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German Pages 267 [260] Year 2021
Benn Forum
Benn Forum
Band 7 2020/2021
Beiträge zur literarischen Moderne Herausgegeben von Holger Hof und Stephan Kraft
ISBN 978-3-11-072981-8 e-ISBN PDF 978-3-11-072965-8 e-ISBN EPUB 978-3-11-072983-2 ISSN 1868-2758 Library of Congress Control Number: 2021942368 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Christa Rosa Wolff, Gottfried Benn. Öl auf Blechdosen 2001 Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Beiträge zum Themenschwerpunkt: Gottfried Benn im literarischen Feld nach 1945 – Konstellationen und Akteure Jörg Robert und Sarah Gaber Zum Schwerpunkt: Gottfried Benn im literarischen Feld nach 1945 – Konstellationen und Akteure 3 Anna Axtner-Borsutzky Jenseits der Klassik. Walter Müller-Seidels Münchner Antrittsvorlesung 9 „Gottfried Benn und der Nationalsozialismus“ (1961) Jörg Robert Weltanschauung und Sprachstil. Dieter Wellershoffs Dissertation über Gottfried Benn – Eine Spurensuche 33 Thomas Boyken Pole im Feld der Nachkriegsliteratur. Popularität und Kontinuität am Beispiel 63 Werner Bergengruens Thomas Wegmann Eine „äußerst elegante Sporterscheinung“. Gottfried Benn und sein(e) Verleger nach 1945 81 Daria Engelmann Gottfried Benn in Hans Egon Holthusens „Der unbehauste Mensch“. Zur literaturkritischen Rezeption der historischen Avantgarde zwischen 1945 und 1951 93 Sarah Gaber „Dies ist die erhabenste Kritik, die je über mich erschienen ist –“. Gottfried Benn, Friedrich Sieburg und die Bedeutung einer Rezension im literarischen Feld nach 1945 117
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Inhalt
Weitere Beiträge Thomas Ehrsam „Schweigen hütet gegenseitiges Geheimnis“. Gottfried Benn und Ilse Molzahn 143 Matthias Berning „Schlager von Klasse“. Popliterarische Elemente in einigen 163 Benn-Gedichten Samuel Müller Müller und Cohn auf dem Tauentzien. Gottfried Benn, Gertrud Cassel-Zenzes und die (anti)jüdischen Referenzen in „Prolog“ und „Man denkt, man dichtet“ 185 Elisabeth Flucher „Die Wüste wächst“ – Deutung und Montage eines Nietzsche-Zitats bei 207 Heidegger, Jünger und Benn
Miszelle Nikon Kovalev Die Auseinandersetzung Gottfried Benns mit Sergei Tretjakow. Ein Streit über 237 die kollektivistische Literatur
Rezensionen Christian Leistenschneider Anette und Peter Horn: Was aber neu ist, ist die Frage nach dem Satzbau. Die Gedichte Gottfried Benns, Oberhausen 2017. 249 Peter Lingens Uwe Lehmann-Brauns: Benns letzte Lieben. Mit Originalbriefen von Gottfried 253 Benn, Berlin 2019. Pasquale Memmolo Ah, la terra lontana… Gottfried Benn in Italia, hg. v. Amelia Valtolina und Luca Zenobi, Pisa 2018. 257
Jörg Robert und Sarah Gaber (Tübingen)
Zum Schwerpunkt: Gottfried Benn im literarischen Feld nach 1945 – Konstellationen und Akteure In den letzten Jahren hat die historische Beschäftigung mit der Nachkriegszeit einen bedeutenden Aufschwung gewonnen – quantitativ wie qualitativ. Mit dem Verschwinden der letzten in den 1920ern geborenen Zeitzeugen („Flakhelfer“Generation), scheint der Weg frei für eine Rückschau sine ira et studio, die nicht in der Aufarbeitung der „Wunde“ aufgeht.¹ Während die Geschichte der jungen Bundesrepublik schon seit langem einen Schwerpunkt zeithistorischer Forschung bildet,² hat eine systematische Erforschung der Literatur-, Kultur- und Mediengeschichte der Ära Adenauer erst in den letzten Jahren Fahrt aufgenommen. Die Germanistik hat intensiv an der wissenschaftlichen Erschließung der „Nachkriegsmoderne“³ partizipiert. Der Kosmos ‚Nachkriegsliteratur‘ wird – etwa in den Studien von Fabian Lampart, in der kurz gefassten Literaturgeschichte von Dirk von Petersdorff oder in der Lyrik-Einführung von Thomas Boyken und Nikolas Immer – mehr und mehr in seiner Heterogenität erkannt.⁴ Ausgehend von diesen aktuellen Pionierarbeiten bleibt es eine vordringliche Aufgabe der literaturwissenschaftlichen Forschung zur jungen Bundesrepublik, den Charakter der neuen Medienöffentlichkeit ebenso zu beachten wie die innere Pluralität der Literaturproduktion, die sich nicht nur auf eine Fortsetzung der „reflektierten Moderne“⁵ festlegen lässt. Was den Literaturbetrieb zwischen 1945 und 1968 besonders auszeichnet, ist einerseits das markante Nebeneinander von Gruppen und Ge-
Vgl. Thomas Boyken und Nikolas Immer: Texturen der Wunde. Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, Würzburg 2016. Exemplarisch sei hier auf folgende Studien verwiesen: Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914– 1949, 3. Aufl., München 2008; Harald Jähner: Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945 – 1955, Berlin 2019; Axel Schildt: Annäherungen an die Westdeutschen. Sozialund kulturgeschichtliche Perspektiven auf die Bundesrepublik. 14 Beiträge zur Geschichte der alten Bundesrepublik, Göttingen 2011. Vgl. Fabian Lampart: Nachkriegsmoderne. Transformationen der deutschsprachigen Lyrik 1945 – 1960, Berlin und Bosten 2013. Vgl. Thomas Boyken und Nikolas Immer: Nachkriegslyrik. Poesie und Poetik zwischen 1945 und 1965, Tübingen 2020. Helmuth Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert, München 2004, S. 299. https://doi.org/10.1515/9783110729658-001
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Jörg Robert und Sarah Gaber
nerationen, andererseits ein in dieser Dimension neuartiger Austausch zwischen den Akteuren im literarischen Feld. Hinzu kommt eine Umwertung des Kanons: Eine große Zahl erfolgreicher Nachkriegsautoren (zumeist des konservativen Spektrums) wie Hans Carossa, Hans Erich Nossack oder Werner Bergengruen, sind heute zu Verschollenen der Literaturgeschichte geworden. Gottfried Benn zählt gewiss nicht zu den unterschätzten oder vergessenen Autoren der Nachkriegszeit. Gerade in den letzten Jahren hat die Benn-Forschung durch Editionen – hier ist v. a. der Briefwechsel Benn-Oelze zu nennen⁶ – und durch das Erscheinen des Benn-Handbuchs noch einmal eine Vertiefung erfahren.⁷ Das neue Forschungsinteresse hat jedoch nicht alle Teile und Phasen des Werks gleichermaßen erfasst. Erst zuletzt fiel dank der Studien von Dirk von Petersdorff, Elena Agazzi und Amelia Valtolina sowie Thomas Wegmann ein helleres Licht auf die letzte Werkphase ab 1945.⁸ Die Sammlung der Ton-Dokumente durch den Verlag Zweitausendeins hat daneben jenen ‚Medienintellektuellen‘ Benn erahnen lassen,⁹ der mit seinen Vorträgen zum praeceptor Germaniae und zum Vermittler dessen wurde, was man ‚literarische Westintegration‘ nennen könnte. Auch Benns ambivalentes Verhältnis zur Öffentlichkeit – zwischen Paria und Medienstar – wurde erst in den letzten Jahren deutlicher erkannt. Benn wird, wie er etwa im Aufsatz über „Altern als Problem für Künstler“ (1954) selbst betont hat, zum Gegenstand von Kanonisierung und „Vivisektion“ zugleich.¹⁰
Vgl. Gottfried Benn und Friedrich Wilhelm Oelze: Briefwechsel 1932– 1956, 4 Bde., hg. v. Harald Steinhagen, Stephan Kraft und Holger Hof, Stuttgart und Göttingen 2016; vgl. auch die neueste Auswahledition Gottfried Benn: „Absinth schlürft man mit Strohhalm, Lyrik mit Rotstift“. Ausgewählte Briefe 1904– 1956, hg. v. Holger Hof, Stuttgart und Göttingen 2017. Vgl. Benn-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Christian M. Hanna und Friederike Reents, Stuttgart 2016. Vgl. hierfür exemplarisch die Beiträge in: Der späte Benn. Poesie und Kritik in den 50er Jahren, hg. v. Elena Agazzi und Amelia Valtolina, Heidelberg 2012; Dirk von Petersdorff: Benn in der Bundesrepublik. Zum späten Werk, in: Gottfried Benns Modernität, hg. v. Friederike Reents, Göttingen 2007, S. 24– 37; Thomas Wegmann: Gottfried Benn: Späte Lyrik (1951– 1955), in: Handbuch Nachkriegskultur. Literatur, Sachbuch und Film in Deutschland (1945 – 1962), hg. v. Elena Agazzi und Erhard Schütz, Berlin und Boston 2016, S. 611– 614. Vgl. Gottfried Benn: Das Hörwerk 1928 – 56. Lyrik, Prosa, Essays, Vorträge, Hörspiele, Interviews, Rundfunkdiskussionen, hg.v. Kurt Kreiler, Robert Galitz und Martin Weinmann, Frankfurt a. M. 2005. Gottfried Benn: Altern als Problem für Künstler, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. VI: Prosa 4, hg. v. Holger Hof, Stuttgart 2001, S. 127. Auf diese Ausgabe wird im Folgenden unter der Verwendung der Sigle (SW I–VII/2) hingewiesen. Vgl. hierfür exemplarisch Elisabeth Kampmann: Selbstinszenierung im Dilemma. Gottfried Benns „Pathos der Distanz“ und der späte Ruhm, in: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken. Typologie und Geschichte, hg. v. Christoph Jürgensen und Gerhard Kaiser, Heidelberg 2011, S. 253 – 267; Thomas Wegmann: „Das Äussere ein Earl, das
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In der Beschäftigung mit dem späten Benn zeichnet sich dennoch eine systematische Leerstelle ab. Gemeint ist Benns Austausch mit Literaturkritikern und Literaturwissenschaftlern, mit den „Kulturträgern“, die Benn in „Lebensweg eines Intellektualisten“ (1934) noch in scharfen Gegensatz zu den „Kunstträger[n]“ (SW IV, 182– 183) gebracht hatte.¹¹ Dies ändert sich nach 1945 grundlegend. Fachwissenschaft wie Literaturkritik, Germanisten wie Radio- und Fernsehschaffende entdecken Benn, „de[n] große[n] Überlebende[n]“.¹² Aber auch der Autor gewinnt neue Impulse aus diesem Austausch. So ergibt sich in Anziehung und Abstoßung¹³ eine Wechselwirkung, die bislang vor allem von der Seite Benns beleuchtet wurde – zu Unrecht.¹⁴ Denn die Geistesgeschichte der bundesdeutschen Nachkriegszeit wird durch literaturvermittelnde Teilöffentlichkeiten und Intellektuellenfiguren entscheidend geprägt, wie die jüngst erschienene Studie über „Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik“ von Axel Schildt belegt.¹⁵ Die dort aufgestellte Forderung, stets das „Verhältnis der Akteure zu ihren eigenen – und zu anderen Texten und das Produktionsumfeld im weitesten Sinne“¹⁶ zu untersuchen, gilt nicht nur für Benn, sondern auch für diejenigen, die sich durch ihre Studien zum Autor selbst eine Position im literarischen Feld erarbeitet haben. Diese Wechselwirkungen an konkreten Fallbeispielen zu erschließen, ist Ziel der hier versammelten Beiträge. Sie zeigen vor allem eines: Benn ist seit dem Er-
Innere ein Paria“. Kultivierter Antagonismus bei Gottfried Benn, in: Poetologien des Posturalen. Autorschaftsinszenierungen in der Literatur der Zwischenkriegszeit, hg. v. Clemens Peck und Norbert Christian Wolf, Paderborn 2017, S. 89 – 100. Vgl. dazu auch Jörg Robert und Sarah Gaber: Benn, Oelze und die Literaturwissenschaft nach 1945. Vorüberlegungen zu einem Editions- und Erschließungsprojekt, in: Benn Forum 6 (2018/ 2019), S. 181– 197. Werner Helwig: Gottfried Benns Wiederkehr, in: Allgemeine Zeitung v. 12./13. März 1949, hier zit. n.: Holger Hof: Gottfried Benn. Der Mann ohne Gedächtnis. Eine Biographie, Stuttgart 2011, S. 444. Vgl. die beiden eindrucksvollen Bde. von Bruno Hillebrand: Über Gottfried Benn. Kritische Stimmen, Frankfurt a. M. 1987, hier v. a. Bd. 2: 1957– 1986. Dabei sind Ausnahmen zu verzeichnen; so untersucht beispielsweise Michael Ansel die doppelten Zielsetzungen, die einzelne Literaturwissenschaftler und -kritiker in der Beschäftigung mit Gottfried Benn an den Tag gelegt haben. Vgl. Michael Ansel: Nachkriegsperspektiven auf Gottfried Benn. Rychner, Muschg und Bense, in: Der Essay als Universalgattung des Zeitalters. Diskurse, Themen und Positionen zwischen Jahrhundertwende und Nachkriegszeit, hg. v. dems., Jürgen Egyptien und Hans-Edwin Friedrich, Leiden und Boston 2016, S. 177– 200. Einen ersten Beitrag zur Erschließung der Netzwerke, die Benn zu Literaturwissenschaftlern nach 1945 unterhielt, leisten zudem Robert und Gaber: Benn, Oelze und die Literaturwissenschaft nach 1945 [Anm. 11]. Vgl. Axel Schildt: Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik, Göttingen 2020. Schildt: Medien-Intellektuelle [Anm. 15], S. 19.
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Jörg Robert und Sarah Gaber
scheinen der „Statischen Gedichte“ im Zürcher Arche Verlag ein prägender Akteur der Nachkriegsliteratur: als Gegenstand wissenschaftlicher Erschließung und als Agent seiner eigenen Kanonisierung und Autorisierung. Diese singuläre Stellung im Literaturbetrieb bringt überhaupt Benns späte Poetik der „Ausdruckswelt“ hervor. Seine ‚grammatische‘ Poetik (vgl. „Satzbau“, SW I, 238) konvergiert wiederum mit dem stilkritisch-werkimmanenten Hauptstrom der Literaturwissenschaft nach 1945. Dass der späte Ruhm nicht nur ein Faktor der Literaturgeschichte, sondern auch der germanistischen Fachgeschichte ist, illustrieren die Aufsätze von Anna Axtner-Borsutzky und Jörg Robert. Die Studien Walter Müller-Seidels und Dieter Wellershoffs zu Benn zeigen, wie sehr die ‚Bennomanie‘ nach 1945 von der Literaturwissenschaft begleitet wurde. Die Wende zu Stilkritik und Werkimmanenz befördert die Beschäftigung mit dem späten Benn, der sich seinerseits auf den neuen akademischen Trend einstellt und Konvergenzen zu seiner eigenen Poetik erkennt. In beiden Beiträgen wird dabei neues Material erschlossen: die unveröffentlichte Münchener Antrittsvorlesung Müller-Seidels (1961) sowie Wellershoffs in der Benn-Forschung viel genannte, aber im Wortlaut kaum zur Kenntnis genommenen Bonner Dissertation „Untersuchungen über Weltanschauung und Sprachstil Gottfried Benns“ (1952). Flankierend konnte eine in der Benn-Forschung ebenfalls bekannte Vorstufe (hier ‚Marbacher Fragment‘ genannt), die Wellershoff brieflich mit Benn diskutierte, untersucht werden. Welchen Einfluss u. a. die Literaturwissenschaft auf die Stellung eines Autors haben kann, verdeutlicht darüber hinaus der Beitrag von Thomas Boyken. Am Beispiel von Werner Bergengruen zeigt Boyken, welche Positionen nach 1945 durch Autoren der sogenannten Inneren Emigration überhaupt besetzbar sind. Benn und Bergengruen sind literarische Antipoden; biographisch und in ihrer Rezeption nach 1945 zeichnen sich jedoch Parallelen ab. Die Frage nach der Bedeutung von Benns Verleger(n), insbesondere von Max Niedermayer, wird im Beitrag von Thomas Wegmann gestellt, der hierbei die Wegmarken einer „erfolgreichen und für die Nachkriegsliteratur folgenreichen Zusammenarbeit“¹⁷ analysiert. Der Stellenwert der konservativen Literaturkritik für Benns späten Ruhm ist in der Forschung gelegentlich beleuchtet worden.¹⁸ Hier setzen die Beiträge von
Thomas Wegmann: Eine „äußerst elegante Sporterscheinung“. Gottfried Benn und sein(e) Verleger nach 1945, im vorliegenden Bd., S. 81– 91, hier: S. 87. Vgl. hierfür exemplarisch: Thomas Wegmann: „Ach, vergeblich das Fahren!“ Gottfried Benns Ästhetik des Bleibens und einige konservative Allianzen im literarischen Feld, in: Perspektiven konservativen Denkens. Deutschland und die Vereinigten Staaten nach 1945, hg. v. Erhard Schütz und Peter Uwe Hohendahl, Bern u. a. 2012, S. 163 – 177.
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Daria Engelmann und Sarah Gaber an, die sich mit Hans Egon Holthusen und Friedrich Sieburg zwei zentralen public intellectuals der jungen Bonner Republik widmen. Am Beispiel der Benn-Rezeption Hans Egon Holthusens wird dabei ein differenzierter Blick auf die Avantgarde-Rezeption nach 1945 geworfen, während Friedrich Sieburgs Rezension „Wer allein ist –“ Anlass gibt, über die Interaktionsformen Benns mit der Literaturkritik nachzudenken. Auch Sarah Gabers Beitrag berücksichtigt bislang unveröffentlichtes Archivmaterial (u. a. einen Briefentwurf Benns). Zudem analysieren beide Aufsätze, wie die Kritiker in der Beschäftigung mit Benn durchaus eigene literaturpolitische Strategien verfolgen. Insgesamt zeigen die Beiträge, dass das Thema „Benn im literarischen Feld nach 1945“ mehr bereithält als unverbundene Rezeptionsstudien. Ihr Ertrag liegt auf mehreren Ebenen: Der Blick auf die wissenschaftliche und kritische Rezeption Benns erhellt an einem prominenten Beispiel ein Stück Fachgeschichte der Germanistik nach 1945. Mit den Benn-Dissertationen von Wellershoff, Claes u. a. beginnt geradezu die philologische Erforschung der Gegenwartsliteratur. Benn bleibt von dieser Kanonisierung durch die Wissenschaft nicht unberührt: Er reagiert auf sie, wird durch sie herausgefordert und integriert bestimmte Tendenzen (v. a. Stil und Stilkritik) in seine eigene Poetik. Auf diese Weise entstehen neue Formate (Poetikvorlesung, medienaffine Parlando-Lyrik) und Interaktionsweisen, die sich im Literaturbetrieb verankern und diesen bis heute bestimmen. Heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts, scheint dieser ‚alte‘ Literaturbetrieb und -markt durch neue Lesegewohnheiten, Distributionswege und mediale Konkurrenzen an einem Wendepunkt angekommen. Umso lehrreicher fällt daher der Blick zurück aus: auf jenen Moment, in dem das literarische Feld der alten Bundesrepublik sich konstituierte. Der Schwerpunkt „Benn im literarischen Feld nach 1945“ will nicht zuletzt diesen Aufbruchsmoment in seiner prägenden Bedeutung für die Kulturgeschichte der Bundesrepublik herausarbeiten.
Anna Axtner-Borsutzky (Bielefeld)
Jenseits der Klassik. Walter Müller-Seidels Münchner Antrittsvorlesung „Gottfried Benn und der Nationalsozialismus“ (1961) Abstract: Der Beitrag untersucht die Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Gottfried Benn nach 1945 und benennt dabei Probleme und Fragen, die sich in diesem Zusammenhang ergeben. Anders als die Literaturkritik, die als Antrieb für Gottfried Benns „Come-back“ gilt, nimmt die Literaturwissenschaft diesen erst mit den 1950er Jahren als Gegenstand auf. Als Fallbeispiel für das im Jahr 1961 immer noch „ungewöhnliche[ ] Thema“ wird schließlich Walter Müller-Seidels unveröffentlichte Antrittsvorlesung in München als Praxisform vorgestellt und analysiert.¹
1 Literaturkritik als Antrieb für Gottfried Benns „Come-back“ Im literarischen Feld der Nachkriegsmoderne entwickelte sich eine „enge[ ] Verflechtung von Literatur und Literaturwissenschaft – einschließlich der nach 1945 so vielfältigen Übergangsräume von Literaturkritik, Journalwesen und entstehendem Rundfunk- und Fernsehbetrieb“.² Dennoch verlief die Entwicklung von Literaturkritik und Literaturwissenschaft keineswegs im Gleichschritt. „Die Domänenteilung zwischen Literaturwissenschaft und Literaturkritik bestand damit fort“,³ wie am Beispiel Gottfried Benn zu zeigen sein wird. Der Beitrag der Literaturkritik zu Gottfried Benns „Come-back“⁴ ist unbestritten. Peter Uwe Hohendahls Zusammenstellung der Benn-Rezeption von 1912 bis 1966 bildet den Stand der Nachkriegszeit anschaulich ab: Die hier versammelten Beiträge zwischen 1945 und 1960 sind überwiegend literaturkritische Quellen aus Kultur- und Literatur Für kritische Anmerkungen danke ich Jens Krumeich (Heidelberg). Jörg Robert: Phänotyp der Stunde. Benn, Wellershoff und die Germanistik nach 1945, in: Literaturstraße. Chinesisch-deutsche Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 20 (2019), S. 9 – 25, hier: S. 14. Marcus Gärtner: Kontinuität und Wandel in der neueren deutschen Literaturwissenschaft nach 1945, Bielefeld 1997, S. 71. Gottfried Benn an Frank Maraun am 7. März 1949, in: Gottfried Benn: Ausgewählte Briefe. Mit einem Nachwort von Max Rychner, Wiesbaden 1957, S. 142. https://doi.org/10.1515/9783110729658-002
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Anna Axtner-Borsutzky
zeitschriften.⁵ Deutlich wird hier auch: Noch bevor im Februar 1949 das sogenannte „Gottfried-Benn-Heft“⁶ des „Merkur“ erscheint, gibt es bereits vereinzelt Autoren, die ihn mit ihren Beiträgen wieder zurück ins gesellschaftlich-literarische Gedächtnis bringen, so bspw. Eugen Gürster-Steinhausen in der in Stockholm verlegten „Neuen Rundschau“ 1947.⁷ Joachim Dyck weist darauf hin, dass Gürster-Steinhausens Aufsatz keine Vorwürfe wegen Benns „Engagement für den ‚Neuen Staat‘“, sondern vielmehr Erklärungsversuche für die zeitweilige Hinwendung enthielt und Benn zudem Hoffnung auf das Ende seiner Isolation machte.⁸ Keinen geringen Anteil an dieser Rückkehr Gottfried Benns haben zudem die einflussreichen Literaturkritiker Friedrich Sieburg, Max Rychner und Max Bense – zumindest die beiden Letztgenannten lange vor dem Zweiten Weltkrieg mit Benn bekannt.⁹ In geradezu euphorischem Ton schreibt Friedrich Sieburg, der „zum einflussreichsten publizistischen Literaturkritiker der Adenauer-Ära“¹⁰ werden sollte, von „einem einzigen Flügelschlage, [mit dem] uns eine neue Dichtung Gottfried Benns über das Stimmengewirr der um lyrischen Ausdruck bemühten Gegenwart hoch hinaus[reißt]“.¹¹ Auch für Max Bense habe nur Gottfried Benn […] diese Art zu sprechen in den Rang einer sprachlichen Methode erhoben, die eigens dazu diente, Prosa zu machen, die nicht nur Stimmungen wiedergab, sondern Urteile, Tendenzen, Meinungen, Theorien und Interpretationen bildhaft machte, Prosa mit knappen und weiten Perioden, mit stoßartigen […] Rhythmen, die zwar kein Me-
Peter Uwe Hohendahl: Benn – Wirkung wider Willen. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Benns, Frankfurt a. M. 1971, S. 209 – 363. Klaus-Dieter Hähnel: Das Comeback des Dr. Gottfried Benn nach 1945 (1949) – Wirkung wider Willen?, in: ZfGerm 6 (1996), S. 100 – 113, hier: S. 100. Dieses Zitat greift eine Selbstbeschreibung Gottfried Benns auf, der im oben erwähnten Brief vom 7. März 1949 an Frank Maraun bemerkt: „Ich sah noch das Heft nicht, aber Herr Niedermayer erzählte mir telefonisch, es sei ein direktes G.B.-Heft“ [siehe Anm. 4]. Vgl. Eugen Gürster-Steinhausen: Gottfried Benn, ein Abenteuer der geistigen Verzweiflung, in: Neue Rundschau 58 (1947), H. 6, S. 215 – 226. Joachim Dyck: Der Zeitzeuge: Gottfried Benn 1929 – 1949, Göttingen 2006, S. 363. Vgl. Gottfried Benn und Max Rychner: Briefwechsel 1930 – 1956, hg. v. Gerhard Schuster, Stuttgart 1986. Mit Max Bense unterhielt Benn bereits ab den frühen 1930er Jahren einen sporadischen Briefwechsel.Vgl. Michael Ansel: Nachkriegsperspektiven auf Gottfried Benn. Rychner, Muschg und Bense, in: Der Essay als Universalgattung des Zeitalters. Diskurse, Themen und Positionen zwischen Jahrhundertwende und Nachkriegszeit, hg. v. dems., Jürgen Egyptien und Hans-Edwin Friedrich, Leiden und Boston 2016, S. 177– 200, hier: S. 187. Bernhard Zimmermann: Entwicklung der deutschen Literaturkritik von 1933 bis zur Gegenwart, in: Geschichte der deutschen Literaturkritik (1730 – 1980), hg. v. Klaus L. Berghahn und Peter Uwe Hohendahl, Stuttgart 1985, S. 205 – 338, hier: S. 301. Friedrich Sieburg: „Wer allein ist –“, in: Die Gegenwart 4 (1949), H. 4, S. 22.
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trum mehr verriet, aber durchaus noch eine wohlerwogene Verurteilung der Akzente, angedeutet durch dekorative Substantive, die ein gewisses Spiel mit Vokalen und Konsonanten unverborgen ließ.¹²
Da die Literaturkritiker, insbesondere die konservativen, die „Rolle von wegweisenden Autoritäten“¹³ für die orientierungslosen Leser der Nachkriegszeit einnahmen, darf es in der Rückschau kaum verwundern, welchen Einfluss ihre Texte auf die Benn-Rezeption hatten – insbesondere durch die Publikation in neu gegründeten Tages- und Kulturzeitschriften mit großer Reichweite.¹⁴ Benn wurde also mit Unterstützung der Literaturkritik „innerhalb kürzester Zeit von einer Persona non grata zur maßstabsetzenden Instanz katapultiert“.¹⁵ Benns Ruhm nach 1945, so Dirk von Petersdorff, schlug „sich in emphatischen Rezensionen, zahlreichen Einladungen, Radiosendungen und dem Büchner-Preis“¹⁶ nieder. Benn war also in die Öffentlichkeit zurückgekehrt, aber nicht ins wissenschaftliche Gespräch gelangt. Vergeblich sucht man in dieser Aufzählung literaturwissenschaftliche Beiträge.¹⁷ Im Folgenden soll es daher nicht um den bereits bekannten Beitrag der Literaturkritik zu Gottfried Benns erneutem Aufstieg gehen, sondern um die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Autor Benn. Nicht die bereits konsultierten Briefwechsel zwischen den einzelnen Akteuren dienen dabei als Quellen,¹⁸ sondern vielmehr die selteneren literaturwissenschaftlichen For-
Max Bense: Über expressionistische Prosa, in: Merkur 3 (1949), H. 12, S. 197– 199, hier: S. 197. Oliver Pfohlmann: Literaturkritik in der Bundesrepublik, in: Literaturkritik: Geschichte, Theorie, Praxis, hg. v. Thomas Anz und Rainer Baasner, München 2004, S. 160 – 191, hier: S. 160. Jüngst erschien dazu Axel Schildt: Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik, Göttingen 2020, insbesondere S. 131– 213 [Kapitel: Schreiborte für Intellektuelle]. Vgl. Peter Geist: Zur literarischen Benn-Rezeption im Westen und Osten Deutschlands nach 1945, in: Benn-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Christian M. Hanna und Friederike Reents, Stuttgart 2016, S. 383 – 390, hier: S. 383. Dirk von Petersdorff: Benn in der Bundesrepublik. Zum späten Werk, in: Gottfried Benns Modernität, hg. v. Friederike Reents, Göttingen 2007, S. 24– 37, hier: S. 24. Dies ist jedoch nicht allzu erstaunlich, da die Literaturwissenschaft der Nachkriegszeit von der Literatur der Klassik und Romantik dominiert wurde. Das Goethejahr 1949 dokumentiert deutlich die Fokussierung auf den klassischen Kanon; vgl. Ernst Osterkamp: Humanismus und Goethe-Feier 1932/1949. Kontinuität und Diskontinuität, in: ‚Humanismus‘ in der Krise. Debatten und Diskurse zwischen Weimarer Republik und geteiltem Deutschland, hg. v. Matthias Löwe und Gregor Streim, Berlin und Boston 2017, S. 23 – 38. Jüngst dazu erschienen: Jörg Robert und Sarah Gaber: Benn, Oelze und die Literaturwissenschaft nach 1945.Vorüberlegungen zu einem Editions- und Erschließungsprojekt, in: Benn Forum 6 (2018/2019), S. 181– 197.
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Anna Axtner-Borsutzky
schungsbeiträge über Gottfried Benn seit den ausgehenden 1940er Jahren. Ein solches Unterfangen macht es nötig, verschiedene Praxisformen wie Dissertationen, Literaturgeschichten, Beiträge in Sammelbänden und Zeitschriften, Tagungsberichte, Rezensionen und nicht zuletzt Vorlesungen auf ihren möglichen Quellengehalt und dadurch ihren Beitrag zum Erkenntnisgewinn zu befragen. Zwischen den genannten Gattungen gab es vielfache Berührungen, sie unterschieden sich jedoch nach dem Grad ihrer Öffentlichkeitswirkung. Dies lässt eine sukzessive Steigerung an Sichtbarkeit von bestimmten Themensetzungen vermuten. Zu bedenken bleibt, dass bei dieser Rekonstruktion der germanistischen Literaturwissenschaft unter Einbezug verschiedener Praxisformen mit einer Verzerrung der Wahrnehmung zu rechnen ist, da die Retrospektive oftmals nur sichtbare und überlieferte Quellen bereitstellt. Maßgeblich für die Sichtbarkeit eines Gegenstandes sind grundlegend die internen Bedingungen der scientific community, die erst durch Formen von höherer Sichtbarkeit – wie Literaturgeschichten – nach außen dringen. Diese werden „wie Geschichte überhaupt im Horizont gegenwärtiger Frageinteressen und Interpretationsmuster konstituiert“,¹⁹ sodass kanonisierte Literatur als solche erst rückblickend bezeichnet werden kann, wenn sie zum Gegenstand der Literaturgeschichte geworden ist. Qualifikationsschriften der Nachkriegszeit hingegen blieben oftmals unveröffentlicht und wurden daher vermutlich weniger rezipiert und seltener in Bibliographien aufgenommen, die zum wachsenden Interesse an bestimmten Themen beitragen konnten.
2 Zur germanistischen Literaturwissenschaft der Nachkriegszeit Im Gegensatz zur reichhaltigen Forschung über die Situation der literarischen Öffentlichkeit herrscht ein Desiderat bezüglich der „nicht eben üppige[n] wissenschaftsgeschichtlichen Forschung zur Nachkriegszeit“.²⁰ Als „kümmerlich“²¹ wird die Forschungslage zur westdeutschen Germanistik nach 1945 gar bezeich-
Jan-Dirk Müller: Literaturgeschichte/Literaturgeschichtsschreibung, in: Erkenntnis der Literatur. Theorien, Konzepte, Methoden der Literaturwissenschaft, hg. v. Dietrich Harth und Peter Gebhardt, 2. Aufl., Stuttgart 1989, S. 195 – 228, hier: S. 195. Michael Ansel: Dichtung als Wirklichkeit oder monologische Ausdruckskunst? Ein Rundfunkgespräch zwischen Hermann Kunisch und Gottfried Benn (1954), in: ZfGerm 17 (2007), S. 79 – 107, hier: S. 80. Gärtner: Kontinuität, [Anm. 3], S. 22.
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net.²² Nicht nur mangelt es an disziplingeschichtlichen Untersuchungen über die Nachkriegsgermanistik, sondern bereits an deren Beschäftigung mit bestimmten Bereichen der Literatur wie der Gegenwartsliteratur selbst.²³ Schon 1952 hielt Fritz Martini fest, dass die Auseinandersetzung mit der Literatur von 1880 bis 1950 überwiegend außerhalb der Literaturwissenschaft, „in der literaturprogrammatisch, kulturpolitisch oder mehr stimmungshaft-impressionistisch akzentuierten Tageskritik, auf dem Kampffeld der Zeitschriften und Zeitungen“²⁴ verlaufe und nennt dies eine Herausforderung für die Literaturwissenschaft, zum „Beweis ihres Sinnes“²⁵ anzutreten. Als spärlich darf somit nicht nur die literaturwissenschaftliche Forschung über die literarische Moderne in den ausgehenden 1940er und 1950er Jahren gelten, sondern auch die disziplingeschichtliche Reflexion darüber; und nach wie vor ist die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Moderne in „der mittlerweile weitgehend erforschten Geschichte der Germanistik […] ein blinder Fleck geblieben“.²⁶ Zunächst ist diesem Befund nachzugehen und zu fragen, welche institutionellen, personellen und praktischen Umstände zu diesem Mangel an Gegenwartsliteratur in der Literaturwissenschaft der Nachkriegszeit führten. Klaus Scherpe pointiert es mit einem Titel in seiner Studie zur „rekonstruierten Moderne“: „Die Moderne sollte vermieden werden.“²⁷ Doch wie kommt es dazu? Kaum übersehbar ist, dass nicht nur Gottfried Benns Texte, sondern die moderne Literatur im Allgemeinen in den ersten Jahren der Nachkriegszeit gern umgangen
Als Ausnahmen hervorzuheben sind hier die disziplingeschichtlichen Sammelbände Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945, hg. v. Wilfried Barner und Christoph König, Frankfurt a. M. 1996, sowie Atta Troll tanzt noch. Selbstbesichtigungen der literaturwissenschaftlichen Germanistik im 20. Jahrhundert, hg. v. Petra Boden u. a., Berlin 1997. Ebenso als Fallstudie Anna Lux: Räume des Möglichen. Germanistik und Politik in Leipzig, Berlin und Jena (1918 – 1961), Stuttgart 2014. Im Erscheinen: Andrea Albrecht und Jens Krumeich: Fritz Martini (1909 – 1991) und die deutsche Literaturwissenschaft vor und nach 1945 (voraussichtlich 2021). Vgl. Andrea Albrecht, Annika Differding und Carlos Spoerhase: Editorial: „Nachtaster eines Tastenden“? Zur Geschichte der germanistischen Gegenwartsliteraturwissenschaft, in: IASL 41 (2016), S. 412– 430. Fritz Martini: Deutsche Literatur zwischen 1880 und 1950. Ein Forschungsbericht, in: DVjS 26 (1952), S. 478 – 535, hier: S. 478. Martini: Deutsche Literatur zwischen 1880 und 1950 [Anm. 24], S. 478. Walter Erhart: Die germanistische Moderne – eine Wissenschaftsgeschichte, in: Literarische Moderne. Begriff und Phänomen, hg. v. Sabina Becker, Helmuth Kiesel und Robert Krause, Berlin und New York 2007, S. 145 – 166, hier: S. 148. Klaus Scherpe: Die rekonstruierte Moderne. Studien zur deutschen Literatur nach 1945, Köln 1992, S. 1.
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wurden.²⁸ Auffällig ist vor allem eines: Die älteren der „Großordinarien“²⁹, darunter Paul Böckmann,³⁰ Wolfgang Kayser, Hermann August Korff, Hans Pyritz³¹ und Benno von Wiese³² sind es nicht, die die moderne Literatur in der Literaturwissenschaft etablieren.³³ Diese Professoren sind es jedoch, deren Verdienste und Forschungsarbeiten in der Disziplingeschichte überliefert werden. In der Nachkriegszeit beschäftigen sie sich vornehmlich mit Themen, die unpolitisch erscheinen und vom Mittelalter bis zur Romantik reichen, jedoch selten darüber hinausgehen.³⁴ Die – nur kursorisch gesichteten – Vorlesungsverzeichnisse der späten 1940er und frühen 1950er Jahre, beispielsweise in Freiburg, Heidelberg, München und Münster, sowie die Publikationslisten der Genannten belegen dies.³⁵ Einzig Fritz Martini bietet an der Universität in Stuttgart schon ab 1947 Seminare und Vorlesungen über „Deutsche Dichtung seit 1900“ und über
Dass sie überhaupt keine Rolle gespielt hätte, gehört jedoch zur teilweise mythisierten Fachgeschichte der Germanistik. Vgl. Erhart: Die germanistische Moderne [Anm. 26], S. 149. Gärtner: Kontinuität [Anm. 3], S. 46. Von Paul Böckmann gibt es vereinzelt – und auch erst spätere – Auseinandersetzungen mit der Moderne und Gottfried Benn, vgl. Paul Böckmann: Gottfried Benn und die Sprache des Expressionismus, in: Der deutsche Expressionismus. Formen und Gestalten, hg. v. Hans Steffen, Göttingen 1965, S. 63 – 87. Vgl. Christa Hempel-Küter: Germanistik zwischen 1925 und 1955. Studien zur Welt der Wissenschaft am Beispiel von Hans Pyritz, Berlin 2000. Vgl. Erhart: Die germanistische Moderne [Anm. 26], S. 151.Walter Erhart weist darauf hin, dass die literarische Sozialisation dieser Generation mit dem Expressionismus zusammenfällt. So hat Benno von Wiese beispielsweise bereits 1928 das Werk Kafkas „in einem journalistischen Aufsatz neusachlich interpretiert“. Diese neusachliche Konzentration auf die Form führe jedoch auch zu einer Distanznahme gegenüber der Geistesgeschichte. Der in den späten 1940er Jahren entstehende Eindruck einer Lücke in Lehre und Forschung der genannten Ordinarien entsteht nicht zuletzt aufgrund ihrer (vorläufigen) Entlassung nach dem Zweiten Weltkrieg. So wurde beispielsweise Wolfgang Kayser erst 1950 wieder an die Universität Göttingen berufen, Hans Pyritz 1947 vorläufig und ebenfalls 1950 endgültig auf den Lehrstuhl für Deutsche Literaturwissenschaft in Hamburg. Vgl. Jost Hermand: Geschichte der Germanistik, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 114. Vgl. Walter Erhart: Kanonisierungsbedarf und Kanonisierung in der deutschen Literaturwissenschaft (1945 – 1995), in: Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung, hg. v. Renate von Heydebrand, Stuttgart 1998, S. 97– 121, hier: S. 103. Erhart beobachtet mit dem Fortgang der 1950er Jahre einen Anstieg an neuen Autoren und neuen Epochen in den Vorlesungsverzeichnissen. Zwar werden hier Thomas Mann, Franz Kafka oder Bertolt Brecht häufiger berücksichtigt, Gottfried Benn jedoch noch nicht. Gärtner nennt hier neben Fritz Martini in Stuttgart Clemens Heselhaus in Münster und Otto Mann in Heidelberg, vgl. Gärtner: Kontinuität [Anm. 3], S. 124.
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„Deutsche Dichtung der Gegenwart“ an.³⁶ Martini ist es auch, der 1954 ein Kapitel über Gottfried Benn in seinen „Interpretationen deutscher Prosa von Nietzsche bis Benn“ verfasst – mehr noch, diesen sogar in den Titel aufnimmt.³⁷ In Martinis 1952 publizierten Forschungsbericht über die „Deutsche Literatur zwischen 1880 bis 1950“³⁸ sucht man Benn allerdings noch vergebens, ebenso wie im bereits 1948 veröffentlichten Beitrag „Was war Expressionismus?“³⁹ – nach Marcus Gärtner nicht die eingangs von Martini „angekündigte[ ] Bemühung um Rehabilitation“, sondern die Erklärung des „Bankrott[s] des Expressionismus“.⁴⁰ Noch im Jahr 1960 sei die literarische Moderne, insbesondere der Expressionismus, eine „in Vergessenheit geratene Literaturlandschaft“⁴¹ gewesen. Walter Erhart spricht gar von der „Blindheit und [den] Irrtümer[n] der Germanistik in diesem Punkt – etwa ihre lang geübte Ignoranz gegenüber der modernen Literatur“.⁴² Die Ursprünge dieser Ignoranz sind – abgesehen von der vorherrschenden Fachtradition – mehrdimensional und können auf personelle, institutionelle und praxisbezogene Faktoren zurückgeführt werden.⁴³ Man ist sich in der Forschung weitgehend einig, „dass mit dem Jahr 1945 für die Germanistik in den westlichen Besatzungszonen weder personell, noch konzeptionell noch institutionell ein radikaler Traditionsbruch gegeben war“.⁴⁴ Dies bedeutet, dass in breiter Mehrheit weiterhin diejenigen an der Spitze von Forschung und Lehre standen, die in den zurückliegenden Jahrzehnten eine ablehnende oder ausweichende Haltung gegenüber moderner Literatur gepflegt hatten. So blieb der Literatur-Kanon an vielen Stellen unverändert gegenüber der Zeit vor und während des nationalsozialistischen Regimes, die Literatur der Gegenwart wurde kaum zur Kenntnis genommen. Das Jahr 1945 ist dementsprechend nicht als wissen-
Vgl. Vorlesungsverzeichnis Technische Hochschule Stuttgart. 1947/48, S. 5; Vorlesungsverzeichnis Technische Hochschule Stuttgart. 1948, S. 31. Eine ausführliche Aufstellung seiner Seminare und Vorlesungen in: Krumeich, Albrecht: Fritz Martini [Anm. 22]. Vgl. Fritz Martini: Das Wagnis der Sprache. Interpretationen deutscher Prosa von Nietzsche bis Benn, Stuttgart 1954, S. 465 – 517. Vgl. Fritz Martini: Deutsche Literatur [Anm. 24]. Vgl. Fritz Martini: Was war Expressionismus? Deutung und Auswahl seiner Lyrik, Urach 1948. Gärtner: Kontinuität [Anm. 3], S. 116. Walter Müller-Seidel: Bernhard Zeller. Zu seinem Gedenken, in: JbDSG 53 (2009), S. 547– 552, hier: S. 549. Erhart: Die germanistische Moderne [Anm. 26], S. 146. Eine Dokumentation darüber, wer in der Öffentlichkeit über welche Themen sprach, bietet Klaus Röther: Die Germanistenverbände und ihre Tagungen. Ein Beitrag zur germanistischen Organisations- und Wissenschaftsgeschichte, Köln 1980. Rainer Rosenberg: Die deutschen Germanisten. Ein Versuch über ihren Habitus, Bielefeld 2009, S. 86.
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schaftshistorische Zäsur zu bewerten, sondern diente eher dazu, „Kontinuität herzustellen und die Disziplin auf diese Weise schnell wieder funktionsfähig und -tüchtig zu machen“.⁴⁵ Für den ausbleibenden Positions- und Themenwechsel in der Literaturwissenschaft sind erstens vor allem „personelle Gründe ausschlaggebend“.⁴⁶ Die Mehrzahl der Ordinarien, die vor 1945 ihre Position innehatten, kam nach kurzer Entlassung wieder zurück; es gab schlichtweg kaum Nachwuchs, der hätte nachrücken können.⁴⁷ Nicht zuletzt aufgrund dieser personellen Kontinuität besteht beispielsweise für Rainer Rosenberg kein Zweifel daran, dass erst die Zeit um 1965/1968 als Bruch mit den Konventionen verstanden werden kann.⁴⁸ Zweitens blieben meist nicht nur die sichtbaren und einflussreichen Wissenschaftler dieselben, „sondern sie arbeiteten auch an demselben Repertoire von Texten“.⁴⁹ Religiöses, Existentialistisches und Autonomieästhetik bestimmten das germanistische Tagesgeschäft – nicht selten, um mit den Schwerpunkten von Mittelalter bis Romantik politische und ideologische Themen zu umgehen.⁵⁰ Auch die neuen Zeitschriften wie „Aufbau“, „Die Pforte“, „Die Wandlung“, „Die Sammlung“, „Der Horizont“, „Neue Welt“ oder „Neues Abendland“, die bis zur Währungsreform „das geistige Profil in den Zonen“⁵¹ formten, sprachen sich entschieden für „Humanismus, Humanität, humanitas“⁵² aus – Themen, die in der Nachkriegszeit Hochkonjunktur hatten.⁵³ Diese Klassikerpflege ist als Teil der Kontinuität nach 1945 zu benennen:
Erhart: Kanonisierungsbedarf [Anm. 35], S. 100. Hermand: Geschichte der Germanistik [Anm. 34], S. 114. Marcus Gärtner warnt bei dieser Studie vor „Unschärfen und Verallgemeinerungen, die bei einem so großen und an einen weiten Leserkreis gerichteten Entwurf unvermeidlich sind“. Vgl. Gärtner: Kontinuität [Anm. 3], S. 25. Einige, die ihre Lehrstühle behielten oder nach kurzer Zeit zurückkehrten, waren die bereits erwähnten Paul Böckmann, Wolfgang Kayser, Hermann August Korff, Hans Pyritz, Benno von Wiese, um nur die bekanntesten Namen zu nennen. Vgl. Rosenberg: Die deutschen Germanisten [Anm. 44], S. 97, nach Hans Peter Hermann: Das Bild der Germanistik zwischen 1945 und 1965 in autobiographischen Selbstreflexionen von Literaturwissenschaftlern, in: König: Zeitenwechsel [Anm. 22], S. 345 – 360, hier: S. 347. Gärtner: Kontinuität [Anm. 3], S. 47. Vgl. Hermand: Geschichte der Germanistik [Anm. 32], S. 116. Dyck: Der Zeitzeuge [Anm. 8], S. 370. Manfred Fuhrmann: Klassische Philologie seit 1945. Erstarrung, Geltungsverlust, neue Perspektiven, in: Die sog. Geisteswissenschaften: Innenansichten, hg. v. Wolfgang Prinz, Peter Weingart und Heidemarie Bhatti-Küppers, Frankfurt a. M. 1990, S. 313 – 328, hier: S. 317. Zur Leerformelhaftigkeit des Humanismusbegriffs vgl. Löwe, Streim: ‚Humanismus‘ in der Krise [Anm. 17]. Für das Fallbeispiel Müller-Seidel ebenso Anna Axtner-Borsutzky: Autobiographik und Wissenschaft im 20. Jahrhundert. Walter Müller-Seidels fragmentarischer Erinnerungsbericht. Berlin 2021 [im Druck].
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der verstärkte (kompensatorische) Bezug auf die humanistische Bildungstradition forderte die Anknüpfung an eine Tradition, die in den nationalen Klassikern zugleich das abendländische Erbe bewahrt sieht: Goethe als Leitfigur.⁵⁴
An dieser Stelle ist festzuhalten, dass gerade Gottfried Benn diese Überhöhung des Humanen als von „schamlose[m] Opportunismus“⁵⁵ geprägt und Übelkeit erregend bezeichnete. Demgegenüber versuchte er mit seiner „Kritik des Bürgerlichen […] die humanistische Tradition deutscher Kultur“⁵⁶ zu treffen. Mit dieser Einstellung steht Benn den vorherrschenden Tendenzen in der Literaturwissenschaft der späten 1940er und 1950er Jahre – einer „Zeit des ‚Abendlandes‘, in der man vertraute Begriffe aus dem Wortfeld des Humanismus beschwört“,⁵⁷ diametral gegenüber. Drittens ist mit dem Gegenstand der Literaturwissenschaft auch die angewandte Methode eng verzahnt. In dieser sollte es nicht um die Anbindung des literarischen Werkes an „nationale oder auch historische, biographische, soziale und literaturgeschichtliche Kontexte [… gehen], sondern [um die] ästhetischen Kategorien der ‚Stimmigkeit‘, ‚Geschlossenheit‘, ‚Einheit‘, ‚Ganzheit‘, ‚Selbstgesetzlichkeit‘“.⁵⁸ Schon 1945 prognostizierte Karl Viëtor, dass sich das Fach Germanistik nur in der Methode der immanenten Interpretation wieder von der Politisierung seiner Arbeitsmethoden würde lösen können, und positioniert sich damit gegen die Geistesgeschichte, von deren „Gefahren und Schwächen“ er neben dem „Neuen und Bedeutenden, das sie vollbracht hat“,⁵⁹ spricht. Als einflussreichster Vertreter der sogenannten werkimmanenten Interpretation gilt der Zürcher Ordinarius Emil Staiger, der die Methode der Einfühlung auf die prägnante Formel brachte „zu begreifen, was uns ergreift“.⁶⁰ Staiger äußerte sich „verschiedentlich sehr kritisch gegenüber der Moderne“.⁶¹ Seine ablehnende Erhart: Kanonisierungsbedarf [Anm. 35], S. 101. Dyck: Der Zeitzeuge [Anm. 8], S. 370. Rolf G. Renner: Das ‚Dilemma der Geschichte‘. Benn und Brecht im Nachkriegsdeutschland, in: Gottfried Benn – Bertolt Brecht. Das Janusgesicht der Moderne, hg. v. Achim Aurnhammer, Werner Frick und Günter Saße, Würzburg 2009, S. 273 – 296, hier: S. 275. Müller-Seidel: Bernhard Zeller [Anm. 41], S. 548. Erhart: Kanonisierungsbedarf [Anm. 35], S. 101. Vgl. Karl Viëtor: Literaturgeschichte als Geistesgeschichte, Bern 1967, S. 22 [zuerst in: PMLA 60 (1945), S. 899 – 916, hier: S. 909]. Emil Staiger: Die Kunst der Interpretation, in: Die Kunst der Interpretation. Studien zur Literaturgeschichte, 5. unveränd. Aufl., hg. v. dems., Zürich 1967 [zuerst 1955], S. 9 – 34, hier: S. 10 f. André Bucher: Zur Rezeption der klassischen Moderne in der Schweizer Germanistik. Untersuchungen zu Ermatinger, Faesi, Muschg und Staiger, in: Schreiben gegen die Moderne. Beiträge zu einer kritischen Fachgeschichte der Germanistik in der Schweiz, hg. v. Corina Caduff und Michael Gamper, Zürich 2001, S. 65 – 83, hier: S. 75.
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Haltung resultierte aus der Annahme, dass Literatur ihre Freiheit, ihre „echte, überzeugende, den Wandel der Zeit überdauernde Sprache [verliere], wo sie allzu unmittelbar-beflissen zum Anwalt vorgegebener humanitärer, sozialer, politischer Ideen wird“.⁶² Der Rückzug auf Emil Staigers Methode machte „konsequenterweise auch jede Befassung mit dem gesellschaftlichen Handeln Gottfried Benns oder mit dem gesellschaftlichen Kontext seines Schreibens überflüssig“.⁶³ Dies ist insofern von Relevanz, da – wie Walter Müller-Seidel in einem Interview mit Michael Schlott verdeutlicht – die Literaturwissenschaft in der Bundesrepublik „bis Ende der 1950er Jahre von der Staigerschen Schule“⁶⁴ stark abhängig war. Erst der ‚Zürcher Literaturstreit‘, der zwischen Emil Staiger und Max Frisch entbrannte, machte die bis dahin mangelnde Auseinandersetzung der am klassischen Kanon orientierten Germanistik mit der modernen Literatur für die Öffentlichkeit sichtbar und erleichterte gewissermaßen eine Öffnung hin zu neuen Themen und Motiven aus der literarischen Moderne.⁶⁵ In der Zeit nach 1950 ist mit der Etablierung der werkimmanenten Methode jedoch auch ein „massiv einsetzender“⁶⁶ Kanonisierungsbedarf zu erkennen, der die Germanistik vor die Aufgabe stellte, die ‚Moderne‘ in den Kanon zu integrieren. Diese Entwicklung scheint Mitte der 1950er Jahre einzusetzen, wie Hans J. Hahn statistisch nachweisen kann.⁶⁷ Zuvor war nach 1945 „ein Großteil der Literatur des 20. Jahrhunderts gänzlich aus dem Gesichtsfeld der in Deutschland verbliebenen Germanisten verschwunden“.⁶⁸ Diese Auslassung von Gegenwarts-
Emil Staiger: Literatur und Öffentlichkeit, in: Sprache im technischen Zeitalter 22 (1967), S. 90 – 97, hier: S. 91. Hugh Ridley: Gottfried Benn. Ein Schriftsteller zwischen Erneuerung und Reaktion, Opladen 1990, S. 200. Interview von Michael Schlott mit Walter Müller-Seidel am 05. Oktober 1994, in: Wege der Aufklärung in Deutschland. Die Forschungsgeschichte von Empfindsamkeit und Jakobinismus zwischen 1965 und 1990 in Experteninterviews, eingel., bearb., komm. und hg. v. Michael Schlott, Leipzig 2012, S. 299 – 314, hier: S. 301. Vgl. ausführlich Gerhard Kaiser: ‚…ein männliches, aus tiefer Not gesungenes Kirchenlied…‘: Emil Staiger und der Zürcher Literaturstreit, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 47 (2000), S. 382– 394. Erhart: Kanonisierungsbedarf [Anm. 35], S. 102. Vgl. Hans J. Hahn: Kahlschlag und Dschungel in der deutschen Germanistik nach 1945, in: German Life and Letters 43 (1989/90), S. 246 – 266, hier: S. 257– 263. Der Beitrag ist im Gesamten äußert kursorisch angelegt. Gärtner: Kontinuität [Anm. 3], S. 66. Diese Formulierung ist insofern interessant, als die nicht in Deutschland verbliebenen, also emigrierten Wissenschaftler, sich weitaus früher mit den Autoren der literarischen Moderne beschäftigten. Diesem Ansatz, der die Wechselwirkung von innerund außerdeutscher Nachkriegsgermanistik untersucht, wäre gesondert nachzugehen. Vgl. Hans
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literatur im eigenen Lehr- und Forschungsprogramm seitens der ‚Großordinarien‘ wird auch von Zeitzeugen bestätigt. So erinnert sich Walter Müller-Seidel (1918 – 2010), selbst zwischen der älteren und etwas jüngeren Generationen stehend, an ein Germanistentreffen des Jahres 1951 in Heidelberg, bei dem „zur Verwunderung einiger älterer oder auch noch nicht sehr alter Kollegen“⁶⁹ von Clemens Heselhaus über Kafka gesprochen wurde.⁷⁰ 1952 dokumentierte er den darauffolgenden Germanistentag in Münster und hielt schon damals die Beschäftigung mit der Moderne als „selbstverständliche Gegebenheit“⁷¹ in der akademischen Praxis fest, betonte jedoch, dass man „auf Kafka unter den anwesenden Ordinarien nicht gut zu sprechen“⁷² war. Die Erschließung der literarischen Moderne durch die jüngere Generation habe man „kühl“⁷³ aufgenommen. Auch an anderer Stelle weist Müller-Seidel darauf hin, dass die „Generation der älteren Literarhistoriker wie Paul Kluckhohn, Hans Heinrich Borcherdt, aber auch damals jüngere Gelehrte wie Hans Pyritz oder Wolfgang Kayser“⁷⁴ den Schriftstellern der Moderne vielfach fremd gegenüber standen. Müller-Seidel ist es auch, der mehrfach hervorhebt, dass Fritz Martini sich „in den fünfziger Jahren für die Erschließung der weithin noch fremden Gebiete ein[setzte]“⁷⁵ und dass trotz mancher Zugeständnisse an den Zeitgeist vor 1945 „das Verdienst, gerade der Befassung mit diesen Autoren [gemeint sind Kafka, Döblin, Broch, Musil, Brecht] zum Durchbruch verholfen zu haben“,⁷⁶ Fritz Martini, Wolfdietrich Rasch, Wil-
Reiss: Erinnerungen aus 85 Jahren, München 2009, S. 180: Hierzu beispielsweise die Erinnerung des nach Großbritannien emigrierten Hans Reiss über seinen Gastvortrag zu Kafka in Heidelberg im Jahr 1947: „Paul Böckmann hatte mich damals zu dem Kafka-Vortrag eingeladen. Außer ihm, seinen älteren Kollegen den außerplanmäßigen Professor Reinhard Buchwald und seinem Assistenten Walter Müller-Seidel […] hatte keiner der Anwesenden je eine Zeile von Kafka gelesen.“ Walter Müller-Seidel: Probleme der literarischen Moderne. Am Beispiel des Germanisten Hans Schwerte, in: Der Fall Schwerte im Kontext, hg. v. Helmut König, Opladen 1998, S. 66 – 97, hier: S. 78. Als weiteres prominentes Beispiel für die frühe Kafka-Forschung ist Wilhelm Emrich zu nennen. Vgl. Wilhelm Emrich: Franz Kafka, Bonn 1958. Walter Müller-Seidel: Zur gegenwärtigen Lage der Germanistik, in: DVjS 26 (1952), S. 536 – 546, hier: S. 543. Walter Müller-Seidel: Gegengewichte. Erinnerte Zeitgeschichte 1928 – 1958, in: Geschichte der Germanistik. Mitteilungen 33/34 (2008), S. 81– 100, hier: S. 94. Müller-Seidel: Gegengewichte [Anm. 72], S. 94. Müller-Seidel: Probleme der literarischen Moderne [Anm. 69], S. 77. Müller-Seidel: Probleme der literarischen Moderne [Anm. 69], S. 78. Petra Boden: Reformarbeit als Problemlösung. Sozialgeschichtliche und rezeptionstheoretische Forschungsansätze in der deutschen Literaturwissenschaft der 60er und 70er Jahre – eine Vorbemerkung und drei Interviews, in: IASL 28 (2003), S. 111– 170, hier: S. 123.
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helm Emrich⁷⁷ oder auch Clemens Heselhaus gebühre. Dies bestätigt auch Rainer Rosenberg, indem er die Generation von Lämmert, Conrady und Müller-Seidel als diejenige der „ersten Anstöße zu einer konzeptionellen und institutionellen Modernisierung der eigenen Disziplin wie zum Umbau der Universitätsstrukturen“⁷⁸ benennt – mit Walter Erhart gesprochen die erste Generation nach der „nationalsozialistischen Akademikergeneration“.⁷⁹ Da neue Wege zu beschreiten waren, handelte „die Literaturwissenschaft der Nachkriegszeit […] Paradigmen der Modernität im unmittelbaren Dialog mit der modernen Literatur selbst aus“,⁸⁰ wie Briefwechsel und öffentliche Gespräche zwischen Wissenschaftlern und Autoren belegen. Diese Progressivität resultierte nicht zuletzt aus der Notwendigkeit für die jüngere Generation, sich den „neuen Töne und neuen Motive[n] jenseits jeder Klassik“⁸¹ zu stellen. Ein Autor, der sich hervorragend als Gegenstand für diese neuen Töne und neuen Motive eignete, ist Gottfried Benn. Trotz der öffentlichen Ehrungen in Form des Büchner-Preises von 1951 und des Bundesverdienstkreuzes 1953 blieb die literaturwissenschaftliche Rezeption zunächst schmal – zumindest die heute sichtbare. So verweist das Handbuch „Deutsche Philologie im Aufriss“ noch 1954 auf einen fehlenden Zugang zu Benn: So ist Benns Schau doch die eines am Leben verzweifelnden, verhirnten hohen Künstlers, dem der Schlüssel in die Zukunft fehlt – Jugend, die allein durch die Ekstase des Herzens den kalten Intellekt im dichterischen Bild durchbluten kann. Es fehlt ihm auch das wie ein Hauch sangbare Lied.⁸²
Doch beim wissenschaftlichen Nachwuchs waren offenbar weniger Berührungsängste vorhanden.⁸³ Viele Germanisten der jüngeren Generation „treten nach dem Krieg auch als Lyriker und Literaten, als Essayisten und Zeitschriften- oder Ver-
Vgl. Wilhelm Emrich: Die Struktur der modernen Dichtung. Versuch ihrer Abgrenzung und Wesensbestimmung, in: Wirkendes Wort 3 (1952/53), S. 213 – 223, hier: S. 222. Rosenberg: Die deutschen Germanisten [Anm. 44], S. 110. Walter Erhart: Generationen – zum Gebrauch eines alten Begriffs für die jüngste Geschichte der Literaturwissenschaft, in: Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung, hg. v. Jörg Schönert, Stuttgart und Weimar 2000, S. 77– 100, hier: S. 91. Robert, Gaber: Benn [Anm. 18], S. 196. Müller-Seidel: Bernhard Zeller [Anm. 41], S. 549. August Closs: Die neuere deutsche Lyrik vom Barock bis zur Gegenwart, in: Deutsche Philologie im Aufriss, hg. v. Wolfgang Stammler, Bd. 2, Berlin 1954, S. 133 – 348, hier: S. 257, zit. n. Gärtner: Kontinuität [Anm. 3], S. 156. Dies gilt auch vice versa für Gottfried Benn, der den „Professoren gegenüber reserviert“ blieb. Vgl. Robert: Phänotyp [Anm. 2], S. 12.
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lagsmitarbeiter hervor“.⁸⁴ Schon zu Beginn der 1950er Jahre wurden die Grenzen zwischen Kritik und Wissenschaft durchlässiger. Dieter Wellershoff markiert mit seiner Dissertation „Untersuchungen über Weltanschauung und Sprachstil Gottfried Benns“ (1952) den Startpunkt der philologischen Benn-Forschung.⁸⁵ Denn erst mit dieser Monographie „beginnt die eigentliche wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Benns Werk“.⁸⁶ Im darauffolgenden Jahr wird Astrid Claes’ Dissertation „Der lyrische Sprachstil Gottfried Benns“ fertig gestellt, die allerdings erst 2003 gedruckt erschien.⁸⁷ Doch nicht nur Wellershoff und Claes sind an der rasch ansteigenden literaturwissenschaftlichen Rezeption Benns ab den frühen 1950er Jahren beteiligt. Wilhelm Grenzmann fügt in die zweite Auflage seiner Literaturgeschichte „Dichtung und Glaube“ (1952) nachträglich ein Kapitel über Benn ein und zählt diesen zu den „markantesten Gestalten“⁸⁸ in der geistigen Krisis der Gegenwart. Der amerikanische Literaturwissenschaftler Edgar Lohner, der „zum Propagator Benns in Übersee wurde“,⁸⁹ veröffentlicht 1953 einen Beitrag über Benn in „The German Quarterly“, in dem er Gottfried Benn als „one of the most controversial figures in modern German literature“⁹⁰ einführt. 1958 konstatiert er schließlich, dass „[d]as Interesse am Werk Gottfried Benns nach dem anfänglichen Zögern der Nachkriegszeit in den letzten Jahren erheblich zugenommen“⁹¹ habe. Seine im selben Jahr vorgelegte Bibliographie bezeichnet er dennoch als „ein[en] Anfang, um die Voraussetzungen für eine eingehendere Beschäftigung mit dem Werk Gottfried Benns zu schaffen“.⁹² Deutlich wird an dieser Auswahl, dass es vor allem die jungen, nachfolgenden Literaturwissenschaftler waren, die sich um Benns Werk bemühten – insbesondere in Form von Dissertationen, die jedoch häufig sehr spät oder gar nicht die Öffentlichkeit erreichten. Edgar Lohner machte Benn in der amerikanischen Germanistik weitaus früher publik, als dies in Deutschland der Fall war – ein weiterer Beleg für die Annahme, dass die Literaturwissenschaftler außerhalb Deutschlands sich früher mit Themen der Gegenwartsliteratur auseinandersetz-
Robert: Phänotyp [Anm. 2], S. 13. Vgl. Dieter Wellershoff: Untersuchungen über Weltanschauung und Sprachstil Gottfried Benns. Diss., 1952. Dazu den Beitrag von Jörg Robert in diesem Schwerpunkt. Robert: Phänotyp der Stunde [Anm. 2], S. 12. Astrid Gehlhoff-Claes: Der lyrische Sprachstil Gottfried Benns, Düsseldorf 2003. Wilhelm Grenzmann: Dichtung und Glaube. Probleme und Gestalten der deutschen Gegenwartsliteratur, 2., erg. Aufl., Bonn 1952, S. 82. Robert und Gaber: Benn [Anm. 18], S. 195. Edgar Lohner: The Development of Gottfried Benn’s Idea of Expression as Value, in: The German Quarterly 26 (1953), S. 39 – 54, hier: S. 39. Edgar Lohner: Gottfried Benn. Bibliographie 1912– 1956, Wiesbaden 1958, S. 5. Lohner: Gottfried Benn [Anm. 91], S. 5.
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ten. Sichtbare Auswirkungen auf die innerdeutsche Literaturwissenschaft sind vorerst kaum nachzuweisen. Auf den Umstand, dass sowohl in „zahlreichen ungedruckten Dissertationen“⁹³ als auch im Ausland einiges an Forschung über den Expressionismus zu finden sei, wies auch Richard Brinkmann in seinem Forschungsbericht von 1959 hin – übrigens das erste Heft der DVjS, in dem man sich überhaupt ‚moderner‘ Literatur widmete: denn gerade für die expressionistische Literatur steckt in den Doktorarbeiten, so viel Überflüssiges es da auch gibt, ein guter Teil der eigentlichen Forschung und für das Werk mancher Dichter bedeuten sie erste Versuche gründlicherer Interpretationen. Auch im Ausland, zumal in den USA, ist eine Fülle von Dissertationen zum Expressionismus entstanden.⁹⁴
Arbeiten über Gottfried Benn werden in Brinkmanns Anhang allerdings nicht aufgezählt.⁹⁵ Es entsteht der Eindruck, dass Gegenwartsliteratur im Allgemeinen, das Werk Gottfried Benns im Speziellen nur schleppend zum Gegenstand der Literaturwissenschaft wurde – und gerade nicht durch das Bemühen der bekannten und sichtbaren Figuren der Nachkriegszeit, sondern erst durch die nachfolgende Generation. So auch in der Antrittsvorlesung von Walter MüllerSeidel im Jahr 1961, um die es im Folgenden gehen soll.
3 Walter Müller-Seidels Antrittsvorlesung: Inszenierungspraktiken und Sichtbarkeit Walter Müller-Seidel trat das Extraordinariat für neuere deutsche Literaturgeschichte in München zum 1. April 1960 an, nachdem er den Ruf am 11. November 1959 erhalten hatte. Die Einrichtung dieses planmäßigen Extraordinariats war Hugo Kuhn zu verdanken, der dies zum Gegenstand seiner Bleibeverhandlungen gemacht hatte. Die Kommission entschied sich für eine Auswahl an jüngeren, bereits habilitierten Gelehrten, die jedoch nicht jüngst an eine andere Universität berufen worden waren. Müller-Seidel, der nach Richard Brinkmann auf die Liste gesetzt wurde, erhielt den Ruf, als Brinkmann im Herbst 1959 mitteilte, einen gleichzeitig erhaltenen Ruf in Tübingen annehmen zu wollen.⁹⁶ Das Münchner
Richard Brinkmann: Expressionismus-Probleme. Die Forschung der Jahre 1952 bis 1958, in: DVjS 33 (1959), S. 104– 181, hier: S. 104, Anm. 1. Richard Brinkmann: Expressionismus-Probleme [Anm. 93], S. 104, Anm. 1. Vgl. Brinkmann: Expressionismus-Probleme [Anm. 93], S. 179 – 181. Vgl. Universitätsarchiv München: Personalakte Walter Müller-Seidel, UAM-(O-XV-4j)-(O-N 10).
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Extraordinariat war dementsprechend Müller-Seidels erste Professur, die er bis zu seiner Emeritierung am 30. September 1986 innehaben sollte – ab dem 18. Juni 1965 auch als ordentlicher Professor. Der fachinternen und -externen Öffentlichkeit stellte sich Walter Müller-Seidel Ende Juni 1961 mit einer Antrittsvorlesung zu „Gottfried Benn und der Nationalsozialismus“ vor. Eine Antrittsvorlesung ist ein „universitäres Ritual“, das sich weniger durch explizit formulierte Kriterien auszeichnet, „sondern vielmehr durch ein implizites Wissen, das die Akteurinnen und Akteure im universitären Feld teilen und das sie dazu befähigt, Antrittsvorlesungen zu halten“.⁹⁷ Die lange Tradition der Antrittsvorlesung steht allerdings in Kontrast zu ihrer fehlenden Erforschung.⁹⁸ Die Aufgabenstellungen und Zielsetzungen einer Antrittsvorlesung sind vielfältig: sie reichen von der Zurschaustellung der „Meisterschaft vor der Fakultäts- oder Universitätsöffentlichkeit“, der Markierung des eigenen Standpunktes und der Vorstellung des Grundsatzprogrammes, „das zukünftig die Lehre und Forschung der Universität mit prägen wird“, bis hin zur Gelegenheit, die Beherrschung bestimmter akademischer Praktiken vorzuführen.⁹⁹ Schippan bezeichnet die akademische Antrittsrede unter diesen Aspekten als „eine performative und literarische Inszenierungspraktik, die zur Konstitution einer philosophischen Öffentlichkeit“¹⁰⁰ beiträgt. Sie hat einen „Repräsentationszweck“¹⁰¹ und ist eine „wichtige und immer noch unterschätzte Quelle[ ] zur Wissenschafts-, Sozial- und Mentalitätsgeschichte der Universitäten“¹⁰² gleichermaßen. Assinger, Grabenweger und Pelz stellen ein Schema vor, das sie für den Ablauf von Antrittsvorlesungen identifizieren konnten: das Lob auf den Vorgänger, eine Einschätzung zur Geschichte und Auffassung des Faches sowie eine Skizze und Benennung der Ziele der Forschungsvorhaben des Vortragenden.¹⁰³ Bis heute werden Antrittsvorlesungen und -reden in überarbeiteten Fassungen veröffent-
Thomas Assinger, Elisabeth Grabenweger und Annegret Pelz: Einleitung, in: Die Antrittsvorlesung: Wiener Universitätsreden der Philosophischen Fakultät, hg. v. dens., Göttingen 2019, S. 7– 16, hier: S. 7. Für das 19. Jahrhundert sind Martin Schippan: Die akademische Antrittsrede um 1800. Literarische Konstitution der philosophischen Öffentlichkeit, Heidelberg 2017, und Mark-Georg Dehrmann: Prüfung, Forschung, Gruß. Antrittsprogramme und Antrittsvorlesungen als akademische Praktiken im 19. Jahrhundert, in: ZfGerm 23 (2013), S. 226 – 310, zu nennen. Darüber hinaus Assinger, Grabenweger, Pelz: Die Antrittsvorlesung [Anm. 97]. Dehrmann: Prüfung [Anm. 98], S. 226. Schippan: Die akademische Antrittsrede [Anm. 98], S. 1. Björn Hambsch: Universitätsrede, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 9: St–Z, hg. v. Gert Ueding, Berlin und Boston 2009, Sp. 909 – 914, hier: Sp. 910. Hambsch: Universitätsrede [Anm. 101], Sp. 910 f. Vgl. Assinger, Grabenweger, Pelz: Einleitung [Anm. 97], S. 9.
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licht und tragen damit zu Anerkennung und Legitimierung des Vortragenden bei.¹⁰⁴ Öffentlichkeit und Sichtbarkeit nehmen eine bedeutende Rolle für die Praxisform der Antrittsvorlesung ein. Zugleich befördern und erzeugen Vorlesungen wie Antrittsvorlesungen „Problembewusstsein, Argumentationsfähigkeit und Bewertungssicherheit“¹⁰⁵ bei den Zuhörenden. Müller-Seidels Vorlesung über Gottfried Benn wurde jedoch weder publiziert noch wird das für diese Form des Antritts übliche Schema bedient.¹⁰⁶ Im Gegenteil wird von Müller-Seidel ein Thema gewählt, das auf den ersten Blick wenig mit der fachwissenschaftlichen Praxis zusammenhängt und noch dazu ein sehr heikles Phänomen behandelt: die Verbindung eines Dichters zum Nationalsozialismus – in den frühen 1960er Jahren oftmals noch ein Tabu,¹⁰⁷ wie sich an der aufgeheizten Debatte rund um den Münchner Germanistentag 1966 zeigt, der sich diesem Thema widmete.¹⁰⁸ Doch gerade dadurch erzielt Müller-Seidel sowohl eine hohe Aufmerksamkeit in der breiten Öffentlichkeit als auch fachintern, indem implizit ein Forschungsprogramm vorgestellt wird, das nicht der zeitgenössischen Norm entspricht. Müller-Seidel führt mit dieser Antrittsvorlesung das Fundament seiner zukünftigen Forschungsmethodik vor. Er steht nicht für Formgeschichte, nicht für Werkimmanenz, nicht für Geistesgeschichte oder Psychoanalyse, auch nicht für Soziologie¹⁰⁹ – Martin Bubers Diktum „Ich habe keine Lehre, aber ich führe ein Gespräch“¹¹⁰ sollte für Müller-Seidel von seinem ersten öffentlichen Münchner
Vgl. Schippan: Die akademische Antrittsrede [Anm. 98], S. 2. Friedemann Schmoll: Vorlesen, Hören, Denken in Gemeinschaft. Ein Plädoyer für die immer wieder zeitgemäße Lehrform Vorlesung, in: Doing University. Reflexionen universitärer Alltagspraxis, hg. v. Brigitta Schmidt-Lauber, Wien 2016, S. 81– 102, hier: S. 96. Zum Vergleich: Friedrich Sengle sprach am 18. Mai 1966 in München über „Vorschläge zur Reform der literarischen Formenlehre“. Diese Antrittsvorlesung wurde 1967 in erweiterter Fassung als Heft der Reihe „Dichtung und Erkenntnis“ publiziert, eine zweite Auflage erschien 1969. Diese Vorlesung ist deutlich als Vorschlag für ein Forschungsprogramm zu verstehen. Ausnahmen sind auch hier zu nennen, vgl. Dieter Wellershoff: Gottfried Benn. Phänotyp dieser Stunde, Köln 1958. Vgl. Nationalismus in Germanistik und Dichtung. Dokumentation des Germanistentages in München vom 17.–22. Oktober 1966, hg. v. Benno von Wiese und Rudolf Henß, Berlin 1967. Aus erinnernder Perspektive beispielsweise Karl Otto Conrady: Miterlebte Germanistik. Ein Rückblick auf die Zeit vor und nach dem Münchener Germanistentag von 1966, in: Diskussion Deutsch 19 (1988), H. 4, S. 126 – 143. Einen Überblick über die zeitgenössischen Methoden der 1960er Jahre bietet der Sammelband: Methoden der deutschen Literaturwissenschaft. Eine Dokumentation, hg. v.Viktor Žmegač, Frankfurt a. M. 1971. Walter Müller-Seidel: Probleme der literarischen Wertung. Über die Wissenschaftlichkeit eines unwissenschaftlichen Themas, Stuttgart 1965, Widmung. Nach Martin Buber: Aus einer
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Auftritt an leitend werden. Dass die Themenwahl mit Gottfried Benn noch 1961 auf Erstaunen stieß, belegen nicht zuletzt Else Buddebergs Forschungsberichte von 1960 bis 1962, die mit „Probleme um Gottfried Benn“¹¹¹ überschrieben sind. Auch Wulf Segebrecht erinnerte bei der Gedenkveranstaltung für Walter Müller-Seidel im Jahr 2011 an das für das Jahr 1961 „sehr ungewöhnliche[] Thema“¹¹² der Antrittsvorlesung. Müller-Seidel habe dieses gewählt, um Vorschläge zu machen, „wie Texte, auch und gerade schwierige, problematische, ja bedenkliche Texte verstanden werden können“.¹¹³ Der Journalist Joachim Kaiser berichtete am 30. Juni 1961 von seiner Fassungslosigkeit über das überfüllte Auditorium Maximum der Münchner Universität – das Kapazität für 850 Hörer hat – aufgrund dieser Antrittsvorlesung. Da Müller-Seidel über Schiller promoviert hatte und mit einer Arbeit über Kleist habilitiert wurde, rief seine Wahl dieses „heikle[n] Thema[s]“¹¹⁴ Neugierde und Irritation hervor. Ein Kritikpunkt des Artikels bezieht sich auf Müller-Seidels „ziemlich pauschal[e]“ These, dass nichts in der inneren Entwicklung Benns zum jähen Versagen 1933 hingeführt habe, anstatt Benns Sympathie zum Dritten Reich dezidiert zuzugeben. Gerade hier gilt es anzusetzen, um Müller-Seidels Herangehensweise an Gottfried Benn zu erläutern. Im Deutschen Literaturarchiv Marbach, wo Walter Müller-Seidels Nachlass aufbewahrt wird, ist ein Manuskript dieser Antrittsvorlesung über „Gottfried Benn und den Nationalsozialismus“ zu finden – wenn auch aufgrund der vielen Streichungen und Korrekturen wohl nicht gesichert von der letztgültigen Fassung auszugehen ist. Schon die gestrichene Vorrede macht Müller-Seidels Position gegenüber denjenigen literaturwissenschaftlichen Methoden deutlich, die den Kontext der Gegenstände missachten: „Niemand kann wünschen, dass man sich um schöner Verse willen die Dinge erleichtert, mit denen sich so Unabsehbares
philosophischen Rechenschaft, in: Ders.: Werke, Bd. 1: Schriften zur Philosophie, München 1962, S. 1114. Else Buddeberg: Probleme um Gottfried Benn, in: DVjS 34 (1960), S. 107– 161; Dies.: Probleme um Gottfried Benn (II. Teil), in: DVjS 35 (1961), S. 433 – 479; Dies.: Probleme um Gottfried Benn. Die Benn-Forschung 1950 – 1960, Stuttgart 1962. Wulf Segebrecht: Walter Müller-Seidel an den Universitäten Köln und Bonn; das Projekt der Hist.-krit. Schiller-Ausgabe, Antrittsvorlesung zu Gottfried Benn an der Universität München (Juni 1961), online unter: https://www.walter-mueller-seidel.de/symposium_2-7-11.php (zuletzt 18. Januar 2021). Segebrecht: Walter Müller-Seidel [Anm. 112]. Joachim Kaiser: Wie lange war Gottfried Benn Faschist? Marginalien zu einer Münchner germanistischen Antrittsvorlesung, in: Süddeutsche Zeitung vom 30. Juni 1961.
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verknüpft.“¹¹⁵ Eine reine werkimmanente Interpretation, soll das heißen, wird es im Folgenden nicht geben – auch keine „Rechtfertigung um jeden Preis“ (AV, 1 [gestrichen]).Was ihn beschäftige, tue dies „im Rahmen und Raum der Philologie. Zum philologischen Bewusstsein aber gehört es, mit Erscheinungen zu tun zu haben, die es transzendieren, um ein Wort Karl Reinhardts zu gebrauchen“ (AV, 1 [gestrichen]). Von da an beginnt der erste nicht gestrichene Abschnitt. Müller-Seidel hebt an mit einem Lob auf die „Statischen Gedichte“, „Verse von wunderbarer Einprägsamkeit, die jeder kennt, der etwas von deutscher Dichtung versteht“ (AV, 1 [eingefügt]) und stellt fest, dass jeder, der den Dichter Gottfried Benn bis dahin nicht kannte, „ihn für einen Verfolgten des Dritten Reiches halten“ (AV, 2) mochte – eine nicht seltene Annahme dieser Zeit. Erst recht mit dem Essayband „Ausdruckswelt“ habe Benn „mit dem Ungeist der Epoche in aller Schärfe“ (AV, 2) abgerechnet.¹¹⁶ Diese einführenden Worte setzen Müller-Seidels Agenda: zum einen markiert er Gottfried Benn als herausragenden Dichter der Gegenwart, zum anderen problematisiert er dessen Verhältnis zum Nationalsozialismus. Dieses entfaltet er anhand der Ambivalenz des „und“ im Titel „Gottfried Benn und der Nationalsozialismus“. Denn der „Leser, der Näheres über Benn um 1949 nicht wusste, erhält ein eindeutiges Bild. Er sieht die Gegnerschaft des Dichters zum Nationalsozialismus als erwiesen an“ (AV, 2 [gestrichen]). Müller-Seidel kommt also rasch zum Kern seiner Vorlesung: Gottfried Benn sei nicht immer der Gegner des Dritten Reiches gewesen, als welcher er in diesen späteren Schriften erscheint. Müller-Seidel spricht klar aus: „Es gibt die Bekenntnisse Benns zum Nationalsozialismus, von denen man wünschte, dass es sie nicht gibt. Sie sind der fatale Teil seiner Gesammelten Werke.“ (AV, 2 [eingefügt]) Das erste liege in der Rundfunkrede vom 24. April 1933 mit dem Titel „Der neue Staat und die Intellektuellen“ vor. Dass Hans Schwerte diese in seinem frühen Beitrag über Gottfried Benn nicht erwähnt,¹¹⁷ ist übrigens einer der zahlreichen
DLA Marbach, A: Walter Müller-Seidel, Kasten 17: Manuskript „Gottfried Benn und der Nationalsozialismus“, S. 1 (gestrichen). Im Folgenden werden die Seitenzahlen im Text mit der Sigle „AV“ nachgewiesen. David Wachter bezeichnet den Essay „Kunst und Drittes Reich“ (zuerst 1941) in „Ausdruckswelt“ als eines „der wichtigsten Dokumente für Benns zunehmende Abgrenzung von und Abrechnung mit dem NS-Regime Ende der 1930er und Anfang der 1940er Jahre“, vgl. David Wachter: „Kunst und Drittes Reich“, in: Benn-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Christian M. Hanna und Friederike Reents, Stuttgart 2016, S. 203 – 205, hier: S. 203. Vgl. Hans Schwerte: Gottfried Benn, in: Denker und Deuter im heutigen Europa, hg. v. Hans Schwerte und Wilhelm Spengler, eingel. v. Arnold Bergstraesser, Bd. 1: Deutschland, Österreich, Schweiz, Niederlande und Belgien, Skandinavien, Oldenburg und Hamburg 1954, S. 125 – 137.
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späteren Kritikpunkte Müller-Seidels nach der Aufdeckung von Hans Schwerte als Hans Schneider.¹¹⁸ Benn bejahe ausdrücklich diesen Staat und stelle die Kunst „in den Dienst der nationalen Sache“ (AV, 2 [gestrichen]). Müller-Seidel macht deutlich: „Zu interpretieren ist an diesen Worten so gut wie nichts“ (AV, 2 [eingefügt]). Und weiter: „Hatte sich Benn zuvor ironisch über Begriffe wie Volk und Staat hinweggesetzt, so bekennt er sich nunmehr zu einer Deutschtümelei, die peinlich berührt“ (AV, 2– 3). Rasch geht Müller-Seidel jedoch über zum früheren Benn, um die Genese der anhaltenden Faszination und der gleichzeitigen Ressentiments gegenüber dem Dichter nachzuzeichnen. Über die Lyrik der „Morgue“ heißt es: „Verfall ist das bestimmende Thema, wie ähnlich in Trakls Gedichten aus dieser Zeit. Verfall des Menschlich-Natürlichen bedeutet zugleich Verfall der Kunst: das eine spiegelt sich im andern“ (AV, 3). Benn habe die Provokation zum wirksamen Stilmittel erhoben – das Neue im Dichterischen als Ausdruck der Erfahrung „eines neuen Lebens, wie es im Expressionismus erlebt wurde“ (AV, 4 [gestrichen]). Benns Provokationen liege immer „die Kunst als Thema und Motiv“ zugrunde – „das A und O seines Denkens“ (AV, 4). Nach einigen Auszügen aus Benns Gedichten, die zeigen sollen, dass sich Benn vom Standpunkt der Kunst gegen diejenigen richte, „die das Leid für hygienisch und sozial bekämpfbar halten“ (AV, 6), kommt Müller-Seidel zu seinem Hauptanliegen: Benns Gegenspieler seien diejenigen gewesen, „die sich einem solchen Anspruch der Kunst widersetzen. Es sind am Ende der Zwanziger Jahre die Provozierten von links“ (AV, 6). Und weiter: „Dass sich die Linke von diesem Dichter provoziert fühlte, bedeutet nicht, dass Benn politisch der Rechten zugehört“ (AV, 6). Müller-Seidel blickt also hier auf die historische Situation, in welcher sich der frühere Benn befand, indem er die Kontroverse entfaltet, die sich rund um einen Artikel von Max Hermann-Neiße über Benn aufbaute, der im siebten Jahrgang der „Neuen Bücherschau“ aus dem Jahr 1929 erschienen war.¹¹⁹ Der „Reporter der Linken“ (AV, 8) Egon Erwin Kisch, so Müller-Seidel, habe als Replik auf HermannNeiße deutlich gemacht, dass der „literarische Lieferant politischen Propagandamaterials turmhoch über dem überlegenen Weltdichter“ stehe, „über allen Benns und Stefan Georges…“ (AV, 8). Müller-Seidel zieht das Fazit, dass Benn seit dieser Auseinandersetzung den radikalen Linken ein Dorn im Auge gewesen sei. Nachzulesen in der Edition des autobiographischen Manuskripts von Walter Müller-Seidel, hg. v. Anna Axtner-Borsutzky, in: Dies.: Autobiographik und Wissenschaft [Anm. 53]; vgl. DLA Marbach, A: Walter Müller-Seidel: Kasten 19. Vgl. Max Hermann-Neiße: Gottfried Benns Prosa, in: Die neue Bücherschau 7 (1929), S. 376 – 380.
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Das beliebteste Mittel jener Zeit, um „einen Gegner in der literarischen Öffentlichkeit herabzusetzen“ (AV, 8), sei die Bezeichnung als Faschist gewesen. Dies sei noch bestärkt worden, als Gottfried Benn Heinrich Mann zu seinem 60. Geburtstag zwar als Dichter, jedoch mit keinem Wort als Politiker feierte. Das Narrativ vom Faschisten Benn sei in der Welt gewesen, weiterhin angefacht durch einen Artikel Werner Hegemanns, der Gottfried Benn in Reaktion auf dessen Geburtstagsrede als Geistesgenossen Adolf Hitlers bezeichnet habe (vgl. AV, 9).¹²⁰ Müller-Seidel will damit zeigen, dass am Ende der Weimarer Republik einem solchen Rationalismus das Wort geredet werde, vor dem „keine Lyrik“ (AV, 9) mehr bestehen könne. Die „schrecklich einfach[e]“ (AV, S. 9) Beweisführung laute: „[D]ie Lyrik ist mystisch, und dem Mystischen wohnen die Kennzeichen des Faschismus inne. Also ist auch die Lyrik faschistisch“ (AV, 9). Müller-Seidel macht hier seinen Standpunkt deutlich, der sich nicht wenig von der bis dahin publizierten Benn-Forschung unterscheidet. Er legt dar, dass das Narrativ einer konsequenten Entwicklung Gottfried Benns von einem frühen Faschismus zu jener Fehlentscheidung 1933 durch die Arbeiten von Wellershoff und Buddeberg erhärtet worden sei (vgl. AV, 10). Diese beiden Genannten würden jedoch die oben beschriebenen Umstände missachten, die überhaupt zum Diktum von Benn als frühen Faschisten führten. Zum frühen Benn führt Müller-Seidel gleichermaßen an, dass 1931 „die Faschisten mit diesem Dichter nicht das mindeste zu tun haben“ wollten – „und dass Benn um diese Zeit kein Faschist war, [sei] ein historisches Faktum, das sich nicht beliebig verdrehen“ lasse (AV, 10 [eingefügt]). Neben dem Vorwurf des Mystischen habe auch das Element des Irrationalen dazu verleitet, Benn als Faschisten zu bezeichnen – obwohl das Irrationale in keiner sprachlichen Kunstform „von so fundamentaler Bedeutung [sei] wie in der lyrischen Poesie“ (AV, 11). Benn habe nicht als Intellektueller begonnen, um mehr und mehr der Irrationalist zu werden, dem der politische Irrtum unterlief: „Er war das eine und das andere zugleich“ (AV, 13). Für Müller-Seidel scheint klar zu sein: Gottfried Benns Verführungen hängen „mit dem Primat der Kunst zusammen, der sich als eigentliche Mitte der Gedankenwelt erweist“ (AV, 14). Dass diese Trennung von Kunst und politischem Denken eine Zeit lang vertreten werden könne, jedoch irgendwann an ihre Grenzen stoße, führt Müller-Seidel schließlich zum zweiten Bekenntnis bzw. zur „Verführung“, wie er es nun nennt: die „bemerkenswerte[ ] Labilität in allen Fragen des Humanen“ (AV, 16). Gottfried Benn beziehe die Humanitätsidee immer wieder in seine Kunsttheorie ein, jedoch im kunstfeindlichen Sinn: „Er spricht
Vgl. Werner Hegemann: Heinrich Mann? Hitler? Gottfried Benn?, in: Das Tagebuch 12 (1931), S. 580 – 588; nachzulesen in: Hohendahl: Wirkung wider Willen [Anm. 5], S. 144– 149, hier: S. 145.
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damit häufig mit Verachtung vom Humanitären“ (AV, 17) – und indem er es „ausschließlich in der Zeitgebundenheit weltanschaulicher Ausprägungen sieht, kann ihm der verhängnisvolle Irrtum unterlaufen, dass er sich vorübergehend zu einer Ideologie bekennt, die mit dem Schlagwort des Humanitären das Humane überhaupt verwirft“ (AV, 17). Das Humane jeder Kunst werde verspielt, wenn die Nützlichkeit dominiere: „Die Forderung vom Primat des Politischen nimmt Züge des Inhumanen an. Aber die Verabsolutierung im l’art pour l’art nicht minder“ (AV, 18). Damit stellt Müller-Seidel einen Schwerpunkt seiner Forschung vor, um den er sich sechzig Jahre lang bemühen wird: den „Fragenkreis des Menschlichen“,¹²¹ der ihn von der Literatur der Weimarer Klassik bis zur Gegenwartsliteratur beschäftigt hatte und beschäftigen wird. Von der Marxistischen Gruppe wurde Müller-Seidel deshalb sogar abschätzig als das „Humanum“¹²² bezeichnet. In der Antrittsvorlesung lautete sein Fazit zu Gottfried Benns Verhältnis zum Nationalsozialismus: Es gibt Anzeichen, dass Benn die Hoffnung nährte, es möchte durch eine Bindung an den neuen Staat das Eigenrecht der Kunst am ehesten zu sichern sein. Die Erfahrungen mit den Linken mochten ihn für diesen Irrtum empfänglich gemacht haben – für den Irrtum, es könnte sich durch ein Arrangement mit der neuen Macht die Macht der neuen Kunst befestigen. Benn trieb in den Irrtum hinein, weil er die Isolierung der Kunst so entschieden betrieben hatte und eigentlich noch 1933 betrieb, als er sie dem neuen Regime unterstellte (AV, 19).
Benns Entscheidung für den neuen Staat sei „von einer Vorstellung des Neuen beeinflusst, die auf den Expressionismus zurückgeht“ (AV, 20). Und weiter: Der Expressionismus ist das prägende Erlebnis Gottfried Benns gewesen. Er ist es im Grunde geblieben. In diesem Erlebnis liegen die großen Irrtümer beschlossen, von denen hier die Rede war. (AV, 20)
Müller-Seidel spricht abschließend von einer Verwechslung, die Benn unterlaufen sei: Dass man das Neue über im Grunde Reaktionäres einer Barbarei wie derjenigen des Nationalsozialismus mit dem Neuen eines literarischen Stils verwechseln konnte, wie es Benn
Wulf Segebrecht: Der Unermüdliche im stillen Bau besserer Begriffe. Was ist human? Dem Münchner Germanisten Walter Müller-Seidel zum Neunzigsten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. Juli 2008. Müller-Seidel: Das Humanum, in: Münchner Germanistik. Die Modernität einer konservativen Wissenschaft. Müller-Seidel, Kuhn, Frühwald, Kanzog, Scharfschwerdt, Titzmann, hg. v. der Marxistischen Gruppe, München 1979, S. 1– 9.
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zweifellos verwechselt hat, ist wenigstens naiv und symptomatisch zugleich. Das Symptomatische beruht in der Labilität einer Generation, die den Rausch in ihr Denken aufgenommen hatte. (AV, 20 – 21)
Am Ende angekommen, nutzt Müller-Seidel die Öffentlichkeitswirksamkeit der Praxisform ‚Antrittsvorlesung‘, um von Gottfried Benn im Speziellen auf sein literaturwissenschaftliches Verständnis im Allgemeinen zu verweisen: Die Fragen, die uns beschäftigt haben, betreffen die moderne Kunst im Ganzen. Sie hat allen Grund, sich der Politik zu widersetzen und ist politisch gerade dann, wenn sie glaubt, unpolitisch zu sein. Die moderne Kunst ist bis zum Äußersten radikal und der radikalen Politik zugeneigt, ohne die genaue Kenntnis, ob es die rechte Politik ist. Sie hat es mit den Unmenschlichkeiten des modernen Daseins zu tun, die sie nicht beschönigen darf, und soll doch menschlich sein. Sie ist auf eine kaum noch für jeden durchschaubare Weise kompliziert – ein höchst paradoxes Phänomen. (AV, 21)
Folgendes ist nun hervorzuheben: Müller-Seidel betrachtet in seiner Antrittsvorlesung die politischen und gesellschaftlichen Kontexte, die zu Benns eigener literarischer Produktion und dessen Rezeption beitrugen. Er macht damit personelle wie institutionelle Bedingungen und Praktiken zum Thema der Literaturwissenschaft, die bis dahin meist noch innerhalb der Texte selbst verharrte. Was er bereits in der Antrittsvorlesung am Beispiel Benn zu zeigen versuchte, ist sowohl Benns poetische Vorgehensweise, im literarischen Text Kritik an Gesellschaft und Wissenschaft zu üben, als auch der Beitrag der Institutionen zu Benns Aufstieg, Niedergang und erneutem Aufstieg. Auch später kommt Müller-Seidel in seinen Beiträgen zur literarischen Moderne unter dem Aspekt der Wissenschaftskritik immer wieder auf Gottfried Benn zurück.¹²³ Dass gerade Hans Schwerte zu einem der frühen Fürsprecher Gottfried Benns wurde, scheint ihm auch Jahrzehnte nach seiner Antrittsvorlesung und intensiven Beschäftigung mit Benn immer wieder verärgert zu haben. So äußerte Müller-Seidel dieses Unbehagen nicht nur in den publizierten Beiträgen¹²⁴ über den Fall Schwerte, sondern hatte auch in seinem nachgelassenen fragmentari-
Vgl. Walter Müller-Seidel: Literaturwissenschaft als Geistesgeschichte und literarische Moderne im wissenschaftsgeschichtlichen Kontext, in: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925, hg. v. Christoph König und Eberhard Lämmert, Frankfurt a. M. 1993, S. 123 – 148, hier: S. 131; ders.: Wissenschaftskritik. Zur Entstehung der literarischen Moderne und zur Trennung der Kulturen um 1900, in: Grundlinien der Vernunftkritik, hg. v. Christoph Jamme, Frankfurt a. M. 1997, S. 355 – 420, hier: S. 380 – 386; Müller-Seidel: Probleme der literarischen Moderne [Anm. 69]. Müller-Seidel: Probleme der literarischen Moderne [Anm. 69]; Ders.: Wissenschaft im 20. Jahrhundert. Vorläufiger Bericht über den Germanisten Hans Schwerte, in: Mitteilungen des Marbacher Arbeitskreises für Geschichte der Germanistik 11/12 (1997), S. 1– 15.
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schen Erinnerungsbericht ein eigenes Kapitel vorgesehen, in dem die institutionellen Fehlschritte im Fall Schwerte kritisiert werden – insbesondere dessen Benn-Beiträge. Mit der Münchner Antrittsvorlesung über Gottfried Benn, die auch in der Öffentlichkeit ein für die Nachwelt erkennbares Echo hervorrief, brachte MüllerSeidel das Thema ‚Gottfried Benn‘, aber auch dessen Verhältnis zum Nationalsozialismus, als Gegenstand der Literaturwissenschaft ins Gespräch – nach der 1958 veröffentlichten Dissertation von Wellershoff ein erster Schritt für die weitere literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Benn, der auch über das Fach hinaus wahrgenommen wurde. Außerhalb der Erinnerung von Zeitzeugen und Zeitungsartikeln ist der Inhalt dieser Vorlesung jedoch bis heute nicht als Beitrag zur Benn-Forschung in der Nachkriegszeit behandelt worden. Die Antrittsvorlesung zeigt: War seit Benns Tod 1956 ein Anstieg der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung zu verzeichnen, so kann man spätestens seit den frühen 1960er Jahren sagen: Benns ‚Come-Back‘ brachte ihm schließlich auch den Erfolg der literaturwissenschaftlichen Rezeption, die bis heute ungebrochen ist.
Jörg Robert (Tübingen)
Weltanschauung und Sprachstil. Dieter Wellershoffs Dissertation über Gottfried Benn – Eine Spurensuche Abstract: Dieter Wellershoff hat mit seiner Bonner Dissertation „Untersuchungen über Weltanschauung und Sprachstil Gottfried Benns“ (1952) eine der Pionierstudien zum Werk des großen ‚Überlebenden‘ vorgelegt. Der Beitrag analysiert die Arbeit erstmals eingehend, klärt die Umstände ihrer Entstehung, ihre methodischen Voraussetzungen und Ziele. Flankierend werden neue, bislang unbekannte Archivalien aus dem Umkreis der Dissertation untersucht: ein ‚Marbacher Fragment‘ der Dissertation, das Wellershoff in der ersten Phase seiner Studien (November 1950) an Benn schickte, aber auch der umfangreiche Briefwechsel zwischen beiden Männern. Dieser zeigt, wie sich Wellershoff im Laufe der Arbeit mehr und mehr von den stilkritischen Prämissen seines Bonner Lehrers Wilhelm Schneider entfernte. Die publizierte Studie von 1958 („Gottfried Benn. Phänotyp dieser Stunde“) hat daher, anders als oft betont, nur noch wenig mit der Dissertation zu tun. Die neuen Dokumente zeigen, wie Gottfried Benn und die westdeutsche Literaturwissenschaft nach 1945 eine enge Symbiose im Zeichen von Autonomieästhetik, Stilkritik und immanenter Methode eingingen.¹
1 Phänotyp dieser Stunde Am 27. September 1950 schreibt Gottfried Benn, der mit seinen „Statischen Gedichten“ (1948) ein bestauntes „Come-back“² im Nachkriegsdeutschland gefeiert
Die folgenden Überlegungen stehen im Kontext eines Projekts, das ich gemeinsam mit dem DLA Marbach für die nächsten Jahre plane. Es zielt auf eine Erschließung von Benns Briefwechsel mit Literaturwissenschaftlern zwischen 1945 und seinem Tod 1956. Vgl. auch Jörg Robert und Sarah Gaber: Benn, Oelze und die Literaturwissenschaft nach 1945. Vorüberlegungen zu einem Editions- und Erschließungsprojekt, in: Benn Forum 6 (2018/2019), S. 181– 197. Ich danke meiner Mitarbeiterin Sarah Gaber, M.A. (Tübingen) für die Unterstützung bei Recherche und Vorbereitung dieses Beitrages. Frau Dr. Irene Wellershoff danke ich sehr herzlich für die freundliche Genehmigung zum Abdruck von Passagen aus Dieter Wellershoffs Briefen sowie dem ,Marbacher Fragment‘. „Das ist also mein Come-back in Berlin nach 15 Jahren.“ Gottfried Benn an Frank Maraun, 7. März 1949, in: Gottfried Benn: Ausgewählte Briefe. Mit einem Nachwort von Max Rychner, Wiesbaden 1957, S. 142. Stellvertretend für viele Stimmen, die sich nach Benns Tod 1956 rückhttps://doi.org/10.1515/9783110729658-003
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hatte, an seine Bremer „Diskussions- u[nd] Krisenzentrale“³ Friedrich Wilhelm Oelze: „[E]in junger Mann in Bonn, stud. der Germanistik, macht gerade eine Doctorarbeit über mich u schreibt mir öfter, anscheinend kein dummer Mann“ (BOe III, 352). Der junge Mann war Dieter Wellershoff (1925 – 2018), der als Autor und Verfasser von Romanen, Hörspielen und Gedichten, vor allem aber (ab 1959) als Lektor für Wissenschaft und Literatur des Kölner Verlags Kiepenheuer & Witsch zu einer prägenden Figur der Nachkriegsliteratur werden sollte. Für den Autor Wellershoff, den späteren Begründer des „Neuen Realismus“⁴ (1965) und der sog. „Kölner Schule“, wurde Gottfried Benn zum „Anlass, Stichwortgeber und Katalysator“⁵ der eigenen Produktion.⁶ Im Rückblick schreibt Dieter Wellershoff
blickend kritisch äußern, zitiere ich Franz Schonauer: „Der Tod Benns machte außerdem evident, daß seine Renaissance nach dem Zweiten Weltkrieg durch außerliterarische Umstände zustande gekommen war, denn Benns Rolle während der Jahre 1948 bis 1952 ist die eines Entlastungszeugen.“ Franz Schonauer: Der Monolog eines Intellektualisten, in: Deutsche Rundschau 86 (1960), S. 890 – 894, hier: S. 891, wieder abgedruckt in: Über Gottfried Benn. Kritische Stimmen, hg. v. Bruno Hillebrand, Bd. 1: 1912– 1956, Frankfurt a. M. 1987, S. 36 – 42, hier: S. 36 – 37. Zum späten Benn liegt inzwischen eine umfangreiche Literatur vor: vgl. Der späte Benn. Poesie und Kritik in den 50er Jahren, hg. v. Elena Agazzi und Amelia Valtolina, Heidelberg 2012; für Überblicke vgl. Dirk von Petersdorff: Benn in der Bundesrepublik. Zum späten Werk, in: Gottfried Benns Modernität, hg. v. Friederike Reents, Göttingen 2007, S. 24– 37; Hans-Joachim Hahn: Gottfried Benns ‚großer Aufstieg’ nach 1945, in: Gottfried Benn (1886 – 1956). Studien zum Werk, hg. v. Walter Delabar und Ursula Kocher, Bielefeld 2007, S. 231– 249; Klaus-Dieter Hähnel: Das Comeback des Dr. Gottfried Benn nach 1945 (1949) – Wirkung wider Willen?, in: ZfGerm 6 (1996), S. 100 – 113; Heinrich Detering: Phänotyp und ,Viertes Reich‘. Gottfried Benn um 1949, in: Der schwierige Neubeginn – Vier deutsche Dichter 1949. Vorträge von dems., Dirk von Petersdorff, Hans Dieter Schäfer und Albert von Schirnding, hg. v. Petra Plättner, Mainz und Stuttgart 2009, S. 5 – 14. Gottfried Benn an Friedrich Wilhelm Oelze, 22. August 1948, in: Dies.: Briefwechsel 1932– 1956, hg. v. Harald Steinhagen, Stephan Kraft und Holger Hof, Bd. 2: 1942– 1948, Stuttgart und Göttingen 2016, S. 364. Zitate nach dieser Ausgabe im Folgendem unter der Sigle (BOe I – IV) im laufenden Text. Dieter Wellershoff: Neuer Realismus, in: Die Kiepe 13 (1965), H. 1, S. 1, wieder abgedruckt in: Eike H. Vollmuth: Dieter Wellershoff, Romanproduktion und anthropologische Literaturtheorie. Zu den Romanen ‚Ein schöner Tag’ und ‚Die Schattengrenze’, München 1979, S. 22– 23. Werner Jung: Bloß eine Anleitung für Mitläufer? Wellershoff und Benn, in: Gottfried Benn (1886 – 1956). Studien zum Werk, hg. v. Walter Delabar und Ursula Kocher, Bielefeld 2007, S. 251– 268, hier: S. 266. Zur Bedeutung Benns für Wellershoffs Entwicklung als Autor und Essayist vgl. Jung: Bloß eine Anleitung [Anm. 5]; Torsten Bügner: Lebenssimulationen. Zur Literaturtheorie und fiktionalen Praxis von Dieter Wellershoff, Wiesbaden 1993, S. 43 – 50 [Kap.: Vom Phänotyp zum Neuen Realismus]; Werner Jung: Im Dunkel des gelebten Augenblicks. Dieter Wellershoff – Erzähler, Medienautor, Essayist, Berlin 2000, S. 117– 135; Czesław Płusa: Gottfried Benn und Dieter Wellershoff.
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am 16. Juli 1956 in einem im Deutschen Literaturarchiv Marbach (DLA) erhaltenen Kondolenzbrief an die Witwe Ilse Benn: Für mich wie für viele Menschen meines Alters – ich weiß das aus meiner Studienzeit in den ersten Nachkriegsjahren – waren die Werke Gottfried Benns eine Entdeckung, die zum Mittelpunkt, Ausgangspunkt aller weiteren geistigen und künstlerischen Erfahrung wurde. Es war unschätzbar, daß in Deutschland noch jemand lebte, der einen Maßstab gesetzt hatte und weiterhin erfüllt. Seine wenigen Jahre von 1948 bis heute – mir kommen sie lang vor, weil sie so wichtig waren – haben lebendig und gegenwärtig gemacht, was sonst für mich und viele andere nur nachträgliche Rekapitulation einer nicht mehr recht greifbaren Vergangenheit hätte sein können.⁷
Nur zwei Jahre später (1958) erscheint bei Kiepenheuer & Witsch Wellershoffs Studie „Gottfried Benn. Phänotyp dieser Stunde“, die den Auftakt zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Autor im Kontext der „Nachkriegsmoderne“⁸ bildete. Von 1958 bis 1961 erarbeitete Wellershoff mit seiner Frau Maria die erste kommentierte Gesamtausgabe der Werke Benns in vier Bänden, die auch bis dato unbekannte Texte enthielt; bis zur Stuttgarter Ausgabe von Gerhard Schuster und Holger Hof war sie die Textgrundlage der Benn-Forschung. Wellershoff setzte sich bis zu seinem Tod (2018) kontinuierlich mit Benn auseinander: von der Münchner Poetikvorlesung „Der Gleichgültige“ (1963) bis zu einem Essay aus dem Jahr 2008 mit dem Titel „Leben – was sonst?“⁹ Hier betont Wellershoff im Rückblick seine „Ungeduld gegenüber lebensverneinender Larmoyanz oder blasierten Attitüden von Lebensverachtung, für die es bei Benn viele Beispiele gibt.“¹⁰ Wellershoff kritisiert, dass es in Benns späten Texten „keine offene Entwicklung gibt, sondern nur ein sich wiederholendes Stereotyp“, eine „Lautstärke und Emphase, die in meinen Ohren predigerhaft klingen.“¹¹ Benn sei ein „Bußprediger alten Stils, der der gottverlassenen Welt ihre Verderbtheit vorhält.“¹² Diese Skepsis hatte sich
Flucht in den Ästhetizismus oder wirklichkeitskonstitutive Literatur, in: Flucht und Vertreibung in der deutschen Literatur, hg. v. Sascha Feuchert, Frankfurt a. M. u. a. 2001, S. 219 – 237. Dieter Wellershoff an Ilse Benn, 16. Juli 1956, in: DLA, A:Benn/Kondolenz, 91.114.998; vgl. Jörg Robert: Phänotyp der Stunde. Benn, Wellershoff und die Germanistik nach 1945, in: Literaturstraße 20 (2019), H. 1, S. 9 – 25, hier: S. 11. Fabian Lampart: Nachkriegsmoderne. Transformationen der deutschsprachigen Lyrik 1945 – 1960, Berlin und Boston 2013. Dieter Wellershoff: Leben – was sonst? Eine Frage an Gottfried Benn, in: „…im Trunk der Augen“. Gottfried Benn – Arzt und Dichter in der Pathologie Westend, hg. v. Anne Marie Freybourg und Ernst Kraas, Göttingen 2008, S. 71– 84. Wellershoff: Leben – was sonst? [Anm. 9], S. 73. Wellershoff: Leben – was sonst? [Anm. 9], S. 80. Wellershoff: Leben – was sonst? [Anm. 9], S. 80.
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lange angebahnt. Schon die große Studie von 1958 spiegelt eine neue Distanz. Benn verdiene Beachtung als „Phänotyp der Stunde“, wie Wellershoff in Anspielung auf Benns „Roman des Phänotyps“ (1949), aber mit ironisch-kritischer Wendung feststellt, weil er „eine exemplarische Gestalt der jüngsten deutschen Geistesgeschichte ist, sein Werk ein konzentrierter Ausdruck der Problematik der Epoche.“¹³ Das Buch sei „der Versuch, mit und gegen ihn zu denken, ihn im Zusammenhang der geistigen Strömungen zu interpretieren, die ihn anregten, die er zusammenfaßte und ins Extrem trieb.“¹⁴ Von Wellershoffs Studie gingen wichtige Impulse zur literaturwissenschaftlichen Erforschung Benns und zur Edition seiner Werke aus, die noch kaum im Zusammenhang analysiert worden sind.¹⁵ Den Grundstein zu all dem legte die Dissertation des 26-Jährigen, die unter dem Titel „Untersuchungen über Weltanschauung und Sprachstil Gottfried Benns“ an der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-WilhelmsUniversität zu Bonn eingereicht wurde.¹⁶ Die Promotion wurde am 27. Februar 1952 vollzogen.¹⁷ Wellershoffs Dissertation ist in der Benn-Forschung eine bekannte Größe, immerhin hat man es mit der „mutmaßlich ersten akademischen Beschäftigung mit Benn nach dem Krieg“ zu tun.¹⁸ Wiederholt liest man, sie sei „in überarbeiteter und erweiterter Fassung“ in der Benn-Monographie von 1958 aufgegangen.¹⁹ Diese zuletzt auch im Benn-Handbuch vertretene Meinung trifft jedoch, wie ich zeigen möchte, nicht zu, sie ist geradezu irreführend: Wellershoffs Dissertation und seine Benn-Monographie sind in Konzept, Stil und Perspektive völlig unterschiedliche Bücher mit einigen begrenzten Überschneidungen. Ganz offensichtlich hat sich die Benn-Forschung bislang nicht die Mühe gemacht, nach der Bonner Qualifikationsschrift zu fahnden.
Dieter Wellershoff: Gottfried Benn. Phänotyp dieser Stunde, München 1976, S. 8. Wellershoff: Phänotyp dieser Stunde [Anm. 13], S. 8. Vgl. den kurzen Abriss zur Forschungsgeschichte in: Nadine J. Schmidt: Nationale und internationale Rezeption. Rezeption im deutschen Sprachraum, in: Benn-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Christian M. Hanna und Friederike Reents, Stuttgart 2016, S. 391– 396. Dieter Wellershoff: Untersuchungen über Weltanschauung und Sprachstil Gottfried Benns, Diss. Bonn 1952. Zitate nach dieser Ausgabe im Folgenden unter der Sigle (Diss) im laufenden Text. Mir liegt ein Digitalisat der Sächsischen Landesbibliothek Dresden vor (Sign. 4° U 52/445); ein weiteres Exemplar wird im DLA Marbach aufbewahrt. Ein Jahr später (1953) übrigens wurde Astrid Claes mit einer Arbeit über den „Lyrischen Sprachstil Gottfried Benns“ in Köln bei Richard Alewyn promoviert. Die Publikation erfolgte jedoch erst 2003. Astrid Gehlhoff-Claes: Der lyrische Sprachstil Gottfried Benns, Düsseldorf 2003. Jung: Bloß eine Anleitung [Anm. 5], S. 253. Matthias Berning: Dieter Wellershoff, in: Benn-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Christian M. Hanna und Friederike Reents, Stuttgart 2016, S. 380.
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Diese Spurensuche soll hier wenigstens im Ansatz und im Vorgriff auf eine weiterführende Erschließung geleistet werden. Ich skizziere dabei, ausgehend von einem vorliegenden Beitrag zur unedierten Korrespondenz Benn–Wellershoff,²⁰ zunächst (2) fachgeschichtliche Kontexte: Welche Entwicklungen innerhalb der Literaturwissenschaft begünstigten Benns Annäherung an die Germanistik nach 1945? Welchen literaturwissenschaftlichen Ansatz verfolgte Wellershoffs Doktorvater Wilhelm Schneider und welche Relevanz hat dieser ggf. für unseren Untersuchungsgegenstand? Anschließend (3) soll die Entstehung der Dissertation im Lichte unbekannter Originalzeugnisse nachvollzogen werden. Gemeint ist einerseits der Briefwechsel zwischen Benn und Wellershoff, in dem dieser Rechenschaft über seinen Arbeitsfortschritt ablegt, andererseits ein Probeauszug seiner Dissertation, den Wellershoff im November 1950 vorab an Benn schickt. Dieses ,Marbacher Fragment‘ der Dissertation – der Text befindet sich im DLA – wird hier erstmals vorgestellt. Davon ausgehend widme ich mich in zwei Schritten der eigentlichen Dissertationsschrift. Zunächst (4) dem geistes- und wissensgeschichtlichen Teil, schließlich (5) dem Kernstück der Studie, der Stilanalyse. Am Ende (6) soll die Bedeutung der Arbeit für die Benn-Philologie herausgestellt werden.
2 Germanistik nach 1945 – Stilgeschichte und ‚Satzbau‘ Mit Benns „Come-back“ setzten die literarkritische und – leicht zeitversetzt – auch die wissenschaftliche Erforschung Benns ein. Der Autor beobachtete sie mit Stolz, Genugtuung und Interesse. Gegenüber Fritz Werner konstatiert Benn 1954: Es erschien: I Doctordissertation in Bonn über G.B.s Prosastil von Herrn Wellershoff. 1952 I Doctordisseration in Bonn über Lyrik von G.B in Köln von Frl. Astrid Claes. Bei Klettverlag, Stuttgart, erscheint in diesem Jahr ein Buch von Prof. Fritz Martini über „Prosa von Nietzsche bis G.B“ […]. In U.SA [sic] erscheinen mehrere Aufsätze u. Übersetzungen.²¹
Im selben Jahr reflektiert Benn in seiner Rede „Altern als Problem für Künstler“ (1954) über die beginnende wissenschaftliche Beschäftigung mit seinen Werken: Robert: Phänotyp der Stunde [Anm. 7]. Gottfried Benn an Fritz Werner, 18. April 1954, in: Gottfried Benn: „Absinth schlürft man mit Strohhalm, Lyrik mit Rotstift“. Ausgewählte Briefe 1904– 1956, hg. v. Holger Hof, Stuttgart und Göttingen 2017, S. 290; vgl. auch den Brief von Gottfried Benn an Friedrich Wilhelm Oelze, 4. März 1953: „Es werden jetzt 3 – 4 neue Doctorarbeiten über mich gemacht.“ (BOe IV, 189)
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Aber die Lage wird anders, wenn der Autor so sehr in die Jahre gekommen ist, so senil geworden ist, daß über ihn selber Bücher erscheinen, Arbeiten, mit denen die folgende Generation promoviert, Doktorabeiten im In- und Ausland, in denen er analysiert, systematisiert, katalogisiert wird, Arbeiten, in denen ein Komma, das er vor dreißig Jahren machte, oder ein Diphthong, den er an einem Sonntagnachmittag nach dem ersten Weltkrieg in die Länge zog, als grundsätzliche Stilprobleme behandelt werden. Interessante Studien, sublimste Sprach- und Stil-Analysen, aber für diesen Autor ist es seine Vivisektion, der er beiwohnt, er ist erkannt und nun erkennt er sich selbst, zum ersten Male erkennt er sich selbst […].²² (SW VI, 127)
Schon in der Marburger Rede „Probleme der Lyrik“ (1951) hatte Benn die entstehende „Doktorarbeit aus Bonn […], die meine frühe Prosa analysiert“ (SW VI, 43) – Wellershoffs Dissertation –, erwähnt. Die Rede von der „Vivisektion“ (SW VI, 43) lässt den „Morgue“-Dichter und Mediziner Benn durchscheinen. Literaturwissenschaft wird zur Fortsetzung der literarischen Leichenöffnung bei lebendigem Leib. Die Formulierung geht unmittelbar auf den Briefwechsel mit Wellershoff zurück: Dieser hatte Benn am 11. November 1950 Partien aus seiner entstehenden Dissertation geschickt. Wellershoff spricht von „Studien zu Ihrem Prosastil, die gleichsam die Keimzelle der stilkritischen Teile meiner Dissertation über Ihr bisher bekanntes Gesamtwerk bilden.“²³ Benn antwortet dem jungen Germanisten ausführlich und leitet die „Vivisectionsstudie“ (BOe III, 373) nebenbei an Oelze weiter.²⁴ Im Brief an Wellershoff entwickelt Benn dabei – wie so häufig²⁵ – Wendungen, die unmittelbar in die Marburger Rede eingehen werden: Sie [d.i. die Arbeit; J.R.] ist ausgezeichnet, sie ist hervorragend. Selten wird wohl ein Autor zu Lebzeiten vor sich sehn, so durchleuchtet, durchröntgt, so viviseziert zu werden […], zu meiner Jugend war die Literaturwissenschaft nicht mit so sublimen Methoden der Stilkritik
Gottfried Benn: Sämtliche Werke, Bd. VI: Prosa 4, hg. v. Holger Hof, Stuttgart 2001, S. 127. Auf diese Ausgabe wird im Folgenden unter der Verwendung der Sigle (SW I–VII/2) hingewiesen. Dieter Wellershoff an Gottfried Benn, 11. November 1950, in: DLA, A:Benn, 91.114.689,1– 9; vgl. Robert: Phänotyp der Stunde [Anm. 7], S. 13. „Ihnen steht bevor, von mir gebeten zu werden, das Manuscript des jungen Doktoranden aus Bonn zu lesen […], nicht uninteressant, zu meiner Zeit gab es eine so sublime Wort- u. Satz- u. Sprachanalyse in der Literaturwissenschaft noch nicht. Hier werden die Diphtonge gezählt u. alles geröntgt u. durchleuchtet.“ (BOe III, 370) „Immer wieder erweisen sich die Briefe als der materiale Ort, […] Formulierungen auszuprobieren, die später in den Texten wiederkehren.“ Holger Hof: Briefwechsel. Übersicht und Einführung, in: Benn-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Christian M. Hanna und Friederike Reents, Stuttgart 2016, S. 255 – 257, hier: S. 256.
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ausgerüstet, mit so viel Witterungsvermögen für die psychosomatischen Hintergründe der Sprache begabt.²⁶
Das Beispiel zeigt Benns Arbeitstechniken, seine Poetik von Selbstzitat und Montage,²⁷ vor allem aber den Einfluss der Literaturwissenschaft, die für den späten Benn zur Bedingung seiner Produktion und Reflexion wird. Im Briefwechsel mit Germanistinnen und Germanisten, Kritikerinnen und Kritikern nimmt Benn eine widersprüchliche Haltung ein: Während er einerseits die Rolle des Außenseiters, Parias und „Gleichgültigen“ spielt, der „sich in die leerstehende Loge des Weltgeistes zurückgezogen“²⁸ hat, zeigen ihn die Korrespondenzen mit Nachkriegsintellektuellen als wachsamen Beobachter und Propagator des eigenen unverhofften Ruhms. Wellershoffs Dissertation spielt in diesem Prozess eine besondere Rolle. Sie ist nicht nur die erste wissenschaftliche Studie zu Benn, sondern auch Anlass für einen umfangreichen, bislang weitgehend unerschlossenen Briefwechsel, der im Benn-Nachlass im DLA erhalten ist. Er erstreckt sich über den Zeitraum zwischen dem 13. August 1950 und dem 13. Dezember 1954. Den Schlusspunkt bildet das oben zitierte Kondolenzschreiben an die Witwe Ilse Benn vom 16. Juli 1956. Erhalten sind 17 Briefe: 15 bislang unedierte Briefe von Wellershoff an Benn sowie zwei bereits edierte Antwortbriefe Benns. Der Austausch konzentriert sich mit den Jahren 1950 (sechs Briefe) und 1951 (acht Briefe) auf die Anfänge der Arbeit an der Dissertation. Sein Ertrag liegt in einer doppelten Klärung: Wellershoff wird sich durch den Briefwechsel seiner wissenschaftlichen und kritischen Methode bewusst. Benn gewinnt im Austausch mit Wellershoff eine neue Dimension der Selbstreflexion und den Impuls zur poetologischen Standortbestimmung. Fachgeschichtlich greifen wir hier den Beginn einer systematischen Erforschung der deutschen Gegenwartsliteratur, die – das zeigt Wellershoffs Studie – von zwei Tendenzen geprägt ist: Weltanschauungsphilosophie und Existenzialismus (Jaspers, Heidegger) auf der einen Seite, Stilkritik und immanente Methode auf der anderen. Der Formalismus („Ausdruckswelt“) bot eine Symbiose von Literatur und Literaturwissenschaft an. Damit zurück zur Spurensuche: In seinem letzten Benn-Beitrag, dem bereits erwähnten Artikel „Leben – was sonst?“ (2008), blickt Dieter Wellershoff auf die Anfänge seiner Dissertation über Benn zurück. Zunächst habe er eine Arbeit über
Gottfried Benn an Dieter Wellershoff, 22. November 1950 (ABr, 201; wieder abgedruckt und hier zit. n. Benn: „Absinth“ [Anm. 21], S. 222). Vgl. Jan Bürger: Benns Doppelleben oder Wie man sich selbst zusammensetzt, Marbach 2006. Dieter Wellershoff: Der Gleichgültige. Versuche über Hemingway, Camus, Benn und Beckett, Köln und Berlin 1963, S. 82.
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Kafka geplant. Davon habe der designierte Doktorvater, Wilhelm Schneider, dringend abgeraten: Stattdessen sagte er: „Schauen Sie sich doch mal den Benn an, von dem neuerdings so viel die Rede ist.“ Das war ein guter Vorschlag, lebensgeschichtlich gesehen. Die Dissertation und das später daran anschließende Buch und die mir anvertraute erste Edition von Benns Gesamtwerk öffneten mir die Tür zum literarischen Leben. So fand ich vor allem meinen Verlag.²⁹
Über diese Bemerkung hinaus hat sich Wellershoff kaum zu den biographischen oder fachlichen Kontexten seiner Dissertation geäußert.³⁰ Die Monographie von 1958 erwähnt die Dissertation mit keinem Wort. Wellershoff hatte nach Wehrdienst (1943 – 1945), amerikanischer Gefangenschaft (Mai bis Juli 1945) und Ersatzabitur (1946) im Jahr 1947 ein Studium der Germanistik, Psychologie und Kunstgeschichte in Bonn aufgenommen. Der Lebenslauf am Ende der Dissertation teilt mit: „Vorlesungen und Uebungen besuchte ich u. a. bei den Herrn Professoren Betz, von Einem, Gruhle[,] Litt, Lützeler, G. Müller, W. Richter, Rothacker, W. Schneider.“ (Diss, unpag. [123]) Wellershoffs Doktorvater Wilhelm Schneider (1885 – 1979)³¹ war wie Benn (*1886) ein Angehöriger der expressionistischen Generation. Nach dem Studium der Fächer Deutsch, Französisch und Philosophie in Bonn (1904 – 1908) und Teilnahme am Ersten Weltkrieg wurde Schneider 1925 bei Oskar Walzel mit einer Studie über „Nomen und Verbum als Ausdruckswerte für Ruhe und Bewegung“ promoviert, die als Sonderdruck in Leipzig und Berlin erschien.³² Die Habilitation in Bonn erfolgte 1929 ohne eigene Arbeit. Neben seiner langjährigen Lehrtätigkeit am Städtischen Gymnasium in Eschweiler (1913 – 1926), am Dreikönigsgymnasium in Köln (ab 1927) sowie am staatlichen Beethovengymnasium in Bonn (1945 – 1949) wirkte Schneider auch an der Universität Bonn: seit 1926 als Lehrbeauftragter für Stilkunde der deutschen Sprache und als Privatdozent für Neuere deutsche Sprach- und Literaturgeschichte (1929 – 1937). Von 1939 bis 1961 war er apl. Professor für Neuere deutsche Sprach- und Literaturgeschichte, seine letzte Veranstaltung an der Universität Bonn datiert jedoch auf das Wintersemester
Wellershoff: Leben – was sonst? [Anm. 9], S. 78 – 79. Vgl. die umfangreiche autobiographische Schrift: Dieter Wellershoff: Die Arbeit des Lebens. Autobiographische Texte, Köln 1985; die kompakteste Zusammenfassung der Biographie bietet Hans Helmreich: Dieter Wellershoff, München 1982, S. 10 – 24. Vgl. Art. Schneider, Wilhelm Friedrich, in: Internationales Germanistenlexikon 1800 – 1950, Bd. 3: R–Z, hg. v. Christoph König, Berlin und New York 2003, S. 1644– 1645. Wilhelm Schneider: Nomen und Verbum als Ausdruckswerte für Ruhe und Bewegung, in: ZfDK 39 (1925), S. 705 – 723 sowie S. 771– 780; Sonderdruck Leipzig und Berlin 1925.
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1952/1953. Wilhelm Schneider gehörte jener stilkritischen Richtung an, die in Italien durch Benedetto Croce, in Deutschland durch die ‚Münchner‘ romanistische Schule, insbesondere Karl Vossler und Leo Spitzer, vertreten wurde.³³ Innerhalb der Nachkriegsgermanistik entfaltete sie v. a. durch Emil Staiger („Grundbegriffe der Poetik“, 1946), Paul Böckmann („Formgeschichte der deutschen Dichtung“, 1949) und Wolfgang Kayser große Wirkung. Letzterer legte mit seinem Buch „Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft“ (zuerst 1948) ein Hauptwerk der Nachkriegsgermanistik vor. Kayser nennt Fragen des Stils dort „nicht nur einen zentralen Sektor der Wissenschaft von der Dichtung, sondern den innersten Kreis selber, und nicht nur der allgemeinen Literaturwissenschaft, sondern zugleich der ganzen Literaturgeschichte“³⁴. Was alle Ansätze dieser Schule verband, war der formgeschichtlich-werkimmanente, mithin autonomieästhetische Ansatz, der „alles ‚Außerliterarische‘ entschieden von sich wies und sich allein mit der sprachlich oder gattungshaft gesteigerten Form beschäftigte“.³⁵ Im Zentrum der Analyse stand die ‚Gestaltqualität‘ der Dichtung, die als „in sich geschlossenes sprachliches Gefüge“³⁶ eine absolute Autonomie gegenüber allen bedingenden Kontexten und Voraussetzungen beanspruchen kann. Stilkritik und Formgeschichte waren damit Ausdruck einer Fachwissenschaft, die „in den drei Westzonen eine postfaschistische Tabuzone [blieb], deren ideologische Windstille etwas höchst Trügerisches hatte.“³⁷ Wilhelm Schneider kam, wie gesagt, von Oskar Walzel, der in seinem Hauptwerk „Wechselseitige Erhellung der Künste“ (1917) die Wölfflin’schen Stilkategorien auf die Literaturanalyse übertrug.³⁸ Alle Schriften Schneiders widmeten sich der Stilistik und umkreisten die Grenzzone von Grammatik und Her-
Hinzuzunehmen ist Heinrich Lausberg, der in Bonn seinen Mentor in Ernst Robert Curtius fand. Seine „Elemente der literarischen Rhetorik“ (zuerst 1949) bildeten die Vorstufe zum großen „Handbuch der literarischen Rhetorik“ (zuerst 1960 – 1973). Eine erhellende Geschichte dieser für die deutsche Romanistik und Komparatistik so wichtigen Genealogie bietet Hans Ulrich Gumbrecht: Vom Leben und Sterben der großen Romanisten, München 2002. Wolfgang Kayser: Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft, 20. Aufl., Tübingen und Basel 1992, S. 271. Jost Hermand: Geschichte der Germanistik, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 128; vgl. zur Werkimmanez zudem: Claudia Stockinger: ‚Lektüre‘? ‚Stil‘? Zur Aktualität der Werkimmanenz, in: 1955 – 2005. Emil Staiger und „Die Kunst der Interpretation“ heute, hg. v. Joachim Rickes, Bern u. a. 2007, S. 61– 85. Kayser: Das sprachliche Kunstwerk [Anm. 34], S. 5. Hermand: Geschichte der Germanistik [Anm. 35], S. 119. Vgl. Kayser: Das sprachliche Kunstwerk [Anm. 34], S. 277– 280. Volker Klotz sollte diesen Versuch in seinem Klassiker „Offene und geschlossene Form im Drama“ (zuerst 1960) fortsetzen. Es ist das letzte Standardwerk der form- und stilgeschichtlichen Schule.
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meneutik. Viele von ihnen erschienen in zahlreichen Auflagen bis in die 1960er Jahre hinein. In seiner Dissertation zitiert Wellershoff zwei Titel: „Ausdruckswerte der deutschen Sprache“ (1931) und „Kleine deutsche Stilkunde“ (1929; vgl. Diss, unp. [122]). In der Zeit des Nationalsozialismus bekamen Schneiders Schriften eine national-patriotische Schlagseite, wie sein Buch „Ehrfurcht vor dem deutschen Wort. Lehre und Übung für jedermann“ (zuerst 1938, immerhin 7. Aufl. 1962) und vor allem die an Josef Nadler ausgerichtete Studie „Die auslanddeutsche Dichtung unserer Zeit“ (1936) bezeugen.³⁹ Nach dem Krieg nahm Schneider die Idee einer Verbindung von Grammatik und Stilistik wieder auf. Sein eigentliches Hauptwerk war die „Stilistische deutsche Grammatik. Die Stilwerte der Wortarten, der Wortstellung und des Satzes“ (1959); sie wurde zum Longseller der Nachkriegsgermanistik (5. Aufl. 1969) und ist Schneiders einziges Buch, das in der aktuellen Forschung noch präsent ist.⁴⁰ Hier nahm sich Schneider auf den Spuren von Leo Spitzers „Stilstudien“ vor, die „gefrorene Stilistik“⁴¹ innerhalb der Grammatik zurückzugewinnen, d. h. die „Stilwerte der Wortarten, der Wortstellung und des Satzes aufzuzeigen und an Beispielen zu erweisen.“⁴² Entlang einer Fülle von Beispielen aus kanonischen Texten (Prosa wie Lyrik) werden die Ausdrucksqualitäten der Wortarten vorgeführt. Mit der Kritik an der stilkritisch-werkimmanenten Methode, wie sie Ende der 60er Jahre einsetzte, gerieten Schneiders Arbeiten rasch in Vergessenheit. Allein das frühe Werk „Ausdruckswerte der deutschen Sprache“ (zuerst 1931; 3. Aufl. 1974, Ndr.), das auch für Wellershoff maßgeblich war, erlebte eine Neuauflage. Im Gegensatz zu Wolfgang Kaysers „Das sprachliche Kunstwerk“ sind Schneiders Bücher heute vergessen und harren einer Wiederentdeckung. Auf ihren Ansatz
Hier schreibt Schneider einleitend: „Dieses Buch verdankt sein Entstehen einer Wandlung der öffentlichen Meinung über das Auslanddeutschtum, die durch den Weltkrieg vorbereitet wurde, in der Nachkriegszeit sich immer kraftvoller und deutlicher vollzog und im nationalsozialistischen Deutschland fast eine Volksbewegung hervorgebracht hat.“ Wilhelm Schneider: Die auslanddeutsche Dichtung unserer Zeit, Berlin 1936, S. 5. Bernhard Asmuth und Luise Berg-Ehlers: Stilistik, 3. Aufl., Opladen 1978, S. 32 sowie S. 33 ziehen eine ambivalente Bilanz über Schneiders Verfahren: Einerseits liegt die Gefahr seines Ansatzes darin, „daß statt sachlicher, begründeter Aussagen ungehemmte Subjektivität Raum greift, was einerseits an der Überinterpretation des Autors liegen mag, zum anderen daran, daß Kontextfragen zu wenig berücksichtigt werden.“ Andererseits wird bescheinigt, „daß Schneider viele Beobachtungen bringt, die eine Stiluntersuchung weiterführen können.“ Leo Spitzer: Wortkunst und Sprachwissenschaft, in: Ders.: Stilstudien, unver. Nachdruck der Aufl. München 1928, Bd. 2, Darmstadt 1961, S. 517. Wilhelm Schneider: Stilistische deutsche Grammatik. Die Stilwerte der Wortarten, der Wortstellung und des Satzes, 5. Aufl., Freiburg i.Br., Basel und Wien 1969, S. VI. Das Werk ist konsequent nach Wortarten gegliedert, die auf ihre stilistischen Potentiale untersucht werden.
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trifft zu, was Jan-Dirk Müller bereits für Wolfgang Kaysers „Das sprachliche Kunstwerk“ feststellt: einerseits „Isolation des literarischen Kunstwerks als ein[ ] autonome[s] Gebilde[ ] aus den sozialen und kulturellen Kontexten seiner Produktion und Rezeption“,⁴³ andererseits bedenkenswerte „Einrede gegen eine kulturalistische Vereinnahmung der Literatur“.⁴⁴ Kayser richtet den Blick nur auf den Text, auf das „Handwerkliche[ ]“ und die „Grundbegriffe der Technik“.⁴⁵ Diese Betonung der Autonomie des Textes, seiner Form und Machart, deckt sich mit jener Poetik, die Gottfried Benn im selben Jahr (1948) mit seinen „Statischen Gedichten“ einläutete und mit seiner großen „Ars poetica“⁴⁶ (Bender), den „Problemen der Lyrik“ (1951), besiegelte. Auch Benn nahm den Standpunkt der Autonomieästhetik ein.⁴⁷ Der äußeren Welt setzte er die autonome „Ausdruckswelt“ entgegen, die sich gegenüber jedem „soziologische[n] Nenner“ (SW I, 174) immunisiere. Dies entspricht dem Standpunkt Wolfgang Kaysers, der im Vorwort seines Hauptwerks schrieb: „Eine Dichtung lebt und entsteht nicht als Abglanz von irgend etwas anderem, sondern als in sich geschlossenes sprachliches Gefüge.“⁴⁸ Es ist keine Überraschung, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit Benn von der Stilistik her begann. Auch Astrid Claes’ Studie über den „Lyrischen Sprachstil Gottfried Benns“ von 1953 näherte sich Benn von der Stilfrage aus. Benns begeisterte Reaktion auf Wellershoffs Arbeit verdankt sich dieser geteilten Grundorientierung. Wellershoffs „sublimste Sprach- und Stil-Analysen“ waren das wissenschaftliche Gegenstück zu Benns alexandrinischer Stilgrammatik: „Worte, Worte – Substantive! Sie brauchen nur die Schwingen zu öffnen und Jahrtausende entfallen ihrem Flug“ (SW III, 133), heißt es schon in „Epilog und Lyrisches Ich“ (1921/1927; wieder aufgenommen in „Probleme der Lyrik“, 1951). Dies beförderte den Austausch zwischen Literatur und Wissenschaft. Wil-
Jan-Dirk Müller: Rezension v. Wolfgang Kayser: Das sprachliche Kunstwerk, in: Arbitrium 37 (2019), S. 275 – 285, hier: S. 284. Müller: Rezension [Anm. 43], S. 284. Kayser: Das sprachliche Kunstwerk [Anm. 34], S. 189 – 191. Hans Bender: Vorwort, in: Mein Gedicht ist mein Messer. Lyriker zu ihren Gedichten, hg. v. dems., Heidelberg 1955, S. 9 – 12, hier: S. 9. Vgl. Antje Büssgen: Glaubensverlust und Kunstautonomie. Über die ästhetische Erziehung des Menschen bei Friedrich Schiller und Gottfried Benn, Heidelberg 2006; zur Einordnung des Begriffs „Autonomieästhetik“ bzw. „ästhetische Autonomie“ empfiehlt sich der Blick auf die ältere, kritisch-polemische Forschung, die ausgehend von Adornos Kritik an der Autonomieästhetik (der Essay: „Ist die Kunst heiter?“ in den „Noten zur Literatur“) den Gegenstand überhaupt erst geschärft hat. Vgl. Peter Bürger: Zur Kritik der idealistischen Ästhetik, Frankfurt a. M. 1983; Michael Müller u. a.: Vorwort, in: Autonomie der Kunst. Zur Genese und Kritik einer bürgerlichen Kategorie, hg. v. dems. u. a., Frankfurt a. M. 1972, S. 7– 8. Kayser: Das sprachliche Kunstwerk [Anm. 34], S. 5.
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helm Schneider stützt sich etwa 1959 in seiner „Stilistischen deutschen Grammatik“ auf Benns Vortrag „Altern als Problem für Künstler“ (1954). Dort berichtet Benn von Carl Sternheims Empfehlung: „streichen Sie die Adjektiva, es wird dann klarer, was Sie meinen. Es stellte sich als richtig heraus, es war ein Zwangsproblem für meine Generation, das Fortlassen der erklärenden, breitmachenden Adjektiva.“ (SW VI, 147)⁴⁹ Auch sonst steht Benns späte Poetik der ‚stilistischen Grammatik‘ sehr nahe, man denke hier an Gedichte wie „Ein Wort“ (1941; zuerst in „Statische Gedichte“, 1948) oder „Satzbau“ (1950).⁵⁰ Die Maxime „heute ist der Satzbau / das Primäre“ (SW I, 238) kennzeichnet Benns Poetik ebenso wie ihre literaturwissenschaftliche Erschließung bei Wilhelm Schneider oder Dieter Wellershoff. Als das Gedicht „Satzbau“ erschien, hatte Wellershoff eben mit seiner Arbeit über den „Sprachstil“ auf Grundlage von Schneiders ‚stilistischer Grammatik‘ begonnen. Wellershoff selbst hegte von Anfang an Zweifel an der stilkritischen Methode, aber auch an der philologischen Analyse insgesamt. In einem Brief vom 11. November 1950 räumt er ein, „daß ich nicht der Überzeugung bin, mit der stilkritischen und überhaupt mit einer wissenschaftlichen Methode das Geheimnis der dichterischen Sprache restlos begreifen zu können“.⁵¹ Diese zwiespältige Haltung gegenüber der Wissenschaftlichkeit des eigenen Faches ist nach 1945 durchaus verbreitet. Auch Wolfgang Kayser betont: „Die Wege, die die theoretische Behandlung einschlägt, führen weit ab vom Wesen des Dichterischen.“⁵² Die akribische Textarbeit der Stilkritik war auch der Versuch, solchen Zweifeln an der Wissenschaftlichkeit der Philologie durch Rückzug auf das Instrumentarium der Grammatik und Rhetorik entgegenzuwirken. Die Tatsache, dass Wellershoff schon in der Anfangsphase seiner Dissertation den Kontakt zu Benn suchte, zeigt das Bedürfnis, dem „Geheimnis“ weniger auf wissenschaftlichem Wege als mit Hilfe direkter Befragung auf die Spur zu kommen.
Bei Schneider wieder aufgenommen in: Ders.: Stilistische deutsche Grammatik [Anm. 42], S. 96. Anspielungen auf Grammatisches finden sich auch in „Nur zwei Dinge“ (1953). Hier ‚konjugiert‘ Benn die conditio humana einleitend durch: „Durch so viel Formen geschritten, / durch Ich und Wir und Du“ (SW I, 320). Wellershoff an Benn, 11. November 1950 [Anm. 23], vgl. Robert: Phänotyp der Stunde [Anm. 7], S. 16. Kayser: Das sprachliche Kunstwerk [Anm. 34], S. 11.
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3 Wellershoff an und über Benn – Briefwechsel und ‚Marbacher Fragment‘ Der Briefwechsel zwischen Benn und Wellershoff wurde an anderer Stelle bereits ausführlich gewürdigt;⁵³ hier soll es darum gehen, ihn im Lichte eines Fundes, der für die Benn- und Wellershoff-Forschung höchst aufschlussreich ist, neu zu beschreiben. Zunächst zu den äußeren Daten: Wellershoff nimmt den Kontakt zu Benn mit einem langen Brief am 13. August 1950 auf. Der junge Doktorand stellt sich und das Konzept seiner Arbeit vor: Zwei Thesen bilden gleichsam das philosophische Fundament meiner Arbeit. Die erste: jeder Mensch sieht die Welt aus einer bestimmten Perspektive, durch die ihre Elemente eine bestimmte Formung erfahren; die zweite, letztlich schon in der ersten enthalten, besagt: es gibt schlichtweg keine menschliche Äusserung, der das Subjekt nicht mehr oder minder einen weltanschaulichen Sinn eingeprägt hat. […] Zunächst soll der Versuch unternommen werden, die geistige Welt, das Weltbild, das sich in Ihren Werken manifestiert hat, zu kennzeichnen, sodann gilt es zu untersuchen, ob und wie sich dieses Weltbild in Ihrem Sprachstil ausdrückt.⁵⁴
Die Auseinandersetzung mit Benns Werk habe Wellershoff „in den letzten sieben Monaten in geistige Probleme hineingeführt […], die einem Menschen meiner Generation wie eine Kette erregender Entdeckungen anmuten müssen.“⁵⁵ Hier scheint also bereits das Motiv der Zeitgenossenschaft und der Generation, der historischen ‚Stunde‘ auf, als deren ,Phänoytp‘ Benn von Anfang an erscheint. Wellershoff hebt im Briefwechsel immer wieder auf das Weltanschauliche ab. Er steht nicht nur im Banne Benns, sondern auch der Existenzphilosophie. So schreibt er am 7. September 1950, ganz im Jargon Heideggers: Die Scheinhaftigkeit jeder endgültigen Seinsgestalt erkennend, umgibt sich die werdende experimentierende Existenz durch das In-Werk-Setzen des jeweils perspektivisch gesichteten mit dem weitesten Horizont des Möglichen.⁵⁶
Vgl. Robert: Phänotyp der Stunde [Anm. 7]. Dieter Wellershoff an Gottfried Benn, 13. August 1950, in: DLA, A:Benn, 91.114.689,1– 9; vgl. Robert: Phänotyp der Stunde [Anm. 7], S. 18. Wellershoff an Benn, 13. August 1950 [Anm. 54] vgl. Robert: Phänotyp der Stunde [Anm. 7], S. 19. Dieter Wellershoff an Gottfried Benn, 7. September 1950, in: DLA, A:Benn, 91.114.689,1– 9. In seiner autobiographischen Schrift „Die Arbeit des Lebens“ schreibt Wellershoff rückblickend: „Ich dachte das alles nur probeweise und beiläufig, doch als ich bald danach die sogenannte Existenzphilosophie kennenlernte, die die Philosophie der Stunde Null wurde, war ich gefühlsmäßig völlig auf sie vorbereitet. Die ‚Geworfenheit‘, ‚das nackte Daß der Existenz‘ und ‚das
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Schon in seinem ersten Brief vom 13. August 1950 bat Wellershoff den Dichter um Durchsicht seiner Ergebnisse: Das Manuskript trägt ganz den Charakter einer Vorstudie. Alles Gesagte wird vor der eigentlichen Arbeit mit größerer Sorgfalt, Eindringlichkeit und Vorsicht darzustellen sein […]. Ich habe heute meinem Professor das gleiche Manuskript zur Durchsicht gegeben und es wäre natürlich besonders interessant für mich, wenn Sie als der Dichter und mein Doktorvater als Wissenschaftler von den jeweils sich ergebenden Standpunkten dazu Stellung nehmen könnten.⁵⁷
Benn leitete den Auszug an Oelze weiter mit dem lakonischen Hinweis: „anbei die Vivisectionsstudie“ (BOe III, 373). Oelze zeigte sich höchst reserviert, ja befremdet durch das „Fragmentarische“ des Entwurfs. Er missbillige ohnehin die „jungen, deutschen Gelehrten, diese Columbusse“ (BOe IV, 11),⁵⁸ in denen er Konkurrenten um die Deutungshoheit in Sachen Benn fürchten muss. In der Forschung ist die Existenz des Konvoluts bekannt (vgl. exemplarisch BOe III, 539), aber offenbar hat sich niemand für seinen Verbleib und Inhalt interessiert. Dabei hat sich das 32 Seiten starke Typoskript an gut sichtbarer Stelle erhalten: im Benn-Nachlass (Sammlung Oelze) des DLA Marbach.⁵⁹ Das überaus aufschlussreiche Dokument, das ich im Folgenden als ‚Marbacher Fragment‘ bezeichne, kann hier nur in groben Strichen vorgestellt werden. Das Typoskript stellt – auf Wellershoff und die Benn-Forschung bezogen – die erste literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Autor dar. Ihr Verfasser bewegte sich auf Neuland, die Annäherung an einen modernen Autor war alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Methoden und Haltungen zur Beschäftigung mit Gegenwartsliteratur mussten erst
nichtende Nichts‘ – Ausdrücke, die heute monströs und pathetisch anumuten – waren damals einleuchtende Begriffe für längst allgemeine Erfahrungen.“ Wellershoff: Die Arbeit des Lebens [Anm. 30], S. 207. Wellershoff an Benn, 13. August 1950 [Anm. 54]. Friedrich Wilhelm Oelze an Gottfried Benn, 7. Januar 1951: „Ich erlaube mir beizulegen einen Brief des Herrn Dieter Wellershoff, in dem mich die rot bezeichneten Stellen vornehmlich berührt haben. Sonst – diese jungen deutschen Gelehrten, Columbusse heute wie je, alle entdecken sie das vor 500 Jahren Entdeckte noch einmal als unbetretenes Land! – Daß das mir von Ihnen zugesandte Stück der Dissertation nur Teil einer umfassenden Arbeit ist, erklärt nachträglich das Fragmentarische, das mich befremdete. Vielleicht sollte man die Arbeit später doch drucken lassen, wenn dem jungen Mann die Mittel dazu fehlen; ich werde sehn, was sich tun lässt.“ (BOe IV, 11) Dieter Wellershoff: Studien zu G. Benn’s Sprachstil, in: DLA, A:Benn/Oelze, 80.974. Der im Katalog des DLA vermerkte Titel „Studien zu G. Benn’s Sprachstil“ findet sich nicht im Typoskript, das sogleich in medias res springt. Zitate nach dieser Archivalie im Folgenden unter der Sigle (MF) im laufenden Text.
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entwickelt werden. Diese Umstände verleihen der Arbeit einen ausgesprochen innovativen und experimentellen Charakter. Für Wellershoff war das ,Marbacher Fragment‘ nur ein Durchgangsstadium, ein Reflexionsmedium. In die fertige Qualifikationsarbeit sind die Seiten nicht eingegangen; die wenigen Überschneidungen beschränken sich auf Zitate und Belege. Ausgangspunkt ist ein Abschnitt aus Benns Rönne-Novelle „Geburtstag“ (SW III, 54– 57), der zum Gegenstand einer ‚stilkritischen Untersuchung‘ wird. Wellershoff beruft sich auf Kaysers „Das sprachliche Kunstwerk“, das auf die Notwendigkeit von „Fingerspitzengefühl und Intuition“⁶⁰ hinweist. Deutlicher als in der eigentlichen Dissertation bezieht sich Wellershoff zudem auf den Doktorvater: „Massgebend für unsere Begriffssprache ist das Werk ‚Ausdruckswerte der deutschen Sprache‘ von Wilhelm Schneider.“ (MF, 4) Der Doktorand entwirft eine Typologie des Benn’schen Prosastils in acht Unterkategorien: den „sinnlichen“, den „andringlichen“, den „vielhelligen“, den „bewegten“, den „knappen“, den „dunklen“ und den „musikalischen“ Stil. Letzteren sucht Wellershoff in subtilen Analysen der Rhythmik und der Vokalverteilung der Benn’schen Prosa zu beschreiben.Von einem „Lesen mit dem Ohr“ ist die Rede, das es in „ein graphisches Schema“ zu bringen gelte (MF, 18). In Benns Prosadichtung zeichne sich eine „rhythmische Grundfigur“ (MF, 19) ab, die mit anderen Figuren verglichen und durch syntaktische Umstellproben unterstrichen wird: „Benns Prosa, dies kann jetzt noch gesagt werden, ist an vielen Stellen auf dem Sprunge Lyrik zu werden, hier hat sich dieser Sprung bereits vollzogen.“ (MF, 21) Der zweite, kürzere Analyseteil ist einem Ausschnit aus „Saison“ (SW III, 297– 298) gewidmet. Dabei formuliert Wellershoff noch einmal methodische Prinzipien: [D]a unsere Arbeit sich nicht mit einem äusserlichen Beschreiben dieser einzelnen Ansichten begnügen soll, sondern ihr die Aufgabe des Verstehens gestellt ist, muss sie ein mögliches Identisches, das man abschliessend als das Wesen bezeichnen könnte, im Auge behalten. (MF, 23)
Der Personalstil manifestiere sich in „verschiedene[n] Ausdruckscharaktere[n]“ (MF, 23), die eine Einheit in der Vielfalt bilden: „Charakteristisch für Benns Sprachstil [ist], dass durch die Verengung eines umfangreichen Vorstellungskomplexes zu einem einzelnen, vertretenden Symbol, dem Leser ein starker Anreiz zum aufschlüsselnden Assoziieren gegeben wird.“ (MF, 28) So stelle sich der Eindruck ein,
Kayser: Das sprachliche Kunstwerk [Anm. 34], S. 329.
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dass hier eine starke Subjektivität den Gegenstand in ein Spiel von Assoziationen auflöst, ihn durch fast willkürliche Besonderung neu akzentuiert, ihn gleichzeitig durch kurze Überblicke überraschend gruppiert und ihn eben durch diese subjektive Umgestaltung deutet. (MF, 29)
Assoziation und Allusion werden als wesentliche Techniken identifiziert. Es ist bezeichnend, dass sich das Fragment ausschließlich auf die Prosa konzentriert; kein einziges Gedicht wird zitiert. Am Ende zeigt sich die Ausweitung der Stilkritik zur Ideengeschichte: Eine beiläufige Verwendung der Worte „nicht existent“ lasse Benns vermeintliche Nähe zur „Terminologie Heideggers“ (MF, 30) erkennen. Diesen Bezug zur Existenzphilosophie wird die Dissertation weiter ausbauen; auch im Briefwechsel konfrontiert Wellershoff Benn wiederholt mit Hinweisen auf Heidegger. Am Ende des Fragments steht das Resümee: In beiden Fällen wird die Sprache getragen von üppig wuchernden, weltabsorbierenden Assoziationen, die die logische Folge durchbrechen und den Text in eine Vielfalt perspektivischer Blicke zersplittern. (MF, 32)
Benn fühlt sich – anders als der Freund Oelze – durch die Analysen des jungen Doktoranden elektrisiert und zu einer poetologischen Antwort herausgefordert. Sie findet sich in dem ersten Brief, den er an Wellershoff schreibt (datiert auf den 22. November 1950).⁶¹ Dieser umkreist ein Lieblingsmotiv des späten Benn – den monologischen Charakter der dichterischen Sprache: „Hat die Sprache überhaupt noch einen dialogischen Charakter im metaphysischen Sinne?“⁶² Dabei wird die Poetologie des Grammatischen zu einer ästhetischen Morphologie ausgeweitet. Dichtung gehe „aus gebrochenen Worten, angedeuteten Silbenwurzeln […], aus Anklängen, gemischt aus Inhaltlichem und Diphtongen“, hervor, die zunächst „ein inneres Bild des zu formenden Satzes“ erzeugen, ein – wie Benn sagt – „Vorgang von ausgesprochen katarrhtischem Charakter“.⁶³ Der Brief lässt erkennen, wie Benn sich durch Wellershoffs stilkritische Analysen ‚erkannt‘ und zugleich provoziert fühlt: „Sie nennen an Stilen: den eindringlichen Stil [eigentlich: ‚andringlichen‘; MF, 6; J.R.], den knappen Stil, den musikalischen Stil, den Stil, bei dem es nur noch auf Faszination und Ausdrucksprägung ankommt“⁶⁴. Und doch entzieht er sich, antwortet ausweichend. Von der philologischen Stilkritik geht er
Das DLA Marbach bewahrt einen 13 Seiten umfassenden Entwurf dieses Briefes auf: Gottfried Benn: Arbeitsheft 16, in: DLA, D:Benn, Gottfried, D 86.18. Vgl. zum Brief eingehend Robert: Phänotyp der Stunde [Anm. 7], S. 21– 23. Gottfried Benn an Dieter Wellershoff, 22. November 1950, in: Benn: Absinth [Anm. 21], S. 224. Benn an Wellershoff, 22. November 1950, [Anm. 62], S. 223. Benn an Wellershoff, 22. November 1950, [Anm. 62], S. 224.
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gleitend zur posthumanistischen Sprachkritik über: „Ein tragischer Stil, Krisenstil, hybrid und final – im Hintergrund steht schon der triploide Mensch, der gezüchtete, mit 66 Chromosomen, der Riese“⁶⁵. Die Sprache habe ihren kommunikativen Charakter verloren, „sie ist reiner Ausfall, abgewetztes Palaver“; nur „in der Tiefe ist ruhelos das Andere, das uns machte, das wir aber nicht sehn.“⁶⁶ Damit sind die Grenzen der germanistischen Stilkritik benannt. Benn unterstreicht, „daß es sich nicht um Stil und Sprache allein handelt, sondern um substantielle Fragen. Das Wort ist die Selbstbegegnung der Schöpfung und ihre Selbstbewegung.“⁶⁷ Wellershoff reagierte seinerseits innerhalb einer Woche auf Benns Brief. Auch dieser Brief (vom 29. November 1950) befindet sich im DLA und wird hier erstmals zitiert. Der Doktorand bedankt sich für Benns Zuspruch und verteidigt die stilkritische Methode als Schule des Lesens: Nun sagt man, es sei müßiger und amusischer Rationalismus einen Text derartig mikroskopisch zu betrachten und man käme bestenfalls damit zu den gleichen Ergebnissen, wie derjenige, der den Text nur als Ganzheit auf sich wirken lasse. Die in Deutschland besonders zahlreiche Partei der gefühlsverwirrten Nebelköpfe versammelt sich immer wieder hinter solchen „ästhetischen“ Wimpelchen. Nein, wer Triefaugen hat, muß sich aufs Orakeln verlegen und es ist eine besonders beliebte Art der Kompensation, wenn sich Sehbehinderte als Seher ausgeben. Diese Leute vergessen zunächst, daß die Fähigkeit intensiven Nacherlebens die Voraussetzung jeder stilkritischen Untersuchung ist, denn wie sollte man etwas über Stilelemente sagen können[,] wenn man nicht zuerst von ihnen angesprochen wird. […] Es ist garnicht erstaunlich, daß die ausgesprochenen Gegner der Stilkritik meistens überhaupt kein Gefühl für Niveauunterschiede haben, Kunst von Kunsthandwerk nicht unterscheiden können und ihre Werturteile aus den Literaturgeschichten beziehen. Das von ihnen so phrasenhaft gepriesene Erleben bedarf nämlich der Schulung, Verfeinerung und Sensibilisierung und das geschieht nur durch möglichst eindringliche Berührung mit dem Werk. [Bl. 1v] Ich bin deshalb meinem Lehrer, Herrn Prof.W. Schneider, überaus dankbar, daß er mich richtiges Lesen bzw. Schauen gelehrt hat, denn welche Wörtlichkeiten gehen nicht dem verloren, der mit stumpfem Auge vor einem Kunstwerk steht.⁶⁸
Benn an Wellershoff, 22. November 1950, [Anm. 62], S. 224. Benn an Wellershoff, 22. November 1950, [Anm. 62], S. 224– 225. In Wellershoffs Essay „Der Gleichgültige“ findet sich ein Widerhall und Kommentar dieser Stelle: „Alle diese Denkbewegungen laufen auf die Autonomie des Subjekts hinaus. Die Außenwelt wird abgewertet, der Verlust der Umweltbeziehungen durch Erweiterung der Innerlichkeit kompensiert. Das isolierte Ich wird Selbstversorger; es holt seine Inhalte aus den Katakomben der Tiefenseele.“ Wellershoff: Der Gleichgültige [Anm. 28], S. 91. Benn an Wellershoff, 22. November 1950, [Anm. 62], S. 225. Dieter Wellershoff an Gottfried Benn, 29. November 1950, in: DLA, A:Benn, 91.114.689,1– 9.
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Für Wellershoff ist die Stilkritik überzeugend, weil sie eine Rationalisierung der Lektüre ermöglicht, die sich dem methodischen Obskurantismus von ‚Einfühlung‘ und ‚Erleben‘ entzieht. Das ,Marbacher Fragment‘ zeigt, wie akribisch Wellershoff diesen deskriptiven Ansatz verfolgt. Benn vermerkt zu Recht die experimentelle Neuheit und Radikalität der mikrologischen Annäherung. Der Gegensatz von Erlebnis und Analyse, den Wellershoff im Brief anspricht, spiegelt einen längst topischen Konflikt der Nachkriegsgermanistik. Die Erlebnis- und Einfühlungsästhetik hat ihren wichtigsten Vertreter im Züricher Ordinarius Emil Staiger, der die Aufgabe der Literaturwissenschaft bekanntlich darin sah, „zu begreifen, was uns ergreift“.⁶⁹ Wellershoffs Brief vom 29. November 1950 wirft ein Licht auf den akademischen Betrieb und die Kontexte des Benn-Projektes. Deutlich wird die zentrale Rolle Wilhelm Schneiders für Wellershoffs Benn-Studien. Wellershoff berichtet, sein Doktorvater biete im laufenden Wintersemester 1950/1951 „stilkritische Untersuchungen über moderne Autoren“ an, u. a. über „Stefan Anders, Alfred Döblin und Thomas Mann“. In einer der nächsten Sitzungen solle Benns Novelle „Weinhaus Wolf“ gelesen werden.⁷⁰ An den Sitzungen hätten ca. 40 Studierende teilgenommen. Weiterhin teilt Wellershoff mit, nunmehr „den ersten (geistesgeschichtlichen) Teil der Arbeit“ zu beginnen, insbesondere werde die Einleitung zu den „weltanschauliche[n] Probleme[n]“ formuliert.⁷¹ Wellershoffs Briefe, so lässt sich resümieren, zeigen eine innere Entwicklung, die sich vom ,Marbacher Fragment‘ über die Dissertation bis zur Monographie „Gottfried Benn. Phänotyp dieser Stunde“ (1958) und zum Benn-Essay in „Der Gleichgültige“ (1963) kontinuierlich fortsetzen wird. Diese Entwicklung hat eine fachlich-methodische und eine persönlich-emotionale Seite. Methodisch setzt Wellershoff bei der Stilkritik (,Marbacher Fragment‘, 1950) an. Aber offenbar plant er von Anfang an, in der Dissertation auch die ‚Weltanschauung‘ zu behandeln. Die Monographie von 1958 schließlich lässt die Stilkritik – und auch die akademische Germanistik – vollkommen hinter sich. Die Studie ist ein geistesgeschichtlicher Essay über den Weg (und Abweg) eines prototypischen deutschen Intellektuellen.⁷² Benns Weltanschauung bekommt einen historisch-biographischen Index; sie wird in ihrer Genese vom Expressionismus bis in die Nachkriegszeit chronologisch nachvollzogen. Auch Benns Sympathisieren mit dem NS-
Emil Staiger: Die Kunst der Interpretation, in: Die Kunst der Interpretation. Studien zur deutschen Literaturgeschichte, hg. v. dems., 5. unveränd. Aufl., Zürich 1967 [zuerst 1955], S. 9 – 34, hier: S. 10 – 11. Wellershoff an Benn, 29. November 1950 [Anm. 68], vgl. Robert: Phänotyp der Stunde [Anm. 7], S. 19. Wellershoff an Benn, 29. November 1950 [Anm. 68]. Eine Würdigung findet sich bei Jung: Bloß eine Anleitung [Anm. 5], S. 260 – 267.
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Regime erhält nun ein eigenes Kapitel. Emotional geht damit eine Distanzierung und Ernüchterung gegenüber dem „Betäubungskünstler“ Benn, wie ihn Walter Muschg nennt,⁷³ einher. Mit dieser Topik muss sich auch Wellershoff auseinandersetzen – und sie trifft etwas Richtiges. Sogar der Doktorvater scheint seinen Hinweis auf Benn bereut zu haben. Noch im April 1952 schreibt Wellershoff an Benn, Wilhelm Schneider habe die „Befürchtung, daß [er] [ihm] vollständig verfallen sei. Man hält [ihn] allgemein für einen gefährlichen Verführer.“⁷⁴ Die drei Stufen seiner frühen Beschäftigung mit Benn – ,Marbacher Fragment‘, Dissertation, „Phänotyp“-Studie – zeigen den Prozess einer Selbstimmunisierung, der nicht nur die individuelle „Fieberkurve“ des Philologen, sondern die einer ganzen Generation in der unmittelbaren Nachkriegszeit beschreibt.⁷⁵ Es ist kein Zufall, dass Wellershoffs Abrechnung mit Benn in „Der Gleichgültige“ (1963) mit dem Ende der ‚Ära Adenauer‘ zusammenfällt. Wellershoff hat sich mit und gegen Benn aus der eigenen existenzialistischen Weltschmerz- und ‚Ohne mich‘-Haltung der frühen Nachkriegszeit herausgeschrieben. Der HeideggerAdept wandelt sich zum neuen Realisten. Entsprechend harsch fällt das abschließende Urteil über Benn in „Der Gleichgültige“ aus: Er hat aus der Denkohnmacht einen Komfort gemacht, den Ohne-mich-Standpunkt metaphysisch aufgebauscht. Sein Denken ist jetzt nur noch darauf gerichtet, alle Zusammenhänge zu vernichten, die Realität aufzulösen in ein sinnloses Panoptikum, damit er auf seinem Platz bleiben kann.⁷⁶
„Darin sehe ich eben das Unglück, daß die deutsche Nachkriegsjugend diesem Betäubungskünstler ins Garn gegangen ist.“ Walter Muschg: Absage an Gottfried Benn, in: Über Gottfried Benn. Kritische Stimmen, hg. v. Bruno Hillebrand, Bd. 2: 1957– 1986, Frankfurt a. M. 1987, S. 30 – 32, hier: S. 31. Vgl. zu Walter Muschgs Benn-Polemiken zudem Michael Ansel: Nachkriegsperspektiven auf Gottfried Benn. Rychner, Muschg und Bense, in: Der Essay als Universalgattung des Zeitalters. Diskurse, Themen und Positionen zwischen Jahrhundertwende und Nachkriegszeit, hg. v. dems., Jürgen Egyptien und Hans-Edwin Friedrich, Leiden und Boston 2016, S. 177– 200, hier: S. 184– 187. Dieter Wellershoff an Gottfried Benn, 9. April 1951, in: DLA, A:Benn, 91.114.689,3. Dieter Wellershoff: Fieberkurve des deutschen Geistes. Über Gottfried Benns Verhältnis zur Zeitgeschichte, in: Die Kunst im Schatten Gottes. Für und wider Gottfried Benn, hg. v. Reinhold Grimm und Wolf-Dieter Marsch, Göttingen 1962, S. 11– 39. Wellershoff: Der Gleichgültige [Anm. 28], S. 84.
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4 Weltanschauung und Wissensgeschichte – Wellershoffs Dissertation Damit komme ich nun zur abgeschlossenen Dissertationsschrift, zunächst zu ihren Entstehungskontexten. Der Titel der eingereichten Arbeit lautet: „Untersuchungen über Weltanschauung und Sprachstil Gottfried Benns“. Als Berichterstatter werden Prof. Dr. Wilhelm Schneider und Prof. Dr. Günther Müller genannt.⁷⁷ Als Datum der vollzogenen Promotion ist der 27. Februar 1952 vermerkt.⁷⁸ Wellershoff schreibt Benn am 3. März 1952, also eine Woche nach dem bestandenen Doktorexamen: Sehr geehrter Herr Dr. Benn, da Sie die Entstehung meiner Dissertation in den verschiedenen Phasen mit verfolgt haben, will ich Ihnen jetzt auch von der Beendigung meines Studiums Mitteilung machen: vergangenen Mittwoch bestand ich mein Examen mit magna cum laude, meine Arbeit wurde mit valde laudabilis zensiert, was dem Prädikat der mündlichen Prüfung entspricht. Nun kann ich ein wenig aufatmen nach den asketischen letzten Jahren. Schade, daß Sie die letzte Fassung der Dissertation nicht kennen; die Manuskripte, die ich Ihnen schickte[,] zeigen nämlich nur den Stand vor der letzten großen Umarbeitung und Erweiterung. Wenn die mehrfache Abschrift für die Fakultät angefertigt worden ist, will ich Ihnen gerne mein Exemplar ausleihen, falls Sie es noch einmal lesen wollen.⁷⁹
Wellershoff kam diesem Versprechen offenbar nicht direkt nach, wie aus einem Brief Benns an Oelze vom 4. März 1953 hervorgeht.⁸⁰ Erst am 2. September 1953
Günther Müller (1890 – 1957) ist von beiden Betreuern vielleicht sogar der heute noch bekanntere.Vgl. Art. Müller, Günther, in: Internationales Germanistenlexikon 1800 – 1950, Bd. 2: H– Q, hg. v. Christoph König, Berlin und New York 2003, S. 1281– 1283. Müller prägte ausgehend von Goethe den Begriff der „morphologischen Poetik“, seine Arbeiten zur Narratologie gelten noch immer als Standardwerk. Vgl. Günther Müller: Morphologische Poetik. Gesammelte Aufsätze, hg. v. Elena Müller, Darmstadt 1968. Dazu Stephan Kraft: Der Barockroman als „toll gewordene Realencyklopädie“. Zu einem Diktum Eichendorffs und seiner Karriere, in: Enzyklopädisches Erzählen und vormoderne Romanpoetik (1400 – 1700), hg. v. Mathias Herweg, Johannes Klaus Kipf und Dirk Werle, Wiesbaden 2019, S. 77– 92, bes. S. 88 – 92. Literaturgeschichtlich bedeutsam ist nach wie vor seine „Geschichte des deutschen Liedes“ (München 1925). Nach Auskunft des Universitätsarchivs Bonn bleibt die Promotionsakte bis zehn Jahre nach dem Tod des Promovierten verschlossen, also bis 2028. Daher fehlen genauere Informationen zum Datum der Abgabe, zu Gutachten und Rigorosum. Mein herzlicher Dank geht an Herrn Thomas Becker vom Universitätsarchiv Bonn für diese Auskunft vom 27. September 2018. Dieter Wellershoff an Gottfried Benn, 3. März 1952, in: DLA, A:Benn, 86.9809,5. „Die Dissertation von Wellershoff habe ich leider auch nicht im Besitz, ich bat schon Herrn Niedermayer, sie sich doch zur Abschrift zu erbitten“ (BOe IV, 189).
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berichtet Benn: „Mir vor liegt die Doktorarbeit aus Bonn von dem Konkurrenten von L[ohner] [i. d. Wellershoff; J.R.]“ (BOe IV, 226). Nicht ohne Berechnung hatte Wellershoff ein halbes Jahr zuvor angefragt, ob Benn ihm bei der anstehenden Berufswahl und Stellenfindung unterstützen und ihn „irgendeinem Bekannten empfehlen“ würde; schon hier taucht die Idee auf, als „Verlagslektor“ zu arbeiten.⁸¹ Benn hatte sich daraufhin nicht mehr gemeldet; Wellershoff vermutet, die unumwundene Anfrage habe den Dichter „verstimmt“⁸² und rechtfertigt seinen Entschluss, nunmehr einen bürgerlichen Beruf zu ergreifen: „[S]ich durch Dienstleistungen materielle Güter zu verschaffen, das bedeutet doch nur, daß man der Banalität nicht gestattet, zum Problem zu werden.“⁸³ Dies bedeutet Abschied von der Universität, vom Leben in der „Bohème“.⁸⁴ Nachdem Benn offenbar zur Vermählung mit Maria von Thadden gratuliert hatte (nicht erhalten), berichtet ein sichtlich gelöster Dieter Wellershoff am 3. Juni 1952 von einem Vortrag, den er in Bad Godesberg über Benn gehalten hatte. Der Brief zeigt bereits den Abstand von Philologie und Literaturwissenschaft: Vergangenen Dienstag hielt ich in Bad Godesberg einen Vortrag über Sie, den ich im Manuskript beilege. Das ist nun etwas ganz anderes als meine Dissertation; einseitiger spekulativer, auch vager und gewagter. Aber es lockte mich, einmal auf anderen Wegen zu einer Begegnung mit Ihnen zu kommen. Auch jenseits der Belegbarkeit gibt es Wahrheit, oder vielmehr nur dort gibt es Wahrheit, während es in der Zone der Belege nur Richtigkeit gibt.⁸⁵
In der Anlage der Dissertation spiegeln sich diese zwei ‚Zonen‘ wider. Die Arbeit gliedert sich in zwei annähernd gleich umfangreiche Teile, die sich der
Dieter Wellershoff an Gottfried Benn, 2. Oktober 1951, in: DLA, A:Benn, 91.114.689/8. Im Rückblick auf diese Zeit schreibt Wellershoff: „Rolf Schroers, einer der Schriftsteller, die ich als Redakteur der Studentenzeitung kennengelernt hatte, war jetzt Lektor im Verlag Kiepenheuer & Witsch. Er wußte, daß ich über Benn promoviert hatte, und schlug mir vor, ein Buch über diesen Autor zu schreiben, der gerade gestorben war. Ich nahm mir vor, ein ideologiekritisches Buch zu schreiben, um Verstehen bemüht, doch ohne jede Huldigung, denn ich hatte mich innerlich schon weit von Benn entfernt. […] Also schrieb ich immer abwechselnd ein Kapitel des Buches und eine Rundfunksendung über irgendein anderes Thema. Abgesehen von der Anstrengung war das kein gutes Verfahren. Man kann es dem Buch noch ansehen, das viel zu viele Zitate hat, als wäre es wie ein Feature für verschiedene Sprecher geschrieben. Immerhin war das mein erstes Buch, und das heißt, daß man eine Schallmauer durchbrochen hat.“ Wellershoff: Die Arbeit des Lebens [Anm. 30], S. 226. Wellershoff an Benn, 3. März 1952 [Anm. 79], Bl. 1r. Wellershoff an Benn, 3. März 1952 [Anm. 79], Bl. 2r. Wellershoff an Benn, 3. März 1952 [Anm. 79], Bl. 1v. Dieter Wellershoff an Gottfried Benn, 3. Juni 1952, in: DLA, A:Benn, 91114.689/9.
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Dieter Wellershoff: Untersuchungen über Weltanschauung und Sprachstil Gottfried Benns, Diss. Bonn 1952, Titelblatt und Inhaltsverzeichnis
„Weltanschauung“ (Diss, 5 – 56) und dem „Sprachstil“ (Diss, 57– 119) widmen (vgl. Abb.). Angelegt war diese Polarität schon früh, wie die oben vorgestellten Briefe des Doktoranden belegen. Stil wird von Wellershoff als „personeigene Geformtheit der Sprache (bzw. des Mediums, dessen sich der jeweilige Künstler bedient)“⁸⁶, definiert. Er steht in einer Spannung zwischen „der Formstrenge und der Formauflösung, der Geschlossenheit und des Fragmentarischen, der Vollendung und des infinito“.⁸⁷ In der Einleitung begründet Wellershoff die dichotome Anlage seiner Arbeit konkreter: Die allgemeine philosophi[s]che Voraussetzung der Arbeit lautet: jeder Mensch hat notwendig eine bestimmte Weltanschauung. Damit ist ein erkenntniskritisches Urteil ausgesprochen, welches besagt: die Wirklichkeit ist uns nicht als ein unverrückbarer und überschaubarer Tatsachenbestand gegeben, sondern wir haben sie je schon in bestimmter, individuell verschiedener Weise ausgelegt. (Diss, 1)
Dieter Wellershoff an Gottfried Benn, 9. April 1951, in: DLA, A:Benn, 91.114.689,3. Wellershoff an Benn, 9. April 1951 [Anm. 86].
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Das Weltbild sei kaum von seiner sprachlichen Form zu trennen. „Die Weltanschauung übt also einen unmerklichen Zwang auf die Ausdrucksprägung aus, indem sie dem Schriftsteller von vorneherein ein bestimmtes Weltbild aufnötigt.“ (Diss, 2) Für diese notwendige Entsprechung von Stil und Weltanschauung zitiert Wellershoff Wolfgang Kaysers aktuelles Hauptwerk „Das sprachliche Kunstwerk“: „der Stil eines Werkes ist die einheitliche Perzeption, unter der eine dichterische Welt steht; die Formungskräfte sind die Kategorien bzw. Formen der Perzeption.“⁸⁸ Entsprechend soll untersucht werden, wie sich die Weltanschauung Gottfried Benns in seinem Sprachstil ausdrückt; die Weltanschauung soll als das den Sprachstil Prägende, der Sprachstil als das durch die Weltanschauung Geprägte verstanden werden (vgl. Diss, 3). Für den Begriff „Weltanschauung“ stützt sich Wellershoff auf die Arbeiten „Psychologie der Weltanschauungen“ von Karl Jaspers (1919) und Erich Rothackers „Logik und Systematik der Geisteswissenschaften“ (1927). Dabei wird weniger nach „Erbanlage und Lebensschicksal“ gefragt, als „geistesgeschichtliche Einflussforschung“ (Diss, 4), d. h. Ideengeschichte, betrieben. Weltanschauung ist für Wellershoff eine ahistorische Kategorie: „[d]ie Weltanschauung Benns ist im wesentlichen stets die gleiche geblieben“; von den „zeitlich bedingten Modifikationen“ (Diss, 6) ist keine Rede. Wellershoff verfährt in beiden Teilen typologisch. Im ersten Teil werden acht „Problemkreise“ (Diss, 6) abgeschritten, die Facetten von Benns Weltanschauung repräsentieren sollen. Bis auf einen Exkurs zu möglichen asiatischen Bezügen (Diss, 16 – 18) handelt es sich dabei durchgehend um geschichtsphilosophische bzw. -theologische Kategorien: „Sinnlosigkeit von Natur und Leben“ (Diss, 7– 10), „Geschichte als Naturprozess“ (Diss, 10 – 13), „Geschichte als Schauensfortschritt, Absage ans Handeln“ (Diss, 13 – 15), „Das Untergangsbewusstsein“ (Diss, 18 – 20), „Die Welt als Werdeprozess“ (Diss, 20 – 21), „Das Problem der Entwicklung“ (Diss, 21– 23), „Zusammenfassung“ (Diss, 23 – 24), „Nihilismus“ (Diss, 24– 28). Die existentialphilosophische Grundierung der Fragestellung ist unübersehbar. Immer wieder wird Heidegger in der Analyse als Gewährsmann beschworen. Die Arbeit stützt sich auf Benns Gesamtwerk bis 1951: „Fragmente“ und „Probleme der Lyrik“ sind die letzten erfassten Publikationen (vgl. Diss, 6). Wellershoff geht von einer „Grunderfahrung“ aus, die Benns Werk trage, die „Erfahrung der Zerbrechlichkeit und Nichtigkeit des physischen Daseins des Menschen“ (Diss, 7). Das ist, schon dem Begriff nach, eine Heidegger’sche Perspektive. Diese „Sinnlosigkeit“ manifestiere sich vor allem in den frühen „Morgue“-Gedichten und in den „Rönne“-Novellen, dauere aber bis zur Berliner No-
Kayser: Das sprachliche Kunstwerk [Anm. 34], S. 290.
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velle „Der Ptolemäer“ fort. Auffällig ist dabei, dass im Weltanschauungsteil zwar ausgiebig aus Benns Werken zitiert wird, diese Ausschnitte jedoch nicht stilkritisch analysiert werden – umgekehrt wird der stilkritische Teil kaum mit weltanschaulich-geistesgeschichtlichen Deutungen aufwarten. Stilkritik und Geistesgeschichte stehen als methodische Optionen fast bezugslos nebeneinander. Auf Figuren wie Friedrich Nietzsche, Oswald Spengler, Carl Gustav Jung, Max Scheler, Ludwig Klages, Theodor Lessing, Eckhard Unger oder Hans Driesch wird Wellershoff aufmerksam, weil Benn sie mehr oder weniger offen zitiert. Benn ist Gegenstand und Stichwortgeber seiner eigenen Erschließung. Wellershoff begründet mit seiner ideengeschichtlichen Spurensuche jene wissensgeschichtliche Benn-Forschung, die ihren Höhepunkt in Marcus Hahns großem Kompendium „Gottfried Benn und das Wissen der Moderne“ finden wird.⁸⁹ Ein notorisches Problem der Geistes- bzw. Ideengeschichte stellt sich auch Wellershoff: Die Frage nach Benns Kenntnis der jeweiligen Texte, der Nachweis ihres ‚Einflusses‘, der zumeist nur postuliert werden kann.⁹⁰ Eine eigene Entdeckung sind die „Parallelen zum Denken Asiens“ (Diss, 16 – 18), die Bezüge zu taoistischen und „indischen Gedankensysteme[n]“ (Diss, 17), die auf Spengler und Schopenhauer zurückweisen. Mit ihnen teile Benn „[d]ie Haltung des Nichtsmehr-machens und die Vertiefung in das reine Schauen“ (Diss, 16). Die zeitgemäße ‚Ohne mich‘-Attitüde erhält eine interkulturelle Genealogie. Insgesamt fehlt dem ersten geistesgeschichtlichen Hauptteil bei aller Aufarbeitung von Benns Quellen die Souveränität gegenüber dem Autor. Benns Ansichten, Meinungen und Haltungen werden in keiner Weise historisiert, kritisch kommentiert oder generalisiert. Sie sind und bleiben die Auffassungen eines Individuums im Einflussbereich bestimmter geistesgeschichtlicher ‚Trends‘, die allesamt letztlich auf Nietzsche zurückgehen – eine Genealogie, die Benn selbst in seinem Aufsatz „Nietzsche – nach 50 Jahren“ (1950) entworfen hatte. Wellershoff hat diese Tendenz zur Dekontextualisierung und Singularisierung des Autors mit zeitlichem Abstand durchaus selbst erkannt und weite Teile der geistesgeschichtlichen Untersuchung für sein Benn-Buch von 1958 reformuliert.Was stehen blieb, waren vor allem die ideen- und wissensgeschichtlichen Bezüge, z. B. der Einfluss Edgar Dacqués⁹¹ (vgl. Diss, 33 – 35). Auch C.G. Jungs Archetypenlehre mit ihrem inversen
Marcus Hahn: Gottfried Benn und das Wissen der Moderne, 2 Bde., Göttingen 2011. „Die Hauptwerke von Lessing und Klages erlangten grosse Popularität, und es darf mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass sie Benn bekannt wurden.“ (Diss, 19) Vgl. Wellershoff: Phänotyp dieser Stunde [Anm. 13], S. 100 – 110. Wellershoff bezieht sich in seinen Ausführungen auf Edgar Dacqué: Urwelt, Sage und Menschheit. Eine naturhistorischmetaphysische Studie, 2. Aufl., München 1924. Dass Benn sich tatsächlich „seit 1928 intensiv mit
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Platonismus (vgl. Diss, 36 – 38) wird in „Phänotyp dieser Stunde“ noch breiter diskutiert.⁹² Ohne Benn hätte sich ein westdeutscher Germanist im Jahre 1950 kaum mit Lévy-Bruhls „Denken der Naturvölker“ (dt. 1926) und seiner Idee einer „participation mystique“ beschäftigt (Diss, 39). Alle drei Oberkapitel des ersten Teils tragen den Begriff „Welt“ in sich: Auf „Die Zersetzung der geschichtlichen Welt“ (Diss, 7– 28) folgt „Die Erschließung der vorgeschichtlichen Welt“ (Diss, 29 – 43) und schließlich „Das Bekenntnis zur Ausdruckswelt“ (Diss, 44– 56). Damit zeichnet Wellershoff in knapper und überzeugender Weise Benns Autonomieästhetik als eine Geste der Negation und Destruktion (mit Benn: „Wirklichkeitszertrümmerung“ [SW IV, 79]). In der „Ausrufung [der Kunst; J.R.] zum anthropologischen Prinzip“ (SW IV, 195) wird Nietzsches ‚Artistenevangelium‘ mit den Thesen der philosophischen Anthropologie zusammengedacht.⁹³ Den Höhe- und Fluchtpunkt dieses Teils bildet unter dem Schlagwort „Die Philosophie der Subjektivität“ (Diss, 54– 56) die Existenzphilosophie. Das Gedicht „Ein Wort“ lässt Wellershoff vermuten, „[d]ass sich Benn mit Jaspers auseinandergesetzt […] hat“ (Diss, 55). Genaueres wird nicht gesagt. Am Ende des ersten Hauptabschnitts steht die Synthese von Benn und Heidegger. Benns Satz „Stil ist der Wahrheit überlegen, er trägt in sich den Beweis der Existenz“ (SW IV, 152) werde „in diesem Zusammenhang erst recht verständlich“, denn: „Stil ist die Aesserungsform [sic] der Existenz“ (Diss, 55). Benn konnte mit Heidegger wenig anfangen;⁹⁴ auf entsprechende Deutungsversuche Wellershoffs ist er nicht eingegangen. Doch Wellershoff steht mit seiner existenzphilosophischen Deutung nicht allein: Es war Max Bense, der in der Einleitung zum Band „Frühe Prosa und Reden“ (1950) zuerst auf Heidegger hingewiesen hatte.⁹⁵
Texten Dacqués auseinander[setzte]“, belegt auch die neuere Forschung. Vgl. Marcus Krause: Edgar Dacqué, in: Benn-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Christian M. Hanna und Friederike Reents, Stuttgart 2016, S. 48 – 49, hier: S. 48. Vgl. Wellershoff: Phänotyp dieser Stunde [Anm. 13], bes. S. 109 – 115. „Benns Weltanschauung ist, besonders in der geklärten und durchgeprägten Form, welche die nach 1937 entstandenen Schriften zeigen, mit diesen Gedanken Nietzsches so eng verwachsen, dass man ohne Schwierigkeiten jedem der hier zitierten Nietzsche-Worte einen ähnlich lautenden Satz Benns zur Seite stellen könnte.“ (Diss, 49) Über einen Heidegger-Aufsatz im „Merkur“ („Was heißt denken?“) schreibt Benn: „Heidegger zeigt den ganzen Nonsens und die ganze Genialität seiner Art auf diesen par [sic] Seiten. Eigentlich ist es inhaltlich viel Lärm um Nichts u. allein dieses Betonen u. Hinweisen auf dieses Nichts ist interessant“ (BOe IV, 136); vgl. zudem die Ausführungen bei Matthias Berning: „für mich offen gesagt ein monotones Wort- und Gedankengeriesel.“ Oelzes und Benns Heidegger-Rezeption, in: Benn Forum 6 (2018/2019), S. 97– 111. Vgl. Max Bense:Versuche über Prosa und Poesie. Zu Gottfried Benns frühen Publikationen, in: Gottfried Benn: Frühe Prosa und Reden, eingel. v. Max Bense,Wiesbaden 1950, S. 7– 46, hier: S. 44.
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5 Sprachstil und Personalstil Der zweite Teil der Dissertation widmet sich Benns Stil. Er beginnt mit methodischen Reflexionen, die auf der Erfahrung des ,Marbacher Fragments‘ und seiner brieflichen Diskussion mit Benn beruhen. Im Wortlaut ist von all dem allerdings praktisch nichts in die Dissertation eingegangen, mit einer im Folgenden zu benennenden Ausnahme. Die Schwierigkeit einer umfassenden Stilanalyse von Benns Gesamtwerk wird eingangs reflektiert; das anthologische Prinzip, das im Stilteil dominiert, wird durchaus als Problem erkannt. Die Herauslösung „charakteristische[r] Partien aus verschiedenen Schriften Benns“ würde nur „zu einer Reihe in sich abgeschlossener und unabhängig nebeneinander stehender Stilanalysen“ führen (Diss, 57). „[V]on Text zu Text würde man im wesentlichen immer wieder auf die gleichen Erscheinungen stossen und wäre zu dauernder Wiederholung gezwungen“ (Diss, 57) – ein Vorgehen, das die umfangreichen Beleglisten im ,Marbacher Fragment‘ motiviert hatte. Weiterhin blendet Wellershoff einen diachronen Ansatz aus; auch die zweite Lösung, „nach allgemeinen Problemkreisen“ vorzugehen, „denen jeweils das Gesamtwerk als Quelle zugrunde [liegt]“, wird verworfen (Diss, 57). Wellershoffs Stiltypologie unterscheidet sich deutlich von der des ,Marbacher Fragments‘. Es geht nicht mehr um eine kategorielle Bearbeitung des Stilpluralismus („musikalischer Stil“ etc.), sondern um die Tendenzen und Strategien, die hinter dem einen Personalstil wirksam scheinen („Vielhelligkeit und Montagekunst“, „Summarisches Ueberblicken“, „Skizzenhaftigkeit, Verdichtung, Surrealität“ usw.). Nicht immer sind die Kategorien trennscharf, manches wirkt unsicher oder gezwungen (exemplarisch: „Vielhelligkeit und Montagekunst“, Diss, 68 – 75). Benns Techniken sind nach 1945 so neu und ungewohnt, dass Wellershoff sie entschuldigend als „Folge einer mit Meisterschaft ausgeübten Technik“ (Diss, 69) und nicht als mangelnde Gestaltungskraft erklärt wissen will. Gerade die prosaischen Anteile, die montierten Wirklichkeitssplitter, faszinieren Wellershoff (vgl. Diss, 70): Sie stellen die Brücke zwischen neuer Sachlichkeit und neuem Realismus her. Dass gerade die Lyrik mit ihrer „Tendenz zum Homogenen“ (Diss, 73) solche Heterogenitäten aufweist, macht auch Wellershoff ein wenig zu schaffen. Die weltanschaulichen, belehrend-reflektierenden Dichtungen Benns, aber auch die Parlando-Lyrik des 1951 erschienenen Lyrikbandes „Fragmente“ werden ausgeblendet. Im Unterkapitel „Beziehungsreichtum“ (Diss, 76 – 82) findet sich der einzige Abschnitt, der aus dem ‚Marbacher Fragment‘ in die Dissertation selbst eingeht. Es handelt sich um die Analyse des Essays „Saison“, in der Wellershoff die beiläufige Wendung „nicht existent“ als Anspielung Benns auf Heidegger (über‐)interpretiert (vgl. Diss, 76). Wichtiger dürften an dieser Stelle jedoch
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die Hinweise auf Goethe-Bezüge sein (vgl. Diss, 81– 82), ein beliebter Habitus des späten Benn. Insgesamt ist Wellershoffs Urteil über die Allusions- und Assoziationskunst gespalten.⁹⁶ Den Faden der ,mikroskopischen‘ Stilanalyse à la Wilhelm Schneider bedient allein das Kapitel zu „Besonderung, Deutung durch Besonderung“ (Diss, 83 – 88), das sich der Trope der Synekdoche widmet, einer „Schlüsselformel für das Verständnis von Benns Sprachstil“ (Diss, 85). Wellershoff findet sie „fast ausschliesslich in Gedichten polemischer Natur“ (Diss, 87). Eine literarhistorische Kontextualisierung würde auf das Verfahren der Groteske und der Karikatur hinweisen, das auch die Malerei der Avantgarde kennzeichnet. Aber Wellershoff hütet sich konsequent vor solchen Generalisierungen: Benns Stil ist allein Benns Stil, kein Epochenstil. Dies gilt auch für Kapitel 5 „Summarisches Ueberblicken“ (Diss, 89 – 94; hierbei handelt es sich um eine von Benn geprägte Wendung aus dem „Roman des Phänotyp“ [vgl. SW IV, 405]). Letztlich läuft auch diese Kategorie wieder hinaus auf das „Assoziieren, das unter einer beherrschenden Allgemeinvorstellung den Charakter einer Aufzählung angenommen hat.“ (Diss, 93) Eines der umfangreichsten und fruchtbarsten Kapitel ist das zu „Skizzenhaftigkeit, Verdichtung, Surrealität“ (Diss, 95 – 103). Hier ist – in Anspielung auf Benns gleichnamiges Gedicht – „noch vom Satzbau die Rede“ (Diss, 95). Es geht um „Anakoluthie“ und „Aposiopese“ (Diss, 96), vor allem aber um den Redegestus der aufzählenden Worthäufung, den Wellershoff treffend als „Beschwörungsformel“ (Diss, 99) bezeichnet. Mit ihnen suche Benn einen „wegen seiner ungeheuren Mannigfaltigkeit im Grunde unfasslichen Erlebniskomplex zu bannen“ (Diss, 100). Das abschließende Analysekapitel widmet sich unter dem Schlagwort „Expressive Steigerung“ (Diss, 104– 111) noch einmal dem Expressionisten Benn: Er sei „der einzige bedeutende Dichter, auf den man heute diese Bezeichnung noch mit Recht anwenden kann.“ (Diss, 104) Das Kapitel schließt mit einer minutiösen Zusammenstellung zu Benns „Wortneubildung“ durch Komposita und Derivation (Diss, 109 – 111). Die langen Listen vermitteln noch einmal einen guten Eindruck von der philologischen Akribie, mit der Wellershoff die Schneider’sche Stilgrammatik umsetzt, um Benns Poetik zu erschließen. Immerhin erkennt er am Ende eine gewisse Entwicklung: Während die dargestellten Neubildungen in der frühen Lyrik dominierten, sei der Altersstil durch „ein allmähliches Massvollerwerden charakterisier[t]“, das sich „durch das Aelterwerden des Dichters“ erkläre (Diss, 111).
„Dass er dabei häufig das Wissen des Lesers rücksichtslos überfordert, ist ein Zeichen starker Ichzentriertheit.“ (Diss, 82)
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Die letzte Bemerkung spiegelt die Herausforderung, Befund und Deutung aufeinander zu beziehen. Das abschließende Kapitel „Der Sprachstil als Spiegel der Weltanschauung“ (Diss, 112– 119) muss sich ihr stellen. Wellershoff setzt bei der kommunikativen Funktion der Sprache an, die mit Karl Bühlers Sprachtheorie begründet wird. Benns Diktion sei dagegen ‚monologisch‘, ein „System von Chiffren, in denen der Autor in autistischer Abgeschlossenheit seine inneren Sensationen feiert.“ (Diss, 112) Der subjektive ‚Ausdruckswert‘ dominiert; das „Durcheinander der Gegenstände“ (Diss, 113) entspricht einem Weltbild, das statt Ordnung nur noch Chaos erblickt, ein Weltbild, das „vom späten Nietzsche geradezu Punkt für Punkt abhängig ist.“ (Diss, 114) Dennoch bleibt die Frage, wie sich Weltanschauung und Stil zueinander verhalten, am Ende in der Schwebe. Das Ziel, „die Weltanschauung als Ganzes allgemein zu charakterisieren und die dort festgestellten charakteristischen Merkmale auch in der Ganzheit des Sprachstils nachzuweisen“ (Diss, 116), scheitert daran, dass die Untersuchung auf Benn konzentriert bleibt. Dass Dichtung diesen „personeigenen Stil ihres Verfassers am ehesten in ganzer Reinheit“ spiegelt (Diss, 118), zeigt die Blindheit für historische und biographische Kontexte, wie sie die werkimmanente Methode mit sich bringt. Den Schritt vom Personal- zum Epochenstil oder zu unmittelbaren intertextuellen Beziehungen geht Wellershoff nicht. Am Ende wirkt Wellershoff nicht restlos überzeugt, ob sich die „strenge geisteswissenschaftliche und philologische Kleinarbeit unter dem Gesichtspunkt eines ganzheitlichen Verstehens der Persönlichkeit“ wirklich zusammenfassen lasse (Diss, 119). Die Skepsis gegenüber einer rein zergliedernden, philologischen Erschließung von Literatur schreibt sich so schon in die Dissertation ein.
6 Ausblick – Beleg und Wahrheit Was bleibt von Wellershoffs Erstlingswerk? Die Bonner Dissertation ist ein bedeutsamer Meilenstein – für Benn und die Benn-Forschung, für die intellektuelle Biographie des Verfassers und für die Germanistik nach 1945. Die Herausforderung, vor der der 26-jährige Absolvent stand, war erheblich. Gegenwartsautoren waren bis dahin Gegenstand der Literaturkritik, nicht der Literaturwissenschaft.⁹⁷ Im Fall Benn gab es so gut wie keine Präzedenz; Wellershoff musste einen eigenen Vgl. hierzu auch den Beitrag von Anna Axtner-Borsutzky in diesem Band. Es ist unwahrscheinlich, dass Wellershoff den 1951 erschienenen Essay-Band von Hans Egon Holthusen „Der unbehauste Mensch“ kannte, der sich in einem Aufsatz auch intensiv mit Benn beschäftigte (vgl. dazu den Beitrag von Daria Engelmann in diesem Band). Im Literaturverzeichnis der Dissertation findet sich der Name Holthusen nicht.
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Weg finden, die stilkritische Methode auf den neuartigen Gegenstand anzuwenden. Dieses Fehlen von Modellen erklärt auch die auffälligen Diskontinuitäten, die sich vom ,Marbacher Fragment‘ über die Dissertation bis zur „Phänotyp“Studie feststellen lassen. Es ist ein experimentierendes Vorantasten auf unerschlossenem Gelände. Jeder neue Schritt bedeutet Überwindung und Aufhebung des letzten. Daher werden von Stufe zu Stufe lediglich Textbausteine übernommen. Insbesondere zwischen Dissertation und „Phänotyp“-Studie gibt es, anders als häufig zu lesen, nur punktuelle Überschneidungen; sie betreffen vor allem den ideengeschichtlichen Teil. Dies erklärt auch, warum Wellershoff im Vorwort zur Buchausgabe gar nicht auf die Qualifikationsschrift hinweist. Innerhalb von acht Jahren durchläuft der Verfasser eine fachliche und emotionale Kurve von Faszination zu kritischer Distanz. Dabei wird die Stilkritik, die den Ausgangsimpuls bildete, immer weiter zurückgedrängt, bis sie in der Buchpublikation von 1958 ganz verschwunden ist. Schon in der Dissertation gelingt der Ausgleich zwischen den Komponenten Weltanschauung und Sprachstil, Geistesgeschichte und Philologie, nur bedingt. Wellershoff benennt das Problem, indem er auf den Gegensatz von „Beleg[ ]“ und „Wahrheit“⁹⁸ hinweist. So lässt er die Benn-Philologie hinter sich, die er doch so innovativ begründet hatte. Heute, im Zeichen von Wissens-, Kultur- und Diskursgeschichte, spielt der radikal philologische, stilkritische Ansatz keine Rolle mehr. Im Rückblick besticht er durch seine Unbestechlichkeit gegenüber Benn selbst. Vom gegenwärtigen Standpunkt aus fällt es immer noch schwer, sich von Benns notorischer Begriffspolitik („Montagekunst“, „Roboterstil“, „der hyperämische Stil“) zu lösen, wie schon der Blick auf die Überschriften des Stil-Kapitels im Benn-Handbuch zeigt.⁹⁹ Wellershoff ‚überrumpelte‘ Benn dagegen mit dem Sezierbesteck des Philologen; die Rede von der „Vivisektion“ drückt das Schmerzhafte dieser Analyse für den Analysierten aus. Philologie, die weh tat, weil sie dem Gegenstand mit dem kalten Blick zu Leibe rückte und in ihrer Technizität völlig respektlos war – disiecti membra poetae. Oelze artiktulierte dieses Unbehagen nach seiner Lektüre. Prägend für die Benn-Forschung wurde – vermittelt durch die „Phänotyp“Studie von 1958 – der geistes- und wissensgeschichtliche Ansatz. Auch hier bestand und besteht die Gefahr, dass der nachbetrachtende Literaturwissenschaftler Benns wissenschaftlichen Prätentionen und Nebelkerzen erliegt und das erkennt,
Vgl. den oben zitierten Brief Wellershoff an Benn, 3. Juni 1952 [Anm. 85]. Besonders die Kapitel zu „Schreibweisen und Techniken“ greifen Benns Selbstbeschreibungskategorien auf. Vgl. Benn-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Christian M. Hanna und Friederike Reents, Stuttgart 2016, S. VII; vgl. dazu zudem Jörg Robert: Rezension v. BennHandbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Christian M. Hanna und Friederike Reents, Stuttgart 2016, in: Benn Forum 6 (2018/2019), S. 223 – 227, hier: 226 – 227.
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was vom Autor ohnehin per name-dropping benannt wurde. Benn faszinierte nach 1945 – und fasziniert bis heute – als Vermittler versunkener Wissensbestände der Vor- bzw. Zwischenkriegszeit. Seine summarischen Streifzüge durch die Geistesgeschichte wurden zum Fundus für die bildungshungrige junge Generation, der Wellershoff angehörte. Eine Herausforderung blieb es, Benns Stellung zum NSStaat zu bewerten. Weder in der Dissertation noch im Briefwechsel wurde sie erwähnt. Erst Ende der 50er Jahre macht Wellershoff sie zum Thema. Die geistesgeschichtliche Annäherung bedeutete eine Horizonterweiterung gegenüber der stilkritischen Methode, vor allem gegenüber der Einfühlungsphilologie, die sich der Ebene der Nachprüfbarkeit entzog. Bemerkenswert ist, wie sich Benn auf die Germanistik einließ. Er war aber nicht nur Objekt der Stilkritik, sondern arbeitete den neuen Trend in seine späte Poetik ein. Autonomieästhetik, Formalismus und existentialistische Grundierung ermöglichten die neue Symbiose, die den Briefwechsel mit Literaturwissenschaftlern trug. Für knapp ein Jahrzehnt, bis zu Benns Tod, spielte man sich die Bälle zu, beschwieg dieselben Wunden, feierte den Kult der reinen Form, wie ihn die westeuropäische Moderne vorzugeben schien. Ein Buch wie Hugo Friedrichs „Struktur der modernen Lyrik“ (1956) schrieb diese ‚Westbindung‘ der Literatur und Literaturwissenschaft wirkungsreich fort. Dichter und Literaturwissenschaftler in der jungen Bundesrepublik arbeiteten Hand in Hand an einer ästhetischen Grammatik, die dem Motto folgte: „heute ist der Satzbau / das Primäre“ (SW I, 238).
Thomas Boyken (Oldenburg)
Pole im Feld der Nachkriegsliteratur. Popularität und Kontinuität am Beispiel Werner Bergengruens
Abstract: Der Beitrag geht von dem Befund aus, dass Gottfried Benn und Werner Bergengruen unterschiedliche Positionen im Feld der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur besetzen. In einem ersten Schritt wird am Beispiel der Laufbahn von Bergengruen das Wechselspiel aus eigenen Positionierungen mit den Einschätzungen von zeitgenössischen Literaturwissenschaftlern (Kunisch, Staiger) herausgearbeitet. In einem zweiten Schritt wird auf das ästhetische Profil von Bergengruens Texten eingegangen. So wird eine Spielart des konservativen Habitus rekonstruiert, die zwar Schnittmengen mit Benns Positionierungen besitzt, in wesentlichen Punkten aber davon abweicht.
1 Benn und Bergengruen Zwischen Gottfried Benn und Werner Bergengruen gibt es auf den ersten Blick nur wenige Berührungspunkte. Sie waren beide nach 1945 Autoren im Arche Verlag. Beide gehörten zu den ersten Mitgliedern der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.¹ Es ist weiterhin belegt, dass Benn eine von Bergengruen besorgte Übersetzung von Dostojewskis „Schuld und Sühne“ von 1929 besaß.² Zwischen Benn und Bergengruen gab es allerdings keinerlei Korrespondenz. Erwähnungen des jeweils anderen fehlen in überlieferten Texten, sowohl in poetologischen als auch in privaten. Es scheint sich um Autoren zu handeln, die sich in zwei unterschiedlichen Sphären bewegten, obwohl sie einer Generation angehörten und beide als konservative Autoren wahrgenommen wurden. Gemeinsam ist ihnen Bekanntheit und Höhe des Absatzes ihrer Bücher für die Zeit nach 1945. Benn und Bergengruen gehörten zu den erfolgreichsten Autoren der unmittelbaren Nachkriegszeit.³ Während Benn allerdings erst 1949 sein vielbeachtetes Comeback gelang, konnte Bergengruen ohne Einschränkungen direkt Vgl. Axel Schildt: Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik, 3. Aufl., Göttingen 2021, S. 247. Vgl. Jürgen Schröder: „Die Laus aus Mansfeld (Westprignitz)“. Gottfried Benn und Fjodor M. Dostojewski, in: JbDSG 55 (2011), S. 307– 323, hier: S. 308. Nach 1945 stieg die Auflagenzahl von Bergengruens Büchern auf mehrere Millionen. Vgl. Hans Bänziger: Werner Bergengruen. Weg und Werk, 4. Aufl., Bern, München 1983, S. 27. https://doi.org/10.1515/9783110729658-004
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nach 1945 publizieren.⁴ Mit dem Büchner-Preis von 1951 erhielt Benn „eine quasifeudale Position im literarischen Feld“.⁵ Aber auch Bergengruen wurde nach 1945 mit zahlreichen Literaturpreisen gewürdigt.⁶ Sowohl Benn als auch Bergengruen stehen für Kontinuitäten, die das literarische Feld zwischen 1945 und 1965 bestimmen. Allerdings markieren sie zwei Extrempole: Benn orientiert sich an einer Ästhetik, die poetologisch an der literarischen Moderne partizipiert und eine von der Gesellschaft entkoppelte Kunstautonomie propagiert. Hier ist natürlich seine Marburger Rede „Probleme der Lyrik“ (1951) zu nennen, die diese Positionierung als Avantgardist nachdrücklich belegt. Die Konzeption einer absoluten und monologischen Kunst ist für ihn eine Fortführung oder „Anverwandlung“ der literarischen Moderne.⁷ Benn geht in „Probleme der Lyrik“ von einem umfassenden „Verfall[ ] der Inhalte“ aus, der nur mithilfe der „Artistik“ aufgefangen werde könne. Gegen den „allgemeinen Nihilismus der Werte“ müsse man „einen neuen Stil“ setzen: „die Transzendenz der schöpferischen Lust.“⁸ Der Kunst komme nicht mehr die Aufgabe zu, so Benn, Sinn herzustellen, sondern die „entwerteten Werte“ im Ich, das „damit eine neue, eigene Wirklichkeit aufgrund schöpferischen Impulses begründet“,⁹ zu restituieren.
Vgl. Hugh Ridley: Gottfried Benn. Ein Schriftsteller zwischen Erneuerung und Reaktion, Opladen 1990, S. 196 – 202. Peter Geist: Zur literarischen Benn-Rezeption im Westen und Osten Deutschlands nach 1945, in: Benn-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Christian M. Hanna und Friederike Reents, Stuttgart 2016, S. 383 – 390, hier: S. 384. 1951 hat Bergengruen den Wilhelm-Raabe-Preis und 1962 den Schiller-Gedächtnispreis des Landes Baden-Württemberg erhalten. Er wurde 1958 Mitglied des Ordens Pour le mérite und bekam im selben Jahr die Ehrendoktorwürde der Ludwig-Maximilians-Universität München verliehen. Friedhelm Kröll: Anverwandlung der ‚klassischen Moderne‘, in: Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967, hg. v. Ludwig Fischer, München 1986, S. 244– 262. Vgl. auch Helmuth Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert, München 2004, S. 300 – 303. Fabian Lampart hat nachgezeichnet, dass Benns Lyrik in den 1950er Jahren immer stärker von dieser poetologischen Positionierung differiert. Vgl. Fabian Lampart: Nachkriegsmoderne. Transformationen der deutschsprachigen Lyrik 1945 – 1960, Berlin und Boston 2013, S. 116 – 118. Gottfried Benn: Sämtliche Werke, Bd. VI: Prosa 4, hg. v. Holger Hof, Stuttgart 2001, S. 14. Christian Schärf: Zeiten und Zonen: Geistes- und Zeitgeschichte, in: Benn-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Christian M. Hanna und Friederike Reents, Stuttgart 2016, S. 2– 20, hier: S. 10.Vgl. auch Helmut Lethen: Der Sound der Väter. Gottfried Benn und seine Zeit, 2. Aufl., Berlin 2006, S. 264– 267, und Tanja van Hoorn: Lyrische Leichen-Sichtungen, poetische Schädel-Dichtungen, in: ZfGerm 23 (2013), S. 63 – 78.
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Auch Bergengruen wird von den Zeitgenossen als Formalist erkannt, allerdings besetzt er eine andere Position: Schon Benno von Wiese stellt ihn in die Linie einer realistischen Prosa und betont, er sei „ein eher altmodischer, dem Erzählerstil des 19. Jahrhunderts verpflichteter, an Conrad Ferdinand Meyer erinnernder“ Autor.¹⁰ Seine Texte verweigerten keinen Sinn, sondern konstruierten ihn, zumeist mit christlich-metaphysischer Substanz. Die Komposition seiner Novellen und Romane lasse die Deutung zu, dass eine göttliche Schicksalsmacht die Figuren leite und sie gegebenenfalls für ihre Vergehen bestrafe.¹¹ Dabei orientieren sich seine Erzählungen an einer kriminalistisch-analytischen Struktur.¹² Die aus dieser Erzählstruktur resultierende „dramatische Spannung“, auf die von Wiese verweist, war möglicherweise ausschlaggebend für Bergengruens Erfolg nach 1945: „Gleich nach dem Kriege wurde Bergengruen wieder viel, aber anders gelesen. Er drang in die deutschen Schulen und Familien ein.“¹³ Dass Bergengruens Texte nach 1945 zu Schullektüren wurden und er zu den vielgelesenen Autoren der Nachkriegszeit gehörte, begründet von Wiese mit dem ‚überzeitlichen Gehalt‘ seiner Texte. Dies lässt sich besonders für seine Lyrik nachweisen, die auf eine christlich überformte Trost-Lektüre zielt.¹⁴ Nach den 1960er Jahren scheint diese Art von Literatur nur noch wenig anschlussfähig, weshalb Bergengruens Texte aus dem Kanon fallen.¹⁵ Auch in der Forschung hat sein Gesamtwerk einen zunehmend schweren Stand. So stellt Hermann Korte fest, dass Bergengruens Gedichte „heute längst verstaubt“ seien.¹⁶
Benno von Wiese: Gegen den Hitler in uns selbst. Über Werner Bergengruen: Der Großtyrann und das Gericht (1935), in: Romane von gestern – heute gelesen, Bd. 3: 1933 – 1945, hg. v. Marcel Reich-Ranicki, Frankfurt a. M. 1990, S. 61– 68, hier: S. 67. Vgl. von Wiese, Gegen den Hitler in uns selbst [Anm. 10], S. 67. Exemplarisch lässt sich dies an seiner Erzählung „Hände am Mast“ (1949) zeigen, die strukturelle Anleihen bei Annette von Droste-Hülshoffs Ballade „Vergeltung“ (1844) nimmt: Der Matrose Markiewicz kommt mit dem Schmugglerschiff, auf dem er angeheuert hat, in Seenot. Man erleidet Schiffbruch, wobei Markiewicz der einzige Überlebende des Unglücks ist. Zwei Geschwister finden und überreden ihn, die Ladung, die mit dem Wrack an den Strand gespült wurde, zu sichern und mit ihnen zu teilen. Im Laufe der Erzählung wird klar, dass Markiewicz nur überleben konnte, weil er einen anderen Matrosen, der sich am Mast festklammerte, ins Meer geworfen hat. Am Ende der Erzählung wird Markiewicz von dem Mast erschlagen. Vgl. Werner Bergengruen: Hände am Mast. Erzählung, Zürich 1949. Von Wiese: Gegen den Hitler in uns selbst [Anm. 10], S. 66 – 67. Vgl. Thomas Boyken und Nikolas Immer: Nachkriegslyrik. Poesie und Poetik zwischen 1945 und 1965, Tübingen 2020, S. 125. Vgl. Wilhelm Haefs: Werner Bergengruen, in: Deutsche Dichter. Leben und Werk deutschsprachiger Autoren. Vom Beginn bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, hg. v. Gunter E. Grimm, Stuttgart 1989, S. 403 – 411, hier: S. 404. Hermann Korte: Deutschsprachige Lyrik seit 1945, 2. Aufl., Stuttgart und Weimar 2004, S. 35.
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Sein Werk steht zudem unter Ideologieverdacht, da er sich in seiner literarischen Produktion nach 1945 nur unzureichend mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt oder ihn gar marginalisiert habe.¹⁷ In ästhetischer Hinsicht ist somit eine klare Opposition zwischen Benn und Bergengruen aufgemacht: Während Benn aus heutiger Sicht dem künstlerischavantgardistischen Pol der Nachkriegsliteratur zugeordnet wird, wird Bergengruens Texten jede literarische Innovativität und Originalität abgesprochen. Zugespitzt formuliert: hier Höhenkammliteratur (Benn), dort Unterhaltungs- und Trivialliteratur (Bergengruen).¹⁸ Im Folgenden stehen Bergengruens schriftstellerische Position und seine Positionierungen im literarischen Feld nach 1945 im Zentrum.¹⁹ Mir geht es darum, die Selbstpositionierungen, die wiederum in Wechselwirkung mit den Einschätzungen anderer Akteure des literarischen Feldes stehen, zu skizzieren. Zum einen wird sich zeigen, dass Benn und Bergengruen ähnliche Autorschaftskonzepte vertreten. Sie gehen beide davon aus, dass Kunst und Politik unterschiedlichen Sphären angehören.²⁰ Damit sind sie Repräsentanten einer Mehrheitsmeinung im literarischen Feld nach 1945, im Sinne Bourdieus sind sie also Vertreter der Orthodoxie. Gleichzeitig stilisieren sich beide als Außenseiter – freilich mit jeweils anderer Stoßrichtung.²¹ Zum anderen werde ich die spezifische ästhetisch-literarische Struktur der Bergengruen’schen Texte untersuchen. Dabei greife ich auf das Konzept realistischen Schreibens zurück, wie es Moritz Baßler vorgeschlagen hat, und zeige, dass seine Texte eben aufgrund dieses realistischen Profils ‚populär‘ werden und in die Schulen und die Familien diffundieren. Bergengruens Position im literarischen Feld nach 1945 ergibt sich aus dem Zusam Vgl. Rolf Georg Czapla: Flucht aus der Geschichte in die Geschichte(n). Strategien der Verdrängung nationalsozialistischer Vergangenheit in Werner Bergengruens „Römischem Erinnerungsbuch“, in: Die verewigte Stadt. Rom in der deutschsprachigen Literatur nach 1945, hg. v. dems. und Anna Fattori, Bern u. a. 2008, S. 33 – 58, hier: S. 56 Hermann Kortes Wertung von Bergengruens Gedichten geht in diese Richtung. Vgl. Korte: Deutschsprachige Lyrik seit 1945 [Anm. 16], S. 35 – 36. Methodisch orientiere ich mich an Bourdieus Feldtheorie.Vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, übersetzt v. Bernd Schwibs und Achim Russer, Frankfurt a. M. 2001. „Die Dichtung hat Impulse, aber keine Zwecke und keine Absichten weder ethische noch moralische, weder politische noch gar volksbildnerische.“ Werner Bergengruen: Antwort, in: Hermann Kunisch: Der andere Bergengruen. Rede von Prof. Dr. Hermann Kunisch gehalten anläßlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Ludwig-Maximilians-Universität München an Werner Bergengruen am 24. Juni 1958. Antwort von Werner Bergengruen, Zürich 1958, S. 35 – 54, hier: S. 49. Zu Benn als ‚Paria‘ vgl. Thomas Wegmann: Der Dichter als Paria. Zur Ästhetisierung einer Figur sozialer Exklusion, in: Benn Forum 6 (2018/2019), S. 19 – 32.
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menspiel von literaturkritischen und -wissenschaftlichen Einschätzungen und Bergengruens Selbstpositionierungen – insbesondere hinsichtlich seiner Haltung zum Nationalsozialismus. Obwohl Bergengruen zu den etablierten und erfolgreichen Autoren zwischen 1945 und 1965 zählt, nimmt er die Position des apolitischen Außenseiters ein, der sich in realistische Erzähltraditionen einschreibt.²² Ich werde zunächst auf Bergengruens Laufbahn in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus eingehen (2). Anhand exemplarischer Charakterisierungen durch einflussreiche Literaturwissenschaftler der frühen Nachkriegszeit, nämlich Emil Staiger und Hermann Kunisch, arbeite ich exemplarisch heraus, welche Position Bergengruen in zeitgenössischer Perspektive einnahm (3). Daran anschließend rücken die zentralen ästhetischen Merkmale seiner Texte in den Blick (4).
2 Bergengruens Laufbahn: Herkunft, Einstieg ins Feld und Position im Nationalsozialismus Bergengruen wurde 1892 als Sohn eines deutschbaltischen Arztes in Riga geboren. Seine Familie gehörte zur livländischen Oberschicht und war Teil der deutschen Minderheit. Im Zuge der seit 1880 immer vehementer durchgesetzten Russifizierung wurde Bergengruen zusammen mit seinem älteren Bruder Olaf 1903 ans Lübecker Katharineum geschickt, um dort in deutscher Sprache die Schulausbildung zu beenden. Die Eltern kamen erst einige Jahre später nach.²³ Die Familie zog 1908 nach Marburg um, wo Bergengruen 1910 sein Abitur ablegte. Im selben Jahr nahm er ein Studium der Theologie auf, das er jedoch zugunsten der Fächer Germanistik und Kunstgeschichte aufgab. Allerdings führte er auch dieses Studium nicht zu Ende. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs meldete er sich freiwillig zum Kriegsdienst. Sowohl sein älterer als auch sein jüngerer Bruder fielen an der Westfront. Bergengruen trat nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in die Baltische Landeswehr ein, noch vor deren Auflösung ging er zurück nach Deutschland und heiratete Charlotte Hensel.²⁴ Sie zogen nach Berlin, wo Bergengruen sein litera Vgl. Werner Bergengruen: Novelle und Gegenwart, in: Ders.: Mündlich gesprochen, Zürich 1963, S. 294– 313, hier: S. 310. Bergengruen selbst hat die frühe Trennung von den Eltern als „schwerste Verletzung“ seines bisherigen Lebens empfunden. Werner Bergengruen: Dichtergehäuse, ausgewählt und hg. v. Charlotte Bergengruen, Zürich 1966, S. 51. Charlotte Hensel stammt aus einem akademisch-musischen Milieu: Sie war die Tochter des Mathematikers Kurt Hensel, der 1901 auf einen Lehrstuhl der Universität Marburg berufen wurde. 1930 wurde er emeritiert und 1935, aufgrund seiner jüdischen Abstammung von der Großmutter
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risches Debüt gelang: Sein erster Roman „Das Gesetz des Atum“ wurde 1923 im Drei Masken Verlag veröffentlicht. Bis 1933 legte er sechs Romane und diverse Erzählungen und Novellen vor. Dazu kamen drei Gedichtbände. Insbesondere mit seinen Prosatexten, die meist in einem historischen Setting (Mittelalter oder der Renaissance) angesiedelt sind, hatte Bergengruen vor 1933 einen enormen Erfolg. Er gehörte zu den etablierten Schriftstellern der Weimarer Republik. Die Herkunftsmilieus von Bergengruen und Benn sind durchaus vergleichbar.²⁵ Lange Zeit wurden beiden Autoren auch der sogenannten ‚Inneren Emigration‘ zugerechnet.²⁶ Dass weder der Terminus ‚Innere Emigration‘ noch ein ‚Generationenstil‘ die Ähnlichkeiten und Ungleichheiten von Benn und Bergengruen fassen können, liegt auf der Hand. An beiden Dichtern lässt sich aber zeigen, wie „Bruch und Kontinuität“ zusammengedacht werden müssen.²⁷ Insbesondere die Kontinuitäten der Laufbahn von Bergengruen fallen ins Auge. Nach 1933 konnte er seine literarische Karriere bruchlos weiterführen. Neben dem bekannten Roman „Der Großtyrann und das Gericht“ (1935) wurden bis 1942 diverse Erzähl- und Gedichtbände publiziert.²⁸ Zweifellos schreiben sich die besonderen Kommunikationsbedingungen der Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die nach 1933 weiterhin in Deutschland publizierten, in seine Texte ein.²⁹ Retrospektiv spricht Bergengruen von einer „Geheimsprache jener Zeit“, die nur von wenigen Leserinnen und Lesern ver-
väterlicherseits (Fanny Hensel, die ältere Schwester von Felix Mendelssohn Bartholdy), in den Zwangsruhestand versetzt. Zu Benn vgl. Holger Hof: Gottfried Benn. Der Mann ohne Gedächtnis, Stuttgart 2011, S. 65. Wie Benn stammte Bergengruen aus einem spätfeudalen und eher agrarwirtschaftlich geprägten Milieu. Zur Schwierigkeit dieses Konzepts vgl. bereits Ralf Schnell: Literarische Innere Emigration. 1933 – 1945, Stuttgart 1976, und ders.: Dichtung in finsteren Zeiten. Deutsche Literatur und Faschismus, Reinbek bei Hamburg 1998. Auf einer Linie sind Benn und Bergengruen bei der Bewertung des Streits zwischen Thomas Mann, Walter von Molo und Frank Theodor Thiess. Vgl. Werner Bergengruen: Schriftstellerexistenz in der Diktatur. Aufzeichnungen und Reflexionen zu Politik, Geschichte und Kultur 1940 – 1963, hg. v. Frank-Lothar Kroll, N. Luise Hackelsberger und Sylvia Taschka, München 2005, S. 174– 175. Gregor Streim: Das Ende des Anthropozentrismus. Anthropologie und Geschichtskritik in der deutschen Literatur zwischen 1930 und 1950, Berlin und New York 2008, S. 6. Nach 1942 wurde Papier rigoros kontingentiert. Nicht kriegswichtige Publikationen haben i.d. R. keine Zuteilung erhalten.Vgl. Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, München 1991, S. 341. Vgl. Frank-Lothar Kroll: Werner Bergengruens Tagebuchaufzeichnungen zum „Dritten Reich“, in: Gerettet und zugleich von Scham verschlungen, hg. v. Michael Braun, Frankfurt a. M. u. a. 2007, S. 72– 88, hier: S. 73.
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standen wurde.³⁰ In seinen Romanen habe er mit der „Technik des indirekten Beschusses“ gearbeitet, um sich mit literarischen Mitteln dem NS-Staat zu entziehen.³¹ Dies ist, wie er selbst in seinen Notizen der Zeit von 1940 bis 1963 immer wieder betont, auch den Machthabern nicht entgangen. In einer politischen Beurteilung durch den NSDAP-Ortsgruppenleiter München-Solln vom 14. Juni 1940 heißt es: „Bergengruen dürfte politisch nicht zuverlässig sein.“³² Zwar ist er immer wieder durch Glück und diverse Zufälle ernsthaften Repressionen entgangen, doch stellt sich die Frage, warum es Bergengruen möglich war, so lange zu veröffentlichen. Wenn ich auf Bergengruens Position im nationalsozialistischen Literaturfeld eingehe, dann muss auf eine Schwierigkeit hingewiesen werden: Wie ich oben bereits angedeutet habe, hat Bergengruen seit 1940 recht umfangreiche Aufzeichnungen angefertigt. Hierbei handelt es sich weniger um Tagebuchnotate, als vielmehr um Erinnerungen und Gedanken zu bestimmten Themen oder Personen, die von Bergengruen mit fortlaufenden Nummern unter dem Titel „Compendium Bergengruenianum“ gesammelt wurden.³³ Bei diesen Notizen fällt auf, dass es sich häufig um Anekdoten und psychologische Skizzen von Personen handelt, die sich dem Nationalsozialismus zugewandt hatten, weil sie sich dadurch eine schnelle Karriere erhofften. Diese Persönlichkeitsstudien, die Bergengruen an Hans Grimm, Erwin Guido von Kolbenheyer oder Wilhelm von Scholz entwickelt, zielen immer wieder darauf, die Korrumpierbarkeit der beschriebenen Personen herauszustellen.³⁴ Gleichzeitig kann sich Bergengruen bei diesen Charakterisierungen selbst als ‚der Standhafte‘ stilisieren, als derjenige, der sich nicht verführen ließ, eben weil er die Obszönitäten des Nationalsozialismus erkennt. Dabei spricht Bergengruen oftmals über die Begegnungen, die er bewusst vermieden habe.³⁵ Diese anekdotenhaften Passagen, die möglicherweise mit Blick auf die
Werner Bergengruen: Schreibtischerinnerungen, Zürich 1961, S. 200. Bergengruen: Schreibtischerinnerungen [Anm. 30], S. 201. Hans Sarkowicz und Alf Mentzer: Literatur in Nazi-Deutschland. Ein biografisches Lexikon, Hamburg und Wien 2000, S. 90. Auszüge aus den insgesamt 29 Oktavheften und Notizbüchern, die im Deutschen Literaturarchiv Marbach aufbewahrt werden, wurden schon zu Lebzeiten im Essayband „Schreibtischerinnerungen“ (1961) veröffentlicht. Posthum wurden in „Dichtergehäuse“ (1966) weitere Auszüge publiziert. Frank-Lothar Kroll, N. Luise Hackelsberger (Bergengruens Tochter) und Sylvia Taschka haben eine weitere Auswahl, die sich auf die Zeit des Nationalsozialismus bezieht, zusammengestellt. Vgl. Bergengruen: Schriftstellerexistenz in der Diktatur [Anm. 25]. Vgl. Bergengruen: Schriftstellerexistenz in der Diktatur [Anm. 26], S. 142– 144 u. 148 – 160. So sei Bergengruen beispielsweise Ina Seidel, aber auch Kolbenheyer, der immerhin in seiner Nachbarschaft lebte, aus dem Weg gegangen. Vgl. Bergengruen: Schriftstellerexistenz in der Diktatur [Anm. 25], S. 126 – 139. Dass Seidel wiederum ihre nationalsozialistischen Verstrickungen
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(posthume) Publikation geschrieben wurden – worauf beispielsweise der Titel hindeutet –, wurden von Forschungsarbeiten zumeist affirmativ übernommen.³⁶ Dass dies mitunter problematisch sein könnte, möchte ich kurz an einem Beispiel zeigen. Davon unabhängig lassen sich die Notate des „Compendium Bergengruenianum“ durchaus als Ausdruck eines spezifischen, konservativen Habitus deuten.³⁷ In den wenigen Studien, die sich mit Bergengruens literarischem Werk befassen, wird immer wieder darauf hingewiesen, dass er 1937 aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen wurde.³⁸ Im Gegensatz zu Benn, dessen Ausschluss 1938 mit einem Publikationsverbot einherging, „konnte Bergengruen durch Sondergenehmigungen mit fast unverminderter Produktivität weiterpublizieren“.³⁹ Mutmaßlich erhielt er diese Publikationsmöglichkeiten, da er neben Carl Schmitt und Ernst Jünger einer der wichtigsten Hausautoren der Hanseatischen Verlagsanstalt war.⁴⁰ Der Verlag gehörte von 1935 bis zu seiner Auflösung 1943 zur Deutschen Arbeitsfront, womit er zum engsten Kreis nationalsozialistischer Propagandainstrumente zu rechnen ist.⁴¹ Bergengruen und Jünger waren wichtige Autoren, um dem Verlag eine „literarische Aura“ zu verleihen, was zu einer gewissen Ambivalenz der belletristischen Abteilung führte, wie Siegfried Lokatis gezeigt hat.⁴² Einerseits vertrieb man mit den Büchern von Jünger und Bergengruen Camouflage-Literatur.⁴³ Andererseits war man auch bei der Veröffentlichung von Weltkriegsromanen führend und publizierte „nationalsozialisti-
nicht geleugnet hat, hat Bergengruen Respekt abgenötigt.Vgl. Bergengruen: Schriftstellerexistenz in der Diktatur [Anm. 26], S. 203. Nach 1945 setzt sich Bergengruen für ihre Rehabilitation ein. Dies gilt u. a. für die Studien von Frank-Lothar Kroll, z. B. Kroll: Werner Bergengruens Tagebuchaufzeichnungen zum „Dritten Reich“ [Anm. 29], S. 77– 83. Mit Habitus bezeichnet Bourdieu die spezifischen Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster als eine inkorporierte Struktur, die das Handeln lenkt. Es handelt sich um einen komplementären Begriff zu Feld, der für die Akteursebene steht. Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst [Anm. 19], S. 360 – 365. Eigentlich kommt kaum ein Beitrag über Bergengruen ohne diesen Hinweis aus. Vgl. exemplarisch Haefs: Werner Bergengruen [Anm. 15], S. 403 – 411, oder Frank-Lothar Kroll: Das Deutschlandbild Werner Bergengruens im Spiegel seiner Tagebücher, in: Literarische und politische Deutschlandkonzepte 1938 – 1949, hg. v. Gunther Nickel, Göttingen 2004, S. 187– 210. Haefs: Werner Bergengruen [Anm. 15], S. 404. Dies vermutet beispielsweise Kroll: Werner Bergengruens Tagebuchaufzeichnungen zum Dritten Reich [Anm. 29], S. 7. Vgl. Siegfried Lokatis: Hanseatische Verlagsanstalt. Politisches Buchmarketing im „Dritten Reich“, Frankfurt a. M. 1992, S. 4. Lokatis: Hanseatische Verlagsanstalt [Anm. 41], S. 89. Vgl. Heinrich Detering: Art. „Camouflage“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1: A–G, hg. v. Klaus Weimar u. a., Berlin und New York 1997, S. 292– 293.
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sche Kultbücher“.⁴⁴ Insofern zielte der Verlag eigentlich auf zwei Märkte, nämlich auf ein eher ‚unpolitisches‘ bürgerliches Publikum und auf ein Massenpublikum, das ideologisch indoktriniert werden sollte.⁴⁵ Es ist durchaus möglich, dass die Hanseatische Verlagsanstalt für ihre Autoren, die einen großen Absatz in bestimmten Leserschichten versprachen, Sondergenehmigungen erwirkt hat. Schließlich unterhielt der Verlag zu den Leitern der Sicherheitsbehörden sehr gute Beziehungen.⁴⁶ Allerdings macht ein Brief des Verlegers Henry Goverts stutzig. Goverts, der gemeinsam mit Eugen Claassen in Hamburg 1934 den H. Goverts Verlag gründete, wollte ein Buch von Dolf Sternberger veröffentlichen. Tatsächlich erschien Sternbergers „Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert“ 1938 bei Goverts und Claassen, ohne dass der Autor Mitglied der Reichsschrifttumskammer war oder eine Sondergenehmigung besaß.⁴⁷ Im Rahmen der Briefkorrespondenz zwischen Goverts und Sternberger bemerkt der Verleger am 3. Juni 1937, als es um die Frage der Mitgliedschaft in der Reichsschrifttumskammer geht: Künstler und Schriftsteller mit jüdischen und nichtarischen Frauen wie Bergengruen, Kredel, Nossack, die bereits auf Grund dieser Tatsache aus der Kammer ausgeschlossen waren, sind jetzt kürzlich wieder Mitglieder geworden. […] Von Bergengruen erscheint, wie ich nur erwähnen möchte, im Herbst ein neuer Roman in 50 000 Auflage bei der Hanseatischen Verlagsanstalt, also ganz große Aufmachung und Propagierung.⁴⁸
Ohne klären zu können, ob Goverts hier eine falsche Einschätzung gibt oder ob Bergengruen seine schriftstellerische Situation mit dem Hinweis auf „eine jederzeit widerrufliche Sondergenehmigung“ ‚beschönigt‘, wäre grundlegend zu prüfen, inwieweit die Selbstaussagen, die Bergengruen in seinem „Compendium Bergengruenianum“ gibt, verlässlich sind.⁴⁹ Dass Bergengruens ‚Sondergenehmigungen‘ nicht an Veröffentlichungen in der Hanseatischen Verlagsanstalt ge-
Lokatis: Hanseatische Verlagsanstalt [Anm. 41], S. 91. Lokatis: Hanseatische Verlagsanstalt [Anm. 41], S. 98. Vgl. Lokatis: Hanseatische Verlagsanstalt [Anm. 41], S. 96. Ausführlicher dazu Anne-M. Wallrath-Janssen: Der Verlag H. Goverts im Dritten Reich. München 2007, S. 144– 148. Die Briefpassage wird zit. n. Wallrath-Janssen: Der Verlag H. Goverts im Dritten Reich [Anm. 45], S. 146. Bergengruen: Schriftstellerexistenz in der Diktatur [Anm. 26], S. 72. – Wenn ich es richtig überblicke, wird in keiner Studie eine Quelle dafür angegeben, dass Bergengruen mit Sondergenehmigungen publizieren durfte. Als bislang einziger Nachweis für diese These liegt mir diese Selbstaussage Bergengruens vor.
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bunden waren, belegt seine Biographie über E.T.A. Hoffmann, die 1939 bei Cotta in der Reihe „Die Dichter der Deutschen“ erschien.⁵⁰ Entscheidend ist an dieser Stelle, dass sich Bergengruen mit seinem „Compendium Bergengruenianum“ als konservativer, dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüberstehender Schriftsteller positioniert. So kann er sich, obwohl er im Mainstream des literarischen Feldes steht, als Außenseiter darstellen. Dieser Außenseiterstatus ist für Bergengruens Autorschaftskonzept auch für die Zeit nach 1945 leitend. So knüpft er in einer Selbstcharakterisierung, die in einer Festschrift für Hermann Kunisch 1961 veröffentlicht wurde, an diesen Topos an.⁵¹ Diese Selbstcharakterisierung gibt ebenfalls Aufschluss über den Habitus. ‚Ambivalenz‘ und ‚Widersprüchlichkeit‘ würden ihn auszeichnen: „Dennoch bin ich gewiß kein ‚Mann aus einem Guß‘“.⁵² Es läge nahe, hier an das Konzept des ‚unbehausten Menschen‘ zu denken, das Hans Egon Holthusen vertreten hat.⁵³ Holthusens Krisendiagnostik erkennt die Modernität des Menschen darin, dass er „seltsam wirklichkeitslos, ortlos, ohne Griffsicherheit des Gefühls, in einer tiefen Krise der weltschaffenden Einbildungskraft“ lebe.⁵⁴ Bergengruen hat allerdings ein anderes Format im Blick. Es geht ihm nicht um die ‚Zerrissenheit‘ des modernen Menschen, obwohl ein solches Konzept zeitgenössisch anschlussfähig wäre. Bergengruen fokussiert vielmehr die allgemeine Seelenlage des christlichen Menschen, weswegen er eine moderne Auffassung von ‚Zerrissenheit‘ ablehnt: Wiederum möchte ich mich nicht als einen Zerrissenen bezeichnen, wiewohl ich weiß, daß ich mit dem Verzicht auf diesen Namen mich allen Anspruchs auf eine Zugehörigkeit zur Kategorie des Interessanten und Pittoresken begebe. Sondern was hier vorliegt, das ist die jedem Menschen auferlegte und zustehende Teilhaberschaft an der Doppelfaltigkeit der Welt, von der mich auszuschließen ich weder vermag noch wünsche.⁵⁵
Vgl.Werner Bergengruen: E.T.A. Hoffmann, Stuttgart 1939. – Bei den „Dichtern der Deutschen“ handelt es sich eigentlich um ein NS-ideologisch gefärbtes Leseprogramm (E.T.A. Hoffmann fällt deutlich aus der Reihe der vorgestellten Dichter). Möglicherweise wurden die Bände auch ins Ausland (Schweiz und Schweden) vertrieben. Dieser Markt war mit Blick auf Devisen wirtschaftlich höchst attraktiv.Vgl.Wallrath-Janssen: Der Verlag H. Goverts im Dritten Reich [Anm. 47], S. 317– 339. Vgl. Werner Bergengruen: Bündige Selbstdarstellung, in: Unterscheidung und Bewahrung. Festschrift für Hermann Kunisch zum 60. Geburtstag, hg v. Klaus Lazarowicz und Wolfgang Kron, Berlin (West) 1961, S. 12– 15. Bergengruen: Bündige Selbstdarstellung [Anm. 51], S. 14. Vgl. Lampart: Nachkriegsmoderne [Anm. 7], S. 35. Hans Egon Holthusen: Die Bewußtseinslage der modernen Literatur, in: Ders.: Der unbehauste Mensch. Motive und Probleme der modernen Literatur, München 1951, S. 7– 39, hier: S. 13. Bergengruen: Bündige Selbstdarstellung [Anm. 51], S. 14.
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Bergengruen fühlt sich nicht als ‚unbehauster Mensch‘ im Sinne Holthusens. Vielmehr empfindet er eine ständige „Polarität“, die sich, wie er betont, in einem christlichen Jenseits irgendwann aufhebe.⁵⁶ Als Grundlage von Bergengruens Positionierung im literarischen Feld nach 1945 lassen sich damit drei wesentliche Charakteristika benennen: Er stilisiert sich als doppelten Außenseiter (1), indem er sich gegen die Literatur der Moderne stellt und stattdessen eine literarische Tradition vertritt, die eine christlich-religiöse Werte- und Weltvorstellung propagiert (2). Daraus resultiert Bergengruens apolitische Haltung, sowohl gegenüber dem NS-Staat als auch gegenüber der Bundesrepublik Deutschland (3).
3 Bergengruens Position im literarischen Feld nach 1945 (Kunisch und Staiger) Dass Bergengruen mit seinem Autorenprofil ins Zentrum des literarischen Feldes nach 1945 vorstoßen konnte, sieht man an den kulturellen und sozialen Kapitalien. 1958 erhält er die Ehrendoktorwürde der Philologischen Fakultät der Ludwig‐Maximilians-Universität München, initiiert von Hermann Kunisch, der seit 1955 eine Professur für Neuere Deutsche Literatur in München innehatte.⁵⁷ In seiner Rede anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde, die 1958 in Bergengruens Schweizer ‚Hausverlag‘ Arche veröffentlicht wurde, unternimmt Kunisch ein gewagtes Unterfangen.⁵⁸ Zwar stellt er Bergengruen als christlich-konservativen Schriftsteller vor, doch will er eigentlich den „anderen, modernen Bergengruen“ zeigen.⁵⁹ Kunisch bezieht sich hier dezidiert auf die ersten Jahre
Bergengruen: Bündige Selbstdarstellung [Anm. 51], S. 14. Kunisch wurde 1928 in Münster promoviert. Danach ging er in den Schuldienst, wurde aber 1935 beurlaubt, um am Grimm’schen Wörterbuch zu arbeiten. 1946 hat er sich habilitiert und wurde 1947 Professor für Germanische Philologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. 1948 wechselt er an die Freie Universität Berlin und erhielt 1955 den Ruf an die Ludwig-MaximiliansUniversität München, wo er bis zu seiner Emeritierung 1969 lehrte. Vgl. Christa Hempel-Küter: Germanistik zwischen 1925 und 1955. Studien zur Welt der Wissenschaft am Beispiel von Hans Pyritz, Berlin 2000, S. 296. Zu diesen konservativen Netzwerken zwischen deutschen Autoren und Verlegern sowie Schweizer Journalisten und Verlegern vgl. Wallrath-Janssen: Der Verlag H. Goverts im Dritten Reich [Anm. 47], S. 317– 339. Hermann Kunisch: Ansprache bei der feierlichen Verleihung des Ehrendoktors der Philosophischen Fakultät der Universität München an Werner Bergengruen am 24.VI.1958, in: Ders.: Der andere Bergengruen. Rede von Prof. Dr. Hermann Kunisch gehalten anläßlich der Verleihung der
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nach 1945.⁶⁰ Dabei wendet er sich gegen das zeitgenössisch vorherrschende Verständnis moderner Literatur, indem ein auf Abstraktion setzendes ästhetisches Programm abgelehnt wird: Es gibt einen Anspruch einer Moderne, der mit verhärteter Unduldsamkeit alle Äußerungsformen aus seinem Geltungsbereich ausschließen und damit entwerten möchte, die nicht eine bestimmte, in der Auflösung von Dinglichen sich bekundende Erscheinung haben.⁶¹
Für Kunisch sei Bergengruen dennoch ein ‚moderner‘ Autor, allerdings in einem anderen Sinn: Wer sich aber von der Faszination, die seit Jahrhunderten von dem Wort modern ausgeht, die aber kaum je so groß war wie heute, befreien kann, der vermag auch in einer Gestalt und einem Werk, wie dem Bergengruens das heute Mögliche, Notwendige und Fruchtbare zu erkennen.⁶²
Zweifellos geht es Kunisch hier um eine Abwertung der literarischen Moderne gegenüber einer klassisch-realistischen Literatur. Er vertritt hingegen einen Modernebegriff, der weniger auf die ästhetische Faktur, sondern auf Aktualität oder Zeitbezogenheit rekurriert. Im Angesicht existenzieller Not, so argumentiert er, bräuchten Leserinnen und Leser Halt und Trost. Dies offerierten seine Texte, weil sie nicht nur „des Menschen Unvollkommenheit“, sondern das „im Christlichen wurzelnde Paradox, daß der Mensch ganz werde, wenn er seine Unvollkommenheit annimmt und austrägt“, ausstellten.⁶³ Dass Bergengruen damit als (ästhetischer) Außenseiter erscheint, ist nur folgerichtig: Die Modernität seiner Texte liegt paradoxerweise, so Kunisch, in ihrer Rückwärtsbezogenheit und Überzeitlichkeit – ein Argumentationsmodell, das Bergengruen bereitwillig aufnimmt, wie seine Selbstcharakteristik von 1961 zeigt. An Bergengruens Positionierung im literarischen Feld nach 1945 hat auch Emil Staiger maßgeblich Anteil. Schon kurz nach seiner Habilitation hatte sich der Schweizer Literaturwissenschaftler mit Bergengruens Texten befasst. In der
Ehrendoktorwürde der Ludwig-Maximilians-Universität München an Werner Bergengruen am 24. Juni 1958. Antwort von Werner Bergengruen, Zürich 1958, S. 9 – 33, hier: S. 32. Vgl. Kunisch: Ansprache [Anm. 59], S. 10. Kunisch: Ansprache [Anm. 59], S. 10. Kunisch: Ansprache [Anm. 59], S. 10 – 11. Kunisch: Ansprache [Anm. 59], S. 13.
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„Neuen Zürcher Zeitung“ wurden einige Rezensionen publiziert.⁶⁴ Bei der Beerdigung Bergengruens am 7. September 1964 hielt er die Grabrede, die in der posthumen Publikation „Dichtergehäuse“ im Arche Verlag, mit dessen Verleger Staiger engen Kontakt pflegte, als Nachwort abgedruckt wurde.⁶⁵ In seiner Grabrede würdigt Staiger zunächst die Schaffenskraft des Autors, um dann auf dessen Außenseiterposition einzugehen, indem er seine ‚Treue‘ und seinen ‚schweren Dienst‘ an der Kunst hervorstreicht. Das Werk sei „nicht vom Geist der Zeit begünstigt“. Vielmehr mussten sich seine Texte „gegen den Zeitgeist durch[ ] setzen.“⁶⁶ Staiger erkennt in Bergengruen ebenfalls einen Außenseiter, einen ‚aus der Zeit gefallenen Autor‘, der sich, so Staiger, stets „abseits gehalten“.⁶⁷ Dies leitet er ab aus dessen Orientierung an literarischen Traditionen, die zu den modernen Entwicklungen quer stünden: In einer Epoche, die an der Befugnis, klar zu erzählen, zu zweifeln begann, […] hub Bergengruen mit elementarer Kraft zu fabulieren an in seiner gediegenen, männlichen stets um die Sache bemühten Prosa, fand er im Arsenal der Geschichte oder erfand er die symbolischen Ereignisse seiner Novellen und hielt er die epische Fülle seiner Romane in wohlerwogenen und verbindlichen Riesengefügen zusammen.⁶⁸
Seine Prosasprache sei „geschmeidig[ ]“ und „immer auf den Leser bedacht[ ]“, womit Staiger die gute und einfache Lesbarkeit der Texte hervorhebt.⁶⁹ Sie verstellten das Verstehen nicht, sondern ermöglichten einen direkten Zugriff auf die erzählte Geschichte. Dass Bergengruen dabei ein Vielschreiber war – „Werk an Werk“ fügt sich „in kaum übersehbarer Reihe“ –, wird von Staiger nicht als problematisch erachtet.⁷⁰
Vgl. z. B. Emil Staiger: „Die verborgene Frucht“ von Werner Bergengruen, in: Neue Zürcher Zeitung vom 3. Juni 1938, oder Emil Staiger: „Am Himmel wie auf Erden“ von Werner Bergengruen, in: Neue Zürcher Zeitung vom 24. November 1940. Zu Emil Staiger vgl. Klaus Weimar: Literaturwissenschaftliche Konzeption und politisches Engagement. Eine Fallstudie über Emil Ermatinger und Emil Staiger, in: Literaturwissenschaft und Nationalsozialismus, hg. v. Holger Dainat und Lutz Danneberg, Tübingen 2003, S. 271– 286, hier: S. 281– 284. Emil Staiger: Nachwort. Text der Grabrede, gehalten bei der Beerdigung Werner Bergengruens am 7. September 1964 in Baden-Baden, in: Werner Bergengruen: Dichtergehäuse. Ausgewählt und hg. v. Charlotte Bergengruen, Zürich 1966, S. 425 – 432, hier: S. 425. Staiger: Nachwort [Anm. 66], S. 426. Staiger: Nachwort [Anm. 66], S. 425. Staiger: Nachwort [Anm. 66], S. 431. Staiger: Nachwort [Anm. 66], S. 425.
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Mit Blick auf die Lyrik hebt Staiger – wie schon Kunisch – die Trostfunktion hervor.⁷¹ Er greift dabei die Diskussion um Bergengruens Band „Die heile Welt“ (1950) auf. Diese Gedichte transportieren, so Staiger, eine christliche Ethik, die auf eine Aussöhnung und Zusammenführung des Menschlichen mit dem Göttlichen ziele. Nicht die Trauer um den Verlust stünde im Zentrum, sondern der hoffnungsvolle Blick auf die Welt. Damit wendet sich Staiger gegen Theodor W. Adorno, der gerade diesen Gedichtband Bergengruens massiv kritisierte.⁷² In Bergengruens Lyrik manifestiert sich für Adorno eine „Seinsgläubigkeit“, die angesichts der Shoah entsetzlich sei.⁷³ Es dürfte auf der Hand liegen, dass sich Bergengruen mit dieser Art von Lyrik an eine bestimmte Leserschaft richtete: Die Gedichte adressieren diejenigen der deutschen Nachkriegsgesellschaft, die im NSStaat lebten – wie auch immer, in Distanz oder auch nicht – und die nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes nach Orientierung suchten. Bergengruen bringt dies selbst auf den Punkt, indem er seine persönliche Lage als exemplarische Situation der Deutschen stilisiert: Je tiefer ich in die Welt der Bedrohten und Fürchtenden eintauchte und je unverkennbarer die Zeit um mich herum die Merkmale eines Furchtzeitalters annahm, um so deutlicher wurde mir, daß das in dieser Zeit gesprochene Wort ein Wort des Trostes, der Aufrichtung, der Absage an die Furcht zu sein hatte.⁷⁴
Für Adorno musste diese Trost-Poetik zynisch klingen, wobei er mit seiner Haltung nicht alleinstand. Auch Max Frisch stellte in einer Rezension zu Bergengruens Gedicht „Die Völker der Erde“ aus dem Band „Dies irae“ (1945) die vielsagende Frage: „Geht das an?“ Frisch störte sich, wie zweifellos auch Adorno, an dem „Verhältnis zwischen Wort und Standort“ des Sprechenden.⁷⁵ Schon im Blick mancher Zeitgenossen ist damit Bergengruens Sprech-Lizenz begrenzt.⁷⁶ Der Kunisch schließt seine Rede mit: „Wir danken mit dieser Ehrung für ein Werk, in dem Trost angeboten ist, da es verweist auf die Möglichkeit und Verheißung des Heilwerdens“ (Kunisch: Ansprache [Anm. 59], S. 33). Vgl. auch Boyken und Immer: Nachkriegslyrik [Anm. 14], S. 125. Vgl. Theodor W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit, Frankfurt a. M. 1971, S. 23 – 24: „Der Band von Bergengruen ist nur ein paar Jahre jünger als die Zeit, da man Juden, die man nicht gründlich genug vergast hatte, lebend ins Feuer warf, wo sie das Bewußtsein wiederfanden und schrien. Der Dichter, dem man bestimmt keinen billigen Optimismus nachsagen könnte, […] vernahm[ ] nichts als Lobgesang.“ W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit [Anm. 72], S. 24. Bergengruen: Schreibtischerinnerungen [Anm. 30], S. 129. Max Frisch: Stimmen eines anderen Deutschland? Zu den Zeugnissen von Wiechert und Bergengruen, in: Ders.: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge, Bd. II, 1, hg. v. Hans Mayer, Frankfurt a. M. 1976, S. 297– 311, hier: S. 308 – 309. Boyken und Immer: Nachkriegslyrik [Anm. 14], S. 120.
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Trost, in einem christlichen Glaubensgebäude aufgehoben zu sein, wurde jedenfalls von Adorno mit Nachdruck als Leerformel abgewiesen.⁷⁷ Gegen diese Lesart versuchte Staiger den Verstorbenen zu verteidigen. Für Bergengruen sei Literatur eine ernsthafte Angelegenheit, die man auch nicht als bloßes Epigonentum abtun dürfe: „Dies alles ist kein artistisches Spiel und soll auch keineswegs als literarische Patina aufgefaßt werden.“⁷⁸ Es dürfte naheliegen, dass der Verweis auf das ‚artistische Spiel‘ aus dem Munde eines führenden Literaturwissenschaftlers der Nachkriegszeit als Opposition zu einer modernen, allemal der aktuellen Literatur zu deuten ist, die überdies von Staiger qualitativ abgewertet wird. In seiner Grabrede auf Bergengruen deuten sich damit bereits die Demarkationslinien an, die zum Zürcher Literaturstreit geführt haben.
4 Bergengruens Ästhetik: Literarische Positionierungen nach 1945 Sowohl in den zeitgenössischen Einschätzungen von Hermann Kunisch als auch in denen von Emil Staiger wird Bergengruens Ästhetik als Fortführung realistischer Poetik eingeordnet. Seine Außenseiterposition resultiert aus dieser ästhetischen Rückwärtsgewandtheit. In Bergengruens Texten fehlen die Signaturen der Moderne.⁷⁹ Sie etablieren ein vormodernes Setting, das ohne Hinweise auf industrielle oder technische Entwicklungen auskommt. Stattdessen werden sie, so Hermann Korte mit leicht spöttischem Unterton, „vom Lauf der Gezeiten, von den vier Elementen, den hoch oben kreisenden Planetenbahnen und vom überreichen Mikrokosmos unter Haselstrauch, Hecke und Mondschein bestimmt.“⁸⁰
Insofern erklärt sich Adornos bekanntes Diktum, dass es „barbarisch“ sei, „nach Ausschwitz ein Gedicht zu schreiben“, eigentlich nur aus dem Erfolg, den Dichter wie Bergengruen nach 1945 hatten. Vgl. Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft, in: Ders.: Gesammelte Schriften in zwanzig Bänden, Bd. 10/1: Kulturkritik und Gesellschaft I: Prismen; Ohne Leitbild, hg. v. Rolf Tiedemann, 6. Aufl., Frankfurt a. M. 2003, S. 11– 30, hier: S. 30. Staiger: Nachwort [Anm. 66], S. 429. Es gibt wenige Ausnahmen. Zu nennen wäre der ‚Roman‘ „Titulus“. Dieser späte Text operiert mit metaleptischen und metafiktionalen Verfahren. Mit seinem Untertitel, der an frühneuzeitliche Prosaromane erinnert, mutet der ‚Roman‘ schon beinahe postmodern an. In 38 Kapiteln wird eine Typologie von Buchtiteln entworfen. In weiten Teilen ergeht sich der Text in Listen. Vgl. Werner Bergengruen: Titulus. Das ist: Miszellen, Kollektaneen und Fragmentarische, mit gelegentlichen Irrtümern durchsetzte Gedanken zur Naturgeschichte des deutschen Buchtitels oder unbetitelter Liebesroman eines Bibliotheksbeamten, Zürich 1960. Korte: Deutschsprachige Lyrik seit 1945 [Anm. 16], S. 35.
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In ästhetischer Hinsicht sind Benn und Bergengruen Gegensätze. Diese Polarität lässt sich anschaulich an den Prosatexten herausarbeiten. Bergengruen orientiert sich an einem realistischen Erzählen im Sinne von Moritz Baßler.⁸¹ Insofern zielen seine Romane, Erzählungen und Novellen auf eine Lektüre, die nicht die literarische Gemachtheit herausstellt, sondern direkt auf die Inhaltsebene durchsticht. Ästhetisch bezieht Bergengruen damit eine Gegenposition zu Benns Konzept einer absoluten Prosa.⁸² Realismus bezeichnet laut Baßler „zunächst ein Verfahren“, und zwar „die Technik, so zu schreiben, dass sich dem Leser automatisch eine erzählte Welt, eine Diegese präsentiert, ohne dass er zunächst mit Phänomenen der Textebene zu kämpfen hätte.“⁸³ Ein realistisches Erzählen lässt den Rezipienten die Zeichenebene vergessen, die Zeichen als solche kommen gar nicht in den Blick […]. Man befindet sich unmittelbar auf der Darstellungsebene, in der erzählten Welt des Romans (Diegese), deren Dinge, Personen, Räume etc. ihrer sprachlichen Darstellung als Wirklichkeit vorauszugehen scheinen.⁸⁴
Genutzt werden hierfür kulturelle Skripte und Frames der adressierten Gesellschaft. Dies lässt sich schon an Bergengruens historischen Settings plausibilisieren: Über das Mittelalter und die Renaissance werden historische Bezugsfolien aufgerufen, die dem bildungsbürgerlichen Publikum vertraut sind. Die kriminalistisch-analytische Struktur lenkt den Fokus zudem auf die erzählte Geschichte – und nicht auf die Art und Weise des Erzählens oder die Textur. Insofern bieten Bergengruens Texte eine Lesart an, die auf Unterhaltung, zumindest auf fassliche Rezeption zielt. Sie sind leicht zu lesen, weil sie direkt in die Diegese einführen und ihren Zeichencharakter zurückstellen. Seine Prosatexte passen sich insofern Vgl. Moritz Baßler: Deutsche Erzählprosa 1850 – 1950. Eine Geschichte literarischer Verfahren, Berlin 2015, S. 11– 30. „In jedem Satz: Alles. Dieses Princip der absoluten Prosa, in der kein Satz im Zusammenhang mit psychologischen und erlebnismässigen Herkunftsäusserungen mehr steht, war das Princip, das mir wahrhaft erschien. In jedem Satz: Alles. In jedem Satz: Alles. Solche Sätze sind nicht zu verstehen, sie enthalten nur sich selbst. Ich vermute, dass die zukünftige Prosa etwas von dieser nackten Absolutheit enthalten wird.“ Vgl. Gottfried Benn an Friedrich Wilhelm Oelze, 30. März 1949, in: Dies.: Briefwechsel 1932– 1956, hg. v. Harald Steinhagen, Stephan Kraft und Holger Hof, Bd. 3: 1949 – 1950, Stuttgart und Göttingen 2016, S. 61. Moritz Baßler: Populärer Realismus, in: Kommunikation im Populären. Interdisziplinäre Perspektiven auf ein ganzheitliches Phänomen, hg.v. Roger Lüdke, Bielefeld 2011, S. 91– 103, hier: S. 91. Moritz Baßler: Die Unendlichkeit des realistischen Erzählens. Eine kurze Geschichte moderner Textverfahren und die narrativen Optionen der Gegenwart, in: Die Unendlichkeit des Erzählens. Der Roman in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1989, hg. v. Carsten Rohde und Hansgeorg Schmidt-Bergmann, Bielefeld 2013, S. 27– 45, hier: S. 27.
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in eine Linie ‚realistischer Literatur‘ ein, die Baßler in den 1920er und 1930er in Abgrenzung zur „emphatischen Moderne“ erkennt.⁸⁵ Für Bergengruens realistische Prosa ist zudem der historische Bezugspunkt spezifisch. Seine Romane und Novellen sind oft im Mittelalter oder der Renaissance angesiedelt, womit er auch thematisch einen Bogen zur Prosa des Realismus schlägt, gleichzeitig aber an Wissensbestände anknüpft, die in bestimmten Leserschichten höchst anschlussfähig sind. Das Ziel ist dabei, ein größeres Publikum zu erreichen und die Texte auch für weniger gebildete Leserinnen und Leser attraktiv zu gestalten. Damit werden Bergengruens Prosatexte auch für Adressaten lesbar, die nicht zu den vom Autor primär avisierten Leserinnen und Lesern gehören: Dass Bergengruens Prosa zur Schullektüre wurde – dies gilt beispielsweise für „Der Großtyrann und das Gericht“ oder für seine Novellen –, resultiert aus ihrer realistischen Erzählstruktur. Sie adaptieren Motive, Themen und Stoffe, die in Erzähltexten des frühen 19. Jahrhunderts für ästhetische und thematische Innovation standen. Insofern eignet sich Bergengruens Prosa durchaus als niedrigschwellige Hinführung zu einer ästhetischen Bildung im Deutschunterricht. Insbesondere seine Novellen waren nach 1945 fester Bestandteil des Deutschcurriculums. Sie gehörten „zum kanonischen Lesegut in den mittleren Klassen der höheren Schule“.⁸⁶ Inwieweit hier auch der „Katholizismus als ästhetisch-kulturelles Milieu“, das Bergengruen repräsentiert, eine Rolle für die Beliebtheit als Schulautor spielt, müsste genauer geprüft werden.⁸⁷ Für schulische Vermittlungsfragen ist Bergengruens Bezugspunkt auf die Literatur des 19. Jahrhundert womöglich relevanter: 1952 führt beispielsweise Kurt Reiche, Oberstudiendirektor an der Meldorfer Gelehrtenschule, in einem Artikel der Zeitschrift „Der Deutschunterricht“ aus, dass Bergengruens Novellen für die Vermittlung gattungstypischer Merkmale ideal seien.⁸⁸ Und so wurden auch Texte, die eigentlich nicht für jugendliche Adressaten gedacht waren, in jugendliterarischen Reihen publiziert. Bergengruens „Der letzte Rittmeister“ erscheint 1957 beispielsweise in der Reihe „Dein Leseheft“ des Rufer-Verlags.⁸⁹ Diese Ausweitung des
Moritz Baßler: Regression in den Realismus. Zur Einheit des literarischen Feldes der 1920er und 30er Jahre, in: Neue Sachlichkeit im Kontrast – Deutschland und die Niederlande, hg. v. Ralf Grüttemeier, Janka Wagner und Haimo Stiemer, Berlin und Boston 2021, S. 17– 28, hier: S. 19. Werner Zimmermann: Deutsche Prosadichtungen der Gegenwart. Interpretationen für Lehrende und Lernende, Bd. 3, Düsseldorf 1960, S. 135. Vgl. zum ‚Katholizismus als einem ästhetisch-kulturellen Milieu‘ Wolfgang Braungart: Literatur und Religion in der Moderne, München 2016, 385 – 389. Vgl. Kurt Reiche: Bergengruens Novellen im Unterricht, in: Der Deutschunterricht 4 (1952), H. 6, S. 43 – 54. Werner Bergengruen: Der letzte Rittmeister, Gütersloh 1957.
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Adressatenkreises trug sicherlich auch dazu bei, dass Bergengruen zu einem der vielgelesenen Autoren der Nachkriegszeit wurde.⁹⁰ Bergengruens Texte wurden generationenübergreifend gelesen. Sein ästhetisches Programm eines realistischen Schreibens ist für breite Leserkreise und unterschiedliche Altersgruppen anschlussfähig. Es kommt hinzu, dass Bergengruen auch kinderliterarische Erzählungen unter dem Titel „Zwieselchen“ vorgelegt hat. Ursprünglich wurden die „Zwieselchen“ Geschichten beim Thienemann-Verlag seit 1931 in der Reihe „Illustrierte 85 Pfg.-Bücher“ in mehreren Einzelbänden, wie beispielsweise „Zwieselchens große Reise“ oder „Zwieselchen im Zoo“, veröffentlicht. Auch an diesen kinderliterarischen Erzählungen ließe sich sein ästhetisches Programm eines realistischen Erzählens, das überdies das mündliche Erzählen simuliert, herausarbeiten. Bereits ab 1938 wurden die Texte als Sammlung in einem Band vertrieben und nach 1945 neu aufgelegt. Gerade die „Zwieselchen“-Bände und ihre Wirkung sind mit Blick auf die Nachkriegsliteratur nahezu unerforscht.⁹¹ Womöglich liegt in dieser flexiblen Adressatenorientierung der gravierende Unterschied zwischen Benns und Bergengruens ästhetischen Programmen. Bergengruens Texte oszillieren zwischen Erwachsenenund Kinder- und Jugendliteratur, zwischen realistischer Prosa, die sich am Höhenkamm orientiert, und Unterhaltungsliteratur, die auf Spannung zielt. Gerade diese Variabilität müsste genauer untersucht werden, insbesondere auch die Adressatenorientierung. Bergengruen ist im Feld der Nachkriegsliteratur mit diesem Profil nicht allein: Autoren wie Wolfdietrich Schnurre, Erich Kästner oder Franz Fühmann sind weitere Akteure, die auf je spezifische Art und Weise sowohl Erwachsenen- und Kinder- und Jugendliteratur schreiben. Ihre zeitgenössische Popularität mit Blick auf diese eben auch ästhetisch begründbare Position zwischen Erwachsenen- und Kinder- und Jugendliteratur zu untersuchen, scheint mir ein lohnender Forschungsbereich zu sein, der weiteren Aufschluss über die Mechanismen der Nachkriegsliteratur geben könnte.
Nicht zu unterschätzen ist, dass Bergengruen zu den bei der Deutschen Buch-Gemeinschaft (DBG) stark vertretenen Autoren zählte. Die DBG zählte Anfang der 1960er ca. 600 000 Mitglieder. Für die Festschrift zum vierzigjährigen Bestehen der Buchgemeinschaft hat Bergengruen einen Essay beigesteuert. Vgl. Michael Kollmannsberger: Buchgemeinschaften im deutschen Buchmarkt. Funktionen, Leistungen, Wechselwirkungen, Wiesbaden 1995, S. 119. Nur in wenigen Studien wird auf Bergengruens „Zwieselchen“-Reihe eingegangen.Wenn sie in den Blick rückt, dann geht es zumeist um die Erzählung „Zwieselchen und Turu-Me“ und um die dort realisierte Darstellung ‚des Zigeuners‘. Vgl. Julia Benner: Das Märchen von den „Zigeunern“. „Zigeuner“-Figuren in der Kinder- und Jugendliteratur zur Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, in: „Denn sie rauben sehr geschwind jedes böse Gassenkind“. „Zigeuner“Bilder in Kinder- und Jugendmedien, hg. v. Petra Josting u. a., Göttingen 2017, S. 223 – 245.
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Eine „äußerst elegante Sporterscheinung“. Gottfried Benn und sein(e) Verleger nach 1945 Abstract: Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs galt Benn ob seines anfänglichen Bekenntnisses zum Nationalsozialismus bei den Siegermächten als unliebsame Person. Gleichzeitig eröffneten sich dem auch bei führenden NS-Größen in Ungnade gefallenen Autor neue Möglichkeiten, wieder aktiv am literarischen Leben teilzunehmen. Denn er hatte zwar seit 1934 nicht mehr nennenswert publiziert, wohl aber einiges geschrieben, Lyrik wie Prosa. Damit diese Texte aus der berühmten Schublade heraus- und in die literarische Öffentlichkeit hineinfinden konnten, brauchte Benn Publikationsorgane und vor allem einen Verlag. Wie er den fand und wie sich die Zusammenarbeit mit einem jungen, unbekannten Verleger gestaltete, skizziert dieser Beitrag.
So gründlich vergessen, wie Gottfried Benn es bisweilen glauben machte, war der Dichter nach dem Zweiten Weltkrieg keineswegs. Zwar hatte er nach seinem anfänglichen Bekenntnis zum Nationalsozialismus und den daraus resultierenden Texten nach 1934 kaum Nennenswertes mehr publiziert und war auch in der Öffentlichkeit nicht mehr in Erscheinung getreten; dennoch nahm er am 26. September 1945 an der ersten Sitzung der Akademie der Künste in Berlin nach Ende des NS-Staats teil, wenn auch mehr aus Neugier denn aus Überzeugung. Dabei scheint er relativ bald wieder jenen Habitus angenommen zu haben, der eine an den Nihilismus grenzende Gleichgültigkeit kultiviert und ein Charakteristikum Benns darstellte, auch und gerade in den ersten Jahren nach 1945. So brüstete er sich im Dezember 1949 gegenüber Ernst Jünger, man könne über ihn schreiben, er sei Kommandant von Dachau gewesen oder übe Geschlechtsverkehr mit Stubenfliegen aus, von ihm werde man keine Entgegnung vernehmen.¹ Das öffentliche Eingeständnis eigenen Fehlverhaltens gehörte nicht zu den bevorzugten Sprech- bzw. Schreibakten des protestantischen Pfarrersohns, der, statt Reue zu zeigen, eher Indifferenz an den Tag legte.
Gottfried Benn und Ernst Jünger: Briefwechsel 1949 – 1956, hg. v. Holger Hof, Stuttgart 2006, S. 15. https://doi.org/10.1515/9783110729658-005
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Entsprechend behauptete er mit Blick auf die Lage der Akademie Weihnachten 1945 gegenüber Friedrich Wilhelm Oelze, seit 1932 die personifizierte Kontinuität unter Benns Sozialkontakten: Im übrigen wäre es für mich ein Leichtes (der Einäugige unter den Blinden), an die Spitze zu gehn u. zu führen, aber ich habe es satt, mir von Neuem Dreck an den Kopf werfen zu lassen (wie früher) oder hinter Stacheldraht zu kommen, um andere aufzuklären oder weiterzubringen, parceque je m’en fou.²
Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang nicht nur der politische, sondern auch der kulturelle Neuanfang nach der Kapitulation Nazi-Deutschlands: Im September 1945 wurde mit „Fidelio“ in Berlin wieder eine Oper vollständig aufgeführt und Ende des Monats erschien mit dem „Tagesspiegel“ die erste von den USA lizensierte Tageszeitung in der Reichshauptstadt.³ Um als Dichter nicht nur im kulturellen und individuellen Gedächtnis einzelner zu existieren, sondern auch auf dem sich allmählich neu organisierenden literarischen Feld agieren zu können, brauchte Benn vor allem zweierlei: einen Verlag, der seine jüngsten, noch unveröffentlichten Manuskripte publizierte, sowie Zeitungen und Zeitschriften, die neue Texte von ihm druckten.
1 Will er oder will er nicht (verlegt werden)? Das Verhältnis Dichter / Verleger ist spätestens seit dem 18. Jahrhundert, seit sich die Literatur dem Markt realiter zu- und rhetorisch abgewandt hat, ein eigentümlich ambivalentes, das zwischen Geschäftsbeziehung und Freundschaft, Fürsorge und Strenge oszilliert. In ihrer Rolle kaum zu überschätzen, zählen Verleger zu den Ermöglichern literarischer Kunstwerke und Strömungen: Ihre je individuellen Beziehungen zu namhaften Autoren und Autorinnen sind in vielen Fällen legendär geworden, ob die Goethes zu Cotta, Rilkes zu Kippenberger oder Bernhards zu Unseld. Zahlreiche Briefwechsel und Einzelstudien fokussieren dieses ganz spezielle Verhältnis. Bezüglich des biologischen Geschlechts mag es die längste Zeit eine Männerdomäne gewesen sein, eine Männerdomäne indes, Gottfried Benn und Friedrich Wilhelm Oelze: Briefwechsel, hg. v. Harald Steinhagen, Stephan Kraft und Holger Hof, Bd. 2: 1942– 1948, Stuttgart und Göttingen 2016, S. 105. Im Folgenden werden Zitate aus dieser Briefausgabe mit der Sigle „BOe I – IV“ im laufenden Text nachgewiesen. Vgl. auch Holger Hof: Der Einäugige unter den Blinden: „Im Übrigen wäre es für mich ein Leichtes, an die Spitze zu gehen“. Gottfried Benns Rolle bei der Neugründung der Akademie der Künste in West-Berlin, in: Benn Forum 6 (2018/2019), S. 159 – 180. Vgl. Holger Hof: Gottfried Benn. Der Mann ohne Gedächtnis, Stuttgart 2011, S. 336.
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in der auffällig oft mit effeminierten Diskurspartikeln und weiblichen Stereotypen hantiert wurde. Diesbezüglich einschlägig ist der Besuch Siegfried Unselds bei Max Frisch zu dessen sechzigstem Geburtstag in New York. Der Verleger hatte 1971 eigens die lange Reise über den Atlantik angetreten, um ‚seinem‘ Autor die Ehre zum runden Geburtstag zu erweisen. Als Dank bekam er von diesem indes zu hören, dass er mit leeren Händen gekommen sei, ein mickriges Restaurant ausgesucht und eine dürftige Ansprache gehalten habe. Frischs Verhalten wird nicht nur bei dieser Gelegenheit gern als divenhaft beschrieben, während Unseld in diesem Fall die Rolle der illegitimen Liebhaberin zugeschrieben bekommt, die letztlich nur ihrem Tagebuch anvertrauen kann, dass auch sie (bzw. er) über das Recht verfüge, nicht gedemütigt zu werden.⁴ Bisweilen erweist sich selbst das Verhaltensrepertoire älterer weißer Männer als ein wenig divers – zumindest im Verhältnis von Autoren und Verlegern. Auch Benn ging es nicht darum, irgendwo und irgendwie wieder Texte publizieren zu können, sondern möglichst in einem namhaften Haus, dessen Verleger seine Werke schätzte und an seiner Person keinen Anstoß nahm, vor allem aber nicht an seiner Kollaboration mit dem Nationalsozialismus 1933/34 und der damit einhergehenden Diffamierung der deutschen ‚literarischen Emigranten‘. Dabei standen zwei Bücher Benns auf der ‚Liste der auszusondernden Literatur‘, die im April 1946 von der Deutschen Verwaltung für Volksbildung in der sowjetischen Besatzungszone aufgestellt worden war: „Kunst und Macht“ sowie „Der neue Staat und die Intellektuellen“.⁵ Benn nahm solche Aussonderungen an und hin, stilisierte sich einmal mehr zur Persona non grata und zog sich zurück auf die Rolle des Parias, die er in regelmäßigen Abständen und verschiedenen Kontexten gern übernahm, so auch Ostern 1946 gegenüber seinem Freund Egmont Seyerlen: Die literarischen Dinge entwickeln sich, aber ich bin ablehnend u. reserviert, will nicht wieder in Kampf u. Diskussion, habe es satt, will für mich bleiben […], ich fühle mich zur Secte der ‚Unberührbaren‘ herangewachsen (um diesen indischen Begriff zu verwenden), deren Herz gehärtet u deren Haut gegerbt ist u. deren Blicke mit den Bildern einer nur Wenigen erahnbaren Ferne gefüllt sind.⁶
Vgl. dazu Rainer Moritz: Als Siegfried Unseld mit leeren Händen zu Max Frischs Geburtstag erschien, in: Die Welt v. 18. Februar 2021, online unter: https://www.welt.de/kultur/literarische welt/article225923111/Als-Siegfried-Unseld-mit-leeren-Haenden-zu-Max-Frischs-Geburtstag-er schien.html (letzter Zugriff am 24. Februar 2021). Vgl. Hof: Gottfried Benn [Anm. 3], S. 341. Gottfried Benn und Egmont Seyerlen: Briefwechsel 1914– 1956, hg. v. Gerhard Schuster, Stuttgart 1993, S. 45. Vgl. dazu auch Thomas Wegmann: Der Dichter als Paria. Zur Ästhetisierung einer Figur sozialer Exklusion, in: Benn Forum 6 (2018/2019), S. 19 – 32.
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Dennoch scheinen mehrere Verlage zumindest Interesse an dem nicht unproblematischen Autor gehabt zu haben, darunter noch heute namhafte Häuser wie S. Fischer oder Rowohlt. Besonders Ernst Rowohlt fand im Briefwechsel Benn – Oelze immer wieder Erwähnung, er schien nicht nur vage, sondern ernsthaft interessiert zu sein. Dabei übernahm Oelze eine zentrale Rolle, motivierte Benn immer wieder, mit seinen Schriften erneut an die Öffentlichkeit zu gehen, und fungierte darüber hinaus als unermüdlicher Berater und Vermittler, der auch Kontakte zu knüpfen und zu pflegen wusste, wie er am 1. September 1946 per Brief durchblicken ließ: Er [Rowohlt, d. Verf.] war ganz offensichtlich erfreut, von Ihnen zu hören und zu erfahren, daß Sie noch in der Bozener strasse wohnten, wollte Ihnen sofort, d. h. noch gestern Nachmittag schreiben, und bekundete ein wirkliches, persönliches, mich […] geradezu erwärmendes Interesse für Sie und Ihre neuen Arbeiten, von denen ich ihm erzählte. Er sagte mir, er habe Sie oft gesehen in den Kriegsjahren, sei mit Ihnen in der Kurfürstenstrasse auf und ab gegangen, – schon damit war die gemeinsame Plattform sofort hergestellt. Seine Verlagspläne sind z.T. amerikanisch-grotesk: 60 Pfg. Romane (Ro-Ro-Ro) ‚Rotations-Romane‘, in Gestalt einer ungehefteten Zeitschrift von ‚Gegenwart‘-Format, wo auf 10 Blättern 3 – 400 Seiten Romane erscheinen; nach Gebrauch zu vernichten. Typisch Rowohlt, von dem Herbert Blank (der 12 Jahre im KZ überdauerte) kürzlich einmal so nett sagte, er habe sich ein Leben lang ‚durchliquidiert‘. (BOe II, 171)
Es war vor allem Oelze, der die Suche nach einem Verlag aktiv betrieb, Treffen arrangierte und Gespräche führte, während Benn passiv blieb und sich umwerben ließ, obwohl er seine bis dato unveröffentlichten Arbeiten am liebsten in drei Bänden gleichzeitig publiziert hätte: erstens Lyrik, zweitens Essays und drittens literarische Prosa. Dabei suchte er nicht zuletzt als Schutz vor Enttäuschungen immer wieder die Rolle des Übergangenen und Verkannten auf – und war entsprechend gekränkt, wenn er tatsächlich übergangen wurde, vor allem von Akteuren des Literaturbetriebs, von Kollegen, Kritikern oder Verlegern: „Rowohlt ist oder war hier“, klagte er im März 1947 gegenüber Oelze, u. hat es zu zahlreichen Zeitungsnotizen darüber gebracht. Mir recht widerlich. Ich teile Ihre günstige Meinung über ihn nicht, teilte sie nie. Mir trat immer das Laute u. Charlatanhafte an ihm zu stark entgegen u. ich konnte nie Fühlung mit ihm gewinnen. Bei mir hat er sich bisher nicht gemeldet, ich vermisse es auch nicht, – alle diese Lizenzträger sind nicht mein Fall. (BOe II, 218)
Es war die Lizenz zu schreiben und zu publizieren, die Benn von den zuständigen Institutionen der Besatzungsmächte aufgrund seiner Vergangenheit zunächst eben nicht bekam bzw. die Verlagen oder Periodika mitunter verwehrt wurde,
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wenn sein Name allzu prominent das jeweilige Vorhaben zierte.⁷ Nach diversen Rückschlägen bei der Suche nach einem neuen Verlag gab Benn jedenfalls Ende 1947 gegenüber Oelze vor, dass er nicht mehr mit einem neuen Verlag rechne, dass dies aber letztlich an seinem inneren Unwillen läge: Nun waren also im Laufe der Zeit Herr Suhrkamp u Herr Rowohlt u Herr Cl.[aassen] bei mir u. einige kleinere Verlagsgeister u. einige weitere waren schriftlich um mich bemüht u. es ist nichts zu erreichen.Wahrscheinlich liegt doch alles bei mir, da ich innerlich ja garnicht in die Öffentlichkeit will, sondern für mich meine Netze u. Gewebe spinnen. (BOe II, 266)⁸
2 Gewollt wird nun Neues verlegt Wenige Monate später lag ein erster Band mit bis dato unveröffentlichter Lyrik Benns in den Buchhandlungen, wenn auch zunächst nur in denen der Schweiz. Denn es war der Schweizer Arche Verlag Peter Schifferlis, der 1948 die „Statischen Gedichte“ publizierte und so „dem Außenseiter der deutschen Literatur ein nachhaltiges Comeback ermöglichte, das passenderweise außerhalb der Grenzen Deutschlands seinen Anfang nahm“.⁹ Bei der Auswahl musste Benn Konzessionen machen und einige von ihm geschätzte Gedichte weglassen: „Sie machen also einen Sanften Heinrich aus dem Ganzen, aber je m’en fiche.“ (BOe II, 295) Dennoch waren es vor allem die „Statischen Gedichte“, die dem Autor das „größte
Vgl. dazu etwa den Brief an Oelze vom 3. Oktober 1946, in dem Benn von seinem alten Widersacher Alfred Döblin berichtet, dieser habe einer Zweimonatsschrift die Lizenz verweigert, weil sein Name unter den Autoren war, der angeblich auf einer ominösen ‚Schwarzen Liste‘ stehe, „offenbar ein Emigranten-Femeaktenstück; kein Mensch konnte bisher Näheres hierzu sagen“ (BOe II, 178 – 179). Eine ähnliche Erfahrung machte Benn mit Karl Heinz Henssel, der noch vor Schifferli als Verleger für die „Statischen Gedichte“ infrage kam. Zu einer Veröffentlichung kam es schließlich nicht, nachdem „[d]em Verlag […] kein Kontingent an Papier für dieses Buch zugeteilt [wird], und die Kontrollbehörde […] die Veröffentlichung mit dem Hinweis auf [die] 1933 erschienene Aufsatzsammlung ,Der neue Staat und die Intellektuellen‘ ab[lehnt].“ Henssel zit. n. Helmut Peitsch: Gottfried Benn. Der Außenseiter als Repräsentant, in: Eine Kulturmetropole wird geteilt. Literarisches Leben in Berlin (West) 1945 – 1961, hg. v. Dragica Horvat u. a., Berlin 1987, S. 129 – 139, hier: S. 131. Bereits am 29. April 1947 hatte Benn geschrieben: „Lieber Herr Oelze, hören wir bitte nun damit auf,Verläge, Lizenzträger, Söhne des Himmels, grosse Borsten für G. B. zu interessieren.Verlassen wir das Abendland. Finden wir uns damit ab, für uns zu sein u. zu bleiben: ‚Schwarze Kutten‘. Und bewahren Sie mir trotzdem Ihre persönliche Sympathie.“ (BOe II, 225 – 226) Hof: Gottfried Benn [Anm. 3], S. 342. Die verschlungenen Pfade, auf denen das Manuskript der „Statischen Gedichte“ schließlich bei Peter Schifferli, dem Verleger des Arche-Verlags landete, hat ebenfalls Holger Hof rekonstruiert. Vgl. Hof: Gottfried Benn [Anm. 3], S. 340 – 342.
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Comeback seit Lazarus“¹⁰ bescherten: Einige der im Nachkriegsdeutschland berühmtesten Stücke finden sich in der Auswahl, allesamt ,Ohrwürmer‘, zum Teil schulnotorisch, darunter „Einsamer nie“ – oder „Tag, der den Sommer endet“, „Welle der Nacht“ und „Astern“. Ihre nachhaltige Kanonisierung hat verschiedene Ursachen, neben dem elegischen Ton sicherlich auch die poetische Programmatik, die mit den Befindlichkeiten im Nachkriegsdeutschland korrespondiert und die Benn selbst folgendermaßen skizziert: [S]tatisch ist ein Begriff, der nicht nur meiner inneren ästhetischen und moralischen Lage, sondern auch der formalen Methode der Gedichte entspricht und in die Richtung des durch Konstruktion beherrschten, in sich ruhenden Materials, besser noch: in die Richtung des Anti-Dynamischen verweisen soll.¹¹
Auch ökonomisch war der Band ein Erfolg: Der Arche Verlag druckte in der ersten Auflage 3.000 Exemplare, der Limes Verlag kurze Zeit später noch einmal 2.000, und als 1968 die achte Auflage erschien, waren bereits 17.000 Exemplare verkauft – für einen Lyrikband auch damals ungewöhnlich hohe Zahlen.¹² Doch Benns eigentlicher Verleger der Nachkriegszeit wurde nicht Peter Schifferli vom Arche Verlag, sondern Max Niedermayer, der als Teilhaber der Wiesbadener Druckerei Bechtold 1945 den Limes Verlag gründete und mit internationalen Autoren ein ambitioniertes Programm bestreiten wollte. Den Kontakt zwischen Benn und Niedermayer vermittelte der junge Mediziner, Publizist und Herausgeber der Literaturzeitschrift „Der Bogen“ Paul Lüth, der Benn am 21. April 1948 in seiner Berliner Arztpraxis besuchte.¹³ Gut drei Monate später erhielt Benn die Mitteilung Max Niedermayers, dass dieser sich „nach wiederholten Überlegungen mit Dr. Lüth“ entschlossen habe, sein Verleger werden zu wollen: „Eventuelle Einwände anderer Autoren stören mich dabei nicht. Ich bin unabhängig.“¹⁴ Benns Antwort darauf entbehrt nicht der ihm eigenen Ambivalenz: Auf
Helmut Lethen: Der Sound der Väter. Gottfried Benn und seine Zeit, Berlin 2006, S. 261. Brief Benns an Peter Schifferli vom 23. November 1947. Zit. n. Paul Raabe: Gottfried Benn und der Arche-Verlag. Zur Druckgeschichte der „Statischen Gedichte“, in: Gottfried Benn. Statische Gedichte, hg. v. Paul Raabe, Zürich 1983, S. 83 – 125, hier: S. 86. Vgl. Mark W. Roche: „Statische Gedichte“ (1948), in: Benn-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Christian M. Hanna und Friederike Reents, Stuttgart 2016, S. 105 – 112, hier: S. 106. Vgl. dazu detailliert Hof: Gottfried Benn [Anm. 3], S. 353 – 354. Im Übrigen war Lüth war auch Gründer und Anführer des von 1950 bis 1952 bestehenden militant antikommunistischen Bundes Deutscher Jugend (BDJ). Gottfried Benn: Briefe an den Limes Verlag 1948 – 1956. Mit der vollständigen Korrespondenz auf CD-ROM, hg. v. Marguerite Valerie Schlüter und Holger Hof, Stuttgart 2006, S. 7 (CD). Im
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der einen Seite schlug er Niedermayer nicht gerade bescheiden eine dreibändige Ausgabe vergangener Arbeiten sowie einen Band neuer unveröffentlichter Texte vor, auf der anderen Seite warnte er ihn: Ich kann anständigerweise keinem Verleger zureden, sich dafür zu interessieren, die Sachen würden sehr starken Widerspruch finden und als unzeitgemäss angesehen werden. Die mir so wohl bekannten Angriffe gegen meinen Ästhetizismus, Esoterismus, Asozialismus würden wieder beginnen. Mir persönlich ist das völlig gleich, aber andere mit meinen im Wesentlichen tragischen Gedanken zu belasten, kann ich mich kaum entschliessen und bin daher garnicht so versessen darauf, wieder in der Öffentlichkeit zu erscheinen. (Briefe Limes, 7– 8)
Diese beiden Briefe bildeten den Auftakt einer erfolgreichen wie für die Nachkriegsliteratur folgenreichen Zusammenarbeit: Vier Bände brachte der Limes Verlag allein 1949 heraus, und in jedem weiteren Jahr bis zum Tod des Autors 1956 erschien mindestens ein neues, viel beachtetes Buch, so dass der Limes Verlag zu Benns Lebzeiten etwa 50.000 Exemplare verkaufen konnte. Seit 2006 liegt der Briefwechsel zwischen Benn und dem Limes Verlag, an dem nicht nur der Verleger Max Niedermayer, sondern auch die Lektorin Marguerite Valerie Schlüter beteiligt war, in einer Hybrid-Version vor. Von der Forschung wurde diese Korrespondenz bis dato kaum beachtet,¹⁵ zu Unrecht, lassen sich ihr doch wichtige Bausteine für den Umgang Benns mit der literarischen Öffentlichkeit in der Nachkriegszeit genauso entnehmen wie entscheidende Strategeme seiner Werkpolitik nach 1945. So umreißt Benn in seinen ersten Briefen an Niedermayer die Texte, die er gern im Limes Verlag publizieren würde, darunter einen Band „reine[r] Prosa“, der die „Novelle ,Weinhaus Wolf‘ aus dem Jahr 1937; – ein Romanfragment ,Roman des Phänotyp‘, Untertitel ,Landsberger Fragment, 1944‘; – ferner eine längere Novelle ,Der Ptolemäer, Berliner Novelle 1947‘“ enthalten soll: „Alles zusammen ist es reine Kunst –, ohne Rücksicht darauf, welche Konsequenzen sich daraus ergeben.“ (Briefe Limes, 7) Diese Art Prosa zu schreiben, so Benn an anderer Stelle, fände sich seines Wissens lediglich in Carl Einsteins „Bebuquin“ (1912) und in André Gides „Paludes“ (1895); alles, was sonst auf diesem Gebiet publiziert würde, sei „Prosa im treudeutschen und treueuropäischen Sinne, also eigentlich formal unproblematisch und rein inhaltlich bestimmt“. (Briefe Limes, 10) En passent verdichtet und illustriert dieser Briefwechsel zudem die Einsicht, dass Schreiben zwar ein einsames Geschäft sein Folgenden zitiert als „Briefe Limes“, wobei sich die Seitenangaben auf den Buchteil beziehen, sofern nicht anders angegeben. Vgl. Thomas Wegmann: „Noch gefährlicher als Sils-Maria.“ Gottfried Benn (1886 – 1956) zum fünfzigsten Todestag, in: ZfGerm 17 (2007), S. 176 – 184, hier: S. 176 – 177.
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mag, die Produktion von Literatur aber eine kollaborative Angelegenheit ist. Der Band „Doppelleben“ (1950) etwa wäre ohne die Initiative des Verlegers nicht entstanden. Benn wusste das und wusste es zu schätzen, als er am 1. Februar 1950 dazu an Niedermayer schrieb: Es ist ja Ihr Buch. Sie haben es bei mir angeregt und bestellt, vor Allem aber Ihre freundliche Aufnahme der ersten Beiträge hielt mich in Schwung, sodass ich noch die anderen Bestände zu Tage beförderte, an die [ich] vorher gar nicht gedacht hatte. (Briefe Limes, 65 – 66)¹⁶
Explizit bekannte sich Benn gegenüber Niedermayer auch zu seinen Extravaganzen. Auf die stößt man in den Briefen an den Limes Verlag des Öfteren, etwa auf sein Faible für Ephemeres wie Bier oder seinen Sinn für Handgreifliches und Augenscheinliches, wenn er eine Beschreibung Niedermayers als „äusserst elegante Sporterscheinung“ aufgreift und weiterverbreitet (Briefe Limes, 20). Für die Zumutungen des Alltags und zunehmend auch des Alters war ebenfalls Platz, wenn Benn beispielsweise seinem Verleger berichtete, dass er aus medizinischen Gründen nur noch Milch statt Würzburger Hofbräu trinken und fortan im Stehen schreiben solle (vgl. Briefe Limes, 167). Gelegentlich findet sich sogar vorsichtige Kritik an Oelze, der den Dichter für dessen Geschmack zu sehr „auf der Linie Edelgesinnung und alter Goethe haben“ (Briefe Limes, 124) wolle und mit seinem ausgeprägten Ästhetentum keinen Sinn für die Bedürfnisse des Körpers entwickle. So zahlreich wie aufschlussreich sind in dem Briefwechsel mit dem Limes Verlag schließlich die Äußerungen Benns zum zeitgenössischen Literaturbetrieb. Über „Das literarische Deutschland“, die im November 1950 erstmals erschienene Halbmonatsschrift der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, befand er beispielsweise: „Reichlich harmlos und zahm, sie preisen gegenseitig ihre Romane an und feiern sich. Eigentlich tragisch – die Deutschen denken, sie machen Literatur, aber es wird eine Gartenlaube.“ (Briefe Limes, 88) Inkludiert, wenn auch unausgesprochen, ist in diesen Sätzen auch die Botschaft an Niedermayer, dass er mit den Benn’schen Texten eben keine Gartenlauben und also keine anachronistischen Idyllen verlege. Bei all dem zeigen die Briefe an den Limes Verlag vor allem eines: Benn brauchte den Ruhm, um ihn stets ein wenig verachten und gleichzeitig geschickt organisieren zu können. Das lässt sich nicht zuletzt an seinem Umgang mit dem ablesen, was bei Pierre Bourdieu ‚symbolisches Kapital‘ heißt: Was der Autor an Aufmerksamkeit und Anerkennung einnahm, meldete er mit ebenso beiläufiger Vgl. zur Poetik und Genese auch Jan Bürger: Benns Doppelleben oder Wie man sich selbst zusammensetzt, Marbach 2006.
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wie beharrlicher Nonchalance seinem Verleger, ob (positive) Rezensionen, bemerkenswerte Aufsätze, Einladungen und Ehrungen, Besuche und Briefe namhafter Persönlichkeiten, zunehmend auch akademischer Provenienz, einfach alles, was dem fast 20 Jahre jüngeren Niedermayer zeigen konnte, dass er nicht nur einen umstrittenen, sondern auch einen imponierenden Autor eingekauft hatte: „In einer Lübecker Zeitung steht ein langer Aufsatz über ‚Doppelleben‘ […]. Ganz tüchtige Sätze drin: ich bin die interessanteste Erscheinung der Literatur, ja der ganzen Kunst, aber auch der gefährlichste, noch gefährlicher als Sils-Maria.“ (Briefe Limes, 94) Dass seine eigene Person und Kunst mit Gefahr in Verbindung gebracht wurden und in diesem Punkt sogar Nietzsche und seine Schriften übertreffen, dürfte dem sich ansonsten eher bieder gebendem Benn gefallen haben. Auch in Fragen der Werbung und des Marketings zeigte sich Benn durchaus kooperativ, und das entgegen landläufigen Bestimmungen. Folgt man etwa Gerard Genette, erlaubt es der Verleger dem Autor, vor den aufwertenden Hyperbeln, nach denen das Geschäft verlangt, offiziell die Augen zu verschließen. Es handelt sich dabei um Plakate oder Großanzeigen, PR-Veröffentlichungen und andere Prospekte […], um regelmäßig erscheinende Mitteilungen für die Buchhändler und um Argumentationshilfen für die Vertreter.¹⁷
Nicht selten durchkreuzen Autoren aber dieses ihnen unterstellte Desinteresse an der ökonomischen Seite ihres Schaffens,¹⁸ und das gilt auch für Benn, der seine öffentlichen Auftritte stets nach den zu erwartenden Effekten und Einnahmen kalkulierte, sowohl in Form von ökonomischem als auch symbolischem Kapital. Fragen der Werbung stand er dabei höchst aufgeschlossen gegenüber. So beschäftigte er sich intensiv mit dem ihm von Niedermayer zugesandten Entwurf eines Verlagsprospekts und wünschte sich mit Brief vom 12. August 1949 darin etwas mehr „aus der herrlichen Kritik von Sieburg“ oder einen bestimmten „kolossalen Satz“ von Max Bense und mochte außerdem gern den „guten [Frank, d. Verf.] Maraun mitreinhaben“ (Briefe Limes, 41). Benn rühmte sich nicht selbst, er ließ vielmehr rühmen und arbeitete anschließend mit Selektions- und Ver-
Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, übers. v. Dieter Hornig, Frankfurt a. M. und New York 1989, S. 331. So schnürten Friedrich Schiller und Johann Friedrich Cotta zur Etablierung der „Horen“ ein ganzes Bündel an Werbemaßnahmen, wobei der Autor und nicht etwa sein Verleger offenbar die treibende Kraft war. Vgl. dazu Marie-Kristin Hauke: In allen guten Buchhandlungen ist zu haben. Buchwerbung in Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert, Phil. Diss. Erlangen 1999, online unter: http://www.opus.ub.uni-erlangen.de/opus/volltexte/2005/130/, S. 172. (zuletzt am 12. März 2021).
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stärkereffekten, um sein Bild in der Öffentlichkeit zu steuern. Wie dieses Bild auszusehen hatte, vermittelt nachdrücklich dieser Brief nebst aufschlussreichem Kommentar, der all die von Benn erbetenen Zitate anführt und damit zeigt, dass dieser sich selbst vor allem in den Kontext einer dezidiert europäischen Moderne gestellt sehen und außerdem gern als ebenso einflussreich wie Lessing oder Goethe gelten wollte. Zwar sind einzelne Briefe aus der Korrespondenz mit dem Limes Verlag schon zuvor an verschieden Stellen publiziert worden, doch erst der zusammenhängende Briefwechsel zeigt auf, wie umsichtig Benn ab 1948 sein literarisches Comeback organisiert und inszeniert hat, ohne dabei sein Image als gefährlicher Stubenhocker infrage zu stellen. Als Diva hat er sich dabei nicht gegeben, vielmehr lobt seine Lektorin Marguerite Schlüter, die nach dem Tod Max Niedermayers 1968 zusammen mit dessen Witwe die Leitung des Limes Verlags übernahm, Benns Höflichkeit und Zugewandtheit: In den 40 Jahren meiner Verlagstätigkeit ist mir kein anderer Autor begegnet, der so gentlemanlike mit dem Verleger und seinen Mitarbeitern umging – er bedankte sich immer wieder für unser Engagement, das doch eigentlich eine Selbstverständlichkeit war, er fragte nach unseren Neigungen und Hobbys, nach unseren Ferienzielen. Er wusste, dass wir leidenschaftlich Hockey spielten, und verlangte, daß wir ihm die Spielberichte schickten.¹⁹
Benn blieb dem Limes Verlag und damit dem Verleger Max Niedermayer und seiner Lektorin Marguerite Schlüter bis zu seinem Lebensende verbunden, obwohl mit seinem wachsenden Renommee im Nachkriegsdeutschland auch größere und finanziell potentere Verlage mit vielköpfigen Lektorats- und Marketingabteilungen an ihn herantraten. Er brauche jedoch diesen ganzen Apparat nicht, ihm genüge ein Verleger, befand er diesbezüglich.²⁰ Zudem suchte Benn seine immer häufiger werdenden Auftritte in der Öffentlichkeit, die für ihn stets mit Ungewissheiten nicht zuletzt ob seiner Vergangenheit verbunden waren, offenbar durch Zonen der Gewissheit und Beständigkeit abzufedern. Dazu gehörte auch der gleichbleibende Verlag, der Benns Werk öffentlich machte und gleichzeitig das Unkalkulierbare der Öffentlichkeit durch Verlässlichkeit und Vertrautheit kompensierte. Dazu gehörten auch Örtlichkeiten wie das ‚Dramburg‘, jene Gaststätte unweit von Benns Wohnung und Praxis im Bayerischen Viertel Berlins, die er geradezu notorisch aufsuchte: „Sitze abends in meiner Bierkneipe – horribile dictu – u. notiere meine Einfälle“, schrieb er 1950 an Oelze (BOe III, 325). Die Kneipe war Produktionsstätte, aber auch Stoff und Motiv für Benns späte Lyrik. Marguerite Valerie Schlüter: Nachwort, in: Gottfried Benn [Anm. 14], S. 255 – 263, hier: S. 262. Marguerite Schlüter hatte als Mitglied der Damen-Hockey-Nationalmannschaft in der Nachkriegszeit mehrfach die junge Bundesrepublik bei Länderspielen vertreten. Vgl. Schlüter: Nachwort [Anm. 19], S. 263.
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Und letztlich ein profaner Widerhall Nietzsches: Dessen „Ewige[r]-WiederkunftsGedanke, diese höchste Formel der Bejahung“²¹ findet im Topos der immer wieder aufgesuchten Kneipe eine alltägliche Umsetzung, die dann nicht selten wiederum in Verse übertragen wurde, welche ihrerseits die habitualisierte Wiederkehr des vergänglich Profanen verdichten: „Schäbig; abends Destille / in Zwang, in Trieb, in Flucht / Trunk – doch was ist der Wille / gegen Verklärungssucht.“²² Auch Benns berühmte „Schlager von Klasse“²³ aus den „Probleme[n] der Lyrik“ (1951) bedienen sich mit ihren Reimen und Refrains dieser wirkmächtigen Wiederholungsästhetik.²⁴ An deren Werkwerdung wiederum wirkte der Verleger Max Niedermayer in den 1950er Jahren maßgeblich mit – zumindest, was die Werke Benns betrifft.
Friedrich Nietzsche: Ecce homo, in: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 6, München 2002, S. 255 – 374, hier: S. 335. Gottfried Benn: Destille, in: Ders.: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, Bd. 1: Gedichte 1, hg. v. Gerhard Schuster, Stuttgart 1986, S. 260 – 262, hier: S. 260. Die Formulierung lautet im Zusammenhang nach dem Erstdruck: „Ich von heute, der mehr aus Zeitungen lernt als aus Philosophien, der dem Journalismus näher steht als der Bibel, dem ein Schlager von Klasse mehr Jahrhundert enthält als eine Motette“. Gottfried Benn: Probleme der Lyrik, Wiesbaden 1951, S. 32. Vgl. auch: Friedrich Kittler: Benns Gedichte – „Schlager von Klasse“, in: Ders.: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig 1993, S. 105 – 129.
Daria Engelmann (Oldenburg)
Gottfried Benn in Hans Egon Holthusens „Der unbehauste Mensch“. Zur literaturkritischen Rezeption der historischen Avantgarde zwischen 1945 und 1951 Abstract: Der Beitrag untersucht die Rezeption Benns und der historischen Avantgarde in der frühen Nachkriegszeit (1945 – 1951). Im Zentrum steht der Essayband „Der unbehauste Mensch“ von Hans Egon Holthusen. Holthusens Auseinandersetzung mit Benn und der Avantgarde hat unterschiedliche Ziele: Sie reichen vom Versuch Holthusens, sich selbst zu entnazifizieren, über das Plädoyer für eine Entpolitisierung der Literatur bis hin zu Erklärungen für die Ursachen des Nationalsozialismus. Die historische Avantgarde wird eng mit dem Faschismus verknüpft und scheint daher bloß in ihrer entpolitisierten, autonomieästhetischen Form als in der Nachkriegszeit anschlussfähig. Für all diese Aspekte wird Benn von Holthusen als exemplarische Projektionsfläche genutzt.
1 Die Rezeption der historischen Avantgarde nach 1945 In der Avantgardeforschung scheint es ausgemacht zu sein, dass eine Rezeption der historischen Avantgarde¹ – nach ihrer systematischen Unterdrückung im
In der heutigen deutschsprachigen Forschung wird zwischen der historischen Avantgarde, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs ausbildete, und der Neo-Avantgarde, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg konstituierte, unterschieden (vgl. Walter Fähnders und Hubert van den Berg: Die künstlerische Avantgarde im 20. Jahrhundert – Einleitung, in: Metzler Lexikon Avantgarde, hg. v. dens., Stuttgart und Weimar 2009, S. 1– 19, hier: S. 10). Die historische Avantgarde umfasst hierbei Ismen, Bewegungen und Einzelkünstlerinnen und -künstler in allen Kunstbereichen, die sich in den 1910er, 1920er und 1930er Jahren in Europa und darüber hinaus ausgebildet haben (vgl. Walter Fähnders: Avantgarde – Begriff und Phänomen, in: Literarische Moderne. Begriff und Phänomen, hg. v. Sabrina Becker und Helmuth Kiesel, Berlin und New York 2007, S. 277– 290, hier: S. 277). Unter den vielen aufkommenden Bewegungen in diesem Zeitraum gehören der Futurismus in Italien und Russland, der Expressionismus und Dadaismus in Deutschland sowie der Surrealismus in Frankreich wohl zu den wichtigsten (vgl. https://doi.org/10.1515/9783110729658-006
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Nationalsozialismus seit 1934² – im deutschsprachigen Raum nicht unmittelbar nach 1945 einsetzte, sondern erst verspätet in den 1960er Jahren, frühestens aber ab Mitte der 1950er Jahre.³ So bemerkt Georg Jäger im „Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft“, dass ein Wiederanknüpfen an die historische Avantgarde durch die Wiener Gruppe, den Wiener Aktionismus, den Lettrismus und die Konkrete Poesie stattfand,⁴ durch literarische Tendenzen also, die sich (abgesehen vom 1945 in Frankreich gegründeten Lettrismus) frühestens ab Mitte der 1950er Jahre im deutschsprachigen Raum abzeichneten.⁵ Die Annahme einer verzögerten Rezeption wird zudem dadurch bestärkt, dass Jäger die allgemeine Anerkennung der Avantgarde, ihre Eingliederung in den Kunstbetrieb und den Beginn ihrer Forschungsgeschichte in die 1960er Jahre datiert.⁶ Gegen diese These hat die Forschung immer wieder auch auf die Rezeption der historischen Avantgarde schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit hingedeutet.⁷ Ein Kronzeuge hierfür ist das ,Come-Back‘ Gottfried Benns ab 1948/
Georg Jäger: Avantgarde, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1: A–G, hg. v. Klaus Weimar u. a., 3., neu erarb. Aufl., Berlin und New York 2007, S. 183 – 187, hier: S. 185). Zur Datierung vgl. Gregor Streim: Deutschsprachige Literatur 1933 – 1945. Eine Einführung, Berlin 2015, S. 69 – 71. Siehe beispielsweise Walter Fähnders: Deutschland, in: Metzler Lexikon Avantgarde [Anm. 1], S. 78 – 85, hier: S. 83. Vgl. Jäger: Avantgarde [Anm. 1], S. 185. Die Wiener Gruppe formierte sich um 1957, der Wiener Aktionismus trat in den 1960er Jahren auf und der Begriff der Konkreten Poesie wurde 1955 von Eugen Gomringer geprägt. Vgl. Andreas Puff-Trojan: Wiener Gruppe, in: Metzler Lexikon Avantgarde [Anm. 1], S. 359 – 360, hier: S. 359; vgl. Andreas Puff-Trojan: Wiener Aktionismus, in: Metzler Lexikon Avantgarde [Anm. 1], S. 357– 359, hier: S. 357– 358; vgl. Andreas Puff-Trojan: Konkrete Poesie, in: Metzler Lexikon Avantgarde [Anm. 1], S. 170 – 172, hier: S. 170. Vgl. Jäger: Avantgarde [Anm. 1], S. 186. Beispielsweise werden Werke von Nachkriegsautorinnen und -autoren genannt, die ihrer Form nach mit den Bewegungen der 1910er und 1920er Jahre verknüpft werden, etwa Wolfgangs Borcherts „Draußen vor der Tür“ von 1947 (vgl. Eberhard Mannack: Aufarbeitung des Faschismus, in: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte, Bd. 10: Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995, hg. v. Horst Albert Glaser, Bern, Stuttgart und Wien 1997, S. 375 – 392, hier: S. 387; siehe auch Thomas Anz: Literatur des Expressionismus, 2. aktual. u. erw. Aufl., Stuttgart und Weimar 2010, S. 201) und Wolfgang Koeppens „Tauben im Gras“ von 1951 mit dem Expressionismus (vgl. Anz: Literatur des Expressionismus [Anm. 7], S. 201) oder auch Ilse Aichingers „Die größere Hoffnung“ von 1948 mit dem Surrealismus (vgl. Andreas Puff-Trojan: Krieg im Frieden. Die Nachkriegsavantgarde und die Metaphorik des Krieges, in: Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde – Avantgardekritik – Avantgardeforschung, hg. v. Wolfgang Asholt und Walter Fähnders, Amsterdam und Atlanta 2000, S. 631– 652, hier: S. 636). Zudem wird vereinzelt auf Anthologien und Zeitschriften verwiesen, die unmittelbar nach dem Krieg Texte von Autorinnen und Autoren der historischen Avantgarde publizierten und somit im deutschsprachigen Raum wieder zugänglich
Gottfried Benn in Hans Egon Holthusens „Der unbehauste Mensch“
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1949,⁸ das mit einem Fortbestehen des expressionistischen Stils verbunden werden kann.⁹ „Der Name des Autors steht dabei – in positiver Hinsicht – für die Fortdauer der expressionistischen Stiltendenz aus den zwanziger Jahren heraus“,¹⁰ schreibt Karl Riha und begründet dies unter anderem mit der 1955 veröffentlichten Anthologie „Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts“.¹¹ Auch in Benns Vortrag „Probleme der Lyrik“ (1951), so Riha weiter, zeige sich die Fortführung des expressionistischen Stils, da Benn hier unter anderem die Montagetechnik (konkret die Vermischung von Sprachen, Jargons, Zitaten usw.)¹² befürwortet, die in der avantgardistischen Literatur eine wichtige und bevorzugte Schreibtechnik darstellt.¹³ Benn selbst bezeichnete sein eigenes Spätwerk in der im Oktober 1949 ausgestrahlten Radiosendung „Phase II“ als „Phase II des expressionistischen Stils, aber auch als Phase II des nachantiken Menschen.“¹⁴ Wobei er bereits hier die Montagekunst zum „Stil der Zukunft“ (SW VII/1, 236) erhob.¹⁵ machten, darunter zum Beispiel die 1946 von Carola Giedion-Welcker herausgegebene, in Bern erschienene „Anthologie der Abseitigen“ (vgl. Franz Mon: Die Poesie wird konkret. Die Anfänge des experimentellen Schreibens in den fünfziger Jahren, in: Doppelleben. Literarische Szenen aus Nachkriegsdeutschland. Materialien zur Ausstellung, hg. v. Bernd Busch und Thomas Combrink, Göttingen 2009, S. 403 – 422, hier: S. 403 – 406). Andere Forschungsbeiträge heben die Wiederentdeckung des Surrealismus nach 1945 hervor (vgl. Mon: Die Poesie wird konkret [Anm. 7], S. 405 – 406, und Puff-Trojan: Krieg im Frieden [Anm. 7], S. 636 – 638). Wieder durch neue literarische Publikationen in Deutschland sichtbar wurde Benn erst 1949. Ein Jahr zuvor hatte Benn seine erste Publikation nach dem Krieg mit dem Titel „Statische Gedichte“ in der Schweiz veröffentlichen können (vgl. Peter Geist: Zur literarischen Benn-Rezeption im Westen und Osten Deutschlands nach 1945, in: Benn-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Christian M. Hanna und Friederike Reents, Stuttgart 2016, S. 383 – 390, hier: S. 383). Vgl. Karl Riha: Experimentelle Literatur, in: Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995 [Anm. 7], S. 535 – 555, hier: S. 535; vgl. Mon: Die Poesie wird konkret [Anm. 7], S. 405; vgl. Anz: Literatur des Expressionismus [Anm. 7], S. 201. Riha: Experimentelle Literatur [Anm. 9], S. 535. Vgl. Riha: Experimentelle Literatur [Anm. 9], S. 535 und Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts. Von den Wegbereitern bis zum Dada, eingel. von Gottfried Benn, hg. v. Max Niedermayer, Wiesbaden 1955. Vgl. Riha: Experimentelle Literatur [Anm. 9], S. 535. Vgl. Walter Fähnders: Literatur, in: Metzler Lexikon Avantgarde [Anm. 1], S. 193 – 198, hier: S. 198. Gottfried Benn: Phase II. Rundfunkgespräch mit Thilo Koch, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. VII/1, hg.v. Holger Hof, Stuttgart 2003. Auf diese Ausgabe wird in der Folge im laufenden Text unter der Sigle „SW I – VII/2“ verwiesen. Allerdings geht diese Behauptung Benns, die er in „Doppelleben“ (1950) wiederholt (vgl. SW V, 168 sowie 170), nicht unbedingt mit einer tatsächlichen Fortführung der Themen und Formen des Expressionismus einher, wie Amelia Valtolina erklärt. Die Phase II stelle stattdessen „eine Weiterentwicklung des antimimetischen und antirealistischen Stils“ dar (Amelia Valtolina: Postnihilismus und „Phase 2“, in: Benn-Handbuch [Anm. 8], S. 310 – 311, hier: S. 310).
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Ausgehend von einer solchen Frühdatierung soll die Rezeption der historischen Avantgarde zwischen 1945 und 1951 an ausgewählten Artikeln Hans Egon Holthusens untersucht werden, die sich mit Person und Werk Gottfried Benns beschäftigen. Ausgangspunkt ist die These, dass über Holthusens Benn-Rezeption Rückschlüsse auf die allgemeine Rezeption der historischen Avantgarde in der frühen Nachkriegszeit möglich sind. Für diesen Ansatz bieten sich literaturkritische Essays von Holthusen besonders aus zwei Gründen an. Erstens zählte der Schriftsteller, Literaturkritiker und -wissenschaftler Hans Egon Holthusen – der heute weitgehend in Vergessenheit geraten zu sein scheint¹⁶ – in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg „zu den wichtigsten Stimmen der literarischen Öffentlichkeit“.¹⁷ Als einer der einflussreichsten Literaturkritiker der 1950er und 1960er Jahre¹⁸ ist Holthusen von exemplarischer Bedeutung. Seine Bewertung Benns und damit der historischen Avantgarde gibt somit ein verbreitetes Bild der Zeit wieder bzw. hat zumindest eine große Wirkung auf die Leserinnen und Leser ausgeübt. Zweitens sind die möglichen Äußerungen Holthusens über Benn und die historische Avantgarde auch aufgrund Holthusens NS-Vergangenheit von besonderem Interesse. Holthusen trat 1933 der SS bei. Im Juli 1937 distanzierte er sich nach eigener Aussage von dieser, ohne jedoch je eine Austrittserklärung abzugeben.¹⁹ Er publizierte
Vgl. Robert Rduch: Korrektur der Kriegsbilder in der Lyrik von Hans Egon Holthusen, in: Erinnerung in Text und Bild. Zur Darstellbarkeit von Krieg und Holocaust im literarischen und filmischen Schaffen in Deutschland und Polen, hg. v. Jürgen Egyptien, Berlin 2012, S. 147– 157, hier: S. 147. Nicolas Berg: Selbstentnazifizierung einer Komplizenschaft. Die Vorgeschichte des SS-Bekenntnisses von Hans Egon Holthusen und seiner Kontroverse mit Jean Améry, in: Moralisierung des Rechts. Kontinuitäten und Diskontinuitäten nationalsozialistischer Normativität, hg. v. Werner Konitzer, Frankfurt a. M. und New York 2014, S. 215 – 242, hier: S. 216 – 217. Holthusen wird neben Friedrich Sieburg, Karl Korn, Albrecht Fabri und Günter Blöcker zu den führenden Kritikerstimmen der Nachkriegszeit gezählt (vgl. Jörg Drews: Den Anschluss finden. (West‐)Deutsche Literaturkritik 1945 bis 1955, in: Doppelleben [Anm. 7], S. 353 – 360, hier: S. 355). Als Literaturkritiker bekannt wurde er mit seinem 1951 erschienenen Werk „Der unbehauste Mensch“, dessen Einfluss sich auch darin zeigt, dass die Metapher des ,unbehausten Menschen‘ in den allgemeinen Sprachgebrauch überging (vgl. Nicolas Berg: Jean Améry und Hans Egon Holthusen. Eine Merkur-Debatte in den 1960er Jahren, in: Jean Améry. „… als Gelegenheitsgast, ohne jedes Engagement“, hg. v. Ulrich Bielefeld und Yfaat Weiss, Paderborn 2014, S. 119 – 135, hier: S. 125 – 126, und vgl. Oliver Pfohlmann: Literaturkritik in der Bundesrepublik, in: Literaturkritik. Geschichte – Theorie – Praxis, hg. v. Thomas Anz und Rainer Baasner, 2., durchges. Aufl., München 2007, S. 160 – 191, hier: S. 160). Vgl. Marina Marzia Brambilla: Hans Egon Holthusen. Eine Darstellung seiner schriftstellerischen Tätigkeit, Aachen 2006, S. 21.
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1966 im „Merkur“ seine Rechtfertigungsschrift „Freiwillig zur SS“,²⁰ in der er seinen Beitritt als eine verzeihliche Jugendsünde darstellte. Trotzdem war er ein Kritiker, der sich in der Nachkriegszeit für die Literatur der Moderne und auch für die historische Avantgarde starkmachte.²¹ Dies wirft die Frage auf, wie ein Kritiker, der sich dem Nationalsozialismus angeschlossen, diesen zeitweise unterstützt hatte²² und der noch Ende der 1960er Jahre seine eigene Mitverantwortung verleugnete,²³ die historische Avantgarde – deren Bücher im Nationalsozialismus als ,entartet‘ diffamiert, verbrannt und deren Autorinnen und Autoren verfolgt und eingesperrt wurden²⁴ – unterstützen konnte.²⁵
Für eine kritische Auseinandersetzung mit Holthusens Schrift „Freiwillig zur SS“ siehe Berg: Jean Améry und Hans Egon Holthusen [Anm. 18], S. 119 – 135, und Berg: Selbstentnazifizierung einer Komplizenschaft [Anm. 17], S. 215 – 242. Holthusen gilt trotz seiner konservativen Haltung und seiner Beschäftigung mit ,traditioneller‘ Literatur auch als der Vermittler, der in der Nachkriegszeit seinem Publikum die Moderne näherbrachte. Vgl. Stephen Brockmann: Der Nullpunkt und seine Überwindung. Hans Egon Holthusen, in: Solitäre und Netzwerker. Akteure des kulturpolitischen Konservatismus nach 1945 in den Westzonen Deutschlands, hg. v. Erhard Schütz und Peter Uwe Hohendahl, Essen 2009, S. 135 – 145, hier: S. 143, und vgl. Hanna Klessinger: Bekenntnis zur Lyrik. Hans Egon Holthusen, Karl Krolow, Heinz Piontek und die Literaturpolitik der Zeitschrift Merkur in den Jahren 1947 bis 1956, Göttingen 2011, S. 15. Beispielsweise beschreibt der Literaturkritiker in seinem in der Zeitschrift „Eckart“ publizierten Text „Der Aufbruch“ (1940) den Soldatentod als Gottes Wille sowie das Soldatsein als Kennzeichen einer besonderen Weihung. Zudem wird der Überfall auf Polen als eine geschichtlich vorgezeichnete und dadurch verifizierte Notwendigkeit legitimiert (vgl. Hans Egon Holthusen: Der Aufbruch. Aufzeichnungen aus dem polnischen Kriege, in: Eckart 16 (1940), S. 75 – 77, hier: S. 75, und vgl. Rduch: Korrektur der Kriegsbilder [Anm. 16], S. 150). Dieser Text ist keine Ausnahme, auch in anderen im „Eckart“ veröffentlichten Schriften wie in „Worte am Grabe des Kradfahrers E.“ (1940) oder in „Deutscher Geist im Kriege“ (1941) stellt Holthusen den Krieg „als Erfüllung einer epochalen Mission des deutschen Volkes“ heraus (Rduch: Korrektur der Kriegsbilder [Anm. 16], S. 150). Eine Analyse von Holthusens Lyrik zeigt, dass diese nicht weniger problematisch war. Die neuere Forschung kommt zu dem Ergebnis, dass Holthusens Gedichte nicht nur den Krieg und den Soldatentod glorifizieren, sondern auch Nazipropaganda enthalten, den Krieg zu einem abstrakten Geschichtsphänomen verklären und dazu beitragen, die Schuld der Deutschen zu verschleiern (vgl. Rduch: Korrektur der Kriegsbilder [Anm. 16], S. 153– 154, vgl. Nikolas Immer: Die ewige Wunde des Geistes. Hans Egon Holthusens Kriegs- und Trauerlyrik, in: Texturen der Wunde. Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, hg. v. dems. und Thomas Boyken, Würzburg 2016, S. 85 – 105, hier: S. 105, und vgl. Ralf Schnell: Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945, Stuttgart und Weimar 1993, S. 88 – 89). Hans Egon Holthusen: Porträt eines jungen Mannes, der freiwillig zur SS ging, in: War ich ein Nazi? Politik-Anfechtung des Gewissens, hg. v. Joachim Günther, Vorwort v. Ludwig Marcuse, München 1968, S. 39 – 79. Vgl. Anz: Literatur des Expressionismus [Anm. 7], S. 2.
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Materialgrundlage für die vorliegende Untersuchung ist Holthusens Sammelband „Der unbehauste Mensch. Motive und Probleme der modernen Literatur“ (1951). Dabei handelt es sich um eine Sammlung von literatur- und zeitkritischen Essays, von denen die meisten zuvor (1947– 1951) in Zeitschriften, größtenteils dem „Merkur“, erschienen waren. Sie besprechen vorwiegend Autorinnen,²⁶ Autoren und Werke, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit im westdeutschen literarischen Raum besonders präsent waren;²⁷ gleichzeitig ver Es ist natürlich zu beachten, dass die Avantgarde auch als Unterstützer radikaler ideologischer Positionierungen verstanden und abgelehnt wurde. Obgleich die historische Avantgarde „in den dreißiger Jahren sowohl in Deutschland als auch in der Sowjetunion unterdrückt und verfolgt wurde“ (Streim: Deutschsprachige Literatur 1933 – 1945 [Anm. 2], S. 69), ist sie immer wieder mit dem Faschismus und Stalinismus in Verbindung gebracht worden.Verknüpfungen werden hierbei etwa in der „Bejahung moderner Technologie“ oder der „Ästhetisierung der Politik“ (ebd., S. 69) gesehen. Hinzu kommt sicherlich auch die Tatsache, dass die Avantgarde nicht von Anfang an in Kontrast zum Nationalsozialismus stand. Dies zeigt sich beispielweise darin, dass sich zu Beginn des NS-Regimes noch expressionistische Künstler wie Gottfried Benn, Ernst Barlach und Emil Nolde zu diesem bekannten und schließlich enttäuscht darüber zeigten, als ihre Kunst als entartet diffamiert wurde (vgl. ebd, S. 71). Außerdem gab es auch junge nationalsozialistisch gesinnte Bewegungen, darunter vor allem Vertreter des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes (NSDStB), die die historische Avantgarde mit der NS-Ideologie verknüpfen wollten (vgl. ebd.). Gregor Streim macht jedoch auf die Unterschiede zwischen der Avantgarde und dem Nationalsozialismus, dem italienischen Faschismus und dem Stalinismus aufmerksam. Es sei nicht der Anspruch der Avantgarde gewesen, die Politik zu ästhetisieren, „sondern eine Umwandlung der Gesellschaft nach ästhetisch-avantgardistischen Prinzipien“ vorzunehmen (ebd., S. 70). Zudem hätte man in Deutschland und der Sowjetunion an der Kunst als Institution festgehalten, gegen die sich die Avantgarde richtete, und sich als Bewahrer der kulturellen Tradition präsentiert, von der die Avantgarde sich lösen wollte. Des Weiteren hätten beide Diktaturen letztlich „für ihre Staatskunst einen neoklassizistischen Monumentalstil, der den Eindruck von Tradition und Dauerhaftigkeit vermitteln sollte“ (ebd.), bevorzugt. Und beide nutzten „antike und klassische Vorbilder“, um sich als „Retter der Kultur vor der als dekadent und entartet denunzierten Moderne des 20. Jahrhunderts“ darzustellen (ebd.). Im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen werden Autorinnen in „Der unbehauste Mensch“ nur selten angeführt. Unter ihnen ist Elisabeth Langgässer die am häufigsten Erwähnte (sie wird viermal namentlich genannt), bei welcher sogar ein Buchtitel („Das unauslöschliche Siegel“ (1946)) aufgeführt wird (vgl. Hans Egon Holthusen: Der unbehauste Mensch. Motive und Probleme der modernen Literatur, München 1951, S. 156, 176, 178). Alle weiteren genannten Autorinnen (insgesamt sind es nur sieben) werden bloß ein- bis zweimal kurz erwähnt, darunter sind Anna Seghers (vgl. ebd., S. 28), Bettina von Arnim (vgl. ebd., S. 44 u. 45), Nora Wydenbruck (vgl. ebd., S. 72), Jessie Weston (vgl. ebd., S. 84), Oda Schäfer (vgl. ebd., S. 161) und Marieluise Kaschnitz (vgl. ebd., S. 165). Erstellt man ein Verzeichnis der am häufigsten namentlich aufgeführten Autorinnen und Autoren in der Ausgabe von 1951, so zählen u. a. Friedrich Nietzsche (29x namentlich genannt), Gottfried Benn (24x), Paul Valéry (23x), Franz Kafka (19x), Friedrich Hölderlin (16x) und Ernest Hemingway (15x) dazu. Allerdings widmet Holthusen den Autoren Rainer Maria Rilke, T. S. Eliot,
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suchen sie, die allgemeine Lage des Menschen, der Literatur und der Literaturkritik in der Nachkriegszeit zu beschreiben.
2 Holthusen über Benn – Die Fortschreibung des Expressionismus Die Essaysammlung „Der unbehauste Mensch“ (1951), durch die Holthusen als Literaturkritiker bundesweit populär wurde, war ein vielbeachtetes Werk in der jungen Bundesrepublik, wie die zwei weiteren, 1952 und 1955 erschienenen Auflagen und der im zeitgenössischen Diskurs zur stehenden Wendung gewordene Titel vom ,unbehausten Menschen‘ zeigen.²⁸ Der Mensch, so Holthusen, sei ,unbehaust‘, das bedeutet in geistiger und insbesondere in religiöser Hinsicht durch den Verlust seiner Werte und Haltepunkte „[o]bdachlos[ ]“²⁹ geworden.³⁰ Holthusen möchte den Ursachen für diesen „Verlust der alten Ordnung“³¹ nachgehen und einen Weg aus der ,Unbehaustheit‘ aufzeigen. Über literaturkritische Betrachtungen versucht er, die geistige Lage des Menschen in der Nachkriegszeit darzustellen und zu erklären, wie das Problem des Orientierungs- und Werteverlustes gelöst werden kann. Hierzu stellt er verschiedene literarische Werke und Autorinnen und Autoren vor, darunter neben kanonischen Werken deutschsprachiger Autorinnen und Autoren (z. B. Goethe und Rilke) auch viele amerikanische, britische und französische, die vom Großteil des zeitgenössischen deutschen Publikums als ,neu‘ erfahren wurden. Gottfried Benn ist der am häufigsten erwähnte Schriftsteller mit avantgardistischem Hintergrund im gesamten Essayband (wenn man von T. S. Eliot einmal absieht).³² Namentlich aufgeführt wird er in „Der unbehauste Mensch“ 24-mal, Eugen Gottlob Winkler und Johann Wolfgang von Goethe jeweils einen eigenen Essay. Entsprechend sind Goethe (122x), Eliot (93x), Rilke (80x) und Winkler (47x) die Schriftsteller, die am häufigsten namentlich aufgeführt werden; in der Auflage von 1955 kommen Essays zu Ezra Pound und Ernst Jünger hinzu. Vgl. Berg, Selbstentnazifizierung einer Komplizenschaft [Anm. 17], S. 217, und Edda Ziegler: 100 Jahre Piper. Die Geschichte eines Verlags, München und Zürich 2004, S. 217. Brambilla: Hans Egon Holthusen [Anm. 19], S. 38. Vgl. Hans Egon Holthusen: Die Bewußtseinslage der modernen Literatur [Zuerst erschienen im „Merkur“ 1949], in: Ders.: Der unbehauste Mensch [Anm. 26], S. 7– 39, hier: S. 10; vgl. Brambilla: Hans Egon Holthusen [Anm. 19], S. 15 – 16 u. 37– 38. Brambilla: Hans Egon Holthusen [Anm. 19], S. 16. Eliot wird in „Der unbehauste Mensch“ 93-mal aufgeführt und in sechs von acht Essays erwähnt. Tatsächlich gehörte T. S. Eliot nie einer Gruppe oder einem Ismus der historischen Avantgarde an (vgl. Marjorie Perloff: The avant-garde, in: T. S. Eliot in Context, hg. v. Jason Har-
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wobei er in fünf von acht Aufsätzen vorkommt.³³ Außerdem bezeichnet Holthusen Benn in dem Essay „Die Überwindung des Nullpunkts. Aspekte der deutschen Literatur seit 1945“ (zuerst erschienen 1950/1951) neben Ernst Jünger als einen der bedeutendsten Autoren der Nachkriegszeit ,³⁴ dessen zentrales Anliegen es gewesen sei, die geistige und seelische Lage der Gegenwart darzustellen.³⁵ Benn wird folglich von Holthusen als ein zeitaktueller Schriftsteller vorgestellt, auf den man sich, auch bei der Darstellung anderer Autorinnen und Autoren, immer wieder beziehen kann. Die näheren Ausführungen zu Benn beginnt Holthusen mit dessen anfänglicher Sympathie für den Nationalsozialismus, für den sich der Autor jedoch nur „für einen Augenblick“³⁶ eingesetzt habe. Benns Abwendung von der NSIdeologie stützt Holthusen auch auf das Schreibverbot, das Benn aufgrund seiner „expressionistischen Vergangenheit“³⁷ erhalten habe. An späterer Stelle geht Holthusen näher auf diese ,Vergangenheit‘ Benns ein. Die expressionistischen Gedichte seien „von herzzerreißender Kraßheit“³⁸ gewesen. Konkret benannt wird der „Morgue“-Zyklus (1912), der, so Holthusen, dem Autor „den größten Ruhm
ding, 4. Aufl., Cambridge u. a. 2012, S. 252– 261, hier: S. 255). Auch hatte er keine Kenntnis über die russischen Futuristen oder den deutschen Expressionismus, obwohl er, vermittelt durch Ezra Pound, mit Vortizisten, Kubisten und Futuristen bekannt war und seine ersten in England veröffentlichen Gedichte im Jahre 1915 in der Zeitschrift „Blast“ publiziert wurden – einer Zeitschrift, die den Vortizisten als Plattform zur Verbreitung ihrer avantgardistischen Bewegung diente (vgl. ebd., S. 253 – 254). Allerdings wird sein literarisches Schaffen in den 1920er Jahren während seiner Aufenthalte in Paris von Marjorie Perloff mit der Avantgarde verbunden (vgl. ebd., S. 255). Ihrer Auffassung nach sei es Eliots ,avantgardistische Erfindung‘ gewesen, dass in einem Gedicht, geschrieben auf einer Schreibmaschine, jedes Wort desselben beachtet werden müsse (vgl. ebd., S. 258). Zudem sei seine Lyrik in mehrerer Hinsicht fortschrittlich: „[T]hese poems were sufficiently advanced in conception, structure and in their use of graphic, even shocking, urban imagery, so as to turn off the literary establishment of 1917“ (ebd., S. 258). In der Nachkriegszeit jedoch ließ, so Perloff, Eliot seine avantgardistische Phase hinter sich (vgl. ebd., S. 261). Zum Vergleich: James Joyce wird zum Beispiel zehnmal, Louis Aragon dreimal und Franz Werfel einmal genannt, während Goethe mit 122 Nennungen die am häufigsten namentlich aufgeführte Person darstellt, die zudem in allen Essays vorkommt. Vgl. Hans Egon Holthusen: Die Überwindung des Nullpunkts. Aspekte der deutschen Literatur seit 1945 [Zuerst erschienen in „German Life & Letters“ 1950/51 und 1951/52], in: Ders.: Der unbehauste Mensch [Anm. 25], S. 137– 168, hier: S. 145. Vgl. Holthusen: Die Überwindung des Nullpunkts [Anm. 34], S. 146. Holthusen: Die Überwindung des Nullpunkts [Anm. 34], S. 147. Zur Diskussion um Benns tatsächliches Engagement und seine Rolle im Nationalsozialismus vgl. Christian Schärf: Zeiten und Zonen. Geistes- und Zeitgeschichte, in: Benn-Handbuch [Anm. 8], S. 2– 20, hier: S. 15 – 20. Holthusen: Die Überwindung des Nullpunkts [Anm. 34], S. 147. Holthusen: Die Überwindung des Nullpunkts [Anm. 34], S. 151.
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einbrachte“ und „seine Zeitgenossen erschreckt und hingerissen“ habe.³⁹ Weiter erläutert Holthusen die Themen und den Stil von Benns expressionistischem Schreiben wie folgt: Als einer der rücksichtslosesten Avantgardisten des Expressionismus hatte er entblößt, was an Pathologie, physischem Verfall, besinnungsloser Sexualität unter der Decke der bürgerlichen Gesellschaft verborgen war, ausgesprochen, was in Krebsbaracken und Frauenkliniken vorging, hatte die strengsten Tabus verletzt, hatte eine ganz neue wissenschaftliche, speziell medizinische Nomenklatur in die Poesie eingeführt. Sein Thema war und ist bis heute geblieben die Spannung zwischen einem rauschhaften Biologismus und einem eisigen Intellektualismus: einerseits der ,Schwellungscharakter der Schöpfung‘, das Phallische, Triebhafte, der europaflüchtige Südseetraum, die ,trunkene Flut‘ vorbewußter Zustände – andererseits das schneidende Nein des Geistes gegen die Natur.⁴⁰
Ungewöhnlich ist zunächst die Bezeichnung Benns als Avantgardist, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit selten auf die Bewegungen der 1910er bis 1930er Jahre bezogen wurde. Obwohl der Begriff bereits seit 1912, spätestens aber ab 1925 von Guillermo de Torre für die Zusammenführung verschiedener Ismen gebraucht wurde,⁴¹ begann er sich im deutschen Sprachraum erst nach dem Zweiten Weltkrieg als fester Terminus durchzusetzen.⁴² Einen Eckstein in der Begriffsgeschichte bildete dabei Hans Magnus Enzensbergers Aufsatz „Aporien der Avantgarde“ von 1962, der den Begriff in eine breitere Öffentlichkeit trug.⁴³ Indem Holthusen von Benn als Avantgardist sprach, trug er somit dazu bei, dass sich der Begriff als Sammelbezeichnung, der Strömungen wie u. a. den Expressionismus subsumierte, in Deutschland durchzusetzen begann. Gleichzeitig bestätigt die Verwendung dieser Bezeichnung, dass Benn und die Avantgarde zusammengedacht werden können, wodurch eine Verknüpfung der Rezeption Benns mit der Rezeption der historischen Avantgarde in der Nachkriegszeit legitimiert werden kann.
Holthusen: Die Überwindung des Nullpunkts [Anm. 34], S. 151. Holthusen reproduziert hier den verbreiteten ,Mythos‘, dass Benn durch den „Morgue“-Zyklus schlagartig und vorrangig bekannt geworden sei. Jedoch kommt Herman Korte, der sich hiermit auseinandersetzt (vgl. Hermann Korte: Ein „wirklicher Tiger“ im literarischen Feld? Resonanzen auf Benn 1912 bis 1920, in: Benn Forum 3 [2012/2013], S. 69 – 90, hier: S. 69, 73), zu dem Schluss, dass die Prosa Benns seit 1916 (darunter die „Gehirne“-Novellen von 1916) größere Aufmerksamkeit erhielt und einem deutlich größeren Leserkreis zugänglich war als der „Morgue“-Zyklus (vgl. ebd., S. 90). Holthusen: Die Überwindung des Nullpunkts [Anm. 34], S. 151. Vgl. Fähnders, van den Berg: Einleitung [Anm. 1], S. 6. Vgl. Fähnders, van den Berg: Einleitung [Anm. 1], S. 7. Vgl. Fähnders, van den Berg: Einleitung [Anm. 1], S. 8.
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Die weitere Betrachtung des obigen Zitates zeigt, dass Holthusen sich durch die Auflistung von typischen Stichworten (Südsee, Medizin, Vorbewusstes, Tabuverletzung) als Kenner der expressionistischen Texte Benns ausweist. Er betrachtet Benn als „rücksichtslosesten Avantgardisten“, als Tabubrecher und Entdecker neuer Formen. Dabei sei das grundlegende „Thema“ des Expressionisten Benn, die Spannung zwischen dem Rausch- oder Triebhaften und dem Intellekt, „bis heute“ sein Thema geblieben. Demnach habe Benn thematisch seine expressionistische Linie in der Nachkriegszeit wieder aufgegriffen; dies konvergiert mit der Vermutung Rihas, dass Benn nach 1945 den Expressionismus fortführte.⁴⁴ Jedoch schreibt Holthusen in direktem Anschluss an das obige Zitat, dass Benns neue Lyrik lediglich „ein sanfter Nachklang dieser [expressionistischen] Melodie“ sei, „maßvoller im Ton, aber ohne die kühne Stoßkraft der jugendlichen Produktion“.⁴⁵ Das Provozierende oder Anstößige sei aus den expressionistischen Texten in Benns Nachkriegslyrik verschwunden. Stattdessen sei Benns gegenwärtige Lyrik geprägt durch „Melancholie“,⁴⁶ die dem Bewusstsein des am Ende lebenden europäischen Gegenwartsmenschen entspreche.⁴⁷ Zudem trete in den aktuellen Arbeiten Benns seine Prosa, die „außerhalb von Raum und Zeit“⁴⁸ liege, stärker hervor. Diese Prosa zeichne sich durch einen „Stil der expressiven Evokationen aus, der die Syntax zertrümmert und die Bruchstücke nach dem Gesetz einer suggestiven jazzartigen Rhythmik aneinanderreiht“.⁴⁹ Dieser Stil mache von verschiedenen Vokabeln, beispielsweise von einem bestimmten Jargon, von einer naturwissenschaftlichen, militärischen oder zeitungsdeutschen Ausdrucksweise Gebrauch und bilde dadurch die „technischzivilisatorische Welt“⁵⁰ der Gegenwart ab. Mit dem Ansprechen der Transgression⁵¹ üblicher Sprachregeln und des montageähnlichen Verfahrens versucht Holthusen zu beweisen, dass auch Benns Schreiben nach 1945 weiterhin Merkmale der Avantgarde bewahrt.
Zur Fortführung des Expressionismus in der Nachkriegszeit siehe Anm. 9. Holthusen: Die Überwindung des Nullpunkts [Anm. 34], S. 151. Holthusen: Die Überwindung des Nullpunkts [Anm. 34], S. 151. Vgl. Holthusen: Die Überwindung des Nullpunkts [Anm. 34], S. 151. Holthusen: Die Überwindung des Nullpunkts [Anm. 34], S. 151. Holthusen: Die Überwindung des Nullpunkts [Anm. 34], S. 152. Holthusen: Die Überwindung des Nullpunkts [Anm. 34], S. 152. Nach Fähnders kann als das Merkmal, welches die durchaus stark divergierenden avantgardistischen Strömungen unter dem Sammelbegriff ,Avantgarde‘ verbindet, die Transgression bezeichnet werden, d. h. ein Überschreiten von Grenzen, das sich auf vielen verschiedenen Ebenen realisieren kann (vgl. Fähnders, van den Berg: Einleitung [Anm. 1], S. 17). Für eine ausführlichere Auflistung und Beschreibung der Vielzahl von Merkmalen und Transgressionsebenen von avantgardistischer Literatur siehe Fähnders: Literatur [Anm. 13], S. 193 – 198.
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Benns Stil ist also in Holthusens Augen nach dem Zweiten Weltkrieg annähernd derselbe wie zur Zeit des Expressionismus, während sich die konkreten Thematiken jenseits der genannten Grundspannung an die Gegenwart angepasst haben. Diese These bestätigt sich, wenn Benn an späterer Stelle des Essays zur vergleichenden Charakterisierung des Schreibstils von Felix Hartlaub herangezogen wird. So seien die „Zertrümmerung von Syntax, [die] assoziative Reihung von Satzteilen, [und die] reichliche Verwendung von Slang und Soldatenjargon“⁵² bei Hartlaub mit Benns Techniken zu vergleichen. Allerdings sei das Thema Hartlaubs wie auch des Nachkriegs-Benn die Beschreibung der Lage des Menschen.⁵³ Dies deutet darauf hin, dass Holthusen Benn und damit die historische Avantgarde nach dem Krieg mehr in stilistisch-ästhetischer als in inhaltlicher Hinsicht als weiterführbar versteht. Was Benns Texte für die zeitgenössischen Leserinnen und Leser so anziehend mache, sei der „nihilistische Ästhetizismus“ des Autors, der „den Geist des Lesers in ein Element grenzenloser Freiheit und weltüberlegender Ironie“ versetze, wodurch dieser Geist auf Benns Nachkriegsliteratur⁵⁴ „versessen“ sei „wie auf stimulierende Drogen“.⁵⁵ Gemeint ist mit dem Begriff des „nihilistischen Ästhetizismus“ vermutlich Benns poetologisches Konzept der ,absoluten Prosa‘.⁵⁶ Dieses Konzept fand sich schon in den expressionistischen Gedichten Benns, wurde jedoch erst in der Nachkriegszeit von ihm begrifflich ausgebildet, um seine Lyrik rückblickend als Abkehr von der Idee der Mimesis zu beschreiben.⁵⁷ Holthusen versteht Benns Poetologie als eine Antwort auf die Erfahrung des Nihilismus.⁵⁸ Genauso wie der Nihilismus sich von der Bedeutung der Wirklichkeit löse, sei auch für Benn das einzig Wirkliche ein Kunstwerk, welches „außerhalb von Raum und Zeit und Geschichte“⁵⁹ existiere. Holthusen bemerkt: „An die Stelle der geschichtlichen Welt, deren Bedeutung er leugnet, setzt Benn die ,Ausdruckswelt‘ […]. Die einzige Wirklichkeit, an die Benn glaubt, ist das Kunstwerk.“⁶⁰ Diese Bemerkung entspricht Benns Stilprinzip der ,absoluten Prosa‘. Holthusen erklärt folglich, dass ein Losgelöstsein der Literatur von Zeit und Geschichte, wie es in Holthusen: Die Überwindung des Nullpunkts [Anm. 34], S. 158. Vgl. Holthusen: Die Überwindung des Nullpunkts [Anm. 34], S. 158. Namentlich aufgeführt werden die Werke „Drei alte Männer“ (1948), „Der Ptolemäer“ (1949), „Ausdruckswelt“ (1949) und „Doppelleben“ (1950). Holthusen: Die Überwindung des Nullpunkts [Anm. 34], S. 152. Vgl. zum Überblick Moritz Baßler: Absolute Lyrik und Prosa, in: Benn-Handbuch [Anm. 8], S. 306 – 308. Vgl. Baßler: Absolute Lyrik und Prosa [Anm. 56], S. 306 – 307. Vgl. Holthusen: Die Überwindung des Nullpunkts [Anm. 34], S. 151. Holthusen: Die Überwindung des Nullpunkts [Anm. 34], S. 151. Holthusen: Die Überwindung des Nullpunkts [Anm. 34], S. 150 – 151.
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Benns Literatur vorgeführt werde, etwas sei, das die Nachkriegsleserinnen und -leser anspreche, da diese Literatur ein Ausdruck der Bewusstseinslage ihrer Zeit, das heißt der durch den Nihilismus ausgelösten ,Unbehaustheit‘, sei und zugleich eine Art des Umgangs mit dieser Bewusstseinslage anbiete. Bereits zuvor, in seinem Essay „Die Bewußtseinslage der modernen Literatur“ (zuerst erschienen 1949), hatte Holthusen erklärt, dass der von ihm konstatierte Nihilismus die Ursache für die Orientierungslosigkeit und den Werteverfall des modernen Menschen sei.⁶¹ Das Kernproblem der Epoche, die Unsicherheit hinsichtlich der Frage nach dem Sinn des eigenen Daseins, das aus einer Abkehr von Gott und der Hinwendung zum Nihilismus heraus entstanden sei, müsse überwunden werden.⁶² Benns poetologisches Konzept der ,absoluten Prosa‘ biete also einen Weg aus der vom Nihilismus geprägten Problemlage des Menschen. Die expressionistische Prosa Benns sei eine Literatur, so formuliert es Holthusen in „Die Überwindung des Nullpunkts“, die es fertigbringe, „Phänomene wie Zeit und Geschichte, Staat und Gesellschaft etc. mit einem Nietzscheschen Gelächter einfach aus der Welt zu schaffen“.⁶³ Sie wird angeführt, um einen Umgang mit den Fragen der Zeit innerhalb des nihilistischen Koordinatensystems aufzuzeigen, wodurch sie in ihrer Bedeutung aktualisiert wird. Dabei wird Benn nach Stil und Poetik zum Fortführer des Expressionismus in der Nachkriegsliteratur.
Holthusens Betrachtungen zur Lage des modernen Menschen lassen sich an die in den 1950erJahren geführte Debatte um Hans Sedlmayrs 1948 veröffentlichtes, kunstwissenschaftliches Buch „Verlust der Mitte“ anschließen. Sedlmayrs Werk, das rasch zum Bestseller wurde und bereits 1951 in einer vierten Auflage erschien, wurde in den 1950er-Jahren in den Wissenschaften, im Feuilleton und in der Literatur viel diskutiert (vgl. Gerda Breuer, Andreas Berndt und Andrea Peters: Kommentar, in: Werner Hofmann: Im Banne des Abgrunds. Der ,Verlust der Mitte‘ und der Exorzismus der Moderne: Über den Kunsthistoriker Hans Sedlmayr, in: Die Zähmung der Avantgarde. Zur Rezeption der Moderne in den 50er-Jahren, hg. v. Gerda Breuer, Basel und Frankfurt a. M. 1997, S. 43 – 45, hier: S. 43, und Simon Morgenthaler: Formationen einer Kunstwissenschaft. Text- und Archivstudien zu Hans Sedlmayr, Berlin 2020, S. 374). Ähnlich wie Holthusen kommt Sedlmayr dabei zu dem Schluss, dass eine Abkehr von Gott zu einem Verfall in der Kultur geführt habe, der in der modernen Kunst zum Ausdruck gebracht werde (vgl. Breuer, Berndt, Peters: Kommentar [Anm. 61], S. 43). Vgl. Holthusen: Die Bewußtseinslage der modernen Literatur [Anm. 30], S. 18. Da für Holthusen der einzige Weg aus dieser Krise des modernen Menschen die Rückkehr zum christlichen Glauben ist, hebt er in diesem Essay besonders Thomas Stearns Eliot als den Schriftsteller hervor, dem die Überwindung des Nihilismus gelungen sei (vgl. ebd., S. 33 – 34). Holthusen: Die Überwindung des Nullpunkts [Anm. 34], S. 152.
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3 Ästhetizismus und Nihilismus – Benn als Stütze der konservativen Literaturkritik Bereits 1962 hat Franz Schonauer in „Literaturkritik und Restauration“ einen Vorschlag dazu gemacht, wie der Rückzug konservativer Literaturkritiker auf die Ebene der Ästhetik – und damit auch Holthusens Verweis auf Benns Ästhetizismus – erklärt werden kann. Schonauers Text muss als Dokument einer beginnenden Abrechnung mit der Nachkriegsgesellschaft zwar selbst historisch verstanden werden, er bietet aber meines Erachtens dennoch einen sinnvollen Vorschlag zur Erklärung des Phänomens. Schonauers These ist, dass Autoren wie Benn durch ihre ahistorischen Poetologien der konservativen Kritik die benötigten Stichworte für die Legitimation ihrer Konzepte an die Hand geben. Er beklagte, dass der Rückzug der Literaturkritik auf das rein Dichterische oder Ästhetische sowie die Vernachlässigung der politisch-gesellschaftlichen Seite zu einer Verdrängung und mangelnden Aufarbeitung der Kriegsschuld führen würden.⁶⁴ Diese Verdrängung der Schuld führe wiederum in der Literatur wie in der Literaturkritik zu einer Betonung traditioneller, konservativer Tendenzen.⁶⁵ Somit sei es kein Widerspruch, wenn konservative Literaturkritiker wie Holthusen⁶⁶ die Literatur der klassischen Moderne anpriesen,⁶⁷ da sie dies in ihrem Rückzug auf die Ebene der Ästhetik täten.⁶⁸ Der Begriff der Avantgarde würde hierbei „seiner politischen Bedeutung und Zielsetzung völlig entkleidet“.⁶⁹ Die Popularität von Autoren wie Jünger und Benn, die die Geschichte als unaufhaltsame Naturvorgänge hinnähmen und einer Ausein-
Vgl. Franz Schonauer: Literaturkritik und Restauration, in: Bestandsaufnahme. Eine deutsche Bilanz 1962. Sechsunddreißig Beiträge deutscher Wissenschaftler, Schriftsteller und Publizisten, hg. v. Hans Werner Richter, München, Wien und Basel 1962, S. 477– 493, hier: S. 481. Vgl. Schonauer: Literaturkritik und Restauration [Anm. 64], S. 481. Hans Egon Holthusen wird neben Kritikern wie Ernst Robert Curtius, Max Rychner und Günther Blöcker zu den konservativen Literaturkritikern gezählt, die ihre Wertmaßstäbe den literarischen Werken der Antike, der Klassik sowie der klassischen Moderne entnehmen und in den ersten Nachkriegsjahren zu den dominanten Stimmen im literarischen Feld gehörten (vgl. Drews: Den Anschluss finden [Anm. 18], S. 355; vgl. Pfohlmann: Literaturkritik in der Bundesrepublik [Anm. 18], S. 160 – 161). Hierbei ist allerdings zu beachten, dass Holthusen sich bereits vor 1945 der klassischen Moderne zuwandte, da er bereits 1937 mit einer Dissertation über Rilkes „Sonette an Orpheus“ promovierte (siehe Hans Egon Holthusen: Rilkes Sonette an Orpheus. Versuch einer Interpretation, München 1937). Vgl. Schonauer: Literaturkritik und Restauration [Anm. 64], S. 481. Schonauer: Literaturkritik und Restauration [Anm. 64], S. 481.
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andersetzung mit dieser aus dem Weg gingen, förderten die Einstellung, dass man mit der Geschichte abschließen müsse,⁷⁰ und unterstützten so eine konservative Literaturkritik, die eine „reaktionäre politische Gesinnung“⁷¹ befördere. In diesem Punkt hat Schonauer meiner Ansicht nach recht: Holthusen zieht sich in Übereinstimmung mit Benns Poetologie auf die Idee einer reinen Ästhetik zurück, und entpolitisiert so seine Literaturkritik. Dem könnte man zwar entgegenhalten, dass Holthusen behauptet, eine „reine Poesie“⁷² könne es nicht geben. Doch setzt er dieser Vorstellung nicht die ,Geschichte‘ und das ,Politische Handeln‘ entgegen, sondern „metaphysische Aussagen“⁷³ und „die Wahrheit und Sinnfülle des Seins“⁷⁴ – also selbst wieder ungeschichtliche, absolute Kategorien. Doch gibt es für Holthusen neben der Möglichkeit, über Benns ,nihilistischen Ästhetizismus’ die ,Unbehaustheit‘ zu kompensieren, noch einen anderen Weg, auf dem der ,Nullpunkt‘ zu überwinden sei. Dieser Weg werde durch Autoren (z. B. Rudolf Alexander Schröder und Ernst Robert Curtius), die dem Traditionalismus zuzuordnen seien, vorgezeichnet. Diese würden durch ihre Rückbesinnung auf das „alte Wahre“⁷⁵ das geistige Leben erneuern. Ihre „Waffe“ sei „eine umfassende Bildung“,⁷⁶ die in der jüngeren Generation von Literatinnen und Literaten kaum zu finden sei.⁷⁷ Gerade durch den Einbruch des Nichts seien „die konservativen Kräfte mächtig erstarkt“.⁷⁸ Diese vom Literaturkritiker positiv gezeichneten konservativen Kräfte⁷⁹ hätten „keinen Sinn für die ästhetischen Reize eines destruktiven Avantgardismus“ und würden „sich unempfindlich gegen den Sog der nihilistischen Kadenz“ zeigen.⁸⁰ Die historische Avantgarde wird über ihren angeblich ,destruktiven‘ Charakter zum Grund für den Verfall der Kultur erklärt.⁸¹ Vgl. Schonauer: Literaturkritik und Restauration [Anm. 64], S. 483 – 484. Schonauer: Literaturkritik und Restauration [Anm. 64], S. 486. Holthusen: Die Überwindung des Nullpunkts [Anm. 34], S. 153. Holthusen: Die Überwindung des Nullpunkts [Anm. 34], S. 153. Holthusen: Die Überwindung des Nullpunkts [Anm. 34], S. 152. Holthusen: Die Überwindung des Nullpunkts [Anm. 34], S. 154. Holthusen: Die Überwindung des Nullpunkts [Anm. 34], S. 154. Vgl. Holthusen: Die Überwindung des Nullpunkts [Anm. 34], S. 155. Holthusen: Die Überwindung des Nullpunkts [Anm. 34], S. 154. Die positive Konnotation der konservativen Literatinnen und Literaten wird unter anderem dadurch kenntlich, dass Holthusen Rudolf Alexander Schröder als den „letzte[n] bedeutende[n] Überlebenden der ruhmreichen Generation“, die „George, Hofmannsthal und Rilke“ einschließe, kennzeichnet und von ihm als dem „hervorragendste[n] Repräsentant[en] eines intellektuellen und künstlerischen Traditionalismus unter den deutschen Autoren“ spricht (alle Zitate aus Holthusen: Die Überwindung des Nullpunkts [Anm. 34], S. 154). Holthusen: Die Überwindung des Nullpunkts [Anm. 34], S. 154. In den letzten Sätzen des Essays wird Holthusens Ansicht, nach der der Nihilismus die Schuld an einem Kulturverfall tragen kann, angedeutet. Demnach werde der Höhepunkt, den der Nihi-
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Die Andeutung, dass die Avantgarde in Verknüpfung mit dem Nihilismus den Zerfall der Werte hervorgerufen habe, lässt sich mit einer von Richard Herzinger beschriebenen typischen Strategie konservativer⁸² Autorinnen und Autoren der Nachkriegszeit verbinden. Einer Strategie, die den historischen Zusammenhang konservativer Elemente mit dem Nationalsozialismus dadurch verschleiert, dass der Nihilismus als Wegbereiter der NS-Zeit dargestellt wird.⁸³ Da das konservative Denken „durch seine partielle Nähe zum Nationalsozialismus“⁸⁴ in Misskredit geraten war, hätten die Konservativen diesen umdeuten müssen. Diese Umdeutung habe, so Herzinger, darin bestanden „den Nationalsozialismus als die extreme Ausformung einer nihilistischen Moderne zu denunzieren, die durch einen fundamentalen Werteverfall und durch den Abfall des Menschen von Gott und der Religion gekennzeichnet sei“.⁸⁵ Auf diese Weise hätten Konservative selbst „als die wirklichen Bewahrer einer ursprünglichen Würde von Mensch und Natur erscheinen“⁸⁶ können. In eben dieser Weise deutet Holthusen die Moderne als eine von der Verlassenheit Gottes geprägte Zeit.⁸⁷ Er stellt dabei den Verfall der Werte durch den Nihilismus als eine Unheilsgeschichte
lismus in der Nachkriegszeit erreicht habe, durch die Lage der Literatur der Zeit widergespiegelt (vgl. Holthusen: Die Überwindung des Nullpunkts [Anm. 34], S. 168). Holthusens Feststellung, nach welcher die „in die Zukunft weisenden Leistungen der jüngeren Generation […] noch auf sich warten“ ließen (ebd., S. 168), kann demnach so gelesen werden, dass das Fehlen einer bedeutenden Literatur mit dem Fehlen der christlichen Werte zu verbinden sei. Richard Herzinger definiert Konservatismus als „ideologische Reaktion auf die Bedrohung traditioneller, angeblich ,gewachsener‘ Werte […] wie Religion, Autorität, Sitte, Heimat“ und andere, für deren Geltung dieser sich auf eine „der Ratio vorgängige Wahrheit“ beruft (Richard Herzinger: Konservative Autoren, in: Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995 [Anm. 7], S. 469 – 492, hier: S. 469). Dass nach Holthusen der Nihilismus die Schuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus trägt, wird beispielsweise deutlich, wenn der Literaturkritiker von Ernst Jünger als einem Autor spricht, der sich mit seinem Werk „Auf den Marmorklippen“ (1939) „gegen die Lemuren- und Schinderwelt des Naziregimes“ (Holthusen: Die Überwindung des Nullpunkts [Anm. 34], S. 146) gewendet und der „[m]it Entsetzen […] alle Exzesse des Terrors, alle Untaten des politischen und militärischen Nihilismus“ (ebd,, S. 147) aufgezeichnet habe. Holthusen beschreibt Jünger sogar als einen Diagnostiker des Faschismus (vgl. ebd., S. 146) und „Diagnostiker des Nihilismus“ (ebd., S. 148). Darüber hinaus wird nicht nur der Nationalsozialismus, sondern auch der Erste Weltkrieg von Holthusen auf den Nihilismus zurückgeführt. So schreibt er: „Die philosophische Konfrontation mit dem Nichts, die Nietzsche in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts […] beschrieben hatte, wurde für die Generation Jüngers in den ,Stahlgewittern‘ des ersten Weltkrieges zu einem physischen Erlebnis“ (ebd., S. 148). Herzinger: Konservative Autoren [Anm. 82], S. 470. Herzinger: Konservative Autoren [Anm. 82], S. 471. Herzinger: Konservative Autoren [Anm. 82], S. 471. Vgl. Holthusen: Die Bewußtseinslage der modernen Literatur [Anm. 30], S. 18.
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dar, die auf Nietzsches Diktum vom Tod Gottes zurückgehe.⁸⁸ Konservative Kritikerinnen und Kritiker, die dies täten, so Herzinger, könnten dadurch, dass sie den Nationalsozialismus „als den Kulminationspunkt eines fehlgeleiteten Zivilisationsprozesses“ deuteten, „den Totalitarismus in einer allgemeinen Unheilsgeschichte der modernen Welt“⁸⁹ auflösen, wodurch nicht nur die Schrecken des Nationalsozialismus abgeschwächt würden, da diese sich bloß als Teil in ein größeres Ganzes fügten, sondern auch der politische Widerstand gegen den Nationalsozialismus umdeutbar würde. Der politisch motivierte Antifaschismus könne auf diese Weise von den konservativen Kritikerinnen und Kritikern als eine Variante genau desjenigen Nihilismus und Atheismus verstanden werden, der die NS-Herrschaft erst ermöglicht hätte.⁹⁰ Die Abwendung von der Politik erscheine dann wie „eine für die Erneuerung der Humanität wertvollere Option“.⁹¹
4 Die Entpolitisierung der Avantgarde – Benn als Identifikationsfigur Eine solche Abwendung von der Politik wird bei Holthusen insbesondere in seinem Essay „Konversion und Freiheit“ (zuerst erschienen 1951) thematisiert. In diesem Essay geht es um die Frage nach den Beweggründen für Konversionen und darum, wie die Konversion von Autorinnen und Autoren (sei sie im religiösen oder im politischen Bereich) ihr literarisches Schaffen verändern könne. Falsch oder schlecht sind für Holthusen Konversionen, die bloße „ideologische Kurzschlüsse“⁹² darstellten, die sich zum ,Bösen‘ hinwendeten,⁹³ und solche, die in
Dieses Verständnis einer sich über den Nihilismus entwickelnden Unheilsgeschichte wird in Zitaten wie dem folgenden deutlich: „Liegt nicht der großartig groteske Schatten Friedrich Nietzsches immer noch auf dem, was in unserer Zeit gedacht, getan und gelitten wird? Seit der Verkündigung seiner tragisch-heroischen Erkenntnisfrevel ist die Bahn frei gemacht für die völlige Emanzipation des abendländischen Geistes vom alten Glauben und dem gesamten Komplex der Überlieferung, der mit ihm zusammenhängt.“ (Holthusen: Die Bewußtseinslage der modernen Literatur [Anm. 30], S. 15). Holthusen spricht von einer Entwicklung, die sich über das 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart ziehe: „Das melancholische Thema der Entthronung Gottes durch den Menschen und von der Verdrängung des Seins durch das Nichts zieht sich wie ein roter Faden durch die Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts.“ (Ebd., S. 17– 18). Beide Zitate Herzinger: Konservative Autoren [Anm. 82], S. 474. Vgl. Herzinger: Konservative Autoren [Anm. 82], S. 475. Herzinger: Konservative Autoren [Anm. 82], S. 475. Hans Egon Holthusen: Konversion und Freiheit [Zuerst erschienen im „Merkur“ 1951], in: Ders.: Der unbehauste Mensch [Anm. 26], S. 169 – 195, hier: S. 174. Vgl. Holthusen: Konversion und Freiheit [Anm. 92], S. 178.
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einen Fanatismus übergingen, das heißt in den Glauben, die absolute Wahrheit zu kennen und sich jeglichem Zweifel verschließen zu können.⁹⁴ Holthusen spricht davon, dass das „geistige Klima der Zeit“ einen „doktrinären Radikalismus in jeder Form“ begünstigen würde.⁹⁵ Dieser Radikalismus sei bereits „um 1910 in den künstlerischen Manifesten der sogenannten Futuristen sichtbar“ und habe sich „in den zwanziger Jahren […] wie eine geistige Epidemie“ ausgebreitet.⁹⁶ Diese Aussage kann so verstanden werden, dass der Futurismus entweder lediglich ein Symptom der Radikalisierung gewesen sei, oder so, dass im Futurismus etwas gelegen habe, das den Radikalismus begünstigte. Die letztere Interpretation wird meines Erachtens dadurch bestärkt, dass laut Holthusen nicht nur der Futurismus, sondern auch der Expressionismus in Verdacht gerät, totalitäre Systeme hervorzurufen. So heißt es weiter: Der terroristische Duktus, der zuerst in den Farben der expressionistischen Malerei und in der Syntax der gleichzeitigen Prosa zu beobachten war, bemächtigt sich rasch des philosophischen und politischen Denkens, schließlich auch der politischen Praxis.⁹⁷
Holthusen stellt die expressionistische Kunst als den Einsatzpunkt einer sich von dort ausbreitenden neuen, zerstörerischen Denkart dar. Die historische Avantgarde erscheint somit als etwas Destruktives, das bestehende politische und Denksysteme umstürzt und zerstört. Wird die geschichtliche Situation, in der das Essay verfasst wurde, miteinbezogen, so wird damit zugleich zu verstehen gegeben, dass die historische Avantgarde für den Aufstieg des nationalsozialistischen Regimes mitverantwortlich gewesen sein müsse. Eine solche Aussage liegt in einer Linie mit Thesen der sogenannten Expressionismus-Debatte,⁹⁸ in welcher
Vgl. Holthusen: Konversion und Freiheit [Anm. 92], S. 178. Holthusen unterscheidet den „religiösen Extremisten“ und den „,offenen‘ Konvertiten“ (ebd., S. 180). Die offene Konversion sei die zu befürwortende Art der Konversion, da bei einem offenen Konvertiten Glaube und Zweifel vereint in einer Person bestehen könnten. Dadurch werde diese Person – Holthusen nennt hier Eliot als Musterbeispiel – vor Fanatismus bewahrt und könne weiterhin ihren Horizont offenhalten, sie „verlier[e] nicht den Sinn für die unübersehbare Mannigfaltigkeit des Denkbaren“ und bewahre „sich die Freiheit des Entscheidens“ (ebd.). Zudem sei das Weltbild eines offenen Konvertiten reifer als das des Extremisten; er könne verschiedene Wahrheiten „gleichzeitig gelten lassen“ (ebd.), wodurch er sein vorheriges Leben (vor der Konversion) nicht verliere, sondern weiterführen könne (vgl. ebd.). Holthusen: Konversion und Freiheit [Anm. 92], S. 181. Holthusen: Konversion und Freiheit [Anm. 92], S. 181. Holthusen: Konversion und Freiheit [Anm. 92], S. 181. Zur Expressionismusdebatte in den Jahren 1937 und 1938, die von Exilautoren in der Moskauer Exilzeitschrift „Das Wort“ geführt wurde und deren Auslöser Gottfried Benns anfängliche offene Befürwortung des NS-Regimes war, siehe Anz: Literatur des Expressionismus [Anm. 7], S. 198 –
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Autoren der Moskauer Emigrantenzeitschrift „Das Wort“ die historische Avantgarde mit dem Nationalsozialismus verknüpft haben. Besonders die Verbindung mit politischen Ideologien scheint für Holthusen das eigentliche Problem der historischen Avantgarde zu sein. So führt er das generelle Problem „des politisch-ideologischen Engagements“ an, das zu den „geschichtlichen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte“ geführt habe.⁹⁹ Als Beispiele nennt Holthusen die Surrealisten Louis Aragon und Paul Eluard, die ihre künstlerischen Fähigkeiten mit ihrer Konversion zum Kommunismus zunichte gemacht hätten.¹⁰⁰ Aragon und Eluard, die Holthusen als einst „bedeutende Protagonisten der surrealistischen Dichtung“ vorstellt, hätten, nachdem sie der politischen Ideologie zum Opfer gefallen seien, ihre „dichterische[ ] Substanz“ verloren.¹⁰¹ Die „entfesselte[ ] Phantasie“, „die unbegrenzte[ ] Freiheit des sprachlichen Experiments“ seien „gegen das Linsengericht einer ideologischen Sicherung“ eingetauscht worden.¹⁰² Holthusen behauptet, dass ein politisch engagierter Schriftsteller Gefahr laufe, seine literarische Qualität zu verlieren. „Ein Schriftsteller, der sich dem Kommunismus verschreibt, ist als Schriftsteller verloren“,¹⁰³ schreibt Holthusen, fügt jedoch hinzu, dass es auch Ausnahmen von dieser Regel (Brecht) gebe.¹⁰⁴ Daraus ließe sich schließen, dass die Kunstformen der historischen Avantgarde zwar qualitativ wertvoll sein könnten, allerdings nur, wenn sie ihrer politischen Dimension enthoben würden. Generell werden in „Konversion und Freiheit“ noch stärker als in den anderen Essays Argumente aufgeführt, die zeigen sollen, warum eine politische Stellungnahme durch einen Schriftsteller zu verurteilen sei. So argumentiert Holthusen, dass ein Autor durch sein politisches Engagement keinen geistigen Notstand beheben, sondern stattdessen bloß verschlimmern würde.¹⁰⁵ Dabei verstricke er sich „in Prozesse, deren Ablauf seiner Urteilskraft entrückt“ seien.¹⁰⁶ Gemeint ist damit, dass die Bedeutung politischer Begriffe und Stellungnahmen sich stetig mit dem Laufe der Geschichte verändere, sodass „wer heute ein politisch gefärbtes Le-
201 und vgl. Die Expressionismusdebatte. Materialien zu einer marxistischen Realismuskonzeption, hg. v. Hans Jürgen Schmitt, 5. Aufl., Frankfurt a. M. 1987. Zum Verhältnis von historischer Avantgarde und Nationalsozialismus siehe Streim: Deutschsprachige Literatur 1933 – 1945 [Anm. 2], S. 69 – 71. Holthusen: Konversion und Freiheit [Anm. 92], S. 183. Vgl. Holthusen: Konversion und Freiheit [Anm. 92], S. 183. Holthusen: Konversion und Freiheit [Anm. 92], S. 183. Holthusen: Konversion und Freiheit [Anm. 92], S. 183. Holthusen: Konversion und Freiheit [Anm. 92], S. 184. Holthusen: Konversion und Freiheit [Anm. 92], S. 184. Vgl. Holthusen: Konversion und Freiheit [Anm. 91], S. 186. Holthusen: Konversion und Freiheit [Anm. 92], S. 186.
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bensideal formulier[e], […] morgen vor Gericht gestellt oder diffamiert werden“¹⁰⁷ könne. Als Beispiel nennt Holthusen Benn, dessen politische Stellung 1933 ihm „wenige Jahre später“¹⁰⁸ vorgeworfen wurde. Was an dieser Stelle anklingt, ist Holthusens eigene Vorgeschichte, sein Beitritt zur SS und NSDAP, der nach dem Krieg für ihn problematisch wurde und für den er sich rechtfertigen musste. Um weiter als Literaturkritiker tätig sein zu können und sein Ansehen nicht zu verlieren, musste Holthusen sich vom nationalsozialistischen Gedankengut lossagen. Dies tat er, indem er seinen Beitritt zur SS als eine bloße ,Jugendsünde‘ entschuldigte.¹⁰⁹ Insofern ist die Abwendung von politisch engagierten Autorinnen und Autoren auch eine Reaktion des Literaturkritikers auf die nach 1945 gemachten eigenen Erfahrungen. Sie stellt den Versuch dar, die eigene Schuld an den Verbrechen der Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten zu verschleiern, indem die Aufarbeitung dieser Schuld über die Entpolitisierung des literarischen Feldes der Nachkriegszeit verzögert wird. Zudem wird der Nationalsozialismus als ein geschichtliches Phänomen umgedeutet, das seinen Ursprung im Nihilismus und in der Radikalität der Avantgarde habe. Gestützt wird diese Vermutung dadurch, dass Holthusen zwischen konträren politischen Ausrichtungen keinen Unterschied macht: „Man kann, ohne sich selbst untreu zu werden, heute ein ,faschistisch‘ gefärbtes oder doch so verstandenes Zerrbild entwerfen und wenige Jahre später sich als antifaschistischer Frondeur ausweisen“.¹¹⁰ In dieser Gleichsetzung stellt der Nationalsozialismus Holthusen zufolge nur eine politische Richtung neben anderen dar. Auch für Holthusen ist Gottfried Benn ein Autor, der sich „als ideale Projektionsfigur“¹¹¹ eignet – wie für viele intellektuelle Leserinnen und Leser der Nachkriegszeit. Man wandte sich ihm gerne zu, da er genauso wie der Großteil der Deutschen die Zeit des Nationalsozialismus durchlebt und sich dabei auch selbst schuldig gemacht hat. Durch seine anfängliche Begeisterung für den Nationalsozialismus und seine damit einhergehenden Verfehlungen betrachteten die Leserinnen und Leser Benn als einen von ihnen, zumal auch er nicht, im Gegensatz zu den unangenehmen Emigrantinnen und Emigranten auf eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit pochte.¹¹² Holthusens Verweis auf Benn kann darüber hinaus als Mittel zur eigenen Entnazifizierung gesehen werden, da
Holthusen: Konversion und Freiheit [Anm. 92], S. 186. Holthusen: Konversion und Freiheit [Anm. 92], S. 188. Zu Holthusens Verhältnis zum Nationalsozialismus und seiner Rechtfertigungsschrift „Freiwillig zur SS“ siehe Anm. 20 und Anm. 22. Holthusen: Konversion und Freiheit [Anm. 92], S. 187. Geist: Zur literarischen Benn-Rezeption [Anm. 8], S. 383. Vgl. Geist: Zur literarischen Benn-Rezeption [Anm. 8], S. 383 – 384.
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er sich über die positive Rezeption Benns als Unterstützer eines im Nationalsozialismus verfolgten und verurteilten historischen Avantgardisten präsentieren kann. Insgesamt lassen sich für den „Unbehausten Menschen“ drei zentrale, miteinander zusammenhängende Themenkreise ausmachen, für die Benn als avantgardistische Referenz herangezogen wird: Ausgehend vom Begriff des Ästhetizismus über den des Nihilismus bis schließlich zur Frage nach dem Politischen in der Literatur wird Benn dafür genutzt, Holthusens Position zur Lage der Nachkriegsliteratur zu verdeutlichen und zu stützen. Die Avantgarde, deren Nihilismus in den Faschismus gemündet habe, müsse ihrer politischen und inhaltlichen Dimension entkleidet werden, damit sie in der Nachkriegszeit fortgeführt werden könne.
5 Retter und Symptom zugleich – Ein Fazit Der Begriff ,Avantgarde‘ wurde in der unmittelbaren Nachkriegszeit selten für das verwendet, was in der Literaturwissenschaft heute unter ,historischer Avantgarde‘ verstanden wird – die mit Futurismus und Expressionismus einsetzende Bewegung der Modernität, die sich gegen die ‚bürgerliche‘ Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts richtete.¹¹³ Angesichts dieser Tatsache fällt umso stärker auf, dass Benn von Holthusen als ,Avantgardist‘ bezeichnet wird. Zum einen trug dies dazu bei, dass sich der Sammelbegriff ,Avantgarde‘ im deutschsprachigen Raum allgemein etablierte. Zum anderen bestätigt es die Annahme einer bereits früh in der Nachkriegszeit vollzogenen Verknüpfung von Benn und diesem (noch unterbestimmten) Begriff, die in der Folge Schule machen wird. Daher kann eine Rezeption Benns in der Nachkriegszeit mit einem Wiederanknüpfen an die Avantgarde verbunden werden. Darüber hinaus werden Benns Poetologie und Werk immer wieder als Vergleichsgrößen für die Beschreibung von zeitgenössischer Literatur herangezogen. Benns expressionistischer Stil wird von Holthusen wiederholt zum Vorbild für
In „Theorie der Avantgarde“ definiert Peter Bürger Avantgarde wie folgt: „Die Gemeinsamkeit dieser Bewegungen besteht bei allen, zum Teil erheblichen Unterschieden darin, daß sie nicht einzelne künstlerische Verfahrensweisen der voraufgegangenen Kunst ablehnen, sondern diese in ihrer Gesamtheit, so einen radikalen Traditionsbruch vollziehend, und daß in ihren extremsten Ausprägungen sie sich vor allem gegen die Institution Kunst wenden, wie sie sich in der bürgerlichen Gesellschaft herausgebildet hat.“ Dabei bezeichnet er als „Grundtendenz“ dieser Bewegungen die „Aufhebung der Kunst in der Lebenspraxis“. Für alle Zitate siehe: Peter Bürger: Theorie der Avantgarde (1974). Göttingen 2017, S. 167, Anm. 4.
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zeitgenössische Nachkriegsautorinnen und -autoren erklärt. Somit kann festgehalten werden, dass die Beschreibung der avantgardistischen und expressionistischen Vergangenheit Benns, bei gleichzeitiger Hervorhebung seiner Bedeutung für die Gegenwartsliteratur, ihn selbst und damit auch die historische Avantgarde zunächst als eine in der unmittelbaren Nachkriegszeit wieder anschlussfähige literarische Größe kennzeichnet. Auch die drei Jahre später erschienene Essaysammlung „Ja und Nein. Neue kritische Versuche“ (1954), deren Aufsätze zum größten Teil bereits in den Jahren 1940 bis 1954 in verschiedenen Zeitschriften publiziert wurden, bestätigt den Einfluss des Avantgardisten Benn auf die Nachkriegsliteratur. So wird Benn in „Ja und Nein“ auffallend oft als Vergleichsgröße und Einflussgeber zur Beschreibung anderer bekannter Nachkriegsschriftsteller wie Karl Krolow, Walter Höllerer, George Forestier¹¹⁴ und Albert Arnold Scholl herangezogen.¹¹⁵ Beispielsweise würden Benns im Expressionismus entwickelte Poetologien von Nihilismus, absoluter Prosa und Phänotyp in Krolows Schaffen in veränderter Form weitergeführt.¹¹⁶ Auffallend ist dabei, dass Holthusen zufolge Benns Themen (Nihilismus und Kulturkritik, aber auch sozialkritische Themen wie Rassismus und Kriegsverbrechen) nicht mehr zeitgemäß seien, da sie nicht den Bedürfnissen der Leserinnen und Leser entsprächen.¹¹⁷ Es wird deutlich, dass Holthusen expressionistische Themen wie Krieg und Zerstörung für nicht fortführbar hält. Diese Ablehnung könnte die strategische Funktion haben, die konservativen Kräfte auf dem lite-
George Forestier ist ein Pseudonym, unter dem der Schriftsteller Karl Emerich Krämer ab 1952 publizierte. Forestiers literarisches Werk wurde von der Literaturkritik lobend hervorgehoben, bis die Aufdeckung des Pseudonyms 1955 einen literarischen Skandal auslöste. Krämer hatte sowohl militärisch (als Soldat und Oberbannführer der Hitlerjugend) als auch in seinem literarischen Schaffen den Nationalsozialismus unterstützt. Beispielweise wurden seine ersten literarischen Werke von der Reichsschrifttumskammer und dem Oberkommando der Wehrmacht ausgezeichnet. Er erhielt 1946 ein Schreibverbot, veröffentlichte aber weiter unter seinem Namen.Vgl. [o.A.]: Krämer, Karl Emerich, in: Munzinger Online/Personen. Internationales Biographisches Archiv (29. März 2021). Vgl. insbesondere folgende Essays: Hans Egon Holthusen: Naturlyrik und Surrealismus. Die lyrischen Errungenschaften Karl Krolows [Zuerst erschienen im „Merkur“ 1953], in: Ders.: Ja und Nein. Neue kritische Versuche, München 1954, S. 86 – 123, und ders.: Fünf junge Lyriker [Zuerst erschienen im „Merkur“ 1954], in: Ebd., S. 124– 165. Zu Benns Einfluss auf Walter Höllerer vgl. ebd., S. 140 – 141. Zur Verbindung von Albert Arnold Scholl und Benn vgl. ebd., S. 144– 148. Zu Benn und Forestier vgl. ebd., S. 150 – 151 und 153. Vgl. Holthusen: Naturlyrik und Surrealismus [Anm. 115], S. 86 – 123, insbes. S. 90, 104– 105, 107– 108. Nicht von Holthusen erwähnt wird in diesem Aufsatz über Krolow im Übrigen die NSVergangenheit des Autors. Siehe hierzu Hans Sarkowicz und Alf Mentzer: Krolow, Karl, in: Schriftsteller im Nationalsozialismus. Ein Lexikon, hg. v. dens., Berlin 2011, S. 417– 420. Vgl. Holthusen: Fünf junge Lyriker [Anm. 115], S. 135.
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rarischen Feld der Nachkriegszeit zu bestärken, indem die antikonservativen Kräfte (sich allmählich etablierende politische und zeitkritische Autorinnen und Autoren, z. B. bestimmte Mitglieder der Gruppe 47) abgewertet werden. Entsprechend könnten Autoren wie Höllerer und Scholl Holthusen zufolge zwar die Sprache Benns, nicht aber sein Thema kopieren.¹¹⁸ Entsprechend hat auch die nähere Untersuchung der Rezeption Benns in „Der unbehauste Mensch“ gezeigt, dass Holthusen Benn und die historische Avantgarde mehr ihrer Form nach (d. h. in Stil und Ästhetik) als ihrem Inhalt oder ihrem politischen Gehalt nach für weiterführbar hält. So bestehe Benns expressionistischer Stil (Montagetechnik, zerstörte Syntax, Verwendung von Assoziationsketten und Jargon, naturwissenschaftliche Ausdrucksweise usw.) in der Nachkriegszeit fort, während seine Themen (das Provozierende) verschwunden seien und seine Prosa vermehrt außerhalb der räumlich-zeitlichen Wirklichkeit liege.¹¹⁹ Was Benns Literatur für die Nachkriegsleserinnen und -leser so anziehend mache, sei sein poetologisches Konzept der „absoluten Prosa“. Dieses bereits in seinen expressionistischen Gedichten angewandte Konzept, die Befreiung des Kunstwerkes von Raum, Zeit und Geschichte, sei eine Antwort auf den in der Gegenwart erfahrenen Nihilismus. Holthusen, der diesen zur Ursache für die von ihm konstatierte Orientierungslosigkeit und den Werteverlust des modernen Menschen erklärt, sieht in der ,absoluten Prosa‘ eine Möglichkeit des Umgangs mit dieser Problemlage. Gleichzeitig kann über den Bezug auf Benn und seine ungeschichtliche Poetologie die konservative Literaturkritik, der Holthusen angehört, im literarischen Feld bestärkt werden. Über den Rückzug auf das Ästhetische und die Ablehnung des geschichtlichen oder politischen Inhalts wird eine von der gesellschaftlichen Wirklichkeit gelöste Literatur und Literaturkritik und damit eine traditionelle, konservative¹²⁰ Literatur gefördert. Durch diese Entpolitisierung der Literatur kann wiederum die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus verzögert und damit eine Beschäftigung mit der eigenen Schuld verhindert wer-
Vgl. Holthusen: Fünf junge Lyriker [Anm. 115], S. 140 – 141 u. S. 144. „Die neuere Lyrik Benns ist ein sanfterer Nachklang dieser [expressionistischen] Melodie, maßvoller im Ton […]. Was neuerdings mehr hervortritt, ist […] eine ,Prosa außerhalb von Raum und Zeit‘.“ (Holthusen: Die Überwindung des Nullpunkts [Anm. 34], S. 151) Zu Holthusens Ansicht, dass der expressionistische Stil von Benn nach 1945 fortgeführt wird, während die Themen des Expressionismus verschwänden, siehe die Ausführungen zu Anm. 45, 46 und 47. Zum Begriff ,konservativ‘ und Holthusens Zuordnung zu den ,Konservativen‘ siehe Anm. 66 und 82. Zur These Schonauers, dass ungeschichtliche Poetologien wie Benns die konservative Kritik stützen, vgl. Schonauer: Literaturkritik und Restauration [Anm. 64], S. 481. Vgl. die Ausführungen zu Anm. 64 bis 71.
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den. Dies geschieht bei Holthusen, indem er den Nationalsozialismus als bloße Folge einer nihilistischen Unheilsgeschichte der Moderne darstellt. Holthusen kann so als der Bewahrer ,alter Werte‘ auftreten.¹²¹ Es wird deutlich, dass für Holthusen nur eine ihrer politischen Aspekte entledigte historische Avantgarde in der Nachkriegszeit als wiederanschlussfähig gelten kann. Durch seine Strategie der Entpolitisierung kann Holthusen schließlich auch seine eigene NS-Vergangenheit, seinen Beitritt zur SS, zur NSDAP und sein Mitwirken an propagandistischen Texten im Nationalsozialismus verbergen. Benn stellt den idealen Referenzautor dar, da er wie Holthusen und viele andere Deutsche in das totalitäre Regime verwickelt war und sich dabei selbst schuldig gemacht hat. Der Bezug auf einen avantgardistischen Autor wie Benn, der ab 1933 in der Öffentlichkeit immer stärker diffamiert wurde und 1938 schließlich ein Schreibverbot erhielt,¹²² dient Holthusen als Mittel zur Selbstentnazifizierung.¹²³ Insgesamt kann Holthusen an Benn exemplarisch vorführen, was er sich für die Literatur der ,unbehausten‘ Nachkriegszeit wünscht: eine avantgardistische Ästhetik unter unpolitischen Vorzeichen, die somit die Zeit zwischen 1933 und 1945 auszublenden vermag. Sowohl in „Der unbehauste Mensch“ als auch in „Ja und Nein“¹²⁴ fällt auf, dass Holthusen zugleich anerkennend und abwertend von Benn und der historischen Avantgarde spricht. Beispielsweise würdigt er den Beginn der avantgardistischen Bewegungen in den 1910er Jahren als den Anfang der modernen Literatur, der die bedeutenden Schriftstellerinnen und Schriftsteller der Gegenwart geprägt habe. Gleichzeitig spricht er aber auch davon, dass der Beginn der Avantgarde eine Tendenz zur Radikalisierung markiere. Auch finden sich vermehrt Stellen, an denen er die historische Avantgarde aufgrund ihres angeblichen destruktiven Charakters, ihres politischen Radikalismus und ihrer Verknüpfung mit dem Nihilismus, der zur ,Unbehaustheit‘ des Menschen, zu Krieg und Totalitarismus geführt habe, abwertet und für nicht weiterführbar erklärt. Diese Stellen scheinen jedoch wiederum den Momenten entgegenzustehen, in denen Holthusen beispielsweise Benn als aktuelle, für zeitgenössische Leserinnen und Erinnert sei hier an die in den 1950er-Jahren geführte Debatte um Sedlmayrs „Verlust der Mitte“. Siehe Anm. 61. Vgl. Schärf: Zeiten und Zonen [Anm. 36], S. 15 – 20. Zur näheren Untersuchung von Holthusens Selbstentnazifizierung siehe Berg: Selbstentnazifizierung einer Komplizenschaft [Anm. 17]; Berg: Jean Améry und Hans Egon Holthusen [Anm. 18]; Immer: Die ewige Wunde des Geistes [Anm. 22] und Rduch: Korrektur der Kriegsbilder [Anm. 16]. Siehe insbesondere folgende Aufsätze: Hans Egon Holthusen: Versuch über das Gedicht [Zuerst erschienen im „Merkur“ 1954], in: Ders.: Ja und Nein [Anm. 115], S. 16 – 55; Holthusen: Naturlyrik und Surrealismus [Anm. 115], S. 86 – 123; Holthusen: Fünf junge Lyriker [Anm. 115], S. 124– 165.
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Daria Engelmann
Leser sowie Schriftstellerinnen und Schriftsteller relevante Größe lobend hervorkehrt, der in seinen Werken die gegenwärtige Problemlage des ,Nachkriegsmenschen‘ ausdrücken und sogar zu überwinden helfen könne. Allgemein kann daher festgestellt werden, dass Holthusen Benn und die Avantgarde für ganz unterschiedliche, einander entgegensetzte Aspekte in Anspruch nimmt und dabei so wendet, wie es seiner aktuellen Sicht und Intention entspricht. So fungiert Benn einmal als Retter aus der Krise und im nächsten Moment als Symptom derselben; die Avantgarde ist einmal Vorbild und nahezu gleichzeitig destruktiv und ,unklassisch‘.¹²⁵ Je nachdem, in welcher Funktion Holthusen Benn und die historische Avantgarde gerade gebraucht, zieht er sie für seine literaturtheoretischen¹²⁶ oder historischen Erklärungen heran. Unabhängig davon lässt sich festhalten, dass die verbreitete Forschungsthese von der verzögerten Rezeption zu relativieren ist.¹²⁷ Eine grundlegende Missachtung der historischen Avantgarde in der Zeit zwischen 1945 und 1951 ist – jedenfalls, was Holthusen betrifft – nicht festzustellen. Zudem ist aufgrund der Popularität des Literaturkritikers, der Bekanntheit seiner Werke und seiner dominanten Position im literarischen Feld zu vermuten, dass auch generell nicht von einer fehlenden Rezeption der historischen Avantgarde in der frühen Nachkriegszeit zu sprechen ist. Somit eröffnet sich das literarische Feld der Nachkriegszeit als ein bisher kaum hinsichtlich der Rezeption der historischen Avantgarde bearbeitetes Forschungsdesiderat, dem sich nachfolgende Untersuchungen widmen können.
Holthusen vermittelt den Leserinnen und Lesern, dass der Expressionismus nur schwerlich ein überzeitlich relevantes Werk hervorbringen könne, da seine Sprache sogar das Gegenteil von Klassizität sei. Vgl. Holthusen: Versuch über das Gedicht [Anm. 124], S. 43 – 44. In „Versuch über das Gedicht“ unterscheidet Holthusen zwei Arten Lyriker. Der eine ist ein Genius, dem die Gedichte von göttlichen Gewalten oder im Rausch zuströmen, der andere ist ein schwer arbeitender Handwerker, der die Gedichte bewusst, ja sogar kühl kalkuliert. Benn ist für Holthusen das Musterbeispiel bzw. das Extrem des ,technischen‘ Dichters.Vgl. Holthusen:Versuch über das Gedicht [Anm. 124], S. 16 – 20. Es sei hier verwiesen auf die Arbeit „Nachkriegsmoderne. Transformation der deutschsprachigen Lyrik 1945 – 1960“ von Fabian Lampart, in der die Annahme einer frühen Rezeption insbesondere moderner Lyrik problematisiert wird: „Es geht in der 50er Jahren nicht so sehr um eine Rezeption der internationalen Moderne als vielmehr darum, die verschiedenen Konzeptionen, die mit dem Moderne-Begriff verbunden sind oder die mit ihm verknüpft werden können, neu auszutarieren.“ Fabian Lampart: Nachkriegsmoderne. Transformation der deutschsprachigen Lyrik 1945 – 1960, Berlin und Boston 2013, S. 449.
Sarah Gaber (Tübingen)
„Dies ist die erhabenste Kritik, die je über mich erschienen ist –“. Gottfried Benn, Friedrich Sieburg und die Bedeutung einer Rezension im literarischen Feld nach 1945 Abstract: Der Beitrag untersucht unter Berücksichtigung eines unveröffentlichten Benn’schen Briefentwurfs die Kontexte von Friedrich Sieburgs Rezension „Wer allein ist –“ und arbeitet den Stellenwert des Textes im literarischen Feld nach 1945 heraus. Die besondere Bedeutung der Besprechung als frühes Rezeptionszeugnis der „Statischen Gedichte“ ist in der Forschung Konsens. Erwähnungen beschränken sich jedoch zumeist auf Paraphrasen oder werten die Rezension als Zeugnis für eine ideologische Affinität von Autor und Kritiker. In Abgrenzung hierzu berücksichtigt das Vorliegende die ästhetische Entwicklung und symbolische Interessenslage Sieburgs. Im Anschluss werden Interaktionsformen erschlossen, die Benn in Auseinandersetzung mit der Literaturkritik entwickelt hat.
1 Benn und Sieburg – eine Allianz im literarischen Feld In einem Brief an den Publizisten Frank Maraun, datiert auf April 1949, reflektiert Benn über den konstitutiven Zusammenhang von Rezensionswesen und literarischer Popularität: Eine Frage, die mir kürzlich aufstiess: Wie entstand eigentlich um 1750 – 1800 der Ruhm? Presse gab es doch noch nicht, Magazine?? Wo erschienen eigentlich die Kritiken über die „Räuber“ z. B. oder über den „Götz“? Auf welchen Wegen entstand die Popularität, die die Grössten von damals doch entschieden besassen? Ganz interessante kulturhistorische Frage […].¹
Dass die diskursbildende Funktion der Literaturkritik den Autor gerade zu diesem Zeitpunkt zum Nachdenken anregt, verdankt sich aller Wahrscheinlichkeit nach
Gottfried Benn an Frank Maraun (d.i. Erwin Goelz), 20. April 1949, in: Ders.: „Absinth schlürft man mit Strohhalm, Lyrik mit Rotstift“. Ausgewählte Briefe 1904– 1956, hg. v. Holger Hof, Stuttgart und Göttingen 2017, S. 173. https://doi.org/10.1515/9783110729658-007
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Sarah Gaber
nicht nur einem allgemeinen kulturhistorischen Interesse, sondern auch einem persönlichen: Seit Februar 1949² erlebt Benn selbst eine Phase gesteigerter medialer Aufmerksamkeit und knüpft – nach dem Ausschluss aus der literarischen Öffentlichkeit 1936/1938³ – wieder an seinen Vorkriegsruhm an. In der Forschung wurde dieses „Come-back“⁴ bereits früh als Effekt der Literaturkritik erkannt,⁵ die als Instanz symbolischer Kapitalbildung eng mit der Genese des literarischen Feldes verknüpft ist.⁶ Als wegweisend gilt dabei eine Rezension, deren heraus-
Im Februar 1949 erschienen der Prosaband „Der Ptolemäer“ sowie ein Heft der Kulturzeitschrift „Merkur“ mit Beiträgen von und über Benn (darunter Auszüge aus dem „Roman des Phänotyp“ sowie dem „Berliner Brief“). Im März 1949 publizierte Max Niedermayer zudem die deutsche Lizenzausgabe der „Statischen Gedichte“. Infolge der hochfrequenten Publikationen verzeichnet Joachim Dyck allein für das Jahr 1949 „mehr als fünfzig Besprechungen.“ Joachim Dyck: Der Zeitzeuge. Gottfried Benn 1929 – 1949, Göttingen 2006, S. 404. 1936 untersagte das Reichskriegsministerium Benn als Angehörigem der Wehrmacht jedwede Veröffentlichung im Soldatenstand, ursächlich hierfür waren die Invektiven im Artikel „Der Selbsterreger“. 1938 folgte das faktische Berufs- und Publikationsverbot durch den Ausschluss aus der Reichsschrifttumskammer. Vgl. Gottfried Benn an Frank Maraun (d.i. Erwin Goelz), 7. März 1949, in: Ders.: Ausgewählte Briefe, mit einem Nachwort v. Max Rychner,Wiesbaden 1957, S. 142: „Das ist also mein Come-back in Berlin nach 15 Jahren. Nun geht also das Gefrage hier los.“ Vgl. exemplarisch: Peter Uwe Hohendahl: Einleitung, in: Benn – Wirkung wider Willen. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Benns, hg., eingeleitet und kommentiert v. dems., Frankfurt a. M. 1971, S. 13 – 86, hier: S. 67– 76; Brian Holbeche: Die Lyrik Gottfried Benns im westdeutschen literarischen Leben der 50er Jahre. Rezeption und Einfluß, in: „Die Mühen der Ebenen“. Kontinuität und Wandel in der deutschen Literatur und Gesellschaft 1945 – 1949, hg. v. Bernd Hüppauf, Heidelberg 1981, S. 307– 330, sowie (unter Berücksichtigung der Feldtheorie) Astrid Arndt: Ungeheure Größen. Malaparte – Céline – Benn. Wertungsprobleme in der deutschen, französischen und italienischen Literaturkritik, Tübingen 2005, S. 209 – 223. Bourdieu fasst Kanonisierung bzw. kulturelle Deutungshegemonie als einen kollektiven Akt. In einer Vielzahl von Praktiken werden die Werke „hundertfach, tausendfach von all denen gemacht […], die daran interessiert sind, die ein materielles oder symbolisches Interesse daran finden, es [das Werk, die Verf.] zu lesen, einzuordnen, zu entziffern, zu kommentieren, zu reproduzieren, zu kritisieren, zu bekämpfen, es zu kennen, zu besitzen.“ Die Literaturkritik erhält dabei in Anlehnung an Max Webers Religionssoziologie den Status einer Konsekrationsinstanz, denn „der Künstler, der das Werk schafft, [wird] selbst innerhalb des Feldes erschaffen: durch all jene nämlich, die ihren Teil dazu geben, daß er ,entdeckt‘ wird und die Weihe erhält als ,bekannter‘ und anerkannter Künstler.“ Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, übers. v. Bernd Schwibs und Achim Russer, Frankfurt a. M. 1999, S. 277 sowie S. 271; vgl. für die Bedeutung von Rezeptionsprozessen bei Bourdieu zudem Joseph Jurt: Literaturzirkulation und Feldtheorie, in: Zwischen Transfer und Vergleich. Theorien und Methoden der Literatur- und Kulturbeziehungen aus deutsch-französischer Perspektive, hg. v. Christiane SollteGresser u. a., Stuttgart 2013, S. 239 – 259.
„Dies ist die erhabenste Kritik, die je über mich erschienen ist –“
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gehobene Bedeutung als „Ritterschlag“⁷ und „erlösende[s] Wort“⁸ immer wieder akzentuiert wird: Friedrich Sieburgs „Wer allein ist –“.⁹ Noch auf Basis der in Deutschland nur schwer erhältlichen Arche-Ausgabe legt Friedrich Sieburg (1893 – 1964), der spätere „Star des westdeutschen Literaturbetriebs der 1950er Jahre“,¹⁰ im Februar 1949 unter diesem Titel eine Besprechung der „Statischen Gedichte“ vor, die Benn gegenüber dem „Stimmengewirr der um lyrischen Ausdruck bemühten Gegenwart“ abgrenzt.¹¹ Die Rezension generiert als erste ihrer Art eine überregionale Aufmerksamkeit für den Dichter,¹² der ihr Kanonisierungspotential sofort erkennt: Eine Abschrift, die er am 25. des Monats erhält, leitet er an Oelze weiter, auf dem Seitenrand die handschriftliche Ergänzung: „Dies ist die erhabenste Kritik, die je über mich erschienen ist –, eigentlich müsste man umfallen u. sterben“.¹³ Als die Verkaufszahlen der „Statischen Gedichte“ zunächst hinter den Erwartungen zurückbleiben, verweist er zudem den frisch als deutschen Verleger gewonnenen Max Niedermayer tröstend auf Sieburgs Text.¹⁴ Nicht zuletzt wird die Kritik für den Dichter, der nach 1945 ein
Thomas Wegmann: „Ach, vergeblich das Fahren!“ Gottfried Benns Ästhetik des Bleibens und einige konservative Allianzen im literarischen Feld, in: Perspektiven konservativen Denkens. Deutschland und die Vereinigten Staaten nach 1945, hg. v. Erhard Schütz und Peter Uwe Hohendahl, Bern u. a. 2012, S. 163 – 177, hier: S. 167. Dyck: Der Zeitzeuge [Anm. 2], S. 387; in ihrer besonderen Bedeutung herausgestellt wird die Rezension zudem bei Hohendahl: Einleitung [Anm. 5], S. 57, sowie bei Peter Geist: Zur literarischen Benn-Rezeption im Westen und Osten Deutschlands nach 1945, in: Benn-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Christian M. Hanna und Friederike Reents, Stuttgart 2016, S. 383 – 390, hier: S. 383: „Sieburg hatte [mit seiner Rezension, die Verf.] den Wertungsrahmen vorgegeben, Benn nicht nur im literarischen Feld der Gegenwartslyrik willkommen zu heißen, sondern ihn als bedeutendsten lebenden deutschen Dichter zu feiern“. Friedrich Sieburg: „Wer allein ist –“, in: Die Gegenwart 4 (1949), S. 22. Axel Schildt: Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik, hg. und mit einem Nachwort versehen v. Gabriele Kandzora und Detlef Sieg, Göttingen 2020, S. 190; vgl. für Sieburgs Leben und Werk zudem Wolfram Knäbich: Solitär wider Willen. Wandlungen der Kulturkritik bei Friedrich Sieburg nach 1945, in: Solitäre und Netzwerker. Akteure des kulturpolitischen Konservatismus nach 1945 in den Westzonen Deutschlands, hg. v. Erhard Schütz, Essen 2009, S. 147– 166, sowie Harro Zimmermann: Friedrich Sieburg. Ästhet und Provokateur, Göttingen 2015. Sieburg: Wer allein ist [Anm. 9], S. 22. Vgl. Dyck: Der Zeitzeuge [Anm. 2], S. 387. Gottfried Benn an Friedrich Wilhelm Oelze, 28. Februar 1949, in: Dies.: Briefwechsel 1932– 1956, hg. v. Harald Steinhagen, Stephan Kraft und Holger Hof, Bd. 3: 1949 – 1950, Stuttgart und Göttingen 2016, S. 40 – 41, mit Faksimile-Abdruck der Abschrift. Belege nach dieser Ausgabe im Folgenden unter der Sigle „BOe I–IV“. Vgl. Gottfried Benn an Max Niedermayer, 20. April 1949, in: Ders.: Briefe an den Limes Verlag 1948 – 1956. Mit der vollständigen Korrespondenz auf CD-ROM, hg. und kommentiert v. Marguerite Valerie Schlüter und Holger Hof, Stuttgart 2006, S. 76 (CD): „[V]erlieren Sie nicht die gute Laune.
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ganzes Repertoire von „Figur[en] sozialer Exklusion“¹⁵ etabliert hat, zum Anlass dafür, sich mit dem Kritiker selbst zu vernetzen. Ausgangspunkt hierfür ist der in diesem Band erstmals veröffentlichte Briefentwurf,¹⁶ der somit als Beginn einer Allianzbildung auf dem literarischen Feld gelten kann.¹⁷ Dieses in zahlreichen Briefen, Besprechungen und gelegentlichen Treffen während der Jahre 1949 – 1956 beglaubigte¹⁸ ,Bündnis‘ wird in der bisherigen Forschung oft als Ausdruck einer restaurativ-ästhetizistischen Wahlverwandtschaft gedeutet. Deren Ursprung sei mit Blick auf die ideologischen Verwicklungen der beiden Männer nicht so sehr im literarischen als im übergeordneten politischen Machtfeld zu verorten.¹⁹ Und tatsächlich finden sich im Lebenslauf
Denken Sie, eine Kritik wie die von Sieburg in der Gegenwart kann überhaupt kein lebender Autor in Deutschland mehr bekommen, die ist doch schon überirdisch und Ihre Gedichtausgabe findet überall grösste Anerkennung“. Thomas Wegmann: Der Dichter als Paria. Zur Ästhetisierung einer Figur sozialer Exklusion, in: Benn Forum 6 (2018/2019), S. 19 – 32. Neben der bei Wegmann fokussierten Paria-Figur sind zudem exemplarisch zu nennen: der Dichter als isolierter „Sonderling[ ], Einzimmerbewohner“ in „Probleme der Lyrik“ (vgl. SW VI, 29) sowie die 1950 in „Doppelleben“ wiederholte Opposition von „Kunstträgern und Kulturträgern“ (SW V, 168; zuerst in „Lebensweg eines Intellektualisten“ 1934 [vgl. SW IV, 182]). Zitate unter den Siglen (SW I – VII/2) folgen der Ausgabe Gottfried Benn: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, hg. v. Gerhard Schuster und Holger Hof, Stuttgart 1986 – 2003. Ich danke den Rechtsnachfolgern von Gottfried Benn und Friedrich Sieburg, dem Klett-Cotta Verlag sowie dem DLA Marbach für die Genehmigung zum Abdruck unveröffentlichter Materialien. Vgl. Wegmann: konservative Allianzen [Anm. 7], S. 171. Die im DLA Marbach erhaltene Korrespondenz umfasst (exklusive der Briefe und Telegramme Ilse Benns) ca. 20 überlieferte Briefe und Telegramme (vgl. den Bestand: A:Benn, 91.114.603,1– 11; A:Benn, 86.9726; A:Benn, 86.9082; A:Sieburg/Literatur-Ressort FAZ; HS.NZ79.0001.00515,1– 10), vereinzelte Briefe von Benn an Sieburg sind in Benn: Absinth [Anm. 1], S. 260, 297, 305, 312, veröffentlicht. Ein persönliches Treffen der Männer dokumentiert in diesem Kontext ein Brief Sieburgs aus dem Juni 1952, in welchem er dem Dichter „herzlich für die freundliche Aufnahme dank[t], die Sie mir in Berlin bereitet haben.“ Friedrich Sieburg an Gottfried Benn, 28. Juni 1952, in: DLA Marbach, A:Benn, 91.114.603,5. Im Anschluss an die vorliegende Rezension thematisierte Sieburg Benns Nachkriegswerk in mindestens vier weiteren Besprechungen. Vgl. Friedrich Sieburg: Ein Abendländer ohne Angst, in: Die Gegenwart 5 (1950), S. 23 (zu: „Doppelleben“, wieder abgedruckt in: Benn – Wirkung wider Willen [Anm. 5], S. 238 – 239); Friedrich Sieburg: Die Säule tönt, wieder abgedruckt in: Ders.: Zur Literatur. 1924– 1956, hg. v. Fritz J. Raddatz, Stuttgart 1981, S. 336 – 339 (zu: „Frühe Lyrik und Dramen“, zuerst 1952 in „Die Gegenwart“); Friedrich Sieburg: Über den Abgrund hinweg, wieder abgedruckt in: Ders.: Zur Literatur [Anm. 18], S. 454– 456 (zu: „Einleitung“ v. „Das Expressionistische Jahrzehnt“, zuerst 1955 in „Die Gegenwart“). Vgl. für diese Lesart, die ein Kausalverhältnis zwischen Benns spätem Erfolg und seiner Nähe zu „selbst kompromittierte[n] konservative[n] Intellektuellen wie Friedrich Sieburg“ herstellt exemplarisch Arndt: Ungeheure Größen [Anm. 5], S. 261. Polemischer verfährt Hahn, welcher
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von Benn und Sieburg Parallelen, die auf den ersten Blick verblüffen: Nach Jahren des ersten literarischen Ruhms in der Weimarer Republik – 1929 erscheint Sieburgs späterer Bestseller „Gott in Frankreich“ – versucht er im Umfeld der nationalsozialistischen Machtübernahme Einfluss auf die kollektive Identitätsstiftung zu nehmen. Sein 1933 publiziertes Buch „Es werde Deutschland“ wird getragen von einer nationalkonservativen Haltung und „betreibt eine Art metaphysische Wesensschau des Deutschtums“.²⁰ Wie im Falle Benns bleibt das Verhältnis Sieburgs zur NS-Kulturpolitik jedoch ambivalent. Denn obwohl bereits der Titel Assoziationen an eine „Deutschland erwache!“-Rhetorik evoziert, lehnt der Publizist zentrale Postulate des totalitären Staates (z. B. den Antisemitismus) in „Es werde Deutschland“ ab,²¹ sodass das Buch 1936 schließlich durch die Gestapo verboten wird. Die Jahre von 1940 bis 1942 verbringt der frankophile Sieburg im diplomatischen Dienst des Auswärtigen Amtes, u. a. in Belgien und Frankreich. Trotz der politischen Zweifel und inneren Kämpfe, die ihm der Freund Carl Zuckmayer in seinem „Geheimreport“ zugesteht,²² ist Sieburgs ,innere Emigration‘ somit durch eine herrschaftsstabilisierende äußere Funktion geschützt – auch dies eine Parallele zu Benn, der bekanntlich im medizinischen Dienst der Wehrmacht tätig war. Unter Wahrung des eigenen Lebensstandards trug Sieburg den politischen Umständen demnach „auf eine Weise Rechnung, die auf die deutschen Emigranten als vollkommener Opportunismus wirken mußte“.²³ Es über-
schreibt, dass Sieburg „ähnlich wie Benn – eine stark braun gefärbte Vergangenheit hatte“, und aus diesem sowie analogen Beispielen folgert, „wie sehr die deutsche Lyrik der späten vierziger und frühen fünfziger Jahre einer formalistischen Artistik huldigte, hinter der sich eine ganze Menge Konservatismus und brauner Schmutz verbergen konnte“, Hans J. Hahn: Expressionistische Nachbeben? Gottfried Benns Modernismus vor und nach 1945, in: Modern Times? German Literatur and Arts Beyond Political Chronologies 1925 – 1955, hg. v. Gustav Frank, Rachel Palfreyman und Stefan Scherer, Bielefeld 2005, S. 133 – 148, hier: S. 146 sowie S. 148; deutlich differenzierter und sachlicher fällt die Analyse bei Wegmann: Konservative Allianzen [Anm. 7], S. 169, aus, der die Konstellation Benn-Sieburg vor dem Hintergrund eines literarischen und politischen Konservatismus erfasst. Zimmermann: Ästhet und Provokateur [Anm. 10], S. 12. „Es wäre leicht, dem Antisemitismus, besonders da, wo er naturwissenschaftlich aufgeputzt ist, den Prozeß zu machen, aber im vorliegenden Falle handelt es sich nur darum zu unterstreichen, daß die Rasse nichts mit der Nation zu tun hat und mit ihr in keinen Zusammenhang zu bringen ist.“ Friedrich Sieburg: Es werde Deutschland, zit. n. Gunter Nickel: Des Teufels Publizist. Ein „höchst komplizierter und fast tragischer Fall“. Friedrich Sieburg, Carl Zuckmeyer und der Nationalsozialismus. Mit dem Briefwechsel zwischen Sieburg und Zuckmayer, in: Zuckmayer Jahrbuch 5 (2002), S. 247– 295, hier: S. 268. Vgl. Carl Zuckmayer: Geheimreport, hg. v. Gunther Nickel und Johanna Schrön, Göttingen 2002, S. 82– 86. Nickel: Des Teufels Publizist [Anm. 21], S. 273.
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rascht also nicht, dass er nach Kriegsende ebenfalls einem von den Alliierten ausgesprochenen Veröffentlichungsverbot unterliegt, bis er ab 1948 mit Artikeln in der liberalkonservativen Zeitschrift „Die Gegenwart“²⁴ (ab 1949 als deren Mitherausgeber) wieder reüssiert. In den 1950er Jahren folgt dann auch für Sieburg ein ,Comeback‘: Besonders in seiner literaturkritischen Tätigkeit bei der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ trägt er „wesentlich zur Profilierung der Intellektuellenfigur im Deutschland der Nachkriegszeit“²⁵ bei und gilt bis heute als einer der bekanntesten und umstrittensten Kritiker der jungen Bonner Republik.²⁶ Als annähernde Generationsgenossen teilen Benn und Sieburg die exemplarischen Lebensläufe des wechselvollen 20. Jahrhunderts. Gleichwohl bleibt der Erkenntnisgewinn einer rein zeitgeschichtlichen Perspektivierung hinter dem Potential der Konstellation Benn-Sieburg zurück, denn zwei zentrale Aspekte bleiben dabei außen vor: Erstens die im Folgenden auszuführende Tatsache, dass der literarische Einfluss des Dichters auf den Deuter bereits lange vor die politischen Schlüsseljahre 1945 und 1933 zu datieren ist. Zweitens die Vorrangstellung, relative Autonomie und Eigendynamik ästhetischer Positionen, die gesellschaftspolitische Motive und Affinitäten zwar implizieren können, diese jedoch nur ausgesprochen selten zu bewussten Entscheidungsgrundlagen machen. In Abgrenzung zu bisherigen Arbeiten versuchen die folgenden Ausführungen daher, die Rezension „Wer allein ist –“ ausgehend von Sieburgs ästhetischer Entwicklung sowie seinen symbolischen Interessen im literarischen Feld der Nachkriegszeit zu kontextualisieren – einschließlich des habituellen Selbstverständnisses und an der Benn ausgerichteten Distinktionsstrategien (2).²⁷ Hierbei soll deutlich werden, dass die Besprechung „nicht nur für die Benn-Rezeption ein
Das Profil der von Sieburgs altem Freund Benno Reifenberg gegründeten „Gegenwart“ wird bei Harro Zimmermann in Ansätzen erläutert. Dieser erachtet das Periodikum als „Keimzelle der ,Frankfurter Allgemeinen Zeitung‘, die ab November 1949 zu erscheinen beginnt“. Zudem stellt er heraus, dass die „Gegenwart“ im literarischen Nachkrieg zu den „emigrationskritischen Publikationsorganen [gehört], das zeigt sich schon an ihrem Vorbehalt gegenüber dem drastischen Bewältigungs- und Anklage-Idiom der linken Kreise.“ Zimmermann: Ästhet und Provokateur [Anm. 10], S. 294 sowie S. 303 – 304. Zimmermann: Ästhet und Provokateur [Anm. 10], S. 14. Vgl. in dieser Wertung auch Oliver Pfohlmann: Literaturkritik in der Bundesrepublik, in: Literaturkritik. Geschichte – Theorie – Praxis, hg. v. Thomas Anz und Rainer Baasner, München 2004, S. 160 – 191, hier: S. 161. Vgl. für weitere Beispiele dieser Art in Literaturkritik und -wissenschaft Michael Ansel: Nachkriegsperspektiven auf Gottfried Benn. Rychner, Muschg und Bense, in: Der Essay als Universalgattung des Zeitalters. Diskurse, Themen und Positionen zwischen Jahrhundertwende und Nachkriegszeit, hg. v. dems., Jürgen Egyptien und Hans-Edwin Friedrich, Leiden und Boston 2016, S. 177– 200.
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wichtiges Moment [markiert], sondern […] sich retrospektiv auch als exemplarisch für die Literaturkritik der 1950er Jahre“ erweist.²⁸ Darüber hinaus muss in einem zweiten Schritt die Wechselseitigkeit der unterstellten Allianz gezeigt werden. Die eingehende Analyse des bisher unveröffentlichten Archivmaterials zeigt, dass Benn nicht nur in Form von symbolischem Kapital von Sieburgs Rezension profitierte, sondern in der Kommunikation mit dem Kritiker auch das eigene poetische bzw. poetologische Repertoire erweiterte (3).
2 „Wer allein ist –“ – Argumentation und Positionierung Sieburgs Friedrich Sieburgs Zugang zu den „Statischen Gedichten“ basiert auf autonomieästhetischen Prämissen, welche in der Kunst ein Hoheitsgebiet eigenen Rechts erblicken. Hierauf macht bereits der Paratext seiner Besprechung aufmerksam, der einen Gedichttitel der Sammlung aufgreift. Mit „Wer allein ist –“ entscheidet sich Sieburg jedoch nicht für ein beliebiges Gedicht, sondern für eines, welches das Verhältnis zwischen Kunstwerk und Künstler verschiebt und ersterem eine besondere Souveränität zuspricht. Hierfür ausreichend ist eine kleine grammatische Irritation in der letzten Strophe. In dieser heißt es: Ohne Rührung sieht er, wie die Erde eine andere ward, als ihm begann, nicht mehr Stirb und nicht mehr Werde: formstill sieht ihn die Vollendung an. (SW I, 130)
Dem leidenschaftlichen Entwicklungsgedanken aus Goethes Gedicht „Selige Sehnsucht“²⁹ wird in dem 1936 entstandenen Text die Würde einer statischen Kunst entgegengestellt. Durch die aktive Verbform „sieht“ wird das als formstille
Wegmann: konservative Allianzen [Anm. 7], S. 168. „Und so lang du das nicht hast, / Dieses: Stirb und werde! / Bist du nur ein trüber Gast / Auf der dunklen Erde.“ Johann Wolfgang v. Goethe: Selige Sehnsucht, in: Ders.: Berliner Ausgabe. Poetische Werke. Gedichte und Singspiele. Bd 3: West-östlicher Divan, 2. Aufl., Berlin 1973, S. 22.; vgl. für Benns „antithetische Bezugnahme auf das Werk des Dichtervaters“ zudem Katarzyna Norkowska: Distanzierte Anknüpfung. Gottfried Benns Auseinandersetzung mit dem Klassiker Goethe und seinem Werk, in: Benn Forum 2 (2010/2011), S. 117– 141, hier: S. 136; Christian M. Hanna: „In deine Reimart hoff’ ich mich zu finden“. Spiegelungen Goethes im Werk Gottfried Benns, in: Benn Forum 1 (2008/2009), S. 25 – 46, sowie Ders.: „Die wenigen, die was davon erkannt“. Gottfried Benns (un)heimlicher Dialog mit Goethe, Würzburg 2011.
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Vollendung apostrophierte Kunstwerk zum agierenden Subjekt des Satzes: „Nicht nur sieht der Dichter, auch das Gedicht sieht, es hat also eine eigene Würde, eine Unabhängigkeit, die den Dichter transzendiert“.³⁰ Diese Idealvorstellung einer autonomen bzw. ,absoluten‘ Kunst wird in den „Statischen Gedichten“ wiederholt aufgegriffen und bei Sieburg zum Anlass höchsten Lobes.³¹ Denn „[d]aß eine Dichtung so vollständig aus der Schöpfung heraustritt, um das Leben einer eigenen Schöpfung zu führen, wiederfährt uns selten.“³² Entsprechend hebt der Rezensent das klassische Formbewusstsein dieser Lyrik hervor. Dieses ergibt sich – auch wegen Eingriffen des ersten Verlegers Peter Schifferli³³ – aus einer Dominanz traditioneller lyrischer Formen wie etwa an die Stanze erinnernder Acht- sowie liedhafter Vierzeiler im Block-, Kreuz- oder Paarreimschema. Auf eine genaue philologische Analyse verzichtet Sieburg jedoch, stattdessen werden der „Refrain, der melodische Ablauf der Strophen [und] die zwingende Natürlichkeit der Reime“³⁴ an dieser Stelle pauschal gelobt. Dazu passt, dass die gezielten Tabubrüche der expressionistischen Phase (d. h. insbesondere des Bandes „Morgue und andere Gedichte“) als überwunden dargestellt werden: Benn habe, „was uns früher zu stören vermochte, seine Neigung, uns durch Wühlen in der organischen Hinfälligkeit des menschlichen Körpers zu erschrecken“,³⁵ zugunsten einer elegischen Welthaltung und einem solitären
Mark W. Roche: „Statische Gedichte“ (1948), in: Benn-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Christian M. Hanna und Friederike Reents, Stuttgart 2016, S. 105 – 112, hier: S. 109. Vgl. Roche: „Statische Gedichte“ [Anm. 30], S. 108 – 110 (Kapitel: „Das poetologische Prinzip“). Sieburg: Wer allein ist [Anm. 9], S. 22. Peter Schifferli griff als Verleger des Arche Verlags eigenmächtig in das Erscheinungsbild der Schweizer Ausgabe ein, indem er die ursprünglich von Benn im Manuskript mitgelieferten Gedichte „Chopin“, „Monolog“, „Clemenceau“, „St. Petersburg – Mitte des Jahrhunderts“ und „1886“ strich und durch die ,gemäßigteren‘ „Ach, das Erhabene“, „Tag, der den Sommer endet“ sowie „Astern“ ersetzte. Im Falle von „Chopin“ und „St. Petersburg – Mitte des Jahrhunderts“ besteht Benn schließlich auf eine Aufnahme.Vgl. Peter Schifferli an Gottfried Benn, 7. Januar 1948, in: Paul Raabe: Gottfried Benn und der Arche-Verlag. Zur Druckgeschichte der „Statischen Gedichte“, in: Gottfried Benn. Statische Gedichte, hg. v. Paul Raabe, Zürich 1983, S. 83 – 125, hier: S. 88. Mit seiner Auswahl trägt Schifferli dazu bei, das autonomieästhetische Moment der Sammlung noch stärker zu betonen, weisen die gestrichenen Texte doch allesamt einen erkennbaren Realitätsbezug auf. Darüber hinaus prägt er damit den artifiziellen und klassizistischen Gesamteindruck der „Statischen Gedichte“, denn sein kritischer Blick galt mit den genannten Titeln prosanahen bzw. skizzenhaften Texten, die konventionelle Lyrikdefinitionen unterlaufen. Sieburg: Wer allein ist [Anm. 9], S. 22. Sieburg: Wer allein ist [Anm. 9], S. 22. Der Stellenwert von Sieburgs Rezension als Bezugsrahmen der zeitgenössischen Kritik wird besonders in diesem Punk deutlich, denn der avant-
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Künstlertum aufgegeben. Was in Affirmation von Benns statischer Ästhetik bleibt, ist der „zum Kunstwerk erstarrte Traum vom beziehungslosen Ich“.³⁶ Freiheit von heteronomen Erwartungen, gesteigerter Formalismus und Ästhetizismus sowie Skepsis gegenüber der historischen Avantgarde: Sieburgs Wertungsrahmen der „Statischen Gedichte“ ist charakteristisch für die tonangebende Literaturkritik der späten 1940er sowie frühen 1950er Jahre,³⁷ die neben ihm durch Männer wie Max Rychner, Ernst Robert Curtius oder Hans Egon Holthusen geprägt worden ist. In einer Zeit allgemeiner Krisendiskurse³⁸ (re)etablieren diese kulturkonservativen Kritiker im literarischen Feld einen Kanon der Klassischen Moderne.³⁹ Für diesen erweist sich Gottfried Benn nicht nur durch seine Lyrik als anschlussfähig, sondern er wird ihn durch entsprechende Namenskataloge in „Probleme der Lyrik“ ab 1951 selbst perpetuieren und mit der internationalen Moderne amalgamieren.⁴⁰ In diesem Sinne werden die „Statischen Gedichte“ für Friedrich Sieburg zu einer Reminiszenz aus einer anderen Zeit, aus derjenigen Hugo von Hofmannsthals und Stefan Georges nämlich, mit dessen Vorstellungsbereich einer L’art pour l’art er als Schüler Friedrich Gundolfs früh in Berührung kam.⁴¹ Doch auch Benn persönlich spielt in der literarischen Sozialisation des Kritikers eine nicht zu unterschätzende Rolle. Wenn Sieburg in seiner ersten Antwort an den Dichter schreibt, „[m]eine Kenntnis Ihres Werkes ist so alt, so gründlich, so
gardefeindliche Impuls findet sich in anderen Besprechungen wieder. Exemplarisch im großangelegten „Merkur“-Essay „Gottfried Benn. Züge seiner dichterischen Welt“, mit welchem Max Rychner Benns Position im literarischen Feld ebenfalls forcierte. Vgl. Max Rychner: Gottfried Benn. Züge seiner dichterischen Welt I, in: Merkur 3 (1949), S. 781– 792, hier: S. 785 – 786. Sieburg: Wer allein ist [Anm. 9], S. 22. Vgl. Pfohlmann: Literaturkritik in der Bundesrepublik [Anm. 26], S. 160. Ausgehend von Hans Sedlmayr („Der Verlust der Mitte“) und Hans Egon Holthusen („Der unbehauste Mensch“) erläutert Lampart überzeugend, inwieweit die „Denkfigur einer modernen Kulturkrise […] als universaler Erklärungsansatz für die kulturelle Situation der Nachkriegsjahre gesetzt [wird]“ und in der Folge eine in die Literatur verlagerte Sinnsuche bedingt. Vgl. Fabian Lampart: Nachkriegsmoderne. Transformationen der deutschsprachigen Lyrik 1945 – 1960. Berlin und Boston 2013, S. 27. Und bestätigen damit eine Beobachtung Schildts, nach welcher die „Intellektuellen […] nicht nur reflektierende und kritisierende Begleiter [sind], sondern zugleich Beförderer der gesellschaftlichen Entwicklung.“ Schildt: Medien-Intellektuelle [Anm. 10], S. 20. Vgl. Lampart: Nachkriegsmoderne [Anm. 38], S. 113. Vgl. Pfohlmann: Literaturkritik in der Bundesrepublik [Anm. 26], S. 161. In Entsprechung dazu wird Sieburg bei Daiber wie folgt zitiert: „Von entscheidendem Einfluß auf mein Werk und mein Leben war allein die Gestalt Stefan Georges. Von ihm her begriff ich das Wunder des Wortes, von ihm lernte ich den Sinn eines Lebens, das rein ist und nur nach dem Werk trachtet.“ Hans Daiber: Vor Deutschland wird gewarnt. 17 exemplarische Lebensläufe, Gütersloh 1967, S. 79.
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leidenschaftlich, dass die blosse Tatsache, von Ihnen einen Brief zu erhalten, sehr viel für mich bedeutet“,⁴² so ist dies mehr als eine captatio benevolentiae. Tatsächlich lässt sich bereits für die frühen 1920er Jahre eine Auseinandersetzung Sieburgs mit Benns Prosawerk nachweisen.⁴³ Retrospektiv bezeichnet er daneben die frühe Essayistik als modellhaft, so etwa in einem Brief vom März 1953, in welchem er gegenüber Benn eingesteht: „Ich bin dem Maßstab, den Sie mir in den Schlußstücken von ,Das moderne Ich‘ gesetzt haben, vielleicht nicht gerecht geworden, aber ich habe sie nie aufgegeben.“⁴⁴ Dass ausgerechnet die fiktive Rede von 1919 für Sieburg eine Art literarisches ,Urerlebnis‘ bildet, muss für die Rezension der „Statischen Gedichte“ in Rechnung gestellt werden. Denn bereits in „Das moderne Ich“ übt Benn eine scharfe Zivilisationskritik, die auf die positivistische Fortschrittsgläubigkeit um 1900 mit dem elitären „Gegenentwurf einer ästhetischen Existenz“ antwortet.⁴⁵ Der darin offenbarte Geltungsanspruch geistiger Werte besitzt auch fünfzig Jahre später noch identitätsstiftendes Potential: Durch die bloße Nennung des Titels weiß der Kritiker die eigene Werkimmanenz im Einverständnis mit dem Dichter und solidarisiert sich mit diesem gegen die Massen- und Mittelstandsgesellschaft der jungen Bundesrepublik. Unter dieser Perspektive der Aneignung Benn’scher Positionen kann zudem das Bild vom solitären Künstler angesehen werden, dass in den „Statischen Gedichten“ vielfach beschworen wird.⁴⁶ Sieburg greift dieses bereits im ersten Satz der Rezension „Wer allein ist –“ auf und projiziert es auf den Dichter zurück, wenn er in der am häufigsten zitierten Passage der Rezension schreibt: „Mit einem einzigen Flügelschlage reißt uns eine neue Dichtung Gottfried Benns über das Stimmengewirr der um lyrischen Ausdruck bemühten Gegenwart hoch hinaus“.⁴⁷ Die Stelle zeigt, wie Sieburg Benn gegen die lyrische ,Konkurrenz‘ abgrenzt und gibt gleichsam Aufschluss über den Platzierungssinn des Kritikers. Auf welche Akteure der Gegenwartsliteratur Sieburg damit genau abzielt, bleibt vage, doch
Friedrich Sieburg an Gottfried Benn, 30. März 1949, in: DLA Marbach, A:Benn, 91.114.603,1. Vgl. Zimmermann: Ästhet und Provokateur [Anm. 10], S. 92. Friedrich Sieburg an Gottfried Benn, 9. März 1953, zit. n. Knäbich: Solitär [Anm. 10], S. 149. Friederike Reents: „Das moderne Ich“ (1920), in: Benn-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Christian M. Hanna und ders., Stuttgart 2016, S. 164– 167, hier: S. 166. Am ausdrücklichsten findet sich ein artistisches Rollenbewusstsein in den Gedichten eingeschrieben, die als Künstlergedichte einzelne, realhistorische Personen porträtieren wie „Chopin“, „Gewisse Lebensabende“ sowie im weiteren Sinne die Nietzsche-Gedichte „Sils-Maria“ und „Turin“. Ihnen allen ist die Negation der bürgerlichen Kultur als soziale Praxis des Künstlers gemein. Vgl. für eine exemplarische Analyse Heinrich Kaulen: Der Künstler und sein Publikum. Selbstspiegelung und poetologische Reflexion in Gottfried Benns Chopin, in: Gedichte von Gottfried Benn, hg. v. Harald Steinhagen, Stuttgart 1997, S. 163 – 175. Sieburg: Wer allein ist [Anm. 9], S. 22.
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nahe liegt, in den „um lyrischen Ausdruck [B]emühte[n]“ die Vertreter der lyrischen Folgegeneration zu sehen, die um 1948 zu publizieren beginnen. Repräsentanten der sogenannten ,Jungen Generation‘⁴⁸ wie Günter Eich etwa, der, nach Gedichten in Hans Werner Richters und Alfred Anderschs „Der Ruf“, 1948 mit der Sammlung „Abgelegene Gehöfte“ hervortritt.⁴⁹ Gerade in den literarischen Strömungen der Gegenwartsliteratur, die sich nach 1945 der Trümmerwirklichkeit des Zivilisationsbruchs zuwenden, sieht der kulturkonservative Sieburg eine „unerlaubte[ ] Vereinfachung unserer Daseinskrise“, die er pauschal ablehnt.⁵⁰ Seine autonomieästhetische Position steht einer zeitbezogenen und engagierten Literatur sowie einer Kritik, die ihre Wertmaßstäbe an diesen Kategorien ausrichtet, diametral gegenüber. Exemplarischen Ausdruck findet diese Position im Artikel „Kriechende Literatur“: Was die heutige deutsche Literatur in die Sackgasse geführt hat, ist der Irrglaube, sich der Gegenwart dadurch aufzwingen zu können, daß man „aktuelle Fragen“ behandele. Selbst wenn dies mit einem Höchstmaß an Talent geschähe, was keineswegs der Fall ist, so wäre die Fehlrechnung, die in dem Begriff der Aktualität enthalten ist, doch nicht aus der Welt geschafft. Denn dieser Begriff ist im deutschen Denken vollkommen verfälscht durch die Politik, die als der Inbegriff der Aktualität auftritt und doch nur ein kleiner Teil von ihr ist. […] Was ein strenger Zeitkritiker „das hündische Kriechen der Intellektuellen vor den politischen Begriffen“ genannt hat, ist meist nur die Unfähigkeit, einen Stoff individuell zu ergreifen und zu gestalten.⁵¹
Die Bezeichnung der ,Jungen Generation‘ beschreibt dabei eher das soziale Alter und die strukturelle Position der Akteure im literarischen Feld als deren tatsächliches biologisches Alter (Günther Eich bspw. war bei der Veröffentlichung der „Abgelegenen Gehöfte“ bereits 41). In „Die Regeln der Kunst“ fungiert Alter als ein weiteres Differenzkriterium im Rahmen der literarischen Definitionskämpfe, die zwischen etablierten und neu in das Feld eintretenden Akteuren stattfinden. Bourdieu schreibt hierzu: „Die strukturell ,jüngsten‘ Autoren (die biologisch gesehen fast ebenso alt sein können wie die ,Alten‘, die sie zu überholen beanspruchen), das heißt die im Legitimierungsprozeß am wenigsten vorangekommenen, verweigern sich dem, was ihre bereits anerkannten Vorläufer sind und tun“. Bourdieu: Die Regeln der Kunst [Anm. 6], S. 379. Vgl. zu Akteuren und Konstellationen deutscher Nachkriegslyrik jüngst: Thomas Boyken und Nikolas Immer: Nachkriegslyrik. Poesie und Poetik zwischen 1945 und 1965, Tübingen 2020 (zu Eich: S. 56 – 67). Zimmermann: Ästhet und Provokateur [Anm. 10], S. 332; auch Pfohlmann kommt zu dem Schluss, dass Sieburg „[m]it seinen Pauschalverdikten über die ,provinzielle‘ deutsche Gegenwartsliteratur […] die junge Autorengeneration nicht nur dazu [provozierte], seine Urteile abzulehnen. Er evozierte auch negative Affekte bis hin zu Racheakten.“ Pfohlmann: Literaturkritik in der Bundesrepublik [Anm. 26], S. 161. Friedrich Sieburg: Kriechende Literatur, in: Die Zeit vom 14. August 1952, online unter: https:// www.zeit.de/1952/33/kriechende-literatur (zuletzt 26. März 2021).
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Der „strenge Zeitkritiker“, den Sieburg an dieser Stelle zur Beglaubigung heranzieht, ist indes niemand anderes als Gottfried Benn. Dieser wählt im berüchtigten „Berliner Brief“ von 1948 (gedruckt 1949) das zitierte Bild des ,hündischen Kriechens‘ (vgl. SW V, 57),⁵² um für eine „Trennung zwischen den Gesetzen des Gemeinwesens und den Ordnungsprinzipien der Kunst“ zu plädieren.⁵³ Wie im Falle der Rezension wird Benn demnach nicht nur zum Stichwortgeber, sondern die intertextuelle Anleihe wird zum Instrument der eigenen ästhetischen Agenda.⁵⁴ Dichter und Kritiker werden im literarischen Feld zu verbündeten Solitären gegen die Entwicklungen der Gegenwartsliteratur. Dass es Sieburg dabei in seinem ,Kampf‘ um literarische Traditionsbestände und geistige Wertmaßstäbe nicht an Sendungsbewusstsein mangelt, hat die Forschung unlängst herausgestellt.⁵⁵ Überlieferte Zitate wie „Mancher unter uns leistet mit seiner Kritik mehr, als das Buch, das er bespricht, vermag“,⁵⁶ zeugen von einem Überlegenheitsgestus,⁵⁷ der dem Ethos einer produktiven Literaturkritik entspringt. Ein Ethos, das sich natürlich auch bei anderen Großkritikern der Zeit findet – Hans Egon Holthusen zum Beispiel.⁵⁸ Interessant wird dieser Befund aus kultursoziologischer Perspektive, lässt er sich doch vor dem Hintergrund von Beobachtungen verstehen, wie sie Pierre Bourdieu zu Kanonisierungseffekten als kollektiver Wertschöpfung angestellt hat.⁵⁹ Der Kritiker, der sich – im historischen Sinne Friedrich Schlegels oder Lessings – mit dem Autor auf Augenhöhe bewegt, weiß um die Konsekrationsmacht, die er in einem auf wechselseitige Aufmerk-
Im „Berliner Brief“ schreibt Benn im Wortlaut: „Das Abendland geht nämlich meiner Meinung nach gar nicht zugrunde an den totalitären Systemen oder den SS-Verbrechen […], sondern an dem hündischen Kriechen seiner Intelligenz vor den politischen Begriffen.“ (SW V, 57) Thomas Combrinck: „Die Antwort mit der Nilpferdpeitsche“. Gottfried Benn im Dialog mit der Zeitschrift „Merkur“, in: Jahrbuch der Bayrischen Akademie der Schönen Künste 21 (2007), S. 111– 121, hier: S. 114. Vgl. für die intertextuelle Bezugnahme auf Benn auch Knäbich: Solitär [Anm. 10], S. 160. „Auch wenn Sieburg es nicht explizit formulierte, ist kaum zu verkennen, dass er sich als Sachverwalter der richtigen literarischen Maßstäbe verstand […].“ Knäbich: Solitär [Anm. 10], S. 159. Friedrich Sieburg zit. n. Zimmermann: Ästhet und Provokateur [Anm. 10], S. 328. Vgl. hierzu auch Jörg Drews: Den Anschluss finden. (West‐)Deutsche Literaturkritik 1945 bis 1955, in: Doppelleben. Literarische Szenen aus Nachkriegsdeutschland, Bd. 2, hg. v. Bernd Busch und Thomas Combrinck, Göttingen 2009, 353 – 360, hier: S. 355. Für Holthusen ist der Kritiker „nicht nur der Schatten des Produktiven, sondern er ist selbst an den Taten und Leiden der Geistesgeschichte als ein souveräner Akteur beteiligt.“ Hans Egon Holthusen: Einleitung. Über den Kritiker und sein Amt, in: Ja und Nein. Neue kritische Versuche, hg. v. dems., München 1954, S. 7– 15, hier: S. 11; vgl. zu Holthusen zudem den Beitrag von Daria Engelmann in diesem Band. Vgl. hierzu die Ausführungen in Anm. 6.
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samkeit ausgelegten Feld hat. Oder, um es mit den Worten von Friedrich Sieburg an Gottfried Benn auszudrücken: Mit grosser Freude habe ich festgestellt, dass meine kleine und ach so summarische Arbeit über die „Statischen Gedichte“ ein starkes Echo gefunden hat und fühlbar dazu beiträgt, die Ihnen zukommenden Leser fast nahtlos wieder an die Stelle zu führen, wo sie sich vor Jahren von Ihnen trennen mussten. So fühle ich dann, dass Ihr langes Schweigen auch dem Leser zu eigener Reife verholfen hat.⁶⁰
3 Benns Reaktion – Kontaktmuster und Quellenwert eines Briefentwurfs Gottfried Benn wurde auf die Rezension „Wer allein ist –“ zuerst von Elisabeth Jungmann aufmerksam gemacht, die ihm am 15. Februar 1949 eine Abschrift schickte, welche zehn Tage später in Berlin eintraf (vgl. BOe III, 400). Seine unmittelbare Begeisterung, die in der oben zitierten Notiz an Oelze Ausdruck findet, wurde dem Dichter zum Anlass, sich nach dem Verfasser zu erkundigen: Man sagte mir, dass das Sbg. unter der Besprechung meiner Gedichte in der „Gegenwart“ Sieburg heisst. Dann näherte sich in meinen Betrachtungen hierzu der Gedanke[,] dass der Vorname Friedrich sei, dass es sich also umden [!] Grossen Sieburg handele.⁶¹
Tatsächlich ist seit der ersten Edition der Briefe Benns an Oelze belegt, dass nicht nur der Kritiker den Dichter, sondern auch der Dichter den Kritiker bereits lange vor Erscheinen der Rezension dem Namen nach kannte. Den Ausschlag hierfür gab jedoch nicht der Vorkriegsruhm, den Sieburg mit seinen nationalkonservativen Büchern und Romanen erzielte, sondern ein von Oelze entdecktes Plagiat. Im April 1936 schrieb der Bremer Kaufmann Benn diesbezüglich: Bin soeben dabei ein Buch zu Ende zu lesen, Friedrich Sieburg, „Robespierre“ […]. Plötzlich, S. 227, Zeile 8, höre ich wie in einem Traum Ihre Stimme, da steht wörtlich: „Manchmal kommt eine Stunde, da bist du – der Rest ist das Geschehen. Manchmal erstarrt die hochschlagende Flut zum Traum, manchmal rauscht es – wenn du zerbrochen bist.“ Was sagen Sie?? Rönne! Es steht da nicht als Citat, […] soll also anscheinend aussehen wie ein eigener Geistesblitz des Verfassers. Wer ist dieser Herr Sieburg, der ja wohl den „Gott in Frankreich“
Sieburg an Benn, 30. März 1949 [Anm. 42]. Gottfried Benn: Briefentwurf an Friedrich Sieburg (Typoskript mit handschriftlichen Ergänzungen und Korrekturen), ohne Datum, in: DLA Marbach, A:Benn, 86.9082. Belege nach dieser Archivale im Folgenden unter der Sigle „T“ mit Zählung der Einzelblätter (EB).
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schrieb, kennen Sie ihn? Muss man seine Anleihe bei Rönne nicht als Plagiat denunzieren? (BOe I, 144– 145)⁶²
Die Textübernahme bei Sieburg und die Frage nach der adäquaten Adressierung des Problems führt die Freundschaft von Benn und Oelze in eine veritable Krise, auf welche hier nicht näher eingegangen werden soll.⁶³ Knapp dreizehn Jahre später, angesichts der ihm nun vorliegenden Eloge, wird die „Räuberei“ (BOe I, 147) jedoch irrelevant und hält Benn nicht davon ab, Kontakt zu Sieburg aufzunehmen. Sein erster Brief, für den das Datum des 2. März 1949 als sicher erschlossen gelten kann,⁶⁴ ist offenbar verschollen. Weder im Nachlass Benns noch in demjenigen Sieburgs (beide im DLA Marbach), ist er überliefert. Was sich jedoch erhalten hat, ist der in diesem Band als Faksimile abgedruckte Entwurf, der – verfasst zwischen dem 25. Februar und 2. März 1949 – als Vorstufe für Benns Kontaktaufnahme mit Sieburg gelten kann. Der ,prekäre‘ Status dieser Notizen ist unmittelbar augenfällig: Das drei Einzelblätter umfassende Typoskript weist Streichungen und mehrstufige handschriftliche Ergänzungen mit Kugelschreibern und Bleistift auf. Auf der Vorder- und Rückseite des zweiten Blattes nehmen diese an Umfang zu, um schließlich in einer Variante des Schlussteils auf Blatt drei zu münden – was die Ausführungen auf Blatt zwei zur Vorstufe der Vorstufe degradiert. In diesem vorläufigen Textstadium und seiner Materialität eignet dem Typoskript eine gewisse Ambivalenz: Darin enthaltene Aussagen dürfen einerseits nur unter Vorbehalt bewertet, resp. gedeutet werden. Die Einblicke, die das Dokument andererseits in Benns Schreibprozess gibt, sind bezeichnend. Sie bestätigen für den Briefeschreiber, was Jan Bürger bereits für den Autor Benn konstatiert hat. Charakteristisch sei für diesen der häufige Wechsel zwischen Hand- und Maschinenschrift: Benn nahm einen Bogen Papier und spannte ihn in die Maschine. Wenn er nicht weiterkam, griff er zu Bleistift, Feder und Kugelschreibern […]. Die handschriftlichen Entwürfe tippte er dann wiederum ab. Schließlich montierte er die brauchbaren Passagen zusammen, nicht selten mit Schere und
Tatsächlich finden sich in der Rönne-Novelle „Der Geburtstag“ Entsprechungen im Wortlaut: „[M]anchmal eine Stunde, da bist Du; der Rest ist das Geschehen. Manchmal die beiden Fluten schlagen hoch zu einem Traum. Manchmal rauscht es: wenn Du zerbrochen bist.“ (SW III, 60) Vgl. besonders Benns Brief vom 18. April 1936 (BOe I, 147) sowie weiterführend die Ausführungen bei Dyck: Der Zeitzeuge [Anm. 2], S. 192. In seinem ersten Brief, datiert auf den 30. März 1949, bedankt sich Friedrich Sieburg „für Ihren Brief vom 2. März“ (Sieburg an Benn, 30. März 1949 [Anm. 42]). Ebenfalls am 2. März 1949 schreibt Benn an Friedrich Wilhelm Oelze: „Auch Herr Sieburg erhielt einen wunderbaren Brief, aber natürlich durchaus in der Haltung des eigentlich zu Empedokles Schattenscharen Verpflichteten, ernst und dunkel.“ (BOe III, 41)
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Klebstoff. Zuweilen finden sich auf einem Blatt verschiedene Entstehungsstufen einzelner Sätze […].⁶⁵
In diesem Stadium als ,Assoziationsraum‘ zeigt der Briefentwurf zudem ein für Benn nicht untypisches Kontaktmuster,⁶⁶ das man mit den Verben ,abschweifen, assoziieren und inventarisieren‘ verschlagworten könnte. Am Beispiel des Typoskripts fällt in diesem Sinne auf, dass Benn auf den eigentlichen Anlass der Kontaktaufnahme, d. h. auf die Rezension „Wer allein ist –“, nur punktuell eingeht. Lediglich zu Beginn sowie in der zweiten Fassung des Schlussteils (vgl. T, EB 3: „alles dies steht hint[er] [e]iner Strophe, deren Zeichen jene Losgelöstheit ist, von der Sie sprechen“) würdigt er Sieburgs Ausführungen, freilich ohne auf deren Argumentationsgang näher einzugehen. Die Bezugnahme auf die Besprechung bildet somit nur noch den rhetorischen Rahmen für allgemeine Ausführungen, die nicht mehr an den Gesprächspartner Sieburg gebunden sind und die schließlich in ein (poetologisches) Repertoire an Aussagen übergehen, über das der Autor flexibel verfügt – wie der Bezug des Briefentwurfes zu den „Problemen der Lyrik“ noch zeigen wird. Von einem Muster kann dabei insofern gesprochen werden, als Benn in der Kontaktaufnahme mit anderen Akteuren analog verfährt: Auch dem ersten Brief an Dieter Wellershoff, welcher die wissenschaftliche Beschäftigung mit Benn nach 1945 initiierte,⁶⁷ ging ein dreizehnseitiger Entwurf in einem Benn’schen Arbeitsheft voraus.⁶⁸ Passagen des daraus resultierenden Briefes vom 22. November 1950,⁶⁹ der das Reflexionsniveau des vorliegenden Typoskripts noch übersteigt, fanden schließlich ebenfalls Eingang in die „Probleme der Lyrik“ sowie in den Vortrag „Altern als Problem für Künstler“.⁷⁰ Im Falle des ersten Antwortschreibens an den „Merkur“-Herausgeber Hans Paeschke
Jan Bürger: Benns Doppelleben oder wie man sich selbst zusammensetzt, Marbach 2006, S. 30; vgl. in diesem Kontext zudem die Ausführungen von Holger Hof im „Benn-Handbuch“, die auf den „Werkstattcharakter“ der Briefe Benns hinweisen. Holger Hof: Briefwechsel. Übersicht und Einleitung, in: Benn-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Christian M. Hanna und Friederike Reents, Stuttgart 2016, S. 255 – 257, hier: S. 256. Zum Begriff „Kontaktmuster“ vgl. Schildt: Medienintellektuelle [Anm. 10], S. 192. Vgl. für Näheres zu Dieter Wellershoffs Benn-Rezeption den Beitrag von Jörg Robert in diesem Band. Gottfried Benn: Arbeitsheft 16, DLA Marbach, D:Benn, Gottfried, D 86.18. Gottfried Benn an Dieter Wellershoff, 22. November 1949, abgedruckt in Benn: Absinth [Anm. 1], S. 222– 225. Vgl. für eine erste Analyse: Jörg Robert und Sarah Gaber: Benn, Oelze und die Literaturwissenschaft nach 1945. Vorüberlegungen zu einem Editions- und Erschließungsprojekt, in: Benn Forum 6 (2018/2019), S. 181– 197, hier: S. 192– 193.
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kennt die Benn-Forschung sogar ganze 28 Bearbeitungsstufen (vgl. SW V, 385 – 396), die die Vorarbeit für den berühmten „Berliner Brief“ bilden.⁷¹ Bleibt jedoch die Frage, welche Positionen konkret Gottfried Benn in seinem Schreiben vermitteln möchte und was für einen Assoziationsraum Sieburgs Rezension bei ihm eröffnet. Eine mögliche Antwort darauf findet sich im dritten Absatz des ersten Blatts, in dem Benn die Konstitution des modernen Dichters diskutiert: Ihr Artikel ist ferner der Art, dass ich mir von Neuem die Frage vorlege, die ich mich schon öfter frug, ob ich mich nicht in meiner Produktion [handschriftlich überschrieben mit „P⸢ublikation⸣“, die Verf.] auf jenes halbe Dutzend Gedichte hätte beschränken sollen, die im günstigsten Falle eines lyrischen Geschicks dem Autor für sein Leben lang beschieden sind. Für dieses halbe Dutzend die Qualen, das jahrelange Schweigen, die Leere, das produktive Vacuum ertragen, die Stummheit, die ihn für seine Umgebung fragwürdig, belastet, vom Weiterschreiten ausgeschlossen erschienen liesse. (T, EB 1)
Die genieästhetische Vorstellung des Dichters als einer stoizistisch-erhabenen Gestalt, die ihr privilegiertes Verhältnis zum Wort durch den Verzicht auf bürgerliche Zufriedenheit und mit einer schmalen lyrischen Ausbeute erkauft, ist für den späten Benn charakteristisch. An der Stelle frappierend ist indes, dass ein zentrales Thema des Vortrags „Probleme der Lyrik“ zum Teil im Wortlaut vorweggenommen wird. Auch dort schreibt Benn im Zusammenhang mit dem Wesen der Dichtung: Und zu ihrem Wesen gehört auch noch etwas anderes, eine tragische Erfahrung der Dichter an sich selbst: keiner, auch der großen Lyriker unserer Zeit hat mehr als sechs bis acht vollendete Gedichte hinterlassen, die übrigen mögen interessant sein unter dem Gesichtspunkt des Biographischen und Entwicklungsmäßigen des Autors, aber in sich ruhend, aus sich leuchtend, voll langer Faszination sind nur wenige – also um diese sechs Gedichte die dreißig bis fünfzig Jahre Askese, Leiden und Kampf. (SW VI, 19)
Eine weitere Textstelle, die Eingang in die Marburger Rede finden wird, findet sich auf dem zweiten Blatt des Typoskripts. Sie lautet: „Man muss dicht am Stier
Eine interessante Ausnahme hiervon bildet gleichwohl Benns wichtigste Korrespondenz, d.i. die zu F. W. Oelze. Nachdem dieser ihm im Dezember 1932 erstmalig schrieb, antwortete Benn ausgesprochen lakonisch und signalisierte kein Interesse an weiterer Kommunikation: „Eine mündliche Unterhaltung würde Sie enttäuschen. Ich sage nicht mehr, als was in meinen Büchern steht“ (BOe I, 21). Der Unterschied im Reflexionsniveau kann im Ansatz mit dem Öffentlichkeitsstatus der Korrespondenzpartner erklärt werden, agierte Oelze im Unterschied zu Sieburg, Wellershoff und Paeschke schließlich (damals noch) nicht in vermittelnd-öffentlicher Funktion im literarischen Feld.
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kämpfen, sagen – las ich – die grossen Matadore.“ (T, EB 2 [Vorderseite])⁷² Die Bedeutung der Wendung erschließt sich sowohl hier wie auch in den „Problemen der Lyrik“ erst aus dem Kontext, und führt auf eine Paradoxie in Benns Poetiktheorie zurück. So erscheint der Lyriker zwar – in Übereinstimmung mit Sieburgs Lektüre der „Statischen Gedichte“ – als „der letzte autonome Schöpfer in einer materialistischen, positivistisch denkenden Welt“.⁷³ Zugleich soll er an deren sozialen und gesellschaftlichen Praxisformen jedoch aktiv partizipieren: Er kann gar nicht genug wissen, er kann gar nicht genug arbeiten, er muß an allem nahe dran sein, er muß sich orientieren, wo die Welt heute hält, welche Stunde an diesem Mittag über der Erde steht. (SW VI, 36)
Im vorliegenden Briefentwurf geht Benn sogar einen Schritt weiter, wenn er die „Analyse von politi[s]chen Situationen, ja selbst von Finanz- und wirtschaftlichen [Z]usammenhängen“ (T, EB 3) zum Ort der Emergenz eines gelungenen Reimes macht. Dergestalt deutet das Typoskript die Vagheiten und theoretischen Inkongruenzen an, auf welche die Forschung im Zusammenhang mit den „Problemen der Lyrik“ bereits hingewiesen hat.⁷⁴ Die Tatsache, dass die poetologischen Assoziationen und Fragmente bereits im Februar bzw. März 1949 vorliegen – gut anderthalb Jahre vor den ersten Vorarbeiten bzw. zweieinhalb Jahre vor dem mündlichen Vortrag⁷⁵ –, ist indes bemerkenswert. Sie begründet den Quellenwert des Dokuments als eine frühe Komponente der „Probleme der Lyrik“.⁷⁶ Als Werkstatteinblick verdeutlicht das Typoskript zudem nicht allein, wo Benns Lyriktheorie widersprüchlich wird, sondern auch, wo die Postulate seiner Inspira-
„Man muß dicht am Stier kämpfen, sagen die großen Matadore, dann vielleicht kommt der Sieg“ (SW VI, 36). Peter Uwe Hohendahl: Gottfried Benns Poetik und die deutsche Lyriktheorie nach 1945, in: JbDSG 24 (1980), S. 380 – 398, hier: S. 386. Dazu exemplarisch Fischer über „Probleme der Lyrik“: „Die Gedankenentwicklung ist essayistisch, assoziativ montiert, mit einem Zug von Gedankenflucht, immer wieder abgleitend in schwebende Lyrismen, was ganz Benns Unlust oder Unvermögen entspricht, begrifflich präzise, stringent, gar systematisch zu argumentieren.“ Bernhard Fischer: „Probleme der Lyrik“ (1951), in: Benn-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Christian M. Hanna und Friederike Reents, Stuttgart 2016, S. 215 – 219, hier: S. 215. Fischer: Probleme der Lyrik [Anm. 74], S. 215, datiert die Vorarbeiten für „Probleme der Lyrik“ auf August 1950 bis Juli 1951. Gehalten hat Benn den Marburger Vortrag schließlich am 21. August 1951. Parallel müsste man die zeitgleich entstandenen Exzerpte und Notizen in Benns Arbeitsheften sichten, in welchen laut Hof Formulierungen fixiert wurden, noch ehe Benn sie in Briefen, diskursiven oder literarischen Texten ausprobierte. Vgl. Hof: Briefe [Anm. 65], S. 256.
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tionstheorie Gültigkeit beanspruchen dürfen. So lösen die dargestellten Textspuren ein, was der Autor in Marburg als einen „dumpfen, schöpferischen Keim“ (SW VI, 20) bezeichnet, der in einem Autor mitunter Jahre und Jahrzehnte latent sein kann – wie im Falle des Gedichts „Welle der Nacht“: [D]as [Gedicht] besteht nur aus zwei Strophen, aber beide Strophen liegen zwanzig Jahre auseinander, ich hatte die erste Strophe, sie gefiel mir, aber ich fand keine zweite, endlich dann, nach zwei Jahrzehnten des Versuchens, Übens, Prüfens und Verwerfens gelang mir die zweite […] – so lange muß man etwas innerlich tragen, ein so weiter Bogen umspannt manchmal ein kleines Gedicht. (SW VI, 29)
Die Idee der sechs vollendeten Gedichte brauchte indes ,nur‘ zweieinhalb Jahre, bis sie den Weg aus dem privaten, nur mit Sieburg geteilten Repertoire in eine breitere Öffentlichkeit gefunden hat.
4 Ausblick – Benn, die Literaturkritik und eine unterschätzte Dynamik im literarischen Feld Unter der Voraussetzung, dass der an Sieburg abgeschickte Brief vom 2. März 1949 den Gedankengang des hier erläuterten Entwurfs aufgreift, kann man die Rezension sowie die sich daraus ergebende Korrespondenz als Kontaktformen interpretieren, die eine symbiotische Beziehung auf dem literarischen Feld etablieren sollten: Gottfried Benn gewann durch Sieburgs „Wer allein ist –“ einen Popularisierungsschub, dessen Timing nicht glücklicher hätte ausfallen können. Daneben durfte er sich nach Jahren der Exklusion in seinem Welt- und Werkverständnis einer autonomieästhetischen – statischen – Kunst bestätigt fühlen – und baut diesen Ästhetizismus als geschlossenes System weiter aus, auch mithilfe von Kritikern wie Sieburg.⁷⁷ Zum Dank begegnet er dem Kritiker, der die Auseinandersetzung mit dem Dichter seinerseits strategisch einzusetzen weiß, auf Augenhöhe und macht ihn zum ,Insider‘ lyrischer Theorieangebote. Dass die Konstellation Benn-Sieburg einen wechselseitigen Gewinn symbolischen Kapitals mit sich brachte, und darüber hinaus durch eine freundschaftliche Verbindung getragen worden ist, liegt auf der Hand. Statisch blieb sie des-
In diesem Sinne auch Wegmann: „Wie ein Echo auf Benns Ästhetik des Bleibens und Beharrens, die in seinen Statischen Gedichten ihre lyrische Form findet, nimmt sich Sieburgs Befund aus, der dessen Verse fern der politischen Tagesaktualität und jedweden Aktivismus situiert – und in ihnen eine von zeithistorischen Verwerfungen freie und gerade deshalb auch entlastende Zone erblickt.“ Wegmann: konservative Allianzen [Anm. 7], S. 168.
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wegen jedoch nicht – was pars pro toto für Benns Beziehung zur Literaturkritik nach 1945 als solcher gilt. Denn mit der zunehmenden Geltung, die sich ausgehend von Kritiken und ersten wissenschaftlichen Beschäftigungen mit dem Dichter einstellt, gerät Benns auf soziale Distinktion ausgerichtetes Autorschaftsethos zunehmend in ein „Dilemma“⁷⁸ und muss durch andere Rollenmodelle ersetzt werden.⁷⁹ Damit zusammenhängend findet auch eine Akzentverschiebung innerhalb der Textproduktion statt, welche die experimentelle Prosa der „Phase II“ (SW VII/1, 238) oder die neorealistische Parlando-Lyrik als eine gezielte Provokation im literarischen Feld erscheinen lassen. Als Benn sich, institutionell geadelt mit dem Büchner-Preis sowie dem Bundesverdienstkreuz, in den Lyrikbänden nach den „Statischen Gedichten“ stilistisch umorientiert, schreibt er dazu passend an Oelze: „[B]edenken Sie bitte meine These, man muss immer wieder den Ast absägen, auf dem man sitzt, nur dann kommt man weiter.“ (BOe IV, 24) Noch drastischer findet der Wille zur Positionsverschiebung in einer im Nachlass erhaltenen Sequenz Ausdruck. Sie lautet „Ich bin nicht einheitlich. Wer ehrlich ist, bleibt fragwürdig.“ (SW VII/2, 222) Der späte Ruhm führt gleichwohl auch im Falle der Literaturkritik „zu einer massiven Selbstreflexion“,⁸⁰ die bei Friedrich Sieburg einen ironischen Beigeschmack behält. Denn indem seine Besprechung dazu beiträgt, die „Statischen Gedichte“ in den Kanon der Nachkriegszeit zu überführen, dekonstruiert der Kritiker zugleich die Aura der Unantastbarkeit, welche die Beschäftigung mit Benn zu einem kongenialen Akt werden lässt. War es 1949 noch ein Wagnis, dem Verfemten eine Bühne zu bieten,⁸¹ so lamentiert Sieburg bereits ein Jahr später über die Wirkmacht der eigenen Zunft: Heute kann man keine Literaturseite mehr aufschlagen, keine Nachtsendung mehr einschalten, ohne daß dieser exklusive Dichter hervortritt, dessen einsames und unzugängliches Werk sich selbst in den freiesten Zeiten höchstens an eine Handvoll Menschen richtete.⁸²
Elisabeth Kampmann: Selbstinszenierung im Dilemma. Gottfried Benns „Pathos der Distanz“ und der späte Ruhm, in: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken. Typologie und Geschichte, hg. v. Christoph Jürgensen und Gerhard Kaiser, Heidelberg 2011, S. 253 – 267. Hier zu nennen sind bspw. die Akzentuierung Benns als Zeitzeuge der historischen Avantgarde oder die Nachfolge einer Goethe’schen Altersweisheit. Vgl. Robert, Gaber: Benn, Oelze und die Literaturwissenschaft [Anm. 70], S. 190. Arndt: Ungeheure Größen [Anm. 5], S. 218. Hohendahl: Einleitung [Anm. 5], S. 57. Sieburg: Ein Abendländer ohne Angst [Anm. 18], S. 238.
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Abb. 1: Gottfried Benn: Briefentwurf an Friedrich Sieburg; Blatt 1, Vorderseite.
„Dies ist die erhabenste Kritik, die je über mich erschienen ist –“
Abb. 2: Gottfried Benn: Briefentwurf an Friedrich Sieburg; Blatt 2, Vorderseite.
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Abb. 3: Gottfried Benn: Briefentwurf an Friedrich Sieburg; Blatt 2, Rückseite.
„Dies ist die erhabenste Kritik, die je über mich erschienen ist –“
Abb. 4: Gottfried Benn: Briefentwurf an Friedrich Sieburg; Blatt 3, Vorderseite.
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„Schweigen hütet gegenseitiges Geheimnis“. Gottfried Benn und Ilse Molzahn Abstract: In einer schweren Lebenskrise schreibt die zu Unrecht vergessene Schriftstellerin Ilse Molzahn 1951 einen Brief der Verehrung an Benn. Es entspinnt sich ein lockerer, vom Schweigen Benns gelegentlich unterbrochener und bisher unbekannter Briefwechsel, und es kommt zu persönlichen Begegnungen. Benn fühlt sich von Molzahn und ihrer emphatischen Betonung des Worts und seinem Bezug zur Transzendenz verstanden – und er lobt ihre Gedichte. Er bittet sie sogar, mit Paul Fechter einen Stammtisch einzurichten, an dem man sich regelmäßig treffen könnte. Die schwierige, verschlossene Persönlichkeit Benns wird in Berichten Molzahns an andere plastisch sichtbar. Für sie ist er der Dichter der Zeit, der einzige, der um das Absolute wisse. Werk und Person bedeuten ihr Halt in Leben und Arbeit.
Im April 1951 erhält Gottfried Benn folgenden Brief einer ihm unbekannten Frau, der Schriftstellerin Ilse Molzahn: Kleinmachnow im April 1951. Sehr verehrter Herr Dr. Benn! Dieses sollte ein richtiges „Osterei“ werden, aber – wie es so geht – selbst der Auferstehungsmorgen zerbrach unter Schneegestöber und halbe[m] Eisgeklirre. Jetzt scheint es Frühling zu werden, wenigstens draussen. Und gerade eben fällt mir der hundertste oder tausendste Brief an Sie ein (die anderen blieben ungeschrieben). Ob dieser nun abgesandt wird, steht auch noch in den Sternen. Es ist gut, wenn man schwerfällig ist, dann werden die Worte weniger, die sich so einschmuggeln und so bleibt zuletzt vielleicht doch nur das übrig, was man sagen darf oder besser sagen soll: ohne Ihre Bücher, Ihre Gedichte wäre die Welt leer! Was heisst schon Pessimismus, es ist gut sagen zu können, was ist, es ist gut den dunklen Engel anzurennen, immer wieder, und das tun Sie ja für uns alle, die wir Lachen und Weinen gleichermassen verlernt haben. Man sagt mir oft, dass es so schwer sei Ihre Worte zu verstehen, aber es gehört keine Klugheit dazu, nein, ich bin von Haus ganz und gar dämlich, habe niemals Mathematik begriffen, niemals Dinge der Bildung mir einprägen können, aber ein Satz von Ihnen macht mich hellwach. Ich lese und lese und kann niemals aufhören zu lesen, wenn ich „Ptolemäer“ oder „drei alte Männer“ oder „Doppelleben“ angefangen habe. Und ich fange immer wieder von vorn an.
https://doi.org/10.1515/9783110729658-008
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Es ist das WORT! Man kann ihm ebenso wenig entrinnen, wie man Gott entrinnen kann (so meine ich) „ich lasse Dich nicht, Du segnetest mich denn“. Das ist, glaube ich, das ganze Geheimnis! Das bleibt – das Einzige, das bleiben wird, so habe ich es für mich (durch Sie) begriffen. Vielleicht bin ich mit Ihren Augen betrachtet sehr anmassend: Welch ein Hochmut für eine Frau. Sie ist doch chthonisch und nicht geistig, Aber wenn ich auf dieser Welt an niemanden und an nichts mehr glaube, so glaube ich doch dem, was durch Sie gesagt wird. Mit dem Kopf habe ich es nicht begriffen, mit dem Herzen? – das ist mit meinen Söhnen in Russland geblieben – also mit meiner Existenz, die noch da ist, vielleicht mit meinem „Sonnengeflecht“, das oftmals greint – dann lese ich Benn – es ist gut – weil es dieses Entzücken gibt, die Gedichte, diese Hochzeit von Himmel und Erde! Ueber ein Jahr lang drehen sich die Gespräche (die richtigen) um Gottfried Benn, ob mit Paul Fechter, oder (seltener) Karl Henssel, oder brieflich mit Hans Erich Nossack und noch anderen „gemeinsamen“, bloss Muschelkalk, die mir nach dem Weltuntergang auch einen „Tauben“-Gruss sandte, sprach ich noch nicht wieder, obwohl sie ganz in meiner Nähe wohnt, bloss ich – hinter dem Stacheldraht! Fertig ist das nachträgliche Osterei, bunt und (wahrscheinlich) dumm. Aber ich bin doch auch von dort (noch östlicher, als Sie, noch verlorener, die Heimat, als die Ihrige) wo es die Kargheit gibt, die blauen Augen der Seen, den Sand und am Auferstehungsmorgen den feierlichen, brüderlich-schwesterlichen Osterkuss. Haben Sie Dank! [hs.:] Ihre Ilse Molzahn¹
Als die heute zu Unrecht vergessene Schriftstellerin Ilse Molzahn (1895 – 1981) diesen Brief schrieb, hatte sie viele Verluste erleben müssen: Ihr Leben lag in Scherben. Auf dem Landgut Kowalewo in der Provinz Posen geboren, musste sie dieses im Alter von sechs Jahren verlassen, weil der Vater wegen Missernten gezwungen war, das Gut aufzugeben. Die Schulen besuchte sie dann in Soest, Hannover und schließlich Kempen, wiederum in Posen. Schon als Kind hatte sie Dichterin werden wollen, die Eltern bestanden aber auf einer praktischen Ausbildung. An der Fröbel-Frauenschule in Leipzig absolvierte sie den damals neuen Lehrgang zur Kindergärtnerin und -hortnerin und übernahm danach, der Erste Weltkrieg war ausgebrochen, eine Kleinkinderschule und Krankenstation auf dem Majorat Laski in Posen, unweit der russischen Grenze. Danach arbeitete sie in einer Munitionsfabrik und nach Kriegsende in der Erwerbsfürsorge in Hannover, bis man den Frauen das Arbeiten verbot. 1919 lernte sie in Weimar am Bauhaus, das eben gegründet worden war, bei einer Dichterlesung – sie muss damals schon Deutsches Literaturarchiv Marbach (DLA), NL Benn. Ilse Molzahn hat die meisten ihrer Briefe mit Maschine geschrieben, für die Briefe an Benn gilt dies allerdings nur bis zum Brief vom 27. Juni 1953. Bei den maschinengeschriebenen Briefen habe ich Tippfehler und fehlende Punkte stillschweigend korrigiert. Unterstreichungen im Text sind hier kursiv gesetzt. Es ist mir bisher nicht gelungen, die Rechtsnachfolger von Ilse Molzahn zu finden.
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als Schriftstellerin aufgetreten sein – den expressionistisch-futuristischen Maler Johannes Molzahn kennen, den sie Ende des Jahres heiratete. Das mittellose Paar zog in das großväterliche Haus in Soest, wo Ilse Molzahn Mutter von zwei Söhnen wurde. Johannes Molzahn, avantgardistisch in der Kunst, aber konservativ in der Lebenspraxis, hielt nichts von schreibenden Frauen, so dass sie sich zunächst mit der Mutterrolle begnügen musste. Der Maler wurde 1923 nach Magdeburg und 1928 an die moderne Kunstakademie Breslau unter Oskar Moll berufen, die Familie zog natürlich mit. Die Schriftstellerin Oda Schaefer erinnert sich in ihren Memoiren „an die Frau mit den dunklen Haaren und den schmalen, grünen Augen, die sich selbst als Zigeunerin empfand“ und die „durch die Breslauer Tauentzienstraße und das Café Fahrig in modisch kurzen Kleidern und Russenstiefeln“ ging: „eine elegante, auffallende Erscheinung in diesem östlichen Paris“.² Sie war nun Teil der von den Nazis schon bedrohten Moderne und unterstützte sie durch journalistische Arbeit, denn ihr Mann hatte den Widerstand gegen ihr Schreiben schon in Magdeburg aufgegeben. Sie schrieb Feuilletons für die „Vossische“ und andere Zeitungen und Theaterkritiken für die „Deutsche Allgemeine Zeitung“. Für das „Neue Bauen“ nahm sie während der Werkbundausstellung „Wohnung und Werkraum WuWa“ von 1929 in Breslau, an der Architekten wie Hans Scharoun und Adolf Rading beteiligt waren, dezidiert und unterhaltsam Stellung.³ In Breslau begann sie auch mit der Arbeit an ihrem ersten und schönsten Roman: „Der schwarze Storch“, der 1936 bei Rowohlt erschien. Er ist stark autobiographisch und beschreibt das letzte Jahr in Kowalewo konsequent aus der Sicht – und das ist das Besondere und Reizvolle – eines kleinen Mädchens, das allein in der Welt der Erwachsenen steht und viel sieht, aber wenig versteht: Der Leser muss sich selbst einen Reim auf das Geschilderte machen. Die Weltwirtschaftskrise führte schon 1932 zur Schließung der Kunstakademie Breslau, den Rest besorgten die Nazis. Johannes Molzahn verlor seine Stellung und jede Verdienstmöglichkeit. Seine Frau musste, nun in Berlin, mit Journalismus allein für die Familie aufkommen. 1938 emigrierte Johannes Molzahn in die USA. Ilse ging nicht mit. Für sie kam eine Emigration nicht in Frage, zudem war die Ehe mit dem verbissenen Maler, der kaum Zeit fand für sie, schwierig. Sie blieb ihm aber zeitlebens brieflich eng verbunden. In Berlin schrieb sie den BreslauRoman „Nymphen und Hirten tanzen nicht mehr“ (1938) und in Kleinmachnow den Familienroman „Töchter der Erde“, der 1941 bei Goverts erschien und eine Oda Schaefer: Auch wenn Du träumst, gehen die Uhren. Lebenserinnerungen, München 1970, S. 228 – 229. Vgl. Ilse Molzahn: Eine Frau durchstreift die „Wuwa“, in: Schlesische Monatshefte 6 (1929), S. 310 – 316.
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Auflage von 60.000 Exemplaren erreichte. Beide von Friedo Lampe lektorierten Romane leiden für den heutigen Leser trotz sehr eindringlicher Passagen und Schilderungen an einer gewissen Überinstrumentierung im Sprachlichen und Metaphorischen.
Ilse Molzahn – Fotografie von Madeline Winkler aus dem Jahr 1940
Seit 1935 war sie mit dem (verheirateten) Literaturhistoriker und Journalisten Paul Fechter liiert, den sie vergeblich zu heiraten hoffte. Die Liebe zum Mann Fechter hielt sie aber nicht davon ab, sich an seiner Bürgerlichkeit und seiner
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völkisch-konservativen Haltung immer wieder zu reiben.⁴ Wie Benn hatte er den Nationalsozialismus zunächst begrüßt und sich später innerlich davon distanziert. Trotzdem hatte er noch 1941 in der Neuauflage seiner weit verbreiteten Literaturgeschichte einen peinlichen Kotau vor Hitler gemacht.⁵ Den Krieg verlebte Ilse Molzahn allein in Kleinmachnow, Fechter wollte sie damals wegen dessen Beziehung zu einer Schauspielerin nicht mehr sehen, und beide Söhne waren, so blutjung sie waren, eingezogen worden. Briefe gingen hin und her, bis die Nachricht kam, dass der Ältere, Michael, in Stalingrad gefallen war: Ein furchtbarer Schlag. Im Frühling 1945 verlor sie auch den Kontakt zum Jüngeren, ErnstUriel: Er blieb ohne jede Nachricht verschollen. Am 11. Dezember 1945 notierte sie in ihre Tagesnotizen: „Eine Mutter ohne Söhne ist nur ein amputiertes Stück Fleisch.“⁶ Doch damit nicht genug: Nach dem Tod von Michael hatte sie einen umfangreichen Antikriegsroman „Das Dorf hieß Chlobuko“ aus der Sicht der Mütter zu schreiben begonnen, in dem sie auch die Zerstörung Lidices durch die Nationalsozialisten verarbeitete. Der Verleger Eugen Claassen hatte sie während ihrer Arbeit finanziell unterstützt, wollte den Roman aber, als er endlich fertig war, nicht drucken. Die Währungsreform war dazwischen gekommen und hatte die Verlage finanziell in Bedrängnis gebracht – und die Leute wollten vom Krieg und von Antikriegsromanen nichts mehr wissen. Ohne die über alles geliebten Söhne, ohne einen Mann, der bedingungslos zu ihr ja sagte, und nun auch ohne Verleger erlebte sie die furchtbaren Nachkriegsjahre allein in Kleinmachnow, das heißt in der Sowjetischen Besatzungszone, von Berlin und ihren Freunden immer stärker getrennt. In dieser Situation machte Fechter, der Benn seit mindestens 1934 persönlich kannte und mehrfach über ihn publiziert hatte, Molzahn auf den Dichter aufmerksam. Am 29. November 1949 (also einige Monate vor dem oben zitierten Brief) hatte sie an Hans Erich Nossack, mit dem sie einen umfangreichen und interessanten Briefwechsel unterhielt, von Benn mit Hinweis auf seine kurze Hitler-Begeisterung geschrieben, er sei wie Fechter „etwas zwielichtig“, aber sie habe sich ganz überzeugen lassen, er hat ein paar Gedichte in seinen Bänden, die man wieder und wieder liest, so [l]eidig mir auch der ganze Mensch zu sein scheint, weltanschaulich wohl ein
„F. kann man nur als Frau gern haben, seines warmen menschlichen Daseins wegen, aber jeder Mann würde sein Geschwätz nur ärgern, so klug er auch ist“. Ilse Molzahn an Hans Erich Nossack, 29. November 1949, Staatsbibliothek zu Berlin (SBB), NL 161, Ilse Molzahn, Ordner 13. Paul Fechter: Geschichte der deutschen Literatur, Berlin 1941, S. 758 – 759, Vgl. Joseph Wulf: Literatur und Dichtung im Dritten Reich. Eine Dokumentation, Reinbek bei Hamburg 1966, S. 424. Ilse Molzahn: Tagesnotizen, Eintrag vom 11. Dezember 1945, SBB, NL 161, Kasten 51.
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Existenzialist, wenigstens hält er sich dafür, aber tief, tief in dieser „Bullennatur“ (anders kann man es nicht bezeichnen) ist doch dieses „Brüllen“ nach Gott.
Einen Brief allerdings würde sie ihm „nie“ schreiben, „weil ich ihm menschlich nicht ganz traue“.⁷ Nun hatte sie es, als „Osterei“ verpackt, doch getan. Dass sie sich darin gleich mehrfach als Frau zurücknahm, war keine bloß rhetorische Demutsgeste gegenüber Benn: Ilse Molzahn, selbst androgyn, die schon in den späten 1920er Jahren gegenüber ihrem Mann auf ihren Rechten beharrte⁸ und in den Fünfzigern Joachim Günther von den „Neuen Deutschen Heften“ vorwarf, zu wenig Texte von Frauen zu veröffentlichen⁹, bestand wie die bürgerliche Frauenbewegung ihrer Zeit gleichzeitig auf der grundsätzlichen Verschiedenheit von Frau und Mann, wobei sie das „Chthonische“ dem „Geist“ als gleichwertiges Reich gegenüberstellte. Benn antwortete postwendend am 4. April 1951.¹⁰ Dafür wird er gleich mehrere Gründe gehabt haben. Da sind die Hinweise auf Bekannte Benns, die dieser schätzte wie Fechter, den Verleger Karl Heinz Henssel, der 1946 einen Privatdruck der „Statischen Gedichte“ gedruckt hatte, und „Muschelkalk“, eigentlich Leonharda Gescher, die Witwe von Ringelnatz und auch von Benns Freund Julius Gescher. Und da ist der Hinweis auf die gemeinsame östliche Heimat. Wichtiger aber wird ihm der emphatische Satz „Es ist das WORT!“ gewesen sein mit der Betonung seiner inhärenten Beziehung zur Transzendenz sowie die Passage „Was heisst schon Pessimismus“: Sie werden Benn die Gewissheit gegeben haben, verstanden zu werden. Schließlich hat ihn wohl auch die Form des maschinengeschriebenen Briefes animiert, den er eingangs „überraschend und reizend“ nennt und von dem er zum Schluss sagt: „Ihr Brief ist wirklich ein Osterei: mit rot und schwarzen Lettern u auf grünem Papier – hübsch zum Ansehn und gut zum Essen – haben Sie tausend Dank!“ Er habe sich, schreibt er, immer gefragt, wer das sei, wenn er etwas von ihr gelesen habe, nun wisse er es „ungefähr und in Umrissen“. Viel wird Benn von Molzahn nicht gelesen haben: Als er, nur wenige Monate vorher, mit seinem Verleger Max Niedermayer über die von beiden gemeinsam initiierte Anthologie „Geliebte Verse“ korrespondierte, war ihm Molzahn
Ilse Molzahn an Hans Erich Nossack, 29. November 1949, SBB, NL 161, Ordner 13. Zum Beispiel: Ilse Molzahn am 24. März 1928 an Johannes Molzahn: „Man kann heute keine Ehe führen, wo der Mann fortgeht und die Frau zu Hause wartet, bis er zurückkommt.“ SBB, NL 161, Kasten 43. Vgl. Ilse Molzahn an Joachim Günther, 12. April 1954, SBB, NL 161, Ordner 15. Vgl. Gottfried Benn an Ilse Molzahn, 4. April 1951, SBB, NL 161, Kasten 26.
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noch unbekannt.¹¹ Sie war in der Anthologie, in der prominente Schriftsteller ihre Lieblingsgedichte nannten, mit dem Gedicht „An die Vermissten“¹² vertreten; Fechter hatte es gewählt. Dazu schreibt Benn nun: „Ihr Gedicht in der neuen Anthologie ist sehr schön, ich freue mich, dass es darin ist und bin Herrn Fechter dafür dankbar.“ Ein Ritterschlag für die Dichterin, die ihre wenigen Gedichte bis dahin immer nur in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht hatte! Sie schickt ihm zu seinem 65. Geburtstag am 2. Mai 1951 ihr Gedicht „So sagte der Cherub“, worauf Benn im Juni mit der Zusendung seiner eben erschienenen „Fragmente“ reagiert. Die Widmung: „Die folgenden Zeilen sind nicht erfreulich (sagte der Cherub) aber nehmen Sie sie als Gruß und Dank für Verse und Stiefmütterchen freundlich entgegen.“¹³ Schon zuvor hatte Paul Fechter an Benn geschrieben, er würde ihm bei Gelegenheit eines neuen Treffens „gerne sagen, wie viel Gutes Ihre Zeilen an Frau Molzahn gestiftet haben: wenn um einen Menschen mit so viel bester Begabung alles verstummt, ist ein Wort von einem Mann von Ihrer Haltung zur Welt ein dreifaches Geschenk.“¹⁴ Die Autorin selbst dankt Benn für die „Fragmente“ am 10. Juni 1951 in einem langen Brief, den sie als verspäteten Geburtstagsbrief verstanden wissen wollte – sie hatte sich nicht getraut, vorher zu schreiben. Sie habe den Tag für sich im Garten gefeiert und sei am Abend zu einer Lesung zu Ehren Benns ins Haus am Waldsee gepilgert, was sie aber besser nicht getan hätte, denn der Vortragende sei wenig engagiert gewesen: „Gesten und Allüren eines Hofschauspielers, der immer durch die Fingerspitzen redete.“ Sie schreibt über das „Cherub“-Gedicht, oder besser über den Cherub selbst, und schließlich, weil sie heute eine „Plaudertasche“ sei, über Johannes Molzahn, dem sie den „Ptolemäer“ geschickt habe.¹⁵ Benn antwortet nicht. Und Ilse Molzahn notiert anderthalb Jahre später in ihren Tagesnotizen während der andauernden Unfähigkeit, wieder ins schöpferische Schreiben vorzustoßen, sie sei wie ein Kind, „das heimlich, ganz heimlich auf ein Wunder wartet oder auf eine große Liebe […] Ich hoffte einmal auf G. B. Er war
Vgl. Gottfried Benn – Limes Verlag. Briefwechsel 1948 – 1956, hg. und kommentiert von Marguerite Valerie Schlüter und Holger Hof, Stuttgart 2006, CD-ROM, S. 347 (Brief vom 15. Januar 1951). Vgl. Geliebte Verse. Die schönsten deutschen Gedichte aus der ersten Jahrhunderthälfte, 4. Aufl., Wiesbaden 1984, S. 215 – 216. Zit. nach dem Brief von Ilse Molzahn an Karl Korn vom 7. Dezember 1970, SBB, NL 161, Ordner 18. Sie nennt darin als Datum der Widmung offenbar irrtümlich den Geburtstag Benns, die „Fragmente“ sind aber erst im Juni erschienen. Paul Fechter an Gottfried Benn, 18. Mai 1951, DLA, NL Benn. Ilse Molzahn an Gottfried Benn, 10. Juni 1951, DLA, NL Benn.
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auch eine Enttäuschung, oder aber, mir fehlte der Mut und, vielleicht auch, G. B. Hatte wohl alles falsch angefangen.“¹⁶ Einige Monate später, am 27. Juni 1953 – sie hatte inzwischen Kleinmachnow unter Zurücklassung des Hauses, der Möbel und der meisten Bücher zugunsten Westberlins verlassen –, wagt sie doch, wieder an Benn zu schreiben, und zwar mit einer Bitte, wie sie Benn oft bekommen hat: Sie schickt ihm ein Umbruchexemplar ihres neuen (und letzten) Romans, „Schnee liegt im Paradies“, und bittet ihn, darin zu blättern und ihn vielleicht zu lesen, eventuell sogar darüber zu schreiben. „Entschuldigen Sie bitte meinen Mut, (meine Frechheit). Aber Ihr Wort gilt so viel.“¹⁷ Einen Monat später schreibt Benn an Fechter, er werde „Frau Molzahns Buch mit Interesse lesen. Sie hatte auch schon an mich geschrieben.“¹⁸ Und nur zwei Tage später notiert er in seinem Tageskalender: „Buch Molzahn.“¹⁹ Zum Buch hat er sich nicht geäußert. Der märchenhafte Roman, in dem es um den Aufbau eines neuen Paradieses nach der Zerstörung der Welt geht und in dem Jev (Jehova) und Luz (Luzifer) persönlich auftreten, wird ihm nicht gefallen haben.²⁰ Ein gutes Jahr später, im Spätsommer 1954, macht Molzahn einen neuen Versuch der Kontaktaufnahme, und zwar anlässlich des Radiogesprächs Benns im Sender Freies Berlin mit Hermann Kunisch zum Thema „Dichter in dürftiger Zeit“: Die Maschen, die Sie Herrn Kunisch zuwarfen – von denen er nicht eine aufzufangen vermochte, – habe ich alle auf meine Stricknadel genommen. Herrlich, wie Sie den albernen Goethevers als eine journalistische Bemerkung zur Seite schoben. […] das intellektuelle Geschwätz wuchert wie Unkraut, unter dem man erstickt. Deshalb war es gut, dass Sie das Wort und seine Gewalt wieder an die richtige Stelle rückten, Anfang – Mitte – Ende – sagten Sie, wofür ich Ihnen hiermit danke.²¹
Nun antwortete Benn, wiederum postwendend, mit Dank für die Teilnahme und mit dem Hinweis, dass das Gespräch viel länger gewesen sei, „aber man musste es
Ilse Molzahn: Tagesnotizen, Eintrag vom 9. Februar 1953, SBB, NL 161, Kasten 51. Ilse Molzahn an Gottfried Benn, 27. Juni 1953, SBB, NL 161, Kasten 51, Ordner 14. Gottfried Benn an Paul Fechter, 28. Juli 1953, DLA, NL Fechter. Gottfried Benn: Arbeitsheft / Kalender, Eintrag vom 30. Juli 1953, DLA, NL Benn. Den Hinweis wie auch Kopien einiger Briefe verdanke ich Holger Hof. Am 10. Januar 1954 notiert Molzahn in ihren Tagesnotizen: „Kein Mensch, Benn schweigt, wie mag mein Bild bei ihm aussehen“, SBB, NL 161, Kasten 51. Ilse Molzahn an Gottfried Benn, 27. August 1954, DLA, NL Benn. Das Gespräch mit Kunisch findet sich in Gottfried Benn: Sämtliche Werke, Bd. VII/1, hg. von Holger Hof, Stuttgart 2003, S. 281– 301. Auf diese Ausgabe wird im Folgenden unter der Verwendung der Sigle SW I – VII/2 hingewiesen. Der „alberne Goethevers“ lautet: „Wozu sucht ich den Weg so sehnsuchtsvoll, wenn ich ihn nicht den Brüdern zeigen soll?“ („Zueignung“).
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offenbar ‚entschärfen‘, wie so vieles von mir, ehe man es der Öffentlichkeit serviert.“ Und er macht einen Vorschlag: Warum arrangiert eigentlich Herr Fechter nicht eine Art Stammtisch, an dem man sich gelegentlich treffen könnte u. auch Sie kämen u. man lernte sich kennen. Sagen Sie ihm das doch bitte gelegentlich.²²
Der Einsiedler mit dem Nimbus des Unerreichbaren, der diesen Vorschlag schon ein Vierteljahrhundert früher gegenüber Thea Sternheim gemacht hatte,²³ will sich regelmäßig zum Austausch treffen: „Kommt reden wir zusammen / wer redet ist nicht tot“.²⁴ In der Folge entspinnt sich nun ein lockerer Briefwechsel bis zu Benns Tod. Themen sind der geplante Stammtisch und seine und Molzahns Gedichte. Zum Stammtisch kam es nicht, weil Fechter, der doch als ehemaliges Mitglied des Berliner Montagstischs und nachher der Mittwochsgesellschaft Erfahrung mit ähnlichen Vereinigungen hatte, nur Schwierigkeiten sah. Molzahn schreibt Benn am 15. Oktober 1954, Fechter referierend, das sei schwierig, „weil immer einer da sein muß, damit der zweite Mann nicht wegläuft. Wer soll ‚immer da sein‘ und – wo?“²⁵ Sie habe ihrem Verleger, Bertelsmann, vergeblich vorgeschlagen, statt „überflüssiger Preisausschreiben“ ein Gästehaus zu stiften, „das wäre ein ‚neutraler‘ Ort und ich würde doch schon gern la dame d‘honneur machen, das heißt, wenn Sie als Stammgast kämen.“ „Schade, dass kein Stammtisch zustande kommt. Ein Gästehaus schwebte mir nicht vor, –“ antwortet Benn, „ein Holztisch, ein Kellner, ein Glas Bier u. ein par Leute, unter Fechters Aegide, die sich alle 4 Wochen treffen.“²⁶ Die Frage des Stammtischs zieht sich durch die Briefe Benns, Molzahns und Fechters bis in den Januar 1955 – ohne Ergebnis. Mehrfach beteuert Molzahn, dass Benn in aller Munde sei. So in dem eben zitierten Brief, der mit dem Passus schließt: Sie ahnen garnicht, wie viel und wie oft von Ihnen gesprochen wird. Fechter liebt sie sehr! (Ich auch) Max Brod, dann gestern Rauschning, der eine aus Tel Aviv, der andere vom Pazific. „Was ist los in Deutschland?“ Dichtung? Gottfried Benn, heißt es immer. Nur will sie niemand stören. Hoffentlich habe ich es heute nicht getan mit meinen Zeilen.²⁷
Gottfried Benn an Ilse Molzahn, 28. August 1954, SBB, NL 161, Kasten 26. Im Juli 1928, s. Gottfried Benn, Thea Sternheim: Briefwechsel und Aufzeichnungen. Mit Briefen und Tagebuchauszügen Mopsa Sternheims, hg.v. Thomas Ehrsam, Göttingen 2004, S. 46. Anfang des Gedichts „Kommt –“, das etwa ein halbes Jahr später entstanden ist. In: SW I, 300. Ilse Molzahn an Gottfried Benn, 15. Oktober 1954, DLA, NL Benn. Im gleichen Sinn noch einmal am 10. November 1954 und Paul Fechter am 10. Januar 1955 an Benn (ebd.). Gottfried Benn an Ilse Molzahn, 17. Oktober 1954, SBB, NL 161, Kasten 26. Ilse Molzahn an Gottfried Benn, 15. Oktober 1954, DLA, NL Benn. Ganz ähnlich in einem Brief aus Krefeld, in dem sie als „Meinungsforscherin“ berichtet, dass die jungen Männer, „Textil-In-
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Max Brod und Hermann Rauschning, Autor der berühmt-berüchtigten „Gespräche mit Hitler“ von 1940, waren mit Fechter bekannt. Über das Treffen mit Brod berichtet Fechter in seinem Buch „Menschen auf meinen Wegen“, wo es heißt: „Und als dann noch Ilse Molzahn hinzukam, war Brod sichtlich von der Gegenwart eines weiblichen Wesens angetan, zückte Fotos aus Palästina, aus seiner familiären Existenz“.²⁸ Der Anlass des zitierten Briefes waren aber – und damit kommen wir zum eigentlichen Thema der Briefe – Gedichte. Die „Frankfurter Allgemeine“ hatte an diesem Tag, dem 15. Oktober 1954, zwei Gedichte Benns veröffentlicht: „Warum gabst Du uns die tiefen Blicke“ (später unter dem Titel „Zwei Träume“) und „Das sind doch Menschen“, offenbar neben einem Foto von Gustav Gründgens. Die Gedichte seien „Manna“ gewesen, schreibt Molzahn, und: „Richtige Gedichte sind das Schönste, was es auf der Welt gibt! Das ist keine Phrase!“ Nach erneuter Erörterung des Stammtischproblems nimmt sie den Faden wieder auf und schreibt in ihrer offenherzig-plaudernden, auch plastischen Weise. Gründgens Narziss-Gesicht, daneben Ihr un[n]achahmliches: „Warum gabst Du uns die tiefen Blicke“, das war schon eine profunde Welt. Ich bin gleich in den Garten gelaufen und habe am See die Schwäne gefüttert, einen Bissen für Benn, einen für Gründgens (wenngleich ich den letzten zu unheimlich – eiseskalt – empfinde) na, es war auch nur trockenes Brot, was die beiden Schwäne bekamen –²⁹
Benn antwortet wieder umgehend und fügt dem Dank ein Bekenntnis an: Liebe, verehrte Frau Molzahn, Sie sind immer zu nachsichtig mit mir, zu gütig! Gedichte sind ja immer wieder eine heikle Sache, auf des Messers Schneide; jedesmal ist, ein neues Gedicht zu veröffentlichen, ein schwerer Entschluss u eigentlich tue ich es nur, um tapfer zu sein.
Was sie mit Gründgens meine, wisse er nicht, weil er die Zeitung noch nicht bekommen habe, „aber dass Sie die Schwäne fütterten ist reizend.“³⁰ Er hatte also auch dafür Sinn. „Tapfer sein“ – die Formulierung findet sich nicht häufig im Werk Benns, am markantesten in folgender Stelle: „Bis zum letzten Augenblick nichts anerkennen können, als die Gebote seines inneren Seins […] Das heißt, genieurschule-Studenten“, Ulf Diederichs, Pfadfinder, alle Benn läsen: „Also – keineswegs ‚allein Du mit den Worten – –‘ Wie groß war meine Freude!“ Ilse Molzahn an Gottfried Benn, undatiert, ca. 10. November 1955, SBB, NL 161, Kasten 26. Paul Fechter: Menschen auf meinen Wegen. Begegnungen gestern und heute, Gütersloh 1955, S. 167. Ilse Molzahn an Gottfried Benn, 15. Oktober 1954, DLA, NL Benn. Gottfried Benn an Ilse Molzahn, 17. Oktober 1954, SBB, NL 161, Kasten 26.
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man muß als Künstler auf die Dauer nicht nur Talent, sondern auch Charakter haben und tapfer sein.“ (SW VI, 220) Der Satz war ihm so wichtig, dass er ihn, nur minimal variiert, gleich viermal verwendete. Hier nun, im Brief an Molzahn, bezieht sich „tapfer sein“ nicht auf das Dichten, sondern auf das Veröffentlichen des Gedichteten, wobei es von der Voraussetzung des Dichtens zum eigenen Ziel wird: Tapfer sein müssen, um zu dichten, und veröffentlichen, um tapfer sein. Benns Pfarrhaus-Prägung und die damit verbundenen Pflicht- und Moralvorstellungen scheinen durch. Am 10. November 1954 schreibt Molzahn Benn, Bernt von Heiseler sei abgereist, der bei mir wohnte und schon in der Früh, wenn ich die weichen Eier kochte,Verse von Ihnen sprach (auswendig!) also, Grund genug Ihnen wieder einen Gruß zu senden.³¹
Molzahn war mit dem Dichter von Heiseler befreundet, was sie aber nicht davon abhielt, seine konservative und zunehmend reaktionäre politische Haltung (er wollte zum Beispiel Schlesien zurückhaben) äußerst scharf zu kritisieren.³² Auf den Besuch Heiselers spielte Benn in einem Telefongespräch mit Molzahn an, das zum ersten Treffen der beiden führte. In einem langen Brief gibt Molzahn einen Bericht über die Begegnung, der hier ausführlich zitiert werden soll, weil er ebenso charakteristisch für Benn wie für Molzahn ist, und weil er aus der Sicht einer Frau stammt, ohne dass, weder von der einen noch von der anderen Seite, erotische Absichten bestanden hätten. Adressat war der Germanist Hans Schwerte, der bei seinem Berliner Aufenthalt (er wohnte bei Molzahn) selber auf ein Treffen mit Benn gehofft hatte. Molzahn hatte Schwerte im Sommer zuvor im Urlaub in Bayern kennen gelernt; sie konnte nicht wissen, dass er bis zum Kriegsende Hans Ernst Schneider hieß und SS-Hauptsturmführer im „Amt Ahnenerbe“ war.³³ Das Treffen mit Benn fand am 13. April 1955 statt, den Bericht schrieb sie einen Tag später: Es war ja schon mehr als seltsam, als am Sonnabend, nachdem Sie abgereist waren, gegen 10 Uhr, Fechter und ich frühstückten gerade, das Telefon klingelte und eine sehr einschmeichelnde Stimme, ohne Namensnennung, nach allerlei Umschweifen „wir kennen uns lange, haben uns aber nie gesehen“ u.s.w. plötzlich mit der Vorstellung hier ist Benn, herausrückte und ich […] geradezu in einen Jubelschrei ausbrach: Ne[in] Benn! Benn! worauf er
Ilse Molzahn an Gottfried Benn, 10. November 1954, DLA, NL Benn. Zum Bespiel in den Briefen an Bernt von Heiseler vom 5. Januar 1964 und undatiert aus dem Jahr 1965, SBB, NL 161, Ordner 21 bzw. 33. Vgl. Claus Leggewie:Von Schneider zu Schwerte. Das ungewöhnliche Leben eines Mannes, der aus der Geschichte lernen wollte, München 1998.
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dann gleich nach Dr. Schwerte fragte. […] Ja, er wollte Sie und mich zu sich einladen, aber seine Frau war krank. Dann kam eine Pause und die nachdenkliche Frage, wo ich Sie denn kennengelernt, ich berichtete, dann eine neue Frage, wieso denn bei mir immer Dichter und so wohnten, Heiseler hätte doch auch bei mir gewohnt. Ich erklärte den Fall. Dann die Frage, was der „vortreffliche“ Fechter mache. Als ich Benn sagte, dass der gerade hier bei mir frühstücke, meinte er „Mein Gott, ‚nächtigt‘ der auch bei Ihnen?“ worauf ich den Hörer schleunigst an Fechter abgab. Sie sehen, in welche komischen Lebenslagen man zuweilen kommt. Fechter sprach dann mit Benn und Benn bat wiederum Fechter, ich möchte ihn in den nächsten Tagen noch einmal anrufen, damit wir etwas verabreden könnten. […] Und nun trafen wir uns gestern in der Stadt, in der Schildkröte, einem Lokal in der Uhlandstrassse. Das war sehr seltsam. Benn hatte seine Frau mitgebracht und dann kam nachher noch Franz Thumler [Tumler] […] österreichischer Dichter, auch mit Frau, den F. mal entdeckt hat und der wirklich begabt zu sein scheint. Mich verwirrte das Allzuviel neuer Gesichter, viere auf einmal ist zu viel, auch wenn die beiden fremden Frauen, an sich ganz nett, nicht zählten, so zählte doch Benn in seiner nicht nur doppelbödigen, sondern eigentlich fast unerreichbaren Geschlossenheit. Bei jedem Menschen wissen Sie doch sofort, ob Sie „angenommen“ oder „abgelehnt“ sind, bei Benn aber nicht das lässt er immer offen und dadurch ist ein solches Zusammensein bei aller Mühe, die man sich gibt, eine grosse Kraftprobe und Anstrengung. […] ich neben Fechter wusste oft nicht, soll ich mich in das Gespräch der beiden Frauen, die sich seit langem kennen, einschalten, oder aber darf ich mich an den Männergesprächen beteiligen, zumal ja Benn öfter das Wort an mich richtete. Benn trank Bier und Steinhäger, ich nur Steinhäger. Uebrigens zog Benn einen Geburtstagsdankgruss von Ernst Jünger aus der Tasche, extra für mich mitgebracht, wie er sagte, nebenbei, gedruckt, eine höchst dichterische Angelegenheit von einer Muschel, die er genau beschreibt in seiner visionären Art, „die Herzmuschel“ genannt Hm. Jedenfalls sassen wir von 8 bis 11 Uhr und dann brach Benn spontan auf, er hatte einfach genug, obgleich Thumler und Frau, auch Frau Benn gern noch „weitergemacht“ hätten […] Bei mir aber hatte sich Benn noch bedankt, „dass ich gekommen wäre“. […] Fechter, der Benn ja seit ewigen Zeiten kennt, behauptet er sei nie so aufgeschlossen gewesen, wie an diesem Abend und darauf könne ich mir was einbilden. Dazu kann ich aber nur sagen, dann möchte ich ihn nicht erleben, wenn er sozusagen nicht aufgeschlossen ist. […] Immerhin, unbefriedigend war der Abend keineswegs, wenn ich auch fand, dass man zu einem richtigen, wirklichen Gespräch nicht kam, es wurde meist über Literatur im allgemeinen, über Menschen der Literatur geredet, keineswegs aber über das Eigentliche, aber darüber soll Benn nie sprechen. Er lässt sich so den Tratsch und Klatsch der Literatur erzählen, darin haftet ihm noch etwas von einem Bohemien des ehemaligen Romanischen Cafés an, doch im Grunde genommen ist er von allem weit fort, ganz in seiner eignen, ich glaube dunklen, ewig an ihm zehrenden und ihn herausfordernden Welt, und das ganz im Sinn absolut gültiger männlicher Geistigkeit, wohin wir Frauen ja nie gelangen, soviel Mühe wir uns auch geben, eine Welt, in der Frauen kaum existieren. Ich meine als menschliche Wesen deren man doch zuweilen bedarf. Dieses habe ich noch bei keinem Menschen so stark empfunden wie bei Benn und dem gegenüber stehen dann Gedichte, die das Letzte über die Liebe, die Frau, aussagen, wie es meinem Gefühl nach von keinem anderen Dichter übertroffen wird. Möglich aber, dass dieses eine ganz subjektive Auffassung von mir ist, aber so stark und unbedingt meine Beziehung zu Benns Arbeit ist, einfach wie zu Brot, dessen man bedarf, so wenig fand ich im Grunde einen persönlichen Kontakt zu ihm, ohne dabei sagen zu können, ob das Benn auch so ging, das alles blieb seltsam geheimnisvoll, entrückt. Ich bin neugierig, wenn wir Benn wiedersehen werden, überhaupt, ob sich
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da etwas wie eine Freundschaft oder zum mindesten ein Vertrauen auch zu mir entwickelt, oder ob das lediglich für Fechter reserviert bliebt. Dass er nebenbei gesagt seine Beziehung zum Nazitum keineswegs aufgegeben hat, ersah ich aus seinen Gesprächen über Hans Johst (dem es schlecht gehen soll) und Maraun, dem ehemaligen Filmsekretär von Göbbels, den Benn sehr gut kennt und als einen „sehr anständigen Menschen“ bezeichnete. Das alles bestürzte mich anfangs ganz erheblich, weil ich zu diesem Regime im offenen Kampfe stand, und ihm überhaupt mein ganzes Lebensunglück zu verdanken habe. Was nicht bedeutet, dass ich über Einzelne den Stab breche. Nur verstehe ich da solch grosse Geister wie Benn nicht. Oder vielleicht doch, aus seine[r] absolut männlichen, das heisst gleichzeitig etwas barbarischen Haltung heraus, die ja dem Regime besonders zu eigen war. Nur keine Weichheit! So ist Benn schon.³⁴
Es ist der Bericht einer Frau, die von Benns Werk auf das Tiefste fasziniert ist und sich von ihm angesprochen fühlt, sich selber aber als Frau in schon fast grotesker Weise als letztlich unzuständig erklärt – und trotzdem nicht bei schrankenloser Bewunderung bleibt, sondern ihrem Befremden über das Verhalten der Person Benn und über seine Haltung zu alten Gefährten im Dritten Reich deutlichen Ausdruck gibt (Hans Schwerte wird sich das Seine dabei gedacht haben). Nun, Benn, für den Treue in erotischen Dingen eher ein Fremdwort war, war in Freundschafts- und Kameradschaftsbeziehungen, ob zu Männern oder Frauen, doch erstaunlich treu. Er vergaß diejenigen, die in schwierigen Situationen zu ihm gehalten hatten, nicht (und auch nicht die, die ihn angegriffen hatten). Zu denjenigen, die ihm in den dreißiger Jahren beigestanden hatten, gehörten der Präsident der Reichschrifttumskammer, Hanns Johst, der sich für ihn nach dem schweren Angriff des „Schwarzen Korps“ 1936 verbürgte,³⁵ und auch Frank Maraun, der ihm 1935 einen lobenden Geburtstagsartikel gewidmet hatte (er war übrigens nicht „Filmsekretär von Göbbels“, sondern ab 1942, von dessen Gnaden, Leiter des Ufa-Nachwuchsstudios) und nicht zuletzt Paul Fechter. Was nun den „offenen Kampf“ zum Regime angeht, den die Berichterstatterin für sich reklamiert, so nimmt sie den Mund etwas voll. Sie lehnte den Nationalsozialismus entschieden ab, gehört aber doch eher zu den Vertretern der „Inneren Emigration“, die ohne Kompromisse nicht heil durch das Dritte Reich gekommen wären.
Ilse Molzahn an Hans Schwerte, 14. April 1955, SBB, NL 161, Kasten 29. Zum „Geburtstagsdankgruss von Ernst Jünger“ vgl. Gottfried Benn – Ernst Jünger: Briefwechsel 1949 – 1956, hg.v. Holger Hof, Stuttgart 2006, S. 50. Am 12. Mai 1936 schickte Johst Benn folgendes Telegramm: „Ignorieren Sie Kritik Verbuerge mich fuer Integrität und Makellosigkeit Ihrer dichterischen Persoenlichkeit.“, zit. nach Joachim Dyck: Der Zeitzeuge. Gottfried Benn 1929 – 1949, Göttingen 2006, S. 199.
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Am 6. Mai dankt Molzahn für Benns „Provoziertes Leben“ mit Widmung³⁶ – man darf annehmen, dass der Sendung ein nicht erhaltener Geburtstagsbrief Molzahns vorausging. Glückwünsche sendet nun auch Benn zu ihrem Geburtstag am 20. Juni 1955, versichert sie seiner „Verehrung“ und fährt fort: Schreiben Sie weiter so schöne interessante Aufsätze wie neulich über den Roman von Ina Seidel oder Gedichte wie Schneekönigin. Bewahren Sie auch im neuen Lebensjahr dem fragwürdigen G.B-Autor Ihr Wohlwollen u. kommen Sie gelegentlich wieder in die Schildkröte mit uns zusammen.³⁷
Von Fechter hat Molzahn von den gesundheitlichen Problemen Benns in dieser Zeit gehört und bietet ihm zur Erholung die Benutzung des Gartens „ganz für sich allein“ am Dianasee im Grunewald an, wo sie zur Miete wohnte: Er müsse nur klingeln, sie werde ihn ganz allein lassen: Sie sehen „mich höchstens auf Wunsch“.³⁸ Die Anerkennung seines Einsamkeitsbedürfnisses konnte weiter nicht getrieben werden. Am 11. September 1955 schickt Sie ihm dann ein Gedicht mit Widmung. Weil Benn umgehend darauf eingeht, sei es hier zitiert: Bald wird es Zeit… Bald wird es Zeit die Türen zu verschliessen, die Fenster zu verhängen, sich still zu betten, wo ein Bett sich finden mag, ein Kissen, das im Ungewissen dein. Dann lass die Lider über deine Blicke fallen und suche nicht und frage nicht, was du begehrt, und lass das grosse Schweigen näher kommen. Entwirklichung: dein letzter Wert. Lang war der Sommer. Er umrankte dich mit Winden, Wicken und der Kletterrose Rot – Nimm ruhig Abschied, lass versinken, was heut’ noch dein war ist doch lange tot. Es dunkelt schon der frühe Abend, des Tages Hitze überflog dich wie mit Schauern
Ilse Molzahn an Gottfried Benn, 6. Mai 1955, DLA, NL Benn. Der im Kalender Ilse Molzahns am 3. Mai 1955 verzeichnete Begleitbrief Benns zum Widmungsexemplar ist verloren. Gottfried Benn an Ilse Molzahn, 19. Juni 1955, SBB, NL 161, Kasten 26. Der Aufsatz über Ina Seidel ließ sich wegen der pandemiebedingten Schließung der Bibliotheken nicht eruieren, das Gedicht „Schneekönigin“ wurde in den Neuen Deutschen Heften 1 (1954/1955) S. 769 – 770, veröffentlicht. Ilse Molzahn an Gottfried Benn, 4. Juli 1955, DLA, NL Benn.
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und welkte dich. Die Trauer stieg aus tiefen Gründen – So viele Fragen und nur eine Antwort: Du warst nicht du! Es wird dich niemand suchen, wenn hinter deinem Fenster still das Licht erlischt. Wer du auch warst, du bist schon lang’ vergessen, und was dich trug? Wer fragte schon danach. O, Liebe, mein vergeblich Sinnen, gedenke meiner, Erde, Mutter, die ich trat, lass mich versöhnt und träumend dir begegnen. Verwandle mich in eine schönere Wirklichkeit und Tat.³⁹
Benns Antwort, wiederum postwendend: Dank für sehr sehr schönes Gedicht! Es enthält die Gefasstheit dessen, der gelitten hat, u es kommt mir vor, als ob die Weite u Ruhe unserer ost-nördlichen Ebenen, der Heimatfluren, durch die Reihen hindurchströmt. Muss gedruckt werden – bald. Und Dank für lieben Brief. Ein Gedichtbänd(chen) ist immer eine teuflische Sache. Und immer wieder seltsam, dass manches, das man sich eigentlich garnicht entschliessen konnte aufzunehmen, dann doch bei andren anklingt: Hier „Nike“ u „Olympisch“⁴⁰
Der „liebe Brief“, mit dem Molzahn offenbar für seinen letzten Gedichtband „Aprèslude“ gedankt hat, ist nicht erhalten. „unsere ost-nördlichen Ebenen“, das sind die der Neumark Benns und die von Molzahns Posen, das diese immer als ihre eigentliche, verlorene Heimat empfunden hat. Das hohe Lob Benns für „Bald wird es Zeit …“ ist umso bemerkenswerter, als die Gedichte der Briefpartnerin gerade nicht „gemacht“ waren. Es waren Gedichte, „für die mir Benn immer Zuspruch gab, auch wenn sie keine ‚Kunst‘ sind sondern niedergeschriebene ‚Gefühlsausbrüche‘“⁴¹, und die sie im Alter gegen moderne Gedichte, die „mehr ‚Gehirnakrobatik‘ aber keine Gedichte mehr sind“⁴², stellt. Sie hatte zwar ihr ganzes Leben immer wieder Gedichte geschrieben, aber insgesamt waren es doch wenige, die sie in den „Neuen Deutschen Heften“, in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und anderen Zeitungen veröffentlicht hat. Erst 1977 gab sie eine kleine Sammlung von 23 Gedichten auf eigene Kosten heraus.⁴³ 1959 schrieb sie, immer und seit Jahren in der letztlich vergeblichen Hoffnung, wieder schöpferisch
DLA, NL Benn. Das Gedicht ist datiert: August 1955. Gottfried Benn an Ilse Molzahn, 12. September 1955, SBB, NL 161, Kasten 26. Ilse Molzahn an Frau Schneider-Braillart, undatiert, SBB, NL 161, Ordner 13. Ilse Molzahn an Renate Werner vom Herbig-Verlag, 23. August 1976, SBB, NL 161, Ordner 20. Ilse Molzahn: Dieses Herz will ich verspielen. Gedichte, Heidenheim 1977.
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schreiben zu können: „vielleicht werden dann die 30 Gedichte fertig, die Benn von mir verlangte.“⁴⁴ Am 13. November antwortet Benn auf den in der Anmerkung 27 zitierten Brief Molzahns. Sein Schreiben lässt nun auf eine gewisse Vertrautheit schließen, die es wahrscheinlich macht, dass sich die beiden seit dem Treffen vom April des Jahres wieder gesehen haben. Er habe sie vergeblich telefonisch zu erreichen versucht: immer auf Reisen – sind Sie alle! Jung u lebensfroh – das ist schön! Morgen gehe ich nach Köln, die Weihnachtstour: davon wird gekauft: 1 neuer Fussbodenbelag für den Korridor, 6 Kopfkissenbezüge, 6 Servietten (die jetzt bei [uns] Kühlmundtücher heissen) , 1 Teesieb u 1 Lokomotive für die Märklin Eisenbahn meines Enkels in Kopenhagen, dort gibt es keine Märklinniederlassung u. er hat nur einen Katalog geschickt u rot angestrichen, was er für seine Bahnanlage braucht. Na also, da darf ich nicht versagen u muss alle Anfragen des Publikums im Radio Köln im 2. Teil der Unternehmung brav beantworten.⁴⁵
Molzahn am 18. November aus Krefeld: „Jeder fährt oder fliegt um den anderen herum. Komische Welt.“⁴⁶ Benn schickt ihr eine Neujahrskarte. Wenige Tage später muss er wegen eines Zwölffingerdarmgeschwürs ins Krankenhaus. Ilse Molzahn besucht ihn am 10. Januar und bringt einen „Strauss aus Veilchen u Christrosen u 1 Stück Bernstein.“⁴⁷ Woher wusste sie von seiner Krankheit? Sicher nicht von Fechter, der es erst von ihr erfuhr. Wahrscheinlich von Ilse Benn, mit der sie bis fast zu ihrem Tod in Kontakt blieb. Kurz vor Ostern 1956 rief Benn, der sich wohl an ihren ersten Brief erinnerte, Molzahn unerwartet an und fragte: „Schenkt Ihnen jemand auch ein Osterei?“ Bei einem Treffen am 6. April mit ihm, seiner Frau und Fechter brachte er dann ein „dickes Osterei“ mit und „legte es behutsam vor mich hin“.⁴⁸ Einen Monat später, zu Benns siebzigstem und letztem Geburtstag schickte ihm Molzahn ein ihm gewidmetes, einigermaßen rätselhaftes Gedicht: „Dieses werf ich ins Meer…“.⁴⁹ Benn antwortete mit einer gedruckten Dankkarte und einem letzten handschriftlichen Gruß:
Ilse Molzahn: Tagesnotizen, Eintrag vom 11. März 1959, SBB, NL 161, Kasten 51. Gottfried Benn an Ilse Molzahn, 13. November 1955, SBB, NL 161, Kasten 26. Ilse Molzahn an Gottfried Benn, 18. November 1955, DLA, NL Benn. Gottfried Benn: Arbeitsheft / Kalender, Eintrag vom 10. Januar 1956, DLA, NL Benn. Auch diesen Hinweis verdanke ich Holger Hof. Ilse Molzahn: Berliner Autoren: Gottfried, Benn, Ingeborg Drewitz, Ludwig Marcuse, Vortrag im Lyceum-Club Berlin, 1969, Typoskript, S. 4, SBB, NL 161, Kasten 11. Abgedruckt in: Après Aprèslude. Gedichte auf Gottfried Benn, hg.v. Jürgen P. Wallmann, Zürich 1967, S. 37.
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bin leider schon wieder krank, Rheumatismus, kann nicht mehr schreiben, da re Schulter fast gelähmt. […] Wie gut, dass etliche Männer [!] durch Jahrzehnte, solche Jahrzehnte, zusammenhalten usque ad finem. For ever Ihr Gottfried Benn 23. V 56⁵⁰
Zuvor, am 8. Mai, hatte sie bei einer Feier zu Ehren Benns Gedichte und Prosa von ihm gelesen. Darüber berichtet sie ihrer Schwester: 9 langstielige rote und rosa Nelken von Benn! Ueberreichte mir gestern Abend seine Frau, nachdem wir von der Volkshochschule in Lichtenrade eine kleine Bennfeier gemacht hatten. Fechter Vortrag, ich las 14 Gedichte und ein Stück Prosa „Pallas die Göttin im Helm, nie befruchtet, mutterlos, kalt und allein“ die Beschützerin des Mannes, das heisst, seiner geistigen Produktion. […] Seltsamerweise, ich kann sehr gut Gedichte, zumal von Benn, lesen. Nachdem am 2. Mai […] ein „gelernter Rezitator und Regisseur“ […] Benn gelesen hatte, völlig falsch, ganz begrifflich und Benn muss sehr tief, sehr verhalten, sehr langsam und „erfüllt“ gelesen werden, hatte ich Mut, nur eben die Nerven.
Ilse Benn war gekommen, und als Molzahn nach der Lesung ins Künstlerzimmer ging, stand sie dort mit dem Gesicht zur Wand, ich gehe ängstlich auf sie zu, sie dreht sich um und ich sehe, wie ihr die Tränen nur so über das Gesicht laufen! Fechter gleichfalls da, tränenden Auges. Ich denke, es ist etwas passiert, aber nein, Frau Benn sagt nur „Nie, nie hat ein Mensch so die Gedichte meines Mannes gelesen, ach, wenn er das nur gehört hätte. Wo haben Sie das gelernt und wo haben sie schon Benn gelesen?“ Ich konnte nur sagen, nix gelernt⁵¹
Am 18. Juni 1956 notiert sie in ihren Tagesnotizen nach Klagen über ihr Leben, dass sich dieses im geistigen säkularisiert hat, vom Absoluten und Eindeutigen nichts mehr wissen will. Ueber dieses Eindeutig-Absolute weiss B. als Einziger unter den Lebenden Bescheid. Und wenn ich im Leben noch irgendwo verankert bin, so bei ihm.Wahrscheinlich weiss er davon.
Gottfried Benn an Ilse Molzahn, 23. Mai 1956, SBB, NL 161, Kasten 26. Ilse Molzahn an Immeke Mitscherlich, 9. Mai 1956, SBB, NL 161, Ordner 30. Ilse Benn soll ihr nach der Lesung gesagt haben, dass ihn, Benn, die Wahl von „Pallas“ „sehr anrührte, weil es eines seiner ‚Lieblingsstücke‘ war“ (Ilse Molzahn an Karl Korn, 7. Dezember 1970, SBB, NL 161, Ordner 18). Der „gelernte Rezitator“ bei der offiziellen Feier war Walter Tappe, den Molzahn bei späteren Lesungen sehr zu schätzen lernte (vgl. Ilse Molzahn: Tagesnotizen, Eintrag vom 11. März 1968, SBB, NL 161, Kasten 11).
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Aber Schweigen hütet gegenseitiges Geheimnis. Wozu es enthüllen? das ist alles zu spät. Aber der Gedanke, dass B. da ist, wenn auch krank, lebt, bedeutet mehr, oft meine ich, alles⁵²
Dass sie sein Tod, wenige Wochen später, schwer getroffen hat, versteht sich nach dieser Notiz von selbst. An Weihnachten 1956 schreibt sie Nossack: Der Tod von Benn hat mich zu tiefst getroffen, er beraubte mich meines seelischen Halts hier. Denn Benn ging immer so zart, so liebevoll, so gütig mit mir um, wie es meine Seele sein möchte. Er hat eine so entsetzliche Leere hier hinterlassen und er war so viel, dass selbst sein Grab noch das ausströmt, was er war.Vielleicht nicht für alle. […] Ihr vorletztes Buch, um das mich Benn bei unserer letzten Begegnung bat, war wohl das letzte, was er las. Ein Echo kam nicht mehr.⁵³
Die Beziehung Benn – Molzahn war asymmetrisch: Benn hat Ilse Molzahn als Person und ihre Gedichte geschätzt, wohl auch ihre Verehrung genossen. Fechter soll „immer“ gesagt haben, dass Benn wusste, dass sie, Molzahn, Benn „ganz und gar in seinem Schaffen folgen konnte“.⁵⁴ Wie dem auch sei – er war meist, nicht immer, der Antwortende, und er hat sie in Briefen an andere, soweit sie vorliegen, nie erwähnt. Ganz anders, das ist deutlich geworden, zeigt sich Molzahns Beziehung zu Benn. Sie hat in ihm nicht einen Dichter unter anderen gesehen, sondern den Dichter ihrer Zeit. Und er „war der einzige, der mir geistig vollkommen nahestand, ohne, dass ich ihn je hätte erreichen oder gar nachahmen können.“⁵⁵ Als ihr kurz nach Benns Tod eine Freundin von einem negativen Urteil über ihn schreibt, antwortet sie mit einem sehr langen Brief, der deutlich macht, dass sie – inmitten einer etwa zwei Jahrzehnte dauernden Lebens- und Schaffenskrise – auch pro domo spricht. Darin heißt es unter anderem: wenn er „die formfordernde Gewalt des Nichts“ pries, so muss man erst einmal wissen, was Benn unter diesem „Nichts“ verstand […] Er (wie auch ich) verstehen unter dem „Nichts“ (wir negieren es nicht, aber wir bestehen es!) die ganze heutige Situation, den Bruch aller Werte, die absolute Gottferne. Es ist ein „Nichts“, das unsere ganze, kompromisslose Tapferkeit herausfordert und uns eben zur Form zwingt.
Und weiter:
Ilse Molzahn: Tagesnotizen, Eintrag vom 18. Juni 1956, SBB, NL 161, Kasten 51. Ilse Molzahn an Hans Erich Nossack, Weihnachten 1956, DLA, NL Nossack. Das „vorletzte Buch“ Nossacks war „Spätestens im November“ (Berlin 1956). Zit. nach: Ilse Molzahn: Tagesnotizen, Eintrag vom 12. März 1968, SBB, NL 161, Kasten 11. Ilse Molzahn: Tagesnotizen, Eintrag vom 3. Mai 1966, SBB, NL 161, Kasten 11.
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Ich gebe gern zu, dass es nicht jedem Menschen möglich ist Benn zu verstehen, dazu gehört eine Leidensmöglichkeit, dazu gehört, dass man selbst dieses „Nichts“ bis zum letzten erlebt und erlebt hat, ohne daran zu zerbrechen. Mich persönlich hat jedes Wort von Benn immer aufgerichtet. […] Dass er immer mit den „vorletzten Wahrheiten“ radikal Schluss gemacht hat, war mit ein Trost, gab mir den Mut zu leben und zu arbeiten.
Im selben Brief nimmt sie Stellung zu den Umständen von Benns Tod. Die Freundin hatte offenbar angedeutet, „er könnte vielleicht…“. Molzahn meint dazu, das hätte gerade für einen Mann wie Benn die vollendete Absurdität bedeutet […]. Er hatte einen sehr schweren, sehr harten Tod gehabt! Er hat die letzte Nacht auf alle Morphiummittel verzichtet, als er wusste, wie es um ihn stand. Er hat diese letzte Nacht seines Lebens (nach Zeugenbericht) bewusst durchkämpft, hat bei vollem Bewusstsein mit dieser letzten Erscheinung des Lebens, diesem letzten Geheimnis, dem er nicht ausweichen wollte, gerungen, weil Benn nach der WAHRHEIT bis zuletzt suchte und in seiner letzten Stunde sein Geist, dieser Geist, nicht erlahmte!⁵⁶
Der angeführte Zeugenbericht kann nach Lage der Dinge nur direkt von Ilse Benn stammen. Er steht in deutlichem Kontrast zu dem ominösen letzten Brief an F. W. Oelze vom 16. Juni, von dem die Herausgeber des Oelze-Benn Briefwechsels im Nachwort eine Abschrift drucken, deren Authentizität allerdings unklar ist. Darin heißt es: „Schmerzen sind etwas entwürdigendes. Meiner Frau […] habe ich das Versprechen abgenommen, dass sie mir die letzte Zeit erleichtert, es wird alles rasch zu Ende gehen.“⁵⁷ Wenn Ilse Benn ihrem Mann entsprechende Mittel gegeben hätte, hätte sie das Ilse Molzahn kaum gesagt. Sie hätte sich wohl bedeckt gehalten. Aber dass sie in diesem Fall ausdrücklich von bewusstem Morphiumverzicht gesprochen hätte, scheint doch eher unwahrscheinlich. Es ist immerhin möglich, dass Benn seine Haltung zum eigenen Sterben auf der letzten Strecke geändert hat – wenn denn die zitierte Abschrift authentisch ist. Ilse Molzahn ist am 13. Dezember 1981 im Alter von 86 Jahren gestorben. Zehn Jahre zuvor hatte sie noch die Genugtuung, dass ihr erster Roman, „Der schwarze Storch“, eine erfolgreiche Neuauflage mit Buchclub- und Taschenbuchausgaben in Ost und West erlebte und vom ZDF verfilmt wurde. Heute ist er schon wieder ganz vergessen. Im nächsten Jahr soll er im Wallstein Verlag, Göttingen, erneut erscheinen.
Ilse Molzahn an Renate Hederich, 17. Juli 1956, SBB, NL 161, Kasten 26. Gottfried Benn und Friedrich Wilhelm Oelze: Briefwechsel 1932– 1956, hg.v. Harald Steinhagen, Stephan Kraft und Holger Hof, Göttingen 2016, Bd. 4, S. 575.
Matthias Berning (Aachen)
„Schlager von Klasse“. Popliterarische Elemente in einigen Benn-Gedichten Abstract: Gottfried Benn hat mit dem Parlando-Stil, seiner Wortkombinatorik, der Verwendung der Montage und der literarischen Liste nicht nur eine Schreibweise der Moderne geprägt, sondern damit auch rhetorische Elemente eingeführt, die anschlussfähig für die sich in den 1940er und 1950er Jahren in den USA entwickelnde Pop-Lyrik waren, die wiederum von Rolf Dieter Brinkmann fruchtbar gemacht wurde. Es ist vor allem eine Poetik der Oberfläche, die charakteristisch für Popliteratur ist. Benns Affinität für Populärkultur und seine spätere Rezeption machen ihn zu einem Wegbereiter deutschsprachiger Pop-Lyrik.
Gottfried Benn hat sich in zahlreichen Äußerungen zu seiner Affinität zu popkulturellen Inhalten bekannt: in seiner vielzitierten Aufwertung des Schlagers in den „Problemen der Lyrik“ oder in seiner brieflich bekundeten Neigung zum Kriminalroman.¹ Dass sich dies in seinen eigenen Texten, im Gedicht oder Essay niedergeschlagen hat, ist in der Forschung aus verschiedenen Perspektiven beobachtet und untersucht worden. Hinzu kommt der Umstand, dass Rolf Dieter Brinkmann, der die amerikanische Pop-Lyrik in Deutschland bekannter und für sein eigenes Werk fruchtbar machte, explizit in seiner Poetik auf einige poetologische Aussagen Benns Bezug genommen hat. Auch Peter Rühmkorf hat Benn als Paten einer Nachkriegsmodernität deklariert, wobei er jedoch diesen Modernitätsbegriff in allgemeinerer Form und nicht spezifisch popliterarisch aufgefasst hat. Der Unterschied liegt im Bekenntnis zur ‚Poetik der Oberfläche‘,² das bei Rühmkorf zumindest in expliziter Form fehlt. In Benns Werk lassen sich jedoch vereinzelte Äußerungen finden, die man als Entwurf einer derartigen Poetik interpretieren kann. Die Darstellung will dabei wie folgt vorgehen: Als Analysebegriffe für PopLyrik werden die drei Begriffe ‚Archiv‘, ‚Referenz‘ und ‚Performanz‘ vorgeschlagen, die z. B. Moritz Baßler und Eckhard Schumacher in ihrer Forschung zur
Vgl. Gottfried Benn und Friedrich Wilhelm Oelze: Briefwechsel 1932– 1956, hg. v. Harald Steinhagen, Stephan Kraft und Holger Hof, Bd. 2: 1942– 1948, Stuttgart und Göttingen 2016, S. 253. Zitate nach dieser Ausgabe im Folgendem unter der Sigle (BOe I – IV) im laufenden Text. Vgl. Poetik der Oberfläche. Die deutschsprachige Popliteratur der 1990er Jahre, hg. v. Olaf Grabienski, Till Huber und Jan-Noël Thon, Berlin 2011. https://doi.org/10.1515/9783110729658-009
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Popliteratur verwenden. Nach ihrer Explikation sollen sie auf ausgewählte Gedichte Benns angewendet werden, die Elemente des Popliterarischen gewissermaßen präfigurieren, weil sie z. B. Katalog- und Listentechniken verwenden, in denen eine noch näher zu bestimmende Sprecherpose eingenommen wird, oder weil die Gedichte als Zeugnisse einer Rezeption von Schlagern und ähnlichem populären Liedgut bestimmt werden können. Zu diesen Textphänomenen, die sich bei Benn finden lassen, passt dessen werkbiographische Hinwendung zur amerikanischen Lyrik (u. a. vermittels der von R.M. Gerhard herausgegebenen Zeitschrift „Fragmente“) und seine stilistische Wende in den Lyrikbänden seit Beginn der 1950er Jahre, die sich auch anhand des Benn-Oelze-Briefwechsels verfolgen lässt. Die Lyrik der amerikanischen Moderne der Jahrhundertmitte greift dabei auf die Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts zurück, zu denen Benn einst selbst gehörte. Es soll vorgeschlagen werden, die Einführung neuer Elemente in sein lyrisches Formenrepertoire vermittels der Rezeption jener amerikanischen Gedichte als eine Erneuerung seines avantgardistisch-expressionistischen Beginns zu interpretieren, ohne formal rückwärtsgewandt sein zu wollen. Im letzten Schritt wird dann noch einmal in gebotener Kürze rekapituliert, wie Lyriker wie Brinkmann oder Rühmkorf Elemente von Benns Gedichten für ihre populären Formen aufgegriffen haben oder wie die popkulturell informierten, später hinzutretenden Autoren Marcel Beyer und Thomas Kling diese rezipier(t)en, wobei sie in ihren Texten seltener die Spielformen des Pop, sondern häufiger jene der Avantgarden variier(t)en.
1 Gottfried Benn mag mit seiner „Morgue“-Lyrik zu den großen Expressionisten und seit seinem „Come-back“ 1948/49 zu den deutschen Hauptvertretern der klassischen Moderne zählen, ja gar eine längere Zeit als Nachfolger Rilkes in der Bewunderung der Lyrikfreundinnen und -freunde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fungiert haben – dass sich in seiner Lyrik spätestens seit Mitte der 1920er Jahre einschlägige Elemente, die typisch für Pop-Lyrik sind, finden lassen, muss bei Benns eigener Bekundung nicht verwundern, dass ein „Schlager von Klasse mehr Jahrhundert enthält als eine Motette“,³ oder – wenn er nicht gerade vor Professoren eine Rede hält, sondern seine lyrische Stimme erhebt, behauptet – „ein Schlager von Rang“ sei „mehr 1950 / als 500 Seiten Kulturkrise“
Gottfried Benn: Sämtliche Werke, Bd.VI, hrsg.von Holger Hof, Stuttgart 2001, S. 281– 301. Zitate nach dieser Ausgabe im Folgenden unter der Sigle (SW I – VII/2) im laufenden Text.
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(„Kleiner Kulturspiegel“, SW II, 151). Obwohl es sich beim Zitat aus den „Problemen der Lyrik“ um ein typisches Beispiel performativer Rede in Benns Werk handelt – er inszeniert sich dabei in gewohnt provokanter Weise als Lyriker, der sich nicht um die von einem akademischen Lesepublikum gezogenen Grenzen zwischen U- und E-Kultur schert – findet sich in dieser Äußerung ein Schlüssel zu einigen Gedichten, die entsprechende Elemente aufgreifen. Diese sollen mithilfe der Begriffe ‚Archiv‘, ‚Referenz‘ und ‚Performanz‘ betrachtet werden. ‚Archiv‘ wird hier vor allem in dem Sinne verwendet, wie ihn Moritz Baßler für die Pop-Romane der 1990er Jahre vorgeschlagen hat. Die Praxis der Referenz in der Popliteratur hat z. B. Eckhard Schumacher veranschaulicht, und ‚Performanz‘ – ihrerseits den Begriffen ‚Archiv‘ und ‚Referenz‘ inhärent – soll hier vor allem im Zusammenhang mit dem Gestischen, dem Einnehmen einer Pose durch das lyrische Ich aufgegriffen werden. Baßlers Archiv-Begriff resultiert aus dem Rekurs auf Boris Groys,⁴ der in der Rezeption von Kunstwerken eine hierarchische Ordnung diagnostiziert, in der zwischen dem kulturellen Archiv und dem profanen Raum unterschieden wird, wobei Letzterer aus dem besteht, was nicht im kulturellen Archiv abgelegt ist. Baßler unterzieht Groys‘ Theorie bei aller Zustimmung auch der Kritik, wenn er bemerkt, dass der profane Raum, wie jener ihn beschreibt, eine ebenso eigene Organisationsstruktur besitzt, die sich mit dem des kulturellen Archivs vergleichen lässt. Er betont, dass sich auch außerhalb der hochkulturellen Sphäre, im sogenannten ‚profanen Raum‘, durchaus wiederum einigermaßen komplexe Kulturen finden, die Popkultur zum Beispiel oder die Markenkultur, die Kultur der Sprayer, der Briefmarkensammler oder der Single-MaltTrinker.⁵
In seiner Analyse der Popliteratur betont er: „Die neuen Archivisten“, archivieren in ihren Büchern „in geradezu positivistischer Weise Gegenwartskultur, mit einer Intensität, einer Sammelwut, wie sie im Medium Literatur in den Jahrzehnten vorher unbekannt war“.⁶ Er schränkt dies jedoch ein wenig ein, wenn er betont, dass der „literarische Thesaurus, der seit den Tagen der Gottfried Bennschen Parlando-Gedichte mehr oder weniger zu stagnieren schien“, in der Popliteratur „radikal auf die Waren- und Medienwelt des 21. Jahrhunderts hin geöffnet“ werde.⁷ Damit deutet er an, was im vorliegenden Beitrag betont werden soll: Die Technik der Archivierung der Popliteratur findet sich bei Benns Gedichten und
Vgl. Boris Groys: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, München 1992. Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten, München 2002, S. 19. Baßler: Pop-Roman [Anm. 5], S. 184. Baßler: Pop-Roman [Anm. 5], S. 184.
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Essays bereits präfiguriert.⁸ Als Stilmittel für diesen archivierenden Prozess ist dabei die Enumeration in Form einer Liste oder eines Katalogs besonders geeignet.⁹ Das Archivieren von Gegenständen und Sachverhalten der Gegenwart ist dabei zugleich ein Referieren: Popliteratur ist geprägt durch eine Fülle von Anspielungen, Verweisen und intertextuellen Bezügen aller Art. Exemplarisch ließe sich Eckhard Schumachers Analyse eines Plattencovers der britischen IndieRockband „Oasis“ anführen, in der er die zahlreichen Referenzen der Fotografie auf der Plattenhülle wie der Lyrics und kompositorischen Eigenheiten der Songs herausarbeitet.¹⁰ Diese Praxis des Referierens ist für Benns kompilatorischen Montage-Stil typisch, seine Texte sind aus zahlreichen fremden Quellen zusammengesetzt,¹¹ so erzeugt er in bemerkenswerter Weise seine unverwechselbare Tonlage. Archivieren und Referieren sind in der Literatur Sprechakte, gehören also zum Bereich der Performanz. Trotzdem soll dieser Begriff erweitert werden auf die performative Sprachgeste der Pose, die der Pop-Theoretiker Diedrich Diederichsen eingeführt hat: Die Pose ist nicht eine einzige konkrete körperliche Haltung, aber eine bestimmte Menge möglicher Haltungen, die für einen Künstler oder eine Gruppe infrage kommen. Sie ist die Menge an körperlichen Haltungen, die zur Verfügung steht, die anderen Haltungen zu bestätigen, die sich in Texten, Covern, Musik und aufgezeichneter Körperlichkeit äußern.¹²
Hier soll der Begriff der Pose auf die spezifische Sprechhaltung bezogen werden, die das lyrische Ich in Gedichten einnimmt – zugleich ermöglicht er den Vergleich mit anderen Ausdrucksformen von Haltung: Bei Benn ist da an die Inszenierungen seiner Person in Fotografien oder beim mündlichen Vortrag von Texten, z. B. im Radio zu denken. Die im Sprechakt eingenommene Pose prägt oder bestätigt Baßler grenzt seinen Archivbegriff dabei von dem Foucaults ab: „Im Unterschied zu anderen Archiv-Begriffen, die ein Archiv bereits als Ergebnis einer Auswahl, als etwas Zustandegekommenes, als Verwaltungs- und Machtinstrument und darüber hinaus als etwas immer schon Geordnetes. Hierarchisiertes, mit Indices Versehenes beschreiben […], muß eine textualistische Kulturtheorie vom Archiv als einer bloßen Sammlung der gegebenen Untersuchungsobjekte ausgehen.“ Moritz Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie, Tübingen 2005, S. 183. Vgl. Umberto Eco: Die unendliche Liste, übers. v. Barbara Kleiner, München 2011, dort z. B. das Kapitel zur Liste in den Massenmedien. Eine moderne Enumeration zielt jedoch nicht mehr auf Vollständigkeit der Aufzählung, sondern impliziert das Unvollständige, Fragmentarische. Vgl. Eckhard Schumacher: „Be Here Now“ – Zitathaftes Aufpfropfen im Pop-Diskurs, in: Impfen, Pfropfen, Transplantieren, hg. v. Uwe Wirth, Berlin 2011, S. 213 – 234. Vgl. Holger Hof: Montagekunst und Sprachmagie. Zur Zitiertechnik in der essayistischen Prosa Gottfried Benns, Aachen 1997. Diedrich Diederichsen: Über Pop-Musik, Köln 2014, S. 138.
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dabei den Inhalt des Textes und betont dabei stets, dass sich hier ein sich ausdrückendes Ich äußert.
2 Das 1925 publizierte Gedicht „Banane“ soll an dieser Stelle als ein Dokument eines Medienwandels, hier der stetig wachsenden Präsenz des Grammophons im Privaten wie in der Öffentlichkeit und der Einführung des Rundfunks in Deutschland,¹³ vorgestellt werden. Es handelt sich bei „Banane“ um ein Gedicht, das von Grammophon- oder Radiomusik inspiriert ist und zugleich Benns schlechte Englischkenntnisse und seine Tendenz zum Fehlhören,¹⁴ zum akustischen ‚misreading‛ kenntlich macht.¹⁵ Es ist gegenwärtigen Lyrikern bereits durch das subversive Potential des Textbeginns aufgefallen,¹⁶ weil dieser auf den ersten Blick dadaistisch oder gar wie Nonsens anmutet: Banane, yes, Banane, vie méditerranée, Bartwichse, Lappentrane, vie Pol, Sargassosee: Dreck, Hündinnen, Schakale Geschlechtstrieb im Gesicht und aasblau das Finale – der Bagno läßt uns nicht (SW I, 82).
Das Gedicht beginnt katalogartig mit einer Liste – mit einer merkwürdigen deutsch-englischen Beschwörung einer Banane, um in der Folge aufzuzählen: das mediterrane Leben (das durch seine Erwähnung in französischer Sprache gleich Zu Benns medientheoretischem bzw. -praktischem Verhältnis zum Radio vgl. Friedrich A. Kittler: Benns Gedichte – Schlager von Klasse. Ein Lyriker unter medientechnischen Bedingungen, in: manuskripte. Zeitschrift für Literatur (1989), H. 106, S. 56 – 62. Bereits in Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800, 1900. 3. Auflage, München 1995, findet sich auf den S. 246 – 249 eine Passage zu Benn, jedoch nicht zu dessen Verhältnis zum Medium Radio. Zum schöpferischen Potential dieser Form der verworrenen Perzeption vgl. Axel Hacke u. Michael Sowa: Der weiße Neger Wumbaba. Kleines Handbuch des Verhörens, München 2004. Zur Funktion des ‚misreadings‛ vgl. Harold Bloom: Eine Topographie des Fehllesens, übers. v. Isabella Mayr, Frankfurt a. M. 1997. Ulf Stolterfoht weist auf subversive, komische Elemente in Benns Texten hin, die auch von Lyriker-Kollegen erkannt werden, etwa wenn er bemerkt: „[U]nd habe ich nicht erst kürzlich den hochtonresistenten Adolf Endler am anderen Tischende ‚Banane, yes, Banane‛ grummeln gehört?“ Ulf Stolterfoht: Selbstporträt mit Frühstücksbrötchen. Das „Erlenholz“-Gedicht, in: Ich bin nicht innerlich: Annäherungen an Gottfried Benn, hg. v. Jan Bürger, Stuttgart 2003, S. 51.
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noch ein wenig mediterraner wirkt), Bartwichse für die Pflege der Gesichtsbehaarung, das auf das Volk der Samen und Lebertran Bezug nehmende Kompositum „Lappentran“, den Norden evozierend. Die Liste der ersten vier Verse ist nach einem assoziativen Verfahren aufgestellt. Es wird geographisch der Süden in Form der Südfrucht und des Mediterranen mit dem Nordwesten und Nordosten verbunden, bevor das lyrische Ich an den animalischen Geschlechtstrieb des Menschen erinnert – gleich dem von Hündinnen und Schakalen. Das Lebensende des blau gewordenen Kadavers fungiert als memento mori. Um die ersten Verse überhaupt verstehen zu können, muss man ähnlich informiert sein wie das weltgewandte, sich auskennende Ich, das sich mit dem Gestus des globalen Überblicks und der Fähigkeit, mit Topographien und Themen zu jonglieren, in Szene setzt. Ist der „Bagno“ aus Vers acht ein Bad, eine Parkruine, ein Verweis auf die Jesuiten im Bagno und damit auf die Religion? Oder ist die Strafanstalt gemeint und damit der Zwang des Sexualtriebs? Oder die Redewendung („c’est un vrai bagne“) von der Hölle auf Erden? Jedenfalls wird ein Bezug zum Italienischen und damit wieder Mediterranen hergestellt. Einen ganz anderen Beiklang erhält die erste Strophe und das ganze Gedicht jedoch, wenn man die Herkunft des ersten Verses rekonstruiert. Es handelt sich aller Wahrscheinlichkeit nicht um einen Verweis auf das Bananenkleid Josephine Bakers, wie in der Forschung vermutet wurde.¹⁷ Der Schlüssel liegt vielmehr im Medienwandel jener Zeit: Der 29. Oktober 1923 wird als Geburtsstunde des Rundfunks in Deutschland angesehen, allerdings war es zunächst kein öffentliches Medium, da es anfangs mit Kopfhörern verfolgt wurde, sodass vermutet werden kann, dass ein Grammophon Benn das konkrete Stichwort lieferte: Zur Zeit der Einführung des Radios ging ein Song um die Welt, der Gottfried Benn nicht entgangen sein kann, mit dem Titel „Yes, we have no bananas“ („Yes, we have no bananas / We have no bananas today“). In den Versen des Lieds bejaht ein griechischer Betreiber eines Gemüseladens die Frage, ob er Bananen verkaufe, mit einem emphatischen „yes!“, um sie anschließend zu verneinen und dem Kunden sein sonstiges Obst- und Gemüseangebot anzupreisen. Die Liedzeilen haben einen historischen Hintergrund, nämlich eine Bananenknappheit in den USA aufgrund von Braunfäule. Frank Silver und Irving Cohn komponierten den Song für ein Musical 1922, im folgenden Jahr schafften es mehrere Plattenaufnahmen in die Billboard-Charts, u. a. Platz 5 und 1.¹⁸ Vgl. Heinrich Lüssy: Die Krise der Neuzeit. Oder: Das Drama der prometheischen Selbstsetzung: fortschreitende Essays zur deutschen Literatur im Rahmen der europäischen Kulturentwicklung, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1995, S. 1212. Es gibt eine berühmte deutsche Vertonung mit dem Refrain „Ausgerechnet Bananen, Bananen verlangt sie von mir“, die einen komischen Auftritt in Billy Wilders Filmkomödie „One, two, three“
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Benns Fehlhören oder eine ungenaue Erinnerung an Gehörtes machen aus „Yes, we have no bananas“ ein „Banane, yes, Banane“ – zugleich kann dieser Vers als frühe Spur für eine Übernahme von popkulturellen Referenzen in seine Lyrik sein, ein Beispiel für „Wortkombinatorik“,¹⁹ um verschiedene Stillagen bzw. Tonhöhen im Gedicht zu verbinden. Diese Mixtur der Stilebenen, die scheinbar weltmännische Geste des sich Auskennens und der Mut zu beinahe NonsensKombinationen wie „vie Pol“ und „Lappentrane“ zeigt das sich artikulierende lyrische Ich in einer kalt-sachlichen und zugleich souverän-distanzierten Pose. Dieses Posieren, das die sprachliche Performanz der ersten Strophe ausmacht, lässt sich mentalitätsgeschichtlich bestens in die Verhaltenslehren der neuen Sachlichkeit einordnen,²⁰ aber dem steht die Textstrategie der weiteren Strophen des Gedichts entgegen, die der Menschheit ihre Sterblichkeit und triebgesteuerte Animalität ganz im Sinne der Ästhetik des Hässlichen vor Augen führen. Wenn in der Folgestrophe, was anzunehmen ist, „Panne“ die Mehrzahl von Pan, dem Hirtengott sein soll, reiht sich dieser Einfall in die stilistische Tonlage der „Lappentrane“ nahtlos ein. Der Plural „Machmeds“ und auch der auf eine heilige Johanna anspielende zeugen von wenig Respekt des sich artikulierenden Ichs vor Religionen. Das Manna der Menschheit ist nicht Religion, so teilt es uns mit, sondern animalische Sexualität. Gestirne, beliebte Projektionsfläche für ins Transzendente reichende Sehnsüchte, werden in der dritten Strophe in den Reigen der „Bedürfniswiederkehr“, der fleischlichen Lust, eingeordnet.Wenn in zwei Strophen große Sinngebungsinstanzen abgetan werden, dann liegt es nahe, in der vierten Strophe die Sinnlosigkeit des menschlichen Lebens zu konstatieren: Sinnlose Existenzen: dreißig Millionen die Pest, und die andern Pestilenzen lecken am Rest (SW I, 82).
hat, wo sie ‚ausgerechnet‘ von einem DDR-Kapellmeister (gespielt von Friedrich Holländer, ein ‚Cameo‘ und ‚Insider-Gag‘ zugleich) gesungen wird; der kurz nach der Wende von 1989 geläufige Scherz vom Mangel an Bananen in der DDR findet sich im Film bereits 1961. Die Melodie hat sich ins popkulturelle Bewusstsein der Fernsehzuschauer der 1980er Jahre eingebrannt, weil mit ihr Maggis „5-Minuten-Terrine“ beworben wurde. Der Begriff stammt von Theo Meyer: Kunstproblematik und Wortkombinatorik bei Gottfried Benn, Köln 1971. Für dessen mittlere Werkphase konstatiert er, dass sie „bestimmt [ist] durch die Darstellung der Lebenstotalität in freier, konstruktiver Wortkombinatorik und die sentenzenhafte Vergegenwärtigung der Grundspannung von Realität und Kunst“ (S. 377). Das Standardwerk dazu: Helmuth Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a. M. 1994.
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Wie bereits in seinen frühen „Morgue“-Gedichten macht er sich die Wirkmacht des Abstößigen zu Nutze, gerade indem der Kontrast von Schönem und Hässlichen zu einer ontologischen Einheit amalgamiert wird. So auch in der folgenden Strophe: Die Blume des Weins, eine schöne Alltagsmetapher für den Duft, den ein guter Tropfen auszuströmen imstande ist, ist ein „Hauch von Schaufeln und Feuer“ (SW I, 83) – Tod, Dreck, Höllenfeuer lässt sich dazu assoziieren. Ähnlich geht es den grazilen Lilien, die Hunger und Tod verkörpern – wieder ins Ontologische gewendet: „Lilien des Seins“ (SW I, 83). Die Schlussverse unterstreichen: Sinnlosigkeit und Sexualtrieb prägen die Existenz. Hätte das Gedicht hier sein Ende gefunden, könnte man konstatieren, das sich artikulierende und inszenierende Ich hätte seine traurige Wut über die Sinnlosigkeit des Lebens mit nachlässiger Geste in die Öffentlichkeit „geschneuzt“ (SW I, 83). Aber es nimmt in der letzten Strophe eine entscheidende Wende, in der sich das Ich in Pose wirft: Ewig endlose Züge vor dem sinkenden Blick, weite Wogen, Flüge – wohin – zurück in die dämmernden Rufe, an den Schierling: Vollbracht, umflorte Stufe zur Urne der Nacht (SW I, 83).
Zum Schluss wird hoher Ton angeschlagen, keine „Lappentrane“ und kein „Pferdemist“, bestimmen den Stil der Verse. Die Bestimmtheit, mit der sich der Text vom neusachlich-provokanten Ton verabschiedet, unterstreicht die Doppelung „ewig endlos“, die die Unveränderbarkeit des Weltenlaufs und des animalisch-niederen Menschen darin noch einmal rekapituliert. Der einsame Seher, der hier seinen Blick vor der Welt senkt, eröffnet nun einen anderen, einen großen Raum („weite Wogen, Flüge“) – ein Gegenmodell zur niederen diesseitigen Welt. Dieser Ort ist das „[Z]urück“, also eine vergangene Welt „dämmernde[r] Rufe“, als es noch große Persönlichkeiten gab: Der Schierling als Referenz auf Sokrates, „[v]ollbracht“ wiederum ein Verweis auf Jesu Worte am Kreuz.²¹ Die „umflorte Stufe“ steigt man hinauf, es kann an Trauerflor, aber auch an eine Bekränzung im Sinne einer Auszeichnung dieser Stufe, die erklommen wird, gedacht werden. „Urne der Nacht“ ist eine Metapher, die aus dem Wortfeld der Vergleiche von Tod und Schlaf ihre Bedeutung(en) erhält. Sokrates und Jesus sind für eine höhere Sache gestorben, für die Wahrheit oder um die Menschheit zu erlösen. Folgt man Vgl. Joh 19,30.
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der Logik des Gedichts, senkt das sich artikulierende Ich den Blick von der beobachteten Geschichte der ewigen Wiederkehr des menschlich Niederen zurück auf die Großen der Vorzeit, die im Tod das (und ihr) Dasein transzendiert haben. Diese Schlussstrophe hat daher auf den ersten Blick wenig mit dem popkulturellen Spiel von Referenzen, der Archivierung des Augenblicks und des Einnehmens einer bestimmten Pose zu tun – auf den zweiten Blick lässt sich jedoch immerhin feststellen, dass sich das lyrische Ich nicht nur von der Welt und den Menschen samt ihrer Popkultur, ihren Schlagern und ihrer Religion abwendet, es grenzt sich zugleich in den Bezirk der leidenden Geistesgrößen ein. Die Referenzen sind Teil der die Stilebenen mischenden Wortkombinatorik, durch das Evozieren des Schlagers wird ein Moment des Hörens archiviert und in der Summe wird eine Haltung gegenüber der menschlichen Existenz eingenommen, wie sie für Benns Poetologie typisch, aber eben auch eine Pose des lyrischen Ichs ist, die in Szene gesetzt wird. „Banane“ ist formal eine Art Proto-Pop-Lyrik, aber nicht inhaltlich. Es lässt sich zudem als Dokument der Erkenntnis Benns lesen, dass mit dem Medienwandel eine Art Lyrik in Konkurrenz zu ihm und allen anderen „Neutönern“ aufkam, die für sich beanspruchte, absolut modern und gegenwärtig zu sein. Dies lässt sich an einem Zitat aus der Zeitschrift „Die literarische Welt“ von 1926 verdeutlichen: Die Literatur der Nicht-Leser ist die gelesenste Literatur der Welt. […] Ich möchte nur mal auf einen ihrer Zweige hinweisen: auf die Lyrik. Denn sie hat, wie „unsere Literatur“, eine besondere Abteilung für Lyrik. Alle paar Wochen gibt’s eine Umfrage „Wer ist der beliebteste Dichter des Jahres?“ Jedesmal wird diese Frage falsch beantwortet. Die, die wir kennen, kommen da gar nicht in Betracht.Weder Rilke noch Cäsar Flaischlen, Goethe nicht und auch Gottfried Benn nicht. Sondern Fritz Grünbaum (Wenn du nicht kannst, laß mich mal!), Schnazer und Welisch (Wenn du meine Tante siehst), Beda (Ausgerechnet Bananen), Dr. Robert Katscher (Madonna, du bist schöner als der Sonnenschein) – und was noch? Noch eine ganze Menge – bevor Flaischlen, Rilke und Benn an die Reihe kommen.²²
3 Benn hat einige Gedichte geschrieben, die man als „Katalog-Gedichte“ bezeichnen könnte. Am Beispiel von zwei Texten aus der späten Werkphase Benns lässt sich sein poetisches Verfahren beobachten. Zuerst sei der Blick auf das 1944 entstandene Gedicht „1886“ gerichtet. Es gehört zu dem Typus von Gedichten, in
Zitiert nach: Friedrich A. Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986, S. 127– 128. Der unbekanntere der drei im Zitat zuletzt genannten Autoren war der damals berühmte Cäsar Flaischlen („Hab’ Sonne im Herzen, ob’s stürmt oder schneit“).
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denen die inszenierte Stimme des sich artikulierenden Ichs auf den ersten Blick weniger offensiv eine Pose einnimmt, weil Benn nicht wissen konnte, ob er in naher Zukunft oder überhaupt wieder Gedichte würde publizieren können – ganz zu schweigen davon, ein Protagonist im literarischen Feld zu sein, wie er es nach seinem „Come-back“ seit 1949, bereits 1951 als Erster nach dem Weltkrieg mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet, schließlich wurde. Das Charakteristische an diesem Listen- oder Katalog-Gedicht ist jedoch, dass es zwar eine Aufzählung von Ereignissen, wie sie in Tageszeitungen vermeldet werden, aber eigentlich ein autobiographisches Gedicht ist, weil es im Titel auf das Geburtsjahr Benns verweist. Durch die Hintertür tritt das Ich erneut auf die Bühne und nimmt performativ doch wieder eine Pose ein. Das Material hat Benn aus Texten der „Deutschen Rundschau“ bezogen, und mittels Enumeration zum Gedicht kompiliert.²³ Entscheidend beim Katalog-Gedicht „1886“ ist die kompositorische Anordnung der Strophen, die sich in Themenfelder gliedern lassen. Hinzu gesellen sich einige wenige kommentierende Zeilen, die die Meinung des sich artikulierenden Ichs wiedergeben, und der Schluss, der der Aufzählung seine Sinn-Struktur verleiht. Das Gedicht beginnt mit Jahreszeiten, mit dem Wetter zu den verschiedenen Zeitpunkten im Jahr, der blühende Flieder ist zugleich ein typisches Blumenmotiv aus Benns lyrischem Thesaurus. Mit dem sicherlich leicht ironischen Rekurs auf eins der unzähligen Theaterstücke Paul Heyses wird die Literatur als Gegenstand eingeführt. Performativ könnte diese Referenz auf Heyse als Abgrenzung zum eigenen Schreiben aufgefasst werden. Die dritte Strophe zählt historische Ergebnisse von politischen, kriegerischen Ereignissen von geopolitischer Relevanz auf, der Kontrast von „Zwischen Lipp’ und Kelchesrand“ (SW II, 75) und „England erobert Mandalai“ (SW II, 75) ist spannungsvoll, es soll gerade keine Kohärenz zwischen den Einzelereignissen hergestellt werden. Daher kann in der nächsten Strophe die Aufzählung von Wettbewerben, sportlichen oder Wahlen des schönsten Hundes, angeschlossen werden, die Archivierung des Namens des Siegers der goldenen Medaille bei einem derartigen Schönheitswettbewerb. „Asmoday“ untermauert die scheinbare Beliebigkeit der Aufzählung, deren einziges gemeinsames Merkmal ist, dass sie eine Epoche spiegelt, die bereits vor 1886
Zu einer minutiösen Rekonstruktion der Textgenese und Auswahl des Materials vgl. Thorsten Ries: Verwandlung als anthropologisches Motiv in der Lyrik Gottfried Benns. Textgenetische Edition ausgewählter Gedichte aus den Jahren 1935 bis 1953, Berlin und Boston 2014, S. 557– 565 (Quellen zum Notizbuch 7c) (mit Dank an Holger Hof für wichtige Hinweise zu „1886“). Benns Verleger hatte das Gedicht offenbar zuerst nicht in die „Statischen Gedichte“ aufnehmen wollen (vgl. BOe II, 295), womöglich, weil es ihm in seinem Aufzählungsstil nicht kunstvoll genug erschien.
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beginnt und einige Jahrzehnte währt. Der sachlichen Nüchternheit, die von den Informationen zur Bruttoregistertonne bei Schiffen und dem technischen Fortschritt der Schifffahrt in der nächsten Strophe ausgeht, wird die Erwähnung des russischen Dichters Turgenjew entgegengesetzt. All dies sind einmontierte Zitate. Die kleinen biographischen Details, die nacherzählt werden, entsprechen Benns Darstellungstechnik in seinen biographischen Künstlergedichten wie z. B. „Chopin“. Ebenso typisch für sein Werk ist der unmittelbar folgende Bezug auf die Naturwissenschaft, auf die Biologie und speziell die Evolutionslehre, wenn er im Anschluss an die Aufzählung von Mutationen innerhalb einzelner Spezies kommentiert: Entwicklungsfragen, Befruchtungsstudien, Naturgeheimnis, nachgestammelt (SW II, 76).
Deutlich wird eine gewisse Skepsis gegenüber den evolutionsbiologischen Forschungen zum Ausdruck gebracht, der Naturbegriff führt zum Geheimnis, birgt womöglich den Schlüssel zum Urgrund. Der (scheinbare) Gegensatz von künstlerbiographischer, die Romantik mit der Nennung Schuberts beschwörender Strophe und der Skepsis gegenüber dem Erkenntnispotential der Naturwissenschaft wird in der Folge durchaus gespiegelt, wenn sprachpflegerische Bemühungen („1088 Wörter aus dem Faust / sollen verdeutscht werden“, SW II, 77) auf Sozialdemokratie trifft – Kunst und Politik (Demokratie) werden als zwei nicht unbedingt vereinbare Gegenstandsbereiche skizziert. In einem Gedicht muss das Bestreben, Fremdwörter aus Goethes „Faust“ zu tilgen, lächerlich erscheinen. In die Sphäre der Politik gehört die Erwähnung des Politikers Paul Singer wie die des Brockhaus-Lexikons. Die Strategie der Kontrastierung wird auch in der folgenden Strophe fortgeführt, wenn bemerkt wird, dass Autoren wie Tolstoi, Zola, Ibsen von der Zeitungskritik nicht positiv aufgenommen werden, im Gegensatz zu einem trivialen Stück des damals gefürchteten Theaterkritikers Oscar Blumenthal, während der Leser sich vor allem für „Wadenkrämpfe / und Fremdkörperentfernung“ (SW II, 77) interessiert. Die Sphäre der anspruchsvollen Kunst ist mit der der bürgerlichen Öffentlichkeit nicht zu vereinen. Die drittletzte Strophe vertraut ganz auf das lyrische und evokative Potential vor allem seiner Substantive: Es taucht auf: Pithekanthropos, Javarudimente, – die Vorstufen. Es stirbt aus:
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der kleine Vogel von Hawai für die königlichen Federmäntel: ein gelber Flaumstreif an jedem Flügel, – genannt der Honigsauger“ (SW II, 77– 78).
Die Vergänglichkeit des Schönen wird beklagt, die Spuren der Herkunft des Menschen werden beschworen, um dann auf den Sinnzusammenhang der strophenweisen Aufzählungen zum Abschluss des Gedichtes hinzuweisen, in der Form eines scheinbaren Understatements: „1886 – / Geburtsjahr gewisser Expressionisten“ (SW II, 78), womit Benn vor allem sich selbst meint und neben Oskar Kokoschka einige weitere historisch relevante Persönlichkeiten aufzählt, um mit der wieder nüchtern-sachlichen, alles Lyrisch-Stimmungsvolle zurückdrängenden Nennung von Börsenergebnissen des Jahres zu schließen. Der Rahmen folgt somit der Struktur von Tageszeitungen: Das Wetter und die Börsenkurse umranden die Meldungen, Kolumnen, Glossen und anderen typischen Elemente der Nachrichtenblätter. Der Text ist eine lyrische Auswertung des Materials, das ihm einige aus der Bibliothek entliehene Bände der „Deutschen Rundschau“ bieten. Obwohl es sich hauptsächlich um eine Liste handelt, finden sich bei näherer Betrachtung viele für Benns Lyrik typische Elemente: Die Bescheidenheitsgeste, sich als „gewisser Expressionist“ und ohne weitere biographische Bezüge zu erwähnen, ist nur scheinbar demutsvoll, weil Benn sich in eine Reihe mit historischen Persönlichkeiten stellt – auch dies lässt sich als das Einnehmen einer Pose werten, die ihm allein durch das Referenzprogramm des Katalog-Gedichts gelingt. Es steckt ein Keim einer später sich ausformierenden popkulturellen Praxis darin: das verschenkte Exemplar einer Tageszeitung vom Tag der Geburt oder die Listen, was in jenem Moment im Kino oder in den Musikcharts aktuell war, und das dazu gehörende spekulative Spiel, was diese Daten mit einem selbst zu tun haben könnten. Ein anderes Katalog-Gedicht, das jedoch ohne diese Pose auskommt, vielmehr von Altersmelancholie, aber auch glaubhafter Demut geprägt ist, ist das fast schon barocke „Was schlimm ist“ aus Benns lyrischem Spätwerk. Für dieses gilt das gleiche wie für „1886“, „man muß durch vorgetäuschte Lässigkeit hindurch das Formgesetz aufspüren, das den Beliebigkeiten der Reihung die Struktur gibt“.²⁴ Zentral ist das Thema Tod, womit natürlich an dieser Stelle die Frage berechtigt ist, was dieses Gedicht mit Pop-Lyrik zu tun haben soll, außer der TextStrategie der Liste. Man kann jedoch entgegnen, dass in diesem Gedicht mit
Werner Ross: Bier lyrisch, in: Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen.Von Gottfried Benn bis Nelly Sachs, hg. v. Marcel Reich-Ranicki, Bd. 7, Frankfurt a. M. und Leipzig 2002, S. 144– 146, hier: S. 145.
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Absicht das Profane archiviert wird, um eine zurückgenommene Form des Pathos erzeugen zu können. Der Titel des Gedichts, „Was schlimm ist“, muss dabei bei den meisten Strophen im Geiste vorangestellt werden. Schlimm ist laut der ersten Strophe, wenn man von einem guten englischen Kriminalroman hört, man selbst jedoch der Sprache nicht mächtig ist und ihn daher nicht wird lesen können. Dies mag ein Makel sein, der nicht allseits als schlimm bewertet wird, aber sicherlich lässt sich diese Wertung als Hinweis darauf lesen, wie wichtig das populäre Genre der Kriminalliteratur für den Leser Benn war. Es wird auf jeden Fall ein Umstand evoziert, der als Malus vor allem eins ist: deutlich steigerungsfähig.Wenn man bei Hitze Durst auf ein Bier verspürt und es doch nicht trinken kann, erscheint das mindestens genauso schlimm – im Kontrast zum finalen Motiv des Todes sind diese Aufzählungen auf der Liste jedoch sehr profan. Intellektueller gibt sich die nächste Strophe, die die Brücke wieder zur Lyrik schlägt, nämlich zum Phänomen, dass man einen guten Gedanken nicht „in einen Hölderlinvers einwickeln kann / wie es die Professoren tun“ (SW I, 264). Diese Wendung beschwört mit Hölderlin einerseits dessen hohen Ton, der seit dem Wirken des George-Kreises auch als genuin moderner Lyriker rezipiert wurde, andererseits schwingt Ironie mit: In die Auflistung des Profanen (Krimi und Bier) die professorale Kulturpraxis einzureihen, zu jeder sich bietenden Gelegenheit einen Gedanken mittels Berufung auf große Dichter hochzustapeln, lässt sich als Form der Distanzierung deuten. Ist das Profane erst einmal ausgebreitet, kann darauf mit pathetischem Ernst die nächste Strophe folgen, die den Zustand der Entzauberung der Welt implizit beklagt: „Nachts auf Reisen Wellen schlagen hören / und sich sagen, daß sie das immer tun“ (SW I, 264).Wem dies als Welthaltung schmerzlich bewusst ist, der sucht nicht die Geselligkeit, so dass die Steigerung „[s]ehr schlimm“ (SW I, 264), der die Beschreibung eines Zwangs zur Gesellschaft, während man lieber allein sein möchte, nachvollziehbar erscheint – vor allem im Licht der letzten Strophe, die ein sich artikulierendes Ich zeigt, das sich nicht mehr viele Jahre vom Tod entfernt weiß: Am schlimmsten: Nicht im Sommer sterben, wenn alles hell ist, und die Erde für Spaten leicht (SW I, 264).
Die Technik von Enumeration und Klimax folgen tradierten rhetorischen Mustern: „Katalogpoesie, die Übel oder Güter reiht, ist so alt wie die Lyrik selbst“.²⁵ Zugleich wird mittels Kontrastierung von Wortfeldern, wie sie bereits durch den Ross: Bier lyrisch [Anm. 22], S. 145.
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Rahmen von Krimi, Bier und Sterben gegeben ist, ebenso durch die Worte „Sommer“, „hell“ und „leicht“ im Zusammenhang mit Tod fortgeführt. Im Hinblick auf Benns Todes-Poetik, in der nur Dichtung und Tod etwas von der Transzendenz erhalten können, die ansonsten mit der Moderne, den Naturwissenschaften um 1900 verloren gegangen sei, lässt sich der Schluss des Gedichts noch ganz anders lesen: Am schlimmsten ist, wenn der Tod bzw. das Sterben nicht begleitet wird von der positiven Konnotation, die Benn dem Todesmotiv in seiner Lyrik gibt und die hier eben mit „Sommer“, „hell“ und „leicht“ repräsentiert ist, sondern etwa mit Frost, Dunkelheit und hartem Boden. Die Listentechnik steht im Gedicht für die Praxis des Archivierens; das Spiel mit Referenzen wird eher ex negativo vorgenommen, indem ironisch auf das Zitieren Hölderlins seitens der Professoren eingegangen wird. Die Performanz dieses Gedichts unterscheidet sich deutlich von den anderen bereits vorgestellten oder noch vorzustellenden Texten – hier wirft sich das sich artikulierende lyrische Ich nicht in eine besondere Pose, aber es geht wieder um das Kombinieren eines profanen und eines hohen Tons, von Alltagssprache, Spott, Trauer und Pathos. Somit ist dieses Gedicht – im Gegensatz zu den anderen – kein Proto-Pop-Text, aber trotzdem einer, der Strategien verfolgt, die charakteristisch für Pop-Literatur sind.
4 Benns provokante Äußerung in seinem Vortrag „Probleme der Lyrik“, ein Schlager repräsentiere mehr eine Epoche als eine Motette, mit der er die Unterscheidung von unterhaltender und ernster Kunst aufbricht und die Sphären gegeneinander ausspielt, hat den Blick der Benn-Forschung darauf gelenkt, ob und in welchen Gedichten sich eine Nähe zum Schlager ausmachen lässt. Besonders herauszuheben ist hier der ebenfalls späte Text „Impromptu“, der mit seinem Titel zugleich ein Verweis auf die Musik der „Hochkultur“ ist, nämlich auf ein kleines Instrumentalstück mit Lied- bzw. Stegreifcharakter. Zugleich wird durch den Titel betont, dass es sich bei diesem Gedicht um eine „kleine Form“ handelt, also eine Art Gelegenheitsgedicht. Die Geste des im Vorbeigehen Hingeworfenen ist für eine ganze Reihe von Benns späten Texten zu beobachten. Wie in „Banane“ ist der Anlass (bzw. die Gelegenheit) für das Gedicht ein vom Dichter gehörtes Lied, welches explizit genannt wird: „Im Radio sang einer / ‚In der Drosselgaß zu Rüdesheim‛“ (SW I, S. 290) – es handelt sich um das bei Männerchören einst beliebte Lied „Rüdesheimer Wein“, der Text stammt wie die Melodie noch aus dem späten 19. Jahrhundert. Man kann sich eine Situation des Musikhörens vorstellen, bei der ein älteres lyrisches Ich sich bei nostalgischer Musik ebensolchen Gefühlen hingibt – bis das Gedicht eine gekonnte performa-
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tive Wendung nimmt. Ein Vergleich mit dem Text von „Rüdesheimer Wein“ offenbart das Fehlhören: Dort heißt es genau umgekehrt „Zu Rüdesheim in der Drosselgass’“. Das lyrische Ich reagiert nun auf die im Radio gehörten Liedstellen und beginnt sich zu erinnern – allerdings sind diese Assoziationen zum Teil aus dem Versmaterial des Schlagers konstruiert: ich war erschlagen: Drosseln, das ist doch wohl ein Frühlingstag, wer weiß, was über die Mauern hing, quoll, zwitscherte, sicher Hellgrünes – das Herz stieg auf, noch nicht das alte jetzt das junge noch, nach einem Wandertag, berauscht und müde. (SW I, ebd)
Sofort wird deutlich: der Schlager, die Referenz fungiert hauptsächlich als Stichwortgeber, denn eine inhaltliche Auseinandersetzung findet nicht statt: An der Drosselgasse in Rüdesheim interessiert das lyrische Ich einzig die Drossel und das assoziative Potential, das damit zusammenhängt, Frühling, grün überwucherte Mauern (im Schlager heißt es „[w]o winkt ein grüner Strauß“), das Wandern und die zufriedene Müdigkeit am Ende eines langen Tages. Das Motiv des Wanderns ist dabei wiederum dem gehörten Lied entlehnt; auch das Herz, das aufsteigt, ist nicht nur das des jungen lyrischen Ichs, sondern auch das des Quellenmaterials, wie ein Blick auf die zweite Strophe beweist: Zu Rüdesheim in der Drosselgass’, Kein Wandrer geht vorbei; Da segnet Gott die Fröhlichkeit Der Zecherkumpanei. Bläst draußen noch so kalt der Wind, Hier schmilzt und bricht das Eis. Das Herz taut auf, Glas klingt an Glas, Laut tönt’s im Zecherkreis.²⁶
Auch die nächste Erinnerung in der zweiten Strophe Benns an beschwingte Wanderungen in Jugendtagen des lyrischen Ichs rekurriert nicht allein auf das, was gerade im Radio zu hören ist, nämlich auf die gerade zitierte zweite Strophe von „Rüdesheimer Wein“. Von der Lobpreisung von Wein, Weib und Gesang wird eine Abgrenzung möglich, indem der dionysische Rausch auch ohne Wein, allein
http://www.deutsche-lieder-online.de/zu-ruedesheim-in-der-drosselgass-ein-deutschesvolkslied.html (5. März 2020).
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durchs Wandern und befeuert durch die Jugend, möglich ist. Das Gedicht wird durch seinen Anlass als Reaktion auf ein Lied im Radio zum Gelegenheitsgedicht. Berücksichtigt man nur die ersten beiden Strophen des Benn’schen Gedichts, so ließe sich von einem nostalgischen, ja fast sentimentalen Text sprechen, der die Erinnerungen an eine unbeschwerte Jugendzeit beschwört, die im Bild des leichten Rucksacks signifikant gemacht werden. Aber in diesem Gedicht vollzieht das lyrische Ich in dem Moment eine Wendung, indem es „gefährlich“, also zu sentimental, zu stimmungsvoll werden könnte: Ein Paar Schuhe. Ein Musensohn. Damals war Liliencron mein Gott, ich schrieb ihm eine Ansichtskarte. (SW I, 290)
Der erste Kunstgriff, um die nostalgische Stimmung zu durchbrechen, ist die elliptische Satzform, mit der das alte lyrische Ich sein junges alter ego umschreibt. Man hat sich dieses in der in Strophe zwei evozierten Situation vorzustellen: Irgendwo auf dem Boden schlafend, den Rucksack als Kissen, die Schuhe ausgezogen liegt er da, der „Musensohn“. An dieser Stelle begibt sich das lyrische Ich (das alte wie das junge) in eine bemerkenswerte Pose, indem der junge Wanderer scheinbar ohne jeden Anflug von Ironie als von den Göttern erwählter Dichter, als Sohn der Musen bezeichnet wird. Aus dieser Pose heraus wird die Bedeutung der letzten beiden Verse erst erkennbar: Hier findet sich eine Geste, die etwa um dieselbe Zeit, in der ersten Hälfte der Fünfziger Jahre, Elvis Presley den Heranwachsenden der westlichen (und nicht nur der) Welt in Herz und Hirn schrieb: Die nonchalant angeberische Pose, eine Mischung aus Protz und deren Überbietung, die man nur im Vorbeigehen zeigt, wobei man sie zugleich nur anzudeuten braucht und doch betonen muss. Nicht nur Rönnes imaginäres Auseinanderbrechen von zwei Hirnhälften in der frühen Erzählung „Gehirne“ ist eine „Jahrhundertgeste“;²⁷ auch jene klassisch gewordenen Signale von Lässigkeit in der Popkultur sind derartige Ausdrucksformen. In diesem Gedicht bei Benn findet man sie als Textstrategie, bei Elvis Presley als Performance auf der Bühne: Es ist sein berühmter Hüftschwung und die einseitig hochgezogene Oberlippe. Die stark sexuelle Konnotation findet sich bei Benn im Gedicht allerdings allenfalls als minimale Spur, wenn man die Materialquelle zu Wein,Weib und Gesang sowie die implizit betonte Virilität des jugendlichen alter ego des lyrischen Ichs berücksichtigt. Einerseits kann man die letzten beiden Verse als Ausdruck jugendlicher Bewunderung für Detlev von Liliencron auffassen, dem das junge lyrische Ich ‚Fanpost‘ zukommen ließ, andererseits braucht die Nähe der Substantive „Mu Vgl. Helmuth Lethen: Der Sound der Väter, Berlin 2006, S. 42– 44.
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sensohn“ und „Gott“ nicht allein auf ihren semantischen Gehalt hin gelesen werden. Performativ könnte der Schluss des Gedichts auch anders aufgefasst werden: Der Musensohn schreibt Gott eine Ansichtskarte. In einer lässigen, hingeworfenen Geste wird das junge alter ego des lyrischen Ichs in „Impromptu“ als zu den höchsten Sphären gehörender Dichter skizziert. Somit wird der Hinweis auf die kleine Liedform fruchtbar, weil das vorliegende Gelegenheitsgedicht, das einen Moment archiviert, vor allem ein Künstlergedicht ist. Erinnerung an die eigene Jugend wird hier jedoch mehr konstruiert als rekonstruiert. Es zeigt den alternden Dichter im lyrischen Gedankenstrom seiner Erinnerung an den Künstler als jungen Mann, während er Radio hört.
5 Mit „Oberfläche“ findet sich in Benns Prosawerk ein kurzer Text, der sich durchaus als Bekenntnis zu einer Poetik der Oberfläche lesen lässt, die jene amerikanischen Lyriker entwickelten, die Rolf Dieter Brinkmann beeinflusst haben, allen voran Frank O’Hara. Seine These ist die, dass alle künstlerischen Epiphanien, der Rausch, die Schau ins Innere („Dämmerblicke!“, SW IV, S. 367) in Ausdruck resultieren, der für den Blick von außen sichtbar wird: „Zum Schluss wird alles öffentlich und Oberfläche, wird Wort“ (ebd). Es ist ein auf den 2. April 1956 datierter Brief des jungen Brinkmann an Benn überliefert, ‚Fanpost’ des angehenden Dichters an den berühmten Verfasser der „Probleme der Lyrik“. Für seine Poetologie hat Brinkmann sich ausdrücklich auf Benns Essays bezogen,²⁸ die man unter dem oben explizierten Archivbegriff subsumieren kann, weil es Ersterem um das poetische Einfangen eines einzelnen Moments, des Augenblicks im ‚snap-shot’-Verfahren geht.²⁹ Seine Auffassung zur Verwendung von Material bezeugt eine konzeptionelle Nähe zu einer Praxis des Referierens bei Benn wie in „1886“ oder eben zu seinen Äußerungen zum Sprachmaterial in seiner Marburger Rede (vgl. SW VI, S. 30 – 31). So betont Brinkmann: Es gibt kein anderes Material als das, was allen zugänglich ist und womit jeder alltäglich umgeht, was man aufnimmt, wenn man aus dem Fenster guckt, auf der Straße geht, […] woran man denkt und erinnert, alles ganz gewöhnlich, Filmbilder, Reklamebilder, Sätze aus
Vgl. Matthias Berning: Rolf Dieter Brinkmann, in: Benn-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Christian M. Hanna und Friederike Reents, Stuttgart und Weimar 2016, S. 379 – 380. Vgl. Rolf Dieter Brinkmann: Notiz, in: Ders.: Künstliches Licht. Lyrik und Prosa, Stuttgart 1994, S. 38.
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irgendeiner Lektüre oder aus zurückliegenden Gesprächen, […] eine Schlagermelodie, die bestimmte Eindrücke neu in einem entstehen läßt.³⁰
Sein bekanntestes Gedicht „Einer jener klassischen“ evoziert so einen Moment des Musikhörens, der Assoziationen eröffnet und durch das Aufschreiben archiviert wird.³¹ Zwei wichtige Einflüsse sind somit für die Entwicklung von Brinkmanns Pop-Lyrik zu nennen:³² zum einen die von O’Hara vertretene Poetik der Oberfläche, also die Beschwörung der Ding- und Warenwelt, ohne explizit auf ein Verborgenes oder Inneres zu verweisen, zum anderen Benns Früh- und Spätwerk, das sich so als anschlussfähig für eine amerikanisch geprägte popkulturelle Sprechweise erweist. Benn selbst hatte großes Interesse an der modernen amerikanischen Lyrik in der Nachkriegszeit, als sich eine häufigere Verwendung des Parlando-Stils nicht nur für freie, sondern auch gereimte Verse abzeichnet. Im Briefwechsel mit F.W. Oelze zeigt sich dies durch die Thematisierung des Verhältnisses der amerikanischen Lyrik zu der von Benn, wobei Oelze gar die Vermutung ausspricht, dass zwei Gedichte, u. a. „1886“, „stilistisch fast die Vorbilder von Ezra Pound sein könnten“ (BOe IV, 131). In der Tat ist das Interesse wechselseitig; Benns Rezeption von Beispielen moderner amerikanischer Lyrik ist durch seine Kenntnis der von Rainer Maria Gerhard herausgegebenen Zeitschrift „Fragmente“ überliefert.³³ Gerhard hatte regelmäßigen Kontakt mit Lyrikern wie Charles Olsen oder Robert Creeley. Letzterer wird zu einer Lyriker-Gruppe um Pound und Olsen gezählt, obwohl es formale Differenzen gibt. Zur Pop-Lyrik können Creeleys Texte nicht gezählt werden, aber sie entstanden unter den gleichen historischen Voraussetzungen wie die Lyrik der Beatniks – zu Allen Ginsberg hatte er beispielsweise engeren Kontakt. In der Phase der Rezeption amerikanischer Lyrik fällt auch die Entscheidung, den Parlando-Stil zu kultivieren, wie er sich etwa in „Teils-teils“ findet. Am Gedicht „Rosen“, das im Benn-Oelze-Briefwechsel eine wichtige Rolle
Brinkmann: Notiz [Anm. 29], S. 39 – 40. Vgl. Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1 & 2, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 25. Zur Form des Gedichts vgl. Dieter Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse, Stuttgart und Weimar 1997, S. 179 – 181. Auch wenn Brinkmann die Zuschreibung ‚Pop’ für seine Dichtung abgelehnt hat, ist sie zulässig, weil die subversiv-affirmative Haltung gegenüber der Dingwelt, die Oberflächenästhetik, konstitutiv für die Popkultur ist. Vgl. Rainer Maria Gerhard: Umkreisung. Das Gesamtwerk, hg. v. Uwe Pörksen, Göttingen 2007. Dort findet sich der Briefwechsel zwischen Gerhard, Verleger Niedermayer und Benn, in dem der Freiburger Lyriker und Herausgeber erfolglos versucht, Benn und seinen Verleger davon abzubringen, einen Gedichtband „Fragmente“ – wie die von ihm herausgegebene Zeitschrift – zu nennen. Exemplare der Zeitschrift befinden sich in Benns Nachlass.
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spielt,³⁴ lässt sich Benns Hadern mit dem vermeintlichen klassischen Ton derartiger Texte ablesen (vgl. BOe II, 156), wenn er an seine avantgardistische Phase zur Zeit der Kurzdramen („Der Vermessungsdirigent“, „Karandasch“) zurückdenkt.³⁵ Die Entscheidung für das Gelegenheitsgedicht, das den Augenblick einfängt, die Evokation profaner Dinge wie Krimis und Bier, könnte man als eine Erneuerung seines avantgardistisch-expressionistischen Beginns interpretieren: als einen Schritt weg von den stilistisch in Reimstruktur und sprachlicher Ausprägung geschlossenen Gedichten wieder hin zu freieren Formen, ohne den Ton der ersten lyrischen Texte zu kopieren. Eine ästhetische Neu- oder Umbesinnung fällt in Benns Werk eklatant mit der Publikation von Sammlungen seiner Werke zusammen – zu Beginn der 1920er, gegen Ende desselben Jahrzehnts und dann im Kontext der Kompilation der „Statischen Gedichte“ nach 1945.³⁶ Peter Rühmkorf hat oft beklagt, dass die vielen Benn-Epigonen in Nachkriegsdeutschland dessen Modernität als Dichter der Großstadt verkennen.³⁷ Er hat sich selbst an jenen Elementen von Benns Lyrik orientiert, die inhaltlich profan waren und formal den hohen Ton mieden. Interessanter ist im Zusammenhang der Erörterung von Elementen des Popliterarischen in Benns Werk die Rezeption durch Marcel Beyer und Thomas Kling, die beide hochgradig popkulturell informiert sind bzw. waren,³⁸ sich in formaler Hinsicht aber für den Rekurs auf die Avantgarden entschieden haben. Beyer hat mit „Nur zwei Koffer“ ein Palimpsest auf Benns „Nur zwei Dinge“ verfasst und dessen monologische Sprechhaltung im Rahmen seiner essayistischen Interpretation von Klings Gedicht „Haltung“ erörtert,³⁹ in der er unter anderem bemerkt, dass Benn das öffentliche Aufführen der eigenen Gedichte mit Skepsis sah. Bemerkenswert ist der Vgl. Stephan Kraft: Gottfried Benn im „Rosen“-Dickicht. Über das im Briefwechsel mit F. W. Oelze am häufigsten erwähnte Gedicht, in: Benn Forum 6 (2018/2019), S. 199 – 220. Stephan Kraft deutet mit Klaus Theweleit dieses Hadern als eines an einem lyrisch-weiblichen Ton, während die Statischen Gedichte als männliche, „gepanzerte“ inszeniert werden sollten.Vgl. Kraft: „Rosen“-Dickicht [Anm. 32], S. 214. Wichtig ist in diesem Zusammenhang jedoch der Bezug auf die avantgardistischeren Anfänge. So ist auch die Entstehung der Wendung „Schlager von Klasse“ zeitlich auf 1944 zu datieren, vgl. BOe II, 61. Interessant ist dort auch die erwähnte Rezeption von D’Annunzio und Dos Passos, also von Literatur, die zum Expressionismus (oder dessen Präfiguration) gezählt werden kann, bzw. zur amerikanischen Moderne gehört. (Dank für den Hinweis an Holger Hof!) Vgl. Peter Rühmkorf: Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen, in: Ders.: Strömungslehre I, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 11– 43, hier: S. 19. Beyer hat für die Musikzeitschrift „Spex“ Artikel verfasst, Kling gehörte zum Umfeld des „Ratinger Hofs“, wo Bands wie „Mittagspause“ („Fehlfarben“) oder „Die Toten Hosen“ auftraten; er hat ihn in einigen Gedichten angeregt. Marcel Beyer: Falsches Futter. Gedichte, Frankfurt am Main 1997, S. 79. Es ist das SchlussGedicht des Bandes, die Bezugnahme auf Benn erhält dadurch Gewicht.
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Vergleich, den Beyer anstellt: Er sieht in Benns monologischer Sprechhaltung eine Parallele zu der im Rassismus-Kontext der 1940er/1950er Jahre entstandenen Praxis der größten amerikanischen Jazz-Instrumentalisten wie Charlie Parker oder Miles Davis, mit dem weißen Publikum nicht zu kommunizieren, stattdessen eine Haltung der ‚coolness‘ zu pflegen, Sonnenbrille zu tragen oder gar mit dem Rücken zu ihm zu spielen.⁴⁰ Nicht nur Brinkmann, auch Beyer sieht bei Benn eine Anschlussfähigkeit zur Popkultur. Thomas Klings Auseinandersetzung mit Benn ist nicht wie bei Beyer von einem für-und-wider-Argumentieren geprägt, sondern von Ablehnung und Abgrenzung, wobei er eine Oberflächentendenz bei Benn erkennt und diese auf Nietzsche zurückführt. Im Anschluss an kritische Bemerkungen über „Poundgedichte“ beschreibt er, wie der späte Benn als dichtender Großvater seine „kritzelnden Enkel um seine Knie“ versammelt und für sie die Ekstase als produktives Element beschwört.⁴¹ Sein Urteil über Nietzsches Poetik ist zugleich das über dessen Adepten Benn: „Die Geburt der Tragödie“ mit ihrer berühmt-fatalen Kategorisierung in dionysisch und apollinisch ist nichts weiter als die Entmündigung des lyrischen Dichters zum rein inhaltsfrei „berauschten Schwärmer“. Nietzsche postuliert den von ihm noch so hellenisch-nett genannten „lyrischer Genius“ [!]: Er fordert ihn als Musikbox.⁴²
Benn kreiere in der Nachfolge Nietzsches inhaltslose Schlager, so könnte man Klings Vorwurf zusammenfassen. Es sollte gezeigt werden, dass es in Benns Lyrik einige rhetorische und performative Elemente gibt, die die Pop-Lyrik seit den 1950er Jahren präfiguriert haben, oder daran anschlussfähig sind. Montagetechnik und Parlando-Stil, keine Skrupel, Markennamen zu nennen, Listenverfahren und eine Sprechhaltung, die Marcel Beyer mit jener der Coolness des Jazz vergleicht, lassen sich nennen. Die Benn-Rezeption von jüngeren Autoren zeigt, dass diese Merkmale früh aufgefal-
Marcel Bayer: Thomas Kling: Haltung, in: Ders.: Nonfiction, Köln 2003, S. 227– 240, hier: S. 234. Im gleichen Artikel wundert sich Beyer, warum Benn das moderne Gedicht nicht für den mündlichen Vortrag geeignet halte, „wo [er] doch sein Material zu wesentlichen Teilen aus dem Radio zog. An dem Umstand, daß sein Briefpartner Oelze die Arbeit übernahm, die Rechtschreibung der englischsprachigen Wörter in Benns Gedichten zu überprüfen, läßt sich ablesen, daß Benn das Englisch vorwiegend als eine gesprochene Sprache wahrgenommen haben muß“ (S. 229 – 230). Stellen im Briefwechsel mit Oelze, wo Benn von seinen mangelhaften Englischkenntnissen spricht, sind etwa BOe I, 157 u. 163. Thomas Kling: Der alte Benn und die russischen Gesänge an der Putna, in: Ders.: Auswertung der Flugdaten, Köln 2005, S. 76 – 80, hier: S. 77. Kling: Der alte Benn [Anm. 39], S. 78.
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len und fruchtbar gemacht oder abgelehnt worden sind. Benn hat als Expressionist in der Stilepoche der Neuen Sachlichkeit den Medienwandel früh erkannt und wie viele seiner mindestens zehn Jahre jüngeren Konkurrentinnen und Konkurrenten den kulturellen Einfluss Amerikas aufgegriffen. So wurde eine Öffnung für die Popkultur möglich. Man sollte den popkulturellen Anteil in Benns Werk aber auch nicht überbewerten, dafür ist es zu vielgestaltig. Wenn man den Blick nicht nur auf Benns lyrische Sprechhaltung lenkt, sondern auch auf die sicherlich subjektive, aber bedenkenswerte Kritik Klings, dann lassen sich zwei Gründe für die Hinwendung zu populären Inhalten nennen: Ein Grund liegt im Medienwandel, zu dem auch der mehrfache Kulturtransfer gehört, der durch die Moderne als ein internationales Phänomen und durch die beiden Weltkriege forciert wurde: Benn reagiert auf diese Phänomene, indem er neue Medien und Kulturphänomene, etwa aus den USA, aufgreift. Einen anderen Grund führt Thomas Kling an: Dieser liegt in einer auf Nietzsche zurückgehenden Ästhetik des oberflächlichen Scheins, die seiner Meinung nach die Lyrik zu einer Art Musikbox verkommen lässt.
Samuel Müller (Würzburg)
Müller und Cohn auf dem Tauentzien. Gottfried Benn, Gertrud Cassel-Zenzes und die (anti)jüdischen Referenzen in „Prolog“ und „Man denkt, man dichtet“ Abstract: Der Beitrag untersucht die Gedichte „Prolog“ und „Man denkt, man dichtet“ Gottfried Benns (beide 1922), die deutliche semantische Überschneidungen aufweisen. Das letztere ist als Widmungsgedicht an Benns Geliebte aus dieser Zeit überliefert, die aus dem Judentum konvertierte Gertrud Zenzes, geb. Cassel. Ich möchte auf das Verhältnis der beiden Texte zueinander eingehen und einen Erklärungsansatz vorstellen, der die Frage nach ihrer kommunikativen Funktion für den Briefwechsel des Dichters mit seiner Geliebten beantworten könnte.
1 Einleitung Wie sich Gottfried Benn und die acht Jahre jüngere Gertrud Cassel kennengelernt haben, liegt weitestgehend im Dunkeln. Nach einigen Nachrichten von Notizcharakter gegen Ende des Jahres 1921 gibt ihre Korrespondenz mit deutlich umfangreicheren Schreiben sowie dem Wechsel vom Sie zum Du den Übergang in eine intimere Beziehung preis. Um Weihnachten gab es wohl einen ersten kleineren Beziehungskrach. Nachdem Cassel in einem nicht überlieferten Brief den ersten Schritt wieder auf Benn zu gemacht hatte, antwortet dieser Anfang 1922: Lieber Petit, ich habe selten einen so reizenden, fast nie einen so zart verstehenden Brief von einer Frau bekommen wie den Deinen. Sicher ist es das Vererbte der alten Race, das Dich dazu leitet, Dich zwischen Trümmern so zurecht zu finden u. nach dem Brüchigen zu spüren u. als Du weintest, waren es sicher die Wasser Babylons, kummeralt u. kummerschwer, die aus Deinen Augen kamen.¹
Brief mutmaßlich aus dem Januar 1922, in: Gottfried Benn – Gertrud Zenzes. Briefwechsel 1921– 1956, hg. v. Stephan Kraft und Holger Hof, Stuttgart und Göttingen 2021. Da sich die Edition im Druck befindet, wird nach den teilweise rekonstruierten Absendedaten zitiert. Bedeutung und Funktion des ‚Jüdischen‘ in dieser Korrespondenz waren Gegenstand meiner Abschlussarbeit. Ein Abschnitt daraus bildet die Grundlage für den vorliegenden Beitrag. https://doi.org/10.1515/9783110729658-010
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Mit der ‚alten Race‘ und den ‚Wassern Babylons‘ (Ps. 137) spielt Benn sehr deutlich auf die jüdische Herkunft seiner Geliebten an – Cassel war allerdings bereits Anfang des neuen Jahrhunderts im Kindesalter gemeinsam mit ihrer Familie zum Protestantismus konvertiert.² Der Briefwechsel, der erst mit Benns Tod endet, bildet in über 150 überlieferten Schreiben aus 34 Jahren eine so langlebige wie vielseitige Freundschaft ab. Neben der eher kurzen Affäre selbst (bis September 1922) und vielem mehr lassen sich an ihm sowohl stilistische als auch gynäkologische Beratungsgespräche, ein heftiger Schlagabtausch über den Nationalsozialismus und die Versorgung des Dichters mit CARE-Sendungen aus den USA nachvollziehen. Dorthin war Cassel 1926 umgesiedelt und hatte den deutschen Erfinder Alexander Zenzes geheiratet. Das Jüdische als abstraktes Thema scheint in den Briefen recht selten auf – auf Seiten Benns gerade in der Frühphase, als die beiden noch ein Paar waren. Die Empfängerin wird die oben zitierte Adressierung kaum goutiert haben, stammte sie doch aus einer in hohem Maß assimilierten Familie in Schlesien.³ Bedenkt man darüber hinaus die bis dahin kurze Dauer der Beziehung und vor allem die Distanz, die Cassel im übrigen Briefwechsel zur jüdischen Gruppe einnimmt, scheint es naheliegend, Benn operiere hier noch mit einem orientalisierten Bild vom Judentum, wie es Else Lasker-Schüler während ihrer gemeinsamen literarischen Liaison zur Selbstinszenierung nutzte. Ein weiteres Mal wird das Jüdische einige Monate darauf von Benn in einem rätselhaften Widmungsgedicht an Cassel, „Man denkt, man dichtet“, intensiv thematisiert – rätselhaft nicht nur wegen seines Inhalts, sondern ebenso in Bezug auf die Funktion in dem schriftlichen Nachrichtengeflecht und dem Liebesverhältnis insgesamt. Einiges erhellt sich, wenn man Benns „Prolog“ zu einem Dichterwettstreit hinzuzieht, zu dem sich eine eindeutige textgenetische Verbindung herstellen lässt. Nach der Interpretation von „Man denkt, man dichtet“ (2) und „Prolog“ (3) möchte ich abschließend der Frage nachgehen, welche Bedeutung die beiden Texte für den schriftlichen Austausch zwischen Benn und Cassel haben, präziser: wie(so) die judenfeindliche Ausrichtung des „Prolog“ aus dem Widmungsgedicht verschwindet (4).
Vgl. für eine umfassende biographische Rekonstruktion das Nachwort Stephan Krafts, „Der einzigen Freundin in der Alten und der Neuen Welt“ – Gertrud Zenzes und ihr Briefwechsel mit Gottfried Benn, in: Benn – Zenzes: Briefwechsel [wie Anm. 1]. Zur besonderen Disposition gegenüber dem Judentum, die ein Aufwachsen in einem der östlichen Gebiete Preußens mit sich gebracht haben könnte, vgl. Martin Gubser: Literarischer Antisemitismus. Untersuchungen zu Gustav Freytag und anderen bürgerlichen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1998, S. 38 – 41.
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2 Ein rätselhaftes Widmungsgedicht … Das Widmungsgedicht „Man denkt, man dichtet“ steht einem Exemplar der „Gesammelten Schriften“ voran, die 1922 bei Erich Reiss erschienen sind, bevor sie infolge eines Rechtsstreits wieder zurückgerufen und modifiziert werden mussten. Die Präsenz des Jüdischen innerhalb eines Gedichts spricht mit Blick auf die Gesamtkorrespondenz dafür, dass das Thema von Cassel ausgehend in einem nicht nachzuvollziehenden Brief oder Gespräch aus der Beziehung ausgeklammert worden ist, Benn insgeheim aber weiter beschäftigt. Der Dichter hat seine Lyrik, nachdem sie einmal ins Reine geschrieben war, selten angerührt, außer um sie für seine Zyklen und Sammelausgaben zu kompilieren. Der fragliche Text wurde nicht in einer autorisierten Ausgabe zu Lebzeiten, sondern erst mit Übernahme in die ‚Ausgewählten Briefe‘ von 1957 publiziert.⁴ Benn maß ihm also nicht den Wert der häufig emphatisch zitierten „hinterlassungsfähige[n] Gebilde“⁵ zu. Diesem impliziten Urteil entsprach die Literaturwissenschaft, indem sie die Verse so gut wie vollständig ignorierte. Christian M. Hanna zählt in seiner BennBibliographie bis zum Jahr 2003 einen einzigen Titel dazu auf, eine Miszelle Gershom Schockens: „Zu einem kleinen Gedicht von Gottfried Benn“.⁶ Sie umfasst zwei Seiten.Was seitdem an textzentrierten Arbeiten dazu erschien, ist hier in den Fußnoten versammelt. Öfter dient das Gedicht in Biographien der charakterisierenden Illustration.⁷
Gottfried Benn: Ausgewählte Briefe, Wiesbaden 1957, S. 20. Im Folgenden im laufenden Text unter der Sigle ABr zitiert. Gottfried Benn: Doppelleben, in: Ders.: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, Bd. 5: Prosa 3 (1946 – 1950), hg. v. Gerhard Schuster, Stuttgart 1991, S. 83 – 176, hier: S. 137. Fortan im laufenden Text unter der Sigle SW I–VII/2 zitiert. Thomas Ehrsam zählt „Man denkt, man dichtet“ zu den von Benn als abgeschlossen betrachteten, qualitativ aber minderwertigen Gelegenheitsgedichten.Vgl. Thomas Ehrsam: 4.28 Gedichte aus dem Nachlass und Fragmente, in: Benn-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Christian M. Hanna und Friederike Reents, Stuttgart 2016, S. 125 – 126, hier: S. 125. Zum Thema Gelegenheitslyrik bei Benn vgl. Stephan Kraft: Wo liegt die „Höhe 317“, und wann starb Gottfried Benns Bruder Siegfried? „In memoriam Höhe 317“ als Grenzfall eines Anlassgedichts, in: Gelegenheitslyrik in der Moderne. Tradition und Transformation einer Gattung, hg. v. Johannes Franzen und Christian Meierhofer, Bern 2021 (in der Druckvorbereitung). Gershom Schocken: Zu einem kleinen Gedicht von Gottfried Benn, in: Neue Deutsche Hefte 19 (1972), H. 1, S. 62– 63. Vgl. z. B. Holger Hof: Gottfried Benn. Der Mann ohne Gedächtnis, Stuttgart 2011, S. 13; Gunnar Decker: Gottfried Benn. Genie und Barbar, Berlin 2006, S. 143 – 144; Werner Rübe: Provoziertes Leben. Gottfried Benn, Stuttgart 1993, S. 116 – 118.
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Doch ist eine Einschränkung zu machen: Tatsächlich werden immer nur die ersten beiden Strophen untersucht. Das trifft gleichermaßen auf die jüngsten Behandlungen bei Marcus Krause und Marcus Hahn zu.⁸ Dies konturiert die Lücke zu einem Problem. Denn die Forschenden beklagen zumeist einen Umstand, der wahrscheinlich ebenso sehr wie der publizistische Status des Gedichts zu seiner weitgehenden Nicht-Beachtung geführt hat: seine mangelnde Verstehbarkeit, die dann häufig als ein Extremfall von benntypischer Verdichtung insgesamt vorgeführt wird.⁹ Doch nimmt diese eigentlich erst mit der zweiten Hälfte des Gedichts überhand. Schocken, der sich als einziger auf die Strophen drei und vier einlässt, beschränkt sich wiederum vorrangig auf eine Übersetzung der jiddischen Wörter. Daneben lässt sich noch ein Charakteristikum des titellosen Gedichts feststellen, sein geringer formaler und stilistischer Anspruch: 24. V. 22. Man denkt, man dichtet Gottweiß wie schön. Und schließlich war man Bloß hebephren. Man denkt, persönlich Ist Stil u Lied – Quatsch: Typenreihe Schizoid. Verfluchtes Sperma Von Müller u. Cohn Mist die Meschinne Gehirnfunktion. Elende Meute Magischer Topp Zoff u Pleite Wann ist Stopp?? Trudchen, dem klugen, von Benn.¹⁰
Vgl. Marcus Krause: 3 Strömungen II: Wissenschaftliche Kontexte und Diskurse, in: BennHandbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Christian M. Hanna und Friederike Reents, Stuttgart 2016, S. 51– 67, hier: S. 59; Marcus Hahn: Gottfried Benn und das Wissen der Moderne. Bd. 2: 1921– 1932, Göttingen 2011, S. 350 – 351. Zudem: Anette und Peter Horn: Was aber neu ist, ist die Frage nach dem Satzbau. Die Gedichte Gottfried Benns, Oberhausen 2017, S. 54, Anm. 50. Vgl. z. B. Rübe: Provoziertes Leben [Anm. 7], S. 116. Benn an Cassel vom 24. Mai 1922, mit minimalen Abweichungen in der Transkription abgedruckt in den ABr (20) und den SW (II, 99, mit zugehörigem Kommentar).
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Das Gerüst bilden vier Strophen à vier Versen. Diese sind halb kreuzgereimt nach dem Schema xaxa und enden mit wechselnd weiblicher und männlicher Kadenz. Lediglich in der letzten Strophe sind die Waisen durch einen unreinen Reim ersetzt. Die jeweils ersten zwei jambisch gehaltenen Verse mit ihrer recht banalen Aussage (V. 1– 2 und V. 5 – 6) werden in den zweiten Strophenhälften tendenziell durch Betonungsunsicherheiten abgelöst, die unter anderem durch das verwendete Vokabular entstehen. Nach und nach vollzieht sich eine Reduktion der satzstrukturierenden Partikeln und Konjunktionen sowie der Verben (knapp zur Hälfte wenig aussagekräftige Kopula). Im Gedichtverlauf nimmt parallel zur semantischen die syntaktische Eindeutigkeit ab. Zugleich unterstützt die anaphorische Verknüpfung und die noch halbwegs intakte Syntax der ersten Strophen gegenüber den an Stramm’sche Reihungen erinnernden letzten beiden formal den Eindruck der Separation. Die Sprechinstanz formuliert jeweils eine Vorstellung des Selbst und der eigenen Kunst aus („man dichtet / […] schön“; „persönlich / ist Stil u Lied“). Psychiatrische Diagnosen wischen diese in der zweiten Strophenhälfte beiseite. Bereits der nicht gerade euphonische Reim von „schön“ auf „hebephren“ deutet selbstreferentiell die Diskrepanz von Innen- und Außensicht an. Die parallele Klangstruktur in V. 1 und das floskelhafte „Gottweiß“ fungieren ebenfalls als Ironiesignale. In der zweiten Strophe nimmt das kolloquiale „Quatsch“ (V. 7) ihre Funktion ein. Der Erkenntnisumschwung wird in der ersten Strophe noch durch ein Temporaladverb und den Tempuswechsel in ein zeitliches Nacheinander situiert. Dagegen steigert die zweite Strophe die Lakonie der Diagnose, die zuvor mit „bloß“ ausgedrückt wurde, durch die Substantivfolge nach dem Schema einer Tabelle („Typenreihe / Schizoid“). Zweimal wird so eine herkömmliche Kunstvorstellung mit ihrer modernen medizinischen Betrachtung kontrastiert: Ästhetisch zu dichten, ist unter Perspektive der Psychiatrie eigentlich nichts als das Symptom von Hebephrenie, d. h. von juvenilen Psychosen. Und die Individualität der eigenen Kunstproduktion? Ist hinfällig, so schreiben eben Menschen schizoiden Typs.¹¹ Die ersten beiden Strophen lassen sich damit nahtlos in das Paradigma der Subjekt- und Sprachkrise der Moderne hineinlesen und behandeln zugleich den althergebrachten Topos von Genie und Wahnsinn bzw. den zeitgenössischen von Genie und Degeneration.
Antje Büssgen schreibt, Benn strebe von der in den Neurowissenschaften betriebenen ‚Materialisierung des Ichs‘ fort. Vgl. Antje Büssgen: 14.2 Anthropologie, in: Benn-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Christian M. Hanna und Friederike Reents, Stuttgart 2016, S. 314– 315, hier: S. 314.
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Offensichtlich war Benns Verleger während der Zusammenstellung der postumen Briefausgabe einigermaßen hilflos, was die Entschlüsselung des Gedichts anging. Den Versen sei ein Gespräch über Ernst Kretschmers Konstitutionstypen vorausgegangen, springt ihm Gertrud Zenzes bei.¹² Marcus Hahn ist diesem Fingerzeig dankenswerterweise gründlich nachgegangen. Die Kretschmer’sche Theorie war erst 1921 im Hauptwerk des Psychiaters, „Körperbau und Charakter“, veröffentlicht worden. Mit weit über 20 Auflagen gehört das in seichtem Stil geschriebene Werk zu den populäreren wissenschaftlichen Publikationen seiner Zeit. Kretschmer verfolgt darin das Ziel, einen Zusammenhang von dicklichem bzw. dünnem Körperbau mit dem manisch-depressiven bzw. schizophrenen psychopathologischen Pol nachzuweisen.¹³ Psychische Krankheitsbilder stellen in Kretschmers Modell nur graduelle Verschiebungen einer ontisch-holistischen Persönlichkeitsstruktur vor.¹⁴ Schizoid ist demnach, wer einen Schritt vom Krankheitsbild der Schizophrenie, aber ebenso weit vom gesunden Zustand entfernt ist. Mit „hebephren“ (V. 4) montiert Benn in die sonst konventionelle Diktion der ersten Strophe dagegen ein Stück psychiatrischen Wortschatz, genauer den Fachbegriff für das ‚Jugendirresein‘. Hahn hat Benns Anstreichungen im nachgelassenen Exemplar seines psychopathologischen Lehrbuchs verfolgt, „die ihn auf der Suche nach Krankheiten zeigen. Ob es sich um die des Autors oder seiner Helden oder ganz einfach um den Prüfungsstoff des Medizinstudenten handelt, muss offenbleiben“.¹⁵ Er stellt fest, dass Benn das Hebephrenie-Kapitel intensiv durchgearbeitet habe, es liegen Unterstreichungen für Symptome wie „Assoziationsstörung“ vor, der Hebephrene neige „zu einem sehr oberflächlichen Pathos“, zu „sinnlose[n] […] Ausrufungszeichen“, nicht jedoch für die anderen, eher unfreiwilligen Beiträge Ziehens zur Psychiatrisierung der literarischen Avantgarde, in denen die Pointe von Man denkt, man dichtet vorweggenommen wird: Der Hebephreniker stelle „oft die sinnlosesten Wortverbindungen“ zusammen und
Zenzes an Max Niedermayer vom 14. Februar 1957. Zwei Schreiben, die Zenzes Benns Verleger schickte, als dieser um Beiträge für die „Ausgewählten Briefe“ (1957) warb, sind der neu edierten Korrespondenz [Anm. 1] hintangestellt. Vgl. Hahn: Wissen der Moderne [Anm. 8], Bd. 2, S. 359. Vgl. Ernst Kretschmer: Körperbau und Charakter. Untersuchungen zum Konstitutionsproblem und zur Lehre von den Temperamenten, Berlin 1921, S. 91. Hahn: Wissen der Moderne [Anm. 8], Bd. 2, S. 330.
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kombiniere „Fremdwörter, Schlagwörter, rudimentäre Reminiszenzen, hochtrabende pathetische Ausdrücke und Wortneubildungen“ miteinander.¹⁶
In Anbetracht der wirr anmutenden sprachlichen Konstruktionen liegt es nahe, die beiden letzten Strophen als eine performative Ausgestaltung der Krankheitsbilder zu verstehen, die mit „hebephren“ und „Schizoid“ bezeichnet sind. Sie stünden dann unter einem ambivalenten Vorzeichen: In ihnen könnte ebenso gut das zwanghaft unsinnige Gestammel eines Irren wie die höhere Einsicht eines modernen poeta vates zum Ausdruck kommen. Diese Aufspaltung der Sprechinstanz wäre zugleich eine Erklärung für die inhärente Zweiteilung des Gedichts. Es wäre überzogen, zu behaupten, die letzten Verse seien deshalb unbeachtet geblieben, weil sie als die Worte eines realen oder fiktiven Irren wahrgenommen wurden. Die vorliegende Studie will gleichwohl die als ein opaker Ausdruck des (Beinahe‐)Wahnsinns denunzierte Gedichthälfte genauer unter die Lupe nehmen. Den Hauptanreiz bietet der Bezug auf das vielschichtige deutsch-jüdische Verhältnis, der sich über jiddische Einsprengsel ergibt. Die fraglichen Wörter sind verderbte Ausdrücke aus dem Jiddischen, die den saloppen Ton fortführen: Das weitgehend eingedeutschte „Pleite“ (V. 15) stammt von dem Hebräischen ‚Pleta‘ – ‚Rest, Entrinnen‘, später auch ‚Bankrott‘, im Jiddischen mit Bedeutungsverengung auf die letzten beiden Begriffe zudem ‚Flucht (vor Gläubigern)‘.¹⁷ Auf Jiddisch ‚Ssoff‘ geht das ebenfalls vertraute „Zoff“ (V. 15) zurück, hat dort allerdings die Bedeutung ‚Ende, Schluss‘.¹⁸ „Mist die Meschinne“ (V. 11) ist auch Gershom Schocken zunächst „[v]öllig unverständlich“:¹⁹ Dahinter steckt die missverstandene oder verballhornte hebräische Fluchformel ‚mita meschunna‘, Jiddisch ‚misse meschinne‘, mit der man zu Deutsch einen jähen, unnatürlichen Tod wünscht.²⁰ Schocken mutmaßt, Benn habe die Wörter von Cassel übernommen, die sie wiederum – wie unter deutschen Jüdinnen „aus den östlichen Teilen Deutschlands“²¹ üblich – nur in abgewandelten Formen kannte.
Hahn: Wissen der Moderne [Anm. 8], Bd. 2, S. 351. Hahn zitiert aus dem in der Nachlassbibliothek im DLA Marbach überlieferten Exemplar von Theodor Ziehens „Psychiatrie für Ärzte und Studierende bearbeitet“ (1894/1908). Vgl. „Pleite“ auf Duden online, https://www.duden.de/node/112427/revision/112463 (28. März 2021). Häufig in der Fügung ‚mieser sof‘ – ‚böses Ende‘. Schocken: Zu einem kleinen Gedicht [Anm. 6], S. 63. Zwei der Ausdrücke haben somit eine deutsche Entsprechung in den Versen 9, „Verfluchtes“, und 16, „Stopp“. Schocken: Zu einem kleinen Gedicht [Anm. 6], S. 63.
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Matthias Richter hat versucht, das jüdischen Figuren zugeordnete Idiom in fiktionalen Texten als ‚Literaturjiddisch‘ zu fassen, dessen Gestalt und linguistische Korrektheit einerseits von den Kenntnissen des Autors, vorrangig jedoch von der jeweiligen „textuellen Funktion bestimmt“ ist.²² Dies wäre ein anderes Erklärungsmodell für den verderbten Sprachgebrauch. Dabei ist die Verwendung des ‚Literaturjiddischen‘ selten neutral und dient zumeist der judenfeindlichen Figurenzeichnung.²³ Nicht zum ersten Mal im Briefwechsel ergibt sich ein Zusammenhang zwischen Assimilationsgrad und Prestigeminderung kultureller Eigenheiten. Denn „viele Juden [suchten] selbst spezifisch jüdisches Sprachgebaren abzulegen, ja peinlich zu vermeiden […] und sich öffentlich von ihm“ zu distanzieren, Literaturjiddisch markiere mit „zunehmender Assimilation“ eine Figur „als unassimiliert, ungebildet, rückschrittlich, jüdisch im orthodoxen Sinne, und damit als Fremdling und als Außenseiter.“²⁴ Damit könnte das Widmungsgedicht, das Cassel bis in ihr Alter hütete, wie der eingangs zitierte Brief aus dem Jahr 1921 eine Stellungnahme ihrerseits zum Judentum provozieren. Ein Problem besteht ähnlich wie bei Martin Gubsers Studie zum ‚Literarischen Antisemitismus‘ in der mangelnden Übertragbarkeit der vorrangig aus epischen und dramatischen Texten gewonnenen Ergebnisse. Judenfeindliche Lyrik bleibt unter dem Radar, wenn es sich nicht gerade um eindeutig antisemitische Spottverse handelt. So spricht Richter dem Literaturjiddischen dann einen judenfeindlichen Gehalt zu, wenn es kontrastierend zu den Normen des Textes eingesetzt wird.²⁵ Jedoch sind diese in dem vorliegenden Gedicht nur schwer greifbar, wenn nicht gar ambivalent. Zwar vertritt die jüngere Lyrikforschung die gattungsübergreifende Kommensurabilität bestimmter diegetischer Kategorien wie Stimme oder Figur.²⁶ Doch welche Kommunikationssituation liegt hier eigentlich vor? Nimmt man etwa „Müller u. Cohn“ (V. 10) als Entitäten der fiktiven Welt, ergibt sich ein Problem: Die jiddelnden Worte kommen ja eben von der Sprechinstanz. Das Jüdische ruft bereits der Familienname „Cohn“ (V. 10) auf, der als Allerweltsname in etwa das Äquivalent zum deutschen „Müller“ (V. 10) darstellt, allerdings mit religiösem Substrat. In Walter Mehrings ‚historischem Schauspiel
Matthias Richter: Die Sprache jüdischer Figuren in der deutschen Literatur (1750 – 1933). Studien zu Form und Funktion, Göttingen 1995, S. 97. Abgesehen von raren, für ein jiddisch-sprachiges Publikum belustigenden Ausnahmen. Vgl. Richter: Sprache jüdischer Figuren [Anm. 22], S. 125 – 126. Richter: Sprache jüdischer Figuren [Anm. 22], S. 128. Vgl. Richter: Sprache jüdischer Figuren [Anm. 22], S. 130. Vgl. Peter Hühn: 7 Lyrik und Narration, in: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte, hg. v. Dieter Lamping, Stuttgart 2016, S. 62– 66, hier: insbes. S. 62.
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aus der deutschen Inflation‘ „Der Kaufmann von Berlin“ treten etwa Rechtsanwalt Müller und Kaufmann Kohn als Typen auf. Und Kurt Tucholskys „An das Publikum“ verwendet die Fügung im Sinne von ‚Hinz und Kunz‘. Cohn ist laut Dietz Bering aber auch der „Familienname mit der größten antisemitischen Ladung“.²⁷ Kein Name tritt so häufig in Spottversen und Karikaturen für einen männlichen Juden ein, kein Name verzeichnet in Preußen so viele Änderungsanträge aus antisemitischen Gründen.²⁸ Mit dem „Sperma“ (V. 9) kommt, wenn man es genau nimmt, hier eine ‚Vermischung‘ des männlichen jüdischen und deutschen Erbguts über Generationen hinweg zur Sprache. Der Name Cohn stammt von dem Priesterstand der Kohanim, der im orthodoxen Judentum besonders restriktiven Heiratsregularien unterliegt. Beispielsweise dürfen die Angehörigen bereits einmal verheiratete Frauen, Konvertitinnen durch Gijur oder Nichtjüdinnen nicht ehelichen.²⁹ Die fehlende Interpunktion lässt es zu, den Fluch direkt auf die folgende „Gehirnfunktion“ (V. 12)³⁰ zu beziehen. In den zeitgenössischen Forschungsdebatten der Biologie waren Spekulationen über eine Affinität jüdischen Erbguts zu Nervenkrankheiten weit verbreitet.³¹ Es versteht sich von selbst, dass derartig essentialistische Hypothesen individuellen Glaubensfragen wie der der Konversion wenig bis keine Bedeutung zumaßen. Erweitert das Gedicht diesen Topos, indem es die Neigung
Dietz Bering: Der Name als Stigma. Antisemitismus im deutschen Alltag 1812– 1933, Stuttgart 1987, S. 206. Vgl. Bering: Stigma [Anm. 27], S. 212. Hintergrund sind wohl Reinheitsvorstellungen. Dass Benn wenige Jahre darauf zumindest einigermaßen über jüdische Eheregularien orientiert war, erweist die Aussage aus „Dein Körper gehört dir“ (1928), dass „sich die Juden jahrtausendelang so rassestark erhielten wegen ihres tiefen Familiensinns.“ (SW III, 192) Die Inzuchthypothese spielte eine große Rolle bei der biologistischen Erforschung der jüdischen Gruppe in der Weimarer Republik. Vgl. Veronika Lipphardt: Biologie der Juden. Jüdische Wissenschaftler über „Rasse“ und Vererbung. 1900 – 1935, Göttingen 2008, S. 108 – 113. 1933 nennt Benn in „Züchtung“ Moses den „großartigste[n] Eugeniker aller Völker“ (SW IV, 37), implizites Gegenüber ist Hitler. Die Informiertheit in „Züchtung“ über Eheregularien rührt mehr oder minder aus Lektüren der 1930er Jahre. Die Gehirnfunktionsareale sind damit anscheinend aber nicht angesprochen. Ein altes Wörterbuch gibt für ‚misse meschinne‘ auch ‚Epilepsie‘ oder ‚Schwermut‘ an, womit die dritte Diagnose gefallen wäre. Itzig Stern: Lexikon der jüdischen Geschäfts- und Umgangssprache, Leipzig u. a. 1833, S. 62. Dass Benn diese Bedeutung geläufig war, ist jedoch nach Schockens Urteil unwahrscheinlich. Vgl. Lipphardt: Biologie der Juden [Anm. 29], S. 125 – 128. Richard Semon zum Beispiel veröffentlichte 1904 eine vielbeachtete Hypothese, die die Jüdinnen und Juden topisch zugeschriebene Sensitivität neolamarckistisch mit dem Leidensnarrativ in der jüdischen Geschichte erklärte: Die jüdische Bevölkerung teile ein „empfindlicheres Nervensystem“, weil sie so lange „unter den ständigen Verfolgungen gelitten hätte[ ], dass die Folgen schließlich erblich wurden.“ Ebd., S. 99.
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zu psychischer Labilität der biologischen Vermischung von Deutschem und Jüdischem zuschreibt? Ist das der ‚Fluch‘ des Spermas?³² „Wann ist Stopp??“ (V. 16) liest sich dann als Ruf nach Halt in einer vermeintlichen Degenerationsspirale.³³ Auch in der letzten Strophe ist nicht mehr Klarheit in Sicht. „Magischer Topp“ (V. 14) ließe sich mit Wissen um andere dialektale Einsprengsel in Benns Gedichten als ‚Topf‘ lesen, was Assoziationen zu einer faustischen Hexenszene weckt, in der „Sperma / Von Müller u. Cohn“ miteinander vermischt wird. Allerdings ist in Benns Werk ‚Topp‘ lediglich im Sinne von ‚Spitze eines Schiffsmasts‘ zu finden.³⁴ Daraus ergibt sich die Antithetik zur „Elende[n] Meute“ (V. 13), die, geht man trotz der psychopathologischen Kontextwörter von Sinnbezügen aus, nur das Ergebnis der ‚Vermischung‘ des deutsch-jüdischen Erbguts bezeichnen kann. Im Wissenschaftsdiskurs der Zeit schwankte die Diskussion über Vererbung in der jüdischen ‚Rasse‘ zwischen den Polen Inzucht und Bastardisierung. Dabei wurde auch die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass, während der Großteil der Nachkommenschaft im Falle der ‚Rassenmischung‘ degenerierte, eine kleine Gruppe ‚luxurierte‘.³⁵ Ob Benn dieses ‚Wissen‘ zugeschrieben werden kann, ist freilich fraglich. Die Aufteilung in Elite und Masse ist eine bei ihm zu findende Verhältnisbestimmung. Neben dem damals insgesamt weitaus selbstverständlicheren interreligiösen Zusammenleben war Else Lasker-Schüler sein zentraler Berührungspunkt mit dem Judentum. Sie verband 1912/13 ein literarisches Liebesverhältnis von bis heute ungeklärter Intensität, in dessen Rahmen Benns Gedichte entstanden, die am stärksten auf das Jüdische bezugnehmen. Er schreibt am 11. September 1931 in Reaktion auf einen ihrer Beiträge in der „Frankfurter Zeitung“: „Liebster Prinz, ehrfürchtig bewunderter Präsident! / Ihre Arbeit in der Fr. Z. ist herrlich. Natürlich
Dagegen meint Kretschmer in einer neuen Auflage: „Weder der Körperbau noch die Psychose sind selbst Konstitution im strengen Sinn, das heißt vererbte Anlage. Sie beide ebenso wie die Persönlichkeit, sind ja nur Teile der phänotypischen Auswirkung der gesamten Erbmasse.“ Zit. nach Hahn: Wissen der Moderne [Anm. 8], Bd. 2, S. 359 – 360. Jüdinnen und Juden wurden mit dem Verfeinerungsparadigma im Bereich der Ästhetik das, was sie im Bereich von Politik und Wirtschaft bereits waren: Symbolfiguren der Moderne. Martin Travers übersetzt den Vers mit „theurgic elite“, Gottfried Benn Poems. Translated by Martin Travers, https://gottfriedbennpoems.com/the-poems/ (28. März 2021). Vgl. Lipphardt: Biologie der Juden [Anm. 29], S. 77– 84, 102– 113, 152– 160. Die Herleitung genialer Nachkommenschaft aus ‚Rassenmischung‘ in Benns Essayistik der dreißiger Jahre entstammt allerdings erst der Lektüre von Kretschmers Zweitwerk „Geniale Menschen“ (1929).
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viel zu schade für das Kaufmannsvolk, das es liest.“³⁶ Hier deckt sich die Antithetik mit der Gegenüberstellung von „Präsident“ bzw. „Prinz“ und „Kaufmannsvolk“. Benn attackiert die „Frankfurter Zeitung“, die viele jüdische Mitarbeiter beschäftigte, als Organ des Zentrums von Handel und jüdischer Kultur in Frankfurt. Dabei bedient er das antisemitische Stereotyp des jüdischen Kapitalisten. Dies findet seine Entsprechung bei der frühen Lasker-Schüler, die die ‚wilden Juden‘ positiv vom integrierten ‚Kaufmannsvolk‘ abhob.³⁷ Mit einigem guten bzw. bösen Willen lässt sich aus dem Gedicht also ein assimilationskritischer Ton heraushören.
3 … und sein Partnergedicht Zurück zum Text: Die Worte „Zoff u Pleite“ (V. 15) sind nach wie vor nicht geklärt. Nimmt man für Zoff die deutsche Bedeutung Streit, so gelangt man schnell zum polit-historischen Entstehungskontext des Gedichts: der Revolutions- und Inflationszeit. Die Vermutung gewinnt an Plausibilität, wenn man Benns übriges Schaffen dieser Werkphase miteinbezieht. Es lässt sich sogar ein Partnergedicht, zumindest eine Partnerstrophe zur zweiten Gedichthälfte ausmachen. Dabei handelt es sich um den „Prolog“ (1922), der gut zwei Monate vor dem Widmungsdatum in der „Aktion“ erschien:³⁸
Benn an Lasker-Schüler vom 11. September 1931 in: Gottfried Benn: „Absinth schlürft man mit Strohhalm, Lyrik mit Rotstift“. Ausgewählte Briefe 1904– 1956, hg. v. Holger Hof, Göttingen 2017, S. 54. Für den Hinweis auf diesen Brief danke ich Holger Hof. Vgl. Ernst Schürer: Einleitung, in: Else Lasker-Schüler. Ansichten und Perspektiven, hg. v. dems., Tübingen und Basel 1999, S. 1– 12, hier: S. 5. Lasker-Schüler hatte damit Teil an der innerjüdischen Wiederaufwertung des traditionellen Judentums gegenüber der Assimilation im frühen 20. Jahrhundert. Das heute bekannteste Zeugnis für diesen Prozess sind bestimmte Schriften Martin Bubers. Diese Verspatenschaft ist meines Wissens bisher übersehen worden. Eine deutlich schmalere Spur führt vom Widmungsgedicht zum „Prolog 1920“, der die „Typenbildung der Individualitätsreihen“ problematisiert (SW II, 52). Das hier besprochene „Prolog“-Gedicht weist wiederum etliche intensivere semantische Überschneidungen zu „Café“, „Puff“, „Innerlich“ und „Tripper“, von dort weiterhin zu „Bolschewik“, „Strand“, „Curette“ auf, allesamt aus den Jahren 1920 – 1922, bis hin zu den Gedichtzyklen „Schutt“ (1924), „Betäubung“ und „Spaltung“ (1925). Diese Verwandtschaften sind zwar bemerkt worden, gleichwohl ist eine genauere Rekonstruktion des vorangegangenen Potpourris auch der Prosatexte („Der Garten von Arles“, „Das moderne Ich“, „Das letzte Ich“) noch nicht unternommen worden. Der Forschungsstand zum ‚mittleren Werk‘ spiegelt dieses Desiderat: „Auch wenn die Lyrik der 1920er Jahre nicht zentral im Fokus der neueren Benn-Rezeption steht, so ist ihr Rang doch unbestritten.“ Thomas Ehrsam: 4.9 „Schutt“ (1924), in: Benn-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Christian M. Hanna und Friederike Reents, Stuttgart 2016, S. 89 – 91, hier: S. 90. Um Konfusionen zu vermeiden, sei noch einmal
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Verlauste Schieber, Rixdorf, Lichtenrade Sind Göttersöhne und ins Licht gebeugt, Freibier für Luden und Spionfassade – Der warme Tag ist’s, der die Natter zeugt: Am Tauentzien und dann die Prunkparade Der Villenwälder, wo die Chuzpe seucht: Fortschritt, Zylinderglanz und Westenweiße Des Bürgermastdarms und der Bauchgeschmeiße. […] Verfluchtes Sperma Von Müller u. Cohn. Mist die Meschinne Gehirnfunktion.
Avant! Die Hosen runter, smarte Geister, An Spree und Jordan großer Samenfang! Und dann das Onanat mit Demos-Kleister Versalbt zu flottem Nebbich mit Gesang. Hoch der Familientisch! Und mixt auch dreister Den ganzen süßen Westen mitten mang – Und aller Fluch der ganzen Kreatur Gequälten Seins in Eure Appretur. (SW II, 61– 62, Hervorhebungen S. M.)
Einmal publiziert, teilt das Gedicht, gelegentlich unter dem Versanfang „Verlauste Schieber“ geführt, dennoch ein vergleichbares Fortleben wie die Widmungsverse. Benn hat es wiederum nicht in seine Gedichtsammlungen aufgenommen. In Hannas Bibliographie bis 2003 findet sich ein Treffer.³⁹ Seitdem ist nicht viel geschehen.⁴⁰ Gegen eine autorgeleitete Rezeptionshaltung ließe sich auf die Vielschichtigkeit und die außergewöhnlichen Textmerkmale verweisen. Diese bestehen in der permanenten Referenz auf zeitgenössische Schlager,⁴¹ dem dezidierten Ge-
betont, dass es nicht um den „Prolog 1920“ zu den ‚Gesammelten Schriften‘ geht und ebenso wenig um den später in „Valse triste“ umbenannten Prolog (SW I, 68 – 69) zu den ‚Ausgewählten Gedichten‘ (1936). Dieser umfasst bei genauerem Hinsehen nicht mehr als zwei Sätze zu zwei Strophen. Vgl. Stefan Heerich: Krise als Stimmung – Modernität als Schicksal. Atmosphären der Großstadt in der Lyrik Gottfried Benns, in: Noveaux cahiers d’allemand 7 (1989), S. 101– 120, hier: S. 111. Ironischerweise behandelt Helmuth Kiesels einschlägige Literaturgeschichte das Gedicht am ausführlichsten, wenn auch unter dem beständigen Vorzeichen der Einzigartigkeit. Der Verfasser verweist dort unter anderem auf die ähnliche Gesamtaussage von Psalm 73 und dem „Prolog“.Vgl. Helmuth Kiesel: Geschichte der deutschen Literatur, Bd. 10: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918 bis 1933, München 2017, S. 330 – 333, hier: S. 333. Friedrich Kittler hat dem Thema Benn und Schlager zwar einen Aufsatz gewidmet, fokussiert darin allerdings die Medialität des Radios und die Gedichte nach 1945. Friedrich Kittler: Benns Gedichte – „Schlager von Klasse“, in: Ders.: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig
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genwartsbezug auf das Nachkriegsberlin und, ja, einem deutlich judenfeindlichen Zug. Benn schlägt hier einen ganz anderen, drastischeren und bissigeren Ton an, der das Widmungsgedicht an einigen Stellen zu erhellen vermag. Leider kann die Analyse nicht en détail erfolgen, wie es eigentlich wünschenswert wäre. Sie muss sich auf Bezüge zum Partnergedicht und zum Briefwechsel mit Gertrud Zenzes beschränken. So können etwa die zahlreichen Bezüge auf Schlager nur kursorisch und soweit als zum Verständnis nötig nachvollzogen werden. Das Gedicht ist die polemische Antwort auf ein Preisausschreiben „für das / beste deutsche Chanson“ (SW II, 241), annonciert von der Leitung des Kabarett-Urgesteins Wilde Bühne im Keller des Theaters des Westens unweit der Tauentzienstraße, in einer Parallelstraße des Kurfürstendamms. Die Jury bestand überwiegend aus jüdischen Akteuren der Musikszene. Die erste Strophe entwirft zunächst ein Tableau, das sich in einem Bogen um den Berliner Südwesten zieht. Lichtenrade und insbesondere Rixdorf, beide frisch eingemeindet, galten als Ausflugsziele für Vergnügungsreisende. Benn verwendet den alten Namen Rixdorfs, das sich aus bereits damals bestehenden Imagegründen 1912 in Neukölln umbenannt hatte. Als Inbegriff der Ausgelassenheit wurde der kontrastreichen Elendsgegend der zweifelhafte Ruhm zuteil, im damals allseits bekannten Schlager „In Rixdorf ist Musicke“ besungen zu werden, auf dessen Melodie man einen Schieber, eine Art Onestep tanzt. Vorrangig sind mit „Schieber“ (V. 1) aber Profiteure schmutziger Geschäfte in den Nachkriegswirren gemeint. Schon dieses Wortspiel verdeutlicht, wie eng die berührten Sphären miteinander verflochten sind. Weiter geht es über den Generalszug, der Neukölln mit dem Kurfürstendamm verbindet und so in das Villenviertel im Grunewald führt.⁴² Sein nördliches Ende, die Tauentzienstraße biegt vorbei am Kaufhaus des Westens und am Romanischen Café mit Blick auf die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in die Berliner Prachtstraße ein. Der „Tauentzien“ (V. 5) war als zugehörige Ortsbezeichnung geläufig. Hier befand sich mit dem Pschorr eine von Benns Stammkneipen bis in die 1930er Jahre. Gleichzeitig führt er in den Briefwechsel zurück. In einem Schreiben, das vermutlich ebenfalls auf das Jahr 1922 datiert, gibt Benn Cassel
1993, S. 105 – 129. Vgl. aber den Aufsatz von Matthias Berning in diesem Band: „Schlager von Klasse“. Popliterarische Elemente in einigen Benn-Gedichten, der u. a. das 1925 publizierte Gedicht „Banane“ bespricht. Zum Feindbild der Villengegend im Grunewald bei Benn vgl. auch Thea Sternheims Tagebucheintrag vom 18. Mai 1942, sein „Neid auf die Grunewaldvilla“ habe ihn ins Nazilager geführt, Gottfried Benn – Thea Sternheim: Briefwechsel und Aufzeichnungen, hg. v. Thomas Ehrsam, Göttingen 2004, S. 106.
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den Rat: „Bleibe artig u. laß Dir Nachmittag nicht imponieren von dieser Tauentzienkultur, jüdisch-schwedischen Charakters“.⁴³ Die Straße steht bei dieser Warnung sinnbildlich für Frivolität und jüdische Bohème, die sich in den fruchtbaren Künstler- und Intellektuellenzirkeln des ‚Neuen Westens‘ angesiedelt habe. Bevölkern den südlichen Stadtrand Kriegsgewinnler und Zuhälter, treibt sich hier die „Chuzpe“ herum (V. 6). Das nach dem Prinzip der demonstrativen Montage⁴⁴ eingefügte Shakespeare-Zitat, schönes Wetter locke Nattern hervor, ruft eine bürgerliche Tradition auf und sabotiert sie im selben Zug. Immerhin kündet die Einleitung in der Ausgabe der „Aktion“ aus dem Goethejahr 1922 an, der „Prolog“ zeige, „welch ‚echte, wahre Kulturwerte‘ im deutschen Liede zu feiern sind“ (SW II, 242). Den Gehalt des Trikolons von Fortschritt, glänzenden Zylindern und dem Neologismus „Westenweiße“ (V. 9) unterläuft das alliterierende Ekelvokabular im Folgevers. Doch wird hier nicht irgendeine bürgerliche Gruppe aufs Korn genommen, die sich angesichts der Weimarer Wirtschaftslage in den frühen 1920ern schon wieder mit Reichtumsinsignien blicken lasse. Jüdinnen und Juden, für die hier metonymisch das jiddische „Chuzpe“ (V. 6) steht,⁴⁵ werden durch das Verb „seucht“ als widerwärtige Infektionskrankheit metaphorisiert. Und da die Verweisrichtung des Shakespeare-Zitats uneindeutig ist, lässt der Text es überdies zu, jüdische Bürger zusammen mit Zuhältern und Schmugglern zur Schlangenbrut zu zählen. Judenhass war in der Weimarer Republik virulent und äußerte sich aggressiv. Die üble Nachrede, jüdische Bürger, ostjüdische im Speziellen, seien Profiteure
Benn an Cassel, vermutl. 1922 [Anm. 1].Vgl. auch den entsprechenden Kommentar. Kombiniert man diese Briefstelle mit Wissen über den expressionistischen Literaturbetrieb, kommt man zu dem Schluss, dass es sich bei dem bevorstehenden Ereignis aller Wahrscheinlichkeit nach um ein Treffen der Szene handeln muss: Herwarth Walden heiratete nach Else Lasker-Schüler die schwedisch-schweizerische Nell Roslund und band sie in den „Sturm“-Kreis ein. Vgl. Helmuth Kiesel: 12.4 Montagetechnik: Wortkombinatorik, Fremdwörter, Plagiat, in: BennHandbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Christian M. Hanna und Friederike Reents, Stuttgart 2016, S. 290 – 291, hier: S. 291. Das jiddische Wort ‚Chuzpe‘ bedeutet ‚Unverschämtheit‘, bezeichnet darüber hinaus das in ostjüdischen Witzen häufig anzutreffende Konzept einer charmanten Impertinenz, und bildet schließlich eine Metonymie für Jüdinnen und Juden. Die Verwendung zur Gruppen- bzw. Selbstbezeichnung findet sich etwa in einer zeitgenössischen chassidischen Populärliedersammlung, dort heißt es gar in einem Refrain: „Ein Jüd ohne Chuzpe, das ist gar kein Jüd.“ [o.A.]: Die jüdische Chuzpe, in: Lieder eines fahrenden Choßid. Humoristische Dichtungen für jüdische Geselligkeit, hg. v. Louis Böhm, Frankfurt a. M. 1922, S. 53 – 54.
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von Krieg und Schiebergeschäften, war weit verbreitet⁴⁶ – nicht zuletzt als Teil der Dolchstoßlegende. Martin Gubser hält es für legitim, von ‚literarischem Antisemitismus‘ zu sprechen, wenn Autoren und Autorinnen durch unachtsame oder „bewußte[ ] und affirmative[ ] Verwendung“ sprachlich stigmatisierende, antijüdische Stereotype perpetuieren, die „sich überdies laufend an die reale Situation der Juden in Deutschland anzupassen“ wissen.⁴⁷ Es zeigt sich eindeutig, dass jiddischer Sprachgebrauch und Antisemitismus einander nicht ausschließen.⁴⁸ Die folgenden Strophen führen die Tirade auf den Fortschrittsgeist, die depravierten Zustände und deren Profiteure, schlicht auf die Dekadenz der jungen Republik fort. Dabei erschweren Neologismen und syntaktische Brüche erneut das Verständnis. Mit „Sodomitensahne“ (V. 13) wird das Motiv des biblischen Sündenpfuhls schlechthin aufgegriffen. Anders als in „Puff“ werden die liturgischen Formeln „Empor!“ und „Sursum!“ (V. 16) nicht durch den Bezug auf Sexualität, sondern auf Luxusgüter und Nachkriegswirtschaft konterkariert.⁴⁹ Die Massengräber des jüngst vergangenen Weltkriegs „stink[en] nicht mehr“ (V. 25 – 26) und die hehren Ziele der Revolution wurden für den Komfort der Stromversorgung aufgegeben (vgl. V. 31– 32). Anspielungen auf den Chansonbetrieb durchziehen die Zeitkritik. Dieser war ja Auslöser des Gedichts mit der Ausschreibung, die mit „4000 Mark“ (SW II, 241) Preisgeld lockt (nicht inflationsbereinigt). Da keine sogenannten ehrlichen Berufe genannt werden, erscheint diese Szene im gleichen Licht wie die bisherigen Gruppen. Geld gibt es nämlich für eingängige „Refrains“, die sich um „jede[n]
Vgl. Werner Jochmann: Gesellschaftskrise und Judenfeindschaft in Deutschland, 1870 – 1945, Hamburg 1988, S. 165; Werner Bergmann: Geschichte des Antisemitismus, 4. Aufl., München 2010, S. 72. Sie schloss an das im 19. Jahrhundert etablierte Stereotyp des jüdischen Raffke an. Vgl. Gubser: Literarischer Antisemitismus [Anm. 3], S. 102. Gubser: Literarischer Antisemitismus [Anm. 3], S. 132. Vollends beiseite geräumt wird der Einwand von einer poetologischen Aussage Benns, die zwar wesentlich später, aber mit Bezug auf einen Text von 1920 geäußert wird: „[D]as ist ein Zeichen dafür, wie meine Sprache in dem Augenblick, wo sie sich einem bestimmten Milieu nähert, in diesem Fall, einem ordinären, sofort in den Argot-Rotwelsch-Cockney-Jargon übergeht, automatisch, dem sie gerecht werden will. Gehört in das Thema vom Übergang des Sachverhalts in den Ausdruck!“ Gottfried Benn – Friedrich Wilhelm Oelze: Briefwechsel. 1932– 1956, Bd. 3: 1949 – 1950, hg. v. Harald Steinhagen, Stephan Kraft und Holger Hof, Stuttgart und Göttingen 2016, S. 332. Horch spricht von der „Zerstörung jeglichen metaphysischen Überbaus“ in einer „chaotischamoralische[n] Kriegsgewinnler-Atmosphäre“, Hans Otto Horch: 4.13 Einzelveröffentlichungen 1921– 1930, in: Benn-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Christian M. Hanna und Friederike Reents, Stuttgart 2016, S. 95 – 96, hier: S. 95. Zu „Puff“ vgl. Christian M. Hanna: „Die wenigen, die was davon erkannt“. Gottfried Benns (un)heimlicher Dialog mit Goethe,Würzburg 2011, S. 79 – 92.
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Preis“ nach dem „Zeitstrom“ (V. 10) richten. „Wer fixt per Saldo kessen Schlager raus?“ (V. 32)⁵⁰ Börsenspekulanten und Liedermacher sind zum Wiederaufbau eine unheilige Allianz eingegangen (vgl. V. 27– 30). Doch die Verschränkung der Sphären sitzt auch im Detail: So lassen sich die Verse „Vergeßt auch nicht die die vielbesungene Fose / mit leichter Venerologie bedeckt, / bei Gasglühlicht und Saint-Lazare die Pose“ (V. 17– 19) einerseits als Bezug auf das berühmte Chanson des Franzosen Aristide Bruant „À Saint-Lazare“ lesen.⁵¹ Liedtext ist der fiktionale Brief einer Insassin des Gefängniskrankenhauses Saint-Lazare, die sich, infiziert mit einer Geschlechtskrankheit, an ihren Zuhälter wendet. Andererseits spielt „Gasglühlicht“ auf einen Eisenbahntunnelunfall am 5. Oktober 1921 nahe dem Pariser Gare Saint-Lazare an. Im Batignolles-Tunnel stieß ein fahrender Zug auf liegengebliebene Waggons. Gas trat aus den Lampen, entzündete sich und verwandelte den Tunnel in eine tödliche Falle. Mindestens 28 Menschen starben. Auf Zeitgenossen dürfte dies eine ähnliche Wirkung gehabt haben wie ehedem der in Fontanes „Brück am Tay“ besungene Vorfall. Fortschrittsskepsis und Kritik am Schlagerbetrieb sind also nicht zu trennen. Während die übrigen Strophen Parallelen zum Widmungsgedicht an Gertrud Cassel nur im Allgemeinen erlauben, vor allem in Bezug auf Jüdisches oder auf die Inflationszeit, beides nimmt hier ungleich mehr Platz ein, so sind in der letzten Strophe die semantischen Schnittmengen unübersehbar. Der Modus der Vermischung („mixt […] mitten mang“ V. 37– 38) ist ebenfalls deutlicher ausgeführt, bedingt durch die Mehrfachnennung des Ejakulats (V. 34– 35) und die genauere Aggregatsbestimmung der Substanzen („Onanat mit […]Kleister / versalbt“, V. 35 – 36, „Appretur“, V. 40). Stimmig dazu erscheinen die prototypisch deutschen bzw. jüdischen Familiennamen „Müller u. Cohn“ aus „Man denkt, man dichtet“ noch als Gewässer von zentraler Bedeutung für Berlin bzw. Israel, „Spree und Jordan“ (V. 34). „Samen“ (V. 34) und „Onanat“ (V. 35) kehren im Widmungsgedicht gemeinsam als (verfluchtes) Sperma wieder. Ein interpretierbarer Bedeutungsüberschuss entsteht durch den Anklang an die biblische Erzählung: Onan weigert sich seine verwitwete Schwägerin zu schwängern und lässt sein Sperma auf die Erde fallen. Spiegelbildlich vergießen die „smarte[n] Geister“ (V. 32), die ‚Kulturträger‘, ihre schöpferische Kraft fruchtlos. Der Aspekt der Vererbung, der aus dem Widmungsgedicht implizit erschlossen werden musste, ist hier gleichfalls nur an Ob Benn der mutmaßlich jiddische Ursprung des Wörtchens ‚kess‘ bekannt war, muss offenbleiben. Gunter Grimm sieht dagegen hierin schon eine Kontrafaktur zu Stefan Georges „komm in den totgesagten park und schau“ nach dem Schema von „Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke“. Gunter Grimm: Moderne Lyriker. Benn – Brecht – Enzensberger, Baden-Baden 2019, S. 15.
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deutungsweise, aber doch manifest genug mit dem „Familientisch“ (V. 37) angeführt. Dass Gott Onan mit dem Tod bestraft, kann als Fluch verstanden werden. Explizit erscheint der „Fluch“ (V. 39) hier allerdings als Seinsbestimmung des Menschen, der sich mit seiner Abhängigkeit von der Schöpfung quält. Benn spielte mit dem Material für diese Verse und brachte es bei günstigen Gelegenheiten unter, so z. B. auch im George Grosz gewidmeten Gedicht „Café“: „Aufbau, Sitte, Stand – / Wurm, Gomorrha, cyanüres Schwälen / Über das verfluchte Abendland.“ (SW II, 54)⁵² All dies lässt die zweite Hälfte des Widmungsgedichts als reduzierte Neufassung erscheinen. Demgegenüber verzahnt das Wort „Gehirnfunktion“ in der dritten Strophe dort zusätzlich die beiden Teile des Gedichts. Überdies räumt die Verschlagwortung der Revolution und Inflation mit „Zoff u Pleite“ ebenso wie die Konkretisierung des Fluchs zum pseudojiddischen „Mist die Meschinne“ dem Jüdischen auf kleinerer Fläche größere Präsenz ein. Abwesend oder zumindest in „Man denkt, man dichtet“ unsichtbar sind die Motive der Kultur- und Demokratiekritik. Erst das Bindemittel Demokratie (vgl. V. 35, gr. dḗmos – das Volk) ermöglicht im „Prolog“ die Melange von Erbgut aus Berlin und dem Jordanland.⁵³ Auch der Kulturkreis des Abendlandes, schließlich noch das theologische Konzept der Kreatürlichkeit soll in die Mixtur aus deutschem und östlichem Saatgut. Das Adverb „dreister“ (V. 37) verweist zurück auf die Chuzpe als Agens. Das Produkt ist ein unbestimmbar pejoratives ‚Nebbich‘⁵⁴ begleitet von flotten Songs – ein erneuter Bezug auf das Preisausschreiben für das beste deutsche Chanson, das von einer überwiegend jüdischen Jury gekürt wird.
Parallel dazu hier außerdem der „Westen“ (V. 38) und die „Sodomitensahne“ (V. 13). Für Benns Haltung zur Demokratie in dieser Zeit vgl. etwa in „Das moderne Ich“ (1920): „Oder was sollte die kleinformatige und rein voluntaristisch emotionierte Genossenschaft, deren Verdienst die Bevölkerungsdichte von Europa darstellt, mit dem bedingungslosesten Gedanken, der je gedacht war, dem Gedanken des autonomen Ich beginnen, aus dem kein Kleingeld abzuschachern, keine Pressewerte auszumelken waren, was tat das Geschmeiß vor dem Befehl des Absoluten: – es wurde sozial. Der Mitmensch, der Mittelmensch, das kleine Format, das Stehaufmännchen des Behagens, der Barrabasschreier, der bon und propre leben will, auf den Mittagstisch die vergnügten Säue, die sterbenden Fechter ins Hospital –, der große Kunde des Utilitaristen –: eines Zeitalters Maß und Ziel.“ (SW III, 103) Jiddisches Wort, dessen Bedeutung situativ stark variiert und mitleidig-geringschätzig verwendet wird.Von Benn häufiger benutzt, so z. B. im Brief an Cassel, vermutl. Januar 1922 [Anm. 1].
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4 Synthese und Schluss Der Einbezug von Demokratieskepsis und pessimistischen Kulturkreisvorstellungen zeigt, wie weit der „Prolog“ über das Widmungsgedicht hinausgeht. Formal stehen die achtzeiligen Strophen, hier als Stanzen realisiert, Benns typischer Lyrik der 1920er Jahre näher. Sie dokumentieren auch, dass es für Benn zu diesem Zeitpunkt noch offen war, ob er sich dem literarischen Trend zur Politisierung anschließen sollte. Inhaltlich spiegeln beide Gedichte weiter das Konzept der „negative[n] Anthropologie“⁵⁵ in der Ästhetik des Hässlichen wider, das Benns Lyrik seit dem „Morgue“-Zyklus wesentlich bestimmt hatte. Sie stehen damit janusköpfig in seinem Werk, setzt man doch nach dem Schlussstrich von „Epilog“ (entstanden August 1921) die zweite Schaffensperiode an.⁵⁶ Es ergibt sich, dass der zumindest später datierte Text formal wie inhaltlich (psychiatrisches Themenfeld) der ersten Phase nähersteht. Benn recycelt insbesondere für die dritte Strophe die letzte des „Prolog“Gedichts.⁵⁷ Dabei gehen nicht nur einige thematische Verständnishilfen verloren, sondern auch der aggressive Tonfall, der sich in rhetorischen Fragen, in zahlreichen Aufforderungen und in der gemeinen Wortwahl manifestiert hatte. In diesem Zug wird – nicht automatisch ad usum Delphini – die stark judenfeindliche Färbung für den Beziehungskontext entfernt. Geht man gleichwohl von einem stärker dialogischen Verhältnis der beiden Gedichte zueinander aus, wird die Frage nach der kommunikativen Funktion der intertextuellen Referenz für die Beziehung zwischen Benn und Cassel dringender. Eine schlüssige Antwort kann nur unter Inkaufnahme zweier gravierend spekulativer Annahmen erfolgen – zumal die Briefe auf Cassels Seite für diese Zeit fehlen. Erstens: Sie hatte den „Prolog“ in der „Aktion“ vom 4. März 1922 gelesen. Zweitens: Sie war nicht erfreut über die judenfeindliche Stoßrichtung und stellte ihren Geliebten deswegen zur Rede. Dann ginge „Man denkt, man dichtet“ in die Form einer entschuldigenden Rücknahme über, die sich zugleich selbst wieder einschränkt. Die Spaltung der Sprechinstanz in eine Diagnose- und eine Sym-
Helmuth Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert, München 2004, S. 402. Vgl. Dieter Burdorf: 4.1 Übersicht und Einführung, in: Benn-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Christian M. Hanna und Friederike Reents, Stuttgart 2016, S. 70 – 73, hier: S. 71. Ein solches Vorgehen ist bei Benn nicht ungewöhnlich, bedenkt man die Entstehungsgeschichte von „Innerlich“ oder den Extremfall „Welle der Nacht“. Nach Hans Otto Horch könnte „Prolog“ schon 1920 entstanden sein.Vgl. Horch: Einzelveröffentlichungen [Anm. 49], S. 95. Diese Annahme geht allerdings nur schwer mit der Anspielung auf den Eisenbahnunfall im Herbst 1921 zusammen.
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ptom-Stimme ermöglicht eine Kippfigur, die das Gesagte in Strophe drei und vier sowohl als ungültigen Nonsens ent- als auch als tiefere Wahrheit aufwerten kann. Sie erlaubt demnach neben der Minderung der Aussagekraft gleichermaßen ein Beharren auf dem Gesagten oder sogar die Steigerung davon. Für diese Annahme sprechen Argumente, die mal mehr mit Benn, mal mehr mit seiner Freundin zusammenhängen: Cassel darf guten Gewissens als potenzielle „Aktion“-Leserin eingestuft werden. Sie versuchte sich selbst als Schriftstellerin, ging im Café des Westens und später im Romanischen Café ein und aus, war auch sonst, solange sie in Berlin lebte, im ‚Neuen Westen‘ zuhause. Max Niedermayer gegenüber nennt sie in Anbetracht ihrer eigenen Unbekanntheit klingende Namen aus ihrem alten Freundeskreis: Sie habe „viele interessante Briefe […] von [Friedrich] Gundolf, von Pawel Barchan, von [Joachim] Ringelnatz, von Klabund usw.“⁵⁸ besessen. Weiterhin nachzuweisen sind enge Kontakte mit Egmont Seyerlen,⁵⁹ Elisabeth Salomon,⁶⁰ Heinrich Zille,⁶¹ Georg Hermann⁶² und Hans Landsberg.⁶³ Auf weitläufigere Kontakte zu Herwarth Walden und dem „Sturm“-Kreis lässt sich, wie oben gezeigt, schließen – ebenso zu Carl Einstein⁶⁴ und Ernst Rowohlt.⁶⁵ Für ein gemeinsames Umfeld von Cassel und Benn spricht auch die anfängliche Geheimhaltung ihrer Beziehung vor diesen Kreisen.⁶⁶ Auch nach dem zweiten Weltkrieg verfügt sie über eine ansehnliche Reihe illustrer Bekanntschaften aus den emigrierten Intellektuellenzirkeln.⁶⁷ Cassel, selbst nicht vorurteilsfrei, störte sich an plattem Antisemitismus. Das zeigt sich nicht nur in ihrem mehrseitigen Schreiben aus dem Jahr 1933, in dem sie deutlich gegen Benns Rechtfertigung der einsetzenden Judenverfolgung Stellung bezieht.⁶⁸ An Salomon sind ebenfalls Briefe überliefert, in denen sie sich entsetzt
Gertrud Zenzes an Max Niedermayer vom 24. März 1957 [Anm. 12 und 1]. Vgl. dazu beispielhaft Benn an Cassel vom 3. und 12. August 1922 [Anm. 1]. Die Journalistin, Übersetzerin und spätere Ehefrau Gundolfs war Cassels engste Freundin aus Kindertagen. In ihrem Nachlass findet sich ein ihr gewidmetes Bild des Berliner Künstlers. Der Erfolgsschriftsteller war während des Ersten Weltkriegs ihr Geliebter. Im Leo Baeck Institute New York sind nachgelassene Briefe und Brieffragmente an ihn überliefert. Georg Hermann Collection (AR 7074), Box 7, Folder 26. Der besonders im „Schutzverband deutscher Schriftsteller“ aktive Autor hatte einem Brief an Georg Hermann vom 11. Juni 1915 [Anm. 62] nach ebenfalls ein Auge auf Cassel geworfen. Vgl. Benn an Cassel vom 4. September 1926 [Anm. 1]. Vgl. Benn an Cassel vom 31. Juli 1922 und den zugehörigen Kommentar [Anm. 1] Vgl. dazu Benn an Cassel vom 13. März 1922 [Anm. 1] Vgl. dazu beispielhaft Zenzes an Benn vom 2. oder 3.1.1947 [Anm. 1]. Vgl. Zenzes an Benn vom 28. Oktober 1933 [Anm. 1].
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über den nationalsozialistischen Antisemitismus äußert.⁶⁹ Auch schon in einem Schreiben an Georg Hermann zeigt sie einen wachen Blick für den im Ersten Weltkrieg erstarkenden Judenhass.⁷⁰ Zudem hatte sie Grund über die Stoßrichtung des „Prolog“ überrascht zu sein. Andere Gedichte Benns, die Jüdisches thematisieren, etwa „Drohungen“, „Nachtcafé“ und „Englisches Café“, mystifizieren es überwiegend. Dieses Bild dürfte, wie eingangs angedeutet, zwar ebenso wenig Cassels Vorstellungen entsprochen haben, unterscheidet sich aber doch eindeutig von der bissigen Gehässigkeit, die im „Prolog“ angeschlagen wird. Umgekehrt dürfte es kein Zufall sein, dass der Text nicht nur in einer Blütezeit judenfeindlicher Agitation veröffentlicht wurde, sondern ausgerechnet als Benn mit einer Frau jüdischer Herkunft zusammen war. Zuletzt gleicht die vorskizzierte, mit dem Widmungsgedicht vollzogene Figur einer Strategie, die Benn mehrmals im Briefwechsel Cassel gegenüber anwendet. Trotz ihrer kurzen Dauer wurde ihre Affäre beinahe andauernd von kleineren Krisen und Missstimmungen geschüttelt. Diese lassen sich hauptsächlich an Briefpassagen nachvollziehen, in denen Benn kränkendes Verhalten zu rechtfertigen sucht – indem er sich selbst pathologisiert. In einem Fall muss ein solcher Streit sogar dazu geführt haben, dass Cassel ein Schreiben aus der ihr sonst heiligen Korrespondenz vernichtete.⁷¹ Der einleitend zitierte Brief etwa fährt fort: [N]icht ich sprach von Weihnachten u. Du schluchztest, ich wußte genau, warum Du weintest; ich habe nur oft, ja meistens soviel Mauern um mich rum, daß ich dem andern kein Verstehen zeigen mag, ich bin so hart geworden, um nicht selber zu zerschmelzen u. schließlich auch sehr fremd u. sehr allein.⁷²
Um noch ein weiteres Beispiel unter anderen zu geben, Benn frotzelt, nachdem er einen ihrer Briefe zerpflückt hat, am 14. April 1922:
Vgl. Zenzes an Elisabeth Gundolf vom 21. Juli 1933 und vom 11. Dezember 1933. Die Schreiben werden im Gundolf Archive der Senate House Library der University of London, File 41a, aufbewahrt. Vgl. Cassel an Hermann vom 26. Juli 1915 [Anm. 60]. Vgl. Benn an Cassel vom 6. September 1922 [Anm. 1] mit entsprechendem Kommentar sowie die Darstellung in Krafts Nachwort [Anm. 2 und 1]. Benn an Cassel, vermutl. Januar 1922 [Anm. 1]. Vgl. auch das ähnliche Bild gegenüber Tilly Wedekind, nach dem 2. Mai 1930, in: Gottfried Benn: Briefe an Tilly Wedekind. 1930 – 1955, hg. v. Marguerite Schlüter, Wiesbaden und München 1986, S. 6.
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[B]ist Du böse, Trudchen, aber ich kritisiere Deinen Stil doch so gern, mir geht jedes geschriebene oder gedruckte Wort direkt mit einem Stich ins Gehirn, ich habe einen besondren Sinn für das Wort –⁷³
Diese nachträglichen Rechtfertigungen, die zugleich die Hintertür für eine Verstärkung der ursprünglichen Aussage offenlassen, kennzeichnen Benns Schreiben aus der Beziehungsphase. Sie könnten der Schlüssel zu dem Rätsel um „Man denkt, man dichtet“ sein. Vor dem Hintergrund jüngerer Literaturtheorien mag eine derart biographienahe Thesenbildung bedenklich wirken. Diese Bedenken räumt eventuell der erhöhte Realitätsbezug von Briefen und Widmungsgedichten aus. Doch selbst wenn man die Annahmen, die zu der vorgestellten These führen, für abwegig hält, kann man das Widmungsgedicht nicht schlichtweg als Recyclingprodukt betrachten. Denn es bleibt auf der Ebene der schriftlichen Kommunikation eine Provokation, eine Mikroaggression, eben den Aspekt ihrer Herkunft an Cassel heranzutragen, mit dem sie abgeschlossen hatte und von dem sie sonst Abstand hielt: das Jüdische.
Benn an Cassel vom 14. April 1922 [Anm. 1].
Elisabeth Flucher (Siegen)
„Die Wüste wächst“ – Deutung und Montage eines Nietzsche-Zitats bei Heidegger, Jünger und Benn Abstract: Ausgehend von der Nihilismus-Diskussion bei Heidegger und Jünger rekonstruiert der Aufsatz, wie die Wüste zum Topos und der Satz „Die Wüste wächst“ als Sentenz universalisiert wird. Einer solchen begrifflichen Aneignung widersetzt sich der Dithyrambus „Unter Töchtern der Wüste“, wie in einer textnahen Lektüre gezeigt wird. Benns Montage des Verses im „Garten von Arles“ fügt Nietzsches Zitat in eine komplexe Erzählung ein, die von einer umfassenden Textkenntnis zeugt, indem sie Nietzsches Verfahrensweisen imitiert und poetologisch reflektiert.
Einleitung Nietzsche wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorwiegend als Denker, Überwinder oder auch Apologet des Nihilismus gelesen. Seine Analyse und Vorhersage eines umfassenden Werteverfalls entsprachen dabei dem von den beiden Weltkriegen geprägten Zeitgeist politischer Destabilisierung. Die Schriftsteller der Konservativen Revolution betonten den provokativen und antidemokratischen Gestus von Nietzsches späten Schriften,¹ insbesondere des Nachlasses und des aus den Fragmenten kompilierten Werks „Der Wille zur Macht“. So schienen Nietzsches Schriften die Entfesselung der Technik und die Verheerung der Weltkriege geradezu auf den Begriff zu bringen und in besonderer Weise geeignet zu sein, die Gegenwart gedanklich zu erfassen. Im Zuge einer Nietzsche-Deutung unter nihilistischen Vorzeichen wurde die Wüste zum Topos und der Vers „Die Wüste wächst – weh dem, der Wüsten birgt“ aus Nietzsches Gedicht „Unter Töchtern der Wüste“, dem zweiten der neun „Dionysos-Dithyramben“, zu einer
Für die kritische Lektüre und wertvolle Anregungen danke ich Felix Christen sowie Claus Zittel und den Teilnehmer*innen des Stuttgarter Forschungskolloquiums. Vgl. Nietzsche und die konservative Revolution, hg. v. Sebastian Kaufmann und Andreas Urs Sommer, Berlin und Boston 2018. https://doi.org/10.1515/9783110729658-011
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Chiffre des Nihilismus.² Besonders wirkmächtig für diese Konnotation war Heideggers Deutung in seinen Nietzsche-Vorlesungen, die jedoch deutlich durch Ernst Jünger und die frühe Nietzsche-Forschung geprägt wurde. Im ersten Teil des Aufsatzes zeige ich daher anhand der Nietzsche-Lektüren Heideggers und Jüngers, wie ihre Analyse des Verses von ihrem jeweiligen Nihilismus-Begriff bestimmt wird und wie sie das Zitat aus dem Kontext lösen und für ihre Argumentation nutzen. Im zweiten Teil zeichne ich nihilistische Lektüren von Nietzsches Gedicht in der Nachfolge Heideggers nach und schlage eine Lektüre vor, die eine solche nihilistische Lektüre vom Text her in Frage stellt. Im dritten Teil analysiere ich Benns modernistischen Prosatext „Der Garten von Arles“ (1920) als frühes Beispiel einer Lektüre Nietzsches, die sich von den nihilistischen Nietzschedeutungen abhebt und die eine andere Linie der Nietzschedeutung und zugleich der produktiv schriftstellerischen Rezeption eröffnet.
1 Die Wüste als Sinnbild des Nihilismus 1.1 Heideggers Nietzsche-Auslegung im Zeichen der Kulturkritik: Paronomasie und Wiederholung Heideggers philosophischer Zugriff auf Nietzsches Schriften macht eine Tendenz der Nietzsche-Rezeption explizit und programmatisch, die die Nietzsche-Lektüren des frühen 20. Jahrhunderts ohnehin beherrscht: die radikale Anwendung der kulturkritischen Analysen Nietzsches auf die eigene Gegenwart.³ Heidegger ver Dabei entwickeln Heidegger, Jünger und Benn jeweils eigene Deutungen dessen, was das Wort Nihilismus bedeutet, die sich nochmals von den verschiedenen Bedeutungsnuancen des Wortes Nihilismus bei Nietzsche unterscheiden. Zu einer Übersicht über Nietzsches Verwendung des Nihilismus-Begriffs vgl. Elisabeth Kuhn: Friedrich Nietzsches Philosophie des europäischen Nihilismus, Berlin und New York 1992, sowie in literarhistorischer Perspektivierung Bruno Hillebrand: Ästhetik des Nihilismus. Von der Romantik zum Modernismus, Stuttgart 1991. Wegweisend hierfür ist Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“ (1918/1922). Vgl. dazu Reinhard Wilczek: Nihilistische Lektüre des Zeitalters. Ernst Jüngers Nietzsche-Rezeption, Trier 1999, S. 26 – 28. Auch Heidegger verweist in seiner Nietzsche-Vorlesung vom Sommer 1937 auf die populäre Bedeutung Spenglers: „Welche Offenbarung war es vor zwei Jahrzehnten (1918) für die Menge derer, die mit dem wirklichen Denken und seiner reichen Geschichte unvertraut sind, als Spengler erstmals entdeckt zu haben glaubte, daß jedes Zeitalter und jede Kultur ihre eigene Weltanschauung haben! Gleichwohl war alles nur eine sehr geschickte und geistreiche Popularisierung von Gedanken und Fragen, die längst – und zuletzt von Nietzsche – tiefer gedacht, aber keineswegs bewältigt wurden und bis zur Stunde nicht bewältigt sind. Der Grund dafür ist ebenso einfach wie schwerwiegend und schwer zu durchdenken.“ Martin Heidegger: Gesamtausgabe, Bd. 6.1: Nietzsche I (1936 – 1939), hg. v. Brigitte Schillbach, Frankfurt a. M. 1996, S. 321. Heideggers
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sucht, die populäre kulturphilosophische Anwendung Nietzsches noch zu überbieten, indem er Nietzsches Einsichten nicht in der Gegenwart eingelöst sieht, sondern ihre Realisierung in die Zukunft aufschiebt. Dies lässt sich gut an der Vorlesung „Was heißt Denken?“ (veröffentlicht 1954) zeigen, die erste Vorlesung, die Heidegger nach seinem fünfjährigen Lehrverbot in Freiburg ab dem Wintersemester 1951/52 hielt. Dort formuliert er, dass das Denken eine erst noch zu leistende Aufgabe sei, aber auch diese Aussage wird wieder in den Sog seiner Reflexion miteinbezogen, wie das eigene Denken vom Nihilismus-Vorwurf freizuhalten wäre. Damit zeigt sich deutlich, wie eng denkende Reflexion und Nihilismus in Heideggers Analyse begrifflich miteinander verknüpft sind. Die Mode einer klischeehaften Rede von der Dekadenz Europas gelte es zu vermeiden oder zumindest als Vorwurf abzuwehren: Nun sieht es so aus, als gehöre die Behauptung „das Bedenklichste in unserer bedenklichen Zeit ist, daß wir noch nicht denken“ gleichfalls in das Konzert der Stimmen, die das heutige Europa als krank und das gegenwärtige Zeitalter als im Niedergang begriffen abschätzen. (HGA 8, 31)
Heideggers ‚aber’ folgt jedoch sogleich. Ihm geht es gerade nicht per se um die pessimistische Diagnose der Gegenwart, sondern um die Wiederaufnahme einer analytischen Reflexion, die als solche aber selbst mit dem Kernproblem des Nihilismus innig verquickt ist. Ebenso Nietzsche wie auch Heidegger sind dann in der Position, sich innerhalb des nihilistischen Denkens aus diesem befreien zu müssen. An einer solchen „Herausdrehung“ (HGA 87, 162)⁴ Nietzsches aus der Metaphysik beziehungsweise dem Nihilismusverdacht ihm gegenüber arbeitet Heidegger sich in seinen Nietzsche-Vorlesungen der 1930er und 1940er Jahre konsequent ab. In der späteren Distanzierung von Nietzsche und vom Nihilismus geht es ihm zentral auch um die Abgrenzung von der eigenen nationalsozialistischen Vergangenheit. Der Kritik des Nihilismus liegt zunächst die Einsicht zugrunde, dass die Gegenwart als nihilistische zu analysieren wäre: Man findet, die Welt sei nicht nur aus den Fugen, sondern sie rollt weg ins Nichts des Sinnlosen. Nietzsche sagt, alldem weit vorausblickend aus höchstem Standort, bereits in den
Werke werden im Folgenden nach dieser Ausgabe unter der Sigle „HGA“ im laufenden Text nachgewiesen. Zu Heideggers Rezeption von Spenglers „Untergang des Abendlandes“ vgl. Ad Verbrugge: Heimkehr des Abendlandes. Nietzsche und die Geschichte des Nihilismus im Denken von Spengler und Heidegger, in: Heidegger-Jahrbuch 2 (2005), S. 222– 238. Dort spricht Heidegger von einer „Herausdrehung aus dem Platonismus“, die Nietzsches Denken kennzeichne. Vgl. auch HGA 6.1, 204, 206 u. 212.
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achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts dafür das einfache, weil gedachte Wort: „Die Wüste wächst“. (HGA 87, 162)
Heidegger wählt zur Veranschaulichung von Nietzsches kulturanalytischer Denkleistung den Satz „Die Wüste wächst“, weil dieser den Nihilismusgedanken auf eindrückliche Weise versinnbildlicht und zugleich den begrifflichen Fokus seines philosophischen Interesses unterstützt. Das auf eine Semantik des Organischen weisende Verb ‚wachsen‘ bildet die begriffliche Dynamik treffend ab. In der Verschmelzung des Organischen (des Wachsens) mit dem Toten (der Wüste) ergibt sich jedoch eine ‚unheimliche‘ Konstellation, die eine Bedeutungsnuance des ‚Bedenklichen‘ ausspricht, mit der Heidegger sprachlich spielt, auch wenn er seinen Begriff des Denkens von dieser Assoziation freihalten will.⁵ Das Sprachspiel setzt sich im Wort Verwüstung fort.⁶ Die Wortbildung orientiert sich an Nietzsches zentralem Satz „Die Wüste wächst“ und folgert aus der Dynamik der wachsenden Wüste eine Bewegung, die folglich auf den Begriff Verwüstung verknappt werden kann. Heidegger analysiert Nietzsches Satz nämlich wie folgt: „Das will sagen: die Verwüstung breitet sich aus.“ (HGA 8, 31) Damit ist die Verwüstung als Begriff gewonnen, der weiter analysiert werden kann: Die Verwüstung ist unheimlicher als die bloße Vernichtung. Auch diese beseitigt und zwar auch noch das Nichts, während die Verwüstung das Unterbindende und Verwehrende gerade bestellt und ausbreitet. (HGA 8, 31)
In dieser scheinbar nur analytischen Vorgehensweise wird die entscheidende Verbindung zum semantischen Feld des ‚Nichts‘ und der ‚Vernichtung‘ hergestellt und damit die Anknüpfung an den Begriff des Nihilismus vorbereitet. In der Entgegensetzung wird die Vernichtung als zerstörerisch, die Verwüstung als produktiv gefasst. Dialektisch gewendet ist das, was die Verwüstung jedoch vermehrt („bestellt und ausbreitet“), genau die Zerstörung oder die Verhinderung von Wachstum („das Unterbindende und Verwehrende“). Damit ist der Weg einer dialektischen Ausgestaltung der Verwüstung eröffnet, während die Vernichtung nur zerstörerisch wirke. Sie wird von Heidegger auf die Zivilisation, also auf eine
Vgl. HGA 8, 32: „Mit diesem Wort meinen wir, ohne jeden abträglichen Nebenton, das, was uns zu denken gibt, nämlich das, was bedacht sein möchte. Das so verstandene Bedenkliche braucht keinesfalls das Besorgniserregende oder gar Verstörende zu sein.“ Zur Paronomasie als Mittel der imitierenden Aneignung in Heideggers Interpretationsverfahren vgl. Christoph König: „O komm und geh“. Skeptische Lektüren der ‚Sonette an Orpheus‘ von Rilke, Göttingen 2014, S. 201– 202.
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menschliche, historische und globale Dimension erweitert, bewegt sich also im Kontext der zunächst in Spenglers Theorie angezeigten Kulturkritik: Die Verwüstung der Erde kann mit der Erzielung eines höchsten Lebensstandards des Menschen ebenso zusammengehen wie mit der Organisation eines gleichförmigen Glückszustandes aller Menschen. (HGA 8, 31)
Das Heimtückische der Verwüstung besteht schließlich in ihrer heimlichen Wirkung, die sich, so Heidegger, im Verborgenen entfalten kann: „nämlich dadurch, daß sie sich verbirgt.“ (HGA 8, 31) Damit erfüllt der Begriff der Verwüstung das Kriterium eines kulturkritischen Instruments, da die an der Oberfläche scheinbar intakte Zivilisation auf eine unsichtbare Weise unterhöhlt sein kann. So gelangt Heidegger zu seiner These (die sich auf die Lektüre des Satzes „Die Wüste wächst“ beruft), dass Nietzsches Denken in der europäischen Geschichte einen zugrunde liegenden Werteverfall annimmt, der unter den Schlagwörtern der Dekadenz oder des Nihilismus firmiert. Heidegger zieht aus Nietzsches Satz eine grundsätzliche Skepsis als Haltung, die für seine eigene Analyse der Gegenwart und die erkenntniskritische Prüfung des Meinens und Denkens als Grundlage der Kultur und Zivilisation der Gegenwart gelten soll. Sie soll zugleich seine eigene skeptische Haltung autorisieren. Indem Heidegger Nietzsche über das zeitgenössische Denken stellt, ihm also überzeitliche Aussagekraft zuspricht, erhebt er sich zugleich selbst über seine Zeit,⁷ eine Überhebung, über die das rhetorische „wir“ nicht hinwegzutäuschen vermag („Hören wir genauer hin! Die Behauptung sagt, daß wir noch nicht denken.“ [HGA 8, 31]). Erstaunlich ist, dass Heidegger seine gesamte Argumentation auf den gleichsam meditativ wiederholten Satz „Die Wüste wächst“ stützt, ohne auf den Kontext der Stelle näher einzugehen. Der Satz wird dabei als „Wort“ auratisch erhöht: „Wir betonen, dies Wort sei ein gedachtes. Es ist ein wahres Wort.“ (HGA 8, 40)⁸ Indem Heidegger den Satz aus Nietzsches Text heraushebt, bemüht er sich zugleich deutlich zu machen, dass er den Umgang mit dem Zitat hermeneutisch reflektiert hat. Die Gefahr einer verfälschenden Aneignung wird daher explizit reflektiert: „Was einmal Schrei war: ‚Die Wüste wächst…‘, droht zum Geschwätz
Dazu passt, dass Heidegger sein eigenes Werk als überzeitlich konstruiert und beispielsweise seine Nietzsche-Vorlesungen später mit stillschweigenden Eingriffen in den Text publiziert. Vgl. dazu Katrin Meyer: Denkweg ohne Abschweifungen. Heideggers Nietzsche-Vorlesungen und das Nietzsche-Buch von 1961 im Vergleich, in: Heidegger-Jahrbuch 2 (2005), S. 132– 156. Vgl. auch HGA 8, 50: „Dieses Wort wurde gegen andere Aussagen über die heutige Zeit ausdrücklich abgehoben, nicht nur seines besonderen Inhalts wegen, sondern vor allem im Hinblick auf die Weise, in der es spricht.“
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zu werden.“ (HGA 8, 52) Dabei geht es vor allem um die Abgrenzung von anderen Auslegungen, aber zugleich betrifft die Frage auch Heideggers eigenen deutenden Umgang mit dem Zitat. Einen Satz aus dem Kontext herauszulösen macht den Auslegenden in besonderer Weise angreifbar. Folgerichtig bemüht sich Heidegger darum, die eigene Auslegung möglichst zu autorisieren: „Demgemäß lenkten wir sogleich am Beginn des Weges unser Ohr auf ein Wort Nietzsches, das ein Ungesprochenes zu hören gibt: ‚Die Wüste wächst: weh dem, der Wüsten birgt!‘“⁹ (HGA 8, 59 – 60) Heidegger versucht, seinen Anspruch einer mit dem Denken Nietzsches übereinstimmenden Deutung dadurch zu rechtfertigen, dass er dieses in ein umfassendes System bringt, in dem die philosophischen Begriffe Nietzsches in Relation gesetzt werden, etwa der Begriff der wachsenden Wüste mit dem Übermenschen.¹⁰ Heideggers Deutung reflektiert dabei sogleich die Rezeptionsebene, denn, so Heidegger, der Sinn des Zitates liegt genau in der Rezeptionsgeschichte, die es hervorgerufen hat: Hat Nietzsche hier an sich selbst gedacht? Wie wenn er gewußt hätte, daß er ein vorläufiger Übergang sein müsse, voraus- und zurückweisend und darum überall zweideutig, sogar noch in der Art und im Sinne des Übergangs? Alles Bedachte spricht dafür, daß es so ist, wie Nietzsche selber es wußte und was er deshalb oft in Rätselworten aussprach. (HGA 8, 54)
Der Rekurs auf die Autorintention Nietzsches hat hier den Zweck, den Weg für eine Legitimation der eigenen Deutung zu bahnen. Metaphorisch ist der Weg für Heidegger in „Was heißt Denken?“ synonym mit einem Denken, das er so spezifiziert, dass es vorrangig ihm selbst vorbehalten bleibe oder doch in der Vergangenheit oder Zukunft verortet werden müsse. Deshalb gilt ihm Nietzsches Denken als „voraus- und zurückweisend“, weil es das eigene Denken legitimieren, aber dennoch unfasslich bleiben soll, sodass es zeitlich nicht verortbar ist. Das Wort Übergang bringt diese zeitliche Legitimationspolitik auf den Begriff. Das Wissen stecke in den „Rätselworten“ – daher die Notwendigkeit einer Auslegung oder eines ‚Gesprächs‘, das Heideggers hermeneutische Intervention legitimiert.
Zu Heideggers Offenbarungs-Hermeneutik und der hermeneutischen Metapher des Hörens vgl. Jörg Appelhans: Heideggers ungeschriebene Poetologie, Tübingen 2002. Vgl. HGA 8, 63: „Wer ist der, dem hier das ‚weh‘ zugerufen wird? Es ist der Übermensch. […] Erneut bedarf es der Bemerkung: weil der Satz vom Bedenklichsten unserer bedenklichen Zeit – daß wir noch nicht denken – mit Nietzsches Wort von der wachsenden Wüste zusammenhängt, weil in diesem Wort jedoch der Übermensch gedacht ist, müssen wir versuchen, das Wesen des Übermenschen so weit zu verdeutlichen, als unser Weg dies fordert.“
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1.2 Jüngers Nietzsche-Montage im Zeichen politischer Zeitdiagnose: Semiotik und Physiognomie Mit großer Wahrscheinlichkeit ist Heideggers Nietzsche-Deutung im Zeichen des Nihilismus stark von Ernst Jünger geprägt.¹¹ Daher zeige ich im Folgenden, auf welche Weise Jünger mit dem Zitat „Die Wüste wächst“ verfährt und inwiefern dessen Deutung den Nietzsche zugeschriebenen Nihilismus-Begriff begründet und verfestigt.¹² In Jüngers Schriften, vor allem von den 1920er bis in die 1950er Jahre, ist Nietzsche ein zentraler Referenzpunkt. In der Intensität und Dauer der Nietzsche-Beschäftigung ist Jüngers Nietzsche-Verhältnis daher dem Heideggers vergleichbar.¹³ Während Heidegger jedoch die Identifikation mit Nietzsches Denken mittels einer kritischen Analyse seiner Rezeption abzumildern sucht, findet Jünger in der poetischen Fiktionalisierung einen Weg der Distanzierung. So in seiner Erzählung „Auf den Marmorklippen“ aus dem Jahr 1939, der sich in allegorischer Weise mit dem Nationalsozialismus befasst.¹⁴ Indem die Vertreter des an die SS erinnernden „Mauretanierordens“ als begeisterte Nietzsche-Adepten vorgeführt werden, ist zugleich eine Distanzierung von jener Haltung möglich, die ambivalent bleibt.¹⁵ Doch gerät auch Nietzsche selbst in den Verdacht, einem „verhängnisvollen politischen Vitalismus“¹⁶ das Wort zu reden. Im Sinne einer nihilistischen Weltdeutung werden Wüste und Urwald zu Symbolen eines entfesselten Machtwillens, den der auktoriale Erzähler wie folgt analysiert:
Vgl. hierzu Michael E. Zimmermann: Die Entwicklung von Heideggers Nietzsche-Interpretation, in: Heidegger-Jahrbuch 2 (2005), S. 97– 116, hier: S. 107– 113. Laut Paul van Tongeren sei es aber vor allem Heideggers Nietzsche-Deutung, die den Begriff des Nihilismus wirkmächtig mit Nietzsche verknüpft habe, vgl. Paul van Tongeren: Friedrich Nietzsche and European Nihilism, Newcastle upon Tyne 2018, S. 106: „But Heidegger is the first to put nihilism at the core of Nietzsche’s thought as a result of his way of interpreting Nietzsche’s philosophy.“ Die Bedeutung Jüngers für Heideggers Nietzsche-Deutung wird hier aus einer Bevorzugung der philosophischen Rezeption unterschätzt. Dabei stellt die Festlegung Jüngers auf das Nihilismus-Problem selbst eine Vereinfachung dar, die sich jedoch bereits in der Forschung der 1940er Jahre etabliert hat, wie Steffen Martus: Ernst Jünger, Stuttgart und Weimar 2001, S. 4, erläutert. Zum schriftlichen Dialog zwischen Heidegger und Jünger ab etwa 1950 vgl. Martin Meyer: Ernst Jünger, München und Wien 1990, S. 483 – 490. Vgl. Wilczek: Nihilistische Lektüre [Anm. 3], S. 141. Zur Mehrdeutigkeit und politischen Unentschiedenheit des Textes vgl. Martus: Jünger [Anm. 12], S. 123 – 137. Wilczek: Nihilistische Lektüre [Anm. 3], S. 143.
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Es sei nur angedeutet, daß zwischen dem ausgeformten Nihilismus und der wilden Anarchie ein tiefer Gegensatz besteht. Es handelt sich bei diesem Kampfe darum, ob die Menschensiedlung zur Wüste oder zum Urwald umgewandelt werden soll.¹⁷
Die Wüste ist als Symbol des Nihilismus ausgestaltet. Der Gegensatz zwischen Urwald und Wüste bildet eine Systematisierung,¹⁸ die sich auf die Ordnung der „Dionysos-Dithyramben“ zurückführen lässt, geht es im ersten Dithyrambus „Nur Narr! Nur Dichter!“ ja explizit um eine Topografie des Urwalds sowie im zweiten Dithyrambus „Unter Töchtern der Wüste“ um die der Wüste. Die kompositorische Anordnung wird so von Jünger in eine Systematik überführt. Das Verb „soll“ impliziert den Verdacht, dass Nietzsches Analyse zugleich eine ethische Aufforderung in Bezug auf die Menschheit („die Menschensiedlung“) enthalte. Damit distanziert sich Jünger zugleich von seiner eigenen frühen Begeisterung für die aus Nietzsche-Fragmenten kompilierte Schrift „Der Wille zur Macht“, die ihn einige Jahre zuvor zu einer positiven Vision des Nihilismus geführt hatte.¹⁹ Im weiteren Verlauf der zitierten Passage wird das Nietzsche-Zitat eingefügt, um die Schülerschaft von Braquemart zu kennzeichnen: Was Braquemart betrifft, so waren alle Züge des späten Nihilismus an ihm sehr ausgeprägt. […] Wenn man ihn sah, dann mußte man an den tiefen Ausspruch seines Meisters denken: „Die Wüste wächst – weh dem, der Wüsten birgt!“ (JSW 15, 317– 318)
Jünger markiert das Nietzsche-Zitat, um das später Heideggers Vorlesung „Was heißt Denken?“ kreist, in seiner Erzählung als ideologischen Leitspruch, der nicht nur das politische Denken einer Gemeinschaft, sondern die Physiognomie ihres Anhängers bis ins Einzelne bestimmt und auf diese Weise konkrete Gestalt annimmt. Die Figur Braquemart ist so der Gestalt gewordene Sinn eines Zitates, das ebenso abstrakt den „Meister“ Nietzsche repräsentiert, wie es den Schüler charakterisiert. Die Loslösung des Zitates aus dem Kontext ermöglicht so allererst die ideologische Verwendung und Pervertierung, indem gezeigt wird, wie sich ein Zitat in die Physiognomie seines unvorsichtigen Lesers nachhaltig einschreiben kann. Die politische Wertung eines solchen Nietzscheanismus bleibt jedoch offen,
Ernst Jünger: Auf den Marmorklippen, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 15: Erzählende Schriften I, Stuttgart 1978, S. 247– 351, hier: S. 317. Die Werke Jüngers werden im Folgenden nach dieser Ausgabe unter der Sigle „JSW“ im laufenden Text nachgewiesen. Zur topografischen Entgegensetzung von Wald und Wüste in Jüngers Schriften vgl. Niels Penke: Ernst Jünger und der Norden. Eine Inszenierungsgeschichte, Heidelberg 2012, und zur Einordnung des Nietzsche-Zitates in „Der Waldgang“ besonders S. 165. Vor allem im „Arbeiter“ von 1932, vgl. hierzu die Analyse von Wilczek: Nihilistische Lektüre [Anm. 3], S. 86 – 118.
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da sich Braquemart zugleich als widerständig gegen den Mauretanierorden erweist und aufgrund seiner Widerstandshaltung getötet wird (vgl. JSW 15, 336 – 339). In einem weiteren Text zitiert Jünger den Wüsten-Satz Nietzsches, um den nihilistischen Wertverfall der Gegenwart zu illustrieren. In seinem Essay „Der Waldgang“ aus dem Jahr 1951 – das Jahr, in dem Heidegger seine Vorlesung „Was heißt Denken?“ hält – reflektiert Jünger über politische Verhältnisse, ökonomische und soziale Fragen und über die gesellschaftliche Rolle der Religion, deren Wertverlust eine Leerstelle hervorgebracht habe: Damit berühren wir den Kernpunkt des modernen Leidens, die große Leere, die Nietzsche als das Wachsen der Wüste bezeichnet hat. Die Wüste wächst: das ist das Schauspiel der Zivilisation mit ihren entleerten Beziehungen. In dieser Landschaft wird die Frage nach der Wegzehrung besonders brennend, besonders eindringlich: „Die Wüste wächst, weh dem, der Wüsten birgt.“ (JSW 7, 335)
Jüngers Montage des Nietzsche-Zitats erfolgt in zwei Schritten.²⁰ Der Satz „Die Wüste wächst“ wird zuerst ohne Anführungszeichen in den eigenen Text integriert, von ihm ununterscheidbar gemacht, schließlich als Zitat explizit zitiert, aber, unter Abweichung von der originalen Interpunktion, dem eigenen Prosarhythmus angeglichen. Das Wachsen der Wüste wird auch hier zu einem festen Begriff des Nihilismus, die Wüstentopografie zu einem in die Gegenwart übertragbaren Symptom eines kulturellen Wertverfalls. Jünger thematisiert zudem explizit die semiotische Leistung Nietzsches, die Wüste als Zeichen mit Bedeutung aufzuladen („die große Leere, die Nietzsche als das Wachsen der Wüste bezeichnet hat“), wobei die Metapher der Wüste allererst analytisch ein Phänomen beschreibbar macht, das bisher ohne jenes Bild nicht ausreichend erfasst werden konnte. Die Metapher erlaube gleichsam, etwas zu denken, das bisher nicht gedacht werden konnte.²¹ Jünger nimmt die Metaphorik auf und deutet die Topografie weiter aus: Die Oase wird zum Sinnangebot der Religion, das auf eine Illusion gebaut ist, aber dennoch eine vorübergehende Linderung des Sinnverlusts schafft: „Gut, wenn die Kirche Oasen schaffen kann. Besser, wenn sich der
Zur Montage als modernem literarischen Verfahren bei Jünger und in literarhistorischer Perspektive vgl. Jürgen Kron: Weltliteratur als Montage. Ernst Jünger im Ausgang der Avantgarde, in: Weltliteratur heute. Konzepte und Perspektiven, hg. v. Manfred Schmeling, Würzburg 1995, S. 123 – 140. Vgl. hierzu Jutta Georg: „Hat man mich verstanden?“ Nietzsche: Philosophieren in Metaphern, Stuttgart 2018, S. 32, die das Erkenntnispotential der Metapher zugleich einschränkt: „Noch ist die Metapher nicht das ausgewiesene Substitut für den Begriff, auch wenn sie ihm erkenntnismäßig überlegen scheint, und etwas leistet, was diesem unmöglich ist: Das Unsagbare zu vermitteln.“
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Mensch auch damit nicht beruhigt.“ (JSW 7, 335) Jünger gestaltet die Metaphorik weiter aus, indem er die Frage nach Nahrung sowohl mit der ‚Oase‘ wie auch mit der ‚Wegzehrung‘ als ‚brennender‘ Frage ergänzt. Dem wird topografisch der Garten entgegengesetzt, der symbolisch die Fruchtbarkeit im Menschen garantieren soll: „Weh dem, der Wüsten birgt: wer nicht, und sei es auch nur in einer Zelle, von jener Ursubstanz mit sich führt, die immer wieder Fruchtbarkeit verbürgt.“ (JSW 7, 336) Aus dem Wachstum schließt Jünger die organische Nahrung und Fruchtbarkeit – eine bildliche Ausgestaltung, der sich Nietzsches paradoxes Bild der wachsenden Wüste gerade verwehrt. Und doch zeigt sich die genaue Lektüre von Nietzsches Gedicht in Jüngers Weiterdichtung,²² da auch Nietzsches Gedicht am Ende des Dithyrambus, dem das Wüsten-Zitat entnommen ist, sich einer Metaphorik des Verzehrens bedient: „die Wüste schlingt und würgt […] sein [des Todes] Leben ist sein Kaun …“²³ Auch andere Wörter nimmt Jünger aus dem Dithyrambus auf: den Zweifel und die Sphinx, die den Menschen befragt (vgl. JSW 7, 336). Jünger präfiguriert in seiner essayistischen Fortführung von Nietzsches Metaphorik Heideggers Reflexion in „Was heißt Denken?“ bis hin zum rhetorisch fragenden und suchenden Gestus und dem assoziativen Sprachspiel. Während Jüngers Analyse sich jedoch umfassend auf eine Lektüre von Nietzsches Dithyrambus bezieht, konzentriert sich Heidegger auf die Meta-Analyse des Zitates und der Ausführungen Jüngers, sodass seine eigene Analyse nur ein schwaches Echo auf Jüngers Essay bildet.
2 „Unter Töchtern der Wüste“ – Lektüren jenseits des Nihilismus-Verdachts Heideggers nihilistische Deutung von Nietzsches Gedicht „Unter Töchtern der Wüste“ aus dem vierten Teil des „Zarathustra“ geht vorrangig von einem einzel-
Wilczeks eigene Deutung von Nietzsches Dithyrambus wird der weiterdichtenden Deutung Jüngers jedoch nicht gerecht, wenn sie die von Jünger etablierte Nihilismus-Diagnose durch das abgeknabberte Bein der Tänzerin zu belegen sucht, vgl.Wilczek [Anm. 3], S. 177: „Die symbolische Bedeutung dieser Deprivation dürfte klar sein: Zweifel und Schmerz sind die vorherrschenden Lebensäußerungen des metaphysisch entwurzelten Menschen, dem im wahrsten Sinne des Wortes etwas Substantielles fehlt.“ Jüngers Deutung ist abstrakt-philosophisch und bleibt gerade nicht auf der wörtlichen Ebene des Gedichts. Friedrich Nietzsche: Unter Töchtern der Wüste, in: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 6, München 1980, S. 381– 387, hier: S. 387. Die Werke Nietzsches werden im Folgenden nach dieser Ausgabe unter der Sigle „NKSA“ im laufenden Text nachgewiesen.
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nen Vers aus („D i e W ü s t e w ä c h s t : w e h d e m , d e r W ü s t e n b i r g t …“ [NKSA 6, 382]), der sich nochmals in dem Epigramm wiederholt, das Nietzsche in der Überarbeitung von 1888 – 1889 an den Schluss des Gedichts gesetzt hat:²⁴ Die Wüste wächst: weh dem, der Wüsten birgt! Stein knirscht an Stein, die Wüste schlingt und würgt. Der ungeheure Tod blickt glühend braun und k a u t , – sein Leben ist sein Kaun… Ve r g i s s n i c h t , M e n s c h , d e n Wo l l u s t a u s g e l o h t : d u – b i s t d e r S t e i n , d i e W ü s t e , b i s t d e r T o d … (NKSA 6, 387)
Der Dithyrambus besteht darüber hinaus aber noch aus einem narrativen Teil (1.), dem einzelnen Vers (2.) und einem lyrischen Teil (3.), die weitestgehend, aber mit einigen Änderungen in Versumbruch und Interpunktion, von Nietzsche aus dem vierten Teil von „Also sprach Zarathustra“ übernommen wurden.²⁵ Die Coda (4.) verschiebt den inhaltlichen Fokus des Gedichts noch einmal entscheidend, indem es das als leichte ‚Kost‘ angekündigte „Nachtisch-Lied“ (NKSA 4, 380; NKSA 6, 382) (3.) nochmals mit einem Kommentar versieht, der gerade in der nihilistischen Deutung als drohendes und moralisierendes Mahnwort gelesen wird. Dem steht aber eine andere Lektüre gegenüber, die den humoristischen und parodistischen Aspekt von Nietzsches Dithyrambus stärker in den Vordergrund stellt. Die verschiedenen Perspektiven ergeben sich unter anderem daraus, welchem der vier Teile des Gedichts der Vorrang in der Deutung eingeräumt wird. Zunächst möchte ich zwei Deutungen vorstellen, die auf verschiedene Weise eine nihilistische Lektüre des Gedichts begründen, um schließlich zu zeigen, wie ein Fokus auf den Lied-Teil des Gedichts zu einer anderen Deutung führt. Die These des Nihilismus ist insgesamt stark von Heideggers Deutung in „Was heißt Denken?“ geprägt.²⁶ So deutet auch Volkmann-Schluck den Vers „Die Wüste wächst“ entsprechend als Ausdruck der nihilistischen Erkenntnis, dass das Leben
Zur Entstehung der „Dionysos-Dithyramben“ vgl. Wolfram Groddeck: Friedrich Nietzsche. „Dionsysos-Dithyramben“, 2 Bde., Berlin und New York 1991, Bd. 1, S. XVII – XXVI. Groddeck gibt jedoch nur die Textgenese der neu verfassten Dithyramben, nicht jener aus dem „Zarathustra“Kontext. Zur Einordnung des gereimten Gedichts als Epigramm vgl. ebd., Bd. 2, S. 85 – 90. Vgl. NKSA 4, 379 – 385, und zur Textgenese Groddeck: Dionysos-Dithyramben [Anm. 24], Bd. 2, S. 47. Vgl. etwa Eike Brock: Nietzsche und der Nihilismus, Berlin, München und Boston 2015, S. 363, Anm. 574, der Heideggers Deutung affirmiert.
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selbst „das Währen des Todes“²⁷ sei. Der Schatten Zarathustras als lyrisches Ich des Dithyrambus repräsentiert nach Volkmann-Schluck ein Fehlverständnis der Lehre Zarathustras und steht für die nihilistische Gefahr, dass die Einsicht in die Sinnlosigkeit zur alles beherrschenden Wahrheit werden könnte. Der erkannten Sinnlosigkeit wäre mit Nietzsche durch einen starken Willen zu begegnen (Volkmann-Schluck geht mit Heidegger vom Begriff des „Willens zur Macht“ und von einer philosophischen Systematik aus). Zarathustras moralischer Lehranspruch (in der Lehre des Übermenschen) sei aus nihilistischer Perspektive uneinlösbar. Eine Karikatur einer solchen fehlgehenden moralischen Überlegenheit sieht Volkmann-Schluck folglich im Dithyrambus ausgeführt, wobei dem Protagonisten von Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ eine moralische Lehre nicht einfach zugeschrieben werden kann:²⁸ Eine solche Möglichkeit der zynischen Selbstentlarvung begleitet Zarathustra als sein unabtrennbarer Schatten, den er selbst wirft. Denn die Lehre von der ewigen Wiederkunft ist zugleich die extremste Form des Nihilismus […].²⁹
Das lyrische Ich nimmt nach Volkmann-Schlucks Deutung eine Haltung ein, die in die Gebärde des Moralisierens (so deutet er die Luther-Anspielung „Und da stehe ich schon, / als Europäer, / ich kann nicht anders, Gott helfe mir! / Amen!“ [NKSA 6, 387]) zurückfällt und damit den Anspruch einer neuen Willensstärke, die auch den Werteverfall nach dem Tod Gottes aushalten könne, preisgibt. Die Coda deutet er schließlich so, dass die Stimme des Schattens (das lyrische Ich des Gedichts unter Ziffer 3) auf eine tiefere Wahrheit hin transzendiert wird – eine Annahme, die wiederum Nietzsches metaphysikkritischer Vorsicht in epistemologischen Fragen deutlich widerspricht: Auf dem höchsten Gipfel der Betrachtung entbreitet sich das von Zarathustra als ewige Wiederkehr des Gleichen gefeierte Sein als die alles Leben unterbindende Wüste, aus welcher dem Menschen die fürchterliche Mahnung entgegentönt, dessen eingedenk zu sein, daß er, der Mensch, selbst der Stein, die Wüste, der Tod sei. ³⁰
Karl-Heinz Volkmann-Schluck: Nietzsches Gedicht „Die Wüste wächst, weh dem, der Wüsten birgt…“, in: Ders.: Leben und Denken. Interpretationen zur Philosophie Nietzsches, Frankfurt a. M. 1968, S. 115 – 150, hier: S. 138. Aus der umfangreichen Forschungsdiskussion sei exemplarisch verwiesen auf Werner Stegmaier: Anti-Lehren. Szene und Lehre in Nietzsches ‚Also sprach Zarathustra‘, in: Friedrich Nietzsche. Also sprach Zarathustra, hg. v. Volker Gerhardt, Berlin 2000, S. 191– 224. Volkmann-Schluck: Leben und Denken [Anm. 27], S. 140. Volkmann-Schluck: Leben und Denken [Anm. 27], S. 140.
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Im Epigramm am Schluss des Gedichts werde also die Sprecherperspektive entindividualisiert, um die Allgemeingültigkeit des Gesagten zu betonen und zugleich die Bedrohlichkeit zu steigern: „Der Schatten wächst ins Riesenhafte, er hüllt alles in sein Dunkel ein, in das Zarathustras Verkündigung versinkt.“³¹ Volkmann-Schluck schreibt ausgehend von der Vorannahme einer metaphysischmoralischen Bedeutsamkeit dem ernsten Epigramm gegenüber dem ironischen Lied eine höhere Erkenntnisposition zu. „Die Wüste wächst“ wird damit zu einer universalisierbaren Sentenz mit Wahrheitsanspruch, die zudem einer simplen moralisierenden Sinnaussage diene. Auf ganz anderer Ebene ist der Nihilismus-Begriff in Erich Meuthens Deutung angesiedelt. Er sieht den zweiten Dithyrambus als Exempel einer Redeweise der Sinnauflösung im Gedicht: „‚An sich‘ besagt dieses Sprechen nichts mehr; von Bedeutung im herkömmlichen Sinne kann keine Rede sein.“³² Meuthen liest den Dithyrambus folglich als Ausdruck einer Sprachkrise. Er rekurriert auf Nietzsches biografische Erfahrung und knüpft damit an die psychoanalytisch geprägten Deutungen an,³³ die davon ausgehen, dass der Dithyrambus eine Ausgeburt erotischer Fantasie ist und auf das Erlebnis eines Bordellbesuchs zurückgeht.³⁴ Dieses Erlebnis werde im Gedicht metaphorisch verfremdet und in einer Verrätselung sprachlich kodiert. Entsprechend findet Meuthen in der Palme, die als „Tänzerin“ mit „Flitter-Röckchen“ imaginiert wird, eine erotische Frauendarstellung wieder, die er jedoch in Rekurs auf Derridas „Éperons“ (1978) in eine philosophische Wahrheitsdialektik eingliedert. Das Spielerische dieses sprachlichen Verfahrens verweise jedoch zugleich auf einen ernsten Sinn. Das Komödiantische und Parodistische des Dithyrambus kippe nämlich im Epigramm in bitteren Ernst, da die spielerische Erotik nur den Tod als tiefere Wahrheit verberge: Immer noch scheint es möglich, über die Figur des heruntergekommenen Europäers, der sich mit orientalischen Prostituierten und abgeschmackten Witzeleien amüsiert, spontan zu lachen, doch sprengen die Verzerrungen jedes Maß, kann sich der komische Effekt nicht recht entfalten – und am Ende sind wir nicht belustigt, sondern verstimmt.³⁵
Volkmann-Schluck: Leben und Denken [Anm. 27], S. 140. Erich Meuthen: Vom Zerreißen der Larve und des Herzens. Nietzsches Lieder der „höheren Menschen“ und die „Dionysos-Dithyramben“, in: Nietzsche-Studien 20 (1991), S. 152– 185, hier S. 181– 182. Vgl. C.A. Miller: Nietzsche’s „Daughters of the Desert“: a Reconsideration, in: NietzscheStudien 2 (1973), S. 157– 195, hier: S. 162– 164, für eine Übersicht über die frühe psychologische Forschung zum Dithyrambus. Vgl. Paul Deussen: Erinnerungen an Friedrich Nietzsche, Leipzig 1901, S. 24. Meuthen: Vom Zerreißen der Larve [Anm. 32], S. 184.
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Die entscheidende Wendung sieht folglich auch Meuthen in dem Epigramm, das mit dem Vers „Die Wüste wächst“ eingeleitet wird. Auch bei ihm findet eine Priorisierung der Ernsthaftigkeit gegenüber dem als ironisch gedeuteten Sprachspiel statt. Der Ausgang von den Schlussversen hat für die Deutung des Dithyrambus entscheidende Konsequenzen, da sie genau die nihilistische Sicht auf das Leben zu bestätigen scheint, dass alles sinnlos und dem Tod preisgegeben sei. Der Ton ist drohend und mahnend und die sentenzenhafte³⁶ Form unterstreicht die Verallgemeinerbarkeit des Gesagten. Der Sprecher scheint in Meuthens Deutung geradezu die dionysische Auflösung der Individualität formal und sprachlich nachzuvollziehen. Die Priorisierung eines bestimmten Teils des Dithyrambus – hier des Epigramms beziehungsweise des Einzelverses „Die Wüste wächst“ – hat Auswirkungen auf die Deutung des Gedichts.³⁷ Es ist daher aufschlussreich, dass zwei Beiträge der englischsprachigen Forschung von einem anderen Textbestand ausgehen, in dem das fragliche Epigramm am Schluss des Dithyrambus fehlt: C.A. Miller (1973) und Philip Grundlehner (1986). Beide gehen von einer Textgestalt aus, in der auch die Prosa-Einleitung fehlt und in der der Einzelvers „Die Wüste wächst: weh dem, der Wüsten birgt…“ das eigentliche Lied rahmt. Sie kennen auch das Epigramm am Schluss, betrachten es aber als weitere Variation der späteren Fassung der „Dionysos-Dithyramben“. Das textkritische Detail markiert einen entscheidenden Unterschied für die Deutung. Miller, der den Dithyrambus insgesamt für dunkel und schwer verständlich hält, sieht in den Schlussversen nur eine Weiterführung des Wüstenbildes, ohne dass dem Sinn des Gedichts etwas argumentativ hinzugefügt werde.³⁸ Grundlehner hält den nihilistischen Lektüren entgegen, dass die Coda nur bei oberflächlicher Lektüre als Anklage der Sinneslust verstanden werden könne, er kann daher in diesem
Vgl. Meuthen: Vom Zerreißen der Larve [Anm. 32], S. 184. Vgl. die Kritik an Volkmann-Schlucks Deutung bei Miller: Daughters of the Desert [Anm. 33], S. 165, sowie den Forschungsüberblick bei Philip Grundlehner: The Poetry of Friedrich Nietzsche, New York und Oxford 1986, S. 340, Anm. 45. Grundlehner listet eine Reihe von Positionen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf (Gustav Naumann, Paul Bjerre, Hans Weichelt, Johannes Klein, Friedrich Georg Jünger, Kurt Berger – in den 1950er und 1960er Jahren folgen Hans Wolff, Maria Bindschedler und Karl-Heinz Volkmann-Schluck), die den Wüstentopos auf unterschiedliche philosophische Motive beziehen und häufig bereits in einen nihilistischen Kontext stellen, der dann entweder positiv oder ablehnend bewertet wird. Grundlehner kritisiert jedoch alle dahingehend, dass sie keinen Bezug auf die Wüstenmetaphorik im Kontext des „Zarathustra“ nähmen. Jedenfalls ist die nihilistische Deutung des Wüstentopos keine Erfindung Ernst Jüngers oder Heideggers. Diese Forschungsgeschichte genauer aufzuarbeiten, wäre eine eigene Untersuchung wert. Vgl. Miller: Daughters of the Desert [Anm. 33], S. 162.
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Schluss gerade keinen Gestus der Verzweiflung, des Entsetzens oder der moralisierenden Mahnung finden.³⁹ Stattdessen spreche sich das Epigramm am Schluss für eine dionysische Weltsicht aus, die Wollust und Tod in eins setze, die aber gerade keine zerknirschende Einsicht darstelle, sondern vielmehr lebensbejahend sei: „In the affirmative context of becoming, then, passion and death are not to be eschewed but embraced.“⁴⁰ Der Tod sei also Teil jenes leidvollen Anteils des Lebens, der durch den Übermenschen überwunden werden soll,⁴¹ eine Forderung, die in der Deutung Volkmann-Schlucks für gescheitert erklärt wurde. Entsprechend liest Grundlehner auch das Verb ‚wachsen‘ in Hinblick auf eine produktive Integration des Schmerzes in ein tieferes Verständnis von Glück.⁴² Grundlehners Deutung könnte nun ebenfalls als moralisierend kritisiert werden, sie zielt jedoch mit dem Hinweis auf Dionysos auf eine immoralistische und wertfreie Betrachtung des Todes und rückt somit die Ästhetik des Gedichts in den Vordergrund. Die Betonung der moralischen Wertfreiheit wird durch die Betonung des humoristischen Tons des Gedichts unterstützt. Dieser Ton nimmt auch dem Eingangsvers (2. „Die Wüste wächst: weh dem, der Wüsten birgt…“) seinen bedrohlichen Nebensinn. Der Satz wird nämlich im Liedteil (3.) vom lyrischen Ich unmittelbar als „feierlich“ (NKSA 6, 382) persifliert und als Aussage eines „moralischen Brüllaffen“ (NKSA 6, 383) entlarvt:⁴³ Ha! Feierlich! ein würdiger Anfang! afrikanisch feierlich! eines Löwen würdig oder eines moralischen Brüllaffen… (NKSA 6, 383)
Auch das narrative Setting des Liedes (1.) bestärkt die eher fröhliche als getragene Darbietungsweise des Sängers. In diesem Rahmen beurteilt Grundlehner folglich auch den mahnenden Vers als scherzhafte, theatralische Übertreibung und Imitation einer moralisierend drohenden Geste.⁴⁴ Während der Löwe in „Also sprach Zarathustra“ unter anderem auch für den sich von moralischen Übereinkünften
Vgl. Grundlehner: Poetry [Anm. 37], S. 249. Grundlehner: Poetry [Anm. 37], S. 250. Vgl. Grundlehner: Poetry [Anm. 37], S. 250. Vgl. Grundlehner: Poetry [Anm. 37], S. 251. Vgl. Grundlehner: Poetry [Anm. 37], S. 240. Vgl. Grundlehner: Poetry [Anm. 37], S. 239 – 240: „The poem begins with his combination of jocosity and seriousness. It sets forth a moralistic pronouncement which is threatening in its import yet jesting in the exaggerated weightiness of its tone and language“.
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befreienden Geist steht und die Wüste für den Ort, an dem der Freigeist sich selbst findet,⁴⁵ wird ihm im Gedicht der „moralische[ ] Brüllaffe[ ]“ gegenübergestellt und so die Bedeutung verschoben. Die heldenhafte Haltung des lyrischen Ich (die Drohgebärde des Löwen) wird als moralische Farce entlarvt. Auch der zunächst aufgebaute Gegensatz zwischen der moralisierenden Haltung des Europäers und den Töchtern der Wüste wird im Lied unterlaufen, da sich der Blick des Europäers als Projektion erweist und dieser selbst von der Wüstenlandschaft verschlungen wird, da er ihrer Sinnlichkeit mit Wollust begegnet. Auf diese Weise dekonstruiert Nietzsche die Haltung des Europäers, der sich gegenüber dem von ihm imaginierten ‚Orient‘ vergeblich zu positionieren sucht. Dies ist wörtlich im Gedicht ausgeführt, wenn das lyrische Ich sich wechselweise liegend, sitzend oder stehend in Stellung bringt. Der Versuch einer moralischen Abgrenzungsbewegung führt zu einem Appell (vornehmlich an sich selbst, vorgeblich an die Mädchen), in dem das lyrische Ich sich an die eigene Haltung (in der Anspielung auf das berühmte, anekdotische Luther-Wort „Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“ am Ende des Liedes) erinnert und den mahnenden Schlussvers nochmals äußert. Für sich allein genommen kann der Vers „Die Wüste wächst: weh dem, der Wüsten birgt!“ drohend oder mahnend verstanden werden, aber sowohl die erzählende Einleitung als auch das Lied markieren eine ironische Distanzierung vom ernsten Gehalt des Verses.⁴⁶ Aus der Perspektive des Liedes ergibt sich folglich eine andere Deutung des Verses, die von der einleitenden Erzählung zusätzlich unterstützt wird. Entsprechend spricht Wolfram Groddeck von einer kommentierenden und auslegenden Funktion des Liedteils.⁴⁷ Dabei wird jedoch deutlich, dass der Sänger in seiner Auslegung nicht vorankommt. Seine Moralisierung verfehlt die Mädchen
Vgl. das Kapitel „Von den drei Verwandlungen“ in „Also sprach Zarathustra“, in: NKSA 4, 29 – 31, hier: 30: „Aber in der einsamsten Wüste geschieht die zweite Verwandlung: zum Löwen wird hier der Geist, Freiheit will er sich erbeuten und Herr sein in seiner eignen Wüste.“ An anderer Stelle ist die Wüste mit der Wissenschaft assoziiert, vgl. NKSA 2, 393. Der dortige Aphorismus 31 aus „Menschliches, Allzumenschliches II“ trägt den Titel „I n d e r W ü s t e d e r W i s s e n s c h a f t “, wo die philosophischen Systeme als Luftspiegelungen vorgestellt werden, derer sich manche nicht entziehen können: „Freilich bleiben andere Naturen, von der schönen Täuschung wie betäubt, stehen: die Wüste verschlingt sie, für die Wissenschaft sind sie todt“. Geht es im Aphorismus um die Versuchung der philosophischen Systematik, so im Dithyrambus um die Gefahr der moralischen Selbstgeißelung. Die ironische bzw. parodistische Grundhaltung des Gedichts betonen auch Gerhard Kaiser: Augenblicke deutscher Lyrik. Gedichte von Martin Luther bis Paul Celan, Frankfurt am Main 1987, S. 330, und Christoph König: Zweite Autorschaft. Philologie, Poesie und Philosophie in Friedrich Nietzsches ‚Also sprach Zarathustra‘ und ‚Dionysos-Dithyramben‘, Göttingen 2021, S. 189. Vgl. Groddeck: Dionysos-Dithyramben [Anm. 24], Bd. 2, S. 60 – 84.
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als Adressatinnen, weil er sich nur auf die eigene Projektion beziehen kann. Das lyrische Ich kommt sich in diesem Prozess selbst abhanden: Es fällt wörtlich in das „Maul“ der Oase, wird von ihm verschluckt, so in der zweiten Strophe des Liedes: Wunderbar wahrlich! Da sitze ich nun, der Wüste nahe und bereits so ferne wieder der Wüste, auch in Nichts noch verwüstet: nämlich hinabgeschluckt von dieser kleinsten Oasis – sie sperrte gerade gähnend ihr liebliches Maul auf, das wohlriechendste aller Mäulchen: da fiel ich hinein, hinab, hindurch – unter euch, ihr allerliebsten Freundinnen! Sela! (NKSA 6, 383)
In dieser Strophe wird die Verwüstung („in Nichts noch verwüstet“) aus dem Eingangsvers kommentiert. Der Einzelvers kann auf diese Weise der Erinnerung des lyrischen Ich zugeschrieben werden – sie steht in Zusammenhang mit dessen Begierde („solchen Mädchen zu Liebe erdachte ich damals einen NachtischPsalm“ [NKSA 6, 382]), aus der sich eine Dynamik von Nähe und Distanz („der Wüste nahe und bereits / so ferne wieder der Wüste“) und die Imagination und Ausgestaltung der metaphorischen Wüstentopografie ergibt. Die Strophe zeigt, dass die Auflösung in „Nichts“ keine bedrohliche metaphysisch-nihilistische Konsequenz heraufbeschwört, sondern dass sie aus der libidinösen Imagination („lüstern“ [NKSA 6, 384]) entsteht. Der Wunsch nach philologischer Korrektheit erzeugt in der folgenden, dritten Strophe beim Sprecher eine Haltung des Zweifels, der aber die Ausgestaltung des Bildarsenals zugleich anregt, indem sich eine gelehrte Assoziation anschließt. Philologischer Zweifel und sinnliche Bilderlust bedingen einander wechselseitig,⁴⁸ sodass der Konflikt des lyrischen Ich zwischen sich ausbreitender Sinn-
In Hegels „Phänomenologie des Geistes“ ist die unmittelbare sinnliche Gewissheit zugleich in besonderer Weise dem Zweifel ausgesetzt, vgl. G.W.F. Hegel: Werke in 20 Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 3: Phänomenologie des Geistes, Frankfurt a. M. 1969, S. 91: „denn der in diese Geheimnisse [der Eleusinischen Mysterien; E.F.] Eingeweihte gelangt nicht nur zum Zweifel an dem Sein der sinnlichen Dinge, sondern zur Verzweiflung an ihm und vollbringt in ihnen teils selbst ihre Nichtigkeit, teils sieht er sie vollbringen.“
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lichkeit und kontrollierender Einhegung der bildlichen Assoziation deutlich zu Tage tritt: Heil, Heil jenem Walfische, wenn er also es seinem Gaste wohlsein liess! – ihr versteht meine gelehrte Anspielung? … Heil seinem Bauche, wenn es also ein so lieblicher Oasis-Bauch war, gleich diesem: was ich aber in Zweifel ziehe. Dafür komme ich aus Europa, das zweifelsüchtiger ist als alle Eheweibchen. Möge Gott es bessern! Amen! (NKSA 6, 383)
Damit ergibt sich eine neue Deutung des Verses „Die Wüste wächst: weh dem, der Wüsten birgt!“: Indem das lyrische Ich versucht, die eigene Sinnlichkeit zu begrenzen, tritt genau das Gegenteil ein, die Wüste – im Epigramm mit Wollust synonym gesetzt – breitet sich aus und erfasst das Subjekt gleichsam von innen.⁴⁹ Die Oase wird damit als Spiegelung der Wüste und gerade nicht als Ort der Erholung und Erquickung lesbar. In der Oase setzt sich die Ausbreitung der Wüste vielmehr fort.⁵⁰ Im Kontext dieses (Selbst‐)Auslegungsprozesses, den das Lied bildet, sind sowohl die auffälligen Anspielungen an das Alte Testament als auch die zweifelnde Haltung des lyrischen Ich zu lesen, wie sie in der dritten Strophe thematisiert werden.⁵¹ Die dritte, fünfte und achte Strophe schließen mit „Amen!“ anstelle von „Sela.“ und setzen damit die Spaltung beziehungsweise Unentschlossenheit des lyrischen Ich auf anderer Ebene fort, indem die christlich-li-
Zur These, dass die Wüste in Nietzsches „Unter Töchtern der Wüste“ als Zustand im Ich und nicht als Topografie in Betracht kommt, vgl. Kaiser: Augenblicke deutscher Lyrik [Anm. 46], S. 335. Vgl. Groddeck: Dionysos-Dithyramben [Anm. 24], Bd. 2, S. 63. Miller: Daughters of the Desert [Anm. 33], S. 173, geht davon aus, dass die Wertungen von Oase und Wüste im Dithyrambus dem üblichen nihilistischen Verständnis gerade entgegengesetzt seien. Die Wüste sei folglich weder bedrohlich noch die Oase ein gültiger Zufluchtsort, sondern die Oase sei die Vorspiegelung einer falschen Sicherheit, die Wüste der Ort des Wahrheitssuchenden, vgl. etwa NKSA 4, 133: „In der Wüste wohnten von je die Wahrhaftigen, die freien Geister, als der Wüste Herren“. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass die Wüste als Wahrheits-Topos (ebenso wie die Figur des Wüsten-Heiligen) auch im Dithyrambus durchaus psychologisch problematisiert wird (etwa in Hinblick auf die Figur des Asketen, vgl. hierzu Sarah Kofman: L’imposture de la beauté, Paris 1995, S. 79). Vgl. Groddeck: Dionysos-Dithyramben [Anm. 24], Bd. 2, S. 66.
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turgische Sprache an die Stelle der Psalmenwendung gesetzt wird.⁵² Dabei nimmt das lyrische Ich den Standpunkt Luthers ein, wie in der letzten Strophe mit dem montierten Luther-Zitat „Und da stehe ich schon, / als Europäer, / ich kann nicht anders“ (NKSA 6, 387) deutlich wird, versucht aber, sich von diesem Standpunkt aus in die fremde, ‚orientalische‘ Tradition hineinzubegeben. Ein weiterer Gegensatz wird durch die Gegenüberstellung des Wunderlich-Irrationalen und der Wahrheitsliebe erzeugt: „Wunderbar wahrlich!“ (NKSA 6, 383), wobei das Wort „wahrlich“ zugleich eine Anspielung an Luthers Bibelsprache darstellt. Die wahrheitsbezogene Skepsis ist dem modernen, europäischen Standpunkt zugeordnet,⁵³ aber die Gegensätze werden in jeder Hinsicht aufgehoben und verflüssigt. So wird das lyrische Ich durch den Vergleich der Oase mit einem „Maul“ selbst zur Dattel, die von den Mädchen gegessen werden soll. Die Mädchen wurden in der Einleitung aber bereits als „Nachtisch-Nüsse“ und „Räthsel“ bezeichnet (NKSA 6, 382), sodass sie der „Dattel“ artgleich sind. Die Ähnlichkeit⁵⁴ wird als Gestaltungsprinzip im Dithyrambus auf die Spitze getrieben („Den genannten Südfrüchten / ähnlich, allzuähnlich“ [NKSA 6, 384.]), indem die Immersionsfantasie (im Wunsch, verschlungen oder gegessen zu werden) sich im Epigramm am Schluss nochmals wiederholt, diesmal als Warnung, die jedoch im Durchgang durch das Lied nicht mehr als Warnung zu lesen ist. Die mit „Sela.“ schließenden Strophen neigen sich dabei dem Wunsch der Immersion zu, die mit „Amen!“ schließenden hingegen versuchen, die rationale Kontrolle durch skeptische Distanz wiederzugewinnen. Dem Wunsch, verschlungen zu werden (in der vierten Strophe) wird in der fünften Strophe einerseits die philologische Reflexion („vergebe mir Gott / diese Sprachsünde!“ und „wie die alten Dichter erzählen. / Ich Zweifler aber ziehe es in Zweifel“), andererseits die immoralische Redlichkeit und Freiheit in der zentralen Metapher der guten Luft⁵⁵ („die beste Luft schnüffelnd, / Paradieses-Luft wahrlich“ [NKSA 6, 384]) entgegengesetzt. Die sechste Strophe imaginiert schließlich die Realisierung des Vernichtungswunsches, in einer Projektion, die die Palme als Tänzerin vorstellt, der – so die hypothetische Konstruktion – ein Bein fehlt: „Wo – mag es wohl
Laut Groddeck: Dionysos-Dithyramben [Anm. 24], Bd. 2, S. 65, parodiert der Dithyrambus die typologische Verfahrensweise des Neuen Testaments. Auf die philologische Skepsis sowie die kommentierende Funktion des Dithyrambus weist König: Zweite Autorschaft [Anm. 46], S. 202, entscheidend hin. Vgl. ähnlich Groddeck: Dionysos-Dithyramben [Anm. 24], Bd. 2, S. 68. Die Metapher der „guten Luft“ wird im vierten Teil des „Zarathustra“ häufig genutzt, um Zarathustras Überlegenheit über die höheren Menschen zu betonen. Vgl. NKSA 4, 369: „Solchergestalt waren sie zu drei still beisammen und schnüffelten und schlürften mit einander die gute Luft. Denn die Luft war hier draussen besser als bei den höheren Menschen.“
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weilen und verlassen trauern, / dieses einsame Beinchen? / […] gar schon / abgenagt, abgeknabbert“ (NKSA 6, 386). Mit der „Furcht“ vor einem „Löwen-Unthiere“ schlägt die Stimmung in Wehklage um („wehe! wehe! abgeknabbert! Sela.“), sodass das lyrische Ich in der siebten Strophe den Mädchen, die Zuhörerinnen der erzählten Fantasie waren, Mut zuspricht und ihrer Weichlichkeit eine starke männliche Haltung entgegenhält („Sei ein Mann, Suleika!“ [NKSA 6, 386]).⁵⁶ Zu der erneuten Stärke muss das lyrische Ich sich jedoch selbst überreden – die Mädchen dienen nur als Projektion der eigenen Gespaltenheit, sodass die erneut eingenommene „würdige“ Haltung als Schauspiel durchschaubar wird: „Ha! / Noch Ein Mal brüllen, / moralisch brüllen, / als moralischer Löwe vor den Töchtern der Wüste brüllen!“ (NKSA 6, 386) So werden auch die Schlussverse der Coda von der Attribuierung als „Tugend-Geheul“ erfasst, die gerade nicht von der Stärke des Standpunkts des lyrischen Ich zeugt: „ich kann nicht anders, Gotte helfe mir! / Amen!“ (NKSA 6, 386 – 387) Das Epigramm am Schluss wird von dem vorausgehenden Lied folglich ironisiert und verliert so die bedrohliche Bedeutungsnuance, die ihr die nihilistischen Deutungen zugesprochen haben.⁵⁷ Vor dem Hintergrund der religions- und kulturkritischen Bemerkungen Nietzsches wird die Wüste vielmehr als Topos lesbar, die zur Figur des Heiligen und dessen asketischer Selbstverleugnung gehört, so im Kapitel „Vom höheren Menschen“ im vierten Teil des „Zarathustra“: In der Einsamkeit wächst, was Einer in sie bringt, auch das innere Vieh. Solchergestalt widerräth sich Vielen die Einsamkeit. Gab es Schmutzigeres bisher auf Erden als Wüsten-Heilige? Um d i e herum war nicht nur der Teufel los, – sondern auch das Schwein. (NKSA 4, 363)⁵⁸
Die Wüste ist im „Zarathustra“ auch als Ort des Freigeistes, also der Befreiung von moralischen Normen, kodiert. Die hierfür notwendige Einsamkeit und Einzelheit des Geistes ist – wie die ersten drei Teile des „Zarathustra“ ausführlich thematisieren – schwer zu erringen und zu ertragen. Eine mögliche Abart von Zarathustras Einsamkeit bildet daher der „Wüsten-Heilige“, dessen Versuch eines asketischen Rückzugs gerade die charakterliche Schwäche offenlegt und zu einer Zur Goethe-Parodie im Gedicht vgl. Miller: Daughters of the Desert [Anm. 33], S. 190 – 191. Unterstützt wird diese Unterhöhlung der Schlussverse durch die Metrik. Der Gegensatz zum daktylisch geprägten Lied wird hervorgehoben, da der Einzelvers „Die Wüste wächst“ wie das Epigramm insgesamt durchgehend jambisch bestimmt ist. Vgl. hierzu Groddeck: Dionysos-Dithyramben [Anm. 24], Bd. 2, S. 70. Es handelt sich hier um eine Anspielung auf den Hl. Antonius, der sich in die Wüste zurückzog und dem (aufgrund eines Fehlverständnisses) ein Schwein attribuiert wird. Ich danke Jakob Moser für diesen Hinweis.
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überbordenden Fantasie führt. Die Innerlichkeit solcher durch Wollust⁵⁹ geleiteten Einbildungen verweist auf die Dialektik des Wüstenwachstums im Dithyrambus: Auch dort geht es um die Dynamik einer Ausbreitung, die durch den Versuch der Eingrenzung allererst hervorgebracht (‚geborgen‘) wird. Dieser Zusammenhang wird durch Nietzsches sprachliches Verfahren deutlich: Das Adjektiv ‚wüst‘ und das entsprechende Nomen ‚Wüstling‘ bilden eine Paronomasie zu ‚Wüste‘ und erzeugen eine Bedeutungsnuance, mit der der Dithyrambus spielt. Im Deutschen wurde das französische Wort ‚libertin‘ mit ‚Wüstling‘ übersetzt (‚esprit fort‘ mit ‚Freigeist‘).⁶⁰
3 Benns „Der Garten von Arles“ (1920) als Nietzsche-Lektüre In Benns „Garten von Arles“, ein exemplarischer Text moderner Montagetechnik,⁶¹ spielen Nietzsche-Referenzen sowohl in der Anlage des Textes als auch in der Ausgestaltung einzelner Motive eine wichtige Rolle. Unter anderem ist auch hier das Nietzsche-Zitat „Die Wüste wächst: weh dem, der Wüsten birgt!“ in den Text montiert. Benn verfährt mit dem Zitat insofern anders als Heidegger und Jünger, als er es gerade nicht in den Kontext eines Nihilismus stellt. Benns Auseinandersetzung mit Nietzsche sei besonders in der frühen Werkphase vom Begriff des Nihilismus geprägt, so der Konsens der Forschung. „Der Garten von Arles“ wird in diesem Sinn mit Benns Begriff der Artistik in Verbindung ge-
König: Zweite Autorschaft [Anm. 46], S. 190, weist darauf hin, dass das Gedicht mit dem ersten Dithyrambus „Nur Narr! Nur Dichter!“ sowie mit den Kapiteln „Das Lied der Schwermuth“ und „Von der Wissenschaft“ im vierten Teil des „Zarathustra“ im Zusammenhang gelesen werden müsste, da diese eine kompositorische Einheit bilden. Von dieser Einsicht geht auch die Deutung von Kaiser: Augenblicke deutscher Lyrik [Anm. 46], S. 329 – 330, aus. In Konsequenz aus der engen Zusammengehörigkeit der ersten beiden Dithyramben (bzw. der drei Kapitel im „Zarathustra“) ergäbe sich zudem ein spezifischer Sinn des Wortes Wollust, das als „schwermüthige[ ] Wollust“ (NKSA 4, 375) der Wahrheit entgegengesetzt ist und folglich eine unredliche Redehaltung bezeichnet, also mit dem semantischen Feld von Lüge und Täuschung sowie mit der Figur des Schauspielers und dessen theatralischer Pathetik in Verbindung zu bringen wäre. Miller: Daughters of the Desert [Anm. 33], S. 176, spricht von einem „paradox of the ‚lascivious ascetic‘“, vgl. Jean de La Bruyère: Die Charaktere oder die Sitten des Jahrhunderts, übers. v. Gerhard Hess, Leipzig o.J., S. 389: „Ehe man sich als Freigeist oder Wüstling bekennt, sollte man sich ernstlich prüfen und erforschen“. Vgl. Friederike Reents: „Ein Schauern in den Hirnen“. Gottfried Benns „Garten von Arles“ als Paradigma der Moderne, Göttingen 2009.
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bracht.⁶² Dem liege die Auffassung zu Grunde, dass die Kunst als Überwindung des Nihilismus zu verstehen sei. Damit erhält der Nihilismus-Begriff anders als in Jüngers und Heideggers Auffassung eine explizit poetische Wendung. Doch mit dieser begrifflich-schematischen Einordnung ist die im Prosatext „Der Garten von Arles“ entwickelte implizite Nietzsche-Lektüre nicht ausreichend erfasst. Die Analogie betrifft die Poetik des Textes und bezieht sich in einem umfassenden Sinn auf die im „Zarathustra“ entwickelte Programmatik einer radikalen Spracherneuerung. Benns Montagetechnik, die als Textverfahren exemplarisch der Avantgarde zugeordnet wird,⁶³ tendiert dazu, die Bruchlinien des eingefügten Sprachmaterials als solche im neuen Text kenntlich zu machen.⁶⁴ Erst spät spricht Benn in einem poetologischen Sinn explizit von Montagetechnik, sie ist jedoch bereits in seiner Kunstauffassung der Frühschriften präsent, in denen er der Kunst die Aufgabe einer Überwindung des nihilistischen Werteverfalls und einer entsprechenden Sprachkrise zuschreibt.⁶⁵ Die Montagetechnik ist das Mittel solcher Spracherneuerung.⁶⁶ Benns Montage des Nietzsche-Zitats im „Garten von Arles“ kann als poetische Anverwandlung des Vorbilds gelten. Indem der Text die Verfahrensweise des Ausgangstextes imitiert, der selbst mit einer Art Montageverfahren arbeitet (so etwa in den Bibel-Anspielungen und der Einarbeitung des anekdotischen LutherZitates), nimmt er dieses in die eigene Poetik auf. Dabei geht die Bezugnahme weit über das Gedicht „Unter Töchtern der Wüste“ und auch über den Werkkontext des „Zarathustra“ hinaus, entwickelt in Bezug auf diesen jedoch eine interessante Pointe, die in der Wendung zur Kunst als poetologischer Aussage des Textes liegt. Damit wäre die poetologische Wendung im „Garten von Arles“ zugleich als Aussage über den „Zarathustra“ zu werten. Benns Prosatext beginnt mit einer narrativen Erzählsituation (ein Gelehrter, der am Schreibtisch sitzt und eine Vorlesung über antike Philosophie und die Geschichte des Bewusstseins vorbereitet), lässt den Fokus schließlich auf die
Vgl. Christian Schärf: Nihilismus oder die Apotheose der Kunst aus dem Geiste Nietzsches, in: Benn-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Christian M. Hanna und Friederike Reents, Stuttgart 2016, S. 6. Vgl. Silvio Vietta: Literaturgeschichtliche Kontexte, in: Benn-Handbuch [Anm. 62], S. 20 – 24, hier: S. 23 – 24; Marco Meli: Friedrich Nietzsche, in: Ebd., S. 43 – 45, hier: S. 43. Es gibt aber auch Formen organischer Integration des zitierten Materials, die ebenfalls als Montage zu bezeichnen wären; vgl. Georg Jäger: Montage, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. v. Klaus Weimar, Harald Fricke und Jan-Dirk Müller, Bd. 2, 3. Aufl., Berlin 2000, S. 631– 633, hier: S. 631. Vgl. Schärf: Nihilismus [Anm. 62], S. 5 – 6. Vgl. Friederike Reents: „Der Garten von Arles“ (1920), in: Benn-Handbuch [Anm. 62], S. 138 – 141, hier: S. 140.
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Gedanken, Assoziationen und Imaginationen dieses Gelehrten gleiten und wagt schließlich den Sprung in einen von der Lyrik her bestimmten Prosastil, der die Erzählsituation zunehmend außer Acht lässt.⁶⁷ Die Isolation einzelner Sinneseindrücke und ihre Darstellung in einem verdichteten, parataktischen Stil, einer „gesprengten Syntax“, die „auf Textkohärenz weitgehend verzichtet“,⁶⁸ orientiert sich am poetischen Programm des Futurismus.⁶⁹ Die Montage unterstützt als poetologisches Programm, das formal von einer Neuzusammenfügung des Fragmentierten ausgeht,⁷⁰ dabei die verwandte These, dass die Auflösung des modernen Ich, seine Fragmentierung und Sinnlosigkeit, in der Kunst zu überwinden wäre.⁷¹ Die Herstellung einer neuen Ich-Einheit durch die kunstvolle, erneuerte Sprache geschieht auf dem Boden der Kunst und wird von Benn als irrationale und rauschhafte Verschmelzung vorgestellt, die nur auf Momente und in einer Art Trance zu erreichen sei.⁷² Auch der „Garten von Arles“ kulminiert in einer traumhaften lyrischen Imagination, der ein neues, „lyrisches“ Ich korreliert.⁷³ Benns Montage des Nietzsche-Zitates markiert nur durch den Einschub „dachte er“⁷⁴ (SW III, 115), dass es sich um ein fremdes Textelement handelt. Der Verzicht auf Anführungszeichen behandelt den Satz nicht als Zitat, sondern als Spruch, als bekannte Redewendung, die sich bereits von ihrem Autor Nietzsche und dem Text gelöst hat und zu einem Sprichwort geworden ist, das beliebig wiederholbar ist. Damit wird bereits angekündigt, dass sich die Imagination des Gelehrten, die sich aus dem Zitat entspinnt, vom ursprünglichen Kontext des Zitates entfernt. Der neue Kontext der Einfügung folgt einer assoziativen Logik, die die südliche Topografie weiter ausfaltet und konkretisiert. Die Wüstenlandschaft wird in Ägypten situiert:
Vgl. Reents: Der Garten von Arles [Anm. 66], S. 140. Helmuth Kiesel: Schreibweisen und Techniken, in: Benn-Handbuch [Anm. 62], S. 286 – 296, hier: S. 288. Vgl. Kiesel: Schreibweisen [Anm. 68], S. 287. Vgl. Jäger: Montage [Anm. 64], S. 631: „Die Montage beinhaltet zwei Arbeitsschritte: Fragmentierung und Kombination (bzw. Entformung und Neuformung).“ Vgl. Schärf: Nihilismus [Anm. 62], S. 5. Vgl. Christoph Gardian: Die Syntax des modernen Ichs. Gottfried Benns anthropologische Poetik im Kontext der europäischen Moderne, in: Benn Forum 5 (2016/17), S. 127– 148, hier: S. 140. Vgl. Reents: Ein Schauern in den Hirnen [Anm. 61], S. 256 – 268, bes. S. 267: „In einer jenseitigen Position aber steht das reflexionsbefreite, schöpferische Frontal-Ich, das nichts anderes ist als das den Traum alleine schaffende, aber auch den Traum alleine tragende lyrische Ich.“ Gottfried Benn: Der Garten von Arles, in: Ders.: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, Bd. III: Prosa 1, hg. v. Gerhard Schuster, Stuttgart 1987, S. 110 – 119, hier: S. 115. Die Werke Benns werden im Folgenden nach dieser Ausgabe im laufenden Text unter der Sigle „SW I – VII/2“ nachgewiesen.
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Die Wüste wächst, dachte er, wehe dem, der Wüsten birgt. Ägyptisch abgesprungen, Nil-Ich, mehrtausendjährige Klabusterbeere, satt der Einerseits- und Andrerseitsbalance, mit Europens Imperien vereint emporgeschwindelt, gemeinsam in die Brüche – verdufte dein Gesetzaroma, verblute deine Gültigkeitszypresse. (SW III, 115).
Dass Benn die Fantasie einer südlichen Topografie mit dem Überdruss („satt“) an der nördlichen Vernunft („Kant, dachte er, behagliche Affäre, Gelehrtenstübchen“ [SW III, 115]) verbindet, verweist noch auf „Unter Töchtern der Wüste“, wo die diskursive Rationalität des Europäers von diesem ebenfalls in Frage gestellt wird, ohne dass er sich aus ihr befreien kann. Der Abschnitt kulminiert in einer Zerstörungsfantasie („gemeinsam in die Brüche“), die sich auf das europäische Zivilisationsgebäude bezieht, das auf einer diskursiven Rationalität („Einerseitsund Andrerseitsbalance“) gegründet ist – die Zerstörung bezieht sich also auch sprachlich auf die rhetorischen Grundlagen einer Kultur, die als Lüge entlarvt werden („emporgeschwindelt“). Die Imperative („verdufte“, „verblute“) beziehen sich auf das „Nil-Ich“, das einzig mögliche Subjekt des Satzes, das die übrigen Syntagmen attributiv bestimmen. Der Vortrag des Gelehrten, den er in Gedanken konzipiert, handelt von der Geschichte des modernen Bewusstseins, sodass das „Nil-Ich“ eine Stufe einer kulturgeschichtlich umrissenen Geschichte des „Ich“ darstellt, die im folgenden Absatz vom „Beduinen-Ich“, vom „Fellachen-Ich“ und weiteren Ich-Entitäten abgelöst wird (SW III, 115 – 116). Die Imperative „verdufte dein Gesetzaroma, verblute deine Gültigkeitszypresse“ enthalten zwar die Aufforderung zur Zerstörung, sie entfalten in der Sinnlichkeit dieser konkret imaginierten Zerstörung jedoch zugleich ein (künstlerisch) produktives Moment, wenn der Duft als Resultat dieses Prozesses verstanden wird. Gesetz und Gültigkeit beziehen sich auf die Kant zugeschriebene Rationalität des Nordens, die mit der Landschaft des Südens und deren sinnlicher Qualität in Nominalkomposita verschmolzen wird. Am Beginn der „Geschichte dieses abendländischen Ich“ (SW III, 111) wird vom Erzähler eine als ursprünglich konnotierte ‚orientalische‘ Geburtsstunde der Zivilisation konstruiert. Zugleich wird sie aber als Sehnsuchtsort imaginiert, der gerade den Überdruss an der Moderne („satt“) voraussetzt und nach der Zerstörung jener Konstruktion („gemeinsam in die Brüche“) erst wiedergewonnen werden müsste.⁷⁵
Friederike Reents spricht von einem Paradies, das wiedergewonnen werden müsse, weil der Weg der Regression versperrt sei, der Garten sei folglich ein „neues“ Paradies, vgl. Reents: Ein Schauern in den Hirnen [Anm. 61], S. 279: „Wichtig ist sein [verwiesen wird auf eine These Helmuth Kiesels; Anm. E.F.] Attribut ‚neu‘, eine Rückkehr in das von Gott beschützte Paradies ist nicht möglich, aber wird auch gar nicht mehr angestrebt.“ Zu Kiesels Begriff eines „neue[n]
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Ein „Frontal-Ich, das gegenübersteht und sich nichts bei denkt“ (SW III, 115) würde zunächst ein umfangreiches Vergessen voraussetzen, ein solcher ursprünglicher, natürlicher Zustand des Ich ist in guter Nietzsche-Tradition jedoch nicht erreichbar. Am Ende der kulturhistorischen Analyse, die sich auf Landschaft, Agrarkultur und Nahrung stützt, wird die Konstruktion als „Schwindel“ (SW III, 116) wieder zurückgenommen. Danach beginnt die Reflexion des Gelehrten erneut, angeregt durch den Blick aus dem Fenster, in der sprachlichen Neuordnung der sinnlichen Wahrnehmung. Die kulturhistorische Konstruktion unterliegt selbst noch einem rational-diskursiven Denken (einem „viertausendjährigen Schwindel des angeblich kontinuierlichen Ich“), dem der Gelehrte trotz seines Widerstrebens nicht entfliehen kann („Eisenklammer rief er aus, Eisenklammer, nördlich angesiedelt, Kantkrone, wer schlägt den Reif aus deiner Stirn“ [SW III, 116]). Die Vorstellung eines Gartens, die bereits die Anspielung an van Goghs Bilder enthält, bildet schließlich den Übergang zu einem lyrischen Neuversuch des sprachlichen Ausdrucks: „Olive sanfte, Agave ranfte, die Grüne und das Felsenfahl; aus Trümmer-Glücken, aus Herzens-Stücken, dein Trunk, dein Mahl.“ (SW III, 116) Die Passage ist in Komposition, Reim und Wortwahl dezidiert lyrisch. Die isolierte visuelle Wahrnehmung („die Grüne“) und die Klanglichkeit der Sprache erschaffen eine andere, nicht-diskursive Objektwelt. Zugleich wird auch das Ich, nachdem die Vielzahl von Ichs durchschritten und verabschiedet ist, als lyrisches und singuläres Ich neu konstituiert, so eine zentrale These von Friederike Reents.⁷⁶ Das neue Ich ist nicht nur durch die neue Sprache, sondern auch durch seine umfängliche, sinnliche Wahrnehmungsposition bestimmt. Als „Frei-Auge. Algier-Auge. Süße Unerinnerlichkeitsbraue. Vogel-Schau.“ und „Polyphemblick“⁷⁷ (SW III, 117) steht es einer Objektwelt gegenüber, die durch ein
Garten Eden“ vgl. dens.: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert, München 2004, S. 215. Vgl. Reents: Ein Schauern in den Hirnen [Anm. 61], S. 261– 265. Friederike Reents bezieht die Passage von „Frei-Auge“ bis „Polyphemblick“ auf eine göttliche Betrachterposition, die mit der künstlerischen Perspektive in eins gesetzt wird, versieht diese Gleichsetzung jedoch mit einem Fragezeichen: „der Künstler als Gott? Auf den ersten Blick scheint es so.“ Vgl. Reents: Ein Schauern in den Hirnen [Anm. 61], S. 278. Die freie vogelgleiche Perspektive als imaginierter Blickpunkt des Dichters ist in der französischen Avantgarde ein verbreitetes Bild, etwa in Apollinaires Gedicht „Cortège“ und in Reverdys „Les pas brisés“, vgl. Katarina Rempe: Die Ästhetik Apollinaires und der frühen Avantgarde. Mythos als Modus, Berlin und Boston (im Erscheinen), Kap. III.3.2, sowie Veronika Krenzel-Zingerle: Apollinaire-Lektüren. Sprachrausch in den Alcools, Tübingen 2003, S. 72– 93. Die lyrische Vogelperspektive hat ein Vorbild in Nietzsches „Zarathustra“, in „Die sieben Siegel“. Vgl. NKSA 4, 291: „Wenn ich je stille Himmel über mir ausspannte und mit eignen Flügeln in eigne Himmel flog: […] – so aber spricht Vogel-Weisheit: ‚Siehe, es giebt kein Oben, kein Unten! Wirf dich umher, hinaus, zurück, du
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einfaches „da“ oder „dies“ indiziert werden kann und die durch die Modalverben „soll“ und „muß“ als Werden der Natur dynamisiert wird: Da kann sich matt schöpfen an den Wiesen, an der Barre von Iris, die die Stadt bespangt. Schon soll Gemäh werden, gegen Löwenzahn, gegen Taraxakum, als Tee, als Kaffeesurrogate, nun muß sich eilen, Sommer wird zu Laub, bald kann Vergehen kommen, was Verschleierung bringt. (SW III, 117)
Vorbild solchen Blickes und damit der Ich-Konstitution ist im „Garten von Arles“ der Künstlerblick, der van Gogh und André Gide zugeschrieben wird, auf den der Ort Algier verweist.⁷⁸ Den beiden Künstlern wird vom Erzähler gleichermaßen ein exemplarischer Blick und damit ein tiefes Verständnis der südlichen Topografie zugestanden („er wußte es, der in der Provence malte unter jenem Himmel“ und „Und auch der in Algier wußte davon“ [SW III, 114– 115]). Dieses Wissen steht in Verbindung mit dem Vergessen („er war besessen von der Unerinnerlichkeit“ und „Aus dem vollkommenen Vergessen des Gestern schaffe ich die Neuheit jener Stunde“ [SW III, 115]), das wiederum eine neue Schöpfung ermöglicht: „er vergaß und schuf so das Erträgliche“ (SW III, 115). Ein Zitat aus Gides „L’Immoraliste“ ändert Benn ab und setzt den Namen Dionysos an die Stelle von „Denis“:⁷⁹ „zwischen Granat und Oleander, im Glanz der Wüste, auf einem Kabylenfels schrieb er es an Daniel und Dionysos – doch aus dem Norden mußte er kommen, der dies zerbrach.“ (SW III, 115) Der Name Kant steht für ein Prinzip der Rationalität, das es zu überwinden gilt, aber er ist nicht notwendig der, der aus dem Norden kam.⁸⁰ Das Zerbrechen ist selbst schon Teil der produktiven Neugestaltung und Voraussetzung des Neuen. Damit ist der Ausblick auf die Lösung der lyrischen Neuordnung bereits vorweggenommen. Der, der aus dem Norden kommt, den Süden imaginiert und an Dionysos schreibt, wäre vielmehr Nietzsche, der erneut als Vorbild dient, aber nicht so, dass sich seine Wirkung auf eine Stelle oder ein Zitat festlegen ließe. Auch die umfassende Perspektive einer Verstrickung in die diskursive Dialektik und zugleich der Wunsch einer Neuschöpfung durch Vergessen, die nicht zuletzt in der dichterischen Spracherneuerung zu gewinnen wäre, sind in Nietzsche präfiguriert. Am Ende von Nietzsches „Zarathustra“ steht Leichter! Singe! sprich nicht mehr!‘“ Eine Rezeptionslinie Nietzsches über die französische Avantgarde hin zu Benn wäre erst noch zu rekonstruieren. Vgl. Reents: Ein Schauern in den Hirnen [Anm. 61], S. 248 – 249. Vgl. Reents: Ein Schauern in den Hirnen [Anm. 61], S. 250. Friederike Reents bemerkt, dass einige der Attribute nicht mit der Biografie Kants vereinbar sind und vielmehr andere Verweise enthalten, sodass die „Interpretation vage bleiben“ müsse, vgl. Reents: Ein Schauern in den Hirnen [Anm. 61], S. 253. Daraus wäre die Konsequenz zu ziehen, dass der Name Kant nicht auf die Person, sondern auf ein Rationalitätsprinzip verweist.
„Die Wüste wächst“
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die Programmatik eines Gesangs, in den die Prosa übergehen soll.⁸¹ Auch im „Zarathustra“ ist der Garten der Ort dieser neuen Sprache.⁸² „Der Garten von Arles“ zeichnet einen Reflexionsgang nach, folgt der Imagination eines Gelehrten, die am Ende möglichst in „reine“ Wahrnehmung und Beschreibung dieser Wahrnehmung übergehen soll („kurz das ist reines Gelb.“ [SW III, 117]). Demonstriert ein allwissender Erzähler zu Anfang noch die dominierende Reflexion des Gelehrten („War es die Fülle des Stoffes, die ihn erregte, oder der Sommerausgang“ [SW III, 113]), so verschwindet der Erzähler am Ende des Textes, um dem wahrnehmenden und sprechenden Ich des Protagonisten und vor allem der in der Dichtersprache neu konstituierten Objektwelt Platz zu machen („Das ist Arles“ [SW III, 119]). „Der Garten von Arles“ ist nicht in erster Linie eine Nietzsche-Deutung, sondern ein poetischer Text, der sich durch eine Vielzahl an modernen Techniken auszeichnet: die Montagetechnik, die intertextuellen Verweise, die poetologische Autoreflexion, eine intellektuelle und kulturgeschichtliche Tiefendimension, eine experimentelle Prosa, die sich durch eine reduzierte Syntax und zahlreiche Asyndeta auszeichnet. Aufgrund dieser Vielschichtigkeit und Uneindeutigkeit der Nietzsche-Referenz wird er diesem jedoch umso mehr gerecht. Nietzsches Schriften werden so noch als Teil einer modernen Bewusstseinsgeschichte lesbar, die eine Nähe zu Künstlern wie van Gogh und Gide konstruiert, ohne diese Verbindung auf Begriffe wie Irrationalismus, Vitalismus oder Nihilismus zu reduzieren. Wird die Nietzsche-Deutung im frühen 20. Jahrhundert vornehmlich durch die kulturhistorische und zivilisationskritische Perspektive sowie durch die umfassende Diagnose eines Nihilismus beherrscht, so ist es umso erstaunlicher, dass Benn diese Konstellation in seinem Prosatext mitbedenkt, ohne das Klischee selbst zu erfüllen. Die Erzählung von einem nordischen Gelehrten, der sich in die Wüste träumt, kann dann auch eine valide Lektüre von Nietzsches „Unter Töchtern der Wüste“ sein, wobei sich die Adäquatheit dieser Deutung hauptsächlich in den künstlerischen Darstellungsmitteln manifestiert. Das Kreisen der Reflexion und die zahlreichen Neuansätze, der Abbruch der Erzählung und der Übergang ins Lyrische, die poetologischen Einsichten und die Montagetechnik zielen selbst auf eine Deutung Nietzsches, indem sie die eigenen sprachlich-poetischen Verfahren Nietzsches imitieren und aufgreifen. In der Beobachtung und Analyse, wie Sprache zugleich Altes zerstört und Neues schafft, demonstriert der Text sein
Vgl. das Kapitel „Von der grossen Sehnsucht“, NKSA 4, 278 – 281, insbesondere S. 281: „singe mir, singe, oh meine Seele!“. Vgl. das Kapitel „Der Genesende“, NKSA 4, 270 – 277.
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Elisabeth Flucher
Verständnis des Vorbildes Nietzsche. Die poetische Aneignung übertrifft dabei die diskursive Annäherung über den Begriff des Nihilismus. Sie kann jedoch selbst wieder ausbuchstabiert und mit der Deutungsgeschichte von Nietzsches Gedicht ins Gespräch gebracht werden.
Nikon Kovalev (Moskau)
Die Auseinandersetzung Gottfried Benns mit Sergei Tretjakow. Ein Streit über die kollektivistische Literatur Abstract: Die ausführlichste Auseinandersetzung Gottfried Benns mit der russischen Literatur findet sich in seinem Essay „Die neue literarische Saison“ (1931), das größtenteils Sergei Tretjakow gewidmet ist. Tretjakow, eine prominente Figur der russischen Avantgarde, hat 1931 in Berlin zwei Vorlesungen gehalten: „Der Schriftsteller und das sozialistische Dorf“ und „Der neue Typus des Schriftstellers“. Anhand von Parallelstellenen aus Tretjakows Œuvre werde ich feststellen, dass Benn Tretjakows Ideen ziemlich getreu darstellt, dabei aber erwartungsgemäß andere ideologische Akzente als dieser setzt.
1930 und 1931 hat Sergei Tretjakow (1892– 1937), eine der prominentesten Figuren der russischen Avantgardeströmung LEF (Linke Front der Künste), die zumeist mit Wladimir Majakowski verbunden wird, in Deutschland einen Zyklus von Vorlesungen im Rahmen der Auslandspropaganda des sowjetischen Kollektivierungsprojekts gehalten. Tretjakow eignete sich für diese Zwecke ausgezeichnet. Seine Mutter „stammte aus einer deutsch-holländischen Lutheranerfamilie“¹. Er sprach gut deutsch, und seine Kontakte zu deutschsprachigen Dichtern bestanden schon vor der Revolution – so erinnert sich Johannes von Guenther, einer der wichtigsten Übersetzer deutscher Literatur ins Russische und Mitarbeiter der Zeitschrift „Apollon“, in seinen Memoiren an Begegnungen aus dieser Zeit.² In der ersten Hälfte der 1930er Jahre war Tretjakow eine Schlüsselfigur des sowjetischen Internationalismus, Redakteur der Zeitschrift „Literatur der Weltrevolution“ und verfasste die Essaysammlung „Menschen eines Scheiterhaufens“ (1936) über antifaschistische Dichter. Außerdem erzielten Tretjakows Dramen große Erfolge auf europäischen Bühnen: „Brülle, China!“ (1926) ist in mehreren Ländern
Tatjana Gomolickaja-Tret’jakova: O moem otce [Über meinen Vater], in: Sergei Tretjakov: Strana-perekrestok [Kreuzungsland], hg.v. Tatjana Gomolickaja-Tret’jakova, Moskau 1991, S. 554– 564, hier: S. 554. Die Übersetzungen aus dem Russischen in diesem Beitrag stammen sämtlich vom Verf. Johannes von Guenther: Zhizn’ na vostochnom vetru [Ein Leben im Ostwind], übers. v. Juri Archipow, Moskau 2010, S. 429 – 430, hier: S. 446. https://doi.org/10.1515/9783110729658-012
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sehr bekannt geworden, und Brecht hatte eine Inszenierung von „Ich will ein Kind haben!“ (1924) geplant. Was die Gründe für Tretjakows Vorlesungen angeht, ist Fritz Mirau der Auffassung, sie seien eng mit den Diskussionen in der UdSSR über die Deprofessionalisierung des Schriftstellers und dem damit verbundenen ‚Ende der Literatur‘ schlechthin verknüpft.³ Tretjakows Vorlesung am 21. Januar 1931 in der Berliner Gaststätte Russischer Hof wurde von der prosowjetischen „Gesellschaft der Freunde des neuen Russland“ organisiert. Der Titel der Vorlesung lautete „Der Schriftsteller und das sozialistische Dorf“. Direkt im Anschluss wurde die Vorlesung in der deutschen Presse abgedruckt, zuerst auszugsweise in der Zeitung „Die rote Fahne“,⁴ dann in einer vollständigeren Version in der Zeitschrift „Das neue Russland“.⁵Selbstverständlich wurden Tretjakows Vorlesungen vor allem von den antifaschistischen und prosowjetischen Dichtern rezipiert. Umso interessanter ist die Tatsache, dass sie auch einen starken Widerhall in anderen Lagern gefunden haben – etwa bei späteren öffentlichen Nazi-Sympathisanten wie Ezra Pound⁶ und Gottfried Benn. Тretjakow verfasste seine Vorlesungen als eine Art Propaganda der Ideen der LEF. Der erste Beitrag in der ersten LEF-Essaysammlung mit dem Titel „Wen beißt LEF?“ beginnt mit heftigen Angriffen gegen die Vorstellung von der klassischen Literatur als absolutem Wert: „Die Klassiker sind nationalisiert. Die Klassiker hat man als eine unerschütterte, absolute Kunst gepriesen. Die Klassiker haben mit ihren kupfernen Denkmälern, mit der Schultradition – alles Neue marginalisiert“.⁷ In einem Vorwort zur LEF’schen Sammlung „Literatur der Fakten“ (1929) ist der Kampf gegen die Nachahmung der klassischen Literatur als die wichtigste Aufgabe formuliert: „Wir wollen sie [die literarische Jugend – N.K.] vor der sinnlosen Nachahmung überlebter Formen der Meisterschaft in der Literatur warnen, ihre Gedanken auf die Suche nach ihren eigenen Wegen des Schreibens richten, Wege, die aus den Bedürfnissen des Revolutionszeitalters organisch folgen“.⁸ Seine erste Berliner Vorlesung beginnt Tretjakow mit der These von der NichtÜbereinstimmung der klassischen Literatur mit den heutigen Realitäten. Tolstoi
Vgl. Fritz Mirau: Erfindung und Korrektur: Tretjakows Ästhetik der Operativität, Berlin 1976, S. 26. Vgl. Sergei Tretjakoff: „Warum bin ich so lustig ..?“, in: Die rote Fahne vom 23. Januar 1931, S. 5. Vgl. Sergei Tretjakoff: Der Schriftsteller und das sozialistische Dorf, in: Das neue Russland 1931, H. 3 – 4, S. 39 – 53. Vgl. Ezra Pound: Open Letter to Tretyakov, in: Front 1931, H. 1, S. 124– 126. V kogo vgryzaetsja LEF? [Wen beißt LEF?], in: LEF 1923, H. 1, S. 8 – 10, hier: S. 8. Ob etoj knige i ob nas [Über dieses Buch und über uns], in: Literatura fakta [Literatur der Fakten], hg.v. Nikolai Tschuschak, Moskau 2000, S. 5 – 9, hier: S. 5.
Die Auseinandersetzung Gottfried Benns mit Sergei Tretjakow
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habe die Bedeutung von „sozialistische[m] Wettbewerb, Entkulakisierung“⁹ kaum erfassen können. Außerdem stellt Tretjakow hier seine Ideen der operativen Kunst vor, etwa die Notwendigkeit für die Schriftsteller, aktiv am Wirtschaftsleben teilzunehmen, und berichtet über Erfahrungen derjenigen Schriftsteller, die über ‚Bestarbeiter‘ schrieben, die die Arbeitspläne deutlich übererfüllten. Gewöhnliche Romane – so Tretjakow – seien unwirksam, weil sie die sich immer verändernde wirtschaftliche Lage nicht schildern könnten, weswegen zwangsläufig die „publizistische Verarbeitung des gefundenen Tatsachenmaterials“¹⁰ die angemessene Form geworden sei, die Zeitgeschichte zu beleuchten. Daraufhin schildert Tretjakow seine eigenen Erfahrungen bei einem Aufenthalt in der Kolchose Kommunistischer Leuchtturm im Süden des heutigen Stawropoler Gebiets im nördlichen Kaukasus. Ausführlicher sind diese auf Russisch in seinem Buch mit Kolchosereportagen unter dem Titel „Herausforderung“ (1930) dargestellt. Dabei erscheint der Text der Berliner Vorlesung im Vergleich zur russischen Buchversion als eine höchst schönfärberische Schilderung des Lebens in der Kolchose. Hier ist keine Rede von Mängeln im Gesundheitswesen im Dorf und auch nicht von der Nicht-Akzeptanz der Zwangskollektivierung. Idealisierend schildert Tretjakow die Kolchosebauern: „Das waren keine Menschen eines chaotischen Daseins. Das waren Menschen eines Planes“.¹¹ Auch die deutsche Buchversion der Kolchosen-Essays,¹² die kurz nach seinen Berliner Vorlesungen erschien, ist im Vergleich zum Original geglättet. In ihr fehlt z. B. eine ziemlich krasse Passage über die Dekulakisierung: „Gutsbesitzer, wolltest du uns mit deinen Kulakenzähnen heimlich beißen? Wo sind jetzt diese Zähne? Sie wurden auf einem Knochenschleifer gebrochen, um Kolchosehühner zu füttern.“¹³ Die deutsche Buchversion wurde von Walter Benjamin hochgepriesen, der Tretjakow eine ausführliche Würdigung in seinem Essay „Der Autor als Produzent“¹⁴ widmete. Eine Opposition zu den idealisierten Kolchosenbauern bildet die schöpferische Intelligenz, von der Tretjakow viel mehr verlangt, als sie aktuell bietet. Aggressiv kritisiert er die professionellen Dichter, die nicht über den Rahmen ihrer
Tretjakoff: Der Schriftsteller [Anm. 5], S. 39. Tretjakoff: Der Schriftsteller [Anm. 5], S. 40. Tretjakoff: Der Schriftsteller [Anm. 5], S. 50. Vgl. Sergei Tretjakoff: Feld-Herren. übers. v. Rudolf Selke, Berlin 1931. Sergei Tretjakow: Vyzov [Herausforderung], Moskau 1932, S. 354. Walter Benjamin: Der Autor als Produzent, in: Ders. Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. II.2, Frankfurt a. M. 1982, S. 683 – 701.
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traditionellen Kunstausübung hinausgelangen: „Fachmann allein zu sein, genügt heute auch schon nicht mehr.“¹⁵ Tretjakow formuliert seinen wichtigsten Terminus – ‚operativer Skizzist‘ ¹⁶ – auf einer Reise zu einer Kolchose. Ein derartiger Essayist ist kein Dichter und auch kein Journalist mehr: „eine wichtige Sache auszudenken – ist belletristischer Novellismus; eine wichtige Sache zu finden – ist die Reportage; eine wichtige Sache auszubauen – ist Operativismus.“¹⁷ Gottfried Benns Rundfunkrede vom 28. August 1931 mit einer Rezension der Vorlesung Tretjakows trägt den Titel „Die neue literarische Saison“. Gerhard Schuster nimmt in seinen Anmerkungen zu Benns „Sämtlichen Werken“ an, dass Benn die oben zitierte erste Berliner Rede von Tretjakow gehört habe.¹⁸ Aber Benns Text enthält kaum Passagen, die man als Zitate aus dieser Rede Tretjakows identifizieren kann, obwohl er ihn in seinem Text viel zitiert – wahrscheinlich nach seinen Notizen oder aus dem Gedächtnis. Der niederländische Schriftsteller Nico Rost meint, dass Benn nicht diese, sondern eine andere Vorlesung von Tretjakow besucht habe.¹⁹ Da Benns Rundfunkrede erst im August 1931 ausgestrahlt wurde, liegt es nahe, dass er tatsächlich über die zweite und letzte Berliner Vorlesung Tretjakows schrieb. Diese zweite Vorlesung fand am 19. April 1931 statt und trug wahrscheinlich den Titel „Der neue Typus des Schriftstellers“,²⁰ wie er sich auch bei Siegfried Kracauer²¹ und Ludwig Marcuse²² notiert findet. Der Ort des Geschehens war das Theater am Nollendorfplatz. Als Veranstalter wurde diesmal die „Internationale Tribune“ genannt. Im Großen und Ganzen kritisiert Benn Tretjakow und seine Ansichten heftig. Tretjakow sei „ein literarischer Tschekatyp, der alle Andersgläubigen in Rußland verhört, vernimmt, verurteilt
Tretjakoff: Der Schriftsteller [Anm. 5], S. 51. Vgl. Maria Gough: Radical Tourism: Sergei Tret’iakov at the Communist Lighthouse, in: October 18 (2006), S. 159 – 178, hier: S. 177. Tretjakoff: Der Schriftsteller [Anm. 5], S. 42. Gerhard Schuster: Anmerkungen, in: Gottfried Benn: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, Bd. III: Prosa 1, hg. v. Gerhard Schuster, Stuttgart 1987, S. 426 – 588, hier: S. 548. Im Folgenden im laufenden Text mit der Sigle (SW I – VII/2) nachgewiesen. Nico Rost: Mijn ontmoetingen met Gottfried Benn, in: De Nieuwe Stern 1964, H. 1, S. 291– 316, hier: S. 304. Tatjana Hofmann und Jan Ditschek: S. M. Tret’jakov. Zhizn’ i tvorchestvo [S. M. Tretjakow. Leben und Schaffen], in: Sergei Tret’jakov: Hochu rebenka! [Ich will ein Kind haben!], hg. v. Tatjana Hofmann und Jan Ditschek, Sankt-Petersburg 2018, S. 275 – 315, hier: S. 304. Siegfried Kracauer: Instruktionsstunde in Literatur, in: Russen in Berlin. Literatur Malerei Theater Film 1918 – 1933, hg. v. Fritz Mirau, Leipzig 1987, S. 544– 548, hier: S. 544. Ludwig Marcuse: Geschichtsschreibung, in: Russen in Berlin. Literatur Malerei Theater Film 1918 – 1933, hg. v. Fritz Mirau, Leipzig 1987, S. 548 – 549, hier: S. 548.
Die Auseinandersetzung Gottfried Benns mit Sergei Tretjakow
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und bestraft.“ (SW III, 330) Bedauerlicherweise lässt sich der Text der zweiten Vorlesung Tretjakows nicht finden; vermutlich ist er nicht überliefert – so auch Fritz Mirau.²³ Deswegen werde ich nur aus dem Benn‘schen Text zitieren können, der größtenteils als eine kritische Darlegung von Tretjakows Ideen konzipiert ist. Manchmal werde ich mich auch zu Verifikationszwecken anderen Texten Tretjakows zuwenden, weil es sich bei Benns Text natürlich um eine polemisch übertriebene Darlegung von Tretjakows Ideen handelt. So beginnt ein Auszug über Tretjakow bei Benn: Tretjakow schilderte, wie in Rußland während der ersten zwei Jahre des Fünfjahresplans immerhin noch einige psychologische Romane erschienen, denen das Schriftstellerkollektiv auf folgende Weise zu Leibe ging. Ein Roman zum Beispiel stellte dar, wie in einem Haus, das einem Bürger enteignet und für einen höheren Sowjetbeamten requiriert worden war, dieser Sowjetbeamte zu trinken anfing, seinen Dienst vernachlässigte, herunterkam und der alte Hauseigentümer allmählich wieder seine Zimmer okkupierte. Dies war in abendländischer, psychologischer Manier, in herkömmlicher Romanweise, etwas imaginär und gänzlich unpolitisch geschildert. (SW III, 330)
Ähnliche Motive lassen sich auch noch in weiteren literarischen Werken der 1920er und 1930er Jahren erkennen, etwa bei Bulgakow, bei Ilf und Petrow oder bei Soschtschenko. Aber eine genaue Quelle des Textes lässt sich nicht ausmachen. Möglicherweise haben wir es hier mit einer Sammelfigur der sowjetischen Literatur zu tun. In verschiedenen Beiträgen von Tretjakow werden fast alle sowjetischen Romanautoren kritisiert – von Sejfullina und Gladkow bis hin zu Wsewolod Iwanow und Babel. Schon deswegen kann man hier kaum ein genaues Ziel Tretjakows identifizieren. Im Anschluss schildert Benn einen Dialog Tretjakows mit einem nicht genannten sowjetischen Schriftsteller, wobei es ist nicht ganz klar ist, ob dieses Gespräch fiktiv oder real sein soll: Tretjakow ließ den Autor bei sich erscheinen. „Wo hast du das erlebt, Genosse?“ fragte er ihn. […] „Ich habe es gar nicht erlebt“, antwortete der Autor, „das ist doch ein Roman“. „Das gilt nicht“, antwortete Tretjakow, „du hast das irgendwo aus der Realität in dich aufgenommen. Warum hast du das nicht der zuständigen Sowjetbehörde gemeldet, daß einer ihrer Beamten infolge Trunkes seinen Dienst unordentlich versah und der Bürger Hausbesitzer wieder seine Räume beziehen konnte?“ Wiederum antwortete der Autor: „Ich habe das ja nicht in der Wirklichkeit gesehen, ich habe mir das zusammengeträumt, zusammengereimt, gedichtet, eben einen Roman geschrieben.“ Darauf Tretjakow: „Das sind westeuropäische ‚Indivdualidiotismen’. Du hast verantwortungslos gehandelt, eitel und konterrevolutionär. Dein Buch wird eingestampft und du wanderst in die Fabrik. (SW III, 331)
Fritz Mirau: Tretjakow in Berlin, in: Berliner Begegnungen: Ausländische Künstler in Berlin 1918 bis 1933. Aufsätze – Bilder – Dokumente, hg. v. Klaus Kändler, Berlin 1987, S. 206 – 211, hier: S. 207.
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Der russische Benn-Übersetzer Wladimir Mikuschewitsch meint, es handele sich um einen imaginären Dialog: „Tretjakow, […] das Erwünschte als das WirklichPassierte schildernd, erzählte, wie er Schriftsteller zu sich herbeiruft und sie für die Umerziehung in die Fabrik schickt.“²⁴ In der Tat ist es kaum vorstellbar, dass Tretjakow wirklich einen sowjetischen Schriftsteller mit auf die Bühne gebracht hat, nur um derartige Vorwürfe gegen ihn zu richten. Der letzte zitierte Benn-Satz lässt sich als ein ironischer Hinweis auf Tretjakows Ideen aus der ersten Vorlesung über die Notwendigkeit der Bauernarbeit für den Schriftsteller verstehen. Solche Forderungen tauchen bei Tretjakow auch in anderen Beiträgen auf. Doch zurück zu Benns Text. Weiter gibt Benn Tretjakows Text in der Form der indirekten Rede wieder: Auf diese Weise, schilderte Tretjakow, ist in Rußland jede individualpsychologische Literatur verschwunden, jeder schöngeistige Versuch als lächerlich und bourgeois erledigt, der Schriftsteller als Beruf ist verschwunden, er arbeitet mit in der Fabrik, er arbeitet mit für den sozialen Aufbau, er arbeitet mit am Fünfjahresplan. Und eine ganz neue Art von Literatur ist im Entstehen, von der Tretjakow einige Beispiele mitbrachte und mit großem Stolz vorzeigte. Es waren Bücher, mehr Hefte, jedes von einem Dutzend Fabrikarbeitern unter Führung eines früheren Schriftstellers verfaßt, ihre Titel lauteten zum Beispiel: „Anlage einer Obstplantage in der Nähe der Fabrik“, ferner: „Die Durchlüftung des Eßraums in der Fabrik“, ferner als besonders wichtig von einigen Werkmeistern verfaßt: „Wie schaffen wir das Material noch schneller an die Arbeitsstätten?“ Das also ist die neue russische Literatur, die neue Kollektivliteratur, die Literatur des Fünfjahresplans. (SW III, 331)
Auf diese Episode aus Tretjakows Rede ist auch Kracauer aufmerksam geworden, obwohl er andere Titel der Broschüren anführt: „Wie ein Faulpelz unter dem Einfluß seiner Genossen verändert wurde“ und „Wie man Arbeiter zum sozialistischen Wettbewerb wirbt“.²⁵ Im Großen und Ganzen hat Tretjakow in Deutschland sehr viel Unterstützung erfahren. Als er nach Berlin kam, gastierte er bei Hans Richter. Zur zweiten Berliner Vorlesung, die nicht im Druck erschienen ist, sprach Brecht eine Einleitung, und eine Vorlesung in Hamburg wurde von Hans Henny Jahnn eingeführt. Mit einer Tretjakow-Kritik ist Kracauer hervorgetreten. Dieser bemerkte eine gefährliche Dogmatisierung in der offiziellen sowjetischen Philosophie, bezeichnete die Kollektivierung der Literatur aber auch als ein bedeutungsvolles Experiment. Benns Haltung weist einige Parallelen zu derjenigen von Kracauer auf. So hat
Wladimir Mikuschevitsch: Gotfrid Benn – poet mirovoj katastrofy [Gottfried Benn – Dichter der Weltkatastrophe], in: Gottfried Benn: Pered koncom sveta. [Vor die Stunde der Welt], hg. v. Wladimir Mikuschevitsch, Sankt-Petersburg 2008, S. 5 – 36, hier: S. 32. Kracauer: Instruktionsstunde [Anm. 21], S. 547.
Die Auseinandersetzung Gottfried Benns mit Sergei Tretjakow
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Kracauer Tretjakow „einen Typ Funktionär“, „einen Literatur-Brigadeunteroffizier“²⁶ genannt, und Benn nannte ihn „einen Tschekatyp“. Benn karikiert die Reaktion des deutschen Publikums: „Die deutsche Literatur saß zu Tretjakows Füßen und klatschte begeistert und enthusiasmiert.“ (SW III, 331) Auf diesen Enthusiasmus weist nicht nur Benn, sondern auch Nico Rost hin, der sich nach der Vorlesung an Tretjakow wandte, um herauszufinden, wie man zu Kolchosen fahren könnte.²⁷ Solche Fälle waren damals nicht selten, z. B. erinnert Tretjakow in seinem Text „Feld-Herren“ an einen amerikanischen Schriftsteller, der in derselben Kolchose anwesend war wie er selbst: „Der Amerikaner war heiter. Er wich nicht vom Fenster, und notierte in sein Buch jeden Neubau, jede Fabrik, jeden Siloturm. Er sammelte Daten über den Fünfjahrplan.“²⁸ Nach der Beschreibung des Publikums kommt Benn zur Schilderung von Tretjakow selbst: Tretjakow wird sich über diesen Beifall sehr gefreut, wahrscheinlich aber auch amüsiert haben, dieser kluge Russe wußte natürlich ganz genau, daß er hier nur einen propagandistischen Abschnitt aus dem neuen russischen Imperialismus entwickelte, während die biederen deutschen Kollegen es als absolute Wahrheit nahmen. (SW III, 331– 332)
Nach der zweiten Ausgabe der Kolchosenberichte unter dem Titel „Herausforderung“ (1932), die erst nach der Berliner Vorlesungen publiziert wurde, hat Tretjakow seinen Erfolg im Ausland für sehr wichtig gehalten – die Fassung schließt mit den folgenden Worten: Die Zuhörer aus Wien, Hamburg, Berlin, Stuttgart haben mit Jubeln und Beifall diese Worte begrüßt, als ich sie in meinem Vortrag aussprach.²⁹
In seiner Rundfunkrede gibt Benn nicht nur eine kritische Zusammenfassung, sondern macht auch Feststellungen genereller, politischer Art. Tretjakows Credo lautet nach Benn: Diese russische Kunsttheorie […] behauptet, […] daß alles, was in uns, dem abendländischen Menschen, an Innenleben vorhanden ist, also unsre Krisen, Tragödien, unsre Spaltung, unsre Reize und unser Genuß, das sei rein kapitalistische Verfallserscheinung, kapitalistischer Trick. Und der Künstler verarbeite aus Eitelkeit und Ruhmsucht, ja Tretjakow fügte in wahrhaft kindlicher Unkenntnis der Verhältnisse hinzu: vor allem aus Geldgier diese seine „Individualidiotismen“ […] zu Büchern und Dramen. In dem Augenblick aber, wo der Mensch zur russischen Revolution erwacht, […] fällt das alles vom Menschen ab, […] und es steht da
Kracauer: Instruktionsstunde [Anm. 21], S. 545. Rost: Mijn ontmoetingen [Anm. 19], S. 304. Tretjakoff: Feld-Herren [Anm. 12], S. 386. Tretjakoff: Vyzov [Anm. 13], S. 364.
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das zwar ärmliche, aber saubere, das geglättete heitere Kollektivwesen, der Normalmensch ohne Dämon und Trieb, beweglich von Lust, endlich mitarbeiten zu dürfen am sozialen Aufbau, an der Fabrik, vor allem an der Festigung der roten Armee, Jubel in der Brust: in den Staub mit allen Feinden nicht mehr Brandenburgs, sondern Moskaus. (SW III, 332)
Benn vergleicht Tretjakows Versuche, den klassischen, ‚tiefen‘ (eine Tretjakow‘sche Formel) Schriftsteller anzugreifen, mit Heines Angriffen gegen Goethe und Börnes gegen Heine, hinzufügend, dass „der Kampf gegen die Kunst […] nicht in Rußland und nicht in Berlin [entstand]. Er geht von Plato bis Tolstoi.“ (SW III, 334) Aber auch Tolstoi mitsamt der ganzen klassischen russischen Literatur wird von Tretjakow eher als Feind (als ein solcher ‚tiefer‘ Schriftsteller), denn als Verbündeter angesehen. Tretjakows Ideen in Benns Schilderung erinnern an Tretjakows Beitrag „Neuer Lew Tolstoi“. Darin verurteilt er die Kritiker, die versuchten, Einflüsse der Tolstoi‘schen Tradition in der sowjetischen Literatur zu finden und diesen dadurch aufzuwerten: Man sucht auch in der heutigen Belletristik die Rosinen der Lehrerschaft, aber dieses Suchen ist nicht mehr, als wenn eine Katze in einer Ecke auf die Toilette geht, aus der der Sand schon lange weggenommen wurde.³⁰
Auch später noch wird Tretjakow bei Benn mehrmals erwähnt, meistens in negativen Kontexten. In seiner Rundfunkrede „Der Neue Staat und die Intellektuellen“ (1933) spricht Benn von dem „liberalen Intellektuellen, der […] berauscht zu Füßen jedes russischen Agenten saß“ (SW IV, 17), offensichtlich eine Anspielung auf Tretjakow. In seinem Essay „Expressionismus“ (1934) schreibt Benn, Tretjakows Absicht sei „Mord aller Kunst als ‚Privatidiotismus’“ (SW IV, 87) gewesen. Wie wir sehen können, verändern sich Benns Formeln – zuvor war von „Individualidiotismen“ die Rede. Zusammenfassend kann man sagen, dass Tretjakows Rezeption in Deutschland stark in einem politischen Kontext stand. David Fore schreibt, dass „in literarischen Debatten der späten Weimarer Zeit Tretjakow als eine Art Blitzableiter diente: die Nuancen und Feinheiten seiner Werke versanken oft in dem Rauschen dieser Debatten, die sein Programm zu einigen schemenhaften Punkten zusammenfassten.“³¹ Obwohl Tretjakows Vorstellungen mit Benns Ideenwelt einige Berührungspunkte aufwiesen, war letzterer eher dazu geneigt, diesen Um Sergei Tretjakow: Novyj Lev Tolstoi [Neuer Lew Tolstoi], in: Literatura fakta [Literatur der Fakten], hg. v. Nikolai Tschuschak, Moskau 2000, S. 29 – 34, hier: S. 32. David Fore: Sergej Tret’jakov: fakt [Sergei Tretjakow: Fakt], in: Formal’nyj metod [Die formale Methode], hg. v. Serguei A. Oushakine, Bd. 2: Materialy. Moskau-Ekaterinburg, 2016. S. 183 – 199, hier: S. 197– 198.
Die Auseinandersetzung Gottfried Benns mit Sergei Tretjakow
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stand wegen der politischen Unterschiede zu ignorieren. Am Ende ist der Avantgardist Benn, indem er die Literatur vor der Parteikontrolle schützen will, ein Verteidiger der klassischen Literatur gegen die Avantgarde geworden.
Anette und Peter Horn: Was aber neu ist, ist die Frage nach dem Satzbau. Die Gedichte Gottfried Benns Oberhausen: Athena-Verlag 2017 (= Beiträge zur Kulturwissenschaft, 39). 265 S., Taschenbuch, € (D) 29,50 (ISBN 978-3-89896-647-4). In einer seiner Vorlesungen an der Cornell-Universität bestimmt Vladimir Nabokov die Formel für die Qualität eines Romans als Vereinigung der „Präzision der Poesie mit der Intuition der Wissenschaft“.¹ Nabokov spricht ex cathedra zwar als Professor mit Lehrauftrag, aber seine Position und seine Autorität rühren vorrangig vom Status und der Originalität des Künstlers her. Die elegante Enallage seiner Formel hebt dabei auf nonchalante Weise eine Spannung auf, die sich dem ordinären Ordinarius umso verschärfter darstellt – zumal wenn er sich als Gegenstand seiner Forschung ein Stück moderner Lyrik vorgenommen hat. Der Polarität, die „Die Sprache der Dichtung und die Sprache der Wissenschaft“ voneinander trennt, sind sich auch die Germanistikprofessoren Anette und Peter Horn bewusst. Davon zeugt der gleichlautende Titel des Schlusskapitels ihrer Studie „Was aber neu ist, ist die Frage nach dem Satzbau“, die den Gedichten Gottfried Benns gewidmet ist. In Übereinstimmung mit dem Kunst-Absolutisten melden die Autoren Zweifel an der Erreichbarkeit lyrischen Sprechens durch wissenschaftliche Diskursivität an: Lyrik vermag letztlich nur sich selbst zu offenbaren, die Dinge mystisch bannen durch das Wort. […] Die Sprache der Wissenschaft, auch der Literaturwissenschaft[,] ist nach Benn unzulänglich und begrenzt, und unfähig, das Geheimnis und den Zauber der Lyrik zu erschließen. Ein Sprechen über Lyrik kann keinen Aufschluss über das geben, was Lyrik in ihrem eigensten Wesen ist. (S. 253)
Das ist eine deutliche Position, die für die Forscher allerdings nicht zu der Konsequenz führt, darüber zu schweigen, worüber man nicht sprechen kann. Die „Rezeption des Eigentlichen“ in der Lyrik gehe zwar „nur über ästhetische und assoziative Kanäle“, wie sie unter Berufung auf Fedor Pellmann schreiben. Da das Wort aber auch Sinnträger sei, sehen sie die „Notwendigkeit[,] dennoch einen
Vladimir Nabokov: Gute Leser und gute Autoren, in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. XVIII: Vorlesungen über europäische Literatur, hg. v. Fredson Bowers und Dieter E. Zimmer, Reinbek bei Hamburg 2014, S. 33 – 43, hier: S. 43. https://doi.org/10.1515/9783110729658-013
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Sinn in der Abfolge von Wörtern zu finden“. In ihren Interpretationen versuchen die Autoren laut eigener Aussage, sich „zwischen den Extremen zu bewegen“ (S. 253 – 254). Was beim Lesen dieser Studie vermisst wird, ist ein klarer Plan, ein Kurs, der diese Bewegung orientiert. Dabei wäre ein Leitstern doch in Sicht: Mit der zum Buchtitel umfunktionierten Gedichtzeile ist eine klassisch-hermeneutische Situation etabliert, und das Haupterkenntnisinteresse scheint definiert: die neue Frage nach dem Satzbau. Die Frage ließe sich auf vielerlei Weise entfalten: Warum die Betonung des Satzbaus? Wie ist das zu verstehen: anthropologisch, linguistisch, ästhetisch, kunstmetaphysisch, epistemisch oder noch mal anders? Dann die von Benn behauptete Neuheit: Verweist sie auf eine bestimmte Epochensituation? Welche wäre das? Und wie genau navigiert eigentlich Benn, der doch immer wieder auf die wissenschaftlichen Diskurse seiner Zeit rekurriert, in seiner Lyrik zwischen den sprachlichen Extremen von ästhetisch betonter Unverständlichkeit und sprachinhärentem Bedeutungsgebot? Auf eine systematische kontextuelle Rekonstruktion der diskursiv-historischen Situation, in die Benn seine Frage und seine poetische Praxis hineinstellt, verzichten die Autoren jedoch. Die genannten Auslegungsmöglichkeiten werden höchstens angedeutet. Ohne größere methodische Umschweife steigen die Interpreten in medias res mit dem programmatischen und titelspendenden Gedicht „Satzbau“ ein, als dessen entscheidende Botschaft sie – vermittelt und verstärkt durch Einlassungen des Dichters an anderer Stelle – die Erkenntnis vermuten, dass für Benn das Wesentliche an der Lyrik die Form sei: „Nicht was oder worüber einer dichtet, sondern wie – in welcher Sprache und in welcher Anordnung der Wörter und in welcher sprachlichen Struktur er das tut, – wird zur eigentlichen Aufgabe des Dichters“ (S. 19). Die eigentliche Aufgabe des Literaturwissenschaftlers wäre es dann wohl analog, die sprachliche Struktur eines Gedichtes möglichst transparent zu machen. Aber der dazu bereitstehenden analytischen Mittel bedienen sich die Autoren nur spärlich. Über Bauform, Strophenform und Reimschema der behandelten Gedichte erfährt der Leser kaum etwas. Der Einsatz sprachkünstlerischer Mittel wird ebenso wenig systematisch analysiert wie Prosodie, Metrik und Rhythmus. Statt auf differenzierte diskursive Kontextrekonstruktionen und konsequente formalistische Analysen setzen die Autoren auf ein Vorgehen, das in der BennPublizistik seit jeher besonders beliebt ist, dessen Einseitigkeit und methodische Schwäche die neuere Forschung aber zu einem großen Teil hinter sich gelassen hat: Benns extensive Selbstdeutungen, poetologische Stellungnahmen und Positionsbestimmungen aus seinen Essays, Reden, Interviews, Briefen, autobiografischen Schriften und Prosawerken werden herangezogen, um damit das lyrische Œuvre zu erläutern. Das kann im Einzelnen durchaus erhellend sein, bei
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der Positionsbestimmung Benns sowohl innerhalb der literatur- als auch der geistesgeschichtlichen Epoche helfen und deren Horizont zumindest andeuten. Doch auch das geschieht eher assoziativ als analytisch, die Gattungsunterschiede der Prosatexte werden eingeebnet, die zeitliche Verortung und generelle Interpretationsbedürftigkeit auch der zitierten Aussagen nur unzureichend berücksichtigt. So gelangen die Autoren kaum über das von Benn bereitgestellte Material hinaus, es gibt viele Paraphrasen und immer wieder Redundanzen. Das ist umso erstaunlicher, als sie in ihrem Vorwort bemängeln, dass die Beschäftigung mit dem Bennʹschen Denken und dessen prosaischem Niederschlag in der Forschungsliteratur gegenüber der Lyrik deutlich die Oberhand habe. Und „selbst Benns Prosa“ werde „im Allgemeinen fast nur vom Inhaltlichen, nicht vom Sprachlichen und Ästhetischen her gewürdigt“ (S. 11– 12). Die Berechtigung dieses Befundes sei einmal dahingestellt – sie weckt jedenfalls die Erwartung, dass im Folgenden nun ein anderer Weg eingeschlagen und für die Lyrik das Entscheidende geleistet werde. Diese Erwartung wird leider enttäuscht. Eine neuartige Analyse der sprachlich-ästhetischen Leistung Benns bietet das Buch gerade nicht. Dass auch Anette und Peter Horn sich vornehmlich über das Inhaltliche der Bennʹschen Lyrik nähern, lässt sich schon am Inhaltsverzeichnis ablesen. Die Kapitelüberschriften lauten etwa „Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch“, „Großstadtlyrik“, „Benn und Nietzsche“, „Nationalsozialismus und Faschismus“, oder „Das Genie und das Scheitelauge“. Das alles folgt keinem zwingenden Ordnungsprinzip, es hat wie auch die Interpretationen selbst eher assoziativen Charakter und spiegelt den generellen Mangel an Systematik des Bandes. „Eine einzige enggefasste Methode“ sei „nicht ausreichend“, der „Vielschichtigkeit“ sprachlicher Kunstwerke „gerecht zu werden“ (S. 254), schreiben die Autoren am Ende ihres Buches. Das ist sicher richtig. Es kann aber nicht bedeuten, auf jegliche Methodik zu verzichten. Die Literaturwissenschaft stellt inzwischen ein ausdifferenziertes Arsenal an Methoden, Modellen und Theorien bereit, aus denen ein dem Gegenstand angemessenes Verfahren reflektiert und kritisch hergeleitet werden kann. Das muss nicht eindimensional sein, sondern kann durch geschickte Kombination von Form-, Inhalts- und Kontextanalyse auch lyrischen Werken ein epistemisches Supplement beigesellen. Dadurch wird der Abstand zwischen poetischem und wissenschaftlichem Sprechen nicht aufgehoben, aber das muss keine Schwäche sein. Auch – und als Nicht-Künstler müsste man wohl sagen: gerade – in ihrer Differenz können sich die Diskurse gegenseitig befruchten. Christian Leistenschneider (St. Ingbert)
Uwe Lehmann-Brauns: Benns letzte Lieben. Mit Originalbriefen von Gottfried Benn Berlin: Verbrecher Verlag 2019. 111 S., geb., € (D) 24 (ISBN 978-3-95732-381-1). Jedes neue Buch über Benn, insbesondere wenn es bislang unbekannte Briefe enthält, ist ein Grund zur Vorfreude. Der Titel „Benns letzte Lieben“ könnte sogar die Hoffnung wecken, endlich mehr über die ominöse Freundin des Käsehändlers zu erfahren, der Benn Anfang der 1950er Jahre für längere Zeit verfallen war; eine Affäre, die einige seiner Werke beeinflusste. Man schlägt den Band also positiv gestimmt auf. Und tatsächlich ist das kleine Buch vom Verlag sehr ansprechend gestaltet worden. Es ist auch durchaus interessant zu erfahren, dass Gottfried Benn in seinen letzten anderthalb Lebensjahren eine Bekannte namens Gerda Pfau hatte – dies ist der Kern des Ganzen –, von der selbst Benn-Kenner noch nichts wussten. So viel zu den positiven Aspekten des Buches, dessen Lektüre dann aber leider von Seite zu Seite beim Leser zu größerer Fassungslosigkeit führt und das man am Schluss ohne nennenswerten Erkenntnisgewinn zur Seite legt. Aber der Reihe nach. Einer kurzen Einleitung folgen 22 Druckseiten mit den 30 kurzen Briefen und den noch kürzeren Mitteilungen, die Gottfried und Ilse Benn zwischen Dezember 1954 und Juni 1956 an Gerda Pfau schrieben, sowie mit einigen Abbildungen der Schreiben. Im nachfolgenden Kapitel „Gerda Pfau“ werden die Briefe an sie nacherzählt und eingeordnet. In „Frauengeschichten“, dem längsten Kapitel, werden Benns Beziehungen zu Ursula Ziebarth und Astrid Claes thematisiert und mit derjenigen zu Gerda Pfau verglichen. Lehmann-Brauns nutzt gern die Wendung „Blaue Stunden“, wenn er über ein Stelldichein des Dichters mit den Damen schreibt. Die Freundin des Käsehändlers gehört für ihn explizit „nicht“ zu diesem Kreis (S. 56). Ein Tippfehler? Immerhin ist sie die Angesprochene im Gedicht „Blaue Stunde“; und Lehmann-Brauns schildert das Verhältnis auf S. 74– 75 dann doch noch. In diesen „Frauengeschichten“ bleibt der Autor insgesamt sehr oberflächlich, springt häufig hin und her, wiederholt schon Gesagtes. Ein Unterkapitel bietet dann noch etwas zu Benns Sprache, seinem „Ausflug in die Politik“ (S. 79), der Benn-Rezeption in der DDR und zu Bertolt Brecht. In „Drei Frauen“ wird den Damen Ursula Ziebarth, Nele Topsøe und Ilse Benn je eine kurze Darstellung gewidmet. Da auch Ilse offenbar Affären hatte, musste Benn seinem Freund Oelze traurig mitteilen, sie habe „sich ganz phantastisch in einen anderen verliebt“, wie Lehmann-Brauns auf S. 100 wiedergibt; im Original des Briefs an Oelze vom 7. März 1955 steht freilich „fanatisch in einen anderen verliebt“ (BOe IV, https://doi.org/10.1515/9783110729658-014
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330). Im Schlusskapitel „Nachspiel“ geht es um das Bemühen Lehmann-Brauns, Benns Briefe an Nele nicht nach Marbach gelangen zu lassen, sondern nach Berlin zu holen. Kurz: Nach dem eigentlichen Briefkonvolut wird es schwammig. Offenbar mussten noch gut 50 Seiten gefüllt werden, damit es ein Buch würde. Zu diesem Zweck wird für die „Frauengeschichten“ und die nachfolgenden Abschnitte das ein oder andere Zitat aus den Editionen der Ziebarth- und ClaesKorrespondenzen sowie aus anderen Büchern zusammengesucht, ohne dass neue, den Leser fesselnde Perspektiven entstünden. Insgesamt hätte man wohl besser nur das Briefkonvolut – mit einer kurzen Einleitung zu Gerda Pfau – in einer Zeitschrift oder einem Jahrbuch veröffentlicht. Der Grund, warum an Benn Interessierte dennoch dieses Buch erwerben werden, ist denn auch der Abdruck von bislang unbekannten Briefen Benns, die dieser an die 30 Jahre jüngere Gerda Pfau schickte. Die Empfängerin hatte sie dem Herausgeber explizit zur postumen Veröffentlichung vermacht. Ein ‚echter Benn‘ ist sein freudiger Ausruf auf einem Rezeptblatt: „Gerda Erica Pfau ist gottseidank eine Biertrinkerin!“ (S. 20) Meist jedoch geht es in den Texten darum, dass Benn die junge Frau telefonisch nicht erreicht habe oder dass er wegen seines gesundheitlichen Zustandes nicht zu Treffen fähig war. Wenige Sätze, so „Es war Sonnabend bei Ihnen sehr schön, ich denke oft daran“ (1. September 1955, S. 24) oder „Natürlich sind Sie völlig frei zu Handeln und tun, was Sie wünschen“ (7. Mai 1956, S. 33) oder dass er sie ab Sommer 1955 gelegentlich mit „Du“ anspricht (was bei ihm stets auf eine intimere Beziehung schließen lässt), kann man vielleicht als Hinweise auf eine Affäre deuten. Möglicherweise hatte Lehmann-Brauns noch mündliche Hinweise von Gerda Pfau erhalten, auch hat er ihren Namen 49-mal in Benns Kalendereinträgen entdeckt (S. 41); jedenfalls bezeichnet er Gerda Pfau als „Benns letzte Partnerin“ (S. 10). Die junge Frau wurde dem Dichter am 7. September 1954 vorgestellt. Sein erster schriftlicher Gruß stammt vom 30. Dezember 1954. Trotz dieser von Lehmann-Brauns selbst festgehaltenen Daten nennt der Autor bezüglich des Beginns der Bekanntschaft verschiedene und fehlerhafte Anfangsdaten – um nur drei anzuführen: „Am 7. September 1954 besucht Gottfried Benn eine Diskussionsveranstaltung […]. Bei der Diskussion an diesem Septembertag 1951“ (S. 37); „Gerda Pfau lernt er 1952 kennen, ihre Beziehung beginnt 1955“ (S. 57); „obwohl sie seit 1953 bzw. 1955 die Dritte ‚im Bunde‘ ist“ (S. 69). Diese Schludrigkeit und dieses mangelnde Lektorat ziehen sich durch das ganze Buch. Im Kapitel, in dem die Inhalte der Briefe Benns an Pfau nacherzählt werden, schafft es der Autor, mehrere der Briefe, die er zitiert oder auf die er hinweist, mit je einem anderen Datum zu bezeichnen, als es vorn in der Edition der Briefe ausgewiesen ist. Nur zwei Beispiele: Pfau solle sich bei nächtlicher Kälte gut zudecken, schreibt Benn am 21. Dezember 1955, nicht am „20.12.1955“; „Ungute alte Gerda“ nennt Benn die
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Freundin am 5. Februar 1956, nicht am „23. 3.1956“ (beide Male S. 47). Das wären in einer großen Monographie Petitessen – nicht aber in einer Briefedition. Zumal ja auch noch viel schlimmere Fehler passieren: Da wird das späte Gedicht „Reise“ erwähnt (S. 85), man lernt überrascht die Novelle „Die Ptolemäer“ kennen (S. 92) und wundert sich über die Abfolge der Worte im Zitat „Der Mensch, das Schwein, die Krone der Schöpfung“ (S. 84 und 103) – nein, man wundert sich nicht mehr. Man fühlt sich als Leser nicht ernst genommen. Peter Lingens (Frankfurt am Main)
Ah, la terra lontana… Gottfried Benn in Italia Hg. v. Amelia Valtolina und Luca Zenobi, Pisa: Pacini Editore 2018 (= Saggi critici, 57). 300 S., Taschenbuch, € (I) 21,25 (ISBN 978-88-6995-441-2). Mit dem Titel „Ah, la terra lontana…“ – italienisch für den Vers „Ach, das ferne Land“ aus den „Statischen Gedichten“ – ist 2018 in der Reihe Saggi critici (Verlag Pacini Editore Pisa) ein Sammelband mit Aufsätzen bekannter italienischer Germanisten und Literaturwissenschaftler zur Benn-Rezeption in Italien erschienen. Die Herausgeber Amelia Valtolina (Bergamo) und Luca Zenobi (L’Aquila) – selbst ausgewiesene Benn-Forscher – stellen den Band zugleich als Reflexion über die Bedeutung der Lyrik in der Gegenwart vor. Walter Siti, Literaturkritiker, Schauspieler und Literat, der unter anderem die Ausgabe der Werke von Pasolini mitherausgegeben hat, hat jüngst in der Zeitung „La Repubblica“ das Gedicht „Schöne Jugend“ von Gottfried Benn zum Kanon der Gedichte der Gegenwart gezählt. Mit diesem Hinweis auf die Lyrik der Gegenwart präsentieren Valtolina und Zenobi den Band, der den Stand der Benn-Rezeption im akademischen und literarischen Leben Italiens zu erfassen sucht. Ähnlich wie im Bewusstsein der Gegenwart die Lyrik kaum vernehmlich sei, doch untergründig präsent bleibe, so sei auch die Figur Gottfried Benns mit seinem gnadenlos kalten poetischen Wort und seiner intellektuellen Unerbittlichkeit doch noch lebendig. Benn wird zur Figur des Unzeitgemäßen erklärt, weil und insofern er als Dichter nicht die Zeitlosigkeit des poetischen Wortes, wohl aber das Unzeitgemäße desselben ausspreche. Die versammelten Aufsätze lassen die Vermittlung des Werks in Italien Revue passieren und ziehen über dessen Wirkung im kulturellen und literarischen Leben dieses Landes Bilanz. Drei Aspekte der Benn-Rezeption stehen dabei im Mittelpunkt: die Geschichte der Übersetzung des Werks als Voraussetzung der kulturellen Vermittlung; die akademische und literarisch-intellektuelle Auseinandersetzung mit einem Dichter, der mit absoluter Prosa und Poesie assoziiert wird, und die produktive Aneignung seiner Artistik-Konzeption im Schaffen von Dichtern und Literaten im Italien der Gegenwart. Zur Vermittlung des Werks von Benn in Italien leistete – wie aus dem Aufsatz von Stefania De Lucia (Rom) besonders hervorgeht – Leone Traverso (Übersetzer u. a. von Rilke und 1940 von Benns „Negerbraut“) Pionierarbeit. Er stellte Benn in den 1950er Jahren als „Größten Lyriker“ deutscher Sprache mit einer Auswahl aus den „Statischen Gedichten“ dem italienischen Publikum vor. https://doi.org/10.1515/9783110729658-015
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In den Spuren von Traverso übersetzte Giuliano Baioni 1972 die „Statischen Gedichte“ – dazu der Aufsatz von Marco Rispoli (Padua) im Sammelband. Bereits in den 1960er Jahren hatten Ferruccio Masini die Zyklen „Aprèslude“ und „Morgue“ und Luciano Zagari Benns „Aufsätze“ sowie seine intellektuelle Autobiographie „Doppelleben“ mit kritischen Anmerkungen versehen dem Leser zur Rezeption vorgestellt und dabei ideologische Bedenken und Vorurteile kritisch revidiert. So geht Baioni in seinem Kommentar direkt auf die poetologisch-kritischen Reden und Aufsätze Benns ein und ist bemüht, die Genese von Benns Lyrik in poetologischer Hinsicht zu kommentieren.Verwurzelt sei Benn in der Antithese von Naturalismus und Dekadenz. Beide Strömungen verabsolutierten die Wirklichkeit oder das Wort und negierten so eine ideologische Funktionalität der Poesie in der Moderne. Der poetologische Schwerpunkt in Baionis Lektüre hebt das Ineinander von Poesie und Reflexion hervor. Baioni zufolge verweigere sich Benn dem geschichtsphilosophischen Diskurs, um sich einer Poesie des Lebens – einer „biopoetica“ (S. 25) avant la lettre – zu öffnen, die in der Konstruktion von formalen Objekten ihr konstantes tragisches Wesen und d.i. ihre Statik erreiche. Unter dieser Perspektive sei auch Benns Teilnahme an einer nationalsozialistischen Erneuerung des Menschen zu lesen. In seiner Rezension von Baionis Übersetzungsarbeiten wird der Dichter und Intellektuelle Pier Paolo Pasolini das Bild eines geschichtsfernen und poetisch-konstruktivistischen Benn erneut hinterfragen. Benns Texte seien nicht frei von Ambivalenz, denn es sei nicht möglich sich dem geschichtlichen Sinn zu entziehen. Luca Zenobi schreibt zu Benn bei Luciano Zagari, dem Übersetzer von Benns „Aufsätzen“ (1963), vom „Roman des Phänotyp“ und des „Ptolemäers“ (beide 1973). Zagaris hermeneutischer Weg durch Benns Werk erstreckt sich von den frühen 1960er Jahren bis 1997, dem Erscheinungsjahr seiner eigenen, zum Teil überarbeiteten Schriften, die Benns Werk gewidmet sind. Zagari verorte Benn im modernen Hermetismus und lese das Werk als hermeneutisch-existenzielle Verständigung über die Gegenwart. In einer Linie mit Novalis, Heine und Brecht stehe bei Benn die Funktion des poetischen Wortes im nachmetaphysischen Zeitalter im Mittelpunkt. Problematisch erscheint aber, wie eine vom Nihilismus geprägte Poesie sich eignen soll, eine geschichtliche Erneuerung zu fundieren. Dieser Streit, in den sich auch Pasolini mit seiner Kritik an Baioni einschaltet, habe Zagari bis zuletzt ausgetragen. Auch im Aufsatz von Elena Agazzi (Bergamo) über die Rezeption von Gottfried Benn bei Ferruccio Masini (Übersetzer der „Aprèslude“, der „Morgue“ und Autor einer monographischen Studie zum nihilistischen Mythos bei Benn aus dem Jahr 1968) werden besonders die ästhetisch-philosophischen Folgen des Verhältnisses von Benn zu Nietzsches Nihilismus-Diagnose bedacht. Nach Masini, der auch die Werke Nietzsches übersetzt hat, suche Benn Nihilismus und Subjektivität zu-
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sammenzudenken. Von der Ekstase der Zersetzung in der frühen Phase verlagere sich Benn zur Montagetechnik und Antisynthetik in den „Problemen der Lyrik“ und „Aprèslude“. In Benns Artistik zeige sich ein prismatisches Ich, das, Abschied nehmend von der Geschichte, in resignativer Haltung ohne Pessimismus die Leere aushalte. Das Verhältnis zum Nihilismus werde so stets neu überdacht, den Widerspruch nicht scheuend. Masinis Rezeption erweist sich – so Agazzi – als ‚rhizomartiges Gebilde‘ (vgl. S. 79), denn auch er begehe unterschiedliche Wege der Auseinandersetzung mit dem zentralen Gedanken vom Tod Gottes und der tragischen Suche nach Alternativen in der Postmoderne. Marco Meli (Florenz) betrachtet in seinem Aufsatz die Übersetzungstätigkeit von Giuseppe Bevilacqua und Maria Fancelli (namhafte Vertreter der Germanistik in Florenz). Bevilacqua übersetzte eine Auswahl der Gedichte aus Benns expressionistischer Phase, aus den 30er und 40er Jahren und einige seiner späten Texte, vor allem solche, die eine klassische Form aufweisen. Anders als Baioni oder Masini lege er Wert auf eine Übersetzung, die autonom sei, nicht der Vermittlung des Originals diene, sondern ein Äquivalent intendiere für etwas, das in einer anderen Sprache fremd bleiben müsse und nur so gemeint sein könne. Hier charakterisiert Meli die Problematik der Übersetzung in sprachphilosophischer Hinsicht vor dem Hintergrund von Benjamins „Aufgabe des Übersetzers“ und erkennt in Bevilacquas Übersetzung den Versuch, die Sprache als Fragment und damit den Nexus von Klang/Laut/Bedeutung/Rhythmus in einer Art des Meinens zu rekonstruieren. Das Werk von Benn werde für Bevilacqua zum Risikofeld, in dem der Übersetzer sich auch selbst aufs Spiel setze. Unter dieser Perspektive lasse sich auch Fancellis Übersetzung von Benns Novelle „Gehirne“ (1986) einordnen. Hier sei nicht so sehr die Reimqualität das Feld der Bewährung, wohl aber die Thematik des „südlichen Wortes“, das im Italienischen geringeren „Wallungswert“ besitzen müsse. Kritische und polemische Diskussionen regte die Benn-Rezeption in Italien wegen seines Interesses für die archaisch-irrationale Sedimentierung der Kultur und seiner zeitweiligen Kompromittierung mit der Kulturpolitik der Nazis an. Darauf gehen die Aufsätze von Gabriele Guerra (Rom) und Paola Quadrelli (Mailand) ein. Guerra schreibt über den Chiasmus ‚Macht der Form und Form der Macht‘ im Verhältnis zwischen Benn und dem Futurismus (Marinetti) und dem faschistischen Regimephilosophen Julius Evola. Besonders polemisch verlief der Streit zwischen Cesare Cases und Roberto Calasso. Paola Quadrelli beschreibt, wie Benn zwischen 1965 und 1975 in Italien großes Interesse erregt hat. Der traditionsreiche Verlag Einaudi brachte zu jener Zeit gerade die Übersetzungen der wichtigsten lyrischen Werke („Morgue“ (1971) und „Statische Gedichte“ (1972)) sowie Benns Prosaschriften (1973) heraus. In dieser Zeit fand eine intellektuelle Umorientierung weg von Lukács‘ soziologischen Modellen und hin zu den An-
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sätzen von Walter Benjamin, der Frankfurter Schule sowie Nietzsche und Adorno statt. Mit dem Denken der Diskontinuität und der Fragmentarizität wurde das Interesse für die Rationalitäts- und Kulturkritik wach. Der in diesen Jahren gerade neu gegründete Verlag Adelphi richtete die Aufmerksamkeit auf den Mythos, das Heilige und das Unsagbare. Benn mit seiner a-logischen Prosa, mit seiner Distanz zur Geschichte und den technologischen und wissenschaftlichen Mythen der Moderne wird zu einer Galionsfigur im Kampf gegen die aufklärerische rationalistische Kultur. Zagari, der seine Übersetzungen „Roman des Phänotyp“ und „Der Ptolemäer“ bei Einaudi 1973 veröffentlichte, lobt Benns stilistische Eleganz, klassifiziert aber das Werk zugleich als Flucht vor der Verantwortung in einen regressiven Mythos der Ich-Auflösung im Tao und stellt diese Flucht in einen Zusammenhang mit der Adenauer-Zeit. Diese Deutung rief einen heftigen Streit zwischen Zagari (Einaudi), Calasso (Adelphi und „L’espresso“) und Cesare Cases hervor, der als Hauptvertreter der marxistischen Schule bei Einaudi zu Hause war. Es ging um das Verhältnis von Historie und Post-Historie und (nach Nietzsche, auf den sich Calasso beruft) um die ‚physiologische Reduktion‘ (vgl. S. 120) von Geschmacks- und Erkenntnisurteilen. Lebendig ist das Interesse für Benn bei Dichtern und Literaten der Gegenwart. Zu Benn bei Milo de Angelis schreibt Alessandro Baldacci (Potsdam), dass der Dialog des italienischen Dichters und Literaturkritikers seit 1976 (Erscheinungsjahr der „Somiglianze“) ununterbrochen andauere. Der Dichter finde in Benns Poetik und im Rönne-Komplex einen ‚Imperativ des Nichts‘ (vgl. S. 11), das poetische Wort befinde sich bei Benn an dessen Abgrund. Bis heute finde er in den Texten Benns die Tragödie des Dichters vor, die auch er für sich durchlebe. In diesem Zusammenhang steht auch der Beitrag von Giulia Cantarutti (Bologna) zur Erzählerin Paola Capriolo. Capriolo schloss in den 80er Jahren ein Studium der Philosophie mit einer Thesis über das Absolute der Form ab, bei der sie sich Benns Denken verpflichtet zeigte. Dieses Interesse für Benns Intellektualismus mündete in eine Monographie über Benns Aufsätze (1996), in der sie in den Spuren von Masinis „Mito del Nichilismo“ von 1967 das Absolute der Kunst als Imperativ der Form reflektierte. Dasselbe Thema griff sie dann auch in ihrem eigenen literarischen Schaffen mit dem Roman „Un uomo di carattere“ – deutsch: „Ein Mann mit Charakter“ – (ebenfalls 1996 erschienen) auf, in dem sie eine BennFigur entwirft. Auf Benns Spuren bewegte sich auch die jüdische Lyrikerin Amelia Rosselli, die mit Masinis Übersetzung der „Morgue“ sowie einer Auswahl von Benns Lyrik aus den Jahren zwischen 1910 und 1927 auf der Ebene der Motivik und der Destruktion der poetischen Bilder einen lyrischen Dialog unterhält. Zum Lehrer erklärt wird Benn auch bei Cristina Campo. Über eine Mystik ohne Gott (Masini über Benn im Vorwort zu „Aprèslude“) und die Idee der Vollendung im Nihilismus
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reflektiere sie in den „Imperdonabili“ (zuerst 1964, dann zusammen mit weiteren Aufsätzen nochmals 1987 erschienen). Für sie wurde Benn zum Lehrer der Form als höchstem Inhalt. Den Band beschließt ein Aufsatz von Amelia Valtolina, die die Kontinuität von Benns Poetik, entgegen der Vorstellung einer lebensgeschichtlichen Entwicklung oder eines Werdegangs des Dichters, betont. Der Wallungswert des südlichen Wortes, der zur Effulguration des Bildes führe, sei eine Konstante in Benns poetischem Denken: „Ah! La terra lontana“ Pasquale Memmolo (Bonn)