. 58. 49 Dudek: Reformpädagogik und Nationalsozialismus 2018, S. 58. 50 Die folgenden Überlegungen führen Michel Foucaults Disziplinarmacht mit dem bei Kempowski dargestellten Unterrichtsereignis parallel. Zur Disziplinarmacht, die auch das Handeln auf die Handlungen anderer beschreibt, vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977 (stw, 184), und Michel Foucault: Das Subjekt und die Macht. In: Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow (Hgg.): Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Mit einem Nachwort von und einem Interview mit Michel Foucault. Aus dem Amerikanischen von Claus Rath und Ulrich Raulff, Frankfurt/M.: Athenäum 1987 (Neue wissenschaftliche Bibliothek), S. 241–261.

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Fräulein Schlünz sitzt oben, hinter dem Katheder, und kontrolliert die fleißigen Kinder, ob sie nicht »mit der Nase« schreiben, was den Rücken krumm macht. Für diesen Fall hat die junge Dame einen kleinen roten Ball, den sie mit äußerster Präzision auf die Bank des betreffenden Kindes zu werfen versteht. Ein Einfall, den sich der Schulrat notiert. Prachtvoll! Und nun bringt ihr der Übeltäter gar den Ball zurück, mit Knicks! (SchA 235–236)

Für den vorliegenden Problemkontext ist an diesem Ereignis in der Erzählung zunächst bedeutsam, dass Schlünz den Klassenraum von einem einzigen Punkt aus überblicken kann. Die erhöhte Sitzposition auf der Kanzel erlaubt es ihr, jeden ihrer Schüler zu jedem Zeitpunkt des Unterrichts zu beobachten. Genau dieser architektonische Aufbau sowie die damit zusammenhängende permanente Überwachung sind es, die für disziplinarische Mechanismen wesentlich sind.51 Denn indem sich die Blickachsen vom Lehrerpult aus wie ein Kegel über den gesamten Raum erstrecken, kann Schlünz überhaupt erkennen, dass einer ihrer Schüler falsch sitzt. Da die Lehrerfigur ihren Schüler ebenfalls auf eine bestimmte Weise korrigiert, werden weitere disziplinarische Wirkungsweisen sichtbar. So hat sich der Schüler grundsätzlich an Normen zu halten; ihm drohen Strafen, wenn er Regeln bricht und beispielsweise »mit der Nase« schreibt.52 Zum anderen aber – und dies ist aus disziplinartheoretischer Perspektive von besonderem Interesse – bestraft Fräulein Schlünz die falsche Sitzhaltung ihres Schülers, indem sie »einen kleinen roten Ball [...] mit äußerster Präzision auf die Bank des betreffenden Kindes« wirft. Nun mag man einwenden, dass ein solcher Ball nicht mit einem Rohrstock zu vergleichen ist, dass also die hier dargestellte Zucht eine milde ist. Genau das ist aber der Punkt: Die mit dieser Korrektur verzahnte Disziplinarmacht versteht sich als eine »Macht der milden Mittel«.53 Sie straft, sanktioniert und setzt am Körper des zu disziplinierenden Individuums an. Auch der Kommentar des Schulrats, der an das Zitat anschließt, legt nahe, dass die Unterrichtspraxis von Fräulein Schlünz zwei gegensätzliche Merkmale vereint. Denn der Schulrat, der den Unterricht der jungen Lehrerin beobachtet, »notiert« (SchA 236): »Auch das ist gut. [...] Autorität und Frohsinn, Freiheit und Zucht, ja, so muß es sein«. (SchA 236) Hier liegt nicht nur eine Antithetik vor, weil eine Auflistung die sich in ihrer Bedeutung widersprechenden Wörter verbindet. Indem sich die Satzstücke auch einzeln lesen lassen, werden außerdem gleich zwei kontradik-

51 Vgl. Foucault: Überwachen und Strafen 1977, S. 251–292, insb. S. 256–271. 52 Zum besseren Verständnis ist an dieser Stelle zu ergänzen, dass die mit diesen Techniken verbundene Disziplinarmacht auch als »Normierungsmacht« (Foucault: Überwachen und Strafen 1977, S. 237) verstanden wird. Sie sucht, Abweichungen zu reduzieren. 53 Michael Ruoff: Macht. In: Ders.: Foucault-Lexikon. Entwicklung – Kernbegriffe – Zusammenhänge. 2., durchgesehene Auflage. Paderborn: Fink 2009 (UTB, 2896), S. 146–156, hier S. 149.

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torische Begriffspaare zur Beschreibung des Erziehungsstils genutzt. Dieser doppelte Kontrast ist auffällig, zumal er auf formaler Ebene einen Rahmen darstellt; in einem übertragenen Sinne scheint es daher »Frohsinn« und »Freiheit« womöglich nur im Rahmen von »Autorität« und »Zucht« (SchA 236) geben zu können.54 Vor dieser Hintergrundfolie muss folglich angezweifelt werden, ob die Lehrer­figur Schlünz tatsächlich »in solch gutem Licht erschein[t]«,55 um zu belegen, »dass Kempowski diesem nicht-autoritären Lehrer-Typus eine entscheidende Rolle in der Entwicklung des Kindes zuweist.«56 Denn anders als Herr Jonas nutzt diese Lehrerin Disziplinartechniken, um ihre Schüler zu sanktionieren. Ihrem Figurenhandeln mischen sich folglich autoritäre Züge bei, die bei der Analyse nicht unberücksichtigt bleiben dürfen. Selbstverständlich ist Fräulein Schlünz nicht die einzige Lehrerfigur, die im Schulkontext normierend und sanktionierend auf Schüler einwirkt. Sie lässt sich vielmehr in eine Tradition von Lehrerfiguren einordnen, von denen in Schulromanen bis heute erzählt wird – und obwohl in Schöne Aussicht wenige Momente die Schulzeit beleuchten, lohnt sich ein vergleichender Blick auf Judith Schalanskys Schul- und Lehrerroman Der Hals der Giraffe. Denn in der Figurengestaltung von Fräulein Schlünz finden sich nicht nur die Facetten wieder, die in Schalanskys Lehrerfiguren ausdifferenziert werden. Darüber hinaus lassen sich in dem Gegenwartsroman vielfältige Bewertungsstrategien aufdecken, mit denen wiederum das pädagogische Handeln von Schlünz vertiefend interpretiert werden kann. Ein Vergleich zwischen diesen beiden Romanen scheint also lohnenswert, weil sich aus dem Zusammenschluss beider Erzähltexte wertvolle Deutungsperspektiven wie Synergieeffekte ergeben.

3 Lohmark, Schlünz und Schwanneke – Lehrerhandeln zwischen den Extremen Der 2011 erschienene Roman von Judith Schalansky ist ein besonderer Schulroman, weil er nicht nur eine Lehrerfigur als Protagonistin hat, sondern mit dieser Lehrerin auch eine Figur ganz eigener Couleur zum Vorschein kommt: Inge Lohmark ist hart,

54 Hier spiegelt sich wohl eine Grundstruktur der Pädagogik Kempowskis wider, denn Ladenthin zufolge ist diese von der »Paradoxie des ›Führen und Wachsenlassens‹« (Ladenthin: Pädagogik 2020, S. 305) geprägt. 55 Damiano: Lehrer und Schriftsteller 2005, S. 182. 56 Damiano: Lehrer und Schriftsteller 2005, S. 182.

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streng und unerbittlich. Sie ist daher das genaue Gegenteil ihrer Kollegin Karola Schwanneke, einer Lehrerin, die »aus Bankreihen Buchstaben und aus Stühlen Halbkreise formte«,57 um hierarchische Strukturen aufzubrechen. Lohmarks Klasse ist hingegen wie ein »Disziplinarraum«58 parzelliert: Streber, wie das »Zugpferd« (HdG 129) oder das fromme »Pfarrerskind« (HdG 21), sitzen in der ersten Reihe, während der »Nervbolzen« (HdG 21) hinten sitzt.59 Ränge aber gibt es bei Schwanneke nicht; vielmehr ist ihre Klasse wie »ein großes U [aufgebaut], das ihren Lehrertisch umarmte. Neuerdings war es sogar ein eckiges O, so dass sie mit allen verbunden war«. (HdG 12) Die Gegensätze zwischen Lohmark und ihrer Kollegin könnten kaum größer sein, denn zum Unterricht der Protagonistin gehören zum Beispiel auch keine Nähe oder Verständnis, wohingegen Schwanneke beides schon auf Raumebene herzustellen sucht. Außerdem lässt sich diese Figur von den Schülern der elften Klasse »duzen« (HdG 12), während Lohmark pedantisch darauf bedacht ist, die Schüler zu siezen.60 Es gibt ihrer Ansicht nach nämlich »kein wirkungsvolleres Mittel« (HdG 13), um sich Schüler »vom Leib zu halten«. (HdG 13) Auch setzt sich die Schwanneke in einer Weise für Schüler ein, die Lohmark nicht nur atypisch, sondern auch völlig abstoßend findet. So kommentiert die Protagonistin Schwannekes außerordentliches Engagement für den Idioten aus der Achten [...]. Die Stirn in Falten geworfen und mit ihrem rot angemalten Mund ins Kollegium gerufen: Wir brauchen schließlich jeden Schüler! Es hätte nur noch gefehlt, dass ausgerechnet sie, die kinderlose Schwanneke, die vor kurzem auch noch von ihrem Mann sitzengelassen worden war, davon angefangen hätte, dass die Kinder doch unsere Zukunft wären. (HdG 14)

57 Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe. Bildungsroman. Berlin: Suhrkamp 2011, S. 12, im Folgenden zitiert mit der Sigle HdG und der entsprechenden Seitenzahl. 58 Elisabeth Heyne: »Nichts ging über die Radialsymmetrie«. Zu einer bioästhetischen Poetik der Symmetrie zwischen Text und Bild in Judith Schalanskys Der Hals der Giraffe. In: Textpraxis 9 (2014), Heft 2, S. 1–18, hier S. 7. 59 Zum Aufbau der Klasse in Der Hals der Giraffe vgl. auch weiterführend Julia Bertschik: Bildungsfiktionen. Zur Institution der Schule in der Gegenwartsliteratur, bei Schalansky und Kronauer. In: Joanna Jabłkowska/Kalina Kupczyńska/Stephan Müller (Hgg.): Literatur, Sprache und Institution. Wien: Praesens 2016 (Stimulus, 2014), S. 207–223. 60 Vgl. auch die Literaturwissenschaftlerinnen Boog und Emeis, die im Hinblick auf die Differenz zwischen den Lehrerinnen festhalten, dass sich Schwanneke »von den älteren Schülern sogar duzen [lässt]; eine Missachtung sämtlicher Hierarchievorgaben, die Inge Lohmark [...] weit von sich schiebt« (Julia Boog/Kathrin Emeis: Verrenkungen – zwischen Sehnsucht und Selbstzucht in Judith Schalanskys Der Hals der Giraffe. In: Gerhard Scholz/Veronika Schuchter [Hgg.]: Ultima Ratio? Räume und Zeiten der Gewalt. Würzburg: Königshausen & Neumann 2013 [Film – Medium – Diskurs, 49], S. 49–63, hier S. 57.)

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Für Lohmark sind sie das nicht. Schüler, insbesondere die »Versager« (HdG 11), sind stattdessen »Parasiten am gesunden Klassenkörper« (HdG 11) und daher ebenso »vom Leib zu halten« (HdG 13) wie alle anderen Kinder auch. Lohmark hat konsequenterweise »keinen Liebling, und sie würde nie einen haben« (HdG 13), während sich Schwanneke nicht nur für jeden Schüler einsetzt, sondern sich in den Pausen sogar »mit ihren Lieblingen« (HdG 13) unterhält. Aus der Perspektive der Protagonistin, die gleichfalls die Erzählerin ist, ist all das aber nur »Heuchelei« (HdG 11); das Engagement der Kollegin nur eine »Integrationswut« (HdG 12) und die Pausengespräche nichts weiter als die »kurze Illusion einer Gemeinschaft«. (HdG 13) Auch juveniles Benehmen ist für Lohmark absolut inakzeptabel: »Unverzeihlich [...] war es, wie sich Lehrer an Halbwüchsige ranschmissen. Halber Hintern auf dem Lehrerpult. Geklaute Moden und Wörter. Um den Hals bunte Tücher. Blondierte Strähnen« (HdG 13) – und genau diese Attribute treffen aus ihrer Sicht auf die Kunstlehrerin Schwanneke zu, die zu einem Zeitpunkt in der erzählten Geschichte ein »kurzes Kleid über der Jeans« (HdG 31)61 trägt, Schüler duzt, »sie in Pausengespräche verwickelte« (HdG 13) und vor den Jungen sogar »glupschäugig und mit Schminklippen die allerbilligste Schlüsselreizshow abzog«. (HdG 13) Wie aus diesen Gegenüberstellungen hervorgeht, bildet die Schwanneke nicht nur »in jeder Hinsicht den Counterpart zu Inge Lohmark.«62 Im Rekurs auf die bunten Tücher und auf das »Kennenlernspiel« (HdG 10), das die Lehrerin zu Beginn des Schuljahres spielt (»Nach einer halben Stunde waren alle Beteiligten in den Fäden eines roten Wollknäuels verheddert« [HdG 10]), wird auch ersichtlich, inwiefern sie eine Klischeevorstellung abbildet. So hat schon die Literaturwissenschaftlerin Anja Lemke herausgestellt, dass diese Lehrerfigur »die reformpädagogischen Strömungen«63 repräsentiert. Sie steht in einem auffälligen Kontrast zu Lohmark und ihrem Frontalunterricht: Gruppenarbeiten oder »Gesprächskreise wie die Schwanneke« (HdG 47) veranstaltet die Protagonistin nicht. Eher sieht sie das Handeln der »windelweichen Wohlfühlpädagogin«,64 wie die Forschungsliteratur die Schwanneke auch polemisch beschreibt, als unangebracht an. Lohmark gehört nicht zu den Lehrerfiguren, die sich wie Schwanneke für ihre Schüler einsetzen. Ihrer Meinung nach ist es stattdessen besser, Schüler »in jedem Moment spüren

61 Vgl. hierzu auch Inge Lohmarks Kommentar »Hasch mich, ich bin der Frühling«. (HdG 31) 62 Anja Lemke: Bildung als formatio vitae – Zum Verhältnis von Leben und Form in Judith Schalanskys Der Hals der Giraffe. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 41 (2016), Heft 2, S. 395–411, hier S. 405. 63 Lemke: Bildung 2016, S. 405. 64 Daniela Strigl: Eros des Büchermachens. Eine Huldigung für Judith Schalansky in sieben tugendhaften Bücklingen. In: Die Horen. Zeitschrift für Literatur Kunst und Kritik (2015), Heft 260, S. 180–190, hier S. 190.

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zu lassen, dass sie ihr ausgeliefert waren«. (HdG 9) Das pädagogische Handeln der Protagonistin bildet folglich das entgegengesetzte Extrem ab, denn sie stellt ihre Schüler bloß und bemängelt sowohl die Wortbeiträge als auch das geistige Niveau derselben.65 Auch diese Lehrerfigur ist von ihrer Anlage her »ein Klischee«,66 wie die Autorin in einem Interview bemerkt. Sie ist »die fiese, harte Lehrerin«67 und aus diesem Grund ganz anders als Schwanneke. In Bezug auf die eingangs dargelegte Differenz zwischen Pädagogen bilden Schalanskys Figuren somit genau die Lehrertypen ab, die Kempowski in dem Interview mit Damiano aus dem Jahr 1995 skizzierte. Frau Lohmark ist insofern eine »autoritäre«68 Lehrerfigur, als sie nicht nur frontal unterrichtet. Ihr ist außerdem wichtig, dass ihre Schüler »gefügig« (HdG 119) sind und ihr »gehorchten«. (HdG 119) So beginnt die Erzählung mit Lohmarks Anweisungen: »›Setzen‹, sagte Lohmark, und die Klasse setzte sich. Sie sagte ›Schlagen Sie das Buch auf Seite sieben auf‹, und sie schlugen das Buch auf Seite sieben auf«. (HdG 7) In der Wiederholung der Satzstruktur spiegelt sich nicht nur der Gehorsam der Schülerfiguren wider; mit Blick auf Walter Kempowskis Dichotomie wird außerdem deutlich, dass Lohmarks Unterricht »vom Lehrer her«69 gestaltet ist. Das Figurenhandeln von Schalanskys Lehrerinnen changiert insofern zwischen »autoritär«70 und »nicht-autoritär«.71 Zwischen diesen Figuren lässt sich nun Kempowskis Fräulein Schlünz einordnen, denn in ihrem Unterrichtshandeln werden durchaus grundlegende reformpädagogische Prinzipien sichtbar, aber so stark überzeichnet wie Schwanneke ist diese Lehrerfigur nicht. Zwar bestraft auch Schlünz ihre Schüler, aber ihre Strafen erscheinen im Vergleich zu Lohmarks drakonischer Grundeinstellung doch harmlos. Dass sich ein Vergleich zwischen diesen Lehrerinnen überhaupt anbietet, geht auch aus einem Interview mit der Autorin hervor. Pädagogen sind Schalansky zufolge »ja nicht nur Menschen – sie sind immer auch Abgesandte verschiedener Disziplinen, die sie auch immer mit einem bestimmten pädagogischen Konzept vertreten und da ist der Konflikt natürlich vorprogrammiert. Es geht um die Frage: Wie lehrt man?«72 Auch vor dieser Hintergrundfolie veranschaulichen Schalanskys

65 Vgl. exempl. Lohmarks Reaktion auf eine Antwort ihrer Schülerin: »Na klar, Sterntaler. Nicht nur dumm, sondern auch vorlaut. Die kam wirklich vom Mond«. (HdG 134) 66 Jürgen Sander: Wir wohnen einer Verstörung bei! Interview mit Judith Schalansky. Büchergilde. https://www.buechergilde.de/interview-judith-schalansky.html (letzter Zugriff am 26.1.2023). 67 Sander: Interview. 68 Damiano: Lehrer und Schriftsteller 2005, S. 178. 69 Damiano: Lehrer und Schriftsteller 2005, S. 178. 70 Damiano: Lehrer und Schriftsteller 2005, S. 178. 71 Damiano: Lehrer und Schriftsteller 2005, S. 178. 72 Sander: Interview.

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Figuren extreme Formen pädagogischen Handelns – und wie Kempowski gestaltet sie im Text ebenfalls Unterrichtssituationen aus, die zur Beschäftigung und zur Reflexion auffordern. Ein Vergleich zwischen Der Hals der Giraffe und dem dreißig Jahre älteren Roman von Kempowski bietet sich also auch deshalb an, weil am Beispiel von Lehrerfiguren ähnliche Dichotomien aufgespannt werden. Darüber hinaus nutzt Schalanskys Text Bewertungsstrategien, mit denen das Handeln von Schlünz wiederum gedeutet und beurteilt werden kann. Wie nachstehend zu zeigen sein wird, ist die Erzählweise in Schöne Aussicht auch von Ironie durchzogen, die das Figurenhandeln von Schlünz gleichfalls ironisiert.

4 Ironie, Kontrastierungen und Reflektorfiguren – literarische Bewertungsstrategien pädagogischen Handelns Um ihre Kollegin zu diffamieren, kommentiert die Erzählerin in Der Hals der Giraffe das Handeln derselben äußerst scharfzüngig. Zu erkennen ist dies, als sich die Pro­ tagonistin im spöttischen Ton darüber auslässt, dass sich die Schwanneke von ihren Schülern duzen lässt: »Karola sollen wir sie nennen, hatte Inge Lohmark eine Schülerin sagen hören. Karola! Meine Güte. Sie waren doch nicht beim Frisör!« (HdG 12) Neben diesem abwertenden Kommentar zeugt eine Vielzahl weiterer Bemerkungen, die das Schüler-Lehrer-Verhältnis betreffen, von Lohmarks Missmut – eine Darstellungs- bzw. Erzählweise, die laut Rezensionen »ein ebenso witziger wie erschlagender Parforceritt«73 ist. Die lakonischen Anmerkungen von Lohmark sind erschreckend und es »fröstelt einen, wenn man ihr in kurzen, keinen Widerspruch duldenden Sätzen ausgebreitetes Weltbild betrachtet.«74 Aber in diesem eigentümlichen Sprachstil liegt ebenfalls der »Reiz dieser vergnüglichen Schulgeschichte.«75 Lohmarks verschrobene Ansichten lassen sich mit einem Schmunzeln lesen – und mit Blick auf Schöne Aussicht findet sich ein solch schelmischer Ton auch in der Darstellung von Fräulein Schlünz’ Unterricht wieder.

73 Thomas Hummitzsch: Warum Giraffen lange Hälse haben. In: Intellectures. https://www.intel lectures.de/2011/12/11/warum-giraffen-lange-haelse-haben (letzter Zugriff am 26.1.2023). 74 Martin Ebel: Im Klassenzimmer ist der Schüler der natürliche Feind. In: Tages-Anzeiger, Zürich vom 11. 10. 2011, S. 28. 75 Ulrike Baureithel: Zynische Sezier-Stunde. In: Der Freitag online. https://www.freitag.de/autoren/ ulrike-baureithel/zynische-sezier-stunde (letzter Zugriff am 1.3.2023).

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Dass das pädagogische Handeln von Kempowskis Lehrerfigur durchaus mit feinem Spott dargestellt wird, deutet sich bereits in den Bemerkungen des Schulrats an, die sich auch als Übertreibungen lesen lassen. »Prachtvoll« (SchA 236) ist der Unterricht von Schlünz; das Lob des Schulrats (»Bravo!« [SchA 234]) bezieht sich auf die »Elastizität, mit der die Freiheit gehandhabt wird, das Konzept hinwegfegen, wenn die Kinder mit etwas Eigenem kommen!« (SchA 235) »Das ist ja wieder etwas Wunderbares! sagt er zu der jungen Kollegin«. (SchA 235) Die fast schon überschwängliche Begeisterung für ihre Umsetzung reformpädagogischer Ansätze schlägt sich demnach in der Wertschätzung des Schulrats nieder, der sogar schon während der Unterrichtszeit absehen kann, wie der Bericht zur Bewertung des Unterrichts ausfallen wird: »Positiv wird er ausfallen, so viel ist klar. Und ›Schlünz‹ schreibt er ins Notizbuch, ›Käthe‹, und versieht diesen Namen mit einem Ausrufezeichen« (SchA 236) – den muss man sich wohl merken. Obwohl diese positive Bewertung zum Anlass genommen worden ist, um die Schlünz-Figur als ebenso positives Beispiel für reformpädagogische Unterrichtsgestaltungen zu nehmen, muss doch an der Ernsthaftigkeit dieser Figurenbeschreibung gezweifelt werden. Deutlich wird dies etwa, als Schlünz Ullas kranken Bruder besucht. Das Figurenhandeln der Lehrerin wird nicht nur scherzhaft begründet, sondern auch mit reformpädagogischen Grundsätzen verbunden: Schlünz besucht Robert, denn »wenn man schon ›vom Kinde her‹ unterrichtet, dann muß man auch mal zum Kinde hingehen«. (SchA 239) Diese Beschreibung ist nicht nur humoristisch, sondern auch für Kempowskis Erzählweise typisch, leben seine Romane doch »von der (selbst-)ironischen Brechung, der Distanz von Autor und Figur und den dadurch entstehenden Erzählperspektiven.«76 Eine solche ironische Färbung ist der zitierten Erklärung eingeschrieben. Ob sich dadurch nicht auch die Pädagogik der Lehrerfigur als Ganze desavouiert, bleibt offen. Die Begründung jedenfalls stammt nicht vom Schulrat, der das Handeln der Lehrerin an dieser Stelle kommentiert. Vielmehr reiht sie sich in die Schulpassagen ein, die bei Kempowski grundsätzlich »in einem witzigen, humorvollen Ton gehalten«77 sind. Insofern ist Xavier Monn zuzustimmen, wenn er konstatiert, dass die Lehrerfiguren zwar Sympathieträger sind, ihre pädagogischen Positionen aber immer auch »mit einem Augenzwinkern«78 gelesen werden

76 Monn: Pädagoge und Schriftsteller 2012, S. 12. – Hieran anschließend ist auch der Name der Lehrerfigur Fräulein Schlünz auffällig. So kann ihr Nachname möglicherweise eine spielerische Verfremdung des Wortes »schlunz« sein. Diese Bezeichnung meint »eigentlich wol etwas lose bau­ melndes, schlaffes« oder auch einen »lumpen«, ein »zerlumptes kleidungsstück« (vgl. den Eintrag in Grimms Wörterbuch, Bd. 15, Sp. 839). 77 Monn: Pädagoge und Schriftsteller 2012, S. 12. 78 Monn: Pädagoge und Schriftsteller 2012, S. 12.

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müssen. Nicht nur die autoritären Lehrer »kriegen ihr Fett ab«,79 wie nachstehend noch zu zeigen sein wird. Auch die vornehmlich sympathisch dargestellten Figuren werden auf satirisch-humorvolle Weise und in kritischer Absicht konturiert.80 Im Hinblick auf das Untersuchungsinteresse des vorliegenden Beitrags ist außerdem relevant, dass Kempowski »die Kontrastierung als Mittel«81 nutzt, um Lehrer(-Figuren) und Unterrichtssequenzen zu bewerten. So behauptet schon Monn, dass aufgrund des auffälligen Kontrastes zwischen den fiktiven Lehrern erkennbar sei, welchem Unterricht und »welchem Lehrertyp Kempowskis Sympathien gelten.«82 Die »Vorliebe für die Erlebnispädagogik«,83 wie der Autor es in einem Gespräch mit Volker Hage nennt, spiegelt sich diesem Deutungsansatz nach auch im pädagogischen Handeln der Lehrer wider. So ist beispielsweise Herr Hagedorn in Schöne Aussicht ein Lehrer ganz anderer Art. Sein Unterricht folgt einem mehr oder weniger strengen Ablauf, denn auch, wenn »die Kinder ihm [am Morgen des Schultages] erzählen« (SchA 409), was sie erlebt haben, kehrt der Lehrer zügig zur »Architektur seiner Stunde« (SchA 409) zurück. Er geht nicht wie Schlünz auf die Schüler ein, sondern »holt dann [im Anschluss an das morgendliche Erzählen] aber die Geige hervor zur rechten Zeit und spielt ein ›Liedel‹ auf der ›Fiedel‹«. (SchA 409) Mit Musik und Reimen »›hat‹ er die Kinder – wie er seiner Frau das immer erzählt: ›Ich hab’ die Kinder immer schon nach fünf Minuten« (SchA 409), sodass kaum etwas von der wertvollen Unterrichtszeit verloren geht. Schon die Konjunktion »aber« (SchA 409) markiert den entscheidenden Unterschied zwischen Hagedorn und anderen Lehrern, weil er sein Instrument zückt und die Kinder in der Art eines Rattenfängers »hat« (SchA 409), anstatt ihre Anliegen und Interessen in reformpädagogischer Manier zum Ausgangspunkt des Unterrichts zu machen.84

79 Monn: Pädagoge und Schriftsteller 2012, S. 12. 80 Übrigens ähneln sich Kempowski und Schalansky in dieser Hinsicht, weil auch die Autorin mit »Klischees« (Sander: Interview) arbeitet. So werden in Der Hals der Giraffe »die Moden der Didaktik« (Strigl: Eros 2015, S. 190) nicht nur in zweifacher Hinsicht zum Gegenstand der erzählten Geschichte und zum Gegenstand der Kritik gemacht (vgl. die »Tücher«. (HdG 13) Die Gegenüberstellung der beiden Lehrertypen kann darüber hinaus dem Zweck dienen, das eigene (pädagogische) Handeln zu reflektieren. Auf die Potenziale dieser Darstellung wird im Folgenden einzugehen sein. 81 Monn: Pädagoge und Schriftsteller 2012, S. 10. 82 Monn: Pädagoge und Schriftsteller 2012, S. 10. 83 Volker Hage: Walter Kempowski. Bücher und Begegnungen. München: Knaus 2009, S. 66. 84 Auch die eigentümliche Formulierung, dass er sie wie ein Rattenfänger »hat« (SchA 409), ist mit Blick auf einen Kommentar von Walter Kempowski beachtenswert, denn laut Kempowski gibt es zwei Sorten von Lehrern, und zwar »Kindergartentanten und Rattenfänger«. (Kempowski der Schulmeister 1980, S. 7) Sie unterscheiden sich insofern voneinander, als die Kinder von den Tanten in einer Weise betreut werden, »wie sie es von Natur aus brauchen«, wogegen ein »Rattenfänger mit

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Pädagogisches Handeln lässt sich in der Literatur nicht nur über Klischees darstellen und mit Kontrastierungen schärfen. Vielmehr fordern diese Darstellungsweisen selbst zur kritischen Reflexion heraus. So merkt schon die Autorin Schalansky in einem Interview an, dass Stereotype zwar »total spannend [sind], weil wir alle Versatzstücke davon in uns tragen.«85 Aber von besonderer Bedeutung ist hieran anschließend doch, dass diese ungleichen und extremen Typen zum Nachdenken anregen. Schon der feine Spott, mit dem das Handeln von Fräulein Schlünz bewertet wird, aber auch die derben Invektiven von Lohmark rufen aus rezeptionsästhetischer Sicht doch Reaktionen hervor. Die Überzeichnungen dieser so interpretierten Reflektorfiguren und ihr divergentes pädagogisches Wirken drängen sich dem Leser auf. Sie sind in doppelter Hinsicht anstoßend und lösen mit Blick auf Der Hals der Giraffe nicht nur Empörung aus, sondern provozieren auch Reflexionsprozesse. In diesen Lehrerfiguren ließen sich pädagogische Vorbilder und Negativbeispiele finden – und aus diesem Grund nimmt es so kaum wunder, dass bereits die Literaturwissenschaftlerin Angela Mielke Schalanskys Roman in der Ausbildung von Lehrern einsetzen will. Eine Lektüre von Der Hals der Giraffe, aber auch eine Lektüre der Passagen in Schöne Aussicht, die sich mit Lehrern und pädagogischem Handeln beschäftigen, lässt sich so »zur berufsbiographischen Selbstreflexion«86 heranziehen. Im Anschluss an die Sondierung literarischer Bewertungsstrategien ließe sich das Handeln der Lehrerfiguren auch aus dem Blickwinkel eigener berufsbezogener Vorstellungen und Erwartungen beurteilen. Die Auseinandersetzung mit pädagogischen und didaktischen Positionen, wie sie in den Romanen über die ungleichen Lehrertypen veranschaulicht werden, scheint besonders für die Lehrerausbildung gewinnbringend. Dem reflektierten Handeln wird doch »ein hoher Stellenwert für die Professionalisierung im Lehrerberuf zugeschrieben«87 – sich daher mit fiktiven

der Flöte« (Kempowski der Schulmeister 1980, S. 7) wohl demagogisch agiert. Im Unterschied zum Rattenfänger, der nach dem Volksglauben des Mittelalters zuerst alle Ratten und dann alle Kinder mit einem Flötenspiel aus der Stadt lockt, begleitet die Kindergartentante ihre Schützlinge. Sie geht dem Verständnis Kempowskis nach »rückwärts vor ihnen her« (Kempowski der Schulmeister 1980, S. 7) und orientiert sich in gewisser Weise an ihnen, indem sie sie im Blick behält. Übertragen auf den Schulkontext wird so abermals der Kontrast deutlich, indem Unterricht entweder »vom Lehrer her« oder »vom Kinde aus« (Damiano: Lehrer und Schriftsteller 2005, S. 178) gestaltet sein kann. 85 Sander: Interview. 86 Angela Mielke: »Philosophie hätte ich auch unterrichten könnten«. Judith Schalanskys Der Hals der Giraffe als vielschichtige Spielart eines Bildungsromans. In: Metin Genç/Christof Hamann (Hgg.): Institutionen der Pädagogik. Studien zur Kultur- und Mediengeschichte ihrer ästhetischen Formierungen. Würzburg: Königshausen & Neumann 2016 (Studien im Schnittbereich von Literatur, Kultur und Natur, 14), S 357–391, hier S. 386. 87 Mielke: Philosophie 2016, S. 386.

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Lehrern und ihren Grundeinstellungen auseinanderzusetzen und über Konsequenzen zu reflektieren, die mit diesen Bildungsvorstellungen einhergehen, scheint für Professionalisierungsprozesse lohnenswert.

5 Fazit Fräulein Schlünz ist zwar durchaus als eine weitere Vertreterin der Reformpädagogik dargestellt, aber ihrer Figurenbeschreibung mischen sich daneben Züge bei, die mit dieser Zuordnung nicht widerspruchslos vereinbar sind. Obwohl sie ihren Unterricht nach »der neuen Methode« (SchA 233) aufbaut, ist sie doch ebenfalls als eine Anhängerin der Jugendbewegung und des Ideengutes des späteren Bundes Deutscher Mädel zu deuten. So trägt sie zum Beispiel »eine silberne Brosche mit germanischen Lebensrunen« (SchA 232) und gibt sich daher im Ansatz als nationalistisch gesinnte Figur zu erkennen. Diese einschlägigen Symbole verleihen dem aus der Forschungsliteratur entwickelten Bild einer ausschließlich reformpädagogisch wirksamen Lehrerfigur Risse. Neben diesem Widerspruch konnte auch gezeigt werden, dass der Erzählweise in Kempowskis Schöne Aussicht Bewertungsstrategien inhärent sind, die das reformpädagogische Handeln von Schlünz konterkarieren. Ihre Motivation, mit der sie Ullas kranken Bruder besucht, ist so nicht nur mit feinem Spott versehen, sondern rekurriert auch ausdrücklich auf die Signalwörter der Reformpädagogik. Dass diese Referenz eine satirische Funktion hat und der Erzähler damit in subtiler Weise reformpädagogische Grundsätze karikiert, ist im Vorausgehenden dargelegt worden. In diesem Zusammenhang konnten weitere Bewertungsstrategien sondiert werden: Der Exkurs zu Der Hals der Giraffe hat gezeigt, welche literarischen Strategien (auch heute noch) zur Beschreibung und Bewertung von Lehrerfiguren genutzt werden. Sie sind in Schöne Aussicht bereits angelegt und finden in Schalanskys Schul- und Lehrerroman eine überspitzte Ausgestaltung. Neben ironischen Brechungen laden Kontrast- und Reflektorfiguren auch dazu ein, das eigene Handeln in pädagogischen Kontexten zu hinterfragen. Im Hinblick auf die Potenziale von literarischen Lehrer- und Unterrichtsdarstellungen scheint sich somit ein Quell an Reflexionsmöglichkeiten zu eröffnen, sodass eine (vergleichende) Beschäftigung mit den schulbezogenen Passagen in Schöne Aussicht durchaus lohnenswert ist. Sie geben in spielerischer Verfremdung des Romantitels nicht nur einen schönen Einblick in den Unterrichtsstil des Autors, sondern laden im Vergleich mit anderen Lehrerromanen auch dazu ein, sich mit pädagogischem Handeln auseinanderzusetzen.

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Lutz Hagestedt

»Drinnen löst sich die Ordnung sofort auf« Kleine Kosmologie der Schule in Walter Kempowskis Schöne Aussicht Der Eintritt ins und der Austritt aus dem Universum der Rede und des Wissens, vulgo »Schule« genannt, ist streng reguliert. Grenzen markieren den Außenraum und strukturieren die Innenräume: Die St.-Georg-Schule liegt in der St.-Georgstraße, die genau einen Kilometer lang ist und in den St. Georg-Platz mündet. Sie ist eine von dreizehn Volksschulen in Rostock, eine in roten Ziegeln erbaute Erziehungsburg mit Zinnen und angedeuteten Schießscharten.1

Das Militärische solcher pädagogischen Zwingburgen war dem Kaiserreich habituell und bestimmte noch das Erziehungssystem der Weimarer Republik: Im ersten Stock des Schulgebäudes, an strategischer Stelle, wächst eine Art Bergfried aus der Schulburg heraus, hier liegt das Lehrerzimmer, von dem aus der Hof einzusehen ist, den man mit Mauern und Drahtzäunen von der übrigen Welt abgetrennt hat. (SchA 401)

Aber nicht nur der Pausenhof des Schulgeländes und das Schulgebäude erscheinen als strukturiert, auch die Außenräume erfordern Aufmerksamkeit und weisen Binnenstrukturen auf: Gegenüber ist ein Kaufmannsladen, in dem man Hefte und Bleistifte kaufen kann, auch Lackbilder, Gummiteddys und Nappos. Es gibt immer Kinder, die sich vom Hof stehlen und beim Kaufmann Nappos kaufen, jeden Tag, obwohl das streng verboten ist, Nappos, Salmiakpastillen oder sogar Groschenhefte: Rolf Torring oder Frank Faber: »Das Gespenst im Urwald« und ähnliches, in denen die ganze Unnatur der chaotischen Systemzeit in den neuen Zeiten überdauert. Höchste Eisenbahn, daß der Führer damit aufräumt. (SchA 402)

Mit »den neuen Zeiten« ist hier, im Jahre 1935, der Machtübergang zu Hitler apostrophiert, der von größeren (»neue Gesellschaft«) und kleineren (»neuer Mensch«) Projektionen flankiert wird und der in seinem Dezisionismus auf harte Schnitte im Politischen und Pädagogischen, im Lebensweltlichen und Schulischen vorbereitet: Wo das Neue werden soll, muss das Alte abgetan werden. Auf diesem Sozialdarwinis-

1  Walter Kempowski: Schöne Aussicht. Roman. München: Knaus 1981, S. 401, im Folgenden zitiert mit der Sigle SchA und der entsprechenden Seitenzahl. https://doi.org/10.1515/9783111330938-005

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mus fußte schon von Papens reaktionäre Theorie vom »Neuen Staat«, der antisozial sei,2 und bereitete Hitler den Boden. Und mit dem politischen Kampfbegriff der »chaotischen Systemzeit« ist rhetorisch eine Contradictio in adiecto benannt, die – so meine These – die gesamte dargestellte Welt in Schöne Aussicht charakterisiert: den Gegensatz von Ordnung und Chaos, Autorität und Willkür, Anarchie und Despotie. Zugleich das Ineinanderlaufen und Auseinanderhervorgehen von Grenzziehung und Grenztilgung, von »Ordnungswerk« und den Auflösungstendenzen der »Unnatur« (SchA 402) des Menschen. Mit dem Terminus der Unnatur schleicht sich gewiss auch schon das Artfremde und Entartete, das Undeutsche und Unmännliche in den öffentlichen Diskurs ein – alles Aspekte, die dem hohen Anspruch an den »neuen Menschen« für eine »neue Zeit« nicht gerecht werden. Um diese Welt des Ungesonderten, die neu strukturiert werden muss, ins Bild zu setzen, bietet sich der antike Schöpfungsmythos an, der von einer unbegrenzten Gemengelage unsortierter »Marteria prima« ausgeht, von einem wabernden Urstoff als Nährstoff und Ausgangsstoff quasi des – dereinst! – endlichen und wohlgeordneten Kosmos.

1 Zum Chaoscharakter der Welt Das Chaos, als »Gesamtcharakter der Welt« (Friedrich Nietzsche3) und zugleich als Kraft zur Hervorbringung des Lebens verstanden, bildet die Bedingung der Möglichkeit, Unterscheidungen zu treffen, Strukturen zu etablieren, Entscheidungen zu prozessuieren, Kraftfelder zu bestellen. Als Bild dafür fungieren die reißenden, aber kanalisierbaren Schülerströme: Wenn es schellt, stellen sich die Schüler auf. Jede Klasse für sich, links und rechts vom Eingang, groß und klein. Ist dieses Ordnungswerk getan, was gar nicht so einfach ist, dann schreitet der aufsichtsführende Lehrer die Gasse hinauf und hinunter. Ja, hier gehtʼs mit rechten Dingen zu, diese jungen Menschen kann man zu neuen Erziehungstaten in die Schule einlassen. (SchA 402)

Die Funktion des Gate-keepings, hier auf das »aufsichtsführende« Lehrerkollegium übertragen, wird schlüssig in das Bild einer durchlässigen Grenze gefasst, der es obliegt, den geregelten Übergang zwischen strukturierten Teilräumen zu organisieren:

2  Vgl. Hagen Schulze: Weimar. Deutschland 1917–1933. Berlin: Severin und Siedler 1982, S. 388–389. 3  Vgl. zum Chaoscharakter der Welt Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. Bd. 2. Hg. von Karl Schlechta. München: Hanser 1954. Darin: Die fröhliche Wissenschaft. Drittes Buch. 109. Hüten wir uns!, S. 115–116.

Kleine Kosmologie der Schule in Walter Kempowskis Schöne Aussicht 

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Die Klassen ziehen brav, eine nach der anderen in die Schule ein, aber brav nur die Außentreppe hinauf und durch das Portal hindurch. Drinnen löst sich die Ordnung sofort auf. Hier ist eine Schwachstelle der pädagogischen Aufsicht, die man nicht hat beseitigen können. (SchA 402)

Diese Aufsichtsfunktion der Pädagogik versagt nicht nur an der St.-Georg-Schule, sondern an jeder Bildungsanstalt der Republik und des Reiches: Knaben lassen sich auf Dauer nicht führen. Und an diesem immer schon vorausgesetzten Ungenügen, ja gewissermaßen eingepreisten Scheitern ist nicht etwa das (jeweilige) Kollegium schuld, auch nicht die chaotische Systemzeit oder die fragile Ordnung des ›Dritten Reiches‹, in der der »Führer« erst noch »durchgreifen« muss, sondern dieses Phänomen des sofortigen Zerfalls der Ordnung nach einem Momentum reversibler Stabilität, nach einem schwebenden Augenblick relativen Gleichgewichts sortierter Materie erscheint als nachgerade vorprogrammiert: es ist der Paedagogia perennis inhärent. Entsprechend sind die schulischen Wirkungen (»Lernerfolge«) von pädagogischen Unwägbarkeiten (»Ungreifbarkeit« der Erwartungen und Resultate, bis hin zu »Rückschlägen«) flankiert. Diese wiederholbare Augenblickserfahrung der Destabilisierung gleicht insofern dem Wimpernschlag fragiler Existenzen, die ihren unwahrscheinlichen Istzustand sofort wieder verlieren müssen, »wenn Prozesse von selbst ablaufen«. Das Momentum »ereignet« sich quasi-physikalisch: Wie der zweite Hauptsatz der Thermodynamik besagt, reguliert Energiezufuhr den Zustand im System, wobei sich alle »innere Energie« im Zuge der Aufrechterhaltung von Ordnung »selbst verbraucht«, sodass regulierte Prozessualität auf Dauer nicht möglich ist: verteilt sich Wärmeenergie gleichmäßig auf alle Moleküle, kommt Bewegung zum Erliegen – Erziehung, soziale Kontrolle und schulisch angeregtes Lernen entgleiten der Ordnungsinstanz. Der Schulhof gleicht diesem Zustand entropischer Gleichverteilung von Energie (Stichwort »Normalismus«), wobei – man weiß nicht wie und wodurch – die Gleichgewichtslage verloren geht: Das normale Pausengewimmel regt keinen der Kollegen auf. Erst wenn sich Strudel bilden, ist Aufmerksamkeit geboten. Dann ist zu fragen, wie lange es sich der aufsichtsführende Kollege dort unten wohl noch bieten lassen wird, daß sich auf dem Hof grölende Strudel bilden, in deren Mitte gewöhnlich zwei Jungen übereinanderliegen. (SchA 401)

Diese »spontan-freie« Clusterbildung im Kräftespiel des »Sozialen« ist ebenso unwahrscheinlich wie vorhersehbar.4 Entsprechend haben die regelmäßigen Verklumpungen auf dem Pausenhof, die sich von selbst wieder auflösen oder autoritativ

4  Vgl. dazu Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 157.

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aufgelöst werden müssen, noch jedem Erziehungskonzept seine Grenzen vor Augen geführt: Kollege Fasel fackelt nicht lange, das ist bekannt. Er hat einen »Schacht« im Ärmel, den er herausfahren läßt. Wie mit einem Säbel schlägt er sich eine Gasse in das Knäuel, und die Kämpfenden reißt er an den Ohren auseinander. (SchA 401–402)

Die Wirksamkeit solchen ›pädagogischen Durchgreifens‹ ist weder von großer Dauer noch von bedeutender Effektivität – ihre Effekte verpuffen sofort und zeitigen keine Lernerfolge. Immerhin werden dadurch Unterschiede in der Auffassung des Lehrberufs deutlich, der bei der Erziehung des jungen Menschen ansetzt: Da ist Kollege Hagedorn schon freundlicher. Als moderner Pädagoge schiebt er die Schüler lächelnd zur Seite: »Na, was ist denn hier schon wieder los?« Und dann »zählt« er die beiden Kampfhähne »aus« und hebt ihnen beiden die Hand hoch, zum Zeichen, daß beide gewonnen haben. (SchA 402 – Hervorhebung im Original)

Diese salomonische Gleichverteilung von ›Sieger‹ und ›Sieger‹, die – unabhängig vom tatsächlichen Kampfgeschehen – auf bloßer Entscheidung fußt und weder Ursachenforschung betreibt noch Folgekosten berechnet, erklärt das Schul(hof)geschehen phänomenologisch, zumal eine Thematisierung der Gründe für solche Widrigkeiten nichts bewirken würde: Die Kämpfe würden bei nächster Gelegenheit wiederaufflammen, gleichviel, ob eine Ordnungsmacht – ein aufsichtsführender Lehrer – in der Nähe ist oder nicht. Damit verpuffen aber auch die (erhofften) Effekte pädagogischen Handelns. Treten sie denn niemals ein? Sollten sie jemals eintreffen, wären sie kaum messbar. Pädagogik beschränkt sich daher auf Beobachtung und auf ›punktuelles Einschreiten‹ nach unterschiedlichen ›Rezepturen‹: Gegen die ›alte Schule‹ drakonischer Maßnahmen tritt die Neuerung ›antiautoritärer Erziehung‹ an, wie sie im Zuge der Lebensreformbewegung und erneut seit dem Ende der 1960er Jahre im deutschen Bildungswesen beobachtet werden kann. Die unheimliche pädagogische Kunstfertigkeit des musisch begabten Lehrers, der die Kinder mit magischer Sicherheit schon nach fünf Minuten »hat«, als ob er Gottfried Kellers »schwarzem Geiger« gliche, der weder autoritär noch antiautoritär auftritt, bleibt freilich ohne Erklärungsangebot.5 Wie sich dieser Aufbau und Zerfall von Ordnungen mathematisch beschreiben ließe, hat Benoît B. Mandelbrot demonstriert. Mandelbrot entwickelte die »fraktale

5  Vgl. Gottfried Keller: Romeo und Julia auf dem Dorfe. In: Ders.: Die Leute von Seldwyla. Hg. von Thomas Böning. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1989 (Bibliothek deutscher Klassiker, 43), S. 69–144. Hier besonders S. 133–134.

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Geometrie«, um vorherzubestimmen, wann ein System seine Ordnung verliert und ins Chaos wechselt und vice versa. Er schuf Berechnungsmodelle für dynamische Programme, die sich durch dauernde Veränderung auszeichnen, um Prognosen für emergente Systemzustände zu gewinnen. Nach dem Kausalitätsprinzip und dem Wahrscheinlichkeitspostulat sollte es ermöglicht werden, aufgrund gleicher Ursachen ähnliche Wirkungen zu erzielen. Das liest sich bei Kempowski als Emergenz und Epiphanie: Für die frühstückenden Lehrer oben im Lehrerzimmer, bedeutet der Höllenlärm, daß sie nun wieder hinuntermüssen in den Hexenkessel. Sie richten ihre Gedanken auf das, was kommt, straffen sich und schreiten die Treppe hinunter oder hinauf, je nachdem, um sich in das Gewühl einer Klasse zu stellen und kosmische Ordnung durch bloßes Erscheinen herbeizuführen. Ordnung nicht nur in der Befindlichkeit, sondern auch in dem, was »Überlieferung« heißt und »Zukunft« bedeutet. Sie stellen die methodische Drehscheibe auf »freie Fahrt« und setzen die pädagogische Reise fort, und zwar jeder auf seine Weise. (SchA 403)

Die individuelle »Weise« des Lehrkörpers, »Ordnung« zu stiften, ohne die »freie Fahrt« des dynamischen Systems zu behindern, kann in der Chaostheorie als »Rückkopplung« beschrieben werden – der künftige Status eines Systems hängt damit immer von seinen früheren Zuständen ab: das Chaos einst und das Chaos dereinst werden sich ähneln, und daher lassen sich aus momentanen Ordnungszuständen Erwartungen über den Ordnungszerfall ebenso wie über künftige Ordnungsereignisse ableiten. Übersetzt in den Raum des Schulischen könnte man von Sozialisationsprozessen sprechen, deren Gleichförmigkeit weniger Anteile an Sozialisation als an Prozessualität erkennen lässt: Nietzsches ewige Wiederkehr des Gleichen ist in ähnlicher »Weise« unspezifisch und bedingungslos, gleichwohl vorherbestimmt. Ob und inwieweit Kempowski hier kurrente Pädagogikmodelle aufgreifen und durchspielen wollte, um am Ende ein lapidares »Anything goes« zu behaupten, wissen wir nicht. Wie wir aber aus der sozialen Praxis wissen und aus dem Gesamtzustand des Universums folgern dürfen, erlaubt kein Kausalitätsprinzip die exakte Berechnung früherer oder späterer Zustände relativer Ordnung oder Unordnung, sei es des Pausenhofs im Kleinen, sei es des allumfassenden Alls im Großen und Gewaltigen. So jedenfalls der Mathematiker Henri Poincaré (1903): Wenn die Naturgesetze und der Zustand des Universums zum Anfangszeitpunkt exakt bekannt wären, könnten wir den Zustand dieses Universums zu einem späteren Moment exakt bestimmen.6

6  Vgl. Martin Stahl: Fraktale. Experimente mit mathematischer Grafik: Julia- und Mandelbrotmengen auf dem PC. Würzburg: Vogel 1991 (Software-Edition), S. 11.

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Da diese Voraussetzung jedoch nicht erfüllt ist, kennen wir solche Exaktheit nicht und erscheint uns auch die Applikation eines Wahrscheinlichkeitskalküls als problematisch: Aber selbst wenn es kein Geheimnis in den Naturgesetzen mehr gäbe, so könnten wir die Anfangsbedingungen doch nur annähernd bestimmen. Wenn uns dies ermöglichen würde, die spätere Situation in der gleichen Näherung vorherzusagen – dies ist alles, was wir verlangen –, so würden wir sagen, daß das Phänomen vorhergesagt worden ist und daß es Gesetzmäßigkeiten folgt.7

Als bloße Phänomene aber sind solche ›gesetzten‹ Vorhersehbarkeiten zugleich an Vagheiten geknüpft, aus denen sich keine Gewissheiten über das Ob, Wann und Wo, Wie und Wodurch ableiten lassen. Ähnlich der Wiederholbarkeit von Wetter­ ereignissen unter ähnlichen Bedingungen kann die unterstellte Gleichförmigkeit des Phänomens jedoch strapaziert werden: Aber es ist nicht immer so; es kann vorkommen, daß kleine Abweichungen in den Anfangsbedingungen schließlich große Unterschiede in den Phänomenen erzeugen. Ein kleiner Fehler zu Anfang wird später einen großen Fehler zur Folge haben. Vorhersagen werden unmöglich und wir haben ein zufälliges Ereignis.8

Statistik gerät hier in den Bereich der Stochastik, mit gewisser Tendenz zum Indeterminismus. Durch Werner Heisenbergs These der Unschärferelation wurde Poincaré in seiner prognostischen Skepsis bestätigt: »sie beweist, daß es unmöglich ist, gleichzeitig Ort und Geschwindigkeit eines Elementarteilchens zu bestimmen.«9 Möglich ist es jedoch, Chaos zu beobachten, indem man einfache Ordnungsstrukturen etabliert, die bloß zwei Systemzustände kennen. Wiederum Kempowski: In den Klassenzimmern stehen die groben Holzbänke galeerenartig bereit, jeweils vierzig bis fünfzig Jungen aufzunehmen, die dann in fester Ordnung nebeneinander und hintereinander sitzen, die Hände auf dem Tisch. (SchA 403)

Der binäre Code, der darauf beruht, dass eine Unterscheidung getroffen wurde, wird als Gefahr des Zerfalls dieser »feste[n] Ordnung« sichtbar: Vorn, neben der Tafel, ist ein Holzpodest, auf dem das Katheder steht. Von hier aus hat der Lehrer einen guten Überblick. Er sieht sofort, wenn irgendwo »Dummtüch« gemacht wird. Einfach ist es dann, von hier aus, die Ordnung wiederherzustellen. Der betreffende Störenfried

7  Vgl. Stahl: Fraktale 1991, S. 11. 8  Vgl. Stahl: Fraktale 1991, S. 11. 9  Vgl. Stahl: Fraktale 1991, S. 11.

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kann nach vorn beordert werden, bückt sich und empfängt drei mittelkräftige Stockschläge aufs Gesäß. »Gebärden machen« ist ein Grund oder »fortgesetz[t]es Schwätzen«. In Krisensituationen ermöglichen es zwei Gänge zwischen den Bänken dem Lehrer, den Herd der Unruhe rasch zu erreichen und sie zu ersticken. (SchA 403)

Es ist zwar nicht möglich vorherzusagen, wann und durch wen die etablierte Ordnung gestört werden und wie lange sich das Chaos kontinuieren wird, doch kann es, das Chaos, mithilfe der von Mandelbrot entwickelten fraktalen Geometrie ästhetisch ins Bild gesetzt werden, zumal auch physikalische Prozesse oftmals »fraktaler Natur sind«.10 Eine einfache Formel komplexer Zahlen, die Mandelbrot 1980 entwickelte, macht es möglich: Zn+1 = Zn2 + C.11 Die Indizes n+1 und n in dieser Formel drücken die Rückkopplung aus. Der neue Formelwert errechnet sich immer aus dem alten Wert zum Quadrat plus der Konstante C. Man braucht nur einen Startwert vorzugeben, dann kann man beliebig viele neue Formelwerte errechnen.12

Ein Problem stellt in unserem konkreten Anwendungsfall der geregelten schulischen Unruhe der unbekannte Ausgangswert dar: Reelle Zahlen kann man sich graphisch veranschaulichen, indem man ihnen einen Punkt auf der Zahlengeraden zuordnet. Um dies auch für komplexe Zahlen zu erreichen, bedient man sich wiederum eines Kunstgriffs: man führt sozusagen eine zweite, zur normalen senkrecht stehende, Zahlengerade ein, auf der man die imaginären Zahlen zuordnen kann.13

Spätestens hier gelangt die Übertragbarkeit einer mathematischen Theorie auf eine belletristisch erzählte Motivik an ihre Grenze: Diese beiden Zahlengeraden spannen, wie ein normales Koordinatensystem, eine Ebene auf. Die Ebene der komplexen Zahlen wird allgemein Gaußʼsche Zahlenebene genannt.14

Aus der Anordnung der Zahlenleisten x/y ergibt sich die Anmutung einer Fläche: Grafisch interpretiert, stellt eine komplexe Zahl also einen Punkt in der Ebene dar. Genau dies ist der Grund, warum komplexe Zahlen sich so gut zur Berechnung von Computergrafiken

10  Vgl. Stahl: Fraktale 1991, S. 14. 11  Vgl. Stahl: Fraktale 1991, S. 16. 12  Vgl. Stahl: Fraktale 1991, S. 16. 13  Vgl. Stahl: Fraktale 1991, S. 20. 14  Stahl: Fraktale 1991, S. 20.

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eignen: ein Bildschirmpunkt entspricht einer komplexen Zahl. Man kann die Formel von Mandelbrot also direkt auf jeden einzelnen Bildschirmpunkt anwenden.15

Visualisiert man Mandelbrots Formel, indem man einen »Ausschnitt aus der komplexen Zahlenebene« berechnen lässt, indem man den Parameter C variiert, gewinnt man sogenannte Julia-Grafiken, so benannt zu Ehren des französischen Mathematikers Gaston (Maurice) Julia (1893–1978).16 Sie ähneln den Spiralnebeln, mit denen man uns gern die Entstehung des Universums visualisiert (beispielsweise in einer Animation des Rostocker Darwineums). Das liest sich bei Kempowski wie folgt: Das normale Pausengewimmel regt keinen der Kollegen auf. Erst wenn sich Strudel bilden, ist Aufmerksamkeit geboten. (SchA 401)

Das Phänomen der Aufmerksamkeit richtet sich auf die »grölende[n] Strudel« (SchA  401) der Schülerschaft, auf den »Höllenlärm« im »Hexenkessel« des Pausenhofes  (SchA  403), der im Brudersphären Wettgesang »die methodische Drehscheibe«  (SchA  403) faszinierender Fraktale im Seepferdchen-Modus quasi programmiert und prozessuiert, bevor er wiederum zerfällt. Kempowski beschreibt hier also nicht nur kosmisches Chaos im begrenzten Universum der Schule, sondern quasi auch Mandelbrot-Mengen im Bilde von Julia-Grafiken. Das dürfte ihm freilich nicht bewusst gewesen sein, wozu auch, doch kann die Tatsache an sich als Beleg für die mehrfache Strukturiertheit und Strukturierbarkeit seiner Prosa gelten – sie erlaubt Lesarten, die der Autor nicht bedacht haben kann, ist geradezu überdeterminiert und spiegelt im Kleinen das Großeganze wider. Entsprechend gleichen die Schüler, wenn sie in der Menge beobachtet werden, den Elementarteilchen – sie haben keine Individualität und bleiben, wie der kleine Robert, ohne Erinnerung an den Schul[all]tag, den sie mit ausfüllen, ohne sich zu exponieren: Robert »ist still mit den anderen und laut mit den anderen«. (SchA 408) Das gleicht, aus der Perspektive des Beobachters, bspw. eines Lehrers, einem »Gewimmel« (SchA 426) von Kindern, die »unberechenbar in ihren Aktionen« (SchA 426) sind und den Lehrer »umtrauben«: Wenn das Chaos ausbricht, dann stellt sich Herr Jonas an die Tafel und beginnt irgend etwas zu zeichnen, einen Baum mit braunem Stamm und grünen Blättern etwa, blaues Wasser, in dem Fische sichtbar herumschwimmen, und nun? (SchA 427)

15  Stahl: Fraktale 1991, S. 21. 16  Vgl. Stahl: Fraktale 1991, S. 16 und 24–25.

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Der Blick des Lehrers auf die Schüler wird im Roman des Öfteren thematisiert: »Wo er hinguckt, guckt er hin.« (SchA 428) Lehrer Heistermann beispielsweise schwebt wie ein Schöpfergott »über« dem Chaos (SchA  331–339, 346–348, 365–367). Zwar steht er nur einer »kleinen Schule« (SchA 331) vor, doch die gleicht einem Heiligtum: Ein einziges Mal hat man ihn während der Ferien in seiner Schulklasse gesehen. Er hat den rostigen Schlüssel umgedreht im rostigen Schloß und ist hineingeschritten in seine Wirkungsstätte, hat den Schrank geöffnet und ein Tintenfaß herausgenommen. Dann hat er die beiden Kleinen gesehen, die in der Tür standen, hat ihnen ein Stück Kreide gegeben und hat wortlos auf die Tafel gewiesen, die man herunterziehen kann. Das war dann ein schöner Tag geworden für die zwei. Ein Haus malten sie mit Zaun und Garten, mit zwei Fenstern und einer Tür.

Der Idylle freilich droht die Vertreibung aus dem Paradies: Das war ein stilles, munteres Tun, und es dauerte an, bis die Großen kamen und über die Bänke sprangen und Tinte tranken, weshalb dann auch binnen kurzem Heistermann erschienen war. »Na??« hatte er gesagt, und die Kinder waren hinausgestoben. Der Schlüssel war in das Schlüsselloch gesteckt worden, das Himmelreich für immer zu verschließen. (SchA 347–348)

Wie Gottvater selbst sitzt Heistermann zumeist auf seinem »Wachstuchsofa« (SchA 338): Wenn einer was erzählt, dann guckt er quer durchs Zimmer. So ist das ja nun nicht, daß er »da über« nicht Bescheid weiß, sagt er, und: Das will er ihnen nun erklären, ganz genau. (SchA 338)

Heistermann kann den Weltenlauf anhalten: Manchmal wird im Heu getobt, hineinspringen, aufeinander draufspringen. Die Kinder balgen sich, Ulla mit Reinhard, der Lütte mit Trudi oder alle durcheinander, bis der behäbige Herr Heistermann die Stiege heraufkommt, mit rotem Kopf, die Brille auf der Stirn und die offne Zeitung in der Hand, und: »Na??« ruft. Das genügt. Dann ist keiner auf dem Dachboden, die Griffe lösen sich, die Zeit steht still. (SchA 346)

Der allwissende Heistermann überblickt auch alles – vom Sofa aus kann er das ganze Zimmer übersehen, und er kann hören, was im Hause vor sich geht.  (Vgl. SchA 346) Und er besitzt unbegrenzte Autorität, denn beim »dicken Herrn Heistermann« wird noch geprügelt: Draußen in der Küche steigert sich unterdessen ein merkwürdiger Lärm, ein Tumult von unartikulierten Lauten. Tina scheint es zu sein, die da Schwierigkeiten hat mit ihrer Seele. Herr Heistermann steht auf und geht hinaus, worauf der Lärm in der Küche jäh anschwillt und dann aufhört. Heistermann aber hat ein rotes Gesicht, als er zurückkommt, und den Gürtel tütert er sich wieder in die Hose. (SchA 367)

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Der strafende Gott in Gestalt eines Dorfschullehrers schimpft auf die Freimaurer, die Juden und die Kommunisten, die seines Glaubens nicht sind und ihn auch nicht anerkennen. Heistermann glaubt an eine »Verschwörung finsterer Mächte«: »überall haben die ihre Fäden drin!«  (SchA  367) Selbst noch als Organist gleicht Heistermann dem mächtigen Schöpfer der Ehren: Oben auf der Orgel spielt Herr Heistermann sein schönstes Orgelvorspiel auf den schönsten Registern. So ist das ja nicht, daß er das nicht kann? Orgelspielen? Links und rechts über den Pfeifen sind zwei Engel angebracht, in holzgeschnitzten Wolken sitzend, Posaune blasend, und dazwischen spielt Heistermann mit seiner blanken Glatze das Orgelvorspiel, das in F-Dur steht. (SchA 369)

Die Orgel, als Königin unter allen Instrumenten, ermöglicht es dem Organisten, das Gotteslob mit Händen und Füßen zu erspielen und unter das Kirchendach zu tragen – und der allmächtige Heistermann wechselt flux das Register: Weil der Choral, den die Gemeinde gleich danach singen soll, in G-Dur steht, muß er aus dem Schlußakkord seines Vorspiels hinüberglitschen in diese Tonart, so will es das Gesetz, doch das ist kein Problem. (SchA 369)

2 Pädagogik als Erziehungskonzept Kempowskis Pädagogik ist mit einem doppelten Fokus begabt, der sich zum einen vom Lehrer auf die Schüler richtet (intern fokalisiert), und der zum anderen vom Pädagogen aufs Kollegium zielt. Pädagogische Kommunikationen mit Kindern erfolgen hier grundsätzlich mit ungewissem Ausgang: Alles, was »streng verboten ist«  (SchA 402), wird regelmäßig übertreten; der »ganze[n] Unnatur der chaotischen Systemzeit« entspricht ein schulisches Wahnsystem mit der »Schwachstelle der pädagogischen Aufsicht, die man nicht hat beseitigen können«  (SchA 402). Pausenhof und Atrium gleichen einem »Hexenkessel«: mit »gewaltiger Stimme« überschreit der Pädagoge den »Höllenlärm« der Kinder. (SchA 403) Wie dort Unterrichten als »intentionale Tätigkeit«17 zum Erfolg führen soll, wo angesichts solcher Wirrungen ein Klima des Lernens geschaffen werden kann, ist fraglich und wohl unterschiedlich zu beantworten. Wenn Lehrer Jonas sich diesem Tanz auf dem Vulkan nähert, den »hirnzerstörenden Lärm« auf sich wirken lässt und dann die anbrandenden Kinder erzählen lässt, was sie »loswerden« müssen,

17  Vgl. Niklas  Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Hg. von Dieter  Lenzen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 15.

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dann ist seine ganze Unterrichtsplanung »zum Teufel«.  (SchA 409) Das luziferische Prinzip der Verdunkelung der Vernunft, der Abfall der kleinen Engel, vulgo Kinder, ihre Heimkehr in den Schoß der Schule, der andachtsvolle Moment, wenn Lehrer  Jonas inmitten seiner Kinderschar sitzt und erzählt – alldas gehört zum pädagogischen Geheimnis der Offenbarung, und es gleicht dem Pfingstwunder, bei dem ein jeder zur Rede begabt ist, sogar der gehemmte Lehrer selbst: »Wenn das Berichten [der Kinder] endlich abebbt – es ist manchmal schwer zu stoppen –, dann fängt er plötzlich an zu sprechen, und er hört sich selber zu.« (SchA 409) Diesem Anheben der Rede und diesem Anfang allen Unterrichtens wohnt ein Zauber inne, der nichts mit rhetorischer Technik und praktisch-angelerntem Vermögen zu tun hat, sondern sich – wie der heilige  Geist quasi – unvorbereitet über den Sprecher ergießt: Wenn Herr  Jonas dann fertig ist mit seiner Geschichte  – die ihm manchmal gar nicht glückt –, dann sagt er: »So, und nun kommt das Lernen.« (SchA 410) Die Kinder sind jetzt aufnahmebereit, »und was er ihnen eigentlich kunstvoll beibringen wollte«, das »verstehen [sie] auch ohne Methode.« (SchA 410) Die Wahl des Namens Jonas dürfte kein Zufall sein, denn die Schule gleicht dem Bauch eines Wales, dem Leviathan, einem Moloch. Jonas wird eingesogen und ausgespuckt, ganz ähnlich wie sein biblischer Schicksalsgefährte oder sein späteres Alter ego Matthias Jänicke, welches den Staat in Kriegs- und Nachkriegszeit erlebt und das der Hölle ins Maul geschaut hat: »They asked for it and they got it.«18 Mittlerweile hat sich der gewaltige Sturm gelegt, von dem die Geschichte des kleinen Propheten Jona erzählt, der von den Schiffern ins Meer geworfen und von einem »großen Fisch« verschlungen worden war, und dessen Martyrium mit Tod und Auferstehung Christi verglichen wird. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Kempowski im Jahr nach seiner Haftentlassung eine Romanidee entwickelte, die auf diesen Stoff verwies: »Jonas flieht Gott«.19 Wie Jona, der mit seiner Aufgabe hadert, findet auch Jonas zur Erlösung, und zwar durch tätige Erziehung, die unbemerkt und fast wie beiläufig erfolgt. Erziehung hat es, als Auswirkung auf verschiedene Kinder, mit Einzelbewusstseinen zu tun. Ob sie und wie die Lehrkräfte das jeweilige Kind erreichen, das erzogen werden soll, und wie und was das kindliche Bewusstsein von dem zurückspiegelt, was es als Auswirkung der pädagogischen Bezugnahme erlebt und erfährt, bleibt oftmals intransparent. Sei es, dass der Erfolg oder Misserfolg von

18  Vgl. Arno Schmidt: Leviathan oder Die beste der Welten. In ders.: Leviathan. Karlsruhe: Stahlberg 1949, S. 43–76, hier S. 45. 19  Vgl. Walter Kempowski: Wenn das man gut geht! Aufzeichnungen 1956–1970. Hg. von Dirk Hempel. München: Knaus 2012, S. 138 (November 1957).

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der Planbarkeit der Erziehung nicht gemessen werden kann, sei es, dass der Pädagogik Grenzen gesetzt sind, und sei es, dass sich psychologische Systeme in Teilen oder in Gänze indolent verhalten, wenn auf sie eingewirkt werden soll, oder sei es, dass sich Erziehung und Pädagogik selber Grenzen setzen, wenn sie sich auf das Kind einzustellen suchen – der Offenheit und Vielfalt der ›Systemzeit‹ als einem Zeitfenster neuer, unerprobter Ordnungen entspricht die Offenheit und Vielfalt der neuen, zeitgenössischen Pädagogik, die sich von der Perspektive des Erziehers auf die Perspektive des Kindes umzustellen beginnt. Die politischen wie die pädagogischen Experimentierfelder gleichen sich darin, dass sie quasi am offenen Herzen operieren und direkt auf den Menschen zugreifen möchten. Da man aber weder mit dem einen noch mit dem anderen Erfahrung sammeln konnte, ist die Gefahr des Scheiterns hier wie dort groß. Lässt sich der Mensch zur demokratischen Teilhabe erziehen, und lässt sich das Erziehungssystem auf die Bedürfnisse des demokratischen Staates umstellen? Die Überzeugung, der zufolge autoritative politische Ordnungen auch einen autoritären Erziehungsstil pflegen, lässt sich nicht von der Hand weisen. Ebenso die Mutmaßung nicht, dass liberale Verhältnisse im Staat auch ein liberales Erziehungssystem zur Folge haben müssen, das vom Kinde her denkt, dessen Bedürfnisse in den Vordergrund stellt, ein Belohnungssystem entwickelt und von Strafen weitgehend absieht. Kempowskis Plädoyer für ein »freischaffendes Lernen in offener Behaustheit«20 wird am ehesten von Lehrer Hagedorn verwirklicht. Sein pädagogisches Geheimnis kennt man nicht – er kommt, scheintʼs, ganz ohne Lehrmethode aus, ist aber immer gut vorbereitet. Er gleicht dem Katalysator, der unverändert aus der Kettenreaktion hervorgeht, die er beschleunigt hat – er wird später weder vermisst noch erinnert werden: »Geblieben ist nur ein Bild vager Freundlichkeit, ein lichtes, leichtes Bild ohne Kontur«. (SchA 405)

3 Milieu- und Charakterstudien Kempowskis Schülerschaft repräsentiert unterschiedliche Milieus: »Manfred wohnt in einem stillen, feinen Haus«. (SchA 411) Besuchen darf er seinen Mitschüler Walter nicht, solange dessen Herkommen ungeklärt ist: »Wir müssen erst mal wissen, was das für Leute sind«, sagt Manfreds Mutter, »die einmal Krankenschwester war« und

20  Walter Kempowski: Heile Welt. Roman. München: Knaus 1998, S. 10.

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nun mit einem Artillerieoffizier verheiratet und damit augenscheinlich sozial aufgestiegen ist. (SchA 411) Da sind doch die Kempowskis ein anderer Schnack, sollte man meinen – sie sind von Familie! Allerdings in einer Mietwohnung lebend, statt in einer Villa am Schillerplatz, wie es ihrem Rang und Status entspräche: »So geht der kleine Herr den Rest des Weges allein«. (SchA 411) Bei Walter mendelt sich, wie zuvor schon bei Robert, das Kempowski-Gen heraus, die Hände hinter dem Rücken zu verschränken. Allerliebst sieht das aus und ruft bei den Erwachsenen Entzücken hervor. (SchA 411–412, 415) Der Schüler Dollinger hingegen, der »in Turnschuhen zur Schule kommt«, demonstriert schon durch sein Kleidungsverhalten, daß er nicht in die besseren Kreise gehört, zumal er »gelegentlich mit einer Gummischleuder Krampen verschießt«. (SchA 411) Zu zweit muss man sich gegen diesen Rabauken wappnen. Schon die Kinder lernen, in der Klasse Milieustudien zu treiben. Am »ersten Schultag« haben die Mütter ihre Bälger bis vor das Klassenzimmer gebracht – von Ausnahmen abgesehen: Die Kinder drücken sich zu sechst in eine Bank, und hinten ist noch alles frei, achtundvierzig Jungen sind es, fein herausgeputzt. Die armen Kinder am feinsten, außer den ganz armen, die aus Haus ELIM hierhergeschickt wurden, dem städtischen Waisenhaus. Drei sind es: Sie tragen graugewaschene Einheitskleidung, und das Haar hat man ihnen geschoren. Keine Mutter will, daß ihr Junge neben den drei Waisen sitzt, von denen der eine gar Speichel am Mund hängen hat. (SchA 406)

Die Pädagogik muss von solchen Bedenken absehen und sich vor solcher Reserviertheit hüten – aber kann sie das? Kann sie eine Gleichbehandlung aller gewährleisten, eine Gleichverteilung der knappen Ressourcen Aufmerksamkeit und Zuwendung? Das kann ja nicht einmal der Erzähler: Während unten über den Hof Mütter gehen, zu zweit, zu dritt, die sich Sorgen machen, ob man sein Kind wohl diesem Lehrer anvertrauen kann, sitzt Lehrer  Jonas auf dem Katheder und sieht mal hierhin und mal dorthin. Vor sich hat er das Klassenbuch, in das er jetzt einschreibt: »Zuckertüten kneten«. Dann faltet er die Hände unterm Kinn[,] denkt an einen schönen Sommerabend auf dem Lande und guckt sich die Kinder an, noch nie hat er solche menschlichen Wesen gesehen. Robuste Kerle sind darunter, mit schweren Gliedmaßen, auch stille, feine, blasse. Einer hat fuchsrote Haare und sehr schöne Wellen in den fuchsroten Haaren. Eine gewürfelte Jacke trägt er, mit Hornknöpfen, und er macht zierliche Gesten mit seinen feinen Händen. (SchA 407)

Da hat sich der Blick schon verfangen, an Manfred, dem Sohn des ebenfalls »rothaarigen« Artillerieoffiziers (SchA 411), dessen Mutter gesellschaftlich reüssieren konnte. Die sozialstrukturellen Verbesserungen, die sich am Phänotyp ablesen lassen, können jedoch nicht verallgemeinert werden.

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Als Besonderheit von Schöne Aussicht darf gelten, dass Kempowski konsequent die Perspektive von Kindern und Erwachsenen einnimmt. Dies wird etwa im Rahmen der Familie deutlich, aber auch in Schulsituationen, in Nachbarschaftsverhältnissen oder bei der ›organisierten‹ Jugend, mit der im Nationalsozialismus neue Strukturen der Inanspruchnahme des Kindes durch den Staat etabliert werden. Denn so, wie sich die Republik neue Möglichkeiten politischer Teilhabe geschaffen hat, so hat sich auch das Erziehungssystem gegenüber seinem Medium, dem Kinde, geöffnet. Kempowski demonstriert uns, wie neue Methoden, darunter die Fröbelpädagogik mit ihrem genormten Spielzeug, die Erziehung des Kindes zu revolutionieren suchen. Das Kind »anregen von allen Seiten«, lautet die neue pädagogische Losung, »so gut es nur geht«. (SchA 163) Doch dieses Ansinnen erweist sich – mitunter oder generell, je nach Sichtweise – als »krasser Fehlschlag« und demonstriert das Scheitern wohlgemeinter »Anschauungsmittel«: Das Kind entzieht sich in seiner Autonomie den Zumutungen dieser »Lehrapparate«. (SchA 151) Nicht alles, was vom Erwachsenen her erdacht wird, hat demnach beim Kinde Erfolg. Und nicht alles, was vom Kinde her Erfolg verspricht, kommt bei Erwachsenen gut an: Rezepte helfen nur, solange sie helfen. (Vgl. SchA 145) Erziehung trägt damit Glücken und Scheitern in sich, beides gehört im Sinne struktureller Koppelung zu ihrem Wesenskern. Wo Kinder als eigenständige Wesen wahrgenommen werden, sind sie der Überraschungen voll: »Ursula: das ›Bärlein‹. Sonst doch immer so störrisch und sonderbar, und nun auf einmal so liebevoll und freundlich!« (SchA 244) Kinder bleiben »unberechenbar in ihren Aktionen« (SchA 426), Charaktereigenschaften werden deutlich. In gewisser Weise kann Schöne Aussicht als liebevolles Robert-Porträt gelesen werden: dieser feine Mann in seiner überlegsamen Art, »die Hände hat er auf dem Rücken« (SchA 157), der bei Groß und Klein, Mensch und Tier gleichermaßen beliebt ist, besticht durch seine Beobachtungsgabe. Seine Aufmerksamkeit gilt dem Verständnis der Welt, lange, bevor er sprechen kann – oder spricht: der »schweigsame Junge« (SchA 164), der kleine Mann Mose in seinem Korbe (SchA 146, 157) mit seinem »breiten Mund«, der Schlafträume träumt (SchA  243), irritiert seine Umgebung mit seinem altväterlichen Gebaren, das in keiner Weise dem Konzept der Kindheit entspricht. »Altklug« hätte man ihn früher vielleicht genannt. Aus der Gesamtschau der Perspektiven wird ein »fraktales Bauprinzip« der »Darstellungsweise« erkennbar, in der sich Ordnung und Chaos sinnvoll aufeinander beziehen lassen: »Das Werk von Walter Kempowski ist dafür ein Musterfall.«21

21 Hans-Werner Eroms: Sprache. In: Carla A. Damiano/Andreas Grünes/Sascha Feuchert (Hgg.): Walter-Kempowski-Handbuch. Berlin/Boston: De Gruyter 2020 (de Gruyter reference), S. 344–355, hier S. 352.

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Literaturverzeichnis Eroms, Hans-Werner: Sprache. In: Carla A. Damiano/Andreas Grünes/Sascha Feuchert (Hgg.): WalterKempowski-Handbuch. Berlin/Boston: De Gruyter 2020 (de Gruyter reference), S. 344–355. Keller, Gottfried: Romeo und Julia auf dem Dorfe. In: Ders.: Die Leute von Seldwyla. Hg. von Thomas Böning. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1989 (Bibliothek deutscher Klassiker, 43), S. 69–144 Kempowski, Walter: Heile Welt. Roman. München: Knaus 1998. Kempowski, Walter: Schöne Aussicht. Roman. München: Knaus 1981. Kempowski, Walter: Wenn das man gut geht! Aufzeichnungen 1956–1970. Hg. von Dirk Hempel. München: Knaus 2012. Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996. Lotman, Jurij M.: Von der Größe der Entropie in den künstlerischen Sprachen des Autors und des Lesers. In: Ders.: Die Struktur literarischer Texte. Deutsch von Harald Keil. München: Fink 1972 (UTB, 103), S. 46–54. Luhmann, Niklas: Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Hg. von Dieter Lenzen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002. Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden. Bd. 2. Hg. von Karl Schlechta. München: Hanser 1954. Schmidt, Arno: Leviathan oder Die beste der Welten. In: Ders.: Leviathan. Karlsruhe: Stahlberg 1949, S. 43–76 Schulze, Hagen: Weimar. Deutschland 1917–1933. Berlin: Severin und Siedler 1982. Stahl, Martin: Fraktale. Experimente mit mathematischer Grafik: Julia- und Mandelbrotmengen auf dem PC. Würzburg: Vogel 1991 (Software-Edition).

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Gemischte Temperaturen Männlichkeit und Bürgertum in Walter Kempowskis Schöne Aussicht und Tadellöser & Wolff Walter Kempowskis Schöne Aussicht (1981) schließt mit einem Epilog. Karl Kempowski, Vater des Autors und zentraler Protagonist des Romans,1 kommt mit den »alten Kameraden vom Regiment 210«2 zusammen – mit Veteranen des Ersten Weltkrieges also, die beim exzessiven Biertrinken begrüßen, dass eine »neue Zeit angebrochen ist, endlich.« (SchA 537) An seinem Schluss ist Kempowskis Roman bereits tief in den 1930er Jahren und damit im Herrschaftsraum des nationalsozialistischen Regimes angekommen. Zu Veteranen in den alten Uniformen aus der Kaiserzeit, die noch nicht von »Motten« zerfressen worden sind, gesellen sich Männer, »die bereits die neue Uniform tragen« (SchA 535), und auf der Bühne wird mit Freude bekundet, »daß Deutschland jetzt so einen tüchtigen, tatkräftigen Führer hat, [...] der all den lasziven Elementen Beine macht, Kommunisten und Juden und dem ganzen Gesocks.« (SchA 538) Die Veteranen freuen sich über eine ›schöne Aussicht‹ für das Deutsche Reich, denn mit der nationalsozialistischen Machtübernahme ist der Weg zur Remilitarisierung und damit die Rückkehr »zur großen Armee« (SchA 537) geebnet. Nun eröffnet die Schlusssequenz, die paratextuell ja besonders als solche markiert ist und damit dem Romanende eine gewisse Deutungssteuerung einräumt, verschiedene Lesarten. Sicherlich findet sich hier der jetzt unhinterfragte Herrschaftsanspruch der Nationalsozialisten auch in den Kreisen kaisertreuer, distinktions­bewusster Bürgerlicher pointiert. Selbst Karl Kempowski, der »Hakenkreuzler« zuvor vor allem für »Prolet[en]« (SchA 164) gehalten hatte, überwindet spätestens hier die meisten Fraternisierungsbedenken mit dem neuen Regime. Gleichzeitig ist dieser Herrschaftsanspruch für Karl Kempowski mit einer gewissen Ambivalenz verbunden, besteht seine ›schöne Aussicht‹ doch in einer neuen Wohnung, die ihm der Fabrikant Dr. Krause offeriert und die der »Familie eine neue, schöne Perspektive« (SchA 540) bietet. Diese Ambivalenz – eine ohne offenen

1  Laut Anna Brixa steht der Roman »im Dienste der Erinnerung an den Vater.« Anna Brixa: Vater. In: Carla A. Damiano/Andreas Grünes/Sascha Feuchert (Hgg.): Walter-Kempowski-Handbuch. Berlin/ Boston: De Gruyter 2020 (de Gruyter reference), S. 355–369, hier S. 358. 2  Walter Kempowski: Schöne Aussicht. München: Penguin 2019, S. 535, im Folgenden zitiert mit der Sigle SchA und der entsprechenden Seitenzahl. https://doi.org/10.1515/9783111330938-006

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Widerspruch bleibende Annäherung an den Nationalsozialismus, die sich gleichzeitig leidenschaftslos ausnimmt, weil vor allem familiäre Interessen im Vordergrund stehen – deutet auf jene ›Poetik der Mitte‹ hin, von der in einem gleichnamigen Sammelband die Rede ist. Es geht um einen Vertreter des Bürgertums, der dem Regime zwar nicht ideologisch verbunden ist, aber doch ohne große Widerständigkeit oder Zweifel zum Mitläufer wird.3 Eine weitere Lesart des Romanendes erschließt sich mit Blick auf die Binnenstruktur der Versammlung – sind die Anwesenden in der Rostocker ›Tonhalle‹ doch ausnahmslos männlichen Geschlechts. Keine triviale Erkenntnis, denn die exklusive Männerrunde verkörpert eine spezifische und besonders intensive Form des Mannseins: die des Soldaten. Aus Sicht einer gendersensitiven Perspektive unterstreicht der Epilog nochmals ausdrücklich, was sich im Text bereits abgezeichnet hatte: die Revitalisierung einer hegemonialen Männlichkeit, die den Mann primär als Soldaten konzipiert. Am Ende des Romans sind die Zeichen für diese Renaissance ubiquitär: Sei es die militärische Aufbruchstimmung der Veteranen, die zelebrierte Einheit von ›alter‹ und ›neuer‹ Armee oder die stete Bezugnahme auf vestimentäre Codes militärischer Uniformen. Damit pointiert der Text – so die Annahme – vor allem eine Entwicklung auf der Figurenebene. Es ist Karl Kempowski, der sich auf dem Veteranentreffen wieder explizit in soldatischen Kreisen bewegt und das entsprechende Identitätsmodell assimiliert. Das ist deshalb bemerkenswert, weil in den 1920er Jahren von Schöne Aussicht ein liberalerer Geist herrschte. Das Soldatentum ist im Interbellum zwar ein relevanter Faktor, aber dennoch als primäre maskuline Identifikationsgröße wenigstens in Ansätzen fragwürdig geworden. Die im NS-Staat verbrämte »Systemzeit« der Weimarer Republik hatte für Karl Kempowski Alternativen zur soldatischen Männlichkeit geboten. Alternativen, die andeuten, dass die oben skizzierte Ambivalenz in Kempowskis Schreiben dessen Romanen auch in Fragen der Männlichkeit zu eigen ist. Dem möchte dieser Beitrag nachgehen. Zuerst wird auf der Figurenebene von Schöne Aussicht eine Bewegung nachgezeichnet, die Karl Kempowskis vorsichtige Transgression bei anschließender Wiederannäherung an die hegemoniale Männlichkeit des Soldaten kennzeichnet. Dabei lässt sich zeigen, dass Kempowskis Roman einen durchaus bewussten Umgang mit der Brüchigkeit dominanter Männlichkeitsentwürfe pflegt (I). Die Ausführungen zu Schöne Aussicht sollen um Aspekte aus Kempowskis Erfolgsroman Tadellöser & Wolff (1971) ergänzt werden. Im Fokus stehen dabei ebenfalls Überschreitungen

3  Vgl. Tom Kindt/Marcel Lepper/Kai Sina: Niemals über den Menschen hinaus. Zur Einführung. In: dies. (Hgg.): Poetik der Mitte. Walter Kempowski im literatur- und ideengeschichtlichen Kontext. Göttingen: Wallstein 2022, S. 13–24, hier S. 16.

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dominanter Männlichkeitskonventionen, die somit auch im Nationalsozialismus manifest sind (II). Die Untersuchungen werden mit einigen zusammenfassenden Gedanken schließen, die Männlichkeit vor dem Hintergrund der Konzeption des Bürgertums in Kempowskis Romanen reflektieren (III). Ambivalente Männlichkeiten – mit diesem Programm verfolgt der Beitrag eine andere Herangehensweise an Schöne Aussicht als dessen erste, wenig wohlwollende Rezensionen, die den Text an der ›angemessenen‹ Behandlung des NS-Faschismus mittels einer vermeintlich naiven Inszenierung familiärer Eintracht scheitern sahen.4 Kempowskis Prosa nimmt sich deutlich komplexer und vielschichtiger aus, als es diese Verdikte vermuten lassen. An subversiven, gar kritischen Momenten fehlt es gewiss nicht.

I Der Epilog von Schöne Aussicht markiert also den erneuerten Geltungsanspruch einer hegemonialen Männlichkeit, die den idealen Mann im Soldatentum verwirklicht sieht. Was ist damit gemeint? Das Konzept der hegemonialen Männlichkeit geht auf die Soziologin Raewyn Connell zurück und ist im Kontext der kritischen Männlichkeitsforschung als Sujet der gender studies zu verorten. Da Geschlecht im Modus des doing gender als kulturelle und dadurch fluide Einheit hervorgebracht wird, ist jedes gender – also auch der ›Mann‹ – eine plurale Kategorie. Im gesellschaftlichen Raum zirkulieren verschiedene Männlichkeitsentwürfe, die dort miteinander um Deutungshoheit konkurrieren. Hegemonial ist derjenige Männlichkeitsentwurf, so Connell, der im Binnenverhältnis der verschiedenen Männlichkeitstypen, und in der patriarchalen Welt damit auch im Geschlechterverhältnis schlechthin, die Permanenz der androzentrischen Weltordnungen derzeit am besten garantiert.5 In der Regel orientieren sich Männer in ihrer geschlechtlichen Identitätsbildung an diesem dominanten Idealbild, das als überdeterminierte Konstruktion in der Realität gar nicht einzulösen ist.6 Wie sich zeigen wird, korrespondiert das remilitarisierte Romanende von Schöne Aussicht mit der Figurenentwicklung Karl Kempowskis und dessen Re-Entry

4  Vgl. Friederike Reents: Schöne Aussicht. Roman. In: Damiano/Grünes/Feuchert: Walter-Kempowski-Handbuch 2020, S. 48–50, hier S. 48–49. 5  Vgl. Raewyn Connell: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeit. Wiesbaden: Springer 2015 (Geschlecht & Gesellschaft, 8), S. 130. 6  Vgl. Michael Meuser: Geschlecht und Männlichkeit. Soziologische Theorie und kulturelle Deutungsmuster. Wiesbaden: VS Verlag 2010, S. 101.

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in die soldatische Männlichkeit. Gleichzeitig literarisiert der Text hier ein historisches Dispositiv: Das Soldatentum ist das dominante maskuline Idealbild, also die hegemoniale Männlichkeit des NS-Regimes.7 Bereits im wilhelminischen Kaiserreich sind Militär und soldatische Disziplin die wesentlichen Parameter, nach denen sich das Männlichkeitsideal um die Jahrhundertwende bis hin zum Ersten Weltkrieg formiert.8 Schöne Aussicht setzt nach dem Ersten Weltkrieg und damit zwischen diesen bellizistischen Blöcken ein und zeichnet ein ambivalenteres Bild. Die Zeit des Interbellum in den 1920er Jahren bewegt sich zwischen der vorsichtigen Öffnung von geschlechtlichen Identitätsspielräumen und der fortdauernden Relevanz der soldatisch-hegemonialen Männlichkeit, deren Spuren in Schöne Aus­ sicht an vielen Stellen evident sind. Paradigmatisch liest sich in diesem Zusammenhang eine Passage zu Beginn des Textes, die gleichzeitig die reflexive Kapazität von Kempowskis Prosa zu illustrieren vermag. Im Buchladen erhält Grethe Kempowski Empfehlungen des Buchhändlers Reimers: Keine dieser politischen Broschüren wird er Grethe empfehlen, nach denen Karl immer greift, vom Schandfrieden und vom Dolchstoß: daß die ruhmreiche deutsche Armee noch völlig intakt war und plötzlich zurückmarschieren mußte, nicht die Abrechnung der Frontsoldaten mit den Etappenhengsten, nicht die hetzerischen Schriften minderer Leute gegen Offiziere und Krieg überhaupt. Nein, etwas Schönes sucht Herr Reimers heraus, etwas Erhebendes, von Blütensträuchern und von Schmetterlingen, daß die Blütensträucher über den Zaun hängen und Schmetterlinge im Sonnenglast darüber hingaukeln, und Herr Reimers, der im Krieg wegen eines Hüftleidens vom Militärdienst befreit war, weiß immer sofort, wo das zu finden ist. (SchA 30)

Karl Kempowski greift bei der Lektüre ohne Ausnahme (»immer«) zu solchen Texten, die im national-propagandistischen Ton eine Auseinandersetzung mit der Weltkriegsniederlage suchen, die – vermittelt über den Mythos eines »Dolchstoßes«  –

7  Vgl. Anette Dietrich/Ljiljana Heise: Perspektiven einer kritischen Männlichkeitenforschung zum Nationalsozialismus. Eine theoretische und pädagogische Annäherung. In: Dies. (Hgg.): Männlichkeitskonstruktionen im Nationalsozialismus. Formen, Funktionen und Wirkungsmacht von Geschlechterkonstruktionen im Nationalsozialismus und ihre Reflexion in der pädagogischen Praxis. Frankfurt/M.: Peter Lang 2013 (Zivilisation & Geschichte, 18), S. 7–36, hier S. 8. – Das Ideologem und Idealbild des soldatischen Mannes darf nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass sich die Realität in den gelebten Männlichkeitsentwürfen der NS-Zeit weitaus diverser dargestellt hat. 8  Der Bellizismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts hat in ganz Europa, aber gerade im deutschen Reich, zu einem Erstarken soldatischer Männlichkeiten geführt. Vgl. dazu Gregor Schuhen: Crisis? What Crisis? Männlichkeiten um 1900. Eine Einleitung. In: Ders. (Hg.): Der verfasste Mann. Männlichkeiten in der Literatur und Kultur um 1900. Bielefeld: transcript 2014 (Lettre), S. 7–18, hier S. 11. – Aber auch hier gilt: Die Lebensrealität im Kaiserreich ist komplexer und das Soldatentum nicht die einzige Expressionsform des Mannseins.

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gesichtswahrend für den unterlegenen soldatischen Mann ausfällt. Gleichzeitig ist die weibliche Sphäre vom Kriegerischen säuberlich geschieden und in einer überzeichneten und stereotypen Welt »von Blütensträuchern und von Schmetterlingen« situiert. Auffällig ist die pejorative Behandlung solcher Literatur, die eine kritische Haltung zum Krieg einnimmt (»hetzerische Schriften minderer Leute«), dem entgegen die »ruhmreiche deutsche Armee [Hervorhebungen N.G.]« steht. Nun stellt sich die Frage, welches Aussagensubjekt hinter diesen Attribuierungen steckt. Es liegt nahe, den Urheber dieser Wertungen nicht im Erzähler-, sondern im Figurentext und damit beim Buchhändler Reimers zu suchen. Narratologisch gesprochen präsentiert sich dessen Weltsicht im Modus der Textinterferenz, was dann besonders explizit wird, wenn wiederum ein Einschub aus dem Erzählertext auf Reimers gesundheitlich begründete Befreiung vom Militärdienst hinweist.9 Der Buchhändler, so lässt sich folgern, orientiert sich zwar am Ideal des soldatischen Mannes, entspricht diesem als Ausgemusterter allerdings selbst gar nicht. Immerhin ist es ihm aber möglich, am kriegerischen Diskurs zu partizipieren, was hingegen Grethe verwehrt bleibt: Die Reproduktion weiblicher Inferiorität steht auch dem männlichen Invaliden offen. Die Textstelle entlarvt also den Widerspruch in der männlichen Identitätsbildung durch narrative Komplexität. Subtil wird auf die soldatisch-nationale Orientierung des Buchhändlers verwiesen, um sie anschließend durch eine leise Kommentierung zu desavouieren. Offenkundig weiß Kempowskis Roman um die Aporien seiner hegemonialen Männlichkeit. In Schöne Aussicht manifestiert sich die anhaltende Relevanz soldatischer Männlichkeitsentwürfe besonders eindrücklich entlang der wiederholten Schilderung von Veteranentreffen, die aber zugleich Ausgangspunkt von Karl Kempow­skis transgressiver Bewegung sind. Die soldatische Zusammenkunft im Epilog des Romans ist als Moment der Restabilisierung dieser hegemonialen Männlichkeit deshalb so signifikant, weil sie in partieller Opposition insbesondere zum ersten dieser Treffen steht. Gemeint ist ein »Offiziersstammtisch«, der sich wöchentlich im Kellerlokal »Zur deutschen Fahne« trifft – »kein herrschaftlicher Ort«, wie im Text zu lesen ist. (SchA 41) Das Gespräch wird von Dr. Kleesaat dominiert, der »vom Versailler ›Diktat‹ redet, vom ›Schmachfrieden‹« (SchA 43), der findet, dass »wer miesmacht, [...] sofort erschossen« (SchA 44) werden sollte und der weiß, dass der Krieg auch noch 1918 mit der richtigen Strategie hätte gewonnen werden können. Andere Meinungen sind nicht zu hören, nur Karl Kempowski »würde gerne etwas dazu sagen«:

9  Erzähler- und Figurentext sowie Textinterferenz sind Begriffe der Narratologie Wolf Schmids. Vgl. Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. Berlin: De Gruyter 2014, S. 144.

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Den Kampf verlängern? Im Herbst 1918?  Die Amerikaner zum Beispiel, die hat er damals gesehen, durch das Scherenfernrohr, daran kann er sich noch gut erinnern, diese frischen, graden Söhne des wilden Westens mit ihren enormen Brisanzgranaten – ob es wirklich Zweck gehabt hätte, den Kampf zu verlängern? Das hätte er gerne zur Diskussion gestellt, aber wenn er hier den Mund aufmachen würde, dann würden sie ihn plötzlich alle gleichzeitig angucken und den Kopf schütteln. (SchA 45–46)

Zumindest gedanklich formuliert Karl Kempowski seine Zweifel daran, ob eine Fortsetzung des Krieges angesichts der militärischen Übermacht der USA ein aussichtsreiches Unterfangen dargestellt hätte. Interessant ist, dass diese Einsicht über eine konkurrierende Männlichkeitsvorstellung vermittelt wird, denn es sind die »frischen, graden Söhne des wilden Westens«, die die eigene Unterlegenheit auch auf geschlechtlicher Ebene vor Augen führen. Einen verbalen Widerspruch verhindert schließlich die Furcht vor der Beschämung, also etwas zu sagen, was die Gruppe mit dem »Kopf schütteln« ließe. Um zu verstehen, was Karl Kempowski zumindest in Ansätzen von diesen anderen Männern unterscheidet, lohnt ein Blick auf die sozial-geschlechtliche Verfasstheit dieses Offiziersstammtischs. In der Typologie männlicher Organisationsformen lässt sich das Veteranentreffen als ›Männerbund‹ klassifizieren. Ähnlich wie beim Buchhändler Reimers wird das Verhalten dieser Gruppe zwar subtil als eine eher lächerliche Angelegenheit ausgewiesen (»In Ermangelung von ›Novemberlingen‹ streichen die Herren schließlich mit dem Stock an den Rolläden herunter und rütteln an den Gaslaternen« [SchA 48]), doch bleiben Vereinigungen wie diese in ihrer Anlage stets regressiv. Denn laut Bernd Widding ist für den Männerbund ein Weltzugriff charakteristisch, der »eine Dichotomisierung entlang der Geschlechterdifferenz in fast alle Lebensbereiche vorantreibt.«10 Damit lässt sich einerseits ein Habitus konstant gehaltener Misogynie kennzeichnen, der die männliche Wahrnehmung prägt. Anderseits sind solche Dichotomisierungen – so meine Deutung – Ausdruck des Versuchs, der Komplexität der modernen Welt mit unlauterer Entdifferenzierung zu begegnen. Nicht zuletzt richtet sich der Männerbund als Schutzform gegen die Auswüchse »moderne[r] Massengesellschaft[en].«11 Karl Kempowski entfernt sich also dort von den Konventionen des soldatischen Männerbundes, wo er einer unterkomplexen Weltauffassung mit einer differenzierteren Betrachtungsweise begegnet. So auch bei einem »Einerseits-Andererseits-Vortrag« (SchA 55), den die Männer des Stammtisches besuchen und der

10  Bernd Widding: ›Ein herber Kultus des Männlichen‹: Männerbünde um 1900. In: Walter Erhart/ Britta Herrmann (Hgg.): Wann ist der Mann ein Mann? Zur Geschichte der Männlichkeit. Stuttgart/ Weimar: Metzler 1997, S. 235–248, S. 245. 11  Widding: ›Kultus des Männlichen‹ 1997, S. 235.

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von einer Gruppe rechtsgesinnter Nationaler gestört wird. Das belebt Dr. Kleesaat, der »gesehen hat, was dabei herauskommt, bei diesem einerseits und andererseits! Daß es einzig und allein ein ›So wird’s gemacht!‹ gibt, und damit Punkt!« (SchA 56) Karl Kempowski hingegen besucht den Vortragenden am nächsten Tag, um sich für die Störungen zu entschuldigen und bekennt »daß er sich lieber in Ruhe auseinandersetzen will mit den verschiedenen Strömungen.« (SchA 59) Es bleibt nicht beim unartikulierten Widerspruch, die Transgression des Soldatentums reicht weiter: Als alternative Sozialform zur monogeschlechtlichen Veteranenversammlung sucht Karl Kempowski gemeinsame Unternehmung mit seiner Frau. Ein Konzertbesuch führt nicht nur die Insuffizienzen des soldatischen Daseins vor Augen (»Wenn man im Felde geblieben wär, dann könnte man all das Schöne jetzt nicht hören.« [SchA74]), vielmehr zeichnet sich der theatrale Raum gerade durch die Abwesenheit des Männerbundes aus, denn »aus der ›Deutschen Fahne‹ ist niemand gekommen.« (SchA 72) Als zeitweiliges Gegenmodell zum Veteranentreffen lässt sich ein bürgerlichkultureller Zirkel auffassen, in den es Karl und Grethe verschlägt. Hier ist die Anwesenheit beider Geschlechter selbstverständlich und mehr noch wird mit der emanzipatorischen Frauenfigur Fräulein Stier sogar Widerspruch gegen androzentrische Stereotype hörbar: Wenn die Männer in ihren Sesseln sitzen mit übergeschlagenen Beinen und zum Beispiel sagen, daß die meisten Modeschöpfer und Köche männlichen Geschlechts sind und daß das wohl damit zusammenhängt, daß Männer mehr schöpferische Kräfte in sich haben, von Natur aus, irgendwie – was sie nur sagen, wenn die Stier anwesend ist –, dann sagt sie: »So?« (SchA 169)

Der Einschub deutet es an: Trotz der liberaleren Atmosphäre des Zirkels wird das weibliche Aufbegehren gegen das Patriarchat von den anwesenden Männern herrschaftserhaltend abgewehrt: »Die Stier hat irgendwas Herausforderndes an sich, das man nicht aushalten kann.« (SchA 174) Auch das Aufbegehren von Fräulein Stier kann als Versuch einer differenzierten und komplexitätssensiblen Weltbetrachtung aufgefasst werden, die sich hier gegen eine unangemessen simple Auffassung des Geschlechterverhältnisses richtet. Damit besteht hinsichtlich dieses Merkmals eine bemerkenswerte Äquivalenz zwischen Karl Kempowski und Fräulein Stier. In unterschiedlichen Räumen (Veteranentreffen und bürgerlicher Zirkel) verkörpern sie die Differenz in einem Tenor der Vereinheitlichung. Pointiert formuliert: Wenn ›Entdifferenzierung‹ als Merkmal radikaler Männlichkeit gelten kann, während ›Differenzierung‹ in Person von Fräulein Stier weibliche Emanzipationsbestrebungen signifiziert, dann reicht Karl Kempowskis männliche Transgression sogar über die Geschlechtergrenze: Wo er gegen die Entdifferenzierung opponiert, wird er zum Merkmalsträger des

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Weiblichen. Zeitweise zieht er sich gänzlich aus dem Männerbund zurück. Grund dafür ist neben dessen überbordender Aggressivität wiederum die unterkomplexe Gegenwartsbeschreibung der Veteranen: »Die reden immer noch und ständig von Danzig und von Straßburg. Und sie schimpfen auf das Sozialistenpack: Einfach dazwischenschießen, sagen sie. | Sozialistenpack? Wenn man ehrlich ist, es sind allerhand Neubauten im letzten Jahr zu verzeichnen [...].« (SchA 210) Doch selbst wenn Karl Kempowski an einer Stelle dazu gebracht werden kann, »seinen Orden in Miniaturausgabe hinterm Revers« (SchA 133) gegen das Kostüm eines Kochs einzutauschen und damit die Uniform als Signum des soldatischen Mannes abzulegen – es bleibt bei bloß vorsichtigen Transgressionen der soldatischen Männlichkeit.12 Die sukzessive Remilitarisierung Deutschlands, die im Epilog des Romans einen vorläufigen und von den Anwesenden gefeierten Höhepunkt erreicht, korrespondiert merklich mit einer Remilitarisierung auf der Figurenebene. Bereits Jahre vor der nationalsozialistischen Machtübernahme im Jahr 1929 nimmt Karl Kempowski an illegalen Wehrübungen teil, die auf eine vergrößerte militärische Schlagkraft der vom Versailler Vertrag dezimierten deutschen Armee abzielen (vgl. SchA 226–227). Hier öffnet sich ein assoziatives Feld, das von demokratiefeindlichen Freikorpsgruppierungen bis hin zur paramilitärischen Schwarzen Reichswehr reicht. Der unbeschwerten Lebensweise in bürgerlichen Freundesgruppen ist dadurch noch kein Abbruch getan, aber auch hier werden die Zeichen der Zeit immer spürbarer. Die Umstände für emanzipatorische Frauenfiguren sind unwirtlich: Fräulein Stier muss dem bürgerlichen Zirkel von nun an fernbleiben. Damit reagiert man dezidiert auf die verunsichernde Kapazität differenzierter Weltbetrachtungen: »Immer diese konträren Meinungen – einig will man sich wissen, in dieser Zeit der widerstreitenden Strömungen.« (SchA 249) Das Ende dieses Widerstreits läutet die nationalsozialistische Machtübernahme – die »neue Zeit« – ein. Ja, das Rostocker Bürgertum begegnet dem NS-Regime mit gemischten Gefühlen, doch mit Nachdruck begrüßt Karl Kempowski nicht zuletzt die damit verbundene militärische Zeitenwende, die außerdem – wie sollte es anders sein – über ein Männerbild codiert ist: »Neue Zeit? Kräftige Männer zu kräftiger Musik! Alle im Paradeschritt, den nur die Deutschen kennen!« (SchA 320)

12  Zur Uniform als Zeichen des soldatischen Mannes vgl. Torsten Voß: Körper, Uniformen und Offiziere. Soldatische Männlichkeit in der Literatur von Grimmelshausen und J.M.R. Lenz bis Ernst Jünger und Herrmann Broch. Bielefeld: transcript 2016 (Lettre).

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II Klaus Theweleit beginnt seine Studie der Männerphantasien (1977) mit der Untersuchung (auto)biographischer Darstellungen sieben soldatischer Männer aus dem Umfeld von Freikorpsgruppierungen der 1920er Jahre. Das Ergebnis ist eine programmatische Pointe: Die Ehepartnerinnen der Militärs, man sollte meinen von essenzieller Bedeutung für die eigenen Memoiren, werden entweder nur am Rande erwähnt oder gar vollständig ignoriert. Die Frau ist abwesend.13 Tadellöser & Wolff verkehrt diese Pointe der Männerphantasien ins Gegenteil. Hier ist es der soldatische Mann, Karl Kempowski, der nach Einberufung zum Kriegsdienst im letzten Drittel des Textes abwesend bleibt. Auch diese Abwesenheit ist programmatisch: Mit Walter Kempowski liegt der Fokus auf einem Ich-Erzähler, der die Grenzen des hegemonial-soldatischen Mannes exzessiv traktiert. Mit wenigen Sätzen sollen dessen Grenzgänge skizziert und damit die Ausführungen zu Schöne Aussicht punktuell ergänzt werden. So viel vorab: Grundsätzlich beweist Tadellöser & Wolff eine ähnliche Sensibilität für die Brüchigkeit von Männlichkeitsentwürfen wie Schöne Aussicht. Besonders deutlich wird das, wenn der Text an einer Stelle »Stramme FTVer«, Fliegertechnische Vorschüler also, von »langmähnige[n] Jünglinge[n]« als »Licht und Schatten der nationalsozialistischen Gesellschaft« (TW 406)14 voneinander abgrenzt.15 Hier zeigt sich auch, dass das dominante soldatische Männlichkeitsmodell der nationalsozialistischen Gesellschaft bereits im Jungenalter implementiert wird. Für den jungen Kempowski vermittelt sich diese militärische Omnipräsenz vor allem im Spiel, ob zuhause oder in den proto-militärischen Jugendstrukturen des NS-Regimes. Daheim proben Walter und seine Freunde mit »Lineol-Soldaten« (TW 110) den ludischen Krieg – ein Modus, der bei Wehrübungen der nationalsozialistischen Jugendorganisationen seine Fortsetzung findet. Walter Kempowski ist erst bei den Pimpfen, bevor er bei der Hitler-Jugend unter anderem im Spielmannzug mitwirkt, um schließlich zur »Linien-HJ« (TW 463) strafversetzt zu werden. Die Strafversetzung deutet an, dass Walter Kempowski vor allem auf der männlichen Schattenseite des Regimes zu verorten ist. So heißt es: »Kommt dauernd nicht zum Dienst,

13  Vgl. Klaus Theweleit: Männerphantasien. Band 1: Frauen, Fluten, Körper, Geschichte. Frankfurt am Main/Basel: Stroemfeld/Roter Stern 1977, S. 29. 14  Walter Kempowski: Tadellöser & Wolff. Ein bürgerlicher Roman. München: Penguin 2016, S. 535, im Folgenden zitiert mit der Sigle TW und der entsprechenden Seitenzahl. 15  Vgl. Lars Bardram: Stellenkommentar zu Tadellöser & Wolff. Vom Autor durchgesehene und er­ weiterte Ausgabe (Januar 2023). https://kempowski-archiv-rostock.de/files/kommentare/TW23jan.pdf (letzter Zugriff am 28.8.2023), S. 160.

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trägt unmilitärischen Haarschnitt, sitzt bei Café Herbst und ißt Schaumspeise, geht vermutlich auch ins Kino über 18.« (TW 463) Gerade die lang getragenen Haare markieren dessen ungewünschte Abweichung im besonderen Maße, ja sie werden sogar zu dem Zeichen dieser Abweichung. Einigen Aufforderungen, die Haare zu kürzen, kann sich Walter zwar noch entziehen, doch werden sie schließlich in anonymer Aggression von Vermummten im Sinne eines »Mannbarkeitsritus« (TW 471) zurechtgeschnitten. Warum kann das Regime lange Haare partout nicht tolerieren? Ein Ausbilder der Linien-HJ bringt es auf den Punkt, Walter »sähe ja aus wie ein Weib.« (TW 464) Es ist diese intergeschlechtliche Transgression, die der regressiv-männliche Staatsapparat zu verhindern sucht, die dafür in Tadellöser & Wolff auffällig häufig vollzogen wird. Etwa in der Jazz-Clique von Walters Bruder, wo man mit transvestitischen Ausdrucksformen spielt: »Heini zog einen nassen BH an und drapierte sich mit einem roten Tuch. ›Got that rhythm, boys!‹« (TW 81) Auch Walters Jugendfreundin Ute probt den kurzzeitigen Seitenwechsel und zieht dessen Uniform vom Jungvolkdienst an (vgl. TW 60). Schließlich beweist der Roman in der Schule erneut seine Sensibilität für fluide Geschlechterverhältnisse, denn dort »wurde man von rohen Mitschülern gepackt und mit Gewalt über die Geschlechtergrenze geschoben, so sehr man sich auch wehrte.« (TW 239) Und das, obwohl diese Geschlechtergrenze, die den Jungen- vom Mädchentrakt trennt, von den Schulautoritäten fest verbarrikadiert worden ist. Walter Kempowski, der sich an verschiedenen Stellen der Eingliederung in den militärischen Apparat entziehen kann, wird schließlich im Februar 1945 doch noch eingezogen (vgl. TW 513). Mitnichten endet hier die Abwesenheit des soldatischen Mannes, denn Walter verbleibt im Modus des ludischen Krieges, eines Krieges, der im Kopf simuliert und im Spiel erprobt wird, aber sich doch nie zum Kampfeinsatz steigert. Besonders deutlich wird das, wenn der Ich-Erzähler am Ende des Romans zur Beschaffung von Medikamenten auf eine Art Abenteuerreise aufbricht, die ihn ins eingeschlossene Berlin und über Umwege zurück nach Rostock führt – zum Ernstfall kommt es nicht. Am Ende des Abenteuers mit Rückkehr nach Rostock heißt es: »Mit dem Stahlhelm am Arm, den ich überhaupt nicht gebraucht hatte, an der ausgebrannten Tonhalle vorüber [...].« (TW 551) Die »ausgebrannte Tonhalle«? Zur Erinnerung: An diesem Ort hatten die Veteranen im Epilog von Schöne Aus­ sicht die Remilitarisierung des Reiches gefeiert. Dass diese Halle nun in Trümmern liegt – auch das scheint programmatisch für den Stand des soldatischen Mannes in Tadellöser & Wolff zu sein.

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III Was lässt sich festhalten am Ende dieser Untersuchung der Männlichkeit in Kempowskis Schöne Aussicht und Tadellöser & Wolff? Beide Romane folgen historischen Dispositiven und inszenieren eine hegemoniale Männlichkeit, die soldatisch ist. Beide Texte beweisen eine grundsätzliche Reflexivität hinsichtlich der Aporien ihrer Männlichkeitskonzeptionen. Und schließlich steht in beiden Texten die dominante Form des ›Mannseins‹ auch auf der Figurenebene zur Disposition. Die Absage an das Soldatentum durch die Figur Walter Kempowski fällt dabei überzeugter und nachhaltiger aus als es bei seinem Vater der Fall ist. Zwar nutzt Karl Kempowski den liberalen Identitätsspielraum der 1920er Jahre zur Erprobung alternativer maskuliner Modelle, bleibt jedoch in letzter Konsequenz der uniformierten Panzerung des soldatischen Mannes verpflichtet. Der Blick zurück auf den Epilog von Schöne Aussicht weckt Zweifel an dieser eindeutigen Schlussfolgerung. Schließlich widmet Karl seine Aufmerksamkeit weniger dem militärischen Gebaren der Veteranen als einer neuen Wohnung, die er für die Familie akquiriert. Es scheint, dass selbst dort, wo Karl Kempowski wieder als ein überzeugter Militär daherkommt, Zeichen auf die Brüche in seinem maskulinen Identitätsmodell verweisen. Eine paradigmatische Schlittschuhfahrt Karl Kempowskis gibt dafür den entscheidenden Hinweis: »Ja, der Frost hat seiner empfindlichen Haut gefährlich zugesetzt, nach Warnemünde zu fahren bei 30 Grad Kälte und auf der Mole herumzustehen, das war ja wohl ’ne Schnapsidee.« (SchA 224) Die »empfindliche Haut« ist eine Reminiszenz des Ersten Weltkrieges, hier ist Karl mit Giftgas in Kontakt gekommen, sodass ihn der Kriegseinsatz besonders anfällig für die Kälte gemacht hat. Das ist deshalb bemerkenswert, weil Kälte und Soldatentum durchaus kompatible Kategorien sein können. Zumindest gilt das für den dezidiert männlichen Verhaltensapparat, den Helmut Lethen in seinen Verhaltenslehren der Kälte (1994) im Kontext des Interbellum nachgezeichnet hat. In einer Zeit der Orientierungslosigkeit sollen Distanz, Grenzziehung, Panzerung – in Summe ein kaltes Antlitz – Beschämung im öffentlichen Raum vermeiden helfen.16 Offenbar kann sich Karl Kempows­ki trotz der von ihm durchaus in Ehren gehaltenen Kriegszeit nicht ohne Schaden als eine kalte Persona im Sinne der Verhaltenslehren figurieren. Der Grund dafür scheint mir in der bürgerlichen Situierung der Kempowskis zu liegen. Sicherlich ist gerade die bürgerliche Gesellschaft von einem Männlichkeitsmodell geprägt, das die androzentrische Herrschaft in der dieser Lebensform

16  Vgl. Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Berlin: Suhrkamp 2022 (edition suhrkamp, 2776), S. 68.

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zugrunde liegenden Trennung von produktiver und reproduktiver Arbeit aufrechterhält.17 Außerdem trägt die Familie als Keimzelle bürgerlicher Gesellschaften nicht selten zu Verhältnissen von Einengung, Schmerz und Verwerfung bei. Doch in der Kempowski–Familie ist beides Realität: Härte und Zärtlichkeit. Hier gehören (seltene) Gewaltausübung und autoritäre Strenge ebenso ins Register familiärer Umgangsformen wie die liebevolle auch väterliche Fürsorge im Krankheitsfall (vgl. TW 135). Dieses ambivalente Innen korrespondiert mit einem ebenso zwiespältigen Verhältnis zum Außen. Es ist richtig, dass sich die bürgerliche Familie in Kempowskis Romanen durch Rituale und Redewendungen eine Normalität konstruiert, die nicht in der Lage ist, die faschistische Umgestaltung der Gesellschaft angemessen wahrzunehmen.18 Was hier betont werden soll, ist die Kehrseite dieser Ignoranz. Zuweilen hält der bürgerliche Habitus die Kälte und Härte der nationalsozialistischen Gesellschaft auf Distanz, sodass Handlungs- und Denkräume abseits systemischer Zwänge entstehen können. Daher ist es möglich, die Logiken einer hegemonialen Männlichkeit zu transzendieren, und so ist vielleicht auch – neben offensichtlich libidinösen Interessen – die widerwillige Rettung des jüdischen Hausmädchens Rebekka durch Karl Kempowski in Schöne Aussicht zu erklären (vgl. SchA 376–377). Um es auf den Punkt zu bringen: Es ist die Möglichkeit einer differenzierten Betrachtung moderner Verhältnisse, die dem Bürgerlichen zumindest potenziell offensteht. In den Verhaltenslehren der Kälte heißt es dazu: Die bürgerliche Kultur der Schattierungen und gemischten Temperaturen weicht einer Ästhetik der Entmischung, der Polarisierung aller Lebenssphären, der Faszination der »scharfen« Grenzziehung und klarer Kontur. Die Fähigkeit, Verschwommenheit, d. h. das Phänomen der fließenden Grenzen, wahrzunehmen, ist im Politischen so verdächtig wie im Ästhetischen.19

Scharfe Grenzen und Entmischung sind das Prinzip der kalten Persona und des gepanzerten Mannes. Sie sind nicht das Prinzip bürgerlicher Romane wie Schöne Aussicht und Tadellöser & Wolff und auch nicht die Lebensauffassung bürgerlicher Familien wie der Kempowskis. Ob in Fragen männlicher Identität, dem Verhältnis zum NS-Regime oder innerfamiliären Umgangsformen – Wärme und Kälte, Zuneigung und Gewalt, Differenzierung und regressiver Einheitsdrang wechseln einander ab. Sie sind Teil des ambivalenten Weltzugangs eines bürgerlichen Mannes, der einseitige und dauerhafte Festlegungen unmöglich macht. Für all das gilt mit Helmut Lethen gesprochen: Die Temperaturen sind gemischt.

17  Pierre Bourdieu: Die männliche Herrschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 52020 (st, 2031), S. 79. 18  Vgl. Mark Schweda/Kai Sina: Apologie(n) der Bürgerlichkeit? Walter Kempowski und Odo Marquard im Vergleich. In: Kindt/Lepper/Sina: Poetik der Mitte 2022, S. 85–97, hier S. 94. 19  Lethen: Verhaltenslehren der Kälte 2022, S. 133.

Männlichkeit und Bürgertum in Schöne Aussicht und Tadellöser & Wolff 

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Literaturverzeichnis Bardram, Lars: Stellenkommentar zu Tadellöser & Wolff. Vom Autor durchgesehene und erweiterte Ausgabe (Januar 2023). https://kempowski-archiv-rostock.de/files/kommentare/TW23jan.pdf. Bourdieu, Pierre: Die männliche Herrschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 52020 (st, 2031). Brixa, Anna: Vater. In: Carla A. Damiano/Andreas Grünes/Sascha Feuchert (Hgg.): Walter-KempowskiHandbuch. Berlin/Boston: De Gruyter 2020 (de Gruyter reference), S. 355–369. Connell, Raewyn: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeit. Wiesbaden: Springer 2015 (Geschlecht & Gesellschaft, 8). Dietrich, Anette/Heise, Ljiljana: Perspektiven einer kritischen Männlichkeitenforschung zum Nationalsozialismus. Eine theoretische und pädagogische Annäherung. In: Dies. (Hgg.): Männlichkeitskonstruktionen im Nationalsozialismus. Formen, Funktionen und Wirkungsmacht von Geschlechterkonstruktionen im Nationalsozialismus und ihre Reflexion in der pädagogischen Praxis. Frankfurt/M.: Peter Lang 2013 (Zivilisation & Geschichte, 18), S. 7–36. Kempowski, Walter: Schöne Aussicht. Roman. München: Penguin 2019. Kempowski, Walter: Tadellöser & Wolff. Ein bürgerlicher Roman. München: Penguin 2016. Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Berlin: Suhrkamp 2022 (edition suhrkamp, 2776). Kindt, Tom/Lepper, Marcel/Sina, Kai: Niemals über den Menschen hinaus. Zur Einführung. In: Dies. (Hgg.): Poetik der Mitte. Walter Kempowski im literatur- und ideengeschichtlichen Kontext. Göttingen: Wallstein 2022, S. 13–24. Meuser, Michael: Geschlecht und Männlichkeit. Soziologische Theorie und kulturelle Deutungsmuster. Wiesbaden: VS Verlag 2010. Reents, Friederike: Schöne Aussicht. Roman. In: Carla A. Damiano/Andreas Grünes/Sascha Feuchert (Hgg.): Walter-Kempowski-Handbuch. Berlin/Boston: De Gruyter 2020 (de Gruyter reference), S. 48–50. Schmid, Wolf: Elemente der Narratologie. Berlin: De Gruyter 2014. Schuhen, Gregor: Crisis? What Crisis? Männlichkeiten um 1900. Eine Einleitung. In: Ders. (Hg.): Der verfasste Mann. Männlichkeiten in der Literatur und Kultur um 1900. Bielefeld: transcript 2014 (Lettre), S. 7–18. Schweda, Mark/Sina, Kai: Apologie(n) der Bürgerlichkeit? Walter Kempowski und Odo Marquard im Vergleich. In: Tom Kindt/Marcel Lepper/Kai Sina (Hgg.): Poetik der Mitte. Walter Kempowski im literatur- und ideengeschichtlichen Kontext. Göttingen: Wallstein 2022, S. 85–97. Theweleit, Klaus: Männerphantasien. Band 1: Frauen, Fluten, Körper, Geschichte. Frankfurt am Main/ Basel: Stroemfeld/Roter Stern 1977. Widding, Bernd: ›Ein herber Kultus des Männlichen‹: Männerbünde um 1900. In: Walter Erhart/Britta Herrmann (Hgg.): Wann ist der Mann ein Mann? Zur Geschichte der Männlichkeit. Stuttgart/ Weimar: Metzler 1997, S. 235–248. Voß, Torsten: Körper, Uniformen und Offiziere. Soldatische Männlichkeit in der Literatur von Grimmelshausen und J.M.R. Lenz bis Ernst Jünger und Herrmann Broch. Bielefeld: transcript 2016 (Lettre).

Torsten Voß

Zwischen Trinkkultur und (maskulinem) Rollenspiel Performativitäten des Stammtischs in Walter Kempowskis Schöne Aussicht (1981) und Heinrich Manns Der Untertan (1918)

1 Vorbemerkung Walter Kempowskis Roman Schöne Aussicht (1981) bietet – wie seine Geschwister aus dem Zyklus der Deutschen Chronik – eine narrative Rekonstruktion einer inzwischen historisch gewordenen bürgerlichen Gesellschaft1 und ihrer Rituale. Letztere dienen bekanntlich auch der Visualisierung sozialer Distinktion und damit Zugehörigkeit. Und diese konfiguriert sich über die Mechanismen von Inklusion und Exklusion. Bürgerliche Gesellschaften repräsentieren sich in und über Institutionen, zu denen in der Welt der Kempowskis auch der Stammtisch gezählt werden muss, der trotz aller Zirkelbildung ausgesprochen stark an die öffentliche Wahrnehmung gebunden ist. Interessanterweise sind solche Trink- und Geselligkeitsrunden in der Sozietät der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zumal in den historisierenden Romanen Walter Kempowskis oder auch den zeitgenössischen Romanen etwa Heinrich Manns und Joseph Roths, stark geschlechtlich codiert. Anders ausgedrückt: Der Stammtisch bildet eine Entfaltungsform gelebter Männlichkeiten, während das sogenannte Damenkränzchen in den genannten Erzähltexten vor allem weiblich konnotiert ist. Gerhard Henschel schreibt diesbezüglich von Gesprächen »auf dem Niveau eines kleinbürgerlich beschränkten, dem Geist der neuen Zeit nicht abgeneigten Kaffeekränzchens.«2 Ob darin eine Gemeinsamkeit zur männlichen Stammtischrunde auszumachen ist, kann in diesem Beitrag nicht erschöpfend besprochen werden. Aber eines ist offensichtlich: Vollzieht sich ›männliche‹ Geselligkeit in öffentlichen Räumen, so organisiert sich die Kaffeerunde eher in der Privatheit des Heims, so dass auch die verschiedenen Spatialitäten von einer nahezu

1  Dazu finden sich aufschlussreiche Informationen im Sammelband von Lutz Hagestedt (Hg.): Walter Kempowski. Bürgerliche Repräsentanz – Erinnerungskultur – Gegenwartsbewältigung. Berlin/New York: De Gruyter 2010. 2  Gerhard Henschel: Da mal nachhaken: Näheres über Walter Kempowski. München: dtv 2009 (dtv premium), S. 70. https://doi.org/10.1515/9783111330938-007

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binären Geschlechterordnung getragen werden. Zugleich ist die Verzahnung von Bürgerlichkeit, Repräsentation und Öffentlichkeit seit der Mitte des 18.  Jahrhunderts kaum wegzudenken.3 Seit dieser Zeit trafen sich Bürger in regelmäßigen Abständen immer wieder in Gastwirtschaften, Weinstuben, Kaffeehäusern oder den sogenannten Ratskellern. Inwieweit diese organisierten Formate von (oft maskulin codierter) Bürgerlichkeit auch Orte der freien Rede bzw. des freien Gesprächs im Sinne von Jürgen Habermas’ Strukturwandel der Öffentlichkeit4 waren, steht nur bedingt im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags, zumal Habermas’ Aufmerksamkeit sich bekanntlich primär auf die Salonkulturen des 18. Jahrhunderts oder auch das Logenwesen konzentriert, deren Zusammensetzung sich eher aus anderen Akteuren rekrutierte als bei den Stammtischen. Zentraler erscheint daher auch die Frage nach der Entfaltungsmöglichkeit historischer Varianten von (hegemonialen) Männlichkeiten in öffentlichen Formaten und Kommunikationssituationen. Geselligkeit wird damit zum Modus der Selbstrepräsentation nach außen, aber auch innerhalb des jeweiligen Zirkels. Kempowski greift damit ein Szenario auf, welches sich bereits in Heinrich Manns sozialkritischem Roman Der Untertan (1918) antizipiert findet.5 Netzig und Rostock finden als Soziotope ihre Entfaltung auch im Stammtisch. Und was bei beiden Versammlungsorten noch hinzukommt: Sie sind auch Inszenierungsmöglichkeiten unterschiedlicher Varianten von Männlichkeiten, die gerade innerhalb des Stammtischs performativ ausgelebt werden können, weil sie dort auf gegenseitige Wahrnehmbarkeit treffen. Sowohl Kempowskis Protagonist Karl Kempowski als auch Heinrich Manns Diederich Heßling verbindet vor allem der Opportunismus mit der Stammtischgesellschaft. Eine wesentliche Differenz besteht jedoch darin, dass Karl die Reglements und Praktiken der Gruppe eher durchschaut und in ihrer Banalität reflektiert, als es bei Heßling der Fall ist. Letzterer assimiliert sich wesentlich stärker der Tischrunde und der in ihr vollzogenen Praktiken von Männlichkeiten. Ebenso sollte Erwähnung finden, dass der Rostocker Stammtisch in der unmittelbaren

3  Die französische Annales-Schule hat diese bürgerlichen Rituale unter anderem in den Mittelpunkt ihrer Kulturgeschichte des privaten Lebens gestellt. Vgl. auch: Anne Martin-Fugier: Riten der Bürgerlichkeit. In: Michelle Perrot (Hg.): Geschichte des privaten Lebens. 4. Band: Von der Revolution zum Großen Krieg. Deutsch von Holger Fliessbach und Gabriele Krüger-Wirrer. Frankfurt/M.: Fischer 1992, S. 201–266. 4  Vgl. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt/M: Suhrkamp 1991 (stw, 891). 5 Die Ausführungen zu der Stammtischgesellschaft in Der Untertan finden sich in ausführlicherer Form bereits in: Torsten Voß: Switching between Masculinities. Die Maskeraden des Diederich Heßling in Heinrich Manns Roman Der Untertan (1918) im Spannungsfeld von Homogenität und Heterogenität. In: Heinrich-Mann-Jahrbuch 39 (2021), S. 113–131.

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Nachkriegszeit der frühen Weimarer Republik angesiedelt ist, während die Tischgesellschaft in Netzig sich noch vor dem Hintergrund der prosperierenden Epoche des Wilhelminismus verortet. Letzteres verleiht ihren Mitgliedern noch ein anderes Selbstbewusstsein und Statusdenken als bei Walter Kempowski, wobei beide Romane den Modus der Inszenierung in aller Deutlichkeit betonen.

2 Der Rostocker Offiziersstammtisch in Kempowskis Schöne Aussicht (1981) Der Kempowski-Vertraute Dirk Hempel schreibt in seiner Biographie über Karl Kempowskis Sozialleben in der Zwischenkriegszeit: »Karl Georg Kempowski besucht über einen längeren Zeitraum hinweg Versammlungen von Parteien aller Couleur, landet schließlich in der schwarzen Reichswehr und schwadroniert am Offiziersstammtisch von großen Zeiten. Weitaus größeres Engagement entfaltet er im Kulturellen, in den Gesprächsrunden und Konzerten des Jäger-Kreises.«6 Das bildet einen Durchlauf durch bürgerliche Institutionen. Freizeitangebote vermischen sich mit den Verräumlichungen von Prestige und Zugehörigkeit. Obgleich Kulturveranstaltungen einen höheren Stellenwert im Kempowski-Clan einzunehmen scheinen als die bierseligen Gesprächskreise, dienen letztere dem angehenden Reeder als Möglichkeit zur zumindest kurzweiligen Selbstartikulation und Positionsbestimmung innerhalb der honorigen Gesellschaft der Stadt Rostock. Der Ort dieser Zusammenkünfte erhält zunächst eine wenig einladende Ekphrase im Roman. Auch Exklusivität steht nicht im Vordergrund, wenn es heißt: In diesem Keller, der noch aus dem Mittelalter übriggeblieben ist – er war Teil des Gertrudenhospitals für Sieche und für Leute mit Pest oder Cholera –, tagt seit 1919 der Offiziersstammtisch, zu dem auch Karl gehört. Zwei Lorbeerbäume stehen vor der Tür, und sechs Stufen geht es hinab. Es ist kein herrschaftlicher Ort, an dem die Offiziere sich treffen. Wenn auch die gewölbte Decke von Alter und Stil zeugt – uraltes Rankenwerk an den Konsolen –, der Keller ist feucht und heruntergekommen. Bis vor kurzem hat hier auch Kohle gelagert.7

Die einstigen Offiziere und jetzigen Veteranen wirken ein wenig verbannt aus der öffentlichen Wahrnehmung. Das ständische Unter-Sich-Sein der Korps- und

6  Dirk Hempel: Walter Kempowski. Eine bürgerliche Biographie. München: btb ³2007 (btb, 73208), S. 168. 7  Walter Kempowski: Schöne Aussicht. Roman. Hamburg: Knaus 1981, S. 41. Im Folgenden zitiert mit der Sigle SchA und der entsprechenden Seitenzahl.

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Kadergemeinschaft hat den Glanz des ehemaligen Kaiserreichs eingebüßt und sich in ein Schattendasein verlagert. Die zivile Gesellschaft der Weimarer Republik scheint die ehemaligen Uniformträger nicht mehr primär zu benötigen, so dass letztere immer stärker wie abgeschobene Relikte aus der Vergangenheit anmuten. Ihre Positionierung ins ehemalige Siechen-Haus bildet eine beinahe ironische Verdeutlichung des veränderten Status. Der Roman bestätigt in seiner fortführenden Darstellung der Korpsgemeinschaft und ihres Versammlungsorts diesen Eindruck auf geradezu widersprüchliche Weise: Die ehemaligen Offiziere sitzen in der »Deutschen Fahne« auf ausgeleierten Sofas und auf Stühlen verschiedenster Machart, aber sie sind dankbar, daß sie sich hier treffen können, denn nicht viele Lokale gibt es mehr, in denen es sich von großen Zeiten reden läßt, ohne daß man dabei von anderen Gästen angepöbelt wird. Eine Heimstatt hat man hier, mit Atmosphäre: An den salpetrigen Wänden hängen Fotos von Unterständen mit Offizieren davor in Korbsesseln, von Fesselballons und abgeschossenen Tanks. (SchA 41)

Die Heterogenität des zerschlissenen Mobiliars bildet einen diametralen Befund zu der einstigen Homogenität und Uniformität der kaiserlichen Offiziere,8 die ihren einstigen Status eigentlich nur noch aus dem memorierenden Geist pikturaler Imagologien ziehen können, so auch aus den archivierten Fotografien, die hier als permanente Vergegenwärtigungen vermeintlicher Gloriole dienen. Zugleich ist dieser Rückzug in den abgeschirmten Raum nach Hempel auch eine Widerspiegelung typischer bürgerlicher Verhaltensweisen in der ihnen eher fremden Weimarer Republik. Für ihn bietet Kempowski mit Schöne Aussicht auch einige »mögliche Ursachen für bürgerliches Stillhalten in der Nazizeit: der verlorene Weltkrieg, der Friedensvertrag von Versailles, die politische und wirtschaftliche Unruhe in der Weimarer Republik, die mangelnde Identifikation mit der jungen Demokratie, der Rückzug in die Innerlichkeit, auf einen apolitischen Umgang mit den hehren Werten deutscher Kultur.«9 All das sind ja auch Themen bei den bramarbasieren-

8  Dazu finden sich genauere Ausführungen in den Monographien von: Markus Rieger: Zauber der Montur. Zum Symbolgehalt der Uniform in der österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit. Wien: Braumüller 2009; Monika Szczepaniak: Militärische Männlichkeiten in Deutschland und Österreich im Umfeld des Großen Krieges. Konstruktionen und Dekonstruktionen. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011; Verena Stindl: Ein Bild von einem Mann. Österreichische und deutsche Offiziere in der Literatur. Eine Studie zum Klischee in der erzählenden Prosa. Würzburg: Königshausen & Neumann 2014; Torsten Voß: Körper, Uniformen und Offiziere. Soldatische Männlichkeiten in der Literatur von Grimmelshausen und J.M.R. Lenz bis Ernst Jünger und Hermann Broch. Bielefeld: transcript 2016. 9 Hempel: Kempowski 2007, S. 168.

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den Mitgliedern der ausgedienten Offiziersclique und auch Kennzeichen ihrer Verhaltens- und Denkweisen. Es ist also eine Exklusivität post mortem oder auch ex negativo, die sich in diesem übrig gebliebenen Männerbund abzeichnet, der aber dennoch nicht auf seine Rituale verzichten mag. Derlei vermittelt die Erzählinstanz bereits angesichts der Begrüßungspraktiken: »Fliegen die Raben immer noch um den Turm?« so begrüßen sich die Herren und bücken sich durch die niedrige Tür. Ein junger Mann mit rundem Kopf und Schmissen an der Backe […] kommt mit Karl. Das Bündel Bierzipfel, das ihm aus der Hose hängt, ist eindrucksvoll. Er nimmt den schwarzweißroten Wimpel aus der Aktentasche und knallt ihn auf den Tisch: Damit hier Klarheit herrscht, nicht wahr? Unsereiner braucht sich nicht zu verstecken. Den ganzen Krieg über draußen gewesen! Mit den Backen zuckt er: die Schmisse hat er sich in Jena geholt. (SchA 42)

Ich hüte mich an dieser Stelle, mit dem aus der Hose hängenden Bierzipfel irgendwelche vulgärpsychologischen Phallusemblematiken zu konsultieren, verweise aber dennoch auf die symbolische Funktion von derlei Accessoires innerhalb einer auf Distinktion geeichten Gesellschaft. Der Auftritt des jungen Mannes verknüpft militärische und zivile Ausdrucksformen von hegemonialer und auch aggressiver Männlichkeit und findet seine Bestätigung in der martialischen In-Besitznahme des Stammtischs durch den in den Farben der kaiserlichen Flagge gehaltenen Wimpel. Die Bierzipfel und die Schmisse aus der studentischen Verbindungszeit treten an die Stelle der Orden. Statt Pour le Mérite, Verwundetenabzeichen und Eisernes Kreuz treten die auf soziale Differenz ausgerichteten Insignien der Zivilgesellschaft, die aber selbst durch und durch militarisiert und von einem martialischen Selbstverständnis geprägt sind.10 Die sich daraus ergebenden Modi der Exklusion ergeben sich konsequenterweise aus vestimentären Codierungen, aus Verhaltensweisen und rein räumlicher Positionierung im Lokal »Deutsche Fahne«. Auch diese sind an Sichtbarkeiten gebunden: Nun kommt ein Mann herein, der nicht zum Stammtisch der Offiziere gehört, ein hinkender Mann mit hinkendem Hund. Von den Herren mit Blicken verfolgt, verschwindet er im hinteren Teil des Kellers und bestellt für sich einen Schusterjungen und für den Hund eine Schale mit Wasser. Das ist so einer von den Kerlen, die anderer Meinung sind, stellen die Herren fest, es fragt sich, was der hier eigentlich zu suchen hat. (SchA 43)

10 Vgl. dazu auch die Monographie von Wolfram Wette: Militarismus in Deutschland. Geschichte einer kriegerischen Kultur. Frankfurt/M.: Fischer 2011.

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Fast schon konstruktivistisch ergibt sich aus der Macht des Blicks die Realität bzw. die gesellschaftliche Zuordnung und Klassifikation des hinkenden Hundebesitzers. Das Hinken wird auch nicht mit einer Kriegsverletzung in Verbindung gebracht, so dass der körperliche Defekt von Herr und Hund durch den Blick der Stammtischler diskreditierend anmutet. Die Verknüpfung von abweichender Meinung oder Gesinnung mit dem Handicap bildet gewissermaßen den Kontrast zu den Orden, Schmissen und Verbindungszeichen, die wiederum eine Einheit mit den repu­ blikfeindlichen Tendenzen bei den Veteranen herstellen. Letztere bestimmen auch die Gesprächskultur am Stammtisch, die für die Inszenierung und Wahrnehmung von Männlichkeiten ebenso entscheidend ist wie die performativen, vestimentären und habituellen Ausdrucks- und Medialisierungsformen. Manfred Dierks erkennt in der erzählerischen Aufbereitung von derlei Zusammenkünften wie dem Stammtisch und auch Grethe Kempowskis Damenkränzchen geradezu aufklärerisches Potential. Er gesteht dem Autor zu, dass er in den Romanen der »Deutschen Chronik die groteske wie sentimentale Bösartigkeit der nationalistischen Reaktion vorgeführt«11 und zum Gegenstand gemacht hat. Der auktoriale Erzähler widmet sich dabei unterschiedlichen Ex-Offizieren, konzentriert sich dabei aber vor allem auf die Wahrnehmung des trinkfreudigen Soziotops durch Karl Kempowski. Eine dominante Position nimmt dabei gegenüber dem eher mitlaufenden Karl ein gewisser Dr. Kleesaat ein, oder wie es bei Kempowski heißt: Tonangebend in diesem Kreis ist Dr. Kleesaat, ein etwas unklarer Mensch, dem das rechte Auge zur Seite steht. Er redet bereits von »pfirrzennachtzenn« und guckt, ob vielleicht jemand anderer Meinung ist. […] Dr. Kleesaat hat mit seinen Ausführungen begonnen. Jeden Donnerstag spricht er über die Dinge, die heutzutage schließlich jeden interessieren. Sein rechtes Auge, das da so zur Seite weggeht, und ein leichtes Nuscheln machen es, daß alle ihm zuhören, sowie er nur den Mund auftut. Karl hört jedenfalls auch zu, als Kleesaat vom Versailler »Diktat« redet, vom »Schmachfrieden,« den der Assessor Thießenhusen – mit den Backen zuckend – sogar einen »Raubfrieden« nennt. (SchA 42­­­–43)

Kleesaats Physiognomie ruft eine erhöhte Aufmerksamkeit unter den Stammtischlern hervor, wobei in diesem Zusammenhang nicht ganz ersichtlich wird, ob es wirklich die inhaltlichen Komponenten sind, die das Zuhören evozieren, oder nur die reine Performanz. Da bleibt der Text einerseits undeutlich, lässt aber andererseits die Ausführungen des Doktors als leeres Fassadenspiel und Ansammlung mythisierender Klischees ohne tiefere Relevanz implizit hervortreten:

11  Manfred Dierks: Autor – Text – Leser: Künstlerische Produktivität und Leserreaktionen – am Beispiel Tadellöser & Wolff. München: Francke 1981 (UTB, 1125), S. 75.

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Die Herren wischen sich den Schaum vom Mund und wenden sich Dr. Kleesaat zu, wie der da eindringlich nuschelnd und hinter sich blickend die Divisionen herzählt, die man noch aus dem Osten hätte holen können. Einhundertfünfzig Batterien schwere Artillerie, dreihundert Maschinengewehrkompanien, Mackensen mit seiner Kavallerie ... Und: Die Revolutionsleute? Furchtbar einfach: Wer miesmacht, wird sofort erschossen! [...] »Dezimieren«, wie man das nennt. Ganze Truppenteile dezimieren, ruck-zuck ... In diesem Kreis wird kein Gespräch geführt über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, hier wird Tacheles geredet! (SchA 44)

Durch den ablehnenden Verweis auf Schopenhauers Lehre von der vierfachen Wurzel wird ganz klar das anti-intellektuelle Potential der von hegemonialen Männlichkeitsstrukturen regulierten Diskussionsgemeinschaft betont. Nicht so sehr das Argument zählt, sondern die Verve der Hervorbringung einer bestimmten (und vorher schon a priori festgelegten) Anschauung, was erneut das martialische Selbstverständnis der Veteranen von Rostock unterstreicht. Das impliziert natürlich einen diametralen Befund gegenüber Habermas’ Verständnis vom freien Gespräch in den bürgerlich-liberalen Diskussionszirkeln des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Und es bedingt auch schlussendlich, dass Karl Kempowski seine eigenen Gedanken über die Überlegenheit der amerikanischen Soldaten im Ersten Weltkrieg für sich behält, um einen möglichen Dissens am Stammtisch zu vermeiden: »Das hätte er gerne zur Diskussion gestellt, aber wenn er hier den Mund aufmachen würde, dann würden sie ihn plötzlich alle gleichzeitig angucken und würden den Kopf schütteln.« (SchA 46) So bleibt der mögliche Einwurf bei Karl und der Erzählinstanz hängen und wird nicht Segment der Öffentlichkeit. Diese trinkfesten und durch den Stammtisch institutionalisierten Praktiken von Männlichkeit sind in Kempowskis Schöne Aussicht in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, in der Weimarer Republik und den Ressentiments der konservativen Eliten gegenüber den ungewohnten demokratischen Verhältnissen situiert. Die ehemaligen Offiziere trauern in ihren schwadronierenden Reden einer zum Mythos gewordenen Zeit hinterher, was freilich auch den Fiktionalitäts- und Imaginationscharakter sowohl der maskulinen Konstrukte als auch der durch sie ausgedrückten Konzepte von Geschichte und Vergangenheit betont. Wie sieht es aber nun mit derlei sozialen Versammlungen aus, wenn sie sich nicht aus der Vergangenheit heraus rekrutieren, sondern in eben diese viel beschworene Zeit des prosperierenden Wilhelminismus der Vorkriegszeit verortet werden? In Heinrich Manns bekanntem Roman Der Untertan ist letzteres genau der Fall. Der Stammtisch von Netzig steht inmitten des Hochgefühls der Epoche des Kaiserreichs, wähnt sich quasi auf einem Platz an der Sonne, selbst wenn er im eher finsteren Ratskeller tagt. Wie verhalten sich nun dementsprechend seine Teilnehmenden?

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3 Die Männlichkeiten am Stammtisch von Netzig Ganz gleich, ob er sich als Liebhaber, korporierter Student oder wehrpflichtiger Soldat betätigt – also drei der für die Jahrhundertwende entscheidenden Männlichkeiten bedient, wie sie der österreichische Kulturhistoriker Ernst Hanisch12 herausarbeitet –, die an ihn gestellten Ansprüche des Heroismus, der Disziplin und des Aushaltens erfüllt Heßling gewiss nicht; obgleich er diese vor sich selbst und seinen sozialen Umfeldern, sei es in der schlagenden Verbindung oder auch am späteren bürgerlichen Stammtisch in Netzig, immer wieder vertritt. Unter Integration neuerer Theorieangebote aus dem Feld der Masculinity und Diversity Studies und dem bei Inge Stephan und Claudia Benthien von Joan Rivière entlehnten Begriff der Maskerade13 soll Diederich Heßling als ein mit Kalkül arbeitender Rollenspieler begriffen werden, welcher zwischen verschiedenen Männlichkeiten wechseln kann. Vor allem die Netziger Stammtischrunde ist für dieses Rollenverhalten konstitutiv. Gegenüber seinen honorigen Zuhörern kann Heßling als gedienter Ex-Soldat ebenso auftreten wie auch als alter Verbindungsherr und autoritärer Besitzbürger, zumal die Stammtischler ähnliche Rollenbilder innerhalb ihrer Inszenierungsmodi verkörpern. Er erfüllt also innerhalb dieses Zirkels die konventionellen und damit legitimierten Vorstellungen von Männlichkeit. Die folgenden Ausführungen werden dazu passende und aufeinander aufbauende Textstellen aus Heinrich Manns Roman Der Untertan und besonders seine Konsolidierung am Stammtisch in der Netziger Gesellschaft, die sich eben aus diesem kalkulierten-instrumentellen Rollenwechsel herleitet, vorstellen und vor dem Hintergrund gender- und rollentheoretischer Arbeiten interpretieren, um darüber Aufschluss über Heinrich Manns Einsicht in das Geschlechterverhalten des ausgehenden Wilhelminismus bzw. bei Walter Kempowski der frühen Weimarer Republik und der unmittelbaren Nachkriegszeit zu erhalten.14 Trotz seiner Unterwürfigkeit gegenüber Autoritäten ist Heßling auch ein Pragmatiker und Trickster15 mit großer Anpassungsbereitschaft, die von der Akzeptanz

12  Vgl. Ernst Hanisch: Männlichkeiten. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts. Wien/Köln/ Weimar: Böhlau 2005. 13  Vgl. Claudia Benthien/Inge Stephan (Hgg.): Männlichkeit als Maskerade. Kulturelle Inszenierungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2003; Joan Rivière: Weiblichkeit als Maskerade. In: Liliane Weissberg (Hg.): Weiblichkeit als Maskerade. Frankfurt/M.: Fischer 1994, S. 34–47. 14  Zur erotischen Konnotierung der Männlichkeitsbilder vgl. Ariane Martin: Erotische Politik. Heinrich Manns erzählerisches Frühwerk. Würzburg: Königshausen & Neumann 1993, S. 145–257. 15  Zur kulturtheoretischen Konzeption dieses Typus vgl. Erhard Schüttpelz: Der Trickster. In: Eva Eßlinger u. a. (Hgg.): Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Berlin: Suhrkamp 2010, S. 208–224.

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durch soziale Gemeinschaften abhängig ist. Sein liberaler Kontrahent, der junge Buck, erkennt diese Verhaltenslehren einer Melange aus Kalkulation und Unterwerfung auch präzise. Bucks Einschätzung nach ist das Signifikante bei ihm sein performativer Code. Dieser beginnt mit einer »Geste: das Prahlerische des Auftretens, die Kampfstimmung einer vorgeblichen Persönlichkeit, das Wirkenwollen um jeden Preis, wäre er auch von anderen zu bezahlen. [...] Die Gesinnung trägt Kostüm, Reden fallen, wie von Kreuzrittern, indes man Blech erzeugt oder Papier; und das Pappschwert wird gezogen für einen Begriff wie den der Majestät.«16 Buck betreibt hier eine Ekphrase und eine hermeneutische Auslegung der Heßling’schen Auftritte und bringt damit auch das Masken- und Fassadenhafte sowie den theatralen Illusionscharakter von dessen Männlichkeitsgebaren zum Ausdruck. Derlei Masken generieren sich meist aus einer passiven Übernahme von Imaginationen und einer synchron erfolgenden aktiven Selbstinszenierung, die ein Repertoire an Möglichkeiten abarbeitet, die von der jeweiligen Kultur zur Verfügung gestellt werden. Dialektisch argumentierend macht auch der australische Philosoph Michael Eldred in seiner eigenwilligen bis obskuren Gender-Ontologie auf einen solchen Zusammenfall aufmerksam: »Das geschickte, tüchtige Hantieren mit Identitätslarven muß sich also mit einer Verteidigung und Befestigung des Wer verbinden, wodurch dem männlich Seienden die Möglichkeit des mannhaften Wesens […] gegeben ist.«17 Auf der einen Seite handelt also der maskuline Schauspieler intentional mit diesen Masken und Larven.18 Auf der anderen Seite gehorcht er damit aber auch dem Entsprechen einer sozialen Position und den an sie gestellten Erwartungen. Er greift auf das zurück, was ihm durch die Gegebenheiten ermöglicht wird, klinkt sich aber auch nicht aus ihnen aus, was sich später auch in Karl Kempowskis Schweigen am Stammtisch in Schöne Aussicht kundtut.

16  Heinrich Mann: Der Untertan. Roman. Mit einem Nachwort und Materialienanhang von Ariane Martin. Frankfurt/M.: Fischer 2021, S. 203. Im Folgenden zitiert mit der Sigle U und der entsprechenden Seitenzahl. 17  Michael Eldred: Phänomenologie der Männlichkeit. kaum ständig noch. Dettelbach: J.H. Röll Verlag 1999, S. 45. 18 Über die literarhistorische Tradition der Maskerade informiert Ingrid Haag: Rollen und Maskenspiel im ›Missbildungsroman‹. Von Goethes Wilhelm Meister zu Heinrich Manns Der Untertan. In: Cahiers d’Etudes Germaniques 61 (2011–12), S. 109–120.

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4 Diederich Heßling und die Wer-Seienden Obgleich exklusiv sich gebend, ist der Stammtisch ein Ort der Öffentlichkeit und damit auch der Visualität. Auch in Netzig treffen verschiedene maskuline Honoratioren zusammen, um sich in gepflegter Bierseligkeit auszutauschen, sich voreinander zu repräsentieren und Netze in Netzig19 auszuspannen, wie es Zilles in einem pointierten Wortspiel formuliert. Für Heßling und seine Ratskeller-Brüder gilt im Besonderen, was der bereits zitierte Michael Eldred in seiner Gender-Ontologie für männliches Verhalten per se behauptet: Im Alltag treffen die Männer aufeinander als Wer-Seiende, die ihre Erscheinungsweise als Wer darstellen müssen und zwar in der Weise, daß sie ihre Larven in einem günstigen Licht gegenseitig auf- und hinstellen. Der Andere bietet einen Hintergrund zur Darstellung des eigenen Wer, insofern der Eine den Larven-Komplex des Anderen überbieten kann. Diesen im Alltag erscheinenden Larven-Komplex nennen wir die männliche Persona.20

Die Larventheorie scheint sich hier mit Erving Goffmans bekannten Reflexionen über das Rollenverhalten21 zu vermengen, doch Eldred beabsichtigt mehr, denn er betont auch das persönliche Erleben von Rollen und deren existentielle Relevanz für den Einzelnen, was gerade für den Poseur, Schwadroneur und Trickster Heßling konstitutiv im Soziotop der Stammtischrunde zu sein scheint.22 Befindet sich dieser doch in dem bereits akzentuierten Wechselverhältnis von Abhängigkeit und Abgrenzung mit Blick auf seine Umwelt. Nach Michael Eldreds Einschätzung kommt es hier auf die Relativität an: Die Persona des Anderen wird nur durch die eigene Persona und relativ zu ihr vermessen. Der Eine legt das Maß seiner eigenen Persona und auch seines Eigensten gleichsam autistisch an der Persona des Anderen an, er maßt sich notwendigerweise an, den Anderen zu vermessen. [...] Die Einstellung zum Anderen ist nur als ein anmaßendes Vermessen möglich, das ihn in Bezug auf den eigenen Wer nach Kräften sicherstellen soll.23

19  Sebastian Zilles: Die Schulen der Männlichkeit – männerbündische Strukturen in Heinrich Manns Romanen Die kleine Stadt (1909) und Der Untertan (1914/18). In: Heinrich Mann-Jahrbuch 30 (2012), S. 49–64, hier S. 58. 20  Michael Eldred: Der Mann. Geschlechterontologischer Auslegungsversuch der phallologischen Ständigkeit. Frankfurt/M.: Haag und Heerchen 1989, S. 98. 21  Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München: Piper Verlag 62008. 22  Mit Blick auf Diederich Heßling gibt darüber Aufschluss: Stefanie Sberra: Der Untertan. Zur Genealogie des öffentlichen Körpers. In: Heinrich-Mann-Jahrbuch 24 (2006), S. 115–130. 23  Eldred: Phänomenologie 1999, S. 99.

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Derlei gilt nicht nur im Allgemeinen (und bis heute) für kompetitiv strukturierte Gesellschaften, sondern hat sich auch schon im kalkuliert unterwürfigen Verhalten der beiden schlagenden Verbindungsstudenten Heßling und Hornung gegenüber den aristokratischen Offizieren auf dem Ball in Halensee gezeigt. Sie wollen dort ›Wer-Sein‹ und müssen daher entsprechende Maskeraden wählen, um existent zu werden. Nach Alexander Honold bedeutet das für Diederich Heßling, »dass sich innere Schwäche und demonstrative Stärke keineswegs ausschließen, sondern einander womöglich sogar bedingen.«24 Aus der Schwäche heraus wird die Maske aufgesetzt. Deshalb wird in diesem Beitrag auch eine Fusion der ontologisch-phänomenologischen Theorie Eldreds mit den eher konstruktivistischen Ansätzen der neueren Geschlechterforschung vorgeschlagen und zur Anwendung gebracht. Auch am Stammtisch überwiegen Rede und Pose im Interesse einer vom Soziotop der Anderen (am Tisch) legitimierten und akzeptierten Distinktion. Das öffentliche Verhalten zwischen kalkulierter Anpassung und begieriger Unterordnung steht immer wieder im Mittelpunkt des Romans und dessen Nachzeichnung einer Erfolgskarriere im wilhelminischen Zeitalter, die Diederich angesichts einer Begegnung mit dem Kaiser auch bewusst nachzeichnet: »Jeder einzelne ein Nichts, steigen wir in gegliederten Massen, als Neuteutonen, als Militär, Beamtentum, Kirche und Wissenschaft, als Wirtschaftsorganisationen und Machtverbände kegelförmig hinan, bis nach oben, wo sie selbst steht, steinern und blitzend!« (U 54) Mit letzterem ist die kaiserliche Macht und Autorität gemeint, welche stets die identifikatorische Richtschnur im Maskenspiel bleibt. Mit dem Verweis auf den nur unvollständig zitierten Romantitel Geschichte der öffentlichen Seele in Deutschland rekonstruiert Manfred Flügge Heinrich Manns »Intuition, dass die Geschichte der öffentlichen und der privaten Emotionen in dieser Nation zwischen Romantik und Reaktion, zwischen Technik und Tradition, zwischen Märchen und Macht ein wesentliches Thema sind.«25 In dieser kulturellen, sozialen und diskursiven Dualität bewegt sich auch Diederich Heßling als Rollenspieler von Männlichkeiten inmitten von Männlichkeitsvorstellungen. Gegenüber Pastor Zillich und den anderen Stammtischlern behauptet er beispielsweise auf dem Weg zum Lokal Klappsch, angesichts eines patrouillierenden Wachpostens: »Da lacht einem doch das Herz, wenn man das Gewehr so eines braven Bur-

24  Alexander Honold: Männlichkeit und Tauglichkeit. Die Militär-Urszene bei Heinrich und Thomas Mann. In: Thomas Wortmann/Sebastian Zilles (Hgg.): Homme fragile. Männlichkeitsentwürfe in den Texten von Heinrich und Thomas Mann. Würzburg: Königshausen & Neumann 2016, S. 31–64, hier S. 36. 25  Manfred Flügge: Heinrich Mann. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006, S. 158. Der Originaltitel lautet eigentlich Geschichte der öffentlichen Seele unter Wilhelm II.

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schen blinken sieht! [...] Damit halten wir die Bande in Schach.« (U 117) Nach Flügge argumentiert Heßling dementsprechend »mit markigen Sprüchen, die er in seiner neuen Rolle für angemessen hält. Denn nun ist er der Herr, Diederich Heßling, ein kleiner Kaiser, in seinem Reich.«26 Durch die Imitation der imperialen Choreographie im Miniaturformat, ahmt Heßling – zumindest in seiner Barttracht – die höchste Rangstufe der Männlichkeiten im Mikrokosmos der Stadt Netzig nach.27 Der Stammtisch wird zu einer Art Hofstaat, an welchem die verschiedensten Varianten zeitgenössischer Maskulinitäten performiert werden, welche sich nach Zilles »über die Instanzen Schule, Kirche und Militär, bis hin zu sämtlichen politischen Ämtern« erstreckten »und schließlich in Wilhelm II. personifiziert« würden. »Netzig ist daher ein telling-name, da die Stadt ihr Fundament auf vernetzten Machtstrukturen gründet.«28 In diesen muss sich auch Heßling als ein Netzwerker bewegen. Das Anlegen bestimmter Maskeraden hängt daher zumeist mit aktuellen Anlässen und Situationen in der Gemeinde Netzig zusammen, so auch mit der Reaktion der Obrigkeit auf das Auftreten eines unzufriedenen (und erschossenen) Arbeiters oder angeblicher Akte der Majestätsbeleidigung. Der Pfarrer, der Major Kunze, die Lokalpolitiker und der Kreis mancher Unternehmer, obgleich Repräsentanten verschiedenster Männlichkeiten, sind sich einig in der scharfen Ablehnung gesellschaftlicher Veränderungen, was auch darauf schließen lässt, dass sich im Ratskeller die nationalen Kräfte durchgesetzt haben. Das heißt mit den Worten des Romans: »Die Andersdenkenden sollen Feinde der Nation heißen, und wären sie zwei Drittel der Nation.« (U 203) Das antizipiert ebenfalls die Reaktion der Veteranen auf den hinkenden Gast samt Hund in der Gaststätte »Deutsche Fahne« bei Kempowski, wo übrigens auch das gemeinsame Trinken und Zuprosten die Exklusion bekräftigt. Wie ein Intertext schieben sich die Netziger dazwischen, wenn es ganz ähnlich schon bei Mann heißt: »Und die Honoratioren leerten ihre Gläser auf den glücklichen Ausgang des Kampfes für Thron und Altar, gegen den Umsturz in jeder Form und Verkleidung.« (U 111) Heßling selbst versucht in seinem Auftreten den Netzwerken von Netzig und den durch sie kultivierten Vorstellungen von Männlichkeit, durch seine Verhaltensweisen, Ansichten und Äußerungen zu entsprechen und ihnen gerecht werden zu können. Vom jungen Buck wird all das später sehr ana-

26  Flügge: Heinrich Mann 2006, S. 157. 27  Die Stadt Netzig entspricht damit in ihren Herrschaftsstrukturen dem Makrokosmos des Deutschen Kaiserreichs Ende der Neunziger Jahre, ist also eine exemplarische Zuspitzung bestimmter Herrschaftsstrukturen. Und der Stammtisch – egal ob bei Klappsch oder im Ratskeller abgehalten – bildet wiederum das Kondensat der Kleinstadt. 28  Zilles: Schulen der Männlichkeit 2012, S. 59.

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lytisch erkannt und pejorativ zusammengefasst: »Theater, und kein gutes.« (U 389) Trotz dieses späteren ästhetischen Werturteils des feinsinnigen Intellektuellen Buck soll nicht die perfide Kreativität des opportunistischen Maskenspiels und Switchens unterschätzt werden. Der Vorgang des Switching ist daher besonders gut zu beobachten, wenn Heßling auf die Einwürfe des liberalen Fabrikantengatten Lauer, der Empathie gegenüber dem kurz zuvor vom Wachposten erschossenen Arbeiter zeigt, seine Barttracht und die damit assoziierte imperiale Gesinnung betreffend, augenblicklich kontert: »Der Schnurrbart wird von Seiner Majestät getragen! [...] Im übrigen lehne ich jede Diskussion mit einem Arbeitgeber ab, der den Umsturz fördert.« (U 122) Das verwundert in keinster Weise. Nicht das Argument oder die Entfaltung eines Diskurses sind die Praktiken des Diederich Heßling, sondern die Performanz und die Attitüde, sprich: die Kunst des Auftritts. Dass diese demonstrative ContraHaltung gegenüber Lauer Wirkung im Umfeld des Stammtisches hat, zeigt die fast schon zeitlich synchron erfolgende Reaktion seiner Gesinnungsgenossen, denn »neben Diederich reckten sich kampfbereit Jadassohn und Pastor Zillich.« (U 123) Es wird also Position bezogen und Front gemacht. Auch in der späteren Sitzordnung im Ratskeller wird diese Choreographie aufrechterhalten, als Heßling sich weigert, neben Lauer Platz zu nehmen: »Für mich gibt es da nur zwei Parteien, die seine Majestät selbst gekennzeichnet haben: die für ihn und die gegen ihn. Und da scheint es mir allerdings, daß an dem Tisch der Herren für mich kein Platz ist.« (U  124) Die Bekenntnisse zu bestimmten Männerbildern und die darauf aufbauenden Bewegungs- und Kommunikationsakte strukturieren also auch räumlich die Netziger Gesellschaft und die sie auf einer Mikroebene widerspiegelnde Trink­ runde. Diederich beherrscht jene Akte, kann zwischen dem Neuteutonen, dem Soldaten, dem Besitzbürger und dem politischen Reaktionär bei Bedarf wechseln und somit Akzeptanz finden. Das zeigt sich abschließend auch in der feierlichen Akzeptanz des eigentlichen Drückebergers Heßling durch den Major a. D. Kunze. Dessen Ausspruch »Sie haben sich als deutscher Mann bewährt« (U 127) legitimiert nicht nur Heßlings Ausfälle gegenüber Lauer, sondern stellt auch den Höhepunkt der Genese Diederichs am Stammtisch dar. Von einem Angehörigen des Offizierskorps ist ihm, dem Zivilisten, sozusagen der Ehrentitel Mann und damit eine Identität in Netzig verliehen worden. Der Männerbund der Trinkrunde bestätigt das durch die ihm eigene Performanz: »Man scharrte mit den Füßen, rückte die Stühle zurecht, präsentierte voreinander die Gläser, und dann durfte man trinken. Diederich bestellte sofort eine neue Flasche.« (U 127) Mit dem gemeinsamen Trunk wird ein ähnlicher Bund geschlossen wie beim Gelage der Neuteutonen nach Heßlings (eigentlich wenig ruhmreicher) Konfrontation mit den zwei adligen Offizieren in Halensee, denen er aufgrund seiner bürgerlich-zivilen Herkunft unterlag, letzteres aber dennoch als Status verschaffende

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Begegnung mit der Macht zu begreifen oder für sich auszulegen vermochte. Wie auch immer: In beiden Fällen hat der posierende Aufführende von Männlichkeitsrollen sein Publikum und damit seine Gemeinschaft gefunden. Die sich daran anschließenden Stammtischgespräche kreisen bei Walter Kempowski und bei Heinrich Mann um die immer gleichen Themen: Die Abwehr des Liberalismus, die Nichtachtung streikender Arbeiter, der Sedan-Tag, die Einheit von Thron und Altar etc. werden beschworen, so dass auch in der Kommunikation eine absolute Gleichförmigkeit erreicht wird: »So sangen sie die Wacht am Rhein« (U 135) – also ein Chor von sich gegenseitig legitimierenden Wächtern, die Wer-Sein wollen. Dafür sind zwei Voraussetzungen notwendig: Die sozio-räumliche Abschottung, die Gemeinschaft ermöglicht und die gegenseitige Wahrnehmung im Gespräch bzw. durch den Habitus. Das Wer-Sein findet seine bisweilen potenzierende Bestätigung durch die wechselseitige Anerkennung innerhalb des Zirkels, aber auch durch dessen Registrierung durch die ausgeschlossenen Segmente der Gesellschaft. Nicht jeder ist anscheinend Manns genug, um an den Stammtischen Platz nehmen zu dürfen.

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Das Bodenlose, der Kugelbau und die (literarischen) Konstruktionen der Zwischenkriegszeit 1 ›Einhausung‹ Schöne Aussicht erscheint 1981 als fünfter von sechs Romanen der Deutschen Chronik. Er stellt aber gleichsam den zweiten Eintrag in diese Chronik dar, indem er die Zeit zwischen den Weltkriegen erfasst. Dringlicheres Schreibanliegen des Autors waren diejenigen Lebensphasen seiner 1929 geborenen Figur Walter Kempowski, die traditionell (und hier in drei Bänden) den schwierigen Übergang ins Erwachsenenalter, die Enkulturation und rites des passages des 9- bis 28-Jährigen modellieren: 1938 bis 1945 in Tadellöser & Wolff (1971), 1945 bis 1948 in Uns geht’s ja noch gold (1972) und 1948 bis 1956 in Ein Kapitel für sich (1975). Dem nachgetragen wird die Vorgeschichte der Familie als der zentralen Trägergröße bürgerlicher Vergesellschaftung auch noch im frühen zwanzigsten Jahrhundert, die zunächst die Zeit der Großeltern- (bis 1918 in Aus großer Zeit, 1978) und dann der Elterngeneration (Schöne Aussicht, 1981) darstellt. Vor allem wird umgezogen – oder gerade am Anfang eben nicht in eine der im Krieg erworbenen drei Villen des Großvaters – in Walter Kempowskis Schöne Aussicht (und im chronikalischen Anschluss daran in Tadellöser und Wolff 1 gleich wieder), sicher auch getragen von dem Verlangen nach den Distinktionsgewinnen durch ebendiese: aus Rostocks anrüchiger Kleine-Leute-Gegend der Borwinstraße in eine Fünfzimmerwohnung im ersten Stock der Alexandrinenstraße. Im Zentrum der Darstellung steht aber das jeweilige ›Einwohnen‹ in eine Lebenslage, die sich als unhintergehbarer Rahmen eines Lebensabschnitts erweist: als Alltag, der bewältigt werden muss. Das Alle-Tage-wieder schiebt sich in den Vordergrund, so weit, dass in den Lücken zwischen seiner szenischen Präsentation vorher als wichtig Markiertes verschwinden kann: so der erniedrigende und sich in der anfangs desolaten Wohnsituation niederschlagende Konflikt zwischen dem Großvater Robert William Kem-

1  »Schön würde es werden in der neuen Wohnung, herrlich. Wir sollten sehn: zauberhaft. Vom Balkon eine Aussicht – wonnig.« (Walter Kempowski: Tadellöser und Wolff. Ein bürgerlicher Roman. München: Hanser 1971, S. 7) https://doi.org/10.1515/9783111330938-008

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powski und dem Vater Karl um die Nachfolge in der Reederei, der sich irgendwann irgendwie ›wie von selbst‹ erledigt hat. »Schöne Aussicht« entstammt wie etwa auch »Tadellöser & Wolff« und »Uns geht’s ja noch gold« zitierter Figurenrede, lässt programmatisch für die einzelnen Romane schon im Titel die Figuren den Ton angeben. Floskeln und Verballhornungen deuten darauf hin, dass diese Figuren etwas sprachlich positiv wenden und zurechtreden, was darüber hinaus kaum je zur Darstellung kommt. Einerseits ist dabei der Komparativ, die Vergleichung, von zentraler Bedeutung für die eigene Standortbestimmung. Andererseits weisen die Veränderungen am sprachlichen Ausgangsmaterial auf einen auch veränderten Gegenstand hin: Wenn aus Loeser semantisch etwas Untadeliges an Mehrwert herauszuholen ist, dann ist auch Wolf(f) und ebenso die Firmengeschichte (&), die eine der Arisierung ist, mehr- und damit zweideutig. Dieser semantische Überschuss ist von den Sprechern nicht oder jedenfalls nie zur Gänze intendiert, wie es ohnedies vieles gibt, was ihnen unterläuft. Wie die Figuren selbst sich in die wechselnden Lagen jeweils einwohnen, stellt ihre Sprache auch eine Art ›Einhausung‹ für all das dar, was jeweils mit denselben Redensarten besprochen wird. Weil diese Redensarten immer wiederkehren und manche von ihnen eine sprachliche Variation des vorgefundenen Materials vornehmen, zeigen sie zum einen die Permanenz von Schwierigkeiten an, zum anderen die Brüchigkeit der bloß sprachlichen Bewältigungsstrategien und geben in den Brüchen minimale Durchblicke2 durch das opake Gerede: Die wiederholte Freude über die schöne Aussicht führt zur Ironie, die in schöne(n) Aussichten steckt. Mehr aber auch nicht. Die Rhetorik der Redensarten ist derart, dass das, was sie uneigentlich bereden, nicht in das eigentlich Gemeinte übersetzbar ist: Es kann sich um eine (kleine?) Schwierigkeit, eine Bedrohung oder Gefahr handeln, die jedoch in der Black Box ihrer sprachlichen ›Einhausung‹ verbleibt. Figuren wie Roman verweigern die Öffnung dieser Büchse der Pandora gleichermaßen. Die Oberflächen der Oberflächlichkeit helfen Figuren wie Roman über das hinweg, was andernorts bedeutungsschwer ›Geschichte‹ genannt und über Einschnitte (›1933‹) definiert wird. Wie man es damit halten soll, bleibt hier im Vagen, dagegen wird vorgeführt, wie man es aushalten konnte. Weil es keine Instanz gibt, die moralisierend an die Hand nimmt, kann sich der Leser erlauben, kindlich vergnügt unterhalten zu werden von den

2  So auch Wolfgang Preisendanz: Zum Vorrang des Komischen bei der Darstellung von Geschichtserfahrung in deutschen Romanen unserer Zeit. In: Ders./Rainer Warning (Hgg.): Das Komische. München: Fink 1976 (Poetik und Hermeneutik, 7), S. 153–164: »[A]ber gerade in diesen scheinbar verharmlosenden Brechungen offenbart sich das Verderbliche, das überall durch die fadenscheinige Behaglichkeit des ›bürgerlichen Romans‹ durchblickt.« (Zitiert nach Lutz Hagestedt: Vorwort des Herausgebers: Entstanden aus erlebter und erzählter Geschichte. In: Ders. [Hg.]: Walter Kempowski. Bürgerliche Repräsentanz – Erinnerungskultur – Gegenwartsbewältigung. Berlin/New York: De Gruyter 2010, S. XI–XXVII, hier S. XV.)

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Kempowski’schen Sprüchen zur lakonischen Bewältigung von Krisen der (gar nicht mal so) kleinen Leute. In der Literatur dazu heißt es gelegentlich, damit ergehe ein Appell an den mündigen Leser, sich kritisch zu dieser Sprache und den Lücken zwischen den Episoden zu verhalten. Doch eben ein Appell ist es gerade nicht. Als die Chronik um 1970 zu erscheinen begann, muss diese Darstellungsweise ›ohne Standpunkt‹, Episoden lückenhaft zu montieren und die dargestellte Welt unkommentiert zu lassen, der dominanten Ideologiekritik schwer erträglich erschienen sein.

2 »Eine Geschichte in Einzelerlebnissen und Zusammenhängen« Schöne Aussicht gehört in den Zusammenhang der wissenschaftlichen und literarischen Erinnerungsarbeit, die um 1970 beginnt, die Zwischenkriegszeit genauer in den Blick zu nehmen.3 Als Achse etabliert sich das Jahr 1933. Gefragt wird: Was trägt – vorher (Völkische, Nationalrevolutionäre) wie nachher (Konjunkturritter, Karrieristen) – zur Nazi-Diktatur bei, was kann – eher vorher (Neue Sachlichkeit) als nachher (Innere Emigration) – als erinnernswerte Tradition gerettet werden, was ist kontaminiert mit NS-Gedankengut, was ist kompromittiert? Darstellungsgegenstand und Darstellungsweise von Schöne Aussicht treten mittelbar aber auch in Konkurrenz zu den literarischen wie theoretisierenden Versuchen der Selbstverständigung in der Zeit zwischen den Kriegen selbst. Ein Vergleich dieser beiden Zugriffe auf die Periode zeigt, wie sich rückblickendes Erinnern implizit4 ins Verhältnis setzt zu unmittelbarem Verhandeln; sowohl zu den Varianten, die seit den 1970er Jahren eher als erinnernswerte Tradition reklamiert, wie den Varianten, die eher verworfen werden.

3  Die Überschrift dieses Kapitels zitiert den Untertitel des Ende der 1930er Jahre noch prophetischen Buchprojektes »Die Mecklenburger in Rußland« zum Napoleonischen Rußlandfeldzug, das der Untermieter bei Kempowskis, Herr Wirlitz, betreibt. (Walter Kempowski: Schöne Aussicht. Roman. Hamburg: Knaus 1981, S. 472). 4  Explizit geschieht das mit Wolf Durians Roman für Kinder Kai aus der Kiste. Eine ganz unglaub­ liche Geschichte (Zeitschriftenerstdruck 1924/25, Buchausgabe 1926) und der Heftchenserie Sun Koh. Der Erbe von Atlantis von Paul Alfred Müller (Pseudonym Lok Myler), die 1933–36 erstmals erschienen ist, in Tadellöser und Wolff (vgl. Eckehard Czucka: Ein Junge in den Dreißiger Jahren oder Kempowski als Leser von Wolf Durians Kai aus der Kiste. In: Hagestedt: Kempowski 2010, S. 73–88), aber auch mit Hans Dominiks Romanen Das Stählerne Geheimnis (1934), König Laurins Mantel (1928), Atomgewicht 500 (1934/35), Befehl aus dem Dunkel (1932/33) in Kempowski: Schöne Aussicht 1981, S. 460.

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Jüngst hat man Kempowskis Schreiben als einer »›liberale[n]‹ Poetik der Mitte«5 verpflichtet zu charakterisieren versucht. ›Mitte‹ ist dazu von ihrer Funktion als kulturkritischer Kampfbegriff gegen Moderne und Avantgarden seit dem Nach-Expressionismus Mitte der 1920er Jahre gelöst und umgewertet worden.6 ›Mitte‹ soll jetzt neu entdeckt werden als positive Signatur einer massendemokratischen Toleranz, die auf einer Haltung der »Entdramatisierung von Ambivalenz und Pluralitätserfahrungen«7 beruht. In der älteren Forschung herrsche dagegen Ideologiekritik vor – hier als »Avantgarde-Habitus moralischer Empörung«8 beschrieben, auf den Kempowski »verzichte«.9 An die Stelle ihrer scharfen Scheidung der Nazis sowie ihrer Vorläufer und Wegbereiter von den Weimarer Republikanern, Demokraten und den später ins Exil Getriebenen und wenigen Widerständlern tritt hier ein Lob der Indifferenz, Anpassung und Selbstsorge beim »Durchschnittsmenschen«,10 ein Werben »um Verständnis für Menschen wie die Kempowskis, die sowohl in der Eltern- als auch in der Kindergeneration versucht haben, die NS-Zeit ›irgendwie zu bestehen‹, die dabei nicht zu aktiven Tätern wurden, aber auch nicht zu moralischen Helden.«11 Beschrieben werden demzufolge im Roman die sozialen Tatsachen, kein Soll-, sondern ein Ist-Zustand, gültig für eine Mehrheit (denn das besagt der statistische, auf die Gauß’sche Normalverteilung bezogene Begriff des Durchschnittsmenschen),12 die weder Nazi noch Widerstandskämpfer noch ins Exil getrieben noch Opfer der rassistisch, biologistisch und ideologisch motivierten Ausgrenzungs- und Vernichtungspolitik waren – all jenen also, die demnach als Minderheiten an den Rändern der Kurve dargestellt werden, weil sie Denormalisierung entweder aktiv betrieben oder erlitten haben. Nicht nur die Weimarer Demokratie, in deren Nachfolge sich die BRD verstand, auch der NSStaat wird in dieser Sicht als massendemokratisch organisiert kenntlich gemacht, weil er letztlich auf die Zustimmung (bei Brecht heißt das um 1930 im Kontext der Parteidiktatur ›Einverständnis‹) von Mehrheiten zu seiner Stabilisierung angewiesen war und diese Mehrheiten immer wieder herstellen musste.

5  Matthias Löwe: Jenseits der Avantgarde: Kempowski und Enzensberger im literarischen Feld der alten Bundesrepublik. In: Tom Kindt/Marcel Lepper/Kai Sina (Hgg.): Poetik der Mitte. Walter Kempowski im literatur- und ideengeschichtlichen Kontext. Göttingen: Wallstein 2022, S.  67–84, hier S. 76. 6  Zum Verlust der Mitte s. u. Kap. 3. 7  Löwe: Jenseits der Avantgarde 2022, S. 67. 8  Zur Problematisierung dieser Kombination s. u. die Ausführungen zur Synthetischen Moderne. 9  Löwe: Jenseits der Avantgarde 2022, S. 76. 10  Löwe: Jenseits der Avantgarde 2022, S. 70, 76. 11  Löwe: Jenseits der Avantgarde 2022, S. 73. 12  Vgl. die einschlägigen Arbeiten von Jürgen Link zum Normalismus.

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Das ist, das wäre eine fesselnde Überlegung. Damit würden die Kontinuitäten im Geschichtsprozess betont, die Ähnlichkeiten von der Weimarer Republik über die NS-Diktatur zur BRD und ebenfalls zur DDR: Varianten massendemokratischer Gesellschaften, die auf Zustimmung angewiesen sind und diese nicht zuletzt über ihre Kultur zu organisieren versuchen. Doch an dieser Stelle bekommen die Vertreter der These von der ›Poetik der Mitte‹ Angst vor der eigenen Courage und rudern zurück: Kempowskis »Preisgabe des Auktorialen«,13 die Moritz Baßler zu Recht als zentrale ›moderne‹ Verfahrensweise des Autors im Echolot ausmacht und die es auf ihre Konsequenzen hin auch in den Romanen zu befragen gälte, wird von ihnen sofort wieder ›eingehaust‹. Kempowski wolle den mündigen, den »Leser mit Tiefgang«,14 und dem könne man es auch überantworten, selbständig ›eine‹ kritische Perspektive zu etablieren.15 Wer der Rezeptionsästhetik nicht gänzlich vertrauen will, der sucht im Text selbst nach impliziten Stimuli für den Leser und spürt entsprechende Verfahrensweisen des Erzählers auf.16 Die nicht-auktorialen Verfahrensweisen dienen der »Erzeugung von teils beträchtlich ästhetisierten Vergangenheitsbildern [...], die sich im Sinne einer kulturellen Topologie mit kollektiven Erinnerungen zur Deckung bringen lassen und so den erstaunlichen Wiedererkennungswert der Textfolge maßgeblich begünstigen.«17 Die Zurichtung eines dokumentarisch und (auto-)biographisch formatierten Materials zu einer eingängigen, nicht kausal sondern »topologisch« (St 425 u. ö.) verknüpften Szenenfolge adressiert und affiziert die Leser. Stefanie Stockhorst nennt das Ergebnis »eine raffinierte, überaus leistungsfähige und dabei signifikant quellengestützte Authentizitätsillusion« (St 431). Die Textorganisation löst Effekte aus, ohne dass Erzählinstanz oder Figuren zur Leserlenkung etwas ausdrücklich proklamieren müssten. Ohnedies treten die flat characters (E. M. Forster)

13  Moritz Baßler: »Geschichte: naivste Form der LITERATUR«? Paul Valéry in Walter Kempowskis Echolot. In: Hagestedt: Kempowski 2010, S. 15–26, hier S. 23. 14  Liselotte M. Davis: Gefangenschaft lesbar machen. Fritz Reuters Ut mine Festungstid und Walter Kempowskis Im Block. In: Hagestedt: Kempowski 2010, S. 103–121, hier S. 106. 15  »Die moralische Einordnung dieser disparaten Textsignale [...] wird dabei gänzlich dem Leser überlassen [...]« (Löwe: Jenseits der Avantgarde 2022, S. 76); »verweist Kempowski auf die Verantwortung des einzelnen Lesers, die Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte und der politischen Gegenwart zu suchen.« (Barbara Becker-Cantarino: Gegenwartsbewältigung. Ingeborg Drewitz und Walter Kempowski. In: Hagestedt: Kempowski 2010, S. 27–45, hier S. 43) 16  Vgl. Kai Sina: Sühnewerk und Opferleben. Kunstreligion bei Walter Kempowski. Göttingen: Wallstein 2012 (Göttinger Studien zur Generationsforschung, 9), S. 187–200. 17  Stefanie Stockhorst: Exemplarische Befindlichkeiten. Walter Kempowskis Deutsche Chronik als literarisierte Familiengeschichte und bürgerlicher Erinnerungsort. In: Hagestedt: Kempowski 2010, S. 423–442, hier S. 424–425, im Folgenden zitiert mit der Sigle St und der entsprechenden Seitenzahl.

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und die lückenhafte Familiengeschichte »zurück hinter einer überwölbenden topologischen Ordnung«. (St 425) Effekt dieser montierten Texturen ist eine »Sinnstiftung im Umgang mit der Vergangenheit« (St 425): Anschlussfähig für breite massendemokratische Trägerschichten werden »die memorialen Überlebensstrategien der vielzitierten ›nivellierten Mittelstandsgesellschaft‹ [...] der Nachkriegszeit, nicht zuletzt in ihrem Verhältnis zu den Traumata deutscher Geschichte« (St 439), hier produziert und perpetuiert. Der Selbstverständigung werden »auf ihre exemplarischen Züge hin stilisierte Zeitzeugen [...], die in ihrer Durchschnittlichkeit vertraut und in ihren Schwächen menschlich wirken« (St 439), zur Verfügung gestellt. Das will bereits die moderat heterogene Polyphonie nur durch ihre Initialen und Sprechweisen unterschiedener anonym bleibender Zeitzeugen nahelegen, mit deren kurzen, quasi-mündlichen Aussagen auf wenigen Seiten die drei Romanteile jeweils eingeleitet werden. Ihr Status als Quellen, ihre Herkunft und ihr Verhältnis zum nachfolgenden Erzählen im Präsens durch eine extra-heterodiegetische Erzählstimme bleiben zwar ungeklärt, erzeugen aber eine Atmosphäre der Zeitzeugenschaft, während der spezifische Sound des Kempowski’schen Familiensprechs eine individuelle Nuance hinzufügt. Beglaubigt und verstärkt wird aufgrund dieses einerseits akribischen, andererseits bruchstückhaften und dadurch vermeintlich authentischen Erinnerns das »retrospektiv korrigierte[.] Selbstbild« (St 440) einer nicht-extremen Durchschnittlichkeit – einer spezifischen Normalität in denormalisierten Zeiten. Bislang hat man die diagnostische Kraft von Kempowskis singulärem Zugriff, was die erzählte Kultur betrifft, gegenüber der implizit kritischen Kraft im Entstehungskontext der 1970er und 80er Jahre unterschätzt. Es mag also zutreffen, dass Kempowski hier die massendemokratische Mehrheit der NS-Zeit exkulpiert, entschuldigt, ja entschuldet. Es scheint aber ebenso triftig, dass eine solche Beschreibung der NS-Zeit als basiert auf massendemokratischer Zustimmung und damit als Fortsetzung der Dienstleistungs- und Konsumgesellschaft der Weimarer Republik einige Einblicke auch in Kontinuitäten von der Weimarer über die NS-Zeit bis in die Nachkriegsjahre gewährt. Erstaunlich und wahrscheinlich biographisch aufschlussreich ist daran, dass Kempowski als Angehöriger der wie Habermas, Enzensberger, Walser, Harig oder Wühr in den späten 1920er Jahren geborenen Intellektuellen- und Schriftstellergeneration eigentlich die Generationenposition der Väter einnimmt. Die Generationenposition der Eltern Kempowski historisch zu rekonstruieren, kann jedoch eine Erklärung für das massendemokratische Funktionieren auch der NS-Diktatur und für die unspektakulären Übergänge von der Weimarer Republik bis zur BRD und DDR liefern. Das kann hier nur sehr selektiv geschehen.

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3 ›Mitte‹ ›Mitte‹ als kulturkritischer Kampfbegriff gegen Moderne und Avantgarden wird vom Wiener, später Münchner Ordinarius für Kunstgeschichte Hans Sedlmayr 1948 systematisch in seinem Pamphlet gegen die »Bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit« in Stellung gebracht.18 Verlust der Mitte ist damit ein spätes Zeugnis der »Weltanschauungsliteratur«, in der »breite Darlegungen wissenschaftlicher Ergebnisse mit waghalsigen Hypothesen, meta­physischen Theoriefragmenten, autobiographischen Mitteilungen, persönlichen Glaubensbekenntnissen, ethischen Handlungsanweisungen, zeitpolitischen Diagnosen und gesellschaftlichen Ordnungsmodellen« synthetisiert werden.19 Sedlmayrs Kunstund Kulturtheorie, deren Grundlagen bereits aus einer kritischen Studie über Le Corbusier (Der absolute Städtebau) von 1926 stammen, wird kontinuierlich bis in die 1950er Jahre ausgearbeitet. Eine kleine Arbeit von 1939 zeigt Sedlmayrs ›Weltanschauung‹ komprimiert.20 Sie offenbart die dreifache Stoßrichtung seiner »zeitpolitischen Diagnosen und gesellschaftlichen Ordnungsmodelle[.]«: gegen die französische (1789) und die russische Revolution (1917) sowie die amerikanische Wirtschaftsmoderne als Kombination von Mobilität und Reklame. Im Kugelsymbol eines erdfernen Bauens, wie es erstmals im Gefolge von 1789 erdacht, in den 1920er Jahren schließlich realisiert wurde und in der New Yorker Weltausstellung 1939 nachhallt, glaubt er deren Schnittmenge entdecken zu können. Sedlmayrs Kritik am Kugelbau interessiert im hier entfalteten Zusammenhang mit Kempowski vor allem deshalb, weil seine umfassende Moderneschelte in der Architektur, genauer

18  Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit. Salzburg/Wien: Otto Müller 1948. – Die Auflagen (7. Auflage 1955, 8. Auflage dann erst wieder 1965) dokumentieren das Auslaufen dieses Denktypus um 1955, wiewohl in diesem Jahr die Taschenbuchausgaben bei Ullstein einsetzen und 1991 die 17. und letzte Auflage erreichen. 19  So Horst Thomé: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp. In: Lutz Danneberg/Friedrich Vollhardt. In Zusammenarbeit mit Hartmut Böhme und Jörg Schönert (Hgg.): Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer 2002, S. 338–380, hier S. 338–339, und weiter: »Unter ›Weltanschauungsliteratur‹ verstehe ich ein Korpus von Texten, die den expliziten Anspruch erheben, die ›Weltanschauung‹ des Verfassers argumentativ darzustellen. [...] Im Laufe des 20. Jahrhunderts hingegen sinkt der Begriff, wie seine exzessive Verwendung im Schrifttum des Nationalsozialismus zeigt, in den Sprachgebrauch der Pseudointellektuellen und Halbgebildeten ab.« 20  Hans Sedlmayr: Die Kugel als Gebäude, oder: Das Bodenlose. In: Das Werk des Künstlers (Kunstgeschichtliche Zweimonatsschrift, hg. v. H. Schrade) 1 (1939/40), Heft 3, S.  278–310, zitiert nach Klaus Jan Philipp (Hg.): Revolutionsarchitektur. Berlin/Boston: Birkhäuser 1990 (Bauwelt Fundamente, 82), S. 125–154, im Folgenden zitiert mit der Sigle K und der entsprechenden Seitenzahl.

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in der Praxis des Bauens und mit dem anthropologischen Fokus auf das Wohnen, die ›Behausung‹, ihr volkstümliches und allgemeinverständliches Telos findet. Damit überbietet das kleine Textkonzentrat des Architekturhistorikers die Thesen zur Kunst im Verlust der Mitte durch vermeintlich unmittelbare Evidenz, weil hier der Alltag des Durchschnittsmenschen über seine Erwartungen an ›normale‹ nichtextreme Wohnverhältnisse adressiert ist. Sedlmayrs Polemik gilt der Aufklärung, als deren krankhafte – Krankheit ist hier (nicht nur) Sedlmayrs Metaphernspender – Übersteigerung die polit-ökonomischen Systeme der USA und gleichermaßen Sowjetrusslands erscheinen. Woran sie kranken, ließe sich am Symptom, den Avantgarden der 1910er und 20er Jahre, und plastisch wiederum an deren Symbol, dem Kugelbau, veranschaulichen. So verschleiert Sedlmayr, dass er eigentlich den umgekehrten Weg verfolgt, auf dem die Kritik an avantgardistischer Kunst (die es in den USA so gar nicht gibt, deren Hochhaustürme in der Rede vom Kugelbau aber immer mitgemeint sein sollen) einstehen soll für eine vermiedene genauere Analyse politischer, ökonomischer und sozialer Verhältnisse. Im Zentrum der Kritik an den Avantgarden stehen 1) ihr Formalismus, der selbstbezüglich Zweck und Funktion hintanstellt, und 2) ihre Abstraktion, die Geometrie über Hierarchie, die das technische Artefakt Maschine und tote, amorphe Materialien wie Eisen, Stahl, Glas und Beton über den lebendigen Menschen und die organische Natur stellt. Der ideale Körper der Kugel entarte auf den Wohnbau projiziert zur absurden Karikatur – damit soll nachgewiesen sein, dass die Avantgarden sich trotz der Vollkommenheit der Kugel jetzt ausschließlich im Rahmen einer ›Ästhetik des Hässlichen‹ der Grenzüberschreitungen, Unausgewogenheiten, Verzerrungen und Extreme bewegen. Zwar provoziert der Kugelbau auch eine Reihe praktischer Schwierigkeiten, doch macht Sedlmayrs Titel bereits deutlich, dass er letztlich ein existentielles Problem darstellt: Wie der Kugelbau notwendig die Bodenhaftung verliert, so ist der entwurzelte »Anbeter geometrischer Vernunft« (K 141), den sie hervorbringt und der in ihr »haust«, der eigentlich ›unbehauste‹ »Kosmopolit« (K 141), der heimat- und bodenlose internationale Weltbürger – eine Ansammlung bekanntermaßen antisemitischer Stereotypen, die den eigentlich Gemeinten deshalb nicht zu nennen brauchen. Sedlmayrs Schlagwörter liefern eine klare Scheidung, wobei die eine Seite mit der Krankheit der Revolutionen einen Namen sowie ihre Symptome und Symbole hat, während die andere Seite noch namenlos bleibt und nur qua Implikation als das Gegenteil der polemisch bekämpften, zugleich revolutionären und kapitalistischen Kunst erschließbar ist. Dennoch zeichnet sich 1939 die Durchsetzung dieses namenlosen Anderen schon ab: Denn die verpönte Moderne habe ihren Höhepunkt überschritten, wenn die ›Kugel‹ sich wieder aus dem Alltag des Bauens zurückziehen muss und allenfalls noch die kommende New Yorker Weltausstellung beeindrucken wird – wie der auf die Aktualität seines Zeitschriftenaufsatzes bedachte Gelehrte Sedlmayr konstatiert. Der »kosmopolitische Snob der

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zwanziger Jahre« (K 141), so impliziert dieser Aufsatz damit, ist im Deutschland von 1939 bereits Geschichte. Dagegen hat die anti-revolutionäre und anti-avantgardistische ›Mitte‹ 1948 zwar endlich ihren Namen gefunden, statt aber wie 1939 kurz vor der Durchsetzung zu stehen, droht jetzt endgültig ihr »Verlust«. Der Exkurs zur Konstanz in Sedlmayrs Denken von den 1920er bis 50er Jahren war hier deshalb einzurücken, weil er einen breitesten Konsens weit über die Konservativen, Völkischen und Nationalisten hinaus zum Ausdruck bringt, der 1) über die Beschreibung und 2) die Historisierung der Moderne, insbesondere der Avantgarden herrscht, auch wenn 3) ihre Bewertung Unterschiede ums Ganze aufweisen kann. Bereits in den beiden Jahren vor Sedlmayrs Schrift zum Kugelbau entbrennt in der Moskauer Exilzeitschrift Das Wort (1936–1939) ein heftiger Bewertungskonflikt um Expressionismus und Avantgarden, der auf demselben Konsens bei der Beschreibung und Historisierung beruht. Die Verfechter der Parteilinie favorisieren einen mehr oder weniger restriktiv verstandenen ›sozialistischen Realismus‹, den Georg Lukács abschließend kennzeichnet als die »nacherlebbare Darstellung der ›Oberfläche‹, die gestaltend, ohne von außen hinzugetragenen Kommentar, den Zusammenhang von Wesen und Erscheinung in dem dargestellten Lebensabschnitt aufzeigt.«21 Von Rudolf Leonhards zunächst zustimmend zitiertem Diktum: »Der Expressionismus war; also war er einmal, war er damals vernünftig« lässt er nur gelten, dass er ein »historisches Phänomen« war, nicht jedoch ein notwendiges.22 Die Parteilinie bewertet die Avantgarden damit streng als Symptom für Verfall und Dekadenz und damit als Teil der spätkapitalistischen bürgerlichen Gesellschaft. Für Ernst Bloch oder Bert Brecht dagegen arbeiten avantgardistische Verfahren wie Schnitt und Montage bereits aktiv am revolutionären Umbruch, indem sie die Grundlagen dieser Gesellschaft kritisieren und auflösen. Während auch er den Expressionismus für eine bereits historisch überwundene Epoche hält, plädiert Brecht für eine Synthese aus Realismus und Verfahren der Avantgarden und außerdem der neuen Medien Film und Radio, soweit sich diese für das Ziel des Klassenkampfes funktionalisieren lassen.23 Wenn Brecht 1938 die inkriminierte Moderne verteidigt, dann geschieht dies unter den Vorzeichen der Historisierung und der Kombinatorik: »[W]ir werden alle Mittel verwenden, alte und neue, erprobte und unerprobte, aus der Kunst stammende und anderswoher stammende, um die Realität den Menschen meisterbar in

21  Georg Lukács: Es geht um den Realismus. In: Das Wort 1938, Heft 6, S. 112–138, hier S. 117. 22  Lukács: Realismus 1938, S. 127 u. 126. – Hervorhebungen im Zitat sind original, solange nicht ausdrücklich markiert: (Herv. GF). 23  Vgl. Bertolt Brecht: Über den formalistischen Charakter der Realismustheorie. In: Ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 22: Schriften 2 1933–1942, hg. von Inge Gellert/Werner Hecht. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, S. 437–444.

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die Hand zu geben.«24 In einer Fußnote zum Begriff »realistisch*« spezifiziert Brecht vor allem die neuen Mittel aus der Literatur, die dem Realismus dienstbar gemacht werden können: »*Innerer Monolog (Joyce), Stilwechsel (Joyce), Dissoziation der Elemente (Döblin, Dos Passos), assoziierende Schreibweise (Joyce, Döblin), Aktualitätenmontage (Dos Passos), Verfremdung (Kafka).«25 Und ein Jahr nach Sedlmayrs Schrift zum Kugelbau beschreibt und bewertet Clement Greenberg 1940 in der Partisan Review (die damals Meinungsführer der US-amerikanischen Linken war) unter dem klassizistischen Titel Towards a Newer Laocoon die radikalisierte Moderne anhand der Lessing’schen Denkfigur von den kunstspezifischen Mitteln: Zwar betreibt die Moderne mit dem Drängen auf die medium specificity26 die Zerlegung und Erforschung des künstlerischen Materials und der Verfahrensweisen, ›Techniken‹, aber gerade in dieser ›Reinigung‹ erblickt Greenberg ihre kulturelle Leistung. Die Malerei etwa wird postfigurativ und abstrakt, ergründet die Möglichkeiten von Farbe und Fläche (etwa im Konstruktivismus, Suprematismus) und von Linie und Kontur (etwa in der Abstraktion Kandinskys). Greenbergs Thesen sind leicht auf die Literatur zu übertragen: Auf Grundlage der Sprachkritik zur Jahrhundertwende (Nietzsche, Mauthner, Kraus, Hofmannsthal) wird das Sprachmaterial zerlegt und erforscht: in Futurismus und Dada, bei Morgenstern und Ringelnatz, exemplarisch seit Carl Einsteins Herr Giorgio Bebuquin 1907.27 Erscheint die Moderne bei Sedlmayr, in der Expressionismus-Debatte und bei Greenberg als eine Formation, auf die ein resümierender Rückblick bereits möglich ist, liegt der Beginn dieser Historisierung schon in den 20er Jahren: In seiner Zeitschrift Das Kunstblatt (1916–1933) führt der Kunstkritiker und Sammler Paul Westheim im August 1922 eine Rundfrage zum Thema »Gibt es einen neuen Naturalismus??«28 [sic!] durch, die das »Ende des Expressionismus«29 schon als

24  Bert Brecht: Volkstümlichkeit und Realismus (1) [für: Das Wort 1938, unveröffentlicht]. In: Ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 22: Schriften 2 1933–1942, hg. von Inge Gellert/Werner Hecht. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, S. 405–412, hier S. 408. 25  Bert Brecht: Notizen über realistische Schreibweise. In: Ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 22: Schriften 2 1933–1942, hg. von Inge Gellert/Werner Hecht. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, S. 620–640, hier S. 630. 26  »Purity in art consists in the acceptance, willing acceptance, of the limitations of the medium of the specific art.« (Clement Greenberg: Towards a Newer Laocoon. In: Partisan Review VII (JulyAugust 1940), Heft 4, S. 296–310, hier S. 305) 27  Carl Einstein: Herr Giorgio Bebuquin. In: Die Opale. Blätter für Kunst & Litteratur. Nr. 1–4. Leipzig: Zeitler. Buch-Edition: Carl Einstein: Bebuquin. Berlin-Wilmersdorf: Die Aktion 1912. 28  Ankündigung einer Sondernummer »Ein neuer Naturalismus??« In: Das Kunstblatt 6 (August 1922), Heft 8, S. 368. 29  [Paul Westheim]: Ein neuer Naturalismus?? Eine Rundfrage des Kunstblatts. In: Das Kunstblatt 6 (September 1922), Heft 9, S. 369.

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modisches Schlagwort verzeichnet. In einer Sondernummer im September antwortet darauf unter anderen Gustav Friedrich Hartlaub, Direktor der Städtischen Kunsthalle Mannheim.30 Der Expressionismus, der für ihn den Oberbegriff für ein Kunstwollen »von abstraktester Gesetzmäßigkeit der Formberechnung bis zu freiester Gefühlsaussprache, vom Kubismus bis zu Kandinsky« (H 389) darstellt, musste als »der abenteuerliche Vorstoß inmitten unserer materialistischen Gesellschaftsordnung und Weltanschauung fast wahnwitzig erscheinen und darum zersplittern und ganz zurückgenommen werden«. (H 389–390) Daraus folgt die vielzitierte Diagnose für den Nach-Expressionismus, auch als implizite Expressionismuskritik: Ich sehe einen rechten, einen linken Flügel. Der eine konservativ bis zum Klassizismus, im Zeitlosen Wurzel fassend, will nach so viel Verstiegenheit und Chaos das Gesunde, Körperlich-Plastische in reiner Zeichnung nach der Natur, vielleicht noch mit Übertreibung des Erdhaften, Rundgewachsenen wieder heiligen. [...] Der andere linke Flügel, grell zeitgenössisch, weit weniger kunstgläubig, eher aus Verneinung der Kunst geboren, sucht mit primitiver Feststellungs-, nervöser Selbstentblößungssucht Aufdeckung des Chaos, wahres Gesicht unserer Zeit. (H 390)

Sedlmayr erscheint in dieser Perspektive dann als Theoretiker eines rechten Flügels, der für das Gesunde, Erdhafte und Rundgewachsene optiert. Aus Hartlaubs Stellungnahme resultiert der Plan zu einer heute berühmten Ausstellung im September 1923, zu der er wenig später in einem offenen Brief in Der Querschnitt – Das Magazin der aktuellen Ewigkeitswerte (1921–1936) aufruft: Unter dem Titel »›Die neue Sachlichkeit‹ [...] soll eine[.] Zusammenstellung des nach-expressionistischen Schaffens, soweit es in der Richtung auf neue Sachlichkeit, Gegenständlichkeit, Realisierung liegt«, versucht werden. »Sowohl der mehr klassizistische Flügel als auch der bekennerisch ›veristisch‹ orientierte soll zur Geltung gebracht werden.«31 Ausgeschlossen sein sollten jedoch von vorneherein wiederum allzu extreme Stücke, »die in gegenständlicher Hinsicht allzu gewagt erscheinen und in einer unvorbereiteten Öffentlichkeit nur Mißverstehen hervorrufen müßten...«32 Einer, insbesondere literaturhistorischen Forschung, die Neue Sachlichkeit seitdem zur Epochensignatur für die späte Weimarer Republik erhoben hat, ist der rechte klassizistische Flügel eines bis in die 1950er Jahre anhaltenden Nach-Expressionismus mittlerweile abhanden

30  Ein neuer Naturalismus 1922, S. 369–414, Hartlaub S. 389–393, im Folgenden zitiert mit der Sigle H und der entsprechenden Seitenzahl. 31  L. [sic.] Hartlaub: Schreiben der Städtischen Kunsthalle Mannheim. In: Der Querschnitt (1923), Heft  3–4, S.  200. Vgl. Julia Bertschik: Der Querschnitt. Illustrierte Monatszeitschrift 1921–1936, https://litkult1920er.aau.at/themenfelder/der-querschnitt/ (letzter Zugriff am 19.7.2023). 32  Hartlaub: Schreiben 1923, S. 200.

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gekommen. Zudem sind für Hartlaub trotz des Neueinsatzes die Errungenschaften von Kubismus und Expressionismus »unverloren« und »unvergessen«. (H 393) Der Kunsthistoriker Franz Roh kennt 1925 ebenfalls eine linke und »eine rechte Gruppe, die des Idylls, die Wunden schließt, kühlt oder durch Erzeugung innerer Wohligkeit und Wärme austrocknen will«,33 und setzt weitere Synonyme für die Benennung der neuen Epoche in Umlauf. Sein Buch Nach-Expressionismus – Magischer Realismus: Probleme der neuesten europäischen Malerei bringt die erste monografische Bestandsaufnahme des epochalen Umbruchs, die er als »wichtigere[.] Zäsur […] als die zwischen Impressionismus und Expressionismus« (R 67) einschätzt.34 Auf der Suche nach einem geeigneten Namen favorisiert Roh schließlich Magischer Realismus. Die neueste Kunst sei »härter« (R 16), »weniger triebdumpf« (R 10) und vor allem »männlich«. (R 9, 17, 65) Was Roh damit meint, liest er einem Brief Ferruccio Busonis an Paul Bekker von 1921 ab, »eines der frühesten Dokumente jenes gesamten Umschwunges (mindestens für die nichtveristische Linie nachexpressionistischer Musik)« (R 112). Busoni plädiert darin für »junge Klassizität« als eine »Sichtung und Ausbeutung aller Errungenschaften vorausgegangener Experimente« (R 112), deren »jüngste Trägerschicht« »durch den Expressionismus hindurchging[.]«. (R 2) Die Frage nach der Bedeutung »der durch den Expressionismus hindurchgegangenen Generation« wird schnell zum Gemeinplatz auch in der Diagnostik von Gegenwartsliteratur.35 Den realistischen Akzent, den Roh als »besonnen, ehern, gehalten« kennzeichnet, verbindet »wiedereingesetzte Gegenständlichkeit« (R 26) mit der »Magie des Seins« (R 30), ohne dadurch die »Verbindung mit dem Volke« (R 26) einzubüßen oder der Gefahr einer neuen »Biedermeiermalerei« (R 26) zu erliegen. Roh, von dem das MoMA in New York einige Fotoexperimente der späten 1920er Jahre36 und die Tate Modern in London einige kleinere Papierarbeiten

33  Franz Roh: Nach-Expressionismus – Magischer Realismus. Probleme der neuesten europäischen Malerei. Leipzig: Klinkhardt & Biermann 1925, S. 95, im Folgenden zitiert mit der Sigle R und der entsprechenden Seitenzahl. 34  1924 diskutiert Roh das Bauhaus noch als drittes Stadium des deutschen Expressionismus, als Phase der Akademie (Das staatliche Bauhaus in Weimar. In: Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers [1924], Heft 8, S. 367–369). Auch bei ihm wird deutlich, dass ›Expressionismus nur als ein Ober-, besser Sammelbegriff für die heterogenen Projekte der Avantgarden fungiert. 35  Hermann Pongs: Aufriss der deutschen Literaturgeschichte. X. Vom Naturalismus bis zur Gegenwart (Neue Sachlichkeit). In: Zeitschrift für Deutschkunde 43 (1929), Heft 5, S.  305–312, hier S. 312. Wieder als: Vom Naturalismus zur neuen Sachlichkeit. In: Hermann August Korff/Walther Linden (Hgg.): Aufriß der deutschen Literaturgeschichte nach neueren Gesichtspunkten, Leipzig: Teubner 1930, S. 192–217. 36  https://www.moma.org/interactives/objectphoto/objects/84056.html (letzter Zugriff am 28.8.2023) – aus dem Umfeld des Buchprojekts: Franz Roh/Jan Tchichold: Foto-Auge. 76 Fotos der Zeit. Stuttgart: Akademischer Verlag Dr. Fritz Wedekind & Co. 1929.

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aus den späten 1930er Jahren im Stil von Max Ernsts surrealistischen Collagen aus Holzstichen des neunzehnten Jahrhunderts besitzt,37 wiederholt auch im Rückblick von 1958 Beschreibung und Merkmale des Epochenwandels. Auf »eine wachsende Dingentfremdung« (Abstraktion) und »ein Crescendo an Umsetzung der Formen und eigenmächtigem Selbstleben der Farbe« (Formalismus, medium specificity) »entfaltete sich eine Gegenbewegung«: Im »Gegensatz zum Expressionismus sollte noch einmal die Eigengesetzlichkeit der uns umgebenden Objektwelt ausgekostet werden.«38 In Nach-Expressionismus war weit emphatischer davon die Rede gewesen, dass »noch einmal unersättliche Lust an [dieser Erde] erwacht sei, Lust auch an ihrem engen, fragmentarischen Charakter«. (R 24) Solche Kritik an der Moderne der Avantgarden grundiert als Allgemeinwissen bis weit in die 1950er Jahre hinein dann auch die Weltanschauungspassagen zur kunsttheoretischen und poetologischen Selbstverständigung der Literatur des Nach-Expressionismus selbst. Prominent zu beobachten etwa an Thomas Manns Abrechnung mit der Abstraktion in der Atonalität seit der Jahrhundertwende und besonders der Zwölftonmusik der 20er Jahre, die er im XXV. Kapitel seines Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde (1947) als Gespräch des Protagonisten mit dem Teufel inszeniert. Während der Roman mit seinem ›schwachen‹ homodiegetischen Erzähler, seiner moderaten Montage, performativ aufführt, wie moderne Verfahren einem Darstellungsanliegen dienstbar gemacht werden können, werden in der Diegese mittels der Biografie des deutschen Tonsetzers die Ansprüche einer radikalen intellektualistischen und unduldsamen Avantgarde konterkariert. So stammen die musiktheoretischen Überlegungen bereits aus geheimen Aufzeichnungen des Titelhelden, und der Erzähler schreibt die dramatische Szene des Zwiegesprächs mit dem Teufel bloß ab, da ihre Fantastik dem dominant mimetischen Darstellungsanliegen widerspräche. Der Teufel verführt Leverkühn zur ›Krankheit‹ mediumspezifischer, bloß selbstbezüglicher Technik, die sich den ehemals autonomen Schöpfer von Werken unterwirft: [...] Wir haben da einen Anspruch von Richtigkeit, den das Gebild an den Künstler stellt, – ein wenig streng, was meinst du? Erschöpft sich nicht nächstens sein Tun in der Vollstreckung des in den objektiven Bedingungen der Produktion Enthaltenen? In jedem Takt, den einer zu denken wagt, präsentiert der Stand der Technik sich ihm als Problem. Jeden Augenblick verlangt die Technik als ganze von ihm, daß er ihr gerecht werde und die allein richtige Antwort, die sie in jedem Augenblick zuläßt. Es kommt dahin, daß seine Kompositionen nichts mehr als

37  Vgl. die Seite über Franz Roh der Tate-Modern-Website in der Kategorie Art and Artists. https:// www.tate.org.uk/art/artists/franz-roh-10609 (letzter Zugrif am 19.7.2023). 38  Franz Roh: Geschichte der deutschen Kunst von 1900 bis zur Gegenwart. München: Bruckmann 1958, S. 112.

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solche Antworten sind, nur noch die Auflösung technischer Vexierbilder. [...] Die prohibitiven Schwierigkeiten des Werks liegen tief in ihm selbst. Die historische Bewegung des musikalischen Materials hat sich gegen das geschlossene Werk gekehrt. [...] ein unerbittlicher Imperativ der Dichtigkeit, der das Überflüssige verpönt, die Phrase negiert, das Ornament zerschlägt, richtet sich gegen die zeitliche Ausbreitung, die Lebensform des Werkes.39

Formalismus und Abstraktion erscheinen nur als die andere, kunsttheoretische Seite eines existentiell-biografischen und mit ›Krankheit‹ assoziierten Expressionismus, wonach der Künstler »der Bruder des Verbrechers und des Verrückten«40 sei und »schöpferische, Genie spendende Krankheit, Krankheit, die hoch zu Ross die Hindernisse nimmt [...] in kühnem Rausch [...] tausendmal dem Leben lieber ist als die zu Fuße latschende Gesundheit.«41 Weil er durch die Moderne hindurchgegangen ist, kann der Realismus des literarischen Nach-Expressionismus ›komplexe‹ Texturen hervorbringen, also solche, die Verfahren der Avantgarde immer dann einsetzen, wenn sie eine grundsätzlich mimetische Darstellung repräsentativer Biografieerzählungen unterstützen.42 Das gilt an den äußersten Grenzen des Nach-Expressionismus auch dann noch, wenn die sprachanalytische Dimension die unmittelbare Eingängigkeit der Texturen prima vista sogar zu gefährden droht, wie das in Arno Schmidts KAFF auch Mare Crisium (1960) der Fall ist.43 Zumindest programmatisch zielt selbst die Auflösung der orthografischen Ordnung im Dienste einer Nachbildung dialektaler und soziolektaler Mündlichkeit und einer Aufdeckung verschütteter, ›toter‹ oder

39  Thomas Mann: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde. Frankfurt/M.: S. Fischer 1981, S. 240–241. 40  Mann: Faustus 1981, S. 237. 41  Mann: Faustus 1981, S. 243. 42  Vgl. Gustav Frank/Stefan Scherer: Komplexer Realismus in der Synthetischen Moderne: Hermann Broch – Rudolf Borchardt. In: Sabine Kyora/Stefan Neuhaus (Hgg.): Realistisches Schreiben in der Weimarer Republik. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005 (Schriften der Ernst-Toller-Gesellschaft, 5), S. 111–122; dies.: Komplexer Realismus als nachexpressionistische Konstellation: Elisabeth Langgässers Romane (von 1936 und 1946). In: Claudia Öhlschläger/Lucia Perrone Capano/Vittoria Borsò (Hgg.): Realismus nach den europäischen Avantgarden. Bielefeld: Transcript 2012 (Kultur- und Medientheorie), S. 13–39; dies.: Textur der Synthetischen Moderne (Döblin, Lampe, Fallada, Langgässer, Koeppen). In: Moritz Baßler/Hubert Roland/Jörg Schuster (Hgg.): Poetologien deutschsprachiger Literatur 1930–1960. Kontinuitäten jenseits des Politischen. Berlin/Boston: De Gruyter 2016 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, 146), S. 77–104; Gustav Frank: Beyond the Republic? Post-Expressionist Complexity in the Arts. In: Jochen Hung/Godela Weiss-Sussex/Geoff Wilkes (Hgg.): Beyond Glitter and Doom. The Contingency of the Weimar Republic. München: Iudicium 2012 (Publications of the Institute of Germanic Studies, University of London, 98), S. 45–68. 43  Arno Schmidt: KAFF auch Mare Crisium. In: Ders.: Das erzählerische Werk. Bd. 7. Zürich: Haffmanns 1985, im Folgenden zitiert mit der Sigle KAFF und der entsprechenden Seitenzahl.

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verborgener semantischer Tiefendimensionen sowie die Verselbständigung der Satzzeichen zur Nachahmung der pragmatischen Sprachdimensionen nicht auf Unverständlichkeit,44 sondern im Gegenteil gerade auf Mimesis und Verständlichmachung. Die Regionalisierung von avantgardistischen Verfahren äußert sich hier buchstäblich in der phonetischen Nachahmung von Dialekten im Moment ihrer Mischung, nicht jedoch in völkischer Isolation wie in Josef Nadlers Literaturge­ schichte der deutschen Stämme und Landschaften (1912–1918, 2. Aufl. 1922–1928).45 So erstaunt es auch nicht, dass der Erzähler, der schmidttypische Autodidakt Karl Richter (!), und seine Geliebte, die grade durch die »Flanzn=Ornamente[.]« der ländlichen Natur von ihrer Fixierung auf »de aps=tracktn Muster« (beide KAFF 23) erlöste »Schtadtflanz[e]« (KAFF 20) und Musterzeichnerin Hertha Theunert, ungegenständliche Kunst im Duett zurückweisen: »Was Die sich so mit uns erlaubn ? – : Halten Die uns für behämmert ?« / »Einmal das; und sind außerdem frech wie Oskar : verlassen sich drauf, daß Keiner als ›Unmodern‹ gelten möchte, und die Unsicheren sich zu blamieren fürchten. Die Katholen fördern die Richtung sogar : weil dadurch die ›avantgardistische Kunst‹ in unbegreiflich=absurde Bayous abgeleitet wird, und Keiner sie mehr ernst nimmt – ernst nehmen kann. Gefährlich ist ja nur Der, der gleichzeitig modern und verständlich ist : deswegen schweigt man ja so systematisch Leute wie Joyce tot.« (KAFF 34–35)46

Die hier wie bei Brecht am Beispiel Joyce formulierte Normpoetik des Nach-Expressionismus fordert Kunst, die »gleichzeitig modern und verständlich« ist.47 Die Literatur des Nach-Expressionismus macht deshalb, mehr oder weniger moderat, Gebrauch von den avantgardistischen Errungenschaften auf der Ebene der Verfahren, ordnet sie jedoch immer dem mimetischen Primat eines ›neuen Naturalismus‹ (Westheim), einer ›neuen Sachlichkeit‹ (Hartlaub), eines ›neuen Klassizismus‹ (Hartlaub, Roh), eines ›magischen‹ (Roh) oder ›sozialistischen Realismus‹ (Lukács) unter. Mit dieser Regionalisierung und Funktionalisierung avancierter Darstellungsver-

44  Vgl. Moritz Baßler: Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910–1916. Tübingen: Niemeyer 1994 (Studien zur deutschen Literatur, 134). 45  Josef Nadler: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. Regensburg: Habbel 1912–1918. 46  Wer will, kann in diese Polemik gegen diejenigen, die auf keinen Fall als unmodern gelten wollen, auch den frechen autodiegetischen Erzähler Oskar Matzerath aus Günter Grass’ im Jahr zuvor veröffentlichtem Roman Die Blechtrommel einschließen. 47  Ein Kapitel aus Joyce’ Finnegans Wake zwingt dann aber zu einer Relativierung, die nicht der Erzähler sondern die bäuerliche LeserIn in einem Akt der Selbstbescheidung vorzunehmen hat: »[...] die bestn & größdn Sachn sinn nich für uns=einfache Leude geschriebm [...] Er hat mier da ma was vor=geleesn; von ner gewissn ‚ANNA LIEWJAH’ – och so vor 15 Jaan [...]« (KAFF 101).

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fahren geht jetzt auch kein Anspruch mehr einher, die semiotischen Verhältnisse von Realität und Zeichen und deren Status grundsätzlich zu problematisieren und neu zu regeln. Diese bekannten Probleme werden vielmehr sistiert, zurückgestellt zugunsten der künstlerischen Bewältigung beschleunigt und seit dem Ersten Weltkrieg katastrophisch sich verändernder Realverhältnisse. Über die gesamte Phase hinweg werden adäquate Formen gesucht, die mit den sozialen Tatsachen einer dynamischen Realität Schritt halten: so von Walter Benjamins Einbahnstraße 1928 über Siegfried Kracauers Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland 1930 bis zu Theodor W. Adornos Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben 1951.48 Die Selbstbezüglichkeit der poetischen Sprachfunktion (Roman Jakobson) oder medium specificity der Künste überhaupt (Greenberg) erscheint dieser selbst gestellten Aufgabe gegenüber funktionslos. Die zur Normpoetik des Nach-Expressionismus bei Arno Schmidt gehörige skeptisch-pessimistische ›Weltanschauung‹ trauert anders als Sedlmayr nicht dem Verlust der ›abendländischen Kultur‹ und des ›Humanismus‹ nach, sondern basiert ihre ganz andere inhaltliche Füllung von ›Mitte‹ auf einem Gleichgewicht, in dem die jeweiligen Extremismen von BRD und DDR sich gegenseitig eindämmen: [...] – aber als schtändich zu berücksichtijende Gegengewichte gegeneinander sind die beiden großen Teil-Schtaaten unschätzbar : nur das verhindert den perfidesten Terror auf beiden Seinten : die=drübn könn’ nich voll auf »kommunistisch« drehen : »Unsere« nich auf voll »katholisch plus nazistisch« – [...] (KAFF 46)

4 Synthetische Moderne: »Bewältijunk« »gleichzeitig modern und verständlich« Man kann also von einem breiten Konsens über die Beschreibung und Historisierung der avantgardistischen Kunst und eine Mehrzahl ihrer nicht-künstlerischen ›weltanschaulichen‹ Korrelate sprechen, der von den mittleren 1920er Jahren bis weit in die 1950er Jahre reicht. Zum Teil deutliche Differenzen gibt es bei der Bewertung, die von vollständiger Ablehnung bis zur subordinierenden synthetischen Einbindung von einzelnen Verfahrensweisen in neue Funktionszusammen-

48  Gustav Frank/Stefan Scherer: »Stoffe sehr verschiedener Art … im Spiel … in eine neue, sprunghafte Beziehung zueinander setzen«. Komplexität als historische Textur in Kleiner Prosa der Synthetischen Moderne. In: Thomas Althaus/Wolfgang Bunzel/Dirk Göttsche (Hgg.): Kleine Prosa. Theorie und Geschichte eines Textfeldes im Literatursystem der Moderne. Tübingen: Niemeyer 2007, S. 253–279.

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hänge reicht. Es lässt sich dabei zeigen, dass selbst die polemische Auseinandersetzung mit der Moderne auf der Basis ihrer zutreffenden Beschreibung die eigene Textur nicht unbeeindruckt hinterlässt, wie sich das etwa bei Rudolf Borchardts Vereinigung durch den Feind hindurch (1937) ja auch im Titel bereits ankündigt, der das Motiv des Durchgangs dem gleichlautenden Titel einer militärstrategischen Abhandlung seines Protagonisten entlehnt.49 Der Einigkeit darüber, dass die elitäre »emphatische Moderne«50 Vergangenheit ist, steht ein breiter Konsens der Kulturproduzenten zur Seite, wie zeitgemäße Kulturprodukte für die massendemokratische Dienstleistungs- und Konsumgesellschaft beschaffen sein sollen: Sie sollen »gleichzeitig modern und verständlich« sein, wobei letzteres hier das problematische »volkstümlich«51 ersetzt und ebenso das unterhaltungsindustrielle »populär« vermeidet wie ersteres das radikalere »avantgardistisch«. Die Kultur, die sich selbst als Nach-Expressionismus bloß historisch und ex negativo abgrenzt, ist positiv als Synthetische Moderne zu beschreiben, die sich durch einen komplexen Realismus auszeichnet. Komplex ist dieser Realismus gegenüber dem des neunzehnten Jahrhunderts deshalb, weil er zur Erzeugung von Anschaulichkeit und Evidenzeffekten52 punktuell immer auch auf Verfahren zurückzugreifen bereit ist, die die Avantgarden ausgearbeitet haben, sie jedoch funktional einbindet und damit ihre ursprünglichen Effekte der Evidenz- und Kohärenzstörung konterkariert. Komplex muss dieser Realismus auch deshalb sein, weil etwa Brecht »andere Aufgaben zu bewältigen« sucht als Tolstoi oder Balzac.53 Vorausgesetzt ist dabei ein neugewonnenes Vertrauen in die Sprache nach der Sprach- und Erkenntnisskepsis der Jahrhundertwende. Ihre Pragmatik-Dimension als soziales Sprachspiel rückt

49  Vgl. Stefan Scherer: Vereinigung durch die Moderne hindurch. Borchardts ›zeitgenössische‹ Prosa der 30er Jahre im Roman Vereinigung durch den Feind hindurch. In: Heinz Ludwig Arnold/ Gerhard Schuster in Zusammenarbeit mit dem Rudolf Borchardt Archiv (Hgg.): Text + Kritik XI 2007, Sonderband: Rudolf Borchardt, S. 209–218. 50  Vgl. Baßler: Unverständlichkeit 1994. 51  Um den alleinigen Anspruch der Völkischen auf Volkstümlichkeit anzufechten, waren große argumentative Anstrengungen nötig geworden, vgl. Brecht: Volkstümlichkeit und Realismus (1) 1993, S. 405–412, hier S. 408: »Volkstümlich heißt: den breiten Massen verständlich, ihre Ausdrucksform aufnehmend und bereichernd / ihren Standpunkt einnehmend, befestigend und korrigierend / den fortschrittlichsten Teil des Volkes so vertretend, daß er die Führung übernehmen kann, also auch den andern Teilen des Volkes verständlich / anknüpfend an die Traditionen, sie weiterführend / dem zur Führung strebenden Teil des Volkes Errungenschaften des jetzt führenden Teils übermittelnd.« 52  Vgl. Stefan Scherer: Die Evidenz der Literaturwissenschaft. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 30 (2005), Heft 2, S. 136–155. 53  »Ich lerne bei Tolstoi und Balzac schwerer (weniger). Sie hatten andere Aufgaben zu bewältigen.« (Brecht: Realismustheorie 1993, S. 443)

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jetzt in den Mittelpunkt, was auch Wittgensteins Neuorientierung nach dem Tracta­ tus (1921/22) hin zu den Philosophischen Untersuchungen (1953) anzeigt. Korrelat ist die »unersättliche Lust an [dieser Erde], Lust auch an ihrem engen, fragmentarischen Charakter« (R 24), wobei schnell und radikal wandelbare natürliche und soziale Tatsachen als unhintergehbarer Rahmen aufgefasst werden, für den unterschiedliche Modi der Anpassung als Bewältigungsstrategien in Biografieerzählungen gefunden werden müssen: BrauchsDu das bewußte=Wissn dessen, wie’s in der Welt aussieht, nicht zu ihrer Bewältijunk ? Sollte man nicht – auf solche ja immerhin noch=schonende Weise ! – erfahren müssen, : Was Ein’n im Leben so Alles erwartn kann; und wie das dann gegebenenfalls riecht ? Ich fürchte, Du schtehst manchma immer noch vor Monaazbindn, Klos & männlichstn Gliedern; und heulst & erschtarrst & erzeuxt Dir n Schock=uff=eewich : da gieptz gans andere Dinge noch=Du ! (KAFF 165)

Zutreffend auch auf diese Schmidt’sche Poetik stellt Moritz Baßler über den Realismus seit den 1920er Jahren fest, dass sich Bedeutung [...] hier immer von selbst [versteht], sie schafft sich ihre weltförmige Darstellung im Medium des schriftlichen Textes, dessen mediale Eigenheiten für das Ganze – im radikalen Unterschied zur emphatischen Moderne – mehr oder [hier, GF] minder kontingent sind. Gemeinsam mit der marktförmigen Gebrauchs- und Unterhaltungsliteratur charakterisiert dieses Modell, wie Antiquariatskataloge und die Bücherschränke unserer Großeltern bestätigen, den durchgehend realistischen Hauptstrom, den Mainstream tatsächlich gelesener Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts.54

Anders als die Protagonisten der Synthetischen Moderne sieht Baßler mit den »Bekräftigungen eines realistischen Verfahrens, das sich auf ganz basalem Level mit den Codes, Skripten und Frames überkommener Prosa einverstanden erklärt [...,] nolens volens auch die petrifizierten idées reçues bisheriger Weltdeutung wieder ins Werk« gesetzt.55 Die Zeitgenossen hegen demgegenüber wenig Vertrauen, dass sich mit »entautomatisier[t]en«56 Realität-Zeichen-Relationen den auch wissenschaftlich noch nicht hinreichend erfassten wandelbaren sozialen Tatsachen nach Weltkrieg und Inflation sowie ihren Auswirkungen auf die sozialen Interaktionen

54  Moritz Baßler: Regression in den Realismus. Zur Einheit des literarischen Feldes der 1920er und 30er Jahre. In: Ralf Grüttemeier/Janka Wagner/Haimo Stiemer (Hgg.): Neue Sachlichkeit im Kontrast – Deutschland und die Niederlande. Berlin/Boston: De Gruyter 2021 (Spectrum Literaturwissenschaft, 82), S. 17–28, hier S. 20. 55  Baßler: Regression 2021, S. 20. 56  Baßler: Regression 2021, S. 20.

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beikommen lässt. Freilich: Eine explizite oder implizite Ontologie (ein Natur- oder Geschichtsgesetz oder eine christliche Metaphysik) liefert die Garanteninstanz für den Sinn wo nicht der Welt, die dargestellt wird, so doch der je vorliegenden Darstellung, die etwa in Arno Schmidts zitiertem KAFF oder schon in seinem Leviathan oder Die beste der Welten (1949) und in Schwarze Spiegel (1951) auch moralistisch (partielle) Weltuntergänge zelebrieren kann. Dass dieser Zusammenhang nicht konstatierend beschrieben, sondern darüber hinaus bewertet, genauer: in Parteinahme für die Avantgarde und ihren Rigorismus abgewertet wird, hat zu einer mindestens seit Anke-Marie Lohmeiers Intervention 2007 anhängigen und polemisch geführten Debatte um die Moderne geführt.57 Dabei ist den Avantgardisten selbst wie insbesondere ihren Erforschern eine Kombination von Verfahrenspurismus und Moralismus vorgeworfen worden. Ohne diese hier ausführlich darstellen zu können, seien zumindest die beiden Pole der Debatte kurz erinnert. Position A: Moderne Kunst als Phänomenspektrum um 1900 breche mit den Konventionen bei den Darstellungsgegenständen wie den Darstellungsweisen. Die Avantgarden um 1910 radikalisierten diese Selbstbestimmung als Moderne, indem sie sogar die Darstellungsweisen sukzessive von allen Gegenständen lösten und die jeweiligen medium- und materialspezifischen Techniken und Formen erprobten. Insbesondere diese letztere Konsequenz, die eigenen Mittel zum Gegenstand zu erheben, steige zum notwendigen Indikator für Modernität auf, egal ob das ästhetiktheoretisch als Bruch mit der bürgerlich-kapitalistischen Institution Kunst (Peter Bürger) oder semiotisch als zu sich selbst Kommen der poetischen Funktion der Sprache (Roman Jakobson) bewertet werde. Position B kritisiert daran, dass aus einer Beschreibung durch eine Art Kategorienfehler gleichsam eine neue Normpoetik abgeleitet und zum Maßstab für die gesamte Kunstproduktion seither erklärt werde. Folglich wird Forminnovation als alleiniges, selbst als notwendiges Definiens von Modernität hier bestritten. Historisch kann das durch Ausdehnung des Modernebegriffs auf die gesellschaftliche Modernisierung seit dem Einsetzen der »Sattelzeit« (Reinhart Koselleck) um 1750 gerechtfertigt werden, womit die Ausbildung eines eigenständigen Literatur- und Kunstkonzepts ohnedies einhergeht. Klassik, Romantik und Realismus sind demzufolge Phasen einer Makroepoche, die nicht allein ›formalistisch‹ definiert werden kann, sondern durch ihre Bezugnahme auf diese gesellschaftliche Modernisierung. Ist das formale Kriterium für Modernität durch dieses sozialhistorische Argument

57  Anke-Marie Lohmeier: Was ist eigentlich modern? Vorschläge zur Revision literaturwissenschaftlicher Modernebegriffe. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 32 (2007), Heft 1, S. 1–15.

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herabgestuft, kann auch ein Traditionsverhalten in der Linie von Klassik bis Realismus modern sein, selbst wenn es noch zu Zeiten der autoreferentiellen Avantgarden gepflegt wird. So können kanonische Autoren wie Theodor Fontane oder Thomas Mann von dem Stigma befreit werden, nicht jeweils so modern gewesen zu sein wie (einige) ihre(r) Zeitgenossen. Zur Rechtfertigung ihrer Kanonisierung muss nicht länger auf ad hoc-Konstrukte wie etwa das des ›apokryphen Avantgardismus‹ zurückgegriffen werden.58 Logische Konsequenz dieser Position B mit ihrer Kritik an einer Normpoetik der Forminnovation und an der Exklusion von Texten wäre jedoch nicht bloß die Rettung weniger Autoren, die ohnedies kanonisiert sind, durch eine Extension des Modernebegriffs auf der Zeitachse. Zwingende Reaktion müsste vielmehr eine Erweiterung des Korpus, eine umfassende Inklusion von Artefakten sein, wenn es denn tatsächlich die Vielzahl der Positionierungen zur Modernisierung – denn dies soll das neue nicht-formalistische Kriterium sein: Positionierung zur Modernisierung – als eine Varianten- und Optionen-Vielfalt erst noch zu erschließen gilt. Wird darüber hinaus die vermeintliche Normpoetik der Avantgarden mit Moral derart kurzgeschlossen, dass die Avantgarden selbst wie die sie rekon­ struierende Position A einen moralistischen Rigorismus praktizieren, der die nicht-forminnovativen Positionierungen zur Modernisierung nicht nur ästhetisch, sondern auch moralisch diskreditiert, gerät die Position B in argumentative Schieflage. Denn natürlich kündigen weite Teile der Frühen Moderne seit 1890 und insbesondere die Avantgarden den bürgerlichen Moralkonsens des neunzehnten Jahrhunderts auf, indem sie seine Grundlagen auf der Ebene der dargestellten Welten und erzählten Geschichten in Frage stellen: das Ich, das Herr im Haus seiner Psyche und Träger zurechenbarer Handlungen ist, die heilige Familie sowie die Geschlechter- und Eigentumsverhältnisse, die sie durch ihre Trieb- und Heiratsökonomie regelt. Bringt man mit diesen Fundamenten der Moralkritik die Gegenstandsebene wieder ins Spiel, dann gehören neue Darstellungsweisen notwendig zu diesen neuen Gegenständen, weil sich die Artefakte sonst in performative Widersprüche verwickeln würden. Moralische Grenzüberschreitungen und -erweiterungen setzt die vitalistische Programmatik der Jahrhundertwendekunst und der Avantgarden ja regelmäßig in Szene. Diese Regel kann quantitativ relativiert werden, indem weniger Normverstöße und moderatere geringeren Grades zugelassen werden. Sie kann aber auch qualitativ unterlaufen werden, indem wieder enge(re) moralische Grenzen gezogen und auf zuverlässige Trägerinstan-

58  Vgl. Stefan Börnchen/Claudia Liebrand (Hgg.): Apokrypher Avantgardismus. Thomas Mann und die Klassische Moderne. München: Fink 2008.

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zen begründet werden. Wird diese Regel für die Ebene der dargestellten Gegenstände quantitativ relativiert, mehr noch wird sie qualitativ aufgehoben, dann ergeben sich auch wieder andere Anforderungen für die Darstellungsverfahren; wiederum um nicht in performative Widersprüche zu den engeren Grenzziehungen zu geraten. Genau diese letzten Schritte vollziehen sich im Nach-Expressionismus: Um soziale Tatsachen evident darstellen zu können, bedarf es sowohl einer Ontologie wie eines synthetischen Umgangs mit avantgardistischen Verfahren, die in einem komplexen Realismus funktional eingebunden werden. Wo performative Widersprüche dagegen weiterhin zugelassen oder gar gesucht werden, kommt es zu einer Relativierung dessen, was die dargestellte Welt und die erzählte Geschichte umgrenzen. Wie ebenfalls das zitierte Beispiel von Schmidts KAFF zeigt, das sich um Peter Weiss’ Der Schatten des Körpers des Kutschers (1960) gut ergänzen ließe,59 haben die avantgardistischen Verfahren auch weiterhin das Potential, den Primat des Realismus zu brechen. Der (Nach-)Expressionismus bleibt bis in die Formalismus-Debatte der DDR hinein als eine bewusste Wahl und beständig zu reproduzierende Setzung kenntlich, auf der der massendemokratische Konsens von den 1920er zu den 1950er Jahren beruht. Formalismus und Abstraktion oder Rigorismus und Purismus (nicht Moralismus) der »emphatischen Moderne« sind, anders als die Position B es darstellt, die mit der oben skizzierten »Poetik der Mitte« sympathisiert und für sie Kempowski in Anspruch nimmt, bereits seit den 1920er Jahren Geschichte. ›Mitte‹ wird seither als Kampfbegriff gegen die Avantgarden aufgebaut und definiert eine breite Konsenszone massendemokratischer Kulturproduktion in »finsteren Zeiten«.60 Dieses Konzept von ›Mitte‹ erlaubt es dabei auch, avancierte künstlerische Verfahrensweisen und politischen Extremismus kurzzuschließen.

59  Vgl. Gustav Frank: Metaisierung und Interpiktorialität in Peter Weiss’ Bild-Text-Komposit Der Schatten des Körpers des Kutschers (1952/1960). In: Wilhelm Haefs/Stefan Brückl/Max Wimmer (Hgg.): META-Fiktionen. Der experimentelle Roman seit den 1960er Jahren. München: Text + Kritik 2021, S. 384–424 (Reihe neoAvantgarden). 60  Die offenbar früher anbrechen und nicht nur in Arno Schmidts postapokalyptischer Perspektive in KAFF auch länger andauern als etwa bei Ralf Schnell: Dichtung in finsteren Zeiten. Deutsche Literatur und Faschismus. Reinbek: Rowohlt 1998.

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5 Nach der Synthese: komplexer Realismus ohne Ontologie in Schöne Aussicht Dem Publikationszeitpunkt nach gehört Schöne Aussicht einer Epoche ›nach der Synthese‹ an, die in Werken von Autoren einer jüngeren Generation wie H. M. Enzensberger und Martin Walser nach 1955 entwickelt und durchgesetzt wird.61 Was sich über diese Schwelle hinweg erhält, ist die detailgenaue, ja detailverliebte Beobachtung der Anpassung insbesondere von Mittelschichten an die aktuellen sozialen Tatsachen.62 Was getilgt wird, ist die Einbettung der Geschichten um die Anpassung in eine Ontologie und damit die implizite Rechtfertigung, einer unbeeinflussbaren Struktur und Gesetzmäßigkeit der Welt gegenüberzustehen. Schöne Aussicht stellt also einen Teilzeitraum des Nach-Expressionismus dar, zu dessen (literarischer und weltanschaulich-theoretisierender) Selbstverständigung die synthetisierenden Verfahren des komplexen Realismus entwickelt wurden. Wie sich am Roman Kempowskis zeigen lässt, kombiniert auch er dokumentarische und Montagetechniken zu Szenenfolgen einer dennoch mimetischen Familienchronik, die anhaltende Versuche der »neuen Mittelschichten«63 vorführt, sich an wandelbare soziale Tatsachen anzupassen. Die Programmierung auf Anpassung macht dabei keinen Unterschied zwischen (abgelehnter)

61  Vgl. Stefan Scherer: Literarische Modernisierung in der Restauration. Martin Walsers Ehen in Philippsburg. In: Hansgeorg Schmidt-Bergmann (Hg.): Zwischen Kontinuität und Rekonstruktion. Kulturtransfer zwischen Deutschland und Italien nach 1945. Tübingen: Niemeyer 1998 (Reihe der Villa Vigoni, 12), S. 115–134; ders.: Durchsetzung einer Form. Wie Martin Walser den Literaturbetrieb erobert. In: Jan Badewien/Hansgeorg Schmidt-Bergmann (Hgg.): Martin Walser. Lebens- und Romanwelten. Karlsruhe: Evangelische Akademie Baden 2008, S. 37–67; ders.: Die Währungsreform der Literatur – Literatur der Währungsreform. Irmgard Keun, Heinrich Böll, Wolfgang ­Koeppen, Gert Ledig. In: Jan Badewien/Hansgeorg Schmidt-Bergmann (Hgg.): »Wacht auf, denn eure Träume sind schlecht!« Literatur in den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland. Karlsruhe: Evangelische Akademie Baden 2010, S. 50–82. 62  Vgl. Gustav Frank/Stefan Scherer: Mikrodramatik der unscheinbaren Dinge. Hans Falladas soziologischer Blick als Bedingung für Weltbestseller. In: Dies. (Hgg.): Hans Fallada. München: Edition text + kritik 2013 (Text + Kritik, 200), S. 83–93. 63  Vgl. Gustav Frank: ›…und das moderne Epos des Lebens schreiben‹: Wirtschaftswissen bei Sternheim, Fallada, Borchardt und Fleißer. In: Christine Maillard/Michael Titzmann (Hgg.): Literatur und Wissen(schaften) 1890–1935. Stuttgart/Weimar: Metzler 2002 (M-&-P-Schriftenreihe für Wissenschaft und Forschung), S. 279–330; Stefan Scherer: Stell Dich an! Literarische Transformationen des Angestelltenromans (1930–1959). In: Gustav Frank/Rachel Palfreyman/Ders. (Hgg.): ­Modern Times? German Literature and Arts Beyond Political Chronologies/Kontinuitäten der Kultur: 1925–1955. Bielefeld: Aisthesis 2005, S. 185–210.

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Weimarer Republik und (indifferent wahrgenommener) NS-Diktatur.64 Erzählt wird mithin eine Lebensform genau nach dem (literarischen) »Diktat der Zeit«.65 Erzählt wird aber nicht mehr unter dem Schirm einer implizit bleibenden oder explizierten Ontologie, die auch Weltkrieg und Shoa (in Elisabeth Langgässers Das unauslöschliche Siegel von 1946) oder Atomapokalypse (in Schmidts KAFF) einen Sinn abzugewinnen vermag. Bei Enzensberger oder Walser führt das dazu, eine sowohl immer genauere wie je aktualisierte Analyse der zeitgenössischen sozialen Verwertungszusammenhänge und massenmedialen Funktionen anzustreben; dies mit Blick auf kollektive Prozesse ebenso wie sensibel für einzelbiographische Folgen. Auch Kempowskis historisierender Roman versucht, eine Perspektive aus der Mitte der Zeit heraus zu simulieren, ohne Rekurs auf eine Ontologie und eine von ihr garantierte Moral, also auch ohne das vermeintlich bessere Wissen des Publikationszeitpunktes 1981. Seine ›Einhausung‹ alles dessen, was man 1981 weiß und für einschneidend hält wie das Jahr 1933, führt zur irritierenden Indifferenz des Textes, zur verblüffenden Durchschnittlichkeit seiner Figuren, die Träger des massendemokratischen Konsenses sind. Das kann man als Haltung der »Entdramatisierung von Ambivalenz und Pluralitätserfahrungen«66 bewerten, optimistisch für die Gegenwart der Massendemokratie müssen einen die Kempowskis trotz der schönen Aussicht(en) nicht stimmen.

64  Vgl. Gustav Frank/Stefan Scherer: »Lebenswirklichkeit« im »gespaltenen Bewußtsein«: Hans Fallada und die Erzählliteratur der späteren 30er Jahre. In: Lutz Hagestedt/Patricia Fritsch-Lange (Hgg.): Hans Fallada und das Literatursystem der Moderne. Berlin/New York: De Gruyter 2011, S. 23–37. 65  Vgl. Stefan Scherer: ›Synthetische Moderne‹. Eine Epochenschwelle um 1925. Paula Schliers Petras Aufzeichnungen oder Konzept einer Jugend nach dem Diktat der Zeit (1926). In: Vielheit und Einheit der Germanistik weltweit. Akten des XII. Internationalen Germanistenkongresses Warschau 2010, Bd. 8: Klassische Moderne-Schwellen. Betreut und bearbeitet von Stefan Börnchen, Claudia Liebrand, Georg Mein. Frankfurt/M.: Lang 2012, S. 263–267. 66  Löwe: Jenseits der Avantgarde 2022, S. 67.

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Literaturverzeichnis Ankündigung einer Sondernummer »Ein neuer Naturalismus??« In: Das Kunstblatt 6 (August 1922), Heft 8, S. 368. Baßler, Moritz: Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910–1916. Tübingen: Niemeyer 1994 (Studien zur deutschen Literatur, 134). Baßler, Moritz: »Geschichte: naivste Form der LITERATUR«? Paul Valéry in Walter Kempowskis Echolot. In: Lutz Hagestedt (Hg.): Walter Kempowski. Bürgerliche Repräsentanz – Erinnerungskultur – Gegenwartsbewältigung. Berlin/New York: De Gruyter 2010, S. 15–26. Baßler, Moritz: Regression in den Realismus. Zur Einheit des literarischen Feldes der 1920er und 30er Jahre. In: Ralf Grüttemeier/Janka Wagner/Haimo Stiemer (Hgg.): Neue Sachlichkeit im Kontrast – Deutschland und die Niederlande. Berlin/Boston: De Gruyter 2021 (Spectrum Literaturwissenschaft, 82), S. 17–28. Becker-Cantarino, Barbara: Gegenwartsbewältigung. Ingeborg Drewitz und Walter Kempowski. In: Lutz Hagestedt (Hg.): Walter Kempowski. Bürgerliche Repräsentanz – Erinnerungskultur – Gegenwartsbewältigung. Berlin/New York: De Gruyter 2010, S. 27–45. Bertschik, Julia: Der Querschnitt. Illustrierte Monatszeitschrift 1921–1936. https://litkult1920er.aau.at/ themenfelder/der-querschnitt/ (letzter Zugriff am 19.7.2023). Börnchen, Stefan/ Liebrand, Claudia (Hgg.): Apokrypher Avantgardismus. Thomas Mann und die Klassische Moderne. München: Fink 2008. Brecht, Bertolt: Volkstümlichkeit und Realismus (1). In: Ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 22: Schriften 2, 1933–1942, hg. von Inge Gellert/Werner Hecht. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 405–412. Brecht, Bertolt: Über den formalistischen Charakter der Realismustheorie. In: Ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 22: Schriften 2, 1933–1942, hg. von Inge Gellert/Werner Hecht. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, S. 437–444. Brecht, Bertolt: Notizen über realistische Schreibweise. In: Ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 22: Schriften 2, 1933–1942, hg. von Inge Gellert/Werner Hecht. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, S. 620–640. Czucka, Eckehard: Ein Junge in den Dreißiger Jahren oder Kempowski als Leser von Wolf Durians Kai aus der Kiste. In: Lutz Hagestedt (Hg.): Walter Kempowski. Bürgerliche Repräsentanz – Erinnerungskultur – Gegenwartsbewältigung. Berlin/New York: De Gruyter 2010, S. 73–88. Davis, Liselotte M.: Gefangenschaft lesbar machen. Fritz Reuters Ut mine Festungstid und Walter Kempowskis Im Block. In: Lutz Hagestedt (Hg.): Walter Kempowski. Bürgerliche Repräsentanz – Erinnerungskultur – Gegenwartsbewältigung. Berlin/New York: De Gruyter 2010, S. 103–121. Einstein, Carl: Herr Giorgio Bebuquin. In: Die Opale. Blätter für Kunst & Litteratur. Nr. 1–4. Leipzig: Zeitler. Buch-Edition: Carl Einstein: Bebuquin. Berlin-Wilmersdorf: Die Aktion 1912. Frank, Gustav: ›…und das moderne Epos des Lebens schreiben‹: Wirtschaftswissen bei Sternheim, Fallada, Borchardt und Fleißer. In: Christine Maillard/Michael Titzmann (Hgg.): Literatur und Wissen(schaften) 1890–1935. Stuttgart/Weimar: Metzler 2002 (M-&-P-Schriftenreihe für Wissenschaft und Forschung), S. 279–330. Frank, Gustav: Beyond the Republic? Post-Expressionist Complexity in the Arts. In: Jochen Hung/ Godela Weiss-Sussex/Geoff Wilkes (Hgg.): Beyond Glitter and Doom. The Contingency of the Weimar Republic. München: Iudicium 2012 (Publications of the Institute of Germanic Studies, University of London, 98), S. 45–68.

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 Gustav Frank

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Das Bodenlose, der Kugelbau und die Konstruktionen der Zwischenkriegszeit 

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Ulrike Henny-Krahmer

Schöne Aussicht: eine stilistische Positionierung im Romanwerk Walter Kempowskis mit digitalen Methoden 1 Ausgangspunkt: Romanwerk und Stil Walter Kempowskis und Schöne Aussicht Nähert man sich dem Werk Walter Kempowskis an, indem man versucht, sich einen Überblick über das von ihm Publizierte zu verschaffen, so beeindruckt es durch seinen Umfang und auch die Vielfältigkeit. Seine Veröffentlichungen aus mehr als dreißig Jahren umfassen Texte verschiedenster Gattungen, darunter seine Romane und Befragungsbücher, die Kollektivtexte des Echolots, Tage-, Kinder- und Schulbücher und auch Hörspiele.1 Allein sein Romanwerk, das im Zentrum dieses Beitrags steht, lässt sich in Teilkomplexe gliedern: So sind die Romane Tadellöser & Wolff, Uns geht’s ja noch gold, Ein Kapitel für sich, Aus großer Zeit, Schöne Aussicht und Herzlich willkommen, die Kempowski zwischen 1971 und 1984 veröffentlicht hat, der Deutschen Chronik zuzurechnen, welche »die Geschichte des deutschen Bürgertums zwischen 1885 und 1960 am Beispiel von Kempowskis eigener Familie erzählt«2 und als »autobiographisch anmutende[s] Ensemble«3 häufig im Zusammenhang erforscht wird.4 Ebenso sind seine späteren Romane von Literaturwissenschaftlern als ›zweite Chronik‹ bezeichnet worden, u. a. von Dirk Hempel:

1 Siehe für einen Überblick z. B. Dirk Hempel: Walter Kempowski. Eine bürgerliche Biographie. München: btb ³2004 und Carla A. Damiano/Andreas Grünes/Sascha Feuchert: (Hgg.): Walter-Kempowski-Handbuch. Berlin/Boston: De Gruyter 2020 (de Gruyter reference). 2 Dirk Hempel Biographie. In: Damiano/Grünes/Feuchert: Walter-Kempowski-Handbuch 2020, S. 4–9, hier S. 7. 3 Stefanie Stockhorst: Exemplarische Befindlichkeiten. Walter Kempowskis Deutsche Chronik als literarisierte Familiengeschichte und bürgerlicher Erinnerungsort. In: Lutz Hagestedt (Hg.): Walter Kempowski. Bürgerliche Repräsentanz – Erinnerungskultur – Gegenwartsbewältigung. Berlin/ New York: De Gruyter, 2010, S. 423–442, hier S. 423–424. 4 Siehe nebem dem zitierten Beitrag von Stefanie Stockhorst z. B. auch Amani Ghaly: Die literarische Darstellung von Zeitgeschichte als Familiengeschichte in Walter Kempowskis Deutscher Chronik. Dissertation. Oldenburg/Kairo: 1996 oder Raul Calzoni: »Du solltest im ›Familienton‹ schreiben«: Walter Kempowskis Deutsche Chronik. In: Simone Costagli/Matteo Galli (Hgg.): Deutsche Familienromane. Literarische Genealogien und internationaler Kontext. München/Paderborn: Fink 2010, S. 97–108. https://doi.org/10.1515/9783111330938-009

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 Ulrike Henny-Krahmer

Mit »Mark und Bein« wurde eine Erweiterung des großen Gesamtwerkplans sichtbar. Nachdem die »Deutsche Chronik« beendet und die Ebene der pädagogischen Bücher ausgebaut worden war, hatte Kempowski mit »Hundstage«, »Sirius« und »Mark und Bein« eine dritte Schicht eingezogen: die »zweite Chronik«. Sie umkreist jenseits der Rostocker Familiengeschichte zwar ebenso persönliche, autobiographische Themen, benutzt diese aber vor allem als Ausgangspunkt zur Gestaltung übergeordneter, allgemeinerer Fragen.5

Zur ›zweiten Chronik‹ lassen sich die Romane Hundstage, Mark und Bein, Heile Welt, Letzte Grüße und Alles umsonst rechnen.6 Auch wenn in der Kempowski-Forschung ausgehend von inhaltlichen Aspekten verschiedene Werkteile ausgemacht werden, so werden auf der anderen Seite auch die Bezüge zwischen den einzelnen Werken innerhalb der Werkgruppen, also zum Beispiel zwischen den Romanen innerhalb der Deutschen Chronik oder der ›zweiten Chronik‹, betont. Darüber hinaus werden auch inhaltliche, motivische, poetologische und stilistische Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Werkgruppen, beispielweise zwischen der Deutschen und der ›zweiten Chronik‹, festgestellt, so dass sich Kempowskis Gesamtwerk laut Hans-Werner Eroms als »stufenweise von einem einheitlichen Gestaltungsprinzip her verstehen«7 lässt. In seiner Dissertation Poetik der Implikation. Referentialität und Kombinatorik im Werk Walter Kempowskis untersucht Stephan Lesker verschiedene Arten von Referenzen, die von den Romanen der Deutschen Chronik ausgehen. Es gibt aber auch »Fährten ins eigene Werk«, auf die Lesker im Hinblick auf die ›zweite Chronik‹ eingeht: Kempowskis Referenzen verweisen nicht nur auf ein konkretes Musikstück, einen literarischen Text, ein Gebäude oder eine Marke. Sie referieren auch auf Topoi der anderen Romane, die sie weitertragen und versetzen. [...] Meine Darstellung soll mit einem Passus aus dem Roman Heile Welt beginnen, weil er thematisch an den letzten Roman der Deutschen Chronik – Herzlich willkommen – anschließt. Aber auch formal sowie durch Selbstreferenzen wird Kempowskis Romanzyklus wieder aufgegriffen.8

In seinem Fazit kommt Lesker zu dem Schluss, dass Kempowski durch Referenzen Implikationen schafft, die einzelne Romane und auch die Werkgruppen miteinan-

5 Hempel: Kempowski 2007, S. 204. 6 Vgl. Volker Ladenthin: Literatur als Gegensatz. Eine Einführung ins Werk Walter Kempowskis. In: Ders. (Hg.): Die Sprache der Geschichte. Beiträge zum Werk Walter Kempowskis. Eitorf: Gata 2000, S. 7–55, hier S. 34 und Julian Tietz: Mark und Bein. Eine Episode. In: Damiano/Grünes/Feuchert: Walter-Kempowski-Handbuch 2020, S. 68–72, hier S. 71. 7 Hans-Werner Eroms: Sprache. In: Damiano/Grünes/Feuchert: Walter-Kempowski-Handbuch 2020, S. 344–355, hier S. 345. 8 Stephan Lesker: Poetik der Implikation. Referentialität und Kombinatorik im Werk Walter Kempowskis. München: Belleville 2023 (Theorie und Praxis der Interpretation, 14), S. 447–448.

Eine stilistische Positionierung im Romanwerk Kempowskis mit digitalen Methoden 

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der verbinden, wodurch ein zusammengehöriges Werk entsteht.9 Auch Jasmine Wendenburg kommt in ihrer Dissertation zur Werkästhetik Kempowskis zu dem Ergebnis, dass die unterschiedlichen Textformen in Kempowskis Werk durch eine gemeinsame Erzählstrategie miteinander verbunden sind: »Bidirektionale Hypertextualität, Intermedialität und die Collagentechnik sind die wichtigsten Merkmale oder auch Arbeitstechniken der Werkstruktur, da sie die Verbindung herstellen.«10 Mit Blick auf den Sprachstil hat Eroms das Werk von Kempowski analysiert. Untersuche man die Sprachform, so erscheine das Werk als äußerst »eigenständig und einheitlich.«11 Kempowski reflektiere seine Schreibweisen, thematisiere auch deren Entwicklung über die verschiedenen Werke hinweg, trotzdem sei eine große Einheitlichkeit zu erkennen.12 Eroms untersucht mikro- und makrostilistische Eigenschaften des Werks von Kempowski und nennt folgende wesentliche Charakteristika: unvollständige Sätze, die häufige Verwendung von Fragen und die Variation von Fragesatztypen, ein bewusster Einsatz von Verbmodi (Indikativ und Konjunktiv) und ein häufiger unmittelbarer Wechsel zwischen ihnen, sowie die Verwendung stereotyper Redeweisen zur Kennzeichnung von Figuren, wie z. B. »Wie isses nun bloß möglich« oder »Gut dem Dinge«.13 Makrostrukturell bilden die einzelnen Text- und Werkteile eine Collage, die zugleich sowohl die Vielgestaltigkeit als auch die Gleichförmigkeit der Welt abbildet: So ordnen sich konsequenterweise die Werke und die Werkgruppen mit ihren je spezifischen Darstellungsabsichten auch zu einem opus magnum zusammen, bei dem die einzelnen Gruppen und Einzelglieder als größere oder kleinere, immer aber als im Prinzip gleichartige und gleichberechtigte Teile des Gesamten erscheinen. Alle gehorchen den gleichen Darstellungsprinzipien und erst in der Zusammenschau wird deutlich, dass die Mikroelemente den Makroelementen entsprechen und sich konsequent von unten nach oben vereinigen.14

Wie lässt sich vor diesem Hintergrund der Roman Schöne Aussicht stilistisch verorten? Es ist der fünfte Roman, den Kempowski publiziert hat, im Jahr 1981. Inhaltschronologisch folgt er auf den 1978 erschienenen Roman Aus großer Zeit und bildet damit den zweiten Teil der Deutschen Chronik. Mit den beiden Romanen geht Kempowski inhaltlich zurück in die Wilhelminische Zeit und die 20er und 30er Jahre. In Aus großer Zeit wird die Geschichte der Rostocker Reeder-Familie Kempowski

9 Lesker: Poetik der Implikation 2023, S. 481. 10 Jasmine Wendenburg: Die Werkästhetik Walter Kempowskis. Dissertation. Ludwig-MaximiliansUniversität München: 2022, S. 220. 11 Eroms: Sprache 2020, S. 344. 12 Vgl. Eroms: Sprache 2020, S. 345. 13 Vgl. Eroms: Sprache 2020, S. 346–351. 14 Eroms: Sprache 2020, S. 352.

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erzählt, von Robert William und Anna Kempowski und ihren Kindern Karl und Silvia. Schöne Aussicht schließt erzählzeitlich daran an und schildert die Ehe von Karl und Grethe und die Kindheit von Ulla, Robert und Walter vor dem politischen Hintergrund der Weimarer Republik und dem aufziehenden Nationalsozialismus. Schließen die beiden Romane – die nacheinander publiziert wurden und beide in der erzählten Zeit vor die vorherigen Romane zurückgehen sowie beide Teil der ersten Chronik sind – auch stilistisch aneinander an? In beiden wird vor allem heterodiegetisch erzählt, während in den anderen Romanen der Deutschen Chronik vorrangig aus der Sicht einer oder mehrerer Figuren erzählt wird. Der Roman Schöne Aussicht soll hier als Untersuchungsobjekt dienen, anhand dessen die stilistische Positionierung eines einzelnen Romans von Kempowski in seinem gesamten Romanwerk in den Blick genommen wird. Wie eng sind die Bezüge zwischen Kempowskis einzelnen Romanen in stilistischer Hinsicht und lassen sich die vom Autor intendierten und von Literaturwissenschaftlerinnen interpretierten Werkgruppen bei einer digitalen Stilanalyse wiederfinden? Lässt sich die von Kempowski selbst reflektierte Entwicklung seiner Schreibweisen erkennen und in welcher Weise? Welche Stilmerkmale sind ausschlaggebend für die Positionierung des Romans Schöne Aussicht im gesamten Romanwerk? Friederike Reents schreibt zu Schöne Aussicht: Die fragmentierte Erinnerung dieser Jahre findet ihren Niederschlag auf Werk- sowie Satz­ ebene, also in der kaleidoskopartigen Aneinanderreihung zahlreicher Fragmente, Szenen und Dialoge einerseits und dem mitunter fragmentarischen, elliptischen Satzbau andererseits. Leitmotive wie etwa wiederkehrende klischeehafte Sentenzen sowie Vor- und Rückbezüge schaffen Kohärenz zwischen den kurzen Abschnitten.15

Dabei werde im Vergleich zu Aus großer Zeit auf »stützende Zeugenberichte in Form eigener Kapitel«16 verzichtet. Es stellt sich also die Frage, ob stilistische Eigenschaften des Romans wie die angeführte fragmentarische Darstellung, wiederkehrende Sentenzen oder der Verzicht auf Passagen, die aus der Sicht von »Zeugen« erzählt werden, spezifisch für Schöne Aussicht sind. Immerhin werden ein collagenartiger Aufbau von der Satz- bis zur Werkebene und auch unvollständige Sätze oder wiederkehrende Sprechweisen von Eroms als charakteristisch für das gesamte Werk und nicht nur für einen einzelnen Roman genannt.

15 Friederike Reents: Schöne Aussicht. Roman. In: Damiano/Grünes/Feuchert: Walter-KempowskiHandbuch 2020, S. 48–50, hier S. 49. 16 Reents: Schöne Aussicht 2020, S. 48.

Eine stilistische Positionierung im Romanwerk Kempowskis mit digitalen Methoden 

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2 Methoden: digitale Stilistik Im vorliegenden Beitrag soll jedoch keine Stilanalyse im klassischen Sinne durchgeführt werden, sondern eine computergestützte, digitale, auch stilometrische Analyse genannt. Sie bietet die Möglichkeit, das gesamte Romankorpus von Kempowski systematisch anhand von Merkmalen der Textoberfläche zu untersuchen, die mit dem Computer erfasst und analysiert werden können. Eine Auswertung erfolgt in quantitativer Hinsicht. Grundlage der Stilometrie, die ihre Vorläufer schon in den 1940er bis 1960er Jahren hat, ist die Erkenntnis, dass der Stil von Autoren sich gerade durch den unterschiedlichen, unbewussten Einsatz der in der Sprache besonders häufigen Wörter kennzeichnen lässt, beispielsweise von Konjunktionen, Artikeln, Personalpronomen oder Präpositionen. Die sehr häufigen Wörter lassen sich besonders gut computergestützt erfassen und zählen und sind schon früh zur Autorschaftsattribution, also der durch computergestützte Analysen plausibilisierten Zuweisung von Autorschaft, verwendet worden.17 Zur Autorschaftsattribution wird der Stil der Texte verschiedener Autorinnen verglichen, um für einen Text unbekannter Autorschaft bestimmen zu können, welchen Texten mit bekannter Autorschaft er stilistisch ähnelt. Das Verfahren lässt sich aber nicht nur dafür nutzen, durch quantitative Textanalyse gestützte Argumente dafür zu suchen, dass ein bestimmter Text von einer bestimmten Autorin oder einem Autor verfasst wurde, sondern auch, um Texte, deren Autorschaft bekannt ist, stilistisch zu vergleichen, um Autorenstile herauszuarbeiten und zu bestimmen. Verfahren der digitalen Stilistik sollen hier auf zweierlei Weise eingesetzt werden: Zum einen sollen die Romane Kempowskis stilistisch mit einem Korpus ausgewählter Romane anderer Autoren und Autorinnen verglichen werden, um zu prüfen, inwieweit sich die von Literaturwissenschaftlern herausgearbeitete Kohärenz seines Werks auch in einer stilometrischen Analyse zeigt und auf welche Weise sich Kempowskis Romane stilistisch von den Romanen anderer Autoren abgrenzen lassen. In einem nächsten Schritt soll die stilistische Position des Romans Schöne Aussicht innerhalb von Kempowskis Romanwerk ermittelt werden, womit dann dessen stilistische Binnenstruktur im Vordergrund steht.

17 Siehe für einen Überblick über die Geschichte der Stilometrie und ihren Einsatz für literaturwissenschaftliche Fragen David I. Holmes: The Evolution of Stylometry in Humanities Scholarship. In: Literary and Linguistic Computing 13 (1998), Heft 3, S. 111–117, sowie für einen aktuelleren Überblick Fotis Jannidis: Methoden der computergestützten Textanalyse. In: Ansgar Nünning/Vera Nünning (Hgg.): Methoden der literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse. Stuttgart/ Weimar: Metzler 2010, S. 109–132.

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Mehrere Fragen stellen sich zu der hier gewählten methodischen Vorgehensweise, unter anderem: Was kann durch die computergestützte Stilanalyse gegenüber den bereits durchgeführten, oben zitierten literaturwissenschaftlichen Analysen zu Kempowskis Werkpoetik, -ästhetik und -stil gewonnen werden? Fotis Jannidis verweist auf die andere Form des Erkenntnisgewinns: Wichtiger [...] scheint, dass man den deutlich anderen Status quantitativ basierter Erkenntnisse begreift. Selbst wenn sie eine im Rahmen traditioneller Literaturwissenschaft formulierte These bestätigen, dann tun sie dies mit anderen Mitteln, nämlich mit Mitteln, die sich komplementär zu den etablierten Verfahren textwissenschaftlicher Forschung verhalten. Die fragliche These erhält dadurch einen Status, den sie vorher nicht hatte.18

Das bedeutet, dass hier ein zu bisherigen Forschungen ergänzender methodischer Zugang zu Kempowskis Stil gewählt wird, der das Potential hat, die bereits erzielten Ergebnisse zu bestätigen, zu differenzieren, zu erweitern oder auch herauszufordern. Zudem erlauben es stilometrische Analysen, eine große Bandbreite von Stilmerkmalen sowohl hypothesengeleitet als auch explorativ zu untersuchen und dies für ein ganzes Romanwerk und sogar autorenübergreifend. Allerdings entspricht die Art der mit dem Computer analysierbaren Merkmale erwartungsgemäß (noch) nicht denjenigen, die vom menschlichen Leser und Wissenschaftler erfasst werden können: Der Ausgangspunkt ist der Zeichenstrom des digitalen Textes. Intertextuelle Referenzen beispielsweise, ironisch eingesetzte Sprache oder metaphorische Begriffsverwendungen lassen sich auf dieser Grundlage bisher nur schwer analysieren, zumindest wenn ein vollautomatischer Ansatz gewählt wird. Zur Verfügung stehen dagegen grundlegende Einheiten des elek­ tronischen Volltextes und solche, die durch die computergestützte Verarbeitung natürlicher Sprache (Natural Language Processing) zur Verfügung stehen: z. B. die Häufigkeit einzelner Tokens und Wörter, Satzlängen, die Frequenzen von N-Grammen (Wortkombinationen aus N-Wörtern), von Wortarten, Phrasen und Satzstrukturen.19 Hieraus ergibt sich ein ganz bestimmtes Verständnis davon, was Sprachstil und literarischer Stil aus Sicht der Stilometrie sind. Berenike J. Herrmann, Karina van Dalen-Oskam und Christof Schöch, die eine Überblicksstudie zu verschiedenen Stilbegriffen in der Literaturwissenschaft verfasst haben und diese zu computergestützten Ansätzen in Beziehung setzen, schlagen eine auf letztere ausgerichtete Stildefinition vor, nach der Stil eine Eigenschaft von Texten ist, die sich aus einem

18 Jannidis: Textanalyse 2010, S. 131. 19 Eine Auflistung typischer Merkmale, die in der Stilometrie verwendet werden, findet sich z. B. bei Efstathios Stamatatos: A Survey of Modern Authorship Attribution Methods. In: Journal of the American Society for Information Science and Technology 60 (2009), Heft 3, S. 538–556, hier S. 540.

Eine stilistische Positionierung im Romanwerk Kempowskis mit digitalen Methoden 

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Ensemble von formalen Merkmalen zusammensetzt, die quantitativ oder qualitativ beobachtet werden können.20 Relevant sind nach dieser Stildefinition also der formale Charakter der Merkmale, ihre direkte Beobachtbarkeit am Text und ihre Kombination in einem Text. Dieses Stilverständnis soll auch der hier vorgenommenen Analyse zugrunde gelegt werden. Folgende Textmerkmale wurden für die Analyse ausgewählt (in Klammern ist angegeben, wie diese für die digitale Analyse operationalisiert wurden): – häufigste Wörter (Tokens) und häufigste N-Gramme (3-, 4-, 5-Gramme) – Satzlängen (Anzahl der Tokens in den Sätzen) – unvollständige Sätze (Sätze ohne Verb oder nur mit Verb im Infinitiv) – Fragesätze (Sätze, die ein Fragezeichen, Interrogativpronomen/-adverb oder das Verb »fragen« in Kombination mit der Konjunktion »ob« enthalten) – Verbmodi (Indikativ, Konjunktiv). Die jeweilige Operationalisierung der Merkmale ist mit bedingt durch die Verfügbarkeit der digitalen Werkzeuge und die Frage, was sich mit vertretbarem Aufwand zum jetzigen Zeitpunkt computergestützt gut umsetzen lässt. Die häufigsten Wörter und N-Gramme sind klassische stilometrische Merkmale und erlauben eine umfassende und explorative stilometrische Analyse. N-Gramme als Kombinationen mehrerer Wörter erlauben es zudem, auch nach den von Kempowski häufig verwendeten Sprichwörtern und stereotypen Redeweisen Ausschau zu halten, von denen erwartet werden kann, dass sie in der Liste der häufigsten N-Gramme auftauchen (wie das 3-Gramm »Gut dem Dinge« oder das 5-Gramm »Wie isses nun bloß möglich«). Die weiteren Merkmale leiten sich aus den von Eroms festgestellten mikrostilistischen Charakteristika von Kempowskis Werken ab und zielen darauf, diese – zumindest im Ansatz – quantitativ über sein Romanwerk hinweg zu untersuchen. Dabei wird für die Fragesätze und Verbmodi einmal die reine Häufigkeit erfasst (wie viele Fragesätze, Verben im Indikativ oder Konjunktiv es im Vergleich in den verschiedenen Romanen gibt), aber auch die Variation der Merkmalsausprägungen (Wie viele direkte und indirekte Fragesätze gibt es? In wie vielen Sätzen wird sowohl Indikativ als auch Konjunktiv verwendet? Wie häufig gibt es bei direkt aufeinander folgenden Sätzen einen Wechsel zwischen Indikativ und Konjunktiv?). Um die skizzierten stilometrischen Analysen durchzuführen, wurden verschiedene Methoden und Werkzeuge eingesetzt. Für die Analyse der häufigsten Wörter und N-Gramme wurde das Tool Stylo verwendet. Es handelt sich um ein in der

20 Vgl. J. Berenike Herrmann/Karina van Dalen-Oskam/Christof Schöch: Revisiting Style, a Key Concept in Literary Studies. In: Journal of Literary Theory 9 (2015), Heft 1, S. 25–52, hier S. 44.

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Programmiersprache R geschriebenes Paket für stilometrische Analysen.21 Um die übrigen Merkmale ermitteln zu können (Satzlängen, unvollständige Sätze, Fragesätze, Verbmodi), wurden die Texte mit dem Python-Paket SpaCy verarbeitet.22 Als Grundlage für die linguistische Annotation mit SpaCy diente das Sprachmodell »decore-news-md«.23 Das Textkorpus, das im Folgenden näher vorgestellt wird, wurde mit Hilfe eigener Skripte in XSLT 2.0 und Python 3 aufbereitet und ausgewertet.

3 Textkorpus Um Kempowskis Romane stilometrisch analysieren zu können, ist ein digitales Textkorpus die Voraussetzung. Hierfür wurden E-Books im epub-Format gekauft, aus denen der Text extrahiert wurde.24 Tabelle 1 gibt einen Überblick über die Texte von Kempowski, die in das Korpus aufgenommen wurden. Alle verwendeten Romane sind bei Albrecht Knaus verlegt worden. Tabelle 1: Romane Walter Kempowskis im Textkorpus. Titel Tadellöser & Wolff Uns geht’s ja noch gold Ein Kapitel für sich Aus großer Zeit Schöne Aussicht Herzlich willkommen Hundstage Mark und Bein Heile Welt Letzte Grüße Alles umsonst

Jahr Erstausgabe

Jahre verwendete Ausgabe

1971 1972 1975 1978 1981 1984 1988 1991 1998 2003 2006

1978, 2016 1978, 2016 1978, 2016 1978, 2016 1981, 2016 1984, 2016 1988, 2016 1992, 2008, 2016 1998, 2016 2003, 2016 2006, 2016

21 Vgl. Maciej Eder/ Jan Rybicki/Mike Kestemont: Stylometry with R: a package for computational text analysis. In: R Journal 8 (2016), Heft 1, S. 107–121 und Maciej Eder/Mike Kestemont/Jan Rybicki/Steffen Pielström: stylo: Stylometric Multivariate Analyses. Version 0.7.4. 2020. https:// cran.r-project.org/web/packages/stylo/index.html (letzter Zugriff am 21.7.2023). 22 Vgl. Matthew Honnibal/Ines Montani/Sofie Van Landeghem/Adriane Boyd: spaCy: Industrialstrength Natural Language Processing in Python. Version 3.5.3. 2020. https://doi.org/10.5281/zenodo.1212303. 23 Vgl. Explosion (Hg.): de_core_news_md-3.5.0. 2023. https://github.com/explosion/spacy-models/ releases/tag/de_core_news_md-3.5.0 (letzter Zugriff am 21.7.2023). 24 Rechtliche Grundlage für die Vorgehensweise bei der Korpuserstellung und -verarbeitung ist § 60d UrhG für Text und Data Mining für wissenschaftliche Zwecke.

Eine stilistische Positionierung im Romanwerk Kempowskis mit digitalen Methoden 

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Für das Vergleichskorpus wurden je drei Romane von Heinrich Böll, Christa Wolf, Christine Brückner und Günter Grass aufgenommen, die in Tabelle 2 aufgelistet sind. Es handelt sich offensichtlich nur um ein kleines Vergleichskorpus, das perspektivisch ausgebaut werden kann. Das Ziel war es, einen Vergleich mit mehreren anderen Autorinnen und Autoren zu ermöglichen, die Zeitgenossen von Kempowski waren, und den Einfluss des Stils individueller Romane durch die Aufnahme mehrerer Texte pro Autor zu begrenzen. Tabelle 2: Romane anderer Autorinnen und Autoren im Textkorpus. Autor/Autorin

Titel

Brückner, Christine

Ein Frühling im Tessin Jauche und Levkojen Die Quints

Böll, Heinrich

Ansichten eines Clowns Gruppenbild mit Dame Frauen vor Flußlandschaft

Grass, Günter

Wolf, Christa

Die Blechtrommel Aus dem Tagebuch einer Schnecke Die Rättin Nachdenken über Christa T. Kindheitsmuster Medea. Stimmen

Jahr Erstausgabe

Jahre verwendete Ausgabe

Verlag E-Book

1960 1975 1985

2001, 2008, 2017 2000, 2005, 2012 2000, 2003, 2010

Refinery Ullstein Ullstein

1963

1963, 2002, 2009

1971

1979, 1991, 2005, 2007, 2009

1975

2007, 2009

Kiepenheuer & Witsch Kiepenheuer & Witsch Kiepenheuer & Witsch

1959

2007, 2015

Steidl

1972

2007, 2015

Steidl

1986

2007, 2015

Steidl

1968

1999, 2007, 2012

Suhrkamp

1976 1996

2000, 2007, 2012 2001, 2008, 2010

Suhrkamp Suhrkamp

Alle Texte wurden im Format XML/TEI aufbereitet, in das die linguistische Annotation aufgenommen wurde. Ein Export der Dateien in ein einfaches Volltextformat bildete die Grundlage für die Analysen mit dem Tool Stylo. Die Analyseskripte und Ergebnisdaten werden in einem Repositorium frei zur Verfügung gestellt, die zugrunde liegenden Textdaten jedoch aufgrund der urheberrechtlichen Beschränkungen nicht.25

25 Siehe Henny-Krahmer, Ulrike: Style Kempowski – Stylometric analyses of Walter Kempowski’s novels. Software und Datensatz. Version 1.0. In: Zenodo. 2023. https://doi.org/10.5281/zenodo.7981921.

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 Ulrike Henny-Krahmer

4 Stilometrische Analyse 4.1 Häufigste Wörter In einem ersten Schritt wurden alle 23 Romane auf der Grundlage der 100 häufigsten Wörter im Korpus mit Hilfe des Programms Stylo geclustert. Die Grundlage bildet eine Term-Dokument-Matrix des Korpus, in der die Häufigkeiten aller Tokens in allen Romanen festgehalten sind. Das Clustering basiert auf dem Delta-Maß nach Burrows,26 bei dem die Distanzen zwischen den Wortvektoren der einzelnen Romane berechnet werden. Die daraus entstehende Distanz-Matrix kann als Baumdiagramm dargestellt werden, wie in Abbildung 1 zu sehen.

Abb. 1: Cluster-Analyse aller Romane im Korpus mit den 100 häufigsten Wörtern.

26 Für das Delta-Maß werden standardisierte Häufigkeiten (Z-Scores) verwendet und die Manhattan-Distanz genutzt, bei der die absoluten Distanzen von zwei Vektoren in jeder einzelnen Dimension addiert werden. Vgl. John Burrows: ›Delta‹: A measure of stylistic difference and a guide to likely authorship. In: Literary and Linguistic Computing 17 (2002), Heft 3, S. 267–287.

Eine stilistische Positionierung im Romanwerk Kempowskis mit digitalen Methoden 

 169

Unter den 100 häufigsten Wörtern sind vor allem Konjunktionen, Artikel, Pronomen, Adverbien, Präpositionen, einige Verben und nur ein Substantiv (»Frau«), das allerdings auch als Teil einer Anrede vorkommen kann. Für einen Eindruck werden die 15 häufigsten Wörter im Korpus hier genannt: »und«, »die«, »der«, »das«, »sie«, »er«, »in«, »den«, »nicht«, »sich«, »mit«, »zu«, »ich«, »es« und »ein«.27 Im Ergebnis bildet jeder Roman auf der rechten Seite einen Ast im Baumdiagramm. Sind zwei Romane durch eine Linie direkt miteinander verbunden, so sind sie sich untereinander ähnlicher als jeder von ihnen zu den anderen Romanen, weshalb sie einen eigenen Ast ausbilden. Darauf aufbauend werden weitere Äste ausgebildet, so dass eine Hierarchie von Gruppen stilistisch ähnlicher Texte entsteht. Die horizontale Achse im Diagramm zeigt das Delta-Maß an: Je weiter rechts zwei Romane oder Äste aufeinandertreffen, umso geringer ist die Distanz zwischen ihnen. Offensichtlich ist, dass alle Romane Kempowskis im unteren Teil des Diagramms zusammen einen großen Ast ausbilden, der sich von dem zweiten Hauptast mit den Romanen der anderen Autoren abgrenzt. Auffällig ist außerdem, dass die Romane der anderen Autorinnen und Autoren sich nicht alle auf jeweils eigenen Teilästen befinden. Während die drei Romane von Günter Grass einen eigenen Ast ausbilden, steht ein Roman von Christa Wolf (Kindheitsmuster) zusammen mit zwei Romanen von Christine Brückner (Jauche und Levkojen und Die Quints), und der Roman Ein Frühling im Tessin von Brückner ist mit den Ansichten eines Clowns von Heinrich Böll zusammen gruppiert. Die Gründe für diese Gruppierungen müssten noch näher analysiert werden, hier ist als Ergebnis im Hinblick auf den Stil Kempowkis zunächst vor allem festzuhalten, dass dieser sich auf der Basis der 100 häufigsten Wörter deutlich von demjenigen der anderen ausgewählten Autoren unterscheidet und der Analyse zufolge in sich homogener ist als bei Christa Wolf, Christine Brückner oder Heinrich Böll. Auch eine Binnenstruktur des Romanwerks von Kempowski wird hier schon deutlich: Im oberen Ast des Kempowski-Teilbaums finden sich die Romane der Deutschen Chronik wieder, im unteren die der ›zweiten Chronik‹. Innerhalb der Deutschen Chronik bilden Aus großer Zeit und Schöne Aussicht einen eigenen Ast aus, sie stehen sich stilistisch deutlich näher als jeweils den anderen Romanen in dieser Werkgruppe. Bei den späteren Romanen sind sich Mark und Bein und Hundstage am nächsten, sie liegen jedoch auch nah an den anderen drei Romanen der ›zweiten Chronik‹. Es ist erstaunlich, dass Kempowskis Romane sich bei einer Analyse der 100 häufigsten Wörter entsprechend der Einteilungen gruppieren, die er selbst und auch Kritiker und Literaturwissenschaftler vorgenommen haben. Sowohl die stilistische Kohärenz (im Vergleich zu anderen Autoren) als auch die Binnenstrukturierung seines Romanwerks werden mit dieser digitalen Stilanalyse bestätigt.

27 Für die stilometrische Analyse werden standardmäßig alle Wörter in Kleinschreibung überführt.

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 Ulrike Henny-Krahmer

Es stellt sich die Frage, welche Merkmalsausprägungen (welche Häufigkeiten der 100 häufigsten Wörter in welcher Verteilung über die Romane?) entscheidend für die Gruppierungen sind. Lassen sich die für das Clustering verantwortlichen Merkmalsausprägungen interpretieren? Wichtig ist es, zu wissen, dass gar nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, welche individuellen Merkmale (also einzelne Wörter) entscheidend für die Anordnung sind, da das Delta-Maß als Summe aller Distanzen berechnet wird. Eine Annäherung an die Frage, welche Wörter eine entscheidende Rolle für das Clustering spielen, kann trotzdem erreicht werden. Hierfür wurde mit Stylo eine Hauptkomponenten-Analyse (Principal Components Analysis, PCA)28 durchgeführt, bei der künstliche Dimensionen bzw. Komponenten ermittelt werden, in denen die meiste Varianz der Wortvektoren zu finden ist. Für die zwei so ermittelten Hauptkomponenten kann anschließend graphisch dargestellt werden, wie die Romane des Korpus sich in ihnen positionieren und welche Merkmale, also welche Wörter, wie stark zu den Komponenten der Varianz beitragen und ob sie mit ihnen positiv oder negativ korreliert sind.29 In Abbildung 2 ist das Ergebnis der Hauptkomponenten-Analyse dargestellt. Die erste Hauptkomponente deckt 45,8 % der Varianz ab und die zweite 15,3 %. Am stärksten positiv korreliert mit der ersten Komponente ist das Wort »ich«, danach »mir, »mich«, »sie«, »wir« und »nicht«. Mit dieser Komponente negativ korreliert sind u. a. die Wörter »die«, »der«, »sich«, »er«, »das« sowie »und«. Kempowskis Romane befinden sich auf dieser Komponente hauptsächlich im negativen Spektrum, insbesondere Hundstage, Heile Welt, Mark und Bein und Alles umsonst. Im positiven Bereich ist der Roman Ein Kapitel für sich zu erkennen, gefolgt von Herzlich willkommen. Schöne Aussicht ist auf der ersten Komponente im negativen Bereich positioniert, Aus großer Zeit ebenso, aber etwas weniger stark. Eine Hypothese ist, dass die Erzählperspektive der Romane einen wichtigen Faktor für diese Komponente darstellt und dass Romane, die in der Ich-Form geschrieben sind oder zumindest einige in dieser Form verfasste Kapitel oder auch viel direkte Figurenrede in der Ich-Form enthalten, weiter rechts positioniert sind als Romane mit heterodiegetischem Erzähler. Interessant ist daher auch, dass der Roman Aus großer Zeit, in dem einzelne Kapitel aus der Sicht verschiedener »Zeugen« enthalten sind, sich weiter rechts positioniert als Schöne Aussicht, wo dies nicht der Fall

28 Siehe für eine Einführung in das Verfahren der Hauptkomponenten-Analyse z. B. Michael P. Oakes: Statistics for Corpus Linguistics. Edinburgh: Edinburgh University Press 1998, S. 97–105. 29 Sind Wörter mit einer Hauptkomponente positiv korreliert, so sind sie in den Texten, die in dieser Komponente im positiven Bereich liegen, häufiger als bei den Texten, die im negativen Bereich liegen. Umgekehrt sind Wörter, die mit der Komponente negativ korreliert sind, seltener in den Texten anzutreffen, die in der entsprechenden Komponente im positiven Bereich liegen und häufiger in den Texten, die sich auf der Komponente im negativen Bereich finden.

Eine stilistische Positionierung im Romanwerk Kempowskis mit digitalen Methoden 

 171

Abb. 2: Hauptkomponenten-Analyse aller Romane im Korpus mit den 100 häufigsten Wörtern.

ist. Warum das Wörtchen »sie« auf dieser Komponente trotzdem im positiven Spektrum zu finden ist, müsste näher untersucht werden. Mit der zweiten Komponente am stärksten korreliert sind die Wörter »und«, »er«, und »ich«, negativ korreliert ist mit dieser Komponente vor allem das Wort »sie«. Kempowskis Romane bewegen sich hier fast ausschließlich im positiven Bereich, nur Schöne Aussicht und Mark und Bein liegen leicht unter 0. »Er« und »sie« könnten auf das Geschlecht der Figuren verweisen, in dem Sinne, dass eine häufigere Nennung männlicher oder weiblicher Figuren einen häufigeren Gebrauch der entsprechenden Pronomen nach sich ziehen könnte. Beispiele hierfür wären »Er haut den Hörer auf und fragt Sodemann, den Prokuristen, ob er weiß, wo sein Sohn gelandet ist?«30 oder »Sie denkt dann an ihr Elternhaus in Wandsbek, an das

30 Walter Kempowski: Schöne Aussicht. E-Book, München: Albrecht Knaus Verlag 2016, Kapitel 1.

172 

 Ulrike Henny-Krahmer

Kaffeetrinken auf der Terrasse, morgens, wie war das immer schön!«.31 Allerdings kann das Wort »sie« natürlich auch ein Pronomen im Plural sein wie in »Alle Polen, die hier in ihre Heimat fuhren, hatten was im Gepäck, was sie eigentlich nicht bei sich haben durften.«32 oder eine Anredeform wie in »›Ach Hedwig, wollen Sie uns bitte Tee nachschenken?‹«.33 Beide Pronomen können außerdem auch eine rein grammatikalische Funktion haben wie in »die Isestraße blieb stehen, und sie steht noch heute.«34 Insofern ist diese Komponente ohne weitere Untersuchungen nicht direkt zu interpretieren. Auch für die Bedeutung des Wortes »und« in dieser Komponente Hypothesen aufzustellen, ist schwierig. Auch hierfür wäre eine eingehende Analyse des Wortes in den Romanen und in den jeweiligen Kontexten nötig. Zu bedenken ist auch, dass die zweite Komponente wesentlich weniger Varianz in den Texten abdeckt als die erste. Die Hauptkomponenten-Analyse basiert zwar wie das Clustering auf den 100 häufigsten Wörtern, trotzdem zeigt sich mit ihr eine leicht andere Perspektive auf das Romankorpus. Die beiden Hauptkomponenten decken nicht die gesamte Varianz ab: In der Summe sind es nur 61,1 %. Auch sind die Romane in der graphischen Darstellung der Komponenten anders positioniert als im Baumdiagramm und es lassen sich dadurch zum Teil andere Ähnlichkeiten und Distanzen feststellen. Der Hauptkomponenten-Analyse zufolge ist Schöne Aussicht zum Beispiel nicht Aus großer Zeit am nächsten wie im Clustering, sondern dem Roman Mark und Bein. Bei quantitativen Untersuchungen sollte darauf geachtet werden, dass die Ergebnisse nicht zufällig durch die Wahl ganz bestimmter Parameter zustande kommen. Welche Ergebnisse liefern das Clustering und die HauptkomponentenAnalyse, wenn statt der 100 häufigsten Wörter 150, 200 oder mehr Wörter gewählt werden? Bleiben die Gruppierungen und die für die Komponenten relevanten Wörter stabil oder gibt es Schwankungen? Dies kann überprüft werden, indem eine Reihe von Untersuchungen mit verschiedenen Wortanzahlen durchgeführt wird. Mit Stylo kann ein sogenannter Konsensbaum erstellt werden, der mehrere Cluster-Analysen zusammenfasst, so dass die Ergebnisse eine Bandbreite verschiedener Parameter-Einstellungen abbilden. Ein Konsensbaum wurde hier für Wort­ anzahlen von 100 bis 1000 erstellt, die in 50er-Schritten erhöht wurden, so dass insgesamt 19 Clusterings eingehen. Das Ergebnis ist in Abbildung 3 zu sehen.

31 Kempowski: Schöne Aussicht 2016, Kapitel 1. 32 Walter Kempowski: Mark und Bein. E-Book. München: Albrecht Knaus Verlag 2016, Kapitel 8. 33 Kempowski: Schöne Aussicht 2016, Kapitel 1. 34 Kempowski: Mark und Bein 2016, Kapitel 1.

Eine stilistische Positionierung im Romanwerk Kempowskis mit digitalen Methoden 

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Abb. 3: Cluster-Analyse aller Romane im Korpus mit den 100 bis 1000 häufigsten Wörtern.

Im Vergleich zu dem einzelnen Clustering auf der Basis der 100 häufigsten Wörter ändert sich in dem Konsensbaum, dass Kempowskis Romane Schöne Aussicht und Aus großer Zeit weiterhin eine eigene Gruppe bilden, die sich nun aber ganz von seinen übrigen Romanen absetzt. Die übrigen Romane der Deutschen Chronik bilden auch weiterhin eine Gruppe, sie sind aber den Romanen der ›zweiten Chronik‹ nun ähnlicher als Schöne Aussicht und Aus großer Zeit. Das bedeutet, dass die stilistische Ähnlichkeit letzterer zueinander über ein größeres Spektrum von Wörtern stabiler ist als zu den übrigen Romanen. Je höher die Zahl der häufigsten Wörter, die in die Analyse eingebunden werden, umso mehr Inhaltswörter gehen ein, so dass davon auszugehen ist, dass neben der im engeren Sinne stilistischen Ähnlichkeit zwischen beiden Romanen auch inhaltliche Bezüge eine Rolle spielen können. Auch im Konsensbaum stehen alle Romane Kempowskis zusammen und grenzen sich von den Romanen der anderen Autorinnen und Autoren ab, bei denen es immer noch Mischgruppen gibt – nur die Romane von Günter Grass bilden einen eigenen Ast. Eine Hauptkomponenten-Analyse mit 1000 Wörtern bringt sehr ähnliche Ergebnisse wie bei 100 Wörtern, sowohl die Positionierung der Romane auf den

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 Ulrike Henny-Krahmer

Komponenten als auch die mit den Komponenten korrelierten Wörter unterscheiden sich kaum. Damit ist sichergestellt, dass die obigen Ergebnisse nicht zufällig von der Anzahl der ausgewählten Wörter abhängen.

4.2 N-Gramme In einem nächsten Schritt werden die Romane im Korpus nun auf der Grundlage der häufigsten N-Gramme gruppiert. Ausgewählt wurden 3- bis 5-Gramme, für die Clusterings von den 100 bis zu den 1000 häufigsten Wortkombinationen erstellt wurden, wobei auch geprüft werden soll, ob Familiensprache oder Sprichwörter und Redensartliches (»formelsprachliche Textstellen« nach Andreas Nolte35) in den Merkmalen sichtbar werden. Um einen Eindruck von der Art der N-Gramme zu vermitteln, werden in Tabelle 3 die zehn häufigsten 3- bis 5-Gramme aufgelistet. Tabelle 3: Häufigste 3- bis 5-Gramme im Textkorpus. Rang

3-Gramm

4-Gramm

5-Gramm

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

in der hand sagte meine mutter in der küche hin und wieder und so weiter und in der ab und zu hin und her ich weiß nicht gar nicht so

und so weiter und in der hand und die sache mit dem so weiter und so was das für ein gar nicht so einfach und ab und zu das war die frage die sache mit den ich weiß nicht ob

und so weiter und so so weiter und so fort rättin von der mir träumt die rättin von der mir es stellte sich heraus daß klare sache und damit hopp die hand auf die schulter die hände auf dem rücken wie isses nun bloß möglich mal so und mal so

Einige der N-Gramme finden sich in Varianten mehrfach wieder. Unter den 3-Grammen finden sich z. B. Präpositionalphrasen (»in der Hand«, »in der Küche«), Sätze/Satzteile mit Verben (»sagte meine Mutter«, »ich weiß nicht«), adverbiale Ausdrücke (»hin und wieder«, »ab und zu«) und andere Mehrwortausdrücke (»und so weiter«, »hin und her«). Bei den 5-Grammen tauchen bereits in den zehn häufigsten Instanzen zwei Aussprüche aus der Kempowski’schen Familiensprache auf: »Klare Sache und damit hopp« und »Wie isses nun bloß möglich?«. Werden die Texte im

35 Siehe Noltes ausführliche Untersuchung dazu: Andreas Nolte: »Man muss auf seiner Sprache spielen wie auf einem Instrument«. Sprichwörter und Redensartliches bei Walter Kempowski. Würzburg: Königshausen & Neumann 2019.

Eine stilistische Positionierung im Romanwerk Kempowskis mit digitalen Methoden 

 175

Korpus nach den 3- bis 5-Grammen geclustert, so ergibt sich in den Konsensbäumen für die 100 bis 1000 häufigsten Wörter folgendes Bild: Kempowskis Romane bilden in allen Fällen einen eigenen Hauptast aus, der sich von den Romanen der anderen Autoren abgrenzt. Die Romane anderer Autoren bilden keine eigenen Hauptäste aus, sie sind vermischt. Bei den 3-Grammen und den 4-Grammen trennt sich innerhalb von Kempowskis Romanwerk die Deutsche Chronik von der ›zweiten Chronik‹ ab. Schöne Aussicht ist innerhalb der Deutschen Chronik dem Roman Aus großer Zeit am nächsten. Bei den 5-Grammen verhält es sich anders: Tadellöser & Wolff, Heile Welt und Alles umsonst bilden nun jeweils eigene Äste aus. Daneben gibt es weiterhin einen Ast der Deutschen Chronik, in dem sich als Unterast wieder Schöne Aussicht und Aus großer Zeit finden, sowie einen Ast der ›zweiten Chronik‹, in dem Hundstage, Mark und Bein und Letzte Grüße zu finden sind. Die drei Konsensbäume sind in der Zusammenschau in Abbildungen 4 bis 6 dargestellt.

Abb. 4: Konsensbäume aller Romane im Korpus für 3-Gramme.

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 Ulrike Henny-Krahmer

Abb. 5: Konsensbäume aller Romane im Korpus für 4-Gramme.

Der Vergleich der verschiedenen Konsensbäume für die N-Gramme zeigt, dass Kempowskis Stil sich nicht nur im Hinblick auf die Verwendung einzelner Wörter deutlich von dem der anderen Autoren im Korpus abgrenzt, sondern auch beim Gebrauch von Mehrwortkombinationen. Dabei bleiben auch die Gruppierungen innerhalb von Kempowskis Romanwerk sehr stabil, da z. B. Schöne Aussicht und Aus großer Zeit in allen Fällen einen eigenen Unterast bilden und sich am nächsten sind und da auch die Gruppen der Deutschen Chronik und ›zweiten Chronik‹ in allen Fällen erkennbar bleiben. Nur bei den 5-Grammen setzen sich einzelne Romane aus den beiden Chroniken stilistisch ab. Vergleicht man die drei Konsensbäume im Hinblick auf die anderen Autoren, so wird deutlich, dass es bei ihnen mehr Verschiebungen gibt, auch abhängig davon, ob 3-, 4- oder 5-Gramme untersucht werden. Kempowski hat also auch bei Mehrwortausdrücken seinen

Eine stilistische Positionierung im Romanwerk Kempowskis mit digitalen Methoden 

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Abb. 6: Konsensbäume aller Romane im Korpus für 5-Gramme.

eigenen Stil und setzt diesen innerhalb seines Romanwerks auf unterschiedliche Weise ein.

4.3 Kontrastive Analysen Neben den explorativen Verfahren des Clusterings und der HauptkomponentenAnalyse ist eine weitere in der Stilometrie gängige Methode die direkte Kon­ trastierung verschiedener Textgruppen mit dem Ziel, diejenigen Merkmale zu identifizieren, die für eine Textgruppe im Vergleich zu einer anderen distinktiv sind. Kontrastive Analysen sollen hier dafür eingesetzt werden, den Roman Schöne Aussicht mit allen anderen Romanen Kempowskis zu kontrastieren und

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 Ulrike Henny-Krahmer

in einem weiteren Schritt Schöne Aussicht ausschließlich mit Aus großer Zeit zu vergleichen, da die beiden Romane in den vorherigen Analysen immer wieder eine eigene Untergruppe gebildet haben. Welche Textmerkmale sind spezifisch für Schöne Aussicht und grenzen das Werk von den anderen Romanen Kempowskis ab? Für die Analysen wurde das Tool Stylo verwendet. Die Zielpartition, also der Teil des Korpus, dessen Spezifika herausgearbeitet werden sollen, beinhaltet den Roman Schöne Aussicht und die Vergleichspartition alle anderen Romane von Kempowski. Merkmale gelten als charakteristisch für eine Partition, wenn sie in ihr überdurchschnittlich oft vorkommen, während sie in der Vergleichspartition unterrepräsentiert sind. Das Typische ergibt sich also immer im Kontrast zu einer bestimmten anderen Menge an Texten. Für den Vergleich gibt es verschiedene Kontrastmaße, von denen das Zeta-Maß für die vorliegende Untersuchung ausgewählt wurde.36 Dabei wird berücksichtigt, wie konsistent die Wörter in den beiden Partitionen verwendet werden, indem Teilsegmente der Texte analysiert werden und untersucht wird, in wie vielen Segmenten ein Wort mindestens einmal vorkommt. Für die Analyse wurde hier Craig’s Zeta mit einer Segmentlänge von 1000 eingesetzt, und es wurden nur Wörter berücksichtigt, die mindestens zweimal im Korpus vorkommen. Die Zielwerte liegen zwischen -1 (sehr uncharakteristisch) und +1 (sehr charakteristisch). In Abbildung 7 sind auf der rechten Seite die für Schöne Aussicht charakteristischen Wörter und auf der linken Seite die in dem Roman unterrepräsentierten Wörter angezeigt, die sich aus der kontrastiven Analyse ergeben. In der Liste der für Schöne Aussicht untypischen Wörter fallen vor allem die Verben in Vergangenheitsformen auf, vor allem im Präteritum (»sagte«, »ging«. »stand«, »kam«, »waren« usw.), aber auch im Partizip (»gewesen«, »gehabt«) sowie Verben im Konjunktiv (»habe«, »sei«, »hätten«, »könne«, »würde« usw.). Außerdem fallen die Pronomen »mich«, »mir«, »uns«, »wir« und »mein« auf sowie einige auf den Inhalt bezogene Wörter wie »Sowtschick« und »Russen«. Distinktiv für den Roman Schöne Aussicht sind auf der anderen Seite Verbformen im Präsenz (»sagt«, »sitzt«, »steht«, »sieht«, »wird« usw.), Namen der Figuren des Romans (»Grethe«, »Karl«, »Robert«, »Kempowski«, »Kempowskis« »Ulla«) sowie weitere Substantive (»Kinder«, »Kindern«, »Rostocker«). Offensichtlich spielen neben inhaltlichen Elementen also vor allem das Tempus der Erzählung und

36 Das Zeta-Maß geht auf Burrows zurück und wurde von Craig weiterentwickelt. Vgl. John Burrows: All the way through: Testing for authorship in different frequency strata. In: Literary and Linguistic Computing 22 (2007), Heft 1, 27–47 und Hugh Craig/ Arthur F. Kinney: Shakespeare, Computers, and the Mystery of Authorship. Cambridge: Cambridge University Press 2009.

Eine stilistische Positionierung im Romanwerk Kempowskis mit digitalen Methoden 

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Abb. 7: Charakteristische Wörter (rechts) und unterrepräsentierte Wörter (links) für Schöne Aussicht.

auch der Gebrauch oder eben Nicht-Gebrauch von Formen im Konjunktiv eine wichtige Rolle. Dazu kommt, dass in Schöne Aussicht einige der Pronomen in der ersten Person Singular und Plural tendenziell vermieden werden, was durch die Erzählperspektive bedingt sein kann. Neben der Wortliste kann mit Stylo auch ein Diagramm ausgegeben werden, in dem dargestellt ist, wie viele der bevorzugten Wörter (»Marker«) und der vernachlässigten Wörter (»Antimarker«) in jedem analysierten Textsegment vorkommen. Diese Darstellung wird in Abbildung 8 gezeigt.

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 Ulrike Henny-Krahmer

Abb. 8: Verteilung der präferierten und vermiedenen Wörter in Schöne Aussicht und den anderen Romanen Kempowskis.

Es wird sehr deutlich sichtbar, dass die einzigen – und nicht geringen – Überschneidungen von Punkten, die Textsegmente darstellen, zwischen Schöne Aussicht und Aus großer Zeit bestehen. Das bedeutet, dass diejenigen Wörter, die als spezifisch für Schöne Aussicht angesehen werden können, ebenfalls häufig in Aus großer Zeit vorkommen und umgekehrt, dass die Wörter, die in Schöne Aussicht vermieden werden, auch in Aus großer Zeit nicht so häufig vorkommen. Alle anderen Romane setzen sich davon ab und sind in der Abbildung rechts unten positioniert. Ändert sich das Bild, wenn Schöne Aussicht und Aus großer Zeit direkt kontrastiert werden, ohne Berücksichtigung der anderen Romane Kempowskis? Auch dann gibt es noch Überlappungen bei einigen Segmenten, jedoch weniger als in der Analyse zuvor. Die Wortliste enthält immer noch Pronomen (z. B. »mich«, »mir«, »mein«, »wir«, »uns« in Aus großer Zeit), Verben im Präteritum (Aus großer Zeit) und Präsens (Schöne Aussicht), mehr inhaltsspezifische Wörter (u.  a. »de«, »Bonsac«, »Erex«, »Rostock«, »Soldaten«, »Hamburg« in Aus großer Zeit versus »Robert«, »Grethe«, »Ulla«, »Kinder«, »Kempowskis«, »Wohnung« in Schöne Aussicht), aber auch Adverbien (»bisschen«, »damals«, »manchmal«, »natürlich«, »tatsächlich« in Aus großer Zeit gegenüber »eben«, »jetzt«, »also«, »leider«, »allerdings«, »neuerdings«

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in Schöne Aussicht). Auf der Grundlage der mit der kontrastiven Analyse gewonnenen Daten lässt sich berechnen, welche Textsegmente aus den beiden Romanen besonders charakteristisch für sie sind. Ausschnitte aus zwei solchen Segmenten werden im Folgenden wiedergegeben, um einen eher qualitativen Eindruck von den Ergebnissen der kontrastiven Analyse zu vermitteln. Dabei sind die Marker und Antimarker als unterstrichene bzw. grau hinterlegte Wörter hervorgehoben. Als Hauswirt Franz dann am Nachmittag mit dem Mietenbuch kommt – leider muß er diesmal wieder 100 Mark zuschlagen –, kriegt er einen Portwein angeboten. Am Eßzimmertisch sitzt er, und er muß sich Andeutungen anhören, die er allesamt sofort kapiert.37 Wenn der alte Herr Kempowski seinen Kakao gekriegt hatte, morgens, dann kam der Friseur, Herr Risse, und dann ging das gleich los mit dem Witzemachen, von Nieselpriem und von Knicknors waren das welche, und manchmal gar nicht stubenrein. Und dann haben die vielleicht gelacht!38

Die beiden ausgewählten Passagen unterscheiden sich im Hinblick auf die distinktiven Wörter vor allem durch das Tempus der Verben, aber auch die unterschiedlichen Adverbien (»leider« versus »manchmal«). In beiden Fällen kommt jemand ins Haus, in dem Beispiel aus Schöne Aussicht ist es allerdings eine einzelne Situation, die geschildert wird, in Aus großer Zeit ein wiederkehrendes Ereignis. Obwohl die beiden Romane sich bei einer stilometrischen Untersuchung aller Romane Kempowskis fast immer am ähnlichsten sind, so lassen sich doch beim direkten Vergleich stilistische Unterschiede ausmachen.

4.4 Morphosyntax Abschließend sollen nun morphosyntaktische Merkmale untersucht werden: Satzlängen, unvollständige Sätze, Fragesätze und Verbmodi.39 Lassen sich die von Eroms aufgestellten Thesen zum Stil Kempowskis durch eine stilometrische Analyse

37 Kempowski, Schöne Aussicht 2016, Kapitel 4. 38 Walter Kempowski: Aus großer Zeit. E-Book. München: Albrecht Knaus Verlag 2016, Kapitel 4. 39 Alle im Folgenden vorgenommenen Auswertungen basieren auf der Annotation der Romane mit dem NLP-Tool SpaCy. Die Tokenisierung, Lemmatisierung, das Part of speech-Tagging und die morphosyntaktischen Annotationen wurden direkt weiter ausgewertet und nicht manuell überprüft. Es ist daher davon auszugehen, dass es einen bestimmten Prozentsatz an fehlerhaften Zuweisungen gibt. Das verwendete Sprachmodell arbeitet im Allgemeinen allerdings schon sehr genau: für die Tokenisierung ist eine Genauigkeit von 100 % angegeben, für das Part of speechTagging von 98 % und für die morphologische Analyse von 92 %. Vgl. https://web.archive.org/ web/20230528092448/https://spacy.io/models/de (letzter Zugriff am 21.7.2023).

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 Ulrike Henny-Krahmer

bestätigen? Und wie positioniert sich der Roman Schöne Aussicht hinsichtlich der ausgewählten morphosyntaktischen Merkmale? Zunächst wurden die Satzlängen (als Anzahl der Tokens pro Satz) analysiert. Im Mittel (Median) sind die Sätze in den Romanen Kempowskis 11 Tokens lang, in den Romanen der anderen Autoren im Korpus 12 Tokens. Kempowskis Sätze sind im Durchschnitt also nur geringfügig kürzer als die anderer. In Schöne Aussicht sind die Sätze im Median 13 Tokens lang, bei den anderen Romanen Kempowskis schwankt der Wert zwischen 8 (Tadellöser & Wolff) und 17 (Mark und Bein), Schöne Aussicht bewegt sich also im Mittelfeld. Unvollständige Sätze (Sätze ohne Verb oder mit Verb im Infinitiv, aber ohne finites Verb) kommen tatsächlich bei Kempowski häufiger vor als bei den anderen Autoren im Korpus. Bei Kempowski beträgt der Median des Anteils unvollständiger Sätze in seinen Romanen 19 %, bei den anderen Autoren dagegen 16,5 %. Betrachtet man den Anteil unvollständiger Sätze innerhalb von Kempowskis Romanwerk genauer, ergibt sich ein interessantes Bild (siehe Tabelle 4).40 Tabelle 4: Anteile unvollständiger Sätze in den Romanen Kempowskis. Roman Tadellöser & Wolff Uns geht’s ja noch gold Ein Kapitel für sich Aus großer Zeit Schöne Aussicht Herzlich willkommen Hundstage Mark und Bein Heile Welt Letzte Grüße Alles umsonst

Unvollständige Sätze 34 % 32 % 26 % 20 % 19 % 19 % 16 % 14 % 17 % 17 % 19 %

Den höchsten Anteil an unvollständigen Sätzen hat der Roman Tadellöser & Wolff mit 34 %, den niedrigsten Mark und Bein mit 14 %. Schöne Aussicht liegt mit 19 % unvollständigen Sätzen zwischen den anderen beiden Romanen. In der Tabelle sind die Romane chronologisch aufsteigend nach Publikationsjahr aufgelistet, und es zeigt sich eine Abnahme unvollständiger Sätze über die Zeit, zumindest bis zum Erscheinen von Mark und Bein, danach nimmt der Anteil unvollständiger Sätze wieder leicht zu. Die Ergebnisse korrespondieren auch mit denjenigen zu den Satzlängen: Auch dort war Tadellöser & Wolff der Roman mit den durchschnittlich

40 Die Zahlen sind gerundet.

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kürzesten Sätzen und Mark und Bein derjenige mit den durchschnittlich längsten Sätzen. Es lässt sich also festhalten, dass unvollständige Sätze, im Sinne der hier vorgenommenen Operationalisierung, bei Kempowski häufiger vorkommen als bei anderen Autoren und dass darüber hinaus in seinem Romanwerk eine Entwicklung sichtbar wird, was dieses stilistische Merkmal betrifft. Neben den unvollständigen Sätzen ist ein weiteres bei Eroms thematisiertes mikrostilistisches Merkmal die Häufigkeit von Fragesätzen bei Kempowski und die Variation verschiedener Fragesatztypen. Auch dieser Aspekt soll quantitativ untersucht werden. Fragesätze werden hier operationalisiert als Sätze, die ein Fragezeichen, Interrogativpronomen/-adverb oder das Verb »fragen« in Kombination mit der Konjunktion »ob« enthalten. In Kempowskis Romanen liegt der Median des Anteils an Fragesätzen bei 22 %, bei den anderen Romanen hingegen bei 15 %. Hier gibt es also einen deutlichen Unterschied, der Eroms’ Ergebnisse bestätigt. Differenziert nach direkten Fragesätzen (operationalisiert als Fragesätze mit Fragezeichen) und indirekten Fragesätzen (solche ohne Fragezeichen, aber mit Interrogativpronomen oder der Kombination aus »fragen« und »ob«) ergibt sich folgendes Bild: ein Median von 11 % direkten Fragesätzen bei Kempowski gegenüber 6 % bei den anderen Autoren und 10 % indirekte Fragesätze bei Kempowski versus 9 % bei den anderen Autoren. Charakteristisch für Kempowskis Stil sind demnach vor allem die direkten Fragesätze, die in seinem Romanwerk insgesamt sogar einen höheren Anteil haben als die indirekten, während es bei den anderen Autoren im Korpus umgekehrt ist (mehr indirekte und weniger direkte Fragesätze). Wie entwickelt sich der Anteil an Fragesätzen innerhalb von Kempowskis Romanwerk? Die Ergebnisse sind in Tabelle 5 dargestellt.41 Tabelle 5: Anteile an Fragesätzen in den Romanen Kempowskis. Roman Tadellöser & Wolff Uns geht’s ja noch gold Ein Kapitel für sich Aus großer Zeit Schöne Aussicht Herzlich willkommen Hundstage Mark und Bein Heile Welt Letzte Grüße Alles umsonst

41 Die Zahlen sind gerundet.

Fragesätze

Direkte Fragesätze

Indirekte Fragesätze

14 % 16 % 17 % 20 % 22 % 22 % 22 % 23 % 24 % 24 % 26 %

8 % 10 % 8 % 10 % 11 % 10 % 12 % 12 % 15 % 15 % 20 %

6 % 6 % 9 % 10 % 10 % 12 % 11 % 11 % 10 % 9 % 6 %

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Werden alle Fragesatztypen zusammengenommen, so wird eine sehr deutliche Entwicklung sichtbar: von Tadellöser & Wolff mit 14 % Fragesätzen steigt deren Anteil kontinuierlich an bis zu 26 % Fragesätzen in Alles umsonst. Schöne Aussicht liegt mit 22 % im Mittelfeld. Der Anteil an Fragesätzen nimmt demnach über die Zeit in Kempowskis Romanen zu, eine Entwicklung, die gegenläufig zu derjenigen der unvollständigen Sätze ist, die über die Zeit tendenziell abnehmen. Differenziert nach direkten und indirekten Fragesätzen zeigt sich, dass die direkten Fragesätze über die Zeit zunehmen (auch wenn die Entwicklung dabei nicht ganz so eindeutig ist wie bei allen Fragesätzen zusammen), bei den indirekten Fragesätzen dagegen erst eine Zunahme erkennbar ist und später wieder eine Abnahme. Der Anteil indirekter Fragesätze liegt zwischen 6 % (Tadellöser & Wolff und Uns geht’s ja noch gold) und 12 % (Herzlich willkommen), Schöne Aussicht liegt wieder dazwischen mit 10 %. Wie bei den unvollständigen Sätzen wird damit auch bei den Fragesätzen deutlich, wie sich Kempowskis Stil einerseits von demjenigen anderer Autoren abhebt und sich dabei zugleich in seinen Romanen über die Zeit entwickelt. Als letzte morphosyntaktische Eigenschaft sollen nun die Verbmodi untersucht werden. Wie häufig verwenden die Autoren in einzelnen Sätzen Verben im Indikativ oder Konjunktiv? Wie häufig kommen beide Modi in einem Satz vor? Wie häufig gibt es bei direkt aufeinanderfolgenden Sätzen einen Wechsel von Indikativ zu Konjunktiv oder umgekehrt? In Kempowskis Romanen enthalten 73 % der Sätze ein Verb im Indikativ, bei den anderen Autoren im Korpus sind es 79 %. Verben im Konjunktiv finden sich bei Kempowski in 19 % der Sätze, bei den anderen Autoren in 12 %. Kempowski gebraucht demnach seltener als andere Autoren den Indikativ und häufiger den Konjunktiv. Eroms hat bei seiner Untersuchung der Verbmodi bei Kempowski festgestellt, dass der Autor sie »virtuos« und »zumeist intuitiv« einsetzt und variiert, aber auch bewusst reflektiert, was an einem von Eroms zitierten Ausschnitt aus einem Tagebucheintrag von Kempowski deutlich wird: »Zur Lesung mußte ich auch ›Block‹ noch mal durchgehen, würde vieles anders machen. Im ganzen aber richtig. Konjunktiv-Unsicherheiten.«42 Die durch den Konjunktiv markierten Unsicherheiten korrespondieren stilistisch mit dem häufigen Einsatz von Fragesätzen. Sätze, die Verben im Indikativ und zugleich auch Verben im Konjunktiv enthalten, haben sowohl in den Romanen Kempowskis als auch der anderen Autoren einen Anteil von 8 %. Um den Moduswechsel von Satz zu Satz zu untersuchen, wurde der Anteil von Sätzen ermittelt, die ein Verb in einem bestimmten Modus enthalten und auf die ein Satz folgt, der ein Verb in dem jeweils anderen, aber keines in demselben

42 Walter Kempowski: ›Wenn das man gut geht‹. Aufzeichnungen 1956–1971. Hrsg. von Dirk Hempel. München: Knaus 2012, S. 588, zitiert bei Eroms: Sprache 2020, S. 347.

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Modus enthält (z. B. ein Satz mit Verb im Indikativ, aber ohne Konjunktiv, auf den ein Satz mit Verb im Konjunktiv folgt, der kein Verb im Indikativ mehr enthält). Der Anteil an Sätzen mit Moduswechsel liegt in Kempowskis Romanen bei 10 %, bei den anderen Autoren im Korpus ebenfalls bei 10 %. Hier lässt sich also kein Unterschied zwischen Kempowski und den anderen Autoren feststellen, auffällig ist lediglich der insgesamt stärkere Gebrauch des Konjunktivs bei Kempowski. Wie entwickelt sich der Gebrauch von Sätzen mit Verben in den verschiedenen Modi innerhalb von Kempowskis Romanwerk? Ein Überblick über den Gebrauch der Verbmodi bei Kempowski wird in Tabelle 6 gegeben. Tabelle 6: Anteile von Sätzen mit verschiedenen Verbmodi in den Romanen Kempowskis. Roman Tadellöser & Wolff Uns geht’s ja noch gold Ein Kapitel für sich Aus großer Zeit Schöne Aussicht Herzlich willkommen Hundstage Mark und Bein Heile Welt Letzte Grüße Alles umsonst

Sätze mit Indikativ

Sätze mit Konjunktiv

Sätze mit Indikativ und Konjunktiv

Sätze mit Moduswechsel

50 % 54 % 63 % 78 % 78 % 73 % 76 % 78 % 74 % 73 % 73 %

20 % 19 % 17 % 4 % 5 % 19 % 20 % 22 % 18 % 20 % 14 %

7 % 7 % 8 % 3 % 3 % 12 % 13 % 16 % 11 % 11 % 7 %

8 % 9 % 10 % 3 % 3 % 10 % 12 % 11 % 10 % 12 % 11 %

Der Anteil von Sätzen mit Verben im Indikativ liegt in allen Romanen über 70 %, außer in den ersten drei publizierten: in Tadellöser & Wolff haben nur 50 % der Sätze ein Verb im Indikativ, in Uns geht’s ja noch gold sind es 54 % und in Ein Kapitel für sich 63 %. Der Roman Schöne Aussicht liegt mit 78 % Sätzen mit Indikativ an der Spitze, genauso wie Aus großer Zeit und Mark und Bein. Bei dem Anteil der Sätze mit Verben im Konjunktiv ist am auffälligsten, dass dieser in Aus großer Zeit und Schöne Aussicht besonders niedrig ist und nur 4 und 5 % beträgt, während der Anteil in allen anderen Romanen zwischen 14 % (Alles umsonst) und 22 % (Mark und Bein) liegt. Die beiden Romane Aus großer Zeit und Schöne Aussicht haben hier also einen Sonderstatus. Eine Hypothese ist, dass Kempowski das in den beiden Romanen Erzählte nicht so stark in Frage stellt und direkter präsentiert als in den anderen Romanen, liegen die Ereignisse doch vor seiner eigenen Zeit beziehungsweise in seiner Kindheit, so dass er als Ausgangspunkt für seine Erzählungen auf Schilderungen anderer angewiesen ist, zu denen er mehr Distanz hat.

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 Ulrike Henny-Krahmer

Sätze, in denen Verben im Indikativ und Konjunktiv gemeinsam vorkommen, sind am häufigsten in Mark und Bein (16 %) und am seltensten in Aus großer Zeit und Schöne Aussicht (jeweils 3 %). Diese Ergebnisse hängen offensichtlich mit dem Anteil an Konjunktivsätzen an sich zusammen. Allerdings sind solche Sätze in den Romanen der ›zweiten Chronik‹ tendenziell häufiger als in den Romanen der Deut­ schen Chronik. Das Bild ist ähnlich beim Anteil der Sätze mit Moduswechsel: am seltensten kommt dies in Aus großer Zeit und Schöne Aussicht vor (jeweils 3 % der Sätze). Bei allen anderen Romanen liegt der Anteil an Sätzen mit Moduswechsel zwischen 8 und 12 %. Innerhalb der Deutschen Chronik ist er in Ein Kapitel für sich am höchsten (10 % der Sätze). Insgesamt kann festgehalten werden, dass die beiden Romane Aus großer Zeit und Schöne Aussicht beim Modusgebrauch dadurch herausstechen, dass in ihnen der Konjunktiv viel seltener verwendet wird als in den anderen Romanen.

5 Fazit und Ausblick Die hier vorgenommene stilometrische Analyse hat durch den Vergleich der Romane Walter Kempowskis mit Romanen anderer ausgewählter Autoren den Eindruck bestätigen können, den Eroms zu Beginn seines Kapitels zur Sprache Walter Kempowskis formuliert: »Walter Kempowskis Werk lässt sich mit einem Zugriff, der von der Fokussierung auf die Sprachform getragen ist, als im höchsten Maße eigenständig und einheitlich verstehen.«43 Clusterings und HauptkomponentenAnalysen mit verschiedenen Stilmerkmalen (häufigste Wörter zwischen 100 und 1000 sowie unterschiedliche Arten von N-Grammen) haben deutlich gemacht, dass Kempowskis Romane sich in allen Fällen klar von den Romanen der anderen Autoren im Korpus absetzen. Dies zeigte sich auch bei der Untersuchung von Fragesätzen und Verbmodi. Bei Kempowski sind mehr direkte Fragesätze zu finden, ein seltenerer Gebrauch des Indikativs und ein häufigerer Einsatz des Konjunktivs. Neben dem Vergleich mit den anderen Autoren war das Anliegen dieses Beitrags aber vor allem, die stilistische Binnenstruktur von Kempowskis Romanwerk zu untersuchen, mit einem besonderen Augenmerk auf dem Roman Schöne Aussicht. Dabei hat sich in der Gesamtperspektive aller Romane von Kempowski gezeigt, dass die Deutsche Chronik und die ›zweite Chronik‹ stilometrisch stets gut zu unterscheiden sind und dass innerhalb der Deutschen Chronik eine besonders enge Verbindung zwischen den beiden Romanen Schöne Aussicht und Aus großer

43 Eroms: Sprache 2020, S. 344.

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Zeit besteht. Letztere fallen durch einen besonders geringen Anteil an Sätzen im Konjunktiv auf und lassen sich voneinander vor allem durch einen unterschiedlichen Tempusgebrauch abgrenzen. Bei der Untersuchung der morphologischen Merkmale für alle Romane Kempowskis wurden außerdem Entwicklungen deutlich: Der Anteil unvollständiger Sätze nimmt über die Zeit ab und der Anteil an Fragesätzen nimmt zu. Ein Wechsel von Indikativ und Konjunktiv findet vermehrt in der ›zweiten Chronik‹ statt. Als »stilistische Pole« lassen sich in einigen Fällen die Romane Tadellöser & Wolff und Mark und Bein ausmachen. Tadellöser & Wolff sticht z. B. durch den Gebrauch der Familienidiome heraus, die in den 5-Grammen sichtbar werden, aber auch durch die durchschnittlich kürzesten Sätze, den größten Anteil an unvollständigen Sätzen, den geringsten Anteil an Sätzen mit Verben im Indikativ und die wenigsten Fragesätze. Mark und Bein auf der anderen Seite hat durchschnittlich die längsten Sätze, den geringsten Anteil unvollständiger Sätze und den größten Anteil an Sätzen im Konjunktiv. Insgesamt lassen sich einige von Eroms’ Thesen zur Sprache Kempowskis sehr gut mit computergestützten, stilometrischen Analysen bestätigen. Auch wird deutlich, dass es zwischen den Romanen Kempowskis stilistische Bezüge gibt, die auf unterschiedliche Weise deutlich werden, je nachdem, welche Textmerkmale ausgewählt und welche Methoden zur Gruppierung oder Kontrastierung verwendet werden. Einfluss haben z. B. die Erzählperspektive, die in den Romanen bevorzugten Zeitformen, mit denen erzählt wird, unter Umständen auch das Vorhandensein weiblicher und männlicher Figuren sowie inhaltliche Elemente. Es kann davon ausgegangen werden, dass Kempowski Erzählstile gewählt und variiert hat, ob bewusst oder unbewusst, jedenfalls in einer Weise, die sich auch stilometrisch aufdecken lässt. Viele der hier vorgenommenen Operationalisierungen von Stilmerkmalen sind zwangsläufig einfach gewesen, auf der anderen Seite lässt sich mit den computergestützten Methoden ein großes Korpus aus vielen Perspektiven untersuchen. Die Arbeiten könnten in Zukunft mit einem noch größeren Vergleichskorpus anderer Autoren oder unter Berücksichtigung weiterer Merkmale fortgeführt werden. Auch sind mikrostilistische Untersuchungen von Einzelromanen oder der Einsatz stilometrischer Netzwerke denkbar, um die Bezüge zwischen den verschiedenen Romanen Kempowskis weiter zu untersuchen. Eine schöne Aussicht!

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 Ulrike Henny-Krahmer

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Kempowski, Walter: Schöne Aussicht. E-Book. München: Albrecht Knaus Verlag 2016. Ladenthin, Volker: Literatur als Gegensatz. Eine Einführung ins Werk Walter Kempowskis. In: Ders. (Hg.): Die Sprache der Geschichte. Beiträge zum Werk Walter Kempowskis. Eitorf: Gata 2000, S. 7–55. Stephan Lesker: Poetik der Implikation. Referentialität und Kombinatorik im Werk Walter Kempowskis. München: Belleville 2023 (Theorie und Praxis der Interpretation, 14). Nolte, Andreas: »Man muss auf seiner Sprache spielen wie auf einem Instrument«. Sprichwörter und Redensartliches bei Walter Kempowski. Würzburg: Königshausen & Neumann 2019. Oakes, Michael P.: Statistics for Corpus Linguistics. Edinburgh: Edinburgh University Press 1998. Reents, Friederike: Schöne Aussicht. Roman. In: Carla A. Damiano/Andreas Grünes/Sascha Feuchert (Hgg.): Walter-Kempowski-Handbuch. Berlin/Boston: De Gruyter 2020 (de Gruyter reference), S. 48–50. Stamatatos, Efstathios: A Survey of Modern Authorship Attribution Methods. In: Journal of the American Society for Information Science and Technology 60 (2009), Heft 3, S. 538–556. https://doi.org/10.1002/asi.21001. Stockhorst, Stefanie: Exemplarische Befindlichkeiten. Walter Kempowskis Deutsche Chronik als literarisierte Familiengeschichte und bürgerlicher Erinnerungsort. In: Lutz Hagestedt (Hg.): Walter Kempowski. Bürgerliche Repräsentanz – Erinnerungskultur – Gegenwartsbewältigung. Berlin/ New York: De Gruyter 2010, S. 423–442. Tietz, Julian: Mark und Bein. Eine Episode. In: Carla A. Damiano/Andreas Grünes/Sascha Feuchert (Hgg.): Walter-Kempowski-Handbuch. Berlin/Boston: De Gruyter 2020 (de Gruyter refrence), S. 68–72. Wendenburg, Jasmine: Die Werkästhetik Walter Kempowskis. Dissertation. Ludwig-MaximiliansUniversität München 2022.

Nikolaus Werz

Schöne Aussicht? Mutmaßungen über das Bürgertum in der Provinz In Erinnerung an Peter A. Berger (1955–2018) »Tageszeitungen aus der Zeit las ich nicht, weil ich mich vor Informationsübersättigung fürchtete«, schrieb Walter Kempowski in seinem »Rückblick auf die Arbeit an Schöne Aussicht«.1 Intensiv habe er aber sein Fotoarchiv konsultiert. Das Buch verfasste er zwischen 1978 und 1981, z. T. in Kalifornien. Ursprünglich sollte es mit Aus großer Zeit einen Roman bilden, vielleicht ergab sich aus dieser Absicht auch der Titel, der mit Blick auf die krisenhaften 1920er Jahre seltsam wirkt.2 Der Roman beginnt in der Borwinstraße, sie liegt in einem Arbeiterviertel, in dem die jungen Eheleute Margarethe und Karl Georg Kempowski für einige Monate leben, bevor sie in ein bürgerliches Viertel umziehen können. Jahrzehnte später hat der gebürtige Rostocker und spätere Hamburger Bürgermeister Peter Schulz in seinen Erinnerungen dieses Viertel als »Roten Block« bezeichnet, was sich sowohl auf den dunkelroten Klinkerstein als auch auf die politische Einstellung der allermeisten Mieter bezog,3 die der SPD und den Gewerkschaften nahestanden. Allerdings wurde die vergleichsweise bürgerliche Ausrichtung der Hamburger SPD, der Rechtsanwalt Peter Schulz trat meist im blauen Blazer auf, von den Rostocker Sozialdemokraten in dieser Form nicht mitvollzogen. Mittlerweile handelt es sich bei dem in der Kröpeliner-Tor-Vorstadt (KTV) gelegenen Viertel um ein beliebtes Wohngebiet für Studenten und die akademische Mittelschicht, besonders in den vergangenen 30 Jahren hat eine

1  Walter-Kempowski-Archiv 2673 2832 in der Akademie der Künste, Berlin. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erschienen mehrere Tageszeitungen in Rostock, die sozialdemokratische Mecklenburgische Volkszeitung (1892–1933), die kommunistische Volkswacht (1920–1923 und 1926–1933), der nationalsozialistische Niederdeutsche Beobachter sowie die bürgerlichen Organe Rostocker Anzeiger (ab 1881) und Rostocker Zeitung (bis 1920, insgesamt 210 Jahrgänge!). Für den Herbst 2024 ist eine Ausstellung »Fake News? Die Rostocker Tageszeitungen zwischen Weimarer Republik und Drittem Reich (1932/33)« im Kulturhistorischen Museum Rostock vorgesehen (Material und Text: Jan-Peter Schulze; Kurator: Steffen Stuth). 2  Einzelne Passagen dieses Beitrags finden sich bereits in: Nikolaus Werz: Bürgerlichkeit und Bürgertum in Rostock. In: Jan-Peter Schulze (Hg.): Vorstadt der Bürger – Zwischen Steintor und Bahnhof in Rostock. Rostock: Redieck & Schade 2017, S. 11–23. 3  Peter Schulz: Rostock, Hamburg und Shanghai. Erinnerungen eines Hamburger Bürgermeisters. Bremen: Temmen 2009, S. 23. https://doi.org/10.1515/9783111330938-010

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 Nikolaus Werz

deutliche Aufwertung stattgefunden. Davon konnte in den 1920er Jahren, d. h. dem Jahrzehnt, über das Schöne Aussicht handelt, nicht die Rede sein. Im Folgenden geht es weniger um inhaltliche oder philologische Aspekte des Romans als um die Frage, was man über das damalige (und heutige) Bürgertum in Rostock weiß. Inwiefern bildet Schöne Aussicht die gesellschaftliche Wirklichkeit der 1920er Jahre ab? Wie kam es, dass die Romane von Kempowski als Chroniken des Bürgertums bezeichnet wurden?

1 Rostock – ein Oberzentrum Wohl in Ermangelung eines anderen Begriffs wird Rostock im 21. Jahrhundert wirtschaftliches Oberzentrum oder neumodisch Regiopole des heutigen Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern genannt. In der Vergangenheit war es ähnlich. Zeitgenössische Beobachter vermeinten angesichts des Besuches von Kaiser Wilhelm I. 1913 klare Unterschiede zwischen dem traditionellen Schwerin und dem dynamischen Rostock auszumachen: In Schwerin, die Enge des durch das höfische Zeremoniell vorgeschriebenen Horizonts, das »Knopfloch« dominiert und der Titel klassifiziert, im Hintergrund ein Binnensee, – die Stille des Gewordenen, die Würde der Residenz muß gleichsam erkältend wirken… Bei uns in Rostock der heiße Atem der Arbeit auf jedem Gebiet: Wissenschaft, Handel und Industrie heben kühn ihr Haupt. Dazu der Blick in goldene Ferne weit über die im Sonnenlicht blickenden Wogen der Ostsee, die Zukunft hoffnungsreich auf dem Wasser wie nie zuvor. […] Und so begrüßt am morgigen Sonntag in Wahrheit in und mit Rostock ganz Mecklenburg Kaiser Wilhelm,

so die Rostocker Zeitung damals auf ihrer Titelseite.4 Allerdings steht in den historischen Darstellungen und persönlichen Rückblicken das Bürgertum als Akteur nicht im Vordergrund, eher ziehen die mittlerweile renovierten Viertel und Gebäude im sog. Bahnhofsviertel,5 die auch in Kempowskis Romanen eine Rolle spielen, die Aufmerksamkeit auf sich. Eine Besonderheit

4  Hugo Wienandt: Dem Kaiser Heil und Heil dem Reich! In: Rostocker Zeitung 203, Nr. 216 (10.8.1913). Ausführlicher dazu: Schwichtenberg, Jakob: »Und so begrüßt am morgigen Sonntag in Wahrheit in und mit Rostock ganz Mecklenburg Kaiser Wilhelm.« Der Rostocker Kaiserbesuch im August 1913: Medienereignis und bürgerliche Selbstdarstellung. In: Beiträge zur Geschichte der Stadt Rostock 34/35 (2018), S. 88–108. 5  Vgl. dazu den (vergriffenen) Katalog der gleichnamigen Ausstellung im Kulturhistorischen Museum Rostock. Jan-Peter Schulze (Hg.): Vorstadt der Bürger – Zwischen Steintor und Bahnhof in Rostock. Rostock: Redieck & Schade 2017.

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der deutschen Gesellschaft um die Jahrhundertwende 1900 war das Bildungsbürgertum, ein Begriff, der in anderen Ländern fehlt. Nach Thomas Nipperdey sei es »nicht ein ökonomisches Interesse, sondern es ist die Bildung, die die Gruppe konstituiert. Die Bildungsbürger genießen soziales Ansehen, sie gehören zu den höheren Schichten, sie sind in der Nähe der kulturellen, sozialen, ja auch politischen Macht angesiedelt.«6 Dieses gebildete Bürgertum brachte ein spezielles Modell der Lebensführung hervor. Zu ihm gehörten Beamte und freie Berufe, im Norden besonders die evangelischen Pfarrer, die Gymnasiallehrer, die Ärzte etc., wobei die freien Berufe in Deutschland eine eigentümliche »Staatsnähe« aufwiesen. Aufgrund des konstitutiven Prinzips der Bildung war es eine prinzipiell offene Schicht, allerdings im Kern protestantisch. Politisch war sie im 19. Jahrhundert vom Liberalismus geprägt, um die Jahrhundertwende gewann ein imperialer Natio­ nalismus an Bedeutung. Nipperdey ging im Gegensatz zu dem sozialgeschichtlich orientierten Hans-Ulrich Wehler nicht davon aus, dass sich das deutsche Bürgertum durch die Übernahme von Stilelementen und Manieren von Aristokratie und Militär feudalisiert habe. Allerdings bleibt die Einordnung des Bürgertums in ein Schichtenmodell schwierig, im angelsächsischen Sprachraum spricht man unbestimmter von der middle class. Immerhin galt es in Deutschland auch als Ausdruck einer geistigen Lebensform. Thomas Mann bezeichnete seinen Roman Budden­ brooks als »ein bürgerliches Buch, ein Ausdruck bürgerlicher, symbolisch gesprochen: lübeckischer Lebensform«: Es gehöre zur deutschen »Idee der Mitte […], wer aber Mitte sagt, der sagt Bürgerlichkeit«,7 der in seiner Interpretation nichts »Klassenmäßiges« anhafte. Kempowskis Roman Schöne Aussicht stellt sich explizit in die Nachfolge Thomas Manns und beschreibt auch den »Verlust der Mitte«8 in Kultur und Gesellschaft, am Beispiel von Anna Kempowski sogar den Spagat zwischen Bildungsbürgertum und Bohème, die sich bei ihr mit der Welt des Theaters verknüpft. Schauspieler und Opernsänger verkehren in der Villa Stephanstraße 11.9 Dank der Romane der Deutschen Chronik und seiner noch gar nicht ausgeschöpften Sammlungstätigkeit rückte das Rostocker Bürgertum bei Kempowski in eine Rolle, die es möglicherweise gar nicht ausfüllen konnte. Im 19. Jahrhundert wurde der Bürgerstatus meist nur dem Haushaltsvorstand zugemessen, dann

6  Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918. Bd. I Arbeitswelt und Bürgergeist. 3., durchges. Aufl., München: Beck 1993, S. 382. 7  So in der 1926 gehaltenen Rede Thomas Mann: Lübeck als geistige Lebensform. Lübeck: Weiland 1993, S. 49–50. 8 Vgl. Schöne Aussicht, S. 96 (Buddenbrooks), 78–79, 313–314 (Bohème). 9 Vgl. Hagen Schulze: Weimar. Deutschland 1917–1933. Berlin: Severin und Siedler 1982, S. 123–138 (»Dichter und Denker«), hier S. 125.

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hätten gerade mal vier Prozent in Deutschland dazu gezählt; bei einer Berücksichtigung des »Kleinbürgertums«, der selbständigen Handwerker und Ladenbesitzer käme man vielleicht auf ein Fünftel der damaligen deutschen Bevölkerung.10 Ein Forschungsschwerpunkt Rostocker Historiker zu DDR-Zeiten lag auf der Agrargeschichte. Wohl auch aus diesem Grund fällt die Zahl der Untersuchungen zum Adel umfangreicher aus als die zum Bürgertum. Der Aufstieg des Bildungsbürgertums begann um 1800. Schon 1794 gründete man »Die Societät« als »Verbindung gebildeter Männer zum geselligen Vergnügen und zur literarischen Unterhaltung«, zumindest zeitweise waren auch die Frauen der Mitglieder im Vereinshaus willkommen. 1840 entstanden der Rostocker Kunstverein und 1883 der Verein für Rostocks Altertümer, beide engagierten sich für ein Museum und waren sowohl Ausdruck einer Identitätssuche als auch der Selbstdarstellung des Bürgertums. Das Mitgliederverzeichnis von 1841 umfasste 343 Nummern; dem Verein gehörten allerdings auch Personen aus dem Landadel und der höfischen Bürokratie an. 1903 eröffnete im Gebäude der Societät vor dem Steintor Rostocks Kunst- und Altertumsmuseum. Bereits 1895 war auf der anderen Straßenseite das Stadttheater eingeweiht worden, das später ob der Qualität der Operninszenierungen als das »Bayreuth des Nordens« galt. Der nach modernen Gesichtspunkten ausgestattete Bau hatte nahezu tausend Sitzplätze, von Brandbomben getroffen glühte er 1942 völlig aus. Eine detaillierte Studie über die Universität Rostock und ihren Einfluss auf die Stadtgesellschaft steht noch dahin, in den vorliegenden Darstellungen dominiert die politische Geschichte. Während zumindest die Buchtitel von Kempowski zu Rostock innerhalb seiner Deutschen Chronik von Aufschwung und Wohlstand künden, zeichnen neuere Untersuchungen eher das Bild einer armen und gesellschaftlich marginalen Einrichtung. Einzelne Professoren pendelten schon damals, im deutschen Vergleich waren die Gehälter niedrig.11 Nach ihrer regionalen Herkunft stammte die Mehrzahl der zwischen 1932 und 1945 in Rostock tätigen Dozenten aus dem süd- bzw. mitteldeutschen Raum, nur elf waren gebürtige Mecklenburger. Die meisten kamen

10  Andreas Fahrmeir: Das Bürgertum des »bürgerlichen Jahrhunderts«. Fakt oder Fiktion. In: Bude, Heinz/Fischer, Joachim/Kauffmann, Bernd (Hgg.): Bürgerlichkeit ohne Bürgertum. In welchem Land leben wir? Paderborn: Fink 2010, S. 23–32, hier S. 26. 11  So der Tenor bei Florian Detjens: Am Abgrund der Bedeutungslosigkeit? Die Universität Rostock im Nationalsozialismus 1932/33–1945. Berlin: be.bra wissenschaft 2020. – Der später so bekannte Walter Hallstein wohnte in der Stephanstraße 15 und zeigte auch nach 1945 eine starke Verbundenheit mit der Universität, an der er zwölf Jahre tätig war, in den Unterlagen finden sich indessen Hinweise auf längere Abwesenheiten und Besuche bei seiner Mutter. Nikolaus Werz: Walter Hallstein in Rostock. In: Mecklenburgische Jahrbücher 117 (2002), S. 231–248, hier S. 234.

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aus dem Bildungsbürgertum, 14 von 189 Professoren in diesem Zeitraum waren adeliger Herkunft.12 Rostock sei bei seiner Ankunft Anfang der 1920er Jahre eigentlich noch eine Landstadt ohne Industrie gewesen, schreibt der Anatom und Rektor des Jahres 1931, Curt Elze, in seinem Rückblick: die »ganze Atmosphäre im Lande war, als wir nach Rostock kamen, doch noch sehr autoritär-konservativ.«13 Unter den deutschen Universitäten hatte die Alma Mater Rostochiensis die geringste Studentenzahl, zumindest im Winter, im Sommer sei die Zahl wegen Warnemünde etwas größer gewesen. Zum Lehrkörper gehörten nur etwa 70 Professoren und Privat­ dozenten, was aber einen fast familiären Charakter zur Folge hatte, der sich erst mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten an der Universität verlieren sollte. Zwischen 1919 und 1932 verdoppelte sich die Studentenzahl, sie lag im Sommersemester 1932 bei 2912 Kommilitonen, die meisten in der Medizin. Mehrheitlich kamen sie aus Mecklenburg, Norddeutschland und dem Baltikum. Politisch waren sie deutschnational oder sogar völkisch eingestellt. Schon 1931 hielt der 1925/26 gebildete NS-Studentenbund an der Universität Rostock die absolute Mehrheit. Eine Sozialgeschichte der Studentenschaft und des Verbindungswesens fehlt für das 20. Jahrhundert. In der Weimarer Republik bestanden 35 militärische Traditionsvereine, die überwiegend konservativ ausgerichtet waren. Ähnlich dürfte es bei den Schulen ausgesehen haben: Schon 1932 wurde etwa am Realgymnasium in Schwerin ein wehrsportlicher Lehrgang durchgeführt. Viele Schüler gehörten in der Obertertia den Schweriner Rudervereinen an, ab 1934 war für die Aktivität im Ruderclub eine Mitgliedschaft im HJ-Marinesturm erforderlich. Durch die jugendorientierten Aktivitäten der Nazis – die deutschnationalen und konservativen Parteien hatten in der Weimarer Republik die Jugendarbeit vernachlässigt – erfuhren die Schulen und Universitäten einen Autoritätsverlust.14

12  Michael Buddrus/Sigrid Fritzlar: Die Professoren der Universität Rostock im Dritten Reich. Ein biographisches Lexikon. Hg. vom Institut für Zeitgeschichte. München: Saur 2007 (Texte und Materialien zu Zeitgeschichte, 16), S. 15–16. 13  Curt Elze: 15 Jahre Anatom in Rostock (1921–1936). In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Rostock. Mathematisch-Naturwissenschaftliche Reihe 17 (1968), Heft 1/2, S. 29–38, hier S. 30. – Aus dem damaligen Institut für Marxismus-Leninismus wurden Bemerkungen aus universitätsgeschichtlicher Sicht beigefügt. Darin wurde ihm vorgehalten, den aufkommenden Faschismus nicht erkannt zu haben. Vgl.: Ulrich Seemann/Peter Köppen: Einige ergänzende Bemerkungen zum vorstehenden Erinnerungsbericht von Curt Elze aus universitätsgeschichtlicher Sicht. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Rostock 1968, S. 39–44. 14  Vgl. dazu die eindrucksvolle Ausstellung »Einschnitte. Schweriner Abiturienten zwischen Weimarer Republik und Machtergreifung« in der Stiftung Mecklenburg, Schwerin (16.3.2023–4.6.2023), die u. a. Schulaufsätze zu den Abiturthemen »Machen Männer Geschichte« und »Von Luther zu Hitler« präsentiert. Sie versucht darüber hinaus die Lebenswege der Abgänger nachzuzeichnen, von denen viele im Krieg umkamen. Von dem Realgymnasium Schwerin kamen zwölf Ritterkreuzträger.

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In Schöne Aussicht begegnen wir einem studentischen Untermieter, der mit seinem Interesse für Journalismus und Literatur den jungen Walter Kempowski beeindruckte. Mit dem Reitsattel unter dem Arm war der elegante junge Mann mit »vornehmen Allüren« in die elterliche Wohnung an der Alexandrinenstraße eingezogen. Von Walter Görlitz (1913–1991) erschien 1941 Des Reiches unbekanntes Land Mecklenburg, das zumindest im Schlussteil Konzessionen an den damaligen Zeitgeist erkennen lässt, später soll er Schwierigkeiten mit dem Regime bekommen haben. Im Roman taucht er als »Student med. Wirlitz« auf. Görlitz schrieb nach dem Krieg für Die Welt und verfasste eine Vielzahl von historischen Büchern. Mit dem ehemaligen Direktor des Burgtheaters in Wien Adolf Wilbrandt (1837–1911) war Ende der 1880er Jahre ein damals vielgelesener und an deutschsprachigen Bühnen oft gespielter Autor nach Rostock zurückgekehrt, um dort die letzten beiden Jahrzehnte seines Lebens zu verbringen. Er schrieb noch eine Reihe von Theaterstücken und Romanen in seiner Heimatstadt, wo er eine bekannte Figur im Stadtbild abgab. Die Besprechungen zu seinen späten Beiträgen fielen ziemlich kritisch aus.15 Theateraufführungen nahmen 1911 in der Rostocker Zeitung fast den Stellenwert ein wie heutzutage die Berichterstattung über Hansa Rostock. Die Kritiker zeigten sich meinungsstark und äußerten sich recht direkt zur Qualität der Stücke und des Publikums. Zur Aufführung des Trauerspiels Das verschleierte Bild zu Sais in Rostock hieß es in der Zeitung am 25. September 1910: Der Dramatiker Adolf Wilbrandt hat nach langer Pause wieder von der Bühne herab gesprochen. Aber seine Stimme klang hohl wie eine geborstene Glocke. Seine neue Tragödie, die im Rostocker Stadttheater zur Uraufführung gelangte, bedeutet kein literarisches Ereignis. Die Grabesluft einer verschollenen Literaturepoche streicht eisig durch ihr pompöses Gefüge.16

Walter Behrend, ein 1885 in Rostock geborener Journalist, der zum Zeitpunkt der Besprechung leitender Feuilletonredakteur der Münchner Neuesten Nachrichten war, beschrieb nicht ohne Häme erst die Stadt und dann das Stück: Die Rostocker sind echte Niederdeutsche. Sie sind gutmütig, humorvoll, naiv, sentimental. Ihre Bürgerdummheit wirkt auf die Reisenden nicht schmerzhaft, sondern grotesk. Die Stadt wimmelt von Originalen. Jeder Mensch ist hier abgeschlossen und verschwendet Schrullen [...]. Rostock hat nun ein richtiges Stadttheater – ein großes, modernes Bauwerk von hinreichender Scheußlichkeit […]. Im rostocker [sic!] Stadttheater wurde nun dieser Tage eine Uraufführung losgelassen. Der alte Adolf Wilbrandt kam zu Wort. Seine Zeit ist eigentlich

15  Nikolaus Werz: Adolf Wilbrandt: Schriftsteller, Nationalpatriot, Heimkehrer. In: Stefan Siebert (Hg.): Adolf Wilbrandt – Ein literarisches Leben zwischen Rostock und Wien. Rostock: Universität 2013, S. 21–42. 16  Zit. nach Werz: Wilbrandt 2013, S. 39.

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längst verstrichen; aber seine greisen Lenden gebären immer noch Dramen und Romane in Fülle. Gern würde man ihm den Rat geben, endlich den magnetischen Federkiel zu meiden; aber, man weiß ja (auch dies ist ein schlimmes Zeichen unserer verdorbenen Zeit): die Alten lassen sich von den Jungen partout nicht belehren. Trotzdem wird niemand diesem vornehmen, alten Herrn – er ist ja eine der sympathischsten Erscheinungen aus den siebziger und achtziger Jahren – das Vergnügen stören, sich seinen enthusiasmierten Rostockern zu präsentieren […]. Als der Vorhang fiel, sprang Begeisterung in die Rostocker, die gesunde Nerven haben. Sie stürzten nicht tot zu Boden, als sich das ›Bild zu Sais‹ vor ihnen entschleierte.17

Eine ähnlich kritische Berichterstattung fehlt aktuell in der Hansestadt. Erinnern wir uns aber daran, dass zu den Burlesken des Rostocker Theaterlebens in den vergangenen Jahren 2004 auch das schnell wieder aufgehobene Hausverbot gegen den Kritiker und Germanisten Heinz-Jürgen Staszak gehörte.18 Immerhin wurde Adolf von Wilbrandt posthum mit einer Straße in der vornehmen Steintor-Vorstadt gewürdigt: »Dicker Lahl ist ein Mitschüler von mir. Sein Vater hat eine Firma für Fleischereibedarfsartikel. Sie haben ein Haus in der Adolf-Wilbrandt-Straße und sind alle sehr dick.«19 Der berühmte Maler Edvard Munch lebte 1907/1908 phasenweise in Warnemünde. Das bekannteste Bild aus dieser Phase ist Badende Männer. Munch nahm es für eine Ausstellung im Salon Clematis mit nach Hamburg. Für die Aktstudien nackter Männer hatten ein Badewärter und der Maler selbst Modell gestanden. Der Inhaber der Galerie wagte es jedoch nicht, es dem Hamburger Publikum zu zeigen, was sein Mäzen Gustav Schiefler in einem Brief an Munch »als Sieg der bürgerlichen Gesellschaftsmoral« monierte.20 Munch wollte sich in Warnemünde von Krankheiten erholen und nutzte gleichzeitig die guten Reiseverbindungen. Kontakte zur Rostocker Kunstszene hingegen sind nicht bekannt: Während in den Museen von Lübeck und Chemnitz mehrere Bilder des Norwegers hängen, ist dies in Rostock nicht der Fall. Die bestimmende Gruppe in der Region bis Anfang des 20. Jahrhunderts blieb der Adel, auch wenn 1913 nur 272 adelige Gutsbesitzer sowie 233 adelige Offiziere und Beamte in Mecklenburg-Schwerin lebten. Berücksichtigt man die Familien, dann ergab dies eine Zahl von etwa 2.500 Adeligen, was bei einer Bevölkerung von 640.000 Einwohnern einen vergleichsweise geringen Anteil darstellt. Die Adeligen wurden Gutsherr, Offizier, Forstmeister oder Amtmann, alles andere hätte

17  Walter Behrend: Premiere in Rostock. In: Die Schaubühne 6 (1910), S. 1020–1023. 18  Barbara Hendrich: Theaterkritiker erhielt Hausverbot. In: OZ, Nr. 272 vom 19.11.2004, S. 13. 19  Zitiert nach Walter Kempowski: Wenn das man gut geht! Aufzeichnungen 1956–1970. Hg. von Dirk Hempel. München: Knaus 2012, S. 51. 20  Arne Eggum: Munch und Warnemünde. In: Annie Bardon u. a. (Hgg.): Munch und Warnemünde 1907–1908. Kunsthalle Rostock/Munch-Museum. Tangen: Labyrinth Press, S. 25–45, hier S. 38.

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kaum ihren Standesinteressen entsprochen. In der Stadt machte sich dies insofern bemerkbar, als die eine oder andere adelige Großgrundbesitzerfamilie, »die im Sommer auf ihren Gütern lebte, im Winter aber eine Art Hof hielt in Rostock, so wie dies damals vielfach der Fall war.«21 In den politischen Vereinen (Deutsche Kolonialgesellschaft, Alldeutscher Verband etc.) bestand hingegen eine Dominanz des Bürgertums, ebenso in den Kriegervereinen, denn der Adel zeigte wenig Interesse an den Anforderungen des modernen politischen Massenbetriebes. Das sogenannte »Goldene Zeitalter« Rostocks seit 1871 fällt insofern mit dem Aufschwung des Bürgertums zusammen. Die Rolle des Adels wurde ab 1933 geschwächt, da die Nationalsozialisten den Mitgliedern des Fürstenhauses vorhielten, sich auf eine obotritische und slawische Herkunft zu berufen, während sie auf die germanischen bzw. niedersächsischen Vorfahren der Mecklenburger verwiesen.22 Gauleiter Friedrich Hildebrandt stand als ehemaliger Landarbeiter den Großagrariern reserviert gegenüber. Innerhalb des Bürgertums in Mecklenburg-Schwerin lassen sich drei Gruppen unterscheiden: Der alte Mittelstand der selbständigen Handwerksmeister, Kaufleute und Bauern, wozu 1907 ca. 52.500 von 291.000 Erwerbstätigen zählten (18 Prozent). Ihr Interesse lag darin, ihren Besitzstand mehr oder weniger unbeschadet durch die Zeitläufte zu bringen. Daneben gab es den neuen Mittelstand der Handlungsgehilfen, Angestellten und Beamten mit ca. 36.500 Personen (12,5 Prozent). Die kleinste und wichtigste Gruppe machten die sogenannten Bildungsbürger aus, ca. 600 waren als Ärzte, Anwälte und Apotheker selbständig, »die übrigen ca. 2.000 standen als Juristen, Pastoren, Ingenieure im Staatsdienst oder fungierten als leitende Angestellte in der Privatwirtschaft.«23 Die Rostocker Betriebe waren – mit Ausnahme der Rüstungsunternehmen – weitgehend von kleinerer und mittlerer Größe. Bei der Neptun Schiffswerft bestand ein Einfluss externer Monopole vor allem aus Bremen, der wichtigste Reeder vor Ort war August Cords. Die repräsentative Vereinigung des Rostocker Bürgertums war die Korporation der Kaufmannschaft. Schon 1925 beklagte sie anlässlich der Stadtratswahl, dass »keine geeignete Persönlichkeit für Rostocks

21  Friedrich Carl Witte: Lebenserinnerungen. Erster Teil: Kindheit, Jugend, Schule 1864–1883. Rostock: Hinstorff 1936, S. 29. – Die Familie wohnte später in der Villa Witte in Warnemünde, Seestraße 15. 22  Bernd Kasten: Politik und Landesgeschichte in Mecklenburg 1918–1945. In: Thomas StammKuhlmann (Hg.): Geschichtsbilder. Festschrift für Michael Salewski zum 65. Geburtstag. Wiesbaden: Franz Steiner, S. 443–451, hier S. 445. 23  Bernd Kasten: Herren und Knechte. Gesellschaftlicher und politischer Wandel in MecklenburgSchwerin 1867–1945. Bremen: Temmen 2011, S. 103.

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Handel, Gewerbe und Industrie« vertreten sei, diese Klage bildet seitdem eine Konstante in der Stadt.24 Einige der von Kempowski zur Stadtgeschichte konsultierten Autoren finden sich in der Anthologie Mein Rostock.25 Darunter ist auch ein Beitrag von Werner Tschirch, der das Rostocker Leben um 1900 anschaulich und amüsant beschrieben hat.26 Es sind relativ wenige Lebensrückblicke von Rostockern aus dem bildungsbürgerlichen Bereich überliefert. Aufschlussreich für das 19. Jahrhundert sind die Erinnerungen des Apothekers und Chemiefabrikanten Friedrich Carl Witte (1864–1938), die ein Bild des gesellschaftlichen Lebens in der Stadt und des maritimen Geschehens vermitteln. Schließlich verfügte Rostock vor der Einführung der Dampfschifffahrt über die größte Reederei der gesamten Ostsee: »Wie leuchteten die Augen der Seeleute, die hinaus in die Welt zogen! Wie leuchteten aber auch unser, der Zurückgebliebenen Augen voll Stolz auf das, was unsere Stadt Rostock im Schiffsbau leistete und für den Welthandel beitrug! An Schönheit überwand jedes hölzerne Schiff den späteren eisernen Dampfer.«27 Witte beschreibt u. a. das Rostocker gesellschaftliche Leben des ausgehenden 19. Jahrhunderts: »Bei dem Fehlen eines ständigen Theaters, bei den ungenügenden Konzertverhältnissen, dem Mangel einer städtischen Kapelle und der noch außerordentlich gedämpften Reiselust war der Winter der Geselligkeit gewidmet.«28 Hierzu kamen die Mitglieder der sogenannten »besseren Gesellschaft« zusammen, d. h. die Professoren der Landesuniversität, die Richter, sonstige höhere Beamte, Mitglieder des Magistrats, Ärzte, Großkaufleute, Rechtsanwälte, Rittergutsbesitzer und hier und da, wenn auch selten, einige Lehrer. Bei den bunten Veranstaltungen wurde zwischen Privatgesellschaften nur zum Diner, d. h. zum Mittagessen gebeten, während die Unverheirateten zu den Tee dansants, später als »Tanz und Tee« bezeichnet, geladen wurden. Als Höhepunkt

24  Klaus Ehlers: Zur politischen Stellung des Rostocker Bürgertums von 1919 bis 1945. Staats­ examensarbeit Universität Rostock/Sektion Geschichte. Rostock 1969, S. 50. 25  Walter Kempowski: Mein Rostock. Frankfurt am Main/Berlin: Ullstein 1994 (Autoren sehen ihre Stadt, 1). 26  Werner Tschirch: Rostocker Leben im Rückblick auf 1900. Aus einem Familienleben. Zeichnungen von Egon  Tschirch (aus seinem Nachlaß). 2. Aufl. mit Nachträgen. Rostock: Selbstverlag 1964. – 1990 kam der Vorwurf auf, dass sich Kempowski aus diesem Buch für seinen Roman Aus großer Zeit plagiierend bedient hätte, dem widersprachen Journalisten und Kritiker. Vgl. Volker Ladenthin (Hg.): Die Sprache der Geschichte. Beiträge zum Werk Walter Kempowskis. Eitorf: gata 2000, S. 64–65. 27  Witte: Lebenserinnerungen. Erster Teil 1936, S. 55. 28  Friedrich Carl Witte: Lebenserinnerungen. Zweiter Teil: Studium, Reisen, erste Berufsarbeit, Heirat. Rostock: Hinstorff 1938. http://purl.uni-rostock.de/rosdok/ppn828793336, S. 19  (letzter Zugriff am 10.9.2016).

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der winterlichen Geselligkeit galten der Sozietätsball, veranstaltet von der kaufmännischen Vereinigung, der Subskriptionsball, der vom Offizierskorps des 90.  Großherzoglich=Mecklenburgischen Füsilierregiments ausgerichtet wurde und an dem die liberalen Bürger kaum teilnahmen, der Studentenball, der im Hotel de Russie stattfand, und der Clubball, die geselligste Verbindung der angesehensten Einwohner mit den Großgrundbesitzern der näheren und weiteren Umgebung. Das gesamte Bürgertum in dem damals verfassungslosen Mecklenburg sei liberal gewesen, auch wenn Witte selbst erste Beispiele für den Übergang vom Freisinn zur Nationalliberalen Partei nennen musste. In den meisten Büchern spielt die jeweilige Erinnerung an den Ersten bzw. den Zweiten Weltkrieg eine große Rolle, auch in diversen Romanen Kempowskis. Überhaupt nehmen die politischen Ereignisse einen relativ hohen Stellenwert ein, sie überlagern weitgehend die Schilderungen des bürgerlichen Zusammenlebens und der Kunst. Insgesamt finden sich fast mehr Bilder als Texte zu Rostock, was besonders an den vorzüglichen Photographien von Karl Eschenburg und an der Sammeltätigkeit Gerhard Webers liegt. Auf diesen Abbildungen sieht man nur in Ausnahmefällen Vertreter aus dem Bürgertum, es überwiegen die Landschaften und maritimen Motive.29 Dies gilt übrigens ebenfalls für die vielen Bildbände, die in den letzten Jahren zur Geschichte der Stadt erschienen sind.30 Ein gewisses bürgerliches Selbstbewusstsein war bei den Rostockern durchaus vorhanden, es entstand gerade aus dem Vergleich mit Schwerin. So schrieb der Abgeordnete Richard Moeller, der von 1921 bis 1933 als Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) dem Landtag von Mecklenburg-Schwerin angehörte und von 1926 bis 1929 Unterrichts- und Justizminister war: »Ein wenig in der Verbannung fühlen sich Rostocker immer in Schwerin. Der Ton in der Stadt war immer noch residenzhaft, cliquenhaft, und die Stadt war scheußlich […]. Wir waren immer der Ansicht, daß wir Rostocker Wilde bessere Menschen seien«,31 hielt er

29  Wolfhard Eschenburg (Hg.): Das Alte Rostock in Photographien von Karl Eschenburg. Mit einem einleitenden Text von Thomas Gallien. Rostock: Hinstorff 2004. Ders. (Hg.): Karl Eschenburg – Warnemünde in alten Ansichten. Mit einer Einleitung von Jürgen Borchert. Rostock: Hinstorff 2000. 30 Als herausragendes Beispiel sei hier der von Gerhard Weber herausgegebene und bebilderte Fotoband genannt: Kempowskis Rostock. Eine Spurensuche in Texten von Walter Kempowski und in historischen Aufnahmen. Rostock: Hinstorff 2011. – Weber collagiert Zitate aus der Deutschen Chronik mit Fotografien aus seiner Sammlung. – Vgl. dazu Fokus.Stadtbild.Rostock. Stadtansichten und Stadtgeschichte. Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung des Kulturhistorischen Museums Rostock vom 16. Juni bis 8. Oktober 2023. Rostock: Hinstorff 2023 (Publikation des Kulturhistorischen Museums Rostock, Neue Folge 27). 31  Richard Moeller: Lebenserinnerungen. Hg. von Bernd Kasten. Rostock: Schmidt-Römhild 2010, S. 184.

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mit Blick auf den ebenfalls nach Schwerin gezogenen Albert Meyer fest, der dort ein Geschäft für Herren- und Knabenbekleidung besaß. Moeller selbst wurde 1933 aus dem Schuldienst entlassen; nach 1945 avancierte er zum Ministerialdirektor in der Abteilung Kultur und Volksbildung der neu gebildeten Landesverwaltung, geriet aber schnell in Konflikt mit dem Volksbildungsminister Gottfried Grünberg. Er wurde in das Konzentrationslager Fünfeichen bei Neubrandenburg verschleppt und starb krank und geschwächt Ende 1945 in dessen Lazarett. Eine Gruppe aus dem unternehmerischen und bildungsbeflissenen Bürgertum ist vergleichsweise gut erforscht: Die jüdischen Mitbürger, von denen 1863 etwa 3.300 in Mecklenburg-Schwerin lebten, mehrere wohnten im Bahnhofsviertel in Rostock, die Nazis nannten es später »Klein Jerusalem«. Durch das Max-SamuelHaus »Stiftung Begegnungsstätte für jüdische Geschichte und Kultur in Rostock« sind schon in der Endphase der DDR erste Kontakte zu den noch lebenden Rostocker Juden in aller Welt geknüpft worden. Richard Siegmann wirkte von 1898 bis 1935 in Rostock. Als Straßenbahndirektor setzte er die Elektrifizierung durch,32 er war Mitglied der Bürgerschaft sowie von zahlreichen Vereinen und galt als erster Förderer des mecklenburgischen Fremdenverkehrs. Nach seiner Pensionierung lebte er in Berlin, dort wurde er 1943 von der Gestapo ins KZ Theresienstadt deportiert und verhungerte noch im selben Jahr. Richard Siegmann sowie der Flugzeugpionier und Rüstungsproduzent Ernst Heinkel waren von erheblicher Bedeutung für die Stadt Rostock.33 1923 kaufte Flugzeugbauer Heinkel die Villa des Fabrikanten Friedrich Witte in der Seestraße 15 in Warnemünde, was als Indikator für die wachsende Bedeutung der Rüstungsproduktion gelten kann. In den Rostocker Heinkel-Werken arbeiteten seit den 1930er Jahren teilweise mehr als 15.000 Menschen. Der Konstrukteur, der in seinem Haus Gäste der deutschen und internationalen Prominenz wie Elly Beinhorn, Leni Riefenstahl, Joseph Goebbels und den Ozeanflieger Charles Lindbergh bewirtete, besaß einen Glamour-Faktor, der es ihm erlaubte, einige Male selbstbewusst gegenüber den Nazis aufzutreten. Mit dem Ausbau der Neptun-Werft im Zuge der Rüstungsproduktion bestand 1939 Vollbeschäftigung. 1935 lebten hier erstmals 100.000 Einwohner, Rostock wurde damit zur einzigen Großstadt der Region im Deutschen Reich, was die Nationalsozialisten entsprechend feierten.

32  Jan-Peter Schulze: Richard Siegmann… aber wir waren Deutsche. Hg. vom Max-Samuel-Haus, Stiftung Begegnungsstätte für Jüdische Geschichte und Kultur in Rostock. Rostock: Redieck & Schade 2011. 33 Heinkel in Rostock. Innovation und Katastrophe. Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung des Kulturhistorischen Museums Rostock. Rostock: Hinstorff 2022 (Publikation des Kulturhistorischen Museums Rostock, Neue Folge 26).

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2 Bürgertum und Bourgeoisie – Rostocks Entbürgerlichung nach 1945 Kempowski selbst verwendet ganz gezielt den Begriff bürgerlich. So trägt sein erfolgreichster Roman Tadellöser  &  Wolff von 1971 den Untertitel »Ein bürgerlicher Roman«. Das Kempowski-Archiv-Rostock im Klosterhof 3 neben dem Hauptgebäude der Universität führt den Zusatz »Ein bürgerliches Haus«, auch wenn sich wahrscheinlich nur ein kleinerer Teil der alten und neuen Mittelschicht in der Stadt selber als bürgerlich bezeichnen dürfte. Schon Kempowskis Tagebuch aus den Jahren unmittelbar nach seiner Haftentlassung verbindet den Aspekt der »Stadt« mit der Erfordernis »Politischmitbürgerliche[r] Erziehung«. Der künftige Lehrer und Pädagoge sinnt darüber nach, wie die ihm anvertrauten Schüler spielerisch »politische Themen« erarbeiten könnten.34 Kempowski resümiert hier, im Tagebuch, die eigene Biographie, das eigene Herkommen aus einem bürgerlichen Milieu, und er legt sich bereits thematische Listen dessen an, was er künftig in der Deutschen Chronik auserzählen wird. Sodass wir hier schon einen Fahrplan zum »Haftbericht« Im Block und zum Roman Schöne Aussicht vorliegen haben: Im Grunde ist die ganze Chronik bereits in den frühen Tagebüchern angelegt. Daraus ergibt sich die These, dass Kempowskis Tagebuch Wenn das man gut geht! nicht nur als Buch, »das zum Block führt« lesbar ist – womit Hildegard Kempowski zweifellos recht hatte –, sondern auch als Hinleitung (schon!) auf Schöne Aussicht rezipiert werden muss.35 Diese Hinführung verknüpft sich mit einem pädagogischen Impetus. Der Kempowski-Entdecker und -Förderer Fritz J. Raddatz nannte den von ihm ›entdeckten‹ und frühzeitig geförderten Kempowski den Historiographen des deutschen Bürgertums und setzte an anderer Stelle mit Blick auf seine Methode hinzu: »Er schürft für uns und fügt zusammen – verstehen müssen wir selbst.«36 Kempowski wiederum charakterisierte Rostock in seiner Dankesrede als »pädagogische Provinz« und legte nochmals seine Methode dar, die vor allem

34  Zitiert nach Walter Kempowski: Wenn das man gut geht! Aufzeichnungen 1956–1970. Hg. von Dirk Hempel. München: Knaus 2012, S. 285. 35  Vgl. bspw. den Passus »Einflüsse und Eindrücke« in: Kempowski: Wenn das man gut geht! 2012, S. 49–54. 36  Fritz J. Raddatz: Nie mehr »Kalter Hund« oder vom Umschlag der Ethnologie in Literatur. – Über Walter Kempowski als Historiographen des deutschen Bürgertums. In: Ehrenpromotion der Philosophischen Fakultät 2002 (Rostocker Universitätsreden, NF, Heft 10), Rostock 2003, S. 23–34, hier S. 23.

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auf eine Form des Verstehens ausgerichtet sei und weniger auf eine politische Einordnung.37 Literaturkritiker schätzen sein Werk unterschiedlich ein. Seine Methode der Collage wurde damals von Jüngeren gelobt und als innovativ empfunden, z. B. seitens Benjamin von Stuckrad-Barre, mit Blick auf die inhaltlichen Aussagen war das Urteil gespalten: »Es wird letztlich keine Autobiographie erzählt, sondern eine Lebensform inventarisiert: ihr Name ist Bourgeoisie«, konstatiert Norbert Mecklenburg trocken.38 Er kritisiert die Reflexionslosigkeit des Ansatzes, die Beharrungskraft des Bürgertums resultiere bei Kempowski letztlich aus dem Fortbestand der Familie. Ganz anders als bei Thomas Mann steht nicht der Verfall einer Familie im Vordergrund. Franco Moretti erwähnt in seinem Buch Der Bourgeois einen Leser, der dem Autor der Bud­ denbrooks geschrieben habe: »So wenig geschieht, ich müßte gelangweilt sein, bin es aber nicht. – Es ist seltsam.«39 Die Attraktion bei Mann fußt u. a. auf der Dialektik von Besitzbürger und Künstler und auf dem großbürgerlichen Ambiente – beides fehlt bei Kempowski. Es kann vermutet werden, dass Ansatz und Anliegen aus seiner persönlichen Lebens- und Leidensgeschichte resultieren. Nach seiner Haftentlassung 1956 aus Bautzen begann Kempowski, das in den acht Jahren Gefangenschaft permanent erinnerte Familienleben aufzuschreiben. Wir dürfen annehmen, dass dies aus einer Art Schuldgefühl geschah, denn sowohl seine Mutter als auch der Bruder wurden nach seinen Verhören verhaftet: »Diese Wiedergutmachung, die Familie wenigstens auf Papier wieder lebendig werden zu lassen, wird ihn sein ganzes weiteres Leben begleiten.«40 Wie stark die Recherche zur Familiengeschichte an der Auseinandersetzung mit dem SED-Regime hängt, zeigt sich in seinen Tagebüchern. Nach 1945 verließ ein Teil des Bürgertums Rostock unfreiwillig, unter dem Staatssozialismus begann eine drastische Entbürgerlichung.41 Durch den Ausbau des Überseehafens ab 1957 und verstärkt nach dem Mauerbau 1961, der Ostsee-

37  Walter Kempowski: Rostock als pädagogische Provinz. In: Ehrenpromotion der Philosophischen Fakultät 2003, S. 37–47. 38  Norbert Mecklenburg: Faschismus und Alltag in deutscher Gegenwartsprosa. Kempowski und andere. In: Hans Wagener (Hg.): Gegenwartsliteratur und Drittes Reich. Deutsche Autoren in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Stuttgart: Reclam 1977, S. 11–32, hier S. 16. 39  Franco Moretti: Der Bourgeois. Eine Schlüsselfigur der Moderne. Aus dem Engl. von Frank Jakubzik. Berlin: Suhrkamp 2014, S. 119. 40  Carsten Niemann: Alles frei erfunden. Walter Kempowskis »Chronik« in Bildern. Hannover: Niedersächsisches Staatstheater Hannover, Theatermuseum und -archiv 2009, S. 7. 41  Kempowski wurde im ›Gelben Elend‹, der Bautzener Haftanstalt, weltanschaulich bedrängt: Ein Mithäftling, der ihn zum Sozialismus bekehren sollte, »tat dies ziemlich geschickt«: »Und aus Mitleid zu ihm verwandelte ich mich für anderthalb Tage in einen Freund der Arbeiterklasse, worüber ich mir später Vorwürfe machte, aber safety first.« Zitiert nach Kempowski: Wenn das man gut geht! 2012, S. 38.

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Biennale, dem Bau des Fußballstadions und einzelnen Konsulaten etc. erlebte die Stadt wiederum eine Aufwertung. Allerdings ergab sich dieser Aufschwung durch staatlich geplante und verordnete Maßnahmen. Mit dem Wegzug der Bewohner und den daraus resultierenden Enteignungen wurden die bürgerlichen Viertel dem Verfall preisgegeben, der neue Mensch sollte in den Plattenbaugebieten entstehen, was auch in den damals gemachten Filmen propagiert wurde. Im Mai 1975 reiste Kempowski nach Rostock und verfasste darüber einen Spiegel-Artikel. Während seines Besuchs hatte er folgenden Spruch aufgeschnappt, den er allgemein wiedergibt und keiner Person direkt zuschreibt: »›Die Herrschaft ist gegangen, und das Dienstpersonal ist geblieben‹, so wird gesagt: ›Sie gucken um die Ecke, ob sie nicht doch wieder zurückkommen, sie fürchten das und hoffen doch insgeheim darauf.‹«42

3 Zusammenfassung und Ausblick »Rostock als geistige Lebensform«, so lautet der Titel eines Aufsatzes des Rostockers Olaf Reis, der 1995 in den Stadtgesprächen veröffentlicht wurde und sehr kontroverse Reaktionen hervorrief. Ausgehend von dem berühmten Vortrag Thomas Manns über Lübeck, zeichnet Reis ein kritisches und zuweilen bissiges Bild der Stadtgesellschaft an der Warnow. Im Vergleich zu Lübeck erscheint Rostock als die Stadt des Kleinbürgertums, auch wenn in Lübeck politisch ein sozialdemokratisches Milieu ansässig war.43 Dies änderte sich durch das Wirtschaftswachstum im 20. Jahrhundert nicht, da die neuen Angestellten und Techniker in Neubauvierteln angesiedelt wurden und am urbanen Leben kaum teilnahmen. Mit dieser unklaren Stadtidentität und einer »mentalen Leere wurde Rostock zum Paradigma der DDR schlechthin.«44 Die Folgewirkungen zeigten sich nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus. Das bekannteste Beispiel dürfte Joachim Gauck sein, der im Herbst 1989 in der Endphase der friedlichen Revolution die Andachten in der Marienkirche übernahm. Von 1990 bis 2000 stand Gauck an der Spitze der oft nach ihm benannten »Gauck-

42  Walter Kempowski: DDR: Idylle hinterm Todesstreifen. Reisen in das andere Deutschland (II): Walter Kempowski in Rostock. In: Der Spiegel 29 (1975), Heft 38, S. 128–137, hier S. 132. 43  Julian Freche: Milieus in Lübeck während der Weimarer Republik (1919–1933). Kiel/Hamburg: Wachholtz 2019. – Dagegen hat sich in Greifswald lange Zeit ein konservatives Milieu gehalten. Helge Matthiesen: Greifswald in Vorpommern. Konservatives Milieu in Kaiserreich, in Demokratie und Diktatur (1900–1990). Düsseldorf: Droste 2000 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 122). – Eine Milieustudie zu Rostock fehlt noch. 44  Olaf Reis: Rostock als geistige Lebensform. In: Stadtgespräche 1 (1995), S. 9–15.

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Behörde«, die sich mit den Hinterlassenschaften der Staatssicherheit beschäftigt. Diese Tätigkeit brachte dem Rostocker unter einem Teil der Einheimischen nicht nur Sympathien ein. Als der parteilose Gauck 2012 mit großer Mehrheit zum Bundespräsidenten gewählt wurde, veröffentlichte die Ostsee Zeitung (OZ) eine Leserumfrage, wonach eine knappe Mehrheit der Befragten Rostocker nicht dafür war. Dieses Schicksal teilte er mit einem weiteren Ehrenbürger der Stadt, denn auch Walter Kempowski war aufgrund seines Antikommunismus und seinem Bekenntnis zum Bürgertum in der Stadt nicht wirklich populär. Es fällt auf, welch geringe Bedeutung er in der Außendarstellung im Vergleich zum »Buddenbrookhaus. Heinrich-und-ThomasMann-Zentrum« in Lübeck einnimmt, das derzeit renoviert und erweitert wird.45 Dabei waren es seine Bücher und die daraus hervorgegangenen Filme, die ein erstes Bild von Rostock in der lesenden Bevölkerung der Bundesrepublik geschaffen haben. Heute präsentiert sich die Innenstadt bürgerlich, aber die in der Stadt Wohnenden haben nach wie vor ihre Probleme damit, die Rolle des Bürgers aktiv zu übernehmen. Die Jahresköste der Kaufmannschaft wurde nach Bremer Vorbild wieder aufgelegt, dort versammeln sich aber mehr Angestellte und Beamte als unabhängige Kaufleute. Hierbei mag eine Rolle gespielt haben, dass in Rostock seit den 1920er Jahren eine sozialdemokratische Dominanz bestand. Wichtiger noch sind sicherlich die insgesamt fünf Regime- und Systemwechsel, die die Stadt im 20. Jahrhundert erlebte und die insgesamt zu einer Schwächung des Bürgertums führten. Die kurze Phase des Bürgertums endete eigentlich schon mit dem Nationalsozialismus. Die Universität und kulturelle Veranstaltungen verloren an Bedeutung. Die mittlere Schicht als unternehmerischer Akteur wurde bereits in den 1930er Jahren zunehmend von der Rüstungsindustrie sowie von Einzelunternehmern verdrängt. Wie Teile der späteren Funktionselite ab 1990 zeichneten sie sich dadurch aus, dass sie ihren Wohnsitz nicht nur in Rostock hatten. Nach dem politischen Umbruch 1989 und der Transformation ab 1990 berief man sich auf die Hanse und die »große Zeit« des bürgerlichen Aufschwungs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: »Gründerzeiten in Rostock. Am Anfang und Ende des 20. Jahrhunderts« lautet der Titel einer ebenso optimistischen wie anschaulichen Publikation des Unternehmerverbandes Rostock und Umgebung e. V. von 2004. Dem bürgerlichen Erscheinungsbild der Hansestädte oder den Reihenhaussiedlungen mit Garage und Mittelklassewagen im Speckgürtel der Küstenorte entsprechen aber nur teilweise die allgemeine Stimmungslage und das Wahlverhalten. In den vergangenen Jahren wurden wiederholt Initiativen gestartet, um

45  In den Jahren des Umbaus ist es mit einer Sonderausstellung »Buddenbrooks im Behnhaus« im Stadtpalais Museum Behnhaus Drägerhaus sowie einem Informationszentrum »Buddenbrooks am Markt« in Lübeck präsent.

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die Zivilgesellschaft zu stärken, der Begriff Bürgergesellschaft oder gar bürgerliche Gesellschaft taucht allerdings selten auf. Dabei geht es in der Regel um die Suche nach einem aktiven Bürger bzw. nach einem Wir-Gefühl.46 Die überschaubare Gruppe der Bürgerbewegten sah in der Herbstrevolte von 1989 vor allem einen Aufbruch in die Freiheit. Joachim Gauck erinnerte an die damals aufgekommene Parole »Wir sind das Volk« und setzte hinzu: »Wenn wir das Volk sind, bin ich ein Bürger. Wir trainierten, auf der Straße ein Bürger zu sein.«47 Dieser Prozess ist keineswegs abgeschlossen: Anders als in anderen Hansestädten – die Rostocker Bürgerschaft hatte sich den Zusatz Hanse nach 1989 selbst verliehen – fehlt ein selbstbewusstes Bürgertum. Die Firmensitze liegen in Hamburg oder andernorts, wo auch etliche der neuen Pendler wohnen, die in wirtschaftlichen Führungspositionen oder an der Universität tätig sind. Zudem ist die Stadt de facto in einen Kernbereich und die unterdessen modernisierten Plattenbau­gebiete geteilt, über die in den letzten Jahren neu diskutiert wird.48 Die Schwäche des Mäzenatentums und des bürgerlichen Engagements zeigt sich nicht zuletzt darin, dass mehr als dreißig Jahre nach 1989 weiter über ein Konzept für die Museen und das Theater debattiert wird. Kann sich ein Bürgertum rekonstituieren? Welche Form kann es in der spezifischen Einwanderungsgesellschaft Ostdeutschlands einnehmen? In Zeiten der Globalisierung deutet vieles auf »fußlose Eliten« hin, die sich selbst gerne als kosmopolitisch ausgeben; Untersuchungen zur regionalen politischen Kultur in Mecklenburg-Vorpommern zeigen indessen eine starke Heimatverbundenheit. Hinzu kommt ein aktueller Trend zur De-Globalisierung, der sich auch in den Umfragen und Wahlergebnissen niederschlägt. Drei Jahrzehnte nach der »friedlichen Revolution« von 1989 hat zumindest in der Küstenregion und in Rostock die mittlere Schicht zugenommen. Die neuen Wohngebiete am Stadthafen, um den ehemaligen Friedrich-Franz-Bahnhof oder im Speckgürtel um die Hansestadt zeugen von einem wachsenden Wohlstand. Wann, ob und in welcher Weise sich dies in Formen neuer bürgerlicher Selbstorganisation niederschlägt, bleibt offen.

46  Nikolaus Werz: Die Bürger- und Zivilgesellschaft in Mecklenburg-Vorpommern. In: HerbertQuandt-Stiftung (Hg.): Auf der Suche nach dem WIR-Gefühl. Begünstigende und hemmende Faktoren für bürgerschaftliches Engagement in Mecklenburg-Vorpommern: Gedanken zur Zukunft. Bad Homburg: Herbert-Quandt-Stiftung 2013 (Gedanken zur Zukunft, 26), S. 116–135. 47  So in Gaucks Rede in der Marienkirche 2009. Weitere Reden zum Thema in: Ders.: Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen. Denkstationen eines Bürgers. München: Siedler 2013. 48  2002 zeigte die Kunsthalle Rostock eine Ausstellung zur Geschichte der Plattenbausiedlungen. Vgl. Kevin Hanschke: Wie war das Leben in der Platte? In: F.A.Z., 27.7.2022. Vgl. auch: Steffen Mau: Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft. Mit zahlreichen Abbildungen. Berlin: Suhrkamp 2019.

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Schöne Aussicht? Mutmaßungen über das Bürgertum in der Provinz 

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Sabine Koburger

Schlimme Aussichten Politisches Handeln und Versagen der Zwischenkriegszeit in Kempowskis Roman Schöne Aussicht

1 Vorbemerkung – eine Antwort wird nicht gegeben Der autobiografische Roman Schöne Aussicht ist das zweite Buch der Deutschen Chronik, erst 1981, drei Jahre nach Aus großer Zeit, geschrieben und möglicherweise deshalb stilistisch vom ersten Teil der Chronik abweichend. Die drei unterschiedlich langen Teile des Buches (175, 141 und 216 Seiten) umfassen die Zeitspanne nach dem Ersten Weltkrieg bis zum Jahre 1938. Ein heterodiegetischer Erzähler arrangiert den Alltag der von bürgerlichen Wertvorstellungen geprägten wohlhabenden Rostocker Reedersfamilie Kempowski und deren soziales Umfeld. Die mitunter nüchterne, ironisch-heitere, dann wieder sarkastische Erzählweise schafft eine Distanz zwischen Erzählinstanz und Protagonisten. Sie wird verstärkt, indem der Autor scheinbar Unvereinbares verknüpft, paradoxe Konstellationen kreiert und die rhetorische Figur der Ironie gezielt einsetzt, um seine kritischen Botschaften auf subtile Weise zu vermitteln. Die Distanz zwischen Erzählinstanz und Figuren variiert, je nachdem, ob objektiv aus der Außensicht erzählt wird, oder ob die innerpsychischen Prozesse in Form der Gedankenrede dargestellt werden. Neben dem Stilmittel der Ironie sorgt auch das Understatement in der Erzählhaltung für Komik, und die Montage von Kalauern, Liedtexten und Sprüchen in die Handlung evoziert grotesken Realismus. Durch den Wechsel zwischen Fiktion und Dokumentation ist es Kempowski möglich, das Zeitgefühl der Zwischenkriegszeit, das kollektive Unbewusste, auszudrücken. Dadurch, dass er seinen Roman in Rostock ansiedelt, Straßen- und Gebäudenamen beibehält, Stadt und Umfeld detailliert erfasst und seine Figuren in bestimmten Situationen Mundart reden lässt, verleiht er dem diegetischen Geschehen Authentizität. Unter dem lakonischen Grundton und der atemstockenden Episodik liegt eine tiefe Traurigkeit über die sich unaufhaltsam entwickelnde Katastrophe. Wie konnte es geschehen, mag sich der Leser fragen, dass sich eine nationalsozialistische Diktatur etablierte, die folgerichtig in den Zweiten Weltkrieg führte? War es allein das Versagen der Regierungen und politischen Eliten, denen es nicht gelang, https://doi.org/10.1515/9783111330938-011

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die wirtschaftlichen und sozialen Krisen zu bewältigen, oder kann man von einem Scheitern der Mehrheitsbevölkerung sprechen, die Hitlers Versprechungen glaubte und sich zu »Nutznießern und Nutznießerchen« machen ließ?1 Oder ist eine solche Entwicklung unter bestimmten Umständen unvermeidlich, wie es Karl Jaspers in seinem Essay Über Gefahren und Chancen der Freiheit nahelegt: Der allgemeine Zustand der Unverläßlichkeit und der endlosen Störungen des Lebens ohne eigentliches Leben bewirkt eine Angst, die am Ende nur noch den Drang kennt: es muß anders werden. Dann unterwirft sich den Versprechungen eines Erretters oder Heilands die Mehrzahl mit Enthusiasmus.2

Der Romancier Kempowski wirft einen selbstironischen Blick auf das Denken und Handeln jener Schicht, der er selbst entstammt und die er am besten kennt und beschreiben kann – dem wohlhabenden Bürgertum –, und er geht der Frage nach, inwieweit auch sie eine Mitschuld am Zerbrechen der Republik und am Aufstieg der Nationalsozialisten trifft. Eine einfache Antwort kann er nicht geben, denn zu komplex griffen die äußeren und inneren Prozesse ineinander und in das Leben der Menschen ein: das Trauma des verlorenen Weltkrieges, die Wirren der Nachkriegszeit, Inflation und Hyperinflation, Gewalt von links und rechts, Armut infolge der Wirtschaftskrisen und der hohen Arbeitslosigkeit, existenzielle Ängste und die Entfremdung der Menschen, ihre moralische Ambiguität sowie ihre kräftezehrenden Versuche, sich unter den ständig wechselnden sozialen und politischen Verhältnissen zu behaupten. Anknüpfend an das erste Buch der Chronik Aus großer Zeit stellt der Autor jedem der drei Teile, in die sein Roman untergliedert ist, authentische Stellungnahmen von Zeitzeugen voran. Dadurch kann er das von den Geschehnissen relativ unbeeinflusste, selbstzufriedene bürgerliche Leben der sich stets den Umständen anpassenden Reedersfamilie Kempowski sowie ihres Umfeldes in den Kontext der Zeit stellen und die politische Situation aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten, ohne selbst kommentierend in Erscheinung treten zu müssen. Die Schere zwischen der rauen Wirklichkeit in Deutschland – sei es nach dem Krieg, in der Weltwirtschaftskrise oder im »Dritten Reich« – und der Illusion der Figuren, sich ihr kleines privates Glück bewahren zu können, zerbricht mit fortlaufender Ereignisfolge an der Realität, auch weil die Figuren nicht unbeeinflusst von den

1  Götz Aly: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus. Frankfurt/M.: Fischer 32005, S. 361. 2  Karl Jaspers: »Über Gefahren und Chancen der Freiheit« und »Das Kollektiv und der Einzelne«. Zwei Essays. Mit einem Nachwort von Hamid Reza Yousefi. Ditzingen: Reclam 2021 (Reclams Universal-Bibliothek, 14031), S. 7–32, hier S. 11.

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Geschehnissen bleiben, die sie weitestgehend zu verdrängen suchen. Nicht nur bei den Kempowskis, sondern bei all denen, die nicht fanatisch an die Ideologie der Nationalsozialisten glauben, ist ein Rückzug in die Schweigespirale der Angst beobachtbar.3 Karl sagt: »Diese politischen Sachen, die behält man besser für sich.«4 Sein Freund Dr. Jäger entgegnet: »Totstellen, Herr Kempowski!« (SchA 495) Im Epilog wird der kommende Krieg als die »neue Zeit«, die »angebrochen ist, endlich« (SchA 538), ahnungsvoll vorweggenommen. Gleichwohl eröffnen sich der Familie Kempowski zunächst wieder einmal scheinbar »gute Aussichten«.

2 Schlimme Aussichten – Kempowskis Polyperspektivität Der leitorientierende Titel muss in diesem Kontext also sowohl wörtlich wie ironisch gelesen werden, denn die Aussichten in der Zwischenkriegszeit waren keinesfalls immer rosig und von ständig wiederkehrendem Unheil bedroht. »Das sind ja schöne Aussichten!« wird idiomatisch gern im uneigentlichen Sinne von »Das kann ja schlimm werden!« konnotiert. Das Wortfeld »Aussicht«, das – abhängig vom Kontext – mehr als nur eine Bedeutung hat, zieht sich wie ein Leitmotiv durch den Roman. So stellt Pastor Straatmann seine Hilfe »in Aussicht«, sich in Form von »Herumhorchen und Fürbitte« nach einem möglichen Adoptivkind für das Ehepaar Kempowski, das in den ersten Ehejahren vergeblich auf Nachwuchs hofft (SchA 119–120), umzusehen. Natürlich nicht ganz uneigennützig, denn Grethe könnte ihm bei der Betreuung von Gemeindemitgliedern helfen! Aber die Befürchtungen waren umsonst, Grethe kann dem Pastor freudig die Bestätigung der Ehe »in Aussicht« stellen, was diesen veranlasst, von Gottes Gnade zu schwärmen. (SchA 137) Im wahrsten Sinne des Wortes eine »herrliche Aussicht« haben die Kempowski-­ Kinder Ulla und Robert sowie deren Freund Heini Schneefoot an der Warnow, nämlich »auf die ›Wackel‹-Wiesen, die von Sumpfdotterblumen ganz gelb sind und vor Nässe quutschen«. (SchA 378) Hingegen ärgert sich die Familie im Barnstorfer Tierpark, dass die »besten Aussichtsplätze« auf die Affen von Feriengästen besetzt sind: »Sachsen und Thüringer, das sind Leute die da unten irgendwo wohnen und sich hauptsächlich von Heimarbeit ernähren.« (SchA 420) Auch das »große

3  Vgl. zum Terminus Elisabeth Noelle-Neumann: Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung, unsere soziale Haut. München/Zürich: Piper 1980. 4  Kempowski, Walter: Schöne Aussicht. Roman. Hamburg: Knaus 1981, S. 505, im Folgenden zitiert mit der Sigle SchA und der entsprechenden Seitenzahl.

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Aussichtsfenster« auf Hitlers Obersalzberg, für dessen Transport extra eine Straße gebaut werden musste, findet die Familie »[e]igentlich ein bisschen doll! Was das kostet!« (SchA 442–443) Andererseits sind sie beeindruckt: »Das ist es ja grade, daß dieser Mann den Mut hat, alle Probleme radikal zu lösen. Diese herrlichen Autobahnen zum Beispiel.« (SchA 443) Im Epilog nimmt der Verfasser noch einmal explizit auf den Titel Bezug. Seinem Protagonisten winkt eine hochwertige Wohnung in einem Neubau im Bauhausstil – Augustenstraße 90, sechs Zimmer, Küche, Bad, Zentralheizung und Balkon in bester Lage. Rentier ist Brausefabrikant Krause, Karls Bundesbruder aus der »Blücher-Loge«. (SchA 228) Inzwischen ist die Freimaurerei allerdings verboten: »Logen sind jüdisch-bolschewistische Einrichtungen«, so das offizielle Narrativ, über das Karl sinniert: »Am besten, man spricht nicht mehr davon.« (SchA 540) Dieser Männerbund mit seinem Streben nach selbständigem Denken und brüderlicher Verbundenheit war den Nazis ein Dorn im Auge: Zunächst diskreditierten die neuen Machthaber die Logen und schufen durch gezielte Propaganda ein Feindbild, danach kam es am 17. August 1935 zu ihrem Verbot. Dank des Logenbruders werden die Kempowskis bald in die schöne Wohnung ganz nach ihrem Geschmack ziehen, in eine bürgerliche Straße, benannt nach der Großherzogin Auguste: »Mit einem herrlichen Balkon, von dem man eine prachtvolle Aussicht hat?« (SchA 541) Der Leser freilich weiß um das Trügerische dieses hoffnungsvollen Ausklangs, denn spätestens seit 1935 standen die Zeichen sichtbar auf Krieg; Repressalien und Verfolgung von Minderheiten und politisch Andersdenkenden verstärkten sich; am 19. Juni 1937 begann der Bau des Konzentrationslagers Buchenwald. Der Erzähler deutet ›schlimme Aussichten‹ nur an, lässt sie scheinbar absichtslos einfließen. Selbst die angepassten Kempowskis erreichen hin und wieder besorgniserregende Nachrichten, die sie gleichwohl nicht an sich heranlassen oder herunterzuspielen suchen. Das Buch ihres Untermieters kann vermutlich nicht erscheinen, weil es »Anspielungen auf gewisse Vorkommnisse« enthält, »von denen man offen gar nicht reden, geschweige denn schreiben kann.« (SchA 504) Schwager Edgar wurde verhaftet und ist im Gefängnis umgekommen. Grethe sinniert: »Und wieso eigentlich tot? Er war doch noch ganz gesund gewesen?« (SchA 501), und Schlossermeister Franz, Veteran des Weltkriegs und Sozialdemokrat, muss acht Monate Lagerhaft überstehen: »[S]o ein tapferer Soldat und so ein freundlicher, gutherziger Mensch, den einzusperren wegen ein paar harmloser Bibelschriften, die doch vermutlich kein Mensch liest!« (SchA 405) Und dann der entflohene KZ-Häftling, der von Warnemünder Fischern aufgegriffen und der Polizei übergeben wurde. Karl hat sich den Namen eines Fischers notiert – für die Quittung, die er später dafür bekommen soll: Im Bürgertum besitzt man also durchaus ein mitfühlend Herz und spürt, dass Konzentrationslager und Denunziantentum unrechtmäßige Auswüchse des NSStaates darstellen. Karl erfährt dies am eigenen Leibe: Denn sein Fauxpas mit dem

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Horst-Wessel-Lied auf lateinisch, in einer toten Sprache, zieht einen ›Canossagang‹ zu seinem ehemaligen Sturmführer, von Beruf Zigarettenvertreter, nach sich. Strenger bewertet er den Vorfall auf dem benachbarten Schlachthof, wo Polizisten den Gesellen mit Gummiknüppeln überwältigen und in die Grüne Minna stoßen: Das sei natürlich eine ganz andere Sache, so die einhellige Meinung der Familie, denn das sei doch »ein zwielichtiges, finsteres Element, asozial vermutlich oder gar Kommunist. […] Gott sei Dank, Ruhe. | Fabelhaft.« (SchA 503) »Daß er sich freut, sagt Karl, daß die Nazis mit so was wie dem Schlachter da hinten nicht lange fackeln. Gott, wenn er noch an früher denkt!« (SchA 504–505) An diesem Beispiel enthüllt der Erzähler Karls Aversion gegen die chaotische Systemzeit und seinen Wunsch nach einer autoritären Regierung, die die politische Instabilität und die sozialen Unruhen jener Jahre bekämpft.

3 »Ascheimer auf dem Bürgersteig« – das Rostocker Bürgertum kommt herab Der Erzähleingang des Romans schildert, wie Karl und Grethe nicht weit vom Patriotischen Weg Wohnung nehmen, in »einer ekelhaften Straße, in der Ascheimer auf dem Bürgersteig stehen und mißgünstige Menschen aus dem Fenster gucken.« (SchA 108) In einer der drei eigenen Villen kann oder will der alte Schiffsreeder Robert William Kempowski seinen Sohn und die Schwiegertochter nicht unterbringen, zumal ein vom sozialdemokratisch geführten Stadtparlament instituierter Mieterschutz dies nicht zulässt. Zum Glück für das junge Paar macht Schlossermeister Franz, ein ehemaliger Feldwebel aus Karls Nachbarkompanie vor Ypern in Belgien, ebenfalls SPD-Mitglied, seinen Einfluss bei der Stadträtin geltend und setzt durch, dass Kempowski, der »vier Jahre lang ›vorn‹ gewesen wär’ und sich immer anständig benommen hättʼ« (SchA 13), schließlich doch noch eine kleine Dreizimmerwohnung zugewiesen wird. In die Borwinstraße zu ziehen kommt freilich einem sozialen Abstieg gleich: »Waschfrauen oder Dienstmädchen bezieht man aus dieser Gegend«, wie Karls Vater mit Abscheu feststellt. Und seine Frau Anna ergänzt gegenüber ihren Kränzchendamen: »Wie weit sind wir gesunken?« (SchA 14) »Ascheimer auf dem Bürgersteig« – mit diesem leitmotivisch verwendeten Stoßseufzer als Zeichen allgemeiner Verwahrlosung und sozialer Depravation der einst so ordentlichen, hierarchisch festgefügten Welt des Wilhelminischen Kaiserreichs führt uns der heterodiegetische Erzähler in die Umbruchzeit nach dem Versailler Vertrag. Jahre später sind die »Ascheimerleute« ein Symbol des verkommenen Bodensatzes, der mit der braunen Suppe der nationalen Revolution nach oben gespült wird. Und noch ein drittes Konnotat wird sich mit diesem Bild verknüpfen: Denn der greise Robert William Kempowski ist einst ein ›staubiger Bruder‹

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gewesen, der die körperlichen Folgen seiner ›unsauberen‹ Umtriebe noch lange zu tragen haben sollte. Der vormals erfolgreiche Geschäftsmann, inzwischen mit der Lues an den Rollstuhl gefesselt, bilanziert: »Das kommt eben davon, wenn man als junger Mann Ascheimer umschmeißt.« (SchA 519) Wie der »Ascheimer« das Chaos, so repräsentiert der »Bürgersteig« als geschützter Raum des städtischen Lebens die zivilisierte, geordnete Welt der Stadtgesellschaft. Er ist ein Ort der Gesittung, auf dem Bürger sich begegnen, grüßend den Hut ziehen, plaudern oder Klatsch und Tratsch austauschen. Das Trottoir gehört dem Citoyen, auch dem deutschen. Ob er das aus dem besetzten Rheinland gehört habe, aus Mainz, wird Karl gefragt: »Die deutschen Bürger müssen vom Gehweg runter, wenn ihnen ein Franzose begegnet?« (SchA 109) Und man erzählt sich »wie ein deutscher Greis mit Bart und Pfeife von einem Poilu mittels eines Bajonetts vom Bürgersteig gescheucht« worden sei. (SchA 177) In diesen wenigen Bildern ›natio­ naler Schande‹ enthüllt der Roman die angespannte und für die eigene Bevölkerung demütigende Situation der Zwischenkriegszeit, ohne dies umständlich kommentieren zu müssen. Ganz ähnlich skizziert Hans Fallada in Kleiner Mann – was nun? den sozialen Abstieg seines Protagonisten Johannes Pinneberg im Strudel der Weltwirtschaftskrise. Pinneberg, abgerissen und arbeitslos vor einem Schaufenster stehend, wird von einem Ordnungshüter zum Weitergehen aufgefordert und, als er nicht sofort reagiert, vom Bürgersteig auf die Fahrbahn gestoßen: Und plötzlich begreift Pinneberg alles, angesichts dieses Schupo, dieser ordentlichen Leute, dieser blanken Scheibe begreift er, dass er draußen ist, dass er hier nicht mehr hergehört, dass man ihn zu recht wegjagt: ausgerutscht, versunken, erledigt. Ordnung und Sauberkeit: es war einmal. Arbeit und sicheres Brot: es war einmal. […] Armut ist Makel, Armut heißt Verdacht.5

Die kleine Welt des Bürgersteigs spiegelt die große Welt der Politik (Stichwort Versailles) wider und wird im dritten Teil des Buches nochmals aufgegriffen. Nach ihrem Machtantritt beschwören die Nationalsozialisten und ihre Gefolgsleute ein neues Selbstbewusstsein und erreichen damit auch das reserviertere Bürgertum. Die Gedankenrede von Grethes Vater Wilhelm de Bonsac enthüllt die Denkweise großer Teile der bislang noch zögerlichen Mitläufer: Ja, das liebe Vaterland, wie kann man dankbar sein und stolz, daß es sich jetzt wieder so prachtvoll erhoben hat, daß es auferstanden ist aus dem Schmutz und den Intrigen der sozialistischen Quasselei. (SchA 458)

5  Hans Fallada: Kleiner Mann – was nun? Mit einem Nachwort von Michael Töteberg. Zürich: Kampa 2018, S. 409.

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Der Revanchegedanke erwacht: »Gar nicht so lange ist es her, daß die Franzosen das Vaterland demütigten. Vom Gehsteig hinunter stießen sie die Bürger! Das ist nun vorbei.« (SchA 458) Das »Dritte Reich« wird dem Erzfeind Mores lehren, hier herrschen fortan »Zucht und Ordnung«, wie es die Bürger noch vom Kaiserreich her gewöhnt sind und richtig finden. Sie begreifen nicht, dass die Bündnispartnerschaft der Achsenmächte brandgefährlich ist und die Welt in Schutt und Asche legen wird. Die Schmuddelkinder der Weltpolitik sind gesellschaftsfähig geworden und ziehen im Salonwagen der Reichsbahn quer durch das politisch aufgeheizte Land: Ulla radelt zu ihrer Handarbeitslehrerin, die im Garten sitzt und Kaffee trinkt, und sie erzählt ihr, daß sie den Führer gesehen hat! Und Göring! Und Mussolini! […] Doch nun muß sie weiterfahren, es ihrem Freund erzählen, und ihn fragen, ob er auch so viel Glück gehabt hat: Hans Dengler, dieser Junge mit den herrlichen Sommersprossen auf der Nase. Und gar nicht sieht sie, daß der Hafenpolizist von fern geschritten kommt, was sie da auf dem Bürgersteig mit dem Fahrrad zu suchen hat? (SchA 498–499)

Der Führerkult dämpft die Besorgnis des Bürgertums, das sich in eine verhängnisvolle Gefolgschaft begeben hat.

4 Anpassung und Kompromisse – die Kempowskis arrangieren sich Der verlorene Weltkrieg zeitigt verheerende wirtschaftliche und finanzielle Folgen, Millionen Arbeitslose stehen auf der Straße, in den großen Städten herrscht drückende Wohnungsnot, Lebensmittelkarten für Eier, Kaffee-Ersatz oder Speisefett verwalten den Mangel. Walter Hasenclever stellt diese Zeit in seinem Erinnerungsbuch Irrtum und Leidenschaft als »heillose Verwirrung eines geschlagenen und ausgebluteten Volkes« dar: Über Berlin brach das Chaos der Auflösung herein. Die erschöpften Truppen fluteten zurück; gleichzeitig wurde geschossen und getanzt; ein Taumel des Genusses ergriff die von Entbehrungen und Ersatzstoffen zerrüttete Bevölkerung. Novemberkälte zog fröstelnd ins Mark der Entwurzelten, die ihr Bedürfnis nach Wärme und Nahrung mit Alkohol und Drogen betäubten.6

6  Walter Hasenclever: Irrtum und Leidenschaft. Mit einem Nachwort als Einführung von Kurt Pinthus. Berlin: Universitas 1969, S. 80–81.

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Walter Kempowski lässt vor dem ersten Teil seines Romans den anonymisierten Zeitzeugen W. Ö. seine Erinnerungen aussprechen: Die Nachkriegszeit war traurig. Ich ging immer durch das Alte Rathaus zur Arbeit. Da standen die Wohltätigkeitsempfänger Schlange. Ach, war das ein Elend! Und dann die dicken Bonzen, die denen dann die Wohltätigkeitsgelder hinschmissen … Ich war noch jung, aber das habʼ ich wohl gemerkt. (SchA 9)

Solche Probleme belasten den Protagonisten Karl Kempowski nicht; er kehrt nach dem Krieg, den er, von einer Verätzung seiner Haut abgesehen, vergleichsweise unversehrt überstanden hat, in den Schoß einer immer noch wohlhabenden Familie zurück. Als ›Versehen‹, nicht als ›Wunschkind‹, bekommt er einen ProForma-Posten in der Firma seines Vaters, bei dem er zu seinem Leidwesen nichts weiter zu tun hat als, am Schreibtisch die Zeit abzusitzen und sich den Demütigungen der Belegschaft auszusetzen. Seine Haut, die seit einem Gasangriff der Engländer brennt und juckt, ist als nässender Ausschlag wichtigster Indikator seiner psychischen Disposition: Verbände helfen da kaum, wenn die Stimmung am Boden ist. Traumatisch war überdies ein Erlebnis im Schützengraben, als ein Rostocker Kamerad, noch dazu sein bester Freund »mit aufgerissenem Leib« neben ihm elendig krepierte: »Ich sehe ja nichts mehr …«7 Obwohl er versucht, das Furchtbare zu vergessen, drängt sich der tote Freund immer wieder in seine Gedanken: An Erex denkt er, Scheiße mit Reiße: »Ich kann ja gar nichts mehr sehen …« Wie der im Graben lag mit aufgerissenem Leib… Dieses Bild hat sich ihm eingeprägt, und wie er selbst daneben stand, ein Stück seitab, und es nicht fertigbrachte, zu ihm hinzugehen. Und Wut und Trauer überkommen ihn, und er weiß nicht, wohin mit dieser Wut und mit dieser Trauer. (SchA 112)

Dem Vater seines Kameraden, Professor Woltersen, geht er aus dem Weg, denn »sonst fragt er einen womöglich wieder nach Erex, seinem Sohn, wie das war, damals, ›Heldentod‹, und ob er sehr hat leiden müssen…« (SchA 73–74) Diese Sterbeszene dürfte Kempowski dem vielleicht umstrittensten Buch der Zwischenkriegszeit, Remarques Im Westen nichts Neues (1928), entliehen haben. Dort wird der qualvolle Tod des Buchdruckers Gérard Duval beschrieben – »wie langsam stirbt doch ein Mensch!« –, und man begreift erst im Lazarett, »wo ein Mensch überall getroffen werden kann.«8 Ganz typisch aber für diese Zeit kontras-

7  Walter Kempowski: Aus großer Zeit. Roman. München: Knaus 21978, S. 444. 8  Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues. Berlin: Propyläen 1928. 126.–150. Tausend 1929, S. 219. – Der Erfolgstitel, der bewusst auf die Gattungsbezeichnung »Roman« verzichtete, wurde weithin als authentisches Zeugnis gelesen. Im Gestus der Neuen Sachlichkeit wird ein Katalog

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tiert Kempowski das Lebensgefühl der Verlorenheit mit der unbändigen Vitalität der Überlebenden, die nun ihr Seelenheil in den Ablenkungen der kulturell aufblühenden Weimarer Republik suchen. Viel lieber, als über den Krieg und Erex’ »Grausen vor dem Tode«9 nachzudenken, genießt Karl alles Schöne, das jetzt wieder möglich ist: Konzertbesuche, Bücher, das Klavierspiel, die häusliche Harmonie, seine geliebten Frikadellen. »Ach, es ist doch schön, das Leben, nicht, mein Grethelein?« (SchA 73) Seine Eltern zeigen ohnehin wenig Interesse, sich mit den Ursachen des Krieges und der Schuldfrage auseinanderzusetzen. Sie führen ihr Leben ungeachtet aller Wohlstandsverluste. Schade nur, unkt Robert William Kempowski, dass clevere Geschäftsleute den Werteverfall dafür genutzt haben, ihm seine Hypotheken zurückzuzahlen: »[Ü]ble Leute« nennt er diese Inflationsgewinnler abschätzig. (SchA 54) In schöner Einhelligkeit trauern die Kempowskis wie auch Grethes Eltern, die de Bonsacs, den guten, alten Zeiten und ihrem Kaiser nach. Über die neuen Machteliten und die Republik sprechen sie despektierlich, und die Sozialdemokraten, die »Sozis«, wie sie sie nennen, sind ihnen ebenso suspekt wie politische Versammlungen und Umtriebe der ›Systemzeit‹. Der Chronist zeigt mit freundlich-spöttischer Distanz an seinen Figuren das Dilemma der jungen Republik mit ihrer auseinanderklaffenden Sozialstruktur. Zwischen den Kreisen der Ober- und Mittelschicht sowie der Arbeiterschaft und den unteren Schichten verlaufen prekäre Bruchlinien, wie Karls und Grethes Wohnsituation in der Borwinstraße belegt. Auch das avantgardistische, prophetische Selbstverständnis vieler Künstler, die eine Lebensreform im Sinne einer »organischen Volksgemeinschaft«, einer Überbrückung der Entfremdung von »Geist« und »Leben«, d. h. der intellektuellen Elite und der Masse forderten, ist keineswegs konsensfähig und beeinflusst das Denken und Handeln weiter Kreise kaum. Für die Mehrheit ging es zunächst einmal darum, die Grundvoraussetzungen des Lebens zu sichern bzw. aufrechtzuerhalten: Arbeit, Wohnung, Essen, Kleidung. Durchzukommen war das Wichtigste, und sei es getarnt mit Rollen und Masken. Der Krieg hatte nicht etwa ein Zusammenschmelzen der Bevölkerung, sondern vielmehr einen Zerfall in Schichten, Milieus, Parteien und Interessensgruppen gebracht. An der Beschreibung des Einzugs der bürgerlichen Kempowskis in die Borwinstraße und der Reaktion der übrigen Bewohner, allesamt »einfache Leute«, zeigt die Erzählinstanz eindrucksvoll, wie gespalten die Gesellschaft der Zwischenkriegszeit war.

möglicher Schussverletzungen entwickelt: »Lungenschüsse, Beckenschüsse, Gelenkschüsse, Nierenschüsse, Hodenschüsse, Magenschüsse«, dazu »Nasen-, Ohren- und Halsschüsse« (Remarque: Im Westen nichts Neues 1928, S. 259). 9  Eine Formulierung, die ich Remarques Buch entliehen habe. Vgl. Remarque: Im Westen nichts Neues 1928, S. 218.

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Die Nachbarn blicken mit Unmut und Misstrauen auf die finanziell besser gestellten Neumieter: »Wotau brucken Se denn all de Stöhl? Wullt Se hier een Kino uppmåken?« (SchA 15) Arbeiter Brüsing und seine Frau sind der Meinung, dass diese »Kapitalisten« nichts in ihrem Haus zu suchen hätten. Die Kellnersfrau aus dem zweiten Stock schüttet den Kempowskis fettiges Abwaschwasser ins Oberlichtfenster, an ihrem Waschtag findet Grethe den Waschkessel besetzt, es wird mehrfach ohne Grund an ihrer Wohnungstür geklingelt. Die Kempowskis wiederum versuchen sich nach außen den neuen Verhältnissen anzupassen; gleichwohl enthüllt der Erzähler, dass ihr Verhalten durch Überheblichkeit, Selbstzufriedenheit und Heuchelei gekennzeichnet ist und dass sie sich innerlich von den demokratischen Institutionen und sozialpolitischen Errungenschaften, wie z. B. dem Mieterschutz, distanzieren. Damit macht der Autor auf eine Zeiterscheinung aufmerksam, die einer der Gründe des Scheiterns der Weimarer Republik war: Die alte Oberschicht und die bürgerliche Mitte fühlten sich in ihren überlieferten Wertvorstellungen von der neuen Wirklichkeit bedroht, und sie standen in Gegnerschaft zur Weimarer Verfassung und deren revolutionären Eliten, deren Parteienbürokratie, die nicht wie im Kaiserreich auf eigenes Vermögen zurückgreifen konnte, sondern sich zu einem großen Teil aus Arbeiterschicht, Handwerk und Handel sowie dem bäuerlichen Milieu rekrutierte. Der erste Reichspräsident, Friedrich Ebert, war von Beruf Sattler und hatte seinen Aufstieg über die politische Arbeit in der SPD vollzogen. Die nun Regierenden waren eben keine schillernden Persönlichkeiten in glänzendem Habit, umgeben vom Nimbus des adligen Geblüts, sie ragten in keiner Weise aus dem Gewöhnlichen heraus und boten der Ober- und Mittelschicht keine Möglichkeit der Identifikation oder gar Bewunderung. Das konservative Niveaumilieu sieht in Ebert und seiner Partei zwar noch die bessere Alternative zu den Arbeiterund Soldatenräten oder gar den Kommunisten, dennoch trägt es Hochmut gegenüber den per Wahl ermittelten Volksvertretern zur Schau: »Ebert mag sein wie er will (im Zylinder ein Bild für die Götter!), aber dem ist es schließlich zu danken, daß Deutschland nicht zu einer Sowjetrepublik geworden ist.« (SchA 37) Grethe und Karl wenden sich von den politischen Ideen und Versammlungen ab, nachdem sie einen Aufmarsch der Sozialisten im Sportpalast besucht haben. Ihr Eindruck: Reden, Bier, die Verheißung einer leuchtenden Zukunft, Uneinigkeit und Streit. Das soll nun die neue Zeit sein? denkt Grethe. Da war das aber ein anderer Schnack, wenn der Kaiser in Hamburg zum Rennen fuhr! […] Nein, so etwas wird man sich nicht wieder ansehen. Von all diesem Schiet und von den niedrigen Instinkten will man nichts mehr hören und sehen. Da geht man schon lieber ins Konzert […]. Wo die Leute anständig gekleidet sind und angenehm riechen. (SchA 68–70)

Ihren Eltern, den alteingesessenen de Bonsacs aus Hamburg, die in Wandsbek ein erfolgreiches Import/Export-Geschäft betreiben, berichtet Grethe von Karls Einstel-

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lung: »In seinem innersten Herzen lebt eben noch die große Liebe für das alte, mächtige, saubere Deutschland«, eine Mitteilung, die man in der Familie de Bonsac »versteht und billigt.« (SchA 29) Und gerade weil sie ihre alte Welt verloren geben müssen, Deutschland nach der Niederlage so ohnmächtig erleben, halten sie starr an dem fest, was ihnen noch geblieben ist, an ihrem Standesdünkel. So führt Karl zum Beispiel bei Spaziergängen einen Gehstock mit sich, den er zwar nicht braucht, »der ihm aber als ein Zeichen seines Bürgertums unentbehrlich ist.« (SchA 28) Als er Grethe am 8. Mai auf dem Wall spazieren führt, ist er stolz: [H]ier sitzen Bürger auf der Bank, die gucken, was das für junge Leute sind, die hier so Arm in Arm dahergeschlendert kommen. Er so schlank gewachsen, mit goldener Brille, mit Spazierstock in der Hand. Und sie ist ja wohl ’ne ganz Feine. (SchA 76)

Wie er als braver Bürger in seiner Selbstzufriedenheit beim Anblick der Schwäne ausgerechnet Hölderlin zitiert, ist nur ein Beispiel von vielen, wie der Roman mithilfe des Stilmittels der Groteske eine kritische Distanz zur Figur schafft. Die stellt sich auch beim Leser ein, wenn Karl, beim Anblick eines Menschen ohne Vorderzähne, angewidert befindet: »Dies ist ein Mann aus dem Volk. Da geht man besser ein Stück weiter.« (SchA 78) Aber die Abneigung gegen das unerprobte Demokratiekonzept resultierte nicht nur aus der Sehnsucht nach alten Zeiten und dem bürgerlichen Standesdünkel. Erschwerend für eine Identifikation mit der Republik und ihren Repräsentanten wirkte sich aus, dass es der Obersten Heeresleitung gelungen war, die Verantwortung für die militärische Niederlage dem Parlament zuzuschieben, indem die Militärs die Waffenstillstandsverhandlungen der Regierung aufbürdeten und diese so zum Sündenbock machten. Die Kriegslüge entstand, der zufolge, wäre weitergekämpft worden, man doch noch hätte gewinnen können. In den Figuren um den ehemaligen Offizier Dr. Kleesaat parodiert der heterodiegetische Erzähler eben diese Haltung: Die Herren wischen sich den Schaum vom Mund und wenden sich Dr. Kleesaat zu, wie der da eindringlich nuschelnd und hinter sich blickend die Divisionen herzählt, die man noch aus dem Osten hätte holen können. Einhundertfünfzig Batterien schwere Artillerie, dreihundert Maschinengewehrkompanien, Mackensen mit seiner Kavallerie… (SchA 44)

Hier allerdings weiß es Karl besser: »Den Kampf verlängern? Im Herbst 1918?« (SchA 45), denkt er, und mit diesen Gedankenfetzen wird Kleesaats Behauptung in einer Einfachheit und Kürze ad absurdum geführt, wie sie typisch für Kempowskis Stilmittel des bitteren Understatements ist. Karls Sprachlosigkeit, seine gegenteilige, aus der Erfahrung der letzten Kriegswochen resultierende Haltung vor anderen zu artikulieren, entspricht der bei Remarque gemachten Beobachtung, der zufolge zwischen Front und ›Heimatfront‹ keine Verständigung mehr möglich war, weil

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sich die Erfahrungen dieses Krieges nicht mehr vermitteln ließen.10 Und ähnlich wie Tucholsky begreift Karl diese rückwärtsgewandte Schulddebatte von Kleesaat und Co. als »Lügenaufklärung« um »neuer politischer Propaganda willen.«11 So beherrschen die Offiziere um Kleesaat das öffentliche Narrativ, zumindest an diesem Abend in dieser Kneipe, wo natürlich auch vom »Versailler ›Diktat‹«, vom »Schmachfrieden« – und schließlich vom »Raubfrieden« geredet wird. (SchA 43) Der ironische Gestus wird bei der Aufzählung der Bestimmungen des Versailler Vertrags beibehalten, doch bei diesem Thema geht die Zustimmung über den Offizierskreis hinaus und wird von den anderen Gästen im Wirtshaus zur »Deutschen Fahne« kopfnickend geteilt. Damit nimmt der Chronist Bezug auf eine Stimmung, die die Bevölkerung jener Zeit einte oder polarisierte, obwohl oder weil diese Haltung kein Lösungsangebot für die Friedenszeit bereithielt.12 Die Bestimmungen des Versailler Vertrags wurden als demütigend empfunden: Besonders Artikel 231, der Deutschland und seinen Verbündeten die Hauptschuld am Krieg gab, rief allgemeine Empörung hervor und ließ den Wunsch nach Revanche aufkommen. US-Theologe George  D.  Herron (1862–1925), der während der Friedenskonferenz mehrmals von Präsident Wilson nach Paris berufen worden war und als dessen inoffizieller Berater galt, kritisierte den Vertragsentwurf heftig: Der Frieden von Versailles – falls er nicht revidiert wird – bedeutet eine weit schlimmere Hölle, ein weit hoffnungsloseres Irrenhaus, als selbst der Krieg geschaffen hatte. Seine Paragraphen strotzen von Wildheit, Eroberungslust, Gesetzesverachtung und Ehrlosigkeiten, die ebenso grausam als schamlos, ebenso sinnlos wie gemein sind. […]. Das ist kein Friedensvertrag, dieser Vertrag von Versailles: er ist weiter nichts als ein mitleidloser Gesetzesknäuel, der eine weitere militärische Verwicklung und ausbeuterische Verwaltung unserer Erde nach sich ziehen wird. Aus solchem Frieden können Kriege entstehen – geistige wie wirkliche Kriege –, die zu den schlimmsten gehören, die die Welt je gesehen hat.13

10  »Meine Mutter nimmt plötzlich heftig meine Hand und fragt stockend: ›War es sehr schlimm draußen, Paul?‹ Mutter, was soll ich dir darauf antworten! Du wirst es nicht verstehen und nie begreifen. Du sollst es auch nie begreifen.« Remarque: Im Westen nichts Neues 1928, S. 163. 11  Kurt Tucholsky: Vorwärts –! In: Die Weltbühne 22 (5.1.1926), Nr. 1, S. 1–5, hier S. 1. 12  Dieses Konfliktpotenzial in der Verarbeitung des Weltkrieges rekonstruiert Hans-Harald Müller: Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman der Weimarer Republik. Stuttgart: Metzler 1986 (Metzler Studienausgabe). – Die »Im-Felde-unbesiegt«-Legende thematisiert Müller im dritten Kapitel zur Rezeption von Remarques Erfolgstitel (S. 60–62). 13  George D. Herron: Der Pariser Frieden und die Jugend Europas. Eine Verteidigung und ein Aufruf. In: Umsturz und Aufbau. Nummern 1–6. 1919–1920. Achte Flugschrift. Nendeln/Liechtenstein: Kraus Reprint 1974. (Umsturz und Aufbau wurde nachgedruckt mit Zustimmung der Rowohlt GmbH, Reinbek bei Hamburg), S. 5–40, hier S. 7. – Herron, der ein Evangelium der sozialen Erlösung predigte, attackierte die materielle Gier der Siegermächte und plädierte für einen Ausgleich wirtschaftlicher Interessen, um die Kriegsfolgen abzumildern.

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Er sollte recht behalten. Und es war eben auch die sich aus dem Abkommen ergebende Notlage, welche die Weimarer Koalition aus SPD, Deutscher Demokratischer Partei und Zentrum, später auch der Deutschen Volkspartei, vor kaum zu lösende Herausforderungen stellte. Selbst ein Politiker wie Matthias Erzberger (1875–1921), der seit Juni 1919 Reichsfinanzminister war und sich durch fachliches Können und verantwortungsvolles Wirken für das Wohl der Republik auszeichnete, war allgemein verhasst, weil er an allen unpopulären Weichenstellungen seit 1918 beteiligt gewesen war. Er sah sich nach der Unterzeichnung des Vertrages von Versailles am 28. Juni 1919 durch die Vertreter der Reichsregierung verstärkten Angriffen von konservativen und völkisch-nationalen Kräften ausgesetzt. Im August 1921 wurde er von zwei rechtsradikalen Freikorpsmitgliedern ermordet.

5 Überschattet vom Versailler Vertrag – vom historischen Stachel in die politische Katastrophe Im zweiten Teil von Kempowskis Roman äußert sich einer der anonymen Zeitzeugen explizit zu diesem Problem: »Die ganze Nachkriegszeit war überschattet vom Versailler Vertrag. Das kann heute kein Mensch mehr verstehen. Front und Heimat hatten ihr Bestes gegeben, und alles umsonst!« (SchA 183) Das Bürgertum, das ohnehin keine Expertise in dieser Streitfrage besaß, konzentrierte sich auf das private Vorwärtskommen. Ja, die »Aussichten« scheinen zunächst hoffnungsvoll zu sein: Im Frühjahr 1922 können Grethe und Karl, inzwischen stolze Eltern einer Tochter, endlich in eine geräumige Fünfzimmer-Wohnung ziehen, in die Alexandrinenstraße, benannt nach der Großherzogin Alexandrine, einer Schwester Kaiser Wilhelms I., in eine bessere Gegend am Rande der Steintor-Vorstadt also, so wie es ihrem Stand und Selbstverständnis entspricht. Zwar müssen sie 28 Milliarden Mark für die Miete zahlen, aber die galoppierende Inflation, auch wenn sie Grethe zur sparsamen Haushaltsführung zwingt, überstehen sie dank der Mieteinnahmen aus der Villa am Schillerplatz weitaus besser als die Bevölkerungsmehrheit. Zum Ende der Hyperinflation konstatiert der Erzähler lakonisch: »Die Zeit der Millionen und Milliarden ist mittlerweile vorüber. ›Rentenmark‹ heißt das neue Geld.« (SchA 147) Mit der Währungsreform vom 15. November 1923 endete die Hyperinflation, die innenpolitische Lage beruhigte sich, und es wurden die Voraussetzungen für eine wirtschaftliche Stabilisierung der Republik geschaffen. Auch bei den Kempowskis entwickelt sich zunächst Vieles zum Besten. Endlich hat sich der langersehnte Familienzuwachs eingestellt: zunächst Tochter Ulla und danach die Söhne Robert und Walter. Das Familienleben verläuft vergleichsweise harmonisch, wenn auch Grethe hin und wieder an ihre erste und wahre Liebe August Menz und Karl an die kurze

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Affäre mit der blonden Schwedin Cecilie denken. Karl hat sich als Schiffsmakler seines Vaters etabliert und begonnen, die Betriebsabläufe zu optimieren. Man geht ins Theater, ins Kino, besucht Konzerte, trifft sich mit Gleichgesinnten bzw. Gleichgestellten: Leuten wie dem Studienrat Dr. Jäger, dem Juristen Thießenhusen, dem Finanzbeamten Kröhl und deren Gattinnen, sowie dem etwas sperrigen Fräulein von Dallwitz. Man klönt über Musik, Literatur, Deutschland, den Versailler Vertrag, den Krieg, man ist sich in allen Fragen einig, vor allem in der Ablehnung der Sozialisten, und man möchte keine konträren Meinungen diskutieren, wie sie das gebildete Fräulein Stier ständig aufwirft, weshalb das »Stierchen«, wie Grethe sie nennt, bald nicht mehr zu dem erlauchten Kreis gehören wird, denn »einig will man sich wissen, in dieser Zeit der widerstreitenden Strömungen.« (SchA 251)14 In diese kurze Phase der Erholung bricht sich die Weltwirtschaftskrise mit sechs Millionen Arbeitslosen Bahn, auch die Kempowskis müssen sparen, Karl bekommt weniger Gehalt: Der Bohnenkaffee wird durch Muckefuck ersetzt, es wird frugal gekocht und das Hausmädchen eingespart, zwei Zimmer der großen Wohnung werden an einen Untermieter verpachtet, Grethe muss ihm selbst die Schuhe putzen und sein Reich sauber halten. In eine der Dachkammern zieht eine Souffleuse vom Theater. Der alte Herr Kempowski hat zwei Villen, Schiffe und das Auto verkauft sowie Arbeiter entlassen müssen, Karls Schwester Silbi hat ihr Haus abgestoßen und den Erlös ihrem Vater geliehen; ein Herr Grundgeyer, der Rostocker Reederkönig, hat sich an einer Staubsaugerschnur erhängt, weil er in der Wirtschaftskrise alles verloren geben musste. Dr. Jägers Gehalt ist gekürzt worden, die Stimmung in der Gästerunde trübt sich ein: Ja, wird dann gesagt, in dieser verworrenen Zeit bedarf es mehr denn je eines genialen Mannes, der den Gordischen Knoten des Elends zerschlägt! Eines Mannes mit Visionen und Tatkraft, der ohne Rücksicht auf Verluste den Versailler Vertrag hinwegfegt und über Trümmer hinwegschreitend eine neue Zeit herbeizwingt! (SchA 321)

Damit fängt der Erzähler den Zeitgeist am Ende der taumelnden Republik ein und lenkt ihn auf die kommende ›nationale Erhebung‹: Nein, für Hitler und seine Anhänger sind die Kempowskis nicht zu gewinnen! Die sind ihnen viel zu derb: »Die Nazis sind doch eigentlich ganz primitiv, da muß man nur ein wenig diplomatisch sein!« (SchA 506) »›Dies da ist ein Hakenkreuzler‹, sagt Karl zu seinem Sohn und zeigt auf einen Mann mit Schnurrbart, ›also ein Prolet.‹« (SchA 167) Aufschlussreich ist, dass der Begriff »Hakenkreuzler« schon in Tadellöser & Wolff Anstoß erregt – damit werden mehrmals abwertend die »Ascheimerleute«

14  Zu Fräulein Stier vergleiche den Beitrag von Niklas Gödde in diesem Band.

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bezeichnet.15 Unter das Hakenkreuz begibt sich Karl nicht, aber als ehemaliger Offizier lässt er sich 1929 in der Füsilierkaserne bereitwillig von jungen Reichswehrleuten am Sandkasten in Kampftaktik unterrichten, streng geheim natürlich, denn solche Wehrübungen widersprechen den Bestimmungen des Versailler Vertrags, was Karl mit Genugtuung erfüllt: »Die werden sich schön wundern, die Sieger, wenn statt 100 000 Mann eines Tages 200 000 dastehen, wenn’s soweit ist. Oder 300 000. Und ein Offizierskader, der sich gewaschen hat.« (SchA 228) Diese Übung ist ihm auch wichtiger als die Offizierskameradschaft, die sich weiterhin regelmäßig trifft, nun in einem besseren Lokal, wo selbst Dr. Kleesaat von den einst so großen Zeiten schwafelt und Hitlers Rede im Sportpalast kommentiert: Recht vernünftig war alles, was der Mann sagte oder vielmehr: schrie, soweit man es verstehen konnte, aber doch sehr proletarisch. Beeindruckend allerdings die Ordnung: Kein Hü! und Hott! wie bei den Sozialisten. […] Karl hätte mal sehen sollen, wie schnell der ›Saalschutz‹ die zwei, drei Krakeeler in den Griff bekam! (SchA 227)

Mit der parlamentarischen Ordnung können sich die Kempowskis, wie viele ihres Milieus, nicht anfreunden. Auf einem Familienausflug nach Warnemünde, bei dem Grethe in Betrachtungen über Flaggen aus aller Welt versinkt, ist ihr die schwarz-weiß-rote Kaiserfahne die liebste, die Fahnen der ehemaligen Feindstaaten England und Frankreich hingegen lösen Missmut bei ihr aus, und der schwarzrot-goldene Wimpel der Republik ist ihr gänzlich fremd geblieben: »Eine solche Fahne würde sie sich nicht kaufen.« (SchA 154) Karl hingegen denkt: »Ach, Frieden ist doch schöner als der olle Krieg.« Der Erzähler führt die Gedankenrede jedoch gleich weiter ins Groteske und Illusorische: »Obwohl, wenn man den Krieg gewonnen hätte, dann wäre der Frieden noch schöner gewesen. […] Und so bleibt eben doch der Stachel: ›Alles umsonst, umsonst, umsonst…‹« (SchA 159) Diese resignative Formel wird Kempowskis ganzes Œuvre begleiten und gegen Ende seiner Werkstiftung als Romantitel fungieren. Mit Sorge, aber auch mit Hoffnungszeichen, werden seine Tagebücher der Wendezeit den Aufbruch im Osten kommentieren. Politische Ordnungen, so seine Beobachtung, kollabieren nicht plötzlich, sondern schleichend, wie auch die erste deutsche Republik nicht ad hoc, sondern allmählich korrodierte und zerfiel. Am 31. Juli 1932 kam die NSDAP bei den Reichstagswahlen auf 37,3 Prozent aller Wählerstimmen und stellte mit 230 Abgeordneten die mit Abstand stärkste Fraktion, wohingegen ihre radikale Entsprechung, die KPD, ihr Ergebnis auf 14,4 Prozent verbesserte und 89 Abgeordnete

15  Walter Kempowski: Tadellöser & Wolff. Ein bürgerlicher Roman. München: Hanser 1971, S. 143, 184 sowie S. 230.

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stellte. Bemerkenswerterweise besaßen ausgerechnet jene Parteien eine Mehrheit, die, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, unversöhnliche Gegner der »Systemzeit« waren. Als am 30.  Januar  1933 Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde, gab es keinen Aufschrei in der Öffentlichkeit, sondern das Parteiengefüge zerbrach, und es begann eine Hetzjagd gegen die verbliebene Opposition und die Gewerkschaften. Die Bevölkerung habe gleichmütig auf Hitlers »Machtergreifung« reagiert, meldete der britische Botschafter nach London.16 Damit ist nun endlich auch die Macht des SPD-Mannes Sodemann, den Karl noch nie leiden konnte, gebrochen. Früher saß er als Prokurist in der Schiffs­ reederei des Vaters und las den Vorwärts, nun liest er den Niederdeutschen Beob­ achter, das Kampfblatt der mecklenburgischen NSDAP. Die beiläufige Bemerkung des Erzählers enthüllt, wie schnell die Menschen sich in einer Diktatur anzupassen bereit waren. Erich Kästner kommt in seiner Betrachtung Über das Verbrennen von Büchern zu dem bemerkenswerten Schluss: Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf. Sie ruht erst, wenn sie alles unter sich begraben hat. Das ist die Lehre und das Fazit dessen, was uns 1933 widerfuhr.17

6 »Hakenkreuzler« bzw. »Ascheimerleute« – Die Kempowskis im »Dritten Reich« »Wenn die Intoleranz den Himmel verfinstert, zünden die Dunkelmänner die Holzstöße an und machen die Nacht zum Freudentag«, so Kästner, Kronzeuge der Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 in Berlin, in seiner vorerwähnten Betrachtung.18 Auch in den norddeutschen Universitätsstädten Kiel, Hamburg, Hannover, Rostock wurden, von der gleichgeschalteten Presse wohlwollend begleitet, Bücher öffentlich den Flammen übergeben. Im dritten Teil des Romans, eingeleitet wiederum von Zeitzeugenberichten, äußert sich W. U.: »Die Bücherverbrennung 1933 hab’ ich nicht tragisch genommen. Das war doch bloß symbolisch gemeint. […] Meine Bücher im Schrank haben sie jedenfalls stehenlassen.« Den Zeitzeugen S. L. hingegen haben die Aufmärsche schockiert:

16  Vgl. Hagen Schulze: Weimar. Deutschland 1917–1933. Berlin: Siedler 1982, S. 404–409. 17  Erich Kästner: Über das Verbrennen von Büchern (10. Mai 1953/58). Zürich: Atrium 62020, S. 25. 18  Kästner: Über das Verbrennen von Büchern 2020, S. 14.

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Am 1. Mai 1933, am Arbeiterfeiertag, habe ich um 3 Flaschen Sekt gewettet, daß die Arbeiterschaft diesen Nazi-Zinnober nicht mitmacht, also nicht mitmarschiert. Ich beobachtete den Zug, […], und da fielen mir fast die Augen aus dem Kopf! Die ganze Arbeiterschaft marschierte mit! Hinterm Hakenkreuz-›Banner‹. So sah das aus. (SchA 327–328)

Auch Grethe und Karl bewerten das neue Regime zu gelassen, zu blauäugig. Ihr Leben ist erfüllt von privaten Freuden und Sorgen. Bei dem alten Reeder Kempowski geht es wirtschaftlich wieder aufwärts. Die Tilgung der enormen Schulden macht Fortschritte, überall wird gebaut, Zement und Kies müssen transportiert werden, außerdem Erz für die Firma Rawack & Grünfeld, »die nun nur noch Rawack heißt« (eine Anspielung auf die 1933 erzwungene Arisierung der Firma), sodass die »Consul«, das einzige im Familienbesitz verbliebene Schiff, wieder mit Ladung fährt. »Merkwürdig, daß es plötzlich aufwärtsgeht?«, denkt Karl, fragt aber nicht nach den tieferen Ursachen, wie er sich auch andere Bedenken verbietet: Diese sonderbaren Geschichten, von denen zu hören war. Das sind Anfangsschwierigkeiten. Radikalität hat schließlich auch ihr Gutes. Radix, die Wurzel. Wo gehobelt wird, fallen Späne. Neue Besen kehren gut. Das wird sich alles einpendeln. (SchA 343)

Allein schon das Gefühl der ökonomischen Erholung – Hitler hatte Arbeit versprochen, die Zahl der Arbeitslosen von 1933 sechs Millionen war auf 2,5 Millionen im Februar 1936 gesunken, dazu die autoritäre Hand, mit der regiert wurde – führte in der Bevölkerungsmehrheit zu dem Eindruck, mit Deutschland gehe es wieder voran, und dieser Irrglaube war einer der Gründe für die Loyalität gegenüber dem nationalsozialistischen Staat: »Wie kann man dankbar sein, daß es wieder aufwärtsgeht.« (SchA 343) Da nehmen es die Kempowskis in Kauf, dass kritische Kommentare gefährlich sind, dass Nachbarn und Freunde plötzlich in Schwierigkeiten geraten, wie die Souffleuse Fräulein Mommer, Untermieterin in der Alexandrinenstraße, die ein Stück des Schriftstellers Hanns Johst, inzwischen hoher Kulturfunktionär des NS-Regimes, als »Quatsch« bezeichnet hat, mit Schlafmitteln im Bett liegt und sich nicht mehr ins Theater wagt, oder dass ein Buch ihres Untermieters Wirlitz über ostpreußische Adelsfamilien wegen gewisser Andeutungen wahrscheinlich nicht erscheinen darf. Stattdessen ist man stolz, als die »Graf Zeppelin« mit großen Hakenkreuzen auf dem Leib über dem Stadthimmel schwebt, einer der »historische[n] Augenblicke deutscher Ingenieurskunst« (SchA 469), den selbst Dr. Jäger genießt. Der Bäcker schwenkt die neue Fahne, man tauscht sich gegenseitig begeistert am Telefon über das Ereignis aus: »Deutschlands Stolz und Größe!« (SchA 470) Der Erzähler freilich widerlegt die Aussage, der zufolge Deutschland »sich sehen lassen« könne, indem er ironisch-knapp dagegenhält: »Wenn auch so gewisse

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Dinge, also, schade eigentlich, nicht wahr? Die Kinderkrankheiten des Regimes, wie man das vielleicht nennen könnte.« (SchA 471) Als Roter Faden ziehen sich solche Sarkasmen auf die Schrecken der NS-Herrschaft durch den dritten Teil. Gerade das Unausgesprochene, das vage Angedeutete, deckt das Versagen der Mehrheitsgesellschaft auf, die sich mit dem Regime arrangiert, die Augen verschließt und ohne Skrupel selbst schlimmste Auswüchse wie die Diskriminierung und Vertreibung der Juden scheinbar gleichmütig hinnimmt, indem sie das nationalsozialistische Narrativ von deren Minderwertigkeit übernimmt. Im Kränzchen empört sich Frau Kröhl: »Daß das ja auch die Höhe ist, wie verjudet das ganze Sanitätswesen war!« (SchA 382) Widerspruch äußern die Damen nicht, vielmehr hecheln sie jüdische Kulturstifter in Dichtung, Malerei und Musik durch – und finden meist etwas an ihnen herabzusetzen. Aber als ihr Dienstmädchen Rebekka Strauß das Land verlassen muss und Karl um Hilfe bittet, siegt doch seine Empathie über die Angst. Er wächst über sich hinaus, wie auch Grethe, als sie von der Gestapo verhört wird, nachdem eine Postkarte von Rebekka aus Rio eingetroffen ist. Im Angesicht des Unrechts genießen die Kempowskis ihren Lebensstandard und tun alles, um ihr kleines Familienglück zu bewahren. Sie können es sich leisten, ihre Kinder in die Ferien aufs Land zu schicken, wo sie von der Familie des Lehrers Heistermann betreut werden. Dessen jüngste Tochter Gerdi verehrt den Führer, sie gehört dem Bund deutscher Mädchen an, trägt stolz Halstuch und Abzeichen mit dem Hakenkreuz: »Ob die Kinder den Führer liebhaben, fragt sie auf Platt, Adolf Hitler, diesen großen Mann aus Braunau am Inn?« (SchA 348) Die Kinder können sich der NS-Propaganda kaum entziehen, sei es in der Schule, sei es in der Freizeit. Die Uniformen und Zeltlager entsprechen ihrer Sehnsucht nach Abenteuer und ihrem Wunsch, sich zu bewähren. Die »braungebrannten« Hitlerjungen in ihren Uniformen und das Lagerfest mit Reiterkämpfen und Eierlauf ziehen Ulla Kempowski, Gerdi Heistermann und die anderen Mädel magisch an, da möchten sie unbedingt mittun. Dazu die modernen Errungenschaften, der Rundfunkapparat, zu besichtigen auf der Rundfunkausstellung, die sich der Kinder als Lockmittel bedient, an der Wand das Bild des Führers, von Hakenkreuzflaggen flankiert. Volksempfänger wird das Technikwunder genannt, wie überhaupt die Sprache von Fremdwörtern gereinigt werden soll – Kraftwagen statt Auto, Fernsprecher statt Telefon, Liegelang statt Couch (ein Vorschlag des Schriftstellers Börries Freiherr von Münchhausen), Lenker statt Chauffeur – Beispiele dafür, wie die Lingua Tertii Imperii (Victor Klemperer) als politisches Herrschaftsinstrument eingesetzt wird.19

19  Vgl. Victor Klemperer: Lingua Tertii Imperii. Notizen eines Philologen. Berlin (Ost): Aufbau 1947.

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Auch die Schulen haben sich auf die neue Zeit eingestellt: ein Hitlerbild hängt in jedem Klassenraum, die Körper der Zöglinge werden auf Ausflügen und beim Sport ertüchtigt, Verweichlichung wird bekämpft, Altes und Krankes muss ausgemerzt werden. Im Zeichenunterricht soll der kleine Robert ein Bild zum Thema »Rache für die Deutschland« malen, womit der gleichnamige Panzerkreuzer gemeint ist. Lehrer Jonas lässt die Kinder zum Herbstmanöver Soldaten malen, Herr Hagedorn verbindet die Aufmarschübung mit dem Kriegslied Reiters Morgen­ lied: »Morgenrot, Morgenrot / leuchtest mir zum frühen Tod!« (SchA 490) Turnlehrer Zarges stellt die Sportstunde unter das Motto »Krieg«, Ullas Handarbeitslehrerin lässt aus Stoffresten Soldatensilhouetten schneidern und auf Karton kleben. Der kleine Robert schreibt eines Tages aus freien Stücken dem Führer eine Geburtstagskarte in Sütterlin-Schrift. Karls Reaktion auf den Geburtstagsgruß veranschaulicht seine Distanz, die Kinder freilich sind glücklich: Sie können nicht wissen, dass alle Zeichen auf Krieg stehen und empfinden glühende Verehrung und Begeisterung für alle Neuerungen des Regimes. Studienrat Dr. Jäger allerdings verabscheut seine Lehrtätigkeit im »Dritten Reich«: »[F]austdicke Lügen in gläubige Kinderaugen müsse er erzählen, jeden Tag!« (SchA 350) Allerdings meidet Jäger die Nazis weniger aus politischen Gründen, denn aus hochmütiger Verachtung: »Proletarisches Gesindel« (SchA 350). Seine Frau bemerkt angesichts einer vorbeimarschierenden Kolonne von SA-Männern: »In einer Zeit mittun, in der die ganze Nation adlig war, wo es keinen Pöbel gab! Aber, dies hier, wenn sie diese Leute sieht… also irgendwie anachronistisch, nicht?« (SchA 360) Und wer Kempowskis Roman Tadel­ löser & Wolff gelesen hat, wird wissen, dass sich auch Robert und Walter bald dem Sog der Moderne-feindlichen Politik des NS-Regimes entziehen werden. Anders Wilhelm de Bonsac, der zu den Gewinnern der »Neuen Zeit« gehört.20 Er ist nunmehr als Heeresversorger aktiv, hat dank eines Heeresauftrages – Wolle aus England für Militärdecken – viel Geld verdient und mietet im Sommer 1936 für drei Wochen ein ganzes Schloss an der Ostsee für sich und die Seinen. Im Radio verfolgen die Familienmitglieder stolz die Berichterstattung von den Olympischen Spielen und werten es als gutes Omen, dass Deutschland »sich jetzt wieder so prachtvoll erhoben hat, daß es auferstanden ist aus dem Schmutz und den Intrigen der sozialistischen Quasselei.« (SchA 458) Sie befürworten den Anschluss des Saarlandes, den Einmarsch ins Rheinland, und sie sind überzeugt, dass es gelingt, auch Elsaß-Lothringen zurückzugewinnen. Grethes Bruder Richard, Oberleutnant, überlegt, ob er nicht in die »tadellose SS« eintreten solle: »Diese herrlichen Männer mit dem ehernen Gesicht? Elite, daß das man nur so raucht?« (SchA, S. 443) Kem-

20  Der schillernde Terminus hat literarisch vielfältige Prägungen erfahren. Vgl. beispielsweise den gleichnamigen Eugen-Rapp-Roman von Hermann Lenz: Neue Zeit. Roman. Frankfurt/M.: Insel 1975.

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powski macht hier auf einen Tatbestand aufmerksam, der historisch verbürgt ist: Bei den meisten sogenannten Eliten hat sich nach anfänglicher Skepsis der Glaube durchgesetzt, dass Deutschland seine einstige Größe wiedererlangen könne; sie schauen mit Zuversicht nach vorn und verhielten sich abwartend loyal oder sogar regimefreundlich.

7 Programmatisches Resümee – von der Wahrheit der Prosa auf der Ebene der Reflexion Kempowskis Roman lässt die Zwischenkriegszeit so plastisch vor unseren Augen abrollen, dass wir uns mitten im Geschehen fühlen. Es ist das alltägliche Leben, das er akribisch beschreibt, es sind die primär unauffälligen, durchschnittlichen, kaum exponierten Charaktere, die unter den wechselnden politischen Verhältnissen irgendwie zurechtkommen müssen, die ihre Chancen und Möglichkeiten nutzen, um ihren Lebensstandard zu halten oder um zu reüssieren, oder die sich dem jeweiligen Machtapparat einfach nur anpassen und sich in ihre private Nische zurückziehen.21 Es ist ein großes Glück, dass er für seine Romane auf die Erinnerungen von Familienmitgliedern und Zeitzeugen zurückgreifen konnte, dass er so einschlägige Dokumente gesammelt, Zettelkästen und Tagebücher angelegt hat. Wie sonst hätte er so authentisch, so historisch getreu über jene Jahre schreiben können. Mit seinem Roman Schöne Aussicht beantwortet er indirekt die Frage, wie es geschehen konnte, dass Millionen Deutsche zu Mitläufern oder auch Mittätern wurden. Die revanchistische Agenda des »Dritten Reiches« überdeckt auch jede kritische Auseinandersetzung mit den Ursachen und dem Verlauf des Krieges sowie dem eigenen Versagen. Kempowski nimmt mit seinem Roman aus dem Jahr 1981 vorweg, was der Historiker und Politikwissenschaftler Götz Aly in seinem 2005 erschienenen Buch Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus detailliert ausgeführt hat: Die enorme innere Stabilität und Integrationsleistung des NS-Systems, heißt es darin, seien weniger durch Gewalt und Repression erzwungen worden, sondern waren vielmehr Resultat eines »punktuellen Mitläufertums« und genereller Zufriedenheit. Die Masse der Deutschen sei aus einer Mischung von »milder Steuerpolitik, guter

21  Nischenexistenzen sind ein probater Modus des Überlebens in Diktaturen. Vgl. zur Begriffsbestimmung Günter Gaus: Wo Deutschland liegt. Eine Ortsbestimmung. Hamburg: Hoffmann und Campe 1983. Sowie Olaf Reis: Nischen im Wandel. Zur Transformation von Familien und Generationenbeziehungen in Ostdeutschland. Gießen: Psychosozial-Verlag 2018 (Forschung Psychosozial).

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Versorgung und punktuellem Terror an den Rändern der Gesellschaft zumindest ruhig gestellt worden«; die Führung habe sich die Zustimmung der Bevölkerung erkauft und die dafür erforderlichen Mittel durch Kredite und »kriminelle Techniken der Haushaltspolitik« aufgebracht.22 Aly kommt zu dem provokanten Schluss: »Wer von den Vorteilen für die Millionen einfacher Deutscher nicht reden will, der sollte vom Nationalsozialismus und vom Holocaust schweigen.«23 Die Schuldigen für die Verbrechen des NSStaates waren zwar in erster Linie die politischen Eliten, aber ohne die Duldung oder Mitwirkung von Millionen Deutschen, von Ärzten, Beamten, Geschäftsleuten, Richtern, Theologen, Wissenschaftlern und anderen hätte sich das totalitäre System nicht zwölf Jahre halten können. Insofern reicht es nicht, von einem politischen Versagen breiter Schichten der Bevölkerung in der Zwischenkriegszeit zu sprechen, sondern es war zugleich ein komplettes Versagen darüber hinaus, das sich in Anpassung, Schweigen, Dulden, Verdrängen und Wegschauen des Einzelnen ausdrückte: Und immer schön die SA-Abende besuchen und mit den Steinträgern und Werftarbeitern Bier trinken. Und Sonntag früh nach Gehlsdorf fahren und schießen üben, obwohl man das eigentlich schon kann. Schade, und man hatte sich grade herauswinden wollen aus diesem Kram. Damit ist nun nichts. (SchA 496)

Bemerkenswert ist, wie Kempowski den moralischen Bankrott der bürgerlichen Mittelschicht in Republik und Diktatur schildert – ohne eigene Vorwurfshaltung oder Schuldzuweisung. Der Wahrheitsanspruch seiner Prosa liegt damit auf der Ebene der Reflexion, die – kaleidoskopartig – in zahllose Perspektiven zerfällt und ein Kollektivbewusstsein aus Widersprüchen und Komplementaritäten erschafft.24 Deren Polyperspektivität wird durch Kempowskis typische Rastertechnik erreicht. Indirekt porträtiert er damit seine Figuren als bedenkenswerte Menschen, die überwiegend keine Nazis sind, die sich aber, um sich zu schützen, bereitwillig anpassten und vielfältige Zumutungen geduldig ertrugen. Durch ihren eilfertigen Opportunismus und ihren mangelnden Widerstandsgeist wurden sie letztendlich selbst zu Opfern – sie ließen die taumelnde Republik im Stich und stützten die verbrecherische neue Ordnung. Darin besteht ihre Tragik.

22  Vgl. Aly: Hitlers Volksstaat 2005, S. 353–357. – Alys Buch hat einen Vorläufer in Daniel Goldhagens Bestseller: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Berlin: Siedler 1996. 23  Aly: Hitlers Volksstaat 2005, S. 362. 24  Vgl. dazu Gottfried Gabriel: Fiktion und Wahrheit. Eine semantische Theorie der Literatur. Stuttgart/Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1975 (problemata, 51), S. 94–96.

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Literaturverzeichnis Aly, Götz: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus. Frankfurt/M.: Fischer 32005. Fallada, Hans: Kleiner Mann – was nun? Mit einem Nachwort von Michael Töteberg. Zürich: Kampa 2018. Gabriel, Gottfried: Fiktion und Wahrheit. Eine semantische Theorie der Literatur. Stuttgart, Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1975 (problemata, 51). Gaus, Günter: Wo Deutschland liegt. Eine Ortsbestimmung. Hamburg: Hoffmann und Campe 1983. Goldhagen, Daniel: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Aus dem Amerikanischen von Klaus Kochmann. Berlin: Siedler 1996. Hasenclever, Walter: Irrtum und Leidenschaft. Mit einem Nachwort als Einführung von Kurt Pinthus. Berlin: Universitas 1969. Herron, George D.: Der Pariser Frieden und die Jugend Europas. Eine Verteidigung und ein Aufruf. In: Umsturz und Aufbau. Nummern 1–6. 1919–1920. Achte Flugschrift. Nendeln/ Liechtenstein: Kraus Reprint 1974. Umsturz und Aufbau nachgedruckt mit Zustimmung Rowohlt: Reinbek bei Hamburg, S. 5–40. Jaspers, Karl: »Über Gefahren und Chancen der Freiheit« und »Das Kollektiv und der Einzelne«. Zwei Essays. Mit einem Nachwort von Hamid Reza Yousefi. Ditzingen: Reclam 2021 (Reclams Universal-Bibliothek, 14031), S. 7–32 Kästner, Erich: Über das Verbrennen von Büchern (10. Mai 1953/58). Zürich: Atrium 62020. Kempowski, Walter: Schöne Aussicht. Roman. Hamburg: Knaus 1981. Kempowski, Walter: Aus großer Zeit. Roman. München: Knaus 21978. Kempowski, Walter: Tadellöser & Wolff. Ein bürgerlicher Roman. München: Hanser 1971. Klemperer, Victor: Lingua Tertii Imperii. Notizen eines Philologen. Berlin (Ost): Aufbau 1947. Lenz, Hermann: Neue Zeit. Roman. Frankfurt/M.: Insel 1975. Müller, Hans-Harald: Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman der Weimarer Republik. Stuttgart: Metzler 1986 (Metzler Studienausgabe). Noelle-Neumann, Elisabeth: Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung, unsere soziale Haut. München/Zürich: Piper 1980. Reis, Olaf: Nischen im Wandel. Zur Transformation von Familien und Generationen­beziehungen in Ostdeutschland. Gießen: Psychosozial-Verlag 2018 (Forschung Psychosozial). Remarque, Erich Maria: Im Westen nichts Neues. Berlin: Propyläen 1928. 126.–150. Tausend 1929. Schulze, Hagen: Weimar. Deutschland 1917–1933. Berlin: Siedler 1982. Tucholsky, Kurt: Vorwärts –! In: Die Weltbühne 22 (5.1.1926), Nr. 1, S. 1–5.

 Teil C: Varia

Sabine Kienitz

»Ich kämpfe um mein Recht, soweit ich es vermag« Die Personal-Abbau-Verordnung von 1923 und die prekäre Lebenssituation verheirateter Lehrerinnen in Hamburg in der Weimarer Republik Das Jahr 1923 stand ganz im Zeichen der Krise:1 Mit dem Reichsnotgesetz vom Februar 1923 als Reaktion auf die Ruhrbesetzung durch französisches Militär sowie mit dem Ermächtigungsgesetz vom 13. Oktober 1923 verschafften sich die staatlichen Behörden nach dem Krieg erneut die Möglichkeit, das soziale und kulturelle Leben in Deutschland einzuschränken. Hinzu kam die Tatsache, dass der bewaffnete kommunistische Aufstand in Hamburg im Oktober 19232 ebenso wie der gescheiterte Hitler-Putsch in München im November 1923 die politische Stabilität der Republik herausforderten. Als sehr viel bedrohlicher für fast alle Bevölkerungsschichten in Deutschland erwiesen sich allerdings die sich verschärfende Wirtschaftskrise und die Finanznot des Staates infolge der kriegsbedingten Reparationszahlungen.3 Auch wenn die wirtschaftliche Situation im Stadtstaat Hamburg lange Zeit relativ stabil gewesen war, änderte sich das 1923. Die Hyperinflation verteuerte ab Frühjahr/Sommer 1923 die Kosten für den gesamten Lebensunterhalt und brachte viele Familien um ihre letzten Ersparnisse.4

1  Das Titelzitat entstammt einer Eingabe der Lehrerin Dora Muus, geb. Mahns an einen Hohen Senat der freien und Hansestadt Hamburg vom 11.3.1924. Vgl. dazu Staatsarchiv Hamburg (StA HH) 13112_D 23, Abbau der verheirateten Lehrerinnen (Weiterbeschäftigung und Einsprüche), Eingabe der Lehrerin Dora Muus, geb. Mahns an einen Hohen Senat der freien und Hansestadt Hamburg, 11.3.1924. 2  Olaf Matthes/Ortwin Pelc (Hg.): Die bedrohte Stadtrepublik. Hamburg 1923. Kiel/Hamburg: Wachholtz 2023. 3  Die Liste aktueller historischer Analysen des Krisenjahres 1923 ist inzwischen sehr umfangreich. Vgl. u. a. Volker Ullrich: Deutschland 1923. Das Jahr am Abgrund. München: C.H. Beck 2022; Peter Reichel: Rettung der Republik? Deutschland im Krisenjahr 1923. München: Hanser 2022; Peter Longerich: Außer Kontrolle. Deutschland 1923. Wien/Graz: Molden 2022. Solche Reparationszahlungen diskutiert Walter Kempowskis Personal am Biertisch. Vgl. Walter Kempowski: Schöne Aussicht. Hamburg: Knaus 1981, S. 43, 65 und passim. 4  Zur Hyperinflation in Hamburg vgl. u.a. Ursula Büttner: Politische Gerechtigkeit und Sozialer Geist. Hamburg zur Zeit der Weimarer Republik. Hamburg: Christians 1985 (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, 20), S. 152–155. – »288 Milliarden Mark Miete müssen im Oktober 1923 gezahlt werden.« (Kempowski: Schöne Aussicht 1981, S. 144) https://doi.org/10.1515/9783111330938-012

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Angesichts der als katastrophal eingeschätzten finanziellen Lage stand die bereits 1920 in Hamburg eingesetzte Senatskommission für die Verwaltungsreform unter Druck, endlich Ergebnisse zu liefern und weitergehende Sparmaßnahmen in den Behörden und der Verwaltung umzusetzen.5 Dabei verfolgte der Senat die Strategie, verbeamtetes Lehrpersonal an den staatlichen Schulen abzubauen, mindestens 12 Prozent der Stellen sollten eingespart werden, vor allem im Volksschulbereich. So muss man wohl davon ausgehen, dass die Vorweihnachtszeit 1923 in vielen Hamburger Familien von Ärger, Trauer und vor allem von neuen, zusätzlichen Existenzängsten geprägt war, nachdem die Oberschulbehörde zum 11. Dezember 1923 eine Welle von Kündigungsschreiben verschickt hatte. Die hier verkündeten Einsparmaßnahmen betrafen neben älteren männlichen Lehrern v. a. verheiratete Lehrerinnen an Staatsund Gemeindeschulen. Aktenmäßig erfasst ist für Hamburg die Zahl von 241 Frauen aller Altersstufen, die mit dem Kündigungsschreiben die Erfahrung machen mussten, dass der Staat die in der Verfassung von 1919 festgelegten gleichen Rechte für Frauen in der aktuellen ökonomischen Krise ohne jede weitere Erklärung wieder zurücknehmen konnte.6 Hintergrund dafür war Artikel 14 der Personal-Abbau-Verordnung des Deutschen Reiches vom 27.10.1923, in dem es hieß, dass eine fristlose Kündigung verheirateter Beamtinnen auch bei »lebenslänglicher Anstellung« jederzeit möglich war, »sofern nach dem Ermessen der zuständigen Behörde die wirtschaftliche Versorgung des weiblichen Beamten gesichert erscheint.«7 Diese von den betroffenen Frauen als »unerträgliche Demütigung«8 kritisierte Regelung wurde noch verstärkt durch die Tatsache, dass die männlichen Kollegen laut Besoldungsrecht nach der Verheiratung einen Familienzuschlag bekamen und mit ihrem Ruhegehalt in Pension geschickt wurden. Dagegen sollten Frauen sogar nach 40-jähriger Dienstzeit das Anrecht auf

5  Zu Organisation und Folgen der Verwaltungsreform in Hamburg vgl. Sigrid Schambach: Hamburg auf dem Weg zu einer modernen Verwaltung. Die Verwaltungsreform des Stadtstaates in den Jahren 1919–1933. Hamburg: Verein für Hamburgische Geschichte 2002 (Beiträge zur Geschichte Hamburgs, 61). 6  Die Debatte über diesen Verfassungsbruch wurde auch noch in der Bundesrepublik geführt. Vgl. dazu Walter Jellinek/Ernst von Caemmerer/Wilhelm Grewe: Zur Gleichberechtigung der Geschlechter im Beamtenrecht. Drei Stellungnahmen. In: Archiv des öffentlichen Rechts 76/N.F. 37 (1950/51), Nr. 2, S. 137–164. 7  Zum Wortlaut des Artikels 14 und zur Darstellung der Debatte im Parlament vgl. Regine Deutsch: Beamtinnen. In: Dies.: Parlamentarische Frauenarbeit. Bd. 2, Berlin: Herbig 1928, S. 91–98, hier S. 91. Zitiert nach Doris Kampmann: »Zölibat – ohne uns!« – Die soziale Situation und politische Einstellung der Lehrerinnen in der Weimarer Republik. In: Frauengruppe Faschismusforschung (Hg.): Mutterkreuz und Arbeitsbuch. Zur Geschichte der Frauen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Frankfurt/M.: Fischer 1981, S. 79–104, hier S. 89. 8  Vgl. den Artikel von Jenny Meyer: Der Vertragsbruch des Staates. In: Hamburger Lehrerzeitung 2 (1923), Nr. 51/52, S. 662–663, hier S. 663.

Die Personal-Abbau-Verordnung von 1923 

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die Pension verlieren. Auch hatten sie keinen Anspruch auf eine Abfindung bzw. das sogenannte Wartegeld als Überbrückung bis zu einer möglichen Wiedereinstellung.9 Die Hamburger Oberschulbehörde (OSB) folgte den Vorgaben der Senatskommission. Eine Protokollnotiz dokumentiert schon für den 24. Oktober 1923 die Zusage, dass man alle verheirateten weiblichen verbeamteten Lehrkräfte sowie die »Mehrzahl der weiblichen Tariflehrerinnen«, d. h. die angestellten Hilfslehrerinnen entlassen werde, »sobald die rechtliche Möglichkeit dazu besteht.«10 Einziges Zugeständnis war eine zeitliche Verschiebung. So teilte der zuständige Schulsenator Emil Krause11 (1870–1943) am 10. Dezember 1923 der Senatskommission mit, dass man den konkreten Kündigungstermin nicht schon wie vorgesehen zum 1. Januar 1924 umsetzen werde, sondern »im Interesse des Schulbetriebes«12 erst zum 31. März 1924. Die Kommission akzeptierte diese Verschiebung unter der Bedingung, dass man den betroffenen Frauen die Kündigung umgehend zur Kenntnis brachte: Sie sollten die Gelegenheit bekommen, sich »gegebenenfalls rechtzeitig nach anderer Beschäftigung umzusehen.«13 Darüber hinaus aber sollten die betroffenen Frauen die Möglichkeit haben, bis zum Ende des Jahres 1923 ihrer Entlassung zu widersprechen. Dafür mussten sie in einem informellen Schreiben ein Gesuch an die Behörde um Belassung im Amt stellen und ihre persönlichen wirtschaftlichen Verhältnisse offenlegen. Eine Anforderung, die ebenfalls Kritik hervorrief, da man ihnen nicht nur den Stuhl vor die Tür setzte, sondern sie obendrein gezwungen wurden,

9  Auf Antrag der Hamburgischen Lehrerschaft, vertreten durch die Lehrer Petersen, Fritz Träger und Christine Thiess, und nach Abstimmung im Senat wurden im Oktober 1924 die Richtlinien insofern geändert, dass außerplanmäßige Lehrerinnen nun eine Abfindung von 200 Goldmark und festangestellte Lehrerinnen mit weniger als zehn pensionsberechtigten Dienstjahren 500 Goldmark als Abfindung bekommen sollten. Bei mehr als zehn pensionsfähigen Dienstjahren sollten sie eine Gnadenrente in Höhe der halben Pension bekommen. In jenen Fällen, in denen eine Gnadenrente geboten gewesen wäre, bisher aber nicht bewilligt worden war, sollte dies rückwirkend zum 1. April 1924 nachträglich gewährt werden. StA HH 131-12_D 23, Auszug aus dem Protokoll des Senats, 22.10.1924. 10  StA HH 131-12_D 22, Abbau im Schulwesen. Allgemeine Vorschläge, Protokollnotiz der Senatskommission, 24./25.10.1923. Die Personal-Abbau-Verordnung für Hamburg stammte vom 19.11.1923, vgl. Schambach: Hamburg auf dem Weg zu einer modernen Verwaltung 2002, S. 176, FN 459. 11  Zu seiner Person vgl. Klaus Saul: Der Schulsenator Emil Krause. In: Hans-Peter de Lorent/Volker Ullrich (Hgg.): »Der Traum von der freien Schule«. Schule und Schulpolitik in der Weimarer Republik. Hamburg: Ergebnisse 1988 (Hamburger Schriftenreihe zur Schul- und Unterrichtsgeschichte, 1), S. 330–334. 12  StA HH 131-12_D 23, Emil Krause, OSB, an SKV, 10.12.1923. 13  StA HH 131-12_D 23, August Struve, SKV, an OSB, 13.12.1923.

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vor Fremden ihre wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnisse [zu] enthüllen, während man diese Dinge sonst selbst vor dem vertrautesten Freund schamvoll zu verbergen sucht. Nun heißt es, die Zähne zusammenbeißen, die Faust in der Tasche ballen und hinzugehen und um etwas zu betteln, was verbrieftes Recht war.14

Das Genehmigungsverfahren war mehrstufig: In einem ersten Schritt mussten die Antragstellerinnen der Oberschulbehörde gegenüber plausibel machen, dass ihre finanzielle Versorgung keineswegs – also weder zu diesem Zeitpunkt noch auf längere Dauer – gesichert war. Dieses Signal, dass sich bürokratische Prozesse vielleicht doch noch aufhalten ließen, bestärkte die Frauen in dem Glauben, dass sie mit realistischen Darstellungen ihrer Lebenssituation die Bedrohung abwenden könnten. Doch erst wenn die OSB den Antrag als begründet evaluiert hatte, durfte dieser in einem zweiten Schritt an die Senatskommission für die Verwaltungsreform (SKV) zur Entscheidung weitergereicht werden.15 Der krisenbedingte Personalabbau im Zuge der Verwaltungsreform in den frühen 1920er Jahren und seine negativen Auswirkungen gerade für die Beamtinnen sind im Rahmen der Schul- wie auch der Verwaltungsgeschichte Hamburgs bereits mehrfach thematisiert worden. Meist wurden sie allerdings nur kursorisch unter dem Stichwort »Benachteiligung von Frauen«16 oder in Verbindung mit den allgemeinen emotionalen Erschütterungen abgehandelt, die die Beamten und staatlichen Angestellten beiderlei Geschlechts betrafen und die, so die These, angesichts der wirtschaftlichen Notlage, der dauerhaft schlechten Besoldungssituation und der Kündigungswelle zu einem folgenreichen Vertrauensverlust gegenüber dem Weimarer Staat geführt hatten.17 Hier möchte ich nun ansetzen und auf der Basis

14  Vgl. dazu Meyer: Der Vertragsbruch des Staates 1923, S. 663. 15  Im Fall der Oberlehrerin Frieda Landahl war der Antrag unter dem Ausdruck des Bedauerns schon durch die OSB abgelehnt worden. Vgl. dazu StA HH 131-12_D 23, Gesuch Frieda Landahl, Briefwechsel und Notizen, 28.12.1923 und 6.2.1924. 16  Jenspeter Rosenfeldt: Lehrerarbeitslosigkeit in Hamburg während der Weimarer Republik. In: Lorent/Ullrich »Der Traum von der freien Schule« 1988, S. 167–178. – Milbergs Aufarbeitung der Schulgeschichte in Hamburg erwähnt erst wieder die Entlassung von verheirateten Lehrerinnen in den 1930er Jahren. Hildegard Milberg: Schulpolitik in der pluralistischen Gesellschaft. Die politischen und sozialen Aspekte der Schulreform in Hamburg 1890–1935. Hamburg: Leibniz 1970 (Veröffentlichungen der Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus in Hamburg, 7), S. 371. Vgl. auch Claudia Hahn: Der öffentliche Dienst und die Frauen – Beamtinnen in der Weimarer Republik. In: Frauengruppe Faschismusforschung: Mutterkreuz und Arbeitsbuch 1981, S. 49–78. 17  Vgl. dazu Schambach: Hamburg auf dem Weg zu einer modernen Verwaltung 2002, S. 186–200. Zur Geschichte des Lehrerinnenzölibats seit seiner Einführung 1880 vgl. Mechthild Joest/Martina Nieswandt: Das Lehrerinnen-Zölibat im Deutschen Kaiserreich. In: Beatrix Bechtel u. a. (Hgg.): Die ungeschriebene Geschichte. Historische Frauenforschung. Wien: Wiener Frauenverlag 1984 (Reihe Frauenforschung, 3), S. 251–258. – Zur Anwendung der Zölibatsklausel als arbeitsmarktpolitisches

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des vorliegenden Aktenmaterials die betroffenen Frauen selbst zu Wort kommen lassen, die um ihre verfassungsmäßig verbrieften Rechte, ihre berufliche Zukunft und ihr wirtschaftliches Überleben kämpften. In den Akten der Senatskommission sind die Eingaben und Ausführungen von 39 Frauen gesammelt, die auf die Kündigung schriftlich reagiert hatten und wegen ihrer Entlassung ihre persönlichen Verhältnisse und im Zuge dessen oft auch gezwungenermaßen die Situation ihrer Angehörigen offenlegten.18 Im Folgenden sollen diese Gesuche aber nicht nur mit Blick auf die konkrete finanzielle Lage der Frauen analysiert werden. Wichtiger sind dagegen die Einblicke, die diese Briefe in die Haushalte von Ehepaaren und Familien in jenen Jahren geben. Es geht also um die Frage, wie die Betroffenen aus Anlass der Kündigung ihre berufliche und familiäre Situation schilderten. Wie reagierten diese Frauen, die sich bewusst für die Ausbildung zur Lehrerin und die Berufstätigkeit entschieden hatten und die nach z. T. langjähriger Berufstätigkeit auf die Straße gesetzt werden sollten? Wie argumentierten sie, und wie wehrten sie sich gegen einen solchen Akt behördlicher Willkür, der ganz offensichtlich der Verfassung widersprach? Wie traten diese Frauen, die aufgrund ihrer Schul- bzw. Universitätsausbildung im Verhältnis zur Mehrheit der Frauen überdurchschnittlich gebildet und argumentativ geschult waren, gegenüber den Behörden auf? Hier bietet es sich an, mit dem Konzept der Kollektivbiographie19 zu arbeiten, um einerseits zu erkennen, was diese Frauen außer ihrem Beruf und der Kündigung noch miteinander verband. Andererseits wird es aber auch darum gehen, konkrete einzelne Lebensgeschichten herauszugreifen, um die Erfahrungswelten näher beleuchten zu können.

Instrument mit überwiegend symbolischem Charakter vgl. Gudrun Kling: Die rechtliche Konstruktion des ›weiblichen Beamten‹. Frauen im öffentlichen Dienst des Großherzogtums Baden im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: Ute Gerhard (Hg.): Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. München: Beck 1997, S. 600–616. – Für diesen Hinweis und hilfreiche Kommentare zum Text danke ich Angelika Schaser. 18  Vgl. dazu StA HH 131-12_D 23, Abbau der verheirateten Lehrerinnen (Weiterbeschäftigung und Einsprüche). 19  Vgl. dazu Levke Harders/Veronika Lipphardt: Kollektivbiographie in der Wissenschaftsgeschichte als qualitative und problemorientierte Methode. In: Traverse. Zeitschrift für Geschichte 13 (2006), Heft 2, S. 81–90. Eine überarbeitete Neufassung liegt online vor: Levke Harders: Gruppenund Kollektivbiografien. In: Dies.: Historische Biografieforschung, Version: 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 31.10.2020. http://docupedia.de/zg/Harders_historische_Biografieforschung_v1_de_2020 (letzter Zugriff am 20.07.2023). DOI: http://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok-2014.

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1 Zahlen, administrative Abläufe und Zuständigkeiten Die archivierten Akten der Senatskommission, die für diesen Text erstmals systematisch ausgewertet wurden, benennen entsprechende Zahlen: Demzufolge hatten in der Hansestadt Hamburg 241 Lehrerinnen im Dezember 1923 die formal fristgerechte Kündigung bekommen, und während 84 Frauen diese Entscheidung offensichtlich widerspruchslos akzeptiert hatten, stellten 157 Frauen ein Gesuch auf Belassung im Amt oder baten um zumindest vorläufige Weiterbeschäftigung – unter deutlichem Protest oder in höflichen Worten, wie Hedwig Homfeldt, die seit 1919 im Schuldienst war: »[I]ch habe meinen Beruf lieb und würde eine Trennung von ihm kaum verschmerzen können.«20 118 dieser eingereichten Gesuche wurde von Seiten der Oberschulbehörde eine Befürwortung umgehend versagt, sie tauchen in dieser Akte gar nicht weiter auf.21 31 Anträge versah der zuständige Kreisschulrat August Gronemann (1865–1938) im Namen der Oberschulbehörde mit einer Bewertung und legte sie der Senatskommission, vertreten durch Staatsrat Karl August Struve (1895–1960), offiziell zur Entscheidung vor. In acht weiteren Fällen enthielt sich die OSB allerdings bewusst einer eigenen Beurteilung und leitete die Unterlagen direkt an die Senatskommission weiter. Dabei handelte es sich »um Lehrerinnen, deren Ehegatten dem Künstlerstande angehören, erwerbtätig [sic] und erwerbsfähig sind, aber bei der jetzigen Lage auf dem Kunstmarkt eine so geringe Einnahme haben, daß sie den Unterhalt einer Familie aus ihrer künstlerischen Betätigung heraus nicht bestreiten können.«22 Für die Beteiligten war also die Rolle Gronemanns in diesen Verfahren und damit seine jeweilige Einschätzung der Situation von hoher Relevanz. Er war offensichtlich ein wichtiger Ansprechpartner und aktiver Berater für die Antragstellerinnen, er lud sie zu Vier-Augen-Gesprächen ins Amt und sammelte dabei zusätzliche Informationen, die er den Anträgen in Form von unterstützenden Kommentaren und ergänzenden Details beifügte, welche die Frauen in ihren Gesuchen selbst gar nicht aufgeführt hatten. Gertrud Gellert z. B., 40-jährige Handarbeitslehrerin

20  StA HH 131-12_D 23, betrifft: Aufhebung der Kündigung der Lehrerin Hedwig Homfeldt geb. Albrecht, 30.12.1923. 21  Vgl. die Gesamtliste aller für den Abbau vorgesehenen Lehrerinnen, die in der Akte StA HH 361-2 V 9 c dokumentiert ist. 22  StA HH 131-12_D 23, August Gronemann, OSB, an die SKV, 28.1.1924.

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am Tieloh im Stadtteil Barmbek, einer der vier Hamburger Versuchsschulen,23 hatte in ihrem Schreiben an die OSB nur in wenigen Worten mitgeteilt, dass sich an ihrer Situation seit ihrem ersten Widerspruchsschreiben vom Dezember 1923 nichts geändert habe und ihr Mann »immer noch stellenlos, ohne jede Aussicht auf eine Anstellung«24 sei. Hier ergänzte Gronemann das Dokument, bevor er es der SKV vorlegte, mit dem Hinweis, dass der Mann Innenarchitekt sei und gerade seine Gesellenprüfung als Möbeltischler abgelegt habe. Die Fabrik seines Vaters sei aber in der Zwischenzeit in andere Hände übergegangen, weshalb Gellert weiterhin stellenlos sei und auch keine Aussicht auf baldige Beschäftigung bestehe.25 Mit dieser Intervention konnte Gronemann sicherstellen, dass Gertrud Gellerts Gesuch befürwortet wurde und sie weiterhin am Tieloh unterrichten durfte. Wie in diesem Fall argumentierte er wohl in fast allen Fällen im Sinne der Antragstellerinnen und machte die Entscheidungsträger in der Senatskommission, häufig auch unter Rückgriff auf Zahlen und Berechnungen, auf die besondere bedrängte Situation der jeweiligen Frau und ihrer Familie aufmerksam.

2 Das Gesuch: Aufbau und Struktur der Eingaben Für eine angemessene Analyse des vorliegenden Materials ist zu bedenken, um welches Textgenre es sich hier handelt und welcher Aufgabe sich die betroffenen Frauen zu stellen hatten. Denn es ging dabei ja nicht um eine Selbstdarstellung ihrer Qualifikation als Lehrerin, sondern allein darum, eine Behörde durch die Darstellung ihrer ökonomischen und sozialen Situation von ihrer Not zu überzeugen. Zentrales Kriterium war die Frage, inwiefern der Ehemann »körperlich und geistig zur Ausübung eines Berufs fähig war, der ihm auch unter den heutigen wirtschaftlichen Verhältnissen im allgemeinen Aussicht auf Beschäftigung bietet.«26 Dieser Aspekt bestimmte den Inhalt, den Sprachduktus und auch den Erzählplot der Darstellung, und so erklärt sich auch, warum in so vielen Schreiben nicht nur

23  Vgl. dazu Reiner Lehberger: »Schule als Lebensstätte der Jugend«. Die Hamburger Versuchsund Gemeinschaftsschulen in der Weimarer Republik. In: Ullrich Amlung/Dietmar Haubfleisch/ Jörg-W. Link/Hanno Schmitt (Hgg.): »Die alte Schule überwinden«. Reformpädagogische Versuchsschulen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. Frankfurt/M.: dipa 1993 (Sozialhistorische Untersuchungen zur Reformpädagogik und Erwachsenenbildung, 15), S. 32–64, hier S. 38–39. 24  StA HH 131-12_D 23, Gesuch der Lehrerin Gertrud Gellert, geb. Neumann, an die OSB um weiteres Verbleiben im Amt, 1.2.1925. 25  StA HH 131-12_D 23, Gesuch der Lehrerin Gertrud Gellert, geb. Neumann, an die OSB um weiteres Verbleiben im Amt, 1.2.1925. 26  StA HH 131-12_D 23, SKV an OSB, 26.2.1924.

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die berufliche Situation des Ehemannes, sondern auch sein körperliches Befinden im Mittelpunkt standen. Wie also nutzten die betroffenen Lehrerinnen diese Möglichkeit, wie argumentierten sie? Hier ist v. a. der Vergleich von Textvarianten wichtig. Die Textfassung des ersten Widerspruchs ist nur in wenigen Fällen überliefert, da die meisten auf das behördliche Kündigungsschreiben nur kurz reagiert hatten. Möglicherweise waren sie davon ausgegangen, dass ihre Darstellung bereits schlüssig genug war und die Behörde ihre Argumente ohnehin akzeptieren würde.27 Das war aber offensichtlich nicht der Fall, d. h. sie mussten umgehend einen weiteren Antrag mit einer längeren und präziseren Auskunft formulieren. Falls sie damit bei der Behörde wirklich einen Aufschub der Kündigung erwirken konnten, dann wurde dieser höchstens für ein Jahr, meist aber nur für sechs Monate gewährt, d. h. sie mussten über die Jahre hinweg mehrmals eine Begründung nachschieben und erläutern, dass bzw. inwiefern sich ihre finanzielle familiäre Situation nicht gebessert hatte. Manche Frauen schrieben also alle halbe Jahre ein neues Gesuch. Basis war dann häufig der alte Text, der ergänzt wurde durch neue Formulierungen. In dem Fall hatten sie selbst offenbar eine Kopie ihrer ersten Eingabe gemacht, deren Formulierungen sie nun aufgriffen, teilweise neu formulierten, präzisierten etc. Hinzu kamen Beschreibungen dessen, was sich alles in der Zwischenzeit noch weiter ereignet hatte. Als extremes Beispiel mit hoher Mitteilungsbedürftigkeit sei hier Margarete Zielcke genannt, die an der Schule Alsterdorferstraße 39 unterrichtete und trotz Widerspruchs die Kündigung bekommen sollte. In ihrem zweiten Schreiben an die Behörde vom März 1924 sah sie sich deshalb genötigt, sämtliche privaten Details ihrer Familie auszubreiten.28 Im Mittelpunkt stand dabei die Krankengeschichte ihres mittlerweile 58-jährigen Ehemannes, der im Dezember 1923 noch im Hafenbetrieb der Deutsch Ost-Afrika-Linie tageweise beschäftigt gewesen war und nun im März 1924 infolge des Hafenarbeiterstreiks entlassen wurde. In seinem Beruf als Apotheker und Chemiker habe er wegen eines Magenleidens nicht mehr arbeiten können, sei dann in einer Mineralwasserfabrik tätig gewesen und habe sich dort in den nassen Fabrikräumen Gelenkrheumatismus, an einer anderen Arbeitsstelle dann noch wegen langen Stehens auf dem Zementboden eine Fersenspornentzündung zugezogen. Darüber hinaus berichtete sie sämtliche Details über die Söhne, 14

27  Clara Schnellbügel z.B. erläuterte ihren Irrtum in der Handhabung des Widerspruchs. Sie habe in dem ersten Schreiben »nur kurz den Verdienst meines Mannes und die Unterstützung an meine Mutter erwähnt, weil ich glaubte, damit sei erwiesen, daß meine wirtschaftliche Lage nicht gesichert sei.« StA HH 131-12_D 23, Clara Schnellbügel, Gesuch an Einen Hohen Senat der freien und Hansestadt Hamburg, 5.3.1924. 28  StA HH 131-12_D 23, Margarete Zielcke an die SKV, 10.3.1924.

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und 16 Jahre alt, die Mutter ihres Mannes, die an Blasenkrebs leide, arbeitsunfähig sei und bei ihnen wohne, die Schwester ihres Mannes und deren Söhne, von denen einer Zahnmedizin studiert und sich trotz guten Examens das Leben genommen hatte. Die Liste der Schicksalsschläge der Familie war noch länger, am Ende kam Zielcke zu dem Schluss: »Alle galten vor dem Krieg als wohlhabend und sind jetzt völlig verarmt.« Diesem Brief folgten dann noch zwei weitere am 20. August 1924 und am 30. Januar 1925, in denen sie in ähnlicher Drastik über weitere Todesfälle in der Familie, über die schwierige Darmoperation ihres Mannes und den Pflegebedarf von weiteren Angehörigen berichtete, um auf diese Weise – erfolgreich – nachzuweisen, warum sie zwingend im Beruf bleiben musste. Hier kann man auch Lernprozesse erkennen: In der Retrospektive erinnerten die Antragstellerinnen an Details und Ereignisse, die sie bereits zum Zeitpunkt des ersten Schriftwechsels dargestellt hatten, die sie nun aber in der Situation noch einmal neu bewerteten und besonders heraushoben. Insofern kann man davon ausgehen, dass die Aufgabenstellung des schriftlichen Widerspruchs auch als eine Art »Biographiegenerator«29 wirksam wurde, der die Frauen quasi dazu zwang, ihre eigene Geschichte und die ihrer Angehörigen selektiv und dabei trotzdem konsistent und überzeugend zu erzählen, um auf dieser Basis die eigene Bedürftigkeit sichtbar und für Außenstehende nachvollziehbar zu machen.

3 Die Belassung des Mannes im Staatsdienst – trotz geringerer Qualifikation Mit diesen Gesuchen sollten die verheirateten Lehrerinnen ihre ökonomische Situation offenlegen. Die Erwartung, dass diese Akten aussagekräftiges Material über die konkrete finanzielle Lage der Frauen und ihrer Familien liefern, wird jedoch enttäuscht. Zum einen ist die Datenlage für einen konkreten Überblick über die Finanzen nicht umfassend und detailliert genug. Zum anderen ist zu bedenken, dass sich die finanzielle Lage der abhängig Beschäftigten in jenen Jahren von einem Tag auf den anderen dramatisch ändern konnte. In der schlechten Wirtschaftslage waren auch männliche Erwerbstätige quasi täglich von Kündigung bedroht. Wie später noch zu zeigen sein wird, waren die Ehemänner in vielen Familien schon seit längerer Zeit arbeitslos. Und auch wenn der Ehemann am Tag

29  Alois Hahn: Identität und Selbstthematisierung. In: Ders./Volker Kapp (Hgg.): Selbstthematisierung und Selbstzeugnis. Bekenntnis und Geständnis. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987, S. 9–24, hier S. 18.

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zuvor noch einen Arbeitsplatz gehabt hatte, gab es keinerlei Garantie, dass das am folgenden Tag auch noch der Fall sein würde. So bat Frida Herrmann Anfang September 1924 um Aufhebung ihrer Kündigung zum 30.9.1924 und berichtete von ihrem Mann, der in einem Automobilgeschäft am Alten Wall tätig war, wo er nur ein sehr geringes Gehalt bekam. »Seine Haupteinnahme sollte in Provisionen bestehen, die aber infolge der ungünstigen Geschäftslage z. Zt. fortfallen. Die wirtschaftliche Lage seines Chefs ist so, daß er mit einer Kündigung rechnen muß.«30 Und wenige Tage später korrigierte sie ihr Gesuch mit dem Hinweis, dass die Firma zur Mitte des Monats »aus Mangel an Zahlungsmitteln aufgelöst« werde. Es sei fraglich, ob ihr Mann sein Gehalt für September noch bekomme. Kreisschulrat Gronemann ergänzte auch in diesem Fall die Zahlen und teilte der SKV mit, dass das Fixum des Ehemannes 100 Mark im Monat betrug, die Provision habe im Juni 1924 ca. 30 Mark betragen, war dann im Juli noch geringer, und im August 1924 sei sie ganz ausgefallen. War der Ehemann selbst ebenfalls in verbeamteter Position, drohte möglicherweise beiden die Kündigung. Dabei stand die Senatskommission auf dem Standpunkt, »daß ein Abbau sowohl des Ehemannes als (auch) der Ehefrau seitens einer und derselben Behörde tunlichst vermieden werden sollte, und daß in solchen Fällen die Belassung des Ehemannes im Staatsdienst zweckmäßig ist.«31 In vier der hier vorgestellten Fälle sollte das auch wirklich so gehandhabt werden: Der Lehrerkandidat Heinrich Jochimsen, dessen Frau Margarethe an der Volksschule Borgesch 15 arbeitete, und der wissenschaftliche Hilfslehrer Wilhelm Taubert, dessen Frau Elisabeth an der Volksschule am Nagelsweg unterrichtete, durften weiterhin im Dienst bleiben, obwohl sie geringer qualifiziert waren und weniger Berufserfahrung hatten. Während ihre Ehefrauen noch einen Aufschub der Kündigung bis zum 30.9.1924 bzw. zum 31.3.1925 erhielten,32 mussten die akademischen Lehrerinnen Frieda Landahl und die promovierte Wilhelmine Paterna, welche beide an der Aufbauschule Hoheweide tätig waren, zum 31. März 1924 den Schuldienst verlassen. Auf ihre Geschichte wird gleich noch zurückzukommen sein.

30  StA HH 131-12_D 23, Gesuch um Aufhebung der Kündigung der Lehrerin Frida Herrmann geb. Müller zum 30.9.1924, an OSB, 11.9.1924. 31  StA HH 131-12_D 23, August Struve, SKV, an OSB, 26.2.1924. 32  StA HH 131-12_D 23, August Struve, SKV, an OSB, 3.3.1924.

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4 Gegen den Strich gelesen: Zwei biographische Beispiele Schaut man sich die Geburtsjahrgänge dieser Frauen an, dann liegen sie altersmäßig recht weit auseinander. Die jüngste von den 39 namentlich und mit Geburtsdaten erfassten Frauen war Thea Kippenberger (1901–1939) geborene Niemand, Lehrerin an der Schule Brackdamm 16 im Arbeiterviertel Hammerbrook. Sie war engagierte Kommunistin und seit September 1923 verheiratet mit dem KPDFunktionär Hans Kippenberger (1898–1937). Er war Journalist, studierte als Werkstudent Nationalökonomie an der Universität Hamburg und war maßgeblich am bewaffneten kommunistischen Oktoberaufstand in Barmbek 1923 beteiligt.33 Zum Zeitpunkt der Kündigung war sie schwanger – Tochter Margot kam Anfang Mai 1924 zur Welt – und nach dem Tod der Eltern ohne jede Unterstützung, denn ihr Mann wurde als Rädelsführer und wegen Hochverrats steckbrieflich gesucht und war flüchtig, sie selbst war im fünften Monat, als auch sie wegen der Beteiligung am Aufstand für vier Wochen in Untersuchungshaft kam.34 Für ihren Widerspruch gegen die Kündigung bekam sie die Unterstützung des Kollegiums ihrer Schule. Diese Aktion war insofern erfolgreich, als ihre Freistellung erst zum 30. September 1924 erfolgen sollte. Dann allerdings wurde sie als sogenannte Tarifangestellte, also als Hilfslehrerin im Angestelltenstatus, nicht nach Artikel 14 gekündigt, sondern »wegen offenbarer physischer Untauglichkeit für den Lehrerinnenberuf«.35 Unklar ist, ob ihre Schwangerschaft/Mutterschaft der Anlass dafür war, sie aus dem Dienst zu entfernen, oder ob sie für ihre politische Agitationsarbeit gemaßregelt wurde. Eine der ältesten Lehrerinnen war Dora Muus (1870–1952), geborene Mahns, die sich sehr deutlich zu dem ihrer Meinung nach an ihr begangenen »ungeheuerlichen Rechtsbruch«36 äußerte und sich dabei »alle Schritte zur Wahrung meiner wohlerworbenen Rechte« vorbehielt. Sie kündigte dabei auch an, sich an die Bürgerschaft zu wenden: »Ich kämpfe um mein Recht, soweit ich das vermag.«37 Nach

33  Zu den Lebensgeschichten beider Personen vgl. o. V.: Kippenberger, Hans. In: Bundesstiftung Aufarbeitung. Biographische Datenbanken. Berlin: Karl Dietz Verlag 2023. https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/recherche/kataloge-datenbanken/biographische-datenbanken/hanskippenberger (letzter Zugriff am 25.7.2023). 34  Vgl. dazu StA HH 215-2_D 1912/25, Angeklagte: Kippenberger und Genossen (Ehefrau Th. Kippenberger). Straftat: Aufruhr. 35  StA HH 131-12_D 23, SKV an OSB, 26.2.1924. 36  StA HH 131-12_D 23, Eingabe der Frau Dora Muus an OSB, 14.2.1924. 37  StA HH 131-12_D 23, Eingabe der Lehrerin Dora Muus, geb. Mahns an einen Hohen Senat der freien und Hansestadt Hamburg, 11.3.1924.

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einem ersten Schreiben an die OSB, in dem sie auf ihre »bitteren Gefühle« angesichts der Situation verwies, wandte sie sich mit ihren Eingaben nur noch direkt an den Hamburger Senat und protestierte sowohl gegen ihre Kündigung als auch gegen die behördliche Einschätzung, dass »nach Lage des Falles Ihre wirtschaftliche Versorgung als gesichert scheinen muß.«38 Vielleicht lag es am Alter und der Lebenserfahrung, dass sie nach 34 Jahren im Beruf, »den ich aus innerem Antriebe erwählt und mit großer Freudigkeit und meinem Wissen nach großem Erfolge ausgeübt habe«, klare Vorstellungen davon hatte, was dieser Staat ihr als treuer Beamtin an Treue schuldig war: »Ich bestreite […] die Berechtigung, mir das Dienstverhältnis in dieser Weise aufzukündigen und mir noch unter Berufung auf Artikel 14 der Reichsabbau-Verordnung zu sagen, dass ich keinen Anspruch auf eine Abfindungssumme, auf spätere Wiedereinstellung, oder auf sofortiges oder späteres Ruhegehalt habe.« Zentrales Argument war, dass es sich bei Artikel 14 schließlich nur um eine »kann-«, nicht aber um eine »muss-Verordnung« handele, weshalb dieser Paragraph »auf mich keine Anwendung finden darf.« Zur Unterstützung ihrer Argumentation listete sie ihre lange Schulkarriere auf, aufgrund derer sie sich diese Rechte erworben hatte: Sie war seit 1.4.1890 im Privatschuldienst, 1892 als Hilfslehrerin im Volksschuldienst, ab 1.4.1894 dann festangestellt als Lehrerin. Bis September 1920 hatte sie mit ihrer 67-jährigen Mutter Agnes Mahns, geborene Groenwoldt, zusammengelebt, die als Witwe eines Eisenbahnbeamten und ohne Vermögen auf ihre Hilfe angewiesen war: »Ihr Privatvermögen besteht in 18000 Mark Kriegsanleihen und Sparkasseneinlagen, sie ist also unter den heutigen Verhältnissen mittellos und außerdem kränklich.« Sie selbst habe ihre Ersparnisse auf die gleiche Weise verloren. Die Mutter habe ihr die Unterstützung vergolten, indem sie ihr »einen geordneten und behaglichen Haushalt« besorgt habe, welcher die Grundlage dafür war, dass sie sich ihre »lange Dienstfähigkeit und Frische in der Lehrarbeit« erhalten habe. Nach ihrer Verheiratung mit dem Witwer und ehemaligen Schulrektor Friedrich Muus am 1. April 1921 sei die Mutter nun auch »Mitglied meines ehelichen Haushaltes« geworden und habe für das Ehepaar Muus die Haushaltsführung besorgt. Dieses ganze Konstrukt würde aber zusammenbrechen, sollte sie wie angekündigt ohne Pension aus dem Schuldienst ausscheiden müssen. Dann müssten drei Erwachsene von dem Ruhegehalt ihres Mannes in Höhe von 2500 Mark im Jahr leben, 36 Prozent seines Friedensgehalts: »Ich will kein Geschenk, ich will nur behalten und in Zukunft erhalten, was ich mir durch meine langjährige Schularbeit, die mir bisher nur Anerkennung gebracht hat, nicht mit leichter Mühe verdient habe.«

38  StA HH 131-12_D 23, Bescheid der SKV an Dora Muus, 23.2.1924.

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5 »Da ich die Rechtmäßigkeit nicht anzuerkennen vermag«. Protest Mit der Kündigung wurden die verheirateten Frauen über die Möglichkeit des Widerspruchs informiert. Hier wurde allerdings nur auf die ökonomischen Aspekte Bezug genommen. Keine Erwähnung fand die Tatsache, dass mit der Weimarer Verfassung in Artikel 128 eigentlich alle jene Verordnungen aufgehoben waren, die Frauen vor 1919 allein wegen ihres Geschlechts schlechter gestellt hatten als Männer. So ist vielleicht verständlich, warum sich nur einige wenige Lehrerinnen in ihren Schreiben auf diese Rechtsgrundlage beriefen, meist waren es diejenigen mit universitärer Ausbildung. Wie die eben bereits zitierte Dora Muus formulierten sie Protest und Widerstand und kündigten an, Rechtsmittel einzulegen, verwiesen auf Paragraphen, Institutionen und Personen, die sie bei ihrem Kampf unterstützen würden. So fiel immer wieder der Hinweis auf »unsere Abgeordnete Emmy Beckmann«, die in der Bürgerschaft aktiv war und parallel dazu als Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenvereins zu Protesten gegen die Abbau-Verordnung aufgerufen hatte. So bestätigte Wilhelmine Paterna, geborene Müller, die an der Universität Mainz promoviert worden war, zwar der OSB gegenüber die Tatsache, dass die Kündigung bei ihr eingetroffen war. Zugleich protestierte sie dagegen, »da ich die Rechtmäßigkeit nicht anzuerkennen vermag.«39 Allerdings war es wohl eine Gratwanderung, diese Position unter Bezug auf mögliche rechtliche Fragen in den Anträgen zu formulieren. Das bekam Frieda Landahl zu spüren. Sie hatte als Lehrerin eine Bilderbuchkarriere gemacht und bekannte sich noch 1920 in ihrem Lebenslauf zu ihrem stetigen »Streben nach Weiterbildung«, das ihr als Tochter eines Kanzleiangestellten nur durch Zuwendungen aus Hamburger Stiftungen ermöglicht worden war. Von 1904 bis 1908 hatte sie das Lehrerinnenseminar an der Fuhlentwiete 34 besucht, sich 1913 für ein Studium der Fächer Geschichte, deutsche Literatur und Französisch an den Universitäten Heidelberg, München und Leipzig entschieden und im Oktober 1918 die Lehramtsprüfung für Höhere Schulen an der Universität Leipzig »mit Auszeichnung« bestanden. Seit dem 1. Oktober 1920 hatte sie eine Festanstellung im Volksschuldienst. Zum 1. Juni 1922 wurde sie an die Aufbauschule Hoheweide versetzt und mit der Verwaltung einer Oberlehrerstelle betraut, zum 28. September 1922 erfolgte dann

39  StA HH 131-12_D 23, Wilhelmine Paterna an OSB 26.11.1923. – Sie erhielt 1926 das Angebot, auf Tarifbasis in den Schuldienst zurückzukehren, da ein Lehrer freiwillig aus dem Dienst ausgeschieden war. Vgl. dazu StA HH 361-2 V 9 c.

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offiziell die Ernennung zur Oberlehrerin. Im Oktober 1920 hatte sie den Lehrer Heinrich Landahl geheiratet, mit dem sie seit 1914 verlobt war. Trotz ihrer langjährigen Erfahrung, ihrer sehr guten Zeugnisse und der hohen Qualifikation und trotz ihres Widerspruchs wurde sie sang- und klanglos zum 31. März 1924 entlassen. Als der Senat im November 1924 beschloss, dass den abgebauten Lehrerinnen doch eine Abfindung gezahlt werden sollte, schickte sie ihren Ehemann mit einer Vollmacht auf das Amt: Sie wollte die 500 Goldmark nicht selbst abholen. Das Schreiben formulierte sie ausdrücklich als Protestnote: Zugleich erkläre ich, daß ich damit (mit der Annahme des Geldes, S. K.) aber nicht meinen Abbau nachträglich anerkenne, sondern daß ich meinen Protest, wie er in meinem Schreiben an den Senat und die Oberschulbehörde seinerzeit niedergelegt ist, aufrechterhalte.40

In der Behörde wurde dieser Protest sehr genau als solcher wahrgenommen, und so ist in der Akte die Nachfrage des zuständigen Regierungsrats Henry Andreas Edens notiert, ob in solchen Fällen von Protest nicht doch »Bedenken gegen die Auszahlung der Abfindungssumme bestehen«, was dann aber Staatsrat Hey verneinte. Die Mehrzahl der gekündigten Lehrerinnen fand sich allerdings ohne weiteres in die Rolle der Bittstellerin ein und bestätigte mit ihren Formulierungen noch die Autorität der Behörden. Viele machten sich vom Wohlwollen der Behörde abhängig, indem sie »gehorsamst« und »ganz ergebenst« darum baten, doch noch wenigstens eine Weile weiter arbeiten zu dürfen.

6 Wer schreibt sonst noch? Unterstützende Argumente von außen Ein systematischer Blick in die Quellen zeigt, dass einige Frauen sehr ausführliche schriftliche Darstellungen vorgelegt hatten, aber eben nicht alle. Das Material als solches ist also durchaus heterogen. In einigen Fällen setzten die Betroffenen selbst sich kaum zur Wehr. Dafür versuchten allerdings andere Beteiligte umso intensiver bzw. auch unter Verweis auf einen institutionellen Hintergrund, im Interesse der Gekündigten zu handeln und Druck auf die Behörden auszuüben. Margarethe Behn z. B. musste gar nichts schreiben, das übernahm in dem Fall die OSB selbst unter Hinweis auf ihre Bedeutung als Lehrerin für lungenkranke

40  StA HH 361-3_A 0458 Personalakte Frieda Landahl, Vollmacht Frieda für Heinrich Landahl, 10.12.1924.

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Kinder an der Staatskrankenanstalt Langenhorn. In diesem Fall begründete sogar Kreisschulrat Gronemann höchstpersönlich und ausführlich, dass und warum Frau Behn auf dieser Stelle unersetzlich sei, denn man benötige hier »eine durchaus zuverlässige Lehrerin mit mütterlichem und sozialem Empfinden und mit großem unterrichtlichem Talent, die ihre pädagogische Stellung zu wahren und gleichzeitig den Forderungen der Anstalt taktvoll Rechnung zu tragen weiß.«41 Ersatz für sie zu finden, sei außerordentlich schwierig. Zudem könne man niemanden zwangsweise auf diesen Posten verpflichten, da dann »nicht die opferwillige Dienstfreudigkeit gesichert wäre, die allein den Erfolg in dieser exponierten Stellung gewährleistet.« Unterstützung erhielt die OSB durch den Direktor der Staatskrankenanstalt, Theodor Neuberger, der darauf verwies, dass Margarethe Behn seit dem 1. Januar 1920 die schulische Betreuung von täglich rund 128 lungenkranken Kindern übernommen und sich »mit regstem Eifer ihren Obliegenheiten gewidmet« habe.42 Frau Dora Peter, Lehrerin an der Knabenschule Kantstraße 14 in Eilbek mit elfjähriger Berufserfahrung, schrieb dagegen nur den ersten Brief selbst, um ihre familiären Verhältnisse offen zu legen. Dabei verwies sie in eher nüchtern gehaltenen Worten darauf, wie sehr die Kündigung ihren Unterhalt und ihre Lebensführung gefährden würde. Referenzpunkt für den Niedergang war die berufliche Tätigkeit ihres Mannes Karl Peter. Als Geschäftsführer der gemeinnützigen, von der Kulturbehörde anerkannten Deutsche-Dichter-Gedächtnis-Stiftung43 würde er schon seit Jahren auf eine angemessene Bezahlung verzichten, um stattdessen mit dem Geld das Personal der Stiftung zu finanzieren, weshalb eben »für mein Mitverdienen ein gewichtiger Grund vorliegt«.44 Die Situation sei so prekär, dass es bei ihrem Mann »nicht einmal mehr zur Bezahlung der auf dem täglichen Geschäftsweg abgenutzten Stiefelsohlen« reiche. Im weiteren Verlauf übernahm dann allerdings ihr Mann die Kommunikation mit den Behörden, bestehend aus seitenlangen maschinenschriftlichen Darstellungen und gedruckten Jahres-

41  StA HH 131-12_D 23, August Gronemann, OSB, an SKV, 20.3.1924. 42  StA HH 131-12_D 23, Direktor Theodor Neuberger an August Gronemann, OSB, 3.3.1924. 43  »Die Deutsche-Dichter-Gedächtnis-Stiftung war eine von Ernst Schultze 1901 in Hamburg gegründete Stiftung, die durch die Verbreitung von ›guter Literatur die breiten Massen‹ bilden wollte. In engem Zusammenhang mit der Bücherhallenbewegung stehend, versorgte sie besonders die ländlichen Büchereien, jedoch auch Krankenhaus-, Gefängnis- und Schulbibliotheken mit Literatur aus eigener und fremder Verlagsproduktion. Sie bestand bis 1928 und vertrieb in den 28 Jahren ihres Bestehens rund 5,5 Millionen Bücher, vor allem Klassikerausgaben und Heimatliteratur.« Günther Pflug: Deutsche-Dichter-Gedächtnis-Stiftung. In: Lexikon des gesamten Buchwesens Online. http://dx.doi.org/10.1163/9789004337862__COM_040308 (letzter Zugriff am 20.07.2023). 44  StA HH 131-12_D 23, Dora Peter an OSB, 29.12.1923.

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berichten, die die Finanznot der Stiftung darlegen und zugleich die Bedeutung seiner Tätigkeit unterstreichen sollten. Dabei wurde er drängend und emotional: »[W]ir verkennen die finanzielle Notlage des Staats nicht. Aber es geht für uns geradewegs um die Frage des Verhungerns.«45 Zentrales Argument seiner Schreiben war, dass man, würde man seine Frau in die Erwerbslosigkeit schicken, v. a. seiner Arbeit Schaden zufügen würde, die doch von nationaler Tragweite sei, da die Stiftung die Jugendbehörde und die Schulen im Kampf gegen »Schmutz und Schund« unterstützen würde.46 Eine Kündigung würde diese Arbeit grundlegend gefährden, denn weder für ihn noch für seine Frau käme ein Berufswechsel infrage, man werde älter und die Schwungkraft lasse nach, »man gerät dabei schließlich vor die Hunde!« Für eine andere Tätigkeit habe seine Frau auch keine Vorkenntnisse, »ihr liegt der Lehrberuf so sehr, dass sie in anderen Berufen stets sehr ins Hintertreffen geraten würde.« Sollte er allerdings gezwungen sein, sich um eine besser bezahlte Stellung kümmern müssen, so wäre das »für die Stiftung aller Berechnung nach der Tod!«47

7 Als verheiratete Lehrerin unentbehrlich: Argumente für den Verbleib Die Abbauverordnung sorgte in der organisierten Lehrerschaft ebenso wie unter den Eltern, die die Interessen und die Zukunft ihrer Kinder gefährdet sahen, für große Aufregung. Viele Schulen organisierten zusammen mit den Eltern Protestveranstaltungen, die sehr gut besucht waren.48 Unterstützung bekamen die Frauen deshalb auch ganz offiziell von Schulleitern, Lehrkörpern und Elternräten, die gegenüber der Behörde die Bedeutung und Unabkömmlichkeit ihres verheirateten weiblichen Lehrpersonals betonten. In diesen Fällen spielte das Argument der fehlenden wirtschaftlichen Versorgung der Frauen gar keine Rolle, sondern einzig und allein ihre besondere Qualifikation als Lehrkraft. So befürwortete F. Lorchmann, Leiter der Knabenschule am Louisenweg 152, im Namen

45  StA HH 131-12_D 23, Karl Peter an Adolf Bühl als Vertreter des zzt verreisten Senators Krause, 20.3.1924. 46  Vgl. dazu auch Kaspar Maase: Die Kinder der Massenkultur. Kontroversen um Schmutz und Schund seit dem Kaiserreich. Frankfurt am Main/New York: Campus 2012. 47  StA HH 131-12_D 23, Karl Peter an den Vorsitzenden der SKV, 13.3.1925. 48  Vgl. dazu den kurzen Bericht über 15 Versammlungen an Hamburgischen Schulen, an denen hunderte von Besuchern teilgenommen hätten. Gegen den drohenden Schulabbau. In: Hamburger Lehrerzeitung 2 (1923), Nr. 49, S. 634–635.

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des Kollegiums den Verbleib der 35-jährigen Lehrerin Rosa Behrenhoff. Wichtig war ihm, zu betonen, dass sie »als eine angenehme und pflichttreue Kollegin« bekannt sei, wichtiger noch war aber die Tatsache, dass es ihr innerhalb kurzer Zeit gelungen war, »die etwas gelockerte Disziplin ihrer Klasse zu stärken und ihre Schüler geistig gut zu fördern.«49 Alfred Kleeberg50 (1887–1957), Schulreformer und Rektor der ersten, 1922 in Hamburg eröffneten Aufbauschule in Deutschland, setzte sich bereits im November 1923 für den Verbleib der weiblichen Lehrkräfte seiner Reformschule ein. In seinen Schreiben an die Unterrichtsgesetzkommission der OSB machte er deutlich, wie wichtig die Lehrerinnen Frieda Landahl (1889–1972) und Dr. Wilhelmine Paterna (1891–??) für die Arbeit der Aufbauschule Hoheweide waren. Vor allem ihr »rastloses Aufgehen im Lehrerberuf« habe bewirkt, dass sie im Kollegium »als Wissenschaftler und fortschrittliche Erzieher [sic] wie auch als liebenswürdige, stets hilfsbereite Amtsgenossinnen«51 geschätzt wurden. Ihnen gehöre nicht nur »die volle Zuneigung ihrer Zöglinge, sondern auch der Elternschaft ihrer Klassen.« Dabei betonte er, welche Vorteile es gerade für die neue Schulform brachte, dass die beiden Frauen verheiratet waren: »Im Hinblick darauf, daß an der Aufbauschule Knaben und Mädchen unterrichtet werden, halten wir die verheiratete Frau als Lehrerin für geradezu unentbehrlich.«52 Damit nahm Kleeberg in dieser Frage bewusst eine andere Position ein als z. B. die Frauenrechtlerinnen Emmy Beckmann53 und Helene Lange, wobei letztere selbst durchaus Vorurteile gegenüber verheirateten berufstätigen Frauen hatte und »eine konstruktive Unterstützung bei der Reform der Mädchenbildung von der (unverheirateten) Lehrerin«54 erwartete.

49  StA HH 131-12_D 23, F. Lorchmann an Kreisschulrat Gronemann, 26.1.1925. 50  Hans-Peter de Lorent: Alfred Kleeberg. In: Ders.: Täterprofile. Die Verantwortlichen im Hamburger Bildungswesen unterm Hakenkreuz. Bd 3. Hamburg: Landeszentrale für politische Bildung 2019, S. 343–360. 51  StA HH 131-12_D 23, Alfred Kleeberg an Unterrichtsgesetzkommission der OSB, 23.11.1923. 52  StA HH 131-12_D 23, Alfred Kleeberg an Unterrichtsgesetzkommission der OSB, 23.11.1923. 53  Zur Debatte über die spezifischen Anforderungen und Qualitäten von ledigen bzw. verheirateten Lehrerinnen vgl. den Disput zwischen Emmy Beckmann und der Berliner Oberschulrätin Hildegard Wegscheider in der Zeitschrift Die Lehrerin, Organ des Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenvereins. Emmy Beckmann: Die »unverheiratete« Lehrerin. In: Die Lehrerin 39 (1922), Heft 5, S. 34–35. Hildegard Wegscheider: Die unverheiratete Lehrerin. In: Die Lehrerin 39 (1922), Heft 6, S. 42. Marie Fahland: Noch einmal »die unverheiratete Lehrerin«. In: Die Lehrerin 39 (1922), Heft 8, S. 57. Emmy Beckmann: Erwiderung. In: Die Lehrerin 39 (1922), Heft 8, S. 57–58. 54  Vgl. dazu Angelika Schaser: Helene Lange und Gertrud Bäumer. Eine politische Lebensgemeinschaft. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2. aktualisierte Aufl. 2010 (L’Homme Schriften, 6), S. 115.

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Während Frieda Landahl laut Kleeberg für das neue, als reformpädagogisch ausgewiesene Konzept der »Deutschkunde«55 verantwortlich war, war es Aufgabe Wilhelmine Paternas, das Konzept der Koedukation umzusetzen. Angesichts der Bedeutung der Aufbauschule für den Reformkurs in Hamburg setzte sich auch Schulsenator Emil Krause persönlich für den Verbleib Landahls und Paternas ein und versuchte, bei der SKV eine Verlängerung wenigstens bis zum 30. September 1924 zu erreichen. Dabei ging es ihm wohl weniger um die Situation der gekündigten Lehrerinnen selbst als vielmehr darum, mehr Zeit für die Suche nach Ersatz zu haben.56 Beide Frauen hatten allerdings keine Chance, der Kündigung durch die Behörde zu entgehen, da die Ehemänner Heinrich Landahl (1895–1971) und Dr. Wilhelm Paterna (1891–??) ebenfalls Lehrer waren – Landahl z. B. hatte sich Ende 1920 erfolgreich an der Realschule in Winterhude beworben, die ab 1921 unter dem Namen Lichtwark-Schule zu einer der bekanntesten Reformschulen Deutschlands avancierte.57 Auch hier griff die Regelung, dass die Frauen trotz ihrer langjährigen Berufspraxis und ihrer besonderen Qualifikation zugunsten ihrer Ehemänner zurückstehen mussten.

8 Unterschriftensammlung für eine »außergewöhnlich wertvolle Lehrerpersönlichkeit« Ein weiteres Beispiel zeigt die Bedeutung des zeitgenössischen neuen Konzepts der Schulgemeinschaft,58 das zentraler Bestandteil der Reformpädagogik war und den Zusammenhalt in der Schule als »Lebensstätte der Jugend«59 fördern

55  Vgl. dazu Elke Peters: Nationalistisch-völkische Bildungspolitik in der Weimarer Republik. Deutschkunde und höhere Schule in Preußen. Darmstadt: Beltz 1972; Friedrich Panzer: Deutschkunde als Mittelpunkt deutscher Erziehung. Frankfurt/M.: Diesterweg 1922 (Ziele und Wege der Deutschkunde, 1). 56  StA HH 131-12_D 23, Emil Krause, OSB, an die SKV, 12.3.1924. 57  StA HH 361-3_A 1395 Personalakte Heinrich Landahl. – Vgl. dazu u. a. Joachim Wendt: Die Lichtwark-Schule in Hamburg (1921–1937). Eine Stätte der Reform des höheren Schulwesens. Hamburg: Verein für Hamburgische Geschichte 2000 (Beiträge zur Geschichte Hamburgs, 57 und Hamburger Schriftenreihe zur Schul- und Unterrichtsgeschichte, 8). 58  Zur Geschichte dieses Konzepts vgl. Theodor Wilhelm: Theorie der Schulgemeinschaft. In: Ders.: Theorie der Schule. Hauptschule und Gymnasium im Zeitalter der Wissenschaften. Stuttgart: J.B. Metzler 1967, S. 429–446. 59  Reiner Lehberger: »Schule als Lebensstätte der Jugend«. Die Hamburger Versuchs- und Gemeinschaftsschulen in der Weimarer Republik. In: Amlung/Haubfleisch/Link/Schmitt: »Die alte Schule überwinden« 1993, S. 32–64.

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sollte.60 Die Luisenschule in Bergedorf, 1885 von Erna Martens und Mathilde Hipp als private Höhere Mädchenschule gegründet und seit 1921 staatliches Lyzeum, zeigte besonders intensiven Einsatz für den Verbleib der Zeichenlehrerin AnnaErika Gampp (1895–1967), die seit dem 1. April 1921 an dieser Schule unterrichtete. Mehrfach machten die Schulleiterin Helene Popkes, das Lehrerkollegium und der Elternrat schriftliche Eingaben bei der OSB und der Senatskommission. Dabei konzentrierten sich ihre Argumente auf Gampps Qualitäten als Lehrerin und ihre didaktischen Fähigkeiten, die sie zu »einer aussergewöhnlich wertvollen Lehrerpersönlichkeit«61 machten. Da sie selbst »schaffende Künstlerin« sei, habe sie »zugleich die Fähigkeit, in unseren Kindern die künstlerische Anlage zu wecken und zu fördern.« Hinzu komme der positive »erzieherische Einfluss dieser Persönlichkeit, der durch die Liebe und Verehrung, die alle unsere Kinder ihr entgegenbringen, in besonderem Maße wirksam ist.« In diesem Schreiben standen ganz deutlich die elterlichen Interessen an der Erziehung ihrer Kinder im Vordergrund, also inhaltliche bzw. emotionale Aspekte, die sie selbst beurteilen konnten. Durch eine rein schematische Befolgung der Abbauvorschriften, so das Argument der Eltern, würden eben »der Erziehung unserer Kinder unersetzliche Werte verloren gehen.« Zusammen mit der Schulleiterin bat der Elternrat offensiv um Besprechungstermine in der Behörde und untermauerte die Petition durch eine Liste mit Unterschriften der gesamten Elternschaft. Vermutlich hatte man den Kindern einen Zettel mitgegeben, auf dem an vorgedruckter Stelle der Ort für die »Unterschrift des Vaters« und die »Unterschrift der Mutter« gekennzeichnet war.62 Diese wurden ausgeschnitten und als einzelne Schnipsel zuerst auf Papierseiten aufgeklebt, und dann wurden diese Papierseiten an der Längsseite miteinander verbunden. Auf diese Weise entstand ein Papierstreifen von knapp zwei Metern Länge mit über 600 Unterschriften. Die finanzielle Lage der Gampps spielte in all diesen Briefen und Eingaben keine Rolle. Erst in einem Schreiben vom Dezember 1924, das ein weiteres Mal für die grundsätzliche Aufhebung der Kündigung plädierte und die Dringlichkeit

60  Vgl. das »Fräulein Schlünz« als Anhängerin der »neuen Methode« und Liebling des Schulrats in Kempowski: Schöne Aussicht 1981, S. 233–234. 61  StA HH 131-12_D 23, Die Eltern des staatlichen Lyzeums »Luisenschule« in Bergedorf an die SKV, 19.6.1924. 62  Vgl. dazu den Aufruf des Deutschen Lehrervereins an die Hamburger Elternschaft, eine Unterschriftenaktion gegen den Personalabbau in den Schulen zu organisieren: »Gebt eure Unterschrift den Listen, die Euch die Lehrer Eurer Kinder vorlegen! Jeder Vater und jede Mutter, jeder Vormund, jeder Wahlberechtigte helfe mit, durch seine Unterschrift die Kinder zu schützen.« In: Hamburger Lehrerzeitung 2 (1923), Nr. 51/52, S. 662.

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der Situation unterstreichen sollte, nahm das Kollegium Bezug auf die wirtschaftliche Lage Anna-Erika Gampps, die bei einer eventuellen Entlassung »durchaus ungesichert« sei. In diesem Zusammenhang tauchen dann auch Zahlen auf: Laut Aktenvermerk hatte der Ehemann Josua Leander Gampp63 (1889–1969), selbst auch Künstler, Buchillustrator und nach 1933 dann Professor für Holzschnitt an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe, im Jahr 1924 rund 260 Mark im Monat verdient, von denen er »allerdings auch seine in sehr bescheidenen Verhältnissen lebenden Eltern im Schwarzwald zu unterstützen hat.«

9 »Von meinem kleinen Gehalt muß der ganze Haushalt bestritten werden.« Familien in Not In allen anderen Fällen waren die Frauen mit der Aufgabe einer schlüssigen Argumentation ganz auf sich allein gestellt. Dabei standen in erster Linie die Notsituation der Familie im Mittelpunkt und die Tatsache, dass der Mann arbeitslos, erwerbsunfähig oder in Ausbildung war. In den meisten Fällen verwiesen diese Frauen auf die schlechte Wirtschaftslage als Auslöser für die berufliche Situation des Mannes und die schon bestehende Arbeitslosigkeit, wie im Fall von Alwine Beyer, Lehrerin an der Volksschule Ausschläger Weg. Ihr Gesuch um Verschiebung der Kündigung bis zum September 1924 war bereits einmal akzeptiert worden. Im August 1924 beantragte sie einen weiteren Aufschub: Mein Mann, der bis zum 31.1.1924 beim Stadtbauamt in Wandsbek tätig war, hat bis heute trotz angestrengter Bemühungen noch keine Stellung wieder erlangen können. Die wirtschaftliche Lage des Baugewerbes gibt auch keine Aussicht, daß in absehbarer Zeit eine Besserung eintreten wird […]. Auch in anderen Berufen ist ein Unterkommen zur Zeit aussichtlos, da auch hier vorläufig noch immer abgebaut wird.64

Im Februar 1925 formulierte sie ein weiteres Gesuch an die Senatskommission mit der Bitte um ihre Weiterbeschäftigung über den 31. März 1925 hinaus: »Die

63  Josua Leander Gampp hatte sich nach dem Krieg in Bergedorf niedergelassen. 1920 hatten er und Anna-Erika Rautenberg geheiratet. Gampp war Mitglied im Hamburger Künstler-Verein von 1832. Zu seiner Person vgl. Josua Leander Gampp. In: Wikipedia, Josua Leander Gampp, https://de.wikipedia.org/wiki/Josua_Leander_Gampp (letzter Zugriff am 20.07.2023). Sowie in: LEOBW, Jusua Leander Gampp, https://www.leo-bw.de/detail/-/Detail/details/PERSON/kgl_biographien/ 118537458/Gampp+Josua+Leander (letzter Zugriff am 20.07.2023). 64  StA HH 131-12_D 23, Gesuch der Lehrerin Alwine Beyer, geb. Rolff, an die OSB um Aufhebung der Kündigung, 25.8.1924.

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Lage des Arbeitsmarktes für technische Angestellte hat sich in der letzten Zeit noch verschlechtert, so daß aller Voraussetzung [sic] nach sich sobald keine Gelegenheit bieten wird, daß mein Mann Stellung erhält.«65 Als weiteres Argument kam nun dazu, »daß ich auch ein Kind habe«, weshalb sie darum bat, »infolge meiner bedrängten wirtschaftlichen Lage, meinem Gesuch stattzugeben.« In einigen Fällen hatten die Männer zwar Arbeit bzw. führten wie der Lüneburger Glasermeister Ernst Stegen selbständig ein Geschäft. Aufgrund der fehlenden Nachfrage generierten sie daraus allerdings kaum Einnahmen. Im Falle der Glaserei warf der Handwerksbetrieb nicht genügend ab, da es in der Wirtschaftskrise keine größeren Bauaufträge gab, sondern nur Gelegenheit zu Reparaturarbeiten. Zur Bestätigung reichte Stegens Frau Mathilde eine Bescheinigung des Handwerksamts Lüneburg ein sowie eine Steuerquittung für das Jahr 1923 über 1,80 Mark inklusive der Mahngebühren. Dabei waren noch die 83-jährige Schwiegermutter und zwei arbeitslose Stiefsöhne mit ihren Ehefrauen auf Unterstützung angewiesen: »Von meinem kleinen Gehalt muß der ganze Haushalt bestritten werden.«66 Ähnlich erging es Rosa Behrenhoff. Ihr Mann war Nähmaschinen-Mechaniker und sollte die Firma des Vaters übernehmen. Der Laden in der Barmbeckerstraße  152, so bestätigte auch Gronemann in seinem Kommentar, sei allerdings durch die nachlässige Betriebsführung des alten Vaters sehr heruntergewirtschaftet. Auch war die Nachfrage seit dem Krieg stark zurückgegangen, und es erwies sich als fast unmöglich, mit den Einnahmen einen Acht-Personen-Haushalt zu unterhalten: »Unsere wirtschaftliche Lage ist so, daß mein Gehalt unsere einzige Einnahmequelle ist.«67 In der Not habe sie sich bereits gezwungen gesehen, den nach dem Krieg mühsam ersparten Hausrat wie z. B. ihre Esszimmereinrichtung wieder zu verkaufen. Mit ihrem Verdienst wolle sie daher »gern die sehr geringe Einnahme erhöhen.« Sollte sie allerdings gekündigt werden, würde die gesamte Familie »einfach vor dem Nichts stehen.« Nicht nur die Finanz- und Wirtschaftskrise belastete die Familien. Die Akten machen auch deutlich, dass die Frauen die Lasten der jüngsten Vergangenheit mittrugen. In einer ganzen Reihe von Familien waren die Männer körperlich und psychisch geschädigt aus dem Ersten Weltkrieg bzw. aus mehrjähriger englischer und französischer Kriegsgefangenschaft zurückgekommen.68 Aufgrund körperlicher

65  StA HH 131-12_D 23, Gesuch Alwine Beyer, 11.2.1925. 66  StA HH 131-12_D 23, Mathilde Stegen an die OSB, 29.12.1923. 67  StA HH 131-12_D 23, Rosa Behrenhoff, Gesuch um Belassung im Schuldienst nach dem 31.3.1924, 3.3.1924. 68  Das gilt auch für die Familie Kempowski in Schöne Aussicht. Vgl. z. B. den Ehekrach wegen Karl

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Einschränkungen durch Magen- und Ohrenleiden resp. Schwerhörigkeit waren sie nicht voll erwerbsfähig, was jeweils auch durch ärztliche Atteste bestätigt wurde. Annie Bötel, deren Mann Ferdinand Bötel als kriegsversehrter beinamputierter Dreher wenig verdiente, darüber hinaus aber die Arbeit im Stehen an den Maschinen kaum aushielt und krank wurde, beschrieb die Situation, dass ihr Mann vollständig von ihr abhängig war. Das wenige Geld, das er verdiente, »reicht kaum aus, die Mehrausgaben eines Schwerkriegsbeschädigten gegenüber Gesunden an Wäsche, Kleidung, Fußzeug und Fahrgeld zu decken«. Von daher wären sie auf ihren Verdienst als Lehrerin angewiesen: »Mit diesem Lohn wäre er nie in der Lage gewesen, seinem Körper die Pflege zukommen zu lassen, die er so dringend nötig hat – geschweige denn, eine Familie zu ernähren.«69 Darüber hinaus aber sorgten die berufstätigen Frauen mit ihrem Verdienst auch für eine Investition in die Zukunft. So finanzierten viele Lehrerinnen nach dem Krieg durch ihre konstanten Einkünfte als Beamtinnen ihren Ehemännern das Studium, das der Familie den sozialen Aufstieg ermöglichen sollte, oder, wie im Fall von Anna Seifert, die Neuanschaffung einer kompletten seemännischen Offiziersausrüstung samt Tropenwäsche und einem Sextanten, der allein schon 200 Mark kostete, damit ihr Mann bei der Reederei Hugo Stinnes als 3. Offizier anheuern konnte.70 Neben einem Arzt, der während seines Praktikums nichts verdiente, und einem Zahnarzt, der zu Beginn seiner Selbständigkeit alles vorhandene Kapital in den Aufbau und die Ausstattung der Praxis stecken musste, begannen auch einige Männer mit dem Studium der Volkswirtschaft an der Universität Hamburg.71 Als Sonderfall wurden jene acht Frauen genannt und als eigenständige Gruppe zusammengefasst, deren Männer bildende Künstler – Bildhauer, Graphiker und Kunstmaler – bzw. auch Schriftsteller waren und in ihrem Beruf kaum bis gar nichts verdienten. Während die Behörde angesichts der drohenden Arbeitslosigkeit und betriebsbedingten Kündigungen von abhängig beschäftigten Ehegatten noch Verständnis für die familiäre Situation aufbrachte, sah die

Kempowskis unauffindbaren Eisernen Kreuzes (Kempowski: Schöne Aussicht 1981, S. 112). 69  StA HH 131-12_D 23, Annie Bötel an die Senatskommission für die Verwaltungsreform, 21.2.1924. 70  StA HH 131-12_D 23, Gesuch der Lehrerin Anna Seifert um weitere Tätigkeit im Schuldienst, 21.8.1924. 71  Charlotte Haases Ehemann musste seine Stellung als Geschäftsführer der Hamburger Studentenhilfe e. V. »wegen Einschränkung des Betriebes« im Dezember 1923 aufgeben. Er studierte dann Volkswirtschaft mit dem ausdrücklichen Ziel, eine Stelle als Syndikus der Firma Ernesto Kocherthaler in Madrid anzutreten. StA HH 131-12_D 23, Gesuch Charlotte Haase, betreffend weiteres Verbleiben im Amt, 22.8.1924.

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Senatskommission zu einer »grundsätzlichen Sonderbehandlung von KünstlerEhefrauen […] keinen Anlaß«. Übergangsschwierigkeiten sollten zwar berücksichtigt werden können, aber: Wenn ein Künstler auf ausreichenden eigenen Erwerb in absehbarer Zeit nicht rechnen zu können glaubt, so muß er gleich vielen anderen zu einer Berufsumstellung schreiten oder sich mindestens um einen Nebenerwerb bemühen.72

Auch hier ist eine hohe Identifikation der Ehefrauen mit dem Beruf ihrer Künstler-Ehemänner festzustellen. So machte Margaretha Spanier (1895–1961) keinen Hehl daraus, warum sie 1920 den Kunstmaler Will Spanier (1894–1957) geheiratet hatte: Ich möchte hier auf mein erstes Gesuch hinweisen, in dem ich sagte, daß ich meine Ehe nur unter der Voraussetzung einging, im Amte zu bleiben, um damit meinem Manne eine ungehinderte künstlerische Entwicklung zu sichern.73

Dabei nahm sie auch in Kauf, dass sie auf Dauer »keinen eigenen Haushalt« hatte und die Familie in Untermiete leben musste. Eine Tatsache, die auch andere verheiratete Lehrerinnen als sehr kränkend erlebten.74

10 »Die Heirat bietet uns nun manche Erleichterung«. Gründe für die Eheschließung Ein zentrales Bindeglied zwischen den Lebensgeschichten der hier vorgestellten Lehrerinnen war also neben der Kündigung die reale Notsituation ihrer Familien, die auf ihr Einkommen angewiesen waren. Da erscheint es fast nebensächlich, dass sie ein weiteres Spezifikum miteinander verband: Die schlichte Tatsache nämlich, dass sie verheiratet waren. Auf der einen Seite war das überhaupt die Begründung dafür, dass der Staat ihnen kündigte. Darauf verweist indirekt die Tatsache, dass jene Lehrerinnen, die sich nach 1923 scheiden ließen – vorausgesetzt, sie waren

72  StA HH 131-12_D 23, Struve, SKV, Mitteilung an OSB, 26.2.1924. 73  StA HH 131-12_D 23, Margaretha Spanier, Gesuch an die OSB um weiteres Verbleiben im Amte, 7.2.1925. 74  StA HH 131-12_ D 23, In Sachen der verheirateten Lehrerin: Gertrud Sasse, geb. Probst. – Sie drückte ihre Enttäuschung aus, dass sie auch zwei Jahre nach der Heirat mit Mitte 40 trotz ihres guten Gehalts immer noch möbliert »bei fremden Leuten« wohnen »und beinahe jeden Monat höhere Miete« zahlen müssten, 27.1.1925.

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schuldlos geschieden – umgehend wieder in den Schuldienst zurückkehren durften.75 Was also ist daran andererseits so bemerkenswert, denn schließlich hatten die Frauen mit der Entscheidung für eine Ehe, wie es in einem Zeitungsbeitrag hieß, nur »von dem natürlichsten Rechte eines Menschen Gebrauch«76 gemacht? Auffällig ist eben die Tatsache, dass fast alle Antragstellerinnen in den Jahren zwischen 1919 und 1923 geheiratet hatten, und zwar sowohl die jüngeren Frauen, die zu dem Zeitpunkt alle schon Ende 20 bis Mitte 30 waren, als auch die älteren Frauen wie Emma Baack, Jahrgang 1868, oder Adeline Englert, Jahrgang 1870. Eine Ausnahme war allein Martha Lüders, Lehrerin an der Hilfsschule für Mädchen Bülaustraße 38. Sie war liiert mit Friedrich Traulsen, Student der Volkswirtschaft an der Universität Hamburg, und die beiden entschieden gegen alle Vernunft und Logik der Zeit, dass sie sogar noch 1924 heiraten wollten. Dabei nahm sie offensichtlich das Risiko, sofort gekündigt zu werden, bewusst in Kauf. In ihrem Gesuch um »Hinausschiebung der Kündigung« nannte sie nicht nur selbstbewusst den Zeitraum – sie beantragte eine Frist von einem Jahr – sondern lieferte auch gleich die Begründung. Ihr Mann werde bis Ende 1925 mit dem Studium und der Doktorprüfung fertig sein, und solange werde sie mit ihrem Gehalt »unser beider Unterhalt und die Kosten des Studiums bestreiten, da mein Mann von seinem Vater keinerlei Unterstützung mehr erwarten kann.« Die Ehe war also eine logisch-rationale Entscheidung, um einen gemeinsamen Haushalt führen zu können und Geld zu sparen: »Die Heirat bietet uns nun manche Erleichterung, da die Kosten für Miete und Mittagstisch u. dergl. für meinen Mann teils fortfallen, teils sich verbilligen.«77 Auch in diesem Fall befürwortete Kreisschulrat Gronemann den Aufschub, der am Ende sogar bis zum 1. April 1926 gewährt wurde. Ob sie danach doch noch weiter im Dienst blieb, weil Friedrich Traulsen nach der Publikation seiner Dissertation als wissenschaftlicher Assistent am Seminar für Soziologie arbeitete, aber, wie damals üblich, für seine Arbeit vermutlich nicht bezahlt wurde, ließ sich nicht klären. Nicht alle Frauen handelten so zielstrebig und durchdacht. Clara Schnellbügel, Lehrerin an der Volksschule Humboldtstraße 85 und seit 1914 im Schuldienst, gab zu, in einer Art Kurzschlussreaktion geheiratet zu haben. Ihr Mann, der Schlossergeselle Hugo Schnellbügel, war erst im Februar 1920 aus mehrjähriger französischer Kriegsgefangenschaft nach Hause zurückgekehrt. Eigentlich wollten

75  Vgl. dazu die Scheidungsfälle Martha Schröder, Klara Weidemann, Frida Herrmann, Clara Schnellbügel, Magda Walberer, Erna Schnoor und Margarethe Siems. StA HH 131-12_D 23. 76  So die Argumentation bei Meyer: Der Vertragsbruch des Staates 1923, S. 663. 77  StA HH 131-12_D 23, Gesuch der Lehrerin Martha Traulsen, geb. Lüders um Hinausschiebung der Kündigung um 1 Jahr, 12.12.1924.

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die beiden mit der Heirat wohl noch warten, Hugo hatte den Plan, eine Fachschule zu besuchen und sich weiter zu qualifizieren, aber »als 1921 das Gerücht auftauchte, daß verheiratete Lehrerinnen nach dem 1. April nicht mehr angestellt würden, heiratete ich.« Als sie begriffen hatte, dass das genau die falsche Entscheidung sein würde, war es zu spät: Sie hatte umgehend die Kündigung erhalten, und da Schnellbügel zu dem Zeitpunkt genügend verdiente, war sie auch wirklich zum 31. März 1924 entlassen worden. Die Familie geriet so sehr in Not, dass sie ihre finanziellen Verhältnisse schonungslos offenlegte: Sie hatten bereits Schulden, und für den bloßen Lebensunterhalt sei so wenig geblieben, »daß ich für mein 2¼-jähriges Kind nicht einmal Milch kaufen konnte.« Sie wurde unter Aufrechterhaltung der Kündigung wiedereingestellt und bekam Aufschub bis zum 31. März 1925. Was dann zwischen den Eheleuten vorfiel, ist nicht in den Akten vermerkt, aber sie hatte angesichts der Situation im September 1924 die Scheidung von Schnellbügel beantragt, woraufhin die Kündigung ganz zurückgenommen wurde.78 Eine Erklärung für die Vielzahl der Heiraten in den Jahren nach 1919 ist sicherlich der zeitliche Aufschub durch die Kriegsjahre. Viele Paare kannten sich vermutlich schon vorher oder waren auch schon vorher liiert, wie Frieda Schade und Heinrich Landahl, die die Studienjahre in München und Leipzig miteinander verbracht hatten, aber erst am 2. Oktober 1920 in Hamburg heirateten, also genau einen Tag nach ihrer Festanstellung im Hamburger Schuldienst.79 Während Heinrich selbstbewusst bei der Behörde um Urlaub für die Hochzeitsreise einkam, wartete Frieda bis Ende Oktober 1920, bis sie die Tatsache ihrer Verheiratung offiziell zur Kenntnis gab. Er hatte wegen dieser Entscheidung nichts zu befürchten, aber der Kommentar in ihrer Personalakte: »Frau Landahl bleibt vorläufig im Amt« verweist doch darauf, dass hier ein Risiko bestand bzw. dass weiterhin erwartet wurde, dass verbeamtete Lehrerinnen nach einer Verheiratung aus dem Dienst schieden, um sich um die Familie zu kümmern. In vielen anderen Fällen ermöglichte erst die Rückkehr der Männer aus dem Krieg einen Neubeginn, und die Aussicht auf ruhigere Zeiten ermutigte viele Paare zu einer Eheschließung. Zu vermuten ist aber auch, dass diese Entscheidung zurückzuführen war auf die neue Weimarer Verfassung und das Versprechen, dass mit der neuen Rechtslage die Idee der Gleichberechtigung durchgesetzt und die

78  StA HH 131-12_D 23, Clara Schnellbügel, Gesuch um Belassung im Dienst über den 31. März hinaus, 12.2.1925. 79  StA HH 361-3_A 0458, Urkunde zur Festanstellung im Volksschuldienst Hansestadt Hamburg, 1.10.1920.

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früher bestehenden Nachteile für verheiratete Beamtinnen komplett abgeschafft werden sollten. So hatten sie die Entscheidung für eine Eheschließung getroffen im Vertrauen in diesen Staat und in dem Glauben, dass eine Heirat ihrer Berufstätigkeit nicht schaden werde. Umso größer waren die Enttäuschung und auch die Wut darüber, dass nun doch, wie es hieß: Treue nicht mit Treue vergolten wurde.80

11 Schluss Mit Artikel 14 der Personal-Abbau-Verordnung des Reiches hatte der Staat die Kündigung der verheirateten Lehrerinnen verfügt. Mit Blick auf deren schnelle Umsetzung wurde von Seiten der Lehrerschaft schon 1923 die Vermutung geäußert, dass Hamburg in dem Bestreben, »die mündige berufstätige Frau aus dem Erwerbsleben zu drängen«, besonders eifrig war.81 Harsche Kritik an den behördlichen Entscheidungen äußerte dann ein Artikel über den »Schulabbau in Hamburg« im Hamburger Fremdenblatt vom 9. Juli 1924. Der Autor stellte fest, dass die Abbauverordnung an den Hamburger Schulen ein »Trümmerfeld« hinterlassen habe, und nannte Zahlen, ohne hier allerdings speziell auf die besondere Situation der verheirateten Lehrerinnen einzugehen. 1928 erinnerte dann der Senat mit einer Denkschrift an das düstere Kapitel Personalabbau und die »Behandlung der abgebauten verheirateten weiblichen Beamten«.82 Hier stellte Staatsrat Arnold Schultz (1879–1958) fest, dass die Reichsverordnung samt Prüfung der wirtschaftlichen Versorgung in der Hansestadt doch »sehr entgegenkommend« ausgeführt worden sei, und wies den Vorwurf zurück, dass es hier zu besonderen Härten gekommen war. Man habe zwar 160 verheirateten Lehrerinnen gekündigt. Davon seien aber 22 inzwischen wiedereingestellt worden, weitere 86 hätten den Wunsch dazu geäußert, ohne dass das bisher hätte umgesetzt werden können.83 Das »ideelle Unrecht« an den

80  StA HH 131-12_23, Hedwig Homfeldt verwies darauf, dass sie 1919 den »Treueeid in einem Treueverhältnis zum Staate« geleistet habe, das wiederum »auch diesen zur Treue verpflichtet.« 30.12.1923. 81  Vgl. den namentlich nicht gekennzeichneten Kurzbeitrag in der Rubrik »Schulpolitische Umschau«: Kündigung. In: Hamburger Lehrerzeitung 2 (1923), Nr. 51/52, S. 662. 82  StA HH 131-12_D 23, Staatsrat Schultz, Denkschrift, betreffend Behandlung der abgebauten verheirateten weiblichen Beamten, 1.4.1928. 83  1925 hatte Krause darüber informiert, dass in der OSB eine Liste im Amtszimmer 49 ausliege, in der sich diejenigen der abgebauten Lehrerinnen eintragen könnten, »die noch auf eine Wiederverwendung im Schuldienst Wert legten.« Eine Gewähr dafür gäbe es aber nicht. StA HH 131-12_D 23, Mitteilung Emil Krause, 18.3.1925.

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Frauen, das u. a. die Bürgerschaft und der bürgerschaftliche Beamtenausschuss monierten, könne man von Seiten des Senats und der Justizverwaltung ebenso wenig erkennen wie eine materielle Schädigung. Es gebe auch keinen Anlass, die entlassenen Frauen noch nachträglich den ebenfalls abgebauten männlichen Lehrern gleichzustellen, was Rente und Ruhegehalt angehe. Schließlich seien den Frauen »Gnadenrenten« in Höhe von 50 Prozent der erworbenen Rentenhöhe zuerkannt worden. Mehr werde der Staat trotz des Antrags der Bürgerschaft, »die den verheirateten Lehrerinnen durch die Personalabbauverordnung zugefügte materielle Schädigung zu beseitigen«, nicht für sie tun. Das Aktenmaterial macht allerdings deutlich, dass hier durchaus Möglichkeiten bestanden, die Verordnung zu umgehen bzw. auszuhebeln, und z. T. war auch die Verwaltung selbst daran beteiligt: Kreisschulrat Gronemann tat sehr viel, um die Betroffenen bei ihren Gesuchen zu unterstützen, und er war wohl auch dafür verantwortlich, dass viele Kündigungen nicht umgesetzt wurden. Dies ist u.a. für 32 Lehrerinnen nachweisbar, deren Entlassung bis zum 31. März 1926 oder sonst auch »auf unbestimmte Zeit« verschoben wurde, bis dann die Abbau-Verordnung ganz auslief. Viele Frauen nutzten die Chance des Widerspruchs und kämpften hartnäckig, wenn auch nicht um ihr verfassungsmäßig verbrieftes Recht, so doch angesichts der Notsituation um das Überleben ihrer Familien. Was nach dem Auslaufen der Abbau-Verordnung mit den verheirateten Lehrerinnen passierte, lässt sich allerdings nicht nachverfolgen. Sie verschwinden aus den Akten. Nur eine Personalakte aus der Gruppe der gekündigten Lehrerinnen ist im Archiv auffindbar: Die Akte Frieda Landahls.84 Während ihr Ehemann Heinrich als Reformpädagoge an der Lichtwark-Schule als deren letzter demokratisch gewählter Schulleiter in die Geschichte einging und nach dem Krieg als reformorientierter Hamburger Schulsenator weiterwirkte, fand ihre weitere berufliche Karriere nach ihrer Entlassung 1924 als Vertretungslehrerin an diversen Hamburger Privatschulen statt. So unterrichtete sie am Lyzeum von Dr. Jakob Loewenberg in der Johnsallee 33 bis zur Auflösung der Schule 1931 das Fach Geschichte, 1927/1928 übernahm sie an der Milberg-Realschule Lateinkurse. An der Klosterschule wurde sie als Vertretung zwischen den Pfingst- und Sommerferien mit sieben Stunden Deutsch eingesetzt; bei Ria Wirth, einer Realschule für Mädchen am Mittelweg 90, unterrichtete sie 1931 acht Stunden Englisch in der Sexta, und von 1934 bis 1936 an der Paulsenstiftschule, Bülaustraße 20, noch die Fächer Latein und Englisch. Dann endete auf Geheiß eines namentlich nicht identifizierbaren nationalsozialistischen Oberschulrats endgültig ihre Zeit als Lehrerin.

84  StA HH 361-3_A 0458 Personalakte Frieda Landahl.

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Aus ganz anderen Gründen lässt sich das Leben einer anderen Lehrerin nachverfolgen. Thea Kippenberger folgte ihrem Mann nach dessen Abtauchen in die Illegalität erst nach Berlin in den Untergrund, dann nach Moskau. Hans Kippenberger wurde 1937 im Zuge der stalinistischen Säuberungen liquidiert, sie starb 1939 in Sibirien. Das Kapitel der Doppelverdiener-Kampagnen war noch lange nicht abgeschlossen: Auch nach 1928 standen verheiratete Lehrerinnen erneut vor dem Problem, wegen ihres Familienstandes die Kündigung zu bekommen. Im Nationalsozialismus war das dann ohnehin Usus. Und nach 1945 ging es trotz der im Grundgesetz verankerten gleichen Rechte von Männern und Frauen wieder von vorne los.85 Die selbst gewählte Berufstätigkeit von Frauen stand auch hier in der Kritik und wurde erneut angefeindet, besonders auffällig war das im öffentlichen Dienst.

85  Vgl. dazu Jellinek/Caemmerer/Grewe: Zur Gleichberechtigung der Geschlechter im Beamtenrecht 1950/51, S. 137–164.

Die Personal-Abbau-Verordnung von 1923 

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Lutz Hagestedt/Carolin Krüger/Katrin Möller-Funck/Stephan Lesker

Der »Herr Lehrer« und seine Schüler – von Lars Lohrisch ins Bild gesetzt

Der Name Lohrisch hat Klang, besonders in Bremen und Umgebung, allerspätestens seit 2022 aber auch in Rostock. Auf der Suche nach einem geeigneten Titelbild für das neu gegründete Kempowski-Jahrbuch konsultierten wir seinerzeit auch den Bildband Kempowski der Schulmeister. Fotograf Lars Lohrisch hatte Kempowski ein Jahr lang in seinem Lehreralltag in der Mittelpunktschule Zeven begleitet. Er erinnert sich an einen fensterlosen Unterrichtsraum im Keller, der für die Arbeit eines Fotografen zwar nicht ideal ist, den sich Kempowski aber ganz bewusst ausgesucht hat, weil er hier ungestört von den Kollegen unterrichten konnte.1 Ebenso jedoch erinnert Lohrisch sich an die pädagogische Arbeit Kempowskis, die ihm einerseits schon damals aus der Mode gekommen schien, andererseits aber ihre positive Wirkung auf die Kinder nicht verfehlte.2 In Lohrischs Fotos ist diese Wirkung greifbar. Die Kinder scharen sich um ihren Lehrer, folgen ihm manchmal skeptisch, oft aber mit Freude. Kempowski wiederum ist den Schulanfängern zugewandt, bindet ihnen die Schuhe, richtet ihre Kleidung, schaut in ihre Federmäppchen, spricht mit ihnen auf Augenhöhe.3 Aber auch den »Herrn Lehrer« hat Lohrisch eingefangen: Adrett gekleidet und mit Glöckchen als sanftem Signalgeber, der den Beginn des Unterrichts anzeigt und im allseitigen Gewusel für das Eintreten von Ordnung sorgt, denn: »Ordnung muss sein.«4 Auch nach Unterrichtsbeginn sorgt die Tischglocke dafür, dass diese Ordnung nicht zum Chaos wird. Ohne jedwede Regelungen geht es eben doch nicht – und das hat Lohrisch meisterhaft ins Bild gesetzt. Der Lehrer ist zwar nahbar, bleibt aber eine Person, der man Respekt zollt und die diesen Respekt – schon durch ihr Kleidungsverhalten – zwar nicht direkt einfordert, aber doch evoziert: auch eine Form kempowskiesker Selbstinszenierung die durch die Kameralinse virtuos eingefangen wurde. Aber nicht nur das: Auch die Wirkung, die der Lehrer auf seine Schüler hatte, wird in den Fotografien spürbar, besonders in einer Fotoserie, die

1  Vgl. dazu den Beitrag von Carolin Krüger und Stephan Lesker in diesem Band. 2  Vgl. dazu den Beitrag von Lars Lohrisch im letzten Jahrbuch: Ein erfahrener Regisseur. Aus der Erinnerung von Lars Lohrisch. In: Kempowski-Jahrbuch 1 (2022), S. 179–180. 3  Vgl. die Fotostrecke in: Kempowski der Schulmeister. Beschrieben von Michael Neumann. Fotografiert von Lars Lohrisch. Geleitwort von Werner Remmers. Nachwort Richard Meier. Braunschweig: Westermann 1980, S. 10–11, 14–15 und 16–17. 4  Kempowski der Schulmeister 1980, S. 19. https://doi.org/10.1515/9783111330938-013

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 Der »Herr Lehrer« und seine Schüler – von Lars Lohrisch ins Bild gesetzt

mit dem Titel »Zusehen, wie in den Köpfen die Erkenntnis wächst« überschrieben ist.5 Aber Erkenntnis? Kann man die überhaupt wachsen sehen? Wenn nicht, so sieht man in den Gesichtern der Abgebildeten doch zweierlei: Staunen und Interesse. Effekte, die Kempowskis Unterricht hervorrufen sollte, damit den Kindern der Lernstoff nicht von oben herab eingetrichtert werden muss, sondern damit sie sich aus eigenem Antrieb mit ihm beschäftigen. Es entspricht Kempowskis Pädagogik, dasjenige in seinen Unterricht zu integrieren, was seine Schützlinge gerade bewegt. Zu diesem Zwecke gab es das allmorgendliche Erzählen. Aus dem, was die Schüler berichteten, baute der Lehrer seinen Unterricht. Ein Fotograf in der Klasse, der Schüler und Lehrer fotografiert – heute wäre das ein Störfaktor. Man erinnere sich nur an seine eigene Schulzeit: Schon das alljährliche Klassenfoto führte meist zu Ausnahmezuständen. Die Aufregung, die ein solcher Ausbruch aus dem Schulalltag ermöglichte, ergriff eine Vielzahl der Schüler. Auch in Kempowskis Klasse wird Fotograf Lohrisch eine – wenigstens für die Schüler – sehr willkommene Abwechslung gewesen sein, die der Lehrer aber geschickt in seinen Unterricht einbaute, indem er daraus eine Tafelgeschichte machte: »Der Fotograf ist da. Er macht 100 Bilder.«6 (Abb. 1) Natürlich hat »der Fotograf« mehr als hundertfach den Auslöser betätigt. Über zweihundert Bilder sind allein in das Schulmeister-Buch eingegangen. Als wir Lars Lohrisch kontaktierten und ihn um weitere Fotos baten, antwortete er prompt und schickte uns wunderbare unveröffentlichte Ablichtungen. Eine davon zeigt Kempowski vor seiner Tafel, den Blick zu seinen Schülern gerichtet, die Hände in nachdenklicher Aufmerksamkeit verschränkt – Kempowski von seiner besten Seite. (Abb. 2) Dieses Foto wählten wir als Coverillustration aus. Der Münchner Künstler Bernhard Springer schuf nach dieser Aufnahme mit Acryl und Sprühlack auf Wellpappe und Leinwand das Gemälde Im Kreidestaub, das – in Warhols Manier jeweils leicht abgewandelt – fortan unser Jahrbuch zieren wird. Kempowski der Schulmeister und Schöne Aussicht sind zeitgleich entstanden und etwa zeitgleich publiziert worden. Spürbar wird dies darin, dass die Bilder von Lars Lohrisch Kempowski zu sprachlichen Bildern angeregt haben. Da ist beispielsweise der Empfang der Erstklässler, die den Lehrer »umtrauben«,7 so wie der Auftrieb der Mütter, »die sich am ersten Schultag vor seiner Tür drängen«.8 Er schiebt sie beiseite, denn »er will zu den Kindern, die in der dunklen Klasse

5  Kempowski der Schulmeister 1980, S. 54–55. 6  Kempowski der Schulmeister 1980, S. 60–61. – Michael Neumann schreibt zu Kempowskis Unterrichtspraxis: »Eine Schule, die Spaß macht, etwas lehren, das die Kinder unmittelbar angeht – darauf legt es dieser Lehrer jeden Tag wieder an.« (Kempowski der Schulmeister 1980, S. 61). 7  Walter Kempowski: Schöne Aussicht. Roman. Hamburg: Knaus 1981, S. 427. 8  Kempowski: Schöne Aussicht 1981, S. 405.

Der »Herr Lehrer« und seine Schüler – von Lars Lohrisch ins Bild gesetzt 

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Abb. 1: »Der Fotograf ist da.« Lars Lohrisch fotografiert Kempowski und seine Schüler. Copyright: Lars Lohrisch.

stehen, mit sehr großer oder kleinerer Zuckertüte im Arm«.9 Kempowski hat hier etwas eingefangen, was nur aus den Fotografien erfahrbar wird: das Gedränge in den düsteren Gängen und Kellerräumen der Mittelpunktschule Zeven und ihrer lebens- und lernfeindlichen Architektur. Das künstliche Licht, die Beengtheit der Räumlichkeiten, die tote Waschbetonfassade des Schulbunkers werden in scharfen Kontrast zur Dorfschule gesetzt, von deren Idylle hier keine Aufnahmen zeugen. Der lebensfeindlichen Architektur setzt Lars Lohrisch die Vitalität der Kinder entgegen, die konzentriert zuhören oder sich eifrig melden, die sich – ebenso wie ihr Lehrer – herausgeputzt haben und, ähnlich wie der Autor, einer großen Aufgabe entgegensehen: dem lebenslangen Lernen. Die homogene Schülerschaft auf den Aufnahmen weiß noch nichts von den großen Flucht- und Wanderungsbewegungen des 21. Jahrhunderts, die sie selbst dereinst zu bewältigen haben wird – als Eltern, als Lehrer vielleicht, als Integrationshelfer. Viele ›Schulfragen‹, die Generationen von Pädagogen beschäftigt haben, können hier als ›gelöst‹ betrachtet werden: die Frage der Koedukation der beiden Geschlechter; die Frage der ›Mädchenbildung‹, die sich nicht von der Bildung der ›Buben‹ unterscheiden soll; die Frage voraussetzungsloser Stan-

9  Kempowski: Schöne Aussicht 1981, S. 405.

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dards unter Absehung vom sozialen Herkommen der Schüler. Für die Egalisierung der Anforderungen sorgen nicht zuletzt die anonymen ›Zwingburgen‹ der Schularchitektur, die auf dem Lande wie in der Stadt dieselben Lernbedingungen zu schaffen beanspruchen. Das programmatische Anforderungsprofil einer solchen Schule hat Lars Lohrisch kühl und menschlich zugleich ins Bild gesetzt. Da ist die Freundlichkeit und Zugewandtheit des Lehrers einerseits, da ist der »unfreundliche Eindruck«, den das Schulgebäude macht, andererseits. Galeerenbänke freilich sind auf den Bildern kaum zu sehen: die Tische werden vielmehr zu kleinen Inseln gruppiert,10 oder sie stehen übereck, was freilich den Blick zur Tafel erschwert. Lars Lohrisch hält mit seinen Aufnahmen fest, »wie in den Köpfen Erkenntnis wächst«,11 Nähe zum Lehrer entsteht12 oder von beiden Seiten Distanz überwunden wird. Während es dem Lehrer in früheren Jahrhunderten nicht eingefallen wäre, etwa selbst zum Schüler zu gehen, ist das aus dem heutigen Einzel- und Gruppenunterricht nicht mehr wegzudenken.13 Die Einzelunterweisung inmitten des Klassenraumes, der Frontalunterricht vor allen Kindern, das gemeinsame oder einsame stille Arbeiten in der Gruppe befinden sich im steten Wechsel und lockern den Unterricht auf. Die Aufnahmen halten fest, wie adrett alle gekleidet sind. Mit Sorgfalt haben sich die Kinder und sogar der Herr Lehrer herausgeputzt, zumal sie sich nicht selten auch vor allen anderen exponieren14 und am Ende zum Gruppenfoto zusammenkommen.15 Es ist eine kleine Bürgerwelt, die Lars  Lohrisch hier abgelichtet hat – wie aus der Zeit gefallen und doch ein Zeitdokument aus einer Phase relativer Konsolidierung, brav und bieder. Aufnahmen aus Kempowskis Wohnhaus – die Exkursion der ganzen Klasse ins Private gehört zu seinem Lehrkonzept – verstärken den Eindruck gelebter Bürgerkultur: der große Saal mit Flügel und angrenzendem Büchergang hat beinahe selbst schon die Dimensionen eines Spiel- und Klassenzimmers16: »Zinnfiguren, Schiffsmodelle und altes Spielzeug in [den] Fenstervitrinen sind schon fast wie im Museum zu bewundern«.17

10  Kempowski der Schulmeister 1980, S. 47, 91. 11  Kempowski der Schulmeister 1980, S. 54–55. 12  Kempowski der Schulmeister 1980, S. 78–79. 13  Vgl. Ludwig Fertig: Zeitgeist und Erziehungskunst. Eine Einführung in die Kulturgeschichte der Erziehung in Deutschland von 1600 bis 1900. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1984, S. 189. 14  Kempowski der Schulmeister 1980, S. 58. 15  Kempowski der Schulmeister 1980, S. 122–123. 16  Kempowski der Schulmeister 1980, S. 100. 17  Kempowski der Schulmeister 1980, S. 101.

Der »Herr Lehrer« und seine Schüler – von Lars Lohrisch ins Bild gesetzt 

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Abb. 2: Lehrer Kempowski. Foto: Lars Lohrisch.

Fotografie ist Lars Lohrisch gewissermaßen in die Wiege gelegt. Sein Vater Otto Lohrisch-Achilles (1913–2001) und seine Mutter Gudrun Lohrisch-Achilles (1917– 2017) zogen nach ihrer Heirat 1938 von Leipzig nach Bremen. Von 1938 bis 1946 war Otto Lohrisch in der Werbeabteilung des Norddeutschen Lloyds als Fotograf tätig. Ab 1946 betrieb das Ehepaar ein Fotografiegeschäft in Bremen. Ihr umfangreiches fotografisches Werk »aus den Bereichen Theater-, Presse-, Werbe-, Industrie- und Portraitfotografie aus der Zeit 1938–1990« wird seit 2003 vom Staatsarchiv Bremen verwaltet.18 Es handelt sich um unschätzbare Dokumente Bremer (Alltags-)Geschichte der Nachkriegszeit und des 20. Jahrhunderts. Ein Weihnachtsfest in Bremens ältestem Stadtteil Schnoor 1953 wird genauso dokumentiert wie ein Treffen des Bremer Vereins für Luftfahrt 1956. Nach wie vor werden diese Bilder gerne von verschiedenen Regionalzeitungen zur Illustration genutzt.19

18  https://www.archivportal-d.de/item/QONEACNEH5VNW5PKK4W3SAPSLAGEXWIB (letzter Zugriff am 28.7.2023). 19  Vgl. beispielhaft Detlev Scheil: Tag der offenen Tür. Freizeitpiloten geben Einblicke. In: Weser Kurier online. https://www.weser-kurier.de/bremen/freizeitpiloten-geben-einblicke-doc7e4itsnyrsp8etcj1sf oder Frank Hethey: Kulturkampf um den Weihnachtsbaum. In: Weser Kurier Geschichte. https://wkgeschichte.weser-kurier.de/kulturkampf-um-den-weihnachtsbaum/ (letzter Zugriff jeweils am 28.7.2023).

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 Der »Herr Lehrer« und seine Schüler – von Lars Lohrisch ins Bild gesetzt

Lars Lohrisch bezeichnet die Arbeit mit Kempowski als einen Höhepunkt seiner Laufbahn20, die ihn vor vielfältige Herausforderungen stellte – unter anderem war er Hausfotograf der Bremer Kunsthalle, des Gerhard-Marcks-Hauses. Bei der Buchvorstellung des Schulmeister-Bandes in Nartum war Lohrisch selbstredend eingeladen und wurde von Kempowski gebeten, ein paar Pressefotos zu machen. Auch war er mehrmals in Nartum, weil Kempowski seinen Schülern auch sein Haus zeigte und ihnen viele Objekte erklärte. Bei einem dieser Besuche muss auch das folgende Foto entstanden sein, das Kempowski an seinem Flügel zeigt und das sich glücklicherweise noch in Lohrischs Papieren gefunden hat, denn über ein eigenes Archiv verfügt er nicht mehr. Er hat allerdings Hildegard Kempowski ein paar Porträtaufnahmen übergeben, die sich jetzt im Archiv der Akademie der Künste befinden. Ein Schatz, der noch zu heben ist.

Abb. 3: Kempowski am heimischen Flügel. Foto: Lars Lohrisch.

20  Vgl. Lohrisch: Ein erfahrener Regisseur 2022, S. 180.

 Teil D: Spatien: Kempowski im Kontext

Carolin Krüger/Stephan Lesker

Die Wahrheit über Ernst Böckelmann Kempowskis Lehrerfigur im Kontext Als Hans Traxler 1963 seine Biografie des Märchenarchäologen Georg Osseg unter dem Titel Die Wahrheit über Hänsel und Gretel vorlegte, bahnte sich eine Sensation an, denn Osseg hatte herausgefunden und konnte es auch belegen, dass Hänsel und Gretel in Wahrheit heimtückische Mörder waren. Hänsel, eigentlich Hans Metzler, habe zusammen mit seiner Schwester eine alte Frau ermordet, um an ihr berühmtes Lebkuchenrezept zu gelangen. Das alles war natürlich reine Erfindung, weder Osseg noch der Bäcker Metzler haben jemals existiert. Aber Traxler gab seinem Buch archäologische Skizzen, Fotos von Ausgrabungen des vermeintlichen Hexenhauses sowie allerhand sonstige »Belege« bei, sodass man ihm seine Räuberpistole zunächst abnahm – und glaubte, die Märchenforschung nun revolutionieren zu müssen. Zwanzig Jahre danach spielte Walter Kempowski Traxlers Spiel noch einmal. 1979 erschien sein Buch Unser Herr Böckelmann, das in kurzen Vignetten vom Leben und Arbeiten eines kauzigen Lehrers erzählt. 1983 folgte ein kleines Heftchen, das Böckelmanns Lebensstationen nachzeichnete. Verantwortlich dafür war – standesgemäß – der erste Vorsitzende der Böckelmann-Gesellschaft: Prof. Jeremias Deutelmoser.1 Wie Osseg bringt auch Deutelmoser allerhand vermeintlich authentisches Material bei: Fotos ehemaliger Schüler, Aufnahmen des Böckelmann’schen Geburtshauses, Kindheitsfotos, etc. Das alles war natürlich reine Erfindung, weder Deutelmoser noch Böckelmann haben je existiert. Aber im Unterschied zu Traxler steckt bei Kempowski nicht ausschließlich eine satirische Absicht dahinter,2 wenngleich man seine Freude am pädagogischen Konzept und an der Überspitzung spürt.3 Vielleicht ist Böckelmann aber doch so etwas wie ein Wunschbild, ein Lehrerideal Kempowskis? Den Kindern zugewandt, aber durchaus mit Ecken und Kanten? Fragen,

1  Unser Herr Böckelmann. Sein Lebenslauf. Aufgezeichnet und illustriert von Prof. Jeremias Deutelmoser, 1. Vorsitzender der Böckelmann-Gesellschaft. Hamburg: Knaus 1983. 2  Aber es ist auch ihm passiert, dass seine Leser nach einem realen Vorbild suchten: So habe ihn einmal jemand »inquisitorisch« gefragt: »›Sagen Sie mal, wer steht eigentlich hinter Herrn Böckelmann?‹ Sein Vetter habe auch Böckelmann geheißen und sei ebenfalls eine komische Nudel gewesen.« Walter Kempowski: Sirius. Eine Art Tagebuch. Mit 245 Abbildungen. München: Knaus 1990, S. 354 (31.7.1983). 3  »Das kleine Böckelmann-Heft, die Bildbiographie, ist sehr hübsch geworden. Es hat aber bisher noch niemand auf den Scherz reagiert. Ich fürchte, sie denken, das ist die authentische Biographie des leibhaftigen Herrn Böckelmann.« (Kempowski: Sirius 1990, S. 597 [4.12.1983]). https://doi.org/10.1515/9783111330938-014

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 Carolin Krüger/Stephan Lesker

die von der Forschung bereits berührt wurden – bspw. in einem Aufsatz von Xavier Monn oder in einem Handbuchartikel von Volker Ladenthin.4 Wie kam es aber zu der Idee, dieses Buch zu schreiben? Wie haben biografische Ereignisse – Veränderungen in Kempowskis Lehrerdasein bspw. – seine Böckelmann-Figur beeinflusst? Unser Beitrag versteht sich als Versuch einer Neupositionierung anhand von Befragungen zweier Zeitzeugen, von Tagebuchpassagen sowie unter Berücksichtigung der Vorabdrucke in der Welt am Sonntag.

1 Ein Liebhaber-Projekt Das Böckelmann-Projekt scheint eine logische Konsequenz aus Leben und Werkstiftung Kempowskis zu sein. Die zeitgleiche Arbeit am Roman Aus großer Zeit mit seinen verschiedenen Lehrerfiguren könnte bspw. einen Anstoß gegeben haben. Die Notwendigkeit, einen Pädagogen wie den Böckelmann zu entwerfen und ihn zum Gegenstand einer größeren Publikation zu machen, liegt aber auch in Veränderungen in Kempowskis Lehrerdasein begründet, die ihn unerwartet trafen: Die klassische Dorfschule mit Kindern aus mehreren Klassenstufen in demselben Raum – Kempowskis Ideal – erschien der Bildungspolitik irgendwann nicht mehr zeitgemäß. Zu Kempowskis Entsetzen wurde die Dorfschule in Nartum 1974 aufgelöst; die Schülerinnen und Schüler aus dem Dorf mussten ab dieser Zeit in das 15 Kilometer entfernte Zeven in eine größere Mittelpunktschule fahren.5 Bis 1980 unterrichtete Kempowski auch dort, allerdings unter Bedingungen, die nicht mehr seinem Ideal entsprachen, wie Karl Friedrich Kempowski berichtet: [Kempowski] war nur frei in seiner pädagogischen Arbeit, solange er bei uns in Nartum in der Schule gearbeitet hat. Als sie dann aufgelöst wurde, und er in die Grundschule nach Zeven kam, war das vorbei. Dort musste er sich mit dem Kollegium auseinandersetzen; die Arbeitsmethoden wurden anders hinterfragt. Er hat da versucht, seine Linie weiter zu fahren – da gibt es ja auch Fotos von dem schönen Klassenraum, den er da hatte. Als es an die Klassenraumverteilung ging, hat er sich den Kellerraum genommen, den keiner haben wollte. Die Arbeit da hat er genossen, weil er da weit ab war vom Schuss, aber die Zusammenarbeit mit

4  Xavier Monn: Unser Lehrer heisst Böckelmann – Walter Kempowski, Pädagoge und Schriftsteller. In: Kids+media 2 (2012), Heft 1, S. 2–22. Volker Ladenthin: Pädagogik. In: Carla A. Damiano/ Andreas Grünes/Sascha Feuchert (Hgg.): Walter-Kempowski-Handbuch. Berlin/Boston: De Gruyter 2020 (de Gruyter reference), S. 297–312. 5  Vgl. Dirk Hempel: Walter Kempowski. Eine bürgerliche Biographie. München: btb ³2007 (btb,73208), S. 157.

Die Wahrheit über Ernst Böckelmann 

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den Kollegen war ein Problem. Er hat sich eingeengt gefühlt – irgendwann so sehr, dass er es nicht mehr machen wollte, weil er keinen Spaß mehr daran hatte.6

Ähnlich schätzt Gerhard Henschel Kempowskis Lage ein, wenn er schreibt: »Die Pforten der Dorfschule in Nartum […] hatten sich 1974 für immer geschlossen, und nach den Bildungsreformen der siebziger Jahre wirkten seine pädagogischen Ideal­ vorstellungen so veraltet und weltfremd wie der elegische Ton, der seine Äußerungen zu diesem Thema bis zuletzt durchzogen hat.«7 Es gab in der Folge dann die Idee, eine eigene Montessori-Schule zu eröffnen, aber das hätte zu viel Engagement gefordert und »wäre zu dieser Zeit auch nicht en vogue gewesen« (Karl Friedrich Kempowski). Auch Versuche, die Dorfschule in Nartum zu reaktivieren, blieben erfolglos. Das Böckelmann-Buch muss also für Kempowski eine besondere Bedeutung gehabt haben, weil seine eigene Arbeit als Lehrer und die Veränderungen, denen sie unterlag, die Figur in Teilen erst aus der Taufe gehoben haben. Dementsprechend hat er das Buch auch als bibliophile Ausgabe in hochwertiger Ausstattung und reich illustriert geplant. Ursprünglich sollte seine Tochter Renate die Illustrationen liefern. Im Verlag schien man aber Roswitha Quadflieg zu bevorzugen, was Kempowski offenbar nur zähneknirschend hingenommen hat. Angesichts eines Besuches bei seinem Verleger, bei dem der »Böckelmann II«, also die 1983 gesondert publizierten Tafelgeschichten, besprochen wurde, bemerkt er: »Ehrlich gesagt, mir gefielen schon die Illustrationen zu ›Böckelmann I‹ nicht. Ich sehe Bö. eher als cholerischen Menschen, der an zu hohem Blutdruck leidet. Bei Frau Quadflieg ist er ein dünnblütiger Greis.«8 Nicht alle Vorschläge Kempowskis stießen beim Verlag auf offene Ohren. Bei der fiktiven Biografie Böckelmanns aus Deutelmoser-Kempowskis Feder, war dies offenbar aber anders. Kempowski notiert: Nachmittags Fotos herausgesucht für eine fiktive Biographie des Herrn Böckelmann. Schrieb dann auch eine Story dazu, tippte alles lecker ab und fügte die Fotos bei. Vielleicht ist Knaus geneigt, diesen Scherz als PR-Maßnahme für »Bö I« mitzumachen.9

6  Diese Ausführung und die folgenden basieren auf Interviews, die Carolin Krüger mit Ursel Minkenberg und Karl Friedrich Kempowski im April 2023 geführt hat. Beiden Interviewten sei an dieser Stelle herzlich gedankt. 7  Gerhard Henschel: Da mal nachhaken. Näheres über Walter Kempowski. München: dtv 2009 (dtv Premium, 24708), S. 128. – Henschel weist auch nach, dass sich die autornahe Figur Walter aus der Deutschen Chronik bereits in der Haft ein Dorfschullehrerdasein als pädagogisches und gleichzeitig als Lebensideal erträumt. Vgl. Henschel: Da mal nachhaken 2009, S. 130. 8  Kempowski: Sirius 1990, S. 127 (6.4.1983 – Nachtrag 1990). 9  Kempowski: Sirius 1990, S. 140 (10.4.1983).

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Und offenbar hat der Verleger den Spaß »mitgemacht« und mitgetragen: »Knaus rief an und sagte, er sei mit meiner fiktiven Böckelmann-Biographie einverstanden, freut sich darüber.«10 Dies zeigt eben auch, dass man im Verlag durchaus ein Gespür für dieses Liebhaberprojekt hatte und einen Absatzmarkt dafür sah.11 Nach Einschätzung von Biograf Dirk Hempel wurde das Buch dann auch ein Erfolg.12 Unstrittig ist, dass Kempowski seine Vorstellungen einer dem Kinde zugewandten Pädagogik teilweise mit in seine Figur einfließen ließ – Vorstellungen, die er offenbar durch die Neuerungen im Schulwesen gefährdet sah. Im Ende 1978 begonnenen seriellen Vorabdruck des Böckelmann in der Welt am Sonntag (WamS) zeichnet die redaktionelle Vorbemerkung Kempowskis Lehrerfigur als aussterbende Spezies, die den Kindern gerecht wird, so, wie es Lehrer in anderen Schulformen als der Dorfschule nicht leisten könnten: »Unser Herr Böckelmann«. Das Porträt eines Lehrers, den es in dieser Form kaum noch zu geben scheint. Seinen Schülern begegnet er mit Güte und Freundlichkeit. Von Leistungsdruck und achtzügiger Riesenschule hält er wenig, um so [sic] mehr versteht er Schwächen und Fehler seiner Kinder. Denn auch Böckelmann ist nicht ohne Tadel.13

Strittig ist und bleibt jedoch, wie viel Kempowski im Böckelmann steckt. Die WamS jedenfalls kommt nicht um die Frage zur Autornähe herum: »Ist dieser Lehrer, der altmodisch Liebe für das beste Erziehungsmittel hält, ein Selbstbildnis Walter Kempowskis? Auf diese Frage schweigt er vorsichtig.« (Und das hat seine Gründe, wie wir später noch erfahren werden.) Statt seiner antwortet die Illustratorin Roswitha Quadflieg: »Natürlich ist es ein Selbstbildnis.«14

10  Kempowski: Sirius 1990, S. 149 (13.4.1983). 11  Wenngleich die Frage des Autorenhonorars immer ein Streitpunkt blieb. »Miesen BöckelmannII-Vertrag nicht unterschrieben, obwohl er ihn mir immer wieder hinschob« notiert Kempowski (Sirius 1990, S. 177 [29. April 1983]). 12  Hempel: Walter Kempowski 2007, S. 167. 13  o. A.: Neue Schulgeschichten von Kempowski. In: Welt am Sonntag. Nr. 49 vom 3. Dezember 1978. Sektion 6. Buchmagazin, S. 53. 14  Neue Schulgeschichten von Kempowski 1978, S. 53.

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2 Bedeutung für Werkstiftung und Pädagogik Kempowskis Es kann nicht verwundern, dass sich zahlreiche Parallelen zwischen der Figur und dem realen Dorfschullehrer Walter Kempowski finden lassen. Ehemalige Schüler und Schülerinnen erinnern sich an einen Lehrer, der die Kinder als Individuen sah und sie fair sowie fantasievoll unterrichtete. Reformpädagogische Ideen waren seine wesentlichen Ankerpunkte. Zentral waren laut Karl Friedrich Kempowski die Fragen »Was beschäftigt das Kind?« und »Wie kann ich dem Kind zeigen, dass mir seine Interessen wichtig sind?« Deshalb war zu Unterrichtsbeginn die Frage »Was gibt’s Neues?« typisch. In Unser Herr Böckelmann nahm Kempowski diese Situation auf: »Morgens dürfen wir immer was erzählen. ›Na, was gibt es Neues?‹ fragt Herr Böckelmann und schmeißt seine Tasche in die Ecke. Alles dürfen wir erzählen, bloß nichts vom Zahnarzt.«15 Auch im Band Kempowski der Schulmeister wird diese Form des Unterrichts skizziert und von Lars Lohrisch ins Bild gesetzt: Die Schüler scharen sich um den Lehrer, der aber nicht über ihnen steht, sondern sich unter sie begeben hat.16 Im Kolumnentitel wird das morgendliche Erzählen als »fruchtbarer Moment« bezeichnet – ein Terminus, der auf die Pädagogik Friedrich Copeis rekurriert, der in diesem fruchtbaren Moment die Bedingung für ein schöpferisches Lernen sah. »Lernen ist dann kein mühsames Repetieren, sondern ein Akt der willentlichen Erkundung, die von einer Dissonanz ausgelöst wurde«, schreibt Volker Ladenthin und ergänzt: »Zu fragen ist, ob nicht Walter Kempowskis Gesamtwerk bis hin zum Echolot nach der Methode des fruchtbaren Augenblicks funktioniert.«17 Vieles spricht dafür, denn die Situation, die Lohrisch abbildet – ein Lehrer, der sich unter seine Schüler begibt – postuliert Kempowski auch für sein »kollektives Tagebuch«, wenngleich nicht als Ausgangspunkt, sondern als Resultat: »Zum Schluß, als ich den großen Chor beisammen hatte und das Ganze auf mich wirken ließ, stand ich plötzlich unter ihnen […].«18 Auch in

15  Walter Kempowski: Unser Herr Böckelmann. Mit Illustrationen von Roswitha Quadflieg. Hamburg: Knaus 1979, S. 40. 16  Vgl. Kempowski der Schulmeister. Beschrieben von Michael Neumann. Fotografiert von Lars Lohrisch. Geleitwort von Werner Remmers. Nachwort von Richard Meier. Braunschweig: Westermann 1980, S. 26. – Auch Dirk Hempel druckt das Bild in seiner Biografie wieder ab. Es scheint sich um ein paradigmatisches Motiv zu handeln, wenn es um den Lehrer Kempowski geht. Vgl. Hempel: Walter Kempowski. 2007, S. 155. 17  Ladenthin: Pädagogik. 2020, S. 304. 18  Walter Kempowski: Statt eines Vorworts. In: Ders.: Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch. Januar und Februar 1943. Band I. 1. bis 17. Januar 1943. München: Knaus ²1993, S. 7.

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seinen Tagebüchern findet sich die Engführung von Pädagogik und kollektivem Tagebuch: »Mein Prinzip: ›Vom Kinde aus‹. Sie zu fragen, was es Neues gibt und deren Geschichten dann umzudrehen. Ich gab ihnen ihre Erlebnisse zurück. So ist es doch auch mit dem ›Echolot‹. Sie erzählen, und ich werfe die Geschichten mit dem Bildwerfer an die Wand.«19 Kempowskis pädagogischer Ansatz (eine Art innere Haltung) war allumfassend. Entsprechend vermutet Karl Friedrich Kempowski, dass sein Vater als Lehrer eben auch Schriftsteller war und nicht als Schriftsteller auch Lehrer. Der pädagogische Impetus dominierte sein gesamtes Wirken. Selbst in Jeremias Deutelmoser, dem fiktiven Biografen Böckelmanns, kommt zeitweise der Pädagoge Kempowski zum Vorschein. Letzterer fand es bekanntlich bedauerlich, wenn Lebenserinnerungen verloren gingen, wenn Nachkommen das Vermächtnis ihrer Vorfahren achtlos wegwarfen. In seinen Tagebüchern wie in seinem Vorwort zum Echolot schildert er immer wieder Fälle, in denen er Lebenserinnerungen, Fotos, ganze Fotoalben im Sperrmüll oder einfach am Straßenrand fand und sie – seinen Lesern als gutes Beispiel dienend – barg, sie dem Vergessen entriss. Auch hier wirkt der Pädagoge Kempowski, der sein Publikum zu einem angemessenen Umgang mit der eigenen Geschichte und Vergangenheit befähigen möchte, nicht zuletzt, indem er seine ganze Autorschaft unter die Maßgabe des bewahrenden Andenkens autobiografischer Lebenszeugnisse stellt. Es kann demnach nicht verwundern, dass dieses Thema für den Böckelmann-Komplex wichtig wird. Biograf Deutelmoser muss nämlich – mit einem deutlichen Seitenhieb auf die Verantwortlichen – beklagen, dass es kaum Quellen über Böckelmanns Leben gibt: »Seine Frau folgte ihm schon nach zwei Jahren ins Grab, und leider wurde der gesamte Böckelmann-Nachlaß von unverständigen Erben auf den Sperrmüll geworfen.«20 Unverständig ist, wer mit den Geschichten seiner Vorfahren nicht respektvoll umgeht. Der Lehrer bringt dies schon seinen Schülern bei, indem er allmorgendlich ihren Geschichten lauscht. Für den Pädagogen Kempowski gilt: »Wer nicht weiß, was das morgendliche Erzählen der Kinder zu Beginn des Unterrichts bedeuten kann, der versteht den Lehrer Kempowski nicht.«21 Er bevorzugte die Arbeit mit Geschichten, die den Kindern wichtig waren, weil sie sie selbst entwickelt hatten. Oft entstanden die Erzählungen gemeinschaftlich, kollektiv: »Einer hat etwas erzählt, ein anderer hat noch etwas dazugegeben, das wurde dann die Tagesgeschichte« (Karl Friedrich

19  Walter Kempowski: Alkor. Tagebuch 1989. München: Knaus ²2001, S. 323 (6.6.1989). 20  Unser Herr Böckelmann. Lebenslauf 1983, S. [4]. 21  Kempowski der Schulmeister 1980, S. 26.

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Kempowski).22 Man meint, hier das Echolot und vielleicht sogar das PlanktonProjekt raunen zu hören: Einer (etwa Theodor Morell) erzählt etwas, ein anderer (etwa Thomas Mann) gibt noch etwas hinzu usw., und daraus entsteht dann – vom Autor orchestriert und geordnet – der einzelne Tag im »kollektiven Tagebuch«. Die Herangehensweise ist ähnlich, die Resultate könnten nicht weiter voneinander entfernt sein: Auf der einen Seite entsteht durch die Zugaben einzelner Individuen ein Panorama des Schreckens, auf der anderen Seite entsteht eine Tafelgeschichte, durch die Kinder das Lernen im Unterricht als lustvoll und gewinnbringend empfinden, weil sie es selbst aktiv mitgestaltet haben und von Kempowski durch vielfältige Methoden darin bestärkt und gefördert wurden. Das aktive Mitgestalten ist für Kempowski ein wichtiger Aspekt bei der Einstellung eines fruchtbaren Moments. Dementsprechend haben die von uns interviewten »Ehemaligen« den Einsatz von Fibel oder Lesebuch in seinem Unterricht nicht erlebt. Seine Haltung dazu wird auch im Böckelmann deutlich: »Wenn wir aus dem Lesebuch etwas lesen, dann spricht Herr Böckelmann dauernd was vor sich hin, ›Blödsinn‹, ›Mist‹ und so weiter und wenn wir dann aufhören wollen, dann sagt er: ›Lest ruhig weiter!‹ Herr Böckelmann mag die Lesebuchgeschichten nämlich nicht, die sind ihm zu albern. Manchmal stöhnt er richtig, als ob ihm das wehtut«.23 Hier hat Kempowski sich offenbar auch an seinen eigenen Lehrern orientiert, die ebenfalls zu großen Teilen die Reformpädagogik vertraten. Von Hans Märtin, Kempowskis erstem Klassenlehrer, ist überliefert, dass er ebenfalls ohne Fibel unterrichtete: »Er ließ die Schüler erzählen, schrieb ihre Beobachtungen an die Tafel und entwickelte daraus seinen Unterricht […] Märtin war anscheinend eine magische Erscheinung, die stark auf die Kinder wirkte.«24 Von Märtin scheint also über Kempowski eine direkte Linie zu Böckelmann zu führen, denn allen ist gemeinsam, dass ihnen neben Geschichten, die der Lebensrealität der Kinder näher waren als einheitliche Lesebuchtexte, ein fairer, an den individuellen Fähigkeiten der Kinder orientierter Unterricht wichtig war. So erinnert sich Karl Friedrich Kempowski: »Wenn man in einer normalen Schule ist, und im Sportunterricht werden die Mannschaften gewählt, da gibt es immer die Letzten. Um dem vorzugreifen, hat er Mannschaften gewählt, die nichts mit dem Sport zu tun hatten; er hat fächerübergreifend Mannschaften gewählt. Und damit hatten die Leute, die

22  Ob Karl Friedrich Kempowski, nicht nur Schüler, sondern auch Sohn Walter Kempowskis, in solchen Situationen auch etwas Privates erzählen durfte, ist ihm heute nicht mehr präsent. Ein typisches Problem des Spagats zwischen dem privaten Vater und dem Lehrer Kempowski war allerdings die Frage der Anrede: »Ich wusste nie, wie ich ihn anreden sollte als Lehrer.« 23  Kempowski: Böckelmann 1979, S. 66. 24  Hempel: Walter Kempowski 2007, S. 42.

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nicht sportlich waren, auch eine Chance.«25 Auch Ursel Minkenberg bestätigt: »Es war ihm wichtig, dass seine Schützlinge ihre Fähigkeiten mit einbringen konnten«; er »hat auch schwache Schüler und Schülerinnen mitgenommen. […] Er hat sie nie herablassend behandelt.«26 Tochter Renate bringt in einem Brief an Dirk Hempel ein besonders eindrückliches Beispiel für Kempowskis Umgang mit Kindern, die aus ihrem Elternhaus andere Voraussetzungen mitbringen, die unter Umständen gar kein behütetes Familienleben kennen: Wir hatten einen Jungen in der Schule, der nur Plattdeutsch sprach und immer ausgelacht wurde. Er bekam zu Hause anscheinend oft Prügel, denn als er einmal an der Tafel stand und nicht weiter wußte, kam mein Vater mit dem Zeigestock, um etwas an der Tafel zu zeigen. Der Junge fuhr zusammen und duckte sich, um die vermeintlichen Schläge abzuwehren. Mein Vater war erschüttert und zu Tränen gerührt. Er nahm den Jungen in den Arm, wiegte ihn und sagte immer wieder: »Ist ja alles gut.«27

Es gehört zu Kempowskis Impetus, Kinder für vermeintlich abweichendes Verhalten nicht zu tadeln, sondern nach den Gründen dafür zu suchen, um dann – wie in obigem Fall – angemessen reagieren zu können – der Klassenraum als Vorform eines »safe space«, wie man heute vielleicht sagen würde. Zur Förderung seiner Schützlinge setzte Kempowski verschiedene Belohnungssysteme ein: Ursel Minkenberg erinnert sich an einen »Schülerausweis«, eine zusammengefaltete kleine Karteikarte. Für besondere Situationen oder Lernverhalten gab es einen kleinen Stempel; wer eine bestimmte Stempelzahl zusammen hatte, bekam etwas dafür – z. B. ein Lineal oder einen Radiergummi, kleine Dinge, die mit der Schule zu tun hatten. Karl Friedrich Kempowski berichtet von einem Punktesystem: Es gab verschiedene Wettbewerbe, z. B. im Sport (wer schnell laufen konnte, bekam einen Punkt), Wettstreite im schnellen Rechnen (wer schnell rechnen konnte, bekam einen Punkt), oder es gab einen Punkt für gutes Lesen.28 Walter Kempowski hat bewusst dafür gesorgt, dass niemand leer ausging, sich niemand zurückgesetzt fühlte: »Wenn er dann gesehen hat, da hängt einer zurück, dann hat er irgendwas bestimmt, wofür er dem den Punkt geben konnte« (Karl

25  Karl Friedrich Kempowski ist sich nicht sicher, ob sein Vater das nicht auch ein wenig ihm zuliebe gemacht hat (»weil ich ’ne Pfeife war im Sport. Ich hatte andere Qualitäten«); Walter Kempowski wollte ihn nicht bevorzugen, aber – wie alle anderen Kinder auch – nach seinen Möglichkeiten fördern. 26  Man vergleiche das Verhalten Herrn Böckelmanns gegenüber dem »armen Erich«. Kempowski: Böckelmann 1979, S. 32 und passim. 27  Zitiert nach Hempel: Walter Kempowski 2007, S. 156. 28  Karl Friedrich Kempowski war der einzige in der Klasse, der Fraktur lesen konnte; solche besonderen Fähigkeiten sind gewürdigt worden.

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Friedrich Kempowski). In Sirius, dem Tagebuch des Jahres 1983, schreibt Kempowski: »Wie Konfetti habe ich diese kleinen Papierdingerchen – ganz unpädagogisch – über Gute und Böse ausgestreut«.29 Karl Friedrich Kempowski: »Er hat das von der Schule abgesehen auch zu Hause gemacht, mit meiner Schwester und mir. Wir hatten angrenzende Schlafzimmer. Ich sehe ihn dann immer in der Zwischentür stehen und Fragen stellen, z. B. welches Bild über dem Klavier hängt, und wer das beantworten konnte, hat einen Punkt gekriegt. Und den Schrank [auf dem die Punkte klebten], den haben wir jetzt noch, der steht in der Wohnung meiner Schwester – der Schrank mit den blauen und den roten Punkten an der Seite.« Nicht nur Punkte, auch »Gut«-Scheine, hat Kempowski ausgegeben: Noch zu dem System von Ermutigungsgeschenken, das ich mit der Zeit entwickelt hatte: Ich verteilte neben den Lobesmarken auch »Gut«-Scheine (im Gegensatz zu »Bös«-Scheinen, die es bei mir natürlich nicht gab). So was nennt man Bonbonpädagogik, und das ist natürlich schärfstens abzulehnen. Übrigens kam kein Kind auf die Idee, die »Gut«-Scheine einzulösen, es war ja auch mehr ein Witz, was sie im Gegensatz zu ihren Eltern sofort verstanden. Ich habe in einem Lexikon nachgeschlagen, was es mit dem Lob auf sich hat. Demnach hätte ich mich schlimmstens an den Kindern vergangen.30

Wieder einmal treten Kempowskis Idealvorstellungen in Konflikt mit dem, was damals prävalente Lehrmeinung war. Was aber deutlich wird: Es gibt bei Kempowski ein Belohnungs-, aber kein Bestrafungssystem. Das Ausbleiben einer Belohnung kam – wie Karl Friedrich Kempowski erzählt – so gut wie nie vor, da Kempowski für die Kinder, die keine Belohnung ergattern konnten, eben eine erfand. Dass diese Gutscheine von den Kindern offenbar auch nicht als reale, sondern ausschließlich als symbolische Belohnung, die gar nicht eingelöst werden sollte, empfunden wurden, verwundert bei wenigstens einigen dieser Zettelchen: So gab es bspw. einen Mauseloch-Gutschein, bei dem wohl niemand ernsthaft an eine Einlösung glaubte, aber es gab eben auch einen Buch-Gutschein, bei dem man doch schon eher an eine Umsetzung denken konnte.31 Auch Herr Böckelmann kennt solche Wertmarken. In einer Vignette, die sich zwar nicht in der Buchpublikation findet, aber in einem weiteren Zeitungsabdruck, für den Kempowski eigens neue Böckelmann-Geschichten schrieb, kann man es nachlesen. Auch hier gibt es einen »Loch-Gutschein« und einen »Gutschein-Gutschein«, der ebenfalls in Kempowskis Tagebuch aufgeführt ist. Allerdings verfolgt Böckelmann – jedenfalls nach Ansicht der Kinder – ein etwas anderes Ziel. Wo Kempowski die Coupons als »Ermutigungs-

29  Kempowski: Sirius 1990, S. 11 (3.1.1983). 30  Kempowski: Sirius 1990, S. 12 (3.1.1983 – Nachtrag 1990). 31  Weitere Beispiele für Gutscheine in: Kempowski: Sirius 1990, S. 13 (3.1.1983).

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geschenk« betrachtet, setzt Böckelmann sie offenbar gezielt als Bestechung ein: »Damit wir artiger sind, gibt es jetzt Gutscheine.«32 Kempowski legte viel Wert auf Allgemeinwissen und Sprache; um beides zu fördern, setzte er u. a. aus Pappe zurechtgeschnittene Karten ein (»Wi-ka« – Wissenskarten, und »Wö-ka« – Wörterkarten), deren Vorderseite Fragen, Aufgaben oder Bilder zeigte, und auf deren Rückseite die Antwort stand (Abb. 1). Am Ende des Unterrichts standen die Schülerinnen und Schüler in zwei Reihen, Kempowski hielt die jeweilige Karte hoch, und wer die Lösung am schnellsten wusste, durfte nach Hause. Der Zweitschnellste stellte sich wieder hinten an.

Abb. 1: Eine »Wissens-Karte«. Auf der Rückseite stand die Lösung (hier »Tagpfauenauge«). (Privatarchiv Ursel Minkenberg).

In den Sommermonaten fand der Unterricht auch schon einmal draußen statt. In den Wintermonaten, in denen die Kinder weniger draußen sein konnten, gab es

32  Walter Kempowski: Unser Herr Böckelmann. In: Welt am Sonntag, Nr. 17 vom 29.4.1979, S. 47. – Neben neuen Böckelmann-Texten sind hier Texte abgedruckt (vielleicht gar eingeschmuggelt), die auch schon so in der Buchpublikation stehen. Die Geschichte von Frau Peters bspw., die in die Klasse kommt und nach Streichhölzern fragt. (Vgl. Kempowski: Unser Herr Böckelmann 1979, S. 30.) Die redaktionelle Notiz in der WamS spricht aber deutlich davon, dass Kempowski hier »exklusiv neue Szenen aus dem Leben des Landlehrers« geschrieben habe.

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z. B. das »Stadtspiel«, in dem jedes Kind sich einen Beruf auswählte (z. B. konnte man ein Lebensmittelgeschäft betreiben oder Autos verkaufen). Die Abläufe wurden dabei nicht besprochen, sondern im wörtlichen Sinne durchgespielt.33 Projektarbeiten eröffneten die Möglichkeit, sich mit einem den Einzelnen besonders interessierenden Thema über einen längeren Zeitraum auseinanderzusetzen. Ursel Minkenberg z. B. entschied sich für das Thema »Münzen aus aller Welt« und arbeitete dann ca. ein halbes Jahr daran. Die Münzalben nähte bzw. bastelte sie selbst und hat sie noch heute in ihrem Besitz. Der Höhepunkt der Wintermonate war die Vorweihnachtszeit. Karl Friedrich Kempowski erinnert sich an die besondere Stimmung im Klassenraum – im Halbdunkel wurden z. B. Bibelgeschichten gelesen und die Kinder haben gesungen. Krach im Klassenraum konnte Walter Kempowski schlecht vertragen; er hat nicht geschrien oder lautstark mit den Kindern geschimpft: »Wenn die Kinder sehr lebhaft und sehr laut waren, hat er sich Ohropax in die Ohren gesteckt, ist ruhig geblieben und hat die Kinder machen lassen« (Ursel Minkenberg). In Unser Herr Böckelmann gibt es eine ähnliche Episode: »Im Sommer gehen wir in den Wald. Der Lehrer steckt sich Wachskugeln in die Ohren, weil wir ihm alle gleichzeitig was erzählen wollen. ›Redet ruhig, ihr Kinder, redet ruhig weiter‹, sagt er dann.«34 Wie auch Herr Böckelmann, war Walter Kempowski laut Ursel Minkenberg ein freundlicher Lehrer, humorvoll und hin und wieder »recht kauzig«.35 Einige Inhalte und Methoden, die es in Kempowskis Unterricht gab, sind mittlerweile vielleicht nicht Standard, aber wohlbekannt: So ist ein früher, schon in der Grundschule beginnender Englischunterricht keine Seltenheit mehr und so sind die »Mischhefte« (Hefte zum Schreiben und Malen, die damals aus linierten und Blanko-Heften selbst hergestellt wurden) heute als »Geschichtenhefte« – mit einer weißen und einer linierten Seite im Wechsel – im Handel erhältlich. Diese Mischhefte als Element in Kempowskis Unterricht haben seine Schülerinnen und Schüler offenbar noch nach dem Schulabschluss begleitet, und sie baten ihren ehemaligen Lehrer auf Klassen- und Ehemaligen-Treffen um einen Eintrag, wie ein Mischheft Ursel Minkenbergs zeigt (Abb. 2 und 3).

33  Naturgemäß sind nicht alle Methoden bei allen Kindern gleichermaßen erfolgreich. Karl Friedrich Kempowski: »Ich als Autonarr habe natürlich eine Spedition aufgemacht, aber niemand wollte etwas transportiert haben. Das war ein bisschen tragisch [lacht]. Das ist bei mir nicht so angekommen, das Stadtspiel.« 34  Kempowski: Böckelmann 1979, S. 56. 35  Vgl. »Unser Lehrer heißt Herr Böckelmann, das ist ein komischer Heiliger« (Kempowski: Böckelmann 1979, S. 5) und »›Herr Böckelmann‹, hat sie [die Schulrätin – C.K./S.L.] nach der Stunde gemeint, ›wir müssen nun auch aufpassen, daß wir nicht wunderlich werden.‹« (Kempowski: Böckelmann 1979, S. 89)

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Abb. 2: »Diesen Eintrag hat Walter Kempowski mir ins ›Mischheft‹ am Klassentreffen 1999 geschrieben!« (Privatarchiv Ursel Minkenberg).

Abb. 3: Eintrag Walter Kempowskis in Ursel Minkenbergs »Mischheft«(Privatarchiv Ursel Minkenberg).

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Dass der »WiKa-Professor« Kempowski nicht alle diese Treffen ganz so wunderschön fand, wie er es in das Heft seiner ehemaligen Schülerin einschreibt, wird aus einem Tagebuch von 1983 ersichtlich: »Der tragisch-deplaziert wirkende Lehrer auf Schülertreffen, die Schulterklopferei. Dem Lehrer ein Bier spendieren, damit er auch mal was hat... Aus Gnade und Barmherzigkeit nimmt man ihn auf, und die Gespräche gehen über ihn hinweg.«36

3 Böckelmänner und -frauen in den Romanen Kempowskis Kempowskis Unser Herr Böckelmann zeigt ein pädagogisches Arbeiten, das dem Autor nach eigenem Empfinden nicht mehr ermöglicht wurde; das Buch sei auch ein »Zeugnis der Resignation«,37 ein Abschied von der Schule.38 Die traurige Selbsteinschätzung als unzeitgemäßer Pädagoge findet sich explizit im Buch: »Die Nebenklasse hat eine Lehrerin, sie heißt Antje Peters, und sie hat krauses Haar. Manchmal steht der Lehrer mit dem Ohr an der Wand und schüttelt den Kopf. ›Was die da wieder macht…‹, sagt er, ›da komm ich wirklich nicht mehr mit.‹ Dazu ist er wohl zu alt.«39 Hier und an anderen Stellen dient die Gegenüberstellung Böckelmann – Peters dazu, auf das etwas Altmodische an Böckelmanns Unterricht zu verweisen.40 Die neuen Methoden lehnt er ab.41 Seine Schülerinnen und Schüler finden eine andere Selbsteinschätzung – in Form der Böckelmann-Figur – passender: »Herr Böckelmann ist lieb und streng zu gleicher Zeit, das kann man nicht erklären.«42 Eine Vielzahl ähnlich gelagerter Lehrerfiguren lässt sich – samt zugehörigen Kontrastfiguren – in Kempowskis Werk finden. Im Roman Heile Welt ist es Matthias Jänicke, der den Kindern ein »freischaffendes Lernen in offener Behaustheit«

36  Kempowski: Sirius 1990, S. 12 (2.1.1983). 37  Kempowski: Sirius 1990, S. 524 (5.11.1983). 38  Vgl. Monn: Unser Lehrer heisst Böckelmann 2012, S. 5. 39  Kempowski: Böckelmann 1979, S. 30. 40  Vgl. Monn: Unser Lehrer heisst Böckelmann 2012, S. 4. 41  Vgl. dazu auch eine Vignette, in der Frau Peters Böckelmann vertritt und sich wundert, warum die Kinder keine »Verkehrshefte«, »Ordnungshefte«, »Regelhefte« und Notizblöcke haben. Als Böckelmann dann wiederkommt, kann er sich seinerseits nur wundern: »Morgen schafft ihr euch auch noch Blödheitshefte an und Schnapshefte! […] Immer diese neuen Moden…« 42  Kempowski: Böckelmann 1979, S. 69.

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ermöglichen möchte,43 bei dem das morgendliche Erzählen ebenfalls eine große Rolle spielt. Jänickes Bemühungen werden allerdings durch seine Vertretung, den Kollegen Stichnoth mit seinen pädagogisch mehr als fragwürdigen Methoden, zunichte gemacht. So wird Jänicke bei seiner Rückkehr überschwänglich von den Kindern begrüßt und angstvoll gefragt, ob Stichnoth wiederkomme. Eines der Kinder hat gar ein blaues Auge: »Hier hatte es Maulschellen gegeben, auf Vordermann hatte Stichnoth die Kinder gebracht.«44 Das Scheitern Jänickes im nur scheinbar beschaulichen Klein-Wense ist gleichzeitig das Scheitern einer Pädagogik, die vom Kinde aus unterrichten möchte und nicht sklavisch einem Lehrplan folgen will. So darf auch Jänickes Resümee verstanden werden: »Ich war kein guter Lehrer, dachte er, aber ich habe euch einen Schlimmeren erspart.«45 Ein guter Lehrer in dem Sinne, dass er sich an einen Lehr- und Unterrichtsplan gehalten habe, um den Schülern das vom Schulamt als nötig erachtete Wissen beizubringen, war Jänicke in der Tat nicht. Aber immerhin hat er die Kinder vor unangenehmeren Lehrerpersönlichkeiten bewahrt, jemanden wie Stichnoth etwa, der seinen Schützlingen das Wissen einhämmert und dabei höchst autoritär und gar gewalttätig auftritt. Figuren wie Matthias Jänicke und Böckelmann begegnen uns in Kempowskis Romanen immer wieder. So ist auch Fräulein Schlünz im Roman Schöne Aussicht jemand, der »vom Kinde her« unterrichtet und dafür gerne von einem vorbereiteten Unterrichtsplan abweicht, »gesund, frei, ja geradezu wohltuend, und zwar für alle Beteiligten.«46 Ihr Engagement für die Kinder geht sogar so weit, dass sie ihre Schülerin Ulla zu einem Krankenbesuch bei deren Bruder Robert begleitet. Sie ist Anhängerin der Reformpädagogik Pestalozzis, steht aber auch völkischem Gedankengut nicht fern.47 Ganz so weit wie Fräulin Schlünz ist Lehrer Jonas noch nicht. Schier überfordert ist er, wenn die Kinder ihn morgens mit ihren Geschichten bedrängen. Sein großartig zurechtgelegtes Konzept ist dahin, und er versteht es nicht, die Geschichten der Kinder fruchtbar in seinen Unterricht zu

43  Walter Kempowski: Heile Welt. Roman. München: Knaus 41998, S. 10. 44  Kempowski: Heile Welt 1998, S. 444. 45  Kempowski: Heile Welt 1998, S. 475. 46  Walter Kempowski: Schöne Aussicht. Roman. Hamburg: Knaus 1981, S. 233. 47  Bspw. trägt sie eine Brosche mit germanischen Runen. Vgl. zu Fräulein Schlünz den Beitrag von Vera Jürgens in diesem Band.

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integrieren.48 Als Kontrast fungiert Lehrer Hagedorn, eine Art »Rattenfänger«,49 der die Kinder mit seinem Geigenspiel immer wieder von ihren Geschichten abbringen kann und sein vorbereitetes Konzept auf diese Weise durchsetzt.50 Unausgesetzt stoßen wir auf Pädagogen, die nicht vom Kinde aus unterrichten und eine immergleiche Routine abspulen, meist über Jahrzehnte: Eine Stimme aus dem Roman Aus großer Zeit berichtet von einem solchen Lehrerschlag: »Und unsere Lehrer, das war ein Haufen alter Tüffel, die nichts Besonderes von sich gaben. In den Büchern, die wir von den andern erbten, stand immer schon: ›Jetzt kommt Witz!‹, und der kam natürlich prompt, und wir lachten dann übertrieben laut.«51 Wo die »Alten« noch das Autoritäre auch in Kleidung und Auftreten hervorkehrten, sei die neue Generation ganz anders: »Wenn man heutzutage einen Lehrer sieht, dann denkt man: Das ist ’n Lehrer? Der sieht ja aus wie ’n Landstreicher. (Was ja auch nicht gerade ideal zu nennen ist.)«52 Zwischen diesen zwei Extremen, die beide für den Sprecher irgendwie abzulehnen sind, gibt es auch die Figur des guten Lehrers: Da war zum Beispiel der Studienrat Lehmann, der uns Geschichtsthemen immer sehr nett brachte: nicht bloß »Erbfolgekrieg« und »Jülich-Cleve-Berg«, kein schematisches Auswendiglernen von deutschen, französischen und englischen Königen. Nein, der erzählte uns in freier Form, wie das so gekommen ist mit der Reichsgründung, und daß die Franzosen Heidelberg zerstört haben und Worms und Speyer, aus purem Übermut. Dem haben wir an den Lippen gehangen! Der brachte auch mal Bilder mit, zur Veranschaulichung. Heinrichs Canossagang zum Beispiel. Diese Bilder hatte er sich aus Büchern und Zeitschriften herausgeschnitten und auf Pappen geklebt. Ich sehe heute noch das Bild von der Eröffnung des Kaiser-WilhelmKanals. […] Er animierte uns auch selbst zum Sammeln […]53

Wenn wir hier auch noch nicht das Motiv des Vom-Kinde-aus-Unterrichtens finden, so lässt Studienrat Lehmann einiges erkennen, das auch für Kempowskis Unterrichtsmethodik charakteristisch ist: das eigene Herstellen von Anschauungsmaterial (vgl.

48  Vgl. Kempowski: Schöne Aussicht 1981, S. 408–409 sowie Monn: Unser Lehrer heisst Böckelmann 2012, S. 6. – Kempowski selbst sah Jonas als »seriösen« Böckelmann. Vgl. Walter Kempowski: Culpa. Notizen zum Echolot. Mit Seitenhieben von Simone Neteler und einem Nachwort von Karl Heinz Bittel. München: Knaus 2005, S. 31 (23.9.1980). 49  Diesen Terminus hat Kempowski selbst geprägt. Der »Rattenfänger« laufe mit der Flöte vor den ihm folgenden Kindern, während sein Gegenbild, die »Kindergartentante« rückwärts vor den Kindern hergeht, also ihnen zugewandt ist. Vgl. Kempowski der Schulmeister 1980, S. 7. 50  Vgl. Kempowski: Schöne Aussicht 1981, S. 405 sowie Monn: Unser Lehrer heisst Böckelmann 2012, S. 6. 51  Walter Kempowski: Aus großer Zeit. Roman. Hamburg: Knaus 1978, S. 122. 52  Kempowski: Aus großer Zeit 1978, S. 123 – Hervorhebung im Original. 53  Kempowski: Aus großer Zeit 1978, S. 124.

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u. a. Kempowski Wissenskarten) sowie das Motivieren der Schüler zu eigenständiger, schöpferischer Tätigkeit (z. B. durch Projektarbeiten). Die beiden skizzierten Extremformen (von Anna Kröger aus Tadellöser & Wolff noch ganz zu schweigen) lehnte er ab: Kein autoritäres Gehabe, aber auch keine Nachlässigkeit in Bezug auf Kleidung und Auftreten. Immer, wenn Kempowski vor die Klasse trat, war er tadellos gekleidet, oft mit Schlips, Kragen und Jackett. Das unterscheidet ihn deutlich von seinem Böckelmann, der sich vor seinen Schützlingen schon mal die Fingernägel feilt oder den Hosenschlitz versehentlich offenlässt.54 Und der Unterschiede sind noch mehr.

4 Der ›dunkle‹ Böckelmann In ihrer Dissertation zum »dunklen Kempowski« vertritt Anna Brixa unter anderem die These, dass Kempowski seine Romanfiguren oft als Raum für die Auslotung der Grenzen des Sagbaren nutzt.55 So sei bspw. Alexander Sowtschick aus den Romanen Hundstage und Letzte Grüße bewusst so konzipiert, dass sich in seiner Figur abseitige, moralisch-ethisch fragwürdige Handlungs- und Redeweisen vereinigten. Ist man erst einmal für solche Lesarten sensibilisiert, fallen sie einem auch dort auf, wo man sie nicht vermuten würde – in der Figur des Ernst Böckelmann bspw., deren »Schrullen und Macken […] für eine Lehrperson manchmal unpädagogisch, unpassend oder gar schockierend wirken [mögen].«56 Xavier Monns Wertung schließt den folgenden Passus sicher ganz besonders ein, wenngleich er ihn nicht zitiert: Heute hat Herr Böckelmann so vor sich hin gelacht und hat gesagt: »Kinder, wenn ich euch so ansehe, dann glaub’ ich, ich habe dreitausend Freundinnen. Wenn ihr lieb seid, ihr Mädchen, dann gehen wir mal ins Café. – Ach ja, die Jungs sind auch noch da. Euch kann ich da nicht brauchen, das versteht ihr wohl?«57

Nicht nur, dass es pädagogisch fragwürdig ist, eine Gruppe Schüler, gleich welchen Geschlechts, von einer Aktivität auszuschließen, weil man sie dort nicht brauchen könne. Man muss hier auch fragen, was es denn sein kann, wozu Böckelmann die

54  Vgl. Kempowski: Böckelmann 1979, S. 6 und 90. 55  Anna Brixa: Der ›dunkle‹ Kempowski. Kempowski anders lesen. München: Belleville 2023 (Theorie und Praxis der Interpretation, 13). 56  Monn: Unser Lehrer heisst Böckelmann 2012, S. 3. 57  Kempowski: Unser Herr Böckelmann 1979 (WamS).

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Mädchen in seiner Klasse bei einem Besuch im Café besser gebrauchen kann als die Jungen. Schmückt es einen älteren Herrn, wenn er sich – umgeben mit junger Weiblichkeit – in einem Café sehen lässt, wo ihm eine Horde ungehobelter Jungens nur Ärger machen würde? Auch der »Mädchentag«, den Böckelmann einführt, weil es »so hübsche Mädchen« in seiner Klasse gebe, erscheint fragwürdig, denn alle müssen Röcke tragen und an einer »Modenschau« teilnehmen, was ihnen offenbar unangenehm ist. Wer keinen Rock trägt, wird zu den Jungen gesetzt.58 (Was machen die eigentlich währenddessen?) Aus der Schulstunde, die Böckelmann hier abhält, spricht die Lust zur Übertreibung und Provokation seines Autors. Kempowski selbst hat in seinen Unterricht solche Modenschauen als Spiel zwar ebenfalls eingegliedert, allerdings mit zwei entscheidenden Unterschieden zur Fiktion: Erstens waren sie nicht als »Mädchentag« deklariert, und die Jungen waren nicht nur zum Zuschauen verdammt, wenngleich sie zunächst tatsächlich nur in der passiven Beobachterrolle blieben, sich dann aber aus eigenem Antrieb aktiv beteiligten. Zweitens waren diese Modenschauen an ein Ereignis gekoppelt, das die Kinder in ihrer Lebensrealität gerade beschäftigt hatte: Karneval oder Winterschlussverkauf beispielsweise.59 Wenn also Mode oder Verkleidung öffentlich im Fokus standen, hat Kempowski dies in seinen Unterricht eingegliedert. Es entsprach seiner Maßgabe des Unterrichtens vom Kinde aus. Es kam darauf an, dass sich Schriftspracherwerb und Lesekompetenz aus einem konkreten Erlebnis heraus entwickeln. Aus den Modenschauen entstand immer auch eine Tafelgeschichte. Das jeweilige Kleidungsverhalten, ob Mädchen oder Jungen nun Röcke oder Hosen trugen, ob sie sich in grellen Farben oder dezent kleideten, ob es Unterschiede in der Kleidung von Erwachsenen und Kindern gab, spielte keine Rolle. Es ging vielmehr darum, »am Augenschein erst einmal beobachten und unterscheiden zu lernen.«60 Wenn man behauptet, der Lehrer Böckelmann repräsentiere Kempowskis pädagogische Idealvorstellungen, so greift das zu kurz und würde die augenfälligen Unterschiede, die die fiktionale Figur zum realen Lehrer Kempowski aufweist, ungerechtfertigt außer Acht lassen – bei aller Gemeinsamkeit. Offenbar nutzt Kempowski seine Böckelmann-Figur auch, um Abseitiges darzustellen, den Leser zu irritieren, denn das kann (Stichwort fruchtbarer Moment) dazu führen, sich genauer mit dieser Figur auseinandersetzen, ihre pädagogischen Prinzipien auf den Prüfstand zu stellen.

58  Kempowski: Böckelmann 1979, S. 35. 59  Vgl. dazu Kempowski der Schulmeister 1990, S. 56–58. 60  Kempowski der Schulmeister 1990, S. 58.

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Die Wahrheit über Ernst Böckelmann scheint also zu sein, dass Kempowski in ihr wie mit vielen seiner Figuren ein Spiel von Ähnlichkeit und Differenz treibt. Auf der einen Seite finden wir Böckelmann in mutmaßlicher Überzeugungsnähe zu seinem Autor agierend, auf der anderen Seite unterscheidet er sich u. a. in seinem etwas nachlässigen Auftreten und in einigen seiner Denkweisen doch deutlich von Kempowski. Xavier Monns Einschätzung, Böckelmann sei ein Vorbild und werde von Kempowski positiv dargestellt, muss teilweise korrigiert werden:61 Zwar ist er entstanden aus dem Bedürfnis, ein pädagogisches Konzept zu literarisieren, das Kempowski mehr und mehr gefährdet sah. Eingestellt hat sich dann aber eine Figur, die ihre Abgründe hat, die teilweise auch mit der pädagogischen Praxis, die von anderen Lehrern bereits ausgeübt wird, nicht schritthalten kann und will. So mag sein früher Tod zwar tragisch sein. Folgerichtig ist er darum doch nicht weniger und mag vielleicht auch Kempowskis Abschied vom Lehrerberuf symbolisieren und vorwegnehmen.

61  Vgl. Monn: Unser Lehrer heisst Böckelmann 2012, S. 12.

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Literaturverzeichnis Brixa, Anna: Der ›dunkle‹ Kempowski. Kempowski anders lesen. München: Belleville 2023 (Theorie und Praxis der Interpretation, 13). Hempel, Dirk: Walter Kempowski. Eine bürgerliche Biographie. München: btb ³2007 (btb, 73208). Henschel, Gerhard: Da mal nachhaken. Näheres über Walter Kempowski. München: dtv 2009 (dtv Premium, 24708). Kempowski der Schulmeister. Beschrieben von Michael Neumann. Fotografiert von Lars Lohrisch. Geleitwort von Werner Remmers. Nachwort von Richard Meier. Braunschweig: Westermann 1980. Kempowski, Walter: Alkor. Tagebuch 1989. München: Knaus ²2001. Kempowski, Walter: Aus großer Zeit. Roman. Hamburg: Knaus 1978. Kempowski, Walter: Culpa. Notizen zum Echolot. Mit Seitenhieben von Simone Neteler und einem Nachwort von Karl Heinz Bittel. München: Knaus 2005. Kempowski, Walter: Heile Welt. Roman. München: Knaus 41998. Kempowski, Walter: Schöne Aussicht. Roman. Hamburg: Knaus 1981. Kempowski, Walter: Sirius. Eine Art Tagebuch. Mit 245 Abbildungen. München: Knaus 1990. Kempowski, Walter: Statt eines Vorworts. In: Ders.: Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch. Januar und Februar 1943. Band I. 1. bis 17. Januar 1943. München: Knaus ²1993, S. 7. Kempowski, Walter: Unser Herr Böckelmann. In: Welt am Sonntag, Nr. 17 vom 29.4.1979, S. 47. Kempowski, Walter: Unser Herr Böckelmann. Mit Illustrationen von Roswitha Quadflieg. Hamburg: Knaus 1979. Ladenthin, Volker: Pädagogik. In: Carla A. Damiano/Andreas Grünes/Sascha Feuchert (Hgg.): WalterKempowski-Handbuch. Berlin/Boston: De Gruyter 2020 (de Gruyter reference), S. 297–312. Monn, Xavier: Unser Lehrer heisst Böckelmann – Walter Kempowski, Pädagoge und Schriftsteller. In: Kids+media 2 (2012) Heft 1, S. 2–22. o. A.: Neue Schulgeschichten von Kempowski. In: Welt am Sonntag. Nr. 49 vom 3. Dezember 1978. Sektion 6. Buchmagazin, S. 53. Unser Herr Böckelmann. Sein Lebenslauf. Aufgezeichnet und illustriert von Prof. Jeremias Deutelmoser, 1. Vorsitzender der Böckelmann-Gesellschaft. Hamburg: Knaus 1983.

 Teil E: Literaturbericht

Hans Jörg Hennecke

Der Mittmensch Walter Kempowski Vorbemerkungen und Anmerkungen zu: Tom Kindt/Marcel Lepper/ Kai Sina (Hgg.): Poetik der Mitte. Walter Kempowski im literatur- und ideengeschichtlichen Kontext. Göttingen: Wallstein 2022.

1 Repräsentanz der Mitte Neo Rauchs Bild »Die Mitte« aus dem Jahre 2020, unlängst in einer von ihm gestalteten Ausgabe der Neuen Zürcher Zeitung wiedergegeben,1 zeigt die Mitte unsicher, prekär, schwankend und um Haltung ringend. Zwei altertümlich gewandete Gestalten balancieren auf den Bodenseiten zweier umgedrehter Kegel wie auf einem Kreisel. Im Hintergrund hocken zwei sardonisch blickende, moderner wirkende Gestalten, die mit ihren Händen die Kegel immer wieder zum Kippen oder Drehen zu bringen suchen, aber immer nur so viel, dass sie die verzweifelte Mühe der beiden anderen, ihre Balance zu wahren, mit einem Hauch von Häme genießen können. Die Mitte ist hier alles andere als fest verwurzelt, attraktiv und selbstsicher. Auf der Kegelspitze unablässig zu den Seiten kippend und gegensteuernd, kann sie nie zur Ruhe kommen. Sie reagiert nur auf die Anstöße und Impulse von außen. Die treibenden Kräfte sitzen an den Rändern, diese diktieren alle Bewegungen. Auch einer weiteren Gestalt im Hintergrund ergeht es kaum besser: Auf vier aufeinandergestapelten Kugeln schwankend, scheint ihr Absturz nur eine Frage der Zeit zu sein. Zu unmöglich ist die Vorstellung, die Schwerkraft genau in gerader Linie durch die Mittelpunkte aller vier Kugeln wirken zu lassen. Nur die geringste Abweichung muss zum Kollaps des Kugelturms führen. Unsicherheit und Fremdbestimmtheit der Mitte, die Neo Rauch zum Ausdruck bringt, prägen die Gegenwart und wecken erinnerungspolitisches Interesse an der Weimarer Republik und vor allem am Krisenjahr 1923.2 Gewiss, im Sinne eines

1  Vgl. Neo Rauch: Die Mitte. In: Neue Zürcher Zeitung (Internationale Ausgabe), Nr. 139 vom 17.6.2023, S. 22. 2  Siehe beispielsweise Udo Di Fabio: Die Weimarer Verfassung. Aufbruch und Scheitern. Eine verfassungshistorische Analyse. München: C. H. Beck 2018 oder Peter Longerich: Außer Kontrolle. Deutschland 1923. Wien-Graz: Molden 2022. https://doi.org/10.1515/9783111330938-015

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berühmten Buchtitels von Fritz René Allemann3 aus dem Jahre 1956 war »Bonn« nicht »Weimar«, und auch »Berlin« ist heutzutage nicht »Weimar«. Geschichte wiederholt sich nicht, und plumpe Analogien verbieten sich. Aber die politischen Motive der Weimarer Republik werden uns wieder vertrauter, die Vergangenheit rückt näher an uns heran. Das Aufflackern der Inflationserfahrung, diesmal als Langzeitfolge einer laxen Geld- und Haushaltspolitik und energiepolitischer Sorglosigkeit, die damit verbundenen Wohlstandsängste, die Rückkehr totalitärer Neuordnungsvorstellungen in Europa, die fatale Neigung der Demokratien zu Appeasement und weichen Optionen in der Außenpolitik, die Überforderung und Selbstüberforderung demokratischer Institutionen, das Aufwachsen autoritärer Stimmungen, Bewegungen und Parteien, die zunehmende Verachtung gegenüber der Mitte und ihren parlamentarisch-deliberativen Verfahren, dagegen von links wie rechts das Streben nach direkter Aktion und gewaltbereiter Tat anstelle eines mühseligen »government by discussion«, wie Walter Bagehot den demokratischen Parlamentarismus im viktorianischen Zeitalter beschrieb, geben zur Besorgnis Anlass. Walter Kempowskis Roman Schöne Aussicht, der die Weimarer Republik und den frühen Nationalsozialismus behandelt, wirkt auf den flüchtigen Blick vielleicht etwas betulich, ereignisarm, undramatisch, allzu familiär-anekdotisch. Aber bei genauerem Hinsehen ist er hochaktuell und politisch, denn er zeichnet ein realistisches Bild von der Mitte der Weimarer Republik. Inmitten all der privaten Episoden finden sich markante Bezüge zum politischen Zeithorizont und charakteristische Streiflichter auf die ideologischen Auseinandersetzungen dieser Jahre. In Schöne Aussicht findet man wenig Vernünftiges im Sinne einer besonnenen Bemühung um Stabilisierung der Demokratie. Aber das ist auch schon ein wichtiger Befund: Politiker und Intellektuelle, die in Anknüpfung an Max Weber im winzigen und schrumpfenden Milieu der DDP und späteren Staatspartei standen, gab es in der mecklenburgischen und Rostocker Realität kaum. Vermutlich ist es ein Wahrnehmungsfehler der Geschichtsschreibung, dass sie die Rolle der Demokraten in der Weimarer Zeit überschätzt oder sich mit Schaudern an der Konservativen Revolution, weniger allerdings an den kommunistischen Aktivitäten der Gegenseite, abarbeitet, aber dass sie darüber das weite Feld des Alltäglichen ignoriert, das Gegenstand von Kempowskis Erfahrungswelt und Romanwelt ist. Viele Splitter in dem Roman wirken überaus realistisch: das Milieu der Heimkehrer-Stammtische, die innere Distanz zu den großen Ideologien und ihren gelegentlichen Ausdrucksformen, auch das Befremden über und das Sich-Arrangieren mit dem Nationalsozialis-

3  Fritz René Allemann: Bonn ist nicht Weimar. Köln/Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1956.

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mus, die Ansprechbarkeit für revanchistische Korrekturerfolge von Hitlers früher Außenpolitik und dergleichen mehr. Darf man Kempowski das Fehlen der Vernunft zum Vorwurf machen? Wohl kaum! Bei aller literarischen Stilisierung und Formung hat er im Kern einen dokumentarischen und erinnerungspolitischen Anspruch. Auch die Leerstellen und Irrtümer politischer Reflexion oder die geringe Präsenz von Politik überhaupt sind wichtig, denn sie zeigen die politische Schwäche des Bürgertums, das irgendwie der alten kaiserlich-großherzoglichen Ordnung nachhängt, seine ökonomische Grundlage verliert, wenig politischen Mitwirkungsanspruch hat, eher ohnmächtig und passiv dem Kampf der modernen Ideologien gegenübersteht und schließlich vom Zeitgeist fortgerissen wird. Es ist im Grunde eine politische und ökonomische Niedergangserzählung, die sich hinter all den sentimental(isch)en Anekdoten und Erinnerungssplittern vollzieht. Hätte Kempowski Figuren erfinden sollen, die kontrafaktisch für das Vernünftige und Gerechte standen – wie vielleicht der unrealistisch gute Stasi-Offizier in Das Leben der Anderen? Kempowski erschafft keine Fiktion, in der für so etwas Raum wäre, sondern er modelliert die Wirklichkeit, wie sie aus seinen Quellen überliefert wurde. Kempowskis bürgerliche Mitte war also gar nicht so vernünftig: Zwar maßvoll, abwartend, besonnen, aber politisch impotent, mehr Objekt als Treiber der politischen Entwicklung. Parallelen zu unserer und Neo Rauchs Gegenwart drängen sich da auf, allein im Hinblick auf das schwindende Vertrauen in die demokratische Elite, auf deren nachlassender Problemlösungskompetenz in wirtschaftlicher und außenpolitischer Hinsicht und auf den Zulauf ideologischer Kritiker, die auf Tat und direkte Aktion am Parlamentarismus vorbeizielen. Schöne Aussicht bietet also viel Stoff zur Aktualisierung in Zeiten einer erschlaffenden und von Funktionsverlusten und Selbstüberforderung geprägten Demokratie. Es ist üblicherweise der Anspruch von Intellektuellen, Kämpfende zu sein – im Zweifelsfalle gegen die hoffnungslos unreflektierte Mitte. Getrieben von einem unerschütterlichen Glauben an eine ideologische Wahrheit,4 greifen sie nach den Kegeln, auf denen die Mitte steht. Ist es nicht gerade die Aufgabe von Kunst in einem weiten Verständnis, als Avantgarde dieser behäbigen Mitte den Weg zu weisen? Ist es nicht gerade ihr Auftrag, das Richtige, das Notwendige, das Dringende, das Moralische, das Moderne, das Korrekte auszusprechen und als Forderung an die schwerhörige

4  Siehe die klassische Intellektuellenkritik bei Friedrich A. Hayek: Die Intellektuellen und der Sozialismus. In: Schweizer Monatshefte 29 (1949), S. 273–286. Sowie Raymond Aron: Die Intellektuellen und der Totalitarismus. In: Albert Hunold (Hg.): Die freie Welt im Kalten Krieg. ErlenbachZürich und Stuttgart: Rentsch 1955, S. 31–53. Helmut Schelsky: Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen. Opladen: Westdeutscher Verlag 1975.

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»Mitte« zu richten? Man ahnt schon, dass Walter Kempowski diesem Bild nicht entspricht und dass er mit seinem bürgerlichen, bisweilen betont kleinbürgerlichen Habitus geradezu provokativ auf diejenigen wirkt, die dieses progressive, besserwisserische Selbstverständnis des Intellektuellen vor sich hertragen. Er gehört nicht zu den typischen Intellektuellen, die vom Rand her und mit radikalen Appellen die Mitte zur Bewegung drängen, sondern ist selbst Repräsentant der Mitte.5

2 Polyphonie der Mitte Vor dem Hintergrund dieser Vorüberlegungen lohnt der Blick in einen Sammelband, den Tom Kindt, Marcel Lepper und Kai Sina unter dem Titel Poetik der Mitte herausgegeben haben.6 Er geht zurück auf eine Tagung, die 2019 anlässlich des 90. Geburtstags von Walter Kempowski an der Akademie der Künste in Berlin-Mitte durchgeführt wurde. In dem durchweg inspirierenden Band wird schnell deutlich, dass bei Walter Kempowski von einer »Poetik der Mitte« in ganz verschiedenem, aber doch zusammenhängendem Sinne gesprochen werden kann. Vordergründig kann damit der Ort in Berlin-Mitte nahe des Brandenburger Tors gemeint sein, wohin Kempowski sein Archiv gegeben hat. Diese Entscheidung, über deren Hintergründe und Umstände Maren Horn in ihrem einführenden Beitrag unterrichtet, fiel in der Absicht, das Archiv mit gesammelten Biographien und Bildern dort noch besser zum Bezugspunkt von vielfältiger Rezeption und Forschung zu machen. Überhaupt lässt sich der Begriff der Mitte auch darauf beziehen, dass Kempowski selbst als Autor und Person zum Zentrum von Rezeption und zur Instanz für jüngere Autoren wurde, die ihm auf unterschiedlichste Weise nacheiferten. Von einer Poetik der Mitte lässt sich auch sprechen, weil Kempowski das Bürgertum und dessen alltägliches Leben, aber auch dessen existentielle Bedrohungen und Niedergangsprozesse zum Gegenstand seiner Werke machte. Und dabei wird schnell deutlich, dass diese Mitte keineswegs homogen oder stabil, sondern von Komplexität, Widersprüchlichkeit und Spannungslagen gekennzeichnet ist. Indem sich Kempowski gerade kein romantisierendes, idyllisches Bild von Bürgerlichkeit und Mitte imaginiert, sondern die Verwer-

5  Siehe hierzu mit Bezug auf Kempowskis Arnold-Gehlen-Lektüre Lutz Hagestedt: »Ich bin konservativ und liberal, und das darf man in Deutschland nicht sein«. Walter Kempowskis streitbare Zeitgenossenschaft. In: Maike Schmidt (Hg.): Gegenwart des Konservativismus in Literatur, Literaturwissenschaft und Literaturkritik. Kiel: Ludwig 2013, S. 221–241. 6 Tom Kindt/Marcel Lepper/Kai Sina (Hgg.): Poetik der Mitte. Walter Kempowski im literatur- und ideengeschichtlichen Kontext. Göttingen: Wallstein 2022, im Folgenden im Text versehen mit der entsprechenden Seitenzahl.

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fungen und Zerrissenheiten aufzeigt, wird sein Werk auch repräsentativ, es spiegelt historische Wirklichkeit und individuelle Erfahrungen seines Publikums. Auch diese Repräsentativität lässt sich als »Mitte« umschreiben. Die drei Herausgeber, Tom Kindt von der Universität Fribourg, Kai Sina von der Universität Münster sowie Marcel Lepper, zum Zeitpunkt der Tagung noch Leiter des Literaturarchivs der Akademie der Künste und zwischenzeitlich durch ein im Streit beendetes Intermezzo bei der Carl Friedrich von Siemens-Stiftung in die Schlagzeilen der Feuilletons geraten, betonen in ihrer Einleitung die Spannungslagen in Kempowskis Werk und verstehen den Mitte-Begriff vor allem als »Komplexitätsformel«. (S. 17) Zum einen zielen sie damit auf die literarische Gestaltung seiner Texte, die sowohl archivarisch-dokumentierend als auch ausgesprochen modernistisch auftreten. Auch die Unentschiedenheit zwischen Populärkultur und literarischer Avantgarde lässt sich mit dem Mitte-Begriff begreifen. Noch das Bruchstückhafte und Vielstimmige, das Kempowskis Werk charakterisiert, hat etwas Mittiges: Die historische Wirklichkeit wird nicht vollumfänglich eingefangen und modelliert, sondern sie spiegelt sich in Fragmenten der Überlieferung und Partikeln der Erinnerung. Selbst noch die Komik Kempowskis lebt davon: Das teils heitere, teils schauerliche Nebeneinander von Harmlosem und Grausamem unterstreicht die Komplexität des Sowohl-als-auch, die die bürgerliche Mitte aushalten muss. Die Herausgeber sehen Kempowski als Vertreter einer »skeptischen Romantik«, der auf die Erlösung von den Traumata der Vergangenheit hofft, aber die Vorstellung des Unbedingten nur als poetisch verschleiertes Geheimnis zum Ausdruck bringen könne. (S. 14–15) Den anschaulichsten Zugang auf Walter Kempowski als Repräsentant der Mitte bietet der Beitrag des FAZ-Redakteurs Edo Reents. In seiner griffigen und umsichtigen Skizze stellt er den als konservativ, ja reaktionär verschrienen Kempowski dessen streitbaren und mitteilsamen Altersgenossen Martin Walser, Hans Magnus Enzensberger und Günter Grass gegenüber. Mit einer Handvoll gut ausgewählter Selbstzeugnisse verortet Reents Kempowski im Spannungsfeld zwischen Liberalismus und Konservatismus. Liberal war die bevorzugte, aber nicht durchgängig verwendete Selbstbeschreibung Kempowskis. Er sah sich, wenn es um die Abgrenzung zu den »Progressiven« ging, durchaus auch gelegentlich als Konservativen und inszenierte seine Figur Alexander Sowtschick selbstironisch und unverkennbar als solchen. Reents arbeitet den entscheidenden Punkt klar heraus, in dem sich Kempowski von seinen in der Tagespublizistik umtriebigeren Kollegen unterschied. Reents spricht von einem »Primat des empirisch Gegebenen« bei Kempowski (S. 127) und arbeitet eine realistisch-skeptische Grundhaltung bei ihm als charakteristisch heraus: nicht von einem gesellschaftstheoretischen Idealbild aus die Welt ideologisch beurteilend, sondern die Welt in liberaler Toleranz nehmend, wie sie ist, vom Fassbaren ausgehend in all seiner Vielschichtigkeit und Widersprüchlich-

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keit und gar nicht erst den Anspruch erhebend, die Lösung aller politischen Pro­ bleme zu kennen. Er habe auch kein »Rezept, wie wir aus dem Schlamassel herausfinden« (S. 129), so zitiert Reents ein aussagekräftiges Selbstzeugnis Kempowskis. Auf wenigen Seiten gelingt dem Feuilletonredakteur hier eine ebenso anschauliche wie tiefgründige Deutung des politischen Denkens Walter Kempowskis, das dieser nicht in Essays ausgearbeitet hat, sondern nur in punktuellen Kommentaren zu Zeitereignissen und in ausgewählten Selbstreflexionen aussprechen konnte, das aber konstitutiv für sein gesamtes Werk ist. Von dieser Einführung in den politisch denkenden Menschen ausgehend, erschließen sich die Beiträge am besten, die Kempowski und sein Werk in dem historisch und philosophisch geprägten Abschnitt »Konstellationen« im ideen­ Lichte anderer Autoren lesen oder Vergleiche zu ihm anstellen. Das Verhältnis zu dem bereits erwähnten Hans Magnus Enzensberger sondiert Matthias Löwe in seinem Beitrag. Der Mitte-Begriff ist für ihn vor allem in einer pluralistischen, ambiguitätstoleranten Haltung zu sehen, die das Nebeneinander von Disparatem aushält. Löwe bezeichnet Kempowskis Haltung deshalb als »liberales Erzählen« (S. 68), bei dem der Erzähler keine moralische Überlegenheit aufweist und innerhalb dessen keine Apologie der geschilderten Bürgerlichkeit erfolgt. Hier zieht Löwe eine Parallele zu Enzensberger, der eine solche pluralistisch-tolerante Haltung der Mitte in seinen Essays Das Ende der Konsequenz (1981) und Die Vertei­ digung der Normalität (1982) eingenommen hat. In der Tat fallen hier Gemeinsamkeiten auf, mit denen sich Kempowski und Enzensberger von den belehrenden, von jedem Selbstzweifel befreiten Zeitkommentaren eines Günter Grass unterscheiden. Eine Nebenbemerkung über Enzensberger hätte gleichwohl noch etwas tiefer ausgeleuchtet werden können. Löwe attestiert Enzensberger, dieser sei in den 1980er Jahren zum »Paradigma des beweglichen Intellektuellen in der Bundesrepublik« (S. 77) avanciert. Gerade im Kontrast zu Kempowski hätte man deutlicher von dem intellektuellen Opportunismus Enzensbergers sprechen können, der über Jahrzehnte hinweg der zeitgeistigen Avantgarde angehörte und zahlreiche Positions- und Rollenwechsel vollzog. Über all diese Selbstrevisionen hinweg ist bei ihm kaum etwas an substantieller politischer Haltung auszumachen – da manifestiert sich bei aller Eleganz und Stilsicherheit viel intellektueller Treibsand, ganz anders eben als bei Kempowski, bei dem von Beginn an eine bemerkenswert konsistente und kontinuierliche Haltung zur Politik zu erkennen ist. Im Vergleich zu dem gewieften Taktiker der Selbststilisierung Enzensberger, der seine politischen Ideen und Einschätzungen oft revidierte, wirkt Kempowski authentischer und verwurzelter und verfügt daher auch über die größere Orientierungskraft. Deshalb ist auch der Vergleich zu dem Philosophen Odo Marquard, den Mark Schweda und Kai Sina anstellen, nur auf den ersten Blick verblüffend. Tatsächlich führt er auf Kempowskis politischen Kern hin. Was Marquard – gebündelt

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in der Formel »Abschied vom Prinzipiellen« – als Philosophie der Bürgerlichkeit entwickelt hat, findet sich als Prototyp sozusagen in Kempowski wieder. Die Skepsis gegenüber prinzipiellen Gewissheiten, die Sympathie für die Vielheit, die Reflexion über Modernisierungsdruck und Bewahrungskultur und schließlich die dialektische Vermittlung von Gegensätzen – all das prägt auch Kempowskis Poetik. Schweda und Sina skizzieren, wie sich Marquards Philosophie der Bürgerlichkeit in Kempowskis Werk widerspiegelt: Der Vorrang von Ereignisdarstellung vor moralischer Bewertung, wie er insbesondere für das Echolot konstitutiv ist, die Vermeidung von Auktorialität des Erzählens, die Betonung von Pluralität und Polyphonie und die Wiederherstellung des Zerstörten durch die Literatur machen diese Bürgerlichkeit aus – und bestimmen schließlich das poetologische Prinzip der Mitte, das sich mit begrenzten Mitteln um die Wiederherstellung des Vergangenen und um die Rezentrierung des Polyphonen bemüht. Auch wenn Schweda und Sina bei Kempowski einen weniger starken Modernisierungsoptimismus diagnostizieren, als er für Marquard und andere Vertreter der »Ritter-Schule« typisch war, kann doch dessen Werk als narratives Pendant zu Marquards Philosophie verstanden werden. Von hier aus erschließt sich sein literarisches Werk ebenso wie seine politische Zeitkommentierung oder sein persönlicher Habitus. Mit Karl Jaspers führt Dieter Lamping einen weiteren Philosophen an Kempowski heran. Einen konkreten Anknüpfungspunkt sieht er in dem Begriff der »metaphysischen Schuld«, den Karl Jaspers 1946 eingeführt hat und der auch von dem von Schuldgefühlen zur Literaturproduktion getriebenen Kempowski verwendet wird. Lamping sieht aber vor allem Parallelen in den Aufgaben, die Jaspers dem Philosophen zuweist und die Kempowski seinem literarischen Werk zuordnet. Für beide sei die Rolle des Mittlers prägend: Sie verarbeiten die von vielen Zeitgenossen geteilten Erfahrungen und Spannungslagen und artikulieren das allen Gemeinsame auf eine verständliche Weise. Eine ähnliche Stoßrichtung hat auch Frieder von Ammons Ansatz, Kempowski mit Goethe in Beziehung zu setzen. Ganz so naheliegend wie bei Marquard und Jaspers ist diese Perspektive nicht, hat sich Kempowski doch nur eher oberflächlich mit Goethe auseinandergesetzt. Ammon knüpft aber an eine poetologische Selbstaussage des alten Goethe an, bei der Parallelen zu Kempowski augenfällig sind: Goethe berichtet darin, dass er gesammelt und benutzt habe, was »ihm vor Augen, vor Ohren, vor die Sinne« kam. Zu seinem Werk hätten Tausende von Einzelwesen beigetragen, es sei das Werk eines Kollektivwesens. (S. 45–46) Vereinfacht gesagt positioniert sich der Autor Goethe zwischen dem Kollektiv der Einzelwesen als »Sub-Autoren«, aus deren Überlieferungen er sein Material schöpft, und dem Kollektiv der Einzelwesen, die die von ihm geschaffene Literatur rezipieren. Die Mittler-Rolle gelingt dem Autor, wenn er durch Auswahl von Stoff und Erzählperspektive als repräsentativ wahrgenommen wird und seine Leser ihre Erfahrungen

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und Sichtweisen in dessen Texten wiederfinden. Es liegt auf der Hand, wie sehr diese Mittler-Rolle nicht nur in Goethes Roman-Serie Wilhelm Meister angelegt ist, sondern auch – und erzähltechnisch und konzeptionell noch ausdrücklicher und konsequenter – dem Autor der Deutschen Chronik und des Echolots eigen ist. Wie Kempowski dabei vorging, erfährt man in dem Beitrag, den Maren Horn über die Archivüberlieferung von Echolot und Tadellöser & Wolff beisteuert: der Zettelkasten und die Zettelarbeit bilden dabei die Grundlage für das Anordnen und Ausformulieren der Stoffmassen. Mit Theodor Adorno bringt schließlich Tilo Wesche noch eine weitere Geistesgröße in Beziehung zu Kempowski, der Adornos Schriften nach seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik las. Wesche knüpft an Adornos Kunstästhetik an, die vom Autonomiegedanken geprägt ist. Kunst ist demnach dadurch charakterisiert, dass sie um ihrer selbst willen existiere, frei von äußeren Zwecken sei und auf Mitteilungsabsichten verzichte. Wesche sieht hier eine Analogie zu Kempowskis Erzählstil, der von Kommentarlosigkeit und der Abwesenheit auktorialer Bewertungen geprägt sei und im Sinne Adornos nicht das Überreden und Überzeugen beabsichtige. Zwei Anmerkungen drängen sich hierzu allerdings auf: Zum einen ist ein solcher Begriff der autonomen Kunst, wie ihn Adorno entwickelt, durchaus möglich, aber er kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass künstlerische Darstellungen in Literatur, bildender Kunst oder selbst in der Musik äußeren, auch politischen Zwecken dienen können und dies sehr oft auch tun. Der Anwendungsbereich von Adornos Kunstbegriff wäre also streng genommen recht schmal. Zum anderen muss man aber auch fragen, ob die Kommentarlosigkeit und das über weite Strecken Dokumentarische und Polyphone, das Kempowskis literarische Kunst ausmacht, tatsächlich frei von äußeren Zwecken sein kann. Aus dem Verzicht auf explizite Belehrungen durch einen auktorialen Erzähler oder durch aufdringliche Zeitkommentare lässt sich keineswegs darauf schließen, dass Kempowski keinerlei Mitteilungsabsichten gehabt habe. Das Aufarbeiten eigenen Schuldempfindens, das Bedürfnis des Sammelns und Bewahrens der vielstimmigen Erinnerungspartikel, das Rekonstruieren einer verlorengegangenen bürgerlichen Welt, das Vorzeigen des Alltags totalitärer Herrschaftsformen – alldem liegen durchaus Absichten zugrunde, die außerhalb des rein Künstlerischen situiert sind. Gerade im Verzicht auf Belehrung oder Zurschaustellung ideologischer Gewissheiten liegt eine pädagogische und politische Absicht. Wer im Jahre 1971 ausdrücklich einen »bürgerlichen Roman« publiziert, wird nicht absichtslos Teil der politischen »Tendenzwende« der frühen 1970er Jahre. Möglicherweise nehmen explizite Gegner diese politische Substanz Kempowskis stärker wahr als viele seiner Fans, die vielleicht mehr durch das Vertraute, Komische und Groteske im Vordergrund des Erzählens angezogen werden. Im stärker literaturwissenschaftlich geprägten Abschnitt »Lektüren« widmen sich mehrere Beiträge der Rezeption und den Darstellungstechniken Kempowskis

Der Mittmensch Walter Kempowski 

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und seinem Verhältnis zu seinen Lesern und Epigonen, darunter die bereits erwähnten Beiträge von Reents und Horn. Das Mitte-Motiv kommt hier unterschiedlich stark zur Geltung. Hanna Engelmann beleuchtet in ihrem augenzwinkernd formulierten Beitrag, wie Kempowski zum Mittelpunkt und Bezugspunkt von epigonaler Literatur wurde – vor allem am Beispiel der Romane des Kempowski-Biographen Gerhard Henschel, in denen Kempowski selbst zur Figur wird und als Vorbild für die Darstellung der bürgerlichen Welt in der nivellierten Wohlstandsgesellschaft der Bundesrepublik dient. Um den Begriff der Mitte kreisen schließlich drei Beiträge, die sich mit besonderen Aspekten von Kempowskis Erzähltechnik befassen. Carsten Dutt geht der Funktion der »gebrochenen Komik« in Tadellöser & Wolff nach und unterstreicht, dass diese gerade nicht der Unterhaltung, sondern der Reflexion diene. Sie werde »zum Medium einer Hermeneutik der Verstrickung« (S. 212) und lasse den Leser fragen, wie sich die bürgerlichen Protagonisten unter Hitler verhielten. Was so diskret und beiläufig daherkommen mag, entpuppt sich bei genauerem Nachdenken als subtiles Irritationsmittel, das für die Anfälligkeit und Brüchigkeit der bürgerlichen Mitte sensibilisiert und alles andere als apologetisch, sondern ausgesprochen selbstkritisch wirkt. Daniel Fulda geht einem anderen »Stör-Faktor« in Kempowskis Werk nach, den Fotografien, die dem Echolot beigegeben sind. Fast nie sind sie bloße Veranschaulichungen des nebenstehenden Textes. Bisweilen sind es bewusste Zeitsprünge, fast immer irritieren sie durch die nicht zufällig angelegte Spannungslage zum Text. Damit werden sie dialogisch und unterstreichen das Chorhafte der Stimmen und Bilder, die scheinbar unzusammenhängend nebeneinander montiert werden. Vor diesem Hintergrund versteht Fulda die »Poetik der Mitte« bei Kempowski als eine auf die bürgerliche Mitte ausgerichtete Darstellungsabsicht, mit der Kempowski seit den 1970er Jahren zu einem Trendsetter von populärer Geschichtsrekonstruktion wurde. Kevin Kempke schließlich setzt seine Sondierungen zur »Poetik der Mitte« bei Kempowskis Tagebuch Hamit an, in dem der RostockBesuch des Jahres 1990 verarbeitet wird. Die Erinnerungen, die Kempowski dort hat und notiert, sind bereits medialisiert durch die und durchsetzt von der Bezugnahme auf seine Romane und auf Eberhard Fechners Verfilmung von Tadellöser & Wolff. Er finde, so Kempke, an den Orten seiner Jugend nicht nur seine Erinnerungen, sondern auch seine eigenen Erfindungen wieder. Die verschiedenen Ebenen werden in Hamit – auch hier spielen Fotografien eine Rolle – miteinander verwoben. Das Repräsentative, das für eine »Poetik der Mitte« so wichtig ist, entsteht nicht allein durch das Nebeneinander von Erinnerungs- und Überlieferungssplittern. Kempke zeigt am Beispiel des von Kempowski abweichend vom Original getexteten Werbespruchs von »Krauses Brause« in Tadellöser & Wolff, dass der repräsentative, realistische Charakter des Textes bisweilen erst durch das »Prinzip der kleinen Abweichung« entsteht. Indem Details ein wenig zugespitzt und modelliert werden, gewinnen sie repräsentative Qualität und werden so vom bürgerlichen Publikum rezipiert.

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 Hans Jörg Hennecke

3 Politik der Mitte Welchen Schluss kann man nun aus der Lektüre des anregenden und innovativen Bandes ziehen? Kurz gesagt: Man sollte, nur weil er mit Bewertungen und Belehrungen immer so zurückhaltend war, die politische Qualität Walter Kempowskis nicht unterschätzen. Man tut gut daran, ihn im Kontext der politischen Ideengeschichte der Bundesrepublik zu lesen und ihn als Repräsentanten bürgerlichen Denkens zu verstehen. Er war – gerade in seiner Mittigkeit – politisch provokanter, als vielen seiner Leser bewusst sein mag, und er bietet eine wohltuende Alternative zu dem Intellektuellentypus, der nicht nur in der Bundesrepublik in seiner Selbstgerechtigkeit und Selbstgefälligkeit und mit seinen oftmals irrlichternden Zeitkommentaren so tonangebend ist. Kempowski repräsentiert, ohne sie zu verklären, eine Mitte, die durch pluralistische Spannungslagen geprägt ist und beständig um Integrationskraft ringen muss, die sich aber oftmals weniger artikuliert als ihre Kritiker am Rande. Man kann Kempowskis Werk als Plädoyer für ein selbstkritisches Selbstbewusstsein der Mitte lesen. Von der »Poetik der Mitte«, die nicht ohne Grund auf bestimmte Stilmittel und Erzähltechniken setzt, führen die Blickachsen zu einer »Politik der Mitte«, die empirisch am Erfahrbaren und Realen anknüpft, skeptisch gegenüber moralischen Gewissheiten und irdischen Heilserwartungen ist und am ehesten auf eine aus dem pluralistischen Diskurs erwachsende Vernunft vertraut.

 Teil F: Kempowski-Projekte

Katrin Möller-Funck

Echolot und Kirchenhall Eine 24-Stunden-Lesung im Rahmen der Rostocker Kempowski-Tage 2023 Einen Text laut vorlesen! Das wird vor allem in der Grundschule trainiert. Es soll die Leseflüssigkeit verbessern, aber eben auch die Dekodiergenauigkeit. Kempowski nutzte diese Technik, um die Wirkung seiner Echolot-Collage gewissermaßen zu testen. Während der Arbeit an diesem Projekt durften Besucherinnen und Besucher in Nartum aus den Manuskripten vorlesen; die Lesungen wurden mitgeschnitten. Die Anordnung des so unterschiedlichen Quellenmaterials zu einem Zeitpanorama konnte einer kritischen Prüfung unterworfen werden und zu Änderungen führen. »Vorlesen ist gut, da spürt man die Längen besser. Werde den alten Tonbandtrick anwenden.«1 Im Ergebnis entstanden überraschende Dialoge, Befragungen und Dispute, die in der Realität nie stattgefunden haben. Alle Facetten des menschlichen Erlebens sind nicht zu fassen – Kempowski hat aber versucht, einen Großteil zu spiegeln. Als Leser spürt man, dass er es sich nicht leicht gemacht hat. Seine Kompositorik hat ihren besonderen Reiz: Gleichzeitige Erlebnisse an unterschiedlichen Orten stehen unkommentiert nebeneinander; ebenso das, was zeitlich unmittelbar zum Erlebten niedergeschrieben wurde und das, was aus der zeitlichen Ferne, mit dem Wissen der Nachwelt behaftet, verfasst wurde. Kempowskis Arrangement ist gerade deswegen für jeden Historiker ein Alptraum; nur der Fundort ist eindeutig: Nartum – als Ort der Erinnerungsverwahrung. In seiner Zusammenstellung liegt aber der unbestechliche literarische Reiz, der zur steten Fortsetzung der Lektüre auffordert und den Leser in den Bann, gar in einen Lesestrudel zieht. Kempowski verlangt nach dem kritischen, dem denkenden Leser – mehr noch, er fordert vom Leser dessen Mündigkeit ein, die überlieferten Selbstzeugnisse und Dokumente einordnend zu bewerten. Hilfen hierzu bietet er nur durch seine Zusammenstellung der Texte und seine Auswahl, die immer auch ein Weglassen impliziert – gerade dies ist schmerzlich, aber Raum und Zeit geschuldet.2

Praktisch gleich nach dem Erscheinen des ersten (vierbändigen) Teils des EcholotProjektes 1993 wurden öffentliche Lesungen aus diesem Werk durchgeführt. In

1  Walter Kempowski. Culpa. Notizen zum Echolot. Mit Seitenhieben von Simone Neteler und einem Nachwort von Karl-Heinz Bittel. München: Knaus 2005, S. 156. 2  Jörg Hillmann: Rezension zu: Kempowski, Walter: Das Echolot. Abgesang ’45. Ein kollektives Tagebuch. München 2005. In: H-Soz-Kult, 10.8.2005, www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-7347 (letzter Zugriff am 20.7.2023). https://doi.org/10.1515/9783111330938-016

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 Katrin Möller-Funck

Kirchen oder Schulen stellte man ausgewählte Ausschnitte dar und las sie laut vor. Auch in Rostock sollte das Echolot bereits 1993 präsentiert werden. Pläne dazu gab es vom Autor schon 1991.3 2013 jährte sich das Erscheinen der ersten Bände zum zwanzigsten Mal. Anlass genug, in Rostock, Kempowski Geburtsstadt, endlich eine umfangreiche Lesung zu organisieren. Eine ganze Woche, so die Planung, sollten Interessierte jeweils eine halbe Stunde aus den Büchern lesen, und das 24 Stunden am Tag durchgängig in der Marienkirche in Rostock. Die Anstrengungen waren nicht gering, aber das Konzept funktionierte. 10 Jahre später, im April 2023, standen die Kempowski-Tage unter der Überschrift »Collage und Montage«. Eine Echolot-Lesung schien deshalb angemessen. Eingerahmt werden sollte diese Aktion mit einer Veranstaltungscollage aus Gesprächen zu Büchern, die sich mit dem Krisenjahr 1923 auseinandersetzten. Man entschied sich für den letzten Teil des Projektes, Abgesang ʼ45. Dieses einbändige Werk mit ca. 500 Seiten sollte in 24 Stunden durch freiwillige Mitwirkende vorgestellt und vom ersten bis zum letzten Wort laut vorgelesen werden. Eröffnet wurde die Darbietung durch den Bundespräsidenten a. D. Joachim Gauck. Punkt 19 Uhr – mit dem Glockenschlag der astronomischen Uhr – begann in der noch immer kalten Kirche in der Hansestadt die besondere Lektüre. (Deshalb waren Decken und heiße Getränke vor Ort. Zuhörende verließen die Lesung in erster Linie, um sich aufzuwärmen. Einige wenige blieben die ganze Zeit vor Ort.) Der Irrsinn des Krieges, die grausamen Szenen bei der Befreiung von Konzentrationslagern, die Ängste und politischen Zukunftsvisionen wurden hörbar; die Vielfalt der Stimmen konnte vernommen werden. Bei einigen Lesungen brachen die Stimmen, Tränen flossen, Köpfe wurden geschüttelt angesichts von Größenwahn oder Idiotie  – und im Kirchenhall klang all dies noch lange nach. Mitwirkenden aus Rostock, angereisten Personen aus verschiedenen Teilen Deutschlands und den Niederlanden sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Unterlegt hat diese Lesung die einzigartige Stimmung in der Marienkirche, die in krassem Gegensatz zum Text fast schon feierlich wirkte. Einen würdigen Schlusspunkt setzte die Orgel – und draußen war der erste warme Frühlingstag des Jahres 2023.

3  Vgl. Kempowski: Culpa 2005, S. 177.

Echolot und Kirchenhall 

Abb. 1: Joachim Gauck am 21.4.2023 in der Marienkirche Rostock. Foto: Stephan Lesker.

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Die Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge Christian Dawidowski (Prof. Dr.) ist Professor für Literaturdidaktik an der Universität Osnabrück. Forschungsschwerpunkte: empirische Literaturdidaktik (besonders qualitative Methoden, literarische Sozialisationsforschung), interkulturelle Literaturdidaktik, Mediendidaktik (Film), Geschichte des Deutschunterrichts, Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts (Moderne, Postmoderne). (Mit-)Herausgeber der Beiträge zur Geschichte des Deutschunterrichts und der Beiträge zur Literatur- und Mediendidaktik, von Moderne und Gegenwart. Studien zur Literaturwissenschaft und Literarisches Leben heute (alle Peter Lang). Buchpublikationen: Popliteratur der 1990er und 2000er Jahre. KLG-Extrakt. München: edition text+kritik 2019 (Herausgeber); Literarische Bildung in der Schule. Stuttgart: Reclam 2022; Die Darstellung des Islam im Kaiserreich. Historische Lesebuchforschung mit digitalisierten Quellen. Berlin: Lang 2022 (gemeinsam mit Florian Eickmeyer). Karen Duve schreibt Romane und Erzählungen und veröffentlicht derzeit im Verlag Galiani. Zuletzt erschien Sisi. Roman. Berlin: Galiani 2022. Gustav Frank (Prof. Dr.), Ludwig Maximilians Universität München. Forschungsschwerpunkte: Visuelle Kulturen, Zeitschriftenforschung, Narratologie, Kultur der Synthetischen Moderne. Publikationen zuletzt (jeweils als Herausgeber): W .J. T. Mitchell: Bildtheorie. Berlin: Suhrkamp 2018 (stw, 2261); Hans Fallada Handbuch. Berlin: De Gruyter 2019 (zusammen mit Stefan Scherer); Vicki Baum (zusammen mit Julia Bertschik, Veronika Hofeneder, Werner Jung, Text+Kritik 235, 2022). Niklas Gödde (M. A./M. Ed.) promoviert zur US-amerikanischen Demokratisierungspolitik, »Reeducation« im Kontext der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur zwischen 1945 und 1985. Forschungsschwerpunkte: Literaturgeschichte (Literatur des 20. Jahrhunderts, Gegenwartsliteratur), Literatur und (US-)Demokratie. Aktuelle Publikation: Nicht mehr hier sein – aber irgendwo ›Dazwischen‹. Paula Irmschlers Superbusen, die deutsche Pop-Literatur – und ihre Politisierung? In: Sebastian Berlich/Holger Grevenbrock/Katharina Scheerer (Hgg.): Where are we now? Orientierungen nach der Postmoderne. Bielefeld: transcript 2022 (Edition Kulturwissenschaft, 275), S. 177–194 (zusammen mit Jana Bernhardt und Gesine Heger). Lutz Hagestedt (Prof. Dr.) ist Professor für Neuere und neueste deutsche Literatur an der Universität Rostock. Er ist Herausgeber des Deutschen Literaturlexikons (begründet von Wilhelm Kosch). Aktuelle Publikationen: Literatur auf zweiter https://doi.org/10.1515/9783111330938-017

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 Die Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge

Stufe. Metaleptische Werkstiftung bei Gerhard Henschel. In: Laura Schütz (Hg.): Gerhard Henschel. München: edition text+kritik 2023 (Text+Kritik, 9/23), S. 37–41; Ich habe keinen einzigen Traum aufgegeben. Ernst Augustin zum Gedenken. München: Beck 2022 (Herausgeber); Kultivierte Barbarei. Lyrischer Orientalismus in deutschsprachigen Anthologien des 19. Jahrhunderts. In: Ralf-Georg Czapla (Hg.): »Weltpoesie allein ist Weltversöhnung«. Friedrich Rückert und der Orientalismus im Europa des 19.  Jahrhunderts. Baden-Baden: Ergon 2021 (RückertStudien, 22), S. 77–110. Hans Jörg Hennecke (Prof. Dr.) lehrt als außerplanmäßiger Professor Politikwissenschaft an der Universität Rostock und ist Vorsitzender der List-Gesellschaft e. V. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Zeitgeschichte, Ideengeschichte und Regierungslehre, darunter Biographien der Ökonomen Friedrich August von Hayek (2000) und Wilhelm Röpke (2005) und eine zeithistorische Darstellung der Kanzlerschaft Gerhard Schröders (2003). Jüngere Publikationen sind (jeweils als Herausgeber): Herkunft und Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft. Berlin: Springer Gabler 2021 (List-Forum, 47/1) (mit Dominik Geppert); Interessen, Werte, Verantwortung. Deutsche Außenpolitik zwischen Nationalstaat, Europa und dem Westen. Zur Erinnerung an Hans-Peter Schwarz: Paderborn: Schöningh 2019 (mit Dominik Geppert); Koalitionen in der Bundesrepublik. Bildung, Management und Krisen von Adenauer bis Merkel. Paderborn: Schöningh 2017 (mit Philipp Gassert); Staat und Ordnung im konservativen Denken. Baden-Baden: Nomos 2013 (mit Michael Großheim). Ulrike Henny-Krahmer (Jun.-Prof. Dr.) ist Akademie-Juniorprofessorin für Digital Humanities an der Universität Rostock. Sie arbeitet an der digitalen Uwe JohnsonWerkausgabe mit und leitet gemeinsam mit Roger Labahn und Holger Helbig das DFG-Projekt »Computational Approaches to Narrative Space in 19th and 20th Century Novels« (CANSpiN). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der digitalen Editorik und Textanalyse sowie der Nachhaltigkeit digitaler Forschungsergebnisse. Zuletzt ist ihre Dissertation Genre Analysis and Corpus Design. Nineteenth-Century Spanish-American Novels (1830–1910) als Online-Publikation in der Schriftenreihe des IDE erschienen. Vera Jürgens (M. Ed.) promoviert an der Universität Osnabrück im Bereich der germanistischen Literaturwissenschaft zu Schulromanen der Gegenwart und ihrer Darstellung von Macht. Dort war sie ebenfalls als Lehrbeauftragte am Lehrstuhl für Literaturdidaktik beschäftigt. Aktuelle Publikationen: Zum Panorama verschiedener Gewaltformen und ihrem Mosaik aus Begründungszusammenhängen. Didaktische Potenziale von Norbert Niemanns Roman Schule der Gewalt (2001). In:

Die Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge 

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Zeitschrift für Literatur im Unterricht 1 (2022); Zum historischen Spannungsverhältnis von Hermeneutik und Handlungs- und Produktionsorientierung. In: Carsten Bothmer u. a.: Aufsatzdidaktik. Hannover: Klett Kallmeyer 2022, S. 115–117. Sabine Kienitz (Prof.  Dr.) ist seit 2009 Professorin für Empirische Kulturwissenschaft an der Universität Hamburg und Mitglied des DFG-Exzellenzclusters »Understanding Written Artefacts«. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen zum einen in der Manuskriptforschung, wo sie sich mit der Materialität von Himmelsbriefen, Anliegenbüchern und der Geschichte der Stenographie beschäftigt; zum anderen im Bereich der Historischen Kriminalitätsforschung, der Körper- und Erfahrungsgeschichte des Ersten Weltkriegs sowie der Alltagsgeschichte der 1920er Jahre in Hamburg. Aktuelle Publikationen: ›… even the bravest person has his own little superstition.‹ On the Material Nature and Magical Purpose of Heavenly Letters in the 19th and 20th Century. In: Manuscript Cultures 19 (2023), S. 102–148; Schreiben, um gehört zu werden. Zur Materialität religiöser Kommunikation im Medium des Anliegenbuchs. In: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 67 (2022), S. 178–194; Zum Geldmachen verführt. Praktiken, Logiken und Netzwerke der Falschmünzerei Mitte des 19. Jahrhunderts in Württemberg. In: Markus Tauschek (Hg.): Handlungsmacht, Widerständigkeit und kulturelle Ordnungen. Potenziale kulturwissenschaftlichen Denkens. Münster/New York: Waxmann 2017, S. 157–168; Beschädigte Helden. Kriegsinvalidität und Körperbilder 1914–1923. Paderborn u. a.: Schöningh 2008. Sabine Koburger (Dr. phil.) studierte Germanistik und Anglistik an der FriedrichSchiller-Universität in Jena, arbeitete danach bis 2010 als Lehrerin in Stralsund, 1994 als Austauschlehrerin in Cahirciveen/Irland. Sie wurde 2013 an der Universität Rostock promoviert. 2015 erschien die Dissertation in Buchform unter dem Titel »Ein Autor und sein Verleger. Hans Fallada und Ernst Rowohlt in Verlags- und Zeithorizonten«. München: Belleville (Theorie und Praxis der Interpretation, 12). 2017 folgte das Sachbuch »Junger Mann auf Irrwegen. Mit Falladas Romanfiguren durch Vorpommern«. Elmenhorst: Edition Pommern. Sie ist Autorin zahlreicher Publikationen zu Hans Fallada, u.a. im Hans-Fallada-Handbuch (2019), und Chefredakteurin der Zeitschrift »Salatgarten«; die von der Hans-Fallada-Gesellschaft herausgegeben wird. Zusammen mit Michael Töteberg gab sie den Band »Hans Fallada. Wenn mich ein Buch wirklich reizt. Literaturkritische Schriften«. Friedland: Steffen 2023 heraus. Sie unterrichtet seit 2015 als Lehrbeauftragte, gegenwärtig am germanistischen Institut der Universität Rostock. Carolin Krüger (Dr. phil.) ist Lehrbeauftragte am Institut für Germanistik der Universität Rostock und Mitarbeiterin am Kempowski-Archiv-Rostock. Promotion zu öffentlichen Alter(n)sdiskursen in der Bundesrepublik Deutschland (2015).

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 Die Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge

Forschungsschwerpunkte: Diskurslinguistik, private Schriftlichkeit im Nationalsozialismus. Aktuelle Publikationen: Phraseologismen als Zeit- und Kulturdokumente  – der »Büchmann« im Nationalsozialismus. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 39, Heft 2 (2019), S. 259–278; Altersdiskurs. In: Thomas Niehr/Jörg Kilian/Jürgen Schiewe (Hgg.): Handbuch Sprachkritik. Berlin: Metzler 2020, S. 241–251, Das Sammelbilderalbum – eine einflussreiche Textsorte des Alltags und der Propaganda im Nationalsozialismus. In: Lutz Hagestedt (Hg.): »Ich möchte Archiv werden.« Kempowskis Autorschaft zwischen archivalischer Quelle und strategischer Werkpolitik. München: Belleville (In Vorbereitung). Stephan Lesker (Dr. phil.): Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Rostock. 2021 Promotion ebendort mit einer Arbeit zu Referentialität und Kombinatorik im Werk Walter Kempowskis. Habilitationsprojekt zu Matthias Claudius im literarischen Feld seiner Zeit. Publikationen in Auswahl: Effekte der Mehrdeutigkeit. Kempowski-Lektüren zwischen Autobiographie, Historiographie und Roman. Rostock: Redieck & Schade 2020 (Spatien 7) (Herausgeber, zusammen mit Torsten Voß und dem Kempowski-Archiv-Rostock); Matthias Claudius, Walter Kempowski, Heinz Rudolf Kunze und die unschuldigen Mädchen. Oder: Warum Alexander Sowtschick das Abendlied spielt. In: Jahresschriften der Claudius-Gesellschaft 31 (2022), S. 41–56; »Personennamen und Bezeichnungen der Truppenteile entsprechen – außer in den Dokumenten – nicht der Wirklichkeit.« Edlef Köppens Heeresbericht als Dokufiktion. In: Cornelius Mitterer/Torsten Voß (Hgg.): Temporäre Fetzen. Wien: Praesens 2023 (im Druck). Katrin Möller Funck (Dr. phil.) ist Leiterin des Kempowski-Archiv-Rostock und Geschäftsführerin der Kempowski-Stiftung. Torsten Voß (Priv.-Doz. Dr. phil.) ist seit Wintersemester 2023/2024 Senior Lecturer für Neuere Deutsche Literatur an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt; im Sommersemester 2023 Vertretung der Professur für »Vergleichende Literaturwissenschaft und Intermedialität« (Claudia Öhlschläger) an der Universität Paderborn; WS 2017/2018 Guest Professor/Vertretungsprofessur für Neuere Deutsche Literatur und Medien an der Universität Innsbruck; WS 2018/2019 bis SoSe 2021 Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Bergischen Universität Wuppertal; WS 2019/2020 W3-Vertretungsprofessur für Neuere deutsche Literatur mit dem Schwerpunkt Kulturtechniken an der TU Dortmund. Aktuellere Publikationen: Drumherum geschrieben? Zur Funktion auktorialer Paratexte für die Inszenierung von Autorschaft um 1800. Hannover: Wehrhahn 2019; Wenn die Sprache zum Bild wird: Konkrete Metamorphosen in der Lyrik moderner katholischer Literatur: Konrad Weiß und Gerard Manley Hopkins. In: Roczniki Humanistyczne/Humanistische Jahr-

Die Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge 

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bücher 5: Neuphilologie (2021), S. 197–228; Zwischen Vertrautheit und Fremdheit. Die Heimatnarrative des Jonathan Fabrizius. In: Kempowski-Jahrbuch 1 (2022), S. 155–178. Zahlreiche Aufsätze und Artikel zur neueren deutschen Literaturgeschichte, vergleichenden Literaturwissenschaft und Medienwissenschaft – Aktuelle Forschungsprojekte: Literarischer Katholizismus und/als ästhetische Avantgarde in Europa vom 19. bis zum 21. Jahrhundert; Das literarische Feld als Narrativ in der Gegenwartsliteratur; Die verschiedenen Enden des langen 19. Jahrhunderts. Nikolaus Werz (Prof. Dr.) ist emeritierter Professor für Vergleichende Regierungslehre der Universität Rostock. Forschungsgebiete: politische und gesellschaftliche Entwicklung in Mecklenburg-Vorpommern und Iberoamerika. Aktuelle Publikatio­ nen: Der Märchenerzähler, die Staatssicherheit und die Bildung. Peter Heidrich in Rostock. In: Petra Himstedt-Vaid (Hg.): Von Mund zu Ohr via Archiv in die Welt. Beiträge zum mündlichen, literarischen und medialen Erzählen. Festschrift für Christoph Schmitt. Münster/New York: Waxmann 2021, S. 411–425; Von der demokratischen Transition zu neuen Konfrontationen – die politische Entwicklung im 21.  Jahrhundert. In: Walther L. Bernecker/Carlos Collado Seidel (Hgg.): Spanien heute. Politik, Wirtschaft, Kultur. 6., vollständig neu bearbeitete Auflage. Frankfurt/M.: Vervuert 2022, S. 47–76, Glaube und Politik in Mecklenburg. In: Ludmila Lutz-Auras/ Dennis Bastian Rudolf (Hgg.): Menschen, Macht und Mythen. Politik und Glaube im Widerstreit spätmoderner Gesellschaften. Wiesbaden: Springer VS 2023, S. 115–136.

Personenregister Adler, Hans 19 Adler, Hans Günther 20 Adorno, Theodor W. 146, 302 Alexis, Willibald 18, 19 Allemann, Fritz René 296 Altdorfer, Albrecht 20 Aly, Götz 230, 231 Ammon, Frieder von 301 Aron, Raymond 297 Baack, Emma 258 Bagehot, Walter 296 Balzac, Honoré de 147 Baßler, Moritz 135, 148 Beckmann, Emmy 247, 251 Behn, Margarethe 249 Behrend, Walter 196 Behrenhoff, Rosa 251, 255 Beinhorn, Elly 201 Bekker, Paul 142 Benjamin, Walter 146 Benthien, Claudia 122 Berger, Peter A. 191 Beyer, Alwine 254 Bloch, Ernst 139 Bollenbeck, Georg 44, 50, 59 Böll, Heinrich 167, 169 Bonaparte, Napoleon 70 Bonsac, Richard de 14 Boog, Julia 74 Borchardt, Rudolf 147 Bötel, Annie 256 Bötel, Ferdinand 256 Bourdieu, Pierre 46 Brecht, Bertolt 134, 139, 145, 147 Brixa, Anna 36, 101, 288 Brückner, Christine 167, 169 Bühl, Adolf 250 Bülow, Vicco von 27 Bürger, Peter 149 Burrows, John 168, 178 Busoni, Ferruccio 142 Calzoni, Raul 32 Connell, Raewyn 103 Copei, Friedrich 277 https://doi.org/10.1515/9783111330938-018

Cords, August 198 Craig, Hugh 178 Dahn, Felix 19 Dalen-Oskam, Karina van 164, 165 Damiano, Carla 63, 76 Dawidowski, Christian X, 64 Dierks, Manfred 64, 68, 69, 120 Döblin, Alfred 19, 140 Dominik, Hans 58, 133 Dos Passos, John 140 Durian, Wolf 133 Dutt, Carsten 303 Duve, Karen X Ebert, Friedrich 220 Eden, Henry Andreas 248 Einstein, Carl 140 Eldred, Michael 123, 124, 125 Elze, Curt 195 Emeis, Kathrin 74 Engelmann, Hanna 303 Enzensberger, Hans Magnus 19, 136, 152, 153, 299, 300 Ernst, Max 143 Eroms, Hans-Werner 160, 161, 162, 165, 181, 183, 184, 186, 187 Erzberger, Matthias 223 Eschenburg, Karl 200 Fallada, Hans XI, 216 Fechner, Eberhard 5, 23, 303 Flaccus, Quintus Horatius 48 Flügge, Manfred 125, 126 Fontane, Theodor 18, 29, 150 Forster, E. M. 135 Foucault, Michel 71 Frank, Gustav XI Freud, Sigmund 31 Friedrich Franz IV. 14 Fröbel, Friedrich 56 Fulda, Daniel 303 Fussenegger, Gertrud 19 Gadamer, Hans-Georg 9 Galsworthy, John 19 Gampp, Anna-Erika 254 Gampp, Erika 253

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 Personenregister

Gampp, Josua Leander 254 Gauck, Joachim XII, 204, 308, 309 Gehlen, Arnold 298 Gellert, Gertrud 240, 241 Gödde, Niklas XI Goebbels, Joseph 18, 201 Goethe, Johann Wolfgang von 29, 46, 301 Goffman, Erving 124 Goldhagen, Daniel 231 Göring, Hermann 217 Görlitz, Walter 196 Görtz, Franz Josef 9, 10 Grass, Günter 145, 167, 169, 173, 299 Greenberg, Clement 140, 146 Gronemann, August 240, 241, 244, 249, 255, 258, 261 Grünberg, Gottfried 201 Haase, Charlotte 256 Habermas, Jürgen 9, 116, 136 Hagestedt, Lutz XI Hage, Volker 79 Hallstein, Walter 194 Hanisch, Ernst 122 Harig, Ludwig 136 Hartlaub, Gustav Friedrich 141, 142, 145 Hasenclever, Walter 217 Hayek, Friedrich A. 297 Heinkel, Ernst 201 Heinrich IV 287 Heisenberg, Werner 90 Hempel, Dirk 36, 118, 159, 276, 280 Hennecke, Hans Jörg XII, 27 Henny-Krahmer, Ulrike XI Henschel, Gerhard 115, 275, 303 Herbart, Johann Friedrich 53 Herrmann, Berenike J. 106, 108, 113, 164, 165 Herrmann, Frida 244, 258 Herron, George D. 222 Heym, Stefan 15, 16 Hildebrandt, Friedrich 198 Hillmann, Jörg 307 Hipp, Mathilde 253 Hitler, Adolf 21, 34, 47, 63, 85, 86, 195, 212, 214, 217, 224, 225, 226, 227, 228, 229, 230, 235, 297, 303 Hofmannsthal, Hugo von 140 Hölderlin, Friedrich 221

Holmes, David I. 163 Homfeldt, Hedwig 240, 260 Honold, Alexander 125 Horaz. Siehe Flaccus, Quintus Horatius Horn, Maren 298, 302, 303 Jakobson, Roman 146, 149 Jannidis, Fotis 163, 164 Jaspers, Karl 212, 301 Jochimsen, Heinrich 244 Jochimsen, Margarethe 244 Johst, Hanns 227 Joyce, James 140, 145 Julia, Gaston (Maurice) 92 Jürgens, Vera XI, 51, 286 Kafka, Franz 19, 140 Kaiser, Joachim 19 Kandinsky, Wassily 140, 141 Kästner, Erich 226 Keele, Alan XI Keller, Gottfried 88 Kempke, Kevin 303 Kempowski, Hildegard 202, 270 Kempowski, Karl Friedrich 274, 275, 277, 278, 279, 280, 281, 283 Kempowski, Karl Georg 117, 121 Kempowski, Margarethe 203 Kempowski, Renate 275, 280 Kempowski, Robert X, 3, 4, 5, 203 Kempowski, Walter 31 Kienitz, Sabine XI Kindt, Tom 298, 299 Kippenberger, Hans 245 Kippenberger, Margot 245 Kippenberger, Thea 245, 246, 262 Kleeberg, Alfred 251, 252 Klemperer, Victor 228 Knaus, Albrecht 275, 276 Koburger, Sabine XI Koch, Werner 19 Koselleck, Reinhart 149 Kracauer, Siegfried 10, 146 Krause, Emil 237, 250, 252, 260 Kraus, Karl 140 Krüger, Carolin XI, 275 Kyora, Sabine 59 Ladenthin, Volker 65, 73, 274, 277 Lamping, Dieter 301

Personenregister 

Landahl, Frieda 238, 244, 247, 251, 252, 261 Landahl, Heinrich 248, 252, 259, 261 Lange, Helene 251 Langgässer, Elisabeth 153 Laube, Heinrich 19 Le Corbusier 137 Lemke, Anja 75 Lenz, Hermann 229 Leonhard, Rudolf 139 Lepper, Marcel 298, 299 Lesker, Stephan XI, 21, 160, 161, 189, 309 Lessing, Gotthold Ephraim 46, 140 Lethen, Helmut 111, 112 Lieffen, Karl 24 Lindbergh, Charles 201 Link, Jürgen 134 Lissauer, Ernst 57 Loest, Erich 16 Loewenberg, Jakob 261 Lohmeier, Anke-Marie 149 Lohrisch-Achilles, Gudrun 269 Lohrisch-Achilles, Otto 269 Lohrisch, Lars 265, 266, 267, 268, 270, 277 Lorchmann, F. 250 Löwe, Matthias 300 Lüders, Martha 258 Lukács, Georg 139, 145 Luther, Martin 195 Mahns, Agnes 246 Mandelbrot, Benoît B. 88, 91, 92 Mann, Heinrich 45, 115, 116, 122, 125, 126, 128 Mann, Thomas 19, 29, 31, 57, 143, 150, 193, 203, 204, 279 Marquard, Odo 300, 301 Martens, Erna 253 Märtin, Hans 279 Mauthner, Fritz 140 Mead, George Herbert 44 Mecklenburg, Norbert 203 Meyer, Albert 201 Mielke, Angela 80 Minkenberg, Ursel 275, 280, 282, 283, 284 Moeller, Richard 200 Möller-Funck, Katrin XII Monn, Xavier 65, 78, 79, 274, 288, 290 Morell, Theodor 279 Moretti, Franco 203

 319

Morgenstern, Christian 140 Müller, Hans-Harald 222 Müller, Paul Alfred 133 Munch, Edvard 197 Münchhausen, Börries Freiherr von 228 Mussolini, Benito 217 Muus, Dora 245 Muus, Friedrich 246 Myler, Lok 133 Nadler, Josef 145 Neuberger, Theodor 249 Nietzsche, Friedrich 86, 89, 140 Nipperdey, Thomas 193 Nolte, Andreas 174 Papen, Franz von 86 Paterna, Wilhelm 252 Paterna, Wilhelmine 244, 247, 251, 252 Pesendorfer, Getrud 69 Pestalozzi, Johann Heinrich 51, 69, 286 Peter, Dora 249, 250 Peter, Karl 249, 250 Peters, Elke 252 Petersen 237 Poincaré, Henri 89, 90 Popkes, Helene 253 Preisendanz, Wolfgang 132 Quadflieg, Roswitha 275, 276 Raddatz, Fritz J. 19, 202 Rauch, Neo 295, 297 Rautenberg, Anna-Erika 254 Reents, Edo 299, 300, 303 Reents, Friederike 37, 103, 113, 162 Reis, Olaf 204 Rellstab, Ludwig 19 Remarque, Erich Maria XI, 21, 218, 219, 221, 222 Reuter, Fritz 46 Riefenstahl, Leni 201 Ringelnatz, Joachim 140 Rinser, Luise 19 Rivière, Joan 122 Roh, Franz 142, 145 Roth, Joseph 115 Rühmkorf, Peter 19 Sartre, Jean-Paul 17 Schade, Frieda 259 Schalansky, Judith XI, 65, 73, 75, 76, 79, 80, 81 Schaser, Angelika 239

320 

 Personenregister

Schiefler, Gustav 197 Schiller, Friedrich 46, 56 Schmidt, Arno 19, 144, 145, 146, 149, 151, 153 Schmid, Wolf 105 Schnellbügel, Clara 242, 258, 259 Schnellbügel, Hugo 258, 259 Schnell, Ralf 151 Schnoor, Erna 258 Schöch, Christof 164, 165 Schopenhauer, Arthur 121 Schorr, Karl Eberhard 17 Schröder, Martha 258 Schröder, Rudolf Alexander 58 Schultz, Arnold 260 Schultze, Ernst 249 Schulz, Peter 191 Schweda, Mark 300, 301 Sedlmayr, Hans 137, 138, 139, 140, 141, 146 Seifert, Anna 256 Semmelrogge, Martin 5 Siegmann, Richard 201 Siems, Margarethe 258 Sina, Kai 298, 299, 300, 301 Spanier, Margaretha 257 Spanier, Will 257 Spielhagen, Friedrich 19 Staszak, Heinz-Jürgen 197 Stegen, Ernst 255 Stegen, Mathilde 255 Stephan, Inge 122 Stern, Joseph Peter 21 Stinnes, Hugo 256 Stockhorst, Stefanie 135, 159, 189 Strindberg, August 46 Struve, Karl August 240 Stuckrad-Barre, Benjamin von 203 Taubert, Elisabeth 244 Taubert, Wilhelm 244 Theweleit, Klaus 109

Thiess, Christine 237 Thoma, Hans 47, 48 Tolstoi, Lew Nikolajewitsch 147 Träger, Fritz 237 Traulsen, Friedrich 258 Traxler, Hans 273 Tschirch, Werner 199 Tucholsky, Kurt 222 Vogelweide, Walther von der 46 Voß, Torsten XI Walberer, Magda 258 Walser, Martin 136, 152, 153, 299 Weber, Gerhard 200 Weber, Max 296 Wegscheider, Hildegard 251 Wehler, Hans-Ulrich 193 Weidemann, Klara 258 Weisser, Jens 5 Weiss, Peter 151 Wendenburg, Jasmine 11, 161 Werz, Nikolaus 14 Wesche, Tilo 302 Wessel, Horst 55, 58, 215 Westheim, Paul 140, 145 Widding, Bernd 106 Wilbrandt, Adolf von 196, 197 Wilhelm I 192 Wilhelm II 126, 192 Willmann, Otto 53 Wilson, Woodrow 222 Wirth, Ria 261 Witte, Friedrich Carl 199, 201 Wittgenstein, Ludwig 148 Wolf, Christa 105, 113, 167, 169, 184 Wopfner, Hermann 70 Wühr, Paul 136 Zielcke, Margarete 242 Zilles, Sebastian 124, 126 Zweig, Stefan 19