Benn Forum: Band 8 2022/2023 9783111102740, 9783111084855

The "Benn Forum" presents research on the life and work of Gottfried Benn and on the literary context of his t

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German Pages 334 [336] Year 2023

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Table of contents :
Inhalt
Gottfried Benn und Carl Einstein. Freundschaft, Netzwerke, Themen. Eine Einführung
I. Avantgardepoetik und die Idee der ‚absoluten Prosa‘
Auf der Suche nach dem Absoluten. Carl Einsteins „Bebuquin“ und Gottfried Benns „Roman des Phänotyp“
„Mein Kopf ist eine Empfangsstation für Gedankenströme von Menschen, die ich gar nicht kenne“. Zur Entstehung von Gottfried Benns „Roman des Phänotyp“. Erste Ergebnisse
„O gleiche Kraft, o Geschehnislosigkeit, o Ereignisse“. Carl Einstein, Gottfried Benn und die Statik
Bewundert und verdammt. Gottfried Benn und Carl Einstein. Eine Freundschaft im Wandel der Zeiten (Mit zwei Schreiben von Walter Gropius und Rudolf Kurtz an Carl Einstein
II. Kolonialismus und Exotismus
Das nackte Objekt der Anschauung. Erkenntnistheoretischer Primitivismus bei Carl Einstein
Wie kommt eine Gazelle in die Südsee? Gottfried Benns Gedicht „Meer- und Wandersagen“ im Kontext der Ausstellung „Südsee-Plastiken“
Primitivistische Afrika-Darstellungen im Werk Gottfried Benns
Von ‚Fächertänzen‘ und ‚Pazifikkränzen‘. Benns Exotismus der Phase II
III. Expressionistische und postexpressionistische Netzwerke
Gottfried Benns deutsch-jüdische Netzwerke in den 1920er und 1930er Jahren
Ewald Wasmuth, Gottfried Benn und Carl Einstein: Eine Spurensuche
Neue Materialien zu Gottfried Benns Vortrag in Knokke (1952) und zu seiner deutsch-französischen Mittlerfunktion in der Nachkriegszeit
Rezensionen
Gottfried Benn und Gertrud Zenzes: Briefwechsel 1921–1956
Matthias Berning: Anemonenschwert und Lydditgranate. Gottfried Benns inszenierte Dichtergenese im Ersten Weltkrieg
Florian Illies: Über Gottfried Benn
Silvia Kind trifft Gottfried Benn. Tagebücher und Briefe Berlin 1948–1950
Nicole Rettig: Statische Moderne. Zum Begriff der Statik in bildender Kunst, Literatur und Architektur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Philipp Pabst: Die Bedeutung des Populären. Kulturpoetische Studien zu Benn, Böll und Andersch. 1949–1959
Dorothea Zwirner: Thea Sternheim – Chronistin der Moderne. Biographie
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Benn Forum: Band 8 2022/2023
 9783111102740, 9783111084855

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Benn Forum

Benn Forum

Band 8 2022 / 2023

Beiträge zur literarischen Moderne Herausgegeben von Holger Hof und Stephan Kraft

ISBN 978-3-11-108485-5 e-ISBN PDF 978-3-11-110274-0 e-ISBN EPUB 978-3-11-110279-5 ISSN 1868-2758 Library of Congress Control Number: 2023939328 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Christa Rosa Wolff, Gottfried Benn. Öl auf Blechdosen 2001 Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Moritz Baßler, Stephan Kraft Gottfried Benn und Carl Einstein. Freundschaft, Netzwerke, Themen. Eine Einführung 1

I. Avantgardepoetik und die Idee der ‚absoluten Prosa‘ Sarah Gaber Auf der Suche nach dem Absoluten. Carl Einsteins „Bebuquin“ und Gottfried 9 Benns „Roman des Phänotyp“ Holger Hof „Mein Kopf ist eine Empfangsstation für Gedankenströme von Menschen, die ich gar nicht kenne“. Zur Entstehung von Gottfried Benns „Roman des 33 Phänotyp“. Erste Ergebnisse Nicole Rettig „O gleiche Kraft, o Geschehnislosigkeit, o Ereignisse“. Carl Einstein, Gottfried 63 Benn und die Statik Klaus H. Kiefer Bewundert und verdammt. Gottfried Benn und Carl Einstein. Eine Freundschaft im Wandel der Zeiten (Mit zwei Schreiben von Walter Gropius und Rudolf Kurtz an Carl Einstein) 89

II. Kolonialismus und Exotismus Eva Wiegmann Das nackte Objekt der Anschauung. Erkenntnistheoretischer Primitivismus bei Carl Einstein 117 Samuel Müller Wie kommt eine Gazelle in die Südsee? Gottfried Benns Gedicht „Meer- und Wandersagen“ im Kontext der Ausstellung „Südsee-Plastiken“ 139

VI

Inhalt

Raluca-Andreea Rădulescu Primitivistische Afrika-Darstellungen im Werk Gottfried Benns

163

Philipp Pabst Von ‚Fächertänzen‘ und ‚Pazifikkränzen‘. Benns Exotismus der Phase II 183

III. Expressionistische und postexpressionistische Netzwerke Marcus Hahn, Avraham Rot Gottfried Benns deutsch-jüdische Netzwerke in den 1920er und 1930er Jahren 203 Matthias Berning Ewald Wasmuth, Gottfried Benn und Carl Einstein: Eine Spurensuche

247

Hubert Roland Neue Materialien zu Gottfried Benns Vortrag in Knokke (1952) und zu seiner deutsch-französischen Mittlerfunktion in der Nachkriegszeit 265

Rezensionen Michael Braun Gottfried Benn und Gertrud Zenzes: Briefwechsel 1921–1956

289

Michael Ansel Matthias Berning: Anemonenschwert und Lydditgranate. Gottfried Benns inszenierte Dichtergenese im Ersten Weltkrieg 293 Stephan Kraft Florian Illies: Über Gottfried Benn

299

Peter Lingens Silvia Kind trifft Gottfried Benn. Tagebücher und Briefe Berlin 1948–1950 303

Inhalt

VII

Jasmin Grande Nicole Rettig: Statische Moderne. Zum Begriff der Statik in bildender Kunst, 307 Literatur und Architektur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Hendrikje J. Schauer Philipp Pabst: Die Bedeutung des Populären. Kulturpoetische Studien zu Benn, Böll und Andersch. 1949–1959 313 Thomas Ehrsam Dorothea Zwirner: Thea Sternheim – Chronistin der Moderne. 323 Biographie

Moritz Baßler, Stephan Kraft

Gottfried Benn und Carl Einstein. Freundschaft, Netzwerke, Themen. Eine Einführung So möchte man einmal rezensiert werden: „Vor Leistung ist Lob töricht; ich stelle meine Bewunderung fest.“¹ Mit diesen Worten schließt Carl Einstein seine Besprechung von Gottfried Benns „Gesammelten Gedichten“ in der „Neuen Rundschau“ im Oktober 1927. Einstein ist der Öffentlichkeit zu dieser Zeit vor allem als scharfer Kunstkritiker und Verfasser des 1926 erschienenen Bandes „Die Kunst des 20. Jahrhunderts“ in der Propyläen-Kunstgeschichte bekannt. Literarische Texte seiner Zeitgenossen lobt er hingegen nur selten. Die Freundschaft von Gottfried Benn und Carl Einstein reicht damals schon viele Jahre zurück in die Hochphase des Expressionismus im Kontext des „Aktions“Kreises um Franz Pfemfert; sie vertiefte sich in der gemeinsamen Brüsseler Zeit im Ersten Weltkrieg. Bislang noch wenig präsent ist die intensive Fortführung der Beziehung im Berlin der 1920er Jahre. Obwohl keine direkten Briefe zwischen den beiden überliefert sind, bietet die jüngst publizierte Korrespondenz Carl Einsteins der Jahre 1904–1940 mit ihren zahlreichen Erwähnungen Benns und gemeinsamer Bekannter vielfältige Einblicke in das Verhältnis der beiden Autoren, ihre sich überschneidenden Netzwerke sowie Hinweise auf Themen, die sie gemeinsam oder auch je einzeln beschäftigten. So schreibt Einstein 1923 einmal an Tony Simon Wolfskehl: Zu komisch – dass Benn und ich vom Litteraturbetrieb keinen blassen Schimmer haben; er nannte mir eine grosse Zeitschrift – ich hatte keine Ahnung von ihrer Existenz. Solche Dinge verbinden ungemein. Jeder von uns schreibt blind drauf los – wenn man mal Zeit hat und man lässt die Sachen liegen. Ich habe noch nie 2 solche Käuze gesehen. ohne jedes Ausnutzen von Ruf oder Beziehung. Eigentlich habe ich grosse Achtung vor uns beiden und jede vor dem andern; während wir das meiste drum rum garnicht schätzen. Sehr wenig und Erfolg für ein Pech halten. Komische Leute, was?²

1 Carl Einstein: Gottfried Benns „Gesammelte Gedichte“, in: Ders.: Werke. Berliner Ausgabe, Bd. 2: 1919–1928, hg. v. Hermann Haarmann und Klaus Siebenhaar, Berlin 1981, S. 369–372, hier: S. 372. 2 Carl Einstein: Briefwechsel 1904–1940, hg. v. Klaus H. Kiefer und Liliane Meffre, Berlin 2020, S. 281. Moritz Baßler, Münster Stephan Kraft, Würzburg https://doi.org/10.1515/9783111102740-001

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Moritz Baßler, Stephan Kraft

Was haben die beiden im jeweils Anderen gesehen? Einsteins Rezension vereinnahmt Benn, so kann man wohl sagen, für das eigene Programm einer Avantgardeästhetik, die dieser so kaum vertreten haben dürfte. Die „zerebralen Halluzinazionen“ Benns, mit den Mitteln eines „sprachlichen Autismus“ zu artistischer Lyrik geformt, bergen, so meint Einstein, „zunächst das vorregional Geahnte oder Mögliche, das – noch nicht analysierbar – Entwurf zu heutigem Mythus ist.“³ Umgekehrt gilt Einstein dem Freund noch nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem als Vertreter einer ‚absoluten Prosa‘, auf die Benn mit eigenen Texten wie dem „Roman des Phänotyp“ zielt.⁴ Dabei handelt Einsteins Prosa seit dem „Bebuquin“ gerade davon, dass die avantgardistischen Versuche das angestrebte Absolute immer wieder verfehlen – seine Protagonisten bleiben, wie er selbst als Autor, „Dilettanten des Wunders“. Auf diese Weise ist die gegenseitige Hochschätzung, so zweifelhaft ihre jeweiligen Prämissen auch sein mögen, untrennbar mit der Frage nach dem Wesen der literarischen Avantgarden verbunden. Verfahren, Programme und Wertungen beider Autoren bleiben in ihren wechselseitigen Bezugnahmen komplex und lohnen eine fortgesetzte Beschäftigung, auch und gerade was das Gattungsspektrum emphatisch moderner Prosa betrifft. Überdies ist beider Werk, wie Kunst und Theorie des Expressionismus überhaupt, vielfältig mit der europäischen und damit auch der deutschen kolonialen Vergangenheit verflochten. Während sich Carl Einstein bekanntermaßen intensiv mit afrikanischer Plastik auseinandergesetzt hat und in seiner Zeit in Brüssel im Museum für Belgisch-Kongo in Tervuren (heute: Königliches Museum für ZentralAfrika) tätig ist, gewinnt dieses Thema in der Lyrik Benns vor allem in den 1920er Jahren an Bedeutung (u. a. in „Osterinsel“, „Banane“, „Ostafrika“), ist aber auch schon zuvor in Gestalt eines breiter zu fassenden Exotismus und Primitivismus vielfach im Werk präsent. Aus den jüngsten kulturellen und kulturpolitischen Debatten, unter anderem über die Frage nach dem Umgang mit kolonialer Raubkunst, ergeben sich neue Diskussionsansätze zur Beleuchtung des jeweiligen Eingebundenseins der beiden Autoren in diesen Kontext. An Einstein denke ich oft und lese in seinen Büchern, der hatte was los, der war weit an der Spitze. Überhaupt die Jahre von 1912–1933 waren ja wohl die grossen Geniejahre, die letzten die Deutschland hatte.⁵

3 Einstein: Benns „Gesammelte Gedichte“ [Anm. 1], S. 370–371. 4 Vgl. dazu Gottfried Benn: Doppelleben, in: Ders.: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, Bd. V: Prosa 3. 1946–1950, hg. v. Gerhard Schuster, Stuttgart 1991, S. 83–176, hier: S. 140–143. 5 Gottfried Benn an Ewald Wasmuth, 27. März 1951, in: Gottfried Benn: „Absinth schlürft man mit Strohhalm, Lyrik mit Rotstift“. Ausgewählte Briefe 1904–1956, hg. v. Holger Hof, Göttingen und Stuttgart 2017, S. 232–234, hier: S. 232–233.

Gottfried Benn und Carl Einstein. Freundschaft, Netzwerke, Themen. Eine Einführung

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So schreibt Benn noch im März 1951 an den gemeinsamen Bekannten aus alten Tagen Ewald Wasmuth. Da ist Einstein schon über zehn Jahre tot, während Benn gerade dabei ist, seine literarische Reputation nachhaltig zurückzugewinnen. So kann auch der Verlauf beider Biografien exemplarisch für das Schicksal der Avantgarden im 20. Jahrhundert stehen. Einstein scheitert als Exilant, Jude und Spanienkämpfer auf der Flucht vor den Nationalsozialisten und nimmt sich an der spanischen Grenze das Leben. Nach dem Krieg wird es lange dauern, bis er vom Poète à l’Écart zu einem Klassiker der emphatischen Moderne aufsteigt. Benn dagegen übersteht sowohl seinen kurzen Flirt mit dem NS-Regime als auch seine anschließende Anfeindung durch ebendieses im Schutze der Wehrmacht, um nach 1945 mit einigem Anlauf noch einmal zu einer einflussreichen Figur der Gegenwartsliteratur zu werden. Die Bezugspunkte der beiden sind also höchst vielfältig, und auch die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich schwerpunktmäßig dem einen oder dem anderen widmen, haben das jeweilige Gegenüber in unterschiedlicher Intensität entsprechend häufig mit im Blick. Dies bot eine solide Basis dafür, den Schnittmengen und Differenzen der Werke von Benn und Einstein eine internationale wissenschaftliche Tagung zu widmen.Veranstaltet wurde sie im Herbst 2022 an der Universität Münster in einer Kooperation der Carl-Einstein-Gesellschaft/ Société Carl Einstein und der Gottfried-Benn-Gesellschaft mit großzügiger Unterstützung der Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten (ALG). Eine weitere Förderung durch die Gottfried-Benn-Gesellschaft machte zudem einen öffentlichen Vortragsabend mit Texten von Einstein und Benn mit dem Schauspieler und Sprecher Charles Brauer möglich. Die wissenschaftlichen Erträge der Veranstaltung werden nun hier im „Benn Forum. Beiträge zur literarischen Moderne“ präsentiert. Für die Hilfe bei der Bearbeitung der Druckfassungen sei dem Würzburger Redaktionsteam mit Jule Beck, Samuel Müller und Valentina Sontag gedankt. Die Münsteraner Tagung war in drei Sektionen eingeteilt, die sich auch im vorliegenden Band wiederfinden und die jeweils Beiträge umfassen, die entweder auf einen der Autoren konzentriert sind oder eine dezidiert vergleichende Perspektive einnehmen: I. Avantgardepoetik und die Idee der ‚absoluten Prosa‘ II. Kolonialismus und Exotismus III. Expressionistische und postexpressionistische Netzwerke Dass nicht jede Zuordnung eines Beitrags vollkommen eindeutig ist, versteht sich dabei ebenso wie der notwendig aus den gegenläufigen Interessen resultierende eingeschränkte Selbstanspruch einer solchen Tagung. Einerseits soll mit einem repräsentativen Querschnitt von Themen eine gewisse Breite erzielt werden, an-

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Moritz Baßler, Stephan Kraft

dererseits will man nicht im Allgemeinen stehenbleiben, sondern in diesem schon so vielfältig bearbeiteten Themenfeld durch punktuelle Tiefenbohrungen neue Schichten erreichen. Kurz: Auch wenn im Folgenden nicht alles in gleicher Intensität bearbeitet wird, so wird doch hoffentlich viel Anregendes geboten, das wiederum weiteres Nachdenken und Forschen in Gang setzen mag. Zuvor wurde bereits angedeutet, dass leider keine direkten Briefe von Einstein an Benn oder umgekehrt überliefert sind und überhaupt nur sehr wenige noch heute konkret fassbare Dinge von der Beziehung Zeugnis ablegen, wie etwa ein Exemplar von Einsteins „Anmerkungen“ aus dem Jahr 1916, das im Berliner Teil von Benns Nachlassbibliothek im Archiv der dortigen Akademie der Künste aufbewahrt wird. Umso schöner ist es, dass sich im Deutschen Literaturarchiv in Marbach ein ganz besonderes Freundschaftszeichen erhalten hat, das in den gemeinsamen Tagen in Münster geradezu einen Emblemcharakter gewonnen hat. Es handelt sich um ein Geschenk Einsteins an Benn – ein ursprünglich zu kultischen Zwecken hergestelltes tibetanisches Räuchergefäß, das in den Jahren um 1900 entstanden ist. Es stellt die Gottheit Mahakala dar, die aus dem Hinduismus übernommen worden ist, wo sie eine zornige Variante Shivas darstellt. Dass Einstein sich nicht nur mit afrikanischer, sondern auch mit asiatischer Plastik beschäftigt hat, ist ja gut bekannt. Zeitpunkt und Anlass des Geschenks sind hingegen unbekannt – es kann spekuliert werden, dass Einstein es Benn irgendwann in den 1920er Jahren zugedacht hat, als dieser wieder einmal – freilich vergeblich – versucht hat, sich das Rauchen abzugewöhnen.Von einem der entsprechenden Versuche berichtet Einstein 1923 im bereits zitierten Brief an Tony Simon-Wolfskehl: „Keiner von uns trinkt noch; Benn hat sogar das Rauchen aufgesteckt und trotz allem sah ich, wie wir alt werden“.⁶

6 Einstein: Briefwechsel [Anm. 2], S. 280–281.

Gottfried Benn und Carl Einstein. Freundschaft, Netzwerke, Themen. Eine Einführung

Abb. 1: Geschenk von Carl Einstein an Gottfried Benn – tibetanisches Räuchergefäß in Form der Gottheit Mahakala (DLA Marbach).

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I. Avantgardepoetik und die Idee der ‚absoluten Prosa‘

Sarah Gaber

Auf der Suche nach dem Absoluten. Carl Einsteins „Bebuquin“ und Gottfried Benns „Roman des Phänotyp“ Abstract: Der Beitrag diskutiert die jeweiligen Ansätze einer absoluten Prosa bzw. einer absoluten Prosa avant la lettre bei Gottfried Benn und Carl Einstein. Dem vorangestellt wird ein Überblick zu Stellung und Entwicklung des Konzeptes im autonomieästhetischen Diskurs der Literaturwissenschaft. Die Lesart der Primärtexte rückt den „Bebuquin“ sowie den „Roman des Phänotyp“ als Positionierungen am jeweils avantgardistischen Pol des literarischen Feldes um 1900 und 1950 in den Fokus.

1 Absolute Prosa: Zur Begriffskarriere in der Literaturwissenschaft seit 1945 In den literaturtheoretischen Passagen seiner Autobiographie „Doppelleben“ (1950) prägte Gottfried Benn bekanntlich das Begriffspaar der ‚absoluten Prosa‘.¹ Absolut, so schreibt der Autor hier, sei eine „Prosa außerhalb von Raum und Zeit, ins Imaginäre gebaut, ins Momentane, Flächige gelegt, ihr Gegenspiel ist Psychologie und Evolution“ (SW V, 140). Es handelt sich hierbei um eine denkbar knappe Definition. Und doch genügte sie, um Benns eigenem Anspruch auf „Kunst an sich“ (SW V, 140) wirkmächtig Ausdruck zu verleihen. Genauer, dem eigenen Anspruch auf eine möglichst autonomieästhetische Rezeption des Spätwerks, auf die Wahrnehmung seiner Lyrik und Prosa unter den Vorzeichen eines in sich selbst abgeschlossenen Kunstideals. Mit Erfolg: Ähnlich wie im Falle anderer Benn’scher Schlagwörter diffundierte auch das der absoluten Prosa von der literarischen in die literatur-

1 Vgl. Gottfried Benn: Doppelleben, in: Ders.: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, Bd. V: Prosa 3. 1946–1950, hg. v. Gerhard Schuster, Stuttgart 1991, S. 83–176, hier: S. 140–143. Im Folgenden wird auf diese Werkausgabe mit der Sigle (SW I–VII/2) im laufenden Text hingewiesen. Vgl. einführend zum Begriff: Moritz Baßler: Absolute Lyrik und Prosa, in: Benn-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Christian M. Hanna und Friederike Reents, Stuttgart 2016, S. 306–308. Sarah Gaber, Marbach https://doi.org/10.1515/9783111102740-002

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Sarah Gaber

wissenschaftliche Sphäre und machte hier zusammen mit seinem Autor Karriere.² Die werkimmanent operierende Germanistik der 1950er Jahre nahm Terminus und Konzept einer absoluten Kunst dankbar auf und interpretierte den Autor so mit seiner eigenen, ironischerweise dezidiert von der literarhistorisch dominierten Germanistik abgegrenzten Theoriebildung.³ Für die 1950er sowie die frühen 1960er Jahre exemplarisch nachvollziehen lässt sich diese Behauptung an den Arbeiten von Fritz Martini oder Reinhold Grimm. Der für die Renaissance der Moderne-Forschung wichtige Germanist Fritz Martini⁴ referenzierte in seiner Interpretationssammlung „Das Wagnis der Sprache. Interpretationen deutscher Prosa von Nietzsche bis Benn“ (1955) schon innerhalb der Paratexte auf Benn und dessen Idee einer Verabsolutierung von Sprache und Form. So fungierte als Motto der Sammlung eine Textstelle aus „Doppelleben“, die sich dort unter dem Stichwort „Artistik“ in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Ausführungen über die absolute Prosa befindet. Sie lautet: Und der Ausdruck in der geistigen Welt – immer das Reinste, immer das, wo die Vollendung am nahesten. Stil ist der Wahrheit überlegen, er trägt in sich den Beweis der Existenz. Form: in ihr ist Ferne, in ihr ist Dauer. Gottfried Benn ⁵

2 Dass Benns Ausführungen über absolute Kunst in der Nachkriegszeit auf eine sensibilisierte Literaturwissenschaft gestoßen sind, verdeutlicht der fast zeitgleich zur Publikation von „Doppelleben“ einsetzende Diskurs in der „Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte“: Das Eröffnungsheft der Neuausgabe 1949 leitete Werner Günthers programmatisch platzierter Aufsatz „Über die absolute Poesie. Zur geistigen Struktur neuerer Dichtung“ ein (DVjs 23 [1949], S. 1–32). Hierauf folgte die Erwiderung „Sein und absolute Poesie. Bemerkungen zu Werner Günthers Abhandlung“ von Carl Augstein (DVjs 24 [1950], S. 144–146). 3 Polemische Abgrenzungsgesten finden sich im direkten Textumfeld zur Definition der absoluten Prosa, d. h. ebenfalls in den literaturtheoretischen Passagen von „Doppelleben“. Über die Literaturwissenschaft schreibt Benn hier: „[U]nsere Literaturgelehrsamkeit, die sogenannte Literaturhistorie, [hat] keine eigenen Methoden entwickelt […], wie es die Kunstgeschichte durch Wölfflin, Pinder, Worringer getan und wie es Taine für die Literatur in Frankreich besorgte. Sie hat keine Grundlagenethik zu schaffen vermocht, keine Grundbegriffsoperationen durchgeführt, sie nimmt sich ihre Begriffe aus fremden Disziplinen: Philologie, Psychologie, Moral, Politik, Geschichtswissenschaften, und aus diesem Sammelsurium entstehn dann Urteile, die dem Dilettantismus sehr nahestehn. Wenn sie ,Zusammenhänge‘ glaubt feststellen zu können, dann ist das Glück schon groß, notabene thematische und biographische Zusammenhänge – stilistische, sprachliche, sprachtechnische, syntaktische, metaphorische Probleme erörtert sie kaum.“ (SW V, 153–154) 4 Vgl. zu Martini weiterführend: Andrea Albrecht und Jens Krumeich: Fritz Martini und die deutsche Literaturwissenschaft vor und nach 1945, Heidelberg 2022. 5 Fritz Martini: Das Wagnis der Sprache. Interpretationen deutscher Prosa von Nietzsche bis Benn, Stuttgart 1954, Schmutztitel (Motto). In Benns „Doppelleben“ findet sich die Stelle im Kapitel „VII. Zukunft und Gegenwart“ (SW V, 165).

Auf der Suche nach dem Absoluten

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Angesichts dieser programmatischen Referenz überrascht es dann auch wenig, dass Martini die im Benn-Kapitel⁶ ausgewählte Novelle „Der Ptolemäer“ mit den autonomieästhetischen Begriffen und Theoremen des Autors selbst aufgearbeitet hat. Der Germanist verfuhr dabei kongenial, aber letztlich in einem Zirkelschluss, welcher zudem dadurch verstärkt worden ist, dass Martini das Kapitel zum Anlass nahm, mit dem Autor Kontakt aufzunehmen. Seine Benn-Interpretation ließ er sich vom Verfasser persönlich absegnen, und zwar mit Erfolg. Benns Antwortschreiben hat sich allerdings nur mittels epitextueller Überlieferung, d. h. als Zitat auf dem Schutzumschlag des Bandes, erhalten. Darin bestätigte er dem Germanisten, dass wohl niemand „heute […] in Deutschland diese Probleme so eindringlich und wirklich innerlich erlebt und zur Darstellung bringt, wie Sie es tun“ und dass Martini „die Prosafrage“ damit in „endgültiger Weise“ besprochen habe.⁷ Der Ordinarius wiederum nutzte das Lob in Zusammenarbeit mit seinem Verlag als Werbung pro domo – und lieferte somit ein anschauliches Beispiel dafür, wie sich Benn und die deutsche Literaturwissenschaft in der Zeit nach 1945 gegenseitig eine dominante Position im literarischen Feld zugearbeitet haben.⁸ Eine affirmierende Übernahme der absoluten Prosa als eines autonomieästhetischen Ideals findet sich darüber hinaus in Reinhold Grimms Aufsatz „Romane des Phänotyp“ von 1962.⁹ Auch Grimm nimmt den Begriff der absoluten Prosa als gesetzt voraus und rekonstruiert davon ausgehend eine weit gefasste Tradition der literarischen Moderne. Diese reicht von Benn über Virginia Woolf sowie Gustav

6 Vgl. Martini: Das Wagnis der Sprache [Anm. 5], S. 465–517. 7 Martini: Das Wagnis der Sprache [Anm. 5], hinterer Klappentext auf dem Buchumschlag. Neben Gottfried Benn werden dort auch Hans Carossa und Alfred Döblin zitiert. 8 Vgl. in diesem Zusammenhang weiterführend: Jörg Robert und Sarah Gaber: Benn, Oelze und die Literaturwissenschaft nach 1945.Vorüberlegungen zu einem Editions- und Erschließungsprojekt, in: Benn Forum 6 (2018/2019), S. 181–197. Über diese Überblicksdarstellung hinaus liegen zudem die folgenden Einzeluntersuchungen zum Themenkomplex ‚Benn und die Literaturwissenschaft‘ vor: Jörg Döring und David Oels: „Wir machen ein Gedicht“: Richard Alewyn bittet Gottfried Benn zum Symposium für kreatives Schreiben. Zum Briefwechsel von Gottfried Benn und Richard Alewyn 1951–1956, in: Berliner Hefte zur Geschichte des literarischen Lebens 5 (2003), S. 7–24; Michael Ansel: Dichtung als Wirklichkeit oder monologische Ausdruckskunst? Ein Rundfunkgespräch zwischen Hermann Kunisch und Gottfried Benn (1954), in: ZfGerm 17 (2007), S. 79–107; Jörg Robert: Phänotyp der Stunde. Benn, Wellershoff und die Germanistik nach 1945, in: Literaturstraße 20 (2019), S. 9–25; Jörg Robert: Weltanschauung und Sprachstil. Dieter Wellershoffs Dissertation über Gottfried Benn – Eine Spurensuche, in: Benn Forum 7 (2020/2021), S. 33–62; Anna Axtner-Borsutzky: Jenseits der Klassik. Walter Müller-Seidels Münchner Antrittsvorlesung „Gottfried Benn und der Nationalsozialismus“ (1961), in: Benn Forum 7 (2020/2021), S. 9–31. 9 Vgl. Reinhold Grimm: Romane des Phänotyp, zuerst in: Akzente 5 (1962), S. 463–479. Hier zitiert nach: Reinhold Grimm: Strukturen. Essays zur deutschen Literatur, Göttingen 1963, S. 74–94.

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Sarah Gaber

Flaubert bis zu Friedrich Schlegel, dem „vergessene[n] Stammvater“¹⁰ der absoluten Prosa, zurück. Die Beispiele wären noch durch Arbeiten von Friedrich Wilhelm Wodtke¹¹ oder Edgar Lohner zu ergänzen, wobei Letzterer die Kategorie ,absolut‘ in seiner Monographie „Passion und Intellekt“ (1961) für Benns Lyrik produktiv gemacht hat.¹² Ihnen allen gemein ist die Bereitschaft, den Begriff in Benns Definition als unhinterfragten Bezugspunkt anzunehmen, von dem aus ein Zugang „in den theoretischen Innenraum des Bennschen Kunstdenkens“¹³ möglich sei. Für unseren Kontext ist zudem interessant, dass sich das Sprechen über die absolute Prosa von Benn ausgehend auch auf die frühe akademische Rezeption von Carl Einsteins „Bebuquin“ (1912/1917) ausgewirkt hat,¹⁴ den Benn in „Doppelleben“ als Prätext für seine Romantheorie genannt hat. Darauf, wie genau die Nennung des „Bebuquin“ dank Benn zu einem regelrechten „Fußnoten-Topos“¹⁵ der Einsteinforschung avanciert ist, wird noch ausführlicher zurückzukommen sein. Eine Emanzipation und kritische Revision der Benn’schen Begriffsprägung lässt sich jedenfalls erst ab dem Ende der 1960er Jahre feststellen, als die Germanistik nicht nur eine politische Neuausrichtung des eigenen Faches erlebte, sondern auch einen Methodenwandel, infolgedessen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler tradierte Autoritäten zunehmend kritisch hinterfragten. Auch Benns Deutungshoheit über das eigene Werk wurde nun mit einem Fragezeichen versehen – ganz wörtlich beispielweise im Aufsatz „Absolute Dichtung?“ von Klaus Gerth.¹⁶ Als einer der ersten stellte Gerth laut Antje Büssgen fest, „dass man Benns ,absolute Prosa‘ nicht als reine, von mimetischer Referenz völlig freie Wortkunst bezeichnen könne“¹⁷ und konstatierte zudem die willkürliche, in ihrer Bedeutung z.T. stark

10 Grimm: Romane des Phänotyp [Anm. 9], S. 88. 11 Vgl. Friedrich Wilhelm Wodtke: Gottfried Benn, Stuttgart 1962, S. 76 und S. 88. 12 Vgl. Edgar Lohner: Passion und Intellekt. Die Lyrik Gottfried Benns, Neuwied 1961, S. 245–264. 13 Christian Schärf: Der Unberührbare. Gottfried Benn – Dichter im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2006, S. 304. 14 Vgl. für diese frühe Phase exemplarisch: Gert Quenzer: Absolute Prosa – Carl Einsteins „Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders“, in: Der Deutschunterricht 17 (1965), S. 53–65. Einen detaillierten Forschungsüberblick bietet in diesem Zusammenhang das Kapitel „1.2 Absolute Prosa“ in Reto Sorg: Aus den „Gärten der Zeichen“. Zu Carl Einsteins Bebuquin, München 1998, S. 22–31. 15 Maria Moog-Grünewald: Absolute Prosa? Anmerkungen zu Carl Einstein und André Gide, in: André Gide und Deutschland / André Gide et l’Allemagne, hg. v. Hans T. Siepe und Raimund Theis, Düsseldorf 1992, S. 73–82, hier: S. 73. 16 Vgl. Klaus Gerth: Absolute Dichtung? Zu einem Begriff in der Poetik Gottfried Benns, in: Der Deutschunterricht 20 (1968), H. 4, S. 69–85. 17 Antje Büssgen: „Das Geschäft und die Halluzinationen“. Gottfried Benns ,absolute Prosa‘ – im Blick auf Kafkas Techniken ästhetischer Totalitätsbildung, in: Kafka und die kleine Prosa der Moderne, hg. v. Manfred Engel und Ritchie Robertson, Würzburg 2011, S. 225–266, hier: S. 260.

Auf der Suche nach dem Absoluten

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variierende Verwendung des Begriffs in Benns Essays.¹⁸ Fast zeitgleich zu Gerth stellte auch Bodo Bleinagel in seiner für das Thema einschlägigen Monographie das „Scheitern [der] absoluten Schöpfung“¹⁹ fest und prüfte die literarhistorische Verbindlichkeit des Terminus – gerade auch für das Werk von Carl Einstein.²⁰ Heute, knapp 50 Jahre später, ist es weitestgehend Konsens, Benns praktisches Prosaschaffen nicht mehr unkritisch auf seine diskursiven Überlegungen zu beziehen.²¹ Hierüber informieren kann man sich beispielsweise bei Antje Büssgen²² oder Moritz Baßler.²³ Auch der konzise Artikel zur absoluten Prosa und Lyrik im „Benn-Handbuch“ (2016) verhält sich gegenüber seinem Gegenstand mit der gebotenen Distanz, wenn die absolute Prosa darin als „Selbstdeutungskategorie der emphatischen Moderne“ erkannt wird, die sich nicht „[a]ls systematischer literaturwissenschaftlicher Begriff“ durchgesetzt hat.²⁴ Vielleicht am literarischsten hat Christian Schärf den Diskurs der absoluten Prosa problematisiert.²⁵ In Anlehnung an die Dramaturgie bei Alfred Hitchcock bezeichnet er den Begriff als einen typischen MacGuffin: „[E]ine an sich inexistente Bezugsgröße einer Filmhandlung, um die sich ungeachtet ihres Vorhandenseins oder Nichtvorhandenseins das gesamte Geschehen drehe“.²⁶ Wir alle kennen MacGuffins, beispielsweise in Form des Kofferinhaltes aus „Pulp Fiction“ (1994), über dessen Inneres sich Tarantinos Klassiker bis zuletzt ausschweigt. So verstanden bleibt die absolute Prosa notwendig eine Projektion, ein „poetologisches Gespenst“²⁷ und uneinlösbares Versprechen. Denn

18 Vgl. Gerth: Absolute Dichtung [Anm. 16], S. 71. 19 Bodo Bleinagel: Absolute Prosa. Ihre Konzeption und Realisierung bei Gottfried Benn, Bonn 1969, S. 90. 20 Vgl. Bleinagel: Absolute Prosa [Anm. 19], S. 81–85. 21 Auch in diesem Falle bestätigen Ausnahmen indes die Regel.Vgl. für spätere Arbeiten, die Begriff und Konzept der absoluten Prosa immer noch als positive Setzung nach der Definition des Autors verwenden, exemplarisch: Jürgen H. Petersen: Absolute Prosa, in: Wandlungen des Literaturbegriffs in den deutschsprachigen Ländern seit 1945, hg. v. Gerhard P. Knapp und Gerd Labroisse, Amsterdam 1988, S. 71–88; Ursula Keller: Einführung, in: Gottfried Benns Absolute Prosa und seine Deutung des „Phaenotyps dieser Stunde“. Anmerkungen zu seinem 110. Geburtstag, hg. v. Wolfgang H. Zangemeister, Will Müller-Jensen und Jürgen Zippel, Würzburg 1999, S. 13–16. Der aus einem Vortragsabend hervorgegangene Sammelband enthält eine Reihe von Beiträgen, die nicht alle vom sehr spezifischen Titel gedeckt sind. 22 Vgl. Büssgen: „Das Geschäft und die Halluzinationen“ [Anm. 17], S. 256–261. 23 Vgl. Moritz Baßler: Absolute Prosa, in: Expressionistische Prosa, hg. v. Walter Fähnders, Bielefeld 2001, S. 59–78, hier: S. 65–66. 24 Baßler: Absolute Lyrik und Prosa [Anm. 1], S. 308. 25 Vgl. Schärf: Der Unberührbare [Anm. 13], S. 304–306. 26 Schärf: Der Unberührbare [Anm. 13], S. 305. 27 Schärf: Der Unberührbare [Anm. 13], S. 305.

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wie sollte die Textrealität einer solchen Literatur mit den Mitteln einer auf semiotischer Referenz basierenden Sprache auch aussehen? Werfen wir zur Verdeutlichung dieser rhetorischen Frage noch einmal einen Blick auf die Begriffsbestimmung bei Benn. Den überkomplexen Anspruch der absoluten Prosa hat dieser parallel zur Arbeit an „Doppelleben“ im März 1949 auch in einem Brief an Friedrich Wilhelm Oelze umkreist. Hier lesen wir: In jedem Satz: Alles. Dieses Princip der absoluten Prosa, in der kein Satz im Zusammenhang mit psychologischen und erlebnismässigen Herkunftsäusserungen mehr steht, war das Princip, das mir wahrhaft erschien. In jedem Satz: Alles. Solche Sätze sind nicht zu verstehen, sie enthalten nur sich selbst.²⁸

Der Textstelle eingeschrieben sind zwei Bedeutungsebenen, die man mit Baßler wie folgt erfassen kann: (1) die Umkehrung des realistischen Zeichenverhältnisses: Der Text bringt die Wirklichkeit hervor und bildet sie nicht ab; (2) die selbstreferentielle Abgeschlossenheit des sprachlichen Kunstwerks gegenüber Sozialsphäre und Kommunikation.²⁹

Schreibt Benn ‚absolut‘, so meint er dies demnach im Sinne der ursprünglichen etymologischen Bedeutung des Begriffs als (von lat. absolvere) Loslösung und Freiheit der Literatur von außerliterarischen Bezugsgrößen, wie beispielsweise der empirischen Erlebnisfähigkeit, oder von hierauf basierenden Kategorien, etwa sozialen Interaktionen, Geschichte oder Moral. So verstanden als nicht nur primäre, sondern totale ästhetische Setzung, geht Benns Postulat noch deutlich über die Genieästhetik des 18. Jahrhunderts hinaus. Er radikalisiert damit zudem die verschiedenen autonomieästhetischen Etappen der literarischen Moderne: das Artistenevangelium Nietzsches sowie das symbolistische l’art pour l’art, mit dem in Frankreich seit 1850 die Autonomisierung des literarischen Feldes vorangetrieben worden ist, den Ästhetizismus George’scher Provenienz oder die Formexperimente der eigenen, expressionistischen Generationsgemeinschaft. Dergestalt überfrachtet muss die absolute Prosa einerseits als literarische Realie scheitern und scheitert andererseits als Realie innerhalb einer diskursiven Praxis wiederum nicht.³⁰ Um

28 Gottfried Benn und Friedrich Wilhelm Oelze: Briefwechsel 1932–1956, hg. v. Harald Steinhagen, Stephan Kraft und Holger Hof, Bd. 3: 1949–1950, Stuttgart und Göttingen 2016, S. 61. Im Folgenden wird aus dieser Briefausgabe mit der Sigle (BOe I–IV) im laufenden Text zitiert. 29 Baßler: Absolute Lyrik und Prosa [Anm. 1], S. 308. 30 Auch das illustriert die Karriere, die Benns Begriffsprägung in der germanistischen Literaturwissenschaft gemacht hat. Immerhin Ist der Terminus trotz seiner heuristischen Mängel laut Baßler: Absolute Prosa [Anm. 23], S. 76, „nicht aus der Welt zu bringen“.

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diesen Widerspruch aufzulösen, kann noch einmal auf das Bild des MacGuffin zurückgriffen werden. Denn obgleich dieser – wie der Koffer im Film – selbst ohne greifbaren Inhalt bleibt, wird er für die Handlung doch zum auslösenden Moment und damit zum konstitutiven Bedeutungsträger. „Man könnte auch sagen, er [der Begriff der ‚absoluten Prosa‘] ist ein zentrales imaginäres Referat, durch das eine konkrete Diskursformation allererst geschaffen und aufrechterhalten wird“.³¹ Gerade in der projektiven Flexibilität des Begriffs entfaltet sich also sein produktives Potential. Es ist mithin die unabschließbare Suche nach dem Absoluten selbst, die immer neue Reflexionen und Annäherungen generiert, die der jeweiligen Gestaltungsmacht eines Autors oder einer Autorin unterliegen. In der ästhetischen Umsetzung zeigen sich dabei die je aktuellen Produktions- und Rezeptionsbedingungen am äußersten, autonomieästhetischen Pol des literarischen Feldes, auf dem die Akteure Distinktionsgewinne erzielen wollen. Und genau in diesem Sinne, d. h. als ,Feldstudien‘ im Horizont des Absoluten können die nun folgenden Interpretationen gelesen werden, für welche die beschriebene Programmatik mitsamt ihren Aporien als prägend vorausgesetzt werden darf: Carl Einsteins „Bebuquin“ – begonnen 1906, veröffentlicht 1912/1917 – sowie Gottfried Benns „Roman des Phänotyp“ – geschrieben 1943/1944³² und veröffentlicht im Zuge seines lazarushaften³³ ,Comebacks‘ 1949. Verstanden als retrospektiv erschließbare Positionierungen im Sinne Pierre Bourdieus,³⁴ lassen beide Texte exemplarische Aussagen darüber zu, wie avantgardistische Prosa um 1900 sowie um 1950 Gestalt annehmen konnte. Im Falle des späten Benn erlaubt dieser Zugriff zudem Aussagen über sein literarisches Traditionsverhalten einschließlich der Konstellation Benn-Einstein sowie den daraus hervorgehenden Impulsen einer postexpressionistischen „Phase II“ der Nachkriegsmoderne.

31 Schärf: Der Unberührbare [Anm. 13], S. 305–306. 32 Vgl. SW IV, 760. Der im Primärtext selbst suggerierte Zeithorizont „vom 20. 3.1944 bis 20.6.1944“ (SW IV, 420) ist irreführend. 33 Begriff in Anspielung auf: Helmut Lethen: Der Sound der Väter. Gottfried Benn und seine Zeit, Berlin 2006, S. 261. 34 Unter „Positionierung“ subsumiert Pierre Bourdieu in seinem Essay „Das literarische Feld“ (dt. 1997) „alle strukturierten, akteursspezifischen Ausdrucksformen – neben den literarischen oder künstlerischen Werken auch die politischen Aktionen und Äußerungen, Manifeste oder Streitschriften usw.“ Pierre Bourdieu: Das literarische Feld, in: Ders.: Schriften, hg. v. Franz Schultheis und Stephan Egger, Bd. 12.2: Schriften zur Kultursoziologie 4. Kunst und Kultur. Kunst und künstlerisches Feld, übers. v. Bernd Schwibs u. a., Berlin 2015, S. 309–448, hier: S. 312.

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2 „Bebuquin“: Aufbruch der Avantgarde im literarischen Feld um 1900 Bereits als Carl Einstein 1912 den vollständigen Vorabdruck seines Erstlingswerks „Bebuquin“ vorlegte,³⁵ erkannten Zeitgenossen wie Oskar Loerke darin eine „Suche nach dem Absoluten“ („recherche de l’absolu“³⁶). Als Eintritt in das literarische Feld funktionierte „Bebuquin oder Die Dilettanten des Wunders“ allen voran als radikale Abgrenzung zu den tradierten Romankonventionen und realistischen Erzählpraktiken des 19. Jahrhunderts. Einen ersten Eindruck von diesem Traditionsbruch vermittelt bereits der Textanfang: Die Scherben eines gläsernen, gelben Lampions klirrten auf die Stimme eines Frauenzimmers: wollen Sie den Geist Ihrer Mutter sehen? Das haltlose Licht tropfte auf die zartmarkierte Glatze eines jungen Mannes, der ängstlich abbog, um allen Überlegungen über die Zusammensetzung seiner Person vorzubeugen. Er wandte sich ab von der Bude der verzerrenden Spiegel, die mehr zu Betrachtungen anregen als die Worte von fünfzehn Professoren. Er wandte sich ab vom Zirkus zur aufgehobenen Schwerkraft, wiewohl er lächelnd einsah, daß er damit die Lösung seines Lebens versäumte. Das Theater zur stummen Ekstase mied er mit stolz geneigtem Haupt […].³⁷

Dergestalt, d. h. mit einer Vorliebe für synästhetische Farb- und Klangspiele (klirrende Scherben eines gelben Lampions), paradoxe Bilder (stolz geneigtes Haupt), prätentiöse Kulissen (Theater zur stummen Ekstase) und gewagte semantische

35 Vgl. weiterführend zur Druckgeschichte: Sabine Kyora: Carl Einsteins Bebuquin, in: Expressionistische Prosa, hg. v. Walter Fähnders, Bielefeld 2001, S. 79–91, hier: S. 79 (Fußnote 1).Vgl. einführend zu „Bebuquin“ allgemein: Erich Kleinschmidt: Nachwort, in: Carl Einstein: Bebuquin, hg. v. dems., Stuttgart 1985, S. 69–86; Katsumi Hara: „Bebuquin“ als poetologischer Versuch in der Übergangsphase vom Symbolismus zur Avantgarde, in: Carl-Einstein-Kolloquium 1986, hg. v. Klaus H. Kiefer, Frankfurt a. M. 1986, S. 185–198; Erich Kleinschmidt: Die dilettantische Welt und die Grenze der Sprache. Zur erkenntniskritischen Poetik von Carl Einsteins Bebuquin, in: JbDSG 33 (1989), S. 370– 383; Sorg: Aus den „Gärten der Zeichen“ [Anm. 14]; Hannah Klima: Scheitern als Option. Produktives Potenzial der Krise des Romans um die Jahrhundertwende in Carl Einsteins Erzählexperiment Bebuquin, in: Krise. Mediale, sprachliche und literarische Horizonte eines viel zitierten Begriffs, hg. v. Laura Kohlrausch, Marie Schoeß und Marko Zejnelovic, Würzburg 2018, S. 171–185; Anna Sophia Luhn: „Das Naturgesetz soll sich im Alkohol besaufen.“ Zum Formrausch in Carl Einsteins Bebuquin, in: Expressionismus 9 (2019), Rausch, S. 67–76. 36 Oskar Loerke: Literarische Chronik, in: Die neue Rundschau 28 (1917), S. 1282–1283, hier: S. 1283. 37 Carl Einstein: Bebuquin oder Die Dilettanten des Wunders, in: Ders.: Werke. Berliner Ausgabe, Bd. 1: 1907–1918, hg. v. Hermann Haarmann und Klaus Siebenhaar, Berlin 1994, S. 92–132, hier: S. 92. Belege nach dieser Ausgabe werden im Folgenden mit der Sigle (Beb) sowie der Seitenangabe im laufenden Text markiert.

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Assoziationen (Licht tropft auf ein Glatze) wird Bebuquin in schwindelerregendem Tempo durch 19 weitere Kapitel gehetzt.³⁸ Die unruhigen Suchbewegungen der Hauptfigur können mit Erich Kleinschmidt als Leitmotiv des Textes gelten.³⁹ Sein Herumirren führt Bebuquin sowie seine teils toten, teils lebendigen Mitstreiter Nebukadnezar Böhm und Euphemia an verschiedene Schauplätze: das „Museum zur billigen Erstarrnis“ (Beb, 92), diverse Bars und Vergnügungsetablissements und sodann ins „Kloster des kostenlosen Blutwunders“ (Beb, 118). In letzter Konsequenz führt es den Protagonisten jedoch in den Tod, wenn Bebuquin seinem Leben sowie dem Roman mit einem entschiedenen „Aus“ (Beb, 130) ein Ende setzt. Denn was die Titelgestalt sucht, kann in äußeren Räumen gar nicht gefunden werden. Er strebt nach der autonomieästhetischen Grenzerfahrung schlechthin: der creatio ex nihilo aus sich selbst heraus. Oder, um es mit einem Stoßgebet Bebuquins persönlich zu formulieren: „Herr, laß mich einmal sagen, ich schuf aus mir.“ (Beb, 125) Sowohl in Hinblick auf das Sujet als auch auf die Gestaltung des Textes trieb Einstein seine Annäherung an eine immanent geregelte Poetik des Absoluten im „Bebuquin“ demnach bereits ziemlich weit. Innerhalb der avantgardistischen inpeer-Rezeption wurde die Inkommensurabilität des Textes herausgestellt. Franz Blei attestierte Einstein im Begleitwort zur ersten Buchausgabe, dass er seiner Leserschaft um 30 Jahre voraus sei.⁴⁰ Gleichwohl ist Inkommensurabilität an dieser Stelle nicht gleichzusetzen mit Singularität, denn der „Bebuquin“ erweist sich bei allen – bzw. gerade wegen der – darin angelegten Normbrüchen als symptomatisch für die Literatur der historischen Avantgarden um 1900. In erster Linie zu nennen ist hier natürlich der literarische Expressionismus. Erst in dessen zentralem Referenzmedium, nämlich Franz Pfempferts Zeitschrift „Die Aktion“, konnte der vollständig abgedruckte „Bebuquin“ 1912 seine ganze Wirkung entfalten – auch wenn er schon vor dem Durchbruch der Strömung geschrieben worden ist. Darüber hinaus ist der Text auch habituell innerhalb der kulturkritischen und antibürger-

38 Dem entspricht auch das Bewegungspostulat in der Romantheorie des Autors.Vgl. Carl Einstein: Über den Roman. Anmerkungen, in: Ders.: Werke. Berliner Ausgabe, Bd. 1: 1907–1918, hg. v. Hermann Haarmann und Klaus Siebenhaar, Berlin 1994, S. 146–149, hier: S. 148: „Es gilt, im Roman Bewegung darzustellen – eine Aufgabe, der das Deskriptive gänzlich fern liegt […]. Wertvoll im Roman ist – was Bewegung hervorbringt. Ruhe ist genug da – weil das Ganze schließlich doch fixiert ist.“ Auf Ebene der Handlung wird die Dynamik durch häufige Kulissenwechsel und tatsächlich auserzählte Bewegungsabläufe hergestellt, etwa im sechzehnten Kapitel: „Er [Bebuquin] lief, rannte durch eine Prozession irgendwelcher neuen Sektierer; verschiedene Messiasse, dekorative junge Mädchen rannte er um; es galt, in den Zirkus zu gelangen.“ (Beb, 125) 39 Vgl. Kleinschmidt: Nachwort [Anm. 35], S. 72. 40 Vgl. Franz Blei: Geleitworte, in: Carl Einstein: Bebuquin oder Die Dilettanten des Wunders, Berlin 1912, S. 103–108, hier: S. 107.

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lichen Wirkungsabsichten der expressionistischen Zirkel zu verorten.⁴¹ Hier, am äußeren, bei Bourdieu als „Subfeld der eingeschränkten Produktion“⁴² und Rezeption bezeichneten Pol der Avantgarde fand der „Bebuquin“ den ihm adäquaten Ort. Da die komplexen kultur- und vor allem wahrnehmungsgeschichtlichen Prozesse, die das literarische Feld des Expressionismus bedingt haben, an dieser Stelle nicht in Gänze beschrieben werden können, begnüge ich mich hier mit einem Stichwort: der „Entdeckung der Textur“⁴³. Diese Fügung von Moritz Baßler beschreibt eine semantisch-semiotische Akzentverschiebung seit 1900, die durch eine Neujustierung der erkenntnistheoretischen Situation gekennzeichnet ist. Von Seiten der Forschung oft durch einen umfassenden soziohistorischen Krisenbefund verstellt,⁴⁴ stellten die Repräsentantinnen und Repräsentanten der Avantgardeliteratur eine erlebte ,innere‘ Textwirklichkeit gleichberechtigt neben eine zunehmend als unverbindlich erlebte äußere Realität und setzten damit enorme autonomieästhetische Potentiale frei. Die Suche nach dem Absoluten und die „Entdeckung der Textur“ hängen um 1900 dementsprechend konstitutiv zusammen. In den expressionistischen Programmschriften findet sich dieses Thema in zahlreichen Variationen.⁴⁵ Besonders anschaulich wurde es bei Kurt Pinthus auf den Punkt gebracht, dem Choreographen des literarischen Expressionismus. Im Vorwort der Anthologie „Menschheitsdämmerung“ (1919/1920) resümierte Pinthus das Missverhältnis zwischen äußerer und innerer Wirklichkeit im Einfluss auf den ästhetischen Stil wie folgt: Der Expressionist „meidet […] die naturalistische Schilderung der Realität als Darstellungsmittel, so handgreiflich auch diese verkommene Realität war“. Stattdessen erzeuge die Kunst sich „mit gewaltiger und gewaltsamer Energie ihre Ausdrucksmittel aus der Bewegungskraft des Geistes (und bemüht sich keineswegs, deren Mißbrauch zu meiden).“⁴⁶ Schon zehn Jahre vor Pinthus’ lyrischer Epochenbilanz proklamierte auch Carl Einstein emphatisch eine Absage an die schlichte Abbildung der äußeren Wirk-

41 Vgl. für die Affinität von Expressionismus und absoluter Prosa weiterführend: Baßler: Absolute Prosa [Anm. 23], S. 59–65. 42 Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, übers. v. Bernd Schwips und Achim Russer, Frankfurt a. M. 1999, S. 344. Vom „Subfeld der eingeschränkten Produktion“ grenzt Bourdieu an dieser Stelle das „Subfeld der Massenproduktion“ ab. 43 Moritz Baßler: Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910–1916, Tübingen 1994. 44 Vgl. Baßler: Die Entdeckung der Textur [Anm. 43], S. 179–183. 45 Vgl. mit weiterführenden Textbeispielen: Baßler: Die Entdeckung der Textur [Anm. 43], S. 57–58. 46 Kurt Pinthus: Zuvor (Berlin, Herbst 1919), in: Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus. Mit Biographien und Bibliographien, neu hg. v. dems., Berlin 1959, S. 22–31, hier: S. 29–30.

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lichkeit zugunsten einer ästhetischen Radikalkonstruktion. Ein Blick in seine Theorieschriften aus dem zeitlichen Umfeld des „Bebuquin“ illustriert diese Positionierung, die in erster Linie ex negativo stattfand, d. h., die sich normativ gegen deskriptive, kausale oder psychologische motivierte Erzählentwürfe – man denke etwa an den Bildungsroman – richtete.⁴⁷ In „Über den Roman“ (1912) übt er dementsprechend eine bissige Kritik an im bürgerlichen Realismus beliebten Sujets („[d]er größte Teil der Literatur ist eine Institution für Eheleute und solche, die es werden wollen“⁴⁸). Mimetische Schilderungen werden darüber hinaus als Anzeichen einer ästhetischen Defizitlage disqualifiziert: Der deskriptiv schildernde Roman setzt unvollständige Unkenntnis des Lesers von Tischen, Nachttöpfen, jungen Mädchen, Treppenstiegen, Schlafröcken, Busen, Hausklingeln usw. voraus. Die Ereignisse werden zu Begleiterscheinungen von traumhaft verschlungenen Fingern, opalschillernden Spucknäpfen usw.⁴⁹

Statt Deskriptionen zu geben, gelte es, „[d]as Absurde zur Tatsache [zu] machen“,⁵⁰ d. h. den Aufbruch in eine Phantastik zu wagen, für die die empirische Welterfahrung keine Verbindlichkeit mehr besitzt. In der Literatur findet Einstein für dieses Ideal durchaus Texte mit Modellcharakter, wie etwa William Beckfords Kunstmärchen „Vathek“ (1786). Als Beispiel einer „abgeschlossenen Imagination“, die „ästhetisch wahr ist im Sinne des ornamentalen bildlichen Zusammenhangs“, steht das Märchen Beckfords am Beginn einer Tradition zur Autonomie der Kunst.⁵¹ Diese führt in einer Linie zu Mallarmé und Baudelaire – den Gegenspielern einer „langweilenden Wörtlichkeit gegenständlicher Sentimentalität.“⁵² Den Anspruch auf uneingeschränkte ästhetische Selbstbestimmung wirklich konsequent durchgesetzt sah Einstein indes nicht in der Literatur, sondern allein in der bildenden Kunst. Spezifischer: im Pariser Kubismus,⁵³ mit dessen Repräsentantinnen und Repräsentanten er während der Arbeit am „Bebuquin“ in Berührung

47 Vgl. Baßler: Die Entdeckung der Textur [Anm. 43], S. 59. 48 Einstein: Über den Roman [Anm. 38], S. 148. 49 Einstein: Über den Roman [Anm. 38], S. 146. 50 Einstein: Über den Roman [Anm. 38], S. 148. 51 Carl Einstein: Vathek, in: Ders.: Werke. Berliner Ausgabe, hg. v. Hermann Haarmann und Klaus Siebenhaar, Bd. 1: 1907–1918, Berlin 1994, S. 41–45, hier: S. 41. 52 Einstein: Vathek [Anm. 51], S. 43. 53 Vgl. zu Einsteins produktiver Rezeption des Kubismus sowie seiner eigenen Kubismustheorie: Hermann Haarmann und Klaus Siebenhaar: „Das Kunstwerk ist in vielerlei Hinsicht eine Art Selbstmord.“ Weltbild, ästhetische Theorie und literarische Praxis Carl Einsteins, in: HeinrichMann-Jahrbuch 4 (1986), S. 204–240, hier: S. 213–220.

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kam.⁵⁴ In der Bildsprache eines Georges Braque oder Pablo Picasso kam der oben postulierte Paradigmenwechsel eindringlich zum Ausdruck. Kompositionen mit einem eigengesetzlichen Raumempfinden, Farb- oder Materialexperimenten sowie der Gleichzeitigkeit von in sich widersprüchlichen Perspektiven schufen eine Kunst, die das Ideal einer gleich-gültigen, allein in der Darstellung aufgehenden ästhetischen Wirklichkeit unmittelbar eingelöst hat. Für Carl Einstein, diesem Grenzgänger zwischen den Feldern der literarischen und der bildenden Kunst, den „Transgressionen ins Spiel zu bringen“⁵⁵ stets reizte, barg die kubistische Kunst das Versprechen auf eine Entbegrifflichung der objektiven Welt. Im sogenannten „Kahnweiler-Brief“ von 1923 führte der Autor und Kunsthistoriker nachträglich aus, wie er die Transformation von kubistischem Sehen und Schreiben im „Bebuquin“ selbst umzusetzen versucht hatte: Ich weiss schon sehr lange, dass nicht nur eine Umbildung des Sehens und somit des Effekts von Bewegungen möglich ist, sondern auch eine Umbildung des sprachlichen Aequivalents und der Empfindungen. […] Solche Dinge hatte ich im Bebuquin 1906 unsicher und zaghaft begonnen. Die Arbeiten der „Kubisten“ waren mir eine Bestätigung, dass eine Umnüancierung der Empfindung möglich ist: wahrscheinlich trotz allen Geredes, das einzig interessante. […] Sehen Sie; im Bebuquin werden die üblichen Dinge an tatsächlich elementaren Erlebnissen lächerlich und grotesk. Genau wie das übliche Bild am kubistischen Erlebnis in einem bestimmten Sinn unzulänglich, vielleicht sogar unrichtig wurde.⁵⁶

Mit Blick auf die konkrete literarische Gestaltung respektive ,Textur‘ des „Bebuquin“ muss diese Aussage gleichwohl auf den Prüfstand gestellt werden. Denn dass es hierbei lediglich bei einem unvollkommenen Übersetzungsversuch geblieben ist, verdeutlicht gerade ein berühmtes Textbeispiel, für das die kubistische Bildsprache offenbar Modell gestanden hat. Es findet sich im ersten Kapitel: Nebukadnezar neigte den Kopf über Euphemias massigen Busen. Ein Spiegel hing über ihm. Er sah, wie die Brüste sich in den fein geschliffenen Edelsteinplatten seines Kopfes zu mannigfachen fremden Formen teilten und blitzten, in Formen, wie sie ihm keine Wirklichkeit bisher zu geben vermochte. Das ziselierte Silber brach und verfeinerte das Glitzern der Gestalten.

54 Vgl. Liliane Meffre: Wenn der Künstler zum Demiurgen wird. Der Kubismus und Bebuquin von Carl Einstein, in: Kunstreligion. Ein ästhetisches Konzept der Moderne in seiner historischen Entfaltung, hg. v. Albert Meier, Alessandro Costazza und Gérard Laudin, Bd. 2: Die Radikalisierung des Konzepts nach 1850, Berlin und Boston 2012, S. 251–264, hier: S. 257. Die Entstehung des Bebuquin falle „in perfekten Einklang mit dem Aufkommen des Kubismus in Paris, als der Autor, wahrscheinlich bereits ab 1905, jungen kubistischen Malern freundschaftlich verbunden war“. 55 Erich Kleinschmidt: Das Rauschen der Begriffe. Produktive Beschreibungsproblematik in Carl Einsteins „Kunst des 20. Jahrhunderts“, in: Weimarer Beiträge 47 (2001), S. 507–524, hier: S. 510. 56 Carl Einstein an Daniel-Henry Kahnweiler, Juni 1923, in: Carl Einstein. Briefwechsel 1904–1940, hg. v. Klaus H. Kiefer und Liliane Meffre, Berlin 2020, S. 224–232, hier: S. 225 und 228.

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Nebukadnezar starrte in den Spiegel, sich gierig freuend, wie er die Wirklichkeit gliedern konnte, wie seine Seele das Silber und die Steine waren, sein Auge der Spiegel. (Beb, 94)

Die verzerrende Brechung der Perspektive und die damit einhergehende Fragmentierung von Wirklichkeit und Ich referieren zweifelsohne auf kubistische Kompositionen. Statt einer tatsächlichen medialen Transformation vom Bild zur Literatur bietet die Passage jedoch nur eine Imitation. Es handelt sich um eine mit Spiegelmetaphern und Alliterationen („Glitzern der Gestalten“) geschickt operierende Nachbildung von visuellen Vervielfältigungen, die am Ende aber doch im Bereich des Sekundären verbleibt: Es liegt eine ekphratische Beschreibung vor, verortet in einem paraphrasierbaren fiktiven Zusammenhang, erzählt von einem ,klassischen‘ auktorialen Erzähler und angewiesen auf eine zeitliche Entfaltung mittels des Zeichensystems Sprache. Ein hohes Maß an Literarizität gelingt der Darstellung hier allemal, doch bleibt zu fragen, ob Einstein damit tatsächlich „sprachlich das [leistete], was Picasso gleichzeitig im Bild entworfen hatte“.⁵⁷ Die Frage ist in Anbetracht des eingangs formulierten Problembewusstseins natürlich eine rhetorische: Die Literatur stößt im Versuch einer kubistischen Entsprechung an die faktischen Grenzen ihres Ausdrucksmediums.⁵⁸ Der „Bebuquin“ bleibt insofern hinter der emphatisch formulierten Romantheorie Einsteins zurück. In der Einstein-Forschung ist auf dieses Scheitern einer absoluten Prosapraxis analog zur Benn-Forschung wiederholt hingewiesen worden.⁵⁹ Bemerkenswert bleibt an dem Werk gleichwohl, dass es über diese Grenzen seiner Darstellungsmöglichkeiten auf Ebene der histoire höchst mitteilsam Auskunft gibt. Theorie und Praxis geraten bei Einstein demnach in ein Spannungsverhältnis.⁶⁰ Belegstellen dafür, wie insbesondere die Hauptfigur die Unmöglichkeit

57 Kleinschmidt: Nachwort [Anm. 35], S. 79. 58 Vgl. hierzu auch: Klima: Scheitern als Option [Anm. 35], S. 178. 59 Vgl. exemplarisch: Baßler: Die Entdeckung der Textur [Anm. 43], S. 82; Manuel Maldonado-Alemán: Zur Textur des Absoluten. Carl Einstein und Gottfried Benn, in: Historiografie der Moderne. Carl Einstein, Paul Klee, Robert Walser und die wechselseitige Erhellung der Künste, hg. v. Michael Baumgartner, Andreas Michel und Reto Sorg, Paderborn 2016, S. 91–104, hier: S. 94; Klima: Scheitern als Option [Anm. 35], S. 177. 60 Vgl. hierzu auch: Thomas Pauler: Schönheit und Abstraktion. Über Gottfried Benns ‚absolute Prosa‘, Würzburg 1992, S. 58. An dieser Stelle kann relativierend hinzugefügt werden, dass sich bereits in Einsteins essayistischen Äußerungen selbst leise Zweifel an den Umsetzungsmöglichkeiten der idealisierten kubistischen Kunst und v. a. deren intermedialer Übersetzung vernehmen lassen. So heißt es beispielsweise im „Kahnweiler-Brief“ [Anm. 56], S. 225, dass „[d]ie Litteraten […] ja so jammerhaft mit ihrer Lyrik und den kleinen Kinosuggestionen hinter Malerei und Wissenschaft her[hinken]“. Auch im ebenfalls unveröffentlicht gebliebenen Versuch „der wille zur form. grundlegende beiträge zur kunstbetrachtung“ liest man, dass „der betrachtende […] nie die kraft

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einer totalen autonomieästhetischen Setzung reflektiert, finden sich in dem selbstreferenziellen Prosastück viele. Schon in Kapitel zwei stellt Bebuquin fest, dass sein poetisches Sprechen im Symbolischen verharre und die Dichtung somit „eben nur unreine Kunst sei“ (Beb, 95).⁶¹ Ebenfalls im Kontext einer selbstkritischen Referenz ist Einsteins Zugriff auf das Narziss-Motiv zu sehen, das evoziert wird, wenn die Titelfigur sich mit einem Spiegel vergleicht: „Ich bin ein Spiegel, eine unbewegte, von Gaslaternen glitzernde Pfütze, die spiegelt. Aber hat ein Spiegel sich je gespiegelt?“ (Beb, 93) Die Frage, was genau eigentlich abgebildet wird, wenn die Prämissen für eine mimetisch abbildbare Welt aufgegeben worden sind, wird nicht beantwortet. Für die Titelgestalt jedenfalls bleibt die aus sich selbst zu erschaffende, alternative Primärwirklichkeit ohne konkrete Form und Inhalt – ein echter MacGuffin eben. Dass Bebuquin dies in seinem manischen Drängen nach autonomer Kunst als Pein erlebt, schildert der Beginn des vierten Kapitels: Seit Wochen starrte Bebuquin in einen Winkel seiner Stube, und er wollte den Winkel seiner Stube aus sich heraus beleben. Es graute ihm, auf die unverständlichen, niemals endenden Tatsachen angewiesen zu sein, die ihn verneinten. Aber sein erschöpfter Wille konnte nicht ein Stäubchen erzeugen; er konnte mit geschlossenen Augen nichts sehen. (Beb, 98)

Nicht zuletzt demonstriert die leitmotivische, ,dilettantische‘ Suche nach dem Wunder selbst die Aporien einer im autonomieästhetischen Sinne absoluten Prosa.⁶² Zwar finden sich auf Ebene der rudimentären Handlung durchaus phantastische Elemente, die als Wunder zu bezeichnen sind – und das sogar in der christlich-religiösen Dimension, die dem Begriff eignet. Euphemias Andeutung über die unbefleckte Empfängnis ihres Kindes⁶³ oder die ,Auferstehung‘ Böhms als Geist gehören beispielsweise hierzu. Aber Bebuquin sucht ja gerade ein Wunder, das nicht im Metaphysischen aufgeht,⁶⁴ sondern im Ästhetischen: Ein spontan inszeund leidenschaftlichkeit des tätigen finden [wird]“. Carl Einstein: Werke. Berliner Ausgabe, Bd. 4: Texte aus dem Nachlaß I, hg. v. Hermann Haarmann und Klaus Siebenhaar, Berlin 1992, S. 122–125, hier: S. 122. 61 Vgl. zur Symbolismus-Kritik in „Bebuquin“ ausführlich: Hara: „Bebuquin“ als poetologischer Versuch [Anm. 35]. 62 Vgl. Baßler: Absolute Prosa [Anm. 23], S. 74: „Das Gelingen einer absoluten Prosa wäre ja nichts anderes als der Ausweis des gesuchten Wunders selbst.“ 63 Vgl. die entsprechende Textstelle im sechsten Kapitel: „,Wer ist der Vater?‘ schrie die Büffetdame. […] ,Keiner‘, schaute Euphemia mit kreisförmig ausgebreiteten Augen. ,Ich kriegte ihn im Traum.‘“ (Beb, 102) 64 Vgl. Sabine Kyora: Eine Poetik der Moderne. Zu den Strukturen modernen Erzählens, Würzburg 2007, S. 47. Vgl. zum Wunder als einem strukturellen Element avantgardistischen Erzählens darüber hinaus: Kyora: Eine Poetik der Moderne [Anm. 64], S. 47–52. Vgl. zur Funktion des Wunders in „Bebuquin“ weiterführend: Klima: Scheitern als Option [Anm. 35], S. 178–180.

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niertes Unberechenbares, dessen Inszenierung selbst nicht mehr reflexiv einholbar ist, das die Figuren aber stets mitreflektieren. Man findet dies zum Beispiel in Bebuquins süffisantem Kommentar „Herr, gib mir ein Wunder, wir suchen es seit Kapitel eins.“ (Beb, 117) Bilanziert man das Zusammengetragene, so dokumentiert Einsteins kurzer Prosatext die Widersprüche, die einleitend für das Konzept der absoluten Prosa geltend gemacht worden sind, nicht nur, sondern er führt sie auch offensiv vor. Im Moment des Aufbruchs der expressionistischen Avantgarde birgt dies eine produktive Dialektik: „Die Unmöglichkeit des Schreibens [wird zum] Agens des Schreibens“,⁶⁵ da nur in der reflexiven Auseinandersetzung die Annäherung an eine antimimetische, a-kausale Prosa durchführbar ist.⁶⁶ Das Ergebnis ist keine absolute Prosa, sondern ein Sprechen über dieselbe. Die Position, die Einstein mit seinen theoretischen Schriften am Bourdieu’schen Pol einer „eingeschränkten“ Avantgardeproduktion polemisch erstritten hatte, wird dabei nichtsdestoweniger verteidigt, schon weil der Autor zeigt, dass eine Rückkehr zu idealistischen Konzepten keine Alternative darstellt. Selbst dann, wenn das letztgültige Pendant hierzu noch nicht gefunden worden ist. Ganz im optimistischen Sinne Nebukadnezar Böhms bleibt das Wunder, auch das der absoluten Prosa, vielleicht ja nur„eine Frage des Trainings“ (Beb, 105).

3 „Roman des Phänotyp“: Schreiben im Horizont des Absoluten Für Gottfried Benn blieb das Werk von Carl Einstein ein wichtiger Anlass, sich bis ins Spätwerk hinein mit den Möglichkeiten der eigenen Prosaproduktion zu beschäftigen. Neben Töne der Bewunderung⁶⁷ trat dabei auch ein Bewusstsein Benns

65 Moog-Grünewald: Absolute Prosa [Anm. 15], S. 80. 66 Vgl. hierzu auch die die kritische Forschungsposition bei Sorg: Aus den „Gärten der Zeichen“ [Anm. 14], S. 30: „Wir können festhalten, daß ,Autonomie‘ – entgegen aller anderslautenden Rhetorik – in bezug auf Kunstwerke niemals absolute, sondern stets nur relative Selbstständigkeit meint. Einsteins Bebuquin als ,autonome‘ oder ,absolute‘ Prosa zu bezeichnen, erfaßt pauschal nicht mehr als eine ,a-mimetische‘ Tendenz […] und ist, wenn sie die spezifische Literarizität des Textes außer acht läßt, als Qualifikation von Bebuquin wenig ergiebig.“ 67 Vgl. exemplarisch eine Briefpassage an Wasmuth: „An Einstein denke ich oft und lese in seinen Büchern, der hatte was los, der war weit an der Spitze.“ Gottfried Benn an Ewald Wasmuth, 27. März 1951, in: Gottfried Benn: „Absinth schlürft man mit Strohhalm, Lyrik mit Rotstift“. Ausgewählte Briefe 1904–1956, hg. v. Holger Hof, Göttingen und Stuttgart 2017, S. 232–234, hier: S. 232.

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für die Hürden, auf die Einstein gestoßen ist. In einem Brief an Oelze vom 31. Mai 1944 heißt es hierzu exemplarisch: Namentlich der Letztere [der Text „Bebuquin“] schaltete auch Zeit u. Psychologie aus, aber liess die Handlung nicht fort, der Held musste noch allerlei betreiben. Das war inkonsequent. Auch dass er überhaupt noch einen Namen hatte, war paradox. Jetzt ist die Lage anders. (BOe II, 66)

Der zitierte Brief steht in engem Zusammenhang zum zeitgleich entstehenden „Roman des Phänotyp“ und es wird noch näher darauf einzugehen sein, welche Rolle genau die ,veränderte Lage‘ in diesem Kontext spielt. Aufmerken lässt zunächst, dass Benn den „Bebuquin“ trotz der konstatierten Monita auch noch fünf Jahre später in seiner Autobiographie „Doppelleben“ als modellbildenden Prätext für seine Idee der absoluten Prosa angeführt hat. Im Nachgang an die bereits zu Beginn des vorliegenden Beitrags zitierte Definition nannte er als Beispiele „[a]us der modernen Literatur […] Carl Einstein mit seinem Roman ,Bebuquin‘ (1912) und Gide mit ,Paludes‘. Ihnen schwebte offenbar etwas Ähnliches vor“ (SW V, 140). Zu dieser uneingeschränkten und öffentlichen Referenz trug sicherlich auch die Erinnerung an die freundschaftliche Verbundenheit v. a. der Brüsseler Tage bei.⁶⁸ Dass es sich dabei um eine wechselseitige Wertschätzung gehandelt hat, die auch von Einstein getragen worden ist, bezeugen gelegentliche Bemerkungen des Autors in Briefen⁶⁹ sowie eine Rezension zu Benns „Gesammelten Gedichten“ (1927).⁷⁰ In dieser Besprechung stellte Einstein mit „Bewunderung“ ein „[h]alluzinativ autistisches Wortgeschehen und eingesprächiges Sichverschließen“⁷¹ in Benns Lyrik fest. Mit diesem ostentativen Lob der Selbstbezüglichkeit und „monologische[n] Abgegrenztheit“⁷² kommentierte Einstein freilich nicht nur den Gedichtband des Freundes, sondern unterstrich auch die Programmatik des eigenen

68 Vgl. zur Beziehung von Benn und Einstein allgemein: Brian Keith-Smith: Gottfried Benn and Carl Einstein, in: Gottfried Benn. The Galway Symposium, hg. v. Paul Foley Casey und Timothy J. Casey, Galway 1990, S. 141–154; Johann Siemon: Einstein und Benn. Geschichte einer Entfernung?, in: CarlEinstein-Kolloquium 1994, hg. v. Klaus H. Kiefer, Frankfurt a. M. u. a. 1996, S. 89–104; Moritz Baßler: „Ewigkeit der Accent“ – Benns und Einsteins Widmungsgedichte Meer- und Wandersagen und Die Uhr, in: Gottfried Benn – Wechselspiele zwischen Biographie und Werk, hg. v. Matías Martínez, Göttingen 2007, S. 71–84; Matthias Berning: Carl Einstein, in: Benn-Handbuch [Anm. 1], S. 37. 69 Vgl. exemplarisch die Bemerkung über Benn im „Kahnweiler-Brief“ [Anm. 56], S. 231: „Der einzige meiner Kollegen, der instinktiv an ähnliches [ein kubistisches Literaturkonzept] herangeht ist vielleicht mein Freund Gottfried Benn“. 70 Vgl. Carl Einstein: Gottfried Benns „Gesammelte Gedichte“, in: Ders.: Werke. Berliner Ausgabe, Bd. 2: 1919–1928, hg. v. Hermann Haarmann und Klaus Siebenhaar, Berlin 1981, S. 369–372. 71 Einstein: Gottfried Benns „Gesammelte Gedichte“ [Anm. 70], S. 372 und 370. 72 Einstein: Gottfried Benns „Gesammelte Gedichte“ [Anm. 70], S. 369.

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avantgardistischen Frühwerks.⁷³ Dies scheint nun insofern erwähnenswert, als Benns Erwähnung des „Bebuquin“ in „Doppelleben“ meines Erachtens eine analoge Funktion hat: Auch dieses argumentum ad verecundiam beschwört eine expressionistische Generationsgemeinschaft, der Benn selbst angehörte und als deren letzter Überlebender er sich wiederholt inszenierte.⁷⁴ So beiläufig die Erwähnung also scheint: Dass Benn seine Definition der absoluten Prosa 1950 von Einstein und zugleich von André Gide ableitet, zeugt auch von einem gewissen Sinn für Selbstplatzierung in der Zeit nach 1945: Das eigene Werk steht damit im Zeichen eines Wiederanschlusses an die europäische Moderne, deren Entwicklung in Deutschland durch die Kulturpolitik der Nationalsozialisten gewaltsam unterbrochen worden war.⁷⁵ Benns eigene Rolle innerhalb dieser Kulturpolitik bleibt dabei jedoch außen vor. Diese besondere historische Bedeutung der absoluten Prosa drückt sich noch in einer weiteren Hinsicht aus, und hier knüpfen wir an das an, was Benn gegenüber Oelze als ‚Veränderung der Lage‘ bezeichnet hat (vgl. nochmals BOe II, 66). Denn tatsächlich ist dem „Roman des Phänotyp“, der im Folgenden als Benns profilierteste Annäherung an ein Schreiben im Horizont des Absoluten fokussiert wird,⁷⁶ der zurückliegende Zivilisationsbruch spürbar eingeschrieben. Entstanden ist der Text während des Kasernenalltags des Autors resp. Oberstabsarztes Benn in Landsberg an der Warthe. Wir zählen demnach bereits mehrere Jahre seit seiner ,aristokratischen‘ inneren Emigration in den geschützten Raum der Wehrmacht sowie seiner endgültigen Verbannung vom literarischen Feld im Zuge des 1938 erfolgten Aus-

73 Vgl. Kleinschmidt: Die dilettantische Welt und die Grenze der Sprache [Anm. 35], S. 378. 74 Vgl. exemplarisch die Ausführungen im „Bekenntnis zum Expressionismus“ (1934): „[U]nd so will ich denn aus diesem Schicksal heraus und zumal ich der einzige von dieser ganzen zersprengten Gemeinschaft bin, der die Ehre hat, in der neuen deutschen Akademie der Dichtung einen Sitz zu haben, noch einmal vor diese Gemeinschaft treten […], die Erinnerung an ihre innere Lage wachrufen und auf gewisse Dinge zu ihrer Verteidigung hinweisen […].“ (SW IV, 77) 75 Für diese Lesart spricht auch die Publikationsgeschichte des Primärtextes: Erstmals in Teilen abgedruckt wurde der „Roman des Phänotyp“ 1949 in der Kulturzeitschrift „Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken“. Deren Gründer Hans Paeschke und Joachim Moras verfolgten in den frühen Jahren der Zeitschrift einen forcierten Wiederanschluss der deutschen Literatur an die internationale Kulturszene. Vgl. weiterführend: Hanna Klessinger: Bekenntnis zur Lyrik. Hans Egon Holthusen, Karl Krolow, Heinz Piontek und die Literaturpolitik der Zeitschrift „Merkur“ in den Jahren 1947 bis 1956, Göttingen 2011, S. 37–44. 76 Vgl. einführend zum „Roman des Phänotyp“ allgemein: Hugh Ridley: Botschaften aus dem „untergangsgeweihten“ Dritten Reich. Zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte von Benns „Roman des Phänotyp“, in: text+kritik 44 (1985), S. 75–89; Silvio Vietta: Europäische Rationalität und Benns Phänotyp, in: Der späte Benn. Poesie und Kritik in den 50er Jahren, hg. v. Elena Agazzi und Amelia Valtolina, Heidelberg 2012, S. 15–30; Peter Uwe Hohendahl: „Roman des Phänotyp“ (1944/ 1949), in: Benn-Handbuch [Anm. 1], S. 149–154.

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schlusses aus der Reichsschrifttumskammer. In der Benn-Forschung wird die Zeit in Landsberg als eine Periode umfassender Isolation und zugleich höchster geistiger Intensität beschrieben; „Weltkriegsbedingungen bedeuteten für Benn […] beste Produktionsbedingungen“,⁷⁷ bringt Antje Büssgen die Sachlage auf den Punkt. In dieser Phase bot die Korrespondenz mit Oelze die nahezu einzige intellektuelle Resonanzquelle. Und so überrascht es auch nicht, dass sich in den Briefen an den Bremer Kaufmann viele Themen und ganze Textfelder aus dem „Roman des Phänotyp“ vorgebildet finden.⁷⁸ Wie sehr der „Roman des Phänotyp“ in seinem autobiographischen Entstehungskontext verankert ist, zeigt zudem ein Blick in das Kapitel „Zusammenfassung“: Das Vorstehende sind die Eindrücke, Erinnerungen und Taten des Phänotyps während eines Vierteljahres, vom 23. 3.1944 bis 20.6.1944, – ein Zeitraum, der genügt, um sein Verhalten zu beschreiben. Er wohnte in einer östlichen Kaserne, bekam Truppenverpflegung, wöchentlich zwei Kommißbrote, hinlänglich Aufstrich, zweimal täglich eine Schüssel voll Suppe oder Kohlgericht, er war also wohl versorgt, sein Zimmer ging auf einen Exerzierplatz, auf dem die Allgemeinheit ihre Ideen betrieb. (SW IV, 420)

Die in „Doppelleben“ eingeführten Kriterien einer „Prosa außerhalb von Raum und Zeit“ (SW V, 140) werden mit dieser Passage im Grunde bereits ad absurdum geführt: Die raumzeitliche Verortung ist ausgesprochen präzise. Es fällt nicht schwer, in der Figur des Phänotyp den Autor selbst zu erkennen, der in der General-von-StrantzKaserne äußerlich ein militärisches Dasein gefristet hat. Die Arbeit am Text wird damit zur Arbeit am Ich und umgekehrt. Als grammatische Ambiguität ist diese Gleichzeitigkeit übrigens schon im Titel angelegt, dessen Genitivkonstruktion offenlässt, ob es sich um einen Roman von dem oder über den Phänotyp handelt.⁷⁹ Gleichwohl ist der Mehrwert einer allein auf das Autobiographische konzentrierten Lesart begrenzt, denn Benn projiziert in den „Phänotyp“ deutlich mehr als nur das eigene Leben in Landsberg. Stattdessen stellt der Phänotyp – die biologistische Begriffsprägung deutet es bereits an – einen kreativen Anlagenträger dar, der die

77 Antje Büssgen: Wissensgeschichtliche und kunstpolitische „Irrtümer“ der deutschen Geschichte seit 1914. Gottfried Benns Deutung der beiden Weltkriege in Das moderne Ich (1920) und Zum Thema: Geschichte (1943), in: Der Erste Weltkrieg als Katastrophe. Deutungsmuster im literarischen Diskurs, hg. v. Claude D. Conter, Oliver Jahraus und Christian Kirchmeier, Würzburg 2014, S. 193–220, hier: S. 199. 78 Vgl. Ridley: Botschaften aus dem „untergangsgeweihten“ Dritten Reich [Anm. 76], S. 77: „So führt Benn in den Briefen eine Diskussion über Veränderung in der Erotik, die dann im ,Roman‘ ihren Niederschlag findet; hier findet man auch die Kritik an Nietzsche; die plakative Vorliebe für das Triviale […], die Begegnung mit dem Werk Pascals“. 79 Vgl. Ridley: Botschaften aus dem „untergangsgeweihten“ Dritten Reich [Anm. 76], S. 75.

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Bewusstseinslage seiner Zeit in Kunst zu übersetzen vermag. Aus dieser Wahrnehmungs- und Deutungshoheit des schöpferischen Typus leitet Benn die Sonderstellung des ,Protagonisten‘ ab, alleiniger Anlass und somit gleichsam Organisationsprinzip des Textes zu sein. Er ist, so lesen wir, „der Existentielle, nichts wie er, nur er, einen weiteren Zusammenhang gibt es nicht“ (SW V, 141). Was Benn am „Bebuquin“ noch gestört hat, nämlich die Restbestände einer Handlung, die sich teleologisch im Tod der Titelfigur zuspitzt, kann so endgültig verabschiedet werden. Das Ergebnis sind neunzehn intratextuell unabhängige, in ihrer Reihenfolge in gewissem Sinne variable Kapitel. Diese ermöglichen einen Einblick in die assoziativen Denk- und Wahrnehmungsmodi des schreibenden Ich. Eine Rezeptionshilfe geben dabei die verschiedenen Stichworte, die der Autor Benn den einzelnen Kapiteln voranstellt (etwa „Bedenken gegen Nietzsche“ oder „Ambivalenz“). Wie Einstein verfährt auch Benn dabei metapoetisch und selbstreferenziell, exemplarisch im Kapitel „Bourdeaux“. In diesem beschreibt er die programmatische Entwicklungsfeindlichkeit respektive Statik seiner Prosaproduktion sowie deren daraus abgeleitete ästhetische Darstellungsmittel: Ein Roman im Sitzen. Ein Held, der sich wenig bewegt, seine Aktionen sind Perspektiven, Gedankengänge sein Element. Das erste Wort schafft die Situation, substantivische Verbindungen die Stimmung, Fortsetzung folgt aus Satzenden, die Handlung besteht in gedanklichen Antithesen. (SW IV, 415)

Anders als noch im „Bebuquin“ wird durch Kommentare wie diese jedoch kein Illusionsbruch vollzogen, schlichtweg weil in dieser Reflexionsprosa keine Handlung mehr zu Illusion oder Immersion einlädt. Hinweise des Textes auf die eigene ,Gemachtheit‘ finden sich auch mit Blick auf dessen übergreifende Struktur, die Moritz Baßler treffend als „Katalogizität“⁸⁰ bezeichnet hat. Schon Benn selbst erläutert das Strukturprinzip mit verschiedenen Metaphern des ,Flächigen‘: Fächer und Torten werden zur Beschreibung herangezogen (vgl. BOe II, 66–67) sowie das vielzitierte Bild einer Orange, deren einzelne Fruchtschnitten im gleich-gültigen Nebeneinander „nach der weißen zähen Wurzel“ (SW V, 140) streben, die das Obststück zusammenhält. Die simultane Parallelität homogener aber individueller Teile organisiert den „Phänotyp“ sowohl in der Mikro- als auch in der Makrostruktur. Im Kapitel „Summarisches Überblicken“ beispielsweise umgreift die Kategorie der Katalogizität die Bereiche Thema und Form gleichermaßen.⁸¹ Hier gerät das Ich beim Blättern in einem Kunstband in einen ästhetischen Rausch. Ellipsen und pa-

80 Baßler: Absolute Prosa [Anm. 23], S. 69. 81 Vgl. Baßler: Absolute Prosa [Anm. 23], S. 69.

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rataktische Reihungen von Substantiven erzeugen eine Assoziationsdrift, die das Erleben des Phänotyps unmittelbar nachempfinden lässt: Schon summarisches Überblicken, Überblättern schafft manchmal einen leichten Rausch. Venusse, Ariadnen, Galatheen erheben sich von ihren Pfühlen, unter Bögen, sammeln Früchte, verschleiern ihre Trauer, lassen Veilchen fallen, senden einen Traum […]. So erheben sich die Welten. […] Das unmittelbare Erleben tritt zurück. Es brennen die Bilder, ihr unerschöpflicher beschirmter Traum. (SW IV, 405–406)

Das Ich, das dergestalt im Kunstgenuss aufgeht und diesen in „abwägend gebaute Sätze“ (SW V, 143) zu übersetzen vermag, muss, so postuliert Benn apodiktisch in „Doppelleben“, einen privilegierten Zugang zu einem nicht näher beschriebenen „Prozeß des Absoluten“ (SW V, 143) haben. Die Kunst selbst, und zwar die ganz faktisch vorhandene, wird somit zu dem Wunder, an dem Bebuquin dilettantisch gescheitert ist. Dementsprechend heißt es über ein Gemälde „aus der Schule Rjepin“ (SW IV, 390) – gemeint ist höchstwahrscheinlich Boris Kustodievs „Kaufmannsfrau bei Tee“ (vgl. SW IV, 779) –, dass es aus dem Zusammenhang „von Ursache und Wirkung“ heraustrete (SW IV, 390) und damit aus genau derjenigen kausalen Logik, deren Überwindung das Wunderbare konstituiert.⁸² Wie Einstein bleibt die bildende Kunst mithin auch für Benn ein Referenzpunkt des Absoluten, wenngleich er aus dem intermedialen Nebeneinander andere Konsequenzen zieht. Im Gegensatz zu seinem alten Freund strebte Benn nämlich keinen ,Übersetzungsversuch‘ von bildender Kunst und Literatur an, wie Einstein es für den Kubismus vorsah. Er konzentrierte sich stattdessen auf einen textbasierten Produktionsmodus, für den der „Roman des Phänotyp“ selbst das beste Beispiel ist. Denn wie Holger Hof unter Rückgriff auf Benns unveröffentlichte Tageskalender jüngst materialreich belegen konnte,⁸³ ist der Primärtext in weit höherem Maße das Ergebnis umfangreicher Lektürefrüchte bzw. einer intertextuellen Totalmontage,⁸⁴ als in bisherigen wissenschaftlichen Editionen identifiziert.⁸⁵ Sach- und Fachbücher, Hoch- und Trivialliteratur, die Benn inmitten der Wirren der letzten Kriegs-

82 Vgl. Kyora: Eine Poetik der Moderne [Anm. 64], S. 47. 83 Vgl. im vorliegenden Band: Holger Hof: „Mein Kopf ist eine Empfangsstation für Gedankenströme von Menschen, die ich gar nicht kenne“. Zur Entstehung von Gottfried Benns „Roman des Phänotyp“ – erste Ergebnisse. 84 Vgl. zu Benns Montageverfahren allgemein: Ingo Seidler: Statische Montage. Zur poetischen Technik im Spätwerk Gottfried Benns, in: Denken in Widersprüchen. Korrelarien zur GottfriedBenn-Forschung, hg. v. Wolfgang Peitz, Freiburg i.Br. 1972, S. 171–183; Holger Hof: Montagekunst und Sprachmagie. Zur Zitiertechnik in der essayistischen Prosa Gottfried Benns, Aachen 1997; Jan Bürger: Benns Doppelleben oder Wie man sich selbst zusammensetzt, Marbach 2009. 85 Vgl. exemplarisch den Kommentar in: SW IV, 759.

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jahre in rauen Mengen aus einer Landsberger Leihbibliothek bezogen hat, gingen in das Werk ein, transformiert und angereichert – besonders durch den oben erwähnten Briefdialog mit Oelze. Ohne an dieser Stelle konkret auf einzelne Quelltexte eingehen zu können, lohnt es sich, Benns Ausführungen zur absoluten Prosa um Überlegungen zu seinem aktuellen Lektürehorizont zu ergänzen. Das von absolvere abgeleitete „loslösen“ ist in diesem Sinne wörtlicher zu verstehen, als es bislang der Fall war: als ,Herauslösen‘ einzelner Ideen, Wörter und Motivzitate aus ihrem ursprünglichen Kontext und deren Integration in eine neue ,Textur‘.⁸⁶

4 Fazit: Avantgarde nach der Avantgarde(?) Mit dem „Roman des Phänotyp“ ist sich Benn dementsprechend sicher, das Absolute nicht mehr suchen zu müssen, sondern es in der Literatur selbst gefunden zu haben – in Form eines intertextuellen Suprastils. Im späteren Nachkriegsdeutschland, ungefähr zeitgleich zur Veröffentlichung des Textes, wird Benn diesen Triumph mit einem weiteren Schlagwort für die Literaturgeschichtsschreibung systematisieren, nämlich demjenigen der sogenannten „Phase II“ (vgl. SW VII/1, 233–239). Summarisch charakterisiert werden kann die „Phase II“ als eine umfassende, gleichermaßen ästhetische wie anthropologische Stilaufbruchsbewegung. Literaturgeschichtlich beruft sie sich als Avantgarde nach der Avantgarde einerseits auf den literarischen Expressionismus und grenzt sich andererseits zugleich von diesem ab. Indem Benn nämlich von einer „Phase II des expressionistischen Stils“ (SW VII/1, 238) spricht, suggeriert er eine Überwindung des eigenen Frühwerks, also beispielsweise der sogenannten ‚Rönne-Novellen‘. Er insinuiert damit aber auch eine ästhetische Überwindung einstiger avantgardistischer Weggefährten wie Carl Einstein. Christian Schärf formuliert das Konzept mit Rückbezug auf den „Roman des Phänotyp“ pointiert, wenn er schreibt, dass „[d]ie Typenreihe des letzten Expressionisten […] darin eine neue Ausdrucksform [findet]. Der Überlebende setzt sich durch; das ist die Botschaft, die aus dem Begriff Phänotyp spricht.“⁸⁷ Ob man dem Autor und seinem Ausleger in dieser Rhetorik uneingeschränkt folgen möchte, sei dahingestellt. Den Anspruch auf eine creatio ex nihilo, an der Bebuquin noch verzweifelt ist, hat der Phänotyp jedenfalls produktionsästhetisch hinter sich gelassen. Ganz im Gegenteil bezieht sich der „Roman des Phänotyp“ geradezu exzessiv auf – im weitesten Sinne – literarische Vorlagen und Prätexte,

86 Ich danke Holger Hof sehr für die Hinweise und Impulse in diesem Abschnitt, die aus einem Gespräch im November 2022 hervorgegangen sind. 87 Schärf: Der Unberührbare [Anm. 13], S. 299.

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womit er eine Neubewertung von autonomieästhetischen Setzungen erlaubt. „Kunst an sich“ (SW V, 140) umfasst damit nämlich nicht (nur) das Postulat einer absolut gesetzten Referenzlosigkeit bzw. einer strukturellen Nachbildung der objektiven Welt in einer eigenen ästhetischen Qualität, sondern vielmehr die Schöpfung von Literatur und ,Textur‘ aus Text, die Immersion in ästhetische Gegenwelten im historisch-apokalyptischen Ausnahmemoment gegen Ende des Zweiten Weltkrieges. Transzendiert hat der „Roman des Phänotyp“ zudem das lineare Erzählen und die letzten Rudimente einer entwicklungsgetriebenen Handlung. An ihrer statt werden Leserin und Leser mit essayistischen und (meta‐)literarischen Reflexionen konfrontiert. Dabei bleibt zu bedenken, dass sich gerade diese Emanzipation von klassischen Romaninhalten (wie beispielsweise der Liebe⁸⁸) den progressiven Programmen einer historischen Avantgarde verdankte, die die Rezeptionsbedingungen hierfür bereits um 1900 hergestellt hat. Verkürzt gesagt: Benns Absage an Psychologie und Erlebnisprosa wäre ohne Einsteins Polemik gegen Mimesispostulate und sein Ringen um das Absurde nicht möglich gewesen. Die zeitgenössische Kritik hat dieses Erbe übrigens durchaus erkannt. Exemplarisch zu nennen ist hier Max Bense, der Benns Nachkriegsprosa dezidiert als „expressionistische Prosa“⁸⁹ gelesen hat. Eine rezeptionsgeschichtliche Pointe der absoluten Prosa besteht darüber hinaus in dem Umstand, dass Benns Idee einer postavantgardistischen Phase II auf den „Gräbern der Protagonisten von Phase I“⁹⁰ Anteil an der ,Wiederbelebung‘ Carl Einsteins nach 1945 hatte. Diesen Eindruck zumindest vermittelt eine erste Sichtung der historischen Zeitungsausschnittsammlung zu Einstein am Deutschen Literaturarchiv Marbach (DLA).⁹¹ Die hier erhaltenen, auf die frühen 1960er Jahre datierten Ankündigungen und Einordnungen der ersten Einstein-Werkausgabe in

88 Analog zu Einstein lehnte auch Benn die Liebe als einen anachronistischen Gegenstand der Prosaproduktion ab. Im Kapitel „Der Stundengott“ heißt es hierzu: „Die Liebe ist die Produktivität jener, die sich nicht innerhalb des genannten Umkreises befinden, sie täuscht Inhalte vor und schafft Surrogate für eine Individualität, die nicht mehr vorhanden ist, der Phänotyp wird an ihr wenig Intimes entdecken.“ (SW IV, 389) 89 Max Bense: Über expressionistische Prosa, in: Merkur 3 (1949), H. 12, S. 196–199. Der Kurzessay erschien im zwölften Heft der Zeitschrift im Februar 1949, das mit Auszügen aus dem „Roman des Phänotyp“ und dem „Berliner Brief“ maßgeblich zu Benns Publizität und Nachkriegscomeback beitrug. 90 Schärf: Der Unberührbare [Anm. 13], S. 302. 91 Zeitungsausschnittsammlung der Mediendokumentation (Zeitungsausschnitte zu Einstein ab 1922), in: DLA Marbach, Z: Einstein, Carl. Vgl. zur Einstein-Rezeption in der (frühen) Nachkriegszeit zudem: Edith Ihekweazu: Carl Einstein in „Zwischen den Kriegen“. Hinweise zur Einstein-Rezeption in den fünfziger Jahren, in: Carl-Einstein-Kolloquium 1986, hg. v. Klaus H. Kiefer, Frankfurt a. M. 1986, S. 229–240.

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Benns Hausverlag Limes bemühen nahezu durchgehend den Topos des ,vergessenen Expressionisten‘ und berufen sich legitimatorisch auf die Erwähnung Einsteins in „Doppelleben“. Doch auch um Benns eigene Positionierungen auf dem literarischen Feld der Nachkriegsmoderne nachzuvollziehen, ist das Konzept der absoluten Prosa und die Bemühung um seine Umsetzung im „Roman des Phänotyp“ aufschlussreich. Eine Hegemonialstellung als lyrischer praeceptor germaniae errang Benn bekanntlich mit der Veröffentlichung der „Statischen Gedichte“ (1948/1949) sowie deren Aufnahme durch wirkmächtige Kritiker wie etwa Friedrich Sieburg.⁹² Auch die „Statischen Gedichte“ umkreisen, insbesondere in ihren poetologischen Teilen, die Idee einer ‚Kunst an sich‘ und verfahren dabei selbstreferentiell. Der elegische Duktus und das klassische Formbewusstsein der Sammlung machten sie aber zugleich anfällig für eine restaurative Vereinnahmung unter den Vorzeichen einer ästhetizistischen Erbauungsliteratur. Mit experimenteller Prosa wie dem „Roman des Phänotyp“ wollte Benn solchen Rezeptionsmechanismen entgegentreten.⁹³ Dass dem Autor dies durchaus gelang, konkretisiert nicht zuletzt eine Anekdote aus der Publikationsgeschichte des Vorabdrucks in der Zeitschrift „Merkur“. Als deren Mitbegründer Joachim Moras nämlich die Fahnenabzüge des Textes in Händen hielt, (ver)störte die Assoziationsdrift der heterogenen Fragmente ihn derart, dass er sich dies nur durch großzügige redaktionelle Eingriffe seines Kollegen Hans Paeschke erklären konnte. In einem Schreiben, das sich in der Redaktionskorrespondenz der Herausgeber im Archiv erhalten hat, fragte Moras wütend: „hast Du Entsetzlicher auch noch den ,Phänotyp‘ kürzen müssen? Kann wirklich rein gar nichts mehr ungekürzt von Dir ertragen werden?“⁹⁴ Der so angesprochene Paeschke war sich indes keiner Schuld bewusst; er hatte Benns Textfassung nicht angerührt. Spätestens in der Wirkung trifft sich Benns „Phänotyp“ demnach wieder mit Einsteins „Bebuquin“: Beide sind „weitgehend Sache der Spezialisten geblieben.“⁹⁵

92 Vgl. in diesem Zusammenhang weiterführend: Sarah Gaber: „Dies ist die erhabenste Kritik, die je über mich erschienen ist –“. Gottfried Benn, Friedrich Sieburg und die Bedeutung einer Rezension im literarischen Feld nach 1945, in: Benn Forum 7 (2020/2021), S. 117–139. 93 In Briefen betonte Benn, dass er die während des Publikationsverbots entstandene Prosa gegenüber seiner Lyrik für das innovativere und zeitgemäßere Teil seines Werks hielt. Vgl. Benn an Peter Schifferli, 29. April 1948, in: Paul Raabe: Gottfried Benn und der Arche Verlag. Zur Druckgeschichte der „Statischen Gedichte“, in: Gottfried Benn. Statische Gedichte, hg. v. Paul Raabe, Zürich 1983, S. 83–125, hier: S. 96. 94 Joachim Moras an Hans Paeschke, 2. Februar 1949, in: DLA Marbach: A: Merkur/Paeschke 92.17.90. 95 Ridley: Botschaften aus dem „untergangsgeweihten“ Dritten Reich [Anm. 76], S. 75. Vgl. zur begrenzten Rezeption des „Bebuquin“: Sibylle Penkert: Carl Einstein – Wegbereiter des 21. Jahrhunderts?, in: Carl-Einstein-Kolloquium 1986, hg. v. Klaus H. Kiefer, Frankfurt a. M. 1986, S. 151–160, hier: S. 152.

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„Mein Kopf ist eine Empfangsstation für Gedankenströme von Menschen, die ich gar nicht kenne“. Zur Entstehung von Gottfried Benns „Roman des Phänotyp“. Erste Ergebnisse Abstract: Der Beitrag beschäftigt sich mit der Quellenlage zu Benns 1943 und 1944 in Landsberg an der Warthe entstandenem „Roman des Phänotyp“. Auf Grundlage der Auswertung von Benns Tageskalender des Jahres 1944 war es möglich, den größten Teil der bislang unbekannten Quellen für diese Textreihe zu bestimmen. Am Beispiel ausgewählter Einzelabschnitte werden diese im Hinblick auf ihre Relevanz für den Produktionsprozess untersucht. Hierbei erweist sich wie auch beim Parallelprojekt der „Ausdruckswelt“ der Begriff der ‚absoluten Prosa‘ als zentral. Auch wer keine historischen Romane schreibt, braucht Bücher, Bücherreihen, Bücherkonvolute, vom einen zum andern zu greifen, was wäre das für ein Glück.¹

1 Einleitung In die Jahre 1943/44 fällt neben einigen Gedichten² hauptsächlich die Entstehung der Texte der „Ausdruckswelt“³ und des „Romans des Phänotyp“. Die Existenz-Pole, die

1 Gottfried Benn: Notiz auf einem Einzelblatt aus dem Jahr 1953, in: Ders.: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, Bd. VII/2: Vorarbeiten, Entwürfe und Notizen aus dem Nachlass, Register, hg. v. Holger Hof, Stuttgart 2003, S. 319. Im Folgenden wird auf diese Werkausgabe mit der Sigle (SW I– VII/2) im laufenden Text hingewiesen. Im Zusammenhang mit den hier zitierten Zeilen beklagte sich Benn darüber, dass es in West-Berlin keine große Bibliothek mehr gebe.Vielmehr musste er sich mit kleineren Bibliotheken wie der Leihbibliothek am Bayerischen Platz, der wissenschaftlichen Zentralbibliothek in Dahlem oder auch der Stadtbibliothek in der Podbielskiallee zufriedengeben. Genau zehn Jahre zuvor standen Benn in Landsberg an der Warthe weder seine persönliche noch die Berliner Staatsbibliothek samt Kuppellesesaal zur Verfügung, sondern es war die Leihbücherei Schaeffer und Co. in der Richtstraße 8, die ihn regelmäßig mit Lesestoff versorgte. 2 Als mit Sicherheit in den Monaten Januar bis Juli 1944 entstandene Gedichte sind zu nennen: „O gib –“ (SW I, 219), „Dann –“ (SW I, 190) und „V. Jahrhundert“ (SW I, 191–192). Holger Hof, Berlin https://doi.org/10.1515/9783111102740-003

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Benns Leben zu dieser Zeit bestimmten, waren einerseits die geschichtliche Welt – das sind für den hier ins Auge gefassten Zeitraum der Jahre 1943/44 vor allem das aktuelle Kasernenleben in Landsberg an der Warthe und die sich intensivierenden Bombardierungen –, die ihn als reale Person betrifft, und andererseits die nihilistische Welt, mit Benns eigenen Worten also ‚die Lage‘, wie er sie als geistiger Mensch nach beinahe 2000 Jahren abendländischer Entwicklung einschätzte. Im Zentrum des Spannungsfeldes der erwähnten Projekte steht zweifellos Benns Konzept der ‚absoluten Prosa‘. Mit der vorläufigen Fertigstellung des „Romans des Phänotyp“ fand diese im Juli 1944, als die Kriegshandlungen immer näher und damit auch ihrem Ende entgegen rückten, ihre geradezu idealtypische Realisierung – so jedenfalls in der Vorstellung des Autors. Wer mit der Edition der Werke Benns und der Benn-Forschung näher vertraut ist, weiß, dass nicht nur im Apparat der „Sämtlichen Werke“ immer wieder der Versuch gemacht worden ist, die Vielzahl von intertextuellen Bezügen aufzudecken, die hinter seinen Texten stehen, um auf diesem Weg dem Wissenshorizont des Autors Stück für Stück näher zu kommen. Zentrale Quellen für das Spätwerk sind dabei Benns seit etwa 1938 überlieferte Arbeitshefte, in denen er sein Material gesammelt hat.⁴ Beim „Roman des Phänotyp“ schien ein solches textgenetisches Vorgehen hingegen nicht möglich zu sein, da das Heft mit Exzerpten und Vorarbeiten aus dem Jahr 1944 in der Reihe fehlt und nicht überliefert ist. „Welche Quellen im Einzelnen genutzt wurden“, so Gerhard Schuster im Kommentar der „Sämtlichen Werke“, „ließ sich anhand der erhaltenen Bibliothek vollzählig ebenso wenig ermitteln wie durch ausgebreitete Recherchen in den Sachregistern einschlägiger Bücherverzeichnisse.“ (SW IV, 759) Überliefert ist jedoch der Tageskalender aus dem Jahr 1944 mit all den darin befindlichen Bezügen zur Entstehung des „Romans des Phänotyp“. Ich nehme vorweg: Allein im Kalenderjahr 1944 gibt es Hinweise auf circa 120 identifizierbare Bücher oder Texte, seien es Werke der Unterhaltungsliteratur, Klassiker der Weltliteratur oder der Geschichtsschreibung, wissenschaftliche Handbücher oder Zeitschriftenkompendien, die entweder explizit erwähnt sind oder aus denen Kurzzitate exzerpiert wurden. Oftmals ließ sich aus

3 Erstmals als Begriff im „Lebensweg eines Intellektualisten“ (SW IV, 175 und 177), später im Vorwort zu „Kunst und Macht“: „was wir heute rassenmäßig verlangen, ist Form, ist Abstraktion, ist Ausdruck von Inhalten –: Ausdruck, der liegt klar zutage, hat Kontur, kann nicht ausweichen, hat keinen Hinterhalt, ist hart, ausgeschliffen, und so sehen wir eine neue Welt mit ungeheurer Wucht sich nähern, eine Welt der Formen, der Beziehungen, der Funktionen, der verzahnten Beziehungen, disziplinärer und agonaler Ordnungen, für die in diesem Buch wiederholt ein neuer Begriff betont verwendet wird: Die Ausdruckswelt.“ (SW IV, 201) 4 Die Arbeitshefte und Tageskalender Benns werden im Deutschen Literaturarchiv in Marbach aufbewahrt. Auf sie wird im laufenden Text mit der Sigle (Ah) hingewiesen.

Zur Entstehung von Gottfried Benns „Roman des Phänotyp“

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den Daten der Eintragung auf den Entstehungszeitraum einzelner Abschnitte schließen. In einigen Fällen notierte Benn Abschnittstitel, sodass das Datum ihrer endgültigen Niederschrift geklärt scheint. Natürlich erwies sich schnell, dass die in der Werkausgabe angesprochenen Recherchen in Benns überlieferter Bibliothek nur wenig bis gar nichts zur Quellenermittlung beitragen konnten. Im Gegenteil: Wirft man einen Blick auf die ebenfalls im Kalender verzeichneten, beinahe wöchentlich stattfindenden Gänge in die Schaeffer’sche Leihbibliothek, die meist von Benns Ehefrau Herta besorgt wurden, bestätigt dies seine längst bekannte Aussage: „Ich lese viel (Leihbibliothek) u. finde, dass es doch viel Schönes, Schimmerndes, Tiefes in manchen Büchern giebt, aus allen Zeiten.“⁵ Darüber, wie dies ‚Schöne‘, ‚Schimmernde‘ und ‚Tiefe‘ in Benns eigene Texte herübergewandert ist und sich in ihnen abgelagert hat, lässt sich auch ohne die Hilfe seiner Exzerpte einiges sagen. Quellentexte ausfindig zu machen, bedeutete in den allermeisten Fällen, nach der berühmten Stecknadel im Heuhaufen zu suchen. Manchmal konnte Google Books helfen, wenn auch nur selten im ersten Anlauf. Sobald die Quelle identifiziert war, stellte sich die Frage, ob es ein Digitalisat des entsprechenden Textes gab. Existierte dieses, etwa in der Online-Bibliothek und Volltextdatenbank www.hathitrust.org, und war damit nach signifikanten Übereinstimmungen von Worthäufungen oder auch exakten Textübereinstimmungen durchsuchbar, blieb immer noch das Problem, dass sich jegliche Veränderung am Ursprungstext der digitalen Suche prinzipiell entzog. Dies drohte überall dort, wo Wortfolgen modifiziert, Worte ersetzt oder weggelassen wurden oder wo, wie so häufig, Singulare in den Flow der Benn’schen Prosa unterstützende Pluralformen verwandelt wurden. Wie nicht anders zu erwarten, bot sich dieses vereinfachte, wenn auch nicht unaufwändige Verfahren bei der Quellensuche nicht bei jedem der identifizierten Titel an, sondern zuweilen blieb nichts anderes übrig, als die Bücher in die Hand zu nehmen und Seite für Seite durchzulesen.⁶

5 Gottfried Benn und Friedrich Wilhelm Oelze: Briefwechsel 1932–1956, hg. v. Harald Steinhagen, Stephan Kraft und Holger Hof, Bd. 2: 1942–1948, Stuttgart und Göttingen 2016, S. 68. Im Folgenden wird aus dieser Briefausgabe mit der Sigle (BOe I–IV) im laufenden Text zitiert. 6 Bei dem amerikanischen Roman „Auf den Trümmern“ von John Dos Passos zum Beispiel, den Benn etwa zwei Wochen nach Beginn der konzentrierten Arbeit am „Roman des Phänotyp“ las, lag der Verdacht nahe, dass sich Lesespuren im Hinblick auf diesen finden lassen könnten. Die erste ‚heiße‘ Spur zeigte sich allerdings erst auf Seite 287 im Kapitel „Töchterchen“. Für Benn gab es hier gleich mehrere assoziative Anknüpfungspunkte, die ihn aufmerken lassen mussten: „Als Papa im Frühling, gleich nachdem Töchterchen ihr Abitur bestanden hatte, einen Pierce-Arrow-Tourenwagen kaufte, war er der glücklichste Mensch von der Welt.“ „Gern würde ich mich hier sitzen sehn“, so die Gedanken der Tochter im Roman, „an dem nicht allzuheißen Junimorgen, in dem leuchtend blanken, schwarzen Auto, zwischen den blanken Messing- und Nickelgeräten, unter dem blanken, blaßblauen, großen Texashimmel“ (John Dos Passos: Auf den Trümmern, Berlin 1932, S. 288). Drei

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Dass ein schier unerschöpflichen Quellenreichtum das Werk Gottfried Benns von Beginn an durchzieht, ist mittlerweile Common Sense der Benn-Forschung. Bereits für Benns Kurzreferate, die er 1913 für die „Berliner Klinische Wochenschrift“ schrieb, bescheinigten ihm Christoph Hoffmann und Lidia Westermann, dass hier der Umgang mit wissenschaftlicher Literatur nicht als Reservoir von Kenntnissen in Betracht zu ziehen [ist], sondern als Ressource einer Praxis. Im Literaturauszug materialisiert sich ein Verfahren des Lesens und Schreibens, das weniger auf Studium, Nachvollzug und Kritik der erfassten Schriften abzielt als auf deren Weiterverarbeitung. Anders gesagt vollzieht sich Lesen in Voraussicht auf den zu schreibenden Text.⁷

An diesem Verfahren hat sich auch 30 Jahre später rein gar nichts geändert. Es ist verblüffend, dass die Spannbreite der Textsorten, die bei Benns spezifischer Montage-Technik Verwendung finden, gar nicht weit genug angenommen werden kann.⁸ Und noch verblüffender ist: Keine der Benns literarisches Leben ausmachenden Werkphasen und keines der literarischen Genres, in denen er sich bewegte, ist davon ausgenommen. Die Gründe dafür, dass das Ausmaß variiert, sind in den unterschiedlichen Schreib- und Arbeitssituationen zu suchen. Hatte er Zugriff zu öffentlichen Bibliotheken und seinen eigenen Büchern, waren die Schleusentore weit offen und das Netz der Fremdtexte ließ sich dichter weben, als wenn ihm der Zugang zu Büchern erschwert war, wie es etwa zu Benns Brüsseler Zeit während des Ersten Weltkriegs der Fall war.⁹ Im Mai 1944 schrieb Benn an Oelze: „Zu Zeiten braucht man nur in die Luft zu fassen und holt ein!“ (BOe II, 64)

Tage nachdem Benn Oelze von der Lektüre des Romans vorgeschwärmt hatte, kam es zur Abfassung des Abschnitts „Der Stadtpark“. Die Stelle, in die die Lesefrucht einging, ist bekannt: „Ein Himmel ist auch über ihm, nicht der blanke blaßblaue Texashimmel und nicht der wolkenlose des Midi, der die Pinien überwölbt, aber doch eine Art Höhenabschluß für Versuchsblicke.“ (SW IV, 408) Meines Wissens ist dies die einzige Formulierung, die Benn „Auf den Trümmern“ entnommen hat. 7 Christoph Hoffmann und Lidia Westermann: „Literatur-Auszüge“. Gottfried Benn als Referent der „Berliner Klinischen Wochenschrift“, in: ZfGerm 20 (2010), S. 636–648, hier: S. 643. 8 Es handelt sich damit auch keineswegs um eine Innovation der „Phase II“, wie Benn später zu suggerieren versuchte. Siehe hierzu bereits Matthias Berning: Anemonenschwert und Lydditgranate. Gottfried Benns inszenierte Dichtergenese im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2021, S. 89: „Festzuhalten bleibt, dass Benns poetologische Ankündigung einer ‚Phase II‘ vor allem der öffentlichen Inszenierung […] eines am Puls der Moderne dichtenden Lyrikers geschuldet ist und keine neuen Aussagen über den Montagestil liefert, die nicht auch schon für das Frühwerk gelten könnten.“ 9 Auf das Innovative dieses „experimentellen Fragmentarismus“ weist v. a. Christian Schärf hin.Vgl. Christian Schärf: Zeiten und Zonen: Geistes- und Zeitgeschichte, in: Benn-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Christian M. Hanna und Friederike Reents, Stuttgart 2016, S. 2–20, hier: S. 17.

Zur Entstehung von Gottfried Benns „Roman des Phänotyp“

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Dabei zeigt sich die Herkunft und die damit verbundene Frage der literarischen Qualität des ‚Lieferanten‘ als von untergeordneter Bedeutung. Das entscheidende Kriterium besteht in der spezifischen Qualität dieser Texte, den Schreibprozess in Gang zu setzen, zu befördern und in Gang zu halten: Gelegentlich scheint ein gewisses Maß an Trivialität sogar von Vorteil gewesen zu sein.¹⁰ Denn „wenn der Mann danach ist, dann kann der erste Vers aus dem Kursbuch sein und der zweite eine Gesangbuchstrophe und der dritte ein Mikoschwitz und das Ganze ist doch ein Gedicht.“ (SW V, 169) Benns Vorlieben für Kriminalromane und Songs aus dem Radio seien hier nur am Rande erwähnt, erscheinen jedoch möglicherweise so in einem anderen Licht. Überhaupt ist der „Roman des Phänotyp“ gattungsmäßig wohl auch der Versuch, mittels der Verschmelzung von Bausteinen der Hoch- und der Unterhaltungskultur – also mal Heinrich Mann, mal Mary Borden, mal Gabriele d’Annuncio, mal Mechtilde Lichnowsky, mal Joseph Conrad, mal Edith Gräfin von Salburg, mal John Dos Passos, mal Rudolf Brunngraber – den Roman einerseits ideell in höchste Höhen zu führen und andererseits als Textur immer weiter zu konkretisieren. Folgerichtig heißt es in einem Brief Benns an Oelze vom 4. Mai 1944, der „Phänotyp“ sei „in keiner Weise theoretisch, vielmehr von äußerster Realistik, nämlich seelischer Tatsächlichkeit: nur so kann der heutige Typ, eben der Phänotyp, sein u. sich ausdrücken“ (BOe II, 63), und im Roman selbst: „[D]er heutige [Phänotyp] integriert die Ambivalenz, die Verschmelzung eines Jeglichen mit den Gegenbegriffen“ (SW IV, 392). Wenn hier von ‚Integration‘ und „Verschmelzung“ die Rede ist, schwingt mit, dass mittels des Montageverfahrens scheinbar mühelos Sprachfetzen unterschiedlichster Provenienz gegeneinandergehalten und miteinander verschachtelt werden.

2 Absolute Prosa Bei Benns Vorstellungen der‚absoluten Prosa‘ handelt es sich nach eigenen Angaben um ein im Zuge der Niederschrift des „Romans des Phänotyp“ entwickeltes, jedoch bereits viel früher angelegtes Konzept. Der Weg vom „Röcheln nach dem Absoluten“ (SW III, 123) in „Das letzte Ich“ über das „Absolut, um das ich ringe“ (SW I, 56–57) aus „Trunkene Flut“ bis hin zur Verehrung Flauberts und dessen „Wortkunst des Absoluten“ (SW IV, 256) scheint so weit nicht gewesen zu sein. Auch kommt es mir so vor, dass der Unterschied zwischen den literarischen Genres, was Benns Selbst-

10 Vgl. hierzu Berning: Anemonenschwert und Lydditgranate [Anm. 8], S. 61–62, der die Nähe zu Walter Benjamins materialorientiertem Montage-Begriff betont, jedoch zurecht auf Benns ästhetischen Ansatz hinweist, der in einem Gegensatz zu Benjamins kritischem steht.

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aussagen über die Praxis seines Dichtens betrifft, nur marginal ist. Das die „zerrissenen Stunden sammel[nde] […] absolute Gedicht […] aus Worten, die Sie faszinierend montieren“ (SW VI, 36), ist ebenso das Werk des „Stundengotts“ (SW IV, 388) wie die „abwägend gebaute[n] Sätze aus dem Prozeß des Absoluten“ (SW V, 143) des „Phänotyp“. Bekannt sind vor allem Benns Ausführungen zum Thema im „Doppelleben“: Ich fand die ersten Spuren bei Pascal, der von Schönheit schaffen spricht durch Abstand, Rhythmus und Tonfall, „durch Wiederkehr von Vokal und Konsonant“ − „die Schwingungszahl der Schönheit“, sagt er und: „Vollkommenheit durch die Anordnung von Worten.“ Dann wurde diese Lage durch Flaubert berühmt, den der Anblick einiger Säulen der Akropolis ahnen ließ, „was mit der Anordnung von Sätzen, Worten, Vokalen an unvergänglicher Schönheit erreichbar wäre“, in Wahrheit nämlich glaubte er nicht, daß es in der Kunst ein Äußeres gibt. Aus der modernen Literatur nenne ich Carl Einstein mit seinem Roman „Bebuquin“ (1912) und Gide mit „Paludes“. Ihnen schwebte offenbar etwas Ähnliches vor: die Möglichkeit nämlich von geordneten Worten und Sätzen als Kunst, als Kunst an sich. (SW V, 140)

Neben dem André Gide gewidmeten „Bebuquin“ ist es Einsteins 1916 im Verlag Die Aktion erschienene Aufsatzsammlung „Anmerkungen“¹¹, der Benn bei der Abfassung des „Romans des Phänotyp“ seine Aufmerksamkeit widmete. Liest man den kurzen Aufsatz Einsteins zu William Beckfords Schauerroman „Vathek“¹², zeigt sich, wie nah die theoretischen Ausführungen Einsteins und die poetische Praxis Benns beieinander liegen. Einstein konstatiert, dass „pure Kunst“ (S. 8) 1. die Psychologie meidet (vgl. S. 6) und ihr die „Kunst als Ausdruck“ (S. 9) entgegensetzt, dass 2. „deren Wahrheit in dem kompositionellen Zusammenhang und der Bildkraft wohnt“ (S. 6), dass 3. deren „kostbare Materiale“ (S. 8) sucht und dass 4. deren „gewissenhafte Technik Auslese und Seltenheit“ (S. 8)¹³ erfordert. Erstmals erwähnte Benn Einsteins Roman gegenüber seinem Freund Oelze im Brief vom 31. Mai 1944, in dem er seinen in jenen Tagen bereits weit fortgeschrittenen „Roman im Sitzen“ (SW IV, 415) vorstellte: [S]tellen Sie sich eine Torte vor, die Stücke gehn alle nach Innen zusammen u. gleichen sich im Teig u sind mit den gleichen Früchten belegt. Chronologie u. Psychologie sind ja eben das, was

11 Carl Einstein: Anmerkungen, Berlin-Wilmersdorf 1916. In Benns Exemplar der „Anmerkungen“, das sich im Teilnachlass seiner Bibliothek im Archiv der Akademie der Künste (Berlin) befindet, ist die Wendung „absolute Sprache“ auf S. 19 dick unterstrichen. Hierauf hat zuletzt Matthias Berning (Anemonenschwert und Lydditgranate [Anm. 8], S. 348) hingewiesen. 12 Vgl. Carl Einstein: Zu Vathek, in: Ders.: Anmerkungen [Anm. 11], S. 5–9. Benn wird diesen Aufsatz in seiner Einleitung zu W. H. Audens „Das Zeitalter der Angst“ (1951, vgl. SW V, 220) wieder aufgreifen. 13 Vgl. zu den vorausgehenden Zitaten Einstein: Zu Vathek [Anm. 12].

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ich auszuschalten suche. Zwei ähnliche Versuche sind mir aus der Literatur bekannt: „Paludes“ von Gide u. „Bebuquin“ von Einstein. Namentlich der Letztere schaltete auch Zeit u. Psychologie aus, aber liess die Handlung nicht fort, der Held musste noch allerlei betreiben. Das war inkonsequent. Auch dass er überhaupt noch einen Namen hatte, war paradox. (BOe II, 66)

Nur am Rande sei erwähnt: Heute erinnert der „Roman des Phänotyp“ weniger an Torten oder Apfelsinen, sondern mehr an die Konzeptalben der Popmusik der 1970er Jahre: formal, stilistisch und thematisch miteinander verbundene Tracks von überschaubarer Länge, deren Reihenfolge durchaus nicht beliebig ist, ohne dass jedoch an der Eigenständigkeit der einzelnen Stücke gezweifelt werden kann. Auch erinnert das Montageverfahren Benns an den Vorgang des Samplings in der Musik, der es erlaubt, bereits ‚fertige‘ Musik in neue Kontexte zu übertragen. Bereits vor dem eben zitierten Brief an Oelze lassen sich im Zusammenhang mit der Entstehung des „Romans des Phänotyp“ Spuren nachweisen, die zu Carl Einstein führen. Am 5. und am 8. April notierte Benn den Titel des Einstein-Romans im Kalender. Die Niederschrift des Abschnitts „Stadtpark II“, in dem Benn Franz Bleis Prometheus-Anekdote aus dessen Geleitwort zum „Bebuquin“ zitiert, erfolgte am 17. April 1944. Interessanterweise stammt das dabei verwendete Blei-Zitat seinerseits aus einer von diesem selbst übersetzten Erzählung André Gides mit dem Titel „Le Prométhée mal enchaîné“ / „Der schlechtgefesselte Prometheus“. Schon die Vorlagen Benns können somit ein schwer überschaubares Stimmengewirr enthalten. Benns Beschäftigung mit der ‚absoluten Prosa‘ lässt sich jedoch noch weiter zurückverfolgen. Folgt man seinem Hinweis in „Doppelleben“ (vgl. SW V, 140) – unmittelbar bevor er Einsteins „Bebuquin“ ins Feld führt –, dann sind es die Ende der dreißiger Jahre entstandenen Texte „Strömungen“ und „Franzosen“, die er im Sinn hatte und die im Abschnitt „Gestützt auf Pascal“ noch in den „Roman des Phänotyp“ hineinwirken. In „Strömungen“ zieht Benn über den historischen Roman des 19. Jahrhunderts in Deutschland her und bezeichnet ihn als „Hineinknetungstätigkeit“ (SW IV, 254). „Warum Gedanken in jemanden hineinkneten“ (SW IV, 390), heißt es dann im „Roman des Phänotyp“. Pascal und Flaubert werden heranzitiert, und wenn Benn von Flaubert spricht, dann ist Heinrich Manns Aufsatz „Gustave Flaubert und George Sand“ aus der 1931 erschienenen Sammlung „Geist und Tat“ gemeint. Passagenweise liest sich dieser Aufsatz wie eine Handlungsanleitung: Um den Roman als Kunstgattung auf die Höhe zu bringen, bedurfte es eines, in dem der Künstler überwog gegen den Denker; dem Ideen nicht zuflossen, aber den die Fülle der Bilder erdrückte; […] der Geist taucht in seinen Quell, die Sinne, zurück; statt des Gedankens steht die

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Sensation. […] Die nicht verbildlichten Analysen, die aus dem alten Roman ein Durcheinander von Abenteuer und Essai machten, sind abgeschafft. Und mit ihnen die ganze Exposition […].¹⁴

3 Zur Entstehung von Benns „Roman des Phänotyp“ Das Vorstehende sind die Eindrücke, Erinnerungen und Taten des Phänotyps während eines Vierteljahres, vom 20. 3.1944 bis 20.6.1944, − ein Zeitraum, der genügt, um sein Verhalten zu beschreiben. (SW IV, 420)

Auf diese Selbstaussage geht der Mythos zurück, der sich um die Entstehungszeit des „Romans des Phänotyp“ gebildet hat. Noch zuletzt lässt sich im Benn-Handbuch nachlesen, dass er exakt in diesem Zeitraum entstanden sei.¹⁵ Im Apparat der „Sämtlichen Werke“ wird zudem darauf hingewiesen, dass lediglich einige wenige Vorarbeiten und Entwürfe aus dem Jahr 1943 greifbar seien, die im Zusammenhang mit den Abschnitten „Libellen“, „Gestützt auf Pascal“ und „Die Verneinung“ stehen.¹⁶ Hierbei handelt es sich jedoch um materialsammelnde Lektürenotizen, respektive Kurzentwürfe, die Benn in seinem aktuell geführten Arbeitsheft festhielt, ohne jedoch zu dem Zeitpunkt zu wissen, ob er sie später verwenden oder fallenlassen würde.¹⁷ Es handelt sich also nicht um konkrete Vorarbeiten für den „Roman des Phänotyp“, ein literarisches Projekt, das es zum Zeitpunkt der Abfassung als Zielort überhaupt noch nicht gab, sondern um Bausteine, die erst im Jahr darauf im Zuge sich entwickelnder Textarbeiten teilweise wieder herangezogen wurden. „Ambivalenz“, „Gestützt auf Pascal“, „Nicht rein pessimistisch das Ganze“, „Halt“, „Bedenken gegen Nietzsche“, „Die Verneinung“, „Dialektik“, „Blicke“ und „Libellen“, also beinahe die Hälfte der Abschnitte des „Romans des Phänotyp“, waren vor dem 20. März 1944 bereits vorhanden und sollten nach der Vorstellung

14 Heinrich Mann: Geist und Tat. Franzosen 1790–1830, Berlin 1931, S. 111. 15 Vgl. Peter Uwe Hohendahl: „Roman des Phänotyp“ (1944/1949), in: Benn-Handbuch [Anm. 9], S. 149–154, hier: S. 149. Im Wesentlichen verlässt sich Hohendahl auf den Apparat Gerhard Schusters (SW IV, 758–794). 16 Vgl. SW IV, 764–765. Dass die dort als H1 mit zahlreichen Transkriptionsungenauigkeiten abgedruckten Lektüreexzerpte, die sämtlich aus Egon Erwin Kischs „China geheim“ (Berlin 1933) stammen, als Vorarbeit für den Abschnitt „Blöcke“ aufgeführt werden, entspricht nicht den Tatsachen. 17 Zu Benns Nutzung seiner Arbeitshefte vgl. vor allem die Arbeiten von Thorsten Ries, etwa: Notizbuchexperimente. Strategien der Textproduktion in Gottfried Benns ‚Arbeitsheften‘, in: Gottfried Benn – Wechselspiele zwischen Biographie und Werk, hg. v. Matías Martínez, Göttingen 2007, S. 203–230, hier: S. 212–213.

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Benns eigentlich in der „Ausdruckswelt“ ihren Platz finden. Alle diese Texte hat Benn in der Folgezeit im Hinblick auf sein neues Projekt des „Romans des Phänotyp“ hin revidiert und einzelne Formulierungen verändert, indem er beispielsweise „zeitgemäß“ durch „phänotypisch“¹⁸ oder „der durchschnittliche Europäer von 1950“ durch „Phänotyp“¹⁹ ersetzte. Oder er fügte einleitende Sätze in die vorhandenen Abschnitte ein, wie z. B. bei „Nicht rein pessimistisch das Ganze“²⁰ oder „Ambivalenz“²¹. Der 20. März markiert den Beginn des Frühjahrs 1944, so wie der 20. Juni sein Ende. Um die Bedeutung des 20. März für den „Roman des Phänotyp“ genauer zu erfassen, braucht es jedoch einen Blick in den Kalender. Man liest dort: „Bild aus der Schule Rjepin!“ und „Roman des Phänotyps“ (Ah 9a). Zweifellos handelt es sich um den Tag der Titelfindung. Ebenfalls wird klar, dass an diesem Tag wohl wesentliche Teile des als Prolog fungierenden Abschnitts „Der Stundengott“ entstanden sind. Tags zuvor notierte Benn: „‚Roman nach Innen‘“, womit ebenfalls das neue Projekt bereits eindeutig benannt wird. Im Kalender existieren weitere Hinweise. Herta Benn hatte einige Tage zuvor eine Tasche voller Bücher aus der Leihbücherei mitgebracht, darunter auch von William M. Thackerey.²² Der Untertitel seines wohl bedeutendsten Romans „Vanity Fair“ scheint Benn besonders beeindruckt zu haben: „A Novel Without a Hero“. Zu diesem Zeitpunkt befand sich Benn in einer intensiven Lesephase – vornehmlich sehr umfangreicher und populärer Romane, darunter Margret Mitchells „Vom Winde verweht“, Howard Springs „Geliebte Söhne“ und Joseph Conrads „Lord Jim“, die er innerhalb nur weniger Tage verschlang.²³ Ganz offensichtlich war der Boden für seinen neuartigen Roman bestens bereitet. Auch vor dem Hintergrund, dass es sich bei den Romanen Margret Mit-

18 Vgl. im Varianten-Apparat von SW IV, 770. 19 Vgl. im Varianten-Apparat von SW IV, 771. 20 Die Einfügung lautet: „Stundenweise erhält er sogar seine ersehnte Fülle. Ein Leben genügt, denkt er dann in einem dieser dithyrambischen Momente.“ (SW IV, 378) Es folgt im Typoskript der ursprüngliche Text, den Benn handschriftlich durch Anführungszeichen ergänzte. 21 Die Einfügung im Typoskript lautet: „Der Phänotyp des 12. und 13. Jahrhunderts zelebrierte die Minne, der des 17. vergeistigte den Prunk, der des 18. säkularisierte die Erkenntnis, der heutige integriert die Ambivalenz, die Verschmelzung eines Jeglichen mit den Gegenbegriffen.“ (SW IV, 392) 22 Vgl. Benns Kalendereinträge vom 17. März: „H in die Stadt 5 Bücher. / Thackeray.“ sowie vom 18. März 1944 mit einem Zitat aus der Einleitung des Herausgebers: „Thackeray gelesen, William M. / Denkwürdigkeiten des Herrn ‚Charles J Yellowplush‘ ‚Tagebuch des Herrn Cox‘ / – 1863 = 52 Jahre / Th. geb. 1811 in d Nähe von Kalcutta. / Goethe hatte Augen wie ein Romanheld, der mit einem gewissen Jemand im Bunde stand ‚dunkel, durchdringend u glänzend‘ –“ (beide Ah 9a). 23 Vgl. Benns Kalendereinträge vom 7. März: „,Vom Winde verweht‘ (Gone with the Wind) Margret Mitchell“, vom 8. März: „,Geliebte Söhne‘ – Howard Spring (‚O Absalom‘)“ und vom 10. März 1944: „,Lord Jim‘“ (alle Ah 9a).

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chells und Howard Springs um Kriegsromane handelt, spürt man, dass im „Roman des Phänotyp“ die Geschehnisse der Zeit mit dem Näherkommen der Kriegshandlungen während der sowjetischen Frühjahrsoffensive sowie der Bombardierungen Berlins unmittelbar reflektiert werden. Darüber hinaus kann festgehalten werden, dass Ende Februar/Anfang März 1944 mit „Libellen“, „Ambivalenz“, „Tiefe“ und „Dialektik“ mehrere Texte entstanden waren, die Benn schon im Entstehungsprozess daran zweifeln ließen, ob die „Ausdruckswelt“ wirklich noch der für sie geeignete Kontext war. Am Tag der Entstehung von „Libellen“ notierte er im Kalender: „‚Libellen –‘ (Bedenken gegen alle diese Aphorismen)“ (Ah 9a). Der Brief an Oelze vom 6. März macht ebenfalls deutlich, dass sich eine Unsicherheit eingeschlichen hatte: Ihre Frage nach Studien u Versuchen der „Ausdruckswelt“ freut mich ungemein. Dies Buch, an dem ich nun 2 Jahre arbeite, ist umfangreich u. inhaltsreich geworden, keineswegs einheitlich, vielmehr habe ich mich stellenweise gehen lassen u „meinem Affen Zucker gegeben“ […] Augenblicklich bin ich in Libellenstimmung „– weder Käfer noch Schmetterling – hohe Töne, Schwirren“, nämlich: alles Inhaltliche u. Thematische wird mir immer fragwürdiger u. bedenklicher, es bleibt nur das Gegeneinanderhalten der Fassungen u. Färbungen, die Reflexe, das Spiel u. aus einem olympischen Einerseits- Andererseitsstandpunkt entwickelt sich ein neuer blitzender Stil. (Das alles ist natürlich übertrieben optimistisch von mir im Augenblick zu Ihnen bemerkt, vielleicht mangelt mir völlig die Begabung, es zu verwirklichen, auszudrücken, es bleibt nur Ahnung). (BOe II, 59–60)

Hier wird deutlich, dass alle bisher entstandenen Texte, also auch die im „neue[n] blitzende[n] Stil“ zunächst im Hinblick auf die „Ausdruckswelt“ und nicht auf den „Roman des Phänotyp“ geschrieben wurden. Allgemeiner lässt sich sagen: Für Benn ist es nichts Ungewöhnliches, Texte in sich (sogar was ihre Genrezugehörigkeit betrifft) noch ausdifferenzierenden Komplexen zu produzieren, und es erinnert an seine in der Lyrik angewandten Verfahren, aus textgenetisch zusammenhängenden Entwurfskomplexen mehrere Gedichte hervorgehen zu lassen, während einzelne Entwurfsstränge wieder fallengelassen werden.²⁴ Benns Behauptung, dass sein ‚Roman‘ innerhalb eines Vierteljahres, dazu exakt im Zeitraum vom Frühlingsbeginn bis zu seinem Ende, entstanden sei, gehört also nachweislich ins Reich der Selbstinszenierung. Er wusste ziemlich genau, dass sein Aufenthalt in Landsberg, ähnlich wie die beiden früheren längeren Abwesenheiten aus Berlin in Brüssel und Hannover, in eine äußerst produktive Werkphase münden würde,²⁵ sowohl im Hinblick auf die Lyrik als auch auf die Prosa. Und dies teilte er

24 Vgl. Ries: Notizbuchexperimente [Anm. 17], S. 213–228. 25 Hierauf wies zuletzt Matthias Berning: Anemonenschwert und Lydditgranate [Anm. 8], S. 10, hin. Dass sich Benn seines Schreibens in Brüssel (noch) nicht sicher war, ist die Grundthese Bernings. Im

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Oelze, der als letzter seiner Verbündeten im Literaturfeld noch greifbar war, auch unmissverständlich mit: Beiläufig und um mich von der Prosa zu erholen, einige klassizistische Strophen, Ergebnis aus den Notizen eines Tages, – zu Zeiten braucht man nur in die Luft zu fassen und holt ein! […] / Zur Erinnerung an diesen Frühling […] G. B. (BOe II, 64–65)

Die letzten eindeutig datierbaren Arbeiten am Text stammen vom 10. Juli 1944. Sie betreffen den Abschnitt „Aspasiatisch“ (vgl. Ah 9a). Tags darauf heißt es in einem Brief Herta Benns an Leonarda Gescher: „Mein Mann ist von einem unheimlichen Fleiss. Ich habe eben wieder für ihn geschrieben. Danach ist mir stets zumute wie etwa nach einer Gehirnmassage, wenn es sowas gäbe.“²⁶ Und noch einen Tag später schreibt Benn an Oelze: „Der Phänotyp ist abgeschlossen“ (BOe II, 67).

4 Beispiel I: „Geographische Details“ (SW IV, 407– 408) Im April 1944 entstand gleich eine ganze Reihe von Abschnitten für den „Roman des Phänotyp“, darunter auch „Geographische Details“.²⁷ Ein Durchgang durch den Text soll verdeutlichen, welche Strategie hier verfolgt wird. Zuvor jedoch ein allgemeineres Wort zu den Einleitungs- und Übergangssätzen, die auch den hier zu beschreibenden Einzelabschnitt vordergründig zusammenhalten. Es wird sich zeigen, dass es sich beim Material des „Romans des Phänotyp“ zu etwa 90 % um Zusammenstellungen von teilweise bearbeitetem und teilweise unbearbeitetem Fremdtext handelt, eingeleitet und unterbrochen von Einzelsätzen, die von Benn selbst und ohne Vorlage formuliert sind. Ein Blick auf die unterschiedlich eingefärbten Textpassagen in Abb. 2 macht das Ausmaß deutlich, wobei

Umkehrschluss darf festgestellt werden, dass sich Benn in Landsberg diesbezüglich sehr sicher war. Nicht zuletzt zeigt sich seine Souveränität in der Geschwindigkeit der Herstellung und der geradezu schlafwandlerischen Sicherheit bei der Nutzung seiner schriftstellerischen Mittel, wenngleich auch hier „der eigene Schreibprozess“ immer „noch deutlich im Werk selbst reflektiert“ (Berning: Anemonenschwert und Lydditgranate [Anm. 8], S. 10) wird. 26 Zit. nach Helmut Heintel: Block II, Zimmer 66. Gottfried Benn in Landsberg 1943–1945. Eine bildliche Dokumentation, Stuttgart 1988, S. 53. 27 Zur Datierung vgl. Benns Einträge am 15. und 16. April 1944: „‚Geographiestudien‘“ und „‚Geographisches Detail‘.“ Ein weiterer auf die Entstehung hinweisender Eintrag findet sich am 4. April 1944: „‚Fürstinnen‘ von Keyserling“ (alle Einträge Ah 9a).

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Abb. 1: Gottfried Benn: Roman des Phänotyp; Typoskript aus dem Juli 1944, DLA Marbach.

die noch bestehenden ‚Lücken‘ vermuten lassen, dass wenigstens ein bis zwei Quellentexte für diesen Abschnitt noch nicht aufgespürt werden konnten. In einem Brief an Oelze aus dem Jahr 1949 kommt Benn explizit auf diese Technik des Kombinierens von Fremdmaterial, das er dort „visionäre Masse“ nennt, und den von ihm so genannten „Einleitungs- u. Andeutungssätzen“ zu sprechen.

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Abb. 2: Montagemuster: rot = Einleitungs- und Übergangssätze; grün = Hermann Adalbert Daniel: Handbuch der Geographie; hellblau = Nietzsche: Also sprach Zarathustra; violett = Isolde Kurz: Nächte von Fondi; blau = Josef Ponten: Griechische Landschaften; ocker = Eduard von Keyserling: Fürstinnen.

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Auf diese Stelle [in einem zurückliegenden Brief Oelzes über „Summarisches Überblicken“] fällt immer wieder mein Blick, wenn ich an dieses Fragment denke. Es enthält eigentlich am Vollendetsten das, was mir vorschwebte, wenn ich diesen Suprastil entwickelte. Die psychologischen Präliminarien ganz fortlassen u sofort (nach dem Einleitungs- u. Andeutungssatz) die visionäre Masse quellen lassen. (BOe III, 61)

Die hier angesprochenen Einleitungssätze bringen zumeist ganz unmittelbar den aktuellen Schreibvorgang zum Ausdruck. Häufig kommentieren sie ihn auch, und die zwischengeschalteten Übergangssätzen treiben den Vorgang des schreibenden Lesens und lesenden Schreibens weiter voran. Sind die dazwischen gefügten Fremdmaterialien, die Benn im zitierten Brief an Oelze nicht nur als „visionäre Masse“, sondern auch als ihn betäubende „bereits materialisierte Visionen“ bezeichnet, in einen neuen Zusammenhang getreten, wird gerade dadurch paradoxerweise ihr Herausgebrochenes, ihr Bruchstückhaftes, ihr Fragmentarisches, mit dem Benn den „Roman des Phänotyp“ im Brief an Oelze charakterisiert, umso evidenter. In diesem Sinne scheinen mir das Fragmentarische im Werk Benns und das „Princip der absoluten Prosa“ (BOe III, 61) insofern verwandt zu sein, als man sagen könnte: Je dichter das Netz der aus ihren ursprünglichen Zusammenhängen losgelösten (‚absoluten‘) Bruchstücke geknüpft ist und je kürzer und prägnanter die von Benn selbst formulierten „Präliminarien“ sind, desto vollendeter empfindet Benn sein Schreiben im Sinne des ‚Prinzips der absoluten Prosa‘. „Vergleiche, Studien“ – so beginnt der Abschnitt. Texte werden herangezogen, ganz nach der poetologisch ernst zu nehmenden Maxime: „Ich studiere vielleicht die Einzelheiten, aber ich bin kein Beobachter“ (SW IV, 399), die von einer anderen Stelle aus dem „Roman des Phänotyp“ stammt. Konkret lautet die Aufgabe für den Dichter lesend wie schreibend, wie es in einer weiteren Passage im näheren Umfeld lautet: „[F]ortschreiten, fortklimmen, fortschleichen von Wort zu Wort, Silbe zu Silbe, – Tauziehen mit Gedanken, Volten der Überspannung, alles dies unter körperlichen Gefahren –: Ausdruck schaffen, ja ihn verlangt nach dem allein.“ (SW IV, 397). Oder noch konkreter: „Das erste Wort schafft die Situation, substantivistische Verbindungen die Stimmung, Fortsetzung folgt aus Satzenden, die Handlung besteht in gedanklichen Antithesen.“ (SW IV, 415) In den „Geographischen Details“ geht es weiter mit: „Wie still das Alles in mir ruht!“ Dieses zunächst offenbleibende und im weiteren Verlauf nicht näher bestimmte „Alles“ zieht sich durch den ganzen Abschnitt. Nachdem die Sprachmaterialien real zu Tage gefördert und ausgebreitet wurden – „dann ist alles da“ –, versinken sie erneut: „Wie still das Alles in dir ruht“, heißt es gegen Ende des Abschnitts bezeichnend. Festzuhalten bleibt: ‚Alles‘ ist nicht die Summe der herbeizitierten Details, sondern zielt auf die poetische Energie, die sich aus der Schreibbewegung ergibt. Über die Herkunft des Wörtchens „still“ wird noch zu reden sein.

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Wie aber sieht die „visionäre Masse“ aus, von der Benn im Brief an Oelze spricht? Was alles ruhte „still in mir“, „in dir“ oder auch im Autor selbst? Die Hauptquelle des Abschnitts ist Hermann Adalbert Daniels auf große Anschaulichkeit hin gearbeitetes „Handbuch der Geographie“.²⁸ Für den „Roman des Phänotyp“ lässt sich bereits jetzt feststellen, dass es die mit Abstand am ausgiebigsten genutzte Quelle ist.²⁹ So konnte in den Abschnitten „Nicht rein pessimistisch das Ganze“, „Geographische Details“, „Blöcke“, „Bordeaux“ und „Pilger, Bettler, Affenscharen“ der Nachweis für die Verwendung geführt werden. Das Ausmaß der Übernahmen in den einzelnen Abschnitten variiert, doch es drängt sich der Eindruck auf, dass das Nachschlagewerk während des gesamten Frühjahrs 1944 auf Benns Schreibtisch lag. Für jedes ‚geographische Detail‘ im „Roman des Phänotyp“ – und womöglich nicht nur dort – darf gemutmaßt werden, ob es nicht einem der Bände des Handbuchs entnommen ist. Dass Benn das ‚stille‘ zu ‚unbewegtem‘ Wasser verändert, dürfte dem Umstand geschuldet sein, dass er das stärkere „still“ für seinen Einleitungssatz benötigte. Neben dem Austauschen bestimmter Worte ist ein weiteres typisches Stilmittel die Verkürzung und eine damit einhergehende Verdichtung des Materials.³⁰ Es folgt das zur nächsten (noch nicht identifizierten) Quelle überleitende „welch ein Gegensatz“, das an die bereits zitierte und hier absolut zutreffende Formulierung erinnert: „die Handlung besteht in gedanklichen Antithesen.“ (SW IV, 415) Der nächste Satz von Benn, mit dem er seine Quellen verbindet, lautet: „dort im Midi sind auch“ und dies führt unmittelbar zu einer weiteren Quelle – Nietzsches „Zarathustra“ und dem kurzen Abschnitt „Von den Erhabenen“.³¹

28 Hermann Adalbert Daniel: Handbuch der Geographie, Bd. 2: Die europäischen Länder außer Deutschland, 6. Aufl., Leipzig 1895. Ein unvollständiges, stark beschädigtes Exemplar dieses vierbändigen Werkes befindet sich in der Nachlassbibliothek Benns in Marbach. Eine Auswertung im Hinblick auf Lesespuren steht noch aus. 29 Thorsten Ries hat den Nachweis geführt, dass Benn das „Handbuch der Geographie“ ebenfalls für die Ende 1944 begonnenen Arbeiten am Gedicht „St. Petersburg – Mitte des Jahrhunderts“ (SW I, 209) benutzt hat.Vgl. Thorsten Ries: Verwandlung als anthropologisches Motiv in der Lyrik Gottfried Benns, Bd. 1, Berlin und Boston 2014, S. 557–566. 30 Vgl. hierzu das Typoskript aus dem Juli 1944 (Abb. 1). Hieraus erklärt sich auch, warum das im Juli-Typoskript noch präsente aus dem Quelltext übernommene „überrast“ durch das Wort „überragt“ ausgetauscht wird. Bei der Überarbeitung wird Benn aufgefallen sein, dass durch das Weglassen des „etwa 2 m hohe[n] Damm[es]“ ein schiefes Bild entsteht, was sich durch den Austausch nur eines Buchstaben leicht korrigieren ließ. 31 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, in: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden [KSA], hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 4, München 1988, darin: Von den Erhabenen, S. 151–152.

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Abb. 3: Hermann Adalbert Daniel: Handbuch der Geographie, Bd. 2, S. 525–526.

Die Verschränkung der Texte funktioniert dabei folgendermaßen: „alles rückt regelmäßig fort mit dem Schritt der am Ufer gehenden Pferde“, steht am Schluss der Passage zum „Kanal du Midi“ in Daniels „Handbuch der Geographie“ (Abb. 3). Hinzu tritt Nietzsche, bei dem es heißt: „Als weissen Stier möchte ich ihn sehn, wie er schnaubend und brüllend der Pflugschar vorangeht“.³² Bei Benn wird die Ortsmarke „Midi“ nun mit dem aus dem Nietzschetext gezogenen Fundamentalgeschehen geistiger Produktivität verschmolzen: „dort im Midi sind auch die großen weißen Stiere vor den Pflügen, die langsam gehn.“ Darüber hinaus bin ich fest davon überzeugt, dass Nietzsches Beginn von „Von dem Erhabenen“ „Still ist der Grund meines Meeres“³³ für Benns Einleitungssatz „Wie still das alles in mir ruht“ verantwortlich ist. Auf ein weiteres Detail sei

32 Von den Erhabenen, KSA [Anm. 31], S. 151. 33 Von den Erhabenen, KSA [Anm. 31], S. 150.

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ebenfalls bereits hier hingewiesen, das im weiteren Verlauf des Abschnittes „Geographische Details“ noch wichtig werden wird. Es ist Nietzsches Satz: „aber noch sah ich keine Rose“³⁴ wiederum aus demselben Abschnitt des „Zarathustra“. Nach „Stille“ als Ausgangspunkt des Abschnitts ist nämlich mit der „Rose“ ebenfalls sein Zielpunkt von Nietzsche aus ins Visier genommen, wobei die Spezifizierung als „die heiße Rose Diane Vaincue“, aus der Erzählung „Fürstinnen“ von Eduard von Keyserling stammt.³⁵ Im Folgenden treibt sich das sprechende ‚Ich‘ an, das Herbeizitierte miteinander zu verbinden: eschatologische Vorstellungen evozierend, weite paradiesische Räume im Blick, den Tisch voller Bücher. „So bereit zur Auferstehung!“ Damit ist konkret gemeint, dass das Ich bereit ist zum Bau der folgenden Sätze, die bildlich an die vorangegangen anknüpfen. Das „Handbuch der Geographie“ im Kapitel „Topographie des Kirchenstaates“ fährt auf dem imaginären Weg „über weite Räume“ fort: Nun geht die Straße 40 km weit durch die Pontinischen Sümpfe. […] [Z]u beiden Seiten ziehen sich Kanäle hin, rechts fließt langsam der Hauptkanal. […] Trümmer alter Gräber deuten auf eine ehemalige Bevölkerung dieser nun öden Ebene hin, wo jetzt nur Büffelherden weiden.³⁶

Die Details stammen nun allerdings aus einer anderen Quelle. Die Beschreibung der „Pontinische[n] Sümpfe“ sind dem Roman „Nächte von Fondi“ von Isolde Kurz entnommen,³⁷ die am 6. April 1944, also nur wenige Tage vor der Niederschrift, gestorben war. Möglicherweise kam Benn aus diesem Grund auf die Idee, sich noch einmal mit ihr zu beschäftigen. Eine weitere Quelle ist der Aufsatz „Griechische Landschaften“ von Josef Ponten, den Benn aus der ihm noch regelmäßig zugeschickten „Europäischen Revue“ kannte.³⁸ Der Ausruf „Wie aber auch Anderes seine Ausbreitung erwartet!“ reflektiert erneut die Fülle des zur Verfügung bereitliegenden Materials. „Es erfüllt die Stunden!“ ist eine Anspielung auf den „Stundengott“ aus dem Anfangskapitel des „Romans des Phänotyp“. Was uns im Anschluss über das „Sarmatische Land“ erwartet, ist wiederum dem „Handbuch der Geographie“ entnommen.³⁹ Am Ende

34 Von den Erhabenen, KSA [Anm. 31], S. 151. 35 Vgl. Eduard von Keyserling: Fürstinnen, Berlin, 1917, S. 170. 36 Daniel: Handbuch der Geographie, Bd. 2 [Anm. 28], S. 340. 37 Die wörtlichen Übernahmen stammen aus Isolde Kurz: Die Nächte von Fondi, München 1922, S. 143–145. 38 Vgl. Josef Ponten: Griechische Landschaften, in: Europäische Revue 17 (1941), H. 8, S. 508 und 510. Möglicherweise war es der Klang des Namens „Ponten“, der Benn dazu veranlasste, den harten Schnitt von den „Pontinischen Sümpfen“ zu „den hohen Schneefeldern“ zu setzen. 39 Daniel: Handbuch der Geographie, Bd. 2 [Anm. 28], S. 955–956.

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erfahren wir sogar, was nicht in den Materialfluss miteinbezogen wird: „kein Vergleich mit Surrey und Argolis“, wobei es sich ebenfalls um Kapitel im „Handbuch der Geographie“ handelt. Unmittelbar bevor die den Abschnitt beendende Quelle auftaucht, heißt es in Benns Worten: „dann ist alles da und dann […]“, und es erscheint die Rose, die die Sprechinstanz in Nietzsches „Von den Erhabenen“ noch nicht sah. Pate steht hier, wie bereits angedeutet, Eduard von Keyserling mit seiner Erzählung „Fürstinnen“: „Die Rosen,“ wiederholte Streith, er war befangen, was ihm selten geschah. „Nun, die Rosen haben gut überwintert, ich habe mir zwei neue angeschafft, eine große rote mit violettem Schimmer, sie heißt Miß Vanderbilt.“ „So demokratisch,“ warf die Fürstin ein. Streith zuckte die Achseln: „Auch die Rosen werden demokratisch. Die andere ist eine kleine schwefelgelbe Rose, die sehr süß duftet, sie heißt, ich weiß nicht warum: ‚Diane vaincue‘.“⁴⁰ (Hervorhebungen von H.H.)

Die vergangenen Stunden haben offenbar gehalten, was sie versprachen: Es waren ‚erfüllte Stunden‘, an die sich Benn noch kurz vor seinem Tod in einem Brief an Hans Egon Holthusen mit Wehmut erinnerte: Eine große Freude war mir, daß jemand jene Stelle aus „Phänotyp“ nicht nur erwähnt hat, sondern sie in ihrer ganzen Raffiniertheit darstellte: jene: „die schwefelgelbe, die heiße süße Rose Diane vaincue.“ Das ist für mich eine zentrale Stelle, ich war damals, 1944, erschüttert, als ich sie schrieb, als sie mir zu schreiben gelungen war, u. auch heute finde ich sie sublim.⁴¹

5 Beispiel II: „Blöcke“ (SW IV, 418–420) Der von Benn gewählte Abschnittstitel ist auffallend mehrdeutig oder mit den Worten des sprechenden Ichs selbst: ‚ambivalent‘. Zweifellos handelt es sich um einen poetologisch zentralen Abschnitt des „Romans des Phänotyp“. Unter einem Block versteht man gemeinhin ein eckiges, massives Ganzes oder aber ein aus gleichartigen Teilen zusammengefügtes, massives Ganzes. Als Blöcke lassen sich also sowohl die kapitelartigen kurzen Texte als auch der „Roman des Phänotyp“ als Ganzer verstehen. Das Typoskript des Abschnitts „Blöcke“ besteht aus ganz real ausausgeschnittenen und untereinander aufgeklebten Blöcken,⁴² die „eine Archi-

40 Keyserling: Fürstinnen [Anm. 35], S. 170. 41 Gottfried Benn an Hans Egon Holthusen vom 5. Mai 1956 (Gottfried Benn: Ausgewählte Briefe. Mit einem Nachwort von Max Rychner, Wiesbaden 1957, S. 313). 42 Vgl. Abb. 5.

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Abb. 4: Gottfried Benn: Roman des Phänotyp; Typoskript aus dem Juli 1944, DLA Marbach.

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Abb. 5: Montagemuster: rot = Einleitungs- und Übergangssätze; grün = Hermann Adalbert Daniel: Handbuch der Geographie; hellblau = Nietzsche: Zwischen Raubvögeln und Nietzsche: Zarathustra; violett = Friedrich Rückert: Die Ephemeren; blau = Mary Borden: Flamingo; ocker = Mechtilde Lichnowsky: Delaïde; hellgrün = Madelon Lulofs: Kuli.

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tektur von eigener Balance“ ergeben, wie es in dem Abschnitt wörtlich heißt. Blöcke sind aber auch die einzelnen Quellentexte, aus denen die Worte und Sätze herausgemeißelt werden.⁴³ Blöcke schließlich heißen die Gebäude der General-StrantzKaserne, in der Benn schreibt. Im nur wenige Monate zuvor für seine Autobiographie „Doppelleben“ verfassten Kapitel „Block II. Zimmer 66“ liest man: Die Blöcke werden durchflutet von den Wellen Eingezogener. […] Die Blöcke stehn, die Wogen rauschen. Immer neue Wogen von Männern, neue Wogen von Blut, bestimmt, nach einigen Schüssen und Handgriffen in Richtung sogenannter Feinde in den östlichen Steppen zu verrinnen. (SW IV, 124–125)

Der Auftakt von „Blöcke“ lässt sich so auch vor dem Hintergrund der ungezählten Männer lesen, deren zu kurzes Leben an der Front endete: „Welches ist nun der Standpunkt des Ich? Es hat keinen. Darf alles auf es einstürmen? Es darf.“ Das Motiv des Vergehens – „dem Nichts entstiegen“⁴⁴, „im Nichts sich lösend“⁴⁵ – wird im Anschluss durch Anspielungen auf Nietzsches Gedicht „Zwischen Raubvögeln“ aus den „Dionysos-Dithyramben“, auf Friedrich Rückerts Gedicht „Die Ephemeren“ sowie wiederum auf Nietzsches „Zarathustra“ – „zerbrich, zerbrich!“⁴⁶ aufgegriffen und weitergeführt. Die Entstehung der Unterabschnitte „Städte“ und „Broadwaystars“ geht auf die Lektüre von Mary Bordens weitgehend vergessenem Roman „Flamingo“ zurück.⁴⁷ 43 Im Abschnitt „Bordeaux“ ist die Rede von den „Dinge[n], die in Bewegungslosigkeit geschaffen wurden oder in langsamem Herumgehen um einen Steinblock“ (SW IV, 415). 44 Wörtlich aus Friedrich Rückerts zwischen 1810 und 1813 entstandenem Jugendlied „Die Ephemeren“, in dem es ebenfalls von den „geflügelten Poeten“ heißt, sie seien „bescheidne[] Eintagsfliegen“. Friedrich Rückert: Die Ephemeren, in: Ders.: Werke in sechs Bänden, hg. v. Conrad Beyer, Bd. 1, Erste Abteilung: Lyrik, Leipzig 1897, S. 79. 45 Bei der Passage „im Nichts sich lösend […] so leicht, so unbegrenzt, – und unbehilflich nichts“ (SW IV, 418) handelt es sich um eine direkte Anspielung auf Nietzsches Gedicht „Zwischen Raubvögeln“. Hier heißt es: „Jetzt – / zwischen zwei Nichtse / eingekrümmt, / ein Fragezeichen, / ein müdes Räthsel – / ein Räthsel für Raubvögel … // – sie werden dich schon ‚lösen‘“ (Friedrich Nietzsche: KSA [Anm. 31], Bd. 6, S. 389). Auf Nietzsches Gedicht verweisen nicht nur die eindeutigen textuellen Bezüge, sondern ebenfalls Benns altertümliche Schreibweise im Typoskript („unbehülflich“), die sich in der Vorlage wiederfindet. Sie wich erst im Druck der normalisierten Schreibweise. Bei „Abenteuer der Seele“ handelt es sich wohl ebenfalls um eine wörtliche Anspielung auf Nietzsche: „Was habe ich gethan? Für mein Alter gesorgt: für die Zeit, wo die Seele nichts Neues mehr unternimmt, die Geschichte ihrer Abenteuer und Seefahrten verzeichnet.“ (Friedrich Nietzsche: KSA [Anm. 31], Bd. 7, S. 127). 46 Aus dem Kapitel „Mittags“ (Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, KSA [Anm. 31], Bd. 4, S. 344). 47 Mary Borden: Flamingo, Roman, Berlin [1928], S. 163. Vgl. dazu Benns Kalendereintrag vom 24. April: „,Flamingo‘ Mary Borden“ sowie vom 26. April 1944: „Städte / Broadwaystars“ (beide Ah 9a).

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Die wie Benn 1886 geborene amerikanisch-britische Schriftstellerin erzählt darin die Geschichte des fiktiven Peter Campbell, des jungen Genies der neu entstehenden amerikanischen Hochhausarchitektur. Er ist in eine Engländerin verliebt, die er zum ersten Mal traf, als sie als Kinder an einem Strand in Cornwall gemeinsam spielten. Im Grunde handelt es sich um eine ziemlich schwach konstruierte Story, die für Benn jedoch durch die als Künstler angelegte Hauptfigur einen besonderen Reiz erhielt. Als Erfinder der Wolkenkratzer ging es Campbell um nicht weniger als das Bestreben, ‚absolute Architektur‘ zu realisieren. Über die im ganzen Roman verstreuten Passagen hinaus, die Benn als Quelle für den „Roman des Phänotyp“ genutzt hat, bietet Bordens Text für ihn eine Reihe von direkten Anknüpfungspunkten, die ihn an seine eigene Situation in der hoch über der Stadt gelegenen Kaserne in Landsberg erinnern mussten. „Sein Büro war seine Zuflucht“, so liest man in „Flamingo“: Es hing am Himmel wie ein Ballon, der durch ein Eisenseil mit der Erde verbunden war, durch den Fahrstuhl nämlich, mit dem er hinauf und hinunter fuhr. Aber oben in seiner schwankenden Gondel vergaß er alles andere. Ihm war, als segelte er durch den Raum. Wenn er an seinem Pult saß, blickte er ins Blaue hinein. Manchmal flog ein Vogel, ein abenteuerlustiger, frecher Sperling oder eine Möwe vorbei, oder es tauchte ein Äroplan in der Ferne auf; sonst aber war nichts zu sehen, als der ewig unwandelbare, unaussprechliche Äther und die ziehenden Wolken.⁴⁸

Nur wenige Tage nachdem Benn auf diese Stelle stieß, schrieb er an Oelze: Hier kann ich fast ununterbrochen bereit sein, zu denken und zu kritzeln; habe ganz streng innegehaltene kurze Zeitpunkte, an denen man mich stören darf (ich arbeite in meinen WohnZimmern, die zugleich mein Büro sind) u. bin ausserhalb dieser nicht zu sehen u. nicht zu sprechen. Ja, es ist ein Fesselballon oder eine Klausur.“ (BOe II, 63)

Auf allergrößtes Interesse musste bei Benn die Beschreibung von Peter Campbells Arbeitsalltag in seinem Büro stoßen, die er im Roman vorfand. Die Parallelen zu Benns eigener Lage sind erstaunlich: Hoch oben in seinem Luftballon hatte er sich ein Nest zurechtgemacht […] aus allen Ländern, die er besucht und von denen er geträumt hatte […]. Von denen hatte er Photographien und Zeichnungen, die er in Mappen oder zwischen seinen Büchern aufhob. Das Italien des Quattrocento, Ägypten, Griechenland, Indien. Ein Schritt, ein Handgriff, ja selbst ohne eine Bewegung, ohne umzublättern oder hinzusehen, konnte er reisen, wohin er wollte […]. Er war wie

Von Benn übernommene Passagen finden sich im Roman auf den Seiten 102, 106, 107, 112, 114, 130, 140, 238, 267–269 und 352. 48 Borden: Flamingo [Anm. 47], S. 160.

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eine Geige in den Händen eines diabolischen und kunstfertigen Virtuosen, irgendeine gigantische Macht spielte auf ihm […] Er schien da zu sein und doch war er nicht da. Denn während er so dasaß, reiste er weit fort, in Städte, die er nie gesehen hatte […].⁴⁹

Die modellhaften Ähnlichkeiten zwischen der fiktiven Figur Peter Campbell und Benns eigenem Schreibmodell gehen durchaus noch weiter: Während einer seiner imaginären Reisen auf der Suche nach der „absoluten Schönheit“⁵⁰ hatte Campbell einmal ein Haus gesehen, das er später für seine Schwiegermutter nachbaute. Seitdem plagt ihn das schlechte Gewissen, dass er geistigen Diebstahl begangen habe. Ein Freund beruhigt ihn daraufhin, er dürfe sogar den Dogenpalast kopieren, wenn er Lust dazu habe. Dieser Freund war fest davon überzeugt, dass das Unterbewusstsein der Ort unbedingt irgendwann einmal erlebter Dinge war. Campbell erwidert: „Aber ich sage dir doch, daß ich Dinge weiß […], die ich in meinem ganzen Leben nicht gesehen habe. […] Ich sage dir, mein Kopf ist eine Empfangsstation für Gedankenströme von Menschen, die ich gar nicht kenne“.⁵¹ Die Frage, ob hiermit bereits im Keim Benns spätere Idee des ‚Radardenkens‘ angelegt ist, muss freilich offenbleiben. Für „Blöcke“ lassen sich noch weitere Quellen benennen. Im Kalender notiert Benn am 1. Mai 1944 etwa knapp: „ein Sirihpriem“ (Ah 9a). Im ersten Absatz von „Blöcke“ dann ausführlicher: „Ein Sirihpriem unter der Zunge, ein Stückchen Quittenmus auf einem Pisangblatt ist bei den Javanesen alles“, wobei es sich um ein Zitat aus dem Roman „Kuli“ von Madelon Lulofs handelt, den Benn bereits Anfang 1942 gelesen hatte.⁵² Bei der Beschreibung von New York dient erneut das „Handbuch der Geographie“ als Vorlage,⁵³ für die Passage „Oder dort: Die großen Braunen […] Waisenhaus zu kaufen“ der Roman „Delaïde“⁵⁴ von Mechtilde Lichnowsky. Über die herausgehobene Stellung dieses Abschnitts gibt ein Brief Benns an Oelze vom 14. Januar 1946 Aufschluss. Wie wirken auf Sie eigentlich so abwegige Dinge aus „Phänotyp“ wie z. B. jene Seite „Schon flüchtiges Überblicken, Überblättern schafft manchmal einen leichten Rausch –“ oder: „Blö-

49 Borden: Flamingo [Anm. 47], S. 161–162. 50 Borden: Flamingo [Anm. 47], S. 207. 51 Borden: Flamingo [Anm. 47], S. 163. 52 Vgl. Madelon Lulofs: Kuli. Roman aus Sumatra, Berlin 1935, S. 37. Vgl. hierzu ebenfalls Benn an Oelze vom 11. Januar 1942: „Ich las 2 Bücher einer Holländerin, Madelon Lulofs, ‚Kuli‘ u. ‚Gummi‘. Beides in Sumatra spielend. Beide recht interessant, – ‚Kuli‘ mehr, beinahe eine dichterische Sache. Kennen Sie? Sehr bekannte Bücher. Es lebe meine Leihbibliothek!“ (BOe II, 11) 53 Vgl. Hermann Adalbert Daniel: Handbuch der Geographie, Bd. 1: Allgemeine Geographie. Die außereuropäischen Erdteile, 6. Aufl., Leipzig 1895, S. 334, 384, 943 und 974–976, sowie Daniel: Handbuch der Geographie, Bd. 2 [Anm. 28], S. 579. 54 Mechtilde Lichnowsky: Delaïde. Roman, Berlin 1935, S. 16.

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cke“? Kann man sich dabei irgendwas denken, sieht man einen Gang ins Ich, einen echten Maulwurf, der zwangsläufig seine schwarzen Pfoten in die Erde bohrt u. den Haufen hochwirft? Unverschämte Frage an Sie! (BOe II, 116–117)

Keine Frage: Der Maulwurf gräbt hier und dort, bohrt seine Pfoten aber beileibe nicht überall hinein, und wie der Haufen konkret beschaffen ist, bleibt eine der spannenden Fragen bei der Herstellung der Apfelsinenschnitten des „Romans des Phänotyp“.

6 „Zusammenfassung“ (SW IV, 420–422) Am 9. Juni war vorläufig „Schluss“ mit dem „Roman des Phänotyp“.⁵⁵ Aber auch dieser Tag markierte nicht das Ende der Arbeiten, sondern nur die Niederschrift des Schlusskapitels mit dem Titel „Zusammenfassung“. Wie bereits erwähnt, ist das zu Beginn dieses Abschnitts gesetzte Datum des 20. Juni symbolisch und bezeichnet das Ende des ‚Frühjahrs‘. Die sich hieran anschließende Beschreibung der Truppenverpflegung geht auf eine zu dieser Zeit bereits vorliegende Passage aus „Block II. Zimmer 66“ (SW V, 125) zurück. Nahezu identische Passagen kennen wir aus Briefen aus dem Herbst 1943, als Benn gerade nach Landsberg gekommen war.⁵⁶ Ein letztes Mal sollten Kriegsrealität und poetologische Beschreibung des Romanprojekts dichterisch zusammengeführt werden, „die Tage des Überblickens, die Stunde der Gewißheit“, wie es zu Beginn des zweiten Absatzes heißt. Gerade einmal drei Tage war es her, dass am D-Day die westalliierten Truppen in der Normandie gelandet waren. Der Kalender verzeichnet: „Landung im Westen. […] Invasion“ (Ah 9a). Es begann die große Schlacht, die ihm die Freiheit wiedergeben sollte, nicht die einzig wahre, die absolute Freiheit, aber die, in der er groß geworden war und ebenso die Genossen, mit denen er das Leben begonnen hatte. (SW IV, 421)

55 Vgl. Benns Kalendereintrag von diesem Tag: „Schluss von Phänotyp“ (Ah 9a). Das Typoskript trägt ebenfalls das Datum dieses Tages. 56 Vgl. hierzu Benns Briefe an Oelze vom 30. August 1943 (BOe II, 51), an Carl Schmitt vom 1. September 1943 (Gottfried Benn: Den Traum alleine tragen. Neue Texte, Briefe und Dokumente, hg. v. Paul Raabe und Max Niedermayer, Wiesbaden 1966, S. 216), an Julius Gescher vom 6. September 1943 (Benn: den Traum alleine tragen [Anm. 56], S. 204–205), an Egmont Seyerlen vom 12. September 1943 (Gottfried Benn und Egmont Seyerlen: Briefwechsel 1914–1956, hg. v. Gerhard Schuster, Stuttgart 1993, S. 39) und an Gustav Kilpper vom 17. Oktober 1943 (Gottfried Benn: Ausgewählte Briefe [Anm. 41], S. 92).

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Die Absicht Benns, des sprechenden Ichs, des ‚Phänotypen‘ wird klar. Sowohl die geschichtliche als auch die geistige Lage zusammenfassend, blickt er dem Ende entgegen, gewiss, dass einerseits der Geist „durch die Schlachten“ entbunden „und andererseits die Einreihung aller derartigen Vorgänge durch den Geist unter die animalischen Bewegungen, unter die Geologie“ (SW IV, 422) vollzogen war. Die „Verzahnung der Geschichte und der geistigen Welt“ (SW IV, 422) jedoch blieb eine offene Frage. Unter artistischen Gesichtspunkten war es ihm gelungen, sein Konzept der absoluten Prosa Wirklichkeit werden zu lassen. Der ‚Phänotyp‘ resümiert. In den Blick nimmt er Goethes „Novelle“ und mit der „güldenen Heiterkeit“, „des Todes heimlichster süsser Vorgenuss“⁵⁷ Nietzsches Gedicht „Die Sonne sinkt“ aus den „Dionysos-Dithyramben“, wenngleich der folgende Satz später gestrichen wird und nur noch im Variantenapparat der „Sämtlichen Werke“ erscheint: Daher etwas von der Stimmung in ihm von jener Heiterkeit, der güldenen, des Endens Vorgeschmack, nicht allerdings im olympischen Sinne der „Novelle“, sondern mehr in einem isolierten minervisch helmbeschirmten. (SW IV, 775)

Es folgt ein langes verdecktes Zitat aus Marie von Bergewalds Roman „Die Derwischtrommel kündet den Tod“⁵⁸ über die militärischen Erfolge Major Kitcheners, den „aufsteigenden Sudan“ und das Frühjahr 1898. Dann endet der „Roman des Phänotyp“. Auf die herausgehobene Stellung des Keyserling-Zitats und die „Raffiniertheit“, mit der Benn es verwendet hat, wurde bereits an entsprechender Stelle im Kapitel zum Abschnitt „Geographische Details“ hingewiesen. Bevor die „schwefelgelbe“, die „heiße süße Rose Diane vaincue“ jedoch „noch einmal in seinen Blick trat“, werden die „hohen Schneefelder“ (SW IV, 422), ebenfalls aus „Geographische Details“, herbeizitiert. Die unmittelbar hierauf folgende Formel: „Trauer und Licht und beides angebetet“ ist eine wörtliche Übernahme aus „Zum Thema: Geschichte“. Sie ist die zentrale Formel der „Lehre von der Ausdruckswelt als Überwinderin […] der individuellen Trauer“ (SW IV, 303). Die Bezüge auf das Ende des Abschnitts „Summarisches Überblicken“, wo die „die Trauer“ „unter dem Licht zerbrochener Himmel“ (SW IV, 406) Abschied nimmt, sind deutlich. Die Wiederholung der Sätze lässt keinen Zweifel: Es war der „leichte Rausch“ des „Summarischen Überblickens“, des Überblätterns der Seiten, der den Schreibprozess in Gang gesetzt, befördert und in Gang gehalten hat:

57 Friedrich Nietzsche: Dionysos-Dithyramben, KSA [Anm. 31], Bd. 6, S. 395. 58 Vgl. Marie von Bergewald: Die Derwischtrommel kündet den Tod, Mühlhausen 1939, S. 292.

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Es brennen die Bilder, ihr unerschöpflicher beschirmter Traum. Sie entführen. Der körperliche Blick reicht nur über den Platz bis an die Burgen, – aber die Trauer reicht weiter, tief in die Ebene hinein, über die Wälder, die leeren Hügel, in den Abend, das Imaginäre, sie wird nicht mehr heimkehren, dort verweilt sie, sie sucht etwas, doch es ist zerfallen, und dann muß sie Abschied nehmen unter dem Licht zerbrochener Himmel – –, diese aber entführen, führen weit und führen heim. (SW IV, 406)

In seinem Kalender (Abb. 6) notierte Gottfried Benn am 11. April 1944, also an dem Tag, an dem er diese Sätze schrieb, dass von mittags an die Sonne schien und dass es seiner Frau Herta gelang Lebensmittelkarten zu bekommen. Aus der Leihbibliothek hatte sie Bücher gebracht, um das in diesen Monaten unstillbare Verlangen ihres Mannes nach Lesestoff zu befriedigen, ganz nach der Losung: „Ich bin ganz zufrieden zu Hause, gehe in Bibliotheken, lese, arbeite, schreibe“, wie Benn Jahre zuvor an seine Tochter Nele meldete.⁵⁹ Zwischen zwölf Uhr und halb zwei heulten die Sirenen, 100 Bomber überflogen die General-von-Strantz-Kaserne. Es herrschten geradezu ideale Bedingungen für ‚absolute Prosa‘, für diese „Bezirksbombe an Abwegigkeiten u. Excentric“ (BOe II, 62), die das Potential „geistiger Atombomben“⁶⁰ besaß, für die „Superprosa“ der Phase II, „für produktive Schauer“, für diese genialen „Fluchtmöglichkeit[en] aus dem Ich“.⁶¹ Nie war wohl Nihilismus ein größeres Glücksgefühl⁶² als in diesen Tagen im April 1944, an denen das Quartär hintenüber zu gehen drohte und die „Zukunftslosigkeit eines ganzen Schöpfungswurfes“ (SW V, 20) zum Greifen nahe war.

59 Benn an Nele vom 14. Juni 1939, in: Gottfried Benn: „Absinth schlürft man mit Strohhalm, Lyrik mit Rotstift“. Ausgewählte Briefe 1904–1956, hg. v. Holger Hof, Göttingen und Stuttgart 2017, S. 102. 60 Vgl. die Formulierung Ferdinand Lions in seiner Rezension „Gottfried Benn: ‚Der Ptolemäer‘“ in der „Neuen Zürcher Zeitung“ vom 2. Juli 1949. 61 Vgl. zu den letzten drei Zitaten Benns Notizen im Vorfeld der Abfassung der Passage „Absolute Prosa“ im „Doppelleben“ (SW VII/2, 218). 62 Vgl. Benns erstmals in seiner „Rede auf Heinrich Mann“ benutzte Formel: „Nihilismus ist ein Glücksgefühl“ (SW III, 315).

Zur Entstehung von Gottfried Benns „Roman des Phänotyp“

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Abb. 6: Tageskalender vom 11./12. 4. 1944 (Ah 9a); DLA Marbach: „grau, etwas schwül. / H zur Kartenstelle. Brief von Pamela Wed Besuch von Frau Sass. / Alarm 12 h – 1330. 100 Bomber über Kaserne ….. / ‚Summarisches Überblicken‘ / H. erhält Karten, holt Bücher, Schuhe, Haarblumen. / Von mittags an Sonne.“

7 Literatur Liste der Bücher, die Gottfried Benn 1944 bis zur Beendigung der Arbeiten am „Roman des Phänotyp“ im Tageskalender oder in Briefen erwähnt oder für die es sonstige starke Hinweise gibt, dass er sie in dieser Zeit gelesen hat. Adams, Herbert: Der goldene Affe. Kriminalroman, Leipzig: Goldmann 1932. Almqvist, Carl J. L.: Der Juwelenschmuck der Königin. Roman, Leipzig: H. Fikentscher [1927]. Augusta, Königin von Preußen: Bekenntnisse an eine Freundin. Aufzeichnungen aus ihrer Freundschaft mit Jenny von Gustedt, Dresden: Carl Reißner 1935. Bergemann, Marie von: Die Derwischtrommel kündet den Tod. Ein Roman aus dem Mahdi-Aufstand, Mühlhausen und Leipzig: Bergwald-Verlag 1939. Biehn, Heinz: Deutsche Porzellanfiguren des 18. Jahrhunderts, Königsberg: Kanter 1943. Borden, Mary: Flamingo. Roman, Berlin: Th. Knaur Nachf. [1928]. Borden, Mary: Schloß Jericho, Berlin: Th. Knaur Nachf. [1929].

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Brunngraber, Rudolf: Zucker aus Cuba. Roman eines Goldrausches, Stuttgart und Berlin: Rowohlt 1941. Burckhardt, Jakob: Die Zeit Constantins des Großen, 3. Aufl., Leipzig: E. A. Seemann 1898. Burger, Franz: Die griechischen Frauen, München: Ernst Heimeran 1924. Buschor, Ernst: Satyrtänze und frühes Drama, München: Verlag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und C. H. Beck 1943. Bychowski, Gustav: Metaphysik und Schizophrenie. Eine vergleichend-psychologische Studie, Berlin: S. Karger 1923. Chantelou, Paul Fréart de: Tagebuch des Herrn von Chantelou über die Reise des Cavaliere Bernini nach Frankreich. Dt. Bearbeitung v. Hans Rose, München: F. Bruckmann 1919. Conrad, Joseph: Lord Jim, Berlin: S. Fischer 1927. Conrad, Joseph: Der goldene Pfeil, Berlin: S. Fischer 1932. Cooper, James F.: Der rote Freibeuter, Berlin: K. Voegels 1929. Daniel, Hermann Adalbert: Handbuch der Geographie, Bd. 1: Allgemeine Geographie. Die außereuropäischen Erdteile, 6. Aufl., Leipzig: Fues 1895. Daniel, Hermann Adalbert: Handbuch der Geographie, Bd. 2: Die europäischen Länder außer Deutschland, 6. Aufl., Leipzig: Fues 1895. D’Annunzio, Gabriele: Feuer, München: Albert Langen 1900. Dauthendey, Max: Raubmenschen. Roman, München: Albert Langen / Georg Müller 1911. Dombrowska, Maria: Nächte und Tage. Roman, Breslau: Korn 1938. Dos Passos, John: Auf den Trümmern, Berlin: S. Fischer 1932. Einstein, Carl: Bebuquin oder Die Dilettanten des Wunders, Berlin: Die Aktion 1912. Einstein, Carl: Anmerkungen, Berlin: Die Aktion 1916. Gensel, Walter: Paris. Studien und Eindrücke: Leipzig: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung 1900. Gleichen-Rußwurm, Alexander von: Der Ritterspiegel. Geschichte der vornehmen Welt im romanischen Mittelalter, Stuttgart: Hoffmann 1918. Goethe, Johann Wolfgang: u. a. „Novelle“ und „Faust“, ohne dass mit Sicherheit eine bestimmte Ausgabe genannt werden kann. Haug, Gerhart: Verlaine. Die Geschichte des Armen Lelian. Leben, Dichtung, Bekenntnisse, Briefe, Basel: Schwabe 1944. Hehn, Victor: Das Salz. Eine kulturhistorische Studie, Berlin: Gebrüder Borntraeger 1873. Hofmannsthal, Hugo von: Buch der Freunde, Leipzig: Insel-Verlag 1922. Kaisenberg, Moritz von: Die Memoiren der Baronesse Cecile de Courtot. Dame d’atour der Fürstin von Lamballe, Prinzeß von Savoyen-Carignan. Ein Zeit- und Lebensbild. Nach Briefen der Baroneß an Frau von Alvensleben, geb. Boronesse Loë und nach deren Tagebuch bearbeitet, Leipzig: H. Schmidt & C. Günther 1899. Keyserling, Eduard von: Fürstinnen. Erzählung, Berlin: S. Fischer 1917. Klatt, Fritz: Carossa. Seine geistige Haltung und sein Glaubensgut, Wismar: Hermann Rhein Verlag [1937]. Krasnow, Pjotr Nikolajewitsch: Der weisse Kittel. Vom roten Stern zum Doppeladler. Ein Roman der Gegenwart, Stuttgart, Berlin und Leipzig: Union Deutsche Verlagsgesellschaft [1939]. Kurz, Isolde: Nächte von Fondi. Eine Geschichte aus dem Cinquecento, München: C. H. Beck 1922. Textbuch zur Religionsgeschichte, hg. v. Edvard Lehmann und Hans Haas, Leipzig: A. Deichert 1912. Lichnowsky, Mechtilde: Delaïde. Roman, Berlin: S. Fischer 1935. Locke, William J.: Die Liebe der Irene Merriam, Berlin: Martin Maschler [1930].

Zur Entstehung von Gottfried Benns „Roman des Phänotyp“

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Lotz, Ilse: Cosima Wagner, die Hüterin des Grals. Der Lebensroman einer deutschen Frau, Görlitz: Bokämper [1935]. Lulofs, Madelon: Kuli. Roman aus Sumatra, Berlin: Holle & Co. 1935. Mann, Heinrich: Die Göttinnen oder Die drei Romane der Herzogin von Assy, Leipzig: K. Wolff 1902– 1903. Mann, Heinrich: Geist und Tat. Franzosen 1790–1830, Berlin: S. Fischer 1931. Maria von Rumänien: Traum und Leben einer Königin, Leipzig: List 1935. Maschke, Erich: Das Geschlecht der Staufer, München: F. Bruckmann 1943. Mereschkowskii, Dmitri: Napoleon. Sein Leben. Napoleon der Mensch, Berlin: Th. Knaur Nachf. [1930]. Mitchell, Margret: Vom Winde verweht. Roman, Hamburg, Leipzig: Goverts 1937. Mörike, Eduard: „Gesang Weylas“, ohne dass mit Sicherheit eine bestimmte Ausgabe genannt werden kann. Nietzsche, Friedrich: u. a. „Die fröhliche Wissenschaft“, „Schriften aus dem Jahre 1888“, „Also sprach Zarathustra“, „Dionysos-Dithyramben“, „Der Anti-Christ“, ohne dass immer mit Sicherheit bestimmte Ausgaben genannt werden können. Oldenburg-Januschau, Elard von: Erinnerungen, Leipzig: Koehler & Amelang 1936. Ortega y Gasset, José: Vom Einfluss der Frau auf die Geschichte, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt [1930]. Pauli, Gustav: Erinnerungen aus sieben Jahrzehnten, Tübingen: Wunderlich 1936. Ploetz, Karl Julius: Auszug aus der alten, mittleren und neueren Geschichte, Berlin: Ploetz 1898. Ponten, Josef: Griechische Landschaften, in: Europäische Revue 17 (1941), H. 8, S. 508–511. Pourtalès, Guy de: Franz Liszt. Roman des Lebens, Freiburg i.Br.: Urban-Verlag 1928. Pourtalès, Guy de: König Hamlet. Ludwig II. von Bayern, Freiburg i.Br.: Urban-Verlag 1929. Pourtalès, Guy de: Lebwohl Europa, Freiburg i.Br.: Urban-Verlag [1932]. Pückler-Muskau, Hermann v.: Fürst Pückler reist nach England. Aus den „Briefen eines Verstorbenen“. Hg. v. Ch. Mettin, Berlin: Hans von Hugo und Schlotheim [1938]. Riegl, Alois: Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik, 2. Aufl., Berlin: Richard Carl Schmidt & Co. 1923. Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage, Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1881. Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen, 5. und 6. Aufl., Tübingen: Mohr 1910. Rückert, Friedrich: „Die Ephemeren“, ohne dass mit Sicherheit eine bestimmte Ausgabe genannt werden kann. Sackville-West, Vita: Schloss Chevron, Berlin: S. Fischer 1931. Salburg, Edith Gräfin: Was die Wirklichkeit erzählt. Drei Bücher, die das Leben schreibt. Erstes Buch. „Carrière“. Skizzenbuch aus der großen Welt, Leipzig: Grübel & Sommerlatte 1901. Sandrock, Adele: Mein Leben, Berlin: Buchwarte 1940. Schulze, Hanns: Das weibliche Schönheitsideal in der Malerei, Jena: Diederichs 1912. Sealsfield, Charles: Die Farbigen. Nathan, der Squatterregulator, Berlin: Robert Bein [1930]. Slezak, Leo: Rückfall, Berlin und Stuttgart: Rowohlt 1940. Spring, Howard: Geliebte Söhne. Roman, Hamburg: Goverts 1938. Terhune, Albert Payson: Das Glück des Lords, Berlin: A. Scherl [1928]. Thackeray, William M.: Gesammelte Werke. Bd. 1: Feine Gesellschaft, München und Leipzig: Georg Müller 1909.

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Thackeray, William M.: Gesammelte Werke. Bde. 2–4: Der Jahrmarkt der Eitelkeit, München und Leipzig: Georg Müller 1909. Turquan, Joseph: Welt und Halbwelt unter dem Konsulat und dem I. Kaiserreich, Leipzig: Schmidt & Günther 1898. Vincent, Raymonde: Stilles Land. Roman, Berlin: Kiepenheuer 1938.

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„O gleiche Kraft, o Geschehnislosigkeit, o Ereignisse“. Carl Einstein, Gottfried Benn und die Statik Abstract: Während Oswald Spengler die Statik in der Antike verortet und als gestrig abgekanzelt hat, avanciert sie bei Carl Einstein und Gottfried Benn zum integralen Bestandteil moderner Ästhetik. Zunächst wird anhand von Einsteins Roman „Bebuquin“ und seinem Buch „Die Kunst des 20. Jahrhunderts“ vorgeführt, wo und wie sich die Statik in die Literatur und Kunst der Avantgarde einschreibt. Im letzten Teil wird Benns Poetologie der Statik aus materialästhetischer Perspektive beleuchtet.

1 (Anti‐)faustische Statik Carl Einstein und Gottfried Benn schwindet nicht aus dem Blick, was seit Beginn des 20. Jahrhunderts offenkundig zunehmend an Bedeutung verliert: Es sind die Momente der Ruhe, des Stillstandes, der Bewegungslosigkeit und Erstarrung, des Ordnens und Fixierens. Während viele andere Avantgardisten vom Großstadttrubel euphorisiert sind, dem Geschwindigkeitsrausch jener Jahre frönen, die Rasanz des zunehmend technisierten Lebens feiern und entsprechend dynamische Ausdrucksformen suchen, avanciert die Statik bei Einstein und Benn zum integralen Bestandteil der Ästhetik. Ursprünglich ist ‚Statik‘ ein technischer Begriff, der vom griechischen statikḗ (téchnē), der Kunst des Wägens, bzw. von statikós (zum Stillstehen bringend) abgeleitet ist.¹ In der Mechanik bezeichnet der Begriff die „Lehre vom Gleichgewicht der Kräfte oder die Lehre vom Spannungs- und Verschiebungszustand von Tragwerken“.² Synonym wird ‚Statik‘ für alles Dauerhafte, Feststehende, Invariable, Unabänderliche, Unflexible, Unbewegliche und nicht Anpassungsfähige verwendet.³ Angesichts der Tatsache, dass die ersten Dezennien des 20. Jahrhunderts immer wieder als Zeit des Umbruchs, der explosiven Kräfte und

1 Vgl. Statik, in: Brockhaus. Enzyklopädie in 30 Bänden, Bd. 26, 21. Aufl., Leipzig und Mannheim 2006, S. 178–179, hier: S. 178. 2 Statik [Anm. 1], S. 178. 3 Vgl. Statik, in: Duden. Das Synonymwörterbuch, 3. Aufl., Mannheim 2004, S. 823. Nicole Rettig, Konstanz https://doi.org/10.1515/9783111102740-004

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der Beschleunigung beschrieben werden, verwundert es kaum, dass der Begriff der Statik in Misskredit geraten ist. Nichts, so scheint es, ist nun unzeitgemäßer und unattraktiver als alles Statische. Und dennoch: Einstein und Benn scheuen sich nicht, diesen unpopulären Begriff zu verwenden und laden ihn durch die Überführung in den Bereich der Ästhetik mit weiteren Bedeutungen auf. Er kommt bei ihnen vor allem dort zum Tragen, wo es um Gleichgewicht und Spannung, um das Strukturieren, Bauen und Konstruieren geht, weist dabei allerdings über baustatisches Wissen hinaus. Im Gegensatz zu den beiden Avantgardisten, die die Statik in der Moderne verankern, verortet Oswald Spengler die Statik in seinem Werk „Der Untergang des Abendlandes“ (1923) in der Antike und spricht ihr jegliche Gültigkeit für moderne Wissenssysteme ab. Er macht drei physikalische Systeme aus, die er als apollinisch, magisch und faustisch bezeichnet. Jedes dieser Systeme sei einer je eigenen Kultur erwachsen und nur in dieser gültig. Wolle man die drei Arten der Physik nach der Auffassung des Bewegungsproblems unterscheiden, so handle es sich der Reihe nach um die mechanische Ordnung von Zuständen, von geheimen Kräften und von Prozessen.⁴ Mit Nachdruck weist Spengler darauf hin, dass die Statik eine Wissenschaft ‚von gestern‘ sei: Das Dogma von der Kraft ist das einzige Thema der faustischen Physik. Was unter dem Namen Statik als Teil der Naturwissenschaft durch alle Systeme und Jahrhunderte mitgeführt wurde, ist eine Fiktion. Es steht mit einer „modernen Statik“ nicht anders als mit der „Arithmetik“ und „Geometrie“ […], die innerhalb der neueren Analysis ebenfalls […] leere Namen, literarische Reste antiker Wissenschaften sind, die zu beseitigen oder auch nur als Scheingebilde zu erkennen uns die Ehrfurcht vor allem Antiken bisher nicht gestattet hat. Es gibt keine abendländische Statik, das heißt keine dem abendländischen Geist natürliche Art der Deutung mechanischer Tatsachen […].⁵

Statik ist nach Spengler also durch und durch anti-faustisch, anti-modern. Gottfried Benn nun greift die spenglersche Zuordnung auf, wenn er seine „Statischen Gedichte“ (1937–1947) dezidiert als anti-faustisch bezeichnet. Gleichzeitig aber erscheint Benn als moderner Denker, da er den für seine Poetologie der sogenannten ‚statischen Phase‘ eminenten Formbegriff an Rhythmus, Spannung und Prozess bindet, was bedeutet, dass die „Statischen Gedichte“ sowohl statisch als auch dynamisch begriffen werden müssen. Die Amalgamierung von Statik und Dynamik ist jedoch gewiss nicht nur für das spätere und späte Werk Benns charakteristisch. Vielmehr war der Avantgardist immer Expressionist und ‚ästhetischer Statiker‘

4 Vgl. Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, 3. Aufl., München 1975, S. 492. 5 Spengler: Der Untergang des Abendlandes [Anm. 4], S. 533.

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zugleich. Während dieser Aspekt in der literaturwissenschaftlichen Forschung bereits betont wurde,⁶ blieb bislang unbeachtet, dass Benn seine Sprachkonstruktionen in seiner autobiografischen Schrift „Lebensweg eines Intellektualisten“ (1934), welche in einer politisch prekären Situation entstand, mit Aluminiumflächen vergleicht. Damit rückt er seine Texte in augenfällige Nähe zur Technik – denn in jenen Jahren waren es nicht mehr wie im ausgehenden 19. Jahrhundert Eisen und Stahl, die den technischen Fortschritt symbolisierten, sondern Aluminium. Mit diesem silbrig schimmernden Leichtmetall hantierten Ingenieure und Techniker in den Maschinenhallen, wo sie nun „Tragschwingen […], flach und leicht gehämmert, Schwebendes unter Azur“⁷ montierten. Gleichzeitig stößt Benn durch das Aufrufen des Aluminiums analog zu den bildenden Künstlern einen Oberflächendiskurs an. Bevor es allerdings um das im Aluminium verankerte Zusammenspiel von Statik und Dynamik, von materieller Kultur, Technik, Kunst und Literatur geht, wird zunächst Carl Einsteins Roman „Bebuquin oder Die Dilettanten des Wunders“ (1912) und im Anschluss sein Buch „Die Kunst des 20. Jahrhunderts“ (1926) hinsichtlich der Bedeutung der Statik untersucht. Im Rahmen der „Bebuquin“-Analyse wird es nacheinander um Einstein als Lichtdesigner, die Theorie der Wirbel, das Verhältnis von Bebuquin und Nebukadnezar Böhm, eine kunstgewerbliche Ausstellung, verschiedene Lesarten antiker griechischer Kunst, Bebuquins Verabschiedung der Symmetrie und seine Hinwendung zur Romantik sowie um Georg Simmels 1907 erschienenen Essay „Ruinen“ gehen. Was die darauffolgende Auseinandersetzung mit Einsteins Kunstgeschichte angeht, sei schon einmal verraten, dass dem Kunstkritiker mit ihr nichts weniger gelingt als eine Neujustierung des Blicks auf die Kunst der Avantgarde.

2 „Bebuquin“ oder der Sog der Statik Mit seinem Roman „Bebuquin“ beweist Carl Einstein, dass er ein geschickter Lichtdesigner ist, der das Licht im Medium der Literatur gekonnt in Szene setzen kann. Er lässt es brennen, wogen, glitzern und tropfen, stürmen und schwimmen. Er lässt Reflektoren um Spiegel sausen und Sterne mit Bogenlampen konkurrieren, ja er mischt es sogar unter das höchst sonderbare Personal seines Romans, wo es, zum

6 Vgl. Manfred Koch: Schattenspiele am Ende der Geschichte. Zu Gottfried Benns Statischen Gedichten, in: Berührungen. Komparatistische Perspektiven auf die frühe deutsche Nachkriegsliteratur, hg. v. Günter Butzer und Joachim Jacob, München 2012, S. 303–322, hier: S. 308. 7 Gottfried Benn: Lebensweg eines Intellektualisten, in: Ders.: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, Bd. IV, hg. v. Gerhard Schuster, Stuttgart 1989, S. 154–196, hier: S. 177. Im Folgenden wird die Werkausgabe im laufenden Text mit der Sigle (SW I–VII/2) nachgewiesen.

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Akteur avanciert, in Erscheinung tritt, wie etwa im sechsten Kapitel, in dem das ansonsten sehr anständige elektrische Licht bis zum Knie einer Dame fährt, um sodann über Kristallflacons und Sektkühler hinweg erregt rückwärts zu tanzen. Selbst die Haut eines Säuglings wird zur leuchtenden Fläche, die gleich einem Reklametransparent fortwährend die Farbe wechselt. Bei seiner Inszenierung des Lichtspiels setzt Einstein auf die destabilisierende, fragmentierende, verzerrende und dynamisierende Wirkung des Lichts. Es geht ihm um dessen dissoziierende Kraft und nicht um die klare Ausleuchtung der Szenerien. Paradigmatisch macht sich ein junger Mann gleich zu Beginn des Romans aus dem Staub, „um allen Überlegungen über die Zusammensetzung seiner Person vorzubeugen“.⁸ Damit nun nimmt Einstein literarisch das vorweg, was László Moholy-Nagy einige Jahre später mit seinem „Licht-Raum-Modulator“ (1922–1930) künstlerisch umsetzt. Dem Bauhaus-Künstler ging es darum, „das Licht in seiner Struktur zu erfassen und dessen Raum-Zeit-modulierende Kraft in materialer Existenz sichtbar zu machen“.⁹ In einem 1930 in der Zeitschrift „Die Form“ erschienenen Beitrag postuliert er, dass Licht und Bewegung wieder Elemente der Gestaltung würden.¹⁰ Genau diese beiden Gestaltungselemente sind auch für Einstein von zentraler Bedeutung. Über das Licht wurde bereits gehandelt, über die Bedeutung der Bewegung schreibt Einstein in seinen Anmerkungen „Über den Roman“ (1912): Es gilt, im Roman Bewegung darzustellen – eine Aufgabe, der das Deskriptive gänzlich fern liegt […]. Jedenfalls die Ruhe, das Deskriptive in die Gegenstände zu verlegen, ist sinnlos. Wertvoll im Roman ist – was Bewegung hervorbringt. Ruhe ist genug da – weil das Ganze schließlich doch fixiert ist.¹¹

Diesem Diktum Einsteins folgend konzentriert sich Patrick Hohlweck in seiner umfassenden Analyse des ‚Bebuquin-Komplexes‘ auf das Herausarbeiten dynamischer Prozesse. Natürlich unterschlägt er den ‚statischen Pol‘ nicht, etwa indem er ausdrücklich darauf hinweist, dass Einsteins Form „in ihrem Kern zwei konkur-

8 Carl Einstein: Bebuquin oder Die Dilettanten des Wunders, hg. v. Klaus H. Kiefer, Berlin 2022, S. 3. 9 Hannah Weitemeier: Laszlo Moholy-Nagy – Leben und Werk, in: Laszlo Moholy-Nagy, Stuttgart 1974, S. 8–114, hier: S. 73. 10 Vgl. László Moholy-Nagy: Lichtrequisit einer elektrischen Bühne, in: Die Form. Zeitschrift für gestaltende Arbeit 5 (1930), S. 297–299. Erreichbar auch unter https://doi.org/10.11588/diglit.13711.88 (30. September 2022). In ebendiesem Beitrag imaginiert der Künstler Lichtspiele durch das Radio und verschränkt damit Optik und Akustik. Solch eine Kopplung kennzeichnet auch den viel zitierten Anfang von Einsteins Roman. 11 Carl Einstein: Über den Roman, in: Ders.: Werke. Berliner Ausgabe, Bd. 1: 1907–1918, hg. v. Hermann Haarmann und Klaus Siebenhaar, Berlin 1994, S. 146–148, hier: S. 148.

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rierende Eigenschaften“¹² habe. Sie schließe nicht nur Bewegung, sondern auch Ruhe ein. Gleichwohl bildet der ‚dynamische Pol‘ den Ausgangspunkt seiner Arbeit, wie nicht zuletzt das erste Kapitel verrät, in dem es um Körper in Bewegung geht. Davor setzt Hohlweck ein Präludium, das den Titel „Theorie der Wirbel“ trägt. Nun ist es allerdings gerade diese Theorie, die eine Verschiebung des Fokus und damit einhergehend eine Neubewertung des Verhältnisses von Statik und Dynamik nahelegt, denn in ihr steckt folgende Pointe: Wirbel sind dynamisch und statisch zugleich. Die Theorie der Wirbel legt offen, dass sich Bewegung und Ruhe, Stabilität und Dynamik, Fixierung und Veränderung gegenseitig bedingen. Vor allem aber vermittelt sie, dass Statik nicht etwa ein lästiges Übel ist, welches es abzuschütteln oder zu überwinden gilt. Vielmehr transportiert sie das Wissen um die zentrale Bedeutung der Statik, die ebenso am Formungsprozess beteiligt ist wie die Dynamik. Michel Serres macht im Rahmen seiner Lektüre von Lukrez’ (ca. 97–54 v.Chr.) Lehrgedicht „De rerum natura“ auf genau diesen Umstand aufmerksam und wählt zur Veranschaulichung ein Beispiel: den Kreisel. Das Spielzeug bewege sich und sei stabil zugleich. Es könne umherwandern, ohne seine Stabilität zu verlieren, und still auf der Spitze stehen, und dies umso mehr, je schneller es sich drehe.¹³ So führt also der Kreisel die Synthese von Widersprüchen exemplarisch vor. Auf das Phänomen des Wirbels gemünzt heißt das: „Der Wirbel, instabil und stabil, fluktuierend und im Gleichgewicht, ist Ordnung und Unordnung zugleich, er zerstört die Schiffe auf dem Meer, er gibt den Dingen ihre Form“.¹⁴ Daneben führt Serres aus, dass das Paradox der Gleichzeitigkeit von Statik und Dynamik schon auf begrifflicher Ebene existiere. „Zwei Begriffe aus der Statik“, hält er fest, schließen einen Fluenzbegriff ein, der mit einer allgemeinen Mengenbezeichnung versehen ist. Constare heißt, durch die Vereinigung der konstitutiven Elemente stehen, feststehen. Die Gesamtheit der Ströme endet auf einer festen Grundlage. Wird adsidue mit „fortlaufend“ übersetzt, besagt das Wort letztendlich sein Gegenteil, da wir darunter fast immer etwas verstehen, das sich bewegt. Adsideo heißt indes, bei jemandem oder bei etwas seinen Sitz haben, sitzen. An eine beliebigen Bezugsgröße gebunden, fixiert sein. Damit ist sichergestellt, dass alles auf eine quasi stabile Weise fließt. Oder für die besonders Mutigen: Die Totalität der Fluxionen steht in einer relativen Fixiertheit fest.¹⁵

12 Patrick Hohlweck: „Verwandlung in Blatt“. Carl Einsteins formaler Realismus, Berlin 2018, S. 275. 13 Michel Serres: Ströme und Turbulenzen. Die Geburt der Physik im Text von Lukrez, in: ilinx. Berliner Beiträge zur Kulturwissenschaft 1 (2009), S. 289–305, hier: S. 295. 14 Serres: Ströme und Turbulenzen [Anm. 13], S. 296. 15 Serres: Ströme und Turbulenzen [Anm. 13], S. 303.

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In seiner„Rede […] von der grossen Ruhe“¹⁶ bezeichnet Bebuquin den Menschen als „Kräftewirbel“,¹⁷ von dem einiges ausfließe und in den anderes eingehe, bis die Ruhe komme. Dieser Satz beschreibt nichts weniger als das Programm des Romans, dessen Ausgang bereits im Titel angekündigt wird. Dort ist von „billige[r] Erstarrnis“¹⁸ die Rede, gegen deren Eintreten sich Bebuquin alles andere als konsequent wehrt. Der Roman endet mit der Erstarrung der Kiefer des Protagonisten und dem Aushauchen seines Lebens. Mit Robert Musil ließe sich sagen, dass der Roman das vorführt, „was in der Natur allenthalben geschieht, daß jedes Kräftespiel mit der Zeit […] einer Erstarrung zustrebt“.¹⁹ Vor dem Hintergrund der oben zitierten Äußerung Bebuquins lässt sich dieses Spiel der Kräfte als wirbelartig beschreiben, und das heißt wiederum, dass der Mensch ein Amalgam aus statischen und dynamischen Kräften ist. Diese ambivalente Verfasstheit spiegelt sich in der Figurenkonstellation des Romans wider, nämlich im, um mit Benn zu sprechen, „Doppelleben“²⁰ von Bebuquin und dessen Alter Ego resp. Gegenspieler Nebukadnezar Böhm. Während Bebuquin das Statische repräsentiert, übernimmt Böhm, dem alles Starre, Fixierte, Feste, Ruhende, Stabile und Endgültige ein Gräuel ist, den dynamischen Part²¹ – hier also „Berauschung an der Stasis“,²² dort „Verformungsrausch“.²³ Bezeichnenderweise wendet sich Bebuquin schon im ersten Kapitel vom „Zirkus zur aufgehobenen Schwerkraft“²⁴ ab, also von jenem Ort, an dem die Statik als WaageKunst und Wissenschaft von der Schwere der Körper keine Rolle spielt.²⁵ Er entscheidet sich für ein Verbleiben im ‚statischen Raum‘, bleibt also der Statik verhaftet, „wiewohl er lächelnd einsah, dass er damit die Lösung seines Lebens versäumte“.²⁶ So ist es dann auch nicht verwunderlich, dass Bebuquin und nicht etwa Böhm als Waage-Künstler auftritt, indem er auf einem „kippligen Barstuhl“²⁷ ba-

16 Einstein: Bebuquin [Anm. 8], S. 56. 17 Einstein: Bebuquin [Anm. 8], S. 57. 18 Einstein: Bebuquin [Anm. 8], S. 4. 19 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman, in: Ders.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hg. v. Adolf Frisé, Bd. I, Hamburg 1952, S. 251. 20 So der Titel einer autobiographischen Schrift Benns aus dem Jahr 1950 (SW V, 83–176). 21 Vgl. Hohlweck: „Verwandlung in Blatt“ [Anm. 12], S. 310. 22 Anna Luhn: „Das Naturgesetz soll sich im Alkohol besaufen“. Zum Formrausch in Carl Einsteins Bebuquin, in: Expressionismus 9 (2019), S. 67–76, hier: S. 70. 23 Luhn: Das Naturgesetz [Anm. 22], S. 70. 24 Einstein: Bebuquin [Anm. 8], S. 3. 25 Vgl. Statick, Wage-Kunst, Static, in: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, hg. v. Johann Heinrich Zedler, Bd. 39, Halle und Leipzig 1744, Sp. 1276. Erreichbar auch unter https://www.zedler-lexikon.de/ (4. Januar 2023). 26 Einstein: Bebuquin [Anm. 8], S. 3. 27 Einstein: Bebuquin [Anm. 8], S. 23.

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lanciert. Auch Böhms Versuche, Bebuquin auf ‚seine Seite‘ zu ziehen, laufen ins Leere. Allem Wissen, allen Ahnungen und Einsichten, allen Ratschlägen und Verführungen zum Trotz kann sich Bebuquin dem Reiz der Statik nicht entziehen. Sein Hang zum Statischen ist evident. Dagegen ist Böhms oberste Maxime die Vermeidung des Gleichgewichts und die Asymmetrie sein Ideal. An Bebuquin gerichtet sagt er: Sie sehen, meine silberne Gehirnschale ist asymmetrisch. Darin liegt meine Produktivität. Über den sich fortwährend verändernden Kombinationen verlieren Sie das unglückselige Gedächtnis für die Dinge und den peinlichen Hang zum Endgültigen.²⁸

Die begriffliche Verschränkung, die Böhm an dieser Stelle vornimmt, ist nicht originell und verweist vielmehr auf eine gängige Zuschreibungspraxis. Im Jahr 1906, also just in der Zeit, in der Einstein an seinem „Bebuquin“ schreibt, war im Königlichen Württembergischen Landesgewerbemuseum in Stuttgart die Ausstellung „Symmetrie und Gleichgewicht“ zu sehen. Anlass der Ausstellung war, wie es in der Einleitung des zugehörigen Katalogs heißt, zum einen die Tatsache, dass die Symmetrie im künstlerischen und kunstgewerblichen Diskurs eine zentrale Rolle spielt, zum anderen die Beobachtung zweier ästhetischer Extreme, nämlich „[s]tarre Symmetrie einerseits und anderseits ein bis über die äußersten Grenzen gewagtes Außerachtlassen auch der selbstverständlichen Forderungen des Gleichgewichtes“.²⁹ Für das Verständnis des „Bebuquin“ und Einsteins Kunstgeschichte ist insbesondere der erste Teil des Katalogs erhellend. Dort definiert der Kunsthistoriker und damalige Vorstand des Museums Gustav Edmund Pazaurek die beiden titelgebenden Begriffe. Während Symmetrie im engeren Sinne Spiegelgleichheit bedeute, werde vom Gleichgewicht lediglich „eine beiläufig gleichmäßige Verteilung der Massen“ bzw. eine „mit Rücksicht auf eine Symmetrieachse oder Richtungsebene ungefähr einander die Wage haltende Gruppierung der Elemente“³⁰ verlangt. Ausschlaggebend seien dabei „nicht Zirkel und Spiegel, sondern das allgemeine

28 Einstein: Bebuquin [Anm. 8], S. 15. Böhm führt ebd. weiter aus: „Hier geht es um Denken, Denken. Dadurch ändert sich die ganze Affäre, mein Herr. Genies handeln nie, oder sie handeln nur scheinbar. Ihr Zweck ist ein Gedanke, ein neuer, neuester Gedanke.“ Was hier von Böhm, der im Roman den dynamischen Pol repräsentiert, ins Feld geführt wird, nämlich das Eintauchen in die Sphäre des Geistes bei gleichzeitiger Handlungslosigkeit, wird später zum Charakteristikum der ‚statischen Kunst‘ Benns. So ist beispielsweise der„Radardenker“ ein „Mann am Fenster“, der seinen „Gedankengänge[n] im Heim“ (alle SW V, 67) freien Lauf lässt. 29 Gustav E. Pazaurek: Symmetrie und Gleichgewicht. Ausstellung im Königl. Württ. Landesgewerbemuseum, Stuttgart 1906, S. 5. Erreichbar auch unter https://digibus.ub.uni-stuttgart.de/viewer/ fullscreen/1488874957801/1/ (4. Januar 2023). 30 Pazaurek: Symmetrie und Gleichgewicht [Anm. 29], S. 12.

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Gefühl“.³¹ Nach Pazaurek sind austarierte Kompositionen weder das Resultat von Messen und Zählen, noch dem Einsatz von mathematischen Zeichengeräten und anderen Hilfsmitteln zu verdanken. Vielmehr handelt es sich bei ihnen um das Ergebnis eines gefühlsmäßigen Abwägens. Das Gleichgewicht ist für den Kunsthistoriker eine psychologische Ordnung, mehr noch, er stellt es sogar über die Symmetrie, wie aus der folgenden Textstelle deutlich hervorgeht: Wenn sich die Symmetrie zur höheren künstlerischen Ordnung, zum Gleichgewicht erhebt, und an die Stelle der Maße und Zahlen Gefühlsmomente treten, wird auch die mathematische Achse in eine psychologische übergehen.³²

Was Symmetrie und Gleichgewicht nach Pazaurek indes teilen, ist die Betonung der Achsen. Wesentlich ist diesbezüglich, was er über die unterschiedliche Wertung von Horizontale und Vertikale bemerkt. „In der Verticalen“, schreibt er, wirkt die natürliche Schwerkraft; alles „Hohe“, „Erhabene“ strebt den Sternen zu oder aber es strebt nach „Vertiefung“. Die Horizontaldimension gilt schon nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch als etwas Minderwertiges; Breite ohne Tiefe, Uferlosigkeit, seichte Oberflächlichkeit werden nicht als Ideale bezeichnet.³³

Gegen Ende seiner begriffsgeschichtlichen Ausführungen stellt der Kunsthistoriker – und hier kann nun der Bogen zurück zum Roman geschlagen werden – den Begriff der Symmetrie in eine Reihe mit Ruhe, Steifheit, Pedanterie, Langeweile und Tod. Dagegen verbindet er die Asymmetrie mit Unruhe, Wahnsinn, Anarchie und Chaos.³⁴ Mit Bebuquin und Böhm entwirft Einstein demnach eine Figurenkonstellation, die das zeitgenössische Begriffsverständnis widerspiegelt. Außerdem kann konstatiert werden, dass sich Bebuquin mit seinem „Abschied von der Symmetrie“³⁵ lediglich von einer spezifischen Spielart des Gleichgewichts verabschiedet. Er ist und bleibt der Statik verhaftet, selbst als Romantiker, der er nun sein will. Darauf wird zurückzukommen sein. Nicht von ungefähr kommt, dass Bebuquin ausgerechnet einer antiken griechischen Vase respektive deren Proportionen verfällt, ist es doch die Kunst der alten Griechen, die immer wieder als statisch bezeichnet wird. „Die ‚Natur‘ des antiken Menschen“, schreibt etwa Oswald Spengler in „Der Untergang des Abendlandes“, „fand ihr höchstes künstlerisches Sinnbild in der nackten Statue; aus ihr erwuchs 31 32 33 34 35

Pazaurek: Symmetrie und Gleichgewicht [Anm. 29], S. 12. Pazaurek: Symmetrie und Gleichgewicht [Anm. 29], S. 19. Pazaurek: Symmetrie und Gleichgewicht [Anm. 29], S. 17. Vgl. Pazaurek: Symmetrie und Gleichgewicht [Anm. 29], S. 20. Einstein: Bebuquin [Anm. 8], S. 28.

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folgerichtig eine Statik von Körpern“.³⁶ In Anlehnung an Friedrich Nietzsche bezeichnet er die „Seele der antiken Kultur“³⁷ als apollinisch. Er ordnet ihr u. a. die mechanische Statik zu. Apollinisch sei auch das Dasein der Griechen, denen die Idee einer inneren Entwicklung und infolgedessen auch ein Geschichtsbewusstsein fehle. Außerdem werde in keiner anderen Kultur das Feststehen so sehr betont.³⁸ „Die dorische Säule“, schreibt der Kulturhistoriker, „bohrt sich in die Erde; die Gefäße sind stets von unten herauf empfunden […]; das Grundproblem der Bildhauerschulen ist die innere Festigung der Gestalt“.³⁹ Auch für den Kunsthistoriker A. Ehrenberg ist die antike griechische Kunst unmittelbar mit der Statik verbunden. Seine Arbeit trägt den hinsichtlich des Versuchs einer Aufschlüsselung des Statikbegriffs vielversprechenden Titel „Die ästhetische Statik“ (1914). Letztere beziehe sich, wie der Autor betont, auf ein als schön empfundenes Gleichgewicht der Massen und dürfe keinesfalls mit der mechanischen Statik verwechselt werden.⁴⁰ Ein hervorragendes Beispiel für „ästhetische Statik“ sei die Plastik eines Diskuswerfers des griechischen Bildhauers Myron (ca. 460–450 v.Chr.), „dessen lebhafte Bewegung stärkste Stilisierung verlangte“.⁴¹ Diese sei wiederum durch eine Gliederung des Körpers in mathematische Formen erreicht worden, sodass der ganze Körper wie ein geometrisches Gerüst wirke.⁴² Im Gegensatz zu Spengler und Ehrenberg betont die Ausdruckstänzerin Isadora Duncan in ihrem Buch „Der Tanz der Zukunft“ (1903) das Moment der Bewegung. „Jede Stellung und Gebärde der antiken Skulptur könnte ich“, lässt sie wissen, in gleicher Weise als Beispiel benutzen. Unter den tausenden von Figuren, die uns auf den griechischen Vasen und Reliefs überliefert sind, findet sich nicht eine, deren Bewegung nicht bereits eine andere Bewegung voraussetzen würde. Die Griechen waren eben außerordentliche Beobachter der Natur, in der alles der Ausdruck nie endender, ewig sich steigernder Entwicklung ist, in der es nie ein Enden, nie ein Anhalten gibt.⁴³

Die Lesarten antiker griechischer Kunst divergieren, wie an den angeführten Beispielen zu sehen ist, außerordentlich. Während für Spengler die Kunst der alten 36 Spengler: Der Untergang des Abendlandes [Anm. 4], S. 489. 37 Spengler: Der Untergang des Abendlandes [Anm. 4], S. 234. 38 Vgl. Spengler: Der Untergang des Abendlandes [Anm. 4], S. 235. 39 Spengler: Der Untergang des Abendlandes [Anm. 4], S. 235–236. 40 Vgl. A. Ehrenberg: Die ästhetische Statik. Ein Beitrag zur Lösung des Formproblems in der bildenden Kunst nebst einer Begriffsbestimmung des Naturalismus, Berlin 1914, S. 13–14 und S. 21. 41 Ehrenberg: Die ästhetische Statik [Anm. 40], S. 24. 42 Vgl. Ehrenberg: Die ästhetische Statik [Anm. 40], S. 24. 43 Isadora Duncan: Der Tanz der Zukunft (The Dance of the Future). Eine Vorlesung, übers. v. Karl Federn, Leipzig 1903, S. 34. Erreichbar auch unter https://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/ 88745/1 (1. Oktober 2022).

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Griechen Inbegriff des Statischen ist, betont Duncan das Element der Bewegung. Eine Zwischenstellung nimmt Ehrenberg ein, der zwar, wie es der Titel seiner Studie nahelegt, die Statik der antiken griechischen Kunst hervorhebt, jedoch das Moment der Bewegung in seine Beschreibungen integriert, indem er etwa von fixierter Bewegung spricht. Wenn Bebuquin die Vase aus Knidos zerschlägt, so verabschiedet er sich, wie gesagt, nicht grundsätzlich vom Gleichgewicht respektive von der „ästhetischen Statik“,⁴⁴ sondern nur von einer bestimmten Form des Gleichgewichts, der Symmetrie. Legt man jedoch die Interpretation Duncans zugrunde und geht zudem davon aus, dass auf Bebuquins Vase Figuren zu sehen sind – wiewohl das im Text nicht explizit erwähnt wird –, so zerbricht dieser durch den Akt des Zubodenwerfens der Vase zugleich auch das ihr innewohnende dynamische Moment. Pointiert formuliert handelt es sich hier also um die Zerstörung der Bewegung durch Bewegung. Indes ist Bebuquin laut Selbstaussage zum Romantiker geworden. Doch selbst als solcher kann er sich der Statik nicht gänzlich entziehen. Zwar sucht ein Romantiker nicht Ruhe, Gleichgewicht, Harmonie, Maß und Gesetz, sondern Regelüberschreitung und Grenzauflösung, doch die Statik konterkariert auch hier, in der ‚romantischen Sphäre‘, die Dynamik, wie am Beispiel der Ruine, ein für die Kunst der Romantik typisches Sujet, aufgezeigt werden kann. Georg Simmel, bei dem Einstein in den Jahren 1905 und 1906 Vorlesungen an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin besuchte, hat der Ruine einen Essay gewidmet. Dieser erschien 1907. In ihm beschreibt der Soziologe anhand der Baukunst die Wechselwirkung von formendem Geist und zersetzender Naturgewalt. Während, so Simmel, beim intakten Bauwerk die „Balance zwischen der mechanischen, lastenden, dem Druck passiv widerstehenden Materie und der formenden, aufwärts drängenden Geistigkeit“ noch gegeben sei, zerbreche sie „in dem Augenblick, in dem das Gebäude verfällt“.⁴⁵ Doch die Naturgewalt lasse das Gebäude keinesfalls „in die Formlosigkeit bloßer Materie sinken“, vielmehr entstehe „eine neue Form, die vom Standpunkt der Natur aus durchaus sinnvoll, begreiflich, differenziert“⁴⁶ sei. So gesehen bedeutet Zerfall nicht einfach Auflösung, sondern Umformung. Entsprechend handelt es sich bei einer Ruine zwar um ein zerfallenes, jedoch keineswegs um ein formloses Objekt. Die von den wirkenden Naturkräften erschaffene neue Form ist allerdings keine endgültige, sondern eine, die nur vorübergehend besteht, die sich immerzu wandelt. Worauf also Simmel in seinem 44 Ehrenberg: Die ästhetische Statik [Anm. 40], S. 13. 45 Georg Simmel: Die Ruine. Ein ästhetischer Versuch (1907), zit. n.: Materialästhetik. Quellentexte zu Kunst, Design und Architektur, hg. v. Dietmar Rübel, Monika Wagner und Vera Wolff, 2. Aufl., Berlin 2017, S. 246–249, hier: S. 247. 46 Simmel: Die Ruine [Anm. 45], S. 248.

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Essay aufmerksam macht, ist das beständige Wechselspiel von Erstarrung und Zerfall, von statischer Ordnung und dynamischer Auflösung, von Vitalität und materieller Verhärtung. Dabei sind wiederum zwei Aspekte zentral. Der erste bezieht sich auf die Bedeutung der Vertikalen. Das Spiel der Kräfte vollzieht sich nicht etwa richtungslos, sondern entlang der Gravitationslinie. Während der menschliche Wille zur Form nach oben strebt, drückt die mechanische Naturgewalt nach unten, in die Tiefe – erinnert sei in diesem Zusammenhang an Pazaureks Bemerkungen über die vertikale Achse. Der zweite Aspekt betrifft die in der Ruine angelegte Simultanität von Statik und Dynamik. Dieses Paradox wohnt, und hier schließt sich nun der Kreis, auch der Theorie der Wirbel inne. Nimmt man für ein Zwischenfazit die statischen Aspekte im „Bebuquin“ zusammen, so wird deutlich, was Pazaurek im Ausstellungskatalog „Symmetrie und Gleichgewicht“ meint, wenn er sagt, dass die Kunsttätigkeit nicht exterritorial sei:⁴⁷ [D]ie allgemeinen Naturgesetze, also auch die der Statik und Dynamik gelten mutatis mutandis auch für das Gleichgewicht und für die Bewegung im künstlerischen und kunstgewerblichen Schaffen; sie sind das einzige und zugleich beste „Mechanische“, das wir uns hier erlauben können.⁴⁸

3 Die Kunst des 20. Jahrhunderts Der Begriff ‚Statik‘ fällt in Einsteins Kunstgeschichte auffallend häufig. Das allein ist sicherlich nicht eine Hervorhebung wert. Umso mehr ist es die Tatsache, dass Einstein den Begriff im Kontext avantgardistischer Kunst verwendet, also im Zusammenhang mit Kunst, die dezidiert im Zeichen der Dynamik steht. Schon die Titel zahlreicher Werke verraten, dass die avantgardistische Ästhetik von Dynamik durchtränkt ist – man denke beispielsweise an Umberto Boccionis Plastik „Urformen der Bewegung im Raum“ (1913), an sein im selben Jahr entstandenes Gemälde „Dynamik eines Radfahrers“, an Gustavs Klucis’ Bild „Dynamische Stadt“ (1919) oder an Umbos Montage „Der rasende Reporter“ (1926). Auch in ihren Theorien kreisen die Künstler um dynamische Prozesse in all ihren Facetten. Zum Grundvokabular der Avantgardisten gehören Rhythmus, Bewegung, Beschleunigung, Tempo, Rotation, Ausdehnung und Schnelligkeit. Doch bei aller Betonung der Dynamik, die von Kunstwissenschaftlern ganz im Sinne der Avantgardisten aufgegriffen und fortgeschrieben wird, wohnt ihrer Bildsprache Statik inne – und genau das ist es, wofür Einstein sensibilisiert. Der Kunstkritiker 47 Vgl. Pazaurek: Symmetrie und Gleichgewicht [Anm. 29], S. 20. 48 Pazaurek: Symmetrie und Gleichgewicht [Anm. 29], S. 20.

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entlarvt die avantgardistische Kunst als statisch, wodurch er nicht zuletzt eine Relektüre der Klassischen Moderne anstößt, bei der die statischen Momente nicht länger überblendet werden, sondern explizit ins Bewusstsein treten.⁴⁹ Doch worin genau liegt dieses Statische, das Einstein ausmacht? Werfen wir zur Klärung zunächst noch einmal einen Blick in Ehrenbergs Studie „Die ästhetische Statik“. Dort bezeichnet der Kunsthistoriker diese als ein schön empfundenes Gleichgewicht der Körper. Charakteristisch sei ihre Anbindung an die Architektur und deren Organisation des Raumes, woraus wiederum eine geometrisch-gerüsthafte Formsprache resultiere. Nicht zuletzt sei sie Ausdruck des Bestrebens, durch parallele Linien, Dreiecke, Kreise und andere mathematische Kompositionen das architektonische Gerüst des Kunstwerkes zu stärken und damit Geschlossenheit und Ruhe in den gesamten Bildeindruck zu bringen.⁵⁰

Die griechische Plastik sei der glanzvolle Höhepunkt ‚ästhetischer Statik‘, da deren Eindruck hier durch nichts gestört werde. Zudem seien die dargestellten Bewegungen gemessen, wodurch die Werke ausbalanciert und harmonisch wirkten.⁵¹ Die von Ehrenberg vorgenommene Verkopplung von klassischer Kunst, Geometrie und Architektur findet sich auch in Einsteins Kunstgeschichte wieder. Gleichzeitig aber bindet dieser die ‚statische Ästhetik‘ an den technischen Fortschritt, was auf den ersten Blick nicht zusammenpasst, da sich Beschleunigung und Statik zunächst auszuschließen scheinen. Doch bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass die Statik überaus modern ist, denn sie avancierte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur zu einer Wissenschaft,⁵² sie ist auch die Grundlage der von den Ingenieuren geschaffenen exakt-puristischen Ästhetik, die sich gerade avantgardistische Künstler zum Ideal nahmen. So schreibt etwa der Künstler Fernand Léger in seinem programmatischen Aufsatz „Sehr aktuell sein“, welcher 1925 im von Carl Einstein und Paul Westheim herausgegebenen „Europa Almanach“ erschienen ist, Folgendes: Die Linie, die Ziffer, die Sekunde, der Millimeter, die Präzision: das sind unsere Forderungen […]. Der ganze menschliche Körper als Gegenstand gesehen. – Der plastische Wert nackt wie ein Brückenpfeiler – wie ein Pfeiler, der die Brücke trägt, gemacht wie die Brückenarchitektur

49 Vgl. Nicole Rettig: Carl Einstein und die ‚statische Ästhetik‘ der Avantgarden, in: Expressionismus 14 (2021), S. 49–59. 50 Ehrenberg: Die ästhetische Statik [Anm. 40], S. 13. 51 Vgl. Ehrenberg: Die ästhetische Statik [Anm. 40], S. 24–25. 52 Vgl. Alfred Gotthold Meyer: Eisenbauten. Ihre Geschichte und Aesthetik, Esslingen a.N. 1907, S. 2.

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– architektonische Malerei – die Kopfhaare einer Frau gerollt und ausgeführt wie die Eisendrähte, die eine Brücke halten.⁵³

Einstein widmet Léger in seiner Kunstgeschichte ein kurzes Kapitel, wobei die Vielzahl der Bezeichnungen, die der Kunstkritiker für den Künstler findet, bemerkenswert ist.⁵⁴ Léger sei Präziseur, Standardeur, Typusbildner, Organisator, Architekt und ein Mann für das Kollektive. Er verwende Bildteile wie ein Baumeister und gestalte Figuren, welche die Präzision konstruierter Fabrikate besäßen. Einstein stellt das Genormte und Anonyme der Bilder Légers heraus und betont den „Einfluß des industriellen, serienmäßigen Denkens“.⁵⁵ Die technoide Ästhetik weise jedoch, so Einstein, zur „alten tektonischen Klassik“.⁵⁶ Mit anderen Worten: Léger kleidet die Antike in ein modernes Gewand. Die Tektonik seiner Gemälde lässt ebenso an die Kunst der Antike wie an die präzisen Konstruktionen der Ingenieure denken, wodurch seine Bilder zugleich zeitlos – Einstein spricht diesbezüglich vom „Hervorheben des Bleibenden“⁵⁷ – und zeitgemäß wirken. Angesichts der Industrieästhetik verwundert es dann auch nicht, dass Einstein bei Léger zwei statische Schaffensphasen ausmacht. Die erste bezieht sich auf die Jahre von 1921 bis 1924, die zweite auf die Zeit zwischen 1926 und 1928. In diesen Jahren entstanden Werke wie „Das große Frühstück“ (1921), „Der Große Schleppkahn“ (1923), „Die Lektüre“ (1924) und „Stilleben mit Arm“ (1927). Über die erste statische Periode schreibt Einstein: Immer mehr wuchsen Vereinfachung und Kolossalisches; man drängt zum Wandbild voller Präzision; man will vom Menschen alles abtun außer dem Typischen, und so vermag er mit der präzisen und unpersönlichen Maschine zu konkurrieren. Man stellt gegen den Klassizismus der Skeptischen, die an das Eigene ihrer Epoche nicht glauben, aktuell konstruierte Gestalt. […] Léger gelangte von einer komplizierenden Sehweise, in der subjektive Dynamik und Motivisches gegeneinander kämpften, zu einer Primitive. Der dynamische Charakter der subjektiven Einstellung, die vor allem das Tun und Sichbewegen wertet, wird, um das Gleiten einzugrenzen und zu stoppen, zu elementaren statischen Typen verfestet […].⁵⁸

Léger selbst notierte zu diesem Zusammenhang Folgendes:

53 Fernand Léger: Sehr aktuell sein, in: Europa Almanach, hg. v. Carl Einstein und Paul Westheim, Leipzig 1925, S. 13–16, hier: S. 13. 54 Vgl. Carl Einstein: Die Kunst des 20. Jahrhunderts, Leipzig 1988, S. 145–158. 55 Einstein: Die Kunst des 20. Jahrhunderts [Anm. 54], S. 154. 56 Einstein: Die Kunst des 20. Jahrhunderts [Anm. 54], S. 156. 57 Einstein: Die Kunst des 20. Jahrhunderts [Anm. 54], S. 157. 58 Einstein: Die Kunst des 20. Jahrhunderts [Anm. 54], S. 151–153.

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Nach der mechanischen Periode kamen die monumentale, das Massive und die Komposition mit großen Figuren, die Vergröberung der Details. Ich verstärkte das Gefühl der Fläche, indem ich meine Figuren und meine Objekte in der gleichen formalen Art wie in der MaschinenPeriode setzte, aber ohne denselben Dynamismus […]. Ich hatte das Bedürfnis, auszuruhen, ein wenig zu verschnaufen. Nach dem Dynamismus der mechanischen Periode fühlte ich als eine Notwendigkeit die Statik der großen Figuren.⁵⁹

Es wäre jedoch verfehlt, Statik nur in Légers ‚statischen Phasen‘ ausmachen zu wollen. Vielmehr ist sie auch jenseits dieser Zeitspannen zu finden, worauf an dieser Stelle jedoch nicht weiter eingegangen werden kann. Stattdessen sei danach gefragt, inwiefern es sich nach Einstein auch beim Konstruktivismus und Kubismus um ‚statische Ästhetiken‘ handelt. Hatte Einstein das Aufzeigen der Linie, die von Légers Bildarchitektur zur Tektonik der klassischen Kunst führt, lediglich mit dem Hinweis respektive der Feststellung verknüpft, dass durch die Typisierung der Bildelemente das Dauerhafte hervorgehoben werde, gerät die Erwähnung der Nähe des Konstruktivismus zur Klassik zur Kritik. „Man entkonsolidierte“, schreibt Einstein, und vermied die Stagnation in der Verdinglichung. Nun wäre der Weg frei gewesen zu stärkster Dynamik. Die Dinge, die Dauer und Überlieferung enthalten, Zeichen des Erstarrtseins, waren ausgeschaltet. Jedoch diese Prediger der reinen dinglosen Formen gerieten nun in eine durchaus klassizistische Statik. Zwei Vierecke übereinander ohne Raumzertrümmerung und die „neue Raumbildung“ kauert wie der alte Dornauszieher.⁶⁰

Zwischen den Zeilen findet sich hier nicht zuletzt eine Rezeptionsanleitung für die Avantgarde. Sie besagt, dass die Selbstaussagen der Avantgardisten unbedingt mit Vorsicht zu genießen sind. Gerade das in den Kunsttheorien mantraartige Aufrufen der Dynamik muss hinterfragt und im Einzelfall überprüft werden. Deren bloße Proklamation genügt jedenfalls kaum, um aus statischer Kunst dynamische Ästhetik zu machen – wiewohl es den Künstlern erstaunlich gut gelungen ist, die Statik ihrer Kunstwerke mit ihren Theorien, Programmen und Manifesten rhetorisch zu überblenden, wie die unzähligen kunstwissenschaftlichen Interpretationen älteren und jüngeren Datums zeigen, in denen der Fokus allein auf der Dynamik liegt. Gänzlich anders grundiert ist die ‚statische Ästhetik‘ von Pablo Picasso, den Einstein dezidiert als klassischen Statiker bezeichnet, der ruhende und ausgeglichene Formen bildet.⁶¹ Seine Werke seien nicht etwa das Ergebnis eines vom industriellen Fortschritt motivierten Denkens, sondern spannten sich zwischen zwei

59 Fernand Léger, zit. n. Werner Schmalenbach: Fernand Léger, Köln 1977, S. 110. 60 Einstein: Die Kunst des 20. Jahrhunderts [Anm. 54], S. 272. 61 Vgl. Einstein: Die Kunst des 20. Jahrhunderts [Anm. 54], S. 174.

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entgegengesetzten Polen auf, wie Einstein betont. „Jede halluzinative Freiheit“, heißt es in der „Kunst des 20. Jahrhunderts“, fordert ihr Gegengewicht im Tektonischen. Die Besessenheit wird durch Wille und Entschluß equilibriert; somit sind diese kubistischen Bilder zwischen Besessenheit und bewußt änderndem Wollen, also stärksten seelischen Gegensätzen gespannt.⁶²

In diesem Zusammenhang verweist Einstein auf Friedrich Nietzsches Unterscheidung des Apollinischen vom Dionysischen, eine Trennung, die nach Ansicht des Kunstkritikers insofern obsolet sei, als sich Geklärtheit und Entrücktheit ergänzen würden.⁶³ In einem Vorgriff lässt sich sagen, dass ebendieses Spiel der Gegensätze auch für die ‚statische Ästhetik‘ von Benn charakteristisch ist. Auch bei ihm geht es um das Fixieren des endogenen Stroms der Bilder, um das Spannungsfeld zwischen Rausch und Ratio und um das Zusammenspiel von Auflösung und Konstruktion, wobei es am Ende trotz der in den Sprachgebilden angelegten Dynamik das Statische ist, welches seine Werke – vor allem jene der ‚statischen Phase‘ – dominiert. Bereits Durs Grünbein hat in seinem Vorwort zu Benns „Statischen Gedichten“ eine Parallele zwischen dem Vorgehen des Expressionisten und jenem der Kubisten herausgestellt: So lesen sich viele Gedichte auch als Selbstportraits einer Psyche. […] Das radikalste dieser mentalen Selbstportraits, geradezu ein Steckbrief aus Gedankensplittern, ist „Verlorenes Ich“. Es enthält in nuce Benns geschichts- und naturwissenschaftspessimistisches Fazit. Das Arbeitsheft zeigt hier besonders intensive Bearbeitungsspuren. Wie immer wirft Benn zunächst ein paar lose Zeilen und büschelweise Reimworte aufs Papier. Die geliebten Substantive und schwerlastigen Komposita sind immer zuerst da, dann wird über Tage, manchmal Wochen in kubistischer Manier gepuzzelt, bis alle Elemente in das vorgegebene Leinwandformat passen. Ein einziger Vierzeiler enthält mitunter den ganzen Gedanken, dem die übrigen Strophen variierend Tiefenwirkung verschaffen.⁶⁴

Die Komprimierung der bildreichen Vorstellungswelt, die im Akt der ästhetischen Formung vollzogen wird, findet sich demnach sowohl bei Benn als auch bei Picasso. Hinter ihrem Willen zur Form verbirgt sich wiederum – um mit Benn zu sprechen – das Streben nach der Erschaffung „hinterlassungsfähige[r] Gebilde“ (SW V, 137) oder – um es mit Einsteins Worten zu sagen – der „ergreiste[] Wille[] zur Dauer und Unsterblichkeit“.⁶⁵ Die statische Ästhetik von Benn und Picasso zeichnet sich dar62 Einstein: Die Kunst des 20. Jahrhunderts [Anm. 54], S. 94–95. 63 Vgl. Einstein: Die Kunst des 20. Jahrhunderts [Anm. 54], S. 105. 64 Durs Grünbein: Elegien für einen Irrtum, in: Gottfried Benn: Statische Gedichte (Gedichte 1937– 1947), mit einem Vorwort von Durs Grünbein, Stuttgart 2011, S. 7–34, hier: S. 27–28. 65 Einstein: Die Kunst des 20. Jahrhunderts [Anm. 54], S. 90.

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über hinaus durch eine Anbindung an den Bereich der Technik aus, wie der Begriff ‚Statik‘ aufgrund seines mechanischen Ursprungs ja auch nahelegt. Bei beiden tritt sie auf theoretischer Ebene zutage: Während Benn trotz seines ambivalenten Verhältnisses zum technischen Fortschritt in seinen poetologischen Schriften immer wieder vom Konstruieren und Bauen spricht, bezeichnet Einstein die kubistische Bildfläche als „technische Einheit“ und „formale Konstruktion“.⁶⁶ Im Folgenden wird das über die ‚statische Ästhetik‘ Benns bereits Festgehaltene nochmals aufgegriffen und weiter ausgeführt. Da über Benn und die Statik mehrere einschlägige Forschungsbeiträge vorliegen, sollen die hinsichtlich dieser Thematik relevanten und vielfach besprochenen Aspekte hier nur in aller Kürze vorgestellt werden. Indes steht ein materialästhetischer Ansatz im Mittelpunkt, wie er sich in der Kunstwissenschaft etabliert hat. Ausgehend von Monika Wagners Buch „Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne“ (2001) und einem Blick in die Geschichte des Aluminiums wird ein Bogen zu Benns Aluminium-Poetologie geschlagen, die der Autor in seiner Schrift „Lebensweg eines Intellektualisten“ vorstellt.⁶⁷ Dabei werden sich die verschiedenen herangezogenen Diskurse gegenseitig erhellen.

4 Aluminiumflächen Mit ihrem Buch „Das Material der Kunst“ (2001) sensibilisiert Monika Wagner für das weite Feld der materiellen Kultur, die im kunst- und literaturwissenschaftlichen Diskurs seit einigen Jahren verstärkt thematisiert wird und gegenwärtig einen weiteren Aufschwung erfährt.⁶⁸ In der Einleitung bemerkt die Kunsthistorikerin, dass die materielle Ebene in der bildenden Kunst lange Zeit kaum berücksichtigt wurde. Das Material sei nicht als Bedeutungsträger, sondern lediglich als Medium der Form betrachtet worden. Mit diesem reduzierten Verständnis möchte Wagner aufräumen. Sie plädiert dafür, das Material nicht einfach als technische Gegebenheit, sondern als ästhetische Kategorie wahrzunehmen. Zum einen zeigt sie auf, dass Materialien stets in konkreten historischen Kontexten verankert sind, zum anderen, dass die verwendeten Materialien die Bedeutung der Kunstwerke mit-

66 Einstein: Die Kunst des 20. Jahrhunderts [Anm. 54], S. 81. 67 Hierzu auch: Nicole Rettig: Literarisch-künstlerische Metallurgie (nach 1900), in: Kunst, Technik und techne, hg. v. Michael Neecke, Rainer Barbey und Jan Kerkmann, Berlin 2021, S. 120–146. 68 Vgl. etwa Glasgalaxien. Über Avantgarde, hg. v. Jasmin Grande, Berlin 2022; Alexander Wagner: Bücher mit Stoffbezug. Der nationalsozialistische Vierjahresplan und der synthetische Kolonialismus in der deutschsprachigen Populärliteratur, Paderborn 2022; Handbuch Literatur & Materielle Kultur, hg. v. Susanne Scholz und Ulrike Vedder, Berlin 2018.

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bestimmen.⁶⁹ Die gesteigerte Aufmerksamkeit für den Aspekt des Materiellen, mithin für Materialästhetik, geht also mit der Erkenntnis einher, dass Materialien immer auch als Bedeutungsträger fungieren. Materielle Kultur, so lässt sich schließen, heißt, das semantische Potential des Materials zu erkennen, zu erkunden und zu nutzen. Es geht darum, die Bedeutungsdimensionen eines Materials zu eruieren und danach zu fragen, welche Bedeutungen sich durch seine Verwendung in ein Kunstwerk einschreiben. Was also erzählt das Aluminium? Welches Wissen hat sich in dieses silbrig glänzende Material eingeschrieben? In Reinform kommt dieses Metall, das sich durch seinen silbrigen Glanz und seine überraschende Leichtigkeit auszeichnet, in der Natur nicht vor. Es waren eine Reihe von Zufällen, Entdeckungen und Erfindungen notwendig, ehe das Zeitalter des Leichtmetalls anbrechen konnte.⁷⁰ Den Grundstein für die Gewinnung von reinem Aluminium legte Sir Humphrey Davy (1778–1829), dessen Versuche zur Elektrolyse von Aluminiumoxid zwar vergeblich waren, der jedoch eine Wende in der Geschichte der Metalle einleitete, indem er mit Hilfe des elektrischen Stroms, welchen die damals völlig neue Voltasche Säule lieferte, die metallischen Elemente Natrium und Kalium gewann. Im Jahr 1827 gelang es Friedrich Wöhler (1800–1882) kleine Aluminiumflitter herzustellen. Erst neun Jahre später konnte er größere Teilchen präsentieren. Dies war allerdings ein Ereignis, das lediglich in wissenschaftlichen Kreisen Beachtung fand. Der Chemiker Henri Étienne Sainte-Claire Deville (1818–1881) forschte ebenfalls am Aluminium. Indes war Napoleon III. zu Ohren gekommen, dass ein junger Mann, eben jener Deville, eine Methode gefunden hatte, um aus Lehm ein Metall zu gewinnen, das silbrig schimmerte, leicht und fest zugleich war. Der Kaiser war fasziniert von diesem Material und träumte schon von Brustpanzern für seine Kavallerie. Schnell war der Entschluss gefasst, die Herstellung dieses hervorragenden Metalls vom kleinen Versuchslabor in eine Fabrikhalle zu verlegen. Das nötige Geld wurde beigesteuert, die industrielle Aluminiumproduktion konnte beginnen. Anfangs war die Ausbeute allerdings so gering, dass das neue Metall preislich mit Gold konkurrierte. Es war mithin eines für Goldschmiede, nicht aber für die mit Hammer und Amboss hantierenden Waffenschmiede. Was Deville fehlte, um Aluminium in großer und damit wirtschaftlich bedeutsamer Menge produzieren zu können, war genügend Strom. Dieser stand erst dann zur Verfügung, als Werner Siemens (1816–1892) mit seiner Dynamomaschine

69 Vgl. Monika Wagner: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, 2. Aufl. der broschierten Sonderausgabe, München 2013, S. 9–16. 70 Die folgende Ausführung stützt sich auf diese Quellen: Aluminium. Die ersten hundert Jahre, hg. v. Hans Joliet, Düsseldorf 1988; Metall, in: Thesaurus der exakten Wissenschaften, hg. v. Michel Serres und Nayla Farouki, übers. v. Michael Bischoff und Ulrike Bischoff, Frankfurt a. M. 2001, S. 616– 619.

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das Zeitalter des elektrischen Starkstroms einläutete. Entscheidend war auch der Beitrag, welchen der Metallurg Alfred Wilhelm (1869–1937) leistete. Dieser experimentierte seit 1901 an der Zentralstelle für wissenschaftlich-technische Untersuchungen in Neubabelsberg bei Berlin mit Aluminium und entdeckte dabei eine magnesiumhaltige Legierung, die später als Duraluminium bekannt wurde. Es dauerte nicht mehr lange, da schwebten die ersten daraus konstruierten Luftschiffe am Himmel. Nun, da die Ingenieure zunehmend mit Aluminium arbeiteten, griffen auch Künstler und Architekten nach diesem Material. Aluminium verhieß Fortschritt. Es war Symbol für Beschleunigung und Modernität. Sein Schimmern deutete auf eine glänzende Zukunft hin. Auch Walter Gropius, der den Schulterschluss zur Technik suchte, konnte diesem so vielseitig einsetzbaren Material nicht widerstehen. Seinen Aufsatz „Wo berühren sich die Schaffensgebiete des Technikers und Künstlers“, der 1925 in der Zeitschrift „Die Form“ erschienen ist, leitet er mit folgender Feststellung ein: „Wir haben uns allmählich daran gewöhnt, daß der künstlerische Gestalter bei dem technischen Erfinder und Konstrukteur in die Schule geht.“⁷¹ Seinen Ausführungen stellt der Bauhaus-Direktor einige Fotografien zur Seite. Auf ihnen sind Metallflugzeuge der Junkers-Werke in Dessau sowie technische Konstruktionsteile aus Aluminium zu sehen. Die Aufnahmen unterstreichen optisch, was Gropius anstrebte und andernorts mit dem Wahlspruch „Kunst und Technik, eine neue Einheit“⁷² versah. Der letzte Absatz des kurzen, programmatischen Textes beginnt wie folgt: Das Kunstwerk ist immer auch ein Produkt der Technik. Was zieht den künstlerischen Gestalter zu dem vollendeten Vernunfterzeugnis der Technik hin? Die Mittel seiner Gestaltung! Denn seine innere Wahrhaftigkeit, die knappe, phrasenlose, der Funktion entsprechende Durchführung aller seiner Teile zu einem Organismus, die kühne Ausnutzung der neuen Stoffe und Methoden ist auch für die künstlerische Schöpfung logische Voraussetzung.⁷³

Material, Form und Ratio – das sind also für Gropius die Grundpfeiler der neuen Gestaltung. Und genau auf diese wird auch zurückzukommen sein, weil sie auch in der Poetologie Benns eine entscheidende Rolle spielen. Die wissenschaftlichen Beiträge zum Werk Benns, um das es im Folgenden geht, sind äußerst zahlreich. Bei aller Vielseitigkeit und Akribie der Untersuchun-

71 Walter Gropius: Wo berühren sich die Schaffensgebiete des Technikers und Künstlers, in: Die Form 1 (1925/26), S. 117–122, hier: S. 117. Erreichbar auch unter https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/ form1925_1926/0159/image,info (3. Oktober 2022). 72 Vortragstitel von Walter Gropius, zit. n. Winfried Nerdinger: Das Bauhaus. Werkstatt der Moderne, München 2018, S. 41. 73 Gropius: Wo berühren [Anm. 71], S. 121.

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gen blieb jedoch die Tatsache unberücksichtigt, dass der Autor bei der Begründung der „Ausdruckswelt“ (SW IV, 177) auf ein Metall zurückgreift, genauer: auf Aluminium. Bevor jedoch die entscheidende Textpassage beleuchtet wird, sei zunächst ein kurzer, nur mehr kursorischer Überblick über Benns Poetologie der Statik gegeben. Dampft man seine Äußerungen hinsichtlich der Statik ein, so kristallisiert sich heraus, dass er diesen Begriff verwendet, um eine Sphäre zu öffnen, die sich jenseits historischer Prozesse situiert. In ihr arbeitet Benn ungestört an seiner ‚statischen Ästhetik‘, die unzweifelhaft eine Materialästhetik ist. Der Autor härtet, schleift, hämmert und konstruiert. Er baut „hinterlassungsfähige[] Gebilde“ (SW V, 137), welche der Zeit trotzen. Die Form rückt an vorderste Stelle. In ihr spiegelt sich vielerlei: Sie steht nicht nur für „Entwicklungsfremdheit“⁷⁴ und Benns Zweifel am Fortschritt, sondern auch für Resignation, Affektlosigkeit, Isolation und Einsamkeit. Was geformt wird, sind endogene Bilder, die „Gedankengänge im Heim“ (SW V, 67) und die vielzitierten Perspektiven, die nicht mit der Zentralperspektive zu verwechseln sind, einem Verfahren, das es Künstlern ermöglicht, einen illusionistischen und homogenen Bildraum zu gestalten, in dem alles seinen festen Platz hat. Benn will gerade nicht naturgetreu abbilden, Äußeres und Äußerlichkeiten wiedergeben und erst recht nicht den Eindruck von Homogenität erzeugen. Ihm geht es vielmehr um den Blick nach innen, ohne dabei aber das Außen gänzlich außer Acht zu lassen. Es ist ihm um Punktuelles, um individuelle „Tatsächlichkeiten“ (SW V, 137) zu tun. Auch wenn die Kategorie des Objektiven in der statischen Sphäre nicht greift, so bedeutet das noch lange nicht, dass der Wahrheit abgeschworen werden muss, denn Benn bringt – und das ist der Clou – die Augenblicksverhaftetheit des Seins ins Spiel. Auf diese Weise ist am Ende doch „etwas allgemeine Gültigkeit mit Zeichen von Situationärem“ (SW V, 79) zu haben. Und schließlich findet sich zwischen all den Gedankenfetzen eine zentrale Botschaft. Sie lautet: „Spannungen gewachsen sein, Spannungen binden – ausgleichen, das Geheimnis des Stils!“ (SW V, 77) Auffallend ist, dass Benn im Zusammenhang mit der Statik immer wieder in Bildern des Bauens spricht. So lesen wir etwa vom „durch Konstruktion beherrschten, in sich ruhenden Material[]“,⁷⁵ von der „bewußte[n] Anwendung von Prinzipien des Baus“ (SW IV, 185) oder davon, dass der Radardenker blockartig verfährt, was – man denke an die Bauhaus-Architektur – sehr modern sei (vgl. SW V, 78). Entsprechend findet sich dann auch im „Roman des Phänotyp“ (1944/49) ein ‚Blöcke‘-Block. Blöcke bildeten, heißt es dort, „eine Architektur von eigener Balance“ 74 Benn: Statische Gedichte [Anm. 64], S. 107. 75 So Benn am 23. November 1974 in einem Brief an seinen Verleger Peter Schifferli, zit. n. Harald Steinhagen: Die statischen Gedichte von Gottfried Benn. Die Vollendung seiner expressionistischen Lyrik, Stuttgart 1969, S. 245.

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(SW IV, 419). Alles in allem ist die begriffliche Nähe zur Baustatik nicht zu übersehen. Gleichgewicht, Ruhe, Spannung und Konstruktion gehören auch in dieser technischen Disziplin zu den zentralen Begriffen. Die mechanische Statik bezieht sich auf den Zustand der Ruhe. Dieser ist allerdings nicht gänzlich unbewegt. Vielmehr herrscht eine innere Dynamik, die für das menschliche Auge erst dann sichtbar wird, wenn ein Gebäude Risse zeigt. Sie sind ein untrügliches Zeichen dafür, dass Kräfte am Werk sind, die beständig arbeiten. Ein absolutes Gleichgewicht gibt es also nicht.⁷⁶ Dieses gleichsam lebendige Verständnis von Statik findet sich auch bei Benn. Zwar peilt der Autor das Anti-Dynamische an, doch mündet seine ‚statische Ästhetik‘ keineswegs in Stagnation oder völliger Bewegungslosigkeit. So bemerkt etwa Durs Grünbein in seinem Vorwort zu den „Statischen Gedichten“, dass es „die Bandbreite des Ausdrucks war […], der Wechsel der Rhythmen und Sprechweisen, was diese statischen Gedichte vor der Erstarrung bewahrte“.⁷⁷ Die latente Dynamik der Gedichte, die Grünbein hier ausmacht, ist wiederum eng mit der Vorstellung verbunden, es handle sich bei Formen um spannungsvolle Gebilde. Benn selbst schreibt über die Formen, sie seien „etwas ganz Primäres: Rhythmus, Spannung, ‚Prozeß‘“ (SW V, 150). Demnach ist die Form – und hier kommt das für den Expressionisten typische Einerseits-Andererseits zum Tragen – zeitlos und zugleich zeitgebunden. Diese lediglich holzschnittartigen Ausführungen zur Statik bei Benn lassen erkennen, dass sich der Autor zwar im Begriffsfeld der mechanischen Statik bewegt, doch unterscheidet sich seine Definition wesentlich von jener der Ingenieure. Benn ist, wie Grünbein treffend bemerkt, „unter die Statiker gegangen“,⁷⁸ jedoch nicht unter die technischen, sondern unter die ästhetischen Statiker. Der technoide Charakter der ‚statischen Ästhetik‘ kommt dabei nicht nur dort zum Vorschein, wo Benn vom Konstruieren und Bauen oder vom Härten und Bearbeiten des Materials spricht, sondern auch dort, wo er mit dem Aluminium ein bei Ingenieuren besonders beliebtes Material aufruft. Er schreibt: Formales möge kommen, Flüchtiges, Tragschwingen mögen kommen, flach und leicht gehämmert, Schwebendes unter Azur, Aluminiumflächen, Oberflächen – : Stil – ! – kurz, die neue, nach außen gelagerte Welt. (SW IV, 176–177)

76 Vgl. Burkhard Talebitari: „Der wirklich geniale Ingenieur ist poetischer Denker“. Gespräch mit Karl-Eugen Kurrer, in: momentum magazin, https://momentum-magazin.de/de/der-wirklich-genialeingenieur-ist-poetischer-denker/, 29. Januar 2016 (3. Oktober 2022). 77 Grünbein: Elegien [Anm. 64], S. 30. 78 Grünbein: Elegien [Anm. 64], S. 18.

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Diese Passage stammt aus Benns „Lebensweg eines Intellektualisten“. Die Entstehung dieser autobiographischen Schrift fällt in das Jahr 1934 und damit in eine Zeit, in welcher der Autor an eine Belebung der Kunst durch die Nationalsozialisten glaubte. Er ging davon aus, sie mit seinem Schaffen bereichern zu können. Und so versucht er hier etwas, was angesichts seiner damals prekären politischen Situation waghalsig erscheint: Er leitet die Kunst der „neue[n] Epoche“ (SW IV, 177) vom Expressionismus ab, was nichts anderes bedeutet, als expressionistische Bestände für die nationalsozialistische Literatur fruchtbar zu machen. Die Unmöglichkeit dieses Unterfangens erkennt Benn alsbald selbst und flüchtet sich in eine vorgeblich abgekapselte Kunstwelt, die ihm nun statische Sphäre ist, ein Rückzugsort, an dem er unbehelligt Sprachgebäude konstruieren kann. Allerdings sind Benns Selbstdeutungen grundsätzlich mit Vorsicht zu genießen, da der Autor mit ambivalenten Aussagen glänzt und darüber hinaus darauf bedacht war, seinen Lebensweg so zu beschreiben, als handle es sich um eine konsequente Hinwendung zum Geist. Tatsächlich war Benn immer Rauschkünstler und konstruierender Statiker zugleich.⁷⁹ Auf den Stil gewendet heißt das, dass er schon immer vom Amalgamieren des Apollinischen (Statischen) und Dionysischen (Dynamischen) lebte, also stets „halluzinatorisch-konstruktiv[]“ (SW III, 393) war. Benn blieb immer Expressionist und wandelte nie in einer statikfreien Zone. Die Frage ist lediglich eine der Gewichtung von Rausch und Ratio.⁸⁰ Als Benn die oben zitierten Zeilen schrieb, hatte das Aluminium seinen Siegeszug bereits begonnen. Die Ingenieure erkannten das Potenzial dieses Metalls und so nutzten sie es für die Umsetzung ihrer kühnen Ideen. Ihre Zeichnungen, am Reißbrett entworfen, materialisierten sich fortan nicht mehr ausschließlich in Eisen und Stahl, sondern auch in Aluminium. Das Zeitalter des Schwermetalls war zu Ende gegangen. Nun trugen und schoben die Techniker leichteres Gerät aus den Konstruktionshallen. Zwar hatte bereits Gustav Eiffel Ende des 19. Jahrhunderts vorgeführt, dass sich Eisen zumindest teilweise der Erdanziehungskraft entziehen kann – sein Turm schraubt sich in ungeahnte Höhen, zeichnet ein filigranes Netz an den Himmel und bildet dort ein gleichsam „schwebende[s] Gleichgewicht“⁸¹ –, doch mit dem Aluminium können Eisen und Stahl nicht Schritt halten. Mit dem Leichtmetall ging alles noch höher, noch schneller, noch weiter. Es verlieh der Dynamisierung der Umwelt einen weiteren Schub. Die Ingenieure montierten jetzt „Flüchtiges, Tragschwingen […], flach und leicht gehämmert, Schwebendes unter Azur“ (SW IV, 177). Wenn also Benn das Aluminium aufruft, welches im Übrigen 79 Vgl. Koch: Schattenspiele [Anm. 6], S. 307–308. 80 Vgl. Koch: Schattenspiele [Anm. 6], S. 308. 81 Sigfried Giedion: Bauen in Frankreich – Bauen in Eisen – Bauen in Eisenbeton, Leipzig und Berlin 1928, S. 37.

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aufgrund seiner Leichtigkeit ganz ausgezeichnet in die Sphäre fließender Entschweifung passt, dann deklariert er die „Ausdruckswelt“ (SW IV, 177) erstens als modern, zukunftsorientiert und dynamisch und bindet zweitens die Literatur an den Bereich der Technik. Dort ist die Form Ergebnis rationalen Denkens und logischen Kombinierens. Die „Ausdruckswelt“ (SW IV, 177) geriert sich damit technoid. Wenn neues Material auf den Plan tritt, werden Einsatzbereiche gesucht und geprüft. Es wird getüftelt und experimentiert. Nicht zuletzt stellt sich die Frage nach geeigneten Formen, die nicht nur den Eigenschaften des Materials, sondern auch der Zeit entsprechen. Exemplarisch lässt sich das an den Äußerungen des Architekten Cornelius Gurlitt über die „Ästhetik des Eisenbaues“ (1899) vorführen. Er schreibt: Beim Eintritt in große Eisenhallen habe ich an mir und an anderen deutlich eine starke künstlerische Erregung bemerkt. Es hilft dort die Größe des Ganzen dazu, die Einzelform zu unterdrücken, es herrscht dort völlige Klarheit über den Wert der Einzelglieder, die sich durchkreuzenden, fast körperlosen Linien verlieren in ihrer vielfachen gleichartigen Anordnung das Verwirrende, sie werden hinreichend deutlich begriffen und wirken ruhig. Es hat nicht viel Zweck, diesen Eindruck als minderwertig zu bezeichnen. Sind wir doch auf dem besten Wege, daß die Mehrzahl des Volkes und ein großer Teil der Bauenden diese Eindrücke als ästhetisch befriedigend hinnehmen. Daß sie anderen, kunsttheoretisch Gebildeten nicht behagen, könnte diese sehr leicht in einen Widerspruch mit der fortschreitenden Welt bringen, bei dem sie unbedingt unterliegen werden.⁸²

Während sich also den traditionsverhafteten Wächtern des guten Geschmacks beim Anblick von Eisenbauwerken die Haare aufstellten, waren Kunsttheoretiker wie Gurlitt angesichts der neuen Optik entzückt – die Eisenarchitektur, davon war er überzeugt, begründet nicht nur einen neuen Stil, in ihr liegt auch die Zukunft des Bauens. Was das Aluminium angeht, so wurden daraus zunächst Schatullen, Pokale, Medaillen und edler Schmuck gefertigt. Erst später, als es günstiger wurde, verarbeitete man es zu Fernrohren, Steigbügeln, Feldflaschen oder Konstruktionsteilen für Eisenbahnwaggons. Aber auch in den Bereich der bildenden Kunst hielt das Material Einzug. Der russische Künstler Wladimir Tatlin etwa setzte es in seinem „Eck-Konterrelief“ (1915) ein. Da das Leichtmetall noch nicht lange auf dem Markt war, glich es einer tabula rasa, die nach Belieben beschrieben werden konnte. Die Gefahr, dass alte Geschichten das Neue überwuchern und schließlich unsichtbar machen, war nicht gegeben. Im Grunde konnte alles in dieses noch junge Material hineinprojiziert werden. Deshalb eignete es sich hervorragend für den Entwurf 82 Cornelius Gurlitt: Ästhetik des Eisenbaues (1899), zit. n.: Materialästhetik [Anm. 45], S. 67–70, hier: S. 69.

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einer neuen Welt, einer„neue[n] Epoche“ (SW IV, 177). Zwar arbeitete Benn nicht wie Tatlin an einer neuen Gesellschaftsordnung – er war kein Vertreter der ‚Materialkultur‘, in welcher der Einsatz von Realien zu einer Einheit von Kunst und Produktion, von Ästhetik und Alltag führen sollte – doch wollte er mit seiner Literatur zumindest in den Jahren 1933/34 eine Rolle im neuen Staat spielen. Was Benn allerdings mit Tatlin verbindet, ist die Tatsache, dass er das Aluminium nutzt, um rhetorisch einen Anfang zu markieren. Die „neue, nach außen gelagerte Welt“ (SW IV, 177), die Benn in „Lebensweg“ vorstellt, ist zwar dezidiert an den Formgedanken gebunden, doch gleichzeitig gründet der neue Stil auf dem Ephemeren – und genau deshalb ist das Aluminium eine ausgezeichnete Wahl. In ihm verbinden sich Form und Formlosigkeit. Zum einen konstruieren die Ingenieure mit diesem Material ihre technischen Objekte, deren Formen das Resultat mathematischer Berechnungen sind, zum anderen können Aluminiumflächen durch entsprechende Herstellungsund Bearbeitungsverfahren so stark zum Glänzen gebracht werden, dass die Umwelt durch das reflektierte Licht scheinbar ins Fließen gerät. Im Aluminium ist also sowohl die feste, technische Form als auch das Flüchtige und Fließende angelegt. Auf diese Hybridität des Metalls kommen auch Gilles Deleuze und Felix Guattari zu sprechen. In ihrem Buch „Tausend Plateaus“ (1980) befassen sich die beiden Philosophen im Rahmen ihrer „Abhandlung über Nomadologie“ mit Metall und Metallurgie. Sie machen darauf aufmerksam, dass „Form und Materie […] niemals härter erschienen [sind] als in der Metallurgie“.⁸³ Gleichzeitig werden sie nicht müde zu betonen, dass Metall und Metallurgie das Bewusstsein des Strömens schlechthin seien. „Metall und Metallurgie“, halten sie fest, bringen ein Eigenleben der Materie an den Tag, eine Vitalität der Materie als solcher, einen materiellen Vitalismus, der sicher überall vorhanden ist, aber normalerweise nur verbogen oder verdeckt […]. Die Metallurgie ist das Bewußtsein oder Denken des Materie-Stroms, und das Metall ist das Korrelat dieses Bewußtseins […]. Es ist nicht alles Metall, aber es gibt überall Metall. Metall ist der Leiter der ganzen Materie […]. Und das Denken ist weniger aus Stein als aus Metall geboren.⁸⁴

Anstatt also das Metall an feste Strukturen und statische Ordnungen zu binden, heben die beiden Philosophen auf den Aspekt des Beweglichen ab. Letzteren macht, wie gesagt, auch Benn in seiner Poetologie stark. Bevor jedoch Adolf Hitler seine ‚Kriegsmaschine‘ aussendet, bevor sie eine grausame, blutrote, „eiskalte Linie der

83 Gilles Deleuze und Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, übers. v. Gabriele Ricke und Ronald Voullié, Berlin 1992, S. 568. 84 Deleuze, Guattari: Tausend Plateaus [Anm. 83], S. 568.

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Vernichtung“⁸⁵ hinterlässt, zieht sich Benn in seine statische Kunstwelt zurück. An der Unterbindung freien Flottierens und der Eindämmung „mutierende[r] Fluchtlinien“⁸⁶ war ihm sicher nicht gelegen. Konsequenterweise weicht das Aluminium dann auch einer Orange, einer Südfrucht wohlgemerkt. Damit entschied sich Benn für organisches Material, das schimmelt, fault und verrottet. Doch als Kompost kann Neues daraus erwachsen. Im Übrigen stößt Benn durch das Aufrufen des Aluminiums analog zu den bildenden Künstlern einen Oberflächendiskurs an. Auch Künstler machen sich die Doppelfunktion der Aluminium(ober)flächen – hier die harte, klar konturierte, materielle Ebene und scharfe Dingbegrenzung, dort die Bedingung der Möglichkeit, Objektgrenzen aufzulösen – zu Nutze. Frank Stella (geb. 1936) etwa wollte in den sechziger Jahren mit seinen „Shaped Canvases“, für die er aluminiumhaltige Farbe verwendete, Bildobjekte ohne Tiefe schaffen. Ihm ging es darum, die Dingqualität der Werke zu betonen. Bei Andy Warhols (1928–1987) kinetischer Rauminstallation „Silver Clouds“ tritt dagegen die Oberfläche zugunsten des Eindrucks der Schwerelosigkeit zurück. Die mit Helium gefüllten Wolken, die ihre Umgebung verzerrt spiegeln, wurden aus aluminiumbedampfter Kunststofffolie gefertigt und schwebten 1966 durch eine New Yorker Galerie. Auch der ZERO-Künstler Heinz Mack (geb. 1931) arbeitete mit dem glänzenden Metall. Er nutzte es beispielsweise für seinen „Silber-Dynamo“ (1960), eine rotierende Aluminiumscheibe, die das Licht tanzen lässt. Daneben stellte Mack Installationen aus Spiegeln und Stelen in die Wüste und stapfte, ausgerüstet mit einem silbrig funkelnden Lurex-Overall und einer langen Silberfahne, durchs Sandmeer. Die Parameter seiner Kunst, das ist unverkennbar, sind Licht, Metall, Raum und Bewegung. Mal lenkt er die Aufmerksamkeit auf die Oberfläche, indem er dem Betrachter vor Augen führt, dass im Falle einer blank polierten Metallfläche schon ein kleiner Eingriff genügt, um das Licht zu erschüttern. Dann wieder setzt er das Material ein, um räumliche Grenzen optisch zu verwischen, um alles in einen einzigen wabernden oder flirrenden Lichtstrom zu tauchen. Wenn es, wie bei Mack, um Oberflächen geht, ist der Vorwurf der Oberflächlichkeit nicht weit. In einem Gespräch geht der Künstler auf diesen ein: „Hier im Norden herrscht das Vorurteil vor, geistiges Leben bedeute, in die Tiefe zu dringen“. Doch sei Tiefschürfen nicht alles, denn „was in die Tiefe führt, muss sich auch an der Oberfläche widerspiegeln; sonst ist es in der Tiefe untergegangen“.⁸⁷ Und genau das ist es, was auch für Benns Werke gilt. Ohne die Bannung der aus der 85 Deleuze, Guattari: Tausend Plateaus [Anm. 83], S. 313. 86 Deleuze, Guattari: Tausend Plateaus [Anm. 83], S. 313. 87 Beide Zitate von Heinz Mack nach Stefanie Stadel: Wer ist der Schönste?, in: kultur.west. Magazin für Kunst und Gesellschaft in NRW, https://www.kulturwest.de/inhalt/wer-ist-der-schoenste/, 1. März 2011 (3. Oktober 2022).

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Tiefe des Bewusstseins emporsteigenden Bilder auf der Oberfläche gäbe es seine Kunst nicht. Sie changiert zwischen Bewusstseinsstrom und Materialität, Transzendenz und Stofflichkeit (vgl. SW IV, 196). Adäquates Material für solch eine Kunst ist das Aluminium, denn es birgt die Möglichkeit des Oszillierens zwischen Form und Entformung, Material und Entmaterialisierung, Oberfläche und Tiefe. Vielleicht, so sei abschließend bemerkt, ist es eine Äußerung des Minimal-Art-Künstlers Donald Judd (1928–1994) über die Oberfläche des Aluminiums, welche die bennsche Oberflächenkunst am besten trifft. Sie lautet: The aluminum surface […] does have a slightly mysterious quality in one sense. You know it’s on the surface, but it catches just enough light to have a shimmer. That shimmering surface has very much its own kind of surface illusionism, its own self-contained space.⁸⁸

Die Werke von Benn und Einstein konnten hinsichtlich der Bedeutung der Statik nur teilweise beleuchtet werden. Was jedoch deutlich geworden sein sollte, ist, dass ‚Statik‘ ein schillernder Begriff ist, der in verschiedensten Kontexten auftaucht und die Dynamik auf unterschiedlichen Ebenen durchkreuzt. Die beiden Avantgardisten erscheinen im Sinne Serres‘ als besonders mutig, da sie Statik und Dynamik zusammendenken. Sie machen die Statik zum integralen Bestandteil moderner Ästhetik und legen damit gleichsam den Grundstein für die ‚statische Moderne‘. In ihr sind vielfältige Spannungen ebenso angelegt wie Ruhe, Ordnung und Gleichgewicht.

88 Frank Stella, zit. n. Lexikon des künstlerischen Materials. Werkstoffe der modernen Kunst von Abfall bis Zinn, hg. v. Monika Wagner, Dietmar Rübel und Sebstian Hackenschmidt, München 2002, S. 22.

Klaus H. Kiefer

Bewundert und verdammt. Gottfried Benn und Carl Einstein. Eine Freundschaft im Wandel der Zeiten (Mit zwei Schreiben von Walter Gropius und Rudolf Kurtz an Carl Einstein) Abstract: Gottfried Benn und Carl Einstein, die sich früh kannten, erfreuten sich wechselseitiger Wertschätzung, bezeugt u. a. durch Einsteins Besprechung von Benns „Gesammelten Gedichten“ 1927 (die „Meer- und Wandersagen“ waren ihm gewidmet) bzw. durch Benn’sche Briefäußerungen gegenüber Dritten nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Freundschaft indes hat kontroverse Facetten. Denn einerseits dürfte Benn die spartakistischen Aktivitäten Einsteins kaum goutiert haben, als man sich Anfang der 1920er Jahre zu einem „Stammtisch“ traf; andererseits wiederum gibt es seitens Einstein, der sich sonst selten zurückhielt, keine explizite Verurteilung von Benns nationalsozialistischem Intermezzo. Das kann Zufall sein. Offenbar existierte aber noch 1931 eine gemeinsame Gesprächsbasis – politische Gemeinschaft, kollektiver Mythos, Kunst –, auch wenn sich Einstein im Folgejahr vieldeutig über Benns „medizinerei“ belustigt. Ohne seinen Freund namentlich zu nennen, unterzieht er jedoch in der „Fabrikation der Fiktionen“, deren erste Fassung vor 1936 abgeschlossen war, aber unveröffentlicht blieb, Benns literarisches Schaffen – zusammen mit Surrealismus und Psychoanalyse – einer vernichtenden Kritik.

1 Zeichen einer Freundschaft Die Freundschaft von Gottfried Benn und Carl Einstein ist zum Gemeinplatz geworden.¹ Benns gelegentliche Bemerkungen zur ,absoluten Prosa‘ des „Bebuquin“ und zur Spitzenstellung² des Einstein’schen Avantgardismus brauche ich daher

1 Vgl. Matthias Berning: Carl Einstein, in: Benn-Handbuch. Leben ‒ Werk ‒ Wirkung, hg. v. Christian M. Hanna und Friederike Reents, Stuttgart 2016, S. 37. 2 Vgl. Gottfried Benn an Ewald Wasmuth, 27. März 1951, in: Ders.: Ausgewählte Briefe, Wiesbaden 1957, S. 208–210, hier: S. 209. Klaus H. Kiefer, München https://doi.org/10.1515/9783111102740-005

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Klaus H. Kiefer

kaum zu wiederholen; ich will sie vorab nur kurz und kritisch kommentieren und in einigen Punkten ergänzen. Mit Ausnahme von Benns Widmung der „Meer- und Wandersagen“ 1925 und 1927 – die er allerdings bei der Neuausgabe der „Gesammelten Gedichte“ 1936 tilgte– sind alle Freundschaftsbekundungen privater Natur, lediglich Briefäußerungen gegenüber Dritten. Einsteins Benn gewidmete ProsaStudie „Die Uhr“ von 1915 blieb unveröffentlicht. Ob die Streichung des Zusatzes „dem Freunde“ (Abb. 1)³ in der vorgesehenen Widmung eine Distanzierung darstellt, und nicht nur einen stilistischen Eingriff, kann nicht entschieden werden.

Abb. 1: Carl Einstein: „Die Uhr“ (unveröffentlichte Studie, 1915, Ausschnitt).

Unveröffentlicht blieb auch Einsteins sogenannter „Kahnweilerbrief“,⁴ in dessen Bearbeitung wohl um 1925 das Bekenntnis zu Benn wegblieb. Es passte nicht gut zur kubistischen Ästhetik, die Einstein gegenüber Kahnweiler ausbreitet, und Einstein hat Anfang und Ende des Briefes einfach weggeschnitten. Er entsagt dann vermutlich unter dem Eindruck des ersten surrealistischen Manifests einer Publikation – und entwickelt seinen eigenen Surrealismus. Von ,Freundschaft‘ – „mein[…] Benn“ (Br. 177)! ‒ spricht expressis verbis nur Einstein, und man darf nachsichtig hinzufügen, dass er damit gegenüber der verehrten Tony Simon-Wolfskehl oder gegenüber Daniel-Henry Kahnweiler (vgl. Br. 127) auch etwas renommieren will. Er tut das ebenso mit Max Beckmann, den er in seinen Briefen an die Genannten allerdings nicht ,Freund‘ nennt, der es aber vermutlich war. Einstein pflegt verschiedenartige Freundschaften.

3 Abb. 1: Carl-Einstein-Archiv, Akademie der Künste, Berlin, Digitalisate des Nachlasses unter: https://archiv.adk.de; im Folgenden mit der Sigle (CEA) im laufenden Text nachgewiesen, hier: CEA, 356_1 (Ausschnitt). 4 Carl Einstein: Briefwechsel 1904–1940, hg. v. Klaus H. Kiefer und Liliane Meffre, Berlin 2020; im Folgenden mit der Sigle (Br.) im laufenden Text nachgewiesen, wobei sich die Zahl auf die Nummer des jeweiligen Briefs bezieht, hier: Br. 127. Die in Br. 231 weggeschnittene Stelle zu Benn lautet: „Der einzige meiner Kollegen, der instinktiv an ähnliches herangeht [wie ich] ist vielleicht mein Freund Gottfried Benn. Nur ist da die Sache noch nicht rausgepellt.“ D. h. Einstein sieht Benn durch seine ,kubistische‘ Brille.

Bewundert und verdammt – Gottfried Benn und Carl Einstein

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Doch was ist das leicht über die Lippen gehende ,Freundschaft‘ überhaupt? Ich werde diese Frage nicht erschöpfend beantworten… Hindernis einer Beziehung könnte jedenfalls der„nihilistische Accent“⁵ sein, den Benn im Gespräch pflegte und der wohl auch Leo Matthias aus dem „soidisant Stammtisch“ (Br. 158) vertrieben hat, den Einstein, Benn und Egmont Seyerlen⁶ bis 1922 und darüber hinaus in unregelmäßigen Abständen abhielten. Benns „polemischer Ton“⁷ hat den „kaltschnäuzigen Skeptiker“⁸ Einstein gewiss nicht gestört ‒ ganz im Gegenteil. Ohnehin hielt er sich und den Freund – so im Jahr 1923 – für zwei merkwürdige „Käuze“.⁹ Man weiß nicht, auch nicht aus späteren Zeugnissen: Haben sich Benn und Einstein mit Vornamen angeredet, geduzt oder gesiezt?¹⁰ Vornamen – auch Rufnamen oder Kosenamen ‒ und die zweite Person Singular sind ja im Deutschen Zeichen besonderer Nähe. Der Einsteinʼsche Briefwechsel zeigt zahlreiche Varianten – worauf

5 Leo Matthias an Egmont Seyerlen, 31. März 1922, in: Gottfried Benn 1886–1956, hg. v. Ludwig Greve, 2. Aufl., Marbach 1986, S. 81. Vgl. auch die Formulierung „Das Nichts ist die Grundlage“, in: Carl Einstein: Bebuquin oder Die Dilettanten des Wunders, hg. v. Klaus H. Kiefer, Berlin 2022, S. 25; im Folgenden mit der Sigle (B) im laufenden Text nachgewiesen. Vgl. weiterhin Benns Fügung „formfordernde Gewalt des Nichts“, in: Gottfried Benn: Epilog und lyrisches Ich, in: Ders.: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, Bd. III: Prosa 1910–1932, hg. v. Gerhard Schuster, Stuttgart 1987, S. 127–133, hier: S. 133; auf diese Ausgabe wird im Folgenden im laufenden Text mit der Sigle (SW I–VII/2) und unter Verwendung der Seitenzahl hingewiesen. 6 Wohl kaum gehörte anfänglich auch Ludwig Rubiner dazu, der 1920 der Spanischen Grippe zum Opfer fiel – was die Anfänge des Stammtischs sehr weit (ich meine: zu weit) in die Berliner Revolutionszeit vorverlegen würde. 7 Alfred Döblin: Einleitung zu einer Lesung Benns im April 1932, in: Gottfried Benn 1886–1956 [Anm. 5], S. 154–157, hier: S. 154. 8 Georg Poensgen: Carl Einstein. Die Kunst des 20. Jahrhunderts, 1926, in: Repertorium für Kunstwissenschaft 50 (1929), S. 45–46, hier: S. 45. Einsteins „Arroganz“ war sprichwörtlich. Vgl. dazu Hugo Ball: Totenrede [auf Hans Leybold, 1915], in: Ders.: Der Künstler und die Zeitkrankheit. Ausgewählte Schriften, hg. v. Burkhard Schlichting, Frankfurt a. M. 1988, S. 25–28, hier: S. 27. 9 Das vollständige Briefzitat, das ich ich an anderer Stelle schon ausführlicher kommentiert habe (Primitivismus und Avantgarde ‒ Carl Einstein und Gottfried Benn, in: Colloquium Helveticum 44 (2015), S. 131–168), lautet: „Zu komisch ‒ dass Benn und ich vom Litteraturbetrieb keinen blassen Schimmer haben; er nannte mir eine grosse Zeitschrift ‒ ich hatte keine Ahnung von ihrer Existenz. Solche Dinge verbinden ungemein. Jeder von uns schreibt blind drauf los ‒ wenn man mal Zeit hat und man lässt die Sachen liegen. Ich habe noch nie 2 solche Käuze gesehen. ohne jedes Ausnutzen von Ruf oder Beziehung.“ (Br. 158) 10 Bernhard Rusch (München) danke ich den Hinweis auf Alfred Vagts: Hüben und Drüben. Autobiographische Schriften, hg. v. Peter Schütt, Neumünster 2010, S. 259, wo Klabund (i. e. Alfred Henschke) als „Benns einziger Duzfreund“ genannt wird (vgl. aber SW I, 122); Klabund war allerdings schon ein Schulfreund Benns, was die Intimität der „fünfundzwanzigjährigen Freundschaft“ (SW III, 200) etwas relativiert.

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ich hier nicht weiter eingehen kann.¹¹ Je näher man die im Dunkeln liegende Gründung des Stammtischs an die Jahre 1919/20 heranrückt, desto mehr stellt sich die Frage: Wurde auch über Einsteins spartakistische Aktivitäten gesprochen? Benn, der „nie links“ (SW IV, 154) war, kann diese nicht gebilligt haben. Mehr dazu später. Bezeugt ist die Begegnung Einsteins mit Benn in der ,Etappe Brüssel‘ insbesondere in der nahegelegenen Villa von Carl und Thea Sternheim.¹² Das dort entworfene Projekt einer „Enzyklopädie zum Abbruch bürgerlicher Ideologie“ gedieh nicht über einige wenige separate Veröffentlichungen hinaus, zu denen Benn aber nichts beitrug. Auch stilisierte er sich gerade in seiner Brüsseler Lebensphase zum Solitär. Unklar ist, warum in den Entwürfen zu Benns „Doppelleben“ der Name Carl Einsteins nicht erscheint und dieser erst in der Druckfassung von 1950 unter jüdischen „Talenten allerersten Ranges“ (SW V, 86) angeführt wird. Ebenfalls ungeklärt ist, in welchen „Büchern“ Einsteins Benn seinem Brief an Ewald Wasmuth (einem langjährigen Siez-Freund Einsteins) vom 27. März 1951 zufolge – und man darf aus dem Kontext ergänzen: „oft“ – gelesen hat, denn von diesen Büchern ist nichts mehr außer dem Sammelband „Anmerkungen“¹³ nachweisbar, den Benn des darin enthaltenen „Vathek“-Essays wegen im selben Jahr an F.W. Oelze ausleiht.¹⁴ Der durch Benns eigenhändigen Besitzvermerk ausgewiesene Band, der 1986 als Teil der „Sammlung Benn“ in die Akademiebibliothek am Hanseatenweg gelangt ist,¹⁵ enthält, abweichend von Einsteins Gepflogenheiten, keine Widmung des Verfassers, was freilich auf die Kriegszeit zurückgeführt werden kann. Ohne Zweifel hat Benn aber auch „Bebuquin oder Die Dilettanten des Wunders“ schon früh gekannt,¹⁶ auch wenn er erst 1944 einen kurzen Kommentar dazu abgibt, wiederum gegenüber Oelze:

11 Vgl. Klaus H. Kiefer: Carl Einsteins Briefe. Stilistik und Philologie. Mit vier unveröffentlichten Briefen Carl Einsteins, in: Juni. Magazin für Literatur du Kultur 59/60 (2022), S. 9–39 und S. 41–45, hier: S. 14–21; Beispiele für von Einstein verwendete Kosenamen: „Tonely“ für Tony Simon-Wolfskehl, „Kiki“ für Moïse Kisling, „Soki“ oder „Suki“ für Sophia Kindsthaler, „Heini“ (spät) für DanielHenry Kahnweiler. 12 Dr. Benn hatte Sternheim offenbar ein Attest wegen Kriegsdienstuntauglichkeit ausgestellt, auch dies ein Freundschaftsdienst. 13 Carl Einstein: Anmerkungen, Berlin 1916. 14 Vgl. Gottfried Benn an Friedrich Wilhelm Oelze, 19. Februar 1951, in: Dies.: Briefwechsel 1932– 1956, hg. v. Harald Steinhagen, Stephan Kraft und Holger Hof, Bd. 4: 1951–1956, Stuttgart und Göttingen 2016, S. 21. Im Folgenden im laufenden Text unter Verwendung der Sigle (BOe I–IV) und mit Seitenzahl nachgewiesen. 15 Signatur: NB Benn 41; Benn hat nur seinen Familiennamen in den Band eingetragen. 16 Benn und Einstein haben sich spätestens bei einer gemeinsamen Lesung auf dem 6. AutorenAbend der ‚Aktion‘ am 7. März 1914 kennengelernt (vgl. Carl Einstein: Materialien. Zwischen Bebu-

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Zwei ähnliche Versuche sind mir aus der Literatur bekannt: ‚Paludes‘ von Gide u. ‚Bebuquin‘ von Einstein. Namentlich der Letztere schaltete auch Zeit u. Psychologie aus, aber liess die Handlung nicht fort, der Held musste noch allerlei betreiben. Das war inkonsequent. Auch dass er überhaupt noch einen Namen hatte, war paradox. (BOe II, 66)

Ähnlich äußert er sich gegenüber Max Niedermayer vier Jahre später.¹⁷ Ich will auch diesen Kommentar nur kurz kommentieren. Eine kompositorische Analogie des „Bebuquin“ mit André Gides „Paludes“ wird hier zwar wohl erstmals festgestellt,¹⁸ aber die Konsequenz der Selbstthematisierung des Buches für die Konzeption ,absoluter Kunst‘ ist nicht voll erkannt. Natürlich ersetzt eine Briefäußerung keine Interpretation, aber der in Hinsicht der genannten Selbstthematisierung ,sprechende‘ Name des Protagonisten und der Titel des Buches sind keineswegs so „paradox“, wie Benn meint. Er ist konstitutiv: „Bebuquin“ enthält u. a. auch die Komponente ,bouquin‘, frz. ,Buch‘, woraus folgt (folgen soll): Werk und Held sind eins. Und „Bebuquin“ enthält im Übrigen noch genau so viel Handlung wie das gleichzeitig entstandene „bordel philosophique“ Picassos, wie dessen „Demoiselles“¹⁹ anfänglich hießen. (Den schüchternen jungen Mann mit Buch, der das Etablissement betritt – eine Art Initiation –, vergleiche ich gerne mit Bebuquin; der Kunde, der schon da ist, entspräche dann Böhm.) In der „Fabrikation der Fiktionen“ entlarvt Einstein seinen frühen Geniestreich, der ihn in die Literatur katapultierte,²⁰ als das, was er in der Tat war und ist, als „Wortspiel“ (FF 1, 447 und FF 2, 451),

quin und Negerplastik, hg. v. Rolf-Peter Baacke, Bd. 1, Berlin 1990, S. 44); Einstein hatte aber schon am 16. Dezember 1911 im Neopathetischen Cabaret einzelne Kapitel aus dem „Bebuquin“ vorgetragen (vgl. Einstein: Materialien [Anm. 13], S. 39), der 1912 in Fortsetzungen in der „Aktion“ und am Ende des Jahres auch als Buch im Aktions-Verlag erschien. Ein Vorabdruck der ersten vier Kapitel war 1907 in Franz Bleis „Opale“ erfolgt. 17 Vgl. Gottfried Benn an Max Niedermayer, 18. September 1948, in: Ders.: Ausgewählte Briefe [Anm. 2], S. 124–128, hier: S. 126–127. 18 Der Hinweis findet sich nicht in den zeitgenössischen „Bebuquin“-Rezensionen 1913–1925 (vgl. B, 69–93) und Einstein, der ansonsten Gide gut kennt, erwähnt „Paludes“ nie. 19 Pablo Picasso: Etude pour „Les Demoiselles d’Avignon“, März – April 1907, in: Les Demoiselles d’Avignon, hg. v. Hélène Seckel, Bd. 1, S. 24; das Bild ist abgedruckt im Nachwort zu: B, 110. Zur ‚Handlungʼ in den „Demoiselles“ vgl. Klaus H. Kiefer: „Mit dem Gürtel, mit dem Schleier…“ – Semiotik der Enthüllung bei Schiller, Fontane und Picasso, in: Ders.: Die Lust der Interpretation – Praxisbeispiele von der Antike bis zur Gegenwart, Baltmannsweiler 2011, S. 127–145, hier: S. 136–140. Es geht bei Picassos Protagonisten wie bei Einsteins Bebuquin (im 1. Kapitel) um die sexuelle Initiation eines jungen Mannes. 20 Carl Einstein: Werke. Berliner Ausgabe, Bd. 3: 1929–1940, hg. v. Hermann Haarmann und Klaus Siebenhaar, Berlin 1996, S. 156; im Folgenden mit der Sigle (BA 1–4) und unter Angabe der Seitenzahl im laufenden Text nachgewiesen.

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und wie noch zu zeigen sein wird, hinterfragt er auch Benns ästhetischen Absolutheitsanspruch. Sichtbare Zeichen einer Freundschaft sind Geschenke. Einstein hat Geschenke erhalten: von Ewald Wasmuth und seiner Lebensgefährtin Sophia Kindsthaler, die Einstein im Unterschied zu ihrem Partner von Anfang an duzt,²¹ auch von Tony Simon-Wolfskehl – von dieser sogar ein Hündchen, Kicks mit Namen, das im Briefwechsel mehrfach auftaucht und zur Datierung mancher Briefe hilfreich ist. Nach seiner Trennung hat Einstein von Tony die Geschenke zurückerstattet, um nicht als Heiratsschwindler verleumdet zu werden (vgl. Br. 191). Was aus Kicks geworden ist, weiß man nicht. Einstein hat aber auch geschenkt; mit Widmungsexemplaren war er großzügig. Und er hat vor allem auch Gottfried Benn beschenkt: Ein tibetanisches Räuchergefäß ist im Marbacher Literaturmuseum ausgestellt (Abb. 2).²² Von wann das Geschenk datiert, ist unbekannt, vielleicht handelt es sich um eine Anspielung auf Benns Versuch, sich 1923 das Rauchen abzugewöhnen (vgl. Br. 158). Wie Osamu Okuda unlängst aufgezeigt hat,²³ überreicht Einstein Paul Klee, den er ebenfalls schätzt und mit dem er freundschaftlich korrespondiert – „Lieber Paul Klee“ (u. a. Br. 294) –, wohl bei seinem Weimar-Besuch 1923 eine kongolesische Statue (vgl. Br. 137–138). Summa summarum: Einstein war zu freundschaftlichen Beziehungen – unterschiedlicher Intensität – durchaus fähig, obwohl es etliche unerklärte Abbrüche gibt, vor allem im Fall Moïse Kisling; hier ging der Bruch von ‚Kiki‘ Kisling aus, was Einstein in Verzweiflung stürzte (vgl. Br. 214).

2 Politische Affinitäten Als letzte Vorbereitung zu meiner zentralen Fragestellung, nämlich Einsteins BennRezeption zwischen 1927 und 1933, möchte ich die Kontakte der beiden Freunde zu

21 Ewald Wasmuths Bruder Günther, „dem Freunde“, sind alle drei Ausgaben von Einsteins „Kunst des 20. Jahrhunderts“ gewidmet. Weitere Zeugnisse dieser Freundschaft existieren nicht (Kriegsverlust). Man weiß also nicht, ob er seinen Verleger-Freund im Unterschied zu dessen Bruder geduzt hat. 22 Abb. 2: Fotograf: Mathias Michaelis; bereits abgedruckt in: Gottfried Benn 1886–1956 [Anm. 5], S. 81. 23 Vgl. Osamu Okuda: Luluwa-Figur aus Kongo und drei Speere aus Papua-Neuguinea in Paul Klees Nachlass, in: Zwitscher-Maschine. Journal on Paul Klee / Zeitschrift für internationale Klee-Studien 10 (2021), S. 59–77.

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Abb. 2: Tibetanisches Räuchergefäß, Geschenk von Carl Einstein an Gottfried Benn.

eben diesem Zeitpunkt rekapitulieren.²⁴ Einstein hat seine ganz und gar affirmative Besprechung von Benns „Gesammelten Gedichten“ in Berlin verfasst, bevor er 1928 nach Paris übersiedelte, nicht zuletzt auch um rechtsradikalen Anfeindungen zu entgehen: „hier poebeln keine nazis.“ (Br. 353) Aus Paris schreibt er an Sophia Kindsthaler und Ewald Wasmuth 1930: „Von Benn hoere ich hie und da.“ (Br. 335) Meines Wissens sind diese Briefe Benns und Einsteins eventuelle Antworten nicht

24 Ein Photoportrait Einsteins von Gotthard Schuh aus eben dieser Zeit (Paris 1932, Fotostiftung Schweiz, abgedr. zu Br. 372) erfasst Einsteins ambivalente Haltung treffend – Franzosen würden das Bildnis ,emblematisch‘ nennen.

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erhalten. Es wäre aber auch schon merkwürdig, wenn sich die beiden bei Benns sicher bezeugtem Aufenthalt in Paris Sommer 1929 und einer von Helmut Berthold erschlossenen dritten Reise von 1931²⁵ nicht getroffen hätten. Noch am 11. März 1931 nach einem (nicht genau datierten) Gastvortrag in der Berliner Staatlichen Kunstbibliothek²⁶ gesteht Einstein gegenüber Wasmuth: „Berlin fand ich, abgesehen von Benn, trostlos eingeschlafen.“ (Br. 351) Maria Jolas’ Erinnerung, Einstein habe Benn „en visite à Paris“²⁷ aus politischen Gründen nicht sehen wollen, kann nicht stimmen, zumal von einer Paris-Reise Benns um 1933 nichts bekannt ist. Eugene Jolas – der Carl Einstein „[his] friend“²⁸ nennt – berichtet in seiner Autobiographie „Man from Babel“, dass ihm Einstein 1929 geraten habe, Repräsentanten des Expressionismus und der Weimarer Kultur kennenzulernen, bevor es mit beiden zu Ende ginge. Dass Einstein zur Begründung für seinen Ratschlag nicht seinen Freund Benn an erster Stelle nennt, sondern stattdessen Alfred Döblin und George Grosz, und dass Jolas in Berlin erst über Döblin zu Benn findet, ist wohl Jolas’ Erinnerungsvermögen – besser: einer Verdrängung – geschuldet. Auch der Verfasser der Erinnerungen, der als amerikanischer Presseoffizier zum Zwecke der ,reeducation‘ nach Deutschland zurückkehrte, hatte die Nähe seines Romantizismus zur faschistischen Mythologie nie völlig durchschaut, geschweige denn ,verdaut‘.²⁹ Das Ende dieser Freundschaft bringt die Forschung mit Benns kurzem Engagement für den Nationalsozialismus in Zusammenhang. Belegbar ist ein Einstein’sches Verdammungsurteil allerdings nicht. Zwar schreibt er an Wasmuth am 24. September 1932 aus Paris:

25 Vgl. Helmut Berthold: Die Lilien und der Wein. Gottfried Benns Frankreich, Würzburg 1999, S. 54. 26 Das Typoskript ist erhalten (vgl. CEA, 315, abgedr. in: Carl Einstein: Werke, Bd. 3: 1929–1940, hg. v. Marion Schmid und Liliane Meffre, Wien und Berlin 1985, S. 576–582; im Folgenden unter der Sigle (W 3) und mit Angabe der Seitenzahl im laufenden Text nachgewiesen); der Text weist etliche Tippfehler auf, die nicht von Einstein stammen können: zweimal „Mirow“ statt „Miró“, und am Anfang muss es heißen: „die Krise der Latinität“ statt „Grieche der Latinate“. Möglicherweise hat Einstein diktiert, und die Stenotypistin sächselte vermutlich. 27 Liliane Meffre: Carl Einstein 1885–1940. Itinéraires d’une pensée moderne, Paris 2002, S. 71. 28 Eugene Jolas: Man from Babel, hg. v. Andreas Kramer und Rainer Rumold, New Haven und London 1998, S. 123. 29 Jolas hat jedenfalls im Winter 1929–1930 engen Kontakt mit Benn, von dem er nicht nur einige Schriften in „transition“ übersetzt, sondern den er geradewegs verehrt. Der advisory editor von „transition“, Einstein, zuständig vor allem für Illustrationen (vgl. Br. 327), hat zumindest nicht moniert, dass Benn noch im Jahr 1935 nach seiner Meinung zur„malady of language“ befragt wurde, aber vielleicht war Einstein auch gar nicht informiert.Vgl. Eugene Jolas: Inquiry about the malady of language, in: Transition. An Intercontinental Workshop for Vertigralist Transmutation 23 (Juli 1935), S. 144; Benns Antwort findet sich auf S. 145–146 (SW IV, 213–214).

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uebrigens finde ich seit langem den guten Benn etwas reichlich banal. schliesslich kann man das auf die dauer weder mit medizinischen terminis [sic], noch mit metafern verdecken. die medizinerei bei Benn ist falsche, allegorische moderne. (Br. 375)

Was meint: Die Benn’sche Moderne ist Einstein nicht ‚direkt‘ genug (vgl. CEA, 10_2_8). Zu diesem Zeitpunkt waren Benns kompromittierende Schriften von und zu 1933 noch gar nicht erschienen, und dessen wie auch Einsteins Hang zu kollektiven, quasi ,primitiven‘ Mythen war Anfang der 1930er Jahre gewiss nicht inkompatibel; das Thema war durchaus unter Freunden diskussionsfähig. Im Almanach des Flechtheim-Verlags, „Omnibus“ für das Jahr 1932, in dem sowohl Benn – Auszüge aus seinem Oratorium „Das Unaufhörliche“³⁰ ‒ als auch Einstein veröffentlichen (s. u.), könnte sich aber – neben Einsteins oben zitierter ‚medizynischer‘ Ironie³¹ – ein weiterer Riss in der Übereinstimmung der beiden andeuten. Einsteins Mythensuche – mit Franz Werfel gesprochen³² – in der „Negerplastik“ hält gewiss bis zum pathetischen Ende der Monographie zu „Georges Braque“³³ vor – man denke auch an die Basler Braque-Ausstellung (9. April 1933–14. Mai 1933), die Einstein kuratiert. Allerdings hatte sich wohl schon vor der späten Publikation der „Afrikanischen Legenden“ 1925, in denen sich eben kein kohärentes Vorbild für einen modernen Mythos fand, eine immer mächtiger werdende Seitenlinie der Ethnologisierung und Historisierung in Einsteins Diskurs abgespalten. Benn widmet dem Freund 1927 noch uneingeschränkt seine ‚Südseeträume‘ in den „Meer- und Wandersagen“ (zweimal das Wort im Singular [vgl. SW I, 62–63, V. 4 und 36]). Einsteins Bewunderung ist gewiss nicht halbherzig,³⁴ merkwürdig ist nur, dass er als Rezensent der„Gesammelten Gedichte“ 1927 die exotistisch-primitivistischen Gedichte keines Wortes würdigt, sondern Benns frühe, antikische „Karyatide“ (SW I, 38) hervorhebt. Könnte ein ,Riss‘ weiter belegt werden? Einsteins Vorwort zur Ausstellung von Südseeplastiken in der Galerie Flechtheim 1926 wurde zweimal 1927 und einmal 1932 ins Englische übersetzt³⁵ und mit oder auch ohne Zutun des Verfassers in der

30 Gottfried Benn: Das Unaufhörliche, in: Omnibus (1932), S. 33–36. 31 Vgl. Monika Fick: Medizynische Lyrik, in: Benn-Handbuch [Anm. 1], S. 296–297, hier: S. 296. 32 Vgl. Franz Werfel: Spiegelmensch. Magische Trilogie, München 1920, S. 130. 33 Vgl. Carl Einstein: Georges Braque, übers. v. M. E. Zipruth, Paris, London und New York 1934, S. 140. 34 Vgl. Peter Uwe Hohendahl: Einleitung, in: Benn – Wirkung wider Willen. Dokumente zur Wirkungsgeschichte, hg. v. dems., Frankfurt a. M. 1971, S. 1–88, hier: S. 33. 35 Die Angabe unter dem „Omnibus“-Artikel von 1932, „Art and Archaeology, Washington 1927“ (Carl Einstein: Masks and Magic in the South Seas, in: Omnibus [1932], S. 103–109, hier: S. 109), weist auf eine erste Übersetzung (von Anonym) zurück (vgl. Carl Einstein: Masks and Magic in the South Seas, in: Art and Archaeology 23 [1927], H. 3, S. 125–128), die bereits das abrupte Ende besaß, das Benn

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Schlusspassage verschärft. Die „dämonische Zerrissenheit und Gespanntheit“ (BA 2, 405) der Insulaner wird in der Übersetzung nicht mehr durch „befreundete und verehrte Totemtiere beruhigt“, sondern es heißt: No other art so clearly and emphatically displays mental instability due to the continuous presence of demoniac hordes, and the spiritual tension common to all these islanders which invariably goes hand in hand with social disintegration.³⁶

„[D]emoniac hordes“ und „social disintegration“ – indirekte Warnungen vor der Wirkung nationalsozialistischer Mythen? Was geschah zwischen 1927, da sich Einstein nachweislich mit Benns Gedichten beschäftigte, und 1933? In der ökonomischen und politischen Krise reaktiviert Einstein die radikale Kunstkritik aus seinen Berliner Polit-Dada-Zeiten. Der nach 1933 Ausgebürgerte ist finanziell ruiniert. Er verabschiedet die Hoffnung der Avantgarde, die Gesellschaft – durchaus noch im Sinne Schillers – ästhetisch umzubilden. „Die Fabrikation der Fiktionen“, die zwischen 1930 und 1936 in zwei Fassungen entsteht, enthält eine soziologische bzw. ethnologische Analyse der Situation. Einsteins Zeitgeist-Kritik ist zwar scharf, ja satirisch pointiert, aber jede persönliche Polemik unterbleibt. Im Sommer 1936 bricht Einstein nach Spanien auf,³⁷ tauscht im Kampf gegen Franco und den Faschismus, wie er an Kahnweiler

zumindest 1932 zur Kenntnis genommen haben sollte. Frönte der Flechtheim-Verlag mit dem Abdruck gerade dieser englischen Fassung nur einen Internationalismus (der Almanach bringt englische und französische Beiträge) und warum wählte man (Einstein?) nicht eine andere Fassung? In einer weiteren Übersetzung ins Englische durch (vermutlich) Louis Hamilton, einem Berliner Dozenten und Wasmuth-Autor, ist das Ende durch „friendly and revered totem animals“ (A Collection of South Sea Art, in: The Arts 11 [1927], S. 23–28, hier: S. 28) ausbalanciert, so auch ebenfalls in der niederländischen Übersetzung „Plastiek uit den Bismarck-Archipel“ (in: Nederlandsch-Indie oud & nieuw 13 [1928], H. 7, S. 209–216) – so wie eben auch in Einsteins ursprünglicher Katalog-Version. Sowohl die zeitgenössische Übersetzung der „Sculptures Mélanésiennes“ (in: L’Amour de l’Art 7 [1926], S. 253–258) als auch die Neuübersetzung von Isabelle Kalinowski (La statuaire des mers du Sud, 1926, in: Gradhiva. Revue d’anthropologie et d’histoire des arts 14 [2011], S. 189–193) folgen der Erstfassung. 36 Einstein: Masks [Anm. 35], S. 109. 37 Dieser Aufbruch wurde bislang immer etwas mystifiziert. Dank der mir von Josep Massot (Barcelona) mitgeteilten lokalen Pressberichte (katalanisch) kann festgestellt werden: Einstein reiste zusammen mit dem Maler Jean Lurçat und der Journalistin Georgette Camille im Auftrag des 1936 in Paris gegründeten Maison de la Culture nach Barcelona und überbrachte eine Grußbotschaft seitens der französischen Kommunisten und Surrealisten für die Freiheitskämpfer, dies auch im Namen mehrerer anderer kultureller Einrichtungen (vgl. „La Humanitat“, 14. August 1936). Im Casal de la Cultura hielt er knapp ein Jahr später (vgl. „Solidaridad Obrera“, 18. September 1937) eine Rede über „Die Intellektuellen und der Krieg“, die Themen der „Fabrikation der Fiktionen“ aufnahm. Als „conseller de Cultura“ verhandelte er auch mit dem katalanischen Kuturminister Ventura Gassol

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schreibt (vgl. Br. 416), den Schreibstift gegen das Gewehr. Wie schon angedeutet taucht weder in „Georges Braque“ noch in der „Fabrikation der Fiktionen“ der Name Benns auf. Dabei findet sich eine der Einstein’schen ähnliche Intellektuellenschelte auch in Benns „Der neue Staat und die Intellektuellen“, und überhaupt ist Einsteins „Fabrikation der Fiktionen“ eine massive Selbstkritik, die damit auch – angesichts zahlreicher Affinitäten – eine Benn-Kritik wäre. Konkrete Quellen und Angaben fehlen mit wenigen Ausnahmen, auch zu anderen Personen.³⁸ Es ist im Übrigen sicher anzunehmen, dass Benn weder die (verspätete) französische Publikation des Braque-Buches noch das Manuskript der „Fabrikation der Fiktionen“ gekannt hat. Wenig wahrscheinlich ist es wiederum, dass Einstein von den Schriften und Rundfunkreden Benns der Jahre 1933–1934 Kenntnis hatte. Allerdings gibt es ein dichtes Netz von Anspielungen und Begriffen, das ‒ zunächst in affirmativer Wertung ‒ die Einstein’sche Gedicht-Rezension von 1927, auch die zweite und dritte Auflage der „Kunst des 20. Jahrhunderts“, „Georges Braque“ (wie gesagt: geschrieben 1931–1932) und dann ‒ mit negativem Vorzeichen ‒ die „Fabrikation der Fiktionen“ durchzieht und in dem sich eine Gestalt als zentrales Gegenüber abzeichnet: eben Gottfried Benn. Zumal handelt der zuletzt angeführte Text überraschenderweise vorwiegend von Lyrik, also weniger von bildender Kunst, wie von Einstein eigentlich zu erwarten gewesen wäre. Im Spiegel der „Fabrikation“ sind andere Einstein-Freunde weniger gut erkennbar: Braque und Miró, eventuell auch Klee, der Kunsthändler Kahnweiler, der Sammler Reber, die Basler Mäzenin Hoffmann. Besser zu identifizieren sind Einsteins ,Feinde‘ auf Seiten des Surrealismus und Konstruktivismus, nicht zuletzt der Psychoanalyse.³⁹ Von der Gesamtheit der Intellektuellen, Wissenschaftler und Philosophen, die Einstein allesamt attackiert, wird nur Oswald Spengler zitiert, dessen „Untergang des Abendlandes“ schon 1921 Zielscheibe der Einstein’schen Polemik war (vgl. BA 2, 200).⁴⁰ Die offensichtliche Vermeidung von Eigennamen hat vor allem eine ideologiekritische Bedeutung: Das okzidentale Individuum, insbesondere der Künstler und der Intellektuelle, hatte für Einstein abgewirtschaftet. Die Masse ist „der Künstler“ (BA 2, 27), proklamiert schon Einsteins Manifest „Zur primitiven Kunst“ 1919. Das Postulat einer ,Kollektivkunst‘ in der „Fabrikation der Fiktionen“ war

über eine Ausstellung katalanischer Künstler in Paris („Diari de Barcelona“, 4. September 1936), die allerdings nicht zustande kam. 38 Picasso und Dalí, auch Joyce, werden lediglich in Randnotizen genannt. 39 In den parallel zu der „Fabrikation der Fiktionen“ entstehenden Notizen zum „BEB II“-Projekt nennt Einstein André Breton, Paul Rosenberg und Sigmund Freud beim Namen (CEA, 41_2 und CEA, 5_20), ein Mal steht das Stichwort „Benn“ (CEA, 8_). 40 Benn äußert sich grunsätzlich affirmativ zu Spengler (Vgl. Marcus Krause: Oswald Spengler, in: Benn-Handbuch [Anm. 1], S. 49).

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demnach schon früh im Ansatz vorhanden, wallte in der Folge nur gelegentlich wieder auf und wurde lange Zeit vom Prinzip ästhetischer Erziehung durch die künstlerische Avantgarde (die sich selbst für anti-idealistisch hielt) überlagert, das auch Einsteins Bewunderung für Benn fundiert, umso mehr als er in Benns Gedichten einen „Entwurf zu heutigem Mythus“ (BA 2, 506) erkennt. Dieser Mythus indessen war trügerisch… Neben der schieren Übergröße der Einstein’schen Zielgruppe – die gesamte europäische, insbesondere deutsche und französische Kunst und Kultur⁴¹ seit rund 1900 – pflegt dieser zudem einen eigenen Jargon, der nicht zweifelsfrei singuläre Personen oder gar exakt deren Eigenschaften identifiziert. Ja, Einstein trifft nicht selten auch daneben. Man muss sich auf seine Denkweise, seinen Stil einlassen, gleichviel ob sie sich mit dem Selbstverständnis der Betroffenen oder gar dem Forschungsstand decken. (Ein Manko freilich des Forschungsstands: das Ignorieren von Einsteins „Fabrikation der Fiktionen“ überhaupt.) Einige Attribute, die insbesondere auch auf Gottfried Benn zutreffen, sein Aristokratentum, Ästhetizismus, Intellektualismus, Idealismus, Primitivismus, seine Einsamkeit, seine monologische, visionäre Dichtung usw. finden sich im Übrigen im rechten wie linken Spektrum der Kunstkritik seiner Zeit. Damit wäre die Problematik der Benn-Einstein’schen Freundschaft auf die Frage zuzuspitzen: Hat Benn mit seiner Annäherung an den Nationalsozialismus nicht genau das getan, was Einstein in der „Fabrikation der Fiktionen“ und schon in „Georges Braque“ fordert? Oder umgekehrt: Führte Einsteins Proklamation eines neuen mythischen Zeitalters nicht selbst – mit der bekannten, wenn auch allzu kruden Formulierung Bernhard Zieglers „in den Faschismus“?⁴² Der totalistische Begriff des Mythos blendet Differenzierungen aus und verführt quasi zwangsläufig zum Missbrauch. ‚Imperativʻ (vgl. SW IV, 119) fordern Benn wie Einstein gleicherweise die „Einordnung“ der Künstler und Intellektuellen in ein neues Gemeinwesen. In einem „langen Essay“ (Br. 407), den er über eine Ausstellung italienischer Renaissance im Pariser Petit Palais, Paris vom 16. Mai bis 21. Juli 1935,⁴³ schreiben „musste“ – also wohl eine Auftragsarbeit, die aber nicht veröffentlicht wurde – polemisiert Einstein

41 Im „Europa Almanach“, den er 1925 zusammen mit Paul Westheim herausgibt, druckt Einstein Blaise Cendrars (mit dem er befreundet war), Jean Cocteau (mit dem er ein paar Briefe wechselte), Benjamin Péret, Pierre Reverdy u. a. 42 Bernhard Ziegler: „Nun ist dies Erbe zuende…“, in: Die Expressionismusdebatte. Materialien zu einer marxistischen Realismuskonzeption, hg. v. Hans-Jürgen Schmitt, Frankfurt a. M. 1973, S. 50–60, hier: S. 50. 43 Vgl. Exposition de l’art italien de Cimabue à Tiepolo. Peintures, hg. v. Seymour Ricci, Paris 1935. Der Katalog wurde u. a. auch von Paul Valéry bevorwortet.

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zwar gegen „die eitel trunkene rassenmetaphysik der Deutschen“ (CEA, 192), lässt aber den italienischen Faschismus ungeschoren: In einigen Laendern wurden heute wieder festere und strengere Herr-gesellschaftsformen [sic] gebildet. Die liberal gewachsenen Kuenstler hatten bisher en marge der gesellschaft gearbeitet. Opposition war Sport. Man beanspruchte grenzenlose individuelle Freiheit. Jetzt faengt die Gesellschaft die Kuenstler wieder ein und fordert von ihnen Einordnung in bestimmte politische [gestr. gesellschaftliche] Systeme. (CEA, 192)

Und ich zitiere, weil der Text relativ unbekannt ist, noch eine weitere Stelle; das vorausgehende Zitat kann demnach kein ,Ausrutscher‘ gewesen sein: Unter neuen auspizien schickten die Italiener ihre kunstschaetze nach paris. ein staat, von selbstbewusstsein erfuellt, ist von neuem gebildet. Eine italienische gegenwart atmet, verspricht und droht. (CEA, 192)

Das erinnert durchaus an Benns „Rede auf Marinetti“, die am 29. März 1934 „Zucht und Stil im Staat und in der Kunst“ (SW IV, 119) pries. Benns fatale „Verirrung“,⁴⁴ wie Klaus Mann schreibt, war demnach eine ebenso konsequente wie kompromittierende Annäherung. Möglicherweise hat Benn seinen ‚Irrtum‘ sogar früher bemerkt als Einstein, der auf jeden Fall noch bis 1936 an der „Fabrikation der Fiktionen“ schrieb und in der Kolonne Durruti im Spanischen Bürgerkrieg vom „Kommunismus“ träumte (BA 3, 521). Allerdings etabliert Einstein einen Unterschied zwischen ,falscher‘ und ,richtiger‘ Revolution, er räumt dem Nationalsozialismus sogar einen „Anreiz für die ideal dressierten Intellektuellen“⁴⁵ ein. Es wäre jedoch ein Kurzschluss, gewissermaßen ein falscher Umkehrschluss, die politische Richtung, die Einstein verfolgt, als puren Marxismus oder Kommunismus zu deklarieren. Aus der marxistischen ‚Doktrin‘ übernimmt er lediglich das Handlungspostulat (Lenin), freilich ohne genau zu sagen, was er damit meint,⁴⁶ ja, er polemisiert gegen die französischen Surrealisten, die aktiven Anschluss an die kommunistische Partei suchen (vgl. FF 2, 145). Im Kern war die „Fabrikation der

44 Klaus Mann: Gottfried Benn. Die Geschichte einer Verirrung (1937), in: Über Gottfried Benn. Kritische Stimmen 1912–1956, hg. v. Bruno Hillebrand, Frankfurt a. M. 1987, S. 142–152, hier: S. 142 und 150. 45 Carl Einstein: Die Fabrikation der Fiktionen. 1. und 2. Fassung, m. Nachw. u. Komm. hg. v. Klaus H. Kiefer, Berlin 2022; im Folgenden unter der Sigle (FF 1) bzw. (FF 2) und unter Verwendung der Seitenzahl im laufenden Text nachgewiesen; die Angabe bezieht sich auf die Typoskriptseite der Originale; hier: FF 2, 345. 46 Den behaupteten Irrationalismus des Handelnden verficht Einstein schon seit „Bebuquin“. Er findet sich auch bei Nietzsche und Alfred Baeumler – natürlich in unterschiedlicher Qualität.

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Fiktionen“ eine eigenartige – im Sinne Einsteins – soziologische, vor allem aber ethnologische Kritik („Ethnologie du Blanc“ [W 3, 569])⁴⁷ am wirtschaftlichen und weltanschaulichen Liberalismus, der in die Weltwirtschaftskrise geführt hatte. Als Soziologe konzentriert er sich auf die Frage, wem die neuere Kunst und Literatur nützt – nämlich einer aufstrebenden, ja dominanten Minorität von Parvenus, die sich mit der Unterstützung von Kunst und Wissenschaft die Repräsentanz der Moderne erkaufen. Zielt es auf Benn, wenn Einstein schreibt: „Solch hieroglyphische Literatur ist nur für eine ausgeruhte Minorität benutzbar“ (FF 2, 371–372)? Einsteins ethnologischer Ansatz zeigt die uralten Wurzeln des modernen Dichtens und Denkens auf, das sich seiner primitiven Strukturen nicht entledigt hatte: Atavismus und Regression, Magie und Priesterbetrug reichen sich über die Jahrhunderte die Hand. Die Aktanten dieses archaischen ,Schurkenstücks‘ – der Begriff wird in meinem Nachwort zur „Fabrikation der Fiktionen“ begründet (vgl. FF, 477) – belegt er mit seinem bevorzugten Schimpfwort ‚Feticheure‘, das sich eigentlich als Fachwort in der Ethnologie eingebürgert hatte. Von daher ist auch Einsteins fulminante Kritik an der Neoprimitive zu verstehen, die er nota bene selbst mit der „Negerplastik“ und anderen Schriften heraufgeführt und kanonisiert hatte. Wie fern Einstein der sogenannten Expressionismus-Debatte stand (nicht nur weil die „Fabrikation“ unveröffentlicht war), zeigt sich daran, dass er sowohl eine Widerspiegelungstheorie à la Lukács als auch einen „zerfällenden“ Realismus à la Bloch gut ethnologisch mit archaischem Schadenzauber vergleicht: „Sie wähnten, es genüge eine Photographie zu durchbohren, um das Original zu Tode zu bringen.“ (FF 1 und 2, jeweils 110) Benns Schaffen erscheint geradewegs als Paradebeispiel für Einsteins späte Kritik (und wie bemerkt: Selbstkritik) – ich sagte ja schon, dass die „Fabrikation der Fiktionen“ sich schwerpunktmäßig mit Lyrik befasst⁴⁸ –, und es gibt keinen anderen Lyriker, auf den die Analogien zwischen der Einstein’schen Besprechung von Benns Gedichten 1927 und der„Fabrikation der Fiktionen“ so zutreffen wie eben auf Benn selbst.⁴⁹ Die Indizien reichen vom „bescheidenen Entgelt“ (FF 1, 12 und FF 2, 7)

47 Zum Projekt für die „Nouvelle Revue Française“ vgl. CEA 12_38 und CEA, 222_11. 48 Benn nennt seine gesamte – die ,expressionistische‘ – Generation „lyrisch“ (SW IV, 177). 49 Einstein hält Benjamin Pérets „Le grand jeu“ für die „mutigste Arbeit“ der Gruppe um André Breton, dem die Gedichtsammlung auch gewidmet ist. (Carl Einstein: Die Kunst des 20. Jahrhunderts. Propyläen Kunstgeschichte 16, 2. und 3., jeweils veränderte und erweiterte Auflage, Berlin 1928 und 1931; im Folgenden unter der Sigle [K 2] bzw. [K 3] und unter Verwendung der Seitenzahl im laufenden Text nachgewiesen; hier: K 3, 126.) Pérets Stil, Motivik und Grammatik passen aber viel weniger (eigentlich gar nicht) zu Einsteins Thesen als Benns Dichtung, lediglich die allgemeinen Verfahren und Merkmale des Surrealismus wie Automatismus, Halluzination, Irrationalismus usw. haben einen gemeinsamen Nenner bei Benn und Péret.

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vor allem der Schriftsteller (nicht der künstlerischen „Champions“, wie Einstein – mit Blick auf Picasso [vgl. CEA, 47–2] – sagt), das der bescheidene Kassenarzt haarklein berechnet (vgl. SW III, 162), bis hin zu Syntax, Metaphorik und Reim der Benn’schen Gedichte seit 1922. Von einem direkten Einfluss Einsteins auf den zweiten Teil der „Gesammelten Gedichte“ zu sprechen, wäre indes verfehlt. Benn holt seine primitivistischen Inspirationen aus der Biologie, der Medizin – wovon Einstein so gut wie nichts verstand ‒ und aus der „Staatsbibliothek“ (SW I, 85).⁵⁰ Doch gerade hier, an der kulturellen ,Erbmasse‘ knüpft Einstein an, und was sowohl ihm als auch Benn als Inspiration und mythisches Modell für Schöpfung und Erneuerung gedient hatte, erscheint Einstein nun als „totes Material“, das „ziellos in Reimen zusammenlief“ (FF 1, 352): Blockade für revolutionäres Handeln, also schlechthin reaktionär. Der von Einstein attackierte ‚passive‘ Automatismus der Gedichte und Visionen ist nicht nur bei den Surrealisten festzumachen, sondern auch und gerade an Benns „halluzinatorisch-konstruktivem Stil“ (SW III, 393), wie dieser selbst sagt. Immerhin konzediert Einstein Benn ,Tektonik‘, einen Formbegriff, den er seit seinen frühen Wölfflin-Studien favorisiert. Er sieht sogar eine Übereinstimmung⁵¹ von Benns Stil mit Picassos „halluzinativ-tektonischer Art“ (K 2, 81), denn höchstwahrscheinlich ist es der derzeit noch bewunderte Freund, von dem in folgender Passage der „Kunst des 20. Jahrhunderts“ (in der zweiten Auflage von 1928) die Rede ist: Bei neueren Dichtern überrascht mitunter die Vorliebe für das Substantiv. Man eilt eben von Totalität zu Totalität, Schnelligkeit der Summationen. Das Tempo der Vorstellungen ist verstärkt; man reißt zusammen, die tektonischen Hauptmomente werden herausgestellt. Jedoch sind diese Substantive keineswegs rationale Begriffe, sondern komprimierte, abgekürzte Visionen […]. Nicht anders die Teilformen in den Bildern der Kubisten […]. (K 2, 81)⁵²

In der „Fabrikation der Fiktionen“ heißt es nur noch: „Eine Folge von Substantiven oder embryonalen Sätzen rollt hervor, die sich zum hilflos summarischen Katalog

50 Benns Traumreisen gehen zunächst ans Mittelmeer, dann vor allem an die Südsee. Einstein setzt seinen Afrikanismus nie unmittelbar kreativ um; schon 1921 beklagt er die ,Negermode‘: „Hilflos negert der Unoriginelle.“ (BA 2, 61) Dem primitiven Mythos-Begriff, den er zuerst in der „Negerplastik“ realisiert sah, hängt er bis die 1930er Jahre nach. Seine durchaus kritische „Ethnologie du Blanc“ erfasste jedoch kaum die Verstrickung von Mythos und Machtkampf in der unmittelbaren Gegenwart. 51 Einsteins Begriff „Gegenbeispiel [aus der Dichtung]“ (K 2, 81) ist nicht als konträr, sondern als komplementär zu vestehen. 52 K 3, 88, ändert lediglich ein paar Wörter; die Kernaussage bleibt erhalten. Einstein hat möglicherweise die Teilveröffentlichung von „Epilog und Lyrisches Ich“ 1922 gelesen: „Worte, Worte ‒ Substantive! Sie brauchen nur die Schwingen zu öffnen und Jahrtausende entfallen ihrem Flug“ (SW III, 133).

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der Sensationen reimt.“ (FF 2, 176) „Man fixierte lediglich den isolierten subjektiven Vorgang, sei es in bildhaften Psychogrammen oder im Absturz der halluzinierten Analogien.“ (FF 1, 31) Die Beispiele ließen sich vermehren. Einstein beklagt nirgends Benns Parteinahme für den „neuen Staat“, vermutlich kannte er die entsprechenden Rundfunkansprachen und Schriften wie gesagt gar nicht – er ist bankrott und versetzt seine Uhr, um Schreibpapier zu kaufen; Zeitungen liest er (kostenlos) im Café. Allerdings scheint er Benns Desavouierung durch die Nationalsozialisten vorwegzunehmen, wenn er in einer Notiz zu „BEB II“ – der parallel zur „Fabrikation“ entsteht – schreibt: Als die Bande der artistischen Spekulanten zerplatzt war, gingen die Spießer auf die Suche nach einem Feldwebel. Sie unterwarfen sich begeistert dem Mann, der die ältesten und bequemsten Schlagworte, abgeleierte Commerslieder auf seine Walze gelegt hatte. Die Spiesser nannten rühmend dies ihre Revolution […] (CEA, 134_39)

Die Zeitenfolge des Zitats mag irritieren, ökonomische Spekulation und ästhetische Imagination wirken jedoch im Sinne von Einsteins Antiliberalismus analog, vor wie nach 1933. Der Flirt der „abgespaltenen Typen“ mit den „neuen Manieren“ (FF 1, 96) platzte in der Tat erst nach 1934. Zum Zeitpunkt der Notiz hat Hitler offenbar die Macht schon ergriffen. Während der Wahlpariser Einstein den ,Führer‘ noch als „Riesenspiesser“ (CEA, 52_6_13) verkannte und die Nazis als wildgewordene Kleinbürger, erlebte Benn überlebensgroß ein Volk, das „sich züchten“ (SW IV, 27) will. Er betont, „daß man über die deutschen Vorgänge nur mit denen sprechen kann, die sie auch innerhalb Deutschlands selbst erlebten.“ (SW IV, 24) Erlebnisse, ob in Berlin oder Katalonien, können täuschen. Auch Thomas Mann hatte sich einmal in seiner „Schicksalsergriffenheit“ (SW V, 96) – wie Benn weiß – getäuscht. Der springende Punkt für Benn ist, dass das faschistische Erlebnis 1933–1934 die leidige Spaltung zwischen Zeichen und Konvention aufhebt. Erlebnis, Gemeinschaft, Volk: halluzinogene Schlüsselwörter des 20. Jahrhunderts. Kommen wir noch einmal auf Benns „medizinerei“ zurück, die Einstein 1932 ‒ nach dem Treffen der beiden Anfang 1931 ‒ so banal findet. Gewiss kann sich das auf Benns aktuelle Schriften, wie etwa „Irrationalismus und moderne Medizin“ (SW III, 340–342), beziehen und Einstein verbindet damit auch ‒ wie schon zitiert ‒ eine Kritik am Benn’schen Diskurs, aber wenn man Einsteins Idiolekt kennt, kann sich das Wort auch – als ironische Synekdoche – gegen Benns ,weißen‘ Rassismus richten, der 1931 freilich noch nicht politisiert war. Zur Einschätzung der Briefäußerung ist zu beachten, dass Einstein in seinem Briefwechsel mit Ewald Wasmuth (der auch mit Benn befreundet war) politische oder gar rassistische Themen vorsichtig angeht. In einem Brief an den Philosophen vom Juni 1932 wird er aber sehr deutlich:

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[I]ch moechte nicht als emigrant enden und fuer heinesche jammerlappen fehlt mir die schlankheit. es ist zum Kotzen sehr schoen, man hat seine freunde etc, aber immer in einer fremden sprache leben, ist auf die dauer toetlich. das lebendige element fehlt. natuerlich wird sowas den heutigen deutschen bei einem juden etwas merkwuerdig oder als mache vorkommen. leider ist es so. denn es ist mir, besonders seit der kulturbolschewism erfunden ist, wohl recht schwer in dies deutschland der rassigen patentcharaktere mich einzugewoehnen. (Br. 372)

In Einsteins Schriften seit 1927 taucht der Begriff ,Rasse‘ signifikant selten auf – gerade im Vergleich zu Benns Gedankenwelt. Aber auch Einstein ist der Gedanke eine „Züchtung durch Kunst“ (CEA, 226) – der schon von Nietzsches „Willen zur Macht“ herrührt⁵³ – nicht fremd. Die beiden Freunde könnten also 1931 in Berlin durchaus auf einer gemeinsamen Basis – etwa „Was ist Volksgemeinschaft, was Kollektive?“ (SW IV, 29) – über Alternativen zu Liberalismus und Kapitalismus diskutiert haben (Abb. 3),⁵⁴ so wie Einstein schon im Dezember 1922 – noch per Sie – der verehrten Tony Simon-Wolfskehl meldet: wenn Sie wollen, sehen Sie sich die letzte Kunstblattnummer an, da ist er von Grossmann gezeichnet, wie ich ihn [Erich Unger ‒ der Benn wohlbekannt war]⁵⁵ über die Vorzüge des Bolschewism aufkläre. (Br. 118)

Ob es eine Auseinandersetzung gegeben hat und wie scharf diese gewesen ist, wissen wir nicht. Einstein hat aus seiner ,linken‘ Einstellung nie ein Hehl gemacht. Aber er ist auch hier Zyniker; an Ewald Wasmuth schreibt er am 28. Oktober 1931: dank der weltlage blieb der brief liegen; uebrigens soll es den russen auch gar nicht gut gehen; das system stalin hat sie eben in den prozess der kapitalistischen laender miteinbezogen, im uebrigen ist es ja wurcht ob man durch die kapitalisten oder die anderen expropriiert wird. das zweite verfahren ist zweifellos aufrichtiger. (Br. 353)

Verblüffend ist jedenfalls, wie massiv Benn schon im Mai 1933 seine Position in der „Antwort an die literarischen Emigranten“ formuliert; im Vorwort zu „Der neue

53 Vgl. Friedrich Nietzsche: Der Willen zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte. Ausgewählt und geordnet v. Peter Gast unter Mitwirkung v. Elisabeth Förster-Nietzsche, 13. Aufl., Stuttgart 1996, S. 581–583. 54 Abb. 3: Rudolf Grossmann: Carl Einstein, zuerst publiziert in Max Herrmann (Neisse): „Was macht die Kunst?“, in: Das Kunstblatt 6 (1922), S. 479–482, hier: S. 481. 55 Erich Ungers Schrift „Wirklichkeit, Mythos, Erkenntnis“ (München 1930) nennt Benn in „Doppelleben“ als für seinen Weg bestimmend (SW V, 86). Einstein dürfte Ungers Position zumindest gekannt haben. Allerdings schneidet er mit der „Fabrikation der Fiktionen“ vor 1933 liegende (eventuelle) Einflüsse radikal ab oder versucht es immerhin. Benn bleibt sich treu.

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Abb. 3: Rudolf Grossmann: Carl Einstein, 1922.

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Staat und die Intellektuellen“ spricht er von einer „fünfzehnjährigen gedanklichen Entwicklung“ (SW IV, 41). Das kann Einstein nicht verborgen geblieben sein. Es ist klar, dass Einstein Benns Engagement 1933–1934 nicht gutgeheißen hätte, nicht nur weil er selbst von der deutschen Rassepolitik persönlich betroffen ist. Aber Benn hat auch in diesen beiden finsteren Jahren an Werten festgehalten, etwa der„Geistesfreiheit“ (SW IV, 17–18), die eigentlich seiner Propaganda für den „totalen Staat“ (SW IV, 17 und 33) widersprachen und die auch Einstein nie völlig in Abrede gestellt hätte: „écrire et peindre“ – und ich ergänze aus dem Kontext: „penser“ – „librement“ (Br. 417), so an Picasso am 6. Januar 1939 und so allerdings erst wieder nach dem spanischen Desaster. Auch Einstein führte ein ,Doppelleben‘, nahm spätestens nach seiner Verwundung an der katalanischen Front in Barcelona wieder Verbindung mit dem Surrealismus nahestehenden Künstler- und Intellektuellenkreisen auf, die man als radikaler Kommunist oder Anarchist eigentlich hätte meiden müssen – obwohl es auch Surrealisten gab wie Benjamin Péret, die auf Seiten Durrutis kämpften. (Es gibt keinen Beleg dafür, dass Einstein und Péret einander begegnet wären.) Kunst erscheint Einstein in dieser Zeit nur noch als ,sekundär‘: „Ein neuer geistiger Stil ist nur nach einer Revolution möglich, die abgeänderte soziale Tatsachen schafft und andere menschliche Typen hervorbrachte.“ (FF 1, 457) Geist entspringe der Tat: „Die Kameraden werden die Literaten lehren, die Grammatik im kollektiven Sinn zu erneuern.“ (BA 3, 520) Allerdings, nach dem als sicher geglaubten Sieg über den spanischen, deutschen und italienischen Faschismus möchte Einstein selbst seine schriftstellerischen Aktivitäten – „écrire de la bonne prose“ (Br. 411) – sowie seine ästhetischen Untersuchungen ‒ „une esthétique expérimentale“ (Br. 419) ‒ wieder aufnehmen. Benn konnte seinen Weg zu Ende gehen, ob man seine Gedichte nun noch als „rein“⁵⁶ empfinden mag oder nicht. Einsteins „Fabrikation der Fiktionen“ schiebt jedenfalls einer autonomistischen Wertung aller Kunst einen Riegel vor: „Eine artistisch selbständige Literatur dünkt uns ein Nonsens. Die ästhetische Fiktion zwingt uns automatisch in Regression.“ (FF 2, 467) Oder mit anderen Worten: „Aesthetisch war man Revolutionär, praktisch verhielt man sich reaktionär.“ (FF 2, 352) Ob Benns und Einsteins Freundschaft das Dritte Reich überdauert hätte, wie etwa die Freundschaft zwischen Jean Cocteau und Arnold Breker, der Cocteau 1929 und 1962–1963 in Bronze verewigte, ist reine Spekulation.

56 Die Frage stellt Klaus Mann 1937 (und beantwortet sie positiv), vgl. Mann: Gottfried Benn [Anm. 44], S. 144.

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3 Der Mythos vom Mythos Benn wie Einstein haben ähnliche Vorstellungen von der Entstehung des Mythos.⁵⁷ Wie schon Ernst Cassirer vermutete,⁵⁸ besitzen Sprache und Mythos einen gemeinsamen Ursprung im Verhältnis von Zeichen und Kommunikation. Während die Arbitrarität des Zeichens Narrative und Mythen (unendlicher und durchaus konkurrenter, wenn auch sich selbst relativierender Zahl [vgl. FF 1, 30]) entbindet, erfordert die zwischenmenschliche Verständigung, also die Konvention, Organisation und Kontrolle. Diese Maßnahmen reichen von der sich mehr oder weniger selbst regulierenden Grammatik über Normen, Riten etc. bis hin zur gewaltsamen Beseitigung von ,Missverständnissen‘: im Irrenhaus (vgl. B, 24), auf dem Scheiterhaufen oder im KZ. Benn wie Einstein – beide bibelfest – waren fasziniert vom primordialen Mythos des Logos, „dem zeugenden Wort“ (FF 2, 326). Einstein verfolgt diese Idee zurück bis zur „Genesis“, zum „Johannesevangelium“ und dem kindlichen Spracherwerb. Auch in diesem Punkt greift die Einstein’sche Autobiographie, d. h. das „BEB II“-Projekt, Thesen der „Fabrikation der Fiktionen“ auf. Mythen und Menschen (und so auch der junge Beb [CEA, 7_4 und 27]) können, nach Nietzsche: ,müssen‘,⁵⁹ lügen. An Mallarmé, dem Klassiker der Moderne, exemplifiziert Einstein die poetische Hybris, mit dem Wort auch die Welt verändern zu können. Benn ist diesem Wahn ebenfalls verfallen, obgleich er wenn er es nicht wahrhaben will (vgl. SW VII, 174). Aber warum hätten die Nazis ihn sonst verboten? Benn war zu ,wortmächtig‘. Einstein stellt in der „Fabrikation der Fiktionen“ klar: „Alle Dichtung ist in einem alten Bedürfnis nach Wahn verankert.“ (FF 2, 187) Benn wie Einstein teilen gleicherweise die Überzeugung, dass ein Mythos kollektiv zu sein habe, auch wenn Einstein als Zwischenlösung etwa bei Klee oder Picasso ‚private‘ Mythen konzediert. Der Mythos jedoch fordert kollektive „Partizipation“ (SW IV, 35), wie Benn und Einstein bei Lévy-Bruhl gelesen haben. Das Prinzip ist so ,mystisch‘ wie ,primitiv‘,⁶⁰ also auch beliebig realisierbar; es meint jedenfalls alles andere als Reichstagswahlrecht oder parlamentarische Demokratie

57 Einstein schreibt über Mythenbildung schon in „G.F.R.G.“ (BA 1, 315 ff.) und in der „Schlimmen Botschaft“ (BA 2, 146 ff.) 1918 bzw. 1921. 58 Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil. Das mythische Denken, Darmstadt 1977 (zuerst 1924), S. IX, S. 31 u. ö. 59 Vgl. Friedrich Nietzsche: Nur Narr! Nur Dichter!, in: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 6, München, Berlin und New York 1980, S. 377. 60 Warum Einstein mythisch durchorganisierte Religionen wie Judentum oder Christentum ablehnt, ist schwer verständlich, wirken sie doch in seiner Schilderung wie negative Vorbilder eines totalen Kollektivs.

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(vgl. B, 23). Diese partizipieren lediglich an der liberalistischen Konkurrenz der Meinungen und Hypothesen, die, mit Durkheim zu sprechen, zur Anomie der Moderne führt. Einsteins „Fabrikation der Fiktionen“ verabschiedet die Idee, dass nach dem „Bankrott der Religionen“ (FF 1, 67) Kunst und Literatur das mythische Manko beheben könnten, nachdem er erkennen muss, dass selbst die radikale Avantgarde nur der kulturellen Profilierung der Parvenus dient, die die Moderne aufkaufen. Er ruft zum Handeln auf, womit kurzzeitig auch Benn konform geht – eher als Mitläufer, denn als Mittäter –, allerdings ohne dass er seine ‚subjektive‘ Kunst, den Expressionismus, in Abrede stellt. Einstein weist freilich keinen Weg, wie zu handeln sei; gegen den bewaffneten Kampf hat er dabei im Prinzip nichts. Aktionsformen und -prinzipien wie Parteidisziplin oder Generalstreik (à la Sorel) lehnt er ebenso ab⁶¹ oder ignoriert sie wie die beiden Schriftstellerkongresse zur Verteidigung der Kultur in Paris 1935 und in Valencia und Madrid 1937, an denen er hätte teilnehmen können. Anarchische Ordnung, die er in der Kolonne Durruti erlebt, war nur in kleinem, regionalem Maßstab (Katalonien) und nur kurzfristig möglich, und auch hier bedurfte es bei aller Selbstzucht und Kameraderie, was Einstein verdrängt (vgl. BA 3, 520), eines charismatischen ,inneren‘ Führers. Benn, selbst niemals Parteigenosse, möchte dagegen ,führende‘, also wertreflexive Institutionen wie etwa die Akademie der Künste (vgl. SW IV, 49) und die freie Kunst überhaupt erhalten; die brutalen Organisationsformen der Nationalsozialisten erlebt er eher ästhetisch, ja rauschhaft mitgerissen. Beiden Intellektuellen, die „ein Schicksal“ suchen, fehlt die Einsicht in die „Entschiedenheit“,⁶² mit der Nationalsozialisten wie Bolschewiken ihren Machtkampf organisieren, und zwar ganz konkret. Diese haben ‚ein Ziel‘, was Einstein bei den Liberalen schmerzlich vermisst. Mythos – fast möchte man meinen: egal welcher Natur (denn nichts ist absurd genug, als dass es die Menschheit nicht zum Mythos verklärte) – ist ihnen Mittel zum Zweck, während die mythomanen Künstler und Intellektuellen im Nebel ihres Idealismus stochern, um ein tragendes Prinzip für den noch zu schaffenden Mythos zu finden. Stammhirn, Sexualität und Traum: gewiss weniger taugliche Organisationprinzipien als Führertum und Rassismus. Gefolgschaft und Feindbild nützen dem politischen Kampf direkt – „ohne Umweg“, wie Einstein zu sagen pflegte (CEA, 10_2_8, und BA 3, 83).

61 Vgl. Einsteins von Nico Rost wiedergegebene Äußerung: „Ihr [Syndikalisten-Anarchisten] seid keine Partei, Ihr seid keine Organisation, Ihr seid ein Volk.“ (zit. in: Sibylle Penkert: Carl Einstein. Beiträge zu einer Monographie, Göttingen 1969, S. 124; in Penkerts Gottfried Benn-Seminar, Heidelberg im Sommersemester 1969, wurde mir erstmals der Name Carl Einsteins bekannt) 62 Ich vermeide hier den Ausdruck ,kriminelle Energie‘, der eher am Platze wäre, und wähle den etwas neutraleren Begriff Georg Lukácsʼ (Ders.: Die Zerstörung der Vernunft. Der Weg des Irrationalismus von Schelling zu Hitler, 4. Aufl., Berlin und Weimar 1988, S. 75).

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Künstlern und Intellektuellen geht es primär um die Konstruktion einer Wirklichkeit, eines Weltbilds, konkret: einer Theorie oder eines Kunstwerks. Den Faschisten und Kommunisten dagegen geht es um soziale Kontrolle und Manipulation, sei es durch Propaganda oder Agitprop oder, wenn nicht anders möglich, durch Sturmtrupps, also unmittelbar um Machtgewinn. Erzwungene Teilhabe! Dass bei einigen Mittätern und Mitläufern Idealismus mit im Spiel war, muss gar nicht bestritten werden. Die Menschheit hat sich seit Urzeiten darüber zerstritten, was Vernunft und was Unvernunft sei. Das Irrationale mag dabei sogar – jetzt spreche ich fast schon wie Benn – „schöpfungsnäher“ (SW IV, 27) sein, aber sehr schnell kommt es zu einer Arbeitsteilung von Dichtern und Denkern bzw. Richtern und Henkern. Kein Mythos ohne Barbarismen. Zwar gibt es einen elitären und einen stupiden Irrationalismus (und zahllose Zwischenstadien), im mythischen Kollektiv schwinden jedoch notwendigerweise immer Vernunft und Ich; hier ist nichts zu beschönigen. Die Nationalsozialisten hatten keine Intellektuellen vom Range Benns und Einsteins ‒ glücklicherweise waren sie zu dumm, um es zu bemerken. „[S]o nur mit hitler und schulze naumburg wird die sache wenig fond haben“ (Br. 372)⁶³ – entgegen Einsteins Erwartungen (gegenüber Wasmuth, Juni 1932) funktionierte das Tausendjährige Reich dann jedoch einige Jahre recht gut. Das komplexe Geflecht von Kreation und Kontrolle, von Zeichen und Gebrauch (oder Missbrauch) im Inneren jedes Mythos wird weder von Einstein noch von Benn reflektiert.⁶⁴ Auch Ernst Cassirer, als er 1946 im amerikanischen Exil über den „Myth of the State“ nachdenkt, kommt kaum über die Vorstellung einer Art von „social magic“⁶⁵ hinaus – vielleicht kommt die Menschheit auch gar nicht weiter (um damit einen Blick auf die großen und kleinen Diktatoren unserer Gegenwart zu werfen). Auf die neuere Faschismus-Forschung kann ich hier nicht eingehen. Nochmals zur Verdeutlichung: „Die Fabrikation der Fiktionen“ ist keine antifaschistische Streitschrift; sie geht auch das Problem der Ambivalenz des Mythos nicht an. Sie richtet sich ursprünglich und massiv gegen den Liberalismus, der die Wirtschaftskrise verschuldet hat.⁶⁶ Die Spekulationsblase platzte – auch in der Kunst. Künstler und Intellektuelle hatten die Krise insofern befeuert, als sie – als

63 Mit Paul „schultze naumburg“ ist vermutlich „Kunst und Rasse“ aus dem Jahr 1932 gemeint. Alfred Rosenberg: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, München 1930, wird von Einstein nie erwähnt. 64 In Entwürfen zu einer „Histoire de l’Art Moderne“, die ebenfalls Anfang der 1930er Jahre entstanden sind, wollte sich Einstein mit dem „problème d’un art fachiste“ (BA 4, 290) befassen. 65 Ernst Cassirer: The Myth of the State, New Haven und London 1946, S. 281. 66 Vgl. auch Klaus H. Kiefer: „Schulze ist der Produktive.“ – Händler und Sammler aus Carl Einsteins Perspektive, in: Zwitscher-Maschine. Journal on Paul Klee / Zeitschrift für internationale KleeStudien (2022), H. 12, S. 22–34.

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‚Feticheure‘ – die treibende Kraft der fatalen wirtschaftlichen Entwicklung, Einstein zufolge: die Parvenus, ideologisch unterstützten und die Gesellschaft ‚spalteten‘. Obwohl Einstein schon 1921 in der „Schlimmen Botschaft“ Nazifiguren („Odinsmanne“ [BA 2, 174]) auftreten lässt und in Berlin nazistischen ‚Pöbeleien‘ ausgesetzt war, rückt der Nationalsozialismus erst in zweiter Instanz ins Blickfeld der „Fabrikation der Fiktionen“:⁶⁷ Die entfesselten Spekulanten und Intellektuellen hatten jede kräftige Konvention verleugnet und gegen die kollektiven Kräfte angekämpft, um grenzenlose Freiheit zu ertrügen. Doch die erwachenden Kleinbürger hassten solche Masslosigkeit. Lehmann wünschte Führung und simple Phrase. Jetzt rollten die zurückgebliebenen und vergessenen Mittelbürger langsam stupid wie Bleiwalzen vor und vernichteten im Nu die vage Bande der finanziellen Seiltänzer und der intellektuellen Spieler. Plump und grölend zerstörten sie die papierne, spätkapitalistische Bildung, die unhaltbar war, da man keine realen Bindungen geschaffen hatte. (FF 2, 157– 158)

Einstein schreibt zwar im Juni 1932, um nochmals den Wasmuth-Brief zu zitieren: „ich war ziemlich entsetzt und angewidert, als ich die buecher du bel Adolphe hier las“ (Br. 372), und er meint wohl die beiden Bände von „Mein Kampf“, die 1925 und 1926 erschienen waren, die er aber erst vor kurzem gelesen hat. Eine weitergehende Analyse des Faschismus findet sich in der„Fabrikation der Fiktionen“ jedoch nicht – möglicherweise, weil Einstein sein Handlungspostulat im Sommer 1936 selbst in die Tat umsetzt. Seine spanischen Interviews und Publikationen handeln fast ausschließlich von Widerstand und militärischer Strategie. Es ist nicht ganz auszuschließen, dass er während seiner Hospitalisierung in Barcelona und danach, vielleicht sogar noch in Paris unter prekärsten Bedingungen Notizen zumindest zu „BEB II“ gemacht hat, er musste aber wohl einsehen, dass die „Fabrikation der Fiktionen“ Ende der 1930er Jahre von der politischen Entwicklung überrollt worden war. Ich betone abschließend, dass dies einige seiner kritischen Gedanken nicht außer Kraft setzt. An dieser Moderne, deren epigonale Ausläufer noch die Museen und Galerien fluten – von anderen Medien nicht zu sprechen – war in der Tat einiges „faul“ (FF 2, 187).

67 Die zweite Fassung lässt nicht erkennen, dass Einstein seine Faschismuskritik verstärkt oder spezifiziert hätte.

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Zwei unveröffentlichte Schreiben an Carl Einstein zur Ergänzung des Briefwechsels 1904–1940, Berlin: J.B. Metzler 2020 Br. 200a. Walter Gropius an Carl Einstein, 27. 03. 1924 den 27. III. 1924 Herrn Carl E i n s t e i n Berlin-Frohnau Feldherrenpromenade Lieber Herr Einstein! Hier beginnen Dummheit und parteigeist [sic] ihren Siegeszug.1 Ich2 schicke Ihnen anliegendes Material eiligst zu, um Sie herzlich zu bitten, der Dummheit in den Zügel zu fallen. Das Wichtigste bleibt jetzt, die öffentliche Meinung, damit die Herrschaften Angst bekommen. Der Grund ist, wie ich feststellen muß, immer wieder mehr Dummheit als Bosheit. Bitte helfen Sie in der Presse3 und zwar so schnell als irgend möglich. Am 8. April tritt der Landtag4 zusammen. Da muß einer Entscheidung herbeigeführt werden. Ich grüße Sie herzlich Ihr Anlage: Pressestimmen5 mit Bericht Idee und Aufbau des Staatlichen Bauhauses.6 von etwa erscheinenden Presseartikeln bitte ich mir Belegexemplare senden zu lassen. Quelle: Typoskript (Durchschlag), kursiv, Vermerk rechts oben: „G/Pu.“ Archiv: Bauhaus-Archiv, GN 21199, Gropius Papers II (310). Kommentar: 1Die Landtagswahlen vom 10. Februar 1924 brachten den rechtskonservativen „Thüringer Ordnungsbund“ an die Macht, der wegen angeblicher kommunistischer Tendenzen auf die Schließung des Staatlichen Bauhauses (das von Regierungsmitteln abhängig war) hinwirkte. 2Walter Gropius (1883– 1969), Architekt, Gründer des Bauhauses 1919. 3Von Einstein keine Reaktion nachweisbar; zu Einsteins Verhältnis zum Bauhaus vgl. Br. 137, 160 (Komm. 13) u. ö. sowie K 3, 193: „letzten Endes eine Handwerkschule“. 48. April 1924, Landtag des Freistaates Thüringen. 5„Pressestimmen (Auszüge) für das Staatliche Bauhaus Weimar. 1920–1924“, Weimar: R. Wagner Sohn 1924 (hg. v. László Moholy-Nagy); lag dem archivierten Brief nicht mehr bei. 6Walter Gropius: „Idee und Aufbau des Staatlichen Bauhauses Weimar“, München: Bauhausverlag 1923; lag dem archivierten Brief nicht mehr bei.

Bewundert und verdammt – Gottfried Benn und Carl Einstein

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Br. 248a. Rudolf Kurtz an Carl Einstein, 01. 02. 1926 Carl Einstein – Zum Ausgleich1 eines Druckfehlers S. 19.2 1/2 26

Ihr alter Rudolf Kurtz3

Quelle: Handschriftlicher Eintrag in Widmungsexemplar von Rudolf Kurtz: „Expressionismus und Film“, Berlin: Verlag der Lichtbühne 1926. Archiv: André Breton. La Collection, https://www.andrebreton.fr/work/56600101000448_2; nachgewiesen von Georges Sebbag: „Bataille, Leiris, Einstein. Le moment ʻDocumentsʼ Avril 1929 – Avril 1931“, Paris: Jean-Michel Place 2022, S. 59. Wie und wann das vermutlich Berliner Widmungsexemplar in die Sammlung André Bretons (Paris) gelangte, ist ungeklärt. Kommentar: 1„Ausgleich“ hier scherzhaft für „Entschädigung“ o. ä. 2Der Druckfehler S. 19 besteht in einer Falschschreibung des Titels von Einsteins „Bebuquin oder Die Dilettanten des Wunders“ („Bebuquin oder die Wunder des Dilettanten“). 3Rudolf Kurtz (1884–1960), Schriftsteller, Filmhistoriker, offenbar ein alter Bekannter Einsteins; Beleg für dessen frühe Kontakte zum Film.

II. Kolonialismus und Exotismus

Eva Wiegmann

Das nackte Objekt der Anschauung. Erkenntnistheoretischer Primitivismus bei Carl Einstein Abstract: Carl Einsteins „Negerplastik“ gilt „geradezu als die ästhetische Basisschrift“ (German Neundorfer) des Primitivismus. Dennoch entspricht diese Publikation bei genauerem Hinsehen dem allgemeinen Primitivismus-Paradigma nur sehr bedingt. Der vorliegende Beitrag unternimmt den Versuch einer Verortung des Einstein’schen ‚Primitivismus‘, der afrikanische Kunst entgegen der gängigen Bestimmung nicht mit archaischer Ursprünglichkeit assoziiert. Die Analyse macht deutlich, dass sich der Einstein’sche Primitivismus nicht als ästhetisches Urteil über afrikanische Kunst verstehen lässt, sondern seinen eigentlichen Bezugspunkt in der europäischen Moderne hat. Er lässt sich als eine Art erkenntnistheoretischer Primitivismus beschreiben, der aisthetisch orientiert auf eine Purifizierung der Perzeption kulturgeschichtlicher Überformungen gerichtet ist. Die primitive Weltanschauung ist insofern nicht als etwas kulturgeschichtlich Überkommenes gedacht, sondern als etwas eminent Modernes, das die Kennzeichen einer ästhetischen Revolution trägt.

Im Kontext der Moderne lassen sich grundsätzlich zwei Arten der Afrika-Rezeption unterscheiden: exotistische und primitivistische. Dabei liegt der wesentliche Unterschied im Umgang mit dem Anderen. Der Exotismus geht generell mit einer Wertung und stereotypisierenden Überschreibung des Anderen einher, während der Primitivismus „Anregung des Denkens und Schaffens […] durch Kunst und Kultur der Naturvölker“¹ sucht, wie William Rubin schreibt. Anders als der Exotismus neigt der Primitivismus eher dazu, über die Konfrontation mit dem Fremden das Eigene in Frage zu stellen und im avantgardistischen Sinne zu transformieren.²

1 William Rubin: Der Primitivismus in der Moderne. Eine Einführung, in: Primitivismus in der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts, hg. v. dems., München 1984, S. 9–91, hier: S. 9. 2 Vgl. Paul N’guessan-Béchié: Primitivismus und Afrikanismus. Kunst und Kultur Afrikas in der deutschen Avantgarde, Frankfurt a. M. u. a. 2002, S. 30. Im Hinblick auf eine Transformation der eigenen „kulturelle[n] Substanz“ ist es dabei gewissermaßen unumgänglich, zur eigenen Kultur in Eva Wiegmann, Düsseldorf https://doi.org/10.1515/9783111102740-006

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Eva Wiegmann

Hier wird das Fremde zu „einer Beunruhigung, einer Verunsicherung über die eigene Identität“, die aufrechterhalten und „produktiv“ gemacht wird.³ Dem Primitivismus ist insofern ein progressives Moment zuzuordnen, das in Kunst und Literatur des 20. Jahrhunderts eine „Avantgarde-Funktion“⁴ übernimmt. Dem Exotismus, wie er im gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskurs verstanden wird,⁵ kommt hingegen keine Progressivität zu. Klaus Kiefer wertet ihn ganz im Gegenteil als eine „restaurative“ Strömung.⁶ Dem ist zuzustimmen, insofern hier das Fremde seine befremdende Wirkung nicht entfaltet, sondern nur als stereotypisiertes ‚Dekor‘⁷ zum Zuge kommt,⁸ das „westeuropäische Bedürfnisse befriedig[t]“⁹ und in der

ihrem Ist-Zustand Distanz zu gewinnen. (Vgl. Klaus H. Kiefer: Diskurswandel im Werk Carl Einsteins. Ein Beitrag zur Theorie und Geschichte der europäischen Avantgarde, Tübingen 1994, S. 147.) 3 Herbert Uerlings: Inverser Primitivismus. Die ethnographische Situation als dialektisches Bild von Kafka bis Hubert Fichte, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 5.1 (2015), S. 31–50, hier: S. 32. 4 Kiefer: Diskurswandel [Anm. 2], S. 147. 5 „Unter Exotismus versteht man erstens eine Denkfigur, die in der Faszination und Abgrenzung gegenüber einem Fremden besteht, das man nicht näher kennen lernen will (es soll vielmehr als ‚exotisch‘ erhalten bleiben). […] Daneben ist mit dem mittlerweile negativ konnotierten Begriff ‚Exotismus‘ eine Richtung in der Literatur und Kunst gemeint, die ‚Exotisches‘ darstellt, indem sie Stile, Motive und Stoffe aus fremdkulturellen Erzähl- und Kunsttraditionen übernimmt oder dies dem Leser beziehungsweise Betrachter zumindest suggeriert. […] ‚Exotistisch‘ wird die Kunst dann, wenn nicht Stimmen und Zitate aus den jeweiligen Kulturen, sondern artifizielle vorgefertigte Versatzstücke des ‚Exotischen‘ als unreflektierte Ausflucht des Westeuropäers ohne eigentliches Interesse an den Kulturräumen, auf die angespielt wird, und ohne Sensibilität für die Machtasymmetrien des Repräsentationsregimes dargestellt werden.“ (Michael Hofmann und Iulia-Karin Patrut: Exotismus und Primitivismus in den Avantgarde-Bewegungen, in: Dies.: Einführung in die interkulturelle Literatur, Darmstadt 2015, S. 47–58, hier: S. 47.) Zum Exotismus in der Moderne vgl. auch Klaus v. Beyme: Die Faszination des Exotischen. Exotismus, Rassismus und Sexismus in der Kunst, München 2008. 6 Kiefer: Diskurswandel [Anm. 2], S. 147. Vgl. hierzu auch: Stephan Dietrich: Die Domestizierung des Wilden. Figurationen des Primitivismus-Diskurses in der Weimarer Republik, in: Musil-Forum 27 (2001–2002), S. 31–62. 7 „Exotische oder exotistische Kunst und Literatur weisen sich per definitionem durch eine spezifische Referentialität im Rahmen einer Abbildästhetik aus. Man besetzt Werkstrukturen welcher Art auch immer (Motive, Personal, Raum/Zeit usw.) mit fremdländischem Material – seltener aus eigener Erfahrung, meist aus zweiter oder dritter Hand; das gilt für Flaubert (‚Salammbô‘) ebenso wie für Karl May. Herkunft und Bildspender (Ostasien, Amerika, Afrika usw.) erscheinen auch eher sekundär. […] Exotismen gehören eher zum decorum, ja zum raffinement eines Werks; daher die wertungsgeschichtliche Tendenz exotischer Kunst zum Pittoresk-Trivialen.“ (Kiefer: Diskurswandel [Anm. 2], S. 147.) 8 Ein anderes Verständnis von ‚Exotismus‘ findet sich hingegen bei Victor Segalen. Der französische Schriftsteller und Ethnologe, der sich selbst als Exotist versteht, spricht vom „wundervollen Reiz der Verschiedenartigkeit“ und betont in seinen 1908 entstandenen Notizen zu einer „Esthétique du Divers“, dass „eine Steigerung unseres Wahrnehmungsvermögens hinsichtlich des Diversen“ eine

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Darstellung eurozentrische Denk- und Wahrnehmungsstrukturen¹⁰ zementiert. Im Modus des Exotismus, der – laut Annegreth Horatschek – als eine „Sonderform des von Europa ausgehenden epistemologischen Imperialismus“ verstanden werden kann, versichert sich die europäische Gesellschaft ihrer „Überlegenheit in zivilisatorischer, moralischer, religiöser, intellektueller, technischer oder ökonomischer Hinsicht“.¹¹ Charakteristisch ist diese Art des Umgangs mit dem Anderen vor allem für den künstlerischen Orientalismus,¹² auch in der späten Spielart des Japonismus. In der avantgardistischen Wortkunst zeichnet sich insbesondere die l’art pour l’artBewegung durch einen ästhetischen Exotismus aus, wie er sich in der deutschsprachigen Lyrik etwa bei frühen Dichtungen Stefan Georges zeigt. Auch die in den 1920er Jahren aufkommende ‚Neger‘-Mode, die vielfältigen Niederschlag in der Literatur findet, trägt exotistische Züge. Verwiesen sei hier etwa auf Klabunds „Der Neger“ (1920) oder auf Gedichte Gottfried Benns wie „Banane“ (1925) oder „Ostafrika“ (1925). Allerdings lässt sich in den Avantgarden nicht immer strikt zwischen Primitivismus und Exotismus unterscheiden.¹³ „Definiert als eine Ästhetik der Vereinfachung koexistiert“ der Primitivismus durchaus „mit dem Exotismus“.¹⁴ Und auch eine interkulturelle Rezeption, die auf Befremdung setzt, entkommt nicht immer stereotypen Zuschreibungsmustern und rassifizierenden Projektionen. So rekurriert auch Carl Einstein in der „Negerplastik“ sowohl in der Titelgebung als auch in der intratextuellen Akzentuierung des Dunklen auf das phänotypische Merkmal

„vielschichtige[]“ Bereicherung bedeutet: „Es besteht kein Zweifel: sie wird um das ganze Universum bereichert.“ Die „Wahrnehmung des Diversen“ schließt er kurz mit der „Fähigkeit, anders aufzufassen.“ (Victor Segalen: Die Ästhetik des Diversen. Versuch über den Exotismus, übers. v. Uli Wittmann, Frankfurt a. M. 1994, S. 58, 44, 41.) 9 Hofmann und Patrut: Exotismus und Primitivismus [Anm. 5], S. 47. 10 Exotistische Beschreibungen, wie sie sich im Kontext des Realismus etwa in „Westermanns Monatsheften“ finden, sollen im Grunde „den Nachweis der Stimmigkeit der Konstruktionen Afrikas und Australiens als Anderem der europäischen Zivilisation“ liefern. (Hofmann und Patrut: Exotismus und Primitivismus [Anm. 5], S. 40.) 11 Annegreth Horatschek: Exotismus, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, hg. v. Ansgar Nünning, 4. Aufl., Stuttgart und Weimar 2008, S. 185–186, hier: S. 185. Auch Klaus H. Kiefer schreibt, der Exotismus sei „mit einem Wort gesagt – ethnozentrisch.“ (Kiefer: Diskurswandel [Anm. 2], S. 147. Vgl. auch: Exotische Welten. Europäische Phantasien [Katalog], Stuttgart und Bad Cannstatt 1987; Weltkulturen und moderne Kunst. Die Begegnung der europäischen Kunst und Musik im 19. und 20. Jahrhundert mit Asien, Afrika, Ozeanien, Afro- und Indo-Amerika [Katalog], hg. v. Hermann Pollig, München 1972.) 12 Ein avantgardistisches Beispiel hierfür wäre etwa Paul Scheerbarts arabischer Roman „Tarub. Bagdads berühmte Köchin“ (1897). 13 Vgl. Kiefer: Diskurswandel [Anm. 2], S. 146. 14 N’guessan-Béchié: Primitivismus und Afrikanismus [Anm. 2], S. 27.

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der Hautfarbe und ruft zudem in „Afrikanische Plastik“ die Zuschreibung besonders „glatter Haut“¹⁵ auf. In der avantgardistischen Afrika-Rezeption werden trotz des proklamierten Bruchs mit konventionellen Wahrnehmungsmustern generell durchaus stereotype Zuschreibungen der ‚Einfachheit‘, ‚Naivität‘ und ‚Expressivität‘¹⁶ übernommen. Diese Attribute werden aber im Sinne einer Nietzscheanischen Umwertung der Werte mit meliorativer statt mit pejorativer Bedeutung aufgeladen. Aus afrikanischer Perspektive wird der Afrikanismus¹⁷ der historischen Avantgarden trotz der Funktionalisierung im Rahmen eurozentrischer Ästhetikdiskurse – wie beispielsweise bei Paul N’guessan-Béchié – durchaus als „Zeichen der Anerkennung“¹⁸ gedeutet, weil die avantgardistische „Ästhetik der Alterität“¹⁹ darauf bedacht ist, den Fremdheitscharakter als innovativen Impuls zu erhalten. Im Verzicht auf eine hermeneutische Aneignung werden insofern die Bedeutungsgewebe afrikanischer Kulturen in ihrem Eigenrecht belassen. Denn primitivistische Repräsentationen des Anderen rekurrieren auf dessen Unverständlichkeit, um in der ästhetischen Praxis jene verstörenden Qualitäten zu wecken, die zur Verfremdung des Bekannten führen sollen. Die ästhetische Funktionalisierung des Fremden, seine Einordnung in die Struktur des Werkes, geschieht also nicht zu dessen Abwehr oder Bewältigung. Vielmehr wird die Fremdheit als Störfaktor integriert, der an die Ordnung des Werkes selbst rührt. Mithin besteht ein signifikanter Unterschied zu einer exotistischen Abbildästhetik²⁰, in der das Fremde in einen vorgegebenen epistemologischen Rahmen gesetzt und mit eigenen Narrativen überschrieben wird.

15 Carl Einstein: Negerplastik, in: Ders.: Werke. Berliner Ausgabe, Bd. 1: 1907–1918, hg. v. Hermann Haarmann und Klaus Siebenhaar, Berlin 1994, S. 234–252, hier: S. 235. 16 Vgl. die entsprechenden Schlagwörter in: Joachim Schultz: Wild, irre und rein. Wörterbuch zum Primitivismus der literarischen Avantgarden in Deutschland und Frankreich zwischen 1900 und 1940, Gießen 1995, S. 51–52, 61, 137–138. 17 Als weniger pejorativen Gegenbegriff zum Primitivismus hat Paul N’guessan-Béchié diesen Terminus für die Afrika-Rezeption der Avantgarden eingeführt (vgl. N’guessan-Béchié: Primitivismus und Afrikanismus [Anm. 2]). 18 N’guessan-Béchié: Primitivismus und Afrikanismus [Anm. 2], S. 195. 19 Jan Gerstner: „die absolute Negerei“. Kolonialdiskurse und Rassismus in der Avantgarde, Marburg 2007, S. 60. 20 Vgl. Gerstner: „die absolute Negerei“ [Anm. 19], S. 64; auch Jean-Claude Blachère: Les Totems d’André Breton. Surréalisme et primitivisme littéraire, Paris 1996, S. 87.

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1 Carl Einsteins Verhältnis zum Primitivismus-Paradigma Carl Einsteins „Negerplastik“ gilt „geradezu als die ästhetische Basisschrift […] für die beginnende kunstgeschichtliche Rezeption ‚primitiver‘ Kunst als Kunst“.²¹ Dennoch entspricht sie selbst dem Paradigma des Primitiven nur bedingt.²² Einsteins Alteritätskonzeption hat nämlich relativ wenig zu tun mit den von Nicola Gess als charakteristisch herausgearbeiteten drei Figuren der Alterität, die im frühen 20. Jahrhundert in Ethnologie, Entwicklungspsychologie und Psychopathologie als zeitgenössische Verkörperungen des Primitiven konzipiert werden: Wilde, Kinder und Wahnsinnige.²³

Einstein selbst spricht sich in der „Negerplastik“ gegen den „Fehlbegriff von Primitivität“²⁴ aus und überschreitet das etablierte Paradigma des Primitiven an essenziellen Punkten. Während Gess’ einschlägige Studie eine detaillierte Analyse des literarischen Primitivismus im Hinblick auf die doch sehr facettenreichen Darstellungsformen des Anderen schuldig bleibt, erlaubt Robert Goldwaters Studie „Primitivism in Modern Art“ eine differenziertere Annäherung. Er gliedert das Stilphänomen in drei Hauptströmungen: 1. einen „romantischen Primitivismus“, wie er bei Paul Gauguin, der Pont-Aven-Schule oder den Fauves zu finden sei²⁵ (exemplarisch hierfür ist Paul Gauguins Gemälde „EU-Haere ia Oe“ [„Frau hält eine Frucht“], 1893); 2. einen „emotionalen Primitivismus“, der den affektiven Aspekt der Wildheit kultiviert und den Goldwater bei den deutschen Expressionisten der Brücke und des Blauen Reiters verortet²⁶ (eindrucksvoll etwa in Emil Noldes „Tänzerin“, 1913); und

21 German Neundorfer: „Kritik an Anschauung“. Bildbeschreibung im kunstkritischen Werk Carl Einsteins, Würzburg 2003, S. 28. 22 Schon Andreas Michel weist darauf hin, dass „it will be important to carefully delineate Einstein’s relationship to the concept of primitivism“, denn „the concept of the primitive plays a crucial role in Einstein’s critique of modernity it is probably the most slippery term in his already quite unconventional and polemical discourse“ (Andreas Michel: Europe and the Problem of the Other. The Critique of Modernity in the Writings of Carl Einstein and Victor Segalen. Dissertation, University of Minnesota 1991, S. 47). 23 Nicola Gess: Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige in der literarischen Moderne (Müller, Musil, Benn, Benjamin), München 2013, S. 9–10. 24 Einstein: Negerplastik [Anm. 15], S. 234. 25 Robert Goldwater: Primitivism in Modern Art, 2. Aufl., Cambridge u. a. 1986, S. 63–103. 26 Goldwater: Primitivism in Modern Art [Anm. 25], S. 104–142.

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3. einen auf formale Aspekte fokussierten, „intellektuellen Primitivismus“, der als die für den Kubismus charakteristische Ausprägung definiert wird²⁷ (anschaulich beispielsweise in Pablo Picassos „Les Demoiselles d’Avignon“, 1906/07, oder „Trois figures sous un abre“, 1907/08).²⁸ Dieser letzten Kategorie könnte der ‚literarische Kubist‘ Carl Einstein wohl am ehesten zugeordnet werden. Dennoch geht seine ästhetische Hochschätzung afrikanischer Kunstobjekte, denen er den Status des Klassischen zuweist, deutlich über die Rezeption des ‚Primitiven‘ bei den Kubisten hinaus. So sieht etwa Pablo Picasso, dessen Inspiration durch die Wobe-Masken im Musée du Trocadero legendär ist,²⁹ in diesen tatsächlich gar keine Kunstwerke, sondern nur Fetische.³⁰ So lässt er verlauten: „L’art nègre, connais pas!“³¹ Einstein hingegen behandelt die afrikanischen Plastiken explizit als ‚Kunst‘³² von hochkulturellem Wert. Afrikanische Kunst 27 Goldwater: Primitivism in Modern Art [Anm. 25], S. 143–177. Goldwater grenzt von diesen Strömungen, welche ihren Ausgang in einer Ästhetisierung des Fremden nehmen, einen Primitivismus des Unbewussten ab, welchem dann die Schlagwörter des ‚Kindlichen‘ und ‚Irren‘ zuzuordnen wären. (Vgl. Goldwater: Primitivism in Modern Art [Anm. 25], S. 178–224.) 28 Goldwater liefert allerdings keine Definition seiner Konzepte, was in der Forschung kritisiert wurde (vgl. etwa Reinhard Wegner: Der Exotismus-Streit in Deutschland. Zur Auseinandersetzung mit primitiven Formen in der Bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. u. a. 1983, S. 6; Jean Laude: La peinture française [1905–1914] et l’art nègre, Paris 1968, S. 426). 29 Vgl. etwa Daniel-Henry Kahnweiler: Die Negerkunst und der Kubismus (1948), in: Ders.: Ästhetische Betrachtungen. Beiträge zur Kunst des 20. Jahrhunderts, Köln 1968, S. 71–79, hier: S. 77. 30 „On parle toujours de l’influence des Négres sur moi. Comment faire? Tous, nous aimions les fétiches. […] Leurs formes n’ont pas eu plus d’influence sur moi que sur Matisse. Ou sur Derain. Mais pour eux, les masques étaient des sculptures comme les autres. Quand Matisse m’a montré sa première tête nègre il m’a parlé d’art égyptien. […] Les Masque, ils n’étaient pas des sculptures comme les autres. Pas du tout. Ils étaient des choses magiques. […] Contre tout; contres des esprits inconnus, menaçants. Je regardais toujours les fétiches. J’ai compris: moi aussi, je suis contre tout. […] Ils étaient pas cubistes, tout de même! […] Mais tous les fétiches, ils servaient à la même chose. Ils étaient des armes. Pour aider les gens à ne plus être les sujets des esprits, à devenier indépendants. […] Les Demoiselles d’Avignon ont dû arriver ce jour-là mais pas du tout à couse des formes: parce que c’était ma première toile d’exorcisme, oui!“ (Pablo Picasso zit. n. André Malraux: La tête d’obsidienne, Paris 1974, S. 17–19.) 31 Die Transkription von Picassos viel zitierter Aussage findet sich erstmals in Florent Fels: Opinions sur l‘art nègre, in: Action 3 (1920), S. 23–27, hier: S. 25. 32 Im deutschsprachigen Diskurs erfolgt dies erstmals bei Einstein. Dabei handelt es sich zum Teil allerdings auch um einen Transfer aus dem französischen Diskurs. André Warnod verwendet in einer auf den 2. Januar 1912 datierenden Rezension in der Zeitschrift „Comedia“ erstmals den Begriff art nègre. Interessant an Warnods Text ist allerdings nicht nur die Begriffsprägung, sondern auch die „Behauptung, daß die Kunst der afrikanischen Völker die griechische Kunst bei der Ausbildung junger Künstler ersetzten könne.“ (N’guessan-Béchié: Primitivismus und Afrikanismus [Anm. 2], S. 60; vgl. Jean-Louis Paudrat: Aus Afrika, in: Primitivismus in der Kunst des 20. Jahrhunderts [Katalog], hg. v. William Rubin, München 1985, S. 134–185, hier: S. 162.)

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wird in der 1915 erscheinenden „Negerplastik“ also nicht im engeren Sinne des Primitivismus lediglich als Ursprungskunst³³ verstanden. Auch erwächst Einsteins Interesse an ihr weder dem „Kampf gegen rationale Aufklärung“ noch dem Wunsch „Geschichte zurückzudehnen“.³⁴ Vielmehr prangert er auch noch in der der „Kunst des 20. Jahrhunderts“ diesen ‚Missbrauch‘ primitiver Kulturen durch „vergangenheits- und fernsüchtige[] Europäer“ an.³⁵ Dem entgegen soll die Betrachtung afrikanischer Kunst in der „Negerplastik“ folgendes zeigen: [D]er Neger ist kein nicht entwickelter Mensch; es ging eine bedeutsame afrikanische Kultur zu Grunde; der heutige Neger entspricht einem möglichen „antiken“ vielleicht wie der Fellache dem alten Ägypter.³⁶

Einstein kritisiert in der „Negerplastik“ die „recht vage[n] Evolutionshypothesen“, den „Fehlbegriff von Primitivität“ und die „falschen Phrasen“ von den „Völker[n] ewiger Urzeit und so fort.“³⁷ Diesem Narrativ des vorkulturell Ursprünglichen konfrontiert er im umfangreichen Abbildungsteil den Bildeindruck der afrikanischen Plastiken. Damit steht Einsteins Deutung einer „archaische[n] Illusion“³⁸ entgegen, die unter dem Paradigma des Primitiven Naturhaft-Ursprüngliches, Kindliches und Schizophrenes in eins setzt. Eine auch von Erhard Schüttpelz für den literarischen Primitivismus als charakteristisch postulierte „auffällige[ ] Konjunktion einer gemeinsamen Phänomenologisierung von Primitiven, Kindern und Geisteskranken“³⁹ lässt sich in der „Negerplastik“ nicht nachweisen. Auch in „Afrikanische Plastik“ (1921) ist nicht von den Ursprüngen der Kunst die Rede, sondern davon, zu „welch technischer Verfeinerung der Afrikaner fähig war“. Die

33 Vgl. u. a. Karla Bilang: Bild und Gegenbild. Das Ursprüngliche in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1990; Ernst Grosse: Die Anfänge der Kunst, Freiburg i.Br. und Leipzig 1894. 34 Carl Einstein: Die Kunst des 20. Jahrhunderts, in: Ders.: Werke. Berliner Ausgabe, Bd. 5, hg. und kommentiert v. Uwe Fleckner und Thomas W. Gaehtgens, Berlin 1996, S. 205. 35 Einstein: Die Kunst des 20. Jahrhunderts [Anm. 34], S. 205. German Neundorfer verkennt die Diskrepanz, die zwischen der Einstein’schen Alteritätskonzeption und dem paradigmatischen Primitivismus besteht, weswegen er in Bezug auf diese Textstelle eine rückblickend selbstkritische Reflektion früherer Positionen zu erkennen meint (vgl. Neundorfer: Kritik an Anschauung [Anm. 21], S. 35). 36 Einstein: Negerplastik [Anm. 15], S. 235. 37 Einstein: Negerplastik [Anm. 15], S. 234. 38 Claude Lévi-Strauss: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, übers v. Eva Moldenhauer, Frankfurt a. M. 1981, S. 148 (bzw. das gesamte, so betitelte Kapitel VII). 39 Erhard Schüttpelz: Zur Definition des literarischen Primitivismus, in: Literarischer Primitivismus, hg. v. Nicola Gess, Berlin und Boston 2013, S. 13–27, hier: S. 20.

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„afrikanische Antike“ wird hier explizit mit einer „Höhe technischer Bildung“⁴⁰ und eben nicht mit archaischer Ursprünglichkeit assoziiert.⁴¹ In diesem Kontext setzt sich die Problematisierung der Kopplung des stilistischen Primitivismus-Begriffes an kulturgeschichtliche Periodisierungen fort. Dieser sei durchaus nicht automatisch mit den Ursprüngen der Menschheits- und Kulturgeschichte verknüpft, sondern vielmehr eine davon unabhängige Stilform. So heißt es: „Das Primitive kann Beginn oder Verfall einer Kunst bezeichnen; der Grad technischer wie formaler Vollendung wird nicht allein durch zeitliche Momente […] bestimmt.“⁴² Schon in der „Negerplastik“, die mit ihrer starken Orientierung am Kubismus eng an den französischen Kunstdiskurs anknüpft, zeigt sich in diesem Punkt eine stärkere Orientierung am französischen Begriff der art nègre, der zwar streckenweise mit ‚primitiver‘ Kunst synonym gebraucht wurde,⁴³ aber – anders als der deutschsprachige Begriff des ‚Primitivismus‘ – Aspekte des Archaisch-Ursprünglichen nicht denotativ, sondern nur konnotativ mitführt.

2 Erkenntnistheoretischer Primitivismus Wenngleich afrikanische Kunstobjekte bei Einstein nicht im engeren Sinne mit kultureller Ursprünglichkeit konnotiert sind, so bezieht sich sein Afrikanismus doch auf ursprüngliche Rezeptionsformen. Diese sind allerdings keineswegs afrikanischen Kulturen zugeordnet. Vielmehr handelt es sich um eine Art der Anschauung, die in der „Negerplastik“ realisiert werden soll. Die primitive Weltanschauung ist insofern nicht als etwas kulturgeschichtlich Überkommenes gedacht. Sie meint etwas eminent Modernes, das die Kennzeichen einer ästhetischen Revolution trägt, weil es nicht nur andere Darstellungsformen, sondern eine grundlegende Umwälzung der Perzeption anvisiert. Ähnlich der ethnologischen Blickumkehr, die Einstein später im Kontext der Zeitschrift „Documents“ vornimmt und welche grundlegend für seine surrealistische Projektidee einer „Ethnologie de l’homme blanc“ ist, wird das Paradigma des Primitiven hier tatsächlich gar nicht auf andere Kulturformen appliziert, sondern auf die europäische Kultur rückgewendet.

40 Beide Zitate aus Carl Einstein: Afrikanische Plastik, in: Ders.: Werke. Berliner Ausgabe, Bd. 2: 1919–1928, hg. v. Hermann Haarmann und Klaus Siebenhaar, Berlin 1996, S.61–145, hier: S. 71. 41 Dort heißt es: „Eine beträchtliche Anzahl afrikanischer Plastiken ist alles andere, nur nicht primitiv“ (Einstein: Afrikanische Plastik [Anm. 40], S. 62). 42 Einstein: Afrikanische Plastik [Anm. 40], S. 62. 43 Zur Begriffsgeschichte des Primitivismus vgl. Rubin: Der Primitivismus in der Moderne [Anm. 1].

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Schon im Kontext der ersten ästhetischen Revolution um 1800 führt Friedrich Schlegel ein Interesse am Primitiven, das hier unter dem Begriff der „Rohigkeit“⁴⁴ firmiert, auf die eigene Primitivität und ‚Verrohung‘ zurück: Um eine nicht so reizbare Empfänglichkeit zu beleben, werden stärkere Reize, heftigere Erschütterungen erfordert; die Widersprüche und Kontraste, überhaupt die Verhältnisse, welche der ungebildete Verstand fassen soll, müssen gröber und faßlicher sein. Wie wandelbar überhaupt diese Verhältnisse sind, erläutert das Beispiel der Kinder, der Wilden, des gemeinen Mannes.⁴⁵

Dabei dürfe „[d]ie Rohigkeit, welche oft auch unsittlich“ sei, durchaus nicht mit „der ästhetischen Unsittlichkeit“⁴⁶ verwechselt werden. Zur Wiederbelebung der sinnlichen Erfahrung in einer zunehmend mechanisierten Welt scheint sie durchaus ein legitimes Mittel ästhetischer Bildung zu sein.⁴⁷ Einsteins ästhetische Funktionalisierung afrikanischer Kunst bezieht sich eher in diesem Schlegel’schen Sinne auf aisthetische Aspekte als auf kulturgeschichtlichanthropologische Zusammenhänge entsprechend dem Primitivismus-Paradigma. Denn in der Frühphase seiner Afrika-Rezeption geht es ihm vor allem darum, andere Formen der Weltwahrnehmung zu erproben und neue „Möglichkeiten“ zu finden, um „etwas ‚zur Sprache‘ zu bringen“.⁴⁸ Diesen Zusammenhängen entspringt sein Interesse an afrikanischer Kunst. Dabei setzt die avantgardistische „Negerplastik“ einen aisthetischen Bruch mit tradierten Perzeptionsformen ins Werk, der für Einstein nur über die Konfrontation mit dem unverstandenen Fremden erreichbar scheint. Adressiert ist damit nicht nur die kunstgeschichtliche Wahrnehmung der Formen und ihre Kategorisierung. Vielmehr übernehmen die Artefakte auch eine semiotische Funktion, die auf den übergeordneten Bezugsrahmen der Weltwahrnehmung referiert. Denn kulturspezifische Perspektivierungen der Welt und ihre Buchstabierungen kulminieren für Einstein in künstlerischer Form.

44 Friedrich Schlegel: Vom ästhetischen Werte der griechischen Komödie (1794), in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 1: Studien des Klassischen Altertums, hg. v. Ernst Behler, Paderborn u. a. 1979, S. 19–33, hier: S. 27. 45 Schlegel: Vom ästhetischen Werte der griechischen Komödie [Anm. 44], S. 27. 46 Schlegel: Vom ästhetischen Werte der griechischen Komödie [Anm. 44], S. 27. 47 In Bezug auf die Belebung der menschlichen Affekte rekurriert auch Nietzsche auf den ‚wilden‘ ästhetischen Genuss: „Im Denken und Handeln bewegt sich die Maschine wie ein leidlicher Mensch; im Genusse zeigt sich unverhohlen das reine Tier.“ (Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: Ders.: Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Cilli und Mazzino Mantionari, Bd. 1. Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I-IV. Nachgelassene Schriften 1870–1873, Berlin und New York 1999, S. 9–156, hier: S. 37.) 48 Hans Blumenberg: Aspekte der Epochenschwelle. Cusaner und Nolaner. Frankfurt a. M. 1976, S. 33.

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Die Notwendigkeit einer Transformation der Wahrnehmungsformen beziehungsweise des ‚Sehens‘ dominiert, wie Matthias Berning gezeigt hat,⁴⁹ das avantgardistische Frühwerk Einsteins. Anders als die ästhetische Revolution um 1800 kann eine solche ästhetische Umerziehung hier nicht mehr bei der Rezeption griechischer Plastiken ansetzen. Deren Wahrnehmung und damit auch die Möglichkeiten produktiver Anverwandlung scheinen durch etablierte kunst-, kulturund geistesgeschichtliche Begriffe untilgbar präfiguriert. Ein „Sehen ohne“ hermeneutische „Vorurteile“⁵⁰ scheint angesichts des Altbekannten unmöglich. Dagegen soll das ostentativ propagierte Nichtwissen über die kulturellen und kunstgeschichtlichen Kontexte afrikanischer Plastiken Möglichkeiten „konkrete[r] Anschauung“⁵¹ und ungetrübter ästhetischer Erfahrung eröffnen. Während also Objekte der europäischen Kunstgeschichtstradition in ihrer Form für Einstein ‚unzeitgemäße‘ Denk- und Wahrnehmungsstrukturen konservieren, repräsentieren die Artefakte einer afrikanischen Antike – trotz ihrer Historizität – eine zukunftsorientierte, andere, moderne Möglichkeit nicht nur der Wahrnehmung, sondern auch des Denkens.⁵²

3 Das ‚nackte‘ Objekt der Anschauung als Ausgangpunkt eines erkenntnistheoretischen Primitivismus Afrikanische Kunst fordert das westliche Denken zum einen dadurch heraus, dass sie sich in ihrer Andersartigkeit nicht über gängige Begrifflichkeiten kategorisieren lässt. Zum anderen tut sie dies auch in ihrer materialen Objekthaftigkeit. Der explizite Fokus auf das Formale und Objektive zeigt in der „Negerplastik“ die Grenzen eines Denkens auf, das sich im Verlauf der europäischen Geistesgeschichte überwiegend auf das rein Geistige und tiefere Sinnstrukturen bezieht. Im Kontext „der

49 Matthias Berning: Carl Einstein und das neue Sehen. Entwurf einer Erkenntnistheorie und politischen Moral in Carl Einsteins Werk, Würzburg 2011. 50 Einstein: Negerplastik [Anm. 15], S. 236. 51 Einstein: Negerplastik [Anm. 15], S. 218. 52 Einen Zusammenhang von modernem und ‚primitivem‘ Denken sieht etwa auch Claude LéviStrauss, dessen Schriften für den postmodernen Primitivismus-Diskurs grundlegend sind. Anders als Einstein geht Lévi-Strauss allerdings von einer prinzipiellen Übersetzbarkeit primitiver Begriffsbildungen aus. (Vgl. Claude Lévi-Strauss: La pensée sauvage, Paris 1968.)

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Moderne als einer spezifischen Erkenntnissituation“⁵³ führt die afrikanische Plastik als ein von geistigen Bezügen freigestelltes Objekt gewissermaßen „das Scheitern“⁵⁴ eines solchen Denkens vor. Während Einstein sich 1921 in dem Essay „Revolution durchbricht Geschichte und Überlieferung“ für eine „Entdinglichung“, eine „Zerstörung des Gegenstandes zur Rettung des Menschen“⁵⁵ ausspricht, sieht er 1915 noch die Möglichkeit gegeben, über die Beschäftigung mit fremden Objekten eine grundlegende Transformation der Wahrnehmung zu generieren. Gewissermaßen im avantgardistischen Vorgriff auf die (kunst‐)geschichtlichen Material Studies soll [d]ie Aufmerksamkeit für das Material […] nicht einer Wiederentdeckung einer „wirklichen Wirklichkeit“ frönen und einem revisionistischen Realismus dienen, sondern im besten Fall komplexere Möglichkeiten zur Erfassung dessen bieten, was wir üblicherweise als Wirklichkeit zu bezeichnen pflegen.⁵⁶

Sie soll nicht in eine simplifizierte Weltbetrachtung münden, sondern vielmehr neue Wahrnehmungsdimensionen erschließen. Es geht kurz gesagt um die vielfältigen Sehweisen einer ästhetischen Weltbetrachtung, die – ähnlich wie im Kubismus – einen Gegenstand aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Die afrikanischen Artefakte stehen dabei für eine andere Art der Weltwahrnehmung, die sich nicht sprachlich artikuliert, sondern in konkreter Gestalt erfahrbar wird. In dieser Konzentration auf das Tatsächliche, jenseits begrifflicher Überformung in traditionsgebundenen Wissensdiskursen, wendet sich Einstein gegen die „systematisierte[] Wahrnehmungsstörung“ eines „Gegen-die-Dinge-Andenken[s]“,⁵⁷ gegen einen „Diskurs des Wissens […] als Rede, die redet, um etwas anders nicht zur Sprache kommen zu lassen.“⁵⁸ Indem die „Negerplastik“ afrikanische Skulpturen dem Wissensdiskurs entzieht und als ‚tatsächliche‘ Dinge fokussiert, deren Gestaltung zugleich durch ‚fremde‘ Formgesetze bestimmt ist, die sich den ästhetischen

53 Silvio Vietta: Die literarische Moderne. Eine problemgeschichtliche Darstellung der deutschsprachigen Literatur von Hölderlin bis Thomas Bernhard, Stuttgart 1992, S. 9. 54 Jean-François Lyotard: Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit, übers. v. Christine Pries, 3. Aufl., Wien 2006, S. 51. 55 Carl Einstein: Revolution durchbricht Geschichte und Überlieferung, in: Ders.: Werke. Berliner Ausgabe, Band 4: Texte aus dem Nachlaß I, hg. v. Hermann Haarmann und Klaus Siebenhaar, Berlin 1992, S. 146–152, hier: S. 146. 56 Achim Landwehr: Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essay zur Geschichtstheorie, Frankfurt a. M. 2016, S. 72. 57 Landwehr: Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit [Anm. 56], S. 72. 58 Martin Burckhardt: Metamorphosen von Raum und Zeit. Eine Geschichte der Wahrnehmung, Frankfurt a. M. 1997, S. 18.

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Normvorstellungen des europäischen Kunstkanons widersetzen, ist sie eine Störung der diskursiven Wissensordnung. Schon in „Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders“ (1912) heißt es über Bebuquin: „Ihn empörte die Ruhe alles Leblosen“.⁵⁹ Auch Nebukadnezar Böhm „reg[t] sich“ hier „an Gegenständen auf“. Seine Reaktion auf die vielfältigen Wahrnehmungsverschiebungen im „Spiegel“ der Moderne ist ein „Wüten […] mit deplazierten Mitteln“.⁶⁰ Die „Negerplastik“ ist im Grunde der Versuch, über eine „Analyse der Formen“, die „in dem unmittelbar Gegebenen“ verbleibt, die Dinge selbst als „Tatsachen“⁶¹ zum Sprechen zu bringen. Denn: „Zur Sache! Bedeutet keinesfalls, daß damit die Rede als solche verworfen wird, sondern es bedeutet, das Begriffliche dorthin zurückzuführen, wo es seinen Ausgang hat.“⁶² Es ist – wie es im „Bebuquin“ heißt – ein „Mittel, um denken zu können“.⁶³ Dabei geht es aber nicht um das Erkunden einer wie auch immer gearteten „Seele der Dinge“.⁶⁴ In der „Negerplastik“ interessiert sich Einstein weder für einen metaphysischen noch für einen semantischen Gehalt der Dinge, sondern nur für ihre Form. Trotz eines sprachkritischen Ausgangspunkts geht es hier also nicht in einem Foucault’schen Sinne um die neuerliche „Verankerung“ der Schrift „im inneren Dinge“.⁶⁵ Vielmehr lenkt die rein formale Betrachtung afrikanischer Plastiken den Blick auf das äußerlich Erkennbare – auf den Zeichenkörper. Auf erkenntnistheoretischer Ebene verschiebt sich damit der Gegenstand intellektueller Erkenntnis vom ‚Ding an sich‘ als einem der sinnlichen Erfahrung entzogenen ‚Gedankending‘ (ens rationis), wie es Kant in den „Prolegomena“ und der „Kritik der reinen Vernunft“ versteht,⁶⁶ auf „die Tatsache: die afrikanischen Skulpturen!“⁶⁷ Damit tritt an die Stelle diskursiver Begrifflichkeiten „eine reine

59 Carl Einstein: Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders. Für André Gide. Geschrieben 1906/09, in: Ders.: Werke. Berliner Ausgabe, Band 1: 1907–1918, hg. v. Hermann Haarmann und Klaus Siebenhaar, Berlin 1994, S. 92–132, hier: S. 92. 60 Einstein: Bebuquin [Anm. 59], S. 94. 61 Einstein: Negerplastik [Anm. 15], S. 236–237. 62 Burckhardt: Metamorphosen von Raum und Zeit [Anm. 58], S. 15. 63 Einstein: Bebuquin [Anm. 59], S. 98. 64 Einstein: Bebuquin [Anm. 59], S. 94. Im Hinblick auf ein metaphysisches Erkenntnisinteresse (i.S. einer speziellen Metaphysik) muss man mit Bebuquin konstatieren: „Aber die Dinge bringen uns auch nicht weiter.“ (Einstein: Bebuquin [Anm. 59], S. 98.) 65 Michael Ruoff: Die Ordnung der Dinge, in: Ders.: Foucault-Lexikon, 2. Aufl., Paderborn 2009, S. 29. 66 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Wilhelm Weischedel, 8. Aufl., Frankfurt a. M. 2014, u. a., S. 228 (A 191/B 236); Ders.: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, in: Ders.: Schriften zur Metaphysik und Logik, Bd. 1, hg. v. Wilhelm Weischedel, 14. Aufl., Frankfurt a. M. 2016, S. 113–264, hier: S. 224–233 (§ 57). 67 Einstein: Negerplastik [Anm. 15], S. 236.

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Anschauung“ beziehungsweise die „Anschauung a priori“, die bei Einstein allerdings nicht wie bei Kant auf eine „ursprüngliche Vorstellung“⁶⁸ bezogen ist, sondern auf das Tatsächliche,⁶⁹ das jeder Wahrnehmung und damit allem Denken vorausgeht. Insofern bildet das ‚nackte‘ Objekt der Anschauung den Ausgangpunkt eines erkenntnistheoretischen Primitivismus. Die Nacktheit in den Darstellungsformen afrikanischer Kunst im Bildteil der „Negerplastik“ (Abb. 1 u. 2) fungiert bei Einstein folglich nicht als Beleg kultureller Primitivität. Sie erfüllt vielmehr eine semiotische Funktion, die auf die anvisierte Entkleidung von Überformungen und die unmittelbare Wahrnehmung der Dinge verweist. Die real wahrnehmbare ‚Form an sich‘ tritt hier an die Stelle der ausgestellten Körperlichkeit des allgemeinen Primitivismus-Paradigmas. Ein produktiver Umgang mit Kants Theorien, der „grundsätzliche Gedanken aufnimmt“, diese aber in einem ganz eigenen Sinne modifiziert,⁷⁰ zeigt sich an verschiedenen Stellen des Einstein’schen Frühwerks.⁷¹ Dass „Kant […] gewiß eine große Rolle“⁷² spielt, wird schon im „Bebuquin“ explizit, in dem die kritische Auseinandersetzung mit dem „psychische[n] Ding an sich“ und das Bekenntnis zur ‚Form‘ einsetzen: „Da steckt der Haken, […]. Keine Grenzen kennen, wieviel Seelisches die Gegenstände ertragen, verantworten können.“⁷³ Die „Negerplastik“ vermutet daher nichts hinter den Dingen, sondern „verbleibt“ in der Analyse der Formen […] in dem unmittelbar Gegebenen; denn nur irgendwelche Formen sind vorauszusetzen; jedoch dienen diese eher einem Erfassen als einzelne Dinge, da sie als Formen zugleich über Sehweisen und Gesetze der Anschauung aussagen, also gerade zu einer Erkenntnis hinzwingen, die in der Sphäre des Gegebenen verharrt.⁷⁴

Die Kategorie des ‚Formalen‘ weist hier im Tatsächlichen und unmittelbar Erfahrbaren verbleibend über das einzelne Ding hinaus. Sie verweist zum einen auf die

68 Kant: Kritik der reinen Vernunft [Anm. 66], S. 73 (B 40/A 25) (Hervorhebung im Original). 69 Es lassen sich durchaus Parallelen zu Wittgensteins Tatsachenotologie konstatieren, die gleichwohl erst 1921 mit dem Erscheinen des „Tractatus logico-philosophicus“ rezipierbar wurde, weshalb auch die Wittgenstein’sche Trennung von Tatsache und Ding hier nicht in Anschlag gebracht werden kann. 70 Berning: Carl Einstein und das neue Sehen [Anm. 49], S. 76. 71 Zur Kant-Rezeption des frühen Einstein vgl. Dirk de Pol: „Totalität“. Die Kant-Rezeption des frühen Carl Einstein, in: Philosophisches Jahrbuch 104 (1997), S. 117–140. 72 Einstein: Bebuquin [Anm. 59], S. 99. 73 Einstein: Bebuquin [Anm. 59], S. 100. 74 Einstein: Negerplastik [Anm. 15], S. 237.

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Abb. 1: Tafel 54 aus dem Band „Negerplastik“.

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Abb. 2: Tafel 57 aus dem Band „Negerplastik“.

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Denkform,⁷⁵ die den formalen Charakter bestimmt und in der Objektgestaltung kondensiert. Zum anderen eröffnet sie im Sinne der ästhetischen Idee unabschließbare Erkenntnismöglichkeiten jenseits des begrifflich Fixierten, denn die ästhetische Idee, schreibt Kant‚ ist diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgendein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann.⁷⁶

Insofern hat das Ursprüngliche der ‚reinen‘ Form für Einstein einen spezifischen Erkenntniswert: Das Wesentliche dieses Wortes [Form] ist, daß es mit Nichts alles enthält, aber zugleich mehr ist, als Begriff oder Symbol. Auf der einen Seite geht es über das Logische weit hinaus und läßt von der Erfahrung bedeutendere Merkmale zurück; […] eine Deduktion von ihr ist durchaus von einer begrifflichen unterschieden. Die Anschauung gewinnt in ihr eine Kraft, die vorher dem Begriff allein zugesprochen wurde.⁷⁷

Die formale Gestaltung der afrikanischen Kunstobjekte erfüllt hier eindeutig eine gegendiskursive Funktion zu den europäischen Epistemen und der zugrundeliegenden begrifflichen Denkordnung: „Europäer machen sich einen Begriff, Afrikaner erfassen die Form.“⁷⁸ – So bringt es Friederike Schmidt-Möbus auf den Punkt. Dabei ist es nicht unerheblich, dass die afrikanischen Plastiken nicht nur einer anderen Denktradition entstammen, sondern auch einer anderen Zeit. Historische Objekte sind im Sinne Martin Burckhardts als „Artefakte des Denkens“⁷⁹ zu verstehen, in denen sich „verkapselt“ findet, was „aus unserem Gesichtskreis“ geraten ist.⁸⁰ Sie repräsentieren die Fundamente eines Denkens, das sich nicht in begrifflicher Abstraktion verliert. Im Sinne eines erkenntnistheoretischen Primitivismus

75 Vgl. Karen Gloy: Denkformen und ihre kulturkonstitutive Rolle, Paderborn 2016. 76 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, hg. v. Wilhelm Weischedel, 8. Aufl., Frankfurt a. M. 2014, S. 249–250 (B 192–193) (Hervorhebung im Original). 77 Einstein: Bebuquin [Anm. 59], S. 102. 78 Friederike Schmidt-Möbus: Nachwort, in: Carl Einstein: Negerplastik, hg. v. ders., Stuttgart 2012, S. 150–177, hier: S. 174 (Hervorhebungen im Original). 79 Burckhardt: Metamorphosen von Raum und Zeit [Anm. 62], S. 18. 80 Burckhardt: Metamorphosen von Raum und Zeit [Anm. 62], S. 18. Auch Einstein schreibt, dass Gegenstände „verstorbene[] Seherlebnisse […] verkapsel[n]“. (Einstein: Revolution durchbricht Geschichte und Überlieferung [Anm. 55], S. 148.)

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verstanden, sind sie gleichsam „Zeitmaschinen, die wir besteigen“, um einem „Zeitraum näherzukommen“,⁸¹ in dem sich ein Denken in Kunst konstituiert. Mit Giambattista Vico lässt sich der Ursprung ‚poetischer Weisheit‘, in dem Dichtung und Erkenntnis zusammenfallen, mit dem ‚Primitiven‘ in Verbindung setzten. Die in Vicos „Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker“ (1725) rein zeitlich gedachte Kategorie des Primitiven⁸² findet dabei im Kontext des modernen Primitivismus-Diskurses, der sich insbesondere in Frankreich mit der Rezeption der art nègre verbindet, eine räumliche Verortung auf dem afrikanischen Kontinent. Allerdings ist die Übertragung der Vico’schen Ausführungen über Primitive auf afrikanische Kultur durchaus problematisch, da dieser die Sinnlichkeit ihrer Metaphysik im Wesentlichen darauf zurückführt, dass die „ersten Menschen […] kein Denkvermögen besaßen“.⁸³ Eine derartige Einschätzung lässt sich aber bei Einstein nirgends finden. Vielmehr schreibt er Vorurteile dieser Art einem „Fehlbegriff von Primitivität“⁸⁴ zu, der richtigerweise mit einer anderen Art zu Denken zu assoziieren sei. Geht man von einem Anschluss an die theoretischen Positionen Konrad Fiedlers aus, dann hat die „Polemik gegen die objektivierende Prätention des Begriffs“ auch bei Einstein nichts mit einem Erstreben von „Ursprünglichkeit“ oder der „Beschwörung einer vorsprachlichen, a-logischen Welt“⁸⁵ zu tun. Stattdessen geht es in der „Negerplastik“ um ein Denken in Kunst, das die sinnliche Wahrnehmung des tatsächlich Gegebenen zum Ausgangspunkt der Erkenntnis macht. Neben Fiedlers Kunsttheorie ist dabei gerade in Bezug auf Einsteins frühe PrimitivismusKonzeption auch Vico der Gewährsmann, wenn es um eine sinnliche Grundlage der Erkenntnis geht, denn in dessen „Scienza nuova“ bringt „die menschliche Natur, […] diese Eigenschaft mit sich, daß die Sinne der einzige Weg sind, über den sie die Dinge erkennt.“⁸⁶ Bei Vico ist dementsprechend die „poetische Weisheit“ der Primitiven nicht Ausdruck einer „rationalen und abstrakten“ Metaphysik „wie es

81 Landwehr: Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit [Anm. 56], S. 56. Landwehr betont dabei aber, dass die Erwartung „Objekte als Möglichkeiten zu begreifen, um den Weg in die Vergangenheit anzutreten“, diese „mit allzu hohen Erwartungen“ überfrachte. (Landwehr: Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit [Anm. 56], S. 56.) 82 Vico schreibt hier über den Ursprung der Menschheit und die „ersten Menschen“, wie sie sich über den ganzen Erdball verteilen. (Giambattista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, übers. v. Vittorio Hösle und Christoph Jermann, Hamburg 2009, S. 171 [375].) 83 Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft [Anm. 82], S. 171 [375]. 84 Einstein: Negerplastik [Anm. 15], S. 234. 85 Gottfried Boehm: Anschauung als Sprache. Nachträge zur Neuauflage, in: Konrad Fiedler: Schriften zur Kunst I, hg. v. Gottfried Boehm, 2. Aufl., München 1991, S. VII–XXII, hier: S. X. 86 Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft [Anm. 82], S. 170 [374].

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diejenige der Gelehrten“ sei, „sondern einer sinnlich empfundenen und vorgestellten“.⁸⁷ In diesem Sinne ist sie auch bei Einstein „nicht Abstraktion, sondern […] unmittelbare Empfindung“.⁸⁸ Dass Einstein „die gegebenen Tatsachen zur Voraussetzung“⁸⁹ eines ästhetischen Erkenntnisinteresses macht, findet sich ebenfalls bei Vico vorgezeichnet. Anders als bei Platon, Aristoteles oder Patrizi ist nämlich bei Vico nicht das Geistige, sondern die unmittelbare Dinglichkeit und mit ihr die Körperlichkeit der „Ursprung der Dichtung“.⁹⁰ Hieran anschließend erscheint im Hinblick auf eine Erneuerung der Wortkunst bei Einstein die Rückführung auf das Tatsächliche die grundlegende Voraussetzung für eine Dichtung mit gesteigertem avantgardistischem Erkenntniswert beziehungsweise in Vicos Worten: für eine Dichtung von „wunderbarer Erhabenheit, und zwar einer solchen und einer so starken, daß sie […] im Übermaß erschüttert[]“.⁹¹ Die dieser Dichtkunst vorausgehende andere Art zu Denken wird in „Negerplastik“ auf die afrikanischen Kulturen projiziert. In der Negation jeglichen Wissens über afrikanische Kulturen entbehrt Einsteins erkenntnistheoretischer Primitivismus aber – anders als Lévi-Strauss’ Thesen zum ‚wilden Denken‘ – jeder empirischen Grundlage. Er abstrahiert von allen Kontexten, allem bereits gesicherten Wissen und macht auch vor einer bereinigenden Manipulation der Gegenstände keinen Halt. So werden, wie Zoe Strother oder Kay Heymer gezeigt haben, etwa die kongolesischen Nkonde-Figuren auf Tafel 19 und vermutlich auch 13 von Einstein ihres charakteristischen Nagelschmucks entkleidet⁹² und damit die gewünschte ‚Nacktheit‘ der Form erst nachträglich produziert. (Abb. 3 u. 4) Sich selbst widersprechend verlässt Einstein in der „Negerplastik“ den Boden der reinen Tatsachen und betritt den der geistig-spekulativen Konstruktion. Dass die Projektionen einer anderen Weltwahrnehmung und Denkart auf afrikanische Kulturen dabei sehr wohl von „einem unterschobenen Surrogat ausgehen“⁹³ und keineswegs selbst Ausdruck einer ‚reinen‘ Betrachtung sind, wird im Zuge der

87 Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft [Anm. 82], S. 170–171 [375]. Anzuführen ist auch, dass Vico hier über den Ursprung der Menschheit und die „ersten Menschen“ spricht, wie sie sich über den ganzen Erdball verteilen, das Primitive hier also rein historisch gedacht ist. 88 Einstein: Negerplastik [Anm. 15], S. 241. 89 Carl Einstein: Anmerkungen, in: Ders.: Werke. Berliner Ausgabe, Band 1: 1907–1918, hg. v. Hermann Haarmann und Klaus Siebenhaar, Berlin 1994, S. 214–217, hier: S. 214. 90 Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft [Anm. 82], S. 177 [384]. 91 Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft [Anm. 82], S. 172 [376]. 92 Vgl. Zoe S. Strother: Looking for Africa in Carl Einstein’s Negerplastik, in: African Arts 46.4 (2013), S. 8–21; Kay Heymer: Afrikanische Kunst, ausgestellt. Carl Einstein zwischen Wissenschaft und künstlerischer Praxis: zu den Ausstellungen afrikanischer Kunst, in: Juni-Magazin 57/58 (2022), S. 309–326. 93 Einstein: Negerplastik [Anm. 15], S. 236.

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Abb. 3: Tafel 13 aus dem Band „Negerplastik“.

Afrika-Publikation von 1915 nicht reflektiert.⁹⁴ Diesen ‚Fehler‘ versucht Einstein allerdings in der späteren „Afrikanischen Plastik“ zu korrigieren, die afrikanische 94 Diese Unkenntnis über das ‚Afrikanische‘ sowie die aus der Bergson’schen Perspektive wiederum unzulässigen Vermischung von afrikanischer und ozeanischer Kunst in der„Negerplastik“ ist Einstein später unangenehm. Aus dieser Blickrichtung können die „Afrikanische Plastik“ und die „Afrikanischen Legenden“ als Versuch gesehen werden, diesen ‚Fehler‘ zu korrigieren. Allerdings

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Abb. 4: Tafel 19 aus dem Band „Negerplastik“.

nähern auch diese Publikationen sich dem Fremden nur im Rahmen des Eigenen, über Vermittlung durch ethnologische Schriften und im kolonialen Kontext angefertigte Transkriptionen. Einer tatsächlichen Konfrontation mit dem ‚Fremden‘ weicht Einstein, der nie nach Zentralafrika gereist ist, letztlich aus. (Vgl. hierzu Eva Wiegmann: „Hilflos negert der Unoriginelle.“ Reflexionen über das interkulturelle Potential von Carl Einsteins Afrikanismus, in: Juni-Magazin 57/58 [2022], S. 289–308.)

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Kunst dann doch im Kontext ethnologischen Wissens zu betrachten sucht. Damit aber gibt er zugleich den revolutionären Anspruch seiner Ästhetik des Fremden auf. Die „Afrikanische Plastik“ repräsentiert anders als die „Negerplastik“ nicht mehr selbst eine neue Form der Kunst, sondern eine andere Art der Kunstgeschichte.

Samuel Müller

Wie kommt eine Gazelle in die Südsee? Gottfried Benns Gedicht „Meer- und Wandersagen“ im Kontext der Ausstellung „Südsee-Plastiken“ Abstract: Der Beitrag stellt eine Neulektüre von Gottfried Benns Gedicht „Meer- und Wandersagen“ vor dem Hintergrund seiner Entstehung (die Vorlage Kurts von Boeckmann im „Querschnitt“, die Zueignung an den Freund Carl Einstein und dessen Mitwirkung an Alfred Flechtheims Ausstellung „Südsee-Plastiken“) an. Sie widerspricht einer Deutung des Textes als einer exotistischen Modeerscheinung. Die finale Zeitlichkeit der mittleren Strophe reiht das nur scheinbar abstrakte und entwicklungslose Pazifikparadies mit in den ebenfalls thematisierten, ‚westlichen‘ Geschichtslauf ein. Die im Gedicht verborgenen, konkreten geographischen Angaben fungieren als Sollbruchstellen, anhand derer sich die finale Zeitstruktur auf die mit ihrer Namensgebung verbundene Kolonialisierung Neuguineas zurückführen lässt. Zwischen den Kolonialtoponymen und Einsteins kunsttheoretischen, vor allem aber kolonialismuskritischen Überlegungen eröffnet sich ein Deutungsspielraum für die Ambivalenz des vermeintlichen Südseeparadieses. So wird aus dem Gedicht ein Wink an Einstein als einen ausgewiesenen Kenner ozeanischer Kunst, der zumindest bis zu einem gewissen Grad ein Bewusstsein für die Auswirkungen des Kolonialismus signalisiert.

1 Problemhorizont Die 2021 erschienene Abhandlung „Das Prachtboot“ des Historikers Götz Aly sorgte in der hitzig geführten Diskussion um das Berliner Humboldt Forum für Furore.¹ Sie plädiert für einen endlich ehrlichen Umgang mit den Provenienzen ethnologischer Museumsbestände und die Rückerstattung kolonialer Raubgüter. Der auf das Vorsatzpapier gedruckte historische Kartenausschnitt, der einen Überblick über das deutsche Kolonialgebiet im pazifischen Ozean verschafft, zeigt den geraden Weg in

1 Aly nennt die darin beheimatete ethnologische Sammlung ein „Monument der Schande“ (Götz Aly: Das Prachtboot. Wie Deutsche die Kunstschätze der Südsee raubten, Frankfurt a. M. 2021, S. 177). Samuel Müller, Würzburg https://doi.org/10.1515/9783111102740-007

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Samuel Müller

das Zentrum eines Gedichts von Gottfried Benn, nämlich in die 1925 entstandenen „Meer- und Wandersagen“.

Abb. 1: Gazelle-Halbinsel und Blanche-Bucht im „Deutschen Kolonialatlas“ (1893), aus dem die größere, bei Aly abgedruckte Karte stammt.

Der Rahmen für die Debatte um die Rückgabe kolonialer Güter und Kunstwerke ist die Bewegung der Postcolonial Studies, die auch die Forschung zur literarischen Moderne längst erreicht hat. Sie zielt unter anderem auf eine grundlegende Kritik der westlichen Wahrnehmungsweisen für sogenannte fremde Kulturen ab. Kunst gilt dabei im Allgemeinen als Teil eines epistemologischen Apparats. Sie hegt Fremdheit ein, macht sie begreif- und kontrollierbar, stabilisiert Machtverhältnisse und profitiert reziprok von ihnen. Auch Literatur kann sich dabei der Frage danach, wie Alterität verhandelt wird, nicht entziehen.² Für das lange unklar überlappend verwendete Begriffspaar ‚Exotismus – Primitivismus‘ schlägt das Handbuch „Postkolonialismus und Literatur“ folgende distinktive Heuristik vor: Von ‚Exotismus‘ sei zu sprechen, wenn literarische Texte eine Präferenz „für das räumlich oder zeitlich Fremde als Schauplatz oder deko-

2 Vgl. hierfür etwa die mittlerweile 14 Bände umfassende Reihe „Postkoloniale Studien in der Germanistik“, die von Gabriele Dürbeck und Axel Dunker herausgegeben wird.

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ratives Ornament“³ erkennen ließen und durch die oberflächliche Reproduktion von Klischees hegemoniales Denken stützten, während ‚Primitivismus‘ den Versuch bezeichne, dem Anderen auf Augenhöhe zu begegnen und formale Perspektiven von ihm zu übernehmen. Er ziele auf ein tatsächliches Verstehen und damit die Erschütterung des eigenen, westlichen Wahrnehmungshorizonts ab.⁴ Auch diese Form der Annäherung bleibt freilich nicht von den Fallstricken des Othering frei. Das Handbuch postuliert weiterhin, dass die literarische Moderne gemessen an der zeitgenössischen (etwa in der Kolonialliteratur gespiegelten) Meinung einen deutlich differenzierteren Umgang mit außereuropäischen Themenfeldern aufweise.⁵ Carl Einstein kann hier sicherlich als Musterbeispiel genannt werden. Aber auch Gottfried Benn wird gelegentlich ein reflektiertes Verhältnis zum Exotismus nachgesagt. Seine zum ‚Außer-Europa-Komplex‘ gehörenden Gedichte erscheinen in der Forschungsliteratur häufig in einer Trias mit austauschbaren Gliedern, darunter etwa „Ostafrika“, „Osterinsel“, „Meer- und Wandersagen“, „Theogonien“, „Die hyperämischen Reiche“, „Alaska“ oder das etwas weniger bekannte „Finale“.⁶ Es scheint allerdings Konsens darüber zu bestehen, dass nicht alle Texte Alterität auf dem gleichen Reflexionsniveau verhandeln.⁷

3 Nicola Gess: Exotismus/Primitivismus, in: Handbuch Postkolonialismus und Literatur, hg. v. Dirk Göttsche, Axel Dunker und Gabriele Dürbeck, Stuttgart 2017, S. 145–149, hier: S. 147. Als exotistisch schreibende Autoren nennt der Artikel etwa Robert Louis Stevenson und Rudyard Kipling. 4 Vgl. Gess: Exotismus/Primitivismus [Anm. 3], S. 148; zudem Erhard Schüttpelz: Zur Definition des literarischen Primitivismus, in: Literarischer Primitivismus, hg. v. Nicola Gess, Berlin und Boston 2013, S. 13–27, hier: S. 24: Als primitivistische Intellektuelle sollen nur diejenigen bezeichnet werden, die nachweislich ein „Projekt entwickelt oder durchgeführt haben, in dem der Exklusivitätsanspruch der eigenen Genealogie durch den Rekurs auf eine universalere – und zwar eine allochrone, sprich: ‚primitive‘ – Ökumene der Menschheit konterkariert oder supplementiert wurde.“ Unter denjenigen, die dieses Kriterium erfüllen, nennt Schüttpelz neben Robert Musil, Sigmund Freud, C. G. Jung, Leo Frobenius und seinen kulturmorphologischen Schülern auch Carl Einstein und Gottfried Benn. 5 Vgl. Oliver Simons: Moderne, in: Handbuch Postkolonialismus und Literatur, hg. v. Dirk Göttsche, Axel Dunker und Gabriele Dürbeck, Stuttgart 2017, S. 268–274, hier: S. 274. Alterität anerkennende, relativistische oder universalistische Anschauungen von dem ‚Fremden‘ fänden sich in der deutschen Südseeliteratur im Besonderen erst im 20. Jahrhundert häufiger, wohingegen das 19. Jahrhundert es als „unterlegen, unterentwickelt, fragwürdig und zivilisierungsbedürftig“ darstelle, so Gabriele Dürbeck: Stereotype Paradiese. Ozeanismus in der deutschen Südseeliteratur 1815–1914, Tübingen 2007, S. 342 bzw. 349. 6 „Palau“ dürfte seit der neueren Erkenntnis, dass die dort aufgeworfene Szenerie höchstwahrscheinlich nicht bei den Karolinen, sondern auf Sardinien zu suchen ist, endgültig aus der Reihe ausgeschlossen sein. Vgl. Peter Lingens: Gottfried Benns Palau. Gedanken zu einer Neu-Verortung, in: Mitteilungen der Gottfried-Benn-Gesellschaft e. V. 7 (2020), H. 14, S. 17–18. 7 Vgl. Herbert Uerlings: Exotismus und Primitivismus, in: Benn-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Christian M. Hanna und Friederike Reents, Stuttgart 2016, S. 322–323, oder etwa Marcus

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Die Schlussverse von „Ostafrika“ markieren dabei meist das eine Ende des Spektrums: ach, Afrika im Hirn, keine Gedanken, keiner trösten den Denker wie Überbesetzung seiner mittels Geographie.⁸

Benn besaß durchaus die souveräne Distanz, seine Poetik vom Südwort selbstironisch zu brechen. „Meer- und Wandersagen“ gilt hingegen meist als eher schwaches Glied der Kette, da es lediglich eine Evokation des Südseeflairs durch exotistische Klischees leiste, in die übliches Benn-Gedankengut transferiert werde. Das Urteil geht dann in Richtung Südseeromantik oder gar Kolonialkitsch.⁹ Der vorliegende Beitrag stellt eine Lesart vor, die es plausibel erscheinen lässt, das Gedicht eben doch zur anspruchsvolleren primitivistischen Lyrik zu zählen.¹⁰ Dies geschieht vor dem Hintergrund seiner Entstehung, die eng mit der Zeitschrift „Der Querschnitt“ verflochten ist und letztlich auch in einem Zusammenhang mit Alfred Flechtheims Ausstellung „Südsee-Plastiken“ im Jahr 1926 steht.

Hahn: „Kleine Person mit blauer Mütze“. Gottfried Benn und die Ethnopharmakologie Kurt Beringers, in: Weltliteratur in der longue durée, hg. v. Schamma Schahadat und Annette Werberger, Paderborn 2021, S. 229–249, hier: S. 230. 8 Gottfried Benn: Ostafrika, in: Ders.: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, Bd. I: Gesammelte Gedichte 1, hg. v. Gerhard Schuster, Stuttgart 1986, S. 90–91, V. 28–32. Die Werke Benns werden im Folgenden unter der Sigle (SW I–VII/2) im laufenden Text nachgewiesen. 9 Vgl. z. B. Matthias Berning: „Südseetraum“ und Kunsttheorie – ein Streitfall? Die Südsee-Thematik bei C. Einstein und G. Benn im Spiegel ihrer avantgardistischen Poetik und ihre Desillusionierung bei B. Brecht und R. Müller, in: World Literature Studies 7 (2015), H. 1, S. 47–57, hier: S. 53; Marcus Krause: Anthropologie, Ethnologie und Paläontologie, in: Benn-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Christian M. Hanna und Friederike Reents, Stuttgart 2016, S. 63–65, hier: S. 64. 10 Anders als bei den meist diskursanalytisch verfahrenden postkolonialen Untersuchungen üblich, wird die Kontextbetrachtung hier funktionalisiert, um eine textnahe Lektüre durchzuführen, die sich den spezifisch literarischen Techniken nicht verschließt.Vgl. hierzu Oliver Lubrich: Welche Rolle spielt der literarische Text im postkolonialen Diskurs?, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 157 (2005), S. 16–39.

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2 Die Rahmenbedingungen von Entstehung, Publikation und Widmung des Gedichts Als die „Meer- und Wandersagen“ und „Ostafrika“ Ende 1925 in der Sammlung „Spaltung“ erschienen, schob Benn eine ganze Reihe bereits publizierter Texte zwischen die beiden, den Untertitel tatsächlich einlösenden „Neuen Gedichte“ ein.¹¹ Die Exotismus-Satire sollte offenbar nicht zu unvermittelt auf das Südseegedicht folgen. Schon dies ließe sich als Hinweis lesen, dass zumindest Benn „Meer- und Wandersagen“ von einer Kritik an rein exotistischen Phantasien, wie sie „Ostafrika“ und Essays wie „Fazit der Perspektiven“ oder „Bezugssysteme“ entlarven,¹² nicht getroffen sah. MEER- UND WANDERSAGEN

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Meer- und Wandersagen – unbewegter Raum, keine Einzeldinge ragen in den Südseetraum, nur Korallenchöre, nur Atollenflor, „ich schweige, daß ich dich höre“, somnambul im Ohr. Zeit und Raum sind Flüche über Land gebaut, ob es Rosenbrüche, ob es Schleierkraut, irdische Gestaltung tragisch Sukzession, komm, o Glücksentfaltung, sammelnde Vision. Mit Kanu im Porte, Muschelgeld im Haus,

11 Auf mehr als einem Dutzend Seiten in einem insgesamt nur 38-seitigen Band folgen auf „Meerund Wandersagen“ „Schutt“, „Palau“, „Schädelstätten“, „Die Dänin I–II“, „Nebel“, „Nacht“ und „Chaos“ vor„Ostafrika“ (Gottfried Benn: Spaltung, Berlin-Wilmersdorf 1925). Die Rezeption führt die beiden Texte dagegen, wie einleitend bemerkt, häufig zusammen. Die Edition Bruno Hillebrands mit alphabetischer Anordnung lässt diese räumliche Trennung im Erstdruck ebenfalls unter den Tisch fallen. 12 Der genetische Zusammenhang dieser drei Texte wäre ein separat zu diskutierendes Thema.

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sind erschöpft die Worte, ist die Handlung aus, Jagd noch auf Gazelle, Betel noch gesucht, ewig schlägt die Welle in die Blanchebucht. Göttern Maskenchöre. Da ein Gott tritt vor: „Ich schweige, daß ich dich höre“, im Korallenohr, irdische Gestaltung tragisch Sukzession, ach, schon schließt die Spaltung stürmische Vision. Meer- und Wandersagen kennen nur einen Raum von den Schöpfungstagen in den Südseetraum, wenn die Stürme schlingen Speere und Kanu, wie sie sterbend singen –: „ach, ich höre dich – du.“ (SW I, 62–63)

Dass das Gedicht in Benns Augen – auch jenseits der Sammlung „Spaltung“ – kein ganz unbedeutendes war, legen zwei Auffälligkeiten nahe: Zunächst greift der 31., zu „komm, o Glücksentfaltung“ (V. 15) parallel gestellte Vers „ach, schon schließt die Spaltung“ nicht nur den Titel des Lyrikbandes auf, sondern auch dessen Programmgedicht „Der Sänger“. Dort weist Benn dem modernen Dichter die Lösung der Aufgabe zu, um die der ganze Band kreist: die Überwindung des Sündenfalls der Erkenntnis, der „Spaltung / zwischen ich und du“ (SW I, 55, V. 7–8), zwischen Subjekt und Objekt. Strophe vier und fünf von „Meer- und Wandersagen“ behaupten dementsprechend die erfolgreiche Wiederherstellung des Kontakts mit dem transzendenten Du. Zweitens zeigt sich Benn in höherem Maße am Fortleben des Gedichts interessiert. Noch im Jahr 1949 will er mit einer Ausgabe seiner Lyrik der 1920er Jahre diese Werkphase dem Publikum wieder ins Gedächtnis rufen. Dabei lässt der Prozess von der Idee bis zum Druck des Bandes einige Schlüsse darüber zu, wie der Dichter seine früheren Erzeugnisse bewertet. Beim Titel für den Lyrikband schwankt er zwischen „Trunkene Flut“ und „Der Sänger“. Im Austausch mit

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Friedrich Wilhelm Oelze erarbeitet er mögliche Zusammenstellungen.¹³ Denn zunächst ist unklar, ob der Limes-Verleger Max Niedermayer einen Druckumfang von nur 48 Seiten oder doch den gewünschten, mindestens doppelt so großen gewähren würde. In der engsten Auswahl für die kürzere Version fehlen mehrere bekannte Gedichte aus Benns ‚primitivistischer Phase‘¹⁴ wie „Osterinsel“, „Theogonien“ oder „Erst wenn“ (vgl. BOe III, 69). Was allerdings in einer repräsentativen Sammlung der must reads aus den 1920er Jahren nicht fehlen darf, sind die „Meer- und Wandersagen“. Die jüngere Forschung hat sich auf die Suche nach der maßgeblichen Quelle dieses für Benn augenscheinlich wichtigen Gedichts begeben, und Benjamin Freitag hat den 1925 in der Sommerausgabe der Zeitschrift „Der Querschnitt“ erschienenen Text „Südsee-Exoten“ des Ethnologen und Frobenius-Schülers Kurt von Boeckmann als Vorlage nachweisen können.¹⁵ Dieser Aufsatz fasst ein auch in Benns Nachlassbibliothek befindliches Buch Boeckmanns¹⁶ zusammen, geht in entscheidender Hinsicht aber eben doch darüber hinaus. Über das der pazifischen Götterwelt und „allem, was überhaupt ist“ übergeordnete Naturwesen Taaroa heißt es im „Querschnitt“:

13 Vgl. Gottfried Benn und Friedrich Wilhelm Oelze: Briefwechsel 1932–1956, hg. v. Harald Steinhagen, Stephan Kraft und Holger Hof, Bd. 3: 1949–1950, Stuttgart und Göttingen 2016, v. a. S. 53–69. Zitate aus dieser Ausgabe werden im Folgenden unter der Sigle (BOe I–IV) nachgewiesen. 14 Vgl. Benjamin Freitag: Mythos, Totem und Tabu. Eine quellenorientierte Studie zu den Spielarten des Primitivismus und zur Bedeutung der Mythenforschung im Werk Gottfried Benns, Aachen 2015, S. 108. 15 Vgl. Freitag: Mythos [Anm. 14], S. 129–141, bzw. Kurt von Boeckmann: Südsee-Exoten, in: Der Querschnitt 5 (1925), H. 6, S. 481–490. Im Folgenden unter der Sigle (BS) und Angabe der Seitenzahl im laufenden Text zitiert. Damit ist die wichtigste Vorlage identifiziert – wenn auch die Frage nach dem Material für die dritte Strophe offenbleibt. Sämtliche Ausgaben des „Querschnitt“ sind digital einsehbar unter: https://www.arthistoricum.net/themen/textquellen/illustrierte-magazine-der-klassischen-moderne/die-zeitschriften/der-querschnitt (3. Januar 2023). Thematisch passend erschienen im selben Heft Bildmaterial zu Frank Hurleys Dokumentationsfilmen über Papua und ein Auszug aus dem Begleitbuch „The Cycle of a Coral Reef“. Die Filme liefen in den 1920er Jahren mit einigem Erfolg in den deutschen Kinos und zeigen viele Elemente, die sich auch im Gedicht finden. 16 Marcus Hahn hatte zuvor diese Monografie mit dem Titel „Vom Kulturreich des Meeres“ als Impuls für Benn in Erwägung gezogen. Vgl. Marcus Hahn: Gottfried Benn und das Wissen der Moderne, Bd. 2: 1921–1932, Göttingen 2011, S. 431–474, bzw. Kurt von Boeckmann:Vom Kulturreich des Meeres, Berlin 1924. Boeckmann stellt darin kühne kulturmorphologische Thesen über den Einfluss der Südsee auf die übrigen Erdteile auf. Benns Exemplar trägt nur geringe Lesespuren. Aufgrund seiner handschriftlichen Datierung (September 1924) darin könnte die Lektüre dennoch relevant für die Entstehung des Gedichts gewesen sein. Die vertiefte Beschäftigung mit Boeckmanns Gedanken scheint aber erst über den „Querschnitt“-Beitrag ins Rollen gekommen zu sein.

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Taaroa ist kein Gott, kein greifbares Wesen, auch kein Geist, ist überhaupt nicht aussprechbar oder formbar. Ist nur auf einem einzigen Wege erreichbar – dem Schweigen. „Ich schweige, daß ich dich höre“, sagt der Polynesier. Und was er dann hört, ist […] Weltseele, die sich im Gebären, Wandeln und Töten, im nie unterbrochenen Auf- und Abschwingen erfüllt. (BS, 488)

Die im Gedicht metrisch auffällige Phrase „ich schweige, daß ich dich höre“ (V. 7 und 27) sowie das Wort „somnambul“ (V. 8) sind als Textbausteine dem Aufsatz entnommen. Die Selektion dieser Vorlage scheint Benns Neigung zu kürzeren, populärwissenschaftlichen Aufsätzen zu bestätigen, wo er zwischen diesen und umfangreicheren Sachbüchern die Wahl hat. Durchaus von Interesse ist zudem, dass er sich lediglich für die Verwertung des Beitrags selbst entschied und nicht auf den sich daran anschließenden, bilingualen Auszug „Aus dem polynesischen Schöpfungsmythos“ nach einer Übertragung des Ethnologen Adolf Bastian, des ersten Direktors des Berliner Völkerkundemuseums, zurückgriff. Es ist erwähnenswert, in wie kurzer Zeit Lektüre, Transformation und Publikation erfolgten (Juni/Juli bis November 1925). Die aktuellen Ausgaben der Zeitschriften, in denen er selbst publizieren wollte, – und dazu zählte „Der Querschnitt“ – verfolgte Benn genau.¹⁷ Das mondäne Kunst- und Lifestyle-Magazin war 1921 von Alfred Flechtheim¹⁸ gegründet worden. Die Bekanntschaft mit dem Netzwerk um diesen Galeristen sowohl für moderne als auch für sogenannte primitive Kunst, darunter Hermann von Wedderkop, seit 1924 Herausgeber des „Querschnitt“, und nicht zuletzt dessen regelmäßiger Beiträger Carl Einstein, dürfte mit prägend für Benns Zugang zur zeitgenössischen Exotismus-Mode gewesen sein. Die Beziehungen entstehen teilweise schon vor dem Ersten Weltkrieg und intensivieren sich in der Brüsseler Zeit. Bei aller Vielseitigkeit hatte „Der Querschnitt“ neben Erotik, (Box‐)Sport und Avantgardekunst Schwerpunkte auf kunstethnologischen Themen und druckte dafür Beiträge von Experten wie Boeckmann oder Einstein.¹⁹ Ein weiteres Cha-

17 Berning hat zuletzt auf die Bedeutung hingewiesen, die er der Platzierung seiner Werke im Rahmen seiner ‚inszenierten Dichtergenese‘ beimaß. Vgl. Matthias Berning: Anemonenschwert und Lydditgranate. Gottfried Benns inszenierte Dichtergenese im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2021, S. 578–579. 18 Auf ihn dichtet Benn „Die hyperämischen Reiche“ (SW I, 120–121). 19 Vgl. Erika Esau: ‚The Magazine of Enduring Value‘. Der Querschnitt (1921–1936) and the World of Illustrated Magazines, in: The Oxford Critical and Cultural History of Modernist Magazines, Bd. III, 2: Europe 1880–1940, hg. v. Peter Brooker u. a., Oxford 2013, S. 868–887, hier: S. 873–879. Denise Toussaint kritisiert die Präsentation nichteuropäischer Kulturen im „Querschnitt“ als nur scheinbar von derjenigen in den Populärmedien verschieden, tatsächlich gestalte sie sich ebenso „unreflektiert und stereotyp“. (Denise Toussaint: Dem kolonialen Blick begegnen. Identität, Alterität und Postkolonialität in den Fotomontagen von Hannah Höch, Bielefeld 2014, S. 114.)

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rakteristikum waren bunt zusammengewürfelte Fotostrecken, die mal komplementär, mal kontrastierend und mal eher zusammenhangslos zwischen die Essays gestreut waren. So geschieht es beispielsweise, dass Benns Buchbesprechung „Dein Körper gehört dir“, ein Plädoyer für das Recht auf Abtreibung, unvermittelt von der teilweise voyeuristischen Fotostrecke „Aus einem Kongo-Film André Gides“²⁰ unterbrochen und von einer Zeichnung Emil Stumpps²¹ abgerundet wird.²² Die Fotos tragen unzweideutige Titel wie etwa „Fulbe-Schönheit“. Es dürfte ersichtlich werden, dass der Dichter zwar in einem seit 1918 irgendwie nachkolonialen Deutschland lebte, in dem der von europäischen Vorstellungen überladene Exotismus-Diskurs aber dessen ungeachtet fortwirkte. Ja, Benn konnte selbst von anderen Interessierten in diesem Kontext wahrgenommen werden.²³ Das Gedicht „Meer- und Wandersagen“ ist in der Erstpublikation dem Freund und „Querschnitt“-Mitarbeiter Carl Einstein gewidmet. Die Interessen des Autors des „Bebuquin“ und Kenners afrikanischer Plastik hatten sich in den 1920er Jahren in den Pazifik verlagert. Die Wanderausstellung zu ozeanischer Kunst mit dem Titel „Südsee-Plastiken“, die er in den Jahren 1925 und 1926 für Flechtheim kuratierte (er schrieb u. a. das Vorwort und das Verzeichnis für den Katalog), bildet meiner Ver-

20 Marc Allégret: Voyage au Congo, Paris 1927, Drehbuch v. dems. und André Gide. Das gleichnamige Begleitbuch Gides gilt als kolonialismuskritisch. 21 Vgl. dazu auch die von Benn am 25. November 1925 aus Paris an Stumpp geschickte Postkarte mit Josephine Baker als Bildmotiv, abgedruckt in: Gottfried Benn 1886–1956. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar, hg. v. Ludwig Greve, 2., durchges. Aufl., Marbach 1986, S. 117, sowie erneut in der instruktiven und reich bebilderten Darstellung: Klaus H. Kiefer: Primitivismus und Avantgarde – Carl Einstein und Gottfried Benn, in: Colloquium Helveticum 44 (2015), S. 131–168, hier: S. 137. 22 Gottfried Benn: „Dein Körper gehört dir“, in: Der Querschnitt 8 (1928), H. 3, S. 145–149. Ganz zusammenhangslos sind die Fotostrecke und die Buchbesprechung nicht: Die von der Protagonistin in Victor Marguerittes Buch beklagte Doppelmoral der wohltätigen Gesellschaft veranschaulicht Benn ironisierend mit einem längeren Zitat aus der Tagespresse zu einer prachtvollen, exotistisch überladenen Gala unter dem Motto „Wohltätigkeit zugunsten der kolonialen Wiederaufbauarbeit“ (SW III, 190). Dass im französischen Buch einzig der todkranke Schwarze Kulibaly der Schwangeren Spi beisteht, veranlasst Benn zu einem spöttischen Vergleich: „[W]ährend dort [auf der Gala in Deutschland] die gesellschaftlichen Kreise ihre Wohltätigkeit den Kolonien zuwenden, muß hier [im französischen Roman] die Kolonie das Mutterland sanieren“ (SW III, 190). 23 Benns Nachlassbibliothek umfasst Kulturdarstellungen zu Arabien, dem Orient, Indien, China, Mittel- und Südamerika sowie zur Südsee. Vgl. Hahn: Wissen [Anm. 16], S. 447. Die Exotismus-Welle war dabei bis in die Wohnräume des Dichters geschwappt: Benn besaß offenbar zwei geschenkte hochwertige Teppiche aus Samoa. Ich danke Dr. Manuel Jakubith für diesen Hinweis.

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mutung nach den entscheidenden Bezugspunkt der Widmung.²⁴ Bei aller Rede von einem Exotik-Hype in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts darf nicht vergessen werden, dass diese Wanderausstellung ein „absolutes Novum“²⁵ in Deutschland darstellte. In bisherigen Untersuchungen löste die Widmung an Einstein übereinstimmend Befremden aus, da das angeeignete Südseeflair in den „Meer- und Wandersagen“ dem progressiven Kunsttheoretiker Einstein fernstünde.²⁶ Die Verbindung zwischen den Aussagen des Gedichts und Einsteins Denken scheint allerdings mehr zu umfassen als bloß die Berührung exotischer Themen. Zieht man etwa den berühmten ‚Kahnweilerbrief‘ aus dem Jahr 1923 beziehungsweise 1925 heran, ist besonders Einsteins spezifisches Verständnis der menschlichen Wahrnehmung zu nennen, das er in eine Poetik verarbeitet sehen will. Sie solle sich von den Kategorien der westlichen Philosophie Zeit, Raum und Handlung emanzipieren.²⁷ Benn wie Einstein greifen auf Bergson²⁸ und Schopenhauer (Raum und Zeit als das principium individuationis, das den „‚Schleier der Maja“ [vgl. SW III, 94 und 243] konstituiert). Es erscheint keinesfalls abwegig, die Negativität, mit der Zeit, Raum und Handlung in den Versen 9 und 20 erwähnt werden, auf diese gemeinsame Basis zu beziehen. In einer späteren Äußerung gegenüber Friedrich Wilhelm Oelze ordnet Benn überdies die „Meer- und Wandersagen“ kommentarlos der „kubistische[n] Sphäre“ (BOe III, 53) innerhalb seines Werks zu.²⁹ Zwar verwendet er Kubismus wie Surrealismus gelegentlich synonym zu Expressionismus (vgl. SW IV, 79 und VI, 213),

24 Vgl. Carl Einstein: Vorwort und Verzeichnis, in: Veröffentlichungen des Kunstarchivs 5 (1926), S. 3–19. Unter dem Titel „Südsee-Plastiken“ in: Ders.: Werke. Berliner Ausgabe, Bd. II: 1919–1928, hg. v. Hermann Haarmann und Klaus Siebenhaar, Berlin 1996, S. 401–442. Der Kunsthistorikerin Esther Tisa Francini zufolge könne Einsteins Rolle für die Ausstellung und den zugehörigen Katalog „nicht hoch genug bewertet werden.“ (Esther Tisa Francini: Die Rezeption der Kunst aus der Südsee in der Zwischenkriegszeit. Eduard von der Heydt und Alfred Flechtheim, in: Kunst sammeln, Kunst handeln, hg. v. Eva Blimlinger und Monika Mayer, Wien, Köln und Weimar 2012, S. 183–196, hier: S. 190.) 25 Tisa Francini: Kunst aus der Südsee [Anm. 24], S. 188. 26 Vgl. Moritz Baßler: „Ewig der Accent“ – Benns und Einsteins Widmungsgedichte Meer- und Wandersagen und Die Uhr, in: Gottfried Benn. Wechselspiele zwischen Biographie und Werk, hg. v. Matías Martínez, Göttingen 2007, S. 71–84; Kiefer: Primitivismus [Anm. 21] sowie Berning: „Südseetraum“ [Anm. 9]. 27 Vgl. Carl Einstein an Daniel-Henry Kahnweiler im Juni 1923 (mit Bezugnahme auf Benn) sowie den „Kahnweilerbrief“ 1925, in: Carl Einstein: Briefwechsel 1904–1940, hg. v. Klaus H. Kiefer und Liliane Meffre, Berlin 2020, S. 224–232 bzw. 378–387. 28 Benn war über Semi Meyer mit Bergson vertraut, Hahn nimmt auch eine selbständige Lektüre an.Vgl. Marcus Hahn: Gottfried Benn und das Wissen der Moderne, Bd. 1: 1905–1920, Göttingen 2011, S. 287. 29 Oelze akzeptiert diese Einordnung ohne Gegenfrage (vgl. BOe III, 76).

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doch gerade dafür scheint das Gedicht kein besonders einleuchtendes Beispiel zu sein. Wer in Benns Umkreis den Kubismus am entschiedensten in die Literatur überführen wollte, war Einstein.³⁰ Mögen sich die „Meer- und Wandersagen“ auch von Einsteins praktischen lyrischen Versuchen teilweise deutlich unterscheiden, so bewegen sie sich doch über die exotische Thematik hinaus in gedanklicher Nähe zu Einsteins Theoriebausteinen.³¹ Geht man von der künstlerischen zur persönlichen Ebene über, muss diese mangels einer überlieferten direkten Privatkorrespondenz zwischen Benn und Einstein weitestgehend aus Äußerungen ‚über Bande‘ an Dritte über den jeweils anderen rekonstruiert werden. Für gewöhnlich gilt Benn Anfang der 1920er Jahre als isoliert – eingespannt in seine ärztliche Tätigkeit seien die Brücken eingebrochen, nachdem sich die expressionistischen Netzwerke im Anschluss an den Ersten Weltkrieg aufgelöst hätten. Ob sich das wirklich so bestimmt sagen lässt, ist fraglich, immerhin traf er sich doch häufiger mit George Grosz, Egmont Seyerlen, Leo Matthias und anderen. Grundlage für die geläufige Annahme sind jedenfalls Äußerungen wie die folgende vom 4. September 1926 aus einem Brief an Gertrud Cassel, spätere Zenzes: „Sehe und höre niemanden, ausser manchmal Einstein.“³² Einstein meldet nicht unähnlich in einem undatierten Schreiben aus dem Jahr 1923 an Tony Simon-Wolfskehl: Wir [inkl. Egmont Seyerlen, Ergänzung S. M.] wollen uns jetzt wieder öfters sehen; aber bei aller Abneigung von Benn und von mir gegen Intellektuelle und gaischtige Gespräche wird wohl nichts daraus werden.Vielleicht schafft man es alle 4 Wochen. Wie das Leben komisch ist. Und das sind in Deutschland meine besten Freunde.³³

Benn und Einstein, das bleibt festzuhalten, pflegten verhältnismäßig engen und regelmäßigen Kontakt. Der Autor der „Meer- und Wandersagen“ konnte wohl davon ausgehen, dass Einstein Boeckmanns Aufsatz im „Querschnitt“ für seine Studien zu den „Südsee-Plastiken“ Flechtheims wahrgenommen hatte, und die beiden Avantgardisten werden sich – natürlich mit prononcierter Coolness und Einzelgänger-

30 Vgl. hierzu auch Kiefer: Primitivismus [Anm. 21], S. 159–166, und Matthias Berning: Kubistische Lyrik? Carl Einsteins Gedichte in der Zeitschrift Die Aktion 1916/17 im Kontext von Negerplastik, Negerliedern und kubistischer Kunsttheorie, in: Colloquium Helveticum 44 (2015), S. 115–130. 31 Kiefer mutmaßt dagegen in einer Randbemerkung, Benn wolle Einstein mit der Widmung ärgern, um ihn hinsichtlich der Südseekulturen eines Besseren zu belehren.Vgl. Kiefer: Primitivismus [Anm. 21], S. 148–150. 32 Benn an Cassel vom 4. September 1926, in: Gottfried Benn und Gertrud Zenzes: Briefwechsel 1921–1956, hg. v. Holger Hof und Stephan Kraft, Stuttgart und Göttingen 2021, S. 37. 33 Einstein an Tony Simon-Wolfskehl aus dem Jahr 1923, in: Einstein: Briefwechsel [Anm. 27], S. 281.

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attitüde – in kunsttheoretischer wie allgemeiner Hinsicht über die Südsee ausgetauscht haben.³⁴

3 Wie kommt eine Gazelle in die Südsee? Eine Sollbruchstelle im Text Noch vor der Häufung von außereuropäischen Gegenständen ist der dominanteste Zug der Lyrik Gottfried Benns in den 1920er Jahren der Hang zu einer bestimmten Strophenform: zum Achtzeiler, den er später als seine „Specialität“ (BOe IV, 16) dieser Periode bezeichnen wird. Im vorliegenden Fall seien nur einige wenige formale Gesichtspunkte herausgegriffen, die für die Leselenkung und die ästhetische Struktur des hier im Zentrum stehenden Gedichts essentiell sind. Die überwiegend trochäischen Verse mit abwechselnd männlicher und weiblicher Kadenz erscheinen umso gleichmäßiger, da sie beinahe ausschließlich von dunklen Reimvokalen und -diphthongen zusammengehalten werden. Mit Ausnahme der vierten Strophe weisen der jeweils zweite und vierte Vers einer Versgruppe gar den gleichen -au-Reim auf. Diese Ausnahme ergibt sich aus der auffälligen Gruppierung von sich wiederholendem Versmaterial um die mittlere Strophe: Der Beginn der letzten Strophe greift den Anfang der ersten wieder auf, der Schluss der vierten Versgruppe wandelt den der zweiten leicht ab, und ihr Beginn ähnelt in Reim und Versstruktur stark dem Ende der ersten Strophe. Diese Anordnung geht einen Schritt über die Refrains und Kyklen hinaus, die Benn auch sonst gerne mit der „fast klassisch anmutende[n]“³⁵ achtversigen Strophe kombiniert. Man könnte in der Form eine Parallele zu dem Ideal ziehen, das der Kunsthistoriker und Zeitgenosse Benns Wilhelm Worringer als Grundprinzip für die Kunst der sogenannten Naturvölker annahm: die kristallinische Schönheit.³⁶ Boeckmann schreibt über die Kunsterzeugnisse aus der Südsee von der „unerhör-

34 Zu einem ähnlichen Schluss kommt Kiefer: Primitivismus [Anm. 21], S. 145. Die Abwesenheit des Primitivismus-Themas in Einsteins Rezension zu Benns „Gesammelten Gedichten“ (1927) ist zwar bemerkenswert, das gelegentlich davon abgeleitete Argument für eine Abneigung des Rezensenten gegen die „Meer- und Wandersagen“ scheint mir aber keineswegs zwingend. Vgl. Carl Einstein: Gottfried Benns „Gesammelte Gedichte“, in: Ders.: Werke. Berliner Ausgabe, Bd. II: 1919–1928, hg. v. Hermann Haarmann und Klaus Siebenhaar, Berlin 1996, S. 504–507. 35 Thomas Ehrsam: „Spaltung“ (1925), in: Benn-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Christian M. Hanna und Friederike Reents, Stuttgart 2016, S. 92–93, hier: S. 92. 36 Vgl. Nicola Gess: Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige in der literarischen Moderne (Müller, Musil, Benn, Benjamin), München 2013, S. 340.

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te[n] formale[n] Zucht im Ganzen“ (BS, 489). In den „Meer- und Wandersagen“ lassen sich ebenjene Oppositionen und Verbindungen ziehen, die Worringer als typisch für eine von anorganischen Strukturen geprägte, archaische Kunst ansah. Der geschlossenen Form entspricht der Eindruck von Absolutheit und Unbestimmtheit, der sich von dem Südseeraum, und zwar – das ist nicht irrelevant – deckungsgleich vor allem in den Strophen eins und zwei sowie vier und fünf einstellt. Er ist schon in der zugrundeliegenden Schrift Boeckmanns angelegt, die ja vom Menschen der Südsee im Allgemeinen und dem gesamten pazifischen Kulturraum handelt. Auch die „Polarität Land–Meer“ (BS, 483, im Gedicht V. 9–10 vs. 33– 36) konnte Benn bereits dort vorfinden. Ihr verdankt sich die Oberflächengliederung in eine Ruhe- und eine Sturmhälfte, die die Feinstruktur überlagert: Und so muß es [das Meer] sich auch im Seelentum jener Meermenschen und den äußeren Schöpfungen ihrer Kultur ununterbrochen und unbeengt widerspiegeln als jahrhundertelang täglich erlebte Weite, Größe, Übermäßigkeit, Einheit, aber auch als Wandlung von träumender Unbewegtheit bis in den Gegenschlag tobender Taifune. Heimat des Europäers ist horizontenges, einzelheitenüberfülltes Land. Heimat des Südseemenschen ist horizontweites, einförmiges Meer. Das Kalenderjahr des Europäers rechnet mit Jahreszeiten. Der tropische Mensch der Südsee kennt diesen Wechsel nicht. Er kennt nur eine Jahreszeit. So liegt zwischen der Seele des Europäers und der des Südseemenschen eine abgrundtiefe Kluft. (BS, 482, im Gedicht V. 2–4, V. 33–36, sowie die Achse von V. 16 und 32)

Die Südsee kenne meteorologisch, ethnopsychologisch und kulturell abgesehen von dieser Schalter-Binarität von Ruhe und Sturm nur einen einheitlichen Zustand. In der ästhetisierten Darstellung Benns herrschen auf dem Kontinent Europa in Strophe 2 dagegen vergängliche Rosen und Schleierkraut, ein tragischer und uneinheitlicher Ablauf von Einzelereignissen. Auf Boeckmanns Aufsatz sind neben dem todesmutigen Untergang in Strophe fünf, den die Einheimischen aus Hunger „liedersingend“ (BS, 486) in Kauf nehmen, demnach die Abwesenheit von Einzeldingen, das Zeitenthobene, die Regungslosigkeit zurückzuführen. Benns Gedicht verstärkt diesen Eindruck gegenüber seiner Vorlage durch die Anreicherung mit weiteren Abstrakta („Glückentfaltung“ [V. 15], „Sukzession“ [V. 14], „Südseetraum“ [V. 4]) in den entsprechenden Strophen. Die hintergründige Kulthandlung³⁷ bleibt abgesehen von Chören und Masken merk-

37 Bei Boeckmann heißt es dazu: „Hier wird der Mensch medial kündendes Organ einer Naturdämonie, der größten, zugleich schönsten und grauenvollsten, die es gibt. Aus diesen Sagen und Meditationen, feierlichen Riten und brünstigen Ekstasen spricht das Meer, bald leise hinspielend, träumend, lockend und liebend, glitzernd und weich, bald brüllend, hetzend, mordend im Bersten der Vulkane oder Rollen der Taifune, immer aber weit, groß, unendlich und übermäßig. Wer das Wesen der künstlerischen Irrationalität ergründen will, muß es in der Südsee suchen.“ (BS, 486)

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würdig vage. (Negierte) Allquantoren und Fokuspartikel tragen zu dieser ‚Einheits‘Wirkung bei: „keine Einzeldinge“ (V. 3), „nur Korallenchöre / nur Atollenflor“ (V. 5– 6), „nur einen Raum“ (V. 34) – „ewig schlägt die Welle“ (V. 23). Genau auf diese Erzeugung einer nebulösen, verkehrten Welt dürfte eine kritische postkolonialistische Analyse nun ihren Fokus richten. Die von Achille Mbembe genannten Schlüsselwörter der westlichen Rede über Afrika „manque“, „non-être“, „absence“ und „différence“³⁸ lassen sich cum grano auf die Darstellung des Südseeraums bei Boeckmann und Benn übertragen. Die Attribuierung „somnambul“ (V. 8) knüpft an die Vorstellung von noch nicht erwachten Völkern vor der Ankunft des ‚weißen Mannes‘ an. Zugleich schließt die Pauschalisierung des Lebens im Pazifik zum „Südseetraum“ dieses von Ratio und Selbstbewusstheit aus, markiert es mit den geflügelten Worten als das ‚Andere der Vernunft‘. In seiner Vorliebe für Kulturen, die von Eisen- und ‚Achsenzeit‘ ausgespart blieben, ersetzt Benn sie „kenn[en] nur eine Jahreszeit“ durch „kennen nur einen Raum“ (V. 34), zu lesen als Zeitraum. Und wo Boeckmann schon von synchroner Steinzeit spricht (vgl. BS, 484), knüpft die letzte Strophe an den Topos vom Südseeparadies³⁹ an und versetzt den Entwicklungszustand in die biblische Ära unmittelbar nach Erschaffung des Menschen zurück. Verschiedenste Motive von der archaischen Kollektivkultur bis zur Heroisierung des edlen Wilden, der, ohne mit der Wimper zu zucken, sein Leben im Kanu opfert, werden auf engem Raum kombiniert. Natürlich wird der Südseebevölkerung somit zugleich eine idealisierte, vom Fluch der Erkenntnis sowie seinen Folgen Individualisierung, Sprache, Handlung und Geschichte befreite Teilhabe am Wissen um das Unaufhörliche, am transzendenten Du und am Metaphysischen (im Sinne von Platons „Timaios“) zugeschrieben.⁴⁰ Gleichzeitig stützt eine solche Idealisierung die hegemoniale Ideologie des

Freitag hat eingehend zu den Übernahmen in ethnologischer Hinsicht Stellung genommen. Über die kunsttheoretischen Implikationen ließe sich aber noch einiges sagen, etwa wenn Boeckmann abschließend einen Verriss des expressionistischen Exotismus liefert: „Südseemaske oder Kokain – der Effekt ist oft der gleiche.“ (BS, 490) 38 Achille Mbembe: De la Postcolonie. Essai sur l’imagination politique dans l’Afrique contemporaine, Paris 2000, S. 13. 39 Dürbeck zufolge weist der Topos vom Südseeparadies in einem dynamischen Diskursfeld eine extrem hohe Stabilität auf. Vgl. Dürbeck: Südseeliteratur [Anm. 5], S. 33–41. 40 Vgl. hierzu Benns zweite Referenz auf Boeckmann im Oratorium „Das Unaufhörliche“: „Wir Vertriebenen, / wir Scheitelstunde, / die sich nie in Traum und Rausch vergißt: / manchmal werden wir davongetragen, / hören wir / von Meer- und Wandersagen, / einer Insel, wie aus Schöpfungstagen / und die ohne das Bewußtsein [in einem Entwurf erprobt Benn „ohne [weiße Rasse]“ (SW VII/2, 627)] ist.“ (SW I, 138) Boeckmann schreibt, der Südseemensch nehme im Schweigen eine „endlose Kette von Welten“ (BS, 488) wahr. Im „Omnibus. Almanach für das Jahr 1932“ erscheinen das Vorwort des

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Westens, dass es sich beim globalen Süden um ‚geschichtslose Kontinente‘ handle, wie Hegel sich einmal über Afrika ausgedrückt haben soll.⁴¹ Auf den ersten Blick funktioniert die dritte Strophe nicht anders. Jagen entspricht wie Sammeln (vgl. V. 21–22) der Urzeitstimmung. Mit der behaupteten Abwesenheit von Worten und Handlung wird den Menschen der Südsee die postkoloniale Kategorie der agency ⁴² abgesprochen: Gestaltungsmacht, Selbstbestimmung und nicht zuletzt Widerstand. Und doch hebt sich die mittlere Versgruppe auffällig vom übrigen Gedicht ab. Die Wiederholung des unscheinbaren Wörtchens „noch“ gerade im Zentrum des Texts („Jagd noch“ [V. 21], „noch gesucht“ [V. 22]) setzt die Südseeszenerie unerwartet unter Spannung. Sie evoziert eine Verfalls- und Endzeitstimmung, die zunächst im Kontrast zu der vermeintlich zeitenthobenen Kulisse („kennen nur einen Raum“ [V. 34], „ewig“ [V. 24]) steht, hatte die vorangegangene Strophe doch die historische Sukzession, den Geschichtslauf dem kontinentalen Land-Paradigma zugeschlagen. Die so entstehende Finalität erlaubt es, nun auch den Pazifikraum in die als „tragisch“ (V. 30) markierte Geschichtsfolge einzubeziehen. Gerade so, als stünde etwas bevor, das über die Südsee einbrechen und alles verändern wird. Neben dieser besonderen Form der Zeitlichkeit unterscheidet sich auch das Vokabular auf markante Weise vom übrigen Gedicht: Während sonst dingliche Elemente schemenhaft, wie hinter einem mysteriösen Nebel bleiben, wird die Beschreibung der Szenerie in der zentralen Strophe konkret. Ein Wort fällt aber vor allen anderen ins Auge: Nicht in der Südsee, sondern im afroasiatischen Raum beheimatet, löst die „Gazelle“ Irritationen aus. Abgesehen von Rosenbrüchen und Schleierkraut ist es das einzige konkrete Wort, das nicht zur Südseeatmosphäre beiträgt. In den meisten Beiträgen zu „Meer- und Wandersagen“ wurde die verirrte Gazelle als ein Synkretismus nach Art anderer Benn-Texte verstanden – man denke

Textbuchs zum „Unaufhörlichen“ und das No. 4 Sopran-Solo daraus 1932 noch einmal neben einer englischen Adaption von Einsteins Text „Südsee-Plastiken“ und einer von dem Ethnologen Eckart von Sydow verfassten Würdigung der zugrundeliegenden Sammlung, die eine Art Rückschau auf die Ausstellung liefern. Gottfried Benn: Das Unaufhörliche, in: Omnibus (1932), S. 33–36. Die nach zwei Ausgaben eingestellte Zeitschrift ist online einsehbar unter https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/ omnibus (1. Februar 2023). 41 Abgesehen von Karthago und Ägypten „zeigt sich uns nun Afrika als ein Geschichtsloses und Unaufgeschlossenes“, gibt ihn Hegels Sohn Karl wieder. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wintersemester 1830/31 Nachschrift Friedrich Wilhelm Karl Hegel mit Varianten aus den Nachschriften Jan Ackersdijck, Adolf Heimann und Johann Heinrich Wichern, in: Ders.: Gesammelte Werke, hg. v. Walter Jaeschke, Bd. 27,4: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte IV. Nachschriften zum Kolleg des Wintersemesters 1830/31, S. 1151–1571, hier: S. 1230. 42 Vgl. Henning Melber: Agency, in: Handbuch Postkolonialismus und Literatur, hg. v. Dirk Göttsche, Axel Dunker und Gabriele Dürbeck, Stuttgart 2017, S. 128–130.

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an die Gobimöwe oder die bunten Ortswechsel in „Ostafrika“. Nur selten wurde erkannt, dass es sich dabei tatsächlich um eine naheliegende Ortsbezeichnung des Bismarck-Archipels handelt. Man findet sie auf historischen Karten des Südseeraums wie etwa auf derjenigen in Alys Buch, die eingangs erwähnt wurde. Die Gazelle-Halbinsel bildet das nordöstliche Ende der Insel New Britain (ehemals NeuPommern) und beherbergt im Nordosten die Blanche Bay. Benannt sind sie nach einem Schiff der deutschen (Gazelle) und der britischen (Blanche) Marine, die die Orte jeweils vermessen haben.⁴³ Es ergibt sich damit eine zweite Lesart des Verses „Jagd noch auf Gazelle“: Auf der Gazelle-Halbinsel wird noch gejagt. Bei der Suche nach der unbekannten Quelle für das Wortmaterial aus der dritten Strophe hat sich Freitag für den Bericht „Dreißig Jahre in der Südsee“ des dänisch-deutschen Pflanzers, Ethnographen und Handelsagenten Richard Parkinson stark gemacht, allerdings finden sich an dem in Benns Nachlassbibliothek erhaltenen Exemplar offenbar keine Lesespuren.⁴⁴ Die genaue Herkunft des Materials ist an dieser Stelle auch von geringer Relevanz, denn beinahe so zugänglich wie Informationen über Toponyme in der Südsee heute über das Internet sind, waren sie es damals über das Kolonialschrifttum. Wirft man etwa einen Blick in das „Deutsche Kolonial-Lexikon“, erscheint der Eintrag „Gazellehalbinsel“ – wie das zugehörige „deutsche[] Kriegsschiff, das 1875/76 unter dem Freiherrn v. Schleinitz (s. d.) auf einer Weltreise u. a. den Bismarckarchipel, Bougainville und die Samoainseln besuchte und wichtige vielseitige Aufnahmen machte“⁴⁵ – noch vor dem namensstiftenden Tier:

43 Baßler: Widmungsgedichte [Anm. 26], S. 82, Anm. 18, verweist in einer Nebenbemerkung auf den „deutsche[n] Komplex ‚verlorene Kolonien‘“ und überlegt zumindest, das „ach“ auf die Verbrechen des Kolonialismus zu beziehen, ohne aber weitreichendere Schlüsse zu ziehen. Konträr zu den Ausführungen hier merkt Kiefer in einer Fußnote an: „Anders als Einstein übergeht Benn die kolonialgeschichtlichen Dimensionen seines Themas völlig.“ (Kiefer: Primitivismus [Anm. 21], S. 149, Anm. 81) Merkwürdig ist doch, dass einige Interpreten zwar auf den Kolonialkontext schließen, dies aber zeitgenössischen Leser:innen, ja noch nicht mal dem Spezialisten Einstein in irgendeiner Weise zutrauen – und das, obwohl sich sowohl Einstein als auch Boeckmann kolonialismuskritisch äußern (s. u.). Allein Hans Christoph Buch liest das Gedicht in einem Zeitungsartikel als Erzählung der kolonialen Verwüstung, bringt dafür aber wiederum keine Belege aus dem Text. Hans Christoph Buch: Kein Südsee-Idyll. Gedicht, Interpretation, Lesung: „Meer- und Wandersagen“ von Gottfried Benn, in: FAZ vom 30. März 2013, S. 35. Vgl. wohl im Anschluss daran auch Wolfgang Boochs: Deutsche Kolonien. Neuguinea und Samoa, Norderstedt 2021, S. 192. 44 Vgl. Freitag: Mythos [Anm. 14], S. 121. 45 Eintrag „Gazelle“, in: Deutsches Kolonial-Lexikon, hg. v. Heinrich Schnee, Bd. 1: A–G, Leipzig 1920, S. 680. Schnee war als einer der höchsten deutschen Kolonialbeamten sowohl in Afrika als auch Ozeanien aktiv.

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die nach dem deutschen Schiff „Gazelle“ (s. d.) benannte nordöstliche Halbinsel Neupommerns (s. d.), im Bismarckarchipel (Deutsch-Neuguinea) […] hat eine Reihe von zum Teil tätigen Vulkanen im Osten an der Blanchebucht. Hier ist auch die Hauptstadt Deutsch-Neuguineas, Rabaul (s. d.), gelegen. Die Gazelle-Halbinsel ist Sitz der Hauptfirmen des Bismarckarchipels […].⁴⁶

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass das Lexikon 1920 erschien, also wie Benns Verse zu einer Zeit, als die Deutschen ihre Kolonien schon verloren hatten. Es ist „DEM DEUTSCHEN VOLK“ gewidmet „mit dem heißen Wunsch, daß unser Vaterland bald zu erneuter Größe wiedererstehen und seine mit so gutem Erfolg begonnene Kulturarbeit über See wieder aufnehmen möge“.⁴⁷ Neben Kanus, Muschelgeld und dem Rauschmittel Betel findet in dem mehrbändigen Lexikon auch das zweite Toponym „Blanchebucht“ Erwähnung, das bei einer uninformierten Gedichtlektüre vielleicht Assoziationen an einen beliebigen weißen Strand in der Südsee weckt.⁴⁸ Wer sich also für die Südseekultur interessierte und etwa wie Carl Einstein für seine Arbeit an den „Südsee-Plastiken“ Kolonialgut bestimmten Kulturen zuordnen musste, dem waren die beiden Ortsbezeichnungen vertraut. Ob ihm deshalb auch die mit der Namensgebung verknüpfte Geschichte bekannt war? Sie lässt sich leicht erahnen. Wie sah also die „mit so gutem Erfolg begonnene Kulturarbeit“ der Deutschen in dieser Pazifikregion aus? Nach dem Prinzip flag follows trade erreichten die bereits jahrzehntelang in der Südsee operierenden Handelsgesellschaften, dass auf Matupi in der Blanche Bay am 3. November 1884 die Reichsflagge gehisst wurde.⁴⁹ Dazu erschollen Salutschüsse und „Heil dir im Siegerkranz“. So wurden der nordöstliche Teil Papua-Neuguineas und die umliegenden Inseln zu deutschem „Schutzgebiet“, das heißt zur Kolonie.

46 Eintrag „Gazelle-Halbinsel“, in: Deutsches Kolonial-Lexikon, hg. v. Heinrich Schnee, Bd. 1: A–G, Leipzig 1920, S. 680–681. Auch sonst erscheint in der damaligen Fachliteratur meist hinter der ersten Nennung der Gazelle-Halbinsel gleich die Namenserklärung über das Kriegsschiff. 47 Deutsches Kolonial-Lexikon [Anm. 45], S. V. Für die Bedeutung dieser Verknüpfung von Wissen und Machtanspruch vgl. das Kapitel „Knowing the Oriental“ in: Edward W. Said: Orientalism, London 2019, S. 31–49. 48 Die (französische, englische oder deutsche) Aussprache birgt Potential für weitere Irritationen. Die englische – wie sie der Namensgeber erfordern würde – würde einen das trochäische Versmaß störenden Hebungsprall erzeugen. Benn hatte das Gedicht bei seinem Rundfunkdebüt 1927 vorgetragen, die Aufnahme ist aber anscheinend nicht überliefert (vgl. Holger Hof: Benn. Sein Leben in Texten und Bildern, Stuttgart 2007, S. 122). 49 Vgl. Aly: Prachtboot [Anm. 1], S. 26. Benn erwähnt den Vorgang im „Roman des Phänotyp“ (SW IV, 426), allerdings nicht, dass ihm eine ‚Strafaktion‘ gegen die Bevölkerung vorausging.

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Das Gedicht weckt nicht nur irgendwie koloniale Assoziationen, sondern benennt an zentraler Stelle ziemlich exakt den Ort der Gründung der ersten deutschen Südseekolonie. Deshalb wurde zuvor auf die formale Geschlossenheit und Abdichtung nach außen hingewiesen. Über die Dialektik von Zentrum und Peripherie lässt jede Stärkung der Außengrenzen das Innere fragiler wirken. Inmitten des abstrakten, entrückten, vermeintlich seit den Schöpfungstagen unberührten Raums entsteht plötzlich Überdetermination. Hier scheint eine Art Sollbruchstelle zu liegen. Der Vers „Jagd noch auf Gazelle“ (V. 21) denotiert nicht mehr Informationen über eine Tierart.⁵⁰ Es geht auch nicht um die Entfaltung von Wallungswert. Er sagt, ‚Ich passe hier nicht hinein… Lege mal deinen Finger auf mich und achte darauf, was passiert…‘ Anders als in Benns „Ostafrika“, wo Unterdetermination herrscht, wird hier Südwort-Camouflage betrieben, der koloniale Fremdkörper segelt unter falscher ozeanischer, respektive afrikanischer Flagge. Zwar hat sich Benn nicht für die ganz eindeutigen Toponyme wie „Kaiser-Wilhelms-Land“ oder „Neu-Mecklenburg“ entschieden. Aber ein Einzelding ragt eben doch in den „Südseetraum“: ein deutsches Kriegsschiff. Und was passiert, wenn man an der Sollbruchstelle rührt? Nachdem die Korvette „Gazelle“ 1874 die Halbinsel vermessen hatte, führte sie auf einer benachbarten Insel eine sogenannte Strafexpedition durch. Um die Bevölkerung dort zu ‚züchtigen‘, so der Kolonialjargon, ließ Friedrich Freiherr von Schleinitz, der spätere erste Landeshauptmann der Kolonie, die Insel mit Bootsgeschützen beschießen und setzte den Flüchtenden mit einem Landungstrupp nach. Es schien für den eventuellen Verkehr von Europäern mit diesen Eingeborenen wichtig, ihnen eine Lektion dahin zu erteilen, dass Europäer ihnen stets überlegen sind und dass sie jedes Unrecht bestrafen. Dafür war es erforderlich ihnen einen Beweis zu liefern, dass man im Stande sei, sie in ihren Dörfern heimzusuchen.⁵¹

50 Vgl. zu dieser semiotischen Überlegung Roland Barthes: Mythen des Alltags, übers. v. Horst Brühmann, 4. Aufl., Berlin 2016, S. 260. Herbert Uerlings beobachtet, das Gedicht sei auf der „Suche nach einer Sprache, die nicht auf arbiträren Beziehungen zwischen Zeichen und Bezeichnetem beruht, sondern auf durchgängig motivierten, ja notwendigen Beziehungen.“ (Herbert Uerlings: Primitivismus und Kanon. Gottfried Benns Kampf um die klassizistische Geltung der Kunst, in: Kanon und Text in interkulturellen Perspektiven. „andere Texte anders lesen“, hg. v. Michaela Auer u. a., Stuttgart 2001, S. 81–96, hier: S. 88.) 51 So Schleinitz im Bericht von seiner Forschungsreise, zitiert nach Alexander Krug: „Der Hauptzweck ist die Tötung von Kanaken“. Die deutschen Strafexpeditionen in den Kolonien der Südsee 1872–1914, Tönning, Lübeck und Marburg 2005, S. 34. Die Pionierarbeit lässt keinen Zweifel an den Gräueln, die die deutsche Kolonialverwaltung im Südseeraum insgesamt beging. Denen auf der Gazelle-Halbinsel widmet sie ein eigenes Kapitel. Vgl. zudem Eva Künkler: Koloniale Gewalt in Deutsch-Neuguinea und der Raub kultureller Objekte und menschlicher Überreste. Eine systema-

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Zuvor hätten Einheimische bei einem Bootsgang Gegenstände mitgehen lassen. Die deutsche Marine führte also bereits vor der Einrichtung der Kolonie für die Handelsinteressen „eine Reihe besonders blutiger Strafexpeditionen“ durch, „einige der schlimmsten Exzesse, die von höchster Stelle gedeckt und vorangetrieben“ wurden, so der Historiker Alexander Krug.⁵² Er weist über 200 solcher Racheaktionen im Zeitraum von 1872 bis 1914 nach. Die Dunkelziffer soll weit höher liegen. Sie trafen überwiegend Unbeteiligte und Unschuldige. Hinzu kommen Versklavung, Verschleppung, Vergewaltigung, Einschleppung von Krankheiten, insbesondere Geschlechtskrankheiten, und Hunger sowie Raub. Der kaiserliche Kommissar in Neuguinea fand bei Reichskanzler Bismarck offene Ohren, als er 1886 forderte, der Widerstand auf der Gazellehalbinsel müsse „ein für alle Mal gebrochen werden“.⁵³ In seiner Studie von 2005, also noch lange vor der Entscheidung in der Debatte um den Völkermord an Herero und Nama, benennt Krug das Verhalten der Deutschen in Teilen der Südsee als genozidal.⁵⁴ Götz Aly rekapituliert die verheerenden Folgen einer besonders brutalen Vernichtungs- und Sammelaktion auf der Insel Luf.⁵⁵ Den wenigen traumatisierten Überlebenden fehlte die Nahrungsgrundlage. Nur ein Bruchteil der Häuser wurde wieder errichtet, nur eins der überlebenswichtigen Kanus neugebaut – das dann mutmaßlich ohne Gegenleistung nach Berlin abtransportiert wurde und heute Hauptattraktion des Humboldt Forums ist. Es gab wohl keine intakten Gruppen mehr, die das Fahren mit diesen Großbooten beherrscht hätten. Mit den Menschen verschwand das Wissen um die Kulturtechniken, ja die Kultur selbst. Vor diesem Hintergrund liest sich die Integrität in Strophe drei der „Wandersagen“, „Kanu im Porte, / Muschelgeld im Haus“, und die Finalität, „Betel noch gesucht“,⁵⁶ „Jagd noch“ (V. 17–22), völlig anders. Sie sind auf den Einbruch des Kolonialismus ausgerichtet. Dass die Beteiligten um das Gedicht „Meer- und Wandersagen“ ein genaues Bild von den Zuständen in den Kolonien hatten, ist unwahrscheinlich. Aber deutsche Zeitungen berichteten durchaus von den Strafexpeditionen, besonders die kritische kirchliche und linke Presse sparte nicht mit Details.⁵⁷ Kurt von Boeckmann erwähnt tische Übersicht zu Militärgewalt und sogenannten Strafexpeditionen in deutschen Kolonialgebieten in Ozeanien (1884–1914), Magdeburg 2022. 52 Krug: Strafexpeditionen [Anm. 51], S. 376. 53 Zitiert nach Krug: Strafexpeditionen [Anm. 51], S. 109. 54 Vgl. Krug: Strafexpeditionen [Anm. 51], S. 381. 55 Vgl. Aly: Prachtboot [Anm. 1], S. 14. 56 Zu dem schon weitverbreiteten Betelkonsum machten die Kolonisatoren die Bevölkerung abhängig von minderwertigem Tabak, um sie beim Handeln noch leichter übervorteilen zu können. 57 Vgl. Krug: Strafexpeditionen [Anm. 51], S. 267, und Aly: Prachtboot [Anm. 1], S. 178. So etwa im Jahr 1903 der „Vorwärts“, von dem Benn in „Doppelleben“ behauptet, er sei im Elternhaus abonniert gewesen (vgl. SW V, 85). Diese Aussage ist allerdings mit Vorsicht zu betrachten, bedenkt man, dass

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in seinem Aufsatz gleich im zweiten Satz die Kolonisatoren, die „abendländischem Macht- und Besitzwillen auch im fernen Südmeer mit Kanonen und Farmerpeitschen neues Beutegelände öffneten.“ (BS, 481) Sein Schlussgedanke gilt ferner der „Rising Tide of colour against white Supremacy“ (BS, 490).⁵⁸ Am deutlichsten gegen einen bloß zufälligen Synkretismus oder einen bloß allgemein geographischen Hinweis spricht allerdings der mit der Widmung bedachte Adressat des Gedichts. Mehrere Texte Benns aus den Zwanzigern pendeln zwischen einer unbestimmten Totalität und einer überdeterminierten Konkretheit.⁵⁹ Unter anderem damit erlangen sie die für Benns nachexpressionistische Phase typische Hermetik,⁶⁰ die mit der Wendung an einen kleinen Kreis von Eingeweihten einhergeht.⁶¹ Die „Meer- und Wandersagen“ erschienen nicht im „Querschnitt“, wo ein aufmerksames Publikum von Abonnenten das intertextuelle Spiel mit der Vorlage hätte verfolgen können. Stattdessen wurden sie, wie erwähnt, 1925 im Band „Spaltung“ und 1927 in den „Gesammelten Gedichten“ mit der Widmung „(für Carl Einstein)“ gedruckt. Eine französische Fassung des einleitenden Texts zum Ausstellungskatalog der „Südsee-Plastiken“ wurde bereits für 1925 nachgewiesen.⁶² Im dritten Absatz der deutschen Fassung aus dem Jahr 1926 hält Einstein es für [e]rklärlich, daß mit dem furchtbaren Schock der Kolonisation, der plötzlich eingeführten europäischen Kultur und dem völligen Unterwühlen der geistigen und religiösen Zustände diese Kunst, die vor allem religiösen Zwecken diente, dahinschwand.⁶³

er Oelze gegenüber in einer ähnlichen Formulierung die rechtskonservative „Kreuzzeitung“ erwähnt (vgl. BOe I, 295). 58 Dieses Bild hat auch in Benns Essay „Fazit der Perspektiven“ Eingang gefunden (vgl. SW III, 302– 304). 59 Den in mancher Hinsicht vergleichbaren Fall von „In memoriam Höhe 317“ analysiert Stephan Kraft: Wo liegt die „Höhe 317“, und wann starb Gottfried Benns Bruder Siegfried? „In memoriam Höhe 317“ als Grenzfall eines Anlassgedichts, in: Gelegenheitslyrik in der Moderne. Tradition und Transformation einer Gattung, hg. v. Johannes Franzen und Christian Meierhofer, Bern u. a. 2022, S. 199–215. 60 Vgl. Christine Waldschmidt: „Dunkles zu sagen“. Deutschsprachige hermetische Lyrik im 20. Jahrhundert, Heidelberg 2011, S. 74–76. 61 Vgl. Thomas Ehrsam: „Schutt“ (1924), in: Benn-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Christian M. Hanna und Friederike Reents, Stuttgart 2016, S. 89–91, hier: S. 90. 62 Vgl. Berning: „Südseetraum“ [Anm. 9], S. 53. Berning nimmt Einsteins Text überhaupt erst als Auslöser für Benns Gedicht an. Zu bedenken ist, dass die französische Fassung bereits den Untertitel „catalogue“ trägt, die ausgestellten Stücke aber erst im Februar 1926 erworben wurden (s. u.). 63 Einstein: Südsee-Plastiken [Anm. 24], S. 298.

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Einstein war sich im Klaren, dass mit diesem „furchtbaren Schock“ ein neues Zeitalter für die Südsee angebrochen war, dass ihre Kulturen durch die europäische Kolonisation zerstört wurden. Er hielt es für notwendig, das Publikum der Ausstellung auf diese paradoxe Grundlage der Pazifikfaszination hinzuweisen.

Abb. 2: Carl Einstein und der Direktor des Berliner Völkerkundemuseums August Eichhorn in der sog. ‚Flechtheim-Sammlung‘.

Fraglos gibt es ebenso Argumente, die dagegen sprechen, dass die AvantgardeKünstler sich über die Auswirkungen des Kolonialismus vollends im Klaren waren, selbst wenn sie diese negativ bewerteten. So heißt es im nächsten Absatz bei Einstein:

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Nichts vermag kräftiger entwicklerischen Aberglauben zu widerlegen, als die Tatsache, daß bei zweifellos verbesserten Lebensbedingungen [Hervorhebung S.M.] und vollkommneren Werkzeugen die Reste vorhandener Kultur erschreckend rasch entarteten und wegschwanden.⁶⁴

Unwissen über die weit überwiegenden Schattenseiten offenbart außerdem, dass Einstein ausgerechnet die Verdienste Richard Parkinsons um die Erforschung von Masken hervorhebt. Die Südseeabhandlung dieses Sammlers von Ethnographica stand, wie bereits im Zuge der Diskussion über eine mögliche Textvorlage für die dritte Strophe der „Meer- und Wandersagen“ erwähnt, in Benns Bücherregal. Er arbeitete dem Berliner Völkerkundemuseum, damals unter Felix von Luschan, zu. Nicht nur drängte er das Museum zu Einkäufen, bevor andere die Inseln „rattenkahl“ absammelten,⁶⁵ und fotografierte dafür das Luf-Boot. Er war laut Aly auch der „wichtigste Schädellieferant“ des Museums, noch nachdem die Kolonialverwaltung Exhumierungen mit Blick auf die damit einhergehende Provokation der Einheimischen verboten hatte, und beteiligte sich überdies führend an Strafexpeditionen.⁶⁶ In der bitteren Einsicht, dass der jüdische Kunsthändler Alfred Flechtheim – selbst eines der bekanntesten Opfer von NS-Kunstdiebstählen – Aussteller von kolonialer Raubkunst sein dürfte, verdichtet sich die gegenwärtige Debatte um das Verhältnis von Postkolonialismus und Erinnerungskultur.⁶⁷ Der Schatten fiele freilich zuvor auf den eigentlichen Eigentümer der präsentierten Sammlung von „Südsee-Plastiken“, den Kunstsammler Eduard von der Heydt, und am deutlichsten auf die Handelsfirma J.F.G. Umlauff, die für die Beschaffung verantwortlich zeichnete.⁶⁸ Sie wurde bis Dezember 1925 vom Neffen des berühmt-berüchtigten Carl Hagenbeck, Heinrich Umlauff, geführt, der seine Ware aus den Kolonien gelegentlich als „Beute“ bezeichnete.⁶⁹ Er versorgte etwa Fritz Lang mit exotischen Requi64 Einstein: Südsee-Plastiken [Anm. 24], S. 298. 65 Parkinson an Luschan, zitiert nach Aly: Prachtboot [Anm. 1], S. 82. 66 Vgl. Krug: Strafexpeditionen [Anm. 51], S. 116 und Aly: Prachtboot [Anm. 1], S. 164. 67 Auf einer ihm gewidmeten Website heißt es: „Flechtheim wurde bisher mit wenigen Ausnahmen nicht als Händler oder Sammler von außereuropäischer Kunst untersucht. Die Forschung steckt hier erst in den Anfängen.“ http://alfredflechtheim.com/kuenstler/aussereuropaeische-kunst/ (06. Januar 2023). 68 Vgl. Tisa Francini: Kunst aus der Südsee [Anm. 24], S. 190. Leider bleibt der Beitrag, obwohl er das Thema Provenienzforschung aufgreift, in dieser Hinsicht eher dünn. In einer knapp gehaltenen zeitgenössischen Bewertung der Sammlung bemängelt Eckart von Sydow den „Umstand, daß alle Stücke der Sammlung auf Reisen, die im Dienste eines anderen Berufs standen, erworben wurden.“ Eckart von Sydow: Die Primitiven-Sammlung Eduard von der Heydt, in: Omnibus (1932), S. 112. In der Omnibus-Ausgabe und den beiden hier zitierten Beiträgen Tisa Francinis [Anm. 71 und 24] finden sich zahlreiche Abbildungen mit Bezug zu Flechtheims Ausstellung. 69 Vgl. Britta Lange: Echt. Unecht. Lebensecht. Menschenbilder im Umlauf, Berlin 2006, S. 31.

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siten, betrieb aber auch Völkerschauen. Das Kerngeschäft stellte jedoch der Handel mit menschlichen Überresten und ethnographischen Objekten – etwa auch BeninBronzen – dar.⁷⁰ Obwohl die Sammlung meist mit dem Namen des Ausstellers Flechtheim verbunden wird, dürfen die Rollen der weiteren Beteiligten nicht vernachlässigt werden. Von der Heydt kaufte im Februar 1926 bei der Firma Umlauff rund 1000 Südseestücke als Grundlage für die Ausstellung „Südsee-Plastiken“, von denen 184 für die Wanderausstellung ausgewählt wurden – der Plan, sie auf Basis der Bekanntheit, die sie infolge der Veranstaltungsreihe gewinnen sollten, gewinnbringend wieder zu veräußern, scheiterte offenbar.⁷¹ In den Inventarlisten des Berliner Völkerkundemuseums lauten Sammlungen heute noch auf den Namen „S.M.S. Gazelle“.⁷² „[S]chon die zeitgenössischen Ethnologen“, so Aly, wussten, dass die Strafexpeditionen „zivilisatorische Grundvoraussetzung [ihres] wissenschaftlichen Arbeitens“ waren.⁷³ Schätzungen lassen vermuten, dass die überwiegende Mehrheit der aus der Südsee stammenden Objekte in deutschen Museen aus kolonialen Betrugs- und Gewaltkontexten stammen.⁷⁴ Kann es bei einer privaten Sammlung wirklich anders aussehen?

4 Mehr als ein Lapsus All dies hindert jedoch nicht grundsätzlich daran, die Gazelle im Zusammenhang mit der sie umgebenden Finalspannung als Hinweis auf die Kolonialisierung des Pazifiks zu lesen, als Spezialhinweis für Kenner, als Wink an Carl Einstein, der zumindest bis zu einem gewissen Grad ein Bewusstsein für die Auswirkungen des Kolonialismus signalisiert. Erst seit die ‚Wissenspoetologie‘ und die Postcolonial Studies sich eingehender mit der Geschichte der Ethnologie beschäftigen, liest man die „Meer- und Wandersagen“ häufiger. Wenn man noch einmal bedenkt, welche Stellung das Gedicht für den Autor einnahm, ergibt sich neben der lange nicht bekannten Quelle ein weiterer Grund für das geringe Interesse: Die Vielschichtig70 Vgl. Lange: Menschenbilder [Anm. 69], S. 31–36. Anders als Tisa Francini und Hilke Thode-Arora: Die Firma Umlauff und ihre Firmen, in: Mitteilungen aus dem Museum für Völkerkunde Hamburg 22 (1992), S. 143–158, benennt Lange die Problematik des Sachverhalts klar. 71 Vgl. Esther Tisa Francini: Außereuropäische Kunst bei Alfred Flechtheim. Publikations-, Ausstellungs- und Verkaufsstrategien, in: Sprung in den Raum. Skulpturen bei Alfred Flechtheim, hg. v. Ottfried Dascher, Wädenswil 2017, S. 465–492, hier: S. 486–488. 72 Aly: Prachtboot [Anm. 1], S. 63 und 190. 73 Aly: Prachtboot [Anm. 1], S. 98. 74 Vgl. Aly: Prachtboot [Anm. 1], S. 18, und Rainer F. Buschmann: Oceanic Collections in German museums. collections, contexts, and exhibits, in: Pacific Presences, hg. v. Lucie Carreau u. a., Bd. 1: Oceanic Art and European Museums, Leiden 2018, S. 197–223, hier: S. 197.

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keit, die man von einem Gedicht aus Benns Hand erwarten würde, wurde nicht gesehen. Mit Blick auf die eingangs erwähnte Exotismus-Spanne lautet meine These nun, dass die dritte Strophe von „Meer- und Wandersagen“ mit der subtilen Referenz auf den Kolonialismus ebenfalls einen doppelten Boden im Verhältnis zur europäischen Südseefaszination einzieht. Der Lösungsvorschlag zu der Leitfrage „Wie kommt eine Gazelle in die Südsee?“ lautet also: durch koloniale Gewalt. Ich glaube nicht, dass sich Benn – anders als womöglich Einstein – zum Vordenker der postkolonialen Bewegung eignet. Mit Blick auf die Südseetopoi bleibt festzuhalten, dass auch Idealisierung, wie schon die feministische Literaturforschung gezeigt hat,⁷⁵ mit subtilen Diskriminierungen verbunden sein kann. Aber Benns Lyrik offenbart – nicht anders als einige seiner Essays – eben doch brüchig gewordene Kolonialphantasien. Sie lässt einen selbstreflexiven Prozess erkennen, der über eine bloß exotistische Thematisierung des Fremden hinausgeht. Die vorgestellte Lesart der „Meer- und Wandersagen“, die die scheinbar so glatte Referenz auf das Fremde aufraut, lässt eine bequeme rezeptionsästhetische Rückzugsposition offen – gleichwohl möchte ich vor dem dargestellten Hintergrund keine Formulierungen wie ‚hier dringt etwas zu Bewusstsein‘ bemühen.

75 Vgl. Barbara Becker-Cantarino: Vom ‚Ganzen Haus‘ zur Familienidylle. Haushalt als Mikrokosmos in der Literatur der frühen Neuzeit und seine spätere Sentimentalisierung, in: Daphnis 15 (1986), H. 2/3, S. 509–533, hier: S. 533.

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Primitivistische Afrika-Darstellungen im Werk Gottfried Benns Abstract: Der vorliegende Beitrag möchte ein Korpus von ausgewählten weniger oder kaum erforschten Essays, Schriften, Szenen und Gedichten Benns mithilfe des begrifflichen und methodischen Instrumentariums der postkolonialen Studien untersuchen. Die Darstellungen von Afrika und die Auseinandersetzung mit der primitivistischen Wahrnehmung davon werden dabei besonders berücksichtigt. Die Hauptthese besteht darin, dass Benns Aufwertung des primitivistischen Blicks nicht immer mit einer kolonialkritischen Abrechnung mit den historisch-politischen Verhältnissen seiner Zeit einhergeht, sondern auch den Kolonialismus bejahende Diskurse bestätigt und somit das koloniale Andere als deviated subaltern ,re-kolonisiert‘.

1 Einführung, Forschungsansätze 1.1 Postkoloniale Studien, Postkolonialismus Die deutsche Kolonialliteratur hat erst seit dem Ende der 1990er Jahre verstärkt die Aufmerksamkeit der (interkulturellen) Germanistik auf sich gezogen. So wurden seitdem in Anlehnung an die angloamerikanischen sowie frankophonen postkolonialen Studien Theorieansätze und Begriffe erarbeitet, die auch die deutschsprachige Literatur in ein neues Licht rückten. Die leitende Forschungsfrage der interkulturellen Germanistik, die die postkolonialen Studien seit nunmehr zwei Jahrzehnten als eines ihrer Teilgebiete auffasst, richtete sich darauf, ob und wenn ja wie die Texte ihr „postkoloniales Potential“¹ als ein poetisches entfalten. Das führte zu zahlreichen Neudeutungen und

Anmerkung: Dieser Beitrag wurde mit der freundlichen Unterstützung der Alexander von HumboldtStiftung verfasst, bei der ich mich an dieser Stelle bedanke. 1 Herbert Uerlings: Kolonialer Diskurs und Deutsche Literatur. Perspektiven und Probleme, in: (Post‐)Kolonialismus und Deutsche Literatur. Impulse der angloamerikanischen Literatur- und Kulturtheorie, hg. v. Axel Dunker, Bielefeld 2005, S. 31–35. Raluca-Andreea Rădulescu, Bukarest/Flensburg https://doi.org/10.1515/9783111102740-008

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Neubewertungen von Werken des literarischen Kanons sowie der Entdeckung und Aufwertung bislang weniger bekannter und geschätzter Texte. Dabei erweckten v. a. Werke aus zwei Kategorien das Interesse: einmal Texte, die in der Zeit von 1884 bis 1918 entstanden waren, in der Deutschland Kolonien besaß, und zur deutschen Kolonialliteratur subsumiert wurden, aber auch solche, die davor oder danach verfasst wurden und koloniale Stoffe² bearbeiteten bzw. postkoloniale Potentiale aufwiesen. Gewiss ließen und lassen sich die Erkenntnisse der postcolonial studies nicht pauschal auf die deutschsprachige Literatur anwenden. Wo aber das Spannungsverhältnis zwischen bejahenden und kritischen Repräsentationsformen kultureller Alteritäten vorhanden ist oder wo überhaupt ethnische, rassistisch inferiorisierende Darstellungsmuster³ in kolonialen Zusammenhängen literarisch inszeniert werden, kommen Begriffe, Ansätze und Untersuchungsmethoden dieser Fachrichtung zur Geltung, vor allem weil sie die historisch-politische Kontextualisierung und Einbettung der ästhetischen Auseinandersetzung und literarischen Inszenierung in den Blick nehmen. Es soll noch angemerkt werden, dass die postkolonialen Studien nicht nur auf kritische Stellungnahmen der literarischen Werke zu den kolonialen Verhältnissen aufmerksam machen; d. h. nicht alle behandelten Texte haben ein postkoloniales, also kolonialkritisches Potential, sondern nicht wenige weisen, manchmal sogar unbewusst oder gar gegen ihren Willen, den Kolonialismus affirmierende Haltungen auf. Mit dem Blick hierauf lässt sich die Ambivalenz kolonialer Verstrickungen aufdecken. Nicht zuletzt darin liegt der schwierige Spagat, den der Postkolonialismus-Begriff leisten muss. Geschichtlich gesehen bezieht er sich auf das Zeitalter nach der Abschaffung der kolonialen Herrschaft und überschneidet sich streckenweise mit dem Phänomen der Dekolonisation (unter gleichzeitiger Auflösung mehrerer interkontinentaler Reiche im Zeitraum von 1945 bis 1975)⁴ oder löst diesen zeitlich ab. Im übertragenen Sinne fördert Postkolonialismus die kritische, antikoloniale und antihegemoniale Auseinandersetzung mit Ereignissen und Kulturartefakten, die entweder in der Kolonialzeit entstanden sind oder koloniale Inhalte, Stoffe oder Spuren enthalten. In der Tat ist selbst dieser von Paul Michael Lützeler postulierte „postkoloniale Blick“ nicht wertungsfrei bzw. nicht imstande, von europäischen

2 Vgl. dazu Stefan Hermes: Kolonialliteratur, in: Handbuch Postkolonialismus und Literatur, hg. v. Dirk Göttsche, Axel Dunker und Gabriele Dürbeck, Stuttgart 2017, S. 260–267, hier: S. 260. 3 Vgl. Herbert Uerlings: Interkulturalität, in: Handbuch Postkolonialismus und Literatur [Anm. 2], S. 101–108, hier: S. 104. 4 Vgl. Jan C. Jansen und Jürgen Osterhammel: Dekolonisation. Das Ende der Imperien, München 2013, S. 6.

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Wahrnehmungsmustern ganz abzusehen, d. h., er bleibt bei bestem Willen in der selbstzentrierten Konstruktion des Anderen verfangen.⁵

1.2 Kolonialismus Ab Mitte der 1880er Jahre unterwirft das Deutsche Reich das heutige Namibia, Kamerun, Togo, Tansania, Burundi und Ruanda, bis 1900 kommen unter anderem auch der nördliche Teil Papua-Neuguineas, die Marshall-Inseln, Teile Samoas und die zu China gehörige Bucht von Jiāozhōu hinzu. Die Kolonisierung erfolgt allerdings nicht nur vor Ort, sondern wird auch von einem wachsenden Kolonialbewusstsein in der deutschen Gesellschaft unterstützt. Es werden Kolonialausstellungen veranstaltet, bei denen die Zuschauer in einen unmittelbaren Kontakt mit Indigenen aus den eroberten Gebieten treten können, die dabei als Schaugegenstände und ,Unterrichtsmaterial‘ zur Verfügung gestellt werden, was gewisse hegemoniale Machtasymmetrien und Überlegenheitsphantasien nur stärken soll. Die Erste Deutsche Kolonialausstellung im Treptower Park 1896 sowie Berlins königliche Museen für Völkerkunde, Naturkunde und Botanik werden zu Multiplikatoren des kolonialen Gedankenguts; über einhundert Menschen aus den Kolonien werden vor deutschem Publikum als noch zu zivilisierende ‚Wilde‘ inszeniert. Das Deutsche Kolonialmuseum am Lehrter Bahnhof übernimmt die Objekte der Kolonialausstellung und missbraucht sie jahrelang zum Zweck kolonialrassistischer Erziehung von Hunderten von Berliner Schulklassen. Nach dem Ersten Weltkrieg verliert Deutschland seine Kolonien zwar, aber es stellt sich ein nostalgisches Entzugssyndrom ein; in der Weimarer Republik setzen sich einzelne Politiker und Parteien für die Rückgabe der Kolonien ein, später wird Kolonialrevisionismus unter dem NSRegime zum Bestandteil der Staatslehre.⁶ Gewiss waren diese Sachverhalte auch Gottfried Benn bekannt, und es wäre durchaus falsch, die Wirkung des Zeitgeschehens auf sein Werk zu verleugnen oder die Repräsentation von kolonialen Räumen in seinen literarischen Texten als „bloße Metaphorisierungen“⁷ zu deuten.

5 Vgl. dazu allgemein Paul Michael Lützeler: Der postkoloniale Blick. Deutsche Schriftsteller berichten aus der Dritten Welt, Frankfurt a. M. 1997. 6 Vgl. Lorraine Bluche u. a.: Vorwort, in: Das Museum dekolonisieren? Kolonialität und museale Praxis in Berlin, Bielefeld 2022, S. 9–16, hier: S. 11. 7 Darauf weist auch Theo Mayer in seinem Beitrag „Kreative Subjektivität bei Gottfried Benn“ hin, in: Gottfried Benn – Wechselspiele zwischen Biographie und Werk, hg. v. Matías Martínez, Göttingen 2007, S. 171–201, hier: S. 193.

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Für die Definition des Kolonialismus-Begriffs ist das territoriale Herrschaftsverhältnis zentral, gekoppelt mit der auf die besetzten Gebiete ausgeübten Gewalt.⁸ Kolonialismus avanciert im hochimperialen 19. Jahrhundert zu einem gesamteuropäischen Phänomen und kontinentalen Projekt, durch das die großen europäischen Reiche mittels Erwerbs und Besitzes von Kolonien ihre Macht bestätigen und festigen. Es sind europäische Praktiken und Paradigmen, die Maßstäbe für die Wahrnehmung des kolonial Anderen und den Umgang mit ihm etablieren. Zugleich werden den Kolonisierten normative Werterepertoires zugewiesen, die ihnen eine neue Identität nach dem Prinzip der „production of that Other, […] constitution of the Subject as Europe“⁹ zuschreiben sollen. Bei der Aufrechterhaltung des europäischen Monopols an Wissen und Macht bot sich die körperliche Andersartigkeit zunächst als regulative Differenz an. Kategorien wie Geschlecht, Sexualität, Kultur und Rasse wurden als Katalysatoren eingesetzt, um die weiße männliche Herrschaft und Soziodizee¹⁰ als normstiftend zu postulieren und zu legitimieren. Vor allem ‚Rasse‘ empfahl sich als strukturierendes Moment in der Moderne,¹¹ indem körperliche Merkmale oft mit eingebildeten nichtkörperlichen Eigenschaften verbunden wurden. Hierdurch entstanden Klischees und Vorurteile, die in öffentlichen Diskursen sowie in Literatur und Kunst sichtbar wurden.

1.3 Primitivismus Wenn Hugo Ball den Dadaismus mit der Idee der „absoluten Negerei, angemessen den primitiven Abenteuern unserer Zeit“ gleichstellt¹² bzw. wenn Picassos Afrikanische bzw. Schwarze Periode als „radikalste Variante einer Ästhetik des kulturell Fremden“¹³ bezeichnet wird, erkennt man in der sog. Primitivität eine der extremen Ausdrucksmöglichkeiten der Avantgarde, der per se der Bruch mit tradierten

8 Vgl. Sebastian Conrad: Deutsche Kolonialgeschichte, München 2008, S. 13. 9 Gayatri Chakravorty Spivak: Can the Subaltern Speak?, in: Marxism and the Interpretation of Culture, hg. v. Cary Nelson und Lawrence Grossberg, Urbana und Chicago 1988, S. 271–313, hier: S. 280. 10 Vgl. allgemein Pierre Bourdieu: Die männliche Herrschaft, übers. v. Jürgen Bolder, Frankfurt a. M. 2012. 11 Vgl. Patricia Purtschert: Kolonialität und Geschlecht im 20. Jahrhundert. Eine Geschichte der weißen Schweiz, Bielefeld 2019, S. 22. 12 Hugo Ball: Der Künstler und die Zeitkrankheit, Frankfurt a. M. 1994, S. 436. 13 Burkhard Meyer-Sickendiek: Primitivismus. Literarische „Anti-Kunst“ im Spannungsfeld von Provokation und Diskriminierung, in: Literarischer Primitivismus, hg. v. Nicola Gess, Berlin und Boston 2013, S. 315–333, hier: S. 315.

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Vorbildern und kanonischen Vorstellungen innewohnt. Das Primitivitätsparadigma avanciert zu einem der wichtigsten ästhetischen Lösungsdesiderate der Moderne, was jedoch Gefahren birgt, deren sich nicht alle Theoretiker und Künstler gleichermaßen bewusst sind. Franz Marc etwa setzt die ‚Primitiven‘, Afrika und den Orient mit regressiven, utopisch-idyllischen Vorstellungen in Verbindung und beschwört deren „ausdrucksstarke ursprüngliche Volkskunst und Kinderkunst“.¹⁴ Auch bei Wilhelm Worringer findet sich diese Auffassung wieder: Die primitive Art des Sehens sei ein Mittel, um zu den elementaren Wirkungskräften der Kunst zu kommen. Läuft dieser post-rousseauistische Mythos vom edlen Wilden nicht etwa Gefahr, die vermeintlich primitiven Kulturen Afrikas und aus Übersee in eine Nische zu rücken und sie auf diese Weise zu re-kolonisieren und re-subalternisieren? Es soll aber auch nicht übersehen werden, dass Worringer die Merkmale eine solchen programmatischen „modernen Primitivität“¹⁵ um kritische Akzente gegenüber der eigenen Kultur ergänzt; Primitivität würde auf das Letzte und Elementare zurückgehen, „von dem uns bisher der Hochmut unserer europäischklassischen Befangenheit und die Kurzsichtigkeit unseres europäischen Erwachsenenstandpunkts trennten“.¹⁶ Noch viel radikaler geht Carl Einstein in seiner „Negerplastik“ mit dem Konstruktionscharakter des Begriffes und der Repräsentation von ‚Primitiven‘ und ‚Primitivität‘ um, wenn er ihn auf stereotype Wahrnehmungen des europäischen Blicks zurückführt, die mit der Legitimierung hegemonialer Ansprüche Hand in Hand gehen: „Kaum einer Kunst nähert sich der Europäer dermaßen mißtrauisch, wie der afrikanischen.“¹⁷ Oder: „Der Neger jedoch gilt von Beginn an als der inferiore Teil, der rücksichtslos zu bearbeiten ist, und das von ihm Gebotene wird a priori als ein Manko verurteilt.“ Oder: Leichtfertig deutete man recht vage Evolutionshypothesen auf ihn zurecht; er mußte dem einen sich ausliefern, um einen Fehlbegriff von Primitivität abzugeben, andere wiederum putzten an dem hilflosen Objekt so überzeugend falsche Phrasen auf, wie Völker ewiger Urzeit und so fort. Man hoffte im Neger so etwas von Beginn zu fassen, einen Zustand, der aus dem Anfangen nie herausgelange. Nicht zum wenigsten beruhen viele Meinungen über den afri-

14 Franz Marc: Der Blaue Reiter (Subskriptionsprospekt). 1912, in: Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910–1920, hg. v. Thomas Anz und Michael Stark, Stuttgart 1982, S. 26–27, hier: S. 27. 15 Wilhelm Worringer: Entwicklungsgeschichtliches zur modernsten Kunst. Im Kampf um die Kunst. Die Antwort auf den „Protest deutscher Künstler“. München 1911, S. 92–99, zit. aus: Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910–1920, hg. v. Thomas Anz und Michael Stark, Stuttgart 1982, S. 19–23, hier: S. 22. 16 Worringer: Entwicklungsgeschichtliches [Anm. 15], S. 21. 17 Carl Einstein: Negerplastik, Leipzig 1915, S. V.

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kanischen Menschen auf solchen Vorurteilen, die zugunsten einer bequemen Theorie hergerichtet wurden. Der Europäer beansprucht in seinen Urteilen über die Neger eine Voraussetzung, nämlich die einer unbedingten, geradezu phantastischen Überlegenheit.¹⁸

Schließlich behauptet Einstein in einem Artikel aus dem Jahr 1919, die primitive Kunst bedeute die Zerstörung „der europäischen Mittelbarkeit und Überlieferung“.¹⁹ Solche bereits in der Zeit der Moderne entstandenen relativierenden Aussagen lassen sich als durchaus antihegemoniale, antikoloniale Auffassungen lesen, die die späteren Schriften von Franz Fanon, Edward Said, Homi Bhabha, Gayatri Spivak usw. vorwegnehmen.

2 Gottfried Benn (post)kolonial 2.1 Vorstudien, Ansätze Die Forschung hat bisher den kolonialen Zusammenhängen im Werk Benns wenig Beachtung geschenkt. Von einigen Ausnahmen abgesehen hat man sich vor allem mit den Südsee-Topoi beschäftigt und diese zumeist unter die Ästhetik des Regressiven subsumiert. Wie ich selbst in zwei Studien neueren Datums gezeigt habe, sind Benns abstrakte Metaphernlandschaften nicht grundsätzlich inkompatibel mit kritischen Gegendiskursen zu den Zeitfragen. Exotismus und Primitivismus sind Reaktionen auf historische und politische Entwicklungen der Zeit, beispielsweise auf die fortschreitende Industrialisierung und den empfundenen Verlust von Werten in der (post)wilhelminischen Epoche, verbunden mit den imperialen und kolonialen Ansprüchen des Kaiserreichs. Meine Untersuchungen haben u. a. ergeben, dass der dichterische Umgang mit dem Südkomplex in Benns Schaffen der frühen und der mittleren Phase inter- und transkulturelle Bezüge erkennen lässt, die Benns kritisch-subvertierende Auseinandersetzung mit den historischen, politischen und kulturellen Diskursen der Zeit offenlegen. Ich konnte dabei nachweisen, dass seine Texte zum Thema ‚Süden‘ nicht nur auf Metapherkomplexe zurückgehen, sondern auch als kritische Texte über ihre Zeit zu lesen sind.²⁰ Auch

18 Einstein: Negerplastik [Anm. 17], S. V. 19 Carl Einstein: Zur primitiven Kunst, in: Die Gemeinschaft. Dokumente der geistigen Weltwende, hg. v. Ludwig Rubiner, Potsdam 1919, S. 175–176, zit. aus: Expressionismus [Anm. 14], S. 511. 20 Vgl. Raluca Rădulescu: Antike und koloniale Südräume in Gottfried Benns Werk der frühen und mittleren Schaffensphase. Überlegungen zu einer Geopoetik des Transgressiven, in: Wege der Germanistik in transkultureller Perspektive. Akten des XIV. Kongresses der Internationalen Vereinigung für Germanistik (IVG), hg. v. Laura Auteri u. a., Bd. 11, Bern u. a. 2022, S. 447–459.

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konnten meine Untersuchungen von einigen weniger erforschten ‚kolonialen‘ Gedichten („Mediterran“, „Ideelles Weiterleben?“, „Banane“) zeigen, dass Benns Abwehrhaltung dem Zeitgeschehen und der Geschichte gegenüber in eine (post)moderne Parodie und Dystopie des Südlichen mündet.²¹ Der vorliegende Beitrag setzt sich nun zum Ziel, ein Korpus von ausgewählten, aus dieser Perspektive weniger erforschten Essays, Schriften, Szenen und Gedichten Benns anhand des begrifflichen und methodologischen Instrumentariums der postkolonialen Studien zu untersuchen. Dabei werden die Darstellungen Afrikas und die Auseinandersetzung mit der exot(ist)isch-primitivistischen Wahrnehmung dieses Kontinents besonders berücksichtigt. Die Hauptthese ist, dass Benns Aufwertung des primitivistischen Blicks keinesfalls immer mit einer kolonial-kritischen Abrechnung mit den historisch-politischen Verhältnissen der Zeit einhergeht, die ich in meinen vorangegangenen Beiträgen herausgearbeitet habe, sondern geradezu erwartungsgemäß auch Elemente enthält, die Kolonialdiskurse bejahen.

2.2 Afrikanismus. Zur Darstellung des afrikanischen Subjekts als deviated subaltern Bei Benn erzielen primitivistische und exotistische Ansätze meines Erachtens sowohl die kritisch-subversive Infragestellung als auch die ambivalente Wahrnehmung dreier räumlich bedingter Repräsentationsformen (worauf auch die von mir verwendeten Begriffe in Anlehnung an Edward Saids „Orientalismus“ zurückgehen): ‒ Mediterranismus (mit dem Mittelmeerraum und der Antike als Wiege der europäischen Kultur und Projektionsraum prälogischer Existenzen, zugleich aber auch mit dessen Hinterfragung und Bloßstellung als stereotypisierter Projektions- und Wunschraum europäischer Phantasien),²² ‒ Ozeanismus (die erneut klischeebeladene Imagination und Konstruktion des Südseeraums mit seinen indigenen Völkern durch die europäischen Kolonialherren als Grundmatrix des Natürlichen)²³ – die beiden Formen sind unter dem Metapherkomplex des Südlichen bzw. des „Südworts“ Blau untereinander fast

21 Vgl. Raluca Rădulescu: Gottfried Benns Süden als (post)moderne Parodie, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik, im Druck. 22 Vgl. Dieter Heimböckel: Zwischen Projektion und Dekonstruktion Mediterranismus oder Vom Nutzen und Nachteil einer Denkfigur zur Erforschung des ‚südlichen Blicks‘, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 8 (2010), H. 2, S. 73–85. 23 Vgl. dazu Gabriele Dürbeck: Ozeanismus, in: Handbuch Postkolonialismus und Literatur [Anm. 2], S. 205–207.

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austauschbar (worauf Moritz Baßler und Herbert Uerlings hinweisen²⁴) – und schließlich Afrikanismus (als Kritik tradierter Vorstellungen, Diskurse und Darstellungspraktiken Afrikas und seiner Völker), zu dessen literarischer Inszenierung bei Benn wenige Untersuchungen vorliegen.

Eben diesen Repräsentationsformen Afrikas möchte ich die vorliegende Studie widmen. Die Inszenierung von Primitivität setzt nicht nur eine Motivik des Archaischen und ‚Wilden‘ voraus, sondern enthält auch eine „des Brutalen, Barbarischen, Subhumanen oder gar Animalischen“.²⁵ An sich ist diese Ästhetik des Regressiven in der Kolonialliteratur weit verbreitet und entlarvt in ihrer Ambivalenz die Machtasymmetrien und konstruierten Wahrnehmungsschemata, die Alterisierungs- und Nostrifizierungsdiskurse²⁶ in Gang setzen. Wenn man etwa an Hegels Rede vom geschichtslosen, dunklen Kontinent oder an Überlegungen Freuds dazu oder zu den ‚Wilden‘ Polynesiens als vergangene Erscheinungen des Eigenen zurückdenkt,²⁷ so werden in der Kulturgeschichte Europas schon seit Jahrhunderten explizite oder latente Formen von ‚Afrikanismus‘ manifest, die in der Tat die Grenzen des europäischen Wissens entlarven und auf Formen kultureller Einflussangst²⁸ verweisen. Um an die bereits zuvor zitierte Aussage von Spivak zu erinnern, ist „the production of that Other“ für die Subjektbildung als Europa konstitutiv,²⁹ und in diesem Prozess stellt der Subalterne eine „deviation from an ideal“³⁰ dar. Ich möchte mich, wie ebenfalls bereits angedeutet, im Folgenden auf die Darstellung des kolonial Anderen als Abweichung von der Norm beziehen, was bei Benn eine kritische Auseinandersetzung mit dem Zeitge-

24 Vgl. Moritz Bassler: „Ewigkeit der Accent“ – Benns und Einsteins Widmungsgedichte „Meer- und Wandersagen“ und „Die Uhr“, in: Gottfried Benn – Wechselspiele zwischen Biographie und Werk, hg. v. Matías Martínez, Göttingen 2007, S. 71–84; Herbert Uerlings: Exotismus und Primitivismus, in: Benn-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Christian M. Hanna und Friederike Reents, Stuttgart 2016, S. 322–323. 25 Meyer-Sickendiek: Primitivismus [Anm. 13], S. 317. 26 Vgl. Nicola Gess: Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige in der literarischen Moderne (Müller, Musil, Benn, Benjamin), München 2013, S. 199. 27 Vgl. dazu allgemein Sigmund Freud: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, Frankfurt a. M. 2000. 28 Vgl. Michael Frank: Kulturelle Einflussangst. Inszenierungen der Grenze in der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts, Bielefeld 2006, S. 130. 29 Spivak: Subaltern [Anm. 9], S. 280. 30 Spivak: Subaltern [Anm. 9], S. 285.

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schehen und den zeitgenössisch geltenden Diskursen bedeutet, die ihren Niederschlag in seiner rebellierenden Ästhetik und seinen literarischen Texten findet. Die Darstellung gerade des afrikanischen Subjekts bleibt in seinem von Widersprüchlichkeiten durchzogenen Werk stark von kolonialen Topoi geprägt. Auch wenn sich Benn der Zivilisation und dem geschichtlichen Fortschritt gegenüber misstrauisch gibt, bleibt es doch notwendig, mit dem von Paul Michael Lützeler beschriebenen postkolonialen Blick die weiter wirksame, kolonial geprägte Optik in den Texten selbst ausfindig zu machen.³¹ Julia Kristevas Theorie des Abjekts,³² von der auch die postkolonialen Studien Gebrauch machen, weist über die die allgemeinere Ambivalenz von Begehren und Abstoßung³³ hinaus auf das konkrete Dilemma von Faszination und Abscheu im mirroring-Prozess des Eigenen vor der Kontakt- und Kontrastfolie des kolonial Fremden hin. Es stellt sich im Hinblick auf die Moderne die Frage, ob die extreme Aufwertung der Primitivität, ja die Selbstprimitivisierung nicht etwa vielmehr den kolonial Anderen erneut ‚kolonisiert‘, d. h. durch seine Darstellung als ‚deviation‘ wieder in eine Nische rückt. Aus diesem Grund entpuppt sich der antikoloniale Diskurs in der Moderne doch als kolonialer als eigentlich beabsichtigt. Auf der anderen Seite wird sich zeigen, dass Benn in seinen essayistischen und literarischen Texten widersprüchlich verfährt und manchmal Stereotype und Klischees der Zeit übernimmt, ohne sich um eine Widerlegung zu bemühen.

2.3 Kolonialismus und Militarismus. Benns Essays In seiner Autobiographie „Doppelleben“ erwähnt Benn unter den jüdischen Autoren und Autorinnen mit einem bedeutenden Einfluss auf sein Werk den Ethnologen Lucien Lévy-Bruhl und dessen Buch „Das Denken der Primitiven“.³⁴ Im Rahmen des hier betriebenen Namedropping geht er nicht näher darauf ein. Der Essay handelt grundsätzlich vom auch ansonsten bei Benn vielfältig präsenten Thema des Verhältnisses zwischen Geschichte und Kunst. Entgegen seiner mehrfach vorgebrachten programmatischen Aussage vom „Anti-Geschichtlichen“ als Voraussetzung für die „Transzendenz der schöpferischen Lust“ (erstmals SW III,

31 Lützeler: Der postkoloniale Blick [Anm. 5]. 32 Vgl. Julia Kristeva: Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection, Paris 1980. 33 Vgl. dazu insgesamt Julia Lossau: Die Politik der Verortung. Eine postkoloniale Reise zu einer ‚ANDEREN‘ Geographie der Welt, Bielefeld 2002. 34 Gottfried Benn: Doppelleben, in: Ders.: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, Bd.V: Prosa 3, hg. v. Gerhard Schuster, Stuttgart 1991, S. 86. Im Folgenden im Fließtext mit der Sigle (SW I–VII/2) und unter Angabe der Seitenzahl nachgewiesen.

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320) behauptet er beispielsweise in „Probleme der Lyrik“: „Der große Dichter aber ist ein großer Realist, sehr nahe allen Wirklichkeiten“ (SW VI, 19). Benns Abwendung von der Geschichte zugunsten der Kunst schließt also keinesfalls ein Interesse an den historischen Entwicklungen und vor allem an Zeitfragen aus. Der Kolonialismus gehört dabei zu den historischen Phänomenen, die ihn durchaus beschäftigten. Aus einem Brief an F.W. Oelze geht beispielsweise hervor, dass Benn Joseph Conrads ,Kolonialbuch‘ „Herz der Finsternis“ bekannt war und dass er es sogar sehr lesenswert fand.³⁵ In „Doppelleben“, veröffentlicht 1950, fällt die Verschränkung von Militarismus und Kolonialismus auf, die unter dem gemeinsamen Nenner der Gewalt subsumiert werden. Vor allem die abendländische Geschichte hat Benn im Visier, wenn er nach den Ergebnissen historischer Taten und Ereignisse fragt. Wenn er die „ostindische Kompanie, die Bastille, Cortez“ (SW V, 95) miteinander kombiniert, dann entsteht dabei eine politische Konstellation, die räumlich und zeitlich verschiedene Kolonialismus- bzw. Imperialismusformen aneinanderreiht. Indem der Text auf wichtige Kampforte auf der Landkarte Europas rekurriert – Marathon, Tours, Poitiers –, wobei diese als Bestätigung der Siege des Abendlandes betrachtet werden, wird ferner nach der Legitimität der Herrschaft und ihrer Methoden gefragt, wenn eine Eroberung in der Tat kein demokratisches Vorgehen darstellt, sondern mit Gewalt stattfindet. Im vierten Teil des Essays, der unter dem Titel „Block II, Zimmer 66 (1944)“ Benns Aufenthalt in Landsberg resümiert, wird auf den „heutigen deutschen Mann[]“ hingewiesen, dem keine „anständige[n] nationale[n] Inhalte“ und „koloniale[n] Eindrücke“ zugestanden wurden, und der hingegen „Uniform tragen“ musste (SW V, 128–129). Das deutsche Subjekt erweist sich in der Nazizeit nicht als Agens und Kulturträger, sondern wird vom Regime subalternisiert, zu einem Werkzeug im NS-Projekt der Ausdehnung des Raumes ausgebeutet. Dieses imperialistisch durchgeführte Unterfangen wird zugleich als ein ideologisches Phantasma entlarvt, indem Expansionswünsche als „Raumvortäuschung“ (SW V, 129) bloßgestellt werden. Antimilitaristische Gedanken treten auch im Essay „Kunst und Drittes Reich“ (1941) auf, wo die Geschichte als „Gegenäußerung der Kunst“ am Beispiel von Alexander dem Großen als Archiv von „Massenmorden, Plünderungen, Erpressungen: werdende Großräume und Vollstreckung“ (SW IV, 286) dargestellt wird, in dem gewalttätige Eroberungszüge und Expansionswünsche aufbewahrt werden. Dass Benn in seinen Schriften nach der Abwendung vom nationalsozialistischen 35 Vgl. Brief vom 7. August 1938, in: Gottfried Benn und Friedrich Wilhelm Oelze: Briefwechsel 1932– 1956, hg. v. Harald Steinhagen, Stephan Kraft und Holger Hof, Bd. 1: 1932–1941, Stuttgart und Göttingen 2016, S. 269. Im Folgenden mit der Sigle (BOe I–IV) und unter Angabe der Seitenzahl im laufenden Text zitiert.

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Gedankengut 1934/1935 bzw. nach 1937/1938 (den mit großen nationalsozialistischen Ausschreitungen verbundenen Jahren) immer vehementer gegen den Militarismus auftritt und ihn intensiv mit Imperialismus und Kolonialismus verbindet, überrascht nicht. Auch in der Berliner Novelle „Der Ptolemäer“ (1947) tritt das Misstrauen dem vermeintlichen Fortschritt gegenüber in den Vordergrund. Dieser habe den ersten europäischen Typenmord, in der französischen Revolution, erst so reibungslos ermöglicht[] –; oder die Einführung der afrikanischen Sklaven in das tropische Amerika […]. (SW V, 30–31)

Auch in der zuvor erwähnten Textstelle aus „Doppelleben“, in der Benn die Bastille mit der Ostindischen Kompanie und Cortez konstelliert, wird die Erstürmung der symbolischen Festung in Paris nicht etwa als Befreiungsort vom Absolutismus gesehen, sondern als Geburtsstunde einer neuen Gewaltform, die zur Etablierung des diktatorischen, imperialen Regimes Napoleons führt. Diese anti-imperialitische, antikoloniale Lesart wird auch von dem anschließenden Passus unterstützt, der auf den schon seit Kolumbus gängigen, von den großen Kolonialreichen Europas durchgeführten transatlantischen Sklavenhandel hinweist. Geschichte zeichnet sich, wie die erwähnten Beispiele zeigen, als Machtausübung und Unterdrückung, schließlich als ein in humanitärer Hinsicht gescheitertes Projekt aus. In einem Brief an F.W. Oelze vom 14. November 1938, also kurz nach der Reichspogromnacht (bei der sein Verleger und Freund Erich Reiss verhaftet und ins KZ eingeliefert wurde), schreibt Benn nach der Lektüre eines Zeitungsartikels über Mexiko: An seltsame Dinge werden wir herangeführt, äusserst seltsame Vorgänge. Ich las gerade seit einigen Wochen Bücher über Mexico, zufällig, in der Leihbibliothek auf sie stossend. Sowohl die Eroberung durch Cortez wie die neuerlichen Revolutionen. Es ist wohl das Grausamste der modernen Geschichte, kindliche, schamlose u. grausame Völker. Dann will ich über die Merowinger lesen. Das stillt u. kühlt. Sich tief einbetten in die Natur, aus ihr nur hervorblinzeln in das andere Gewisse, sich in das Blut betten, an den Maiskolben, den er mit der Linken am Mund hält um zu fressen, während die Rechte langsam 5 Gefangene abschiesst […]. (BOe I, 274)

Auf den ersten Blick scheint es, als werde das Merowinger-Reich als Idylle präsentiert und als eine friedliche Alternative zur Kolonisierung Amerikas durch die Spanier vorgeschlagen. Tatsächlich werden aber die Gewaltakte auf das gallischgermanische Imperium übertragen und als europäische Gräueltaten naturalisiert. Benn montiert die Angaben über Cortez mit den Merowingern, verbindet diese wiederum mit „Maiskolben“ und lässt dabei ein anachronistisches assoziatives Bild entstehen, in dem die Entdeckung Mexikos (und des Mais) im frühen 16. Jahrhundert mit den Brutalitäten im Merowinger-Reich (vom 5. bis zum 8. Jahrhundert)

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zusammenfällt. Auf diese Weise werden imperiale Projekte als solche bzw. die Geschichte als Machtausübung und Mächtekonfrontation kritisch infrage gestellt.

2.4 Primitivismus und Afrikanismus Um sowohl dem historischen Teufelskreis als auch der Alltagsmisere zu entkommen, wird der Rückzug in das Primitive vorgeschlagen, wobei die Poetik des Regressiven bekannterweise eine Konstante im Werk Benns ist. Dem Primitiven wird in der „Berliner Novelle“ eine besondere Bedeutung zugewiesen, er wird im Gegensatz zu dem wissenschaftlich erfassten Weltbild mit naturnahen, ekstatischen Eigenschaften ausgestattet, die Zugang zu einer tiefgreifenden Erkenntnis gewähren: Auch der Primitive hatte seinen Energiebegriff, er sah Zusammenhänge, er hatte eine Welt. Er hatte Erkenntnis, er fühlte die magischen Wirkungen der Gegenstände, er sah die Einheit und erhielt sie im Schauer der Identität. In den primitiven Kulturen wirkte der Raum bedingend: was in der Nähe voneinander stand, war begründet; im Spätbewußtsein tat es die Zeit; was nacheinander geschah, war begriffen. (SW V, 11)

Die Textstelle scheint den in der Avantgarde vielbeschworenen Primitivismus-Topos klar zu veranschaulichen, und zwar in der üblichen Ambivalenz: Zum einen wird der „Primitive“ als Alternative zur zivilisierten, aber verdorbenen, unreinen modernen Welt angeboten, zum anderen wird er in die Nische des edlen Wilden gerückt und somit inferiorisiert. Er stellt eben eine Abweichung vom europäischen Verhaltensmuster dar und löst als Fremdkörper in der zitierten Textstelle Faszination, in anderen aber auch subliminale oder explizite Formen der Abscheu aus. Benns Überlegungen bleiben nicht auf den wissenschaftlichen Bereich seiner ethnologischen Lektüren beschränkt; auch wenn er auf die Entdeckung eines ausgegrabenen „Negerschädel[s]“ an einer Küste Südafrikas und damit eines Vorfahren des heutigen „hypermodernen“ Europäers (SW V, 28)³⁶ hinweist, was gewiss gängige Zeitklischees gegen die Afrikaner als ,unterlegene Rasse‘ relativieren sollte, lässt sich doch feststellen, dass die Aufwertung des Primitiven oder kritisch-subvertierende Ausdrucksweisen wie „Europa fehlte das tierische dumme Auge und die Hibiskusblüte hinter dem Ohr“ (SW V, 18) doch mit stereotypenbejahenden Haltungen einhergehen. Der hypertrophierte europäische Rationalismus, „es wird gedacht zu Lande und zu Wasser und auf den Schiffen“ (SW V, 27), wird wie üblich angeprangert. Die Frage ist jedoch, ob „Primitivität“ nicht vielleicht doch als un-

36 Genauer: der „Frühgeburt des Europäers“ (SW V, 28).

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überlegter Reflex, „es wird gedacht aus Primitivität, wie die Affen die Bäume hochklettern“ (SW V, 27), einer als unterlegen angesehenen Entwicklungsstufe wahrgenommen wird. Und auch schon im Prosatext „Saison“ (1930) werden die „Gehirne“ als „Letalfaktoren einer übertrainierten Rasse“ im Gegensatz zum Jazztanz der „Nigger“ (SW III, 297) beschrieben: – steppt der Negroide seinen Bungalow in ihre Breiten und die Jazzband einer Neandertalkapelle dröhnt aus Afrika Himmel und Erde und vom Red River Zeugung und Verfall […]. (SW III, 298)

2.5 Hybridität, Mimikry, Négritude. Benns Dramen So viel zu meinen Überlegungen zu den früheren Essays und der späteren Prosa Benns, in denen die koloniale Thematik angedeutet wird. Auch in seinen dramatischen Schriften geht der entsprechende Diskurs mit der Kritik an der Expansion des Deutschen Reiches bzw. der weißen Rasse einher. Schon früh äußert sich Benn in einem seiner experimentellen Dramen „Etappe“ (1915) kritisch zur Besetzung Belgiens, wobei die gewonnene Schlacht ironisch als „Kulturtat allerersten Ranges“ (SW VII/1, 18) bezeichnet wird. Die Fachforschung liest die Szene als eine Satire über den Wilhelminischen Militarismus, wobei die Annektierung Belgiens als imperialistisches Ziel anzusehen wäre.³⁷ Es wird übrigens schon am Anfang des Textes angegeben, dass das Stück im „Wohlfahrtsbureau des Gouvernements einer eroberten Provinz“ (SW VII/1, 17) spielt, später wird über die Legitimität der Fortsetzung wirtschaftlicher Projekte im besetzen Land debattiert, wobei das eroberte Belgien als in Besitz genommenes, subalternes, passives Territorium beschrieben wird, das auf die Überpflanzung durch die deutschen Eroberer warten soll. Die Textstelle ließe sich somit als eine Übertragung außereuropäischer kolonialer Verhältnisse auf ein binneneuropäisches Gebiet lesen: …. Umlagerung des Kapitals? …. Abschaffung der Goldwährung? Kupfer in den Juliusturm? Magazine für Linsen und Mangan, beleihbar bis Zweidrittel ihres Wertes? – Wie kommt das Land, das von den Wunden seiner Jugend lebt und durch die zerschossenen Lungen seiner Knaben atmet, dazu, mit dem Hotelbau Ihrer geistigen Persönlichkeit das verkommenste aller moralischen Systeme in dieses von uns eroberte Reiche zu überpflanzen […]. (SW VII/1, 25, Kursivierung durch RR)

37 Vgl. Jürgen Schröder: The Birth of Art from the Anti-Spirit of the War. Gottfried Benn’s „Etappe“, in: Ideological Crisis of Expressionism. The Literary and Artistic German War Colony in Belgium 1914–1918, hg. v. Rainer Rumold und Otto Karl Werckmeister, Columbia 1990, S. 152–167, hier: S. 152 und S. 159.

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Im „Garten von Arles“ (1920) kündigt ein Privatdozent der Philosophie im Rahmen seiner Antrittsvorlesung an, er wolle Europa verlassen und sich auf eine Fahrt nach Batavia (der ehemaligen Hauptstadt der holländischen Kolonien in Ostindien) begeben. Dieses exotistische, im kolonialen Bewusstsein der Epoche verankerte Begehren geht aber nicht in Erfüllung, und das Ziel wird nicht einmal in der Phantasie erreicht, denn stattdessen verlegt sich das Interesse auf die Darstellung der Machtverhältnisse auf dem alten Kontinent. Das Augenmerk gilt der binären Dialektik der Aufklärung mit der Spannung zwischen emanzipatorischer Vernunft und instrumentalisierendem Rationalismus.³⁸ Konkret wird im Text auf Kant und den transatlantischen Sklavenhandel verwiesen. Im abendländischen Europa koexistierten schon damals hohe Bildungsideale mit den kolonial-imperialen Machtmissbräuchen: Kant, dachte er, behagliche Affäre, Gelehrtenstübchen, Schattenriß des 18. Jahrhunderts, gestirnter Himmel über dem Jabot − versackender Kontinent, Brühe aus Rattenschwänzen, die das Wrack verpeilen, koppheister − flüchtig − transatlantisch. (SW III, 115)

Viel später im Hörstück „Drei alte Männer“ (1948) wird „das mythische Kollektiv der Primitiven“ (SW VII/1, 112) beschworen. Auch das koloniale Begehren sowie das Bewusstsein einer fatalen geschichtlichen Entwicklung, der man sich nicht entziehen kann, sind vorhanden. Selbst die Darstellung des antiken und gegenwärtigen Mittelmeerraumes schwankt zwischen Idealisierung und der Endzeitstimmung einer Epoche, deren Glanz sich nicht wiederherstellen lässt. Auch wenn man nach einer ästhetischen Angleichung sucht bzw. eine Ästhetisierung der Fremde anstrebt, werden kulturelle Alteritäten früherer Jahrhunderte ins Koloniale übersetzt: „Mignons Süden, der Süden Goethes und Byrons liegt heute in Tahiti und Fakavara“ (SW VII/1, 117). Dabei wird die Vorherrschaft der geschichtlichen Kontingenz betont, was das grenzüberschreitende Potential der Kunst infrage stellt. Am Ende des ersten Gesprächs der „Drei alten Männer“ kommen die postkoloniale Nostalgie und der Wunsch nach einer Horizonterweiterung zum Ausdruck, der jedoch unerfüllt geblieben ist: „Das Jahrhundert breitete sich vor ihnen aus mit Pampas und Savannen“ (SW VII/1, 112). Das koloniale Projekt erweist sich erneut als trügerische Projektion, wie schon zuvor angekündigt worden ist. Der Traum des Weißen Mannes, den „Baumwollniggern mit der Hickorypeitsche über den Schädel“ (SW VII/ 1, 105) zu schlagen, entpuppt sich als reine Einbildung: „Alles Wirklichkeiten […] – wo blieben sie, was hinterließen sie? Wenn ich jetzt darauf zurückblicke, kommt mir alles völlig unglaubhaft vor, völlig imaginär […]“ (SW VII/1, 106). 38 Vgl. allgemein dazu Mary Louise Pratt: Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation, London und New York 1992.

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In mehreren Schriften, wie dem „Lebensweg eines Intellektualisten“ oder der „Dorischen Welt“, wird Europa als Ort der Synthese und Treffpunkt verschiedener Kulturdimensionen, als Produkt von Überschneidungen, Durchkreuzungen und Hybridisierungsprozessen dargestellt, in der „Berliner Novelle“ wird Europa bzw. dem Abendland gar die Rolle einer „Kulturretorte“ (SW V, 18) zuerkannt. Im „Weinhaus Wolf“ aus dem Jahre 1937 bekennt sich der Ich-Erzähler als kolonialer Kosmopolit, verwandlungsfähiger, Mosaikstücke der unterschiedlichsten Kulturidentitäten einsaugender geistiger Flaneur und als Künstler, der schließlich zu einem Voyeur der Geschichte wird: Der eine Österreicherin liebte, eine Tschechin, Rumänin, Belgierin, Dänin, eine Frau aus Kapstadt, ein Mischblut aus der Südsee, Russinnen an Küsten, Sunden, Salzseen, in vielen Landschaften und aus vielen Stämmen […]. (SW IV, 239)

Nur durch ästhetische Distanz gelingt es ihm, der Geschichte als Wille und Macht durch die Überprüfung der „geistigen Lage der weißen Völker“, der „Herrenrasse“ (SW IV, 220) entgegenzuwirken. Der Ich-Erzähler entdeckt selbstkritisch etliche Spuren von für selbstverständlich gehaltenen kolonialen und imperialen Eroberungen im europäischen Alltag und beklagt den zyklischen, wiederkehrenden Gang historischer Macht- und Subalternisierungsprozesse: „Auf dem Tisch gratis Kolonialwaren und unter dem Tisch angeeignete Perserteppiche: das ist das Tatsächliche der Geschichte.“ (SW IV, 229) Der Krise der abendländischen Zivilisation in ihrem von Gewaltprozessen bestimmten Aggregatzustand stellt Benn, wie schon seit der Blütezeit exotistischer Darstellungen fremder und entlegener Gebiete ab der Mitte des 18. Jahrhunderts bekannt ist, die heile Welt kolonisierter Orte mit ihren unschuldigen enfant sauvage-Figuren entgegen. Dabei wird das Primitive jedoch nicht nur mit den exotistischen Mittelmeer- und Südseeprojektionen assoziiert, wie man es in der frühen Schaffensphase etwa in den „Rönne“-Novellen oder in den Südseegedichten um 1925 findet. Vielmehr stellt Benn die Primitivität im „Lebensweg eines Intellektualisten“ explizit mit dem Primären in Verbindung, das er mit dem „Rauschhaften“ gleichsetzt: „und das andere ist das Primäre? Das Rauschhafte, das Ermüdbare, das schwer Bewegbare, ist das nicht vielleicht die Realität?“ (SW IV, 169) Von der Warte der postkolonialen Kategorien aus würde man mit dieser ästhetisch ermöglichten Verschmelzung, Nivellierung und ad absurdum-Führung kultureller Unterschiede vielleicht am ehesten Homi Bhabhas Begriff der Hybridität assoziieren. Und zwar in der Bedeutung, die er ihm in einer frühen Studie aus dem

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Jahr 1985 zuschreibt: Hybridity war das Zeichen der „questionable ‚authority‘“,³⁹ der Infragestellung von Hegemonialität, wobei nicht nur die kritische Distanzierung davon, sondern auch die Revision politisch-historischer Kategorisierungen, Polarisierungen und Stereotype und die ästhetische Auseinandersetzung mit ihnen empfohlen wurde. Auf der anderen Seite bleibt die Frage offen, ob Benns Bestehen auf Négritude nicht etwa Formen einer inversen Mimikry schafft, die den hegemonialen europäischen Machtdiskurs erneut bestätigt und verdoppelt. Ein Beispiel für die verwirrende Verstrickung von Négritude und Mimikry bietet bei einer näheren Lektüre das Gedicht „Negerbraut“. Die Frau wird durchgehend mit Bezügen auf ihre weiße Hautfarbe geschildert („der blonde Nacken einer weißen Frau“, „die hellen Schenkel“, „kleine[s] weiße[s] Ohr[]“, „weiße Kehle“ [SW I, 12]), während für die Beschreibung der männlichen Gestalt die abwertende klischeehafte Bezeichnung „Nigger“ vollkommen ausreichend scheint. Die Geste, mit der sich „zwei Zehen seines schmutzigen linken Fußes“ in das Ohr der weiblichen Figur bohren, reicht völlig aus, um die Eroberung, Schändung und Kontaminierung des ‚weißen‘ Europäischen durch den ‚schwarzen‘ kolonial Anderen auszudrücken. Die zuvor bereits erwähnte inverse Mimikry erscheint hier wie die Umkehrung der bekannten Aussage Franz Fanons: „Der Neger weiß nichts von ihm, solange er bei den Seinen lebt; doch beim ersten weißen Blick spürt er die Last seines Melanins.“⁴⁰ Auch der Weiße verspürt beim Kontakt mit dem Schwarzen eine Last, und diese ist die „kulturelle Einflussangst“,⁴¹ die Angst vor einer möglichen Inbesitznahme und Kreolosierung, eben einer inversen Mimikry, was im Text als ein tatsächlich vollzogener Akt dargestellt wird. Selbst der Widerspruch zwischen den geschilderten ‚weißen‘ Attributen und dem Titel „Negerbraut“ macht auf die Paradoxie in der Wahrnehmung des Schwarzen in Benns früher Schaffensphase aufmerksam. Der aus den Kolonien kommende, in den Zeitdiskursen als andersartig, anders aussehend, schmutzig und abscheulich geltende Afrikaner wird im Gedicht zum Eroberer der deutschen Frau; wenn man ferner davon ausgeht, dass in den postkolonialen Studien das Weibliche mit dem in Besitz zu nehmenden Land gleichgestellt wird, hätten wir hier einen Fall von umgekehrter Kolonisierung und Einverleibung des Weißen ins ‚Negerhafte‘ vorliegen. Dies könnte einerseits die latente Angst vor dem kolonial Anderen zu Beginn des 20. Jahrhunderts ins Literarische übersetzen, andererseits treibt Benn durch die Darstellung von zwei Leichen die binären Vorstellungen von Rasse, Hautfarbe und Geschlecht ins Grotesk-

39 Homi K. Bhabha: Signs Taken for Wonders. Questions of Ambivalence and Authority under a Tree Outside Delhi, May 1817, in: Critical Inquiry 12 (1985), H. 1, S. 144–165, hier: S. 149. 40 Frantz Fanon: Schwarze Haut, weiße Masken, übers. v. Eva Moldenhauer, Berlin 1980, S. 97. 41 Frank: Kulturelle Einflussangst [Anm. 28].

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Absurde. In den beiden Fällen erscheint der Schwarze als Sonderling, als Abweichung von der Norm und abscheulicher Usurpator der ‚weißen‘ Autorität.

2.6 Critical Whiteness: Gedichte der mittleren und späten Schaffensphase Trotz der in der Forschung und von Benn selbst in vielen Schriften behaupteten Absicht, die Geschichte insgesamt zu boykottieren, bleibt die kritische Haltung im Hinblick auf die konkreten historischen Verhältnisse auch und v. a. in den Gedichten der mittleren und späten Schaffensphase präsent. Bekannterweise war er ein leidenschaftlicher Leser und Sammler von Materialien, Zitaten und Fremdwörtern aus verschiedenen Sprachen und Lebensbereichen, die er seiner Programmatik entsprechend tatsächlich „faszinierend montier[te]“ (SW VI, 77). Gewiss ist der Ästhetisierungsgrad kolonialer Erfahrungen in den Gedichten höher als in den anderen literarischen Schriften, und nicht selten muss man auf der kolonialen Weltkarte nach den genannten Orten und Völkern erst suchen. Dies ist etwa bei einigen um das Jahr 1925 veröffentlichten Gedichten, wie „Mediterran“, „Banane“, „Osterinsel“ und „Ostafrika“ der Fall, auf die ich in meinen früheren Studien zum Themenfeld eingegangen bin. Es zeichnet sich auch in den späteren Gedichten ab 1927 die gleiche antikoloniale Haltung ab, wobei die kolonisierten indigenen Völker weiterhin als doppelt unschuldig gezeichnet werden – einmal als wild, faszinierend, geheimnisvoll und naturhaft und dann als Opfer des europäischen Imperialismus. Die Aussage „Es schlummern orphische Zellen / in Hirnen des Okzident“ (SW I, 72), die üblicherweise in Verbindung mit der im „Aufbau der Persönlichkeit“ geschilderten Schichtungstheorie u. a. Freuds als Hinweis auf das Vorhandensein von primären Entwicklungsstufen in gewissen Hirnregionen zu deuten ist, kann im kolonialen Zusammenhang auch anders gelesen werden. Es ist der Abendländer, welcher als Vertreter der westlichen Vorherrschaft das koloniale Andere als Imagination konstruiert. So lassen sich ‚primitive‘ Alteritäten alte latente, schlummernde Gegenbilder zum europäisch Eigenen diskursiv herstellen und reproduzieren. In diesem Sinne erweisen sich die kolonialen Verhältnisse als konstitutiv bei der Identitätsbildung von kulturell andersartigen ethnischen und politischen Gruppen. Den historisch bedingten Begegnungen zwischen Völkern der fernen afrikanischen, asiatischen oder Südsee-Gebieten und Europäern liegen Gewaltakte seitens der letzteren zugrunde. Das Gedicht „Orphische Zellen“ etwa ließe sich in diesem Zusammenhang auch antikolonial lesen. Zuerst werden delphische Mysterien im Rahmen des Dionysoskultes dargestellt, Fisch und Wein sowie das brennende Opfer gehören zur Zere-

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monie. In der zweiten Gedichthälfte verlagert sich das Interesse auf die Gestalt des Mysten, dessen Augen weit nach fernen Meeren blicken, so dass der Schauplatz von Delphi nach Sansibar in Ostafrika verlegt wird. Die Insel zeichnet sich durch kolonial gefärbte Eigenschaften wie „Nelkenwaren“ und „Blüte der Bougainville“ (SW I, 72) aus, wobei „Waren“ auf den kolonialen Gewürzhandel bzw. die Blumen nicht bloß auf übliche florale Requisiten, sondern auf den französischen Forscher und Entdecker Louis-Antoine de Bougainville hinweisen, dessen Namen eine Insel des Salomonen Archipels trägt, welche bis 1919 als Kolonie zu Deutsch-Neuguinea gehörte. Seinerseits galt der Sansibar-Archipel von 1885 bis 1900 als Kolonie des Deutschen Kaiserreichs, woraufhin es an Großbritannien abgetreten wurde. Der Text spielt somit auf die deutsche koloniale Vergangenheit an. Es sind die „Sansibaren“, d. h. die Indigenen, die „die Mühlen für Zuckerrohr“ (SW I, 73) drehen, was auf die Ausbeutung durch die Kolonialherren aufmerksam macht. Mit diesen kolonialen Verhältnissen wird der Myste am Ende der vierten Strophe in Verbindung gebracht, wobei dieser „als Opfer“ (SW I, 73) auftreten soll. Mit Blick auf das Gedicht als Ganzes lässt sich die Aussage formulieren, dass das delphische Tieropfer, die Sansibaren und der Myste in einen Opferkomplex einverleibt werden, wobei die Afrikaner mit den von den Europäern zu opfernden Tieren in eins gesetzt werden. Möglichweise sind die letzteren pars pro toto mit dem büßenden „Mörder“ (SW I, 73) gleichzustellen, der jedoch nichts daran ändern kann, dass das Opfer weiter brennt. Der Myste wäre in diesem Zusammenhang als Priester, Diener und durchführendes Werkzeug der europäischen Hegemonie anzusehen. Macht und koloniale Gewalt wurden dabei, wie die Geschichte Sansibars belegt, abwechselnd von Deutschen und Engländern ausgeübt. 1936 lässt Benn im Gedicht „Am Saum des nordischen Meers“ Szenen aus der britischen Kolonialgeschichte Revue passieren, die sich als paradigmatisch für die europäische erweisen, „die hohe Klasse / der Nord- und English-Mann, / die gierige weiße Rasse“. Begegnungen mit dem kulturell Anderen lassen Raubtaten „von Capetown bis Shanghai“ (SW I, 159) erkennen. Benn setzt den Topos des Nordens ein, um ihn auf diese Weise dem deutschen Raum einzuverleiben und somit dem deutschen Kolonialismus den Spiegel vorzuhalten. Wie es auch sonst in der deutschen Kolonialliteratur oft der Fall ist, werden hier koloniale Phantasien oder modi operandi des Eigenen auf fremde Imperien projiziert. Doch stellt sich das Eroberungsprojekt schließlich als ‚Melancholie der weißen Rasse‘ heraus, denn koloniale Imperien gehen unter: Geschmuggelt, gebrannt, geschunden in Jurten und Bambuszelt, die Peitsche durch Niggerwunden, die Dollars durchs Opiumfeld –:

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die hohe Rasse aus Norden, die abendländische Pracht im Raum ist still geworden – aus die Mythe der Macht! (SW I, 159–160)

Primitivismus erweist sich bei Benn als ein tückisches Darstellungsmittel und als ein ambivalenter Repräsentationstopos. Dabei stellt er fetischisierte Wahrnehmungsbilder her, nährt sie und spiegelt damit eine der wesentlichen Paradoxien der primitivistischen Ästhetik wider.⁴²

3 Fazit Über Kolonialität wird in allen Schaffensphasen Gottfried Benns reflektiert. Anhand eines den postkolonialen Studien entlehnten begrifflichen und methodologischen Repertoires habe ich versucht, die oft ambivalente Inszenierung von kolonialen und antikolonialen Diskursen v. a. anhand der primitivistischen Darstellungen und Stellungnahmen zu kolonialen Verhältnissen unter besonderer Berücksichtigung Afrikas zu verfolgen. Dabei bin ich von der These ausgegangen, dass Benns ,Südlichkeiten‘ nicht ausschließlich als Chiffren und Metaphernkomplexe anzusehen sind, sondern auch als kritisch-subversive Auseinandersetzungen mit den historisch-politischen Zeitfragen. Das angeführte Korpus an Essays, Schriften, Szenen und Gedichten hat gezeigt, dass die Texte sich nicht immer antikolonial verhalten, sondern genug irritierende Momente aufweisen, die das kolonial Andere als deviated subaltern nicht selten erneut in eine Nische rücken und re-kolonisieren. In diesem Zusammenhang lassen sich auch viele Widersprüchlichkeiten in der Programmatik der Moderne bzw. des Expressionismus aufdecken: Zum einen mündet die Aufwertung des Primitiven streckenweise in einen hegemonialen selbstverherrlichenden Diskurs über die ‚edlen Wilden‘ Afrikas, zum anderen zweifelt Benn an nicht wenigen Stellen am Glauben an das rettende Vermögen der Kunst. Kann sie wirklich durch ästhetische Transsubstantiation dabei helfen, über die geschichtliche Misere hinwegzukommen?

42 Vgl. Joshua Dittrich: Recolonizing the Mind. Gottfried Bennʼs Primitivism, in: New German Critique 43 (2016), H. 1, S. 37–58, hier: S. 47.

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Von ‚Fächertänzen‘ und ‚Pazifikkränzen‘. Benns Exotismus der Phase II Abstract: Während die Relevanz primitivistischer und exotistischer Diskurse für Benns frühe sowie mittlere Werkphase an verschiedenen Stellen bereits dargelegt wurde, hat man sich mit ähnlichen Konstellationen im Spätwerk kaum auseinandergesetzt. Der Beitrag untersucht dies anhand verschiedener Prosatexte und Gedichte der Phase II. Dabei wird eine Medialisierung des Exotismus sichtbar, die eng mit Benns später Poetologie in Verbindung steht.

1 Phase I und Phase II Wenn Benn 1951 in einem Brief an den Verleger Ewald Wasmuth bemerkt, dass er oft an den expressionistischen Mitstreiter Carl Einstein denke und gern in seinen Büchern lese,¹ ist das werkgenetisch nur schlüssig. Ein Jahr zuvor, im autobiographischen Essay „Doppelleben“, ruft er bekanntlich die „PHASE II“ aus, „nämlich Phase II des expressionistischen Stils“.² Nach Publikationsverboten von Seiten der Nationalsozialisten sowie der Alliierten ist er in den 1950er Jahren wieder obenauf, schreibt selbst von seinem „Come-back“.³ Man lädt ihn zu Vorträgen ein, bittet ihn um Stellungnahmen in literarischen Fragen und macht ihn zum ersten Träger des Büchner-Preises.⁴ Mit der proklamierten Phase II geht eine Wiederaufnahme und Aktualisierung von Ideen und Motiven des Expressionismus bzw. der Avantgarden in Benns Es-

1 Vgl. Gottfried Benn an Ewald Wasmuth am 27. März 1951, in: Ders.: Das gezeichnete Ich. Briefe aus den Jahren 1900–1956, 3. Aufl., München 1975, S. 121–122, hier: S. 122. Zum Verleger Ewald Wasmuth vgl. Matthias Bernings Beitrag „Ewald Wasmuth, Gottfried Benn und Carl Einstein: Eine Spurensuche“ im vorliegenden Band. 2 Gottfried Benn: Doppelleben, in: Ders.: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, Bd.V: Prosa 3 (1946– 1950), hg. v. Gerhard Schuster, Stuttgart 1991, S. 83–176, hier: S. 170. Die Werke Benns werden im Folgenden unter der Sigle (SW I–VII/2) im laufenden Text nachgewiesen. 3 Gottfried Benn an Frank Maraun: Brief vom 7. März 1949, in: Ders.: Ausgewählte Briefe, Wiesbaden 1957, S. 142–143, hier: S. 142. 4 Vgl. dazu Helmut Lethen: Der Sound der Väter. Gottfried Benn und seine Zeit, Berlin 2006, S. 261– 263. Philipp Pabst, Münster https://doi.org/10.1515/9783111102740-009

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sayistik, Lyrik und Prosa der bundesrepublikanischen Zeit einher. Dazu gehören Exotismen bzw. Primitivismen, also „Imagination[en] fremder Kulturen“⁵ – bei Benn gerne stereotypisierende Imaginationen vormoderner, außereuropäischer Kulturen –, die eine Konstante im Werk bilden. Dies schlägt eine Brücke zu Carl Einsteins kunsttheoretischen Publikationen. Einsteins Beiträge über afrikanische und ozeanische Kunst wie „Negerplastik“⁶ und „Südsee-Plastiken“⁷ dienten Benn wohl als Anregungen, wenngleich die Lektüren sich kaum direkt in seinen Texten nachweisen lassen.Vielmehr verhalten sich Benns Südseeträume und Fantasien von Urzuständen zum Teil kontrafaktisch zu Einsteins kunsthistorischen Abhandlungen, wie Klaus H. Kiefer festgestellt hat.⁸ Man kennt das Thema vor allem aus Benns Texten der 1910er und 1920er Jahre wie „Ostafrika“ (SW I, 90–91), „Alaska“ (SW I, 20), „Osterinsel“ (SW I, 66–67) oder den Einstein gewidmeten „Meer- und Wandersagen“ (SW I, 62–63), in denen schillernde Komposita den Ton angeben. Von „Korallenchören“, „Atollenflor“ und „Muschelgeld“ (SW I, 62) ist da zum Beispiel die Rede. Einige dieser Texte, die das Exotische als „Gegenpol zu einer negativ bewerteten“ historischen Moderne in Position bringen,⁹ nehmen in anderen Artikeln des hier vorliegenden „Benn Forums“ eine Hauptrolle ein.¹⁰ Beobachten lassen sich ferner Forschungspositionen, die Benn im Umkreis des literarischen Primitivismus verorten. Exotismus und Primitivismus werden häufig synonym verwendet und vermengen sich konzeptuell auch in Benns Werk, sie meinen aber gewiss nicht dasselbe. So ist mit dem Begriff ‚Primitivismus‘ eine diskursive Konstellation bezeichnet, die vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Kontur in verschiedenen Wissenschaften (Ethnologie, Psychiatrie, Psychologie etc.) und Künsten (Malerei, Skulptur, Literatur etc.) sowie in der Kunsttheorie (Carl Einstein, Robert J. Goldwater et al.) erlangt. Der Diskurs zentriert sich um die Reflexion eines „‚primitiven‘ Denkens“, welches in Figuren wie dem ‚Wilden‘, aber auch dem ‚Kind‘ oder dem ‚Wahnsinnigen‘ seinen Ausdruck erhält.¹¹

5 Gerhart Pickerodt: Exotismus, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. v. Georg Braungart u. a., Bd. 1: A-G, 3. Aufl., Berlin und New York 2007, S. 544–546, hier: S. 544. 6 Carl Einstein: Negerplastik, Berlin 1915. 7 Carl Einstein: Südsee-Plastiken, Berlin 1926. 8 Vgl. Klaus H. Kiefer: Primitivismus und Avantgarde – Carl Einstein und Gottfried Benn, in: Colloquium Helveticum 44 (2015), S. 131–168, hier: S. 148–149. 9 Herbert Uerlings: Exotismus und Primitivismus, in: Benn-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Christian M. Hanna und Friederike Reents, Stuttgart 2016, S. 322–323, hier: S. 322. 10 Vgl. etwa den Beitrag von Samuel Müller „Wie kommt eine Gazelle in die Südsee? Gottfried Benns Gedicht ‚Meer- und Wandersagen‘ im Kontext der Ausstellung ‚Südsee-Plastiken‘“ im vorliegenden Band. 11 Nicola Gess: Exotismus/Primitivismus, in: Handbuch Postkolonialismus und Literatur, hg. v. Dirk Göttsche, Axel Dunker und Gabriele Dürbeck, Stuttgart 2017, S. 145–149, hier: S. 145. Vgl. mit näherem

Von ‚Fächertänzen‘ und ‚Pazifikkränzen‘. Benns Exotismus der Phase II

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Marcus Hahn ist im zweiten Band seiner Studie „Gottfried Benn und das Wissen der Moderne“ (2011) ausführlich auf Benns Rezeption ethnologischer und psychiatrischer Schriften der Zwischenkriegsphase eingegangen. Dabei konnte er zeigen, dass Benn den Topos einer „‚prälogischen Mentalität‘“, die den „Primitiven“ zu eigen sei, vermutlich vom französischen Ethnologen Lucien Lévy-Bruhl übernimmt, der sich unter anderem mit den Naturvölkern Brasiliens beschäftigt hat.¹² Der Topos des Prälogischen lässt sich dann in einschlägigen Gedichten der mittleren Werkphase wiederfinden.¹³ Das „Fremde Europas ist selbstverständlich auch das Andere der Vernunft“,¹⁴ bemerkt Hahn in seiner instruktiven Rekonstruktion des europäischen Primitivismus richtig. Es ist offenkundig, dass sich dieser anti-logozentrische Gedanke reizvoll für Benns modernekritisches Projekt zwischen den Kriegen ausnimmt. Mein Beitrag fragt dagegen nach der Situation im Spätwerk. Es wird sich zeigen, dass Benns Texte nach 1945 eine Akzentverschiebung in Richtung Exotismus vollziehen, ohne dabei das disruptive Versprechen des Primitivismus komplett aufzugeben. Was ist damit gemeint? Nicola Gess hat darauf hingewiesen, dass der literarische Exotismus im Unterschied zum Primitivismus „eher einer affirmativen Darstellung der Fremde verbunden [bleibt], deren Andersartigkeit letztlich nicht bedrohlich, sondern verlockend ausfällt“.¹⁵ Der Exotismus eröffnet in aller Regel eine „Welt der süßen Verführung“ und ist eng mit „Stichworte[n] wie ‚Oberfläche‘

Bezug zu Benn: Nicola Gess: Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige in der literarischen Moderne (Müller, Musil, Benn, Benjamin), München 2013. Vgl. zur ethnologischen Karriere des Begriffs, zu (welt‐)literarischen sowie zu verschiedenen medialen Ausformungen des Primitiven: Erhard Schüttpelz: Die Moderne im Spiegel des Primitiven. Weltliteratur und Ethnologie (1870– 1960), München 2005. 12 Mit Lévy-Bruhl setzt sich Benn im Essay „Zur Problematik des Dichterischen“ auseinander (SW III, 232–247). Gekannt hat er wohl nur Lévy-Bruhls „Das Denken der Naturvölker“ (2. Aufl., 1926), das in seiner Nachlassbibliothek mit Annotationen enthalten ist. In „Doppelleben“ erwähnt Benn den Text beiläufig im Rahmen seiner exkulpatorischen Nennung für ihn wichtiger jüdischer Intellektueller und ihrer Werke unter dem falschen Titel „Das Denken der Primitiven“ (SW V, 86). Marcus Hahn: Gottfried Benn und das Wissen der Moderne. Bd. 2: 1921–1932, Göttingen 2011, S. 432–433 und 475. 13 Hahn exemplifiziert seine Überlegungen unter anderem anhand der Gedichte „Osterinsel“ und „Meer- und Wandersagen“ (vgl. Hahn: Gottfried Benn und das Wissen der Moderne [Anm. 12], S. 453– 474). 14 Hahn: Gottfried Benn und das Wissen der Moderne [Anm. 12], S. 431. 15 Der Begriff des Exotismus „etabliert sich“ ab dem späten 19. Jahrhundert „als Bezeichnung einer eigenständigen literarischen Richtung“ (Gess: Exotismus/Primitivismus [Anm. 11], S. 147) zuerst in Frankreich und daraufhin auch im deutschen Sprachraum. Gess nennt etwa Robert Louis Stevenson und Rudyard Kipling, Pierre Loti und Victor Ségalen, Max Dauthenday und Wilhelm Jensen als Vertreter (vgl. Gess: Exotismus/Primitivismus [Anm. 11], S. 147–148).

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und ‚Dekoration‘ verbunden“. Deshalb hat man ihn bereits im frühen 20. Jahrhundert als „eskapistische Variante von Zivilisationskritik“ gescholten.¹⁶ Schon Carl Einstein nennt „Exotismus“ eine „oft unproduktive Romantik“,¹⁷ ohne dass er damit freilich die historische Romantik meint.Vielmehr besteht eine Nähe zum Populären und Unterhaltenden, zum mitunter Trivialen sowie Kitschigen.¹⁸ Man denke beim Wort ‚Exotismus‘ also nicht nur an die friedlichen Tropen in den Bildern Paul Gauguins, sondern genauso an das Genre des Reiseberichts in illustrierten Zeitschriften, an fiktive Inseln wie Santa Maria oder die Glutsonne Mexikos im Schlager sowie an betörende Baströckchen auf der Leinwand. Im Gegensatz dazu zeichne der Primitivismus „eher das Bild eines rauen, widerlogischen, triebgesteuerten Daseins“, wie Gess festhält.¹⁹ Beschäftigt hat man sich mit den Exotismen in Benns Phase II, etwa in den drei Gedichtbänden „Fragmente“ (1951), „Destillationen“ (1953) und „Aprèslude“ (1955), bisher kaum. In welchen Formen tritt also das Exotische in den Texten ab Ende der 1940er Jahre auf, welche Funktionen hat es, und wie verhält es sich zu Benns früheren Veröffentlichungen? Um dem nachzugehen, verschränkt der zweite Abschnitt des Beitrags Benns poetologische Überlegungen der Phase II kursorisch mit der Prosa dieser Zeit. Der anschließende dritte Abschnitt diskutiert exemplarisch das Gedicht „Bar“ aus dem Jahr 1953 (vgl. SW I, 268–269), dem die ‚Fächertänze‘ und ‚Pazifikkränze‘ aus dem Titel meines Beitrags entnommen sind. Hierbei steht vor allem die komplexe Quellenlage des Gedichts im Fokus. Zwei unterschiedliche Weisen der Imagination des Exotischen im engeren bzw. der geographischen Ferne im weiteren Sinne werden im Laufe der Ausführungen herausgearbeitet. Dabei wird sich zeigen, dass Benns Poetologie den Nährboden für Exotismen bereitet, die – anders als in den 1910er und 1920er Jahren – medial überformt und perspektiviert sind.

16 Gess: Exotismus/Primitivismus [Anm. 11], S. 147. 17 Carl Einstein: Afrikanische Plastik, in: Ders.: Werke. Berliner Ausgabe, Bd. 2: 1919–1928, Berlin 1996, S. 61–145, hier: S. 61. 18 Dass Benns Texte der Zwischenkriegsphase keineswegs frei von exotistischen Momenten sind, belegt wiederum Marcus Hahn, der von einem „kalkuliert[en] […] Eskapismus“ ausgeht: „Die Skala erstreckt sich von der lyrischen und stark kitschgefährdeten Evokation ‚ananasdurchweht[er]‘ Hyperämischer Reiche (1928) aus ‚Palmen und Muschelmeer‘ […] über das Klischee der einfältig zwischen ‚Nelkenwaren / und der Blüte der Bougainville‘ dahinlebenden ‚Sansibaren‘ […] bis hin zur psychiatrisch-zeilenspringenden Ironisierung des eigenen Textverfahrens in Ostafrika (1925) als Ergebnis einer ‚weiche[n] Birne / mit fremder Welt bepflanzt‘“ (Hahn: Gottfried Benn und das Wissen der Moderne [Anm. 12], S. 445). 19 Er sei daher „am ehesten dem Afrikanismus verwandt“ (Gess: Exotismus/Primitivismus [Anm. 11], S. 148).

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2 Exotismus und Montage „Der Stil der Zukunft“, schreibt Benn in „Doppelleben“, wird der Roboterstil sein, Montagekunst. Der bisherige Mensch ist zu Ende, Biologie, Soziologie, Familie, Theologie, alles verfallen und ausgelaugt, alles Prothesenträger. […] Der Mensch muß neu zusammengesetzt werden aus Redensarten, Sprichwörtern, sinnlosen Bezügen, aus Spitzfindigkeiten, breit basiert –: Ein Mensch in Anführungsstrichen. […] Herkunft, Lebenslauf – Unsinn! Aus Jüterbog oder Königsberg stammen die meisten, und in irgend einem Schwarzwald endet man seit je. Jetzt werden Gedankengänge gruppiert, Geographie herangeholt, Träumereien eingesponnen und wieder fallen gelassen. (SW V, 168–169)

Aus der diagnostizierten Versehrtheit des Menschen und seiner Sinnsysteme („Prothesenträger“, Biologie, Theologie etc.), leitet Benn in seiner Poetologie die erwähnte „Montagekunst“ ab, die mit dem Kompositum „Roboterstil“ eine Spur zur Kybernetik legt, der Lehre von den maschinellen Steuerungsprozessen, die in den 1950er Jahren im (populär‐)wissenschaftlichen Diskurs breitflächig präsent ist.²⁰ Das literarische Montageverfahren, im Sinne einer Verknüpfung von disparaten Texteinheiten, schließt bekanntlich an die Avantgarde bzw. die emphatische Moderne an. Erinnert sei unter vielen anderen Beispielen an Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ (1929) und John Dos Passos’ „U.S.A.“-Trilogie (1930–1936), an die Collagen von George Grosz und John Heartfield sowie an Benn selbst. Allerdings hat sich die Motivation für die Verwendung des Verfahrens in der Phase II geändert. Es ist nicht mehr primär der Überraschungs- oder Schockeffekt, der das bildungsbürgerliche Verständnis von Kunst mit kühnen Wort- und Materialkombinationen irritieren soll. Vielmehr steht Benns neuer Geschichtsbegriff nach dem Zweiten Weltkrieg der Montage Pate. Auf das Ende des Menschen folgt das Posthistoire, das nachgeschichtliche Zeitalter, in dem man sich von den teleologischen Geschichtsvorstellungen der Moderne verabschiedet hat und zugleich von jeglicher historischen Schuld befreit sieht. Vor dem Hintergrund des persönlichen Liebäugelns Benns mit dem Nationalsozialismus um 1933 ist das ein attraktives Konzept, wie Gerhard Plumpe, Eva

20 Vgl. den locus classicus von Norbert Wiener: Mensch und Menschmaschine. Kybernetik und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1952, sowie beispielhaft die populärwissenschaftlichen, oft kulturkritisch argumentierenden Beiträge von Rolf Strehl: Die Roboter sind unter uns. Ein Tatsachenbericht, Oldenburg 1952, sowie den Sammelband Revolution der Roboter, hg. v. Fritz Erler u. a., München 1956.

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Geulen und Helmut Lethen gezeigt haben.²¹ Der poetologisch zentrale Punkt lautet, dass im Posthistoire das sinnhafte geschichtliche Nacheinander durch ein äquivalentes Nebeneinander von Vergangenheit und Gegenwart abgelöst wird. Das hat Konsequenzen für die Koordinaten, die zeitlichen, räumlichen und kulturellen Grenzen, innerhalb derer gedichtet wird. So kennzeichnet viele späte Texte Benns ein intensives Nebeneinander, man kann auch sagen: Durcheinander von Gegenwartsbezug und Mythemen, Slang und Bildungssprache, von E- und U-Kultur, von deutscher Provinz und exotischer Ferne. Genau deshalb sind diskontinuierliche Texte wie „Der Ptolemäer“ (1947) und „Der Radardenker“ (1949), die vor dem Hintergrund der von Einstein abgeleiteten Gedanken zur absoluten Prosa entstehen, durchsetzt von ‚Geographien‘, welche ‚herangeholt‘ werden, um die eigentümliche Formulierung aus „Doppelleben“ aufzugreifen. Indien, Yukatan, die „Urwälder[] von Saigon“ (SW V, 15), „indopazifische Sagen“ (SW V, 18), der Hafen von Santos in Brasilien, Habana, Borneo, Nepal und Honduras sind nur einige der außereuropäischen Topographien, die im „Ptolemäer“ und „Radardenker“ bemüht werden. Der „Roman des Phänotyp“, das Musterbeispiel absoluter Prosa im Spätwerk, tendiert dagegen eher zum Mittelmeerischen, zum ligurischen Komplex (SW IV, 388–435).²² Um Weltgeschichte geht es bei den bruchstückhaften Ortsvokabeln aus dem „Ptolemäer“ und dem „Radardenker“ allenfalls sekundär, auch wenn es oberflächlich einen anderen Anschein erwecken mag. Die topographischen Lexeme werden primär zu klanglichen und assoziativen Zwecken im Text kombiniert. Dort sorgen sie für Erregungs- sowie Entgrenzungszustände der Textinstanzen. Das kennt man aus der Phase I, dem expressionistischen Jahrzehnt, in dem Benn von der „Zusammenhangsdurchstoßung“ und vom „Wallungswert“ geschrieben hat (SW III, 132), der manchen Wörtern, insbesondere Substantiven, innewohne.²³ Allerdings sind die Wallungen in den 1950er Jahren merklich gemildert, reflektierter und medial gebrochen. Eingelassen ist das im „Ptolemäer“ mehrfach in die Rede eines rassistischen Kunden, eines „grandseigneurale[n] Globetrotter[s]“ (SW V, 29), der im örtlichen

21 Vgl. Gerhard Plumpe: Avantgarde in der Posthistoire. Über Gottfried Benn, in: Scrittori a Berlino nel Novecento, hg. v. Giulia Cantarutti, Bologna 2000, S. 11–25, Eva Geulen: Gesetze der Form: Benn 1933, in: Die Souveränität der Literatur. Zum Totalitären der Klassischen Moderne 1900–1933, hg. v. Uwe Hebekus und Ingo Stöckmann, München 2008, S. 19–43, sowie Lethen: Der Sound der Väter [Anm. 4], S. 222–223. 22 Ausnahmen gibt es gewiss auch hier, etwa den Abschnitt „Pilger, Bettler, Affenscharen“ (SW IV, 413–414). 23 Vgl. dazu etwa den Artikel von Matthias Berning: Ligurischer Komplex, Südwort, in: BennHandbuch [Anm. 9], S. 334–336.

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Zentrum des Textes, einem Schönheitssalon mit dem exotischen Namen Lotos, einund ausgeht. In der Nachlassveröffentlichung „Der Radardenker“ sind es wiederum Montagen im Stile von Nachrichtenmeldungen, die die Breite und Weltläufigkeit des titelgebenden Ortungsverfahrens unterstreichen. Diese Montagen sorgen prima vista für eine sprachliche Versachlichung der geographischen Ferne: Ernstlich, betrachten Sie die Lage! Sie sitzen hier in Ihrem Stuhl und draußen beginnt der Angriff auf die Tropen. Westafrika im Vordergrund, aber auch Nigeria. […] Neu-Südwales hat seinen kältesten Tag seit 79 Jahren – Schnee in Cambarra [sic]; kurzlebige Armeerevolten in Honduras! […] Dem indischen Zoo wird ein Riesensalamander als Zeichen der Freundschaft von Nippon angeboten. (SW V, 68)

Vom Zauber des vormodernen Primitivismus der Phase I kann bei solchen Stellen nur noch bedingt die Rede sein. Vielmehr probiert sich der „Radardenker“ an einer neuen zeitgemäßen Form, deren Ziel jedoch nach wie vor in der Entgrenzung des Textes und seiner Instanzen besteht. Das nimmt sich zum Teil wie ein „prismatischer Infantilismus“ (SW V, 53) aus. In der Begeisterung für die semantischen und klanglichen Preziosen des montierten Wortmaterials („Honduras“, „Nippon“, „Cambarra“, „Riesensalamander“) werden globale Geographien, ihre Flora und Fauna in wenigen Sätzen umstandslos miteinander kombiniert. Ersichtlich macht das nicht zuletzt ein Relativsatz, der sich als emphatischer Kommentar auf das eigene Verfahren an den zitierten Passus anschließt: „Wenn dieser Stil sich durchsetzt, wogt Melanesien und Timbuktu durch meine Straße!“ (SW V, 70) Dass für dieses Vorhaben ein an Nachrichten gemahnendes Stakkato in den Monolog des Radardenkers integriert wird, ist vor dem Hintergrund von Benns später Poetologie auch gattungsübergreifend konsequent. Im Vortrag „Probleme der Lyrik“ (1951), der gefeierten „ars poetica der Jahrhundertmitte“,²⁴ hält Benn fest, dass Journalistisches und Populäres, also etwa Songs, Filme und illustrierte Zeitschriften, die hauptsächliche Orientierung für das moderne Ich nach dem Zweiten Weltkrieg stiften. Verbunden ist das mit einer polemischen Kritik am abendländischen Bildungskanon, die sich bei Benn um 1950 in zahlreichen Texten manifestiert. Er notiert: Aber auch die Slang-Ausdrücke, Argots, Rotwelsch, von zwei Weltkriegen in das Sprachbewußtsein hineingehämmert, ergänzt durch Fremdworte, Zitate, Sportjargon, antike Reminiszenzen, sind in meinem Besitz. Ich von heute, der mehr aus Zeitungen lernt als aus Philosophien, der dem Journalismus näher steht als der Bibel, dem ein Schlager von Klasse mehr Jahrhundert enthält als eine Motette […]. (SW VI, 30–31)

24 Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, 2. Aufl., Hamburg 1967, S. 162.

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Über potenziell das gesamte sprachliche Lexikon, das Nebeneinander des Posthistoire soll die lyrische Instanz also verfügen – vor allem über Alltagsweltliches, wie das Bonmot des „Schlager[s] von Klasse“ verdeutlicht. Benn schreibt in diesem Zug auch von „harten Unterlagen“ (SW VI, 19), auf die das Gedicht gebettet sein soll, um höhere Stillagen anschlagen zu können. Ebendiese Überhöhungen des Profanen wurden in der Forschung zur späten Lyrik häufig übersehen. Man hat sich darauf geeinigt, die Gedichte der 1950er Jahre mit dem Label des ‚Parlando‘ zu belegen, was zu einer graduellen Verengung des Blicks geführt hat.²⁵ Freilich liefern Texte wie „Restaurant“ (SW I, 245), „Hör zu“ (SW II, 171) oder „Menschen getroffen“ (SW I, 301) eindrückliche Beispiele für den lyrischen Plauderton. Sie sind aber selbst von den erwähnten Abweichungen geprägt. Erst durch sie verwirklicht sich die vom Gewährsmann Nietzsche entlehnte Vorstellung von Artistik, von der Kunst als letztem Ort des Transzendenten, wie es Benn in „Probleme der Lyrik“ ausführt.

3 Benns Gedicht „Bar“ und sein populärer Intertext Ein prägnantes Beispiel für das Skizzierte liefert das Gedicht „Bar“ aus dem Band „Destillationen“.²⁶ Der Titel „Destillationen“ ist programmatisch: „Bar“ macht einen englischen Song zu seinem Dreh- und Angelpunkt, um diesen fremdsprachigen „Schlager von Klasse“ in einen lyrischen Transformationsprozess einzubinden.²⁷ Dabei verlässt das Gedicht den Bereich des Profanen mit Hilfe einer Südseefantasie, die eine weitere Seite des Umgangs mit dem Exotischen in Benns Spätwerk kenntlich macht. Die lyrische Instanz beobachtet eine Bühnenaufführung in einem Berliner Lokal in Zeiten der Besatzung. Das ist die Ausgangssituation des Gedichts, das aufgrund des Orts an expressionistische Texte wie „Nachtcafé“ (SW I, 19) denken

25 Vgl. etwa Wolfgang Emmerich: Gottfried Benn, Reinbek 2006, S. 119–126; Lethen: Der Sound der Väter [Anm. 4], S. 259–279; Elena Agazzi und Amelia Valtolina: Vorwort, in: Der späte Benn. Poesie und Kritik in den 50er Jahren, hg. v. dens., Heidelberg 2012, S. 7–14, hier: S. 7. 26 Benns Gedicht „Bar“ diskutiere ich ebenfalls in Philipp Pabst: Die Bedeutung des Populären. Kulturpoetische Studien zu Benn, Böll und Andersch. 1949–1959, Berlin und Boston 2022, S. 184–194, sowie in Philipp Pabst: Gottfried Benn: Bar (1953). Populärkultur in der Literatur der frühen Bundesrepublik, in: Handbuch Literatur & Pop, hg. v. Moritz Baßler und Eckhard Schumacher, Berlin und Boston 2019, S. 353–369. 27 Zu Benns medienmaterialistischer Wende vgl. auch Friedrich Kittler, der die Qualität der späten Gedichte allerdings bemängelt. Friedrich A. Kittler: Benns Gedichte – „Schlager von Klasse“, in: Ders.: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig 1993, S. 105–129.

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lässt. Wichtige Parameter haben sich jedoch geändert: Das Lokal ist nun eine amerikanisierte ‚Bar‘ und die sprechende Instanz verhält sich noch passiver als zu Zeiten der „Morgue“-Gedichte oder der „Rönne-Novellen“: BAR Flieder in langen Vasen Ampeln, gedämpftes Licht und die Amis rasen, wenn die Sängerin spricht: Because of you (ich denke) romance had its start (ich dein) because of you (ich lenke zu Dir und Du bist mein). Berlin in Klammern und Banden, sechs Meilen eng die Town und keine Klipper landen, wenn so die Nebel braun, es spielt das Cello zu bieder, für diese lastende Welt, die Lage verlangte Lieder, wo das Quartär zerfällt, doch durch den Geiger schwellen Jokohama, Bronx und Wien, zwei Füße in Wildleder stellen das Universum hin. Abblendungen: Fächertänze, ein Schwarm, die Reiher sind blau, Kolibris, Pazifikkränze um die dunklen Stellen der Frau, und nun sich zwei erheben, wird das Gesetz vollbracht: das Harte, das Weiche, das Beben in einer dunkelnden Nacht. (SW I, 268–269)

In der Exposition informiert das Gedicht kolloquial über die Atmosphäre des Lokals. „Flieder“ steht in „Vasen“, der Raum ist schummrig („Ampeln, gedämpftes Licht“ [Str. 1, V. 2]), das in jovialem Duktus benannte, hauptsächlich soldatische Publikum begeistert sich beim einsetzenden Gesang („die Amis rasen“ [Str. 1,V. 3]). Der Rausch ist hier der Rausch der anderen, der jubelnden „Amis“. Die zweite Strophe zitiert Verse des amerikanischen Songs „Because of You“, der 1940 von Arthur Hammerstein und Dudley Wilkinson komponiert wurde. In einer Version von Tony Bennett erlangte das Lied 1951 internationale Bekanntheit.

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Da die erste Strophe eine „Sängerin“ (V. 4) erwähnt, liegt die Annahme nahe, dass Benn sich auf eine Coverversion bezieht, etwa von Gloria de Haven, die er über den RIAS gehört haben könnte. De Havens Version stammt aus demselben Jahr wie die von Bennett. Die Quellenlage ist aber noch etwas intrikater. In „Lobreden auf den poetischen Satz“ (1998), einer Publikation von Robert Gernhardt, Anne Duden und Peter Waterhouse über ästhetische Schreibprozesse, wird der Asphaltliterat Benn kurzerhand in die Kneipenumgebung des Gedichts imaginiert. Gernhardt schreibt: „[E]r sitzt trinkend in einer warmen Bar und notiert – anderes Papier war wohl nicht zur Hand – auf einem Rezeptblock den Wortlaut des Amischlagers, den er soeben hört“.²⁸ Tatsächlich sind auf der Rückseite eines Rezeptblocks Eindrücke notiert, wie das Manuskript von „Bar“ im DLA in Marbach zeigt: „Flied in silber Vasen / Ampeln gedämpftes Licht / u di Amis rasen / wenn die Sängerin spricht –“.²⁹ Folgt man dieser Lesart und geht davon aus, dass Benn tatsächlich eine Bühnenperformance des Songs gesehen hat, kommt eine weitere interessante Quelle ins Spiel. Es handelt sich um Lesley Selanders Film „I Was an American Spy“ von 1951.³⁰ Das Setting sowie motivische Details von „Bar“ weisen frappierende Parallelen zu Selanders Kriegsdrama auf, welches wiederum Anleihen beim Film Noir macht. „I Was an American Spy“ erzählt die Geschichte von Claire Phillips, einer historischen amerikanischen Spionin während der japanischen Besatzung der Philippinen in den Jahren 1941 und 1942. Der Ort ihrer Tätigkeit ist der Club Tsubaki in Manila, in dem hochrangige Vertreter des japanischen Militärs verkehren. Unter dem Decknamen ‚High Pockets‘ versorgt Phillips die Widerständler von dort mit wertvollen Informationen, Medikamenten, technischem Equipment und Geld. Die Darstellerin Ann Dvorak, bekannt aus Howard Hawks „Scarface“ (1932), spielt die Spionin als einen Männermagneten mit „a lot of guts“, wie es im Film an einer Stelle heißt.³¹ Ihre Performance von „Because of You“ vor den japanischen Besatzern steht in der Tradition des torch songs, in dem eine verlorene Liebe beklagt wird. Dabei wird weniger gesungen als vielmehr gesprochen.³² Vor dem Hintergrund des Films lässt sich die ungewöhnliche Wahl des Verbs zur Beschreibung des Gesangs in der ersten Strophe von „Bar“ erläutern. Die Frau auf der Bühne ‚singt‘ nicht, sie „spricht“ (V. 4). Ebenso lässt die Erwähnung von „Jokohama, Bronx und Wien“ (V. 2) in der fünften Strophe einen Zusammenhang

28 Robert Gernhardt, Peter Waterhouse und Anne Duden: Lobreden auf den poetischen Satz, Göttingen 1998, S. 10. 29 Gottfried Benn: Bar [Manuskript], in: DLA Marbach, D 86, 54. 30 I Was an American Spy. Regie: Lesley Selander. Allied Artists 1951. 31 I Was an American Spy [Anm. 29] (Timecode: 21:35). 32 Vgl. I Was an American Spy [Anm. 29] (Timecode: 52:28–54:10).

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Abb. 1: Filmplakat von „I Was an American Spy“.

zwischen Film und Gedicht zu. Jokohama und Bronx rufen den Konflikt zwischen Japan und den USA auf, wie ihn „I Was an American Spy“ verhandelt. Wien ist in dieser Lesart eine Chiffre Europas und markiert den kulturellen Bezugsrahmen, in den der Song innerhalb des lyrischen Textes überführt wird. Wichtig ist der Geiger, durch dessen Spiel das Beobachtete plötzlich in einen größeren, nicht näher bestimmten Zusammenhang gerät. „[Z]wei Füße in Wildleder stellen / das Universum hin“ (Str. 5, V. 3–4), lautet die kühne Metapher, die zusammen mit der Konjunktion „doch“ (Str. 5, V. 1) einen Wendepunkt im Gedicht markiert. Eine weitere markante Parallele zwischen „Bar“ und dem filmischen Intertext stellen die „Fächertänze“ aus der sechsten Strophe dar. In Selanders Film ist der fandance ein zentrales Moment der Handlung. Auf Wunsch eines japanischen Generals imitiert Phillips die berühmte amerikanische Fächertänzerin Sally Rand und verschafft den Widerständlern so wichtige Zeit. Sogar die Kolibris, die Benns Gedicht erwähnt (vgl Str. 6, V. 3), sind in der betreffenden Sequenz hinter Phillips auf einem Wandteppich zu sehen. Das Kompositum „Fächertänze“ (Str. 6,V. 1) taucht genau einmal in Benns Œuvre auf. Eingebunden ist die Vokabel in „Bar“ in ein Paradigma des Sexuellen, das man

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Abb. 2: Der Fächertanz in „I Was an American Spy“ (Timecode: 1:12:34).

von Gedichten wie „Palau“, „Alaska“ und ähnlichen Texten sowie in allusiver Form auch aus der Populärmusik, aus dem Schlager kennt. Das der Reihung vorangestellte Wort „Abblendungen“ (Str. 6, V. 1) lässt an filmische Terminologie denken, an den Schnitt. In Benns Gedicht zeigt es an, dass der Bühnenauftritt beendet ist und nun ein Abschluss- oder Überbrückungsprogramm mit Tanz einsetzt. Dieses Szenario hat eine Schlüsselfunktion. Mit seinen klassischen Exotismen – also Fächertänze, Kolibris, Pazifikkränze sowie Benns Südwort par excellence: blau – sorgt es für eine Erregung der zuvor passiven lyrischen Instanz. Die Folgen für den Text sind signifikant. In der abschließenden siebten Strophe entprofanisiert das Gedicht die gemachte Alltagsbeobachtung und erklärt das Flirtgeschehen in der Bar zu einem universalen, einem anthropologischen Prinzip. Im Vokabular primitivistischer Urwüchsigkeit („das Harte, das Weiche, das Beben“ [Str. 7, V. 3]) gerät der sexuelle Akt zu einer gesetzmäßigen Notwendigkeit („wird das Gesetz vollbracht:“ [Str. 7, V. 2]). Das erinnert stark an Benns frühere Texte mit ihren Wallungsexperimenten und Imaginationen des Urtümlichen. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass das Exotische in „Bar“ („Fächertänze“, „Pazifikkränze“ etc.) von vorneherein in einen populären Medienkomplex (Hollywoodfilm,

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Bühne) eingebunden ist und demnach erst in vermittelter Form seine Wirkung entfaltet. Momente der Überhöhung sind, wie man schon Benns Poetologie entnehmen kann, in der Phase II auffallend oft über den Weg des Alltäglichen und des Populärkulturellen zu erreichen. Es ist noch auf ein erhebliches Problem einzugehen, das der filmische Intertext mit sich führt. So verblüffend die Parallelen zwischen Gedicht und Film sind: Benn hat „I Was an American Spy“ aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gesehen, zumindest nicht vor der Verschriftlichung von „Bar“. Die deutsche Fassung kommt Ende 1953, am 25. Dezember, in die Kinos. Benn datiert das Manuskript auf den 13. Januar desselben Jahres und veröffentlicht das Gedicht bereits im Mai. Dass er den Film vor der deutschen Premiere angeschaut hat, ist höchst unwahrscheinlich. Der Besuch der Berliner Alliiertenkinos Columbia und Outpost, die U.S.-amerikanische Produktionen vor dem deutschen Start im Originalton zeigten, war ohne alliierte Begleitung nicht möglich. Es liegt deshalb nahe, dass „Bar“ nur über Umwege auf „I Was an American Spy“ rekurriert. Der Film wäre so ein mittelbarer Intertext. Möglich ist etwa eine Nachahmung von Dvoraks Performance durch eine Sängerin in einer Bar, wie Robert Gernhardt sich das vorstellt,³³ oder ein kontextualisierender Bericht über den Film im Radio. Werbematerial für den Film und den Song kursierte schließlich schon vor der deutschen Premiere, wie etwa eine (undatierte) Broschüre der Excelsior Lichtspiele im Berliner Bezirk Neukölln, die das Kriegsdrama auf zwei Doppelseiten mit Bildausschnitten ankündigt und mit einem kurzen Text paraphrasiert.³⁴ Das Gedicht ist also vermutlich nicht von „I Was an American Spy“ selbst, sondern von einer Berliner Reminiszenz bzw. von den Peritexten des Films informiert.³⁵

33 Robert Gernhardt, Peter Waterhouse und Anne Duden: Lobreden auf den poetischen Satz [Anm. 29], S. 10. 34 Die Broschüre erscheint im Verlag Das Neue Filmprogramm (Neustadt an der Weinstraße). Vom einschlägigen Fächertanz ist hier allerdings nicht die Rede, was darauf hindeutet, dass Benn nicht genau dieses, sondern wohl nur ein ähnliches Prospekt vorgelegen hat. 35 Marcus Hahn hat einen entfernt vergleichbaren Medienbezug in Benns Werk diskutiert. Im Essay „Provoziertes Leben“ (1943) erwähnt Benn eingangs den „Negerfilm ‚Hosiannah‘“, den er „vor Jahren“ in Berlin gesehen haben will (SW IV, 310). Benns Erinnerung ist an dieser Stelle ungenau. Es handelt sich um King Vidors „Hallelujah!“ (1929), den ersten Film mit komplett afroamerikanischer Besetzung. In stark verkürzender Lesart funktionalisiert Benn die religiösen Rauscherfahrungen von „Hallelujah!“ (u. a. in ekstatischen Tanzszenen) für Überlegungen, aus denen Hahn eine „primitivistische Religionsphysiologie“ herauspräpariert. Vgl. Marcus Hahn: Tonfilm, Trance, Totaler Krieg. Gottfried Benns primitivistische Religionsphysiologie und King Vidors Film Hallelujah, in: Trancemedien und Neue Medien um 1900. Ein anderer Blick auf die Moderne, hg. v. Marcus Hahn und Erhard Schüttpelz, Bielefeld 2009, S. 227–249.

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Abb. 3: Undatierte Werbebroschüre der Excelsior Lichtspiele in Berlin-Neukölln.

Um zu verstehen, wie Benns Text mit dem populären Song verfährt, ist ein abschließender Blick in die zweite Strophe unerlässlich. Neben Notizen zum Liedtext findet sich im Manuskriptkonvolut von „Bar“ eine deutschsprachige Übersetzung des englischen Songs aus Ilse Benns Hand. Diese Übertragung hat trotz ihrer Eigenwilligkeit entscheidende Impulse für das Gedicht geleistet: Gottfried Benns Notiz: Because of you There’s a song in my heart Because of you my Romance had it’s start Die Übertragung aus Ilse Benns Hand: Weil an dich (ich denke) Da ist ein Gesang in meinem Herzen, Mit dir hat mein Roman begonnen, Weil an dich (ich denke).³⁶

36 Benn: Bar [Anm. 28].

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Abb. 4: Benns Abschrift des Songs „Because of You“ (Deutsches Literaturarchiv Marbach DS 86.54 / D20160114).

Benns Thematisierungen fehlender Englischkenntnisse bzw. ein eher klanglicher Zugang zu dieser Sprache in verschiedenen Texten wie im späten Gedicht „Was schlimm ist“ (SW II, 264) oder wiederum in „Probleme der Lyrik“ sind gut doku-

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Abb. 5: Übersetzung des Songs aus der Hand Ilse Benns (Deutsches Literaturarchiv Marbach DS 86.54 / D20160115).

mentiert.³⁷ Ihm muss der Songtext also schriftlich vorgelegen haben, nach Gehör hätte er ihn wohl nicht in dieser Form notieren können. Die Übersetzung von Ilse

37 So schreibt Benn in „Probleme der Lyrik“ über einen klanglich-assoziativen Zugang zum Englischen: „Oder nevermore mit seinen zwei kurzen verschlossenen Anfangssilben und dann dem

Von ‚Fächertänzen‘ und ‚Pazifikkränzen‘. Benns Exotismus der Phase II

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Benn, die ihrem Mann bei der Arbeit zur Hilfe kommt, ist zudem durch Ungenauigkeiten und Unsicherheiten geprägt. Das schmälert ihre textgenetische Bedeutung für das Gedicht jedoch nicht. Die beiden Parenthesen „(ich denke)“ lassen sich als Markierungen der Übersetzungsunsicherheiten verstehen, gleichsam als ein persönlicher Kommentar der Übersetzerin Ilse Benn. Genau solche Parenthesen stechen auch als Formspezifikum im Gedicht „Bar“ heraus. Durch sie wird der stark selektiv zitierte amerikanische Song mit deutschsprachigen Textbruchstücken kombiniert, was sich perfekt in die Montagepoetik des Spätwerks eingefügt.³⁸ Benn greift das kontingent angeregte Prinzip der Parenthesen auf, variiert aber den Inhalt, um an den Kreuzreim seiner eigenen Notiz anzuschließen. Ilse Benns Übersetzung ist reimlos, die Lyrics der englischsprachigen Vorlage operieren dagegen dem Thema gemäß mit Paarreimen.³⁹ Zur Erinnerung: Die zweite Strophe des Gedichts lautet: „Because of you (ich denke) / romance had its start (ich dein) / because of you (ich lenke / zu Dir und Du bist mein)“ (SW I, 268). Dass eventuell eine Fehllektüre der Übersetzungsnotiz vorliegt, Benn den Text seiner Frau also falsch entziffert haben könnte, lässt sich aufgrund der schriftbildlichen Nähe von „denke“, „lenke“ und „dein“ zumindest nicht ausschließen. Ilse Benn in den lyrischen Produktionsprozess einzubinden – und zwar so, dass sich dies detailgenau im späteren Textergebnis lokalisieren lässt –, ist ein überaus bemerkenswerter Umstand. Dieser partnerschaftliche Vorgang findet meines Wissens keine Entsprechung im restlichen Œuvre und macht den Text und seine Entstehung zu einem Sonderfall.

4 Medialisierter Exotismus der Phase II Die hier behandelten Texte geben einen exemplarischen Einblick in Benns Exotismus der Phase II. Das Korpus an Texten, die ein Paradigma bilden, da sie exotistische Motive in meist partikularer Form aufgreifen, ist noch weit umfangreicher. Drei Stichproben aus den Gedichtbänden „Destillationen“ und „Aprèslude“, die das Skizzierte weiter unterfüttern, seien abschließend gegeben: Im Gedicht „Melodien“ sind „Zebras oder Antilopen im Busch des Njassaflusses auf der Flucht“ (SW I, 257). In „Begegnungen“ erblickt die lyrische Instanz „Traum und Mythen“ vom „Hotel in Denpasar“ in der Nähe eines balinesischen „Korallenriff[s]“ (SW I, 254). Das Gedicht

dunklen strömenden more, in dem für uns das Moor aufklingt und la Mort, ist nicht nimmermehr – nevermore ist schöner“ (SW IV, 24). 38 Dieter Burdorf hat die Parenthesen hingegen mit Friederike Bruns Gedicht „Ich denke dein“ und Goethes „Nähe des Geliebten“ in Verbindung gebracht. Vgl. Dieter Burdorf: „Destillationen. Neue Gedichte 1953“ (1953), in: Benn-Handbuch [Anm. 9], S. 117–120, hier: S. 119. 39 Hier enden die von Benn zitierten Verse jeweils erst nach „heart“ und „start“.

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Philipp Pabst

„Nur noch flüchtig alles“ imaginiert die „Anden: Ur, verrunzelt, nichts für Geodäten“ (SW I, 294–295). All diese Texte verschränken ihre Exotismen (seltener: Primitivismen) mit Alltäglichkeiten und der Sphäre des Populären. Sei es der „Samba“ in „Begegnungen“ oder der „Boogie-Woogie“ sowie der Tod des New Yorker Aktienmanipulators Serge Rubinstein in „Nur noch flüchtig alles“, über den mit großem Eifer in der Boulevardpresse des Jahres 1955 berichtet wurde. Benns Exotismus der Phase II spielt das Gegenwärtige und Nahbare, das durch Medien Verfügbare, nur noch selten gegen Fantasien von Urzuständen in räumlichen und zeitlichen Fernen aus. Von derartigen Fernen und ihrem Entgrenzungspotenzial hat sich Benn aber keineswegs verabschiedet. Im nachgeschichtlichen Nebeneinander dient das Profane in aller Regel als Ausgangspunkt und Mittler des Exotischen. Das unterscheidet die späten Veröffentlichungen von früheren Gedichten wie „Osterinsel“ oder „Ostafrika“. Gewiss verfügen auch einige für die Untersuchungsfrage einschlägige Texte der 1920er Jahre ansatzweise über Momente der Vermittlung. In „Meer- und Wandersagen“ sind das die titelgebenden Sagen, in „Alaska“ ist es der Gesang. Doch diese vorzeitlichen Formen der Vermittlung sind Teil des primitivistischen Diskurses selbst. Durch sie entsteht keine vergleichbare Vermischung von Paradigmen, wie man sie anhand der Hinwendung zum Populären in Benns medialisiertem Exotismus der Phase II beobachten kann.

III. Expressionistische und postexpressionistische Netzwerke

Marcus Hahn, Avraham Rot

Gottfried Benns deutsch-jüdische Netzwerke in den 1920er und 1930er Jahren Abstract: Der Beitrag untersucht das Verhältnis Gottfried Benns zu Jüdinnen und Juden und zum Judentum in der Weimarer und frühen NS-Zeit. Basierend auf veröffentlichten und unveröffentlichten Quellen, einschließlich bisher unbekannter Archivmaterialien, wird ein Überblick über die vielfältigen persönlichen, kollegialen und künstlerischen Beziehungen gegeben, die Benns deutsch-jüdisches Netzwerk ausmachten. Dabei werden neue Details zu bekannteren und weniger bekannten Persönlichkeiten vorgestellt, darunter Else Lasker-Schüler, der hier zentrale Aufmerksamkeit gewidmet wird, Rudolf Kayser und Anni Bernstein. Während die vorliegende Untersuchung die Gelegenheiten in den Vordergrund rückt, in denen Benn sich antisemitischen Stereotypen, wenn nicht sogar Weltanschauungen zuwandte, zeigt sie zugleich auch ein erhebliches Maß an Offenheit und – wohl vor allem – Ambivalenz von seiner Seite und wirft damit ein neues Licht auf die immer noch offene Frage nach Benns nationalsozialistischem Engagement und Desengagement. Für Ulrich Böcker ‫לאולריך בוקר‬

1 Der deutsch-jüdische Philosoph Ernst Bloch hat in seinem Text über„Die sogenannte Judenfrage“ (1963) mit Nachdruck darauf aufmerksam gemacht, dass es während der Weimarer Republik „außer in schmutzigen Winkeln oder sinistren Organen, überhaupt niemand“ „interessiert[]“ habe, „[d]aß Reinhardt oder S. Fischer oder auch Bruno Walter und Otto Klemperer oder Josef Kainz Juden waren, Piscator oder Rowohlt oder Furtwängler oder Bassermann keine“ – „die meisten wußten gar nichts davon.“¹ Im zweiten Teil seiner Autobiographie „Doppelleben“ (1950) hat Gottfried Benn ähnlich argumentiert, nämlich dass man von der Existenz von

1 Ernst Bloch: Die sogenannte Judenfrage [zuerst 1963], in: Ders.: Gesamtausgabe, Bd. IX: Literarische Aufsätze, Frankfurt a. M. 1965, S. 549–554, hier: S. 553. Marcus Hahn und Avraham Rot, Regensburg https://doi.org/10.1515/9783111102740-010

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„‚Mischlinge[n]‘ […] erst nach 1933“ erfahren habe, „vorher hatte sich niemand um diese Herkunftsfragen gekümmert.“² Die Frage ist, ob das wirklich so war oder ob den beiden – ansonsten denkbar weit voneinander entfernten – Autoren hier im Rückblick auf das deutsch-jüdische Spannungsfeld eine nostalgische Neutralitätsprojektion unterläuft. Für Benn jedenfalls stimmt die Behauptung, dass „diese Herkunftsfragen [niemanden] gekümmert“ (SW V, 85) hätten, nicht durchgängig, denn er hat aus unterschiedlichen Motiven auch schon vor 1933 das Judentum seiner Adressaten oder Objekte betont. Und auch sein Freund Carl Einstein, der versucht hat, sich nicht als Jude zwangsmarkieren zu lassen, aber 1928 u. a. aufgrund des wachsenden Antisemitismus nach Paris vorabemigriert, scheint eher das Gegenteil zu bezeugen, wenn er Ende 1931 an einen deutschen Bekannten schreibt, dass in der französischen Hauptstadt wenigstens „keine nazis“ „poebeln“.³ Die „schmutzigen Winkel“ und „sinistren Organe“, die Bloch erwähnt, waren für Einstein in Deutschland offenbar kaum zu übersehen.⁴ Wir möchten diese stark differierenden Einschätzungen zur erträumten Unsichtbarkeit der Unterscheidung Jude / Nicht-Jude unserem Versuch vorausschicken, die deutsch-jüdischen Netzwerke Benns in den 1920er und 1930er Jahren zu rekonstruieren, denn das Vorhaben ist mit einer Einschränkung verbunden – einer moralischen. Sie ergibt sich aus der unvermeidlichen Berücksichtigung der Frage, wer in öffentlichen und privaten Zusammenhängen jeweils als ‚Voll-‘, ‚Halb-‘ oder‚Vierteljude‘ galt und wer aus anderen Gründen Gefahr lief, diskursiv mit dem Judentum verbunden, also ‚judaisiert‘⁵ zu werden. Diese Gestapo-Brille wird man sich nur mit äußerstem Widerstreben aufsetzen, aber leider gibt es aus unserer Sicht trotz der deutlichen Hinweise Blochs auf die zumindest sektoral erreichten emanzipativen Fortschritte während der Weimarer Republik keine Alternative dazu, die rassistische Perspektive der Verfolger – aus, auch wenn es schwer fällt: heuristischen Gründen – zu übernehmen und die Welt der 1920er und 1930er Jahre wie die Antisemiten in Juden und Nicht-Juden aufzuteilen. Das geschieht nicht, um die rassistische Perspektive zu ver-

2 Gottfried Benn: Doppelleben, in: Ders.: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, Bd. V: Prosa 3, hg. v. Gerhard Schuster, Stuttgart 1991, S. 83–175, hier: S. 85. Im Folgenden wird auf diese Werkausgabe mit der Sigle (SW I– VII/2) im laufenden Text hingewiesen. 3 Carl Einstein an Ewald Wasmuth, 28. Oktober 1931, in: Ders.: Briefwechsel 1904–1940, hg. v. Klaus H. Kiefer und Liliane Meffre, Berlin 2020, S. 525. Zu Einsteins Verhältnis zum Judentum und zu den Gründen der Vorabemigration vgl. Klaus H. Kiefer: Einstein, Carl, in: Metzler Lexikon der deutschjüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart, hg. v. Andreas Kilcher, 2. Aufl., Stuttgart und Weimar 2012 [zuerst 2000], S. 129–131. 4 Bloch: Die sogenannte Judenfrage [Anm. 1], S. 553. 5 Vgl. David Nirenberg: Anti-Judaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens, München 2015: Beck [eng. 2013], S. 103, 126.

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doppeln, sondern um sie zu analysieren.⁶ Im Folgenden zielen wir deshalb auf einen zunächst ganz unspektakulären, teilweise auch biographisch orientierten Überblick über Akteure, Medien und Institutionen, über soziale und literarische Verbindungen, aber auch über deren Auflösung. Doch da wir Benns deutsch-jüdische Netzwerke möglichst vollständig erfassen wollten, haben sich unterwegs auch einige, teilweise überraschende Archivfunde ergeben, die wir in diesem Aufsatz der wissenschaftlichen Öffentlichkeit vorstellen möchten – so eine bisher unbekannte Variante eines Gedichtes, das sich dadurch erstmals dem deutsch-jüdischen Spannungsfeld zuordnen lässt, sowie zwei ebenfalls dazugehörige Briefe Benns.

2 Benns Kontaktgeschichte mit dem Judentum reicht in einigen Fällen in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurück. So auch die sehr wichtige Beziehung zu Else LaskerSchüler, die er 1912 in Berlin kennenlernt. Aus ihrem wohl bis Ende 1913 andauernden Verhältnis gehen einige der verblüffendsten Gedichte deutscher Sprache hervor. Auf ihrer Seite zählen neben der Prosaskizze „Doktor Benn“ (1913) insgesamt vierzehn Gedichte auf den u. a. als Barbaren, Giselheer, Giselfendi, Tiger, Heiden, Spielprinzen oder Knaben apostrophierten Geliebten zum Korpus, darunter auch Gedichte, die sie vor der Bekanntschaft mit ihm geschrieben und ihm erst bei der Aufnahme in die „Gesammelten Gedichte“ (1917) gewidmet hat – wie zum Beispiel „Pharao und Joseph“ (1910). Bei Benn werden meist die Gedichte „Drohungen“ und „Madonna“ aus dem „Alaska“-Zyklus, „Englisches Café“, die Widmung des zweiten Gedichtbandes „Söhne“ sowie die lyrische Verabschiedung „Hier ist kein Trost“ (alle 1913) zu den Texten mit Lasker-Schüler-Bezug gerechnet.⁷ Auch

6 Dieser Aufgabe widmen wir uns seit Oktober 2019 im Rahmen eines an der Universität Regensburg laufenden DFG-Forschungsprojektes zu Benns nationalsozialistischem Engagement und Desengagement sowie zu seinem Verhältnis zum Judentum; vgl. https://www.uni-regensburg.de/sprache-literatur-kultur/ germanistik-ndl-2/dfg-projekt/index.html (7. Dezember 2022). 7 Man kann die Grenzen auch anders ziehen. Werner Dürrson und Jan Drees zählen Benns Gedicht „Untergrundbahn“ (1913) dazu; Drees darüber hinaus noch Lasker-Schülers „Mein Herz. Ein Liebesroman mit Bildern und wirklich lebenden Menschen“ (1912), worin Benn als „‚Minn‘, Sohn des Sultans von Marokko“, firmiere. Vgl. Werner Dürrson: Der Seltsamsaft. Zu Else Lasker-Schülers Einfluß auf die Lyrik von Gottfried Benn, in: Denken in Widersprüchen. Korrelarien zur GottfriedBenn-Forschung, hg. v. Wolfgang Peitz, Freiburg 1972, S. 184–204, hier: S. 199; Jan Drees: „Vom Himmel“ mit der „Untergrundbahn“. Warum Gottfried Benn in seinem bekanntesten Gedicht auf einen Essay von Else Lasker-Schüler antwortet, in: Auf meines Herzens Bühne. 100 Jahre Else Lasker-Schülers Schauspiel „Die Wupper“, hg. v. Johannes Barth und Stefan Neumann, Wuppertal 2012, S. 179–188, hier: S. 182–184.

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wenn sie hier nicht Gegenstand einer detaillierten Analyse sind, so gibt es doch eine erhebliche Interferenz zwischen ihnen und der Einschätzung der späteren Beziehung der beiden Autoren zueinander in den Weimarer Jahren: Ihre erotische und literarische Liebesfehde auf der sozialen Bühne einer konsternierten wilhelminischen Gesellschaft ist ebenso häufig im Licht der Ereignisse von 1933 interpretiert worden wie diese mit Blick auf die Situation vor 1914. Daher ist die Frage nach möglichen Kontinuitäten bei Benn nicht von der Hand zu weisen. Sie zu beantworten fällt allerdings deutlich schwerer, als es von dem Teil der Forschung suggeriert wird, der entlang eines eindeutigen Täter-Opfer-Schemas argumentiert. Dort wird dem protestantischen Mann eine geschickte Ausnutzung der Affäre mit der siebzehn Jahre älteren und im Vergleich literarisch besser etablierten Jüdin zur Beförderung der eigenen Schriftsteller-Karriere unterstellt,⁸ die sich in seinen an sie gerichteten Gedichten als – so Gisela Brinker-Gabler – „objectification“ einer Frau, in letzter Instanz sogar als „forceful assertion of a proto-fascist masculinity“ niederschlage.⁹ Ein solcher Ansatz hat nicht nur das Problem, dass er faschistisches Verhalten historisch vor der Entstehung des Faschismus dingfest machen möchte, sondern auch, dass er aus spielerischen Formen von Liebeskommunikation automatisch auf reale und/oder ideologische Gewaltverhältnisse rückzuschließen versucht. Mehrere Überlegungen mahnen zur Vorsicht: Zunächst einmal agieren beide Autoren vor dem Hintergrund des bekanntlich weder symmetrischen noch gewaltfreien europäischen Geschlechtermodells ihrer Zeit mit seinen weitgehend festgelegten Rollenzuschreibungen. Entsprechend „hemmungslos, bunt, wild und auch laut“ bekundet gerade Lasker-Schüler ihre „gewalttätige Lust und Liebe“:¹⁰ „Der hehre König Giselheer“ hat „seine[n] Lanzenspeer“ mitten in ihr „Herz“ ge-

8 Vgl. etwa Heinz Rölleke: Else Lasker-Schülers Gedichte aus der Zeit ihrer Begegnung mit Benn, in: Liebender Streit. Else Lasker-Schüler und Gottfried Benn, hg. v. Dieter Burdorf, Iserlohn 2002, S. 15– 35, hier: S. 17. Für eine kurze, psychologisch interessante Charakterisierung vgl. Gerda Marko: Schreibende Paare. Liebe, Freundschaft, Konkurrenz, Zürich und Düsseldorf 1995, S. 119–121. 9 Gisela Brinker-Gabler: The Primitive and the Modern. Gottfried Benn and Else Lasker-Schüler. Woman/Women in Expressionism, in: Else Lasker-Schüler. Ansichten und Perspektiven, Views and Reviews, hg. v. Ernst Schürer und Sonja Hedgepeth, Tübingen und Basel 1999, S. 45–56, hier: S. 56. Helma Sanders-Brahms spekuliert sogar über eine nirgendwo belegte Schwangerschaft LaskerSchülers, die der Kindesvater und Arzt Benn aus antisemitischen Motiven beendet habe: „Wurde Elses Kind […] abgetrieben, weil sie Jüdin war? War Benn doch schon damals Antisemit?“ Helma Sanders-Brahms: Gottfried Benn und Else Lasker-Schüler. Giselheer und Prinz Jussuf, Berlin 1997, S. 118. 10 Rölleke: Else Lasker-Schülers Gedichte [Anm. 8], S. 25.

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stoßen;¹¹ sie spielt ein pseudo-indianisches „Scalpspiel“ mit ihm bis ihr „Haar an [s] einem Gürtel flattert“;¹² und sie baut sich „ein Raubnest“ „in [s]eines Kinnes Grube“ bis er sie „aufgefressen“ hat.¹³ Angesichts dieser stereotyp weiblichen (Wunsch-?, Schreck-?, Straf-?) Phantasien vom Aufgespießt-, Gehäutet- oder Verschlungenwerden, aber auch der ihrem männlichen Gegenüber zugeschriebenen Aggressivität, liegt die Frage nahe, ob hier das offizielle asymmetrische Geschlechtermodell der viktorianischen Periode angewendet oder nicht vielmehr bis an die Grenze zur Karikatur übertrieben wird. Ähnlich dürfte es sich angesichts der Selbstexotisierung Lasker-Schülers mit dem epochentypischen männlichen Blick auf den orientalisierten Körper der jüdischen Frau verhalten, für den Benn ansonsten ein beinahe natürlicher Kandidat sein würde. Erscheint Lasker-Schüler in diesen Konstellationen in der erotisch passiven Rolle, so ist mit Blick auf das lyrische Sprechen der umgekehrte Fall diskutiert worden: Werner Dürrson jedenfalls konstatiert, dass Benn durch die Begegnung mit den Gedichten seiner Geliebten stilistisch aus dem Gleis geraten sei und sich mittels Nachahmung und Parodie gegen Lasker-Schülers „Einfluß“ zu wehren versucht habe.¹⁴ Die „Krise“ bezüglich des „eigenen Ausdrucks“ sei so grundlegend gewesen, dass der Lyriker Benn ab 1914 praktisch verstummt und erst mit dem 1917 publizierten Gedichtband „Fleisch“ gewaltsam in die Welt der „Morgue“ (1912) zurückgekehrt sei.¹⁵ Diese Hinweise auf die durchaus verteilte erotisch-literarische Machtbalance in der Paarbeziehung sind wichtig, denn sie entkräften sowohl die Vermutung, dass Benn bereits vor dem Ersten Weltkrieg eine im engeren Sinne faschistoide Virilität kultiviert habe, als auch den – noch sehr viel weitergehenden – Verdacht, dass in seinen an LaskerSchüler gerichteten Gedichten das Judentum überhaupt abgewehrt werde.¹⁶ 11 Else Lasker-Schüler: „Gottfried Benn“, in: Dies.: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe, Bd. I.I: Gedichte, bearb. v. Karl Jürgen Skrodzki unter Mitarbeit v. Norbert Oellers, Frankfurt a. M. 1996, S. 200. 12 Else Lasker-Schüler: „Giselheer dem Tiger“, in: Dies.: Werke und Briefe, Bd. I.I [Anm. 11], S. 145– 146. 13 Else Lasker-Schüler: „Das Lied des Spielprinzen“, in: Dies.: Werke und Briefe, Bd. I.I [Anm. 11], S. 153. 14 Dürrson: Seltsamsaft [Anm. 7], S. 184. 15 Dürrson: Seltsamsaft [Anm. 7], S. 196, 202. 16 Diese These hat Barbara Hahn vertreten und Benns Gedichte „Drohungen“ und „Englisches Café“ als christlich-deutsche „Einsprüche“ und „Zurückweisungen“ der unter dem Titel „Hebräische Balladen“ (1913) versammelten Bibelgedichte Lasker-Schülers verstanden. Barbara Hahn: Rahel. Esther. Ruth. Zu Gedichten von Else Lasker–Schüler und Gottfried Benn, in: Mythenkorrekturen. Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption, hg. v. Martin Vöhler und Bernd Seidensticker, Berlin und New York 2005, S. 279–295, hier: S. 280, 295. In ihrer voraussetzungsreichen Interpretation ist der Übergang in „Drohungen“ von der apostrophierten „Ruth“ – einer Anspielung auf Lasker-Schülers gleichnamiges Gedicht von 1905 – zu deren „Makkabäerblut“ (Gottfried Benn: „Drohungen“, in: Ders.: Gedichte in der Fassung

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Die nur sehr lückenhaft erhaltenen Dokumente legen es nahe, für die Weimarer Zeit von einem Verhältnis freundschaftlicher Kollegialität zwischen den beiden Autoren auszugehen. In diesem Rahmen bleiben auch Momente von großer Nähe möglich, so etwa während der Beerdigung ihres am 14. Dezember 1927 im Alter von nur 28 Jahren verstorbenen Sohnes, des Malers Paul Lasker-Schüler (1899–1927), bei der Benn die trauernde Mutter auf dem Friedhof begleitet hat. Am 11. September 1931 gratuliert er ihr zur Publikation der religiös-naturphilosophischen Prosa „Das Gebet“ in der „Frankfurter Zeitung“, obwohl das „viel zu schade für das Kaufmannsvolk“ sei, „das es liest“ – ein Ausfall gegen das liberal-kapitalistische Blatt und der erste Versuch Benns, zwischen Lasker-Schüler und anderen Juden zu unterscheiden –;¹⁷ zwei Monate später, am 18. November 1931, sendet er „dem großen lyrischen Genie in Freundschaft u.Verehrung“ seinen im August im Druck erschienenen Text für das aus der Zusammenarbeit mit Paul Hindemith hervorgegangene Oratorium „Das Unauf-

der Erstdrucke, hg. v. Bruno Hillebrand, Frankfurt a. M. 1987 [zuerst 1982], S. 49) gleichbedeutend mit der christlichen Aneignung einer auf Hebräisch überlieferten alttestamentarischen Geschichte jüdischer Selbstbehauptung: „Ruth ist nicht mehr der Name eines Kampfs der Juden um Identität. Indem er zusammen mit den geschlagenen Makkabäern ins Griechische wandert, wird er […] Glied einer Genealogie, an deren Ende Christus steht.“ Hahn: Rahel [Anm. 16], S. 290. Dagegen lässt sich zum einen einwenden, dass Lasker-Schülers „Ruth“ nicht zwangsläufig als Inszenierung hebräischer Autochthonie gelesen werden muss, sondern im Gegenteil auch als Modell der gelungenen Integration einer Fremden – in der Bibel: einer Moabiterin – gelten könnte; vgl. dazu Lothar Bluhm: Ruth. Ein intertextuelles Spiel um ‚Fremdsein‘ und ‚Heimat‘, in: Interpretationen. Gedichte von Else Lasker-Schüler, hg. v. Birgit Lermen und Magda Motté, Stuttgart 2010, S. 41–50, hier: S. 45. Zum anderen werden die Makkabäer, wie auch Barbara Hahn einräumt, in der jüdischen Tradition in erster Linie mit ihrem erfolgreichen Aufstand gegen die Seleukiden im 2. Jahrhundert v.Chr. verbunden, der im achttägigen Chanukka-Fest gefeiert wurde, und weniger mit der Niederlage, die sie historisch darstellen, weil sie die letzte Phase jüdischer politischer Souveränität in der Antike einläuteten; vgl. Hahn: Rahel [Anm. 16], S. 289–290. Dass durch Benns „Englisches Café“ „Raubpack“ „[s]chleicht“, darunter „Jüdinnen“ und insbesondere eine „Rahel“, die vom lyrischen Ich als gehirnbedrohende „Feindin!“ angesprochen wird (Gottfried Benn: „Englisches Café“, in: Ders.: Gedichte [Anm. 16], S. 55), entziffert Barbara Hahn als Verweis auf Rahel Varnhagen von Ense und erkennt darin eine weitere Zurückweisung des Jüdischen (vgl. Hahn: Rahel [Anm. 16], S. 294– 295). Auch dagegen lassen sich zwei Argumente vorbringen: Die durch eine jüdische Frau verkörperte Gehirnbedrohung stellt in Benns früher Lyrik mindestens ebenso sehr eine regressive Utopie dar, wie sie als Selbstverlust gefürchtet wird; die Rahel in „Englisches Café“ bezieht sich wohl auf Jakobs Frau Rahel (Gen. 29:10), die ihm Joseph gebären wird, d. h. auf diejenige biblische Figur, mit der sich Lasker-Schüler oft identifiziert hat, zum Beispiel in androgyn-orientalisierender Form als Jussuf von Theben, aber auch in dem später Benn gewidmeten Gedicht „Pharao und Joseph“; vgl. Friedhelm Marx: Pharao und Joseph. Kunst, Liebe, jüdische Identität, in: Interpretationen [Anm. 16], S. 76–86, hier: S. 82–86. 17 Gottfried Benn an Else Lasker-Schüler, 11. September 1931, in: Ders.: „Absinth schlürft man mit Strohhalm, Lyrik mit Rotstift“. Ausgewählte Briefe 1904–1956, hg. v. Holger Hof, Göttingen 2017, S. 54.

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hörliche“ zu.¹⁸ Am 17. Dezember 1931 schreibt er ihr zum vierten Jahrestag der Beerdigung von Paul, dass er „in diesen Tagen viel an Sie“ denke, offeriert ihr seine „Wohnung“ und sogar sein „Essen u. Trinken“.¹⁹ Vermutlich ist das auch die Gelegenheit gewesen, bei der Benn ihr ein von uns kürzlich entdecktes Gedicht mit dem Titel „Requiem“ und der Widmung „für Paul Lasker-Schüler“ mitgeschickt hat, das heute in Else Lasker-Schülers Nachlass in der Israelischen Nationalbibliothek in Jerusalem aufbewahrt wird (s. Abb. 1).²⁰ Zwar findet sich eine hebräische Beschreibung des Typoskripts mit diesem Gedicht im Archivkatalog²¹ und es wurde bereits 1968 in einer umfassenden Bestandsaufnahme des Nachlasses von Margarete Kupper aufgelistet,²² doch wurde seine besondere Bedeutung bisher übersehen. Es handelt sich um eine undatierte Fassung eines Gedichtes von Benn, das bislang in Benn-Ausgaben mit nur kleinen Abweichungen unter dem Titel „So still –“²³ und ohne Widmung überliefert und dessen Entstehung fälschlich auf das Jahr 1938 datiert worden ist.²⁴ Das Typoskript besteht aus einem einzigen Blatt, das sich gemeinsam mit dem gerade erwähnten Widmungsexemplar von „Das Unaufhörliche“ in einem Sammelordner mit dem englischen Titel „Dedications to Else LaskerSchüler“ befindet, zu dem man auch das ebenfalls schon erwähnte Lasker-Schüler – im Druck – gewidmete Exemplar von Benns zweitem Gedichtband „Söhne“ (1913)

18 Paul Raabe: Gottfried Benns Huldigungen an Else Lasker-Schüler. Unbekannte Dokumente des Dichters 1931–1932, in: Gottfried Benn: Den Traum alleine tragen. Neue Texte, Briefe, Dokumente, hg. v. Paul Raabe und Max Niedermayer, Wiesbaden 1966, S. 61–79, hier: S. 73. 19 Gottfried Benn an Else Lasker-Schüler, 17. Dezember 1931, in: Benn: „Absinth“ [Anm. 17], S. 56. 20 Israelische Nationalbibliothek, Else Lasker-Schüler Archiv, ARC. Ms. Var. 501 08 57. 21 Diese Beschreibung lautet: ‫ עם חתימה בכתב ידו של‬,‫״שיר של גוטפריד בן בגרמנית מודפס במכונת כתיבה על גבי דף נייר עם שורות‬ .‫שילר״‬-‫ את השיר ]…[ הקדיש לבנה של אלזה לסקר‬.‫גוטפריד בן‬ („Ein Gedicht von Gottfried Benn in deutscher Sprache, gedruckt auf einer Schreibmaschine auf einem Blatt Papier mit Linien, mit einer Unterschrift in der Handschrift von Gottfried Benn. Das Gedicht, Requiem (für Paul Lasker-Schüler), ist dem Sohn von Else Lasker-Schüler gewidmet“); https://www.nli.org.il/en/archives/NNL_ARCHIVE_AL990027262660205171/NLI (21. Februar 2023). 22 Margarete Kupper: Der Nachlass Else Lasker-Schülers in Jerusalem, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch. Neue Folge 9 (1968), S. 243–283, folgt der Jerusalemer Sortierung und listet das Typoskript unter der Rubrik „VI, 14 Widmungen von Gottfried Benn“ auf: „(210) Requiem (für Paul Lasker-Schüler), Maschinenschrift mit hs. Unterschrift in blauer Tinte“ (S. 270). 23 Sowohl im Erstdruck in Gottfried Benn: Primäre Tage. Gedichte und Fragmente aus dem Nachlaß, hg. v. Max Niedermayer und Marguerite Schlüter, Wiesbaden 1958, S. 30, als auch in Ders.: Gesammelte Werke in vier Bänden, hg. v. Dieter Wellershoff, Bd. III: Gedichte, 2. Aufl., Wiesbaden 1963 [zuerst 1960], S. 429; Ders.: Gedichte [Anm. 16], S. 288; und SW II, 116. Vgl. die entsprechenden redaktionellen Anmerkungen v. Marguerite Schlüter bzw. v. Gerhard Schuster in Benn: Primäre Tage [Anm. 23], S. 90, und in SW II, S. 266. 24 Näheres zur Überlieferungsgeschichte des Gedichts siehe unten im Schlussabschnitt 4.

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sortiert hat. In nächster Nähe zu diesem Typoskript findet sich auch eine Kopie von Benns Rede auf „Else Lasker-Schüler“, die er 1952, mehr als sieben Jahre nach ihrem Tod, gehalten hat und in der Pauls Beerdigung gleich im ersten Absatz erwähnt wird: Benn präsentiert sich dort als einer der wenigen, die Else Lasker-Schüler persönlich kannten, sicher der einzige, dem sie eine Zeitlang sehr nahestand, vermutlich auch der einzige, der am Grabe ihres Sohnes Paul neben ihr stand, als er auf dem Weißenseer Kirchhof beigesetzt wurde (SW VI, 54).

Die Hinzufügung dieses Textes zum Sammelordner „Dedications to Else LaskerSchüler“ ist nur ein Beispiel für die massiven und leider nicht systematisch dokumentierten Eingriffe in und Erweiterungen von Lasker-Schülers Nachlass in Jerusalem, der ursprünglich aus einem Koffer bestand, der nach ihrem Tod in ihrem Wohnsitz in Jerusalem gefunden worden ist und sich mittlerweile zu einer Sammlung ausgeweitet hat, die heute ca. 12 Regalmeter belegt.²⁵ Ob sich das Gedicht in dem 1945 in Jerusalem gefundenen Koffer befand oder in einem der Koffer, die danach von Zürich (wo sie zwischen 1933 und 1939 lebte) nach Jerusalem geschickt wurden, oder ob es auf andere Weise in die Sammlung aufgenommen wurde, lässt sich aufgrund des derzeitigen Mangels an provenienz- und überlieferungsbezogenen Informationen nicht feststellen. Aus denselben und anderen Gründen bleibt auch die Frage der Datierung offen. Aber diesbezüglich glauben wir, einige Anhaltspunkte gefunden zu haben. Betrachten wir zunächst den Text: Requiem (für Paul Lasker-Schüler.) Es würden Schwärme, wanderweit, sich ruhig und in breiten Massen auf ihren Ästen niederlassen: so still ist die Unendlichkeit. auch unerbittlich ist das nicht – Sie spinnen und die Spindeln rauschen und Lachesis und Klotho tauschen den Rocken und die Wolleschicht. auch ob es wachte, ob es schlief, ob es Gestaltung zeigt und Weiten – in Schöpfungen, in Dunkelheiten sind es die Götter, fremd und tief.

25 Vgl. Paul Alsberg: Der Nachlaß in Jerusalem, in: Mein Herz – Niemandem. Ein Else LaskerSchüler Almanach, hg. v. Michael Schmid-Ospach, Wuppertal 1999, S. 203–208, hier: S. 204–205.

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Die Unterschrift scheint echt zu sein. Bemerkenswert ist auch die kursive Schrifttype, die darauf hindeuten könnte, dass Benn hier seine Reiseschreibmaschine verwendete, die er 1935 nach Hannover mitnahm und von da an bis 1945 gelegentlich benutzte. Wahrscheinlich also begegnen wir hier einer früheren Nutzung dieses Geräts, wenn auch nicht der einzigen, da sich dieselbe Schriftart anscheinend auch im Typoskript von „Das Unaufhörliche“ befindet, das Benn im Mai 1931 an Hindemith schickte, also etwa sechs Monate bevor er Lasker-Schüler das gewidmete Exemplar dieses Textes zukommen ließ.²⁶ Dass die Texte des „Requiems“ und des Oratoriums aus der gleichen Zeit stammen, wird auch durch das gemeinsame Vorkommen von Wörtern wie „Götter“ (SW VII/1, 199–200) und „Schöpfung“ (SW VII/ 1, 203, 208) und vom Vers „in Schöpfungen, in Dunkelheiten“ (SW VII/1, 210) nahegelegt.²⁷ Das Gedicht selbst mag thematisch, strukturell und ästhetisch nicht besonders avantgardistisch oder sonst wie wegweisend erscheinen. Nichtsdestotrotz – und teilweise gerade wegen seiner anscheinend zurückhaltenden oder elegischen Stimmung – würde es eine erheblich längere Untersuchung verdienen als die, die wir hier durchführen können. Dennoch seien einige knappe Bemerkungen erlaubt. Zum einen ist die Beschwörung eines (lateinisch‐)christlichen Gottesdienstes im Titel bemerkenswert angesichts der situativen Nähe zum Judentum durch Benns Anwesenheit bei Pauls Beerdigung auf dem jüdischen Friedhof in Berlin. Im Gegensatz zu den unheilvollen schockierenden Beschreibungen zerstückelter Menschenkadaver im letzten Gedicht des „Morgue“-Zyklus von 1912, das ebenfalls den Titel „Requiem“ trägt (SW I, 13),²⁸ operiert das „Requiem (für Paul Lasker-Schüler.)“ mit einer lyrischen Gleichsetzung zwischen der Stille der Unendlichkeit und der Stille nach dem Aufhören des Flügelschlagens, weil sich die Vögel auf den Ästen niedergelassen haben. Darin scheint die schweigende Erhabenheit des seit dem 16. Jahrhundert festgelegten liturgischen Textes der katholischen Totenmesse mit-

26 Vgl. die Reproduktion in Ludwig Greve: Gottfried Benn 1886–1956. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar, 2. Aufl., Marbach a.N. 1986, S. 142–143. 27 Besonders verdichtet zeigt sich die motivische Gemeinsamkeit in den Zeilen gegen Ende des Oratoriums (wo sich auch der zuletzt zitierte Vers findet): „Das Unaufhörliche – durch Raum und Zeiten, / der Himmel Höhe und der Schlünde Tief – : / in Schöpfungen, in Dunkelheiten – : / und keiner kennt die Stimme, die es rief. // Die Welten sinken und die Welten steigen / aus einer Schöpfung stumm und namenlos, / die Götter fügen sich, die Chöre schweigen – : / ewig im Wandel und im Wandel groß.“ (SW VII/1, 210) 28 Vgl. dazu Joachim Dyck: „Es gibt keine Hoffnung jenseits des Nichts“, in: Interpretationen. Gedichte von Gottfried Benn, hg. v. Harald Steinhagen, Stuttgart 1997, S. 13–28. Ein weiterer bemerkenswerter früher Text von Benn mit dem Titel „Requiem“ ist der vierte Teil des Gedichts „Finish“ (1913) (SW II, 36).

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zuschwingen, der „mit der Bitte um Ruhe beginnt (‚Requiem aeternam dona eis Domine [Herr, gib ihnen die ewige Ruhe]‘) und endet (‚aeternam habeas requiem [mögest du ewige Ruhe haben]‘)“.²⁹ Requiem – oder im Nominativ requies – ist nicht nur Ruhe oder Stille, sondern eine Rückkehr zur Stille, einer Stille, die aufgehört hat, unterbrochen zu werden. Jedoch schwenkt die zweite Strophe um auf (heidnisch‐)griechische Motive des amor fati, die zwar Trost, aber keine „eschatologische Hoffnung“ zu bieten scheinen.³⁰ Und in der dritten Strophe findet sich eine weitere Beschwörung des Polytheismus, aber auch eine Betonung des das Gedicht durchdringenden Gefühls der Unbestimmtheit, insbesondere durch das wiederkehrende neutrale Pronomen ‚es‘, das nun den Göttern gleichgestellt wird. So findet man hier griechisch-lateinisch-christliche Motive, aber keine jüdischen. Dieses Ausbleiben ist an sich nicht auffällig, doch wenn es um Benns Beziehung zu Lasker-Schüler geht, so erscheint es bedeutsam und vielleicht lässt es sich im Sinne einer Reaktion oder sogar eines Widerstandes deuten. Nicht nur, dass Benns frühe Beeinflussung durch Lasker-Schüler eine seltene poetische Offenheit für Themen aus der jüdischen Theologie und Geschichte mit sich gebracht hatte, etwa in dem Gedicht „Drohungen“,³¹ sondern er schien sich auch über die Intensivierung ihrer Beschäftigung mit dem Judentum nach Pauls Tod durchaus bewusst zu sein.³² Vor allem in LaskerSchülers am 9. August 1931 erschienenen Prosatext „Das Gebet“, ihrem „letzten großen Essay“, den sie „auf deutschem Boden [schrieb]“,³³ konnte er nicht nur allgemeine Überlegungen finden, die Poesie mit Gebet und Prophetie verbinden,

29 Paul Thissen: Das Requiem im 20. Jahrhundert, Bd. I: Vertonungen der „Missa pro defunctis“, 2. Aufl., Sinzig 2011, S. 27. Zur Entstehung und Entwicklung des Requiems als Bestattungsliturgie und musikalische Gattung vgl. Thissen: Vertonungen [Anm. 29], S. 11–34. 30 Paul Thissen: Das Requiem im 20. Jahrhundert, Bd. II: Nichtliturgische Requien, Sinzig 2011, S. 30. Während Thissen von einem „Individualisierungsprozess“ spricht, durch den das ‚Requiem‘ in der Musik des 20. Jahrhunderts seine „liturgische Funktion“ und zugleich auch seine vereinheitlichenden „Gattungsmerkmale“ verloren habe (Thissen: Requien [Anm. 30], S. 17), deutet er zugleich an, dass der zunehmend verbreiteten Verwendung von ‚Requiem‘ als Titel von Musikstücken und anderen Kunstwerken in außerliturgischen Zusammenhängen eine gemeinsame, wenn nicht universelle Bedeutung zugeschrieben werden könnte: „Vielleicht ist der mit der Wahl des Werktitels ‚Requiem‘ zumindest latent präsente Text der ‚Missa pro defunctis‘ auch im 20. Jahrhundert wie kaum ein anderer Text geeignet, ein kollektives, alle Rassen und Weltanschauungen übergreifendes Gefühl von Trauer und gleichzeitig eschatologische Hoffnung auszudrücken.“ (Thissen: Requien [Anm. 30], S. 30.) 31 Siehe Anm. 16. 32 Jakob Hessing schreibt dazu: „Nach dem langen Sterben ihres Sohnes wandte sie sich jüdischer Mystik zu, verschmolz sie im Essay ‚Konzert‘ mit Empfindungen und Vorgängen, die sich schon in ihren frühesten Versen finden“. Jakob Hessing: Else Lasker-Schüler. Biographie einer deutsch-jüdischen Dichterin, Karlsruhe 1985, S. 184. 33 Sigrid Bauschinger: Else Lasker-Schüler. Biographie, Göttingen 2004, S. 329.

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sondern auch spezifische Lehren und Textauslegungen aus der Kabbala.³⁴ Besonderes Augenmerk liegt in diesem Text auf der in der „Kabbala“ überlieferten Vorstellung von „Jehovah“, der als eine „‚ruhende[] Gottheit‘“ bezeichnet und damit dem „Bangemachen“ der heidnischen Götter und dem von ‚primitiven‘ „Urvölker[n]“ „[n]och lallend kindhaft [ge]spielt[en]“ „Glaube[n]“ an tierische Götter entgegengesetzt wird – etwa dem „geheimnisvollen Götzen mit dem Vogelkopf: Osiris“.³⁵ So heißt es unmittelbar im Anschluss: Wie alt und stark unterschied sich das Volk Jehovahs, des Unsichtbaren Einigen Gottes: Volk, schon von allen anderen Völkern in ihrer jenseitlichen unsichtbaren Religion. Die Götzen sind ein Greuel dem Gotte, der sagte: „ICH BIN, DER ICH SEIN WERDE.“³⁶

Im nächsten Satz gibt Lasker-Schüler zu, dass „[i]m Rausch der Dichtung […] wohl jeder Dichter einmal zum Heiden [wird] – auch ich“.³⁷ Aber dieses Zugeständnis soll nur das Ziel ihres poetischen Programms noch deutlicher machen, nämlich über diese als primitiv, infantil und animalisch zugleich angesehene Phase hinauszugehen, um sich der Prophetie und dem hebräischen Gott und gleichzeitig dem eigenen Selbst anzunähern.³⁸ In seinem Lasker-Schüler zu diesem Essay beglückwünschenden Brief vom 11. September 1931 schreibt Benn:

34 Für eine Interpretation von „Das Gebet“ – neben den Essays „Meine Andacht“ (1928), „Konzert“ (1930) und „Die Seele und ihr Licht“ (1935) – im Kontext von Lasker-Schülers „Versuch, den Tod ihres Sohnes zu verstehen“ und „Trost in der Kabbala“ zu finden, siehe Anya Mali: Dichtung als Gebet. Mystik und Mystagogie bei Else Lasker-Schüler, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 41 (1989), H. 2, S. 146–165, hier: S. 152–153; vgl. auch Sigrid Bauschinger: Else Lasker-Schüler. Ihr Werk und ihre Zeit, Heidelberg 1980, S. 200, 204. 35 Else Lasker-Schüler: Das Gebet, in: Dies.: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe, Bd. IV: Prosa 1921– 1945. Nachgelassene Schriften, Teil 1: Text, bearb. v. Karl Jürgen Skrodzki und Itta Shedletzky, Frankfurt a. M. 2001, S. 210–216, hier: S. 213. 36 Lasker-Schüler: Das Gebet [Anm. 35], S. 213–214. 37 Lasker-Schüler: Das Gebet [Anm. 35], S. 214. 38 Was die Frage des „konkreten Einfluss[es] der jüdischen Mystik auf die Dichterin“ betrifft, hat Anya Mali sie als unbewiesene und sogar unbeweisbare Annahme „viele[r] Kritiker“ abgetan. Mali: Dichtung [Anm. 34], S. 146, Anm. 2. Zur Untermauerung dieser Behauptung stützt sich Mali auf die Meinungen von Gershom Scholem und Werner Kraft, einem deutsch-jüdischen Bibliothekar und Freund Scholems. Beide hätten, so Mali, „jede intellektuelle Verbindung der Dichterin zur mystischen Lehre“ verneint und „eine nur sehr flüchtige Kabbala-Lektüre“ angenommen (Mali: Dichtung [Anm. 34], S. 146–147). Lasker-Schüler widersetzte sich jedoch vehement Scholems akademischer Herangehensweise an die Kabbala. Von ihrer Begegnung in Jerusalem mit diesem fast dreißig Jahre jüngeren „angesehene[n] kabbalistische[n] Gelehrte[n]“, der sich „mit dem Gifte der Logik“ „bemüht[e]“, ihr „die Legenden des heiligen Israels zu enthimmeln“, erzählt sie in ihrem Buch „Das Hebräerland“ (1937), wo sie ihren ersten Aufenthalt und ansonsten eher positive Begegnungen in Palästina im Jahr 1934 schildert. Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe, Bd. V:

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Es sind grossartige ewige Gedanken, die Sie sagen, u. sonderbarerweise so ähnlich denen, die mich seit einiger Zeit bewegen. ‚Ich bin, der ich sein werde‘ – was für ein Wort! Es giebt u gab grosse u kleine Götter, solche mit zarten u. mit harten Gesichtern, dies ist von einem grossen harten wissenden Gott.³⁹

Benns Gedicht lässt sich also in aller Vorläufigkeit als eine weitere Reaktion auf diesen Essay lesen und damit – wahrscheinlich – auch datieren, nämlich wie gesagt auf den 17. Dezember 1931, als Benn Else Lasker-Schüler zum vierten Todestag ihres Sohnes Paul schreibt. Sowohl in Lasker-Schülers „Das Gebet“ als auch in Benns „Requiem (für Paul Lasker-Schüler.)“ findet man nicht nur sehr ähnliche Worte und Motive wie ‚Unendlichkeit‘, ‚Schöpfung‘ sowie die Gegenüberstellung von Schlafen und Wachen, sondern auch die gleiche Stimmung und Absicht. In den letzten Zeilen von Lasker-Schülers Essay heißt es: „Gottheit ist eine ‚ruhige Gottheit‘. Alle Leidenschaften ruhen in Seiner heiligen Siesta.“⁴⁰ Damit bringt Lasker-Schüler auch den Zweck ihres eigenen Essays zum Ausdruck: „Ich möchte dem Leser eine ruhige Stunde schenken“.⁴¹ Mit seinem Gedicht scheint Benn also umgekehrt LaskerProsa. Das Hebräerland, bearb. v. Karl Jürgen Skrodzki und Itta Shedletzky, Frankfurt a. M. 2002, S. 22; vgl. dazu Christoph Schulte: Zimzum. Gott und Weltursprung, Berlin 2014, S. 394–396, 398. Scholem seinerseits bezeichnet Lasker-Schüler in einem Brief an Benjamin vom 19. April 1934 als „[e] ine Ruine, in der Wahnsinn weniger haust als gespenstert.“ Walter Benjamin und Gershom Scholem: Briefwechsel 1933–1940, hg. v. Gershom Scholem, Frankfurt a. M. 1985, S. 136; vgl. dazu Alfred Bodenheimer: Die auferlegte Heimat. Else Lasker-Schülers Emigration in Palästina, Tübingen 1995, S. 61–99. Außerdem liefert Mali selbst diesbezüglich einige interessante Hinweise, etwa wenn sie „einige Kabbala-Bücher“ erwähnt, die aus Lasker-Schülers Jerusalemer Nachlass verschwunden seien. Mali: Dichtung [Anm. 34], S. 146, Anm. 2. Auch eine mündliche Tradierung der Kabbala an Lasker-Schüler lässt sich nicht ausschließen. Hilfreich ist die Überlegung Malis, dass zwischen der Vorstellung der „ruhenden Gottheit“ und dem Begriff ‚Zimzum‘ aus der lurianischen Kabbala eine Verbindung besteht (Mali: Dichtung [Anm. 34], S. 153, Anm. 15). ‚Zimzum‘ bedeutet wörtlich sowohl ‚Konzentration‘ als auch ‚Einschränkung‘ und im „Gebet“ wird darauf vielleicht durch die Aussage „Jedes wahre Gebet ist eine Konzentration“ angespielt. (Lasker-Schüler: Das Gebet [Anm. 34], S. 215.) Zu Lasker-Schülers expliziterer Auseinandersetzung mit dieser kabbalistischen Lehre in „Das Hebräerland“ vgl. Schulte: Zimzum [Anm. 38], S. 393–398. 39 Benn an Lasker-Schüler, 11. September 1931, [Anm. 17], S. 54–55. Der Ausdruck „Ich bin, der ich sein werde“ oder auf Hebräisch „‫( “אהיה אשר אהיה‬ehyeh ascher ehyeh) kommt einmal in der hebräischen Bibel vor, nämlich in 2.Mose 3,14 und zwar als das, was Gott beim brennenden Dornbusch zu Moses als Antwort auf die Frage nach seinem Namen sagt. Benn selbst verwendet diesen Ausdruck gegen Ende seiner Kurzgeschichte „Der Ptolemäer“ (geschrieben 1947, erstveröffentlicht 1949), wo der Ich-Erzähler, Inhaber eines Schönheitssalons im besetzten Berlin, behauptet: „ich bin, der ich sein werde, ich tue, was mir erscheint“ (SW V, 54); sowie in „Monologische Kunst“ (1952), wo Benn den Ausdruck für austauschbar mit „Amor fati“ hält und ihn fälschlicherweise dem „Psalmist[en]“ zuschreibt (SW VI, 84). 40 Lasker-Schüler: Das Gebet [Anm. 35], S. 215–216. 41 Lasker-Schüler: Das Gebet [Anm. 35], S. 215.

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Schüler Beruhigung und Trost spenden zu wollen, jedoch nicht mehr als ihr Heide, Barbar oder Tiger, sondern als anerkannter Autor, der als Vertreter einer alle „grosse[n] u kleine[n]“, ani- und totemistischen, poly-, mono- und pantheistischen „Götter“ in sich aufhebenden, dezidiert abendländischen Tradition auftritt und nun Requien und Oratorien voller „grossartige[r] ewige[r] Gedanken“ schreibt⁴² – statt blasphemische Lyrik wie im „Morgue“-Zyklus. Im zweiten Teil seines Briefes vom 17. Dezember 1931 versucht Benn als „alte[r] treue[r] Freund u. Genosse“ dann, Lasker-Schülers augenscheinliche und nur zu berechtigte Sorgen über die sich zuspitzende politische Situation zu zerstreuen: „[E] s wird bestimmt nicht so schlimm kommen, wie manche denken, seien Sie nicht unruhig.“⁴³ Die letzte vor dem Beginn des Dritten Reiches überlieferte Nachricht ist schließlich sein Glückwunschtelegramm an sie vom 11. November 1932 zur Verleihung des Kleist-Preises für ihr dichterisches Lebenswerk, der – zuvor „so oft geschaendet sowohl durch die verleiher wie durch die praemierten“ – damit endlich „wieder geadelt“ werde, was mit Blick auf den lebenslangen Aristokratie-Komplex des Kleinbürgers Benn nur als Ausdruck größter Wertschätzung verstanden werden kann.⁴⁴ Als Zwischenfazit für diese erste zentrale, ebenso private wie literarische Beziehung lässt sich festhalten, dass Benn zwar im persönlichen Umgang mit Lasker-Schüler weitgehend frei von Reserven und Vorurteilen agiert zu haben scheint, in seinem Brief vom 11. September 1931, d. h. auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, aber dennoch das jahrhundertealte antijüdische Stereotyp vom „Kaufmannsvolk“ verwendet und kapitalismuskritisch aktualisiert hat.⁴⁵ Analoge Befunde ergeben sich für die anderen in die Zeit vor oder in den Ersten Weltkrieg zurückreichenden Beziehungen Benns zu deutschen Jüdinnen und Juden: So für den von Benn hochgeschätzten Carl Einstein, mit dem er sich entweder schon während einer gemeinsamen Autorenlesung der „Aktion“ am 7. März 1914 im Berliner Austria, spätestens aber während des Ersten Weltkrieges in der Brüsseler Etappe angefreundet hat, den er danach in Berlin weiterhin trifft, der im Februar 1927 Benns „Gesammelte Gedichte“ zustimmend rezensiert, dem Benn das Gedicht „Meer- und Wandersagen“ (1925) widmet und mit dem er auch noch nach Einsteins Umzug nach Paris 1928 Kontakt hält;⁴⁶ so für den Dramatiker Carl Sternheim, dessen vermögende

42 Benn an Lasker-Schüler, 11. September 1931, [Anm. 17], S. 54–55. 43 Benn an Lasker-Schüler, 17. Dezember 1931, [Anm. 19], S. 56. 44 Zitiert nach Raabe: Huldigungen [Anm. 18], S. 75. 45 Benn an Lasker-Schüler, 11. September 1931, [Anm. 17], S. 54. 46 „Sehe und höre niemanden, ausser manchmal Einstein“, teilt Benn am 4. September 1926 seiner Freundin Gertrud Zenzes mit. Gottfried Benn und Gertrud Zenzes: Briefwechsel 1921–1956, hg. v. Holger Hof und Stephan Kraft, Stuttgart und Göttingen 2021, S. 37. Auch von Einsteins Seite ist die Freundschaft bezeugt, vgl. etwa Einstein: Briefwechsel [Anm. 3], S. 231, 297, 309, 311, 328. Zurückge-

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zweite Frau Thea und deren gemeinsame Tochter Dorothea ‚Mopsa‘ Sternheim, die Benn 1917 als Teil der deutschen Kriegskolonie in La Hulpe kennenlernt⁴⁷ und sich ab Mai 1926 zumindest mit der letzteren auf eine bis zum Suizidversuch Mopsas gehende amour fou einlässt. Am 16. April 1932 reagiert er auf eine weitere vorweggenommene Emigration, die von Thea Sternheim, mit einer zukunftsweisenden Mischung aus nationalistischer Wagenburgmentalität und sozialem „Ressentiment“ gegenüber ihren größeren sprachlichen und finanziellen Möglichkeiten, nämlich aus Sicht derjenigen, die sich das „nicht leisten können u. zurückbleiben müssen und auch aus Charakter zurückbleiben würden“.⁴⁸ Erwähnt werden muss hier auch der Neuroanatom und Psychologe Semi Meyer (1873–?), jenen in der Rönne-Novelle „Die Insel“ (1916) gefeierten „unbekannten jüdischen Arzt[ ] aus Danzig“ (SW III, 69), dessen „Probleme der Entwicklung des Geistes“ (1913) in „Das moderne Ich“ (1919) zum „vielleicht […] tiefste[n] Buch“ gekürt werden, „das aus naturwissenschaftlichen Kreisen entstanden ist“ (SW III, 99), und das Benn noch im autobiographischen Rückblick von 1950 zu den „Büchern lebender jüdischer Autoren“ zählt, „die mich aufs stärkste beeindruckt haben und meinen inneren Weg bestimmten“ (SW V, 86), auch wenn sich die Erinnerung an den genauen Titel im Laufe der Jahre eingetrübt hat.⁴⁹ Nach 1918 ändert sich dieses Bild insofern nicht, als zum einen die sozialen Verbindungen Benns zum deutschen Judentum im privaten wie im beruflichen Bereich vielfältiger und enger werden, zum anderen aber auch zum ersten Mal judenfeindliche Rede in seine Lyrik Einzug hält. Die Liebesverhältnisse zu Else Lasker-Schüler und zur – in der Nazi-Terminologie – ‚Halbjüdin‘ Mopsa Sternheim bleiben nicht die einzigen kehrt von einem Deutschland-Besuch schreibt Einstein am 11. März 1931 an den gemeinsamen Bekannten Ewald Wasmuth (1890–1963), dass Berlin mit Ausnahme Benns „trostlos eingeschlafen“ sei (Einstein: Briefwechsel [Anm. 3], S. 521). Zu Benn und Einstein vgl. u. a. Rhys W. Williams: Primitivism in the Works of Carl Einstein, Carl Sternheim and Gottfried Benn, in: Journal of European Studies 13 (1983), S. 247–267; Moritz Baßler: „Ewigkeit der Accent“. Benns und Einsteins Widmungsgedichte ‚Meer- und Wandersagen, und ‚Die Uhr‘, in: Gottfried Benn – Wechselspiele zwischen Biographie und Werk, hg. v. Matías Martínez, Göttingen 2007, S. 71–84; und Klaus H. Kiefer: Primitivismus und Avantgarde – Carl Einstein und Gottfried Benn, in: Colloquium Helveticum 44 (2015), S. 131–168. 47 Zur Situation im besetzten Belgien vgl. Hubert Roland: Die deutsche literarische ‚Kriegskolonie‘ in Belgien 1914–1918. Ein Beitrag zur Geschichte der deutsch-belgischen Literaturbeziehungen 1900–1920, Bern u. a. 1999. 48 Gottfried Benn und Thea Sternheim: Briefwechsel und Aufzeichnungen. Mit Briefen und Tagebuchauszügen Mopsa Sternheims, hg. v. Thomas Ehrsam, Göttingen 2004, S. 82. Auch Mopsa berichtet ihrer Mutter am 30. Dezember 1932 von einem Berlin-Besuch, dass sich Benn „benommen“ habe, „als ob ich der letzte Auswurf von Landesverräter wäre, beleidigt und so lächerlich würdevoll“. (Benn, Sternheim: Briefwechsel [45], S. 90). 49 Zu Benn und Semi Meyer vgl. Marcus Hahn: Gottfried Benn und das Wissen der Moderne, Bd. 1: 1905–1920, Göttingen 2011, S. 186–187.

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der im vorliegenden Kontext relevanten Affären. Belegen bzw. begründet vermuten lassen sich Beziehungen zu der Journalistin Antonina Vallentin (1893–1957), bei der sich Benn am 26. Juni 1919 nach dem Schicksal ihres Vaters und ihrer Familie im Nachgang des Lemberger Pogroms vom 22. bis 24. November 1918 erkundigt;⁵⁰ zu der Fotografin Frieda Gertrud Riess (1890–1955?) aus dem Umfeld der Zeitschrift „Querschnitt“; sowie zu der Archivarin und Bibliothekarin Gertrud Cassel (spätere Zenzes), mit der er zwischen Ende 1921 und Herbst 1922 liiert ist und über deren „alte“ jüdische „Race“ er im Januar 1922 orientalisierend spekuliert.⁵¹ Während er mit Cassel zusammen ist, verfasst Benn für „Die Aktion“ das die ersten Nachkriegs- und Inflationsjahre behandelnde drastische Zeitgedicht „Prolog“, mit der die Zeitschrift am 4. März 1922 polemisch sowohl auf die bildungsbürgerlichen Feiern zum neunzigsten Todestag Johann Wolfgang Goethes als auch auf das vom Berliner Kabarett „Wilde Bühne“ ausgelobte Preisausschreiben für das beste deutsche Chanson reagiert, über das eine – ausweislich der Eigennamen – sichtbar jüdisch besetzte Jury entscheiden sollte (vgl. SW II, 241–242). Auf einem der Höhepunkte der rechten Hetze gegen die gerade gegründete ‚Judenrepublik‘ nimmt auch Benns Gedicht „Schieber“, „Luden“, vor allem aber„die Prunkparade / Der Villenwälder, wo die Chuzpe seucht“, aufs Korn, d. h. metaphorisch einer Krankheit gleichgestellte jüdische „Börsenbullen“ aus dem privilegierten „süßen Westen“ Berlins, die sich „den Blasenausgang heiß“ „schäker[n]“ lassen: „An Spree und Jordan großer Samenfang!“ (SW II, 61–62)⁵² Zweieinhalb Monate später, am 24. Mai 1922, schreibt er Cassel in ein Exemplar seiner im Reiss-Verlag erschienenen „Gesammelten Schriften“ das Widmungsgedicht „Man denkt, man dichtet“, in dessen ersten beiden Strophen das lyrische Ich psychiatrisiert, während es in den beiden letzten durch eine Häufung von Lehnwörtern aus dem Jiddischen judaisiert wird – ob er damit seine aus einer stark assimilierten schlesischen Familie stammende Geliebte verletzen oder ihr gegenüber den antijüdischen „Prolog“ als wahnhafte Rede entschuldigen wollte, lässt sich nicht sicher entscheiden.⁵³ Auf dem Feld des zuzeiten ungeliebten medizinischen Brotberufes bestehen freundschaftliche Verhältnisse zu dem Benn wohl schon aus seiner Zeit an der Charité

50 Vgl. Benn: „Absinth“ [Anm. 17], S. 26. 51 Benn und Zenzes: Briefwechsel [Anm. 46], S. 17. 52 Den „deutlich judenfeindlichen Zug“ dieses Gedichtes zum ersten Mal nachgewiesen hat Samuel Müller: Müller und Cohn auf dem Tauentzien. Gottfried Benn, Gertrud Cassel-Zenzes und die (anti)jüdischen Referenzen in „Prolog“ und „Man denkt, man dichtet“, in: Benn Forum 7 (2020/2021), S. 185–205, hier: S. 197. 53 Zu den ersten beiden Strophen von „Man denkt, man dichtet“ vgl. Hahn: Gottfried Benn [Anm. 49], Bd. 2: 1920–1932, S. 350–365; zu den letzten beiden vgl. Gershom Schocken: Zu einem kleinen Gedicht von Gottfried Benn, in: Neue Deutsche Hefte 19 (1972), H. 1, S. 62–63, sowie Müller: Müller und Cohn [Anm. 52], S. 187–195.

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vor dem Ersten Weltkrieg bekannten Internisten Paul Fleischmann (1879–1957), der ihn mehrfach wegen Depressionen behandelt, ebenso wie zu seiner Frau, der Krankenschwester Elsa Fleischmann (1888–1976), für deren Zeitschrift „Die Schwester“ er eine seiner letzten wissenschaftlichen Publikationen verfasst, „Die Ansteckung mit Syphilis in der Krankenpflege“ (1921); zu Luise ‚Lulu‘ Goldhaber (1894–1990), jener in „Doppelleben“ – wenn auch nicht namentlich – erwähnten „jüdische[n] Ärztin“, der Benn „körperlich und seelisch die meiste Hilfe verdank[t]“ (SW V, 86); aber auch zu einigen der jüdischen Kollegen in Benns Wohn- und Praxishaus in der Belle-AllianceStraße 12 in Berlin-Kreuzberg, insbesondere zu dem Ehepaar Hildegard (1897–1971) und Gerhard Meyerstein (1897–1975), die seit 1929 in der Nachbarwohnung als Kinderärzte praktizieren. Das bei S. Fischer erschienene aktuelle Heft der „Neuen Rundschau“ mit seinem primitivistischen Essay „Zur Problematik des Dichterischen“ widmet Benn am 21. April 1930 „[d]em reizenden Kollegen, dem anregenden Nachbar, mit dem zu unterhalten mir immer ein grosser Genuss ist“;⁵⁴ und auf einem sehr bekannt gewordenen Foto von Benn aus dieser Zeit, auf dem er im weißen Kittel in seiner Praxis als Arzt posiert, ist auch Meyerstein abgebildet – mit dem Hinterkopf (s. Abb. 2 und 3).⁵⁵ Auch im Kunst- und Kulturbetrieb des ausgehenden Kaiserreiches und der Weimarer Republik unterhält Benn eine Fülle von teils professionellen, teils freundschaftlichen Kontakten zu deutschen Juden. Sein Netzwerk schließt Akteure wie Albert Ehrenstein ein, der als Kurzzeitlektor im Kurt Wolff-Verlag die Rönne-Novellen „Gehirne“ (1916) zum Druck befördert, sowie den Verlegerfreund Erich Reiss (1887–1951), in dessen Zeitschrift „Der Anbruch“ u. a. das Prosastück „Das letzte Ich“ (1921) und in „Die Zukunft“ der autobiographische „Epilog“ (1921) veröffentlicht werden, bevor die für 1922 geplante, aber inflations- und urheberrechtsbedingt bis Januar 1923 verschobene Ausgabe von Benns „Gesammelten Schriften“ folgt. Die Verhandlungen über „Gesammelte Gedichte“ zerschlagen sich zwar 1927, doch das hindert Benn nicht daran, vier Jahre später mit Reiss in einen Thüringen-Urlaub aufzubrechen, aus dem er seiner Freundin Tilly Wedekind (1886–1950) am 4. September 1931 über dessen – ganz dem antisemitischen Stereotyp vom ‚entwurzelten‘ Juden entsprechende – „jüdische Ablehnung von allem, was […] mit Land,Volk, Allgemeinheit zusammenhängt“, berichtet: Reiss meine, „alles“ sei „goyig.“⁵⁶ Durch die Bekanntschaft mit dem Lyriker und S.

54 Helmut Heintel: Gottfried Benn in der Belle-Alliance-Straße 12. Eine Ortsbeschreibung, Warmbronn 2001, S. 15. 55 „Gottfried Benn mit einem Anderen“, DLA, Nachlass Gottfried Benn, B 1989.0376. Photographie von Atlantic Photo, Berlin und DLA, Marbach; vgl. Heintel: Gottfried Benn [Anm. 54], S. 14–15. 56 Gottfried Benn: Briefe an Tilly Wedekind. 1930–1955, hg. v. Marguerite Valerie Schlüter, Stuttgart 1986, S. 19. Das Wort ‚Goi‘, das wörtlich im biblischen Hebräisch ‚Volk‘ bedeutet und in der he-

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Fischer-Lektor Oskar Loerke kommt Benn ab September 1928 zudem mit dem wichtigsten deutsch-jüdischen Verlag in Berührung – Loerke stellt nicht nur eine erste Verbindung zur Sektion für Dichtkunst an der Preußischen Akademie der Künste dar, als deren Sekretär er seit 1926 tätig ist, sondern auch zu der mit dem S. Fischer Verlag eng verbundenen Zeitschrift „Die neue Rundschau“ und zu deren verantwortlichem Redakteur Rudolf Kayser (1889–1964). Die für Benns Poetologie und Kulturkritik entscheidenden Essays „Urgesicht“, „Zur Problematik des Dichterischen“, „Aufbau der Persönlichkeit“, „Irrationalismus und moderne Medizin“ sowie „Goethe und die Naturwissenschaften“ werden zwischen 1929 und 1932 unter Kaysers Ägide allesamt zuerst in der „Neuen Rundschau“ veröffentlicht. Benn revanchiert sich, indem er Kayser an die Avantgarde-Zeitschrift „Bifur“ in Paris empfiehlt und gemeinsam mit dem deutsch-jüdischen Reiseschriftsteller Leo Matthias (1893–1970) einen Protestbrief an den S. Fischer-Verlag gegen Kaysers Entlassung organisiert. Wie zwei ebenfalls von uns jüngst in der Nationalbibliothek von Jerusalem aufgefundene Briefe vom 27. Dezember 1932 und vom 12. Januar 1933 belegen (s. Abb. 4 bzw. 5), entfaltet Benn ein beträchtliches Engagement für Kayser, damit dieser „in kürzester Frist wieder da sitzen“ möge, wo er „alleine hingehöre“, im Chefredakteurssessel der „Neuen Rundschau“ nämlich, dessen Neubesetzung mit Peter Suhrkamp der Verleger Gottfried Bermann Fischer am 19. Dezember 1932 per Rundschreiben publik gemacht hatte.⁵⁷ Benn schickt Kayser einen Durchschlag der Solidaritätsadresse, die von insgesamt sechzehn Schriftstellern unterschrieben werden soll (s. Abb. 6), und berichtet ihm, dass er „in den Festtagen“ Heinrich Mann leider nicht habe „erreichen können“ und er „[v]on Klaus M.[ann] […] eine Antwort in dem Sinn“ bekommen habe, „dass man das Kommende nur als Experiment anseh[e]n könne, allerdings als eines, an dem man den Verlag nicht u. von keiner Seite aus hindern könne.“⁵⁸ Was der von Klaus Mann gegenüber Benn gebrauchte Ausdruck ‚Experiment‘ genau bezeichnen sollte, bleibt auch aus der historischen Rückschau schwierig aufzulösen: Bermann Fischer hat nach 1945 die Kündigung des Juden Kaysers damit begründet, dass er sich von dem im Ersten Weltkrieg hochdekorierten Nicht-Juden Suhrkamp eine öffentlichkeitswirksame Umwandlung

bräischen Bibel oft verwendet wird, um sowohl die Israeliten als auch andere Völker zu bezeichnen, wurde später zur Bezeichnung einer nichtjüdischen Person auf Hebräisch und Jiddisch. 57 Gottfried Benn an Rudolf Kayser, 27. Dezember 1932, Israelische Nationalbibliothek, Rudolf Kayser Archiv, ARC. 4° 1820/3/4. Benn dürfte durch Loerke schon Anfang Dezember von Kaysers Kündigung erfahren haben; vgl. Oskar Loerke: Tagebücher, hg. v. Hermann Kasack, Frankfurt a. M. 1986, S. 273. 58 Benn an Kayser, 27. Dezember 1932, [Anm. 57]. Klaus Mann notiert in seinem Tagebuch: „Brief von Benn (Kayser soll weg von der Rundschau: statt seiner Suhrkamp! Skandal.)“ Klaus Mann: Tagebücher 1931 bis 1933, hg. v. Joachim Heimannsberg, Peter Laemmle und Wilfried F. Schoeller, München 1989, S. 100.

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der „Neuen Rundschau“ in ein liberales „Kampforgan“ gegen die extreme Rechte erhofft habe – aber zugleich auch zugegeben, dass dieser Rauswurf nicht nur „einige Aufregung“ hervorgerufen habe, sondern auch als vorausschauende „Konzession an das Nazi–Regime“ missverstanden worden sei, das zu diesem Zeitpunkt freilich noch gar nicht an der Macht war.⁵⁹ Zu Benns Netzwerk gehören weiter der Kunsthändler, Galerist und Verleger Alfred Flechtheim (1878–1937), in dessen Zeitschrift „Querschnitt“ er ab 1923 zahlreiche Gedichte, Prosatexte und Essays publiziert, u. a. den Aufsatz über die „Medizinische Krise“ (1926) und eine scharfe Polemik gegen den Abtreibungsparagraphen § 218 „Dein Körper gehört Dir“ (1928) – im selben Jahr widmet Benn ihm auch das Gedicht „Die hyperämischen Reiche“ –; der zionistische Verleger und Buchhändler Ferdinand Ostertag (1893–1963), bei dem Benn 1927 eine Lesung absolviert; der Schriftsteller und Kritiker Ludwig Marcuse (1894–1971), der ihn Anfang März 1931 im linksliberalen „Tagebuch“ gegen die Vorwürfe Kischs und Bechers als „Reaktionär in Anführungsstrichen“ in Schutz nimmt; und der millionenschwere Kunst- und Antiquitätenhändler Franz Zatzenstein (1897–1963), der zunächst als Patient zu ihm kommt und seinem Arzt dann anbietet, ihn auf seinen ausgedehnten Geschäftsreisen mit dem Auto nach Frankreich und Spanien zu begleiten: So kommt Benn im November 1927 in den Genuss eines Paris-Urlaubs, im Sommer 1928 einer Paris-Pyrenäen-SüdfrankreichRundfahrt und im Spätsommer 1929 einer weiteren Reise nach Paris und an die Atlantikküste.⁶⁰ Die in diesen Namenslisten dokumentierte enge Verflechtung Benns mit dem deutschen Judentum hat bei ihm wahrscheinlich nicht nur positive Gefühle hervorgerufen, denn sowohl bei den Frankreich-Reisen mit Zatzenstein wie bei den Ferien in Thüringen mit dem Verlegerfreund hängen seine Urlaube jedes Mal davon ab, dass ihn ein reicher Jude im Auto mitnimmt. Bevor Reiss einspringt und den Thüringen-Urlaub ermöglicht, diskutiert der gerade eine depressive Episode durchleidende Benn mit seinem Arzt Fleischmann über einen Sanatoriumsaufenthalt in Schloss Fürstenberg in Mecklenburg.⁶¹ Fleischmann hatte das Schloss zur Behandlung von Patienten mit internistischen und Nervenleiden 1923–1925 gepachtet und Benn dringend dorthin empfohlen. Benn lehnt am 16. August 1931

59 Gottfried Bermann Fischer: Bedroht – Bewahrt. Weg eines Verlegers, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1981 [zuerst 1967], S. 81–82. Auch Peter de Mendelssohn berichtet von der „beträchtliche[n] Bestürzung in literarischen Kreisen und im Verlag selbst“ über Kaysers Ablösung, weil dadurch der „Eindruck“ entstanden sei, „als weiche der Verlag dem reaktionären, antisemitischen Druck“. Peter de Mendelssohn: S. Fischer und sein Verlag, Frankfurt a. M. 1970, S. 1245. „Rudolf Kayser empfand seine Entlassung als einen schweren Schicksalsschlag“ (de Mendelssohn: S. Fischer [Anm. 59], S. 1248). 60 Die Angaben zu Zatzenstein folgen Joachim Dyck: Der Zeitzeuge. Gottfried Benn 1929–1949, Göttingen 2006, S. 25–26; vgl. auch Benns nostalgischen Rückblick in „Doppelleben“ (SW V, 173–174). 61 Vgl. Dyck: Der Zeitzeuge [Anm. 60], S. 51.

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dankend ab und verhindert in einem weiteren Brief vom 23. August 1931 auch die offenbar erwogene Teilnahme Elsa Fleischmanns an der mit Reiss gemeinsam geplanten Reise.⁶² Ferien sind im Sommer 1931 für Benn ein heißes Eisen. Am 18. August 1931 berichtet er Thea Sternheim von einer drohenden Steuerpfändung und möchte deshalb „de[n] Staat […] zertrümmert“ sehen: Die freien Berufe, die kein festes Einkommen, keine Pension, keine Ferien und keine Bürostunden nach der Uhr kennen, die müssen wieder ran, den verkrachten u. verlumpten Staat zu finanzieren.⁶³

Deshalb dürfte es weder ein Zufall sein, dass Benn in einem Brief vom 30. August 1931 an seine zweite Freundin Elinor Büller während des gemeinsamen Aufenthalts mit Reiss in Schwarzburg sein anderer jüdischer Gönner „Zatzenstein“ einfällt,⁶⁴ noch dass er in seiner eingestandenermaßen ressentimentgetriebenen Reaktion auf Thea Sternheims Vorab-Emigration nach Paris im Jahr 1932 so aufmerksam für die ökonomischen Unterschiede zwischen ihr und ihm ist. Einige Jahre zuvor hatte er aus Dankbarkeit den zuerst 1927 in der „Literarischen Welt“ publizierten Essay „Neben dem Schriftstellerberuf“ anlässlich des Wiederabdrucks in seiner von Kiepenheuer verlegten „Gesammelten Prosa“ „Franz M. Zatzenstein“ (SW III, 170) gewidmet, damit aber wohl zugleich auch eine Aufforderung an die Weimarer Republik ausgesprochen, ihn zu alimentieren. Für diese Interpretation spricht sowohl die Umtitulierung des Textes, der nun eine sehr grundsätzliche Beschäftigung mit dem Verhältnis von „Kunst und Staat“ ankündigt, als auch sein Inhalt, mit dem wir uns hier nicht näher auseinandersetzen können, den wir aber dahingehend pointieren wollen, dass Benn in ihm in einer für soziale Aufsteiger nicht untypischen, extrem aggressiven Weise um Integration in das kulturelle Establishment der Weimarer Republik nachsucht. Diese Gratifikation erhält er im Januar 1932 dann schließlich in Gestalt der folgenschweren Zuwahl in die Preußische Akademie der Künste, die ihn wiederum in engeren persönlichen und vor allem institutionellen Kontakt mit deutsch-jüdischen Kollegen wie Alfred Döblin, Ludwig Fulda, Alfred Mombert, Jakob Wassermann und Franz Werfel bringt. Resümiert man die Situation am Vorabend des Dritten Reiches, so lässt sich festhalten, dass Benns seit Mitte der 1920er Jahre entstandenen Texte trotz einer unzweifelhaft vorhandenen Familienähnlichkeit mit rechtsextremer Kulturkritik insgesamt nicht als faschistisch klassifiziert werden können. Allerdings stellt diese

62 Vgl. Benn: „Absinth“ [Anm. 17], S. 53–54, 405. 63 Benn und Sternheim: Briefwechsel [Anm. 48], S. 76. 64 Gottfried Benn: Briefe an Elinor Büller 1930–1937, hg. v. Marguerite Valerie Schlüter, Stuttgart 1992, S. 7.

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Familienähnlichkeit – Antiliberalismus, Antikapitalismus, die ambivalente Wissenschafts- und Staatskritik, Ästhetizismus – auch eine diskursive Ressource dar, auf die er später zurückgreifen und mit neuen Elementen kombinieren konnte. Nicht ganz leicht ist hingegen die Frage zu beantworten, ob und inwieweit auch Antijudaismus bzw. Antisemitismus zu dieser diskursiven Ressource gehören. In einer systematischen, d. h. ideologiefähigen Form lassen sich derartige Auffassungen bei Benn bis 1933 nicht nachweisen. Was sich jedoch findet, ist die Verwendung antijüdischer Stereotypen – so wenn er im Gedicht „Prolog“ Schieber und Kriegsgewinnler als reiche Juden aus dem Grunewald präsentiert, in Briefen gegenüber Lasker-Schüler die Leser der „Frankfurter Zeitung“ als „Kaufmannsvolk“⁶⁵ abqualifiziert oder seinem Verleger Reiss eine „jüdische Ablehnung“ von „Land“ und „Volk“⁶⁶ attestiert. Benn stehen diese Stereotypen nicht nur zur Verfügung, sondern die drei dokumentierten Fälle stammen bezeichnenderweise auch aus ausgesprochenen Krisenjahren: 1922 ist Deutschland von bürgerkriegsähnlichen Zuständen und der beginnenden Hyperinflation geprägt; 1931 von den wirtschaftlichen und politischen Folgen der Weltwirtschaftskrise. Benn ist gerade in diesem Jahr durch den literarischen Skandal um die „Rede auf Heinrich Mann“, eine depressive Episode und fehlenden Urlaub besonders angeschlagen, zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht in die Akademie aufgenommen, d. h. noch nicht offiziell in den Kulturbetrieb der Weimarer Republik integriert worden. Es ist schwer zu entscheiden, ob schon hier antisemitische Propaganda in Benns Reden und Schreiben einzusickern beginnt oder ob die Verwendung antijüdischer Stereotype gemessen am – nach unseren heutigen Kriterien – allgemein rassistischen Epochenstandard als vergleichsweise geringfügig einzuschätzen ist. Der Hinweis darauf, dass sich Benn im zweiten Fall an eine jüdische Freundin wendet und er im dritten Fall trotz seiner pejorativen Aussage mit dem jüdischen Verleger befreundet bleibt, hilft an dieser Stelle ebenfalls nicht weiter – Freundschaften mit einzelnen Juden haben etliche Antisemiten gepflegt.⁶⁷ Daher ist die Feststellung so wichtig, dass bei Benn, von den insgesamt drei oben dokumentierten Fällen abgesehen, bis zum Beginn der HitlerDiktatur kein Muster einer generellen Judaisierung von Personen, Dingen oder Zeichen zu erkennen ist. Das ist gerade bei den vielen literaturpolitischen Polemiken auffällig, in die er seit 1929 verwickelt wird oder in die er sich gestürzt hat: Weder Kisch noch Döblin werden judaisiert und auch nicht Rudolf Arnheim, der am 10. Januar 1933 in der „Weltbühne“ eine weitere Kritik an Benns primitivistischer „Flucht zu den

65 Benn an Lasker-Schüler, 11. September 1931, [Anm. 17], S. 54. 66 Benn: Briefe an Tilly Wedekind [Anm. 56], S. 19. 67 Einprägsam ist der Fall des jüdischen Arztes Eduard Bloch, der in Linz vor dem Ersten Weltkrieg Hitlers krebskranke Mutter behandelt hatte und nach der Besetzung Österreich 1938 bis zu seiner Emigration in die USA unter dem besonderen ‚Schutz‘ der Gestapo stand; vgl. Brigitte Hamann: Hitlers Edeljude. Das Leben des Armenarztes Eduard Bloch, München 2008.

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Schachtelhalmen“ publiziert. Noch gibt es keine antisemitische Regierung in Deutschland und noch trennt auch Benn nicht durchgängig zwischen Juden und NichtJuden. Vielmehr orientiert er sich weiterhin an politischen, ästhetischen, ökonomischen und geographischen Gegensätzen oder am Unterschied zwischen Nutzfreund und Intimfeind. Zwei Tage nach dem Erscheinen von Arnheims Artikel schreibt er an Kayser, den Schwiegersohn Albert Einsteins, dass „Döblin“ wohl „[e]ine grosse Rolle“ bei dessen Ablösung als verantwortlicher Redakteur bei der „Neuen Rundschau“ gespielt habe, weil dieser im Namen des „russischen“ den „‚verfluchten‘ französischen Einfluss bekämpf[en]“ wolle.⁶⁸ Noch ist die deutsch-jüdische Welt beisammen, noch scheinen die Künstler vereint gegen den Staat zu stehen und zwar – so hatte es in „Kunst und Staat“ 1927 geheißen – alle Künstler gegen alle Staaten: „Hölderlin, Heine, Nietzsche, Kleist, Rilke oder die Lasker-Schüler – der Staat hat nie etwas für die Kunst getan. Kein Staat.“ (SW III, 173)

3 Die Ursachen und den Verlauf von Benns nationalsozialistischem Engagement können wir in diesem Rahmen weder skizzenhaft noch gar erschöpfend behandeln. Wir möchten im letzten Teil unserer Darstellung stattdessen einige Bemerkungen zur Desintegration von Benns deutsch-jüdischen Netzwerken nach 1933 präsentieren. Die erste Berührung Benns mit der ‚Judenfrage‘ im Dritten Reich findet auf der Bühne der Preußischen Akademie der Künste nach den bereits im Februar erfolgten und von Benn mitgetragenen Ausschlüssen von Heinrich Mann, Käthe Kollwitz und anderen statt: Nach der letzten halbwegs freien Reichstagswahl vom 5. März 1933, bei der die NSDAP trotz des sich nun ungebremst entfaltenden SA-Terrors und des Amtsbonus’ Hitlers nur 44 % der Stimmen erreicht, aber dank der 8 % der koalitionswilligen Deutschnationalen nun über eine parlamentarische Mehrheit verfügt, stellt Benn auf der Sitzung der Sektion für Dichtkunst am 13. März 1933 „aufgrund von Unterredungen mit dem Präsidenten“ Max von Schillings eine von ihm entworfene Umfrage zur Abstimmung, in der die „Anerkennung der veränderten geschichtlichen Lage“ und der Ausschluss einer „öffentliche[n] politische[n] Betä-

68 Gottfried Benn an Rudolf Kayser, 12. Januar 1933, Israelische Nationalbibliothek, Rudolf Kayser Archiv, ARC. 4° 1820/3/4. Dieser Brief müsste in der ausgezeichneten Darstellung von Erich Kleinschmidt ergänzt werden, insbesondere für die Situation Ende 1932, als nach dem zwischenzeitlichen Tauwetter rund um Benns Zuwahl in die Akademie die persönlichen und ideologischen Gegensätze zwischen den beiden Autoren erneut aufbrechen; vgl. Erich Kleinschmidt: Alfred Döblin und Gottfried Benn. Mit der Edition einer Rede Döblins auf Benn von 1932, in: DVjs 62 (1988), S. 131–147, hier: S. 138.

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tigung gegen die Regierung“ ultimativ verlangt wird.⁶⁹ Die anwesenden Berliner Mitglieder bejahen die Gleichschaltung der Akademie auf einer weiteren Sitzung am 15. März 1933 ohne lange Diskussion; die auswärtigen Mitglieder werden im Nachgang schriftlich befragt: von den insgesamt 27 Mitgliedern stimmen 18 dem Benn’schen Ultimatum zu. Außerdem wird vereinbart, die Zuwahl neuer Mitglieder in Absprache mit der neuen Regierung vorzunehmen. Der Gleichschaltung verweigern sich u. a. Rudolf Pannwitz, Thomas Mann, Alfons Paquet und Ricarda Huch und erklären ihren Austritt aus der Akademie; etwas anders gehen zwei jüdische Mitglieder vor: Döblin, der sich einen Tag nach dem Reichstagsbrand ins Schweizer Exil gerettet hat, fragt am 17. März 1933 bei von Schillings nach, ob er als ein Mensch „von jüdischer Abstammung“ überhaupt in der Akademie verbleiben könne und bittet den Präsidenten „ergebenst, die Auffassung des Herrn Kurators ermitteln zu wollen“, da dies ja „auch die Kollegen Fulda, Wassermann, Werfel, Kaiser, Mombert“ betreffe.⁷⁰ Darüber hinaus stellt Döblin den Antrag, dass die Sektion für Dichtkunst dem NS-Staat ihre „Gesamtdemission“ anbieten möge.⁷¹ Einen Tag später, am 18. März 1933, schickt er noch einen Brief nach Berlin und stellt darin seinen „Sitz in der Akademie zur Verfügung“, da er „als Mann jüdischer Abstammung unter den heutigen Verhältnissen eine zu schwere Belastung für die Akademie wäre.“⁷² Der Präsident nimmt Döblins Austritt zur Kenntnis und teilt ihm mit, dass eine Diskussion seines Antrages auf Gesamtdemission „in Anbetracht der Lage nicht möglich gewesen“⁷³ sei. Konfrontiert mit dem Benn’schen Ultimatum fragt auch Jakob Wassermann am 18. März 1933 von einem Wiener Sanatorium aus bei der Akademie an, inwieweit ihn „die […] vorgesetzte Behörde als Juden überhaupt annehmen“ werde,⁷⁴ d. h. das preußische Kultusministerium. Einen Monat später, am 18. April 1933, erhält er den offiziellen Bescheid über seinen Ausschluss aus der Akademie. Festhalten lässt sich also, dass es angesichts der engen Kooperation zwischen Benn und dem Akademiepräsidenten von Schillings in diesem Zeitraum als sicher gelten muss, dass Benn vom Ausschluss der jüdischen Mitglieder Kenntnis hatte und diesen mitorganisiert hat.⁷⁵ 69 Zitiert nach Inge Jens: Dichter zwischen rechts und links. Die Geschichte der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste dargestellt nach Dokumenten, München 1979, S. 240–241. 70 Zitiert nach Jens: Dichter [Anm. 69], S. 248. 71 Zitiert nach Jens: Dichter [Anm. 69], S. 250. 72 Zitiert nach Jens: Dichter [Anm. 69], S. 250. 73 Zitiert nach Jens: Dichter [Anm. 69], S. 250. 74 Zitiert nach Jens: Dichter [Anm. 69], S. 247. 75 So auch Klaus Theweleit: Buch der Könige, Bd. IIx: Orpheus am Machtpol. Zweiter Versuch im Schreiben ungebetener Biographien, Kriminalroman, Fallbericht und Aufmerksamkeit, Basel 1994, S. 495.

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Am 1. April 1933 folgt die nächste Berührung Benns mit der‚Judenfrage‘: Es ist ein Samstag, und ab 10 Uhr stehen überall in Deutschland uniformierte und manchmal bewaffnete SA- und HJ-Posten vor jüdischen Geschäften, Banken, Rechtsanwaltskanzleien und Arztpraxen. Sie beschmieren die Schaufenster und Namensschilder mit dem Davidstern, halten Schilder mit antisemitischen Losungen hoch (‚Deutsche! Wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden!‘, ‚Meidet jüdische Ärzte!‘), hindern Kunden und Patienten am Betreten, schlagen teilweise die Fenster ein und plündern die Geschäfte. Solche Posten stehen auch vor der Belle-Alliance-Straße 12 in Berlin-Kreuzberg, wo Benn, wie bereits erwähnt, gemeinsam mit deutschen und jüdischen Kolleginnen und Kollegen lebt und praktiziert. Loerke, der am Abend „lange mit Benn im Franziskaner am Bahnhof Friedrichstraße“ sitzt und mit ihm „Gespräche über die geschichtliche Lage“ führt, notiert: „Benn stand unter dem Eindruck des Boykotts in seinem Hause, wo es fünf Kollegen getroffen hatte, von denen er zwei hoch schätzt.“⁷⁶ Der staatlich organisierte ‚Judenboykott‘ sollte die vielen wilden Übergriffe von SA-Trupps auf jüdische Geschäfte zentralisieren und kanalisieren, die in der Endphase der Weimarer Republik, vor allem aber seit dem Regierungsantritt Hitlers stark zugenommen und im März 1933 auch schon zu den ersten Todesopfern geführt hatten. Begründet wurde er gegenüber dem Ausland mit dem angeblichen jüdischen Kampf gegen Deutschland, d. h. mit den Aufrufen zum Boykott deutscher Waren seitens einzelner jüdischer Organisationen wie den Jewish War Veterans in den USA und in Großbritannien.⁷⁷ Für die deutsch-jüdischen Mediziner ist das nur der Auftakt der Ausgrenzung und Verfolgung: Infolge des ‚Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums‘ vom 7. April 1933 verlieren alle jüdischen Ärzte in öffentlichen Krankenhäusern, Universitäten und Gesundheitsämtern ihren Arbeitsplatz; am 22. April 1933 wird durch eine Verordnung des Reichsarbeitsministeriums den niedergelassenen jüdischen und kommunistischen Ärzte mit Ausnahme von Kriegsteilnehmern die Kassenzulassung entzogen; am 25. April 1933 wird das insbesondere auf jüdische Medizinstudierende zielende ‚Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen‘ verabschiedet, wonach der Anteil ‚nicht-arischer‘ Studierender nicht über deren Anteil an der deutschen Bevölkerung liegen darf; am 1. September 1933 wird auch die Zulassung für die Privatkassen beendet. Am Schluss einer Serie von vielen weiteren diskriminierenden Rechtsvorschriften steht der zum 30. September 1938 wirksam werdende generelle Entzug der Approbation der in Deutschland verbliebenen jüdischen Ärzte durch die vierte Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. Juli 1938; eine befristete Wiederzulassung ist danach allenfalls noch als ‚Behandler‘ aus-

76 Loerke: Tagebücher [Anm. 57], S. 287. 77 Zu den historischen Hintergründen vgl. Hannah Ahlheim: Deutsche, kauft nicht bei Juden! Antisemitismus und politischer Boykott in Deutschland 1924–1935, Göttingen 2011.

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schließlich jüdischer Patienten möglich, mit denen sie gemeinsam ab Herbst 1941 in die osteuropäischen Ghettos und Vernichtungslager deportiert werden.⁷⁸ Die Folgen dieser Politik lassen nicht lange auf sich warten: Bereits 1933 emigriert fast ein Drittel der jüdischen Ärzte – meist „Assistenzärzte der öffentlichen Krankenhäuser und die jüngeren Kassenärzte“⁷⁹ –; 1938 gibt es eine zweite große Abwanderungswelle. Der erste von Benns jüdischen Kollegen, der die Belle-Alliance-Straße 12 verlässt, ist der Psychiater Lothar Kalinowsky (1899–1992).⁸⁰ Von der Berliner Charité gekündigt und an der geplanten Habilitation gehindert, tritt er im Mai 1933 eine Stelle an der Universitätsklinik Rom an und beteiligt sich dort bis Sommer 1939 an der Entwicklung der Elektrokrampftherapie, deren internationale Durchsetzung als neue Behandlungsoption er auf seinen weiteren Exilstationen in London und ab 1940 in New York entscheidend vorantreibt.⁸¹ Der zweite Arzt ist der Urologe Otto Albert Schwarz (1894– 1977), der sich bis 1938 in der Belle-Alliance-Straße 12 nachweisen lässt⁸² und dem noch rechtzeitig vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges die Flucht gelingt – er erhält 1942 die Zulassung in den USA.⁸³ Außer seiner jüdischen Herkunft ist über den dritten Kollegen Walter Carsten,⁸⁴ „Facharzt f[ür] Magenleid[en]“,⁸⁵ lediglich bekannt, dass er ab 1937 nicht mehr im Berliner Adressbuch gelistet wird. Rechnet man zu diesen drei Ärzten noch das oben schon kurz erwähnte, zunächst mit Benn befreundete Pädiater-Paar Hildegard und Gerhard Meyerstein hinzu, kommt man tatsächlich auf die gegenüber

78 Vgl. Susanne Doetz und Christoph Kopke: Die antisemitischen Kampagnen und Verfolgungsmaßnahmen gegen die jüdische Ärzteschaft seit 1933, in: Jüdische Ärztinnen und Ärzte im Nationalsozialismus. Entrechtung, Vertreibung, Ermordung, hg. v. Thomas Beddies, Susanne Doetz und Christoph Kopke, Berlin und Boston 2014, S. 36–57. 79 Hans-Peter Kröner: Die Emigration deutschsprachiger Mediziner 1933–1945. Versuch einer Befunderhebung, in: Exilforschung 6 (1988), S. 83–97, hier: S. 86. 80 Vgl. das Berliner Adreßbuch 1933. Unter Benutzung amtlicher Quellen, Bd. III, Teil 4: Einwohner und Firmen, nach Straßen geordnet, Berlin 1933, S. 55. 81 Vgl. Lara Rzesnitzek: „A Berlin Psychiatrist with an American Passport“. Lothar Kalinowsky, Electroconvulsive Therapy and International Exchange in the Mid-Twentieth Century, in: History of Psychiatry 26 (2015), S. 433–451. 82 Vgl. Berliner Adreßbuch 1933, Bd. III, Teil 4 [Anm. 80], S. 55, und Berliner Adreßbuch für das Jahr 1938. Unter Benutzung amtlicher Quellen, Bd. III, Teil 4: Haushaltungsvorstände, handelsgerichtlich eingetragene Firmen und Gewerbebetriebe nach Straßen geordnet, Berlin 1938, S. 56. 83 Vgl. Jüdische Ärzte. Berliner jüdische Kassenärzte und ihr Schicksal im Nationalsozialismus. Ein Gedenkbuch, Berlin, hg. v. Rebecca Schwoch, Teetz 2009, S. 798. 84 Vgl. das Berliner Adreßbuch 1933, Bd. III, Teil 4 [Anm. 80], S. 55 und Jüdisches Adressbuch für Gross-Berlin. Ausgabe 1931/32, Berlin 1931, S. 56. 85 Berliner Adreßbuch. Ausgabe 1933, Bd. I, Teil 1: Einwohner und Firmen nach Namen geordnet, Berlin 1933, S. 367.

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Loerke erwähnte Zahl von fünf vom Boykott betroffenen Kolleginnen und Kollegen.⁸⁶ Zwischen den Etagennachbarn kommt es allerdings zum Bruch, dessen Ursache nicht ganz sicher zu rekonstruieren ist. Nach Auskunft von Gerhard Meyerstein tritt „eine Entfremdung“ ein, weil „sich Benn 1933 mit fliegender Fahne der ‚neuen Bewegung‘“ anschließt.⁸⁷ Der Radiologe und Benn-Biograph Werner Rübe (1921–2006) hat hingegen wirtschaftliche Konkurrenz für den Konflikt verantwortlich gemacht: Meyersteins hätten sich ihre Praxisräume mit einem weiteren Kollegen geteilt und nach dessen Ausscheiden aus Kostengründen einen neuen Arzt in die Praxisgemeinschaft aufgenommen – und zwar einen Urologen. Als Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten habe Benn gegen diese unerwünschte Konkurrenz im eigenen Hause zunächst erfolglos protestiert, Gerhard Meyerstein dann „einen bösen Brief“ geschrieben und ihm „die Freundschaft“ „[ge]kündigt“.⁸⁸ Der Neurologe und Benn-Biograph Helmut Heintel (1926–2003) hat die Rübe offenbar von Benn-Bekannten mündlich „überlieferte seltsame Geschichte“ nachzuprüfen versucht und in den von ihm konsultierten Berliner Adressbüchern „keinen Urologen“ finden können.⁸⁹ An dieser Stelle irrt Heintel allerdings: Mit dem bereits erwähnten Otto Albert Schwarz ist ein Urologe in der BelleAlliance-Straße 12 tätig gewesen und dies schon seit 1932,⁹⁰ d. h. die Freundschaft zwischen Benn und den Meyersteins könnte in der Tat bereits vor dem Beginn des Dritten Reiches zu Ende gegangen sein. Sollte es sich so verhalten haben, so würde das im Umkehrschluss übrigens nicht heißen, dass der Streit mit diesen keinen Einfluss auf Benns nationalsozialistisches Engagement gehabt haben könnte. Es ist vielmehr denkbar, dass die Auseinandersetzung auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise Benns Gefühl des ökonomischen Zurückgesetztseins verstärkt hat – zurückgesetzt gerade gegenüber seinen jüdischen (Ex‐)Freunden und Kollegen. Ein sozialgeschichtliches Detail stützt diese Vermutung: Im Unterschied zu Meyerstein, Kalinowsky, Schwarz und Carsten, die zwar alle in der Belle-Alliance-Straße 12 praktizieren, privat

86 Hildegard Meyerstein wird im Adressbuch nicht eigens aufgeführt, dafür aber ein weiterer Arzt, Oskar Schäfer (1881–1943); vgl. Berliner Adreßbuch 1933, Bd. III, Teil 4 [Anm. 80], S. 55. Er ist nicht im Jüdischen Adressbuch verzeichnet und in den Memoiren seines Enkels finden sich ebenfalls keine Hinweise auf eine jüdische Herkunft, im Gegenteil: „in den Zwanziger- und zu Anfang der Dreißigerjahre“ gehörten „spätere prominente Politiker des Nazi-Regimes wie Walter Funk, Hermann Göring, Ernst Udet zu seinen Patienten und Bekannten“. Jochen Schaefer: Überwiegend Glück gehabt. Lebensgeschichtliche Annäherungen an ein noch nicht existierendes und sich entwickelndes Fachgebiet der Medizin – Vorschule der Kardiologie oder die Faszination der Herzmechanik […the path to cardiology], Norderstedt 2020, S. 14. 87 Heintel: Gottfried Benn [Anm. 54], S. 15–16. 88 Werner Rübe: Provoziertes Leben. Gottfried Benn, Stuttgart 1993, S. 287. 89 Heintel: Gottfried Benn [Anm. 54], S. 25. 90 Berliner Adreßbuch 1932. Unter Benutzung amtlicher Quellen, Bd. III, Teil 4: Einwohner und Firmen, nach Straßen geordnet, Berlin 1932, S. 56.

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aber Wohnungen in anderen Stadtteilen unterhalten, arbeitet Benn nicht nur an dieser „sehr berlinischen Ecke“,⁹¹ wie sie Max Herrmann-Neiße in vornehmer Anspielung auf die Stammkundschaft des Venerologen genannt hat, sondern er lebt dort auch. Die in Kreisen bürgerlicher Mediziner als standesgemäß empfundene Aufteilung zwischen einer repräsentativen Privatwohnung und den Praxisräumen für den Patientenverkehr hatte Benn bereits Jahre zuvor aufgeben müssen. Er räumt die 1917 gemeinsam mit seiner ersten Frau Edith (1878–1922) und seiner Tochter Nele (1915–2012) bezogene Wohnung in der Passauer Straße 19 im Sommer 1926 und zieht „ganz in die Bellallstr“ – „vorbei der Prunk der wohlhabenden Jahre“, teilt er Zenzes bedauernd mit.⁹² Unweit dieser ehemaligen Wohnung Benns in Berlin-Charlottenburg liegt auch die Privatwohnung der Meyersteins in der Lietzenburger Straße 15 (heute Nr. 98), Nähe Kurfürstendamm. Dank seines Status’ als schwer verwundeter Kriegsfreiwilliger ist Gerhard Meyerstein nach dem wohl schon 1933 erfolgenden Auszug aus der Belle-AllianceStraße 12 dort zunächst weiter als Kinderarzt tätig, bis auch ihm am 18. Juni 1938 die Kassenzulassung entzogen wird. Mit der Hilfe des Schwiegersohnes des chilenischen Staatspräsidenten gelingt dem Arztehepaar im Juli 1938 die Emigration nach Chile, wo er noch einmal vier Jahre lang Medizin studieren muss, bevor er in einem Krankenhaus in Santiago de Chile angestellt wird.⁹³ 1947 wird er chilenischer Staatsbürger; 1975 stirbt er an einem Narbenkarzinom im rechten Knie als Spätfolge einer 1916 in der Schlacht von Verdun erlittenen Granatsplitterverletzung.⁹⁴ Der ‚Judenboykott‘ demonstriert darüber hinaus sehr eindrücklich, auf wie tönernen Füßen Benns autobiographische Apologie von 1950 steht, wonach er zwar gewusst habe, dass das Parteiprogramm der NSDAP „unter seinen zahlreichen Punkten einen üblen antisemitischen“ enthalten habe, man aber die Verwirklichung von Parteiprogrammen „nach den Erfahrungen mit den politischen Verhältnissen überhaupt auf keinen Fall“ hätte erwarten können „– dann allerdings, als sie ihre Rassentheoreme praktizierten, schauerten einem die Knochen, aber das war noch nicht 1933.“ (SW V, 84–85) Was war der ‚Judenboykott‘ denn anderes als ein praktiziertes Rassentheorem? Und gab dieses Ereignis nicht bereits 1933 vor aller Augen eine Probe von der Entschlossenheit der Nationalsozialisten, ihr Programm unter allen

91 Max Herrmann-Neiße: Gottfried Benns Prosa [zuerst 1929], in: Benn – Wirkung wider Willen. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Benns, hg. v. Peter Uwe Hohendahl, Frankfurt a. M. 1971, S. 128– 134, hier: S. 129. „Eine bescheidene Junggesellenwohnung von vier kleinen Räumen. Der größte war sein Ordinationszimmer mit lauter weißen Möbeln, dem bekannten Untersuchungsstuhl und vielen Instrumenten im Glasschrank.“ Tilly Wedekind: Meine Erinnerung an Gottfried Benn, in: Benn: Den Traum [Anm. 18], S. 80–114, hier: S. 81. 92 Benn und Zenzes: Briefwechsel [Anm. 46], S. 36–37. 93 Vgl. Jüdische Ärzte [Anm. 83], S. 608. 94 Vgl. Heintel: Gottfried Benn [Anm. 54], S. 16.

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Umständen umzusetzen?⁹⁵ Drei Wochen bevor sich Benn ihnen auch öffentlich zur Verfügung gestellt hat? In den Entwürfen zu „Doppelleben“ hat sich eine Variante der gerade zitierten Passage erhalten, die noch entlarvender ist: Man habe „zunächst in D bleiben, der neuen Regierung hoffend u abwartend gegenüberstehn“ können, „ohne an seinen jüdischen Beziehungen damit Verrat zu üben.“ (SW V, 501– 502) Dies habe sich erst in dem Augenblick geändert, „als man die praktische Verwirklichung ihrer Rassentheoreme erleben musste.“ (SW V, 501–502) Wie gesagt: Dafür brauchte Benn nur am Vormittag des 1. April 1933 die Treppe aus dem ersten Stock herunterzugehen und vor die Haustüre zu treten. Einstweilen unbeantwortet muss dagegen die Frage bleiben, ob Benn den Tag des ‚Judenboykotts‘ dazu benutzt hat, noch an einer weiteren seiner jüdischen Beziehungen Verrat zu üben oder ob es sich dabei um eine Verleumdung handelt. Gemeint ist die der Benn-Forschung bislang unbekannte deutsch-jüdische Zeichnerin, Dramaturgin und Literaturagentin Anni Bernstein,⁹⁶ die ausweislich der 1964 publizierten Memoiren der Schriftstellerin Elisabeth Castonier (1894–1975) eine Freundin Benns gewesen ist und die er am 1. April 1933 in der Berliner Dependance des Drei-MaskenVerlages angerufen haben soll, um ihr die „‚Freundschaft‘“ zu kündigen, weil sie „‚eine Jüdin‘“ sei.⁹⁷ Dass die am 22. Juli 1897 in München geborene Bernstein in diesem deutsch-jüdischen Bühnen- und Musikverlag gearbeitet hat, lässt sich anhand ihrer teilweise erhaltenen Briefe aus den Jahren 1930 bis 1934 an den österreichisch-jüdischen Dramatiker Theodor Tagger (1891–1958) nachweisen, der unter dem Pseudonym Ferdinand Bruckner mit Stücken wie „Krankheit der Jugend“ (1926) in der Weimarer Republik Theatererfolge hat und im Pariser Exil mit dem Drama „Die Rassen“ (1933) sofort den Antisemitismus Hitler-Deutschlands aufs Korn nimmt.⁹⁸ Wie Mopsa Sternheim ist auch Anni Bernstein mit Erika und Klaus Mann befreundet gewesen,⁹⁹ d. h. in Anbetracht der erotischen Affinität Benns zum Theatermilieu wäre auch eine Liebesbeziehung mit ihr grundsätzlich im Bereich des Möglichen. Der einzige exis-

95 So auch schon Peter de Mendelssohn: Der Geist in der Despotie. Versuche über die moralischen Möglichkeiten des Intellektuellen in der totalitären Gesellschaft. Mit einem Nachwort von Martin Gregor-Dellin, Frankfurt a. M. 1987 [zuerst 1953], S. 268, und Helmut Peitsch: „Deutschlands Gedächtnis an seine dunkelste Zeit“. Zur Funktion der Autobiographik in den Westzonen Deutschlands und den Westsektoren von Berlin 1945 bis 1949, Berlin 1990, S. 380. 96 Parallel zu unseren Nachforschungen hat auch Peter Kröger zu Anni Bernstein recherchiert und uns freundlicherweise seinen Aufsatz vorab zur Verfügung gestellt; vgl. Peter Kröger: „Weil ich Jüdin bin …“. Gottfried Benn und die Odyssee der Anni Bernstein, in: Mitteilungen der GottfriedBenn-Gesellschaft 10 (2023), H. 26, S. 3–26. 97 Elisabeth Castonier: Stürmisch bis heiter. Memoiren einer Aussenseiterin, München 1964, S. 219. 98 Die Korrespondenz liegt im Ferdinand-Bruckner-Archiv der Berliner Akademie der Künste, Signaturen Bruckner 36, 651 und 868. 99 Vgl. Klaus Mann: Tagebücher 1931 bis 1933 [Anm. 58], S. 234.

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tierende Beleg für einen Kontakt zwischen den beiden ist eine Widmung Benns vom 29. November 1930 „[f ]ür Anni Bernstein, deren kluge u. freundschaftliche[] Gedanken mir im vergangenen Jahr, als ich dieses Buch verfasste, sehr viel wert waren“, in einem Exemplar von „Fazit der Perspektiven“.¹⁰⁰ Bernstein, die im April 1933 in die absurde Lage gerät, sich öffentlich gegen die Unterstellung verwahren zu müssen, sie habe im Drei-Masken-Verlag als Dramaturgin gegen die jüdische Besetzung einer Hauptrolle am Deutschen Volkstheater in Wien protestiert,¹⁰¹ emigriert im Juni 1933 nach New York, wo sie von „Metro-Goldwyn-Mayer sofort als Leiterin des European Literary Departments, mit dem Titel Foreign Editor, engagiert“ wird.¹⁰² Für die Filmproduktionsgesellschaft soll sie einen „direkten Arbeitskontakt mit den europäischen Autoren von Bedeutung im allgemeinen, und mit den deutschen Autoren im Exil im besonderen“ herstellen, um, so schreibt sie am 17. November 1933 an Klaus Mann, Stoffe und Drehbücher für„Spielfilme“ jenseits der„üblichen billigen Linie“ zu gewinnen, d. h. für Filme, die keine „Monstrefilme“, sondern „vielmehr excellentes verfilmtes Theater“ seien.¹⁰³ In dieser Funktion kehrt sie Anfang 1934 nach Europa zurück und versucht für Franz Werfel, Heinrich Mann und Hermann Broch (1886–1951) Filmrechte an MGM zu verkaufen.¹⁰⁴ Für Januar ist ein Besuch bei Erika Mann in Zürich belegt;¹⁰⁵ für März

100 Das Widmungsexemplar ist vor einigen Jahren von einem Autographen-Händler verkauft worden; wir zitieren nach einem Scan, den uns Holger Hof (Berlin) freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. 101 Die sozialistische, für ihren Enthüllungsjournalismus bekannte österreichische Zeitung „Der Abend“ hatte über einen „Skandal um Kortner“ berichtet: Danach sei dem österreichisch-jüdischen Schauspieler Fritz Kortner (1892–1970) eine Wiener Hauptrolle im Stück „Ein Mantel, ein Hut, ein Handschuh“ (1933) des emigrierten, getauften deutschen Juden Wilhelm Speyer (1887–1952) verweigert worden, weil die Berliner „Dramaturgin des Drei-Masken-Verlages, Anni Bernstein“, „gegen die Besetzung der Rolle mit einem nichtarischen Schauspieler Einspruch erhoben habe.“ Kortner beruft sich in dem Artikel auf eine Mitteilung des Direktors des Deutschen Volkstheaters und späteren NS-Kollaborateurs Rolf Jahn (1898–1968), der Bernstein entgegnet haben will: „‚Wie können Sie so etwas von mir verlangen? Sie sind doch selbst Jüdin!‘“ Der Artikel schließt mit Bernsteins vehementem Widerspruch gegen die „Verbreitung derartiger Gerüchte“ und einer Klagedrohung gegen Kortner. Der Abend, Nr. 90, 18. April 1933, S. 3. Das Dementi Bernsteins wird auch von der liberalen „Wiener Allgemeinen Zeitung“ abgedruckt; vgl. Wiener Allgemeinen Zeitung, 19. April 1933, S. 5. 102 Anni Bernstein an Klaus Mann, 17. November 1933, Münchner Stadtbibliothek / Monacensia, KM B 20, Bl. 1–3, hier: Bl. 1. 103 Bernstein an Mann, 17. November 1933, [Anm. 102], Bl. 1–2. 104 Vgl. Kröger: „Weil ich Jüdin bin …“ [Anm. 96]. 105 Erika Mann berichtet am 24. Januar 1934 Klaus Mann: „Anni Bernstein war ja da. Ganz perfekt, eine Mischung aus Mops[a] und der Rapperport, wenn auch nicht so schön. – und mit faulen Zähnen. Sie tat, als wolle sie immerfort was für uns tun. Wird wohl nicht so ganz stimmen.“ Münchner Stadtbibliothek / Monacensia, EM B 231, Bl. 2.

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eine Affäre mit Lion Feuchtwanger (1884–1958) im südfranzösischen Bandol¹⁰⁶ und für April 1934 ein Aufenthalt in Wien.¹⁰⁷ Aus den insgesamt drei überlieferten Briefen an Carl Zuckmayer (1896–1977) lässt sich ableiten, dass Bernstein als professionelle Vermittlerin zwischen europäischen Autoren und US-amerikanischer Filmindustrie sehr zu kämpfen hat. Zurück in New York klagt sie gegenüber Zuckmayer am 31. Dezember 1934 darüber, dass sie „[a]ls Mitglied einer Filmgesellschaft […] nach meinen bisherigen düsteren Erfahrungen […] zu wenig Möglichkeiten“ habe, „irgend etwas richtig auszunützen, da mein Vertrag mich zu einer strikten Exklusivität verpflichtet.“¹⁰⁸ Deshalb möchte sie direkt nach Hollywood gehen, muss Zuckmayer aber am 20. März 1935 mitteilen: „Ich bin noch in N. Y.“¹⁰⁹ Danach verliert sich ihre Spur und sie taucht erst wieder in einer Tagebuchnotiz Klaus Manns vom 26. August 1937 über ein Treffen mit ihr in Zürich wieder auf.¹¹⁰ Am 13. Januar 1938 schließlich berichtet Grete De Francesco (1893–1945) in einem Brief an Walter Benjamin (1892–1940):

106 Im Oktober 1932 hatte Feuchtwanger mit dem Drei-Masken-Verlag über die Tonfilmrechte für „Jud Süß“ (1925) verhandelt; am 7. März 1934 besucht ihn Bernstein und obwohl er sie „[e]in bißchen laut und lästig“ findet, notiert er: „Später mit Ann Bernstein gevögelt. Ganz nett“. Lion Feuchtwanger: Ein möglichst intensives Leben. Die Tagebücher, hg. v. Nele Holdack, Marje Schuetze-Coburn und Michaela Ullmann, Berlin 2018, S. 295, 347. 107 Das österreichische Boulevardblatt „Die Stunde“ berichtet in dem Artikel „Auf ‚Stoffjagd‘ in Europa“ über eine „junge, elegante Dame“ namens „Anne [sic] Bernstein“, die in München „als Angehörige einer in Deutschland sehr angesehenen Juristenfamilie“ aufgewachsen sei, und apostrophiert sie als „‚Botschafterin des amerikanischen Films, akkreditiert an den Literaturhöfen Europas‘“. Die Stunde, 11. April 1934, S. 5. Die Angabe zur Herkunft deckt sich nicht mit den Auskünften des Stadtarchivs München und des Bayerischen Hauptstaatsarchivs, die sich im Nachlass des österreichischen Filmhistorikers und Filmemachers Günter Peter Straschek (1942–2009) finden und die Anfang der 1990er Jahre im Rahmen eines DFG–Projektes „Geschichte der deutschsprachigen Filmemigration 1933–1945“ an der Philipps-Universität Marburg eingeholt worden sind: Danach war der Vater Sigmund Bernstein (1862–1933) ein Kaufmann.Vgl. Deutsche Nationalbibliothek, Frankfurt a. M., Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Archiv Günter Peter Straschek, EB 2012/153–D.01.0287. Laut Kröger ist Bernsteins Vater ein Getreidegroßhändler gewesen; Mutter Antonie (1874–1967) und Schwester Elisabeth (1902–?) können 1938 über Italien nach Uruguay emigrieren; Tante Elodie, eine Pianistin und Kunststickerin, wird 1942 in Treblinka ermordet; vgl. Kröger: „Weil ich Jüdin bin …“ [Anm. 96]. 108 Anni Bernstein an Carl Zuckmayer, 31. Dezember 1934, Deutsches Literaturarchiv Marbach (DLA), Nachlass Carl Zuckmayer, HS. 1986.1428, 1–3. 109 Anni Bernstein an Carl Zuckmayer, 20. März 1935, DLA, Nachlass Zuckmayer [Anm. 108]. In einem ihrer seltenen Kommentare zum Zeitgeschehen fragt sie den noch in Österreich lebenden Dramatiker: „Was wird denn jetzt aus dem ganzen Salat in Europa. Hier ist alles maßlos aufgeregt – ich auch.“ (Nachlass Zuckmayer [Anm. 105]) 110 Vgl. Klaus Mann: Tagebücher 1936 bis 1937, hg. v. Joachim Heimannsberg, Peter Laemmle und Wilfried F. Schoeller, München 1990, S. 155.

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Anni Bernstein […] vergiftete sich am 30. Dez. in Zürich. Keinerlei aktuelle oder privateste Ursache, sondern einfach ein Scheitern an der Zeit, ein nicht mehr Fertigwerden mit dem Eckel [sic] und jenes Entwurzeltsein und nicht mehr wissen, wo man hin gehört, das wir ja alle kennen.¹¹¹

Entsprechend deprimiert hält Klaus Mann am 27. Januar 1938 fest: „Erfahre vom Selbstmord der Anni Bernstein. Immer neue….. Sonderbar berührt.“¹¹² Diese spärlichen Informationen helfen bei der Einschätzung des Wahrheitsgehaltes von Castoniers Darstellung kaum weiter. In „Stürmisch bis heiter. Memoiren einer Aussenseiterin“ (1964) bildet der dreißig Jahre nach den Ereignissen verfasste Bericht über Benns vermeintlichen Anruf den Höhepunkt einer beklemmenden Schilderung der schlagartig einsetzenden Ausgrenzung jüdischer Deutscher durch die vielen ihre Fahne in den Wind hängenden Wendehälse: Der Schriftsteller Otto Flake (1880–1963) übersieht im Café auf einmal seine jüdische Freundin, der Maler Max Pechstein (1881–1955) grüßt mit einem lauten ‚Heil Hitler‘, und Benn beendet fernmündlich die Freundschaft mit Bernstein.¹¹³ Literarisch ist die Szene durchaus gelungen und dürfte zum Erfolg des Buches beigetragen haben, dennoch bleiben Zweifel an der Darstellung: Zum einen enthalten die Memoiren weitere, noch weniger glaubhafte Aussagen,¹¹⁴ zum anderen stellen Castoniers Biographen ihrer

111 Zitiert nach Walter Benjamin: Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, Bd. XIII, Teil 2: Kritiken und Rezensionen. Kommentar, hg. v. Heinrich Kaulen, Berlin 2011, S. 967–968. Bernstein war De Francescos Literaturagentin und sollte für das von Benjamin rezensierte Buch „Die Macht des Charlatans“ (1937) einen amerikanischen Verlag finden (vgl. Benjamin: Werke [Anm. 111], S. 971). Die genauen Todesumstände hat Peter Kröger nach den Polizeiakten rekonstruiert. Vgl. Kröger: „Weil ich Jüdin bin …“ [Anm. 96]. 112 Klaus Mann: Tagebücher 1938 bis 1939, hg. v. Joachim Heimannsberg, Peter Laemmle und Wilfried F. Schoeller, München 1990, S. 15. Vermutlich hat Mann, der sich gerade in New York befindet, den Nekrolog gelesen, der am 26. Januar 1938 im Branchenblatt der amerikanischen Unterhaltungsindustrie „Variety“ erschienen war: „Ann Bernstein, general European representative of the International Literary Bureau, and formerly foreign editor for Metro-Goldwyn-Mayer, died early this month in Zurich. Prior to Hitler’s regime, she was editor-in-chief of Drei Masken Verlag of Berlin. Miss Bernstein was a leading European play broker who transferred her activities to the United States after 1933. She was responsible for German translations of the works of Samson Raphaelson, Theodore Dreiser, Elmer Rice, Sidney Howard and others. Others that she launched on their careers were Leonhard Frank, Bruno Frank and Ferdinand Bruckner“. Zitiert nach Deutsches Exilarchiv 1933–1945 [Anm. 107]. 113 Vgl. Castonier: Stürmisch [Anm. 97], S. 204, 218–219. 114 So berichtet Castonier zum Beispiel davon, dass sie dem Empfang für den Futuristen und Faschisten Filippo Tommaso Marinetti (1876–1944) am 29. März 1934 im Haus der Deutschen Presse beigewohnt und die Reden von Edgar von Schmidt-Pauli (1881–1955) und Marinetti gehört habe, erwähnt aber die bei diesem Empfang ebenfalls gehaltene Rede Benns mit keinem Wort. Vgl. Castonier: Stürmisch [Anm. 97], S. 225–226.

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Glaubwürdigkeit insgesamt ein schlechtes Zeugnis aus.¹¹⁵ Erwähnt werden sollte allerdings, dass sie im Londoner Exil das ihr aus Berlin bekannte und bis zu seinem nationalsozialistischen Engagement auch mit Benn befreundete Ehepaar Fleischmann wiedergetroffen hat und es dabei unter Umständen zu einem Austausch von Informationen und Gerüchten über Benn gekommen ist.¹¹⁶ Denn dass zumindest Gerüchte über Benns Umgang mit Bernstein unter deutschen Emigranten in Großbritannien zirkulierten, belegt eine 2018 im Nachlass Marguerite Schlüters aufgetauchte Postkarte vom 9. September 1955, die ein „nichtjüdischer Freund von A. B.“ namens Hermann von der Muehlen über den Wiesbadener Limes-Verlag an Benn geschickt und in der er ihn „an die Jüdin Anni Bernstein“ erinnert hat, „Ihre Geliebte, die Sie 1933 in den Tod trieben“, um mit einem Bannfluch gegen „wieder ‚erlaubt[e]‘ + ‚geduldet[e]‘“ „Nazis“ und ihre „Verleger“ zu schließen.¹¹⁷ Die Vorverlegung des Todesjahres auf 1933 und die damit verbundene Suggestion eines kausalen Zusammenhangs zwischen Benns Verhalten und Bernsteins Freitod deutet auf einen nachhaltigen ‚Stille Post‘-Effekt hin. Leider lässt sich auf dem derzeitigen Wissensstand, d. h. ohne weitere Quellenfunde, nicht abschließend über den Wahrheitsgehalt der von Castonier berichteten Geschehnisse befinden.

4 Im weiteren Verlauf des Monats April desintegriert das deutsch-jüdische Spannungsfeld auf der kollektiven wie auf der individuellen Ebene immer mehr; parallel dazu vertieft Benn sein Engagement für die Nationalsozialisten. Während Else Lasker-Schüler am 19. April 1933 Hals über Kopf aus Deutschland nach Zürich flieht – nicht ohne sich vorher von ihrem früheren Geliebten und Freund „telefonisch“ zu „verabschiede[n]“ –,¹¹⁸ wohnt dieser einen Tag später in Berlin im Preußischen Staatstheater am Gendarmenmarkt als persönlicher Gast des Kultusministers Rust

115 „Immer wieder taucht das Problem der Unzuverlässigkeit der Autobiographie auf.“ Deborah Viëtor-Engländer: Nachwort, in: Exil im Nebelland. Elisabeth Castoniers Briefe an Mary Tucholsky. Eine Chronik, hg. v. ders., Bern u. a. 2010, S. 585–605, hier: S. 590; ähnlich Dagmar Frings und Jörg Kuhn: Die Borchardts. Auf den Spuren einer Berliner Familie, Berlin 2011, S. 83–85. 116 Vgl. Castonier: Stürmisch [Anm. 97] S. 332, 336. 117 Diese Postkarte wird zitiert nach dem Katalog 178 der Eberhard Köstler Autographen & Bücher oHG: Die Welt von Gottfried Benn. Nachlass von Marguerite Schlüter, Tutzing 2018, S. 38, in: https:// www.autographen.org/fileadmin/user_upload/5_Kataloge/178Benn.pdf (28. Januar 2022). 118 So Benn am 18. April 1933 gegenüber Ina Seidel (1885–1974); zitiert nach Greve: Gottfried Benn [Anm. 26], S. 48.

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der Premiere von Hanns Johsts NS-Märtyrerdrama „Schlageter“ bei.¹¹⁹ Das Stück ist Hitler nicht nur gewidmet, sondern wird auch in seiner Anwesenheit und an seinem Geburtstag uraufgeführt. Und obwohl Benn von Seiten einiger in Aussicht genommener, neuer völkischer Akademie-Mitglieder „Anmaßung und Feindlichkeit“ wahrnimmt, bekennt er sich vier Tage später in der Rundfunkansprache „Der neue Staat und die Intellektuellen“ öffentlich zum Dritten Reich und lässt einen Monat später in Reaktion auf den Brief Klaus Manns noch seine „Antwort an die literarische Emigranten“ folgen.¹²⁰ Darauf reagiert wiederum Lasker-Schüler mit dem Gedicht „Lied der Emigrantin“, das 1934 unter dem neuen Titel „Die Verscheuchte“ in Manns Exil-Zeitschrift „Die Sammlung“ publiziert wird, während Benn seine Freundin Tilly Wedekind am 27. Januar 1934 vor einer Schweiz-Reise vor der zwar „sehr genial[en]“, aber „fanatisch antideutsch[en]“ Lasker-Schüler warnt, die „lügt wie alle so hysterischen Menschen“.¹²¹ Mittlerweile ist ganz klar geworden, wer hier Täter und wer Opfer ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg hält Benn – bei seinem ersten öffentlichen Auftritt in Berlin seit 1934 – die in vielen Hinsichten irrlichternde Rede auf „Else Lasker-Schüler“ (1952), in der er seine Kollegin und Gefährtin von 1912–1913 nicht nur als „die größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte“, feiert, sondern vor allem als „völlige Verschmelzung des Jüdischen mit dem Deutschen“ (SW VI, 55–56). Doch diese „wirkliche Seinsgemeinschaft auf höchster Stufe“ sei – ausgerechnet! – von „ihre[n] Glaubensgenossen“ abgelehnt worden, obwohl sie „auf beiden Seiten, sofern die Kunst bei uns überhaupt etwas zu sagen hätte, auch politische Folgen würde gehabt haben können.“ (SW VI, 55–56) Bezeichnenderweise schweigt sich Benns Konjunktiv-Gestrüpp über die Gründe für das Ausbleiben solcher Folgen, etwa auf seiner, der ‚deutschen‘ Seite, aus.¹²² 119 Vgl. Holger Hof: Gottfried Benn. Der Mann ohne Gedächtnis. Eine Biographie, Stuttgart 2011, S. 269–270. 120 Loerke: Tagebücher [Anm. 57], S. 289. 121 Benn: Briefe an Tilly Wedekind [Anm. 56], S. 34. 122 Jakob Hessing hat Benns Rede deshalb „tief unanständig“ genannt und ihr eine opportunistische Aneignung der toten Jüdin unterstellt: „Statt über sich selbst denkt er über die Juden nach, die Else Lasker-Schüler nicht verstanden hätten, schiebt die Deutschen unmerklich in eine Position der Retter: Wir Deutschen – so scheint er zu sagen – haben eine von ihren Glaubensbrüdern zurückgestoßene Jüdin mit offenen Armen in unserer Kultur aufgenommen, haben sie zu unserer größten Lyrikerin gekrönt: Das ist das Angebot der Selbsterhöhung, das Gottfried Benn seinen Hörern machte, und sie haben es ihm nie vergessen.“ Jakob Hessing: Dichtung und Lüge. Gottfried Benns Rede über Else Lasker-Schüler, in: Mein Herz [Anm. 25], S. 131–140, hier: 139–140. Joachim Dyck hat sich an einer Verteidigung versucht, wiederholt aber mit Ausnahme des Hinweises auf die in der Rede mitgelieferte Konzessionsformel von der „Verschiedenheit der Lebenswege und Lebensirrungen“ (SW VI, 57) lediglich Benns Freispruch vom Antisemitismus; vgl. Dyck: „Die völlige Verschmelzung des Jüdischen und des Deutschen“, in: Ansichten und Perspektiven [Anm. 9], S. 71–79, hier: S. 73–74, 78.

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Schweigen legt sich auch über eine andere Freundschaft: Für die in der SS-Zeitung „Das schwarze Korps“ skandalisierte Ausgabe seiner „Ausgewählten Gedichte“ (1936) löscht er die 1925 erfolgte Widmung des im Zusammenhang mit einer primitivistischen Ausstellung zur Südsee-Plastik in der Galerie Flechtheims entstandenen Gedichtes „Meer- und Wandersagen“ an Carl Einstein.¹²³ Und was wird aus dem Requiem „(für Paul Lasker-Schüler.)“? Am 30. Oktober 1938 schreibt Benn an seinen Bremer Freund Friedrich Wilhelm Oelze und kündigt „eine neue Bedrängung u. Überfall“ an: „6 Gedichte für den Nachlass, zur Verwahrung bitte. Teils alte. […] Tausend Dank!“¹²⁴ Eines davon ist als Typoskript mit dem Titel „So still –“ identifizierbar, das neben Oelzes Stempel das Datum dieses Briefes trägt und heute in Oelzes Gottfried-Benn-Sammlung in Marbach liegt (s. Abb. 7).¹²⁵ Dieses unterscheidet sich kaum von dem Gedicht, das Lasker-Schüler als „Requiem“ für ihren Sohn übergeben wurde. Abgesehen von dem neuen Titel und dem Wegfall der Widmung bestehen die auffälligsten Veränderungen in der Ersetzung von „Schwärme“ durch „Vögel“ und des Gedankenstrichs am Ende der ersten Zeile in der zweiten Strophe durch ein Ausrufezeichen („Auch unerbittlich ist das nicht!“).¹²⁶ Etwas auffälliger ist die Einfügung eines Fragezeichens an der letztgenannten Stelle in der ersten gedruckten Version des Gedichts in der Sammlung „Primäre Tage“,¹²⁷ die Anfang 1958 posthum erscheint, nachdem das Gedicht von Benn bei seinen späten Veröffentlichungen, einschließlich seiner „Gesammelten Gedichte“ von 1956, „unberücksichtigt“ geblieben war – weil er, so die Vermutung seines Verlegers Max Niedermayer, neben weiteren Gedichten, die er „in den

123 Vgl. Baßler: „Ewigkeit der Accent“ [Anm. 46], S. 71–84, hier: S. 83. 124 Gottfried Benn und Friedrich Wilhelm Oelze: Briefwechsel. 1932–1956, hg. v. Harald Steinhagen, Stephan Kraft und Holger Hof, Bd. I: 1932–1941, Göttingen 2016, S. 274. 125 DLA, Friedrich Wilhelm Oelzes Gottfried-Benn-Sammlung, 80.931. 126 In Benns Nachlass in Marbach befinden sich zusätzlich noch ein Manuskript mit dem Titel „So still –“ und ein weiteres Typoskript mit dem handschriftlich eingefügten Alternativtitel „Die Götter,“ die beide undatiert, aber vermutlich zwischen 1931–1938 entstanden sind. Vgl. DLA, Nachlass Gottfried Benn, D 86.133. Da sich auf dem Typoskript Benns Praxisstempel befindet, könnte man den Entstehungszeitraum dieser Version auf den Zeitraum Ende 1931 bis zum Frühjahr 1935 weiter eingrenzen, d. h. dem Zeitpunkt, an welchem Benn seine Arztpraxis in der Belle-Alliance-Straße aufgegeben hat. 127 Benn: Primäre Tage [Anm. 23], S. 30. Das Fragezeichen bleibt in Dieter Wellershoffs BennAusgabe, wird aber in Hillebrands „Gedichte in der Fassung der Erstdrucke“ und in der Stuttgarter Benn-Ausgabe wieder durch ein Ausrufezeichen ersetzt; vgl. Benn: Gesammelte Werke [Anm. 23], S. 429; Benn: Gedichte [Anm. 16], S. 288, und SW II, 116. Abgesehen von der in Lasker-Schülers Jerusalemer Nachlass liegenden „Requiem“-Version und dem Manuskript in Oelzes Benn-Sammlung in Marbach, fehlt das Zeichen auch in den beiden anderen erwähnten Versionen (s. Anm. 126), nämlich in dem „So still –“ betitelten Manuskript und in dem handschriftlich „Die Götter“ betitelten Typoskript, die sich in Benns Marbacher Nachlass außerhalb der Oelze-Sammlung befinden.

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Jahren seines Schweigens“ an Oelze geschickt hatte, keine „Erinnerung“ mehr daran gehabt habe.¹²⁸ Interessanterweise erscheint das Gedicht, dieses Mal ohne Fragezeichen in Vers 5 und ohne Gedankenstrich im Titel, im selben Jahr auch im März-Heft der Zeitschrift „Merkur“, wo es erneut als Wiedergabe des zwei Jahrzehnte zuvor an Oelze gesandten Textes präsentiert wird.¹²⁹ Diese Fassung unterscheidet sich tatsächlich von dem an Oelze gesendeten Typoskript nur durch den aus dem Titel entfernten Gedankenstrich. Allerdings wird das Datum von Benns Brief so dazu gesetzt, dass der Eindruck entstehen muss, dass dies auch die Entstehungszeit des Gedichts gewesen sei, also die Phase der sogenannten ‚inneren‘ Emigration. Das ist kein philologischer Lapsus, der durch unseren Jerusalemer Fund sowieso erst in der Retrospektive zu erkennen ist, sondern vielmehr ein literaturgeschichtlicher Beleg für die bei Benn wie in der deutschen Tätergesellschaft insgesamt grassierende Mentalität der Verdrängung. Sie sorgt dafür, dass das Gedicht nicht mehr dem deutsch-jüdischen Spannungsfeld zugeordnet werden kann, obwohl es zweifelsfrei aus ihm hervorgegangen ist. Es ist also eine sehr irdische Stille, die sich über diesen Teil der Verflechtungen Benns mit der deutsch-jüdischen Kultur gesenkt hat, und es bleibt eine Aufgabe für künftige literaturwissenschaftliche Forschung, diese historisch bedingte Amnesie aufzuklären.¹³⁰

128 Max Niedermayer: „Nachwort“, in: Benn: Primäre Tage [Anm. 23], S. 84–87, hier: S. 85. 129 Vgl. Merkur 12 (1958), H. 3, S. 202, 204. 130 Für die vielfältige Hilfe bei der Recherche für diesen Artikel möchten wir uns bei Oded Fluss (Bibliothek der Israelitischen Cultusgemeinde, Zürich), Holger Hof (Berlin), Stephan Kraft (Würzburg), Stefan Litt (National Library of Israel, Jerusalem), Samuel Müller (Würzburg) und Thorsten Ries (Austin) bedanken.

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Abb. 1: Benns Gedicht für den Sohn von Else Lasker-Schüler; Israelische Nationalbibliothek, Else LaskerSchüler Archiv [Anm. 20].

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Abb. 2: Gottfried Benn in seiner Praxis mit seinem Nachbar Dr. Gerhard Meyerstein; [Anm. 55].

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Abb. 3: Gerhard Meyerstein (1897–1975); aus: Heintel: Gottfried Benn [Anm. 54], S. 15.

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Gottfried Benn an Rudolf Kayser. Zwei unveröffentlichte Briefe

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Abb. 4: Benn an Kayser, 27. Dezember 1932 [Anm. 57].

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Abb. 5: Benn an Kayser, 12. Januar 1933 [Anm. 68].

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Marcus Hahn, Avraham Rot

Abb. 6: Durchschlag eines Schreibens an den S. Fischer Verlag als Reaktion auf die Entlassung von Rudolf Kayser mit den von Benns Hand ergänzten Namen der vorgesehenen Unterzeichner, zu denen neben Benn und Leo Matthias gehören: André Gide, Gerhart Hauptmann, Wilhelm Hausenstein, Hermann Hesse, Max Brod, Kurt Heuser, Alfred Kerr, Heinrich und Thomas Mann, Robert Musil, Joseph Roth, Wilhelm von Scholz, Stefan Zweig und Jakob Wassermann; Benn an Kayser, 27. Dezember 1932 [Anm. 57].

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Abb. 7: Typoskript von „So still –“; DLA Marbach, Oelzes Gottfried-Benn-Sammlung [Anm. 125].

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Ewald Wasmuth, Gottfried Benn und Carl Einstein: Eine Spurensuche Abstract: Carl Einstein war mit den Gebrüdern Wasmuth, die den Ernst-WasmuthVerlag führten, befreundet. Ebenso unterhielt Gottfried Benn nähere Kontakte zu ihnen. Einstein und Benn verband eine Freundschaft in den 1910er und 1920er Jahren. Die überlieferten Briefe beider an Ewald Wasmuth zeugen zum einen vom jeweils eigenen Werkverständnis, zeigen zum anderen aber auch das Freundschafts-Netzwerk auf, das zwischen Benn, Einstein und Wasmuth bestand.

„An Einstein denke ich oft und lese in seinen Büchern, der hatte was los, der war weit an der Spitze.“¹ Diese bekannte Aussage Gottfried Benns über Carl Einstein findet sich in einem Brief an Ewald Wasmuth (1890–1963) aus dem Jahr 1951. In der Nachkriegszeit erinnert dieser Benn an den gemeinsamen Freund, der 1940 auf der Flucht vor den Nationalsozialisten Suizid begangen hat. Es sind Briefe Benns und Einsteins an Wasmuth überliefert, die einen Einblick in die Freundschaft der beiden ermöglichen, aber ebenso Hinweise auf ein intellektuelles Netzwerk geben, das zwischen den Autoren und dem Verlag Ernst Wasmuth bestand. Darüber hinaus ist es jedoch vor allem Ewald Wasmuth, der von der Forschung einmal näher in den Blick genommen werden sollte. Er war bereits seit 1912, also schon mit 22 Jahren, mit einem Buch über Jean-Jacques Rousseau publizistisch tätig.² Zudem war er ein paar Jahre im von seinem jüngeren Bruder Günther Wasmuth (1888–1974) geführten Ernst-Wasmuth-Verlag aktiv. Mit dem Verleger Günter Wasmuth verband Einstein eine Freundschaft. Im Folgenden wird eine Spurensuche unternommen, die einen Ausschnitt aus dem weitverzweigten Netzwerk Carl Einsteins näher beleuchten will, zu dem zeitweise auch Gottfried Benn, der Verlag und mit ihm die Brüder Wasmuth gehörten. Zunächst wird rekapituliert, welche Bücher Einstein im Ernst-Wasmuth-Verlag veröffentlichte, daraufhin soll das Verlagsprogramm skizziert werden, um diese

1 Gottfried Benn: „Absinth schlürft man mit Strohhalm, Lyrik mit Rotstift“. Ausgewählte Briefe 1904–1956, hg. v. Holger Hof, Göttingen 2017, S. 232. 2 Ewald Wasmuth: Jean Jacques Rousseau. Fragmente zum Verständnis seines Wesens, Leipzig 1912. Matthias Berning, Aachen https://doi.org/10.1515/9783111102740-011

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Bände zu kontextualisieren, die Briefe Einsteins und Benns an Ewald Wasmuth nachvollzogen und abschließend anhand ausgewählter Schriften dessen philosophisches Denken vorgestellt werden, das einerseits als typisch für die Moderne zu bezeichnen, andererseits jedoch weit entfernt von jeglichen avantgardistischen Bestrebungen einzuordnen ist.

1 Der Ernst-Wasmuth-Verlag 1920 ist im Verlag, gefolgt von weiteren Büchern Einsteins, der Band „Afrikanische Plastik“³ erschienen – die Umschlagsgestaltung fungierte als Vorbild für das Layout der Berliner Ausgabe von Carl Einsteins Werken im Verlag Fannei & Walz. Wie schon bei der „Negerplastik“,⁴ die zu Beginn des Ersten Weltkrieges erschien, handelt es sich dabei um einen Kunstband mit kunstkritischem Essay und einer größeren Abteilung mit Bildtafeln, der sich mit afrikanischer Kunst – im damaligen Jargon sogenannter ‚primitiver Kunst‘ – befasste und eine Kulturtheorie dieser Artefakte entwarf. Im Gegensatz zum früher entstandenen Versuch nähert sich die Darstellungsweise in „Afrikanische Plastik“ den Gepflogenheiten der Kunstgeschichte an; Fußnoten und ein Literaturverzeichnis geben dem Buch einen wissenschaftlicheren Anstrich, die Bildtafeln werden zumindest gruppenweise kommentiert, während sich eine Ekphrasis in der „Negerplastik“ noch kaum fand. Für eine postkoloniale Forschungsperspektive, um die es im vorliegenden Beitrag nicht geht, ist noch anzumerken, dass in Einsteins Essay die Schwierigkeiten betont werden, die Artefakte historisch zu kontextualisieren, weil der Kolonialismus Traditionslinien zerstört habe. Ebenso wird der Begriff ‚Exotismus‘ kritisch kommentiert und die afrikanische Kunst als derart vielgestaltig ausgewiesen, dass die Idee einer ‚primitiven Kunst‘ in diesem Fall nicht hinreichend sei. Dieser Band war der Auftakt einer größeren Zusammenarbeit mit dem Wasmuth-Verlag. Drei Jahre später erschien dort das Buch „Der frühere japanische Holzschnitt“,⁵ das als Umschlagstitel „Der primitive japanische Holzschnitt“ trägt. Der Band ist wieder gleichermaßen in Essay und Bildtafeln aufgeteilt und erneut mit einem Literaturverzeichnis versehen. Es befasst sich mit Exponaten der titelgebenden Kunstform, betont erneut die hermeneutischen Schwierigkeiten im Umgang mit diesen Werken, deutet jedoch auch ihren inspirierenden Einfluss auf die europäische Moderne an. Während der Kubismus sich von den afrikanischen Skulpturen

3 Carl Einstein: Afrikanische Plastik, Berlin 1920. 4 Carl Einstein: Negerplastik, Leipzig 1915. 5 Carl Einstein: Der frühere japanische Holzschnitt, Berlin 1923.

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beeinflusst zeige, ist es beim japanischen Holzschnitt der französische Impressionismus, der die fremde Kunst aufgreife. Auf diese Weise sind beide Bände implizit Kommentare zur künstlerischen Moderne, auch wenn sie sich mit deutlich früher entstandenen Werken befassen. Daher sind sie nicht zuletzt auch als Ansätze zu einer Theorie der zeitgenössischen modernen Kunst zu lesen und in diesem Sinne Vorläufer oder Vorstudien von Einsteins „Die Kunst des 20. Jahrhunderts“.⁶ Sie nehmen einen zentralen Platz in seiner Theoriebildung ein. Im Jahr 1927 publizierte er bei Wasmuth ein schmales Buch über den russischfranzösisch-jüdischen Kostümbildner, Maler und Bühnenbildner Léon Bakst, bestehend aus einem einleitenden Essay sowie Bildtafeln und Abbildungen.⁷ Zudem hat Einstein ein Buch über Maurice Utrillo von Gustave Coquiot übersetzt und mit einer Einleitung versehen, das im Verlag 1925 erschienen ist.⁸ Eine Auflage der „Kunst des 20. Jahrhunderts“, eines seiner wichtigsten Bücher, widmete er Günther Wasmuth. Die Bücher erschienen in einem Verlag mit einem stark auf die Bildende Kunst und vor allem auch die Architektur ausgerichteten Profil. Er wurde 1872 in Berlin von Ernst Wasmuth gegründet.⁹ Für die zahlreichen und einschlägigen architekturgeschichtlichen Bände bereisten verlagseigene Fotografen die Welt, um neue Publikationen zu gestalten. Nach dem Tod des Verlagsgründers 1897 übernahm zunächst eine Schwägerin die Leitung, bis der Neffe Günther Wasmuth nach der Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg 1919 an die Spitze des Verlags trat.¹⁰ In diese Zeit fallen Herausgaben wie „Wasmuths Lexikon der Baukunst“ oder „Wasmuths Monatshefte für Baukunst“. Von 1920 bis 1927 erscheint die Reihe „Orbis Pictus – Weltkunstbücherei“,¹¹ die der Kunstkritiker Paul Westheim herausgab, der mit Einstein zusammen den „Europa-Almanach“ publizierte. Von 1922 bis 1929 erschien bei Wasmuth die Reihe „Orbis Terrarum“, 1926 wurden beispielsweise Paul Blossfeldts „Urformen der Kunst“ oder Paul Zuckers „Moderne Theater und Lichtspielhäuser“, das die Film- und Kinostadt Berlin in den Blick nahm, publiziert. In derselben Reihe, nämlich „Orbis Pictus“, und damit im gleichen Buchformat wie „Afrikanische Plastik“ nur mit einer anderen Rahmenfarbe bei sonst gleichartigem

6 Carl Einstein: Die Kunst des 20. Jahrhunderts, Berlin 1926, 2. überarbeitete Auflage 1928, 3. überarbeitete Auflage 1931. 7 Carl Einstein: Leon Bakst. 42 Tafeln und 6 Abbildungen. Mit einer Einleitung von Carl Einstein, Berlin 1927. 8 Gustave Coquiot: Maurice Utrillo, übers. und mit einer Einleitung versehen v. Carl Einstein, Berlin 1925. 9 Vgl. 125 Jahre Wasmuth. Katalog 97/98, Berlin 1998, S. 3. 10 Vgl. 125 Jahre Wasmuth [Anm. 9], S. 7. 11 Vgl. 125 Jahre Wasmuth [Anm. 9], S.7.

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Umschlagsdesign, erschien 1922 von Otto Burchard „Chinesische Kleinplastik“. Konzeptionell vergleichbar durch die Zweiteilung in Text- und Bildteil ist die „Kunstgeschichte des alten Peru“ von Walther Lehman und Heinrich Doering, erschienen 1924. Von 1905 bis 1928 wurde der sogenannte „Dehio“, das von Georg Dehio herausgegebene „Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler“, veröffentlicht.¹² Zur Redaktion gehörte auch Cornelius Gurlitt, der aber zudem selbst 1901 dort die Serie „Historische Städtebilder“ publizierte.¹³ Der „Dehio“ ist ein internationales Standardwerk, das über das gesamte 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart immer wieder neu aufgelegt wird, was als ein weiteres Zeichen dafür zu sehen ist, dass der Wasmuth-Verlag in seinen Themenbereichen zu den führenden Verlagen national und europaweit galt. Günther Wasmuth pflegte zahlreiche Freundschaften, nicht nur zu Carl Einstein, sondern auch etwa zu der Scherenschneiderin, Bühnenbildnerin und Buchillustratorin Lotte Reiniger, von deren 1926 entstandenem Silhouettenfilm „Die Abenteuer des Prinzen Ahmed“ eine Kunstmappe im Verlag erschien,¹⁴ und zu vielen weiteren seiner Autorinnen und Autoren, darunter auch vielen jüdischen. Wie viele geriet der Verlag in der Weltwirtschaftskrise in Schwierigkeiten, die Zusammenarbeit mit jüdischen Autoren wurde ab 1933 unmöglich. Bis 1943 leitete ihn Günther Wasmuth, der 1944 ins KZ Sachsenhausen gesperrt wurde.¹⁵ 1946 baute er das Unternehmen in Tübingen neu auf,¹⁶ in Berlin blieb eine gleichnamige Buchhandlung samt Antiquariat. Der weiterhin auf Kunst, Architektur und Archäologie spezialisierte Verlag existiert bis heute, musste aber aufgrund einer Insolvenz zuletzt eine Neustrukturierung durchführen. Günthers Bruder Ewald arbeitete von 1919 bis 1929 im Geschäft mit, er betreute die ausländischen Buchhandlungen und Verlage, vor allem in London.¹⁷ Seine Tätigkeit umfasste also genau die Zeit, in der Einstein dort publizierte. So ist die Verbindung der beiden entstanden.

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Vgl. 125 Jahre Wasmuth [Anm. 9], S. 12. Vgl. 125 Jahre Wasmuth [Anm. 9], S. 12. Vgl. 125 Jahre Wasmuth [Anm. 9], S. 7 und 22. Vgl. 125 Jahre Wasmuth [Anm. 9], S. 8. Vgl. 125 Jahre Wasmuth [Anm. 9], S. 9. Vgl. 125 Jahre Wasmuth [Anm. 9], S. 4.

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2 Carl Einsteins Briefe an Ewald Wasmuth Die überlieferten und edierten Briefe Einsteins an Ewald Wasmuth stammen aus dem Zeitraum von 1923 bis 1935 und setzen mit zwei Schreiben aus Italien ein. Klaus H. Kiefer und Liliane Meffre weisen in ihrer Edition der Briefe darauf hin, dass Ewald Wasmuth, seine Lebensgefährtin Sophia Kindsthaler, Günther Wasmuth und dessen Frau Else in der Korrespondenz eine kommunikative Einheit bilden, die Briefe sind also ein Zeugnis für die Freundschaft Einsteins zu beiden Brüdern.¹⁸ Eine Mitteilung wie der zweite, in Florenz geschriebene Brief aus dem November 1923 liefert einen Einblick in Einsteins theoretische Selbstreflektionen und nimmt einen Impuls von Wasmuths „Psychologie“¹⁹ auf, ohne dass zu ermitteln ist, auf welches Werk oder welche Äußerungen Wasmuths sich Einstein bezieht. Er selbst bekennt, der Psychologie lange ausgewichen zu sein, erst im Verlauf der zwanziger Jahre fließt diese in seine Theoriebildung ein. Er wirft für ihn damals zentrale Begriffe wie Totalität und Funktion auf und bezieht sich wie in einem oft zitierten Brief an Picassos Galeristen Daniel-Henry Kahnweiler auf Ernst Mach. Eine subjektivistische Psychologie lehnt er ab.²⁰ Im Frühjahr 1925 schreibt Einstein aus England an Ewald Wasmuth von seinen Arbeiten, die auch wieder die afrikanische Kunst betreffen werden. Er bemerkt: „Sie glauben nicht, wie man wundervoll von Ihrem Verlag spricht.“²¹ Er nimmt Bezug auf sein Buch „Afrikanische Plastik“, dessen Bildtafeln einem Kollegen besser gefallen hätten als die chinesischen bei Otto Burchard: Ich schreibe Ihnen das nur, damit Sie hoffen können, einen schönen grossen Erfolg mit dem Buch zu haben, den Sie mehr als verdient haben; denn er gehört ja vor allem Ihnen, die Sie mir durch alle Dummheit so opferwillig durchgeholfen haben.²²

Einstein schildert die Vorarbeiten zu einem weiteren Buch, das bei Wasmuth erscheinen soll, und berichtet von seinen Übersetzungsarbeiten für das Utrillo-Buch. Es scheint so zu sein, dass aus den Plänen für ein weiteres Afrikabuch bei Wasmuth in Zusammenarbeit mit dem Ethnologen Thomas Athol Joyce nichts geworden ist. Die Frage stellt sich, was dabei herausgekommen wäre. Einstein kündigt an,

18 Vgl. Carl Einstein: Briefwechsel 1904–1940, hg. v. Klaus H. Kiefer und Liliane Meffre, Berlin 2020, S. 343. 19 Einstein: Briefwechsel [Anm. 18], S. 343. 20 Vgl. Einstein: Briefwechsel [Anm. 18], S. 344. 21 Einstein: Briefwechsel [Anm. 18], S. 391. 22 Einstein: Briefwechsel [Anm. 18], S. 391.

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dass ich für diese Dinge einen mir neuen, vielleicht für einige Zeit brauchbaren Standpunkt gefunden habe – der allgemein geschichtlich interessant sein wird; der der Rücklagerung wie ich es nenne. als Schlusskapitel […] schreibe ich – Degeneration in die Primitive; das ganze wird bei aller nüchternen Tatsächlichkeit ein tragisches Buch.²³

Einstein muss Wasmuths Werke kennen, wie aus demselben Brief hervorgeht: „Wie gut wird es sein – lieber Ewald, wenn wir wieder in Ihrem ruhigen Zimmer sitzen, und Sie lesen die Arbeiten vor.“²⁴ Auch im April 1926 liest es sich so, als würde das Buch bald realisiert: „die Neger sind eingeleitet“.²⁵ Von einem Treffen mit André Gide ist die Rede²⁶ und von aktuellen und zukünftigen Übersetzungsarbeiten für den Verlag. Darunter findet sich auch eine Übertragung eines Vorworts von Paul Valéry für ein Buch des Verlagsmitarbeiters Martin Hürlimann.²⁷ 1927 schreibt Einstein wieder von einer Italienreise, vor allem von privaten Dingen und von seinem Projekt über Jean-Baptiste Corot (1796–1875), das bereits 1923 in der Zeitschrift „Querschnitt“ als baldige Publikation im Wasmuth-Verlag annonciert wurde, aber nicht erschienen ist.²⁸ 1929 kündigt Einstein das Erscheinen der Zeitschrift „Documents“ an und beschreibt den Unterschied zwischen Berlin und Paris, wo er inzwischen lebt: Im ganzen bin ich in Paris zufrieden; endlich bin ich aus dieser Berliner Neurasthenie und Schnoddrigkeit heraus; für Technik Naturwissenschaften eine wundervolle Stadt – für Litteratur und Kunst – ein Stall fast ohne Gäule.²⁹

Einstein geht auch auf Ewald Wasmuths Pläne ein, sich aus der Verlagsarbeit zurückzuziehen, und wünscht sich von ihm Nachrichten über Neuerscheinungen aus Philosophie und Naturwissenschaften³⁰ sowie das neuste Buch von ihm, bei dem es sich sicherlich um „Kritik des mechanisierten Weltbildes. Grundzüge einer MetaPhysik“ handelt.³¹ Im nächsten Brief aus dem Januar 1929 bedankt er sich bereits für das Buch, äußert sich jedoch nicht über den Inhalt und schlägt zudem vor, dass Wasmuth Beiträge für „Documents“ verfassen könnte. Dazu kam es nicht, jedoch zu

23 Einstein: Briefwechsel [Anm. 18], S. 397. 24 Einstein: Briefwechsel [Anm. 18], S. 397. 25 Einstein: Briefwechsel [Anm. 18], S. 415. 26 Vgl. Einstein: Briefwechsel [Anm. 18], S. 414. 27 Vgl. Einstein: Briefwechsel [Anm. 18], S. 416. 28 Vgl. Einstein: Briefwechsel [Anm. 18], S. 434. 29 Einstein: Briefwechsel [Anm. 18], S. 489. 30 Vgl. Einstein: Briefwechsel [Anm. 18], S. 489. 31 Ewald Wasmuth: Kritik des mechanisierten Weltbildes. Grundzüge einer Meta-Physik, Hellerau 1929.

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einem Beitrag für die Zeitschrift „Transition“,³² an der Einstein mitarbeitete und die auch englische Übersetzungen von Benns Prosa publizierte. Weiter schreibt er: „[I] ch führe ein so unpersönliches Leben, so entfernt von mir – dass ich kaum etwas zu sagen habe. Sie oder Benn sind so glücklich, in der Identität mit sich zu leben.“³³ Ob Benn diese Einschätzung seiner Person geteilt hätte? In einem Brief an Ewald Wasmuth und seine Partnerin aus dem Jahr 1930 spiegelt sich die Weltwirtschaftskrise: „Auch wir spueren diese Saukrise. Und wie.“³⁴ Er lebe zurückgezogen, schreibt „[v]on Benn hoere ich hie und da“,³⁵ womit es doch recht wahrscheinlich ist, dass die Freundschaft durch die Entfernung nach Berlin sukzessive eingeschlafen ist. Einstein sagt über Wasmuths Philosophie: Am Ende haben Sie recht mit Ihrem Fanatismus fuer Systeme. Wahrheit formal ja; oder als rettende Myte. Ich selber werde bewusst immer weniger systematisch, ich habe eine Abneigung gegen Syntesen. […] Bei mir ist die Geschichte mehr auf Lockerung und Humor gestellt. […] Nein, ich sehe im Systematischen stets die Grenze, wo ein Problem auftaucht, das von EINEM System nicht bewaeltigt werden kann. Nicht weil ich an Psychologie glaube; Deren Genetik ist meistens erdichtet.³⁶

In einem weiteren Brief aus dem April 1930 kündigt Einstein einen Aufsatz über Wasmuths „Kritik des mechanisierten Weltbildes“ an, der aber wahrscheinlich nie geschrieben wurde, und bittet um den Artikel für„Transition“ „ueber die moegliche Entwicklung der Metaphysik im kollektivistischen Zeitalter.“³⁷ Die auch im März 1931 wiederholte Ankündigung, auf Ewald Wasmuths Bücher einzugehen, erfüllt sich nicht. Die Gründe mögen sich aus der zu Einstein völlig differierenden Philosophie ergeben haben. Berlin findet er „abgesehen von Benn, trostlos eingeschlafen“.³⁸ Ausführlich klagt er im Oktober desselben Jahres über die krisenhaften Zustände in Frankreich, die „clarté aehnelt verzweifelt einem gemeinplatz. aber was wollen Sie, hier poebeln keine nazis“.³⁹ Im Juni 1932 wird der Ton pessimistischer, ohne zu ahnen, dass seine Worte eine prophetische Bedeutung erhalten werden:

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Vgl. Einstein: Briefwechsel [Anm. 18], S. 492. Einstein: Briefwechsel [Anm. 18], S. 491. Einstein: Briefwechsel [Anm. 18], S. 505. Einstein: Briefwechsel [Anm. 18], S. 505. Einstein: Briefwechsel [Anm. 18], S. 505–506. Einstein: Briefwechsel [Anm. 18], S. 514. Einstein: Briefwechsel [Anm. 18], S. 521. Einstein: Briefwechsel [Anm. 18], S. 525.

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ich moechte nicht als emigrant enden […] aber immer in einer fremden sprache leben, ist auf die dauer toetlich. […] natuerlich wird sowas den heutigen deutschen bei einem juden etwas merkwuerdig oder als mache vorkommen.⁴⁰

Er erkundigt sich nach den Schriften Heideggers: „[I]st eigentlich Heidecker gut?“⁴¹ Sein Interesse betont er auch im übernächsten Brief aus dem August des Jahres – „wie eigentlich ist Heidegger – geht das weiter als terminologische Verengung?“⁴² Ewald Wasmuth muss wohl ausführlich geantwortet haben, denn Einstein reagiert darauf im September mit einem Rundumschlag, der schließlich auch auf Gottfried Benn zielt: was Sie mir von Heidegger schreiben ueberrascht mich nicht, nachdem ich in sein leeres wesen vom grunde hineingeschaut habe. schon bei Husserl fand ich die problemstellung unoriginal, fuer mich bedeutet das lediglich terminologische spielerei; zumal ich die wesenschau bei Husserl ueberhaupt nicht versucht finde. ich habe den eindruck, dass er mit der ausschaltung des Empirism lediglich eine sprachliche sofistik betreibt; es fehlen ihm eben gaenzlich zu solchem Unterfangen die dazu notwendigen metafysischen kraefte. […] uebrigens finde ich seit langem den guten Benn etwas reichlich banal. schliesslich kann man das auf die dauer weder mit medizinischen terminis, noch mit metafern verdecken. die medizinerei bei Benn ist falsche, allegorische moderne.⁴³

Im letzten erhaltenen Brief an die Wasmuths aus dem Januar 1935 berichtet er vom Erfolg seines Buches über den Maler Georges Braque, von finanziellen und gesundheitlichen Sorgen und von seiner Mitarbeit am Film „Toni“.⁴⁴ Er hofft auf ein Wiedersehen mit ihnen. Ob sich dies realisiert hat, darf jedoch bezweifelt werden. Wie sich aus den Briefen erkennen lässt, verbindet Einstein mit den Wasmuths eine Freundschaft, die aus der Arbeit an den im Verlag erschienenen Büchern erwachsen ist. Hin und wieder streut Einstein kurze theoretische Reflexionen ein, meist ist der Inhalt aber privater Natur und kündet von gut oder schlecht laufenden Arbeitsprozessen und berichtet von den Umständen, in denen er sich gerade befindet. Auf die Bücher Ewald Wasmuths geht er nicht ein, was sich durchaus begründen lässt.

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Einstein: Briefwechsel [Anm. 18], S. 545. Einstein: Briefwechsel [Anm. 18], S. 546. Einstein: Briefwechsel [Anm. 18], S. 549. Einstein: Briefwechsel [Anm. 18], S. 550. Vgl. Einstein: Briefwechsel [Anm. 18], S. 579–580.

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3 Benns Briefe an Wasmuth Auslöser dieser Korrespondenz ist wie so oft die Übersendung von Büchern, hier aus dem Wasmuth-Verlag ein Buch über Indien von Martin Hürlimann, wobei es zuvor sicherlich in unregelmäßigen Abständen zu persönlichen Begegnungen gekommen ist. Benn erkundigt sich in seinem ersten überlieferten Brief vom 25. Dezember 1928 auch nach dem Erscheinungstermin von Wasmuths „Kritik des mechanisierten Weltbildes“.⁴⁵ Dieses Schreiben sowie Briefe aus dem Jahr 1929 zeigen, dass auch Benn mit dem Ehepaar Wasmuth verkehrte, und von Einsteins langjähriger Partnerin Gräfin Aga vom Hagen ist ebenfalls mehrfach die Rede,⁴⁶ in einem Schreiben aus dem März 1929 äußert er sich spöttisch über seinen früheren medizinischen Lehrer, den inzwischen in Halle als Philosoph lehrenden Theodor Ziehen.⁴⁷ Über das Oratorium „Das Unaufhörliche“ und den Essay „Goethe und die Naturwissenschaften“ berichtet er im Dezember 1931 Wasmuth kurz, aus dem Zusammenhang der Arbeit an „Dorische Welt“ schreibt er im März 1934 programmatisch, die Zukunft Deutschlands werde darin liegen, „vom Willen und von der Wahrheit zum Antithetischen und zum Ausdruckhaften zu führen, nämlich zum Stil.“⁴⁸ Am 18. Oktober1936 nutzt Benn seine Reaktion auf eine erneute Buchsendung, einen von Wasmuth herausgegebenen sprachwissenschaftlichen Band von Wilhelm von Humboldt, um von den Angriffen seitens der Propaganda der Nationalsozialisten zu berichten. Für die Zeit bis 1951 sind keine weiteren Briefe an Wasmuth überliefert, in dem Jahr schickt er Benn einen seiner vielen Pascal-Bände. „Mit Pascal habe ich mich in den letzten Jahrzehnten ja oft befasst, aber immer war es eine zwiespältige Begegnung, zu irgendeiner Klarheit über ihn bin ich nicht gelangt“, bekennt Benn im März dieses Jahres.⁴⁹ Wasmuth muss in seinem Brief an Carl Einstein erinnert haben, denn es folgt das eingangs erwähnte Zitat über diesen. Benn reflektiert sein „Come-back“ und den Umstand, dass in der Literaturwissenschaft viel über ihn geforscht wird, und erkundigt sich nach Aga vom Hagen. Ein weiterer Brief aus dem April des Jahres 1951 ist der letzte, der überliefert ist. Wasmuth hat Benn über Aga vom Hagens Tod im Jahr 1949 informiert und dieser berichtet vom Suizid seiner Frau Herta und seiner Heirat mit Ilse Kaul. Wie zu sehen ist, war das Verhältnis zwischen Einstein und Benn eingebettet in ein größeres Netzwerk von Freund- und

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Vgl. Benn: Absinth [Anm. 1], S. 42 und 396–397. Vgl. Benn: Absinth [Anm. 1], S. 44–45 und 46–47. Vgl. Benn: Absinth [Anm. 1], S. 45. Benn: Absinth [Anm. 1], S. 66 und 418. Benn: Absinth [Anm. 1], S. 232.

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Bekanntschaften, aus dem dann auch wichtige Impulse kamen, um den 1940 verstorbenen Autor im Deutschland der Nachkriegszeit wieder ins Bewusstsein der Literatur- und Kunstgeschichte zu heben.

4 Der Autor Ewald Wasmuth Bis 1929 war Ewald Wasmuth im Familienverlag tätig, aber schon vorher war er als Publizist aktiv. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien hier einige Bücher benannt, die er veröffentlicht hat: Nach der „Kritik des mechanisierten Weltbildes“ und der „Sphärentheorie“⁵⁰ aus dem Jahr 1931 erschienen 1935 das oben erwähnte Humboldt-Buch,⁵¹ 1936 „Der Mensch in der Mitte. Von den Bedingungen und Beschränkungen der Erkenntnis und von den Folgerungen hieraus auf die Theorien der neuen Physik“,⁵² 1940 in der Schweiz mit „Gedanken“ ein erster Band der Schriften von Blaise Pascal⁵³ sowie 1943 „Sophie oder über die Sprache“.⁵⁴ Im selben Jahr gab er eine dreibändige Novalis-Ausgabe heraus.⁵⁵ Nach dem Krieg trat er vor allem als Übersetzer, Herausgeber, Biograf und Interpret von Blaise Pascal in Erscheinung,⁵⁶ publizierte 1952 „Von der Wahrheit der Philosophie“⁵⁷ sowie 1955 über Kybernetik und Computer in „Der Mensch und die Denkmaschine“,⁵⁸ verfasste einzelne Essays und widmete sich publizistisch Carl Einstein, worauf zum Schluss dieses Beitrags noch eingegangen werden soll. Nach seinem Ausscheiden aus dem Verlag im Jahr 1929 publizierte er also schnell hintereinander, wobei sicherlich seine bis in die 1980er Jahre neu aufgelegten PascalAusgaben die größte Reichweite erzielten. 50 Ewald Wasmuth: Versuch einer Sphärentheorie, Berlin 1931. 51 Wilhelm von Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, Faksimile der Erstausgabe, hg. v. Ewald Wasmuth, Berlin 1935. 52 Ewald Wasmuth: Der Mensch in der Mitte. Von den Bedingungen und Beschränkungen der Erkenntnis und von den Folgerungen hieraus auf die Theorien der neuen Physik, Berlin 1936. 53 Gedanken. Von Pascal, hg. v. Ewald Wasmuth, Zürich u. a. 1940. 54 Ewald Wasmuth: Sophie oder über die Sprache, Berlin 1943. 55 Novalis: Briefe und Werke, 3 Bände, hg. v. Ewald Wasmuth, Berlin 1943. 56 Ewald Wasmuth: Die Philosophie Pascals. Unter besonderer Berücksichtigung seiner Lehren von dem Unendlichen und dem Nichts und den Ordnungen, Heidelberg 1949; Blaise Pascal: Über die Religion und über einige andere Gegenstände (Pensées), übers. und hg. v. Ewald Wasmuth, 4., gegenüber der 2. unveränd. Aufl., Tübingen 1948; Blaise Pascal: Die Kunst zu überzeugen und die anderen kleineren philosophischen und religiösen Schriften, übers. und hg. v. Ewald Wasmuth, 3., veränd. u. neu durchges. Aufl., Heidelberg 1963. 57 Ewald Wasmuth: Von der Wahrheit der Philosophie, Köln und Olten 1952. 58 Ewald Wasmuth: Der Mensch und die Denkmaschine, Köln und Olten 1955.

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Um das Denken Ewald Wasmuths ein wenig kennenzulernen, seien die Inhalte einiger seiner nach dem Krieg entstandenen Schriften skizziert, die sich jedoch in ihrer Ausrichtung nicht prinzipiell von den früheren Schriften unterscheiden. Eins kann vorausgeschickt werden: Seine Position lässt sich durchaus als christlich beeinflusst und eher konservativ bezeichnen, was, wie gezeigt werden soll, nicht im Gegensatz zu seiner Zuneigung zu Einstein und Benn steht. Wahrscheinlich haben seine Schriften nicht die Aufmerksamkeit der Nationalsozialisten geweckt, weil sie derart allgemeine philosophische Probleme behandelten, dass sie keiner konkreten politischen Richtung zuzuordnen waren. Werke eines lange verstorbenen Philosophen, eines Romantikers und dann auch noch in der Schweiz herauszugeben, fiel sicherlich nicht unter eine Zensur. Dass er unmittelbar nach Kriegsende publizieren konnte, zeigt, dass er für die Alliierten ebenfalls unverdächtig war. Auch wenn sein Denken konservativ war, war seine Begeisterung für Pascal ein typisches Zeichen für die Moderne, wie er selbst bemerkt hat,⁵⁹ vor allem die PascalRezeption Friedrich Nietzsches sieht er als Motor für dessen Wiederentdeckung.⁶⁰ Von evangelischer wie katholischer Seite wurde Pascal im 20. Jahrhundert rege rezipiert.⁶¹ Zwei kleine Beispiele für literarische Pascal-Bezugnahmen seien genannt: Zum einen findet sich in Ödön von Horvaths „Jugend ohne Gott“ ein Dialog zwischen einem Priester und der Hauptfigur über Pascal,⁶² woraufhin der Protagonist am Schluss der Erzählung als Missionar nach Afrika geht. Das andere Beispiel ist Gottfried Benn, der sich u. a. in seinem Essay „Franzosen“ mit Blaise Pascal befasst. Auch er betont dessen Modernität und erwähnt die Rezeption durch Nietzsche.⁶³ Schließlich macht er ihn gar zu einem Vorläufer seiner eigenen Poetologie: „[H]ier beginnt auch innerhalb Europas das Artistische, die Wortkunst des

59 Vgl. Ewald Wasmuth: Der unbekannte Pascal. Versuch einer Deutung seines Lebens und seiner Lehre, Regensburg 1962, S. 157: „Pascals Sätze aber wirken, wenn man von einigen Abschnitten absieht, die zeitbedingt waren, wie die Sätze eines Autors unserer Tage und 300 Jahre nach seinem Tode anscheinend intensiver als je zuvor.“ 60 Vgl. Wasmuth: Der unbekannte Pascal [Anm. 59], S. 158. Siehe auch Nietzsches Aussage in „Ecce Homo“: „Dass ich Pascal nicht lese, sondern liebe, als das lehrreichste Opfer des Christenthums, langsam hingemordet, erst leiblich, dann psychologisch, die ganze Logik dieser schauderhaftesten Form unmenschlicher Grausamkeit“. http://www.nietzschesource.org/texts/eKGWB/EH (11. September 2022.) 61 Hier seien exemplarisch Karl Löwith oder Romano Guardini genannt. 62 Vgl. Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott, Stuttgart 2009, S. 44: „Wie sagt Pascal? ‚Wir begehren die Wahrheit und finden in uns nur Ungewissheit. Wir suchen das Glück und finden nur Elend und Tod.‘“ 63 Vgl. Gottfried Benn: Franzosen, in: Ders.: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, Bd. IV: Prosa 2. 1933–1945, hg. v. Gerhard Schuster, Stuttgart 1989, S. 255–259, hier: S. 255–257. Im Folgenden wird auf diese Ausgabe mit der Sigle (SW I–VII/2) im laufenden Text hingewiesen.

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Absoluten –, schon hier!“ (SW IV, 256) Friedrich Wilhelm Oelze geht im Briefwechsel auf Benns Gedanken über Pascal ein,⁶⁴ der Name des Philosophen fällt in der Korrespondenz über die Jahre immer wieder. Die „Kritik des mechanisierten Weltbildes“, das in der überlieferten Korrespondenz mit Einstein am häufigsten genannt wird, ist ein dickes Buch von fast sechshundert Seiten, das zum Ziel hat, eine neue Metaphysik zu begründen. Es konstatiert, dass in der Gegenwart (von 1929) ein physikalisches Weltbild vorherrschend sei. So notiert Wasmuth im Vorwort: Es schien fast unmöglich, sich aus dem Bann der Dogmen der Naturwissenschaften zu befreien; hat doch diese in den Erfolgen der Technik die überzeugendste Unterstützung, den sinnfälligsten Beweis für ihre Wahrheiten gefunden. Jeglicher Idealismus der philosophischen Überlieferungen, jegliche Verkündigung göttlicher Allmacht von den Altären der Kirchen ist von den ratternden Motoren und surrenden Maschinen in hoffnungslose Defensive gedrängt.⁶⁵

Aber die Wissenschaft habe keine Antwort auf die Frage nach dem Absoluten, sie kenne nur das Relative. Hier bezieht Wasmuth sich auf die Erkenntnisse von Albert Einsteins Relativitätstheorie(n). Es sei die Aufgabe einer Metaphysik, dieses Absolute zu bestimmen. Wasmuth greift dafür den Begriff der Totalität auf, den auch Carl Einstein in den 1910er Jahren aufgeworfen hat. Hier wäre womöglich ein Anschlusspunkt für Einstein gewesen, es ist aber wahrscheinlich, dass der schiere Umfang und die thematische Ausrichtung einer tieferen Auseinandersetzung mit dem Buch im Wege standen. Wichtig ist Wasmuth der Begriff des Geistes, denn nur er schaffe es, eine Einheit zwischen den Dingen zu erzeugen. Für den Versuch, eine Metaphysik zu begründen, kündigt er jedoch an, auf die Theorien von Ludwig Boltzmann, Hermann Minkowski, Albert Einstein und Max Planck zurückzugreifen, die er wiederum mit dem Denken Platons und Augustinus’ zu verbinden versucht. Wasmuth ist bewusst, dass sein Buch nicht dem wissenschaftlichen Zeitgeist folgt – das lässt sich insofern bestätigen, als es weder einem szientistischen Naturalismus noch einem im religiösen Kanon eingebetteten Theismus entspricht – und doch ist die Beschwörung von Geist und Schicksal als zentrale Begriffe durchaus zeittypisch. Es würde den Rahmen sprengen, das Buch in seinem vollständigen Gedankengang zu referieren. Zwei Aspekte seien daher herausgegriffen: Auf den Begriff der Totalität in der Physik antwortet er mit der Einsicht, die er auch Ernst Mach zuspricht, dass jede Erkenntnis von der Welt immer die eines Subjektes ist. Daher werde der Geist

64 Vgl. Gottfried Benn und Friedrich Wilhelm Oelze: Briefwechsel 1932–1956, hg. v. Harald Steinhagen, Stephan Kraft und Holger Hof, Bd. I: 1932–1941, Stuttgart und Göttingen 2016, S. 350. 65 Wasmuth: Kritik des mechanisierten Weltbildes [Anm. 31], S. 15.

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in den Mittelpunkt gestellt. Wasmuth setzt sich also nicht mit den logischen Problemen, die das Konzept von Totalität impliziert, auseinander, sondern betont nur wieder die Bedeutung des Geistes, um die über die Physik hinausreichende Welt zu erkennen. Ewald Wasmuths Philosophieren ist dabei deutlich von Pascal beeinflusst. Sein Büchlein „Von der Wahrheit der Philosophie“ von 1952, das auf einem Vortrag an der Technischen Hochschule Darmstadt fußt, betont etwa, dass die Aufgaben der Philosophie nicht von den exakten Wissenschaften übernommen werden können⁶⁶ – er verteidigt demnach die Metaphysik gegen positivistische oder naturalistische Positionen. So lassen sich auch die Vorkriegstitel, wie die „Kritik des mechanisierten Weltbildes“ von 1929 oder die Interpretation der neuesten physikalischen Entwicklungen wie etwa der Quantenphysik und Relativitätstheorie deuten, die er in den nach dem Krieg publizierten Schriften unternimmt. In der Philosophie gebe es nicht den Fortschritt hin zu einer absoluten philosophischen Wahrheit wie in den Naturwissenschaften.⁶⁷ Die Gegenwart sei nicht weiser als Sokrates. Auch in „Von der Wahrheit der Philosophie“ kommt er auf eines seiner wichtigsten Themen zu sprechen: die Sprache als das Medium der Philosophie. Er sieht sich fast mit Heidegger im Einklang, wenn er sagt, die „Wahrheit der Philosophie liegt in den Worten eingeschlossen“,⁶⁸ aber überwiegend sind seine Äußerungen zu Heidegger ablehnend. Er vergleicht die Sprache der Philosophie mit einem Goethe-Gedicht: Dessen Bedeutung erschließe sich nicht durch eine Inhaltsangabe, in der Lyrik finde sich ein Bedeutungsüberschuss, der sich nicht transkribieren lässt. So verhalte es sich auch mit der Wahrheit der Philosophie: Sie entziehe sich dem sprachlichen Zugriff. Eine weitere Kernthese Ewald Wasmuths ist, dass im philosophischen Deuten der Welt der Mensch immer auf sich selbst trifft, seine Aussagen seien immer solche über den Menschen,⁶⁹ und deswegen habe die Philosophie „nichts mit Gott und den Fragen, die der Theologie gestellt sind, zu schaffen“.⁷⁰ Im Prinzip läuft sein Denken auf das Schibboleth der Theologie hinaus, Deus totaliter aliter, Gott ist ganz anders als das, was der Mensch sich vorstellen kann, seine Begriffe sind nicht hinreichend. Das entspricht der modernen Theologie etwa eines Karl Barth: [D]ie Existenz des einzelnen Menschen, des Individuums, als Person innerhalb des mystischen Leibes Jesu und untertan dem wirklichen Urbild des Menschen, ist die Wahrheit der Religion,

66 67 68 69 70

Wasmuth: Von der Wahrheit [Anm. 57], S. 20. Vgl. Wasmuth: Von der Wahrheit [Anm. 57], S. 19. Wasmuth: Von der Wahrheit [Anm. 57], S. 23. Vgl. Wasmuth: Von der Wahrheit [Anm. 57], S. 67. Wasmuth: Von der Wahrheit [Anm. 57], S. 67

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die nicht mehr Wahrheit, sondern Wirklichkeit ist […], was unfaßbar die Vernunft übersteigend, nicht ein Bild in Worten und doch ein Abbild ist.⁷¹

Mit derartigen Aussagen ist Wasmuth ein typischer Vertreter seiner Zeit. Benn sprach etwa von einer „Rechristianisierung“ (SW V, 218), die im 20. Jahrhundert ein Trend war, der sich zum Ende des Zweiten Weltkriegs und in den 1950er Jahren besonders zeigte. Wasmuths Artikel über Ludwig Wittgenstein schlägt in eine ähnliche Kerbe.⁷² Der Artikel ist ebenfalls 1952 in einer religiös orientierten Zeitschrift erschienen und deutet Wittgenstein auf diese christianisierende Weise. Wasmuth zeigt sich hier wie in früheren und späteren Schriften gut informiert über die Entwicklungen in den Naturwissenschaften, immer wieder setzt er sich mit den Positionen des Wiener Kreises auseinander und referiert auf physikalische Theorien. Die fragmentarischen „Philosophischen Untersuchungen“ Wittgensteins sind zu dem Zeitpunkt der Veröffentlichung des Artikels noch nicht erschienen, Wasmuth weiß aber, dass sie in Vorbereitung sind.⁷³ Zusammenfassend lässt sich über diesen Aufsatz sagen, dass er sich auf den Schluss des „Tractatus“ konzentriert: Dinge, die sich nicht mit Sprache darstellen lassen, zeigen sich stattdessen – es ist das Mystische, und worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen. Allerdings hält er Wittgenstein nicht für einen Skeptiker, sondern betont vielmehr dessen Missbehagen an Philosophie und Metaphysik: Wir müssen erkennen, daß dieses ganze Wissen, das unseren Glauben an uns als Menschen zwischen Tier und Übermensch begründet, nichts wert ist, daß es keine Erklärung dafür gibt, daß die Welt ist und daß unsere Beschreibungen dessen, wie die Welt ist, wohl nützlich im Alltag, doch nichts außerdem sind.⁷⁴

Er deutet Wittgensteins zwischenzeitliche Entscheidung gegen das Akademische und für die Volksschule als Entscheidung für das sittliche Schweigen, rückt ihn gar in die Nähe zum Christlichen. „Nur im gebildeten Wort zeigt sich die Wirklichkeit über der Welt, nur hier leuchten die Sternbilder jenes Reiches, das uns übersteigt“,⁷⁵ womit er wohl so etwas wie den allegorisch-mystischen Gehalt von Dichtung und einer dichterischen Philosophie wie derjenigen eines Blaise Pascal meint.

71 Wasmuth: Von der Wahrheit [Anm. 57], S. 70. 72 Ewald Wasmuth: Das Schweigen Ludwig Wittgensteins. Über das Mystische im Tractus logicophilosophicus, in: Wort und Wahrheit 7 (1952), H. 2, S. 815–822. 73 Vgl. Wasmuth: Das Schweigen [Anm. 72], S. 815. 74 Wasmuth: Das Schweigen [Anm. 72], S. 821. 75 Wasmuth: Das Schweigen [Anm. 72], S. 822.

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Mit dieser Haltung lässt sich auch die literarische Form des Buchs „Sokrates und der Engel“ von 1945 erklären,⁷⁶ das bemerkenswerterweise den großen Krieg nur in einem Nebensatz erwähnt. Bei einer Art abendlichem Symposium beim Wein treffen Figuren zusammen, die nacheinander philosophische Reden halten. Der Ich-Erzähler ist sich nicht sicher, ob er das erlebt oder nur geträumt habe. Die Figuren nehmen unterschiedliche Positionen ein, die erste eine eher physikalistische, die zweite eine poetische (nur in der Dichtung ist Wahrheit), die dritte vertritt einen aristotelischen Entelechie-Gedanken, nach dem das wahre Ziel außerhalb des Weltlichen liege, aber zugleich im Menschen angelegt sei und daher nur Gott sein könne.⁷⁷ Zuletzt gibt es eine Zurechtweisung Sokratesʼ durch den Engel Michael, dass die Philosophie nicht ausreiche, um zur Wahrheit zu kommen: „Verstehe, kein Begriff reicht aus, um das Unbegreifbare zu erfassen, und doch ist nunmehr dem Herzen des Menschen in seiner Demut alles offenbar.“⁷⁸ Die „Traumstimme“ des Engels rät Sokrates: „Mache Musik. Sokrates, mache Musik.“⁷⁹ Dies scheint von Carl Einsteins Denken weit entfernt, aber das Motiv des Schweigens und die Klage über die Schwäche des Begriffs finden sich auch bei ihm. Nicht umsonst befasst er sich in seiner Pantomime „Nouronihar“ mit dem Medium des Tanzes, gestaltet eine schweigende Figur. Die Aufwertung der Dichtung und Musik, die jedoch zugleich hinterfragt wird, ist durchaus auch bei Benn zu finden. Bemerkenswert ist weiterhin Wasmuths Buch „Der Mensch und die Denkmaschine“,⁸⁰ das auf einen Vortrag in Wien und einen in Heidelberg auf Einladung von Karl Löwith zurückgeht, sicherlich eine der frühen philosophischen Auseinandersetzungen mit den Folgen des computerisierten Zeitalters und der Kybernetik Oswald Wieners,⁸¹ von dem er dankbar die Unterscheidung aufgreift, dass Information nichts Materielles sei. Er bezeichnet dies als letzte Stufe des Materialismus. Das Buch greift seine Sprachtheorie wie auch den Entelechie-Gedanken auf, der im Vitalismus eines Hans Driesch ebenso eine Rolle spielt. Vitalistische Ideen finden sich bei Einstein und Benn, vor allem in den Werken der 1910er Jahre. Und so ist es wohl kein Zufall, dass Wasmuth Gottfried Benns „Probleme der Lyrik“ als Zeugen für die Entelechie aufruft. Er zitiert dessen Aussage, dass das Gedicht schon fertig sei, ehe es begonnen habe, nur der Dichter kenne den Text noch nicht (vgl. SW VI,

76 Ewald Wasmuth: Sokrates und der Engel. Ein Gespräch über die Wahrheit und das Ziel des Menschen, Berlin 1945. 77 Vgl. Wasmuth: Sokrates [Anm. 76], S. 103. 78 Wasmuth: Sokrates [Anm. 76], S. 165. 79 Wasmuth: Sokrates [Anm. 76], S. 166. 80 Ewald Wasmuth: Der Mensch und die Denkmaschine, Köln und Olten 1955. 81 Die Technische Hochschule Aachen bestellte den Band für ihr Mathematisches Institut.

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20).⁸² Auch „Der Mensch und die Denkmaschine“ endet mit der These, dass des Menschen Ziel die Loslösung vom Weltlichen und damit Gott sei, und schließt mit dem Zitat eines Novalis-Gedichtes. Kurz vor seinem Tod erinnerte Wasmuth noch einmal eindringlich an Carl Einstein: Er schrieb einen Aufsatz über den „Bebuquin“.⁸³ Wasmuths Aufsatz ist im persönlichen Ton gehalten, er zitiert aus Einsteins Briefen an ihn, hebt vor allem die literarische Bedeutung seiner frühen Werke hervor, die „Negerplastik“ habe die Menschen afrikanische Kunst als solche erst erkennen lassen. Er lobt die „Kunst des 20. Jahrhunderts“, hält von dem Drama „Die schlimme Botschaft“ nichts, auch wenn er den Gotteslästerungsprozess um diese Publikation für überflüssig hält. Er sieht im „Bebuquin“ ein literarisches Äquivalent zur kubistischen Malerei, es werde ein neues Sehen propagiert, das sich gegen Kants Lehre vom synthetischen Apriori richte.⁸⁴ Es handele sich um „ein zutiefst melancholisches Buch. Die Groteske ist nur Flucht vor der Trauer, die ihn nie losließ, Flucht vor der Leere, der beschämenden Leere, vor dem Nichts, dem Tod.“⁸⁵ Wasmuth verknüpft den Essay „Totalität“ mit dem Denken, das er im „Bebuquin“ gestaltet sieht. Der Mensch sei ein Dilettant, der nicht in der Lage sei, den Tod auszulöschen, kein Wunder sei möglich. Er stellt den Text in die Nähe zu James Joyce und den Dramen Samuel Becketts. Die beste Deutung des „Bebuquin“ finde sich in Einsteins Aufsatz über William Beckfords Roman „Vathek“, der von Stéphane Mallarmé neu ediert und – was Wasmuth verschweigt – von Franz Blei übersetzt wurde. „Vathek“ bildet das Bild-, Sprachund Figurenmaterial für Einsteins Pantomime „Nouronihar“. Hier erwähnt Wasmuth nun wiederum Benn, der die Stilfrage noch stärker betone: „Ähnlich schrieb mir Gottfried Benn nach einem langen Gespräch, in dem ich ihn wegen seiner Haltung nach 1933 angegriffen hatte, zu seiner Verteidigung.“⁸⁶ Es folgt das bereits angeführte Zitat vom Willen zum Ausdruckhaften und zum Stil: Benn hatte die Marschkolonnen der SA und SS mit Stil verwechselt, und er ist nicht der einzige gewesen, der in der Erinnerung an die ästhetische Haltung von Stefan George dieser Täuschung erlegen ist.⁸⁷

82 Vgl. Wasmuth: Der Mensch und die Denkmaschine [Anm. 80], S. 108. 83 Vgl. Ewald Wasmuth: Die Dilettanten des Wunders. Versuch über Carl Einsteins „Bebuquin“, in: Der Monat 14 (1962), H. 1, S. 49–58. 84 Vgl. Wasmuth: Die Dilettanten [Anm. 83], S. 51. 85 Wasmuth: Die Dilettanten [Anm. 83], S. 52. 86 Wasmuth: Die Dilettanten [Anm. 83], S. 57–58. 87 Wasmuth: Die Dilettanten [Anm. 83], S. 58.

Ewald Wasmuth, Gottfried Benn und Carl Einstein: Eine Spurensuche

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Über Einstein schließt er seinen Aufsatz, dass nichts widersprüchlicher sein [kann] als der Eindruck, den man bei flüchtiger Lektüre von den wenigen Seiten mitnimmt, die Carl Einstein hinterlassen hat und die Gewicht unter den Stimmen der Zeit haben.⁸⁸

Einsteins erste Frau Maria Ramm dankte Wasmuth für den Aufsatz in einem Brief, der sich in Liliane Meffres Besitz befindet.⁸⁹ Aber Wasmuth erinnerte nicht nur auf diese Weise an Einstein, er gab auch im Insel-Verlag den „Bebuquin“ heraus und versah ihn mit einem Nachwort,⁹⁰ dies war in Wasmuths Todesjahr 1963 ein früher Versuch den Text zu kanonisieren. Es darf auch nicht vergessen werden, dass die erste Ausgabe von Einsteins Werken, herausgegeben von Ernst Nef, 1962 im Limes Verlag erschienen ist,⁹¹ und damit im weiteren Sinne aus dem geistigen Umfeld Benns stammt. Gottfried Benn hatte wahrscheinlich auch dafür gesorgt, dass Einsteins Gedicht „Tötlicher Baum“ in die Anthologie „Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts. Von den Wegbereitern bis zum Dada“ aufgenommen wurde.⁹² Das intellektuelle Freundschafts-Netzwerk, zu dem Einstein und Benn gehörten, hatte auch lange nach Ende des Zweiten Weltkrieges Bestand. Die Kenntnis derartiger Netzwerke ist ein nicht unbedeutender Schlüssel zum Verständnis ihrer Schriften.

88 Wasmuth: Die Dilettanten [Anm. 83], S. 58. 89 Vgl. Einstein: Briefwechsel [Anm. 18], S. 546. 90 Carl Einstein: Bebuquin oder Die Dilettanten des Wunders. Mit einem Nachwort von Ewald Wasmuth, Frankfurt a. M. 1963. 91 Carl Einstein: Werke, hg. v. Ernst Nef, Wiesbaden 1962. 92 Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts. Von den Wegbereitern bis zum Dada. Eingeleitet von Gottfried Benn, hg. v. Max Niedermayer, Wiesbaden 1955. Dort als „Tödlicher Baum“ abgedruckt.

Hubert Roland

Neue Materialien zu Gottfried Benns Vortrag in Knokke (1952) und zu seiner deutsch-französischen Mittlerfunktion in der Nachkriegszeit Abstract: Auf der Grundlage von unveröffentlichten Briefen zwischen Gottfried Benn und den Veranstaltern der „Biennale Internationale de Poésie“ in Knokke Pierre-Louis Flouquet und Arthur Haulot werden die besonderen Modalitäten von Benns Einladung und die Entstehung von seinem Vortrag in Knokke im Jahr 1952 nachgezeichnet. Interessant ist, wie ein politisch gefördertes belgisch-französisches Netzwerk um die Zeitschrift „Le Journal des Poètes“ in den frühen Jahren der Bundesrepublik Nachdruck auf die Bedeutung von Benn als einem europäischen Dichter und einem intellektuellen Vermittler zwischen Deutschland und der Frankophonie legte. Mit einer scheinbaren Lässigkeit wusste er sich diese Funktion für ein paar Jahre sehr geschickt anzueignen.

Der folgende Beitrag widmet sich einer kommentierenden Darstellung von unveröffentlichten Briefmaterialien zur Einladung von Gottfried Benn zur ersten „Biennale Internationale de Poésie“, die vom 11. bis zum 15. September 1952 in der belgischen Küstenstadt Knokke an der Nordsee in unmittelbarer Nähe der belgischniederländischen Grenze stattgefunden hat. Im Brüsseler Nachlass der „Biennales“ und ihres Co-Veranstalters, des Schriftstellers und Malers Pierre-Louis Flouquet,¹ befinden sich reiche Quellenmaterialien zur Vorbereitung und Organisation dieses Ereignisses und zu einer ebenfalls 1952 veröffentlichten, von Flouquet geleiteten thematischen Ausgabe der Zeitschrift „Le Journal des Poètes“ zur deutschen Dichtung der Gegenwart. Aus

Danksagung: Ich bedanke mich herzlich bei Antje Büssgen, Holger Hof und Stephan Kraft für ihre aufmerksame Lektüre dieses Aufsatzes und ihre anregenden Bemerkungen. 1 Dieser Nachlass befindet sich in den „Archives et Musée de la Littérature“ (AML), einem von der Französischen Gemeinschaft Belgiens anerkannten Archiv- und Forschungszentrum, das sich der Untersuchung der französischsprachigen Literatur Belgiens widmet. Es befindet sich im Gebäude der Königlichen Bibliothek Belgiens (KBR). Hubert Roland, Louvain-la-Neuve https://doi.org/10.1515/9783111102740-012

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ihnen ergibt sich, dass eine weitere Zusammenarbeit der belgischen Dichter und Intellektuellen mit Benn geplant war. Die unveröffentlichten Briefe, die Gottfried Benn den Veranstaltern vor und nach dem Ereignis zukommen ließ, ergänzen die im Deutschen Literaturarchiv Marbach vorliegenden Schreiben, die Flouquet und Arthur Haulot, der ebenfalls an der Organisation des Kongresses mitwirkte, bis 1955 an Benn richteten.

1 Eine Zeitschrift und ein Netzwerk im Dienst der Dichtung Die öffentliche, durch die belgische Politik großzügig geförderte Veranstaltungsreihe „Biennales Internationales de Poésie“ war der Initiative eines literarischen Netzwerks um die seit 1931 erscheinende Zeitschrift „Le Journal des Poètes“ zu verdanken.² Dieses ursprünglich wöchentlich erscheinende Journal, das die internationale Lyrik zum Gegenstand hatte, hatte schon vor dem Zweiten Weltkrieg großes Ansehen für die Vermittlung von ausländischer Dichtung in französischer Sprache erlangt. Dank eines besonders produktiven Netzwerks von Vermittler:innen und Übersetzer:innen, hatte sich die Zeitschrift als ein prominentes Forum europäischer und internationaler Dichtung der Gegenwart etabliert.³ Das Ehepaar Claire und Yvan Goll hatte dabei etwa für die deutschsprachige Dichtung von Anfang an eine einflussreiche Position. Seit der Wiederaufnahme der Publikation 1946 wurde sie von Flouquet und Haulot geleitet und entwickelte mit dem Projekt der Dichtungsbiennalen bald neue Ambitionen. Auch wenn das „Journal des Poètes“ seine besten Zeiten in diesen Jahren erlebte, erscheint es in unterschiedlichen Formen ununterbrochen bis heute und vertritt immer noch die Idee von Belgien als einem Land der Poesie. Historischer Gründer war also Pierre-Louis Flouquet (1900–1967), ein in Brüssel lebender französischer Dichter und Maler, der eine Zeit lang in der gleichen Werkstatt wie René Magritte tätig gewesen war. Auch als Herausgeber der Zeitschrift „7 Arts“ und vorübergehender künstlerischer Leiter der von Henri Barbusse in Paris gegründeten Wochenschrift „Monde“ hatte er schon früh zahlreiche Kontakte ins Ausland und insbesondere in die französische Kulturmetropole geknüpft.

2 Vgl. Bibiane Fréché: Littérature et société en Belgique francophone (1944–1960), Brüssel 2009, S. 181–189. 3 Vgl. Laurent Béghin und Hubert Roland: La première série du Journal des Poètes (1931–1935) de Pierre-Louis Flouquet et son réseau de médiateurs, in: Textyles 52 (2018), S. 93–110; online unter: http://journals.openedition.org/textyles/2810 (8. März 2023).

Neue Materialien zu Gottfried Benns Vortrag in Knokke (1952)

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Der jüngere, aus Lüttich stammende Dichter Arthur Haulot (1913–2005) galt als der tatsächliche Initiator der „Biennales“, die eine Veranstaltung im Dienst der Bildung einer europäischen Zivilgesellschaft durch Internationalisierung und durch die Vermittlung der Poesie darstellen sollte. Die große moralische Autorität Haulots hing damit zusammen, dass er wegen seiner Teilnahme am Widerstand 1941 in Brüssel verhaftet, zunächst vier Monate ins Konzentrationslager Mauthausen und dann nach Dachau verschleppt worden war, wo er bis zur Auflösung des Lagers am 6. Juni 1945 interniert blieb. 1946 verarbeitete er diese tragische Erfahrung im Gedichtzyklus „Si lourd de sang“.⁴ Es konnte im Rahmen der Vorbereitung dieses Aufsatzes nicht geklärt werden, ob Haulot und die übrigen Veranstalter über Benns vorübergehendes Engagement im Dienst des Nationalsozialismus informiert waren, aber man kann vermuten, dass diejenigen, die Benns Einladung begünstigt haben (und die bis jetzt nicht identifiziert werden konnten), diesbezüglich diskret blieben. Denn als Widerständler und Dachau-Überlebender hätte Haulot wahrscheinlich bei genauer Kenntnis der Sachlage Einwände gegen Benns Teilnahme erhoben.

2 Zu den ersten Kontakten 1951 und zur Sondernummer des „Journal des Poètes“ Wer in der Umgebung von Flouquet den Namen Benn vorgeschlagen hat, bleibt also unklar. Fest steht aber, dass seine Teilnahme schon bei der Entstehung des Projekts ein Jahr zuvor anlässlich eines ersten Europäischen Dichtertreffens in Knokke in Betracht gezogen und konkret in Angriff genommen worden war. So erhält Benn am 13. August 1951 ein Schreiben vom Deutschen Auswärtigen Amt mit der Einladung zu diesem Treffen, das vom 7. bis zum 11. September stattfinden sollte und sich, so das Auswärtige Amt, „unter dem Patronat des belgischen Außenministeriums, des Erziehungsministeriums, der Vereinigung belgischer Schriftsteller, der Unesco usw.“ befand:

4 Arthur Haulot: Si lourd de sang, Brüssel 1946. Der ostbelgische Dichter Leo Wintgens hat diesen Text ins Deutsche übertragen und eine neue zweisprachige Ausgabe des gesamten Dachau-Gedichtzyklus herausgegeben: Vgl. Arthur Haulot: Remember. Cycle de Dachau-Zyklus (Si lourd de sang – Mit Blut durchtränkt). Poème pour l’Europe – Gedicht für Europa, übers. v. Léo Wintgens, in: Helios & Obelit III (2007). Alle biographischen Angaben über Haulot stammen aus dieser Publikation (S. 5– 11).

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Das Organisationskomitee des Dichtertreffens hat der Deutschen Botschaft in Brüssel mitgeteilt, dass es beabsichtige, Sie einzuladen und Ihnen die Vizepräsidentschaft zu übertragen.⁵

In seinem Brief an Oelze vom 16. August geht Benn auf die genaueren Rahmenbedingungen dieser Initiative ein: Etwas Seltsames hatte sich begeben. Ich wurde vom belgischen Ministerium eingeladen, zu einem Europäischen Dichtertreffen in Knokke zu kommen vom 7.–11. IX, freie Fahrt in Belgien, Hotel und die Ankündigung, dass ich zum Vicepräsidenten der Tagung gewählt werden sollte, einerseits als Ehrung für meine Person, zweitens als Ausdruck dafür, dass man die kulturellen Beziehungen zu Deutschland als besonders wertvoll betrachte. Der belgische Gesandte in Bonn sei angewiesen, die Bundesregierung zu bitten, mich als Deutschen Delegierten zu signieren u. mir von Berlin bis zur Grenze ebenfalls freie Reise zu gewähren. Ich war verblüfft und liess das Schreiben liegen, aber dann kam tatsächlich aus Bonn: Auswärtiges Amt ein amtliches Schreiben per Luftpost und Eilboten, das mir davon Mitteilung machte und um meine Entscheidung bat.⁶

Daraufhin erteilt Benn den Belgiern eine höfliche Absage aus Gesundheitsgründen und zieht es vor zu Oelze nach Bremen zu fahren. Diesem signalisiert er noch privatim, dass die Angelegenheit ihn langweile: Ich habe keine Lust; die Dichtertreffen werden dort eben so blöd sein wie bei uns, außerdem ist es anstrengend und kostet Geld und mit meinem Französisch ist es auch nicht mehr weit her. Immerhin, der Belgische Außenminister, die Unesco, der PENclub und viele herrliche Körperschaften standen unter den Namen des Ehrenausschusses. Aber das ist nichts für mich, ich kann nicht plötzlich gesellschaftlich werden. (BOe IV, 77)

Den Kontakt pflegt Benn dennoch in aller Höflichkeit weiter. Am Tage der Eröffnung des Dichtertreffens, am 7. September 1951, lässt er dem Programmleiter der Veranstaltung, dem französischen Schriftsteller Jean Cassou, ein Telegramm zukom-

5 Zitiert nach dem kritischen Apparat von Gottfried Benn: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, Bd. 6: Prosa 4, hg. v. Holger Hof, Stuttgart 2001, S. 436–454, hier S. 436. Im Folgenden werden Zitate aus der Stuttgarter Ausgabe mit der Sigle (SW I–VII/2) und Angabe der Seitenzahl im laufenden Text nachgewiesen. 6 Gottfried Benn und Friedrich Wilhelm Oelze: Briefwechsel 1932–1956, Bd. 4: 1951–1956, hg. v. Harald Steinhagen, Stephan Kraft und Holger Hof, Göttingen 2016, S. 77. Fortan im laufenden Text unter der Sigle (BOe I–IV) und Angabe der Seitenzahl zitiert. Die Aussage über die Bedeutung der deutsch-belgischen Beziehungen entspricht insofern den Tatsachen, als Belgien 1951 gleichzeitig mit Dänemark das erste europäische Land war, das mit der Bundesrepublik Deutschland diplomatische Beziehungen wieder aufnahm.

Neue Materialien zu Gottfried Benns Vortrag in Knokke (1952)

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men.⁷ Unter dessen Leitung einigt sich die in Knokke versammelte Gesellschaft (eine deutsche Delegation war mit Georg Britting, Adolf Herckenrath, Hans Egon Holthusen und Rudolf Hagelstange vertreten) auf eine Fortsetzung im zweijährigen Turnus ab 1952, die auch eine außereuropäische Beteiligung umfassen soll. Die Abwesenheit von Benn wird dadurch einigermaßen kompensiert, dass Holthusen ihn in seinem Kurzreferat zur „situation actuelle de la littérature allemande“, das dem offiziellen Bericht über die Veranstaltung angehängt wird, mit Bezug auf den Begriff des Nihilismus erwähnt: Gottfried Benn, le vieil expressionniste hargneux refuse tout simplement de discuter le nihilisme. „Le nihilisme est évident, dit-il, tout dépend de ce que l’on en fait“; une œuvre d’art, et c’est cela la solution de Benn, une œuvre d’art peut être considérée comme la réponse constructive à la puissance du néant: elle est une œuvre fermée, isolée qui dépasse le fleuve du temps héraclitien et les absurdités de l’histoire: étoile, vers, pierre, chant des flûtes. [Gottfried Benn, der alte, mürrische Expressionist, weigert sich schlichtweg, den Nihilismus zu diskutieren. „Der Nihilismus ist offensichtlich, sagt er, es kommt nur darauf an, was man daraus macht“; ein Kunstwerk, und das ist Benns Lösung, ein Kunstwerk kann als die konstruktive Antwort auf die Macht des Nichts angesehen werden: es ist ein geschlossenes, isoliertes Werk, das den Fluss der Heraklitischen Zeit und die Absurditäten der Geschichte überwindet: Stern, Wurm, Stein, Flötengesang.]⁸

Dass der Name Benn in diesem Kontext fällt, fördert seine Zirkulation weiter sowie eine gewisse Intensivierung von Benns Präsenz im französischsprachigen Raum nach den an anderer Stelle geknüpften freundschaftlichen Kontakten und der Zusammenarbeit mit Alain Bosquet im Umkreis der Zeitschrift „Das Lot“.⁹ Folgt man dieser Logik, betreffen die Kontakte mit Brüssel nicht nur die Angelegenheit in Knokke, sondern auch das Projekt einer Sondernummer des „Journal des Poètes“ zur deutschen Dichtung der Gegenwart, die rasch verwirklicht wird. In dieser im Januar 1952 erscheinenden thematischen Nummer, die das „Journal des Poètes“ „La poésie allemande d’aujourd’hui“ nennt, erhält Benn eine prominente Platzierung, wie Flouquet ihm in seinem Brief vom 19. November 1951 versprochen hat:

7 Das Telegramm vom 7. September 1951 wird aus Berlin Schöneberg nach Knokke geschickt: „Meine Wuensche fuer einen schoenen Verlauf der Tagung und nochmals meinen Dank fuer die Einladung. Gottfried Benn“ (AML, FS 18 13/284 [Anm. 1]). 8 Rencontres Européennes de Poésie, Casino de Knokke-le-Zoute, 7 au 11 septembre 1951. Rapport (AML, MLA 23.988 [Anm. 1]). Meine Übersetzung nach dem französischen Typoskript. 9 Vgl. Helmut Berthold: Die Lilien und den Wein. Gottfried Benns Frankreich, Würzburg 1999, S. 120–126. Bertholds aufschlussreicher Bericht über die Tage in Knokke (S. 126–134) ergänzt die in diesem Aufsatz vorgelegte Darstellung unter anderem mit dem Bericht von Hagelstange dazu.

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Cher Poète, Le numéro du „Journal des Poètes“, consacré à la poésie allemande contemporaine, est en composition. Nous publierons un article, consacré à votre personne et à votre œuvre, et cinq poèmes traduits par M. Alain Bosquet. Il nous manque un portrait de vous. Nous vous demandons donc de bien vouloir nous envoyer une bonne photo, assez contrastée et ayant du caractère, afin que nous puissions la reproduire dans l’article. Si la chose ne vous déplait pas, vous pouvez également nous envoyer un poème manuscrit, que nous pourrions reproduire en fac similé. [Lieber Dichter, Die Ausgabe des „Journal des Poètes“, die der zeitgenössischen deutschen Dichtung gewidmet ist, ist im Entstehen. Wir werden einen Artikel, der Ihrer Person und Ihrem Werk gewidmet ist, und fünf Gedichte, die von Herrn Alain Bosquet übersetzt wurden, veröffentlichen. Ein Porträt von Ihnen fehlt uns noch. Wir bitten Sie daher, uns ein gutes, kontrastreiches und charaktervolles Foto zu schicken, damit wir es in dem Artikel abdrucken können. Wenn es Ihnen nicht unangenehm ist, können Sie uns auch ein handgeschriebenes Gedicht schicken, das wir als Faksimile abdrucken können.]¹⁰

Gut drei Wochen später, am 12. Dezember 1951, folgt die Antwort Benns: Mein sehr verehrter Herr Flouquet, sehr vielen Dank für Ihre beiden Briefe. Ich sende Ihnen anliegend zwei Photographieen aus diesem Jahr (eine mit meinem Verleger) und ein Gedicht mit der Hand geschrieben (aus dem Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Schönen Künste in München, jetzt erschienen). Ich hoffe, dass das zum Druck auch in ihrem Heft genügt. Ich danke Ihnen sehr herzlich für Ihr Interesse, ich verfolge Ihre Unternehmungen in Knokke und Brüssel mit grösster Aufmerksamkeit. Mit herzlichem Gruss Ihr Gottfried Benn.¹¹

Die Januarausgabe des „Journal des Poètes“ (Jahrgang 22, Heft 1) dürfte Benns Erwartungen durchaus entsprochen haben. Sie wird von seinem Porträt eröffnet, das unter dem Titel des längeren Aufsatzes von Edgar Lohner „La poésie allemande

10 Deutsches Literaturarchiv Marbach (DLA), Nachlass Benn, 86.9281/1. Hervorhebung von Flouquet, meine Übersetzung. 11 AML, FS 18 13/725 (handgeschrieben) [Anm. 1]. Ein zweiter Brief von Flouquet liegt im Nachlass Benns nicht vor. Benns Foto mit seinem Verleger fehlt in Flouquets Nachlass ebenfalls.

Neue Materialien zu Gottfried Benns Vortrag in Knokke (1952)

Abb. 1: Titelseite des „Journal des Poètes“ ( Jahrgang 22, Heft 1).

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d’aujourd’hui. Considérations sur la poésie allemande d’après-guerre“ abgedruckt ist.¹² Der angekündigte Aufsatz zu Person und Werk wird von Alain Bosquet verfasst und will auf die besondere „Situation de Gottfried Benn“ eingehen.¹³ Vermutlich im Auftrag von Benn wird seine besondere Beziehung zum Nationalsozialismus so zusammengefasst, dass dieser ihn verachtet und dass er den Vorgang der Entnazifizierung verweigert habe, so Bosquet, weil es sonst darauf hinausgelaufen wäre, sich selbst als schuldig zu bekennen. Maßgeschnitten für Benns Aura sind Bosquets Betrachtungen zu seiner Haltung als Arzt und Dichter: Le docteur Benn vit retiré dans la foule. Entre les plaies et les chancres syphilitiques que lui montrent jours et nuits ses clients, il reste un solitaire, mais plongé dans la crasse de l’homme. Quel que soit l’événement qui le sollicite, il est contre : la république de Weimar l’a peu attiré, il a méprisé le nazisme, il a refusé de se faire dénazifier (car c’eût été se reconnaître coupable), aujourd’hui encore il est du seul parti qui compte : celui du chirurgien, du spécialiste redoutable qui ampute les mortels de leurs rêves purulents. La poésie est pour lui un appendice, souvent dangereux, qu’il faut couper, mais que quelques privilégiés conservent dans un bocal, car il est d’une beauté cruelle et infinie. [Der Dr. Benn lebt zurückgezogen in der Menge. Zwischen den syphilitischen Wunden und Schankern, die ihm Tag und Nacht von seinen Patienten gezeigt werden, bleibt er ein Einzelgänger, aber eingetaucht in den Schmutz des Menschen. Egal welches Ereignis Anforderungen an ihn stellt, er ist dagegen: Die Weimarer Republik zog ihn wenig an, er verachtete den Nationalsozialismus, er weigerte sich, sich entnazifizieren zu lassen (denn das wäre ein Schuldeingeständnis gewesen), und auch heute noch gehört er der einzigen Partei an, die zählt: der des Chirurgen, des gefürchteten Spezialisten, der den Sterblichen ihre eitrigen Träume abschneidet. Die Poesie ist für ihn ein oft gefährlicher Appendix, der abgeschnitten werden muss, der aber von einigen Privilegierten in einem Glas aufbewahrt wird, weil er von grausamer und unendlicher Schönheit ist.]¹⁴

12 Vgl. Edgar Lohner: La poésie allemande d’aujourd’hui. Considérations sur la poésie allemande d’après-guerre, in: Le Journal des Poètes 22 (1952), H. 1, S. 1–3. Die Übersetzung des Aufsatzes stammt von Philippe Jones und dem surrealistischen Schriftsteller Marcel Lecomte. In der Sondernummer stehen noch Texte der folgenden Dichter:innen deutscher Sprache: Berthold Brecht (übers. v. Bosquet), Georg Britting, Hans Carossa, Paul Celan (übers. v. Bosquet), Hermann Claudius, Günther Eich (Übers. v. Gilbert Socard), Karl-Wilhelm Eigenbrodt, Rudolf Hagelstange, Hermann Hesse, Hans Egon Holthusen, Friedrich Joachim, Friedrich Georg Jünger (übers. v. Lecomte), Erich Kästner, Alexander Koval, Martin Kessel, Karl Krolow, Horst Lange, Heinz Piontek, Oda Schaefer und Gertrude von le Fort. 13 Alain Bosquet: Situation de Gottfried Benn, in: Le Journal des Poètes 22 (1952), H. 1, S. 4–5. 14 Bosquet: Situation, S. 5. Meine Übersetzung.

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Die Auswahl der vier von Bosquet übersetzten Gedichte besteht aus „Petit aster“, „Belle jeunesse“, „Requiem“ und „Homme et femme chez les cancéreux“. Das von Benn handgeschriebene Gedicht „Einsamer nie“ (1936) illustriert den Aufsatz.

3 Die besonderen Modalitäten der Veranstaltung Die zweite Einladung nach Knokke erhält Benn am 25. Juli 1952 wiederum über den diplomatischen Weg des Auswärtigen Amts im Auftrag der deutschen Botschaft in Brüssel.¹⁵ In den Briefwechseln mit seinen Freunden täuscht Benn wegen der Veranstaltung weiter Langeweile vor. An Niedermayer schreibt er am 5. August: Das Auswärtige Amt schrieb mir wegen Knokke. Will die Spesen tragen. Auch dabei ist mir nicht ganz wohl, weil ich da ein Referat halten soll, ich nehme an: französisch. Langweilig u. unnütz u. bringt Arbeit u Mühe.¹⁶

Inzwischen haben die Mitglieder des „Comité de la Biennale“ die Zielsetzung des Programms genauer skizziert. Sie streben eine Art Bilanz der Dichtung der ersten Jahrhunderthälfte an, wobei den Referenten programmatische Punkte zur Orientierung vorgeschlagen werden: die Wiederentdeckung der Innen- und Außenwelt, das Wunderbare in der Moderne, große Vorbilder aus Frankreich wie Sade, Rimbaud, Mallarmé oder Apollinaire, die surrealistische Revolution und ihre Wirkung auf die Dichtung usw. Als Denkanstoß hatten die Vortragenden im Voraus einen Text des belgischen Dichters Fernand Verhesen (1913–2009) erhalten, mit dem sie sich auseinandersetzen sollten – ein Punkt, der bei Benn Irritationen auslöste. In seinem Brief an Flouquet vom 4. August 1952, einen Monat vor dem Treffen, erklärt er sich dennoch dazu bereit, auch wenn er andeutet, dass seine Rede voraussichtlich von dem Marburger Poetik-Vortrag von 1951 „Probleme der Lyrik“ ihren Ausgang nehmen werde: Sehr geehrter Herr Flouquet, ich bedanke mich für Ihr Schreiben vom 31.VII und die Übersendung des Exposés von Herrn Verhesen. Ich bin dabei, es zu studieren. Ich hoffe, den vierten Platz der von Ihnen ausgesuchten Redner übernehmen zu können – Es ist die einzige Schwierigkeit für mich, mich französisch ausdrücken zu müssen, ich bin in Ihrer Sprache nicht mehr zu Hause. Aber ich werde versuchen, eine Übersetzung anzufertigen.

15 Vgl. den Brief vom Auswärtigen Amt an Benn vom 25. Juli 1952 (SW VI, 437). 16 Vgl. Gottfried Benn: Briefe an den Limes Verlag 1948–1956, hg. v. Marguerite Schlüter und Holger Hof, Stuttgart 2006, S. 568.

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Abb. 2: Seite 5 des „Journal des Poètes“ ( Jahrgang 22, Heft 1).

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Damit Sie wissen, in welchen Gedankengängen sich meine Ausführungen bewegen werden, erlaube ich mir, Ihnen einen Vortrag zu senden, den ich im vorigen Jahr an der Universität Marburg in einem Ausländer-Ferienkurs gehalten habe und der im Deutschen Sprachbereich sehr viel Aufmerksamkeit gefunden hat und der schon in mehreren Auflagen vorliegt. Ich würde für Knokke vieles fortlassen, auf die Ausführungen von Herrn Verhesen eingehn und einige neue Gedanken hinzufügen. Ich werde sicher nicht länger als die von Ihnen vorgeschlagene Viertelstunde sprechen. Inzwischen hat mir auch unser Auswärtiges Amt in Bonn mitgeteilt, dass es meine Reise nach Knokke unterstützen wird. Ich werde mir erlauben, Sie darüber zu unterrichten, wie meine Arbeit für Sie sich entwickelt. Mit besten Grüssen in vorzüglicher Hochachtung Gottfried Benn.¹⁷

Im Brief an Oelze vom 27. August beschwert sich Benn offen über diese Vorgaben: Bin sehr im Brüten über Knokke, wo ich ein Korreferat zum Hauptreferat eines belg. Schriftstellers halten soll. Ausser mir noch ein Schwarzer aus Kamerun u. 2 Franzosen. Das Hauptreferat ist mir völlig fremd; kommt mir provinziell vor, ja unverständlich. Die romanische Welt! Aber nicht in bestem Exemplar. (BOe IV, 151–152)

Den senegalesischen Schriftsteller, Mitbegründer der Strömung der„Négritude“ und zukünftigen ersten Präsidenten des ab 1960 unabhängigen Staates Senegal Léopold Sédar Senghor hatte Benn offenbar noch nicht identifiziert. Im Schreiben an Oelze vom 1. September kurz vor der Abreise legt Benn eine seltsame Mischung aus Nonchalance und krasser Stereotypisierung an den Tag: L. H Oe. heute geht es nach Knokke. Da wird ebenso wenig herauskommen, wie bei den nationalen und lokalen Gesprächen. Am I. Tag referieren drei: I Herr aus Equador, I aus Allemagne (Ich), I aus Senegal, ein Schwarzer also 3 Nigger!(BOe IV, 153)

In der im Brüsseler Nachlass der „Biennales“ aufbewahrten Dokumentation lässt sich das Programm der Veranstaltung, die im von Wandmalereien Magrittes geschmückten Kasinosaal stattfand, im Detail rekonstruieren: Die Zeremonie begann am Vormittag des 12. Septembers um 10.30 Uhr. Nach der Eröffnungsrede des belgischen Bildungsministers Pierre Harmel und der Präsentation eines Tätigkeitsberichts von Flouquet folgten in der im Programm angekündigten Reihenfolge drei auf Französisch gehaltene Gastvorträge vom ecuadorianischem Dichter Jorge Carrera 17 AML, FS 18 13/213 (maschinengeschrieben) [Anm. 1].

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Abb. 3: Das Grand Casino in Knokke; AML, Nachlass Biennales de Poésie.

Abb. 4: Veranstaltungssaal im Grand Casino in Knokke; AML, Nachlass Biennales de Poésie.

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Abb. 5: Programm der „Biennales Internationales de Poésie“ 1952 (AML, Nachlass Biennales de Poésie).

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Andrade, von Benn und von Senghor. Alle drei ergriffen das Wort unter dem Gesamttitel „l’Apport de la Poésie du Demi-Siècle“ [Der Beitrag der Poesie der ersten Jahrhunderthälfte]. Diese erste Sitzung soll insgesamt bis 12.30 Uhr gedauert haben. Seinem Brief an Joachim Moras vom 22. September 1952 zufolge entfernte sich Benn im Grunde genommen nicht vom Inhalt des Marburger Vortrags zu den „Problemen der Lyrik“.¹⁸ Doch der Umstand, dass der Vortrag von Benn in französischer Sprache sorgfältig vorbereitet worden war und er darin unter Berücksichtigung seines französischsprachigen Publikums besondere Kontraste zwischen deutscher und französischer Dichtung hervorheben wollte, belegt deutlich, dass er die Aufgabe nicht so auf die leichte Schulter nahm, wie er es seinen Freunden vorgetäuscht hatte. Meines Erachtens hat er im Kontext der neueren französischsprachigen Rezeption seiner Texte seine Vermittlerrolle zwischen Romania und Germania im Gegenteil sehr ernst genommen. Dies gilt umso mehr, als er eine sehr verständliche Unsicherheit angesichts der Herausforderung der französischen Sprache verspürt haben musste, mit der er zwar vertraut war, die er aber nicht aktiv beherrschte. Dementsprechend kam er von der Reise mit dem Gefühl zurück, dass das Publikum den Kern seiner Aussage nicht verstanden habe, wie er es in seinem Brief an Oelze vom 17. September zum Ausdruck bringt. Davon abgesehen klingt sein Bericht diesmal voller Begeisterung: Lieber Herr Oelze, melde mich zurück. Vieles war recht interessant: die Allmacht der französischen Sprache, die vom Senegalneger ebenso geschmeidig gesprochen wurde wie vom Mestizen aus Equador wie der kleinen Japanerin wie dem polnischen Emigranten wie dem fetten italienischen Kollegen. Dann die Schwarzen: die elegantesten u. gepflegtesten der Assemblée, hochmütig –, eigentlich zogen sie uns ins Gespräch. Der Senegaleser schloss sein Exposée: „l’Afrique va parler“. Drohend u. sicher. Wunderbares Wetter, strahlende Sonne, Wärme, alles badete. Ich wurde persönlich sehr aufmerksam behandelt, Schallplatten, Radiointerview, das schönste Zimmer im Hotel, Blick über das Meer u. eigenes Bad. Meine Rede kam nicht an. Gegen das französische Element konnte nichts bestehn. Deutsche Botschaft war vertreten usw. […] Die deutschen Kollegen, ein Thema für sich! Schlecht angezogen, salopp u. schnorrend. – (BOe IV, 156)¹⁹

18 „Was ich vorgetragen habe, ist nicht bemerkenswert, es geht im Wesentlichen auf meinen Marburger Vortrag Probleme der Lyrik zurück. Diesmal habe ich also meine Arien auf französisch gesungen…“ (SW VI, 438). 19 Über Senghor folgt noch am 22. September die knappe Aussage: „Senghor ist Klasse!“ (BOe IV, 158). Aus Deutschland waren nach der Teilnehmerliste der Veranstalter zu schließen folgende Kolleg:innen Benns gekommen: Rudolf Hagelstange, Charlotte Hochgründler-Hofmann, Hans Egon Holthusen, Karl Krolow, Wilhelm Lehmann, Walter Lennig, Egon Rakette, Gerhardt Uhde, Marie Luise Kaschnitz; aus Österreich waren Alexander Lernet-Holenia und Richard Peter anwesend.

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Alles in allem stellte Knokke für Benn ein prägendes Erlebnis dar. Er tauchte in eine im Wandel begriffene internationale französischsprachige Welt ein, die ihn faszinierte. Auch die breite öffentliche Anerkennung seiner eigenen Mittlerfunktion hat ihm zweifelsohne viel bedeutet.

4 Die Publikation in Buchform Nach dem Ende der Veranstaltung nimmt der Prozess der Publikation seinen Lauf. Am 18. Dezember 1952 schreibt Flouquet erneut einen Brief an Benn, in dem er ihn um die Genehmigung zur Veröffentlichung seines Textes bittet. Damit räume er den Herausgebern die Möglichkeit ein, den Text „du point de vue du français“ leicht retuschieren zu dürfen.²⁰ Darüber hinaus schlägt er ihm vor, Mitglied des internationalen Ehrenkomitees („Comité d’Honneur International“) des gerade verstorbenen belgischen Schriftstellers Charles Plisnier zu werden. Plisnier, der zum Ausschuss des „Journal des Poètes“ gehörte, war 1937 der erste frankophone Schriftsteller ohne französische Staatsangehörigkeit, der mit dem Goncourt-Preis ausgezeichnet worden war.²¹ Angefragt als weitere Mitglieder der „Amis de Charles Plisnier“ seien „Graham Greene (USA), André Malraux (France), Silone (Italie), Denis de Rougemont (Suisse), de Madariga (Espagne)“.²² Schließlich fügt Flouquet noch hinzu, dass Plisnier die thematische Nummer des „Journal“ zur deutschen Dichtung der Gegenwart sehr geschätzt habe. Benns Antwort an Flouquet vom 23. Dezember 1952 ist vor allem in Bezug auf seine Vorstellungen und Ansichten von der französischen Sprach- und Kulturwelt aufschlussreich: Lieber Herr Flouquet, vielen Dank für Ihren Brief vom 18.XII. in Sachen der Knokker Communication. Ich bin mit Allem einverstanden, mein Vortrag steht ganz zu Ihrer Verfügung sowohl für die Veröf-

20 Brief von Flouquet an Benn vom 18. Dezember 1952, DLA 86.9281/2. 21 Plisnier wurde schon 1936 wegen seines Romans „Mariages“ für den Goncourt-Preis gehandelt, aber die Académie Goncourt zog es zu diesem Zeitpunkt noch vor, lediglich französische Autor:innen auszuzeichnen. Dieser Entscheidung folgte eine Kontroverse über den Beitrag der belgischen, kanadischen oder schweizerischen Schriftsteller:innen zur französischen Literatur, und nach der Veröffentlichung neuer Erzählungen in „Faux Passeports“ wurde Plisnier schließlich 1937 doch zum Preisträger (vgl. Fabienne Pasau: En 1937, Charles Plisnier est le premier prix Goncourt belge, 18. Mai 2018, https://www.rtbf.be/article/en–1937-charles-plisnier-est-le-premier-prix-goncourt-belge-9919239; [8. März 2023]). 22 DLA 86.9281/2 [Anm. 10].

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fentlichung als Beitrag für Knokke wie in dem Erinnerungsbuch für Charles Plisnier, dessen Namen ich natürlich gut kenne. Eines erlaube ich mir dazu zu bemerken: Sie schreiben, Sie wollen einiges ändern „du point de vue du français“. Bitte tun Sie das nicht so gründlich. Ich bin mir ja bewusst, manches darin gesagt zu haben, das sehr „deutsch“ ist, das Ihren Ohren fremd klingt. Aber das musste ich ja in Kauf nehmen, um nicht konventionell zu wirken. Mein stärkster Eindruck von Knokke, einer, über den [ich] noch viel nachdenke und über den ich hier zu meinen Bekannten oft gesprochen habe, ist der unangetasteten und unantastbaren Suprematie der französischen Welt, ihrer Sprache, ihrer Art zu denken, ihrer Art zu sein. Diese Suprematie reicht vom Senegal bis zum Fudschijama, von der Geschmeidigkeit der Sprache bis zur Kleidung und der Eleganz der Haltung – alles Dinge, auf die wir Deutsche mit Bewunderung blicken, auch mit einem Gefühl von Melancholie, da es uns verschlossen ist. Was wir sind und was wir sagen, „Kommt nicht an /“ (um diese deutsche Redensart zu gebrauchen), aber wir müssen damit leben und darum wäre es unecht, zuviel zu retouchieren. Aber ich weiss ja, das [sic] die Sache bei Ihnen in guten Händen ist, – ich freue mich wirklich sehr, Sie und Herrn Haulot kennen gelernt zu haben. Meine Neujahrskarte haben Sie wohl erhalten. Nochmals alles Gute für 1953 und nochmals Dank für Knokke! Immer Ihr ergebenster Benn.²³

Im Gegensatz zum vorigen Briefwechsel ist die Kommunikation zwischen Benn und Flouquet hier nicht ganz fließend. Benn antwortet nicht auf die Frage nach der Zugehörigkeit zum Ehrenkomitee um Plisnier,²⁴ und inwiefern sein Lob der französischen Sprache und Kultur eine Reaktion auf die Bitte darstellt, den Stil seines Textes bearbeiten zu dürfen, ist ziemlich unklar. Vielleicht liegt hierin der Grund, dass nun Haulot am 8. Januar 1953 wieder zur Feder greift, um, nicht ohne ihm höflich zu schmeicheln, Einwände gegen die Betrachtungen des deutschen Dichters zur deutschen Sprach- und Kulturwelt vorzubringen: Mon cher Benn, Pierre Louis Flouquet et moi avons lu avec infiniment de plaisir votre lettre. Elle nous a beaucoup touché, à la fois par la confiance amicale que vous nous témoignez, et pour ce que vous dites au sujet de la langue française.

23 AML, FS 18 13/649 (maschinengeschrieben) [Anm. 1]. 24 Benn fragt aber am 22. August 1953 bei Niedermayer an, ob dieser Plisnier kenne. Vgl. Benn: Briefe an den Limes Verlag [Anm. 16], S. 661. Wie der Brief an Oelze vom 2. September zeigt, erhielt Benn noch ein Schreiben der Académie mit einer erneuten Anfrage, in das Ehrenkomitee einzutreten (vgl. BOe IV, 226). Im September 1953 erhält er zudem die Anfrage, in der BBC kurz auf Deutsch über Plisnier zu sprechen. Im Brief an Thea Sternheim vom 9. September 1953 stellt Benn die Vorgänge im Zusammenhang dar. Vgl. Gottfried Benn und Thea Sternheim: Briefwechsel und Aufzeichnungen, hg. v. Thomas Ehrsam, Göttingen 2004, S. 274. Ich bedanke mich herzlichst bei Holger Hof für die Vermittlung dieser ergänzenden Informationen.

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Mais à ce sujet, je crois que vous voyez les choses de façon un peu trop marquée. Certes, nous avons le grand avantage réel d’une langue fascinante, souple, aisée. Mais nous observons mieux, de l’extérieur, ce qui fait aussi la valeur et l’originalité de l’allemand, son adaptation à l’expression particulière d’un très vaste secteur d’humanité et de pensée. Ceci dit, il va de soi que nous sommes d’accord avec vous et qu’il n’entre pas dans nos intentions de modifier profondément votre texte. Bien au contraire ! Nous souhaitons seulement, tout en lui gardant sa qualité fondamentale, redresser les quelques éléments syntaxiques, par exemple, qui pourraient en rendre la lecture difficile au public non familiarisé avec la tournure allemande de la phrase. [Mein lieber Benn, Pierre Louis Flouquet und ich haben Ihren Brief mit unendlichem Vergnügen gelesen. Er hat uns sehr berührt, sowohl wegen des freundschaftlichen Vertrauens, das Sie uns entgegenbringen, als auch wegen dessen, was Sie über die französische Sprache sagen. Allerdings glaube ich, dass Sie die Dinge in dieser Hinsicht etwas zu scharf sehen. Sicherlich haben wir den großen, wirklichen Vorteil einer faszinierenden, flexiblen und leichten Sprache. Aber wir beobachten von außen besser, was auch den Wert und die Originalität der deutschen Sprache ausmacht, ihre Anpassung an den besonderen Ausdruck eines sehr großen Bereichs der Humanität und des Denkens. Abgesehen davon stimmen wir natürlich mit Ihnen überein, und es ist nicht unsere Absicht, Ihren Text grundlegend zu ändern. Ganz im Gegenteil! Wir möchten lediglich, unter Beibehaltung seiner grundlegenden Qualität, beispielsweise die wenigen syntaktischen Elemente wieder geraderücken, die die Lektüre für ein Publikum erschweren könnten, das mit der deutschen Satzstellung nicht vertraut ist.]²⁵

Ein Vergleich des im Nachlass der „Biennales“ aufbewahrten, von Benn eingereichten Typoskripts des Textes mit der gedruckten Fassung lässt erkennen, dass sich die Veranstalter tatsächlich auf minimale sprachlich-stilistische Verbesserungen beschränkt haben, ohne die der Leser auf Verständnisschwierigkeiten gestoßen wäre. Nur hier und dort haben sie sich lexikalische Anpassungen erlaubt: So wurden im ersten Abschnitt Benns „émanations du poème“ durch „dérivations [Ableitungen] du poème“ ersetzt; weiterhin war im Typoskript die Rede von „expériences intimes d’ordre littéraire, données à vous“, wo der überarbeitete Text von „erlebten“ intimen Erfahrungen („vécues par vous“) spricht usw. Kaum einmal wurden einzelne Satzteile gestrichen, nur der Name des (von Benn erwähnten, ihm aber wahrscheinlich wenig bekannten) französischen Dichters Blaise Cendrars wurde korrigiert, also „Cendrars“ anstelle von „Cendras“. Die Herausgeber waren also aufmerksam genug, den anspruchsvollen, aber in sehr gutem Französisch verfassten Text nicht übermäßig zu modifizieren. Das Ende von Haulots Brief belegt im Übrigen den Willen, weiterhin freundschaftliche Beziehungen mit Benn zu pflegen, so dass noch bis 1955 Schreiben von

25 DLA, 86.9346/1 [Anm. 10]. Meine Übersetzung.

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Flouquet und ihm Benn im Zusammenhang mit Projekten des „Journal“ erreichen werden.

5 Vom Lob Émile Verhaerens zu weiteren (abgebrochenen) Projekten Auch der letzte im Brüsseler Nachlass übermittelte Brief von Benn ist der Aufmerksamkeit wert. Am 6. September 1955 hatte Flouquet Benn einen Brief geschickt, in dem er ihn um eine Stellungnahme zum Werk des hundert Jahre zuvor geborenen belgischen Dichters Émile Verhaeren bittet, weil das „Journal des Poètes“ anlässlich dieses Jubiläums internationale Stimmen sammelte. Benns Antwort vom 11. September 1955 singt mit Begeisterung das Lob Verhaerens: Mon cher Monsieur Flouquet, je suis heureux, d’avoir reçu une lettre de vous. Merci! Ma réponse: Emile Verhaeren: 1) E.V. war bis 1914, also in den Jugendjahren meiner Generation, ein sehr berühmter und bewunderter Lyriker. Es gab „Ausgewählte Gedichte“ in der Übersetzung von Stefan Zweig (Ausstattung des Buches von Théo van Rysselberghe), die wir alle lasen. Ich bewunderte ihn sehr. Er erinnerte mich an Walt Whitman, stand mir aber näher als dieser. 1905 erschien eine lange Studie über ihn von Johannes Schlaf (Verlag Schuster u. Löffler, Berlin). 2) Heute kann man nichts mehr von ihm bei uns lesen. Der Krieg hat alle Bücher zerstört. Ich wünschte, man gäbe eine neue Anthologie auf deutsch heraus. Er interessiert mich immer sehr. Ich sah, als ich von Knokke kam, sein Grabdenkmal, das schönste Grabmal eines Lyrikers. Mit vielen Grüssen Ihr Gottfried Benn.²⁶

Für den emotional motivierten Besuch von Verhaerens Grab in der kleinen Stadt Sint-Amands an der Schelde in der Provinz Antwerpen (ca. 90 Kilometer von Knokke entfernt) hat Benn sicherlich Auskünfte bzw. eine Führung benötigt. Die von Benn erwähnte Nachdichtung von Stefan Zweig erschien zuerst 1904 bei Schuster & Loeffler. Sie wurde 1910 von Anton Kippenberg in seine Gesamtausgabe von Verhaerens Werk für den Insel-Verlag übernommen. Zweig war ein großer Verehrer des Schriftstellers und konnte als Berater des Insel-Verlags Kippenberg davon überzeugen, ein ganzes Netz von Übersetzern in den Dienst dieser Gesamtausgabe zu stellen, ein Unternehmen, das für den Leipziger Verleger zu einer sehr wichtigen Angelegenheit wurde. (Neben Verlaine sah er in Verhaeren 26 AML FS 18, 13/714.

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den Hauptvertreter der französischsprachigen Gegenwartsliteratur.)²⁷ Im Nachhinein sieht man, wie erfolgreich diese Ausgabe auch bei der jüngeren expressionistischen Generation gewesen ist. Dies hatte auch damit zu tun, dass sich Zweig und später Paul Zech die Texte Verhaerens im Sinne eines Kulturtransfers in Nachdichtungen angeeignet haben, damit sie für deutsche Ohren ‚modernistischer‘ klingen, als es im Original der Fall war.²⁸ Darüber hinaus kann der Fall Verhaeren als ein deutsch-belgischer kultureller Erinnerungsort des Ersten Weltkriegs betrachtet werden. Denn die fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Verhaeren, Zweig und Kippenberg fand nicht anders als zahlreiche andere deutsch-belgische Freundschaften mit dem Kriegsausbruch Anfang August 1914 ein abruptes Ende. Wie etwa auch Maurice Maeterlinck brach Verhaeren alle Kontakte mit den Netzwerken ab, die die Verbreitung seines Werks im deutschsprachigen Raum so meisterhaft organisiert hatten. Auf Grund seiner Empörung über die deutsche Invasion und die Gräueltaten der deutschen Armee gegen die belgische Zivilbevölkerung in den ersten Kriegsmonaten unterstützte er aktiv die belgische Propaganda im Ausland, veröffentlichte radikale anti-deutsche patriotische Gedichte und wurde von der deutschen Presse zum ‚Staatsfeind‘ erklärt. Sein Unfalltod im Bahnhof von Rouen am 27. November 1916 machte dann jede Geste der Versöhnung, die zu Ende des Kriegs hätte stattfinden können (insbesondere mit Zweig und Rilke) unmöglich.²⁹ Es ist meines Erachtens vorstellbar, dass Benn, der im Laufe seines Aufenthalts in Knokke oft an seine Zeit in Brüssel zurückgedacht und auf dem Rückweg dort „Rönnes u Pameelens Geburtshaus“ (BOe IV, 156) in der Rue Saint-Bernard gesehen hatte, sich den Besuch am Grab Verhaerens auch als späte Versöhnung mit ihm und mit der belgischen Kulturwelt, die ihn nun so großzügig empfangen hatte, vorgestellt hat. Für die nächsten Ausgaben der „Biennales“ zählten die Veranstalter weiter auf Benns Teilnahme. So steht es im nächsten Einladungsbrief von Haulot vom 26. März 1954, der von der Vorbereitung der Anfang September 1954 stattfindenden Veran-

27 Vgl. dazu die vollständige Edition des Briefwechsels zwischen Verhaeren und Stefan Zweig mit der ausführlichen Einführung von Fabrice van de Kerckhove: Émile et Marthe Verhaeren – Stefan Zweig: Correspondance (1900–1926), hg. und komm. v. Fabrice van de Kerckhove, Brüssel 1996, S. 7– 91, insbesondere S. 39–79. 28 Vgl. meinen Aufsatz: Hubert Roland: Kulturtransfer und Nachdichtung. Über Autoren des belgischen Symbolismus und ihre Beziehung zur deutschen Literatur, in: Germanistische Mitteilungen 42 (2016), H. 2, S. 45–62, insbesondere S. 52–61. 29 Am 9. Dezember 1916 veröffentlichte sein letzter Übersetzer, der expressionistische Dichter Paul Zech in der „Vossischen Zeitung“, einen Versöhnungsbrief, den er von Verhaeren vor dessen Tod erhalten haben wollte, was einen politischen Skandal auslöste. Höchstwahrscheinlich handelte es sich um eine Fälschung, denn Zech, der nachdrücklich dazu aufgefordert wurde, konnte den Originalbrief nie vorzeigen.

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staltung berichtet. Konkret wird Benn um eine „collaboration active“ gebeten und soll ein schriftliches Exposé von maximal 1500 Wörtern zum allgemein gehaltenen Themenfeld „la mesure, le nombre, le rythme, la rime, les sons, les harmoniques, les timbres, l’image, la métaphore …“ einreichen. Ausgehend von Benns Eingabe würde man um ihn herum eine Arbeitsgruppe für die Diskussion bilden. Das Postskriptum, in dem Benns „accord de principe“ und eine Einreichung „dans le plus bref délai“ erbeten wird, verrät einen gewissen Zeitdruck, unter dem die Organisation stand.³⁰ Benns Antwort ist im Nachlass der „Biennales“ nicht überliefert, aber aus dem handschriftlichen Brief von Flouquet vom 23. August 1954 geht hervor, dass er die Teilnahme aus Gesundheitsgründen abgelehnt hat. Flouquet teilt mit, dass sich ein Erfolg der Veranstaltung schon jetzt ankündige, da Dichter, Kritiker und Journalisten aus 30 Ländern angemeldet seien. Um Benn doch noch einzubinden, versucht er ihn davon zu überzeugen, eine „message de sympathie“ zu verfassen, die vorgelesen und publiziert werden könnte. Die Veröffentlichung eines neuen Artikels von Benn im „Journal des Poètes“ käme ebenfalls in Frage.³¹

6 Zum Schluss: Gottfried Benns Mittlerfunktion zwischen Romania und Germania Die Beständigkeit des Austauschs zwischen Benn und dem Organisationskomitee der „Biennales de Poésie“ sowie die warmherzigen Abschlussformeln noch von Flouquets letzten Briefen („Croyez a [sic] ma vive et respectueuse amitié“; „je vous prie de me croire votre très amicalement dévoué“)³² deuten darauf hin, dass Benns Auftritt in Knokke in jeder Hinsicht ein großer Erfolg gewesen ist. Nicht nur wegen seines Vortrags selbst, sondern sehr wahrscheinlich auch durch seine persönliche Ausstrahlung und seine zurückhaltende und liebenswerte Art im Umgang mit den Schriftstellerkollegen konnte er eine große Aufmerksamkeit gewinnen. Benns Vortrag hat noch mehrere Jahre im belgischen intellektuellen Raum nachgewirkt: 1954 setzte sich der surrealistische Dichter Marcel Lecomte in einem Aufsatz für das „Journal des Poètes“ mit dem Dualitätsbegriff bei Benn auseinander.³³ (Lecomte war in Knokke anwesend, hatte aber auch schon als Jugendlicher im 30 DLA, 86.9346/2 (maschinengeschrieben) [Anm. 10]. 31 Vgl. DLA, 91.114.257, [Anm. 10]. 32 Briefe vom 23. August 1954 und vom 6. September 1955 [vgl. Anm. 30 und 31]. 33 Vgl. Marcel Lecomte: Signification de la dualité chez Gottfried Benn, in: Le Journal des Poètes 24 (1954), H. 9, S. 2. Vgl. zudem meinen Kommentar zu diesem Text in: Hubert Roland: Gottfried Benns Verhalten im Nationalsozialismus aus der Sicht von Pierre Mertens’ „Gottfried-Benn-Roman“ Les Éblouissements (Der Geblendete), in: Benn Forum 4 (2014/2015), S. 181–194, hier S. 191–192.

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Ersten Weltkrieg die Präsenz von Benn, Carl Einstein sowie Carl und Thea Sternheim in Brüssel wahrgenommen³⁴). Und noch im Jahre 1956 schloss sich der belgische Schriftsteller Marcel Thiry in einer Sitzung der französischsprachigen Akademie für Sprache und Dichtung Belgiens der von Benn gegebenen Definition der Poesie an, die er gegenüber der von T.S. Eliot bevorzugte.³⁵ Aus all diesem ergibt sich, dass Benn in diesen Jahren hervorragende Kompetenzen als internationaler Netzwerker zu entwickeln wusste. Insbesondere konnte er sich – sowohl in literarischen als auch in politisch-diplomatischen Kreisen und in ähnlicher Weise wie Ernst Jünger – vor französischsprachigen Gesprächspartnern profilieren bzw. im Kontext des Wiederaufbaus eines deutschfranzösischen Dialogs im Dienst der bald entstehenden europäischen Gemeinschaft zur Verbreitung von positiven Deutschland- und Frankreichbildern beitragen. Gerade aus diesem Grund reagierte Benn bitter beleidigt, als er aus einem Brief Oelzes vom 21. Februar 1954 erfuhr, dass der deutsche Botschafter in Paris, Wilhelm Hausenstein – der ja im Ersten Weltkrieg auch eine Weile zum Brüsseler Bekanntenkreis Carl Sternheims gehört hatte – seine Gedichte aus einer Lesung der Schauspielerin Hermine Körner streichen wollte. Nachdem diese Hausenstein die Liste der Gedichte im Voraus zur Begutachtung geschickt hatte, soll die Antwort, so Oelze, der einen Bericht Egon Viettas über den Vorgang wiedergibt, wie folgt gelautet haben: „Gedichte von B. weglassen, ‚in Paris unerwünscht‘“ (BOe IV, 257). Bei der Vorgabe Hausensteins, der im Nationalsozialismus unter Schreibverbot gestanden hatte und dessen belgisch-jüdische Gattin Margot Lipper-Hausenstein unter großen Ängsten der Deportation entgangen war, handelt es sich offensichtlich um ein politisches Veto. In seiner Antwort an Oelze vom 24. Februar empört sich Benn darüber: War es eine Veranstaltung der Botschaft? Ich will auf Folgendes hinaus: Wenn Herr Hausenstein meine Sachen nicht mag, so ist dagegen natürlich nichts zu sagen und er hat jederzeit und überall das Recht, dieser Abneigung Ausdruck zu verleihen. Wenn er aber als Botschafter diese Bemerkung macht, so möchte ich die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Sie wissen ja, ich bin dem Auswärtigen Amt in Bonn keineswegs unbekannt und war ihm keineswegs unerwünscht, die Deutsche Literatur im Ausland (z. B. in Knokke) zu vertreten und der deutsche Botschafter in Brüssel hat mir damals einen Attaché zur Begrüssung geschickt und mir seinen Dank

34 Vgl. Hubert Roland: Die deutsche literarische „Kriegskolonie“ in Belgien, 1914–1918. Ein Beitrag zur Geschichte der deutsch-belgischen Literaturbeziehungen 1900–1920, Bern u. a. 1999, S. 160–161 und S. 222–223. 35 Vgl. Marcel Thiry: Définir la poésie?, in: Bulletin de l’Académie royale de langue et littérature françaises de Belgique 34 (1956), H. 2, S. 98–107.

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aussprechen lassen, dass ich gekommen sei. Auch das Auswärtige Amt in Bonn hatte mich ja ausdrücklich gebeten hinzureisen und hatte die Reise z.T. finanziert. (BOe IV, 258)³⁶

Diese Kontroverse bestätigt nochmals, dass Benn in seinen letzten Jahren hinter scheinbarer Gelassenheit größten Wert auf seine eigene kulturelle Vermittlerfunktion zwischen Deutschland und der Frankophonie gelegt hat. Jedwede Andeutung über seine politische Vergangenheit in den ersten Jahren des Nationalsozialismus hatte das Potential, diesem persönlichen Ethos zu schaden, und war deswegen genau zu überwachen.

36 Nicht ohne eine gewisse Schadenfreude enthüllt Benn in diesem Brief noch, dass er Hausensteins Vorschlag, Gabriel Marcel, einen französischen Vertreter des christlichen Existentialismus in die Münchner Akademie aufzunehmen, nicht befürwortet hatte: „Übrigens ist ein intimer Freund von H. in Paris Herr Gabriel Marcel, ein konvertierter Jude, (auch H. ist ja sehr streng katholisch konvertiert) und mit diesem Gabriel habe ich ja vorigen Frühling in Genf keine sehr angenehmen Erfahrungen gemacht. Ich habe infolgedessen seiner Wahl in die Akademie in München, die Herr H. vorgeschlagen hatte, nicht zugestimmt und meine Bedenken wegen seiner ausgesprochenen antideutschen Haltung geltend gemacht. (Bitte streng vertraulich!)“ (BOe IV, 258–259)

Rezensionen

Michael Braun

Gottfried Benn und Gertrud Zenzes: Briefwechsel 1921–1956 Hg. v. Holger Hof und Stephan Kraft, Stuttgart und Göttingen: Klett-Cotta und Wallstein 2021. 481 S., geb., € (D) 34 (ISBN 978-3-8353-3965-1). Als Briefschreiber war Benn weniger Artist und Radardenker, wohl aber ein Pragmatiker, der kontinuierlich korrespondierte. Wir wissen derzeit von knapp 5.600 Briefen von seiner Hand (Goethe hat knapp 20.000 Briefe geschrieben). Der ersten Auswahlausgabe von 1957 sind eine Reihe von Einzeleditionen gefolgt und 2017 abermals eine Auswahlausgabe mit mehr als hundert Briefpartner:innen. Der 2021 erschienene, von Holger Hof und Stephan Kraft mit Umsicht herausgegebene Band „Gottfried Benn und Gertrud Zenzes: Briefwechsel 1921–1956“ verdient aus zwei Gründen besondere Aufmerksamkeit. Zum einen lüftet er die Masken des monologischen Ichs über einen vergleichsweise langen Zeitraum; mit keinem anderen Briefpartner, ausgenommen Oelze, mit dem er seit 1932 korrespondierte, hat Benn in so ausdauernd stabiler Verbindung gestanden. Zum anderen tritt in dem aktuellen Briefwechsel eine Frau in Erscheinung, deren Bild nicht frei von Widersprüchen, aber in seiner intellektuellen Physiognomie erstaunlich modern ist und weit über die Klischees der zeitweiligen Geliebten hinausragt. Die Vorgeschichte des Briefwechsels reicht bis zur Auswahlausgabe von Benns Verleger Max Niedermayer zurück, in dem 20 Briefe Benns an Gertrud Zenzes abgedruckt wurden. Aus ihrer Korrespondenz mit Benn, die mitsamt Durchschlägen und Entwürfen ihrer eigenen Briefe von ihrem Erben ans Deutsche Literaturarchiv in Marbach übergeben worden war, wurden am 29. Juni 2006 drei Briefe in der Wochenzeitung „Die Zeit“ und hernach fünf weitere im Auswahlbriefband „Absinth schlürft man mit Strohhalm, Lyrik mit Rotstift“ (2017) veröffentlicht. Der vorliegende Band gliedert das Konvolut einsichtigerweise in die Abschnitte 1921– 1938 (Benn an Zenzes) und 1946–1956 (Briefwechsel zwischen Gottfried und Ilse Benn und Gertrud Zenzes), gefolgt von zwei Briefen von Zenzes an Niedermayer aus dem Frühjahr 1957, die im Vorfeld von dessen Briefauswahlausgabe entstanden. Am Beginn der Briefe stehen die Vorschusslorbeeren einer undatierten Widmung von Benn: „Gertrud Zenzes, der einzigen Freundin in der Alten und der Neuen Welt“ (1/nach 1926). Quelle ist eine Abschrift von Zenzes, terminus post quem ist der 26. Dezember 1926, als Gertrud Cassel in Kalifornien Alexander Montanus Michael Braun, Köln und Berlin https://doi.org/10.1515/9783111102740-013

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Michael Braun

Zenzes (1898–1980) heiratete, einen ehemaligen Marineflieger, Nationalökonom und Abenteurer. Über die kurze Dauer der Liebesbeziehung 1921/22 fallen die 29 überlieferten brieflichen Äußerungen Benns eher knapp aus. Es geht um die Vereinbarung oder die Aussetzung von Stelldicheins, um gedämpfte Liebesbeteuerungen und Missverständnisse. Benn nennt sich „alter Herr!!“ (2/1921) und maskulinisiert die Geliebte: „Mein lieber Kleiner“ (2/1921) und „ein charmanter Kerl“ (3/ 1921), „Lieber Doktor Cassel“ (5/1921), „Lieber Petit“ (9/1921); in Pathos eingewickelte Grußformeln wie „Liebes süßes Trudchen“ (18/1922) sind rar und werden direkt nach dem Ende der Beziehung ‚entsüßt‘ (vgl. 61/1946). Dass er Wortkünstler, Sprachwächter und Dichter ist, daran lässt Benn seine Geliebte nicht zweifeln. Zwar präsentiert er sich oft grämlich, „dezentralisiert, überarbeitet, verludert“ (7/1921), kennt sich aber gut genug, um durchweg selbstverliebt über die „Mechanik des Genialen“ (7/1921) schreiben zu können: „Wobei ich nicht sage, was ich betonen möchte, daß ich etwa Geniales schriebe.“ (7/1921) Auch später scheint ihm daran gelegen, Zenzes merken zu lassen, wie gut er Funken aus dem Burnout der Spätmoderne schlagen kann: „Das Leben, das sich bürgerlich reguliert, mit den sogenannten ‚Gedanken‘ als modifizierte Steinaxt u. Troglodytenbogen – der Rest ist Snobismus u. Unfruchtbarkeit, Sie wissen meine alte Weltanschauung.“ (36/1924) An Kleists Erziehungsprogramm („da ich Dich doch erziehen muß“, heißt es am 29. Dezember 1921) erinnert Benns Eigenart, die Geliebte stilistisch zu gängeln und sprachlich zu bevormunden. Benn ermächtigt sich selbst zum Teaser-Warner („Die letzte Selbstbesinnung, die sich lohnte u. nicht komisch war, war Nietzsche; der Rest – weniger Schweigen als Gesprächigkeit. [Bonmot!]“) (27/1922) oder zum Stil-Doktor, der an vermeintlich unpassenden Wortwendungen von Gertrud Zenzes herummäkelt (vgl. 19/1922). Er will sich öffentlich nicht zu seiner Liebschaft bekennen und druckst herum (vgl. 15/1922). Nicht frei von latenten Antisemitismen sind seine Anspielungen auf die jüdische Herkunft von Gertrud Zenzes: „das Vererbte der alten Race“ (9/1922). Das auf den 24. Mai 1922 datierte Widmungsgedicht „Man denkt, man dichtet“, das Benn Gertrud Zenzes in eine Ausgabe seines kurz zuvor ausgelieferten Bandes der „Gesammelten Schriften“ schreibt, wimmelt von jiddischen Ausdrücken. Am 18. September 1922 macht Benn Schluss, Gertrud Zenzes ist im Allgäu im Urlaub. Ihre Beziehung ist offenbar in Schieflage geraten, aber darüber erfährt man aus Benns Briefen nichts Genaues. Das Liebesaus ist freilich kein Abschiedsbrief. Benn schreibt erstaunlich einfühlsam, eingedenk, „daß zwischen uns nichts war u. sein wird als große Freundschaft, Glück u. Zärtlichkeit“ (30/1922), und wechselt fortan vom intimen Du ins förmliche Sie, in das er auch seinen ärztlichen Rat (vgl. 41 und 42/1926) verpackt. Benn offenbart ihr weiterhin seine Verhaltenslehren der Kälte (vgl. 46/1929), durchbricht die misanthropische „Vacuumschicht“ (48/1929) aber auch, wenn er Zenzes mitteilt, wie sehr ihn der Freitod seiner

Gottfried Benn und Gertrud Zenzes: Briefwechsel 1921 – 1956

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jüngsten Geliebten, der anstellungslosen Schauspielerin Lili Breda, mitgenommen hat. Unter den Briefen aus den 1930er Jahren sind die am eindringlichsten, die von den politischen Irrwegen Benns handeln. In seinem Brief vom 23. September 1933 bejaht Benn Hitler als „sehr grossen Staatsmann“, raunt vom „Schicksal“ und dem „Erlebnis Deutschlands“, stilisiert das „Judenproblem“ mit, wie Holger Hof im Kommentar festhält, „offensichtlich stark überzogenen Zahlen“ (S. 362) und bekennt sich zum „Abbau des Individuums für das Volk, für die Rasse, für das ferne, mytische Kollektiv“ (52/1933). Auf diesen wohl dunkelsten Brief Benns folgt die Antwort aus San Francisco vom 28. Oktober 1933, in dem sich Gertrud Zenzes im „Interesse des Deutschtums“ (53/1933) als deutsche Patriotin positioniert, aber ausdrücklich hervorhebt, wie stark die Juden an deutscher „Sprache und Kultur“ (53/1933) beteiligt sind. Es waren die Monate, in denen sie überlegte, den deutschen Buchladen zu schließen, den sie in San Francisco gegründet hatte und der „seit dem einstimmigen juedischen Boykott (groteskerweise), der voelligen Interesselosigkeit von arisch-deutscher Seite, der allgemeinen katastrophalen Wirtschaftslage der USA verbunden mit dem Dollarsturz (Import!) in schwierigerer Lage ist denn je.“ (53/ 1933) Bis 1938 dünnt die Korrespondenz aus, 1935 kommt es zu einem Wiedersehen in Hannover (ein weiteres wird 1948 in Berlin folgen), Benn schickt ihr am 20. Januar 1938 die Anzeige zu seiner Heirat mit Herta von Wedemeyer (vgl. 59/1938), so wie er ihr später seine dritte Verbindung mit der Zahnärztin Ilse Kaul mitteilt (vgl. 67/1947), die Zenzes in ihren Briefen wiederum mit „Frau Trudchen“ (z. B. 79/ 1947) anredet. Der zweite Teil der Briefedition aus dem Zeitraum von 1946 bis 1956 umfasst 29 Briefe von Gottfried Benn, 13 von Ilse Benn, acht gemeinsame Sendungen sowie in umgekehrter Richtung 12 Briefe von Zenzes an Gottfried Benn allein, 29 an das Ehepaar Benn gemeinsam und drei an Ilse Benn. Zenzes schreibt aus New York. Sie hat Benns Adresse ausfindig gemacht und schickt ihm ein CARE-Paket. Neben aufrichtigem Anteil an Benns persönlichem Nachkriegszustand („Wie haben Sie diese Apokalypse ueberstanden?“, fragt sie am 15. Oktober 1946) ist ihr offenbar die Bedeutung von Benns Werk stark bewusst; sie hat seine Bücher bei sich und ein Foto Benns in ihrem Wohnzimmer, das sie aus Ludwig Marcuses „Weltliteratur der Gegenwart, II. Teil“ (1924) ausgeschnitten hat. Benn antwortet ihr im November 1946 (61/1946), berichtet vom Freitod seiner zweiten Frau, arbeitet an seinem Mythos der Inneren Emigration, übertreibt („von der Gestapo verfolgt“) und datiert vor („Seit 1936 war ich aus der Nazi-Schrifttumskammer ausgestossen“). Ein starker roter Faden, der sich durch die Nachkriegskorrespondenz zieht, sind die CARE-Pakete, die Gertrud Zenzes aus den USA nach Berlin schickt. Es handelt sich um 60 Pakete in zweieinhalb Jahren, die damals dort rare essentielle Lebensmittel, Genussmittel und Kleidungsstücke enthalten, alles ordentlich von der Absenderin aufgelistet:

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Michael Braun

„Suppen, Erbsen, Cigaretten, Eipulver, Milchpulver, Chocolode [sic!], Nescafee, Cacao, Tee, Porridge, Pfeffer, Puddings, und ein Schlips.“ (64/1947) Benn zeigt sich „gerührt, beschämt u. glücklich“ (66/1947) über ihre Güte, beschränkt sich indes meist auf Dank und rituelle Grüße aus seinem „alten klapprigen Berlin“ (146/1953), während die Intensität der Briefe zwischen seiner Frau und seiner Ex-Geliebten stetig zunimmt. Ein Vergleich der beiden Korrespondenzteile hilft sehr, Benns Erklärungen zum Umbau seines intellektuellen Doppellebens zu verfolgen. Benns Briefe liefern weitere Bausteine zur Erklärung seines Charismas, in dem künstlerische Originalität, erotische Strohfeuer und ‚caritative‘ Freundschaft auf merkwürdige Weise zusammenzuhängen scheinen. Eine Pioniertat ist das Nachwort von Stephan Kraft, das die Biographie von Gertrud Zenzes erstmals im Kontext ihrer Zeit erhellt und sie als eine überaus mobile, beruflich und erotisch unabhängige Frau vorstellt: Aus dem schlesischen Hirschberg kommend, studierte sie im Kaiserreich in Breslau, München, Berlin und Greifswald, promovierte 1918 an der Universität Greifswald als eine der ersten Frauen ihrer Zeit, stand über Friedrich Gundolf in loser Verbindung zum George-Kreis und arbeitete in Archiven, Privatbibliotheken und Büros, was offenbar nicht immer leicht war. Ihre Freundin Marthe Grassmann, die vermutlich 1921 Gertrud Cassels Begegnung mit Benn einfädelte, schrieb am 3. April 1947 an ihn über sie, dass sie „immer die Dinge noch schwerer gemacht [habe] in ihrem Gemisch von unberechtigtem Vertrauen in Menschen und ihrem Mangel an ‚selfdefence‘.“ (S. 319) Ein vorzüglich edierter, detailliert kommentierter und erhellend benachworteter Briefband, der eine Lücke der Benn-Biographik schließt und wichtige intellektuelle und politische Selbstzeugnisse des Dichters enthält.

Michael Ansel

Matthias Berning: Anemonenschwert und Lydditgranate. Gottfried Benns inszenierte Dichtergenese im Ersten Weltkrieg Göttingen: Wallstein Verlag 2021. 624 S., geb., € (D) 49 (ISBN 978-3-8353-3945-3) Nun liegt also eine weitere umfangreiche Monographie zu Gottfried Benn vor: Matthias Berning zitiert gleich eingangs seiner Studie Benns selbstgefälliges Diktum im Fernsehinterview mit Thilo Koch vom 3. Mai 1956, es gebe eben Dichter, die selbst wenig schrieben, über die im Gegensatz zur marginalen Aufmerksamkeit für manche literarischen Vielschreiber aber sehr viel publiziert werde. Nahezu 600 Textseiten beansprucht der Verfasser für den Nachweis seiner „Kernthese […], dass der eigentliche, der werkgenetische Durchbruch [Benns] erst mithilfe des Brüsseler Werks gelang, also dem Novellenband Gehirne und dem Lyrikband Fleisch, der die frühen, vor Brüssel entstandenen Gedichte mit den in der Soldatenzeit geschriebenen verband“ (S. 189). Die Studie beginnt mit einem für die Anwendung eines Methodenpluralismus plädierenden Theorieteil, weil die Konzentration auf nur eine Theorie im Hinblick auf die zu erfassenden Phänomene grundsätzlich unterkomplex sei, und stellt die im Folgenden verwendeten Analysebegriffe vor. Der zweite, Benns dichterischer Entwicklung gewidmete Teil besteht aus neun Kapiteln. Thematisiert werden unter anderem die historischen und werkbiographischen Kontexte von Benns Brüsseler Jahren, die frühen dichterischen Prosatexte vor der Erzählung „Gehirne“, diese Erzählung selbst, die frühen Dramen, die in den Novellenband „Gehirne“ eingegangenen Erzählungen mit Ausnahme der „Insel“, und die schließlich im Gedichtband „Fleisch“ (1917) zusammengestellten, nach Benns Debütsammlung „Morgue“ (1912) entstandenen Gedichte. Vor dem abschließenden Fazit folgen noch zwei Kapitel, die sich der„Insel“ und den späteren Erzählungen bis „Alexanderzüge mittels Wallungen“ widmen. Die Untersuchung zeichnet sich durch eine beeindruckende Gelehrsamkeit aus. Berning geht einfühlsam und zugleich doch angenehm distanziert mit Benns Texten um. Wer das von ihm bearbeitete, oftmals schwer erschließbare Textkorpus kennt und so manche Interpretationsversuche vor Augen hat, die sich daran mehr versucht als bewährt haben, wird das als keine Selbstverständlichkeit zu schätzen wissen. Hier wird auf wohltuende, Deutungsspielräume nuanciert auslotende Weise Textanalyse und -deutung geleistet. Davon besonders profitieren bislang Michael Ansel, Wuppertal https://doi.org/10.1515/9783111102740-014

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Michael Ansel

wenig oder kaum beachtete Texte wie z. B. die Dramen „Der Vermessungsdirigent“ und „Karandasch“, die unter Einbeziehung der schon mehrfach untersuchten „Etappe“ eine so zuvor noch nie erreichte zusammenhängende Würdigung erfahren (vgl. S. 325–361). Aufschlussreich sind die häufigen Hinweise auf intertextuelle oder thematische Zusammenhänge in Benns Frühwerk. Ebenfalls gewinnbringend ist die ausführliche, sich zum Teil in langen Fußnotentexten niederschlagende Einbeziehung und kritische Diskussion neuerer Forschungsliteratur. Diese minutiös vorgehende Gelehrsamkeit hat aber auch eine Kehrseite. Zum einen fragt man sich des Öfteren, ob bestimmte argumentative, „mehr der Vollständigkeit halber“ (S. 138) durchgeführte Schleifen notwendig sind und ob die Einbeziehung zusätzlicher Werke tatsächlich unabdingbar ist, obwohl Erkenntnisinteresse und Argumentationslinien längst klar exponiert worden sind. Auch die mitunter geradezu obsessiv anmutende, immer wieder dieselben Differenzaspekte markierende Auseinandersetzung mit der bereits kritisch reflektierten Forschungsliteratur erzeugt unerquickliche Redundanzen. Hinsichtlich dieser Punkte kann man allerdings mit einigem Recht einwenden, dass es je nach speziellen Forschungsinteressen Leserinnen und Leser gibt, die sich vielleicht gerade für jene von anderen als redundant empfundenen Darlegungen interessieren. Zum anderen drängt sich angesichts seiner kleinteiligen und bisweilen detailverliebten Ausführungen jedoch auch die Frage auf, ob Berning die übergeordneten Koordinaten seiner Argumentation nicht ein wenig aus dem Auge verloren hat. So ist zu fragen, inwiefern Dramen-, insbesondere aber die hierfür vorrangig in Stellung gebrachten Prosatexte der „Gehirne“ einen Neubeginn der Lyrik hätten ermöglichen sollen. Dies erschließt sich selbst dann nicht, wenn man berücksichtigt, dass im Fall der „Gehirne“ keineswegs von konventioneller Prosa gesprochen werden kann. Die Problematik einer solchen Annahme wird an der wenig reflektierten Terminologie ersichtlich, die immer dann zum Einsatz kommt, wenn der Übergang von narrativem zu angeblich ,lyrischem‘ Sprechen in diesen Erzählungen konstatiert wird. Was versteht der Verfasser darunter? Dies wird an keiner Stelle seiner Arbeit methodisch reflektiert. Die Rede ist sodann vom „Einsatz klanglicher Mittel“ (S. 311), vom „Sprung in die Metapher“ (S. 318), vom „Bewusstseinsstrom“ mit „Anfängen des Lyrischen“ (S. 342), von einer „Imagination“ als „Vorstufe der Lyrik“ (S. 428) oder von „Lyrismen und poetischen Sprachbilder[n]“ (S. 441). Rönnes Außenwelt werde „sprachlich in die Metapher transformiert – und damit lyrisch [ge]bannt oder, anders gesagt, poetisch verwertbar [ge]macht“ (S. 384); in den Novellen finde sich „wissenschaftliche[s], aber auch freie[s] und endlich lyrische[s] Assoziieren“ (S. 418). Die Beispiele ließen sich vermehren. Metaphorik, Klanglichkeit, imaginatives oder assoziatives Sprechen können Elemente lyrischen Sprechens sein. Sie müssen es aber nicht und sie sind jedenfalls keineswegs hinreichende Bedingungen dafür.

Matthias Berning: Anemonenschwert und Lydditgranate

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Man kann die angesprochene Problematik auch aus der Perspektive der im Verhältnis zu den „Morgue“-Gedichten neuen, qualitativ anders gearteten Lyrik der Brüsseler Zeit betrachten. Wenn Berning von der „Formbereicherung“ spricht, „die [Benns] Arsenal an lyrischen Mitteln in Brüssel gewann“ (S. 469), dann werden damit nämlich Aspekte angesprochen, die von den als lyrisch bezeichneten Passagen der „Gehirne“-Novellen auch nicht ansatzweise erreicht werden: die Aktualisierung der Odenform sowie des Odentons (vgl. S. 448–455) und das Aufgreifen freirhythmischer, hymnisch-dithyrambischer Verse (vgl. S. 455–463) im Gefolge Hölderlins, der kalkuliert-raffinierte Einsatz metrischer Gestaltung und Reimbindung (vgl. S. 463–470), das Experimentieren mit einer frühen Form des im Spätwerk vorherrschenden Parlando-Tons, das zu einer Verabsolutierung der inhaltsindifferenten Formgebung tendiert (vgl. S. 474–481) oder die Hinwendung zu einer poetologischen, den literarischen Schaffensvorgang thematisierenden Lyrik (vgl. S. 487–491). Mit allen diesen Aspekten kann die Assoziationsketten-Prosa der „Gehirne“ allein schon deshalb nicht mithalten, weil die für Lyrik konstitutive Versbindung – „[z]u den protoypischen Zügen der Lyrik gehört […], dass es sich um Versrede (Gedichte) handelt“¹ – im wahrsten Sinne des Wortes ästhetische Spielräume in formaler und gehaltlicher Hinsicht schafft, die dem Prosatext per se verschlossen bleiben. Jedenfalls ist die Aussage, „dass [Benns] Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten eher in der lyrischen Sprache der Prosa als in den Gedichten selbst gelingt“ (S. 519), nicht nachvollziehbar und wird von Bernings eigenen Forschungen unterlaufen. Da Berning explizit von „Prosalyrik“ (S. 319 und 323) bzw. einem „Gedicht in Prosaform“ (S. 305) spricht und in diesem Zusammenhang Arthur Rimbaud erwähnt, wäre es ergiebiger gewesen, bei seinem gattungsübergreifend angelegten „synoptischen Blick“ (S. 17) Forschungen zum Prosagedicht² einzubeziehen, anstatt im Unterkapitel über Gattungsfragen (vgl. S. 278–283) nochmals das schon wiederholt erörterte Problem des Novellenbegriffs der Rönne-Prosa zu diskutieren. Da Benn selbst das Verhältnis von Lyrik und Prosa bezüglich seiner Essayistik des Öfteren und widersprüchlich reflektiert hat, hätte eine solche Option innovative, über Bernings Untersuchungszeitraum hinausreichende Forschungsimpulse setzen können. Die Monographie kulminiert inhaltlich in den Ausführungen zum „Psychiater“Zyklus. Dieser Zyklus steht am Ende des 1917 veröffentlichten Gedichtbandes „Fleisch“, der parallel zu dem fast zeitgleich vorgelegten, gleichfalls zyklisch ge1 Rüdiger Zymner: Lyrik, in: Handbuch Literaturwissenschaft. Band 1. Gegenstände und Grundbegriffe, hg. v. Thomas Anz, Stuttgart und Weimar 2007, S. 67–73, hier S. 67. 2 Vgl. Wolfgang Bunzel: Das deutschsprachige Prosagedicht. Theorie und Geschichte einer literarischen Gattung der Moderne, Tübingen 2005.

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ordneten Novellenband „Gehirne“ zu betrachten sei, weil Benn mit diesen beiden Publikationen seine Neuerfindung als Dichter überzeugend abgeschlossen habe (vgl. S. 513–514). Ob sich der Begriff der Zyklizität für den Novellenband sinnvoll verwenden lässt, sei dahingestellt. Berning selbst hat seine Probleme mit der seines Erachtens offenbar nicht hierzu gehörigen, in den ersten beiden, 1916 und 1918 erschienenen Auflagen dieses Bandes jedoch enthaltenen Erzählung „Die Insel“ (vgl. S. 278–279, 442 u. 531–533). Außerdem spricht er selbst davon, dass Benn seine Dichtergenese als avantgardistischer Autor in dem „vor Brüssel entstandenen Titelstück Gehirne längst praktisch durchgeführt“ (S. 514) hatte. Unter dieser Prämisse stellt sich die Frage, ob sodann von einer zyklischen, auf die Dichtergenese in der letzten Erzählung „Der Geburtstag“ zulaufenden Tektonik überhaupt noch ausgegangen werden kann. Und schließlich wird diese Tektonik mit dem Argument vorgetragen, dass in den vorangegangenen Erzählungen die dichterische Selbstfindung immer nur sporadisch gelinge und nicht auf Dauer gestellt werden könne (vgl. S. 366, 418–419 u. 431), während andererseits bei den Gedichtanalysen zu Recht mehrmals auf eben jenes lediglich Transitorische der im und durch das Gedicht sich vollziehenden dichterischen Selbstermächtigung hingewiesen wird: Als „Kunst für die Dauer eines erfüllten, trügerischen Moments“ (S. 459) huldige Benns Lyrik dem im „Roman des Phänotyps“ dargelegten „Konzept des Stundengottes“ (S. 451). Die Parallelisierung des Aufbaus der beiden Autorenbücher in Prosa und Lyrik, die gegen Ende von Benns in mehrfacher Hinsicht als Etappe zu bezeichnenden Schaffensperiode in Brüssel erschienenen sind, hinkt also ein wenig. Unabhängig davon sind Bernings Darlegungen zum „Psychiater“-Zyklus am Ende von „Fleisch“ bemerkenswert und wertvoll. Zum einen wird damit das bislang viel zu wenig beachtete, nicht nur für Benns Lyrik, sondern z. B. auch für seine Essay-Bände seit „Fazit der Perspektiven“ (1927) wichtige Thema der Komposition seiner Gedichtbzw. Prosabände angeschnitten. Die Zyklen „Morgue“, „Alaska“ und „Söhne“ mit der sich teilweise überschneidenden Verwendung derselben Einzeltexte demonstrieren, dass der frühe Benn der Anordnung bzw. Zusammenstellung seiner Gedichte große Aufmerksamkeit schenkte. Zum anderen kann Berning die besondere ästhetische Qualität und herausragende inszenatorische Funktion von „Der Psychiater“ überzeugend belegen. Vielleicht sollte man die zwischen den einzelnen Gedichten bestehenden Interferenzen nicht so engmaschig knüpfen oder generell Zyklizität etwas weniger als eine teleologisch auf ein Ziel hinauslaufende „Geschlossenheit“ (S. 513) begreifen, wie Berning das vorschlägt (vgl. S. 494–495), weil so die für das Prinzip der Zyklizität wesentliche relative Autonomie der Einzeltexte etwas unterbelichtet bleibt.³ Grundsätzlich wird aber auf sehr zutreffende und stets

3 Vgl. Rolf Fieguth: Der Gedichtzyklus als Gegenstand historisch-vergleichender Betrachtung.

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nachvollziehbare Weise dargelegt, dass und inwiefern der Zyklus die Genese des „Ich[s] als souveräne[n] Schöpfer poetischer Konstruktionen inszeniert“ (S. 511). Die Monographie von Matthias Berning beschäftigt sich mit einer frühen Werkphase von Benns Schaffen, für die es relativ wenig zeitgenössische Sekundärliteratur – hier ist wirklich Sekundär- und nicht der fälschlicherweise oftmals damit gleichgesetzt Begriff der Forschungsliteratur gemeint – weder von ihm selbst noch von Dritten in der Form von Briefen, Diarien, Notizbüchern, Rezensionen etc. gibt. Obwohl Berning also gewissermaßen unter erschwerten Bedingungen arbeitet, gelingt es ihm, diese wichtigen, für Benns künstlerischen Werdegang entscheidenden Jahre auf einem vormals unerreichten Niveau zu rekonstruieren. Ob Benn damit ein „Durchbruch“ (S. 189) im literarischen Feld gelungen ist, steht auf einem anderen Blatt. Benns langes Schweigen als Lyriker nach 1917 und die danach zunächst sehr zögerlich einsetzende, wiederum andere Schreibtechniken erprobende Neujustierung seiner Produktion ist aus übergeordneter Perspektive so zu deuten, dass jenes Feld sich nach Kriegsende neu formiert und zunehmend andere literarische Erfolgsstrategien präferiert hat. Ebenfalls zu würdigen ist Bernings sensibler, semantische Nuancen und ästhetische Finessen hellsichtig diagnostizierender Umgang mit Benns Werk. In der Tat ist Benns Hölderlin-Rezeption trotz des vielzitierten, in den letzten Jahren allerdings häufig mit wissenspolitischer Schlagseite wahrgenommenen Tagebuch-Eintrags von Thea Sternheim (vgl. S. 154–155) in dieser Qualität noch nie dargestellt (vgl. S. 523) worden.⁴ Wünschenswert wäre allerdings eine starke Straffung der Monographie gewesen, um deren Lesbarkeit zu erhöhen und den Gang der Argumentation stärker zu profilieren. So steht leider zu befürchten, dass der bloße Textumfang abschreckend auf potenzielle Leserinnen und Leser wirkt, was diese im Kern anregende und instruktive Arbeit nicht verdient hätte.

Theoretische und methodologische Aspekte, in: Die Architektur der Wolken. Zyklisierung in der europäischen Lyrik des 19. Jahrhunderts, hg. v. dems. und Alessandro Martini, Bern u.a 2005, S. 407– 448. 4 Vgl. Kurt Bartsch: Die Hölderlin-Rezeption im deutschen Expressionismus, Frankfurt a. M. 1974, und Theo Meyer: Gottfried Benn und Friedrich Hölderlin. Probleme der lyrischen Produktivität, in: Benn Forum. Beiträge zur literarischen Moderne 1 (2008/2009), S. 3–24.

Stephan Kraft

Florian Illies: Über Gottfried Benn Köln: Kiepenheuer & Witsch 2022. 112 S., geb., € (D) 20 (ISBN 978-3-462-00325-3). Die neue, von Volker Weidermann beim Verlag Kiepenheuer & Witsch herausgegebene Reihe „Bücher meines Lebens“, in der prominente Autorinnen und Autoren Lektüren vorführen, die sie geprägt haben, wurde im Herbst 2022 programmatisch mit zwei Bänden ‚doppeleröffnet‘. Diese deuten zugleich die Spannbreite an, die bei diesem Unternehmen offensichtlich anvisiert ist: Auf der einen Seite steht Mithu Sanyal, die 2021 mit ihrem Roman „Identitti“ über eine fiktive Düsseldorfer Professorin der Postcolonial Studies Furore gemacht hat, die sich fälschlich als Person of Color ausgegeben hat. Sanyal präsentiert mit Emily Brontës „Wuthering Heights“ ihre erste Lektüre von Erwachsenenliteratur.¹ In diesem Roman einer jungen Autorin aus dem viktorianischen England entdeckt sie nun mit der unklaren Herkunft des Findelkindes Heathcliff überdies auch noch ein manifestes postmigrantisches Potential. Welch ein Glück, möchte man ausrufen, dass ihr damals im Alter von fünfzehn Jahren ein Roman in die Hände gefallen ist, der in verschiedenen Lebensphasen so eindringlich zu ihr zu sprechen vermochte. Florian Illies seinerseits, der das andere Ende dieses Bogens markiert, war schon tief in seinen Zwanzigern, als er dem ‚Buch seines Lebens‘ oder eher noch dem ‚Autor seines Lebens‘ intensiver begegnete. Den noch mitteljungen Mann nahm mit Frank Schirrmacher ein schon deutlich älterer im wörtlichen Sinne an die Hand, um mit ihm in Berlin die Finger in verbliebene Einschusslöcher aus dem Zweiten Weltkrieg zu legen und dabei Verse des noch viel älteren Mannes Gottfried Benn zu rezitieren. Illies, der, wie er schreibt, „sehr lange nicht rauschbereit“ gewesen war, stieß nicht auf Benn, sondern „wurde auf ihn gestoßen“ (S. 13). In der Folge suchte er die Nähe zur Quelle dieser Empfindungen – etwa über Besuche bei damals noch lebenden Frauen, die dem späten Benn etwas bedeutet hatten: Ursula Ziebarth und Astrid Claes. Benn als Person ist er dabei aber nie wirklich nähergekommen, so wie es ihm auch bei den zahlreichen Gelegenheiten ergangen ist, in denen er sich schreibend darum bemüht hat. Dies gelang ihm, wie er berichtet, weder in seinen Artikeln und Rezensionen zu Briefbänden und Biographien, von denen es nach seiner eigenen Zählung immerhin 27 gibt (vgl. S. 45),

1 Vgl. Mithu Sanyal: Über Emily Brontë, Köln 2022. Stefan Kraft, Würzburg https://doi.org/10.1515/9783111102740-015

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Stephan Kraft

noch in der prominenten Integration der Stimme und Perspektive Benns in seine hochgelobten und enorm erfolgreichen historischen Collagenbücher „1913. Der Sommer des Jahrhunderts“ (2012), „1913. Was ich unbedingt noch erzählen wollte“ (2020) und „Liebe in Zeiten des Hasses“ (2021) über das Deutschland der Jahre 1929 bis 1933. Das Resümee des nun vorliegenden zurückblickenden Berichts ist ein eindeutig gespaltenes: „Was für ein rätselhafter und unangenehmer Mensch war dieser Benn. Was für ein großer Dichter.“ (S. 93) Zuvor war – umstellt von allerlei Relativierungen – sogar davon die Rede, dass dieser ihm „oft zuwider“ (S. 62) war, und auch das Wort „Verachtung“ (S. 74) fällt. Die Bezugspunkte sind nur allzu bekannt: Benns Verhalten gegenüber Frauen und seiner nach Dänemark ‚abgeschobenen‘ Tochter, der Drahtzaun, den er gegenüber anderen Menschen um sich zog, seine Nähe zur NSIdeologie um 1933, seine Weigerung, dies später als einen vermeidbaren Fehler zu begreifen, etc. pp. Illies ist natürlich nicht der erste, der Benn als Autor verehrt und als Menschen nicht mag. Dies war schon zu Lebzeiten Benns gängig. So existieren eindrucksvolle Briefpassagen, in denen er selbst seiner im Ausland lebenden Tochter in der Zeit seines Comebacks um 1949 das Bild zu erklären versucht, das in Deutschland von ihm herrsche: Immer diese Artikel aus Hass-Liebe! Ich bin ihnen aufs Äusserste unsympathisch, schon ü ber mich zu schreiben, bedarf der Rechtfertigung durch Anpöbeleien, aber dann können sie eben doch alle nichts dagegen machen, dass das, was ich schreibe, ihre Zustimmung ja sogar ihre Bewunderung erregt. (Benn an Nele Topsøe, 27. April 1949, AdK Berlin)

Und drei Monate später heißt es: Meine vier Bücher sind ein ganz sensationeller Erfolg. Täglich kriege ich Aufsätze und Kritiken, – den meisten bin ich widerlich, aber sie müssen anerkennen, dass ich ein grosser Magier bin (ein Charlatan, wie Ilse immer sagt). Nun ich bin lieber ein Charlatan, der anregt, als ein Kleinbürger, der Stimmungen von sich giebt. (Benn an Nele Topsøe, 30. Juli 1949, AdK Berlin)

Florian Illies weiß selbstverständlich, dass er mit den dunklen Seiten Benns keine Neuigkeiten aufdeckt, und er ahnt auch, dass dieser Hiatus zwischen Leben und Werk zum ‚Prinzip Benn‘ dazugehört – und dies keinesfalls nur in dem Sinne, dass man eben lediglich auf das Werk schauen und den dahinterstehenden Menschen besser gar nicht beachten solle, sondern vielmehr, dass dieser Kontrast selbst von Benn geradezu inszeniert oder zumindest nachhaltig befördert wurde. Illies schwankt dementsprechend zwischen dem abstrakten Postulat der Trennung von Autor und Werk und deren innigster Verschlungenheit, etwa wenn er die erlebte Dissonanz geradezu als eine Prüfung begreift: Die Person Benn sei das Hindernis,

Florian Illies: Über Gottfried Benn

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das überstiegen werden müsse, um sich als seiner Kunst würdig zu erweisen (vgl. S. 74). Dieser also schon von Benn selbst in aller wünschenswerten Deutlichkeit entfaltete Widerspruch durchzieht nun als Grundtenor den gesamten schmalen Band. Leider tut er es mit einer merklichen Schlagseite, indem die vergeblichen Versuche, Benn als Person näherzukommen, sowie die biographischen Problemfelder sehr viel Platz einnehmen, während auf der anderen Seite die Ursachen der Faszination oft in Andeutungen verbleiben. Wiederholt setzt Illies darauf, dass bereits einfache Nennungen von Titeln oder der Abdruck von Verszeilen eine analoge Empfindung im Leser oder der Leserin bewirkt. Im vorderen Teil setzt er einmal am Beispiel seines erklärten Lieblingsgedichts „Teils-Teils“ zu einer näheren Auseinandersetzung mit dem Text an, bricht dann aber doch schnell wieder ab (vgl. S. 39). Erst in der finalen Lektüre von „Es ist ein Garten, den ich manchmal sehe“ (vgl. S. 83–86) erhält der Rezensent zumindest etwas von dem, was er sich am meisten gewünscht hat: einen eingehenden Bericht über das, was ein solches Gedicht bei diesem spezifischen Leser ausgelöst hat. Denn natürlich soll berücksichtigt werden, dass es sich bei dem Band von Illies nicht um ein wissenschaftliches Werk handelt. Schon der Reihentitel „Bücher meines Lebens“ betont die subjektive Färbung, die keine Konzession, sondern vielmehr Programm ist. Gleichwohl ist jetzt der Moment gekommen, in dem der Philologe sprechen muss, denn die Unschärfen und sachlichen Fehler in diesem Band finden sich wiederholt gerade an den argumentativ zentralen Stellen oder sind zumindest mit starken Effekten verbunden. So wird etwa einmal höchst eindringlich imaginiert, Oelze habe, als er 1936 den Brief mit dem Gedicht „Einsamer nie –“ empfing, geahnt, dass er „für lange Zeit und vielleicht für immer der einzige Leser bleiben wird (denn im Tausendjährigen Reiche hatte Benn längst Publikationsverbot).“ (S. 35) Allerdings erfolgte dieses Verbot erst 1938, und das Gedicht erschien schon sehr bald nach seinem Eintreffen bei Oelze in den „Ausgewählten Gedichten 1911–1936“ in der Deutschen Verlagsanstalt. Wenige Seiten später wird das letzte Schreiben von Benn an Oelze vom 16. Juni 1956 mit seinem berühmten „wir werden nicht fallen, wir werden steigen“² zum philosophisch und gar theologisch aufgeladenen letzten Brief seines Lebens stilisiert (vgl. S. 43 und dann nochmals S. 92). Dass nach diesem Datum noch einige weitere, nicht überlieferte Schreiben Benns dokumentiert sind, muss der Verfasser nicht wissen. Aber dass Benn am selben Tag – unklar, ob vor dem Brief an Oelze

2 Gottfried Benn an Friedrich Wilhelm Oelze am 16. Juni 1956, in: Gottfried Benn und Friedrich Wilhelm Oelze: Briefwechsel 1932–1956, hg. v. Harald Steinhagen, Stephan Kraft und Holger Hof, Bd. 4: 1951–1956, Stuttgart und Göttingen 2016, S. 393–394.

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Stephan Kraft

oder danach – auch an dessen zentrale Antipodin in dieser Zeit geschrieben hat, hätte er schon präsent haben können. Immerhin spielt Ursula Ziebarth, um die es sich hierbei natürlich handelt, eine nicht unbedeutende Rolle im vorliegenden Band. Allerdings klingt der parallele Brief an sie so gar nicht nach einem prämortalen Abschiedsschreiben mit Blick auf das Jenseits: „[L]ege Dich auf Deinen schönen Teppich, rolle alle Gelenke, lasse Blut durch alle Organe strömen, wenn ich zurückbin, besichtige u beschaue ich alles!“³ Benns letztes Schreiben an Oelze ist Illies wohl nicht zuletzt deshalb so wichtig, weil es ihm Teil seiner Strategie wird, die er im Schlusskapitel „Gottfried Benn glaubt“ entfaltet – der Idee, dass Benn eine finale Läuterung hin zu einem besseren, eventuell sogar ‚religiös heimgekehrten‘ Menschen durchlebt habe. Leider hat auch in diesem Kontext ein wichtiger Baustein wieder die falsche Farbe. Zentraler Beleg für die Vermutung, dass der späte Benn zum Sucher eines Sinns im Jenseitigen wird, ist Illies das Gedicht „Trunkene Flut“ (vgl. S. 90), das allerdings keineswegs zum Spätwerk gehört, sondern schon aus den Zwanzigerjahren stammt. Nein, Illies will auf diesem recht verqueren Wege nicht die lyrische Kunst Benns ‚retten‘. Die bleibt ihm auch so ‚rein‘ (worüber separat zu diskutieren wäre). Aber er sucht offenbar bis zum Schluss nach einem Ausweg aus seinem persönlichen Dilemma, das in einer Welt, in der eine moralisierende Befragung von Kunst und ihrem Umfeld stetig zunimmt, eher größer wird als kleiner. Das ist als Wunsch nur zu verständlich. Allerdings steht dagegen der Wunsch wahrscheinlich nicht allein des Rezensenten, anstelle dessen im Zuge einer reflektierten Selbstbefragung lieber mehr darüber zu erfahren, wie denn nun Benns Lyrik auf den konkreten Leser Florian Illies gewirkt hat. Immerhin hat dieser Rezipient in den vergangenen zwei Jahrzehnten wohl mehr für die Präsenz dieses Autors im breiten öffentlichen Diskurs getan als irgendein anderer.

3 Gottfried Benn an Ursula Ziebarth am 16. Juni 1956, in: Hernach. Gottfried Benns Briefe an Ursula Ziebarth. Mit Nachschriften von Ursula Ziebarth, hg. v. Jochen Meyer, Göttingen 2001, S. 397.

Peter Lingens

Silvia Kind trifft Gottfried Benn. Tagebücher und Briefe Berlin 1948–1950 Hg. v. Manuel Jakubith und Ueli Dubs. St. Gallenkappel: Edition Königstuhl 2022. 215 S., geb., € (D) 23,80 (ISBN 978-3-907339-14-5). Gottfried Benns Leben ist für viele seiner Leser/innen mindestens so interessant wie sein Werk. So gibt es im Schrifttum über ihn zwei dominierende Betrachtungsbereiche: Zum einen den, der sich mit dem literarischen Werk Benns befasst, und zum anderen den, der sich mit seinem Leben beschäftigt. Das vorliegende Buch befasst sich mit einem Randthema des zweiten: Gottfried Benns Bekanntschaft zu Silvia Kind in den Jahren 1948 bis 1950. Laut den beiden Autoren des Buches „die einzige Frau, von der wir wissen, dass sie von Benn aufgrund ihrer couragierten Haltung Hausverbot erhielt.“ (S. 4) Wie es dazu kam, will das Buch aufzeigen. Die beiden Verfasser stellen sich selbst als Chemiker sowie als Ökonom und Jurist vor (vgl. S. 215); der erste bezeichnet sich als „Autor“ des Buches (Manuel Jakubith), der zweite als „Co-Autor und Herausgeber“ (Ueli Dubs). Jakubith ist seit Jahrzehnten Benn-Sammler und profunder Benn-Kenner, insbesondere auch biographischer Zusammenhänge. Dubs ist der Großneffe und Nachlassverwalter von Silvia Kind. Hier kommen also zwei Experten für ihre jeweiligen Materien zusammen, die einen Aspekt aus dem Benn-Kosmos beleuchten, der bislang noch nicht bearbeitet war: Die Bekanntschaft des Schriftstellers mit der Schweizer Musikerin Silvia Kind (1907–2002). Sie war ausgebildete Cembalistin sowie Konzertpianistin und hatte von 1929 bis 1936 in Berlin studiert, u. a. bei Paul Hindemith. Im Berlin der Nachkriegszeit wurde sie ab Ende Oktober 1948 Professorin an der Hochschule für Musik und Solistin in Rundfunkorchestern sowohl des amerikanischen als auch des sowjetischen Sektors. Das Buch teilt sich in drei große Hauptbereiche. Erstens in ein einleitendes Gespräch zwischen den beiden Autoren über Silvia Kind, ihr Leben und ihre Persönlichkeit, zweitens in den Abdruck von Einträgen aus ihrem Tagebuch aus der Zeit zwischen Juni 1948 und Mai 1950 und drittens in den Abdruck des kurzen Briefwechsels zwischen Benn und ihr. Bevor auf die Präsentationsweise des Buchinhaltes eingegangen wird, etwas zu diesem selbst: Die Autoren schreiben gleich auf Seite 6, dass Kind die „Hauptperson des Textes“ sei und die „Benn-Community […] darüber vielleicht etwas unglücklich Peter Lingens, Offenbach am Main https://doi.org/10.1515/9783111102740-016

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Peter Lingens

sein“ würde. Glücklicherweise aber hatte Silvia Kind von Oktober 1948 bis April 1949 eine intensive Liebesbeziehung mit Erhard Hürsch (1920–2009), die in ihren Tagebuchnotizen sehr präsent ist. Dadurch lernt man Erhard Hürsch als leidenschaftlichen Liebhaber kennen und erfährt nebenbei aber auch, wie oft dieser und Benn sich trafen. Das wiederum ist für die „Benn-Community“ durchaus interessant, denn Hürsch war immerhin derjenige, der Benn die erste Nachkriegspublikation vermittelte und so bei dessen Wiederaufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg eine entscheidende Rolle spielte. Durch Hürsch lernt Silvia Kind am 18. Dezember 1948 Gottfried Benn kennen, als sie zu einem Besuch beim Ehepaar Benn mitgenommen wird. Schon den folgenden Heiligen Abend verbringen die vier zusammen, auch an Neujahr trifft man sich. Das Verhältnis von Benn zu Silvia Kind scheint nicht ganz klar zu sein. Es gibt Andeutungen der Autoren, Benn habe bei einem Konzert am 8. Januar 1949 „carnale Lüste“ (S. 90) gegenüber Kind und Eifersucht gegenüber Hürsch verspürt. Silvia Kind glaubt am 20. Februar 1949 „Frau [Benn] scheint eifersüchtig.“ (S. 101) Jedoch: Wenn Gottfried Benn ein weitergehendes Interesse gehabt hätte, so gäbe es andere Briefe von ihm an Silvia Kind als die überlieferten, und sie hätte es wohl ohne Zurückhaltung in ihrem Tagebuch vermerkt. Jedenfalls tröstet Benn Silvia Kind väterlich-freundschaftlich nach ihrer Trennung von Erhard Hürsch, die sich als lange, schmerzliche Phase in ihrem Tagebuch spiegelt. Einem Brief an Max Niedermayer vom 8. August 1949 (vgl. S. 154) entnehmen wir wiederum, dass Benn Silvia Kind als unangemessen im Verhalten und etwas verrückt einstufte. Sie selbst fasst ihr Verhältnis am 12. Oktober 1949 so zusammen: „1. Phase: Hofmachen / 2. Phase: väterlich 3. Phase: (chauvihaft) kollegiale herzliche Feindschaft“ (S. 166). Der Großteil des Bandes besteht aus Tagebucheinträgen Silvia Kinds aus ihrer Berliner Zeit; sie füllen die Seiten 40 bis 173. Es sind stets sehr knappe Notate, keine längeren Passagen, bei denen man in einen Lesefluss und -genuss käme. Als Eigenart der Edition muss man erwähnen, dass die Tagebuchnotizen – obwohl chronologisch abgedruckt – von den Herausgebern in kleine Kapitel eingeteilt und diese wiederum mit Überschriften versehen wurden. Zwischen den ‚Tagebuchkapiteln‘ – aber auch innerhalb dieser – bieten die Autoren zudem immer wieder Erläuterungen und diverse Hintergründe. Mal sind es solche zu Politik und Kultur im Berlin der Nachkriegszeit, die man als Beschreibungen des Umfelds lesen kann, das auch Benn beeinflusste, mal sind es zeitgleiche Briefe Benns an Erich Reiss oder F. W. Oelze, mal Ausführungen über Gottfried Benns Ehe mit Ilse oder über andere Personen aus deren Umkreis. Derartiges steht in germanistischen Brief- oder Tagebucheditionen normalerweise in einem Nachwort oder in den Kommentaren, hier aber direkt zwischen den Tagebucheinträgen. Eine klare Trennung der Kindʼschen Tagebuchedition von den – sehr kenntnisreichen – Erläuterungen zum Benn-Kosmos wäre vielleicht sinnvoll gewesen.

Silvia Kind trifft Gottfried Benn. Tagebücher und Briefe Berlin 1948 – 1950

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Reizvoll ist, dass am Rand der Tagebuchedition zeitgleiche Eintragungen aus Benns Tageskalendern über die Treffen mit Erhard Hürsch oder Silvia Kind in Umrahmungen geboten werden und die Leserschaft so erfährt, was Benn über die Begegnungen notierte, bzw. man überhaupt von Treffen erfährt, die Kind nicht für erwähnenswert hielt. In einer dieser Randbemerkungen steht ein Aperçu Benns über Musik vom Januar 1950: „Das Cembalo ist der Kupferstich der Musik“ (S. 170). Es kam ihm sicher aufgrund der Tatsache in den Sinn, dass Kind Cembalistin war. Benn greift diese Formulierung in einem Brief vom 14. Februar 1950 an sie auf und führt aus: „Genau berechnet, fein gestochen, zieseliert [sic!] … und dabei einschmeichelnd. Etwas Raffiniertes muss immer dabei sein!“ (S. 189) Da die Autoren diesen Brieftext laut Fußnote aus einem Auktionskatalog übernahmen, steht in der Edition nun leider nichts mehr vom Kupferstich, sondern vom „Cembalo als der Körper auch der Musik“ (ebd.). Offenbar ein Transkriptionsfehler im Auktionshaus, aber das Aperçu ist perdu. Der eigentliche Höhepunkt der Beziehung Benn/Kind findet sich im auf die Tagebuchnotizen folgenden kurzen Briefwechsel. Am 14. Februar 1950 schreibt Benn den bereits erwähnten Brief an Silvia Kind, in dem er sie (die als Musikerin ja auch im sowjetischen Sektor auftritt) eingangs als „verehrte und verführerische Vertreterin der anarchistischen Jugend Europas (fünfte Kolonne)“ (ebd.) bezeichnet. Der Brief behandelt hauptsächlich den Schriftsteller Werner Helwig (1905– 1985) und hat einen warmen, freundlichen Ton. Im Buch folgt ein durchaus konfrontatives – undatiertes – Schreiben von Silvia Kind, worin sie als stolze Schweizerin ausführt, sie sei immer anarchistisch, wenn eine Regierung diktatorisch werde, und Benn seine anfänglich positive Haltung zum NS-Staat mit den Worten vorwirft: „Sie und alle anderen, die die Regierung Hitler für‚legal‘ erklärten.“ (S. 190) Die Autoren platzieren diesen undatierten Brief zwischen das Schreiben Benns über Helwig vom 14. Februar 1950 und Kinds Antwort darauf vom 18. Februar 1950, ebenfalls über Helwig. Die Autoren bieten ferner eine Liste von Treffen Gottfried und Ilse Benns mit Silvia Kind aus der zweiten Jahreshälfte 1950 (vgl. S. 175). Der letzte Termin am 14. Dezember 1950 wird im Buch als „Flasche xxxx mit Silvia Kind“ (ebd.) wiedergegeben. So erscheint das Verhältnis Benn/Kind nach jenem undatierten, aber harschen Brief erstaunlich ungetrübt, bis zu einem Schreiben Kinds an Benn vom 31. Dezember 1950. In diesem zählt sie Engagements von anderen Schweizer und westlichen Musikern in Ost-Berlin auf, um zu rechtfertigen, dass auch sie selbst im sowjetischen Sektor auftritt. Der nächste Passus im Brief handelt von einem von Benn abrupt beendeten Telefonat und einem (dabei?) erteilten Hausverbot ohne Chance zur Aussprache. Was der Anlass hierfür war, wird aus dem Brief vom Jahresende nicht ersichtlich. Da das letzte Treffen am 14. Dezember 1950 von Benn in seinem Kalender jedoch nicht mit den Worten „Flasche xxxx mit Silvia Kind“, sondern – das zeigt der

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Blick in das Original – als „Sache mit Silvia Kind“ vermerkt wurde und diese Formulierung bei Benn oftmals eine Umschreibung für Streit darstellt, scheint tatsächlich erst hier der Wendepunkt in ihrer Freundschaft zu liegen. Nach den Andeutungen in dem Brief Silvia Kinds vom 31. Dezember zu urteilen, wird es hierbei zu einem Disput über Kinds musikalische Engagements im sowjetischen Sektor gekommen sein. Dann wäre auch der undatierte Brief, in dem die junge Frau ihre „anarchistisch[e]“ (S. 190) Haltung verteidigt und Benn im Gegenzug die Anerkennung Hitlers vorwirft, im Briefwechsel wohl erst nach dem 14. Dezember – und nicht zwischen den Briefen über Helwig vom Februar 1950 – einzusortieren. Das Telefonat mit dem Hausverbot wäre dann in der zweiten Dezemberhälfte erfolgt, woraufhin Kind ihren langen Brief vom 31. Dezember schrieb und schließlich um dessen Rücknahme bat, auch um ihre Zahnbehandlung bei Ilse abschließen zu können. Ihr Schlusssatz („Leute, die so konsequent wie ich gegen Diktatur kämpften und kämpfen – stehen Ihrer Wohnung nur gut an.“ [S. 198]) machte es für Benn aber offenbar unmöglich, ihrem Wunsch nachzukommen. Silvia Kind jedenfalls betrat die Bozener Str. 20 nicht mehr. Erst sechs Jahre später erwidert Benn ihren Glückwunsch zu seinem 70. Geburtstag freundlich. In Summe: Man findet einiges in diesem Buch, das interessant und bei der Beschäftigung mit Benns Biographie bereichernd ist. Es bietet neue Mosaiksteine zum Bild des Dichters und führt mit Silvia Kind eine weitgehend übersehene Person in den Benn-Kosmos ein. Das Werk ist vom Schweizer Verlag Edition Königstuhl schön ausgestattet, in Leinen gebunden und reich bebildert.

Jasmin Grande

Nicole Rettig: Statische Moderne. Zum Begriff der Statik in bildender Kunst, Literatur und Architektur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Berlin und Boston: de Gruyter 2022. 297 S., geb., € (D) 59,95 (ISBN: 9783110730913). Mit der ‚Statischen Moderne‘ plädiert Nicole Rettig für einen Begriffskomplex, der bisher, aufgrund der aufmerksamkeitsheischenden Kategorien der Dynamik, der Schnelllebigkeit und Hinwendung zu Zukünftigem am Beginn des 20. Jahrhunderts, nicht ausreichend Wahrnehmung gefunden habe. Als Grundlage dienen ihr einerseits Quellen der Literatur- und Kunstgeschichte, wie z. B. Gottfried Benns Lyriksammlung „Statische Gedichte“, Jean Tinguelys Manifest „Für Statik“ oder Richard Huelsenbecks Vergleich zwischen einem bruitistischen, einem simultanistischen und einem statischen Gedicht im „Dadaistischen Manifest“. Darüber hinaus fasst sie die Funktion von Statik in der Moderne konzeptionell. Diese liegt, so Rettig, im Austarieren der Spannungen in „Zeit[en] des Umbruchs, der Veränderung und Beschleunigung“ (S. 1), insbesondere zwischen „Alt und Neu“ (S. 213), zwischen Geschichte und Gegenwart etc. In ihrem „Beitrag zur interdisziplinären Begriffsgeschichte“ (S. 6) geht es Rettig sowohl um die Erarbeitung eines die literarischen, künstlerischen oder architektonischen Produkte des 20. Jahrhunderts miteinander verknüpfenden, übergreifenden Grundgedankens als auch um das sich wandelnde semantische Feld und die metaphorischen Ebenen von ‚Statik‘. Erweitert wird das Wortfeld durch die es „[um]kreisenden Begriffe wie Gleichgewicht, Balance, Konstruktion, Exaktheit, Form und Formel, Maß und Mitte, Statue, Stabilität, Ruhe, Bewegungslosigkeit und Ewigkeit“ (S. 213). 2022 ist die Dissertation Nicole Rettigs in der von Iris Därmann, Andreas Gehrlach und Thomas Macho herausgegebenen Reihe „Undisziplinierte Bücher. Gegenwartsdiagnosen und ihre historischen Genealogien“ erschienen. Sie löst hierbei die Reihenbeschreibung souverän ein, indem sie dem Konzept der Statik vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zu einem kleinen Ausblick in die Gegenwart nachgeht. „Undiszipliniert“ ist der Band aufgrund seiner disziplinenübergreifenden Materialien und der Verschränkung fachspezifischer Diskurse, denn die Grundlage der ‚Statischen Moderne‘ besteht in der Vernetzung verschiedener WissensbereiJasmin Grande, Düsseldorf https://doi.org/10.1515/9783111102740-017

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che.¹ Besonders hervorzuheben ist auch die Qualität der Abbildungen, die die Thesen des Bandes nachvollziehbar machen. Ein Ausgangspunkt der Fragestellung ist Alfred Gotthold Meyers „Eisenbauten. Ihre Geschichte und Aesthetik“ (1907), der den Ingenieur als Architekten einer epochalen Eisenästhetik (er)findet und mit dem „statischen Gefühl“,² das dem Konstruktionsprozess vorausgeht, das Statische sowohl als emotionalen als auch rationalen Prozess markiert, der dem Begriffsverständnis von Rettigs erstem Beispielkomplex, Mondrians Neoplastizismus, entspricht. Anschließend an das Kapitel zu Piet Mondrian, das umfangreichste der Arbeit, stehen der Künstler und Theoretiker des Bühnenbilds Oscar Schlemmer sowie Gottfried Benn im Zentrum der Analyse. Den Text- und Bildcorpus ergänzen Werke von u. a. El Lissitzky, Theo van Doesburg oder László Moholy-Nagy und Robert Musil, dessen „Der Mann ohne Eigenschaften“ (1931/32) vor allem als Referenz für die literarische Gestaltung der Moderne dient. Eine Vernetzung zwischen den drei großen Kapiteln leisten zwei kürzere ‚Intermezzi‘, die das Verhältnis des Dadaismus zur Statik am Beispiel von Richard Huelsenbeck und Raoul Hausmann untersuchen und mit Jean Tinguelys Manifest „Für Statik“ (1959) einen Ausblick auf die Zeit nach der Shoah und dem Zweiten Weltkrieg vornehmen. Methodisch arbeitet Rettig ergänzend zur interdisziplinären Begriffsgeschichte mit diskursanalytischen, ideengeschichtlichen, rezeptionsästhetischen, text- und bildtheoretischen Fragestellungen. Die Kapitel sind mit den Künstler- bzw. Dichternamen sowie einer Einordnung des jeweiligen Statikverständnisses betitelt – Piet Mondrian sucht die „Signaturen der Statik“ (S. 15) im Neoplastizismus, Oskar Schlemmer legt den Fokus auf „Maß und Mitte“ (S. 154) im Bühnenbild, und bei Gottfried Benn ‚triumphiert‘ die Statik (vgl. S. 213). Die Unterkapitel sind jeweils nur mit einem Wort überschrieben, das sich mal auf den Schwerpunkt des Abschnitts bezieht, mal den Inhalt zusammenfasst. Ergänzend zur Reflexion über die Ansätze der Akteure führt der Band sukzessive in seine übergreifende Thematik ein, Grundzüge der Lesart von Statik werden im Unterpunkt „Äquilibrium“ vorgestellt. So verwendet z. B. Mondrian das Wort „Statik“ in seinen kunsttheoretischen Arbeiten nicht, Rettig weist jedoch nach, dass Gleichgewicht „(lat. Aequilibrium)“ (S. 20) für eine Facette von Statik steht:

1 Die Moderneforschung kennt weitere Themen und Diskurse, die, dem Ansatz zur Statik von Nicole Rettig ähnlich, das transdisziplinäre Potential des 20. Jahrhunderts ausloten. So z. B. Regine Prange: Das Kristalline als Kunstsymbol. Bruno Taut und Paul Klee. Zur Reflexion des Abstrakten in Kunst und Kunsttheorie der Moderne, Hildesheim, Zürich und New York 1991, oder auch Angelika Thiekötters verschiedene Publikationen, z. B.: Kristallisationen, Splitterungen. Bruno Tauts Glashaus. Eine Ausstellung des Werkbund-Archivs im Martin-Gropius-Bau, Berlin 1914. Vgl. auch Glasgalaxien. Über Avantgarde, hg. v. Jasmin Grande, Berlin und Boston 2022. 2 Alfred Gotthold Meyer: Eisenbauten. Ihre Geschichte und Aesthetik, Esslingen a.N. 1907, S. 48.

Nicole Rettig: Statische Moderne

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Mondrian kommt in seinen Schriften immer wieder auf den Begriff des Gleichgewichts zurück, der so zu einem grundlegenden Stichwort der Neuen Gestaltung avanciert. Letztlich geht es ihm vor allem darum, in der Kunst das Individuelle, Chaotische zu verdrängen, um zum Absoluten, Universellen vordringen zu können. (S. 16)

Die von Rettig gewählte Struktur lädt zum Nachdenken über Symmetrie und Reduktion in Inhaltsverzeichnissen ein, sie macht Parallelen deutlich, wie z. B. in den beiden identisch betitelten Unterkapiteln „Statik/Dynamik“ (S. 27 und S. 169) bei Mondrian und Schlemmer, sie unterstützt aber auch den experimentellen Anteil der Fragestellung: Hier wird eben keine vollständige Geschichte der ‚Statischen Moderne‘ präsentiert, sondern Facetten des Statischen für eine ergänzende Kunsttheorie und Poetik innerhalb des 20. Jahrhunderts vorgeschlagen. Leider erfährt der Modernebegriff im Rahmen der Arbeit keine eigene Reflexion, es scheint sich hierbei um eine als gesichert verstandene Referenzebene zu handeln, die der Ausdifferenzierung des Statischen dient. Geht man davon aus, dass mit ‚Moderne‘ die fortwährende Spannung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Avantgarde und Historismus, Kulturpraktiken der Tradition und Lesarten der Zukunft gemeint ist, so stellt die ‚Statische Moderne‘ das verlorene Andere der dynamischen Moderne dar. Das Konzept ist somit weitgehend antagonistisch angelegt, wenngleich nicht ausschließlich, denn der begriffsgeschichtliche Ansatz ermöglicht es der Autorin, die Vielfalt der Bedeutungsebenen in den verschiedenen Wissensbereichen vorzustellen und immer wieder Berührungspunkte aufzuzeigen. Rettig konstruiert ‚Statik‘ somit als Kontrastbegriff, der seine Relevanz als Gegenpol zur Dynamik findet: Als sich Theo van Doesburg von der statisch wirkenden Kunst des Neoplastizismus abwandte, betonte er, dass das Leben nicht nur statisch sei, sondern auch dynamisch. Und will Tinguely nicht umgekehrt mit seiner Aktion ausdrücken, dass das Leben nicht nur dynamisch, sondern auch statisch ist? […] So gilt also, dass die Statik unmittelbar an die Bewegung gebunden ist. Aber auch umgekehrt gilt: „Bewegung ist das einzige Statische, Endgültige, Dauerhafte und Gewisse“. (S. 256)

Im Verhältnis zu Begriffen und Phänomenen wie z. B. Avantgarde, Künstler*innenkolonien oder der ‚absoluten Prosa‘ stellt die ‚Statische Moderne‘ eine Bündelung verschiedener, z.T. unabhängiger oder sogar gegenteiliger Themen dar, auch wenn ihn die von Rettig analysierten Künstler und Dichter größtenteils programmatisch gesetzt und ausdifferenziert haben. Erst über die Titelmatrix ‚Statische Moderne‘ wird der Begriff ‚Statik‘ zum epochenprägenden Phänomen, das aber nicht, wie etwa die Formel ‚emphatische Moderne‘ produktionsästhetisch funktioniert, sondern vielmehr kulturanthropologisch.

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Die zeitliche Verortung nach dem Ersten und vor dem Zweiten Weltkrieg verbindet die Künstler und Schriftsteller, die Rettig untersucht. Sowohl für Mondrian als auch für Schlemmer legt die Arbeit den Schwerpunkt auf die 1920er Jahre. Statik wird dabei u. a. zum differenzrelevanten Kriterium zu anderen Avantgardebewegungen, z. B. im Umfeld von De Stijl: In den Werken der Stijl-Künstler offenbart sich also ein vom Verstand geleiteter Wille zur Totalität, der durch Ausgleich diverser Gegensätze zur Anschauung gebracht werden soll. Der harmonische Eindruck, der hierdurch suggeriert wird, fehlt den grellen, wirbelnden, multiperspektivischen Darstellungen von Kubisten, Expressionisten, Dadaisten und Futuristen. (S. 26)

In Abgrenzung zu tradierten Bildkonzepten, wie z. B. der Zentralperspektive, zeigt Rettig wie u. a. Mondrian die strukturelle Funktion des Ausgleichens in seine Kunsttheorie übersetzt. Als Angebot zur Kontemplation wohnt dem Äquilibrium eine religiöse Dimension inne: „Das Erkennen des Äquilibriums wird […] zum religiösen Bekenntnis; es zu sehen und zu gestalten ist gleichsam eine religiöse Handlung“ (S. 21). Mit Gottfried Benns „Statischen Gedichten“, die, ergänzend zu Prosa-Texten, wie dem „Roman des Phänotyp“, und essayistischen und autobiographischen Texten in diesem Kapitel herangezogen werden, erweitert Rettig den Zeitrahmen. Hierbei kann sie auf Forschung sowohl zur Verwendung des Begriffs zurückgreifen³ als auch zum Material selbst, z. B. den „Statischen Gedichten“.⁴ Für ihre Analyse geht Rettig von den vier Facetten von Statik aus, die Antje Büssgen im „BennHandbuch“ herausgearbeitet hat und reflektiert sie im Kontext der ‚Statischen Moderne‘.⁵ Statik wird in dieser Lesart zum literarisch vermittelten Lebensentwurf. Mit Blick auf den „Radardenker“ stellt Rettig fest:

3 Antje Büssgen: „Statik“, in: Christian M. Hanna; Friederike Reents (Hrsg.): Benn-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2016, S. 305–306. 4 Harald Steinhagen: Die Statischen Gedichte von Gottfried Benn. Die Vollendung seiner expressionistischen Lyrik. Stuttgart 1969; Theo Meyer: Kunstproblematik und Wortkombinatorik bei Gottfried Benn. Köln und Wien 1971; Ingo Seidler: Statische Montage. Zur poetischen Technik im Spätwerk Gottfried Benns, in: Wolfgang Peitz (Hrsg.): Denken in Widersprüchen. Korrelarien zur Gottfried-Benn-Forschung, Freiburg 1972, S. 171–183; etc. 5 Büssgen, Statik, S. 306; Der Begriff ‚Statik‘ besitzt, wie sich zeigt, vier Bedeutungsdimensionen: (1) eine geschichtsphilosophische, die Benns Ablehnung von Teleologie und seinen ‚persönlichen Unglauben an eine Bedeutung der geschichtlichen Welt‘ zum Ausdruck bringt; (2) eine werkästhetische, die im Theoriegebäude der Bennschen Artistik das Kunstwerk als in sich ruhendes, ‚hinterlassungsfähiges Gebilde‘ charakterisiert; (3) eine produktionsästhetische, die auf Konstruktivität und geradezu klassische Materialbeherrschung abhebt; (4) eine psychologische, wenn mit dem Begriff eine resignative Haltung der Introversion und Affektlosigkeit artikuliert wird […].

Nicole Rettig: Statische Moderne

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Die Welt und sich aus der Situation heraus betrachten, im Hier und Jetzt leben, absolut sein im Moment, in dem Hirnstamm auf Technik und Regression auf Fortschritt trifft, das Gleichgewicht nur für den Augenblick suchen – das ist es, um was es dem Radardenker geht. Nicht um ein endgültiges Ausgleichen der Spannungen ist es ihm zu tun, sondern um ein situationäres Gleichgewicht […]. (S. 232)

Im Rückgriff Benns auf Nietzsche wird Statik schließlich zum Synonym für Kunst selbst: Die Kunst […], lässt sich aus Nietzsches Feststellung ableiten, garantiert Stabilität. Sie hält zusammen, was zu bersten droht. Sie bringt die auseinanderstrebenden, widerstreitenden Kräfte ins Gleichgewicht, ja sie trägt die gesamte Objekt-Subjekt-Konstruktion. Sie fungiert gewissermaßen als Statik. (S. 240)

Statik wird in dieser Lesart zum Grundkonzept der Epoche Moderne, weil sie ein Angebot macht, Schrift und Bild in ein kooperatives Verhältnis zu denken: Die Aktivierung des Imaginationsvermögens, das Spielen mit der Offenheit von Zeichen ist etwas, das charakteristisch für die „statische Moderne“ ist. Nicht nur Mondrian, auch Huelsenbeck und Benn provozieren mit ihrer Ästhetik ein „inneres Sehen“ […]. (S. 243)

Das Angebot der ‚Statischen Moderne‘, Text und Bild in ein Verhältnis zu setzen, das miteinander korrespondiert anstatt sie in Sparten oder Disziplinen voneinander zu trennen, gehört zu den hervorragenden Forschungserträgen des Bandes. Rettigs Forschungsarbeit ist an viele aktuelle Diskurse der Moderneforschung anschlussfähig, so bieten sich Reflexionen über das Verhältnis von Wissenstheorie und Statik Anfang des 20. Jahrhunderts z. B. im Kontext des Russischen Formalismus an. Auch ein gendertheoretischer Ansatz wäre interessant, ist doch die Dominanz des Männlichen in der Künstler- und Autorschaft des Buches nicht zu übersehen. Weiterhin legt Rettigs Ausarbeitung der Differenz zwischen dem kunsthistorischen Ansatz Hans Sedlmayrs in seinem Buch „Verlust der Mitte“ und Gottfried Benns Statikbegriff die Frage nach den reaktionären Lesarten von Statik im 20. Jahrhundert nahe. Darüber hinaus ließe sich fragen, ob Statik vielleicht auch in (weiteren) antimodernen und historistischen Positionen der ‚Moderne‘ aufgegriffen wurde.

Hendrikje J. Schauer

Philipp Pabst: Die Bedeutung des Populären. Kulturpoetische Studien zu Benn, Böll und Andersch. 1949–1959 Berlin und Boston: de Gruyter 2022. 346 S., geb., € (D) 99,95 (ISBN 978-3-1107-3960-2). „Wenn man in der Literatur die wieder erwachte Lebensfreude und den Witz vermisst, dann ist eine entspannte Wahrnehmung der Bundesrepublik in der populären Kultur, besonders im Schlager zu finden“, führt Dirk von Petersdorff in seiner kleinen „Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland“ im Kapitel über die „Nachkriegszeit und Fünfzigerjahre“ aus.¹ Populäre Schlager, auf „Massentauglichkeit“ angelegt, seien geeignet, das „Selbstverständnis größerer Gesellschaftsgruppen“² zu formulieren und, rhetorische Register von der Ironie bis zur Komik ziehend, für Heiterkeit und Jux zu sorgen. Das reicht in der unmittelbaren Nachkriegszeit bis zu gespenstischen Scherzen wie im „Trizonesien“-Song (1948): Greifen dessen Lyrics auf ein „bekanntes Muster deutscher Identitätsbildung“ zurück, führe der Refrain („Wir sind zwar keine Menschenfresser“) auf erschreckende Weise die „gut funktionierende Verdrängung der deutschen Verbrechen“ vor.³ Von Petersdorffs pointierte Ausführungen zeigen, wie ergiebig es sein kann, populäre Genres literaturgeschichtlich einzubeziehen. Mit solchen „literarische[n] Bezugnahmen auf populäre Kulturen“ (S. 9) zwischen 1949 und 1959 befasst sich die Dissertation von Philipp Pabst. Drei Autoren stehen im Zentrum seiner Arbeit: die beiden „bundesrepublikanische[n] Schriftsteller“⁴ Alfred Andersch (1914–1980) und Heinrich Böll (1917–1985), die gleichwohl, wie von Petersdorff in seiner Literaturgeschichte akzentuiert, „wichtige Prägungen weit vor 1945 erfahren“⁵ haben; zudem Gottfried Benn (1886–1956), dessen Werk, so von Petersdorff, „im Kern in eine andere historische Phase“ gehöre, auch wenn Benn den „literarischen

1 Dirk von Petersdorff: Literaturgeschichte der Bundesrepublik. Von 1945 bis zur Gegenwart, München 2011, S. 31. 2 von Petersdorff: Literaturgeschichte [Anm. 1], S. 31. 3 von Petersdorff: Literaturgeschichte [Anm. 1], S. 32. 4 von Petersdorff: Literaturgeschichte [Anm. 1], S. 8. 5 von Petersdorff: Literaturgeschichte [Anm. 1], S. 8. Hendrikje J. Schauer, Jena https://doi.org/10.1515/9783111102740-018

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Diskurs der Nachkriegszeit mitbestimm[t]“ habe.⁶ „Benn, Böll und Andersch“: Die drei verbinde nicht allein der popkulturelle Bezug; sie „treten mit ihren Texten“, so begründet Pabst die Auswahl, „für den literarischen Neuanfang der Bundesrepublik ein“ (S. 36–37). Andererseits stellen sie, führt er im selben Satz aus, „Kontinuitäten zu den Phasen vor und während des Kriegs her“ (S. 37). Wenn Pabst Erzähltexte von Böll, Lyrik von Benn sowie ein Hörspiel von Andersch auf popkulturelle Bezüge analysiert, will er die Nachkriegsliteratur nicht unter das literaturgeschichtliche Rubrum des Pop stellen, die ‚popkulturelle Postmoderne‘ nicht vordatieren. Sein Ansatz ist zunächst bescheidener: Er will „die Literatur der 1950er Jahre als Literatur vor Pop in den Blick“ (S. 35) nehmen, die gleichwohl popkulturelle Mittel und Formen aufgreife. Wie „literarische Texte der 1950er Jahre populäre Zeichen funktionalisieren“ und „warum sie das tun“, sind die beiden Leitfragen, die sich durch seine Arbeit ziehen. (S. 9) Flankierend interessiert Pabst sich drittens dafür, „wie Literatur sich als bedeutungsvolles Kunstwerk kenntlich“ (S. 9) mache. Die Chronologie der Arbeit ergibt sich aus der Publikationsfolge der behandelten Texte. Bölls „trümmerliterarische Prosa aus dem Jahr 1949“ (S. 38) befragt Pabst auf Auslassungen und Andeutungen, zudem auf die Rolle populärer Lieder. An „Benns späten Gedichten der Jahre 1951 bis 1955“ untersucht er die „Einbindung von amerikanischen Songs, Zeitschriften, Marken und Kolloquialismen“ (S. 39), an Anderschs Hörspiel „Der Tod des James Dean“ aus dem Jahr 1959 die „komplexe Montage, die auf Jazzmusik sowie auf Übersetzungen zahlreicher USamerikanischer Texte zugreift“ (S. 40). „Benn, Böll und Andersch“ sind nicht die „einzigen Autoren, die sich für eine exemplarische Untersuchung des Populären in der Literatur der frühen Bundesrepublik“ (S. 41) anbieten – so reflektiert Pabst seine eigene Auswahl: Mit der beigefügten Aufzählung möglicher zu behandelnder Autorinnen und Autoren (vgl. S. 41–42) macht er sich mit der Liste zugleich eines der popkulturellen Verfahren zu eigen.⁷ Auch als Vorläufer des Pop lassen sich die drei behandelten Autoren nicht ohne Weiteres begreifen, wobei hier zu differenzieren ist: Während die Jüngeren, „Böll und Andersch“, wie Pabst im abschließenden Kapitel „Rückblick und Ausblick: Pop-Literatur um 1968“ festhält, von späteren Pop-Autoren zu den „miefigen Signaturen der Bundesrepublik“ (S. 293) gerechnet werden, gehört der generationell Ältere Benn eben doch auf seine Weise zu den „Referenzgrößen“⁸ der späteren Pop-

6 von Petersdorff: Literaturgeschichte [Anm. 1], S. 8. 7 Um den „Gegenstandsbereich in der Breite abzustecken“, befasst sich Pabst vorab zudem „mit einige[n] Texten von Bachmann und [Arno] Schmidt“ (S. 43). 8 Thomas Wegmann: Dichtung und Warenzeichen. Reklame im literarischen Feld 1850–2000, Göttingen 2011, S. 457. Bezugnahmen auf Benn finden sich etwa bei Rolf-Dieter Brinkmann (1940–

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Literatur. Das gelte in besonderer Weise für Benns späte Prosa „Der Ptolemäer“ (vgl. S. 294). Wie positioniert sich Pabsts Arbeit gegenüber der Forschungslage? Die popund warenästhetischen Dimensionen im Werk des späten Gottfried Benn hat Thomas Wegmann in seiner Arbeit „Dichtung und Warenzeichen. Reklame im literarischen Feld 1850–2000“ (2011) analysiert.⁹ Wegmanns Analyse, die von Benns „Der Ptolemäer“ ausgeht, zieht auch Verbindungen zur späten Lyrik Benns, die Pabst in seiner Dissertation untersucht.¹⁰ Genau diese Transformation von Reklame und Mythos findet sich auch in dem späten, erst posthum veröffentlichten Gedicht Hör zu (1960), nur dass hier die Metamorphose einer antiken Göttin zu einer aktuellen Zigarettenmarke gar nicht erst hergestellt, sondern lediglich aufgefunden und angeführt werden muss […]. Auf wenigen Zeilen finden sich hier drei Markennamen, und selbst der Titel des Gedichts fungiert seit 1946 auch als Titel für eine Programmzeitschrift.¹¹

Für diese „Markenallusion“ (S. 17) interessiert sich auch Pabst, der das Gedicht ebenfalls analysiert. Von der Arbeit Wegmanns, die er in der Einleitung diskutiert, setzt Pabst sich methodisch ab (vgl. S. 45–48), wie er exemplarisch aufzeigt: Ingeborg Bachmanns Gedicht „Reklame“ (1956) will er eine andere Pointe als Wegmann abgewinnen. Der Text lasse sich „nicht auf den propositionalen Gehalt seiner Kritik (der Werbekritik) reduzieren“ (S. 48), argumentiert Pabst, würdigt dabei aber kaum, dass Wegmanns Analyse die ästhetischen Techniken und Verfahren des Gedichts – vom Sprachrhythmus bis zur Montage – durchaus ins Zentrum rückt.¹² Eine Reihe weiterführender Fragen markiert einleitend Pabsts Ansatz und Erkenntnisinteresse:

1975); Jörg Fausers Biographen titulieren Benn als Fausers „Hausgott“. Vgl. Wegmann: Dichtung und Warenzeichen [Anm. 8], S. 457–458, Fn. 204. 9 Vgl. Wegmann: Dichtung und Warenzeichen [Anm. 8], S. 456–462. 10 Vgl. zu Pop-Elementen in der späten Lyrik Benns: Matthias Berning: „Schlager von Klasse“. Popliterarische Elemente in einigen Benn-Gedichten, in: Benn Forum 7 (2020/21), S. 163–183. Berning will zeigen, dass es in Benns Lyrik „einige rhetorische und performative Elemente“ gebe, „die die Pop-Lyrik seit den 1950er Jahren präfiguriert haben, oder daran anschlussfähig“ seien. „Montagetechnik und Parlando-Stil, keine Skrupel, Markennamen zu nennen, Listenverfahren und eine Sprechhaltung, die Marcel Beyer mit jener der Coolness des Jazz vergleicht“ (S. 182), führt Berning an. 11 Wegmann: Dichtung und Warenzeichen [Anm. 8], S. 460–461. 12 Wegmann: Dichtung und Warenzeichen [Anm. 8], S. 472–476. In seiner Analyse von „Hör zu:“ bezieht Pabst sich nicht explizit auf die Überlegungen Wegmanns.

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Wie sieht es zum Beispiel mit dem Hinweis aus, dass die lyrische Instanz in Gottfried Benns Gedicht „Hör zu:“ (1954/1955) die Zigarettenmarke ‚Juno‘ raucht? Was verbindet man mit der Marke Juno in den 1950er Jahren? Ist sie seit langem etabliert oder neu auf dem Markt? Ist sie weit verbreitet? Ist sie ein europäisches oder ein amerikanisches Produkt? Wie sehen Werbeanzeigen für die Marke aus? Gilt sie als Zigarette des Arbeitermilieus, der Mittelschicht oder wurde sie in feinen Kreisen geraucht? Warum raucht die lyrische Instanz keine Zigaretten einer anderen beliebten Marke der Nachkriegszeit, etwa Salem, NIL, Zuban oder Gloria? (S. 9–10)

Methodisch schließt Pabst an die Überlegungen Moritz Baßlers an, der die Dissertation betreut hat. Das betrifft einerseits verfahrenstheoretische Ansätze, die Baßler mit „Deutsche Erzählprosa 1850–1950. Eine Geschichte literarischer Verfahren“ (2015) sowie „Populärer Realismus. Von International Style gegenwärtigen Erzählens“ (2022) literaturgeschichtlich produktiv gemacht hat.¹³ Andererseits greift Pabst kulturpoetische Ansätze auf, wie sie mit Stephen Greenblatt und Catherine Gallagher verbunden werden und zu deren Verbreitung sowie Weiterentwicklung im deutschsprachigen Raum Baßler wesentlich beigetragen hat.¹⁴ Pabst verfolgt, so formuliert er zum Ende der methodisch sondierenden Einleitung selbst, einen „kulturpoetisch-verfahrenstheoretische[n] Ansatz“ (S. 44). Anders als Baßlers verfahrenstheoretisch ansetzende Literaturgeschichten¹⁵ zielen die Ausführungen Pabsts jedoch nicht darauf, die Nachkriegsliteratur als Phänomen oder Epoche in ihren Verfahren und Kontexten zu erhellen. Pabsts Zugriff ist punktueller, er zielt auf „Partikularitäten“ (S. 12), wie er eingangs formuliert. Ihn interessiert, „wie literarische Texte der 1950er Jahre Populärkulturelles einbinden und weshalb sie das tun“ (S. 12). Grundlegend für Pabsts Ansatz ist ein „kulturelle[r] Archivbegriff“: Das kulturelle Archiv einer Zeit, so seine Ausgangsüberlegung, enthält das kulturelle Wissen einer Zeit in Form von „Schriftzeugnisse[n], Bilder[n], Filme[n] etc.“ (S. 10). Diese wären zu durchforsten, um Text-KontextBeziehungen konkret zu beleuchten, wie sie durch die Fragen zur Zigarettenmarke „Juno“ angedeutet werden.

13 Moritz Baßler: Deutsche Erzählprosa 1850–1950. Eine Geschichte literarischer Verfahren, Berlin 2015; vgl. dazu auch die Rezension von Gregor Streim: Moritz Baßler: Deutsche Erzählprosa 1850– 1950, in: Arbitrium 35 (2017), S. 229–234. Moritz Baßler: Populärer Realismus.Von International Style gegenwärtigen Erzählens, München 2022. 14 Vgl. Moritz Baßler (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Tübingen und Basel 2001; ders.: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie, Tübingen 2005; ders.: „Analyse von Text-Kontextbeziehungen.“, in: Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände – Konzepte – Institutionen, hg. v. Thomas Anz, Bd. 2: Methoden und Theorien, Stuttgart und Weimar 2007, S. 225–231. 15 Vgl. Baßler: Deutsche Erzählprosa [Anm. 13], vgl. auch Moritz Baßler, Hubert Roland und Jörg Schuster (Hg.): Poetologien deutschsprachiger Literatur 1930–1960: Kontinuitäten jenseits des Politischen, Berlin: 2016.

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Für die „Analyse des literarischen Textes“ seien „solche Informationen signifikant“ (S. 10), so Pabsts methodisches Credo: Ein „Detail wie die Zigarettenmarke“ (S. 11) werde vom „bloßen Kontext des literarischen Textes zum eigenständigen Interpretandum“ (S. 11). Die methodische Frage nach den Kriterien der Auswahl und Zuordnung der archivarischen Bezugsobjekte stellt Pabst hingegen nicht: Oder, anders formuliert, die Plausibilität seiner Darlegungen entscheidet über die Tragweite seiner Funde. So macht Pabst die kulturhistorischen Antworten auf die einleitend konturierten Fragen für die Deutung der „Distinktionsbemühungen und Zweifel“ (S. 201) der lyrischen Instanz im Gedicht „Hör zu:“ geltend, dabei – unter Rekurs auf die Ausführungen Edgar Lohners – die Nähe zu Benns Nachkriegspublikation „Der Ptolemäer“ (1949), in der auch „Weinhaus Wolf“ erschienen ist, aufrufend. Die in Anführungszeichen gesetzten Markennamen der ersten Strophe, darunter die „Juno“, liest er als „Hinweis auf den sozialen Hintergrund des lyrischen Du“ (S. 203). Die Verweise auf die Zeitschriften „Hör zu!“ und „Spiegel“ fasst er als „Chiffre[n] für die Presselandschaft der frühen Bundesrepublik“ (S. 202). Während Pabst die ideengeschichtlichen und gesellschaftstheoretischen Bezüge, die mit dem Stichwort der „Chiffre“ aufgerufen werden, vergleichsweise knapp abhandelt, verfolgt er mögliche intertextuelle Bezugnahmen ausführlicher: Dafür geht er von der „Spiegel“-Ausgabe Nr. 13 aus, die am 24. März 1954 erschienen ist – eine Woche vor dem vermutlichen Abschluss des Gedichtes am 31. März nach der Datierung Lohners (vgl. S. 205). Dort findet sich ein Artikel über die UNO, wie ihn die lyrische Instanz im Gedicht „Hör zu:“ gerade liest. Pabst akzentuiert am „Spiegel“Artikel die „nationalsozialistische Vergangenheit“ eines Diplomaten, der als „Beobachter in der Uno tätig“ werden soll, sowie „Unmutsbekundungen aus den USA, etwa von jüdischen Journalisten“ (S. 205), ohne die Bezüge jedoch zu vertiefen. „Noch auffälliger als dieser Beitrag“ (S. 205) sei eine Fotostrecke, die einen Griechenland-Besuch Konrad Adenauers dokumentiert. Pabst zieht sie zur Interpretation der dritten und vierten Strophe heran: „Wenn das die Lektüre der lyrischen Instanz sein sollte“, argumentiert er, würde das Gedicht „eine komisch-ironische Komponente erhalten“ (S. 206). Durch sie würden ‚überhöhende‘ Tendenzen, wie sie durch „Großkonzepte“ (S. 206) wie „Zeus“, „Macht“, „All“ evoziert werden, relativiert. Der Text beginne dadurch „in Ambivalenzen zu ‚schweben‘“ (S. 207). Benns späte Gedichte problematisieren, so hält Pabst abschließend fest, den „Versuch, Momente der Überhöhung mit den Mitteln der Sprache zu realisieren“ (S. 209). Gleichwohl, so betont er, handele es sich nicht um „Gedichte des kleinen Mannes“ (S. 209), die Texte „erproben auch kaum den Schulterschluss mit ihm“ (S. 209). Zurückgewiesen werden sollen damit die Analysen von Benns später Lyrik, die Dirk von Petersdorff in „Benn in der Bundesrepublik“ (2007) vorgenommen hat. Doch trifft Pabsts zugespitzte Formulierung, in Benns Spätwerk würde ein „Kollektiv von Gleichrangigen“ (S. 208) hineingelesen, von Petersdorffs These gerade nicht: Wenn

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dieser, wie von Pabst zitiert, feststellt, in Benns späten Gedichten zeige sich die „Akzeptanz der differenzierten Gesellschaft“¹⁶ (S. 208), zielt das weder auf den ‚kleinen Mann‘ noch auf das ‚Kollektiv‘, sondern auf formale Besonderheiten der späten Lyrik Benns, gerade auch in Abgrenzung zu Benns essayistischen Ausführungen aus der gleichen Zeit.¹⁷ Von Petersdorffs Analysen gehen von literaturkritischen Wertungen der 1950er Jahre aus, die an den späten Gedichten Ironie, Skepsis und Gelassenheit hervorheben, dabei aber die verlorene Tiefe früherer Gedichte vermissen. Ex negativo würden auf diese Weise die Merkmale von Benns später Lyrik beschrieben, argumentiert von Petersdorff: die „Verstärkung des Umweltbezugs“, gar ein „neue[r] Realismus“, zudem die „Rücknahme der Autonomie-Ästhetik“.¹⁸ Von Petersdorff hat bereits, auf breiterer lyrischer Basis, vieles von dem herauspräpariert, was Pabst in seinen Analysen geltend und fruchtbar macht: Das reicht von einer „Rhetorik der Selbstzurücknahme“¹⁹ über popkulturelle Bezüge wie die Verweise auf die Lektüre amerikanischer Zeitschriften bis hin zum „nicht fixierbaren Substantiellen“.²⁰ Von Petersdorff arbeitet die „Spannungen im Spätwerk“²¹ heraus, akzentuiert dabei die Differenz zu den essayistischen Texten der Nachkriegszeit: „Denn Benns Gedichte sind eben dialogisch strukturiert; in ihnen wird das Abendland, an dem die Essays festhalten, ironisiert; in ihnen zweifelt der Prophet an sich selbst“.²² Von Petersdorffs These von der „Akzeptanz der differenzierten Gesellschaft“²³ markiert die Einbeziehung zahlreicher Stimmen, die Ironisierung pathetischer Konzepte. Die Deutungsdifferenz liegt in der Gradation: Pabst gewichtet den hohen Ton, die Transzendenzbezüge etwas stärker als von Petersdorff, der die „Idee eines letzten Prinzip[s]“ verabschiedet oder „in den Bereich der Transzendenz“ verschoben sieht.²⁴

16 Dirk von Petersdorff: Benn in der Bundesrepublik. Zum späten Werk, in: Gottfried Benns Modernität, hg. v. Friederike Reents, Göttingen 2007, S. 24–37, hier: S. 33. 17 Mit seiner Kritik zielt Pabst auch, allerdings mit nicht näher bezeichneten Abstrichen, auf die Analysen Heinrich Deterings, von denen von Petersdorff ausgegangen ist. Vgl. Heinrich Detering: Phänotyp und „Viertes Reich“. Gottfried Benn um 1949 [2004], in: Der schwierige Neubeginn – Vier deutsche Dichter 1949, hg. v. Petra Plättner, Mainz 2009, S. 5–14. 18 von Petersdorff: Benn in der Bundesrepublik [Anm. 16], S. 27. Die konstatierte Verstärkung des Umweltbezugs sei „korrekt“, urteilt Pabst in einer Fußnote, während die Rücknahme der Autonomie-Ästhetik nur „bedingt“ vorliege. Wie Kunstautonomie bedingt oder halb zu haben sei, wird indes nicht erläutert (vgl. S. 209, Fn. 196). 19 von Petersdorff: Benn in der Bundesrepublik [Anm. 16], S. 30. 20 von Petersdorff: Benn in der Bundesrepublik [Anm. 16], S. 30. 21 von Petersdorff: Benn in der Bundesrepublik [Anm. 16], S. 34. 22 von Petersdorff: Benn in der Bundesrepublik [Anm. 16], S. 34. 23 von Petersdorff: Benn in der Bundesrepublik [Anm. 16], S. 33. 24 von Petersdorff: Benn in der Bundesrepublik [Anm. 16], S. 32.

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Die eigentliche Pointe Pabsts liegt indes im Theoretischen: In seinem „Zwischenresümee: Bedeutsamkeit – ontosemiologisch und verfahrenstheoretisch“ (S. 210) etabliert er, unter Rekurs auf Jochen Hörischs Heidegger-Deutung,²⁵ einen verfahrenstheoretisch gewendeten Begriff der ‚Bedeutsamkeit‘, der an Moritz Baßlers „Drei-Ebenen-Modell des literarischen Textes“ anschließt.²⁶ „Bedeutsamkeitsfigurationen“ hätten zur Folge, so Pabsts Weiterentwicklung des Baßler’schen Modells, dass die „Bedeutungsebene“ literarischer Texte eine „instabile“ oder „instabilere Form“ annähme, und zwar immer dann, wenn „übercodierte, aber unterdeterminierte Konzepte“ derart „groß dimensioniert“ würden, dass ihre „Inhaltsseite im Unscharfen, im Abstrakten“ verbliebe (S. 218). „Die Leerstelle, die Unsicherheit des Signifikats“ produziere die „Bedeutsamkeit“ (S. 218). Das unterscheide Texte, wie die späten Gedichte Benns, die „Bedeutsamkeit figurieren“ von Texten, die „stabile Bedeutungsebenen“ aufbauen (S. 218). Eine weitere Differenzierung, die Pabst einzieht, bekommt einen wertenden Beiklang: Als „Effektbedeutsamkeit“ bezeichnet er eine „Verfahrensoperation“, wie in den teils „plump“ wirkenden Texten Bölls, die „Leerstellen“ produzieren, in die sich „Bedeutsamkeit gleichsam ‚einlagern‘“ könne, ohne jedoch, wie die Benn’sche Lyrik, die Ungewissheit poetologisch zu reflektieren (S. 220). Von der Literaturkritik, so schließt Pabsts theoretisches Zwischenresümee, können „Figurationen von Bedeutsamkeit“ (S. 221) als substanzloses Raunen oder tiefgründige Textkritik verstanden werden. Der abschließende „Rückblick“ verallgemeinert die textanalytischen Befunde für die 1950er Jahre im Kontrast zu den Verfahren der Pop-Literatur um 1968; die Folie dafür bietet Baßlers These vom „Verschleißen traditioneller Metacodes (Geschichte, Religion, Familie etc.) seit dem neunzehnten Jahrhundert“ (S. 298). Während dem Pop, so wiederum Baßler,²⁷ der spezifische Ausdruck vorbehalten sei, ziele „hochliterarische Erzählprosa“, so Pabst mit Baßler (vgl. S. 297), auf den allgemeinen Ausdruck. Den von Pabst analysierten Texten von Böll, Benn und Andersch kommt eine Zwischenstellung zu: Gemeinsam ist ihnen, dass sie mit ihren populären Bezügen den spezifischen Ausdruck aufnehmen, ohne ihn jedoch erzählerisch zum Programm zu erheben. Dass sie das Populäre integrieren, um es zurückzuweisen, mache die Literatur der 1950er Jahre, so die abschließende Einordnung von Pabst, „wahrlich zu ‚Anti-Pop‘“ (S. 298).

25 Vgl. Jochen Hörisch: Bedeutsamkeit. Über den Zusammenhang von Zeit, Sinn und Medien, München 2009. Theoretisch instruktiv wäre es, die Heidegger-Verweise in der Dissertation genauer in den Blick zu nehmen, etwa den Exkurs zu Heidegger und Böll (S. 128–129). 26 Vgl. Baßler: Deutsche Erzählprosa [Anm. 13], S. 29. 27 Vgl. Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten, München 2005; ders.: Definitely Maybe. Das Pop-Paradigma in der Literatur, in: POP. Kultur & Kritik 6 (2015), S. 104–127.

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Literaturgeschichtlich wäre Pabsts Reihenbildung „Benn, Böll und Andersch“ als These zu verstehen – trotz der eingangs konzedierten „konträre[n] literaturprogrammatische[n] Entwürfe nach 1945“ (S. 37): Die drei Autoren verbinde mehr als in gängigen Darstellungen ausgewiesen wird.²⁸ Ausgeblendet werden bei Pabst die rechtlichen und literaturpolitischen Strukturen, die Frage von Kontinuität und Neuanfang, die sich auch in den literarischen und poetologischen Programmatiken nach 1945 niederschlägt. Der„Nachkriegsautor Benn“ gilt in der jüngeren Forschung als Exponent eines „schwierigen Neuanfangs“,²⁹ dessen essayistische Texte, insbesondere sein „Berliner Brief“, wie Heinrich Detering herausgearbeitet hat, die „Kontinuität eines Denkens“ zeigen, „das sich selbst nachdrücklich unter den Begriff des ‚Totalitären‘“³⁰ stelle. Erst über jener „Schattenwelt“, so Detering, erhebe sich jene ‚Ausdruckswelt‘, in der sich „der Dichter Benn vom Essayisten“ freischreibe³¹ – eine Deutung, an die von Petersdorff anschließt, die hingegen von Pabst, wie oben ausgeführt, in Zweifel gezogen wird. Böll und Andersch stehen literaturgeschichtlich kontrastiv für ein als Neubeginn deklariertes „Realismusprogramm“;³² mit den ‚Schatten‘, den biographischen, sprachlichen wie literarischen Kontinuitäten v. a. bei Andersch, hat sich die jüngere Forschung bekanntlich intensiv auseinandergesetzt.³³ Moritz Baßler hat mit seinen literaturgeschichtlichen Arbeiten vorgeführt, wie produktiv es sein kann, die enge Kopplung von politischen und literarischen Zäsuren verfahrenstheoretisch aufzubrechen, „Kontinuitäten und Diskontinuitäten literarischer Verfahren von 1930 bis 1960“³⁴ nachzugehen. Pabst macht solche Überlegungen im engeren Rahmen für die Lyrik des späten Benn produktiv: „Wie exzentrisch Benns Instanzen [sic] vorgehen, um sich gegen Sinnentwürfe ver-

28 In diese Richtung dürften auch der postulierte Forschungsbedarf führen: „Obwohl Böll, Benn und Andersch in den Literaturgeschichten Konstanten der frühen bundesrepublikanischen Literatur [sic] bilden, existieren im textanalytischen Bereich zahlreiche Forschungslücken.“ (S. 37) 29 Detering: Phänotyp und „Viertes Reich“ [Anm. 17]. 30 Detering: Phänotyp und „Viertes Reich“ [Anm. 17], S. 5. „Gerade wer Benns Verse liebt und seine poetische Prosa bewundert“, schreibt Detering, „hätte hier Gelegenheit, ihm doch einmal auch die Ehre der Empörung zu erweisen.“ (Detering: Phänotyp und „Viertes Reich“ [Anm. 17], S. 5.) Vgl. zu Benn nach 1945 auch den von Jörg Robert und Sarah Gaber verantworteten Schwerpunkt „Gottfried Benn im literarischen Feld nach 1945 – Konstellationen und Akteure“, in: Benn-Forum 7 (2020/21). 31 Detering: Phänotyp und „Viertes Reich“ [Anm. 17], S. 5. 32 Manfred Karnick: Krieg und Nachkrieg: Erzählprosa im Westen, in: Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, hg. v. Wilfried Barner, München 2006, S. 31–75, hier: S. 35. 33 Früh Urs Widmer: 1945 oder die „Neue Sprache“. Studien zur Prosa der „Jungen Generation“. Basel 1965. Vgl. Norman Ächtler (Hg.): Alfred. Andersch. Engagierte Autorschaft im Literatursystem der Bundesrepublik, Stuttgart 2016; vgl. auch Baßler, Roland und Schuster: Poetologien [Anm. 15]. 34 Baßler, Hubert und Schuster: Poetologien [Anm. 15], S. 1.

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schiedener Prägung abzugrenzen, und wie eigentümlich sie dabei auf überhöhende Verfahren zurückgreifen, wird in diversen Texten des Spätwerks ersichtlich“ (S. 161), argumentiert er, Benns literaturgeschichtliche Zwischenstellung reflektierend (vgl. z. B. S. 175–183). Immer wieder fragt er, auf welche ‚harten Unterlagen‘ Benns Gedichte zurückgreifen, insbesondere welche Zeitschriftenlektüren anregend wirkten: Dabei gelingen ihm bemerkenswerte Funde, wiederholt werden etwa „Spiegel“-Texte zur Interpretation herangezogen, aber auch auf den „Reader’s Digest“ wird verwiesen, dem Benn, so Pabst, im Gedicht „Restaurant“ die Angabe „jede Zigarette verkürze das Leben um sechsunddreißig Minuten“ (S. 163) entnommen habe. Die dortige Angabe von „34,6 Lebensminuten“ (S. 163) habe Benn aufgerundet. Nicht immer überzeugt, wie „Partikularitäten“ für literaturgeschichtlich große Thesen herangezogen werden, wohl auch weil die ideengeschichtlichen Ausführungen bei Pabst vergleichsweise blass ausfallen. Das ist im Rahmen des verfahrenstheoretischen Ansatzes methodisch plausibel, wirft im Horizont des kulturpoetischen Paradigmas jedoch Fragen auf: Etwa wenn Pabst in wenigen Sätzen vom „Trizonesien“-Song auf Benns Distanzierung vom „Kultur“-Begriff kommt (S. 160–161), ohne das politisch Heikle des Klamauks auch nur zu benennen: „Der alberne Reim ‚Chinesien – Trizonesien‘“ verdeutlicht“ eben nicht nur und vielleicht nicht einmal primär, „dass die Aufzählung deutscher Distinktionsmerkmale eine markierte ist“ (S. 160).³⁵ Kann die vorliegende Besprechung nur den so konzentrierten wie anregenden Beitrag von Pabsts Dissertation zur Benn-Forschung würdigen, so sei abschließend auf die auch an anderer Stelle³⁶ schon monierten sprachlichen Unschärfen hingewiesen – nicht um der Pedanterie willen, sondern eher mit Blick auf die Spannungsverhältnisse auf der Ebene der Gegenstandssprache. Beschreibungssprachlich sorgen diese harten Übergänge von hohem Ton und Pop für Herausforderungen, die allein durch ontosemiologische und verfahrenstheoretische Überlegungen möglicherweise nicht vollständig aufgefangen werden können.

35 Vgl. auch von Petersdorff: Literaturgeschichte [Anm. 1], S. 32: „Unpolitisch war dieses Muster [deutscher Identitätsbildung, H.S.] allerdings nie, wie auch hier der Überlegenheitsgestus gegenüber ‚Chinesien‘ beweist.“ 36 Vgl. Jörg Schuster: Zigaretten, Schlager und James Dean. Philipp Pabst untersucht ‚die Bedeutung des Populären‘ in der deutschen Literatur der 1950er Jahre, in: literaturkritik.de (28. Dezember 2022), https://literaturkritik.de/pabst-bedeutung-des-populaeren,29344.html (aufgerufen am 21. Februar 2023). Schuster hält fest, „dass die Untersuchung sprachlich nicht durchgehend gründlich lektoriert wurde“.

Thomas Ehrsam

Dorothea Zwirner: Thea Sternheim – Chronistin der Moderne. Biographie Göttingen: Wallstein Verlag 2021. 413 S., geb., € (D) 28 (ISBN 978-3-8353-5060-1). Weiter sehr in Fascination! Erstaunliche Partieen darin, ein erstaunlicher Autor: Introvertiert und doch wahrnehmend; glühend von Gefühl u. doch nüchtern; dämmernd von Glauben und Inbrunst und doch wach; contemplativ und doch voller Einfälle und Bewegung; die Substanz feminin und die Methode des Darstellens hart und sicher.¹

So beschrieb Gottfried Benn 1951 den Eindruck seiner Lektüre von Thea Sternheims großem Roman „Sackgassen“; er hatte dessen Publikation im Limes Verlag ermöglicht. Sie treffen den Roman sehr genau und auch den Menschen Thea Sternheim, mit dem Benn eine jahrzehntelange Freundschaft verband, die trotz Annäherungsversuchen Benns ausnahmsweise platonisch blieb – Thea wollte nach der desaströsen Ehe mit dem chronisch untreuen Carl Sternheim von körperlicher Liebe nichts mehr wissen. Sie, die mit Frauen wenig anzufangen wusste, umgab sich nach der Scheidung Ende 1927 vorwiegend mit homosexuellen Männern. Die Freundschaft zu Benn, den sie im Krieg in Brüssel kennengelernt hatte und dessen Werk sie von Anfang an bewunderte, wurde ab 1925 eng. Nach Benns Stellungnahme für die Nazis brach Thea den Kontakt zu ihm abrupt ab. Sie war aus Abscheu vor den aufkommenden Nazis schon 1932 freiwillig (sie war nicht jüdisch) nach Paris emigriert. Jede Meldung über Benns Ergehen in Deutschland notierte sie aber weiterhin in ihrem Tagebuch. 1949 nahm sie den Kontakt zu ihm wieder auf, Benn reagierte sofort und sichtlich bewegt. Dieser langjährigen Freundin Benns widmet Dorothea Zwirner nun eine Biographie. Sie stützt sich weitgehend auf Thea Sternheims eigene Aufzeichnungen: für die Jugendzeit auf die Erinnerungen² und ab 1905 auf das Jahrhundertwerk der

1 Gottfried Benn an Thea Sternheim, 9. Februar 1951, in: Gottfried Benn und Thea Sternheim: Briefwechsel und Aufzeichnungen. Mit Briefen und Tagebuchauszügen Mopsa Sternheims, hg. v. Thomas Ehrsam, Göttingen 2004, S. 194. 2 Thea Sternheim: Erinnerungen, hg. v. Helmtrud Mauser in Verbindung mit Traute Hensch, Freiburg i. Br. 1995. Thomas Ehrsam, Feldberg, MV https://doi.org/10.1515/9783111102740-019

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Tagebücher,³ die Thea über 65 Jahre hinweg mit wenigen Unterbrechungen unglaublich diszipliniert täglich geführt hat, das gilt sogar für die Zeit im Internierungslager Gurs. Da die Diaristin darin nicht nur eigene Beobachtungen, Überlegungen und Empfindungen eingetragen, sondern auch eine Unzahl wichtiger Briefe, eigene und an sie, manchmal sogar an Drittpersonen gerichtete, skrupulös abgeschrieben und zudem viele Zeitungsartikel eingeklebt hat, und da sie schließlich kritisch und sich selbst gegenüber ziemlich schonungslos war, stand der Biographin eine schier unglaubliche Materialfülle zur Verfügung. Die Herausforderung bestand für Zwirner deshalb weniger im Auserzählen als in der Auswahl und im Weglassen (vgl. S. 10). Sie hat das Leben Thea Sternheims in eine sehr lesbare, elegant geschriebene und mit großer Empathie verfasste Erzählung gebracht, die Widersprüchliches und Irritierendes nicht glättet und den historischen Kontext mit knappen, gut gesetzten Strichen vermittelt. Sie bleibt immer nah an den Quellen und verzichtet darauf, mehr zu wissen, als diese hergeben. Die Empathie verleitet sie nicht zu gewaltsamer Einfühlung, ihre Kommentare zu dem Erzählten sind präzis und in aller Regel nachvollziehbar. Hatten die Rezensenten der TagebücherEdition die Chronistin in den Vordergrund gestellt, ihre hellsichtigen Kommentare zu Politik und Zeitgeschehen sowie ihre Beziehungen zu deutschen und französischen Künstlern und Schriftstellern, so nimmt Zwirner gemäß ihrem gleich zu Beginn geäußerten Programm beides gleichwertig in den Blick: ihre Persönlichkeit, ihre geistige und emotionale Selbsterkundung, ihre antiklerikale unorthodoxe tiefe Religiosität und den daraus erwachsenen, unbedingten Pazifismus ebenso wie die Chronistin von Kultur und Politik. Benns Charakteristik – „Introvertiert und doch wahrnehmend; glühend von Gefühl u. doch nüchtern“ – wird von Zwirner eingelöst. Sie verfährt streng chronologisch und schildert zunächst Kindheit und Jugend der 1883 in Neuss geborenen Thea im wohlhabenden, großbürgerlichen und katholisch-konservativen Elternhaus in Neuss und Köln (der Vater war Schraubenfabrikant), das ihr bald zu eng wird – als „Anarchie und Frommsein“ (Zwirner S. 17; TB 31. August 1960) hat sie ihre Kindheit im späten Rückblick beschrieben –, sodann die als Befreiung erlebte Zeit im Pensionat in Brüssel, wo sie eine aufgeschlossenere Welt und die französischsprachige Kultur kennen und lieben lernt. Fortan wird sie sich strikt als Europäerin definieren, nicht als Deutsche. Aus Protest gegen das antisemitische Elternhaus heiratet sie heimlich den jüdischen Rechtsanwalt Arthur Löwenstein und wird bald Mutter einer Tochter, Agnes. Doch schon bald muss sie erfahren, dass sie und ihr Mann sich wenig zu sagen haben. Die Begegnung mit dem

3 Thea Sternheim: Tagebücher 1903–1971, hg. v. Thomas Ehrsam und Regula Wyss, 5 Bde., 2. durchges. Aufl., Göttingen 2011 (mit dem Gesamttext auf CD). Im Folgenden abgekürzt mit der Sigle (TB).

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jungen, noch ganz unbekannten Schriftsteller Carl Sternheim führt zu einer leidenschaftlichen, zunächst heimlichen Liebesbeziehung und schließlich, nach dem Tod der Eltern, der Thea ungemein reich hinterlässt, zur Scheidung. Der Preis dafür ist nicht nur finanziell sehr hoch: Sie muss die beiden Mädchen Agnes und Dorothea (Mopsa), die zweite Tochter, die schon von Sternheim stammt, bei Löwenstein zurücklassen und darf sie die ersten Jahre kaum sehen. Zwirner spricht in diesem Zusammenhang von der „Ursünde“ (S. 217) Theas, auf deren Konto die lebenslange Hassliebe Mopsas zu ihrer Mutter gehen dürfte: eine abgöttische Liebe, die sich unvermittelt in Hassausbrüchen entladen konnte. In den folgenden Jahren, in denen sie noch Mutter eines Sohnes wird, lebt die Familie in dem von Thea erbauten Schloss Bellemaison bei München, das bald zum Anziehungspunkt für Künstler und Intellektuelle wird. Sternheims bauen hier eine bedeutende moderne Kunstsammlung auf (van Gogh, Matisse, Renoir, Gauguin, Picasso), allesamt Meisterwerke, die Thea im Lauf ihres Lebens Stück für Stück wieder verkaufen muss und die heute in großen Museen hängen, van Goghs „Arlésienne“ zum Beispiel im Musée d’Orsay. Nach München folgen Stationen in Belgien, in Uttwil am Bodensee, in Dresden und erneut in Uttwil. Abgesehen von der Aufgabe von Bellemaison aus finanziellen Gründen sind es politische Entwicklungen, die jeweils zum Wegzug zwingen (Niederlage im Krieg, Inflation, politische Unruhen). Das von Zwirner zitierte „Grauen vor dem Staat“ (Zwirner S. 326; TB 16. August 1957) Theas ist schon früh angelegt. Während Thea Carls Aufstieg zum berühmten und skandalumwitterten Autor erlebt und an seinem Werk mitarbeitet, wird die von Anfang an schwierige Ehe immer zermürbender, auch für die Leser. Sternheim ist nicht nur notorisch untreu, er entwickelt sich, an den Nerven, an Syphilis und zunehmend an Größenwahn leidend, zudem immer mehr zum Haustyrannen. Ende 1927 entschließt sich Thea endlich zur Scheidung. In der Darstellung dieser Ehejahre könnte man sich ein etwas konzentrierteres, weniger streng chronologisches Vorgehen vorstellen. Immer wieder wird die sich steigernde Scheusäligkeit Sternheims herausgestellt, durchaus zu Recht, aber seine andere, geniale Seite kommt zu kurz. Dass Thea wegen seines Werkes, den Komödien aus dem bürgerlichen Heldenleben und den Novellen, so lange bei ihm ausharrt, wird deutlich gesagt. Es war immer das Schöpferische, das sie an Menschen angezogen hat. Das Werk selbst aber kommt bei Zwirner kaum zur Sprache, nicht einmal der Bruch vom Frühwerk zur „Hose“. Inwiefern sie daran mitgearbeitet hat, wird nicht ausgeführt. Dass, um ein Beispiel zu nennen, die Idee zum schlechthin genialen Schluss des „Snob“ von ihr stammt, erfahren wir nur aus dem Tagebuch (vgl. TB 30. September 1913). Interessant wäre im Blick auf Sternheims Werk die Frage, wie sich Theas unbedingter, von Flaubert inspirierter„Wille zur Feststellung“ („Ne pas conclure!“) zu Carls „Kampf der Metapher“ verhält. Zwirner stellt,

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durchaus gestützt auf das Tagebuch, die gegenseitige Fremdheit heraus: Carl stößt sich an Theas Frömmigkeit und findet, Gott sei auch nur eine Metapher. Sie reibt sich an seiner Ablehnung von jeder Moral in der Kunst und setzt der Parole „Kampf der Metapher“ eine andere entgegen: „Kampf der Materie“ (S. 122 und 133) – und doch bleibt beiden gemeinsam die Ablehnung von Pathos und Brimborium sowie die Absicht, sich nichts vormachen zu wollen. Zwirner folgt in ihrer Erzählung Thea nach Berlin, wohin sie nach der Scheidung zieht und wo sie Kontakt zu katholischen Kreisen, insbesondere zum Nestor der katholischen Friedensbewegung, Pater Franziskus Maria Stratman, knüpft und wo sie nun Benn regelmäßig trifft, der sich als vertrauter Freund und als fürsorglicher Arzt des zusammengebrochenen Carl bewährt. 1932 emigriert sie, wie gesagt, nach Paris, wo sie dreißig Jahre bleibt und ihren Wohlstand langsam einbüßt. Die Kriegsgefahr hängt wie ein Damoklesschwert über ihr. Die aggressive Politik Hitlers bringt die Pazifistin schließlich dazu, den Krieg als unausweichlich und auch notwendig zu sehen. Mit Schrecken verfolgt sie auch während des Krieges die Nachrichten aus Deutschland und ist dank eines Freundes mit guten Beziehungen zu Amtsträgern bestens informiert. Schon Monate vor der Wannseekonferenz erfährt sie, was den Juden droht. Mit Blick auf einen ihr bekannten französischen Schauspieler, der in einem antisemitischen Film mitgewirkt hat, notiert sie, von Zwirner zitiert: „Überhaupt sollen mir die Leute nicht vormachen, dass sie das, was sie tuen, nicht bei vollem Bewusstsein tuen. Jeder weiss alles.“ (Zwirner S. 262; TB 23. Juli 1943) Auch privat sind diese Jahre von Katastrophen bestimmt, die nicht nur Theas Hilfe, sondern auch ihre Härte fordern: Die beiden Sternheimkinder, beide intelligent und begabt, verfallen den Drogen und finden zu keinem geregelten Leben. Immerhin findet Thea, anders als die meisten deutschen Emigranten, in Paris sofort Anschluss an maßgebende Intellektuellenkreise. Das hat sie vor allem André Gide zu verdanken, mit dem sie schon in Berlin befreundet war. Der „Vaneau“, Gides innerer Kreis, nimmt sie sofort auf und lädt sie auch zu Familienanlässen ein. Befreundet ist sie bald auch mit Julien Green, dem sie sich überdies religiös verbunden fühlt. Nach Kriegsausbruch, im Juni 1940, wird sie für zwei Monate im Internierungslager Gurs interniert. Zweieinhalb Jahre später wird Mopsa von der Gestapo gefasst, gefoltert und ins KZ Ravensbrück deportiert. Trotz ihrer Drogensucht übersteht sie das Lager und kann sich als ‚Blockowa‘ (Blockälteste) für ihre Mitinsassinnen verwenden. Nach Kriegsende stirbt Theas so sehr geliebter Sohn Klaus in Mexiko an den Drogen, 1954 folgt ihm die vom KZ angeschlagene Mopsa; sie stirbt elendiglich an einer Krebserkrankung. In den fünfziger Jahren verarmt Thea zusehends, bis ihr verschiedene Wiedergutmachungsprozesse und die Tantiemen der Sternheim-Dramen, die ab etwa

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1960 eine Renaissance erleben, aus der finanziellen Not helfen. Sie ist nach dem Abschluss ihrer „Sackgassen“ mit der Sichtung und Sicherung von Carl Sternheims Nachlass beschäftigt, den sie Marbach nicht verkauft, sondern schenkt. Zwirner hält sich bei der Darstellung der Pariser Zeit nicht mehr so strikt an die Chronologie, was dem konzentrierten, mit gut gewählten, knappen Zitaten gewürzten Bild ihrer vielen Kontakte mit Franzosen und deutschen Emigranten zugutekommt. Dass sie sich dabei auf das Wesentliche beschränken muss und sich den einzelnen Freunden und Bekannten nicht ausführlicher widmen kann, ist ihr nicht vorzuwerfen: Es liegt an der Menge des Materials und der Beziehungen. Immer noch verfolgt Thea das politische Geschehen mit wachem Blick. Schon bald nach dem Krieg vermisst sie in Deutschland die Aufarbeitung der Naziverbrechen, die sie als Voraussetzung des ersehnten, noch nicht erreichten Friedens begreift. 1963 muss Thea das geliebte Paris verlassen und aus Alters- und gesundheitlichen Gründen nach Basel ziehen, in die Nähe ihres einzigen noch lebenden Kindes, Agnes, die sich jetzt Ines Leuwen nennt und als Sängerin und Gesangslehrerin arbeitet. Nicht nur wegen ihres Mannes, Heinrich Enrique Beck, den Thea verabscheut, gestaltet sich die Beziehung zu Agnes immer schwieriger. Junge homosexuelle Männer, die sie jeweils eine Zeitlang regelmäßig besuchen und bei ihrem Wegzug die Bekanntschaft mit einem anderen, ebenso regelmäßigen Besucher vermitteln, helfen ihr darüber hinweg, helfen ihr, weiterzuleben. Ihnen öffnet sie, mittlerweile Greisin und körperlich gebrechlich, mit ihrer Erfahrung, Weltkenntnis, ihrer Neugier und Vitalität eine Welt – ihre das ganze Leben durchziehende Melancholie macht sie mit sich selbst ab. Immer noch ist das Tagebuch Zeugnis ihrer Suche nach geistiger Orientierung und Sinn. Als sie 1963 mit dem Maler Herman de Cunsel, ihrem viel jüngeren Herzensfreund, das Grab Sternheims, den sie Hünni nannte, besucht, notiert sie: Mein armer Hünni, Du und ich, wir waren nicht lebensfähig. Mopsa, in Brüssel gezeugt in Paris begraben. Piggy [Klaus] in Athen gezeugt in Mexiko verscharrt – nur ich bin noch da, wie eh und je einen Sinn für das was zwischen uns war suchend, keinen Sinn findend. Immer, noch immer die alte Frage: Zufall, Fatum, Vorsehung? (Zwirner S. 343; TB 16. Dezember 1963)

Am 5. Juli 1971 stirbt Thea, durch Agnes von allen Besuchern abgeschottet, in einem Basler Krankenhaus. Dorothea Zwirners schöne Biographie der „letzten Grande Dame“⁴ ist unbedingt zu empfehlen.

4 So einer ihrer jungen Freunde, Georges Guy: „Sie sind unter uns Normalsterblichen die letzte Grande Dame, ich liebe Sie.“ (Zwirner S. 280; TB 18. August 1953, im Original französisch).