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German Pages [417] Year 2009
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367131 — ISBN E-Book: 9783647367132
Historische Semantik
Herausgegeben von Bernhard Jussen, Christian Kiening, Klaus Krüger und Willibald Steinmetz
Band 13
Vandenhoeck & Ruprecht
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Kein Zufall Konzeptionen von Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur Herausgegeben von Cornelia Herberichs und Susanne Reichlin
Mit 4 Abbildungen
Vandenhoeck & Ruprecht
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-36713-1
Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung.
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Susanne Reichlin Kontingenzkonzeptionen in der mittelalterlichen Literatur: Methodische Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Philosophie Peter Schulthess Kontingenz: Begriffsanalytisches und grundlegende Positionen in der Philosophie im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . .
50
Legenden Albrecht Hausmann Gott als Funktion erzählter Kontingenz. Zum Phänomen der ›Wiederholung‹ in Hartmanns von Aue Gregorius
79
Elke Koch Erzählen vom Tod. Überlegungen zur Finalität in mittelalterlichen Georgsdichtungen . . . 110
Antikenromane Annette Gerok-Reiter Die Figur denkt – der Erzähler lenkt? Sedimente von Kontingenz in Veldekes Eneasroman. . . . . . . . . . . . 131 Cornelia Herberichs so muz ich gut gelucke han. Kontingenzreflexionen im Liet von Troye Herborts von Fritzlar . . . . . 154
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Inhalt
Höfische Romane Mireille Schnyder Räume der Kontingenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Volker Mertens Wahrheit und Kontingenz in Gottfrieds Tristan . . . . . . . . . . . . . . 186 Armin Schulz Kontingenz im mittelhochdeutschen Liebes- und Abenteuerroman . . 206
Mären Michael Waltenberger Der vierte Mönch zu Kolmar. Annäherungen an die paradoxe Geltung von Kontingenz . . . . . . . . 226 Susanne Reichlin Zeitperspektiven. Das Beobachten von Providenz und Kontingenz in der Buhlschaft auf dem Baume . . . . . . . . . . . . . . . 245
Schauspiel Werner Röcke Die Risiken der Gewissheit. Inszenierungen von Kontingenz im Fastnacht- und Antichristspiel des Spätmittelalters . . . . . . . . . . 271 Carla Dauven-van Knippenberg Fransen des Unfassbaren. Providenzsicherung und Kontingenzvermeidung im geistlichen Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . 289
Lyrik Ursula Kundert Minneklage als Nachdenken über eine ungewisse Zukunft. Walthers stæte-Lied 66 (L 96, 29 ff.) aus kontingenztheoretischen Perspektiven des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304
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Inhalt
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Prosaromane Harald Haferland Kontingenz und Finalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337
Kontingenz und wissenschaftliche Diskurse Tobias Bulang Epistemische Kontingenzen und ihre literarische Aktivierung. Fallstudie zur Nomenklatur der Pflanzen in Johann Fischarts Geschichtklitterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 Peter Schnyder Robinson der Spieler. Erzählen im Zeichen einer ›Geometrie des Zufalls‹ . . . . . . . . . . . . 390
Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409
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Vorwort
Kontingenz ist eine historische Kategorie. Begriff und Gegenbegriffen des Kontingenten eignen unter geschichtlichen und kulturellen Rahmenbedingungen je spezifische Bedeutungen und Wertungen. Bezugspunkt der philosophischen Kontingenzdiskussion seit der Antike ist die wirkmächtige Definition des Aristoteles, wonach kontingent sei, was ›möglich, aber nicht notwendig‹ ist. Als Boethius den lateinischen Begriff contingentia in seiner Übersetzung der Peri Hermeneia (De Interpretatione) als Übertragung des Aristotelischen endechómena prägte, war im Mittelalter eine Mehrdeutigkeit gesetzt, die auch für die neuzeitliche Begriffsgeschichte von weitreichenden Folgen war: Bezeichnete in der Hermeneutik der aristotelische Begriff ›das Mögliche des Seienden‹, so eröffnete die lateinische Übersetzung mit ihrer Semantik des ›Zusammenfallenden‹, ›sich Ereignenden‹ einen weitaus offeneren Interpretationsspielraum. Für das christliche Mittelalter stellte sich die aristotelische Frage nach den Wahrheitsbedingungen von Aussagen, die sich auf zukünftige Ereignisse beziehen, im Zusammenhang mit der Diskussion göttlicher Providenz und der Willensfreiheit Gottes. Die Interpretationen der aristotelischen Schriften und die theologischen Lektüren des Sentenzenkommentars des Petrus Lombardus geben Zeugnis von der intensiven Beschäftigung mit diesem komplexen Begriff. Insbesondere die Auseinandersetzung mit den griechischen und arabischen Autoren forderte die Philosophen des lateinischen Mittelalters dazu heraus, den Kontingenzbegriff gegen den Nezessitarismus zu behaupten. Werden in der Kontingenzdiskussion nach dem Pariser Verurteilungsdekret von 1277 die Simultaneität des Möglichen und die Pluralität möglicher Welten zwar expliziert und der Bedeutungsspielraum der contingentia entscheidend erweitert, so werden erst seit der Aufklärung contingentia und Zufälligkeit synonym gesetzt. Wie sich die verschlungene Begriffs- zur nicht minder komplexen Konzeptgeschichte der Kontingenz verhält, wäre in Studien zu den einzelnen mittelalterlichen Diskursen, beispielsweise dem theologischen, naturwissenschaftlichen, juristischen, astronomischen und literarischen Diskurs, jeweils eigens nachzuzeichnen. Schon im philosophischen Diskurs gestaltet sich eine Geschichtsschreibung der Kontingenz zwischen Konzept- und Begriffsentwicklung intrikat: So bleibt in der Consolatio Philosophiae des Boethius in der Wechselrede mit der personifizierten Philosophie über die Vereinbarkeit von Providenz, Notwendigkeit und Möglichkeit der Begriff der con-
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Vorwort
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tingentia signifikanterweise ausgespart und wird doch der Möglichkeitsraum der nicht-determinierten, der kontingenten Wirklichkeit systematisch ausgemessen. Der philosophische Diskurs thematisiert hingegen mit Begriffen der Zeitlichkeit, Sukzession und Imagination Aspekte, die auch als Kategorien und Charakteristika der Literatur gelten können. Das Kontingente als das in der Faktizität Unverwirklichte hat stets eine Affinität zur Fiktionalität; die zeitliche Perspektivik der futura contingentia sowie die erst nachträgliche Erkenntnis darüber, welche Möglichkeiten sich realisierten, haben viel mit den Darstellungsmodi des Narrativen gemein. Die wissenschaftliche Reflexion auf mittelalterliche literarische Kontingenzkonzeptionen anzuregen, war das Ziel der im September 2006 in Zürich veranstalteten Tagung, deren Ergebnisse der vorliegende Band veröffentlicht. Wir danken herzlich allen Teilnehmenden für die so intensiven wie inspirierenden Diskussionen, Mirjam Läubli für die organisatorische Unterstützung, Martina Oehri für ihre Hilfe bei den bibliographischen Recherchen und Sarah Leuzinger beim Einrichten der Anmerkungen. Ebenso fühlen wir uns dem Schweizerischen Nationalfonds, dem Zürcher Universitätsverein und der SAGW für die finanzielle Unterstützung der Tagung verbunden. Für die Aufnahme in die Reihe der Historischen Semantik danken wir den Herausgebern. Zürich, im Juni 2009
Cornelia Herberichs und Susanne Reichlin
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Susanne Reichlin
Kontingenzkonzeptionen in der mittelalterlichen Literatur: Methodische Vorüberlegungen »[…] these effects of chance appear to be at once produced, multiplied, and limited by language«1
Hans-Jörg Neuschäfers 1969 erschienene Monographie Boccaccio und der Beginn der Novelle2 siedelt die literarische ›Entdeckung von Kontingenz‹ in der Renaissance an. Er beschreibt den Übergang vom (exemplarischen) mittelalterlichen Erzählen, wo das scheinbar kontingente Geschehen »Teil einer höheren Ordnung«3 sei, hin zu Boccaccios Novellistik, wo sich die »außerordentliche Begebenheit […] ganz kontingent, mitten aus der normalen Ordnung heraus« ereigne.4 Die Novellen des Decameron stellten die bestehende Ordnung in Frage, ohne die ›Außerordentlichkeit‹ der Ereignisse wiederum – wie in den vormodernen Texten – in einen alles umgreifenden Sinnzusammenhang einzuordnen. Neuschäfer bestimmt damit Kontingenz als das, was eine ›Ordnung‹ oder einen Sinnhorizont sprengt.5 Er siedelt aber die Ordnung – und das macht seine Vergleiche problematisch – auf ganz unterschiedlichen Erzählebenen an: Im antiken Liebesroman bildet die erzählte Handlungswelt eine Ordnung, deren einzige Regelmäßigkeit der Zufall ist; im höfischen Roman verweist die zufällige Begebenheit auf eine das erzählte Geschehen transzendierende erzählerische Sinnordnung; bei den Fabliaux 1 Derrida, Jacques, My Chances/mes Chances: A Rendezvous with Some Epicurean Stereophonies, in: Joseph Smith und William Kerrigan (Hgg.), Taking Chances: Derrida. Psychoanalysis, and Literature. Baltimore und London 1987, S. 1–32, hier S. 2 [Hervh. J. D.]. 2 Neuschäfer, Hans-Jörg, Boccaccio und der Beginn der Novelle. Strukturen der Kurzerzählung auf der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit, München 1969 (Theorie und Geschichte der Literatur und der Schönen Künste 8). Das Kap. IV, S. 76–90 ist wiederabgedruckt als Regel und Ausnahme: Die unerhörte Begebenheit und die Auffassung des Zufalls in der Novelle, in: Wolfgang Eitel (Hg.), Die romanische Novelle, Darmstadt 1977 (Ars Interpretandi 7), S. 61–77. 3 Ders., Boccaccio (Anm. 2), S. 81. 4 Ebd., S. 84. 5 Neuschäfers teleologische Literaturgeschichtsschreibung wurde früh vehement kritisiert. Vgl. die Zusammenfassung der Diskussion bei Ziegeler, Hans-Joachim, Boccaccio, Chaucer, Mären, Novellen: The Tale of the Cradle, in: Klaus Grubmüller, Peter L. Johnson und Hans-Hugo Steinhoff (Hgg.), Kleinere Erzählformen im Mittelalter, Paderborn 1988, S. 9–31, hier S. 9–13.
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wiederum steht der Zufall selbstreferentiell für die Planmäßigkeit des Erzählarrangements.6 Neuschäfers Beispiele führen in nuce ein ganzes Spektrum des literaturwissenschaftlichen Umgangs mit Zufällen und Kontingenz vor, machen aber unwillkürlich auch die methodische Problematik mancher Interpretationen sichtbar: Ein Ereignis ist in Erzählungen immer in verschiedene, nicht eindeutig hierarchisierbare ›Ordnungen‹ oder Funktionszusammenhänge eingebettet, die dessen Bedeutung je unterschiedlich prägen.7 Wird Kontingenz als das verstanden, was eine dominante Ordnung sprengt, muss diese definiert und bei Vergleichen analog rekonstruiert werden. Zudem ist zu vermeiden, dass die prozessual-zeitliche Form des Erzählens als eine zeitlos statische Ordnung analysiert wird. Neuschäfers nicht immer leicht nachzuvollziehende Deutungen der einzelnen Zufälle als exemplarisch oder kontingent, als ›scheinbarer‹ oder ›echter‹ Zufall verdeutlichen zudem, dass Kontingenz und Zufall Zuschreibungen sind.8 Als Zuschreibungen können sie nicht unabhängig von ihren Voraussetzungen analysiert werden, sondern müssen auf ihre literarhistorischen, diskursgeschichtlichen und literaturtheoretischen Bedingungen befragt werden. Die folgenden Vorüberlegungen zum Band Kein Zufall. Konzeptionen von Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur möchten solche Bedingungen unter einer methodischen Perspektive diskutieren. In einem ersten Teil werden drei kulturwissenschaftliche Kontingenztheoretiker vorgestellt (Blumenberg, Luhmann, Waldenfels), die wie Neuschäfer von einer Gegenüberstellung von vormodernen und modernen Kontingenzkonzeptionen ausgehen. Im Anschluss an solche im weitesten Sinne begriffs- und diskursgeschichtliche Thesen gilt es zu klären, ob und wie diese auf literarische Texte übertragen werden können. Literatur ist eine Diskursform, die einerseits bevorzugt von etwas spricht, das immer auch anders geschehen kann, die aber andererseits dieses Geschehen mit immanenten Notwendigkeiten und/oder mit transzendenter Providenz – religiöser oder auktorialer Art – motiviert. Die Frage nach Kontingenz in der Literatur muss deshalb mit der Frage, wie Kontingenz literarisch dargestellt und thematisiert wird, verknüpft werden: Wie verhält sich 6 Neuschäfer, Boccaccio (Anm. 2), S. 86 f. 7 So schon Nef, Ernst, Der Zufall in der Erzählkunst, Bern und München 1970, S. 5. 8 Diese These vertritt pointiert Koselleck, Reinhart, Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung, in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1979 (Theorie), S. 158–175, hier S. 158; sowie Strohschneider, Peter, Kippfiguren. Erzählmuster des Schwankromans und ökonomische Kulturmuster in Strickers Amis, in: Jan-Dirk Müller (Hg.) unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner, Text und Kontext. Fallstudien und theoretische Begründungen einer kulturwissenschaftlich angeleiteten Mediävistik, München 2007 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 64), S. 163–190, hier S. 169.
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Kontingenzkonzeptionen in der mittelalterlichen Literatur
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das Erzählen von Kontingenz zur Kontingenz des Erzählens? Im zweiten Teil werden deshalb drei Ansätze vorgestellt (Michel, Wellbery, Warning), die Kontingenz stärker literaturtheoretisch bzw. narratologisch fassen. Anschließend werden im dritten Teil verschiedene methodische Ansätze aus dem germanistisch-mediävistischen Bereich diskutiert.
1. Vormoderne vs. moderne Kontingenzkonzeption Wenn Neuschäfer die ›Entdeckung‹ von Kontingenz in der Renaissance ansiedelt, so folgt er einem weit verbreiteten grand récit, das sowohl die Soziologie der modernen Gesellschaft als auch die Rekonstruktion ihrer Entstehung prägt.9 Dabei wird der Übergang von der Vormoderne zur Moderne als historischer Umschlagpunkt verstanden, an dem das Kontingenzbewusstsein nicht nur gesteigert, sondern neu entworfen wird. Auf eine einfache Formel gebracht lautet die These: Während in der Vormoderne Kontingenz bloß eine vordergründige Instabilität darstellt, die durch eine höhere zeitlose Ordnung stabilisiert ist, wird in der Moderne die ›Ordnung‹ selbst kontingent.10 In der Vormoderne würden kontingente Vorkommnisse passiv erlitten, weil diese einer höheren, aber dem Menschen unergründlichen Ordnung folgten. Ab der Renaissance ändere sich aber die Haltung des Einzelnen gegenüber kontingenten Geschehnissen: Man beginne mit Kontingenz zu rechnen und Inkalkulierbarkeiten für eigene Zwecke zu nutzen.11 Im Anschluss daran breche die Vorstellung einer alles umspannenden Ordnung weg: Epistemologische und politische Letztbegründungen würden als kontingente Setzungen begriffen, die sich höchstens lokal, aber nicht global begründen lassen.12 9 Vgl. von Graevenitz, Gerhart und Marquard, Odo, Vorwort, in: Dies. (Hgg.), Kontingenz, München 1998 (Poetik und Hermeneutik 17), S. XI–XVI, hier S. XII, die von der »These vom zunehmenden Kontingenzbewußtsein« sprechen. 10 So etwa Makropoulos, Michael, Modernität als Kontingenzkultur, in: Graevenitz/ Marquard, Kontingenz (Anm. 9), S. 55–79, insbes. S. 65 sowie Makropoulos, Michael, Modernität und Kontingenz, München 1997, S. 7–33. Makropoulos stützt seine Thesen hauptsächlich auf Blumenberg, Luhmann und Waldenfels, ohne deren unterschiedlichen theoretischen Voraussetzungen zu berücksichtigen. 11 So etwa Hahn, Alois, Risiko und Gefahr, in: Graevenitz/Marquard, Kontingenz (Anm. 9), S. 49–54, hier S. 49 f. oder Vogl, Joseph, Poetik des ökonomischen Menschen, in: Zeitschrift für Germanistik N. F. 17/3 (2007), S. 547–560, hier S. 549. 12 Der Übergang von einem vormodernen zu einem modernen Kontingenzbewusstsein wird – obwohl er systematisch immer ähnlich konzipiert ist – historisch zu ganz unterschiedlichen Zeiten angesetzt. Literarhistorisch wird die These sowohl für den Übergang von Mittelalter und Früher Neuzeit (s. u.) als auch für die Zeit um 1700 und um 1800 vertreten: Vgl. etwa für um 1700: Behrens, Rudolf, Umstrittene Theodizee, erzählte Kontingenz – Die Krise theologischer Weltdeutung und der französische Roman (1670–1770), Tübingen 1994 (Mimesis 17) und
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Susanne Reichlin
Wie bei den meisten grands récits liegt die Problematik solcher Thesen in der ihnen immanenten Teleologie. Das vormoderne Kontingenzverständnis wird vornehmlich auf das boethianische Modell zweier Ebenen reduziert, dessen stabilisierendes ordo-Verständnis die Moderne umstandslos überwunden hat. Die Diskontinuitäten und Disharmonien verschiedener Diskurse werden ausgeblendet. Selbstredend ist es nicht die Aufgabe eines grand récit, das primär eine erste Orientierung zu geben verspricht, differenziert zu sein. Deshalb soll die skizzierte Großerzählung in diesem Sammelband auch gar nicht aus einer stärker mediävistisch ausgerichteten Perspektive kritisiert werden, sondern Anlass sein, Kontingenzkonzeptionen in der mittelalterlichen Literatur erneut zu befragen. Dabei wird nicht so sehr von einem Gegensatz von Providenz und Kontingenz, sinnstiftender Heilsordnung und transzendenter Obdachlosigkeit ausgegangen, sondern nach der Verschränkung oder gegenseitigen Bedingtheit von Kontingenz- und Providenzkonzeptionen gefragt. Ordnungsschwund und Selbstbehauptung Die Kontingenz der Welt, um die das Denken des Mittelalters mit ganzer spekulativer Hingabe kreiste, lag also nicht nur im Ursprung alles Seienden durch die Schöpfung, sondern auch und vor allem in der Angewiesenheit jedes Zustandes dieser Wirklichkeit in jedem Augenblick auf transzendente Kausalität.13
Blumenbergs 1966 erstveröffentlichte, 1974 und 1988 erweiterte und neu herausgegebene Schrift Die Legitimität der Neuzeit hat die These vom zunehmenden Kontingenzbewusstsein in der Moderne entscheidend geprägt.14 Frick, Werner, Providenz und Kontingenz. Untersuchungen zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts. 2 Bde., Tübingen 1988 (Hermaea NF 55); für um 1800: Hahn, Torsten und Pethes, Nicolas, Einleitung: Kontingenz und Steuerung: Perspektiven auf eine funktionale Dimension der Literatur um 1800, in: Dies. und Erich Kleinschmidt (Hgg.), Kontingenz und Steuerung. Literatur als Gesellschaftsexperiment 1750–1830, Würzburg 2004 (Studien zur Kulturpoetik 2), S. 7–12 und Michel, Sascha, Ordnungen der Kontingenz. Figurationen der Unterbrechung in Erzähldiskursen um 1800 (Wieland – Jean Paul – Brentano), Tübingen 2006 (Hermaea NF 112), S. 8. 13 Blumenberg, Hans, Die Legitimität der Neuzeit. Erw. und überarb. Neuausgabe, Frankfurt am Main 21999 (stw 1268), S. 677. 14 Blumenberg entwickelte diese Thesen auch in einer Reihe weiterer Texte; vgl. u. a.: Ders., Philosophischer Ursprung und philosophische Kritik des Begriffs der wissenschaftlichen Methode, in: Studium Generale 5 (1952), S. 133–142; Ders. Ordnungsschwund und Selbstbehauptung. Über Weltverstehen und Weltverhalten im Werden der technischen Epoche, in: Helmut Kuhn und Franz Wiedmann (Hgg.), Das Problem der Ordnung. VI. Deutscher Kongreß für Philosophie, Meisenheim am Glan 1962, S. 37–57; Ders., Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt am Main 1975.
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Kontingenzkonzeptionen in der mittelalterlichen Literatur
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Blumenberg deutet darin die Neuzeit (insbesondere Descartes) als Antwort auf den spätmittelalterlichen Ordnungsschwund, den er dem Nominalismus (insbesondere Ockham) anlastet: Ockham radikalisiere die Allmacht Gottes und entwerfe einen absoluten, unbegreiflichen »Willkürgott« (deus absconditus), der dem Kosmos jegliche Verlässlichkeit nehme.15 Die transzendent garantierte Korrespondenz zwischen Wahrnehmung, Erkenntnis und Welt werde gekappt und damit kehre zugleich die Krise der Spätantike, der gnostische Dualismus von (bösem) Schöpfergott und Heilsgott, zurück.16 Der Nominalismus rufe deshalb – indem er die Aporien einer überkommenen Position sichtbar mache – die Neuzeit hervor. Diese ›antworte‹ auf die Provokation des ›Willkürgottes‹, indem sie im Ordnungsschwund die Möglichkeiten für eine ›sich selbst behauptende Vernunft‹ entdeckt und so die neuzeitliche Form der Wissenschaft begründet. Im Rahmen dieser Großerzählung, die von einer Eskalation und der damit hervorgerufenen Gegenreaktion berichtet, kommt der Radikalisierung des Kontingenzbegriffs eine entscheidende Bedeutung zu. Während Antike und Hochscholastik davon ausgehen würden, dass sich das Wirkliche kausal auf etwas Absolutes zurückführen lasse, werde dies 1277 mit der Verurteilung der 34. These – dass Gott nicht mehrere Welten schaffen könne – in Frage gestellt. Hier schlage »der Vorrang des Interesses an der Rationalität der Schöpfung [um] in die spekulative Faszination durch das theologische Prädikat der absoluten Macht und Freiheit [Gottes]«.17 Wenn Gott auch andere Welten hätte schaffen können, ist die einzelne nicht mehr notwendiges Produkt seiner Macht und der Rückschluss von der Welt auf Gott wird mehrdeutig. Gemäß Blumenberg wird damit sowohl Gottes Allmacht als auch seine Verborgenheit gesteigert. Damit werde nicht nur die bevorzugte Stellung des Menschen in der Welt in Frage gestellt, sondern auch der Vernunft die »untragbare Zumutung der unergründlichen Faktizität und Kontingenz« der Welt auferlegt.18 Da die absolute Souveränität Gottes keinen ›Gesetzen‹ unterworfen ist, erscheine die Welt als kontingent. Blumenberg präsentiert so Descartes als Reaktion auf den Nominalismus: Descartes’ »genius malignus« trage die (gesteigerten) Züge des spätmittelalterlichen »deus absconditus«, doch gehe es gerade nicht mehr wie im Spätmittelalter um eine »Gewißheitskrise«, sondern um ein »Gewißheitsexperiment«.19 Descartes mache nicht mehr eine ›absolute Wahrheit‹ zum Maßstab der Wissenschaft, sondern die von der Vernunft gesetzten Be15 Ders., Legitimität der Neuzeit (Anm. 13), S. 149; 167–169; 180 f. 16 Ebd., S. 149. 17 Ebd., S. 179. Vgl. zum Thesenanschlag von 1277 den Aufsatz von Schulthess in diesem Band, Abs. 2.4. 18 Blumenberg, Legitimität der Neuzeit (Anm. 13), S. 202; 656. 19 Ebd., S. 208; 213.
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Susanne Reichlin
dingungen.20 Die mit der Kontingenz des ›Willkürgottes‹ einhergehende Ungewissheit wird demzufolge von Descartes in die Freiheit verwandelt, dass die Vernunft die Bedingungen der Erkenntnis mitbestimmen kann. Blumenberg entwirft in Die Legitimität der Neuzeit eine Großerzählung, deren Pointe darin besteht, dass Descartes’ scheinbar voraussetzungslose ›Begründung der Vernunft aus sich selbst‹ auf ihre Voraussetzungen befragt wird und als »Antwort« auf spätmittelalterliche Aporien gelesen wird. Blumenberg richtet sich damit sowohl gegen ein Verständnis der Neuzeit als absoluten, voraussetzungslosen Anfang – d. h. gegen einen Epochenbruch, wie er auch in den Selbstbeschreibungen der Frühen Neuzeit immer wieder zum Ausdruck kommt – als auch gegen einen Historismus, der das »Immer-schondagewesen-Sein« betont und damit letztlich von kontinuierenden Inhalten ausgeht.21 Mit letzterem wendet sich Blumenberg auch gegen den Begriff der Säkularisierung, der das neuzeitliche Wirklichkeitsverständnis zu erklären glaube, indem er es als Wiederholung älterer, identischer ›Inhalte‹ enthülle.22 Um stattdessen zwischen Kontinuität und Diskontinuität zu vermitteln, liest Blumenberg – in einer Kombination von Hermeneutik und Strukturalismus – historische Positionen als »Antwort« auf »unformulierte Fragen« bzw. als »Umbesetzung« von in der Vergangenheit frei gewordenen Systemstellen.23 Blumenbergs Großerzählung ist anregend, weil sie ideengeschichtlichen Wandel reflektiert und ›griffig‹ beschreibt und so Modelle für kulturwissenschaftliches Arbeiten bereitstellt. Doch zugleich sind damit Probleme ver20 Ebd., S. 238. 21 Ebd., S. 219–221; 17 f. Blumenberg beginnt zu einem Zeitpunkt die Epochenschwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit neu zu bestimmen, als die mediävistische Philosophie sich vom Epochendenken ab und den Detailanalysen zugewendet hat. Vgl. Goldstein, Jürgen, Nominalismus und Moderne. Zur Konstitution neuzeitlicher Subjektivität bei Hans Blumenberg und Wilhelm von Ockham, Freiburg im Breisgau u. a. 1998 (Alber-Reihe Philosophie), S. 25–34. 22 Vgl. zu dieser Debatte, die Blumenberg hauptsächlich mit Carl Schmitt führte: Hans Blumenberg und Carl Schmitt, Briefwechsel 1971–1978 und weitere Materialien, hg. von Alexander Schmitz und Marcel Lepper, Frankfurt am Main 2007, S. 15–72; 105–141 sowie Goldstein, Nominalismus und Moderne (Anm. 21), S. 35–41. Es gilt aber zu betonen, dass die Kritik an der Säkularisierungsthese erst relativ spät zu Blumenbergs Beschäftigung mit der Epochenschwelle dazu kommt und nicht deren Auslöser war. Vgl. Goldstein, Jürgen, Zwischen Texttreue und Spekulation. Hans Blumenbergs Hermeneutik des geschichtlichen Hintergrunds am Beispiel des Spätmittelalters, in: Jan A. Aertsen und Martin Pickavé (Hgg.), »Herbst des Mittelalters«? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts, Berlin und New York 2004 (Miscellanea Mediaevalia 31), S. 37–54, hier S. 42, Anm. 26. 23 Blumenberg, Legitimität der Neuzeit (Anm. 13), S. 166; 225 f.; 541; 558. Vgl. zur Ausbildung von Blumenbergs Geschichtsbegriff, den er im Anschluss an bzw. in Abgrenzung von Husserl, Cassirer und Heidegger entwickelt: Goldstein, Zwischen Texttreue und Spekulation (Anm. 22), S. 37–54; Ders., Nominalismus und Moderne (Anm. 21), S. 42–87.
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knüpft, die nicht zuletzt auch den Kontingenzbegriff betreffen. Blumenbergs Ansatz orientiert sich an einem Modell von Vordergrund und Hintergrund, Konstanz und Wandel. Auch wenn er betont, dass sich der Hintergrund seinerseits wandelt,24 geht er doch an systematisch entscheidenden Stellen von anthropologischen Annahmen aus, die die Epochenschwelle überdauern. Hierzu gehört auch das Verständnis von Kontingenz als etwas existentiell Unerträglichem. Blumenberg spricht von der »untragbare[n] Zumutung […] der Kontingenz« und vom »quälenden Kontingenzbewußtsein[]«25 und plausibilisiert damit, dass das Leiden an der radikalisierten Kontingenz der Welt die Neuzeit provoziert. Dass aber mit der Kontingenz überhaupt eine »Zumutung« verknüpft ist, weist Blumenberg nicht diskurs- oder ideengeschichtlich nach, sondern setzt es als Bedingung seiner Analyse voraus. Doch dieser ›existentielle‹ Kontingenzbegriff hat nur wenig mit demjenigen der prominenten spätmittelalterlichen Kontingenztheoretiker (Scotus und Ockham) gemein. Denn Kontingenz wird nicht wie in der Moderne mit Zufälligkeit oder Beliebigkeit gleichgesetzt, sondern kontingent sind die Willensakte Gottes, da sie sowohl etwas als auch dessen Gegenteil bewirken können. Dies soll im Folgenden kurz ausgeführt werden. Scotus und Ockham postulieren die Kontingenz der Welt, um damit gegen eine von der ersten Ursache notwendig bestimmte Welt zu argumentieren. Dabei akzentuiert Scotus neben der entischen (Seinsaspekt), die operative Dimension von Kontingenz (Wirkaspekt): Das, was nicht notwendig bewirkt ist, sei im operativen Sinne kontingent (contingentia evitabilitatis).26 Wenn es also in der Welt Kontingenz (d. h. kontingent Bewirktes) gibt – und Scotus bejaht dies27 – und Kontingenz nicht durch das Zusammentreffen von Zweitursachen entsteht,28 muss bereits die prima causa kontingent sein.29 Der freie göttliche Wille wird auf diese Weise zum Modell von Kontingenz, weil hier 24 So geht es ihm mit der Frage nach ›Umbesetzungen‹ nicht um einen einfachen Systemvergleich, sondern er versucht die Asymmetrie der Gegenüberstellungen, d. h. den unterschiedlichen Bezug zur hypostasierten Schwelle zu berücksichtigen; vgl. Blumenberg, Legitimität der Neuzeit (Anm. 13), S. 558. 25 Blumenberg, Legitimität der Neuzeit (Anm. 13), S. 656. 26 Ich folge im Weiteren Söder, Joachim Roland, Kontingenz und Wissen. Die Lehre von den futura contingentia bei Johannes Duns Scotus, Münster 1999 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters NF 49), hier S. 53 f. Scotus’ operative Kontingenzdimension ermögliche einen »gegenüber der Tradition […] radikalisierten Begriff von Kontingenz«. 27 Scotus kann nicht a priori begründen, dass es Kontingentes gibt, doch argumentiert er, dass es aufgrund unserer Alltagserfahrungen (also a posteriori) vorausgesetzt werden müsse (ebd., S. 37–49). Vgl. dazu den Aufsatz von Waltenberger in diesem Band. 28 So die Position von Thomas von Aquin, die Scotus diskutiert und kritisiert (ebd., S. 56–58). 29 Söder, Kontingenz und Wissen (Anm. 26), S. 108–124.
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synchron gegensätzliche Möglichkeiten gegeben sind, von denen entweder etwas oder dessen Gegenteil verwirklicht werden kann. Aber auch wenn der göttliche Willensakt kontingent ist, so ist er damit doch nicht zufällig oder willkürlich. Denn der göttliche Willen vollzieht sich Scotus zufolge gerade nicht durch einzelne, zeitlich aufeinander folgende Willensakte – in denen Gott, wie Blumenberg suggeriert, ständig seine Meinung ändert –, sondern in einem einzigen, unendlichen. D. h. Gott entwirft in einem einzigen Willensakt die Welt zu unterschiedlichen Zeitpunkten.30 Auch Ockham, Blumenbergs Kronzeuge, beschreibt die kontingenten Willensakte Gottes nicht als willkürlich.31 Er hebt zwar die Allmacht Gottes gegenüber der Tradition hervor, betont aber zugleich, dass Gott nichts ungeordnet tun kann.32 Er unterscheidet hierbei zwischen einer potentia dei absoluta und einer potentia dei ordinata und versteht diese als zwei Anwendungsweisen einer göttlichen Macht: Während letztere dafür steht, dass das von Gott Geschaffene kausal geordnet ist, beschreibt erstere die Möglichkeit Gottes, unmittelbar in die bestehende Welt einzugreifen und bestehende Ordnungen zu verändern.33 Blumenberg geht davon aus, dass diese beiden Wirkungsweisen sich konkurrieren und behindern und dass Ockham die potentia dei absoluta auf Kosten der potentia dei ordinata stärken würde.34 Doch gerade dies entspricht nicht der Position Ockhams, der die Einheitlichkeit des Willen Gottes bzw. die Harmonie dieser beiden Willensaspekte betont. Wenn Ockham annimmt, dass Gott immer mehr tun kann, als er faktisch bewirkt, so hebt er damit die Freiheit des göttlichen Willens hervor. »Die Welt ist nicht notwendig, aber [von Gott] gewollt.«35 Die durchaus provokativen Beispiele von der Allmacht Gottes beschreiben nicht die aktuelle (willkürliche) Einflussnahme auf die Welt, sondern sind eine »Metaphysikkritik aus dem Geist
30 Ebd., S. 121–124; vgl. auch: »Kontingente Ereignisse treffen auf der Zeitachse nicht einfach – im wahrsten Sinne – wahllos ein, sondern lassen sich auf eine Wahl zwischen synchronen Alternativen zurückführen.« Vgl. dazu den Aufsatz von Kundert in diesem Band. 31 Im Weiteren folge ich der Argumentation von Goldstein, Nominalismus und Moderne (Anm. 21), S. 176–204 sowie Beckmann, Jan P., Weltkontingenz und menschliche Vernunft bei Wilhelm von Ockham, in: Christian Wenin (Hg.), L’homme et son univers au moyen âge, Bd. 1, Paris und Leuven 1986, S. 445–457. 32 Ebd., S. 446–448 und Goldstein, Nominalismus und Moderne (Anm. 21), S. 186; 192. Zudem betont Ockham, Gott könne nur tun, was keinen Widerspruch enthält (ebd., S. 192 f. und Beckmann, Weltkontingenz [Anm. 31], S. 447; vgl. auch Blumenberg, Legitimität der Neuzeit [Anm. 13], S. 180 f.). 33 Beckmann, Weltkontingenz (Anm. 31), S. 446–448; Goldstein, Nominalismus und Moderne (Anm. 21), S. 185–194. 34 Blumenberg, Legitimität der Neuzeit (Anm. 13), S. 194. 35 Goldstein, Nominalismus und Moderne (Anm. 21), S. 194: Dementsprechend werde die »faktische Existenz« der kontingenten Welt zur »Auszeichnung, da sie sich auf den faktischen Willen Gottes zu beziehen vermag.«
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des Konjunktivs«.36 Dementsprechend ist auch eine Welt, die dem kontingenten Willen Gottes unterworfen ist, keineswegs per se so bedrohlich oder unerträglich, wie dies Blumenberg darstellt. Vielmehr erscheint Blumenbergs ›Willkürgott‹ als Produkt eines modernen Kontingenzverständnisses, das Kontingenz, Zufälligkeit und Beliebigkeit gleichsetzt.37 Viele Kulturwissenschaftler, die sich auf Blumenberg berufen, schließen – wohl nicht zuletzt aus Skepsis gegenüber dem Narrativ von Provokation und Gegenreaktion – nicht an Blumenbergs These von der Radikalisierung der Kontingenz im Spätmittelalter an, sondern gehen erst von einem erhöhten Kontingenzbewusstsein im frühneuzeitlichen Wirklichkeits- und Wissenschaftsverständnis aus, das nicht mehr auf einer ›transzendent garantierten Wirklichkeit‹ beruhe.38 Doch damit machen sie zum einen aus Blumenbergs diskontinuierlichem Verständnis des Geschichtsprozesses eine tendenziell teleologische Entwicklung.39 Zum anderen wird Blumenbergs problematische Voraussetzung, dass Kontingenz per se eine »Zumutung« für die Vernunft und jegliche Sinnstiftungsbemühungen darstellt, übernommen und die geistesgeschichtliche Phase, in der der Mensch durch die Kontingenz der Welt verunsichert ist, bis ins 17., 18. oder 19. Jahrhundert verlängert.40 Literaturwissenschaftlich führt ein solches Kontingenzverständnis jedoch zur eher 36 Ebd., S. 201. Ockham diskutiere z. B., ob Gott bewirken kann, dass ein Mensch ihn hasst (ebd., S. 200). 37 Vgl. auch Blumenberg, Hans, [Art.] Kontingenz, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Bd. 3, 3. neu bearb. Aufl., Tübingen 1959, Sp. 1793 f., wo er postuliert, dass bei Scotus »Kontingenz […] Zufälligkeit [wird]« (Sp. 1794). Er bezieht sich dabei darauf, dass gemäß Scotus der göttliche Wille ohne Gründe agiert, nur weil er will. Doch Grundlosigkeit bedeutet nicht Willkür oder Zufälligkeit. 38 Dabei wird meist auf Blumenberg, Hans, Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, in: Hans Robert Jauss (Hg.), Nachahmung und Illusion. Kolloquium Gießen 1963, 2. durchges. Aufl., München 1969 (Poetik und Hermeneutik 1), S. 9–27 verwiesen, wo Blumenberg vier unterschiedliche Wirklichkeitsverständnisse (für Antike, Mittelalter, Neuzeit und Moderne) skizziert. Während im Mittelalter und auch noch bei Descartes die Wirklichkeit durch eine dritte (transzendente) Instanz gesichert sei, müsse in der Neuzeit die Wirklichkeit durch intersubjektive Stimmigkeit je neu abgesichert werden (S. 12 f.). Erst jetzt werde die Wahrnehmung von Neuem, Unerwartetem möglich. 39 Blumenberg scheint jedoch in Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans weniger ein komplexes Verständnis von geschichtlichem Wandel, sondern die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen von Literatur zu interessieren. Er postuliert, dass erst in der Neuzeit, die die Wirklichkeit als »Realisierung eines stimmigen Kontexts« verstehe, auch die Gattung Roman möglich werde (Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff [Anm. 38], S. 12). Der Roman trete als mögliche Wirklichkeit in Konkurrenz zu den anderen Wirklichkeiten und habe den Anspruch, als endlicher Text die Unendlichkeit bzw. Unabschließbarkeit der Wirklichkeit zu entwerfen (ebd., S. 21). 40 Vgl. Makropoulos, Modernität und Kontingenz (Anm. 10), S. 23–25; Michel, Ordnungen der Kontingenz (Anm. 12), S. 8; Behrens, Umstrittene Theodizee (Anm. 12), S. 11.
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unbefriedigenden Perspektive, die Texte primär daraufhin zu befragen, ob sie Kontingenz bewältigen oder exponieren.41 Blumenberg scheint den philosophischen Positionen von Scotus und Ockham nicht zuletzt deshalb nicht ganz gerecht zu werden, weil er von der menschlichen Erfahrung von Kontingenz ausgeht, während Scotus und Ockham sich vor allem für die Kontingenz von Gottes Willen interessieren. Im Anschluss an die Diskussion von Luhmann und Waldenfels wird nochmals auf Blumenberg zurückzukommen sein, indem gefragt wird, ob vielleicht die literarischen Texte den menschlichen Umgang mit und die Deutung von Kontingenz stärker thematisieren. Eine solche Frage bedingt jedoch, dass Kontingenz nicht a priori als Zumutung für die Vernunft angesehen wird, sondern erstmals gefragt wird, wie der Begriff angemessen historisiert werden kann und unter welchen Bedingungen er in der Literatur darstellbar wird.
Kontingenz als Stabilisierungsmoment der Moderne Der Blick auf Kontingenzen ist so eingeübt, daß er alle Suche nach Notwendigem, nach Geltungen a priori, nach unverletzlichen Werten begleitet und in der Kontingenz dieser Bemühung (die als Bemühung sichtbar wird) die Ergebnisse in Kontingentes transformiert – das Midas-Gold der Moderne.42
Luhmann geht hier, zu Beginn eines späten Aufsatzes zu Kontingenz als Eigenwert der modernen Gesellschaft, davon aus, dass die Moderne einerseits von weit reichenden Kontingenzzugeständnissen, andererseits von der Suche nach Notwendigkeiten geprägt ist. Dies führt jedoch nicht zur Forderung, alle scheinbaren Notwendigkeiten als kontingent zu entlarven, sondern zur Frage nach den homogenisierenden Effekten eines universalen Kontingenzzugeständnisses: Versteht man ›alles‹ unterschiedslos als kontingent, wird es ›ungenießbar‹, wie die Nahrung, die in Midas’ Hand zu Gold wird. Welche Konsequenzen dieser Vergleich für Luhmanns eigene Theorie hat, die wie kaum eine andere auf einem universalen Kontingenzpostulat aufbaut, bleibt offen, könnte aber vielleicht die Grenzen von Luhmanns Kontingenzbegriff andeuten. 41 Vgl. dazu Abs. 3; zum Begriff der Kontingenzbewältigung vgl. Lübbe, Hermann, Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung, in: Graevenitz/Marquard, Kontingenz (Anm. 9), S. 35–47, der Kontingenzbewältigung als »Transformation des Zufalls in Handlungssinn« definiert. 42 Luhmann, Niklas, Kontingenz als Eigenwert der modernen Gesellschaft, in: Ders., Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 93–128, hier S. 94.
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Luhmanns Kontingenzbegriff ist sowohl historisch als auch systematisch eng an die ›Beobachtung zweiter Ordnung‹ gekoppelt. Er versteht unter Beobachtung keine kausal-physische Rezeption von Sinneseindrücken, sondern eine »Operation«, die unterscheidet und bezeichnet, also salopp formuliert, Standpunkt und Gegenstand der Beobachtung wählt.43 Da die Selektivität des eigenen Beobachtens nicht beobachtet werden kann, unterliegt jede Beobachtung einem blinden Fleck.44 Während bei der Beobachtung erster Ordnung das Beobachtete »als das [erscheint], was es ist«, geht es dagegen bei der Beobachtung zweiter Ordnung darum, das Beobachten (die damit notwendig einhergehenden Komplexitätsreduktionen) in den Blick zu nehmen.45 Die so analysierte Beobachtung erscheint dann als eine mögliche Beobachtungsweise unter vielen anderen und wird dadurch modalisiert: »[Die Beobachtung zweiter Ordnung] kann dort Kontingenzen feststellen, wo der Beobachter erster Ordnung glaubt, einer Notwendigkeit zu folgen […]«.46 Auf diese Weise führt die Beobachtung zweiter Ordnung zur (modernen) Erfahrung von Kontingenz im Luhmannschen Sinne: Alle scheinbaren Notwendigkeiten basieren auf Selektionen, die allenfalls lokal, aber niemals global als notwendige begründet werden können.47 Den Zusammenhang von Beobachtung zweiter Ordnung und Kontingenz versteht Luhmann nicht nur als systematischen, sondern auch als historischen: Im Christentum werde Gott als ›perfekter‹ Beobachter zweiter Ordnung entworfen, der selbst keinem blinden Fleck unterliegt. Dadurch werde einerseits Kontingenz absorbiert – da »die Welt für ihn [Gott] kontingent sein [kann], während wir unter Notwendigkeiten und Unmöglichkeiten leiden«.48 Andererseits werde zugleich versucht, Gottes Beobachten (d. h. seine Willensakte) zu beobachten. Dadurch werde innerhalb eines »geschützten Rahmen[s]« (i. e. einer durch Gott stabilisierten Welt) mit Beobachtun-
43 Luhmann, Niklas, Die Paradoxie der Form, in: Ders., Aufsätze und Reden, Stuttgart 2001 (RUB 18149), S. 243–261. 44 Dies ist bei Luhmann komplexer gedacht, als es hier formuliert wurde, da Luhmann Beobachtung differenztheoretisch denkt, d. h. jede Unterscheidung den ›Raum‹ der folgenden Unterscheidung neu konzipiert; vgl. Luhmann, Die Paradoxie der Form (Anm. 43), S. 247–250. 45 Ebd., S. 100. Obwohl die Beobachtung zweiter Ordnung den ›blinden Fleck‹ des ersten Beobachters wahrnehmen kann, beruht sie ihrerseits auf einem eigenen blinden Fleck. 46 Luhmann, Niklas, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1995 (stw 1303), S. 104. 47 Luhmanns enge Koppelung von Kontingenz und Beobachtung zweiter Ordnung bietet literaturwissenschaftliche Anknüpfungspunkte, da sowohl literaturwissenschaftliches Arbeiten als auch einzelne Erzählerpassagen als Beobachtung zweiter Ordnung verstanden werden können; vgl. dazu u. a. Hahn/Pethes, Kontingenz und Steuerung (Anm. 12). 48 Luhmann, Kontingenz als Eigenwert (Anm. 42), S. 106 [Hervh. N. L.].
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gen zweiter Ordnung experimentiert und so zugleich das moderne Kontingenzverständnis vorbereitet.49 Im Vergleich mit Blumenberg skizziert Luhmann einen originellen, aber tendenziell teleologischen Entstehungsprozess des modernen Kontingenzbewusstseins, bei dem systematische und historische Entwicklung zur Deckung kommen. Dies ist historisch problematisch, werden doch einzelne theologisch-philosophische Positionen kontextlos aufgegriffen und auf die primär systematisch konzipierte Entwicklung des Kontingenzbegriffes projiziert. Systematisch verstanden liegt die Pointe von Luhmanns Thesen jedoch darin, dass die Aufhebung von »Letztgewißheiten«50 gerade nicht zu Verunsicherung und transzendentaler Obdachlosigkeit führt, sondern neue, dynamische Stabilitäten ermöglicht.51 Kontingenz – bzw. das Wissen um die Kontingenz der eigenen Beobachtung – werde in der Moderne zu einem Fixpunkt, der das Bilden von Erwartungen, von Ordnungsstrukturen und letzten Endes von Systemen ermöglicht.52 Im Unterschied zu Notwendigkeiten und Unmöglichkeiten stellt Kontingenz nicht ein von außen gegebenes Stabilitätsmoment dar, sondern wird von innen (d. h. durch das Rechnen mit Kontingenz) zu einem solchen gemacht. Luhmann zufolge ist eine solche Stabilisierung via Kontingenz – weil sie »voraussetzungsschwächer« ist – leistungsfähiger als diejenige via Notwendigkeit oder Unmöglichkeit:53 Das moderne Kontingenzverständnis überwindet die Ineffizienz des vormodernen. Damit zeigt sich aber zugleich, wie stark Luhmann einer problematischen Fortschrittsrhetorik folgt. Im Anschluss an die Präsentation des Waldenfels’schen Kontingenzbegriffs wird deshalb diskutiert, ob die beiden von Luhmann in historischer Folge konzipierten Kontingenzverständnisse auch synchron, in gegenseitiger Verschränkung, aber mit unterschiedlicher Gewichtung, gedacht werden könnten.54 49 Vgl. auch Ders., Die Religion der Gesellschaft, hg. von André Kieserling, Frankfurt am Main 2002 (stw 1581). Luhmann nennt hier Gott eine »Kontingenzformel«, i. e. eine Operation, die Möglichkeiten ausschließt und dadurch Kontingenz absorbiert (S. 167 f.). 50 Ebd., S. 112. 51 In gewissem Sinne folgt er also Blumenbergs Narrativ von Provokation und einer darauf erwidernden Selbstbehauptung. 52 Luhmanns berühmtestes Beispiel für eine solche Stabilisierung aufgrund von Kontingenz ist die als »doppelte Kontingenz« benannte Situation, in der zwei Personen aufeinander treffen, deren Handeln und Beobachten für den anderen jeweils kontingent sind. Die Situation wird dadurch gelöst, dass sich, ausgehend vom Wissen um die Kontingenz des Handelns/Beobachtens des Anderen, »rekursive Netzwerke« (im Sinne von Erwartungen) ausbilden; vgl. Luhmann, Niklas, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 71999 (stw 666), S. 153–162. 53 Ders., Kontingenz als Eigenwert (Anm. 42), S. 103. 54 Dies deutet Luhmann etwa an, wenn er betont, dass innerhalb der transzendent stabilisierten vormodernen Weltordnung mit Beobachtung zweiter Ordnung experimentiert werde.
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Kontingenz vs. Ordnung Was Luhmann als zwei historisch unterschiedliche Kontingenzkonzeptionen begreift, findet sich mutatis mutandis bei Waldenfels als systematische Differenz.55 Im Anschluss an eine Bemerkung Merleau-Pontys unterscheidet er zwischen ontischer und ontologischer Kontingenz.56 Ontische Kontingenz geschieht ›innerhalb‹ einer Ordnung: Diese gibt einen Spielraum vor und kontingent ist, was innerhalb dieses Spielraumes gewählt wird. Kontingenz ist somit der Ordnung logisch nachgeordnet,57 da letztere vorgibt, was notwendig, möglich und unmöglich ist.58 Ontologische Kontingenz betrifft dagegen die Ordnung insgesamt: »diese selbst kann auch anders sein«.59 Nun geht die Kontingenz der Ordnung logisch voran. Denn es wird zum einen vorausgesetzt, dass die Ordnungsgenese nicht durch eine höhere Ordnung begründet werden kann, sondern kontingent geschieht. Dementsprechend kann der Streit zwischen konkurrierenden Ordnungen nicht durch eine ›Superordnung‹ gelöst werden. Zum anderen wird angenommen, dass eine Ordnung nicht ›alles‹ umfassen kann, weil jede Ordnung, um ordnungsstiftend zu wirken, auf einer Auswahl basiert. D. h. das ›Außen‹ der Ordnung kann von dieser selbst nicht ›geordnet‹ werden.60 55 Waldendfels, Bernhard, Das Ordentliche und das Außer-ordentliche, in: Bernhard Greiner und Maria Moog-Grünewald (Hgg.), Kontingenz und Ordo. Selbstbegründung des Erzählens in der Neuzeit, Heidelberg 2000 (Neues Forum für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft 7), S. 1–14, hier S. 1–3. Vgl. zum Folgenden auch Waldendfels, Bernhard, Ordnung im Zwielicht, Frankfurt am Main 1987, insbesondere S. 173–203. Bei genauerem Hinsehen unterscheiden sich Luhmann und Waldenfels selbstredend erheblich. Waldenfels fasst Kontingenz im Gegensatz zu Ordnung, Luhmann dagegen betont, dass ›Systeme‹ Kontingenz miteinschließen. 56 Merleau-Ponty, Maurice, Phänomenologie der Wahrnehmung. Aus dem Französischen von Rudolf Boehm [Erstdruck 1966], Berlin 1974 (Phänomenologisch-psychologische Forschungen 7), S. 453. Merleau-Ponty geht es dabei um eine Aufwertung der Kontingenz: Sie soll nicht als Lücke im Sein, sondern als das ›Wirkliche‹ verstanden werden, das sich weder auf Bewusstseinszustände noch auf eine Faktizität, die von Bewusstsein unabhängig ist, reduzieren lässt. Waldenfels, Das Ordentliche (Anm. 55), S. 3 f. spricht anstelle von ontischer und ontologischer auch von einer »moderaten« und einer »radikalen Form« von Kontingenz. 57 Ebd., S. 3 f. spricht nicht von logisch vor- und nachgeordnet, sondern von der Kontingenz »innerhalb« oder »außerhalb« der Ordnung. Michel, Ordnungen der Kontingenz (Anm. 12), S. 13 f. bestimmt dies als »asymmetrische[] Verhältnisbestimmung«, wo Kontingenz »vor-« oder »nachgeordnet« ist. Dies scheint mir treffender als Waldenfels’ eigene Formulierungen. 58 Dass eine Ordnung nicht nur vorgibt, was möglich und unmöglich ist, sondern auch, was notwendig ist, ist nicht ganz so selbstverständlich, wie Waldenfels suggeriert. Er setzt damit einen sehr spezifischen Ordnungsbegriff voraus. 59 Waldenfels, Das Ordentliche (Anm. 55), S. 4. 60 Ebd., S. 4–6 sowie Ders., Ordnung im Zwielicht (Anm. 55), S. 173 f.
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Versteht man Kontingenz als Gegensatz oder als das ›Andere‹ der Ordnung, so ist das Verhältnis der beiden notwendig asymmetrisch:61 Einer der beiden Begriffe muss als der grundlegendere gedacht werden. So unterscheiden sich das ontische und das ontologische Kontingenzverständnis danach, ob der Ordnung oder der Kontingenz das logische Primat zugeschrieben wird. Beide Kontingenzbegriffe können aber dieses Primat der einen Seite ihrerseits nicht ›mitdenken‹: Bei der ontischen Kontingenz wird eine stabile Ordnung vorausgesetzt, damit Notwendigkeit und Kontingenz als zwei gleichrangige Möglichkeiten innerhalb der Ordnung möglich werden. Mit der ontologischen Kontingenz wird dagegen Kontingenz als etwas Universales oder Quasi-Transzendentales gesetzt, das sich nicht weiter begründen lässt und demgegenüber Ordnungen und Notwendigkeiten immer bloß abgeleitet sind. Ein solches Kontingenzverständnis hat eine homogenisierende Wirkung. Die Unterschiede zwischen verschiedenen Formen von ›lokalen Notwendigkeiten‹, d. h. von lokal wirksamen Begründungsoder Legitimationsformen werden nivelliert. Wenn Luhmann Kontingenz als Midas-Gold bezeichnet, scheint er auf diese homogenisierende Wirkung anzuspielen.
Kontingenz als Verlegenheitsstelle Waldenfels und Luhmann problematisieren die dilemmatische Asymmetrie von Ordnung und Kontingenz nicht, sondern verstehen sie implizit als Bestätigung des Primats der Kontingenz, d. h. als Argument für eine ontologische oder universelle Kontingenzkonzeption. Dabei fällt auf, dass sowohl Waldenfels als auch Luhmann ihren ontologischen bzw. modernen Kontingenzbegriff – fast schon redundant – vom ontischen bzw. vormodernen abgrenzen. Es entsteht der Eindruck, dass diese Abgrenzung nicht bloß rhetorischer Natur, sondern für die moderne Kontingenzkonzeption geradezu konstitutiv ist. D. h. das moderne Kontingenzverständnis gewinnt seine Plausibilität in der Gegenüberstellung mit dem vormodernen. Nimmt man diese Beobachtung ernst, bietet es sich – gerade auch für das Arbeiten mit historischem Material – an, die beiden Kontingenzbegriffe stärker als sich gegenseitig bedingend zu denken. Kontingenz wäre dann als konstitutives Changieren zwischen zwei Perspektiven zu begreifen: zwischen dem Blick auf ein Ereignis als kontingente Selektion in einem gegebenen Rahmen und der Perspektive auf dieses Ereignis als Zeugnis für die kontingenten Bedingungen dieses Rahmens. Dabei verweist die erste Perspektive, sobald ein Ereignis 61 Zur Asymmetrie von Ordnung und Kontingenz vgl. Michel, Ordnungen der Kontingenz (Anm. 12), S. 6.
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sich (aus welchen Gründen auch immer) nicht in die vorausgesetzte Ordnung einordnen lässt, auf die zweite Perspektive der ontologischen Kontingenz. Da deren Universalität aber gleichsam als Setzung erscheint, wird der Blick wiederum auf ›lokale Notwendigkeiten‹ gelenkt. Ein solches Kontingenzverständnis kehrt ganz im Sinne Blumenbergs die theologisch-systematische Perspektive um: Es wird nicht danach gefragt, ob ein Ereignis kontingent oder notwendig verursacht ist, sondern ob und wie es als Ergebnis providentieller Lenkung, schicksalhafter Fügung oder aber als kontingentes Geschehen gedeutet wird. Ausgangspunkt ist somit weniger das Ereignis als dessen wiederholte Deutungen. Literarische Texte – so könnte man vermuten – stellen vielfach gerade solche sich überlagernde, inkommensurable Perspektiven auf vordergründig kontingente Ereignisse aus.62 Sie präsentieren selten ein geschlossenes System von Erst- und Zweitursachen oder lückenlose Ereignisketten, sondern viel eher »Verlegenheitsstellen«:63 also Ereignisse, die (kausal oder transzendent) unter- oder übermotiviert sind und die deshalb Deutungs- oder Begründungsfragen aufwerfen. Hier ist einerseits an wundersame Koinzidenzen zu denken, die gleich mehrfach (und auf unterschiedlichen Erzählebenen) motiviert oder gedeutet werden, andererseits an Ereignisse, deren kausale oder finale Motivation dezidiert ausgespart wird. Anhand solcher ›Verlegenheitsstellen‹ kann ein Text nicht nur unterschiedliche Deutungsstrategien von Figuren, Erzähler etc. entfalten und verschiedene Kontingenzkonzeptionen verhandeln, sondern auch zeigen, wie die einzelnen Deutungen eines Ereignisses als Zufall, Wunder, Eingriff Gottes u. ä. von unterschiedlichen Perspektiven auf das Ereignis geprägt sind.
62 Vgl. dazu den Aufsatz von Waltenberger in diesem Band. 63 Der Begriff »Verlegenheitsstelle« geht auf Blumenberg zurück: Blumenberg, Genesis (Anm. 14), S. 564. Hier wird er im Anschluss an Gerhard Neumann benutzt, der das Duell als »Verlegenheitsstelle zwischen Providenz und Kontingenz« versteht und untersucht, wie sich dessen »Inszenierung« literarhistorisch verändert; vgl. Neumann, Gerhard, Ritualisierte Kontingenz. Das paradoxe Argument des ›Duells‹ im ›Feld der Ehre‹ von Casanovas Il Duello (1780) über Kleists Zweikampf (1811) bis zu Arthur Schnitzlers Novelle Casanovas Heimfahrt (1918), in: Graevenitz/Marquard, Kontingenz (Anm. 9), S. 343–372, hier S. 346 f. Auch Brandstetter, Gabriele, Poetik der Kontingenz. Zu Goethes Walhlverwandtschaften, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 39 (1995), S. 130–145, hier S. 132 und Schnyder, Mireille, Glücksspiel und Vorsehung. Die Würfelspielmetaphorik im Parzival Wolframs von Eschenbach, in: ZfdA 131 (2002), S. 308–325, hier S. 323 verwenden den Begriff. Doch geht es bei ihnen um die Diskrepanz zwischen Kontingenzwahrnehmung und Providenzerwartung. Neumann dagegen geht es um ein Moment der Ambivalenz (z. B. Duell), das ein changierendes Bedeutungsspektrum zwischen Providenz und Kontingenz aufruft, das literarhistorisch je unterschiedlich konkretisiert wird.
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2. Kontingenz in literarischen Texten Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die spätmittelalterlichen Kontingenztheoretiker Scotus und Ockham die Willensakte Gottes zwar als kontingent, nicht aber als zufällig oder beliebig beschreiben. In anderen theologisch-philosophischen Diskurszusammenhängen, z. B. im Kontext der Frage nach der göttlichen providentia sowie in der stärker logisch ausgerichteten Diskussion um den Wahrheitswert nicht notwendiger zukünftiger Ereignisse, wird hingegen Kontingenz durchaus mit Zufällen verknüpft.64 Meist geht es dabei um das zufällige Zusammentreffen zweier Kausalketten. Das Verhältnis von Zufall, Koinzidenz und Kontingenz ist somit für den mittelalterlichen philosophisch-theologischen Bereich keineswegs eindeutig zu bestimmen. Die Übersetzung von accidens als zuoval trägt jedoch dazu bei, dass ab dem 18. Jahrhundert im Deutschen Kontingenz mit Zufälligkeit gleichgesetzt wird:65 Kontingenz wird zum »Raum […], wo das Auch-anders-Sein-Können regiert«,66 der Zufall dagegen ist die Realisierung einer kontingenten Möglichkeit, d. h. ein kontingentes Ereignis.67 In literarischen Texten ist das Verhältnis von Zufall und Kontingenz aber nicht nur begriffsgeschichtlich, sondern auch literaturspezifisch, d. h. von den Darstellungsbedingungen, Erzählmustern und Sinnstiftungsmodi literarischer Texte her zu begreifen. Uta Störmer-Caysa hat diesbezüglich darauf 64 Vgl. Störmer-Caysa, Uta, Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman, Berlin 2007, S. 148–196, hier S. 149–157; Kranz, M. und Knebel, S. K., [Art.] Zufall, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, Darmstadt 2004, Sp. 1407–1415, hier Sp. 1413–1415; Brugger, W., [Art.] Kontingenz, in: ebd., Bd. 4, Darmstadt 1976, Sp. 1028–1034, hier Sp. 1029; vgl. auch den Artikel von Schulthess in diesem Band. 65 Störmer-Caysa, Grundstrukturen (Anm. 64), S. 151; sie weist auch darauf hin, dass der Ausdruck per accidens, der eine »unerwartete Störung eines kausalen Ablaufs durch hinzutretende Zweitursachen« bezeichnet, die Vermischung von accidens und contingentia in den Übersetzungssprachen bereits vorwegnehme (ebd., S. 152). Die Verbreitung der »irreführenden Übersetzung« von contingentia im Deutschen als »Zufälligkeit« wird Kant zugeschrieben; Kranz/Knebel, [Art.] Zufall (Anm. 64), Sp. 1409; vgl. auch Wetz, Franz Joseph, Die Begriffe »Zufall« und »Kontingenz«, in: Graevenitz/Marquard, Kontingenz (Anm. 9), S. 27–34, hier S. 29. 66 So etwa Bubner, Rüdiger, Die aristotelische Lehre vom Zufall. Bemerkungen in der Perspektive einer Annäherung der Philosophie an die Rhetorik, in: Graevenitz/Marquard, Kontingenz (Anm. 9), S. 3–22, hier S. 6 f. und Haug, Walter, Kontingenz als Spiel und das Spiel mit der Kontingenz. Zufall, literarisch, im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: ebd., S. 151–172, hier S. 151. 67 Eine solche Bestimmung von Zufall und Kontingenz widerspricht jedoch dem alltäglichen Sprachgebrauch, wo nur die kontingenten Ereignisse als Zufälle angesehen werden, die den Wahrscheinlichkeitserwartungen widersprechen und Konsequenzen für die Beteiligten haben (so Nef, Der Zufall in der Erzählkunst [Anm. 7], S. 7; vgl. dazu auch den Artikel von Haferland in diesem Band).
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hingewiesen, dass Thomas von Aquin in der berühmten q. 22 über die Providenz eine Beispielerzählung in die Argumentation einfügt. Thomas erklärt die scheinbaren Zufälle zuerst argumentativ dadurch, dass er zwischen einer besonderen und einer allgemeinen Ursache (causa particularis und universalis) unterscheidet. Während die allgemeine Ursache (Gott als primum agens) immer wirksam sei, könnten besondere Ursachen durch andere Ursachen abgelenkt oder aufgehoben werden. Dies plausibilisiert er mit einem knappen Beispiel: Zwei Diener begegnen sich und das Zusammentreffen erscheint ihnen als zufällig (casualis). Für ihren Herrn jedoch, der sie gezielt an denselben Ort geschickt hat, ist das Treffen keineswegs zufällig, sondern vorgesehen.68 Gemäß Störmer-Caysa werden in dieser Kombination von Argumentation und Beispielerzählung die spezifischen Möglichkeiten narrativer Darstellungen sichtbar: »Da der Zufall sich nicht in einer Regel ausdrücken lässt, ist er auf Beispiele angewiesen. Er ist das auch für das theoretische Denken […]. Das ist die Chance des Erzählens.«69 Aufgrund seiner Singularität lasse sich der Zufall nicht theoretisch fassen und müsse deshalb narrativ dargestellt werden. Diese Schlussfolgerung erstaunt, weil von anderen (auch mediävistischen) Literaturwissenschaftlern genau die entgegengesetzte These vertreten wird: Erzählungen – zumindest solche der Form von Thomas’ Exemplum – seien dominant sinnstiftend. Jedes scheinbar zufällige Ereignis erweise sich am Ende als Mittel der finalen Sinnstiftung. Deshalb sei es einem sinnstiftenden Erzählen nicht möglich, Zufall oder Kontingenz darzustellen.70 Die Gegensätzlichkeit dieser Thesen weist darauf hin, dass weniger danach zu fragen ist, wie eine lebensweltlich verstandene Zufälligkeit in literarischen Texten ›abgebildet‹ wird, sondern wie bestimmte literarische Darstellungsformen auch spezifische Konzeptionen von Kontingenz erzeugen.71 Handlungsweltliche Zufälle prägen Erzählungen über die Epochengrenzen hinweg in hohem Maße.72 Unabhängig davon, ob sie bloß konstatiert, 68 Thomas von Aquin, S. theol., I, q. 22,2 ad 1. Die Argumentation und das Beispiel passen aber meines Erachtens nicht ganz nahtlos zueinander. Denn in der Argumentation geht es um die ontologische Unterscheidung zwischen zwei Ursachen, die unterschiedlich wirken. Im Beispiel hingegen lehnt sich Thomas stärker an Boethius an und unterscheidet zwischen zwei Perspektiven, einer menschlichen und einer göttlichen: Was gemäß der göttlichen Perspektive eine Folge der Vorsehung ist, erscheint dem Menschen als Zufall. 69 Störmer-Caysa, Grundstrukturen (Anm. 64), S. 183. 70 Vgl. Michel, Ordnungen der Kontingenz (Anm. 12), S. 25. In der Mediävistik hat insbesondere Walter Haug diese These mehrfach vertreten; siehe dazu unten, Abs. 3. 71 Vgl. dazu Wellbery, David E., Mediale Bedingungen der Kontingenzsemantik, in: Graevenitz/Marquard, Kontingenz (Anm. 9), S. 447–450. 72 Vgl. Dannenberg, Hilary P., A Poetics of Coincidence in Narrative Fiction, in: Poetics Today 25 (2004), S. 399–436; Haferland, Harald, Metonymie und metonymische Handlungskonstruktion. Erläutert an der narrativen Konstruktion von Heiligkeit in zwei mittelalterlichen Legenden, in: Euphorion 99 (2005), S. 323–364, hier S. 348–352.
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aufwendig kausal erklärt oder als göttliche Interventionen dargestellt werden, sind sie immer auch als Zeugnis der »Souveränität [des Erzählens]« lesbar.73 Denn sobald sie der Handlungskonstruktion dienen, also beispielsweise den Höhepunkt, das retardierende Moment oder die Anagnorisis ermöglichen, erscheinen sie von einem auktorialen Regisseur eingesetzt und dadurch funktionalisiert.74 Nicht nur für mittelalterliche, sondern auch für neuzeitliche Erzählungen ist deshalb unklar, ob und auf welche Weise handlungsweltliche Zufälle Kontingenz darstellen oder thematisieren. Dieser Zweifel, ob Kontingenz überhaupt mittels Zufällen dargestellt werden kann, hat in jüngeren literaturwissenschaftlichen Arbeiten dazu geführt, dass Kontingenz nicht mehr ausschließlich an der Handlungswelt (histoire) festgemacht wurde, sondern dass vermehrt auch die Ebene des discours fokussiert wurde: Kann mittels der Erzählweise (discours) Kontingenz exponiert oder gar von einer Kontingenz des Erzählens gesprochen werden? Fragt man nach literaturspezifischen Formen der Kontingenzdarstellung, so kommt man an diesem Spannungsfeld des Erzählens von Kontingenz und der Kontingenz des Erzählens kaum vorbei. Im Folgenden werden drei literaturtheoretische Positionen vorgestellt, die je unterschiedliche Modelle für dieses Spannungsfeld entwickeln.
Kontingenz in der histoire vs. Kontingenz des discours (Michel) Sascha Michel überträgt Waldenfels’ Unterscheidung zwischen ontischer und ontologischer Kontingenz auf die Differenz zwischen der Kontingenz in der histoire und derjenigen des discours. Analog zur ontischen Kontingenz ist die Kontingenz in der histoire durch die ›Ordnung‹ der erzählten Welt bestimmt, die vorgibt, was notwendig und was kontingent ist. Dabei unterliegt jedoch die Erzählung (discours), die diese Ordnung hervorbringt, selbst kontingenten Bedingungen. Der ontologischen Kontingenz entsprechend ist hierbei zum einen an die kontingenten Momente der Textgenese (Überlieferung, Pragmatik), zum anderen an die Kontingenz der sprachlichen Sinnstiftung
73 Ebd., S. 358. 74 Haustein, Jens, Kausalität als Autorität in mittelhochdeutscher Erzählliteratur. Oder: Clemens Lugowski als mediävistische Autorität?, in: Jürgen Fohrmann, Ingrid Kasten und Eva Neuland (Hgg.), Autorität der/in Sprache, Literatur, Neuen Medien. Vorträge des Bonner Germanistentags 1997, Bd. 2, Bielefeld 1999, S. 553–572, hier S. 563 und Ricœur, Paul, Zufall und Vernunft in der Geschichte. Übers. von Helga Marcelli, Tübingen 1986, S. 18. Vgl. zum Zufall in der Literatur allg. Nef, Der Zufall in der Erzählkunst (Anm. 7); Köhler, Erich, Der literarische Zufall, das Mögliche und die Notwendigkeit, München 1973.
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sowie deren Reflexion in Erzählerkommentaren zu denken.75 Michels asymmetrische Unterscheidung zwischen der Kontingenz in der histoire und derjenigen des discours birgt jedoch die Gefahr, dass die Ebene der histoire kaum Berücksichtigung findet, da deren Kontingenz als bloß »inszenierte« abgewertet wird.76 Dementsprechend konzentriert sich Michels Untersuchung auch auf die Kontingenz des discours, respektive darauf, wie diese z. B. durch Unterbrechungen oder digressiones in Szene gesetzt wird. Da sich aber solche das Erzählen reflektierende Textstellen in Erzählungen ganz unterschiedlicher Zeiten und Gattungen finden, könnte gerade der Bezug zur histoire notwendig sein, um die historische Spezifik solcher Passagen herauszuarbeiten.
Die Kontingenz des Erzählens (Wellbery) David Wellbery geht in seinem Aufsatz Zur literaturwissenschaftlichen Relevanz des Kontingenzbegriffs77 von der Beobachtung aus, dass die meisten literaturwissenschaftlichen Ansätze, insbesondere Hermeneutik und Strukturalismus, geradezu auf der Kontingenz der Texte gründen: Da es keine notwendige Begründung für Form und Inhalt der Texte gibt (jeder Text kann immer auch anders erzählt werden), können die Gründe für die spezifische Gegebenheit des jeweiligen Textes immer von Neuem analysiert werden. Wird aber eine solche Kontingenz des literarischen Textes vorausgesetzt, so gilt es zu fragen, wie die Literaturwissenschaft historisch spezifische Kontingenzexpositionen analysieren kann. Um diese Ebenen zu trennen, unterscheidet Wellbery zwischen einem funktionalen und einem emphatischen Kontingenzbegriff. Unter funktionaler Kontingenz versteht er die gerade beschriebene Selektivität der textuellen Elemente. Das Auftreten eines bestimmten Zeichens ist nicht notwendig, sondern es handelt sich um eine kontingente Setzung. Bei der Analyse wird jedoch diese kontingente Selektion wiederum funktionalisiert, indem allen Elementen eine durchgehende Bedeutsamkeit zugeschrieben wird.78 Momente emphatischer Kontingenz wer75 Michel, Ordnungen der Kontingenz (Anm. 12), S. 13 f.; S. 25–30. Methodisch ähnlich verfährt auch Lobsien, Eckhard, Kontingenz des Erzählens und Erzählen der Kontingenz in Miltons Paradise Lost, in: Greiner/Moog-Grünewald, Kontingenz und Ordo (Anm. 55), S. 47–57. 76 Michel, Ordnungen der Kontingenz (Anm. 12), S. 25. 77 Wellbery, David E., Zur literturwissenschaftlichen Relevanz des Kontingenzbegriffs. Eine Glosse zur Diskussion um den Poststrukturalismus, in: Klaus W. Hempfer (Hg.), Poststrukturalismus – Dekonstruktion – Postmoderne, Stuttgart 1992 (Text und Kontext. Romanische Literaturen und allgemeine Literaturwissenschaft 9), S. 161–169. 78 Ebd., S. 161; für die kritisierte Position steht u. a. Barthes, Roland, Einführung in die strukturale Analyse, in: Ders., Das semiologische Abenteuer. Aus dem Französischen von
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den dadurch übertüncht. Wellbery versteht unter letzterer – im Anschluss an poststrukturalistische Kontingenzreflexionen – semiotische Ereignisse, die die »postulierte Funktionalität durchkreuz[en] und damit die Theoretisierbarkeit relativier[en]«.79 Solche Ereignisse zeichnen sich aus durch ihre Singularität (sie sind nicht wiederholbar) und ihre Vieldeutigkeit (sie lassen sich nicht durch eine wie auch immer gefasste Funktion fassen). Die emphatische Kontingenz geht im Unterschied zu Waldenfels’ ontologischer Kontingenz nicht der Genese eines textuellen Systems voraus, sondern ist Teil von dessen prozessualer Konstitution. D. h. die textuellen Konventionen oder Codes produzieren kontingente Effekte, die von diesen selbst nicht gefasst werden können, die aber notwendiger Teil der Sinnerzeugung sind.80 Wellberys Gegenüberstellung der beiden Kontingenzbegriffe ist auch als Kritik an der klassischen Narratologie zu verstehen: »Das hergebrachte Modell des Narrativen ist nichts anderes als die Auslöschung des Zufalls«.81 Die erzählte Handlung werde von einem »überzeitlichen Standpunkt« und unter der Voraussetzung durchgehender Funktionalität betrachtet. Dies habe zur Folge, dass der Text so modelliert wird, als ob sich nur das »verwirklicht, was am Anfang schon vorgesehen war«.82 Momente von emphatischer Kontingenz werden auf diese Weise ihrer Singularität und Mehrdeutigkeit beraubt.83 Wellberys Überlegungen verdeutlichen, wie sehr die im oder am Text beobachtete Kontingenz von den dabei vorausgesetzten literaturtheoretischen Annahmen geprägt ist. Sascha Michel kritisiert jedoch zu Recht, dass WellDieter Hornig, Frankfurt am Main 1988 (es 1441), S. 102–143, hier S. 109: »In der Ordnung des Diskurses ist alles Erwähnte per definitionem erwähnenswert: sollte ein Detail unweigerlich bedeutungslos erscheinen und sich hartnäckig gegen jede Funktion sperren, so erhielte es letztendlich dennoch die Bedeutung des Absurden oder des Nutzlosen: entweder ist alles sinnvoll oder nichts.« 79 Wellbery, Relevanz des Kontingenzbegriffs (Anm. 77), S. 161. 80 Dadurch wird auch die klassische Unterscheidung zwischen (notwendigem) Wesen und (zufälliger) Akzidenz aufgehoben. Neben einer solchen ›Einschließung‹ der Kontingenz führt Wellbery auch – im Verweis auf Roland Barthes’ punctum (Barthes, Roland, Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Aus dem Französischen von Dietrich Leube, Frankfurt am Main 1989 [Suhrkamp-Taschenbuch 1642], S. 52–69) – die Möglichkeit an, das kontingente Ereignis als das eigentlich Undarstellbare zu begreifen. Mir scheint dies jedoch weniger produktiv, da damit Kontingenz aus der Sinnerzeugung ›ausgeschlossen‹ wird. 81 Wellbery, Relevanz des Kontingenzbegriffs (Anm. 77), S. 167; vgl. auch S. 163: »Es handelt sich nämlich [beim poststrukturalistischen Kontingenzbegriff] um den Abbau jener Selbstbegrenzung, wodurch die hergebrachte Sprachtheorie ihren Objektbereich gewinnt«. 82 Ebd., S. 167. 83 Vgl. auch Ders., Der Zufall der Geburt. Sternes Poetik der Kontingenz, in: Graevenitz/ Marquard, Kontingenz (Anm. 9), S. 291–317, wo sich viele der hier theoretisch formulierten Thesen interpretatorisch plausibilisiert finden; vgl. ebd., S. 309 zu Kontingenz und Wiederholung.
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berys Verständnis von emphatischer Kontingenz »die je spezifische Ordnung und Kontingenz literarischer Diskurse mit der Perspektive auf den kontingenten Status der Sprache im Allgemeinen überblendet«.84 Michel schlägt deshalb vor, Wellberys Terminologie dahingehend zu erweitern, dass zwischen semiotischer Kontingenz (i. e. den von der Sprache produzierten kontingenten Bedeutungseffekten) und der Kontingenz des Erzählens unterschieden wird.
Kontingenz und Zeitlichkeit (Warning) Rainer Warning untersucht in zwei Aufsätzen zum Tristan-Stoff und zu den französischen Romanen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts die »narrative[] Modellierung von Kontingenzerfahrung«.85 Er konzipiert textuelle Kontingenz ausgehend von der Gegenüberstellung eines syntagmatischen und eines paradigmatischen Erzählens. Das »syntagmatisch-teleologische« Erzählen organisiert sich dem Lotman’schen Sujet-Begriff entsprechend: Es ist auf einen Helden fokussiert, der eine scheinbar unüberwindbare (Norm-)Grenze überschreitet.86 Die vorherrschende Organisationsform basiert auf »Und so weiter«-Relationen.87 Das »Erzählen im Paradigma« ist dagegen durch Wiederholungen strukturiert. Die Ereignisfolgen sind sequentiell und diskontinuierlich angeordnet; ana- und kataphorische Bezüge treten in den Vordergrund und schaffen einen »Textraum«.88 Während das syntagmatische Erzählen linear auf ein zentrales Ereignis (Grenzüberschreitung) ausgerichtet ist, wird beim paradigmatischen Erzählen der Text »raumzeitlich dynamisiert«.89 84 Michel, Ordnungen der Kontingenz (Anm. 12), S. 22. 85 Warning, Rainer, Erzählen im Paradigma. Kontingenzbewältigung und Kontingenzexposition, in: Romanistisches Jahrbuch 52 (2002), S. 176–209, hier S. 180. Ders., Die narrative Lust an der List. Norm und Transgression im Tristan, in: Ders. und Gerhard Neumann (Hgg.), Transgressionen. Literatur als Ethnographie, Freiburg im Breisgau 2003 (Rombach Wissenschaft. Litterae 98), S. 175–212. Vgl. auch den Aufsatz: Warning, Rainer, Pariser Heterotopien. Der Zeitungsverkäufer am Luxembourg in Rilkes Malte Laurids Brigge, München 2003 (Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse H 1), in dem Warning sich erneut mit dem Erzählen im Paradigma und der narrativen Modellierung von Zeit beschäftigt. 86 Er bezeichnet dies auch als »sujethaft-syntagmatisches Erzählen« (Ders., Erzählen im Paradigma [Anm. 85] S. 179); vgl. auch 176 f. sowie Ders., Norm und Transgression (Anm. 85), S. 180; 186. 87 Ders., Erzählen im Paradigma (Anm. 85), S. 179. 88 Ebd. (Anm. 85), S. 197; mit der Erzählform verändert sich auch die Helden-Konzeption: Beim syntagmatischen Erzählen beherrscht dieser das Geschehen, beim paradigmatischen Erzählen ist er ihm ›passiv‹ unterworfen (Ders., Norm und Transgression [Anm. 85], S. 184). 89 Ders., Pariser Heterotopien (Anm. 85), S. 10.
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Warnings idealtypische Unterscheidung eines dominant sujethaft-syntagmatischen und eines dominant sujetlos-paradigmatischen Erzählens ist nicht unproblematisch:90 Auf der einen Seite der Unterscheidung setzt er ein sehr spezifisches Erzählmodell (»sujethaft«), dem im engen Lotman’schen Sinne wohl nur wenige Erzählungen entsprechen. Auf der anderen Seite steht dagegen ein weites, offenes Erzählcharakteristikum (paradigmatische Verknüpfung), das wohl jedes Erzählen, wenn auch in stärkerem oder schwächerem Maße, prägt. Entscheidend ist jedoch, dass Warnings Unterscheidung Kontingenz nicht – wie es sich nach Waldenfels und Luhmann anbietet – auf Ordnung, sondern auf Zeit bezieht. Er zeigt nämlich, dass syntagmatisches und paradigmatisches Erzählen Zeit unterschiedlich modellieren und dabei auch unterschiedliche Kontingenzeffekte erzeugen. Innerhalb des syntagmatischen Erzählens gibt es nur »weiche Kontingenz« bzw. »Kontingenzbewältigung«:91 Das scheinbar kontingente Ereignis bringt die Handlung (teleologisch) voran. »[K]ontingente[s] Geschehen[] [wird] in eine Geschichte mit Anfang, Mitte und Ende [überführt]«.92 Beim paradigmatischen Erzählen wiederholen sich dagegen die kontingenten Ereignisse. Sie verlieren dadurch ihre Außerordentlichkeit und Ereignishaftigkeit sowie ihre Funktion, Handlung teleologisch zu organisieren.93 Sie exponieren ›harte Kontingenz‹, weil sie ein lineares Zeitverständnis paradoxieren (also z. B. die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen sichtbar machen).94 Mit der Unterscheidung von ›weicher‹ und ›harter Kontingenz‹ geht es Warning – ähnlich wie Wellbery – um eine grundsätzliche Kritik an der klassischen Erzähltheorie:95 Diese orientiere sich zu sehr am Sujet und so könne 90 Vgl. die Diskussion bei Strohschneider, Kippfiguren (Anm. 8), S. 168 f. Vgl. auch Ricœur, Zufall und Vernunft in der Geschichte (Anm. 74), S. 16 und Ders., Zeit und Erzählung, Bd. 1: Zeit und historische Erzählung. Aus dem Französischen von Rainer Rochlitz [Erstdruck 1983], München 1988 (Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt 18/1), S. 107, der vordergründig von einer ähnlichen Grundopposition ausgeht. Er unterscheidet zwischen einer sukzessiven und einer konfigurierenden Dimension des Erzählens. Doch trotz des ähnlichen Ausgangspunktes versteht er die erzählerische Kontingenz grundlegend anders: Sie steht letztendlich immer im Dienste einer »Synthesis des Heterogenen«, d. h. einer Verknüpfung des Geschehens zu einem ›Ganzen‹ (ebd., S. 106; Ders., Zufall und Vernunft in der Geschichte [Anm. 74], S. 19). 91 Warning, Erzählen im Paradigma (Anm. 85), S. 180; vgl. auch S. 182. 92 Ders., Norm und Transgression (Anm. 85), S. 179. Mit der weichen Kontingenz meint Warning auch die Denkfigur, dass der Zufall der »plus grand romancier du monde« sei (Formulierung von Balzac, zit. nach Warning, Erzählen im Paradigma [Anm. 85], S. 182). 93 Ebd., S. 182 f. 94 Warning beschreibt die ›harte Kontingenzexposition‹ auch als »ateleologisch« und diskontinuierlich sowie als »Wiederkehr des Gleichen«, die nicht zirkulär ist (ebd., S. 199; 185; 190). 95 Hier wäre genauer zwischen dem Lotman’schen Erzählmodell, das eine lineare Zeitlichkeit impliziert, und den Texten, die dem Lotman’schen Modell entsprechen (also sujethaft-syn-
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sie nur Kontingenzbewältigung beobachten, d. h. »wie unorganisiertes Geschehen in eine organisierte Geschichte überführt, wie Kontingenz im Akt der Narration angeeignet [wird]«.96 Warning liest das paradigmatische Erzählen der französischen Klassiker des 19. und 20. Jahrhunderts literarhistorisch als Reaktion auf die Beschleunigungserfahrungen im 18. und 19. Jahrhundert. Das kulturelle Ordnungssystem habe sich insgesamt temporalisiert (d. h. es wird als ein sich veränderndes wahrgenommen) und dadurch werde dessen ›Kontingenzanfälligkeit‹ sichtbar.97 Er betont jedoch, dass narrative Kontingenzexposition keineswegs ein modernes Phänomen sei. Vielmehr werde auch im Tristan Gottfrieds von Straßburg ›harte‹ Kontingenz exponiert:98 Die Listepisoden bringen die syntagmatische Entwicklung in keiner Weise voran, werden aber, wenn auf deren paradigmatische Struktur geachtet wird, als gegenseitige Relativierung von Norm und Transgression lesbar. Gleichwohl darf Warning zufolge nicht jedes paradigmatische Erzählen mit ›harter Kontingenzexposition‹ gleichgesetzt werden, wie ein Vergleich zwischen dem Tristan und Schwankerzählungen zeigen würde.99 Diese Bemerkung legt nahe, ›harte Kontingenz‹ weniger mit paradigmatischen Strukturen und stärker mit der – damit selbstredend verknüpften – Inkommensurabiliät von Zeitmodellierungen zu verbinden. Denn Warnings Tristan-Interpretation zielt darauf, dass sich Versatzstücke einer teleologischen Ausrichtung (auf den Liebestod hin) und iterative Episodenhaftigkeit überlagern.100 Verallgemeinert man diese Beobachtung, so wird ›harte Kontingenz‹ vor allem dann exponiert, wenn verschiedene Zeitstrukturen das Geschehen gleichzeitig bestimmen und deren Unvereinbarkeit sichtbar wird. Zugleich bedeutet dies eine enge Interdependenz von textueller Zeit und textueller Kontingenz: Was als Kontingenzexposition wahrgenommen wird, ist durch tagmatisch erzählen) zu unterscheiden. Warnings Tristan-Interpretation zeigt, dass es durchaus Interpretationssache ist, ob ein Text sujethaft erzählt ist oder nicht. Dementsprechend sind nicht alle vordergründig sujethaft gestalteten Texte für die Kontingenz-Diskussion uninteressant, sondern es wäre fragen, ob sie wirklich ihr Sujet so teleologisch entfalten, wie es das narratologische Modell suggeriert. 96 Ders., Erzählen im Paradigma (Anm. 85), S. 176; 182; 208. 97 Ders., Norm und Transgression (Anm. 85), S. 183. 98 Ebd., S. 205. 99 Ebd., S. 199 sowie 196 f. Vgl. hierzu auch Strohschneider, Kippfiguren (Anm. 8), S. 167 f.; 181 f., der anhand des Pfaffen Amis zeigt, dass die Schwanksammlungen gerade durch ihren ›seriellen Charakter‹ Kontingenz exponieren. Die Teleologie der Einzelerzählung erscheine durch die darauf folgende als eine nur noch partikulare, d. h. als ein Weltausschnitt. 100 Warning, Norm und Transgression (Anm. 85), S. 198 f. Vgl. auch Ders., Pariser Heterotopien (Anm. 85), wo gezeigt wird, wie bei Rilke eine halluzinatorische, eine messianische und eine teleologische Zeitstruktur ineinander verschränkt werden (S. 13).
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die spezifische Zeitmodellierung der einzelnen Erzählung bedingt und prägt diese zugleich mit.101
3. Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur Warnings expliziter Hinweis darauf, dass paradigmatisches Erzählen und die damit einhergehende Kontingenz-Exposition keine neuzeitlichen Phänomene seien, hat deutlich gemacht, dass die Literatur der Moderne, die betont ateleologisch und diskontinuierlich erzählt, auf den ersten Blick der von Warning und Wellbery thematisierten Form der Kontingenzexposition näher steht. Warnings Tristan-Interpretation sowie die jüngst erschienene und an Warning anschließende Analyse Peter Strohschneiders zum Pfaffen Amis zeigen jedoch, dass gerade auch mit den mittelalterlichen Erzählweisen Kontingenz komplex thematisiert werden kann. Innerhalb der mediävistisch-germanistischen Arbeiten zu Kontingenz102 zeichnen sich mindestens vier Herangehensweisen ab, die jeweils Kontingenz auf einer anderen Erzählebene oder in Abgrenzung von einem anderen Gegenbegriff bestimmen. Erstens wird Kontingenz auf der Ebene der Handlungsfolge verortet: Mit Hilfe von Lugowskis Unterscheidung von kausaler und finaler Motivation wird untersucht, wie die Verkettung der Ereignisse dargestellt und legitimiert wird. Zweitens wird die Sinnstiftung mittelalterlicher Erzählung diskursgeschichtlich auf philosophisch-theologische Providenzvorstellungen bezogen. Drittens wird Kontingenz als Gegenbegriff zu Sinn verstanden. Hier wird gefragt, wo Kontingenz als das ›Außen‹ der dominanten Sinnstiftung dargestellt wird. Viertens werden spezifische ›Kontingenzsemantiken‹ untersucht wie z. B. Räume (Wald, Meer), Zeitadverbien (von ungeschiht) oder Personifikationen (Fortuna, Sælde). Mit der folgenden Diskussion dieser Ansätze wird kein vollständiger Forschungsüberblick angestrebt, sondern es werden im Anschluss an die voran-
101 Dazu muss die Zeitlichkeit des Erzählens selbstredend komplex gedacht werden: »Nun weiß man seit langem, daß diese Unterscheidung, die Erzählzeit mit erzählten Seiten gleichsetzt, nicht nur die Imagination des Lesers außen vor lässt, sondern vor allem auch die Tatsache, daß Erzählen immer auch mit der Modellierung von Zeitsemantiken zu tun hat, d. h. dass in jeder Geschichte Zeit nicht einfach als temporale Erstreckung der Geschichte präsent ist, sondern selbst Gegenstand der Erzählung werden kann« (Ders., Erzählen im Paradigma [Anm. 85], S. 199; vgl. auch S. 208). 102 Mediävistische Aufsätze oder Monographien, die Kontingenz zu ihrem eigentlichen Thema machen, gibt es eher wenige, vgl. jedoch künftig Albrecht Hausmann: Struktur, Autorisierung, Autorschaft. Untersuchungen zur Poetik von ›Erec‹, ›Gregorius‹ und ›Tristan‹, Habilitationsschrift (masch.), Eichstätt 2009.
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gegangenen theoretischen Überlegungen einzelne methodische Zugänge herausgearbeitet. Es versteht sich von selbst, dass die einzelnen Positionen nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern für eine konkrete Interpretation wohl gerade die Kombination mehrerer Ansätze produktiv ist. Kausale und finale Motivation Ein weit verbreiteter Ansatz der literaturwissenschaftlichen Analyse von Kontingenz geht von der Ereignisfolge bzw. deren Motivierung aus. Es wird analysiert, wie ein Text die einzelnen Ereignisse verknüpft und wie dies begründet wird. Dabei wird fast immer auf Lugowskis Unterscheidung zwischen kausaler und finaler Motivation zurückgegriffen:103 Im ersten Fall entwickelt sich das erzählte Geschehen nach kausalen oder psychologischen Gesetzmäßigkeiten, im zweiten wird eine kausal unterbestimmte oder inkohärente Handlungsfolge durch einen dominanten Sinnzusammenhang (absolute Tugendhaftigkeit des Helden) oder das »Ergebnis« der Handlung (Liebende finden sich wieder) begründet.104 In der mediävistischen Adaptation von Lugowskis Unterscheidung105 wird die finale Motivation, z. B. bei Heiligenlegenden, als Ausdruck eines providentiellen Weltverständnisses gelesen: Die finale Ausrichtung des Geschehens mache sichtbar, dass auch die unplausiblen oder scheinbar sinnlosen Geschehnisse Teil einer heilsgeschichtlichen Ordnung seien.106 103 Lugowski, Clemens, Die Form der Individualität im Roman, eingel. von Heinz Schlaffer [Erstdruck 1932], Frankfurt am Main 21994 (stw 151), hier S. 76 f.; 113 f.; 133–138. 104 Lugowski, Individualität (Anm. 103), S. 66–81, hier S. 75. Vielfach gerät etwas in Vergessenheit, dass Lugowski von einer »Doppelheit« des erzählten Geschehens spricht. Motivation (Sinnhorizont) und Motiviertes (Handlung) gehen dementsprechend nicht immer zirkulär ineinander auf; vgl. ebd., S. 80. 105 Lugowski entwickelt seine Gegenüberstellung von finaler und kausaler Motivation anhand der Prosaromane Wickrams. Er deutet die Auflösung der finalen Motivation – im Unterschied zu den hier erwähnten, an ihn anknüpfenden Arbeiten – nicht als gesteigertes Kontingenzbewusstsein, sondern als »Zersetzung« des überlieferten Wirklichkeitsverständnisses und geistesgeschichtliches Hervortreten des Individuums (Lugowski, Individualität [Anm. 103], S. 180). Zur Problematik dieses Ansatzes: Müller, Jan-Dirk, Der Prosaroman – eine Verfallsgeschichte? Zu Clemens Lugowskis Analyse des ›Formalen Mythos‹ (mit einem Vorspruch), in: Walter Haug (Hg.), Mittelalter und Frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 143–163, hier S. 151–153. 106 Haferland, Metonymie und metonymische Handlungskonstruktion (Anm. 72), S. 348– 359; Martínez, Matías, Fortuna und Providentia. Typen der Handlungsmotivation in der Faustinianerzählung der Kaiserchronik, in: Ders. (Hg.), Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen, Paderborn 1996, S. 83–100; vgl. zum Artusroman Cormeau, Christoph, Fortuna und andere Mächte im Artusroman, in: Walter Haug und Burghart Wachinger (Hgg.), Fortuna, Tübingen 1995 (Fortuna vitrea 15), S. 23–33, hier S. 27; zum Heldenepos: Schulz, Armin, Fragile Harmonie. Dietrichs Flucht und die Poetik der ›abgewiesenen Alternative‹, in: ZfdPh 121 (2002), S. 390–407.
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Werden einzelne Begebenheiten dagegen literarhistorisch vermehrt kausal erklärt oder fügen sich die erzählten Begebenheiten nicht mehr in den Erzählzusammenhang ein – was sich etwa in den Prosaromanen beobachten lässt –, wird das als verstärktes Kontingenzbewusstsein gedeutet.107 Doch die Unterstellung einer finalen Motivation ist – weil sie methodisch zirkulär erscheinen kann – nicht unumstritten.108 So fragt Jan-Dirk Müller in seiner Studie zu den Prosaromanen, wie eine finale Ausrichtung im Erzählzusammenhang zu erkennen sei, und fordert, genauer zwischen verschiedenen finalen Sinnhorizonten zu unterscheiden: »Es ist nicht gleichgültig, ob sich die vorgegebene Determination allen Geschehens aus der Sinnhaftigkeit ritterlichen Handelns, der Typik heroischer Auseinandersetzung oder den Glückswechseln, die dem Geldbesitzer drohen, ergibt.«109 Matías Martínez hat vorgeschlagen, zwischen einer intradiegetischen (finalen) und einer extradiegetischen (kompositorischen) Motivation zu unterscheiden. Während etwa in der Legende eine transzendente, aber intradiegetische Instanz (Gott) das Geschehen bestimmt, sei der antike Liebesroman durch die (ästhetische) »Zweckmäßigkeit« von Handlungselementen geprägt.110 Neben solchen Differenzierungen gilt es aber auch zu fragen, wie Erzählweise und Kontingenzverständnis zusammenhängen:111 Finale und kausale 107 Müller, Jan-Dirk, Volksbuch/Prosaroman im 15./16. Jahrhundert – Perspektiven der Forschung, in: IASL, 1. Sonderheft (1985), S. 1–128, hier S. 88–92; Ders., Transformation allegorischer Strukturen im frühen Prosa-Roman, in: Wolfgang Harms und Klaus Speckenbach (Hgg.), Bildhafte Rede in Mittelalter und früher Neuzeit: Probleme ihrer Legitimation und ihrer Funktion, Tübingen 1992, S. 265–284; Neudeck, Otto, Verwunderung, glück, von ungeschicht. Zur Poetologie des Fiktionalen in Jörg Wickrams Goldtfaden, in: Wolfgang Harms und C. Stephen Jaeger (Hgg.), Fremdes wahrnehmen – fremdes Wahrnehmen. Studien zur Geschichte der Wahrnehmung und zur Begegnung von Kulturen in Mittelalter und früher Neuzeit, Stuttgart und Leipzig 1997, S. 255–275; Waltenberger, Michael, Vom Zufall des Unglücks. Erzählerische Kontingenzexposition und exemplarischer Anspruch im Nachtbüchlein des Valentin Schumann (1559), in: PBB 129/2 (2007), S. 286–312. 108 Vgl. Quast, Bruno, Das Höfische und das Wilde. Zur Repräsentation kultureller Differenz in Hartmanns Iwein, in: Beate Kellner, Ludger Lieb und Peter Strohschneider (Hgg.), Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur, Frankfurt am Main u. a. 2001 (Mikrokosmos 64), S. 111–128, hier S. 115, der die finale Motivation als »funktionale[s] Passepartout-Argument« bezeichnet. 109 Müller, Volksbuch/Prosaroman (Anm. 107), S. 94. 110 Martínez, Fortuna und Providentia (Anm. 106), S. 96 sowie ausführlicher in Ders. und Scheffel, Michael, Einführung in die Erzähltheorie, München 1999, S. 108–119. Die Unterscheidung löst jedoch den von Quast erhobenen Vorwurf der Zirkularität (»PassepartoutArgument«) nicht. 111 So Müller, Volksbuch/Prosaroman (Anm. 107), S. 93, Anm. 310; Ders., Der Prosaroman – eine Verfallsgeschichte (Anm. 105), S. 153; zudem wird auch immer wieder gefordert, Lugowskis Instrumentarium weniger diachron und stärker synchron zu verstehen bzw. zu benutzen; so Haustein, Kausalität als Autorität (Anm. 74), S. 570 f.; Müller, Der Prosaroman – eine Verfallsgeschichte (Anm. 105), S. 150.
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Motivation sind so universelle Modi des Erzählens, dass sie nicht alleine, sondern erst im Verbund mit Erzählreflexionen oder diskursgeschichtlichen Argumentent als Symptom literarhistorischer Veränderungen des Kontingenz- oder Providenzverständnisses gelesen werden können.112
Diskursgeschichtliche Verknüpfungen Uta Störmer-Caysa geht im Rahmen ihrer Monographie Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman auch auf »besondere mittelalterliche Zufallskonstellationen« ein.113 Auch sie beobachtet in Erzählungen »teleologische Sinnmuster« und liest diese als Ausdruck eines – im weitesten Sinne – heilsgeschichtlichen Denkmusters.114 Doch im Unterschied zu den an Lugowski anschließenden Interpretationen fragt Störmer-Caysa genauer, wie theologisch-philosophische Diskussionen auf literarische Texte bezogen werden können. Nach einem Überblick über die begriffs- und diskursgeschichtliche Entwicklung von contingentia und accidens geht sie gezielt nicht von der Kontingenz, sondern von einem Sonderfall derselben, nämlich der Koinzidenz aus. Für literarische Texte sei die Koinzidenz geradezu ein »Schwesterbegriff zur Kontingenz«, weil das unvermutete Zusammentreffen ein altes und dominantes Erzählmuster sei.115 Störmer-Caysa nutzt die Koinzidenz deshalb als Scharnier, um Beziehungen zwischen dem theologisch-philosophischen Diskurs und den erzählenden Texten zu analysieren. Dabei geht sie von der Diskrepanz zwischen onomasiologischer und semasioloigscher Entwicklung aus: Das Zusammentreffen zweier voneinander unabhängiger Ereignisketten werde in der philosophisch-theologischen Diskussion weder als contingentia noch als coincidentia bezeichnet, sondern unter dem Begriff der providentia verhandelt.116 Dementsprechend postuliert Störmer-Caysa für die âventiuren im höfischen Roman, die Legenden und die Minne- und Aventiureromane ein Zusammenspiel von intradiegetischer Kausalität und teleologischer Gerichtetheit des Erzählens: Die âventiure er112 Vgl. u. a. die Arbeiten von Müller, Volksbuch/Prosaroman (Anm. 107) (für die frühe Neuzeit) und für das 18. Jh.: Behrens, Umstrittene Theodizee (Anm. 12); Frick, Providenz und Kontingenz (Anm. 12); Vogl, Joseph, Kalkül und Leidenschaft: Poetik des ökonomischen Menschen, München 2002, S. 139–222. 113 Störmer-Caysa, Grundstrukturen (Anm. 64), S. 148–196. 114 Sie spricht von einem »Sinnmuster«, das so weit verbreitet sei, dass eine teleologische Erzählung auch ohne explizite Erwähnung übergeordneter Instanzen theologisch (d. h. als provident gelenktes Geschehen) gedeutet werde (ebd., S. 186). 115 Ebd., S. 150. 116 Ebd., S. 179–183. coincidentia wird nur für den Zusammenfall von abstrakten Begriffen und Kategorien verwendet (S. 183).
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scheine zwar in der Handlungswelt als ein kontingentes Zusammentreffen, doch geschehe sie »nicht zufällig«, sondern sei notwendige Bedingung für die Bewährung des Helden und die Wiederherstellung der Ordnung.117 Ebenso werde in den Legenden das antike Fatum durch die göttliche providentia ersetzt. Die Zufälle fungierten als »Werkzeug der göttlichen Gerechtigkeit«, die die »Bewusstseinslage« des Helden bestrafen oder belohnen würden.118 Diese Funktionalisierung der Zufälle entspreche Thomas’ Konzeption der providentia, gemäß der die innerweltliche Kausalität eine Folge der göttlichen providentia ist.119 »[D]as inhärent teleologische Erzählen [gewinnt so] einen direkt theologischen Sinn«.120 Zugleich hebt Störmer-Caysa aber auch die gattungsspezifischen Differenzen hervor: Während man den aktiven Helden des höfischen Romans in den Minne- und Aventiureromanen wiederfinden würde, zeichneten sich die Protagonisten der Legenden durch Schicksalsergebenheit aus. Nicht die innerweltliche, sondern allein die jenseitige Zukunft stelle den Horizont ihres Handelns dar.121 Störmer-Caysa arbeitet den in den meisten literaturwissenschaftlichen Analysen vorausgesetzten, aber meist nur vage postulierten Verweis auf ein mittelalterliches ›providentielles Wirklichkeitsverständnis‹ überzeugend diskurs- und begriffsgeschichtlich auf.122 Die von ihr postulierten Beziehungen zwischen den philosophisch-theologischen und den literarischen Texten lassen jedoch Fragen offen. Denn die literarischen Texte werden allzu eindeutig auf ein providentielles Modell reduziert, dem zufolge alle erzählten Zufälle Werkzeuge einer übergreifenden Ordnung sind.123 Dass diese alles umgrei117 Ebd., S. 166. Der Held wirkt »nicht zufällig, sondern als Instrument der Notwendigkeit« (ebd., S. 167). 118 Ebd., S. 194 f.; S. 187–191 für die Umbesetzung des Fatums durch die providentia (dies im Anschluss an Martínez, Fortuna und Providentia [Anm. 106]). 119 Störmer-Caysa, Grundstrukturen (Anm. 64), S. 185. Sowohl im theologischen Diskurs als auch in den Erzählungen würden somit eine »theologische[] Teleologie und eine rationalitätsoptimistische Kausalität« miteinander verbunden (S. 186). 120 Ebd., S. 185. 121 Ebd., S. 185. 122 Vgl. die diskursgeschichtliche Analyse literarischer Szenen, in denen das Verhältnis von Astrologie und der göttlichen Vorsehung diskutiert wird: Kibelka, Johannes, Sternenglaube und Willensfreiheit in der deutschen Dichtung des Hochmittelalters, in: Wirkendes Wort. Deutsche Sprache in Forschung und Lehre 15 (1965), S. 85–98. Vgl. auch Cannon, Christopher, The Boethianism of the Miller’s Tale, in: Mark Chinca, Timo Reuvekamp-Felber und Christopher Young (Hgg.), Mittelalterliche Novellistik im europäischen Kontext. Kulturwissenschaftliche Perspektiven, Berlin 2006 (Beihefte zur ZfdPh 13), S. 326–346, der Chaucers Erzählung als Auseinandersetzung mit Boethius liest. 123 Störmer-Caysa, Grundstrukturen (Anm. 64), S. 186. So irritiert z. B., dass der Zufall in den Legenden als Werkzeug einer göttlichen Gerechtigkeit gedeutet wird, ohne dass das Moment der Gnade einbezogen würde (die These wird anhand des Gregorius und des Armen Heinrichs entwickelt; ebd., S. 195); vgl. dagegen die Beiträge von Hausmann und Koch in diesem Band.
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fende Ordnung – wie David Wellbery deutlich gemacht hat – weniger die Folge eines providenten Weltverständnisses als die eines spezifischen narratologischen Modells ist, findet dabei zu wenig Beachtung.
Die (Un-)Darstellbarkeit von Kontingenz »Im Bereich der erzählerischen Fiktion, wiewohl er an sich kontingent ist, gibt es selbst keine echte Kontingenz. Der Dichter kann zwar mit Zufällen arbeiten, aber diese Zufälle sind als fiktionale geplant.«124 Walter Haug kommt in seiner mehrfachen Beschäftigung mit Kontingenz immer wieder auf die Frage zurück, ob sich Kontingenz literarisch ›überhaupt‹ darstellen lässt: Im Unterschied zu Wellbery und Warning geht Haug jedoch weniger narratologisch und stärker gattungsspezifisch vor. Je nach Gattung seien die Möglichkeiten, Kontingenz darzustellen, andere: Im klassischen Artusroman kann Kontingenz nicht exponiert werden, weil das Geschehen von einer übergreifenden Symbolstruktur dominiert ist.125 Der Held muss sich dem Raum des Chaotisch-Zufälligen (i. e. dem Raum der âventiuren) aussetzen und diesen als Realität akzeptieren. Doch um eine solche gegenseitige Bedingtheit von Ordnung und Chaos, Sinn und Kontingenz sichtbar zu machen, würden die erzählten Zufälle erzählerisch funktionalisiert: »[W]as für den Helden als Zufallsserie erscheint, [erweist] sich als vom Dichter planvoll strukturierte Handlung«.126 124 Haug, Kontingenz als Spiel (Anm. 66), S. 164; vgl. für Haugs theoretische Position auch: Ders., Montaigne oder die dritte ›Lösung‹ des Kontingenzproblems, in: Graevenitz/Marquard, Kontingenz (Anm. 9), S. 285–290, insbesondere S. 285 f. 125 Haug, Kontingenz als Spiel (Anm. 66), S. 165: »Was hier erreicht werden kann und soll, ist allein ein neues Problembewußtsein. Man bietet eine ideale gesellschaftliche Vision im Wissen darum, daß sie nur unter der Bedingung realisierbar ist, daß man das Zufällige überwindet, was aber selbst wiederum nur zufällig sein kann, da es ins Belieben der Fiktion gestellt ist, es so oder so zu handhaben.« 126 Ders., O Fortuna. Eine historisch-semantische Skizze zur Einführung, in: Haug/Wachinger, Fortuna (Anm. 106), S. 1–22, hier S. 14; vgl. auch Ders., Eros und Fortuna. Der höfische Roman als Spiel von Liebe und Zufall, in: ebd., S. 52–75, insbes. S. 62–65; Cormeau, Fortuna und andere Mächte im Artusroman (Anm. 106), S. 28 betont wie Haug den Ausschluss von »echte[r] Kausalität, ungelenkte[m] Zufall und reale[r] Zeit« aus der âventiure. Anders als im Märchen würde jedoch der Erzähler die Verantwortung für das Geschehen nicht den Gesetzen der erzählten Welt, sondern sich selbst zuschreiben. Eine leicht andere Deutung des Verhältnisses von âventiure und Kontingenz findet sich dagegen bei Schnyder, Mireille, Âventiure? waz ist daz? Zum Begriff des Abenteuers in der deutschen Literatur des Mittelalters, in: Euphorion 96 (2002), S. 257–272, insbes. S. 263 sowie Dies., Sieben Thesen zum Begriff der âventiure, in: Gerd Dicke, Manfred Eikelmann und Burkhard Hasebrink (Hgg.), Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, Berlin 2006 (TMP 10), S. 369–375, insbes. S. 371.
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Bei seinen Überlegungen geht Haug von einer kategorialen Differenz zwischen Literatur und Leben aus: Während Erzählen immer schon sinnstiftend verfahre, zeige sich das Leben »unstrukturiert […] als etwas Sinnloses«.127 Kontingenz kann dementsprechend in der Literatur nur auf zwei Arten dargestellt werden: Zum einen kann sich die Literatur dem Leben annähern, also konstatieren, statt erzählen. Zum anderen kann sie die »daseinsbestimmende Macht« der Kontingenz aufzeigen. Letzteres geschieht Haug zufolge in der heterogenen Textgruppe der mittelalterlichen Kurzerzählungen (Mären). Da die Texte nicht wie der Artusroman einer übergreifenden »Sinnvorgabe« unterlägen, werde das dominant thematisierte Zufällige nicht eliminiert, sondern in seiner Sinnlosigkeit erfahrbar gemacht.128 Die Unterscheidung zwischen ›Literatur‹ und ›Leben‹, zwischen dem ›sinnvollen Erzählen‹ und der ›sinnlosen Faktizität‹ ist nicht unproblematisch, weil sie Kontingenz zu einem ›Jenseits des Diskurses‹, d. h. zu einer unveränderlichen ontologischen Gegebenheit macht. Literarische Texte könnten dann Kontingenz nur mimetisch repräsentieren oder durch Sinnstiftung ›bewältigen‹. Fokussiert man stattdessen Haugs Unterscheidung zwischen den unterschiedlichen Modi der Kontingenzexposition (in einzelnen Gattungen), werden spezifische literarische Möglichkeiten der Kontingenzexposition sichtbar.
Semantiken der Kontingenz Neben der Analyse von Kontingenz auf der Ebene einzelner Ereignisse sowie deren Motivierung und Sinngebung wird vielfach auch die räumlich-semantische Dimension von Kontingenz untersucht. Gefragt wird nach den Begriffs-, Bild- oder Metaphernfeldern, die ein ›Auch-anders-Sein-Können‹ konnotieren. 127 Haug, Walter, Entwurf zu einer Theorie mittelalterlicher Kurzerzählungen, in: Ders. und Burghart Wachinger (Hgg.), Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts, Tübingen 1993 (Fortuna vitrea 8), S. 1–36, S. 8. Ähnliche Überlegungen finden sich auch bei Ricœur, Zufall und Vernunft in der Geschichte (Anm. 74), S. 1–13. 128 Haug, Entwurf zu einer Theorie (Anm. 127), S. 7; 13; Haugs Analyse der spätmittelalterlichen Kurzerzählung wurde mehrfach vehement kritisiert; vgl. die Zusammenfassung der Diskussion bei Schnell, Rüdiger, Erzählstrategie, Intertextualität und ›Erfahrungswissen‹. Zu Sinn und Sinnlosigkeit spätmittelalterlicher Mären, in: Wolfram-Studien 18 (2004), S. 367– 404, hier S. 367–372; sowie Grubmüller, Klaus, Das Groteske im Märe als Element seiner Geschichte. Skizzen zu einer historischen Gattungspoetik, in: Haug/Wachinger, Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts (Anm. 127), S. 37–54, hier S. 40 f. Haug wird vorgeworfen, er missachte den Unterschied zwischen der Sinnlosigkeit des Erzählten und der Sinnlosigkeit des Erzählens. Die Kurzerzählungen würden zwar sinnloses Geschehen darstellen, doch könne die Erzählung (vom Sinnlosen) deshalb trotzdem sinnvoll sein. Man könnte Haug aber auch so verstehen, dass er voraussetzt, dass Sinnlosigkeit niemals vollständig erzählerisch darstellbar ist, dass die mittelalterlichen Kurzerzählungen sich diesem Problem aber in einem höheren Maße annähern als der höfische Roman.
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Der Wald im Artusroman oder das Meer in Legenden und Minne- und Aventiureromanen sind Räume der gesteigerten Handlungsohnmacht der Protagonisten.129 Bereits vor dem Eintreffen von Ereignissen sind sie dadurch bestimmt, dass die Verantwortung für das, was sich ereignen wird, nicht bei der handelnden Figur liegt. Der Raum und weniger die darin statthabenden Ereignisse implizieren somit die Frage, ob das Geschehen einer ›jenseitigen‹ Instanz (Gott, Teufel, Autor) oder einer unaufhebbaren Kontingenz zugeschrieben werden soll. Neben diesen räumlichen Dimensionen prägen auch adverbiale Signalwörter (von ungeschiht), Personifikationen (Fortuna, sælde, glück) oder Bilder der ritualisierten Zufälligkeit (Zweikampf, Los, Würfelspiel) die Kontingenzsemantik. Anhand der diachronen Analyse solcher semantischer Felder können Veränderungen von Kontingenzkonzeptionen besonders prägnant beobachtet werden.130 Im Folgenden wird dieser Ansatz anhand der wohl prominentesten mittelalterlichen Personifikation von Kontingenz, der Fortuna, diskutiert. Die mittelalterliche Ikonographie der Fortuna ist – was kaum erwähnt werden muss – von Boethius’ ›Christianisierung‹ der antiken Göttin geprägt. In ihr verbinden sich gemäß traditioneller Lesart irdischer Wandel und transzendente stabilitas.131 Insbesondere das Rad der Fortuna verkörpert eine 129 Vgl. zur Kontingenzsemantik des Meeres allg. Makropoulos, Modernität und Kontingenz (Anm. 10), S. 7–13; zum Meer in Legenden vgl. u. a. Martínez, Fortuna und Providentia (Anm. 106), S. 94; in Brautwerbungserzählungen Schmid-Cadalbert, Christian, Der Ortnit AW als Brautwerbungsdichtung. Ein Beitrag zum Verständnis mittelhochdeutscher Schemaliteratur, Bern 1985 (Bibliotheca Germanica 28), S. 83 f.; in Reiseberichten: Kiening, Christian, Alterität und Mimesis. Repräsentationen des Fremden in Hans Stadens Historia, in: Gerhart Lauer und Martin Huber (Hgg.), Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie, Tübingen 2000, S. 483–510, hier S. 504. 130 Vgl. etwa Neudeck, Verwunderung, glück (Anm. 107); Schöne, Albrecht, Aufklärung aus dem Geist der Experimentalphysik. Lichtenbergsche Konjunktive, München 1982; Neumann, Ritualisierte Kontingenz (Anm. 63). 131 Prägend für diese Einschätzung der ›mittelalterlichen Fortuna‹ ist der Aufsatz von Doren, A[lfred], Fortuna im Mittelalter und in der Renaissance, in: Fritz Saxl (Hg.), Vorträge der Bibliothek Warburg, Bd. 2, 1. Teil, Nendeln 1967 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1922/23], S. 71–145. Doren liest die ›mittelalterliche Fortuna‹ als christliches »Warnungs- [und] Abschreckungs[symbol]«. In der Renaissance dagegen stehe Fortuna für eine Unbeständigkeit, die der Einzelne als Chance zu nutzen wisse. Vgl. zur Ikonographie sowie den Text-Bild-Relationen: Courcelle, Pierre, La consolation de philosophie dans la tradition littéraire, Paris 1967; Schilling, Michael, Rota fortunae. Beziehungen zwischen Bild und Text in mittelalterlichen Handschriften, in: Wolfgang Harms und Peter L. Johnson (Hgg.), Deutsche Literatur des Mittelalters. Hamburger Colloquium 1973, Berlin 1975 (Publications of the Institute of Germanic Studies. University of London 22), S. 293–313; Meyer-Landrut, Ehrengard, Fortuna. Die Göttin des Glücks im Wandel der Zeiten, München und Berlin 1997; Harms, Wolfgang, Bildlichkeit als Potential in Konstellationen. Text und Bild zwischen autorisierenden Traditionen und aktuellen Intentionen (15. bis 17. Jahrhundert), Berlin 2007 (Wolfgang Stammler Gastprofessur für Germanische Philologie 15), S. 18–25.
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sublunare Inkonsistenz, die dadurch aufgehoben werden kann, dass man sich auf das stabile Zentrum des Rades (transzendente Werte) konzentriert.132 Daneben findet sich vielfach auch das Bild der zweigesichtigen oder doppelköpfigen Fortuna (anceps, bifrons). Indem diese ihre guten oder schlechten Gaben blind verteilt, steht sie für die Inkonsistenzen von Aufwand und Ertrag, Bemühen und Lohn.133 Helmut de Boor wies bereits 1975 nach, dass die eher seltenen mittelhochdeutschen Fortunabelege – meist ist von sælde oder heil die Rede – viel weniger der erwähnten ikonographischen Tradition und deren boethianischer Deutung entsprechen, als man gemeinhin annehmen könnte.134 Zum einen würden glück oder sælde vielfach nur floskelhaft angesprochen und 132 [Anicius Manlius Severinus] Boethius, Trost der Philosophie. Lateinisch / Deutsch. Aus dem Lateinischen von Ernst Neitzke, Frankfurt am Main 1997 (Insel TB 1215). Im zweiten Buch wird Fortuna an prominenter Stelle als Dreherin eines Rades dargestellt, das Glück und Unglück verkehrt (S. 63). Im vierten Buch, wo es um die aufs Gute gerichtete Ordnung geht (ordo ratione), wird nicht mehr das Bild des Rades, sondern das des kosmischen Kreises (orbis) bemüht. Der Punkt am äußersten Rand der Scheibe wird stark bewegt, derjenige nahe am Kreismittelpunkt dagegen nur wenig (S. 246). Zur philosophisch-theologischen Rezeption von Boethius, vgl. Courcelle, Consolation (Anm. 131), S. 239–331; Frakes, Jerold C., The Fate of Fortune. The Boethian Tradition, Leiden 1988 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 23). 133 Courcelle, Consolation (Anm. 131), S. 152–159; Nr. 87–99; Meyer-Landrut, Die Göttin des Glücks (Anm. 131), S. 48–52; Appuhn-Radtke, Sibylle, Fortuna Bifrons. Zu einem mittelalterlichen Bildtyp und dessen Nachleben in der Ikonographie Albrecht Dürers, in: Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung, hg. von Joerg O. Fichte, 1/1 (1996), S. 129–149. 134 De Boor, Helmut, Fortuna in mittelhochdeutscher Dichtung, insbesondere in der Crône Heinrichs von dem Türlin, Bd. 2, in: Hans Fromm u. a. (Hgg.), Verbum et signum. FS Friedrich Ohly, München 1975, S. 311–328. De Boor vertritt die These, dass die boethianische Problematik – wie können das »ungerechte Walten des Schicksals« und Providenz zusammen gedacht werden? – die deutschsprachige Literatur kaum »berührt« habe (S. 312 f.). Doch habe Boethius die Semantik von Aufstieg und Abstieg, trîben und walzen geprägt (S. 313 f.). Vgl. die literarischen Belege: Wackernagel, Wilhelm, Das Glücksrad und die Kugel des Glücks, in: ZfdA 6 (1848), S. 134–149; vgl. motivgeschichtlich: Patch, Howard Rollin, The Goddess Fortuna in Mediaeval Literature [Erstdruck 1935], London 1967; vgl. für die neuere Forschung u. a.: Schouwink, Wilfried, Fortuna im Alexanderroman Rudolf von Ems. Studien zum Verhältnis von Fortuna und Virtus bei einem Autor der späten Stauferzeit, Göppingen 1977 (GAG 212); Fichte, Joerg O., Providentia – Fatum – Fortuna (mit Auswahlbibliographie), in: Das Mittelalter (Anm. 133), S. 5–19 sowie den Sammelband Haug/Wachinger, Fortuna (Anm. 106); Haugs Einleitung (O Fortuna [Anm. 126]) und sein eigener Aufsatz (Eros und Fortuna [Anm. 126]) sind jedoch von einem sehr weiten Fortunabegriff geprägt, zu dem etwa auch der gesamte Bereich der âventiure gehört (vgl. O Fortuna [Anm. 126], S. 12–16); vgl. zur Fortuna im frühneuzeitlichen Prosaroman: Müller, Volksbuch/Prosaroman (Anm. 107), S. 96 f.; Quast, Bruno, Diß kommt von gelückes zuoualle. Entzauberung und Remythisierung in der Melusine bei Thüring von Ringoltingen, in: Ders. und Udo Friedrich (Hgg.), Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin und New York 2005 (TMP 2), S. 83–94.
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dementsprechend steht weniger eine Personifikation als vielmehr der Akt der Adressierung im Vordergrund.135 Zum anderen wird das ikonographische und literarhistorische Material hybride verknüpft oder im Handlungsverlauf transformiert: frou Sælde erscheint bei Walther als unbestechliche Gönnerin, die gerade nicht blind ist, sondern ihre Gaben demjenigen zukommen lässt, den sie anblickt.136 Im Wigalois wird ein Rad mit steigenden und sinkenden Figuren beschrieben, doch es bezeichent dem Erzähler zufolge nicht Wechselhaftigkeit, sondern das immerwährende Glück.137 In Heinrichs von dem Türlin Crône werden die Zweigesichtigkeit und das Rad sowie Fortuna- und Maria-Konnotationen miteinander verschränkt.138 De Boors Beispiele zeigen, dass die Fortunasemantik in den deutschsprachigen Texten nicht immer mit Hilfe des boethianischen Modells zu verstehen ist, da nicht die Gegenüberstellung von Wandel und Stetigkeit, Irregularität und Ordnung, sondern die Prozesse, Übergänge und Übersetzungen zwischen diesen Polen fokussiert werden. Dabei wird auch auf der formalen Ebene mit den Übergängen zwischen Bild und Text experimentiert. Die Texte reichern die Semantik und Sprachbildlichkeit im Verlauf des Erzählens mit anderen Bildfeldern an und transformieren, verkehren oder hybridisieren sie dadurch. Daneben kann die Fortunasemantik auch das Erzählmodell vom (zyklischen) Aufstieg und Fall eines Einzelnen oder eines Geschlechts beschreiben. So folgt der Gottfriedsche Tristan gemäß Worstbrock einem zyklischen Fortunamodell.139 Jan-Dirk Müller zeigt, wie im Fortunatus die übergreifende 135 Vgl. de Boor, Fortuna (Anm. 134), S. 315: »Gestalt und Symbol [gehen] terminologisch getrennte Wege«. Personifiziert werde die sælde, während fast durchgängig von des glückes rat bzw. schîbe, allenfalls des heiles rat die Rede sei. Vgl. auch die terminologischen Differenzierungen bei Frauenlob: Ganz, Peter, Fortuna bei Frauenlob, in: Haug/Wachinger, Fortuna (Anm. 106), S. 76–87, hier S. 80–82. 136 Ebd., S. 315; (Walther, LA 55,35). 137 De Boor, Fortuna (Anm. 134), S. 317; Wigalois, V. 1036–52, hier V. 1050. 138 De Boor, Fortuna (Anm. 134), S. 327. Am Ende des Romans kommt das Rad zum Stillstand und es tritt ein Zustand allseitigen Glücks ein. De Boor zufolge wird dadurch die Unbeständigkeit der frou Sælde nicht einfach aufgehoben, sondern die Unwirklichkeit des entworfenen Fortunaraumes reflektiert (Crône, V. 15822–15908). Vgl. dagegen Cormeau, Fortuna und andere Mächte im Artusroman (Anm. 106), S. 32 f.; Mentzel-Reuters, Arno, Vröude. Artusbild, Fortuna- und Gralkonzeption in der Crône des Heinrich von dem Türlin als Verteidigung des höfischen Lebensideals, Bern u. a. 1989 (Europäische Hochschulschriften. Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur 1134), S. 207–243. 139 Worstbrock, Franz Josef, Der Zufall und das Ziel. Über die Handlungsstruktur in Gottfrieds Tristan, in: Haug/Wachinger, Fortuna (Anm. 106), S. 34–51, hier S. 38 f. Er nennt dies auch eine »Phasenfolge von geschlossener Gerichtetheit«. Frederik P. Pickering stellt in den 60er und 70er Jahren die allzu einseitige These auf, dass jeder mittelalterliche Erzähler entweder gemäß einem Boethischen Erzählmodell, nämlich einem historischen (meist dynastischen) Erzählverlauf, oder gemäß einem augustinischen Modell, nämlich analog einer Heilsgeschichte,
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Verlaufsform von Aufstieg und Fall zwar noch anzitiert, aber durch die Detailmotivationen immer auch unterlaufen wird.140 Methodisch wird hier Fortuna, d. h. das Modell von Aufstieg und Fall, als eine spezifische Form der finalen Motivation begriffen. Dies scheint v. a. dann sehr produktiv, wenn – wie beim Fortunatus – einzelne Motive, dominante semantische Felder und der Handlungsverlauf aufeinander bezogen werden können. Auch die Würfelspielsemantik wird im Parzival – wie Mireille Schnyder aufgezeigt hat – für die Beschreibung des Erzählverlaufs benutzt.141 In den vielfach paradoxen Bildern wird nicht die Kontingenz der erzählten Welt, sondern diejenige des Erzählens beschrieben. Wenn der Erzähler die Geburt des Helden als der âventiure wurf (112,9) bezeichnet, so werde einerseits ein planvolles Erzählen dementiert, andererseits aber auch – indem die Vorgeschichte mit der Geburt ein Ziel erhält –, nachträglich Zielgerichtetheit suggeriert.142 Schnyder liest diese paradoxe Bildlichkeit als Hinweis auf ein grundsätzliches erzählerisches Kontingenzmoment: »[D]ie Geschichte Parzivals […] entzieht sich im Moment seiner Realisierung in der Erzählung dem Erzähler.«143 Fokussiert wird somit eine produktionsästhetische Kontingenz zwischen Konzept und Realisierung, d. h. zwischen dem »Plan des Erzählers« und dessen ›Ausführung‹ in einer zeitlichen Ordnung.144 Der Erzähler kann zwar (selektierend und organisierend) Notwendigkeiten oder Kontingenzen erzeugen, ist aber zugleich den Bedingungen der entworfenen Welt unterworfen. erzähle: Pickering, Frederik P., Augustinus oder Boethius? Geschichtsschreibung und epische Dichtung im Mittelalter und in der Neuzeit, Bd.1: Einführender Teil, Berlin 1967 (Philologische Studien und Quellen 39) sowie Ders., Augustinus oder Boethius? Geschichtsschreibung und epische Dichtung im Mittelalter und in der Neuzeit, Bd. 2: Darstellender Teil, Berlin 1976 (Philologische Studien und Quellen 80). Theisen, Joachim, Fortuna als narratives Problem, in: Haug/Wachinger, Fortuna (Anm. 106), S. 143–191, hier S. 162–175 versucht zu zeigen, dass das ganze Decameron einem Rad der Fortuna entspricht. Vgl. dagegen Pfeiffer, Helmut, Glück und List. Decameron II 4 und II 9, in: ebd., S. 110–142. 140 Müller, Jan-Dirk, Die Fortuna des Fortunatus. Zur Auflösung mittelalterlicher Sinndeutung des Sinnlosen, in: Haug/Wachinger, Fortuna (Anm. 106), S. 216–238, hier S. 218–222. 141 Schnyder, Glücksspiel und Vorsehung (Anm. 63). Vgl. auch Nellmann, Eberhard, Dichtung ein Würfelspiel? Zu Parzival 2,13 und Tristan 4639, in: ZfdA 123 (1994), S. 458–466, hier S. 463, der am Parzival-Prolog aufzeigt, dass Wolfram »die Organisation seines Werks mit dem unberechenbaren Fall der Würfel« vergleicht. 142 Schnyder, Glücksspiel und Vorsehung (Anm. 63), S. 311. Eine andere Paradoxie zeigt Schnyder am Ende des Parzivals auf: Ein Gnadenakt Gottes erlöst Parzival »aus der Kontingenzverfallenheit«. Diese Gnade ist jedoch nur dann Gnade, wenn das vorangehende Geschehen nicht teleologisch auf sie zuläuft, sondern als kontingentes verstanden wird (ebd., S. 318 f.). 143 Ebd., S. 311 f. 144 Schnyder bezieht dieses Kontingenzmoment auf Boethius’ Unterscheidung zwischen providentia (Plan der göttlichen Vernunft) und fatum (Verräumlichung, Verzeitlichung des Planes; ebd., S. 322).
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4. Ausblick Ausgangspunkt dieser methodischen Vorüberlegungen ist das grand récit, dem zufolge sich beim Übergang vom Mittelalter zur Moderne das Kontingenzverständnis radikal verändert: Im Mittelalter würden Zufälle als Teil einer höheren, aber nicht vollständig erkennbaren Ordnung (providentia) gedeutet. Am Übergang zur Moderne breche der Glaube an diese alles umspannende Ordnung weg und die gesellschaftlich bestehenden Ordnungen würden als kontingent bzw. als arbiträre Setzungen ›entlarvt‹. Der einzelne Mensch beginne sich verstärkt gegen negative kontingente Ereignisse zu wappnen, indem er versucht, Kontingentes in seine Erwartungen einzubeziehen. Eine solche Entgegensetzung eines mittelalterlichen und eines modernen Kontingenzverständnisses ist jedoch für mittelalterliche Literatur nicht immer produktiv, da dadurch entweder die Texte auf Kontingenzbewältigung reduziert werden oder aber in ihnen nach der ›Entdeckung‹ eines modernen Kontingenzverständnisses gesucht wird: Wann beginnen literarische Texte die Kontingenz von z. B. religiösen oder politischen Setzungen zu thematisieren oder wann begreift der Protagonist Kontingenz als Chance? Um solche teleologischen Fragen zu vermeiden, ist Kontingenz – so wurde argumentiert – nicht universal vorauszusetzen, sondern stärker historisch und prozessual zu fassen. Ein sogenannt vormodernes Kontingenzverständnis, das kontingente Ereignisse in eine erweiterte Ordnung einzufügen versucht, und ein sogenannt ›modernes‹, das jegliche Ordnung kontingent setzt, wären dementsprechend verstärkt als sich gegenseitig bedingend und einander provozierend zu begreifen. Literaturwissenschaftlich könnte dies bedeuten, dass nicht gefragt wird, ob ein Ereignis kontingent oder provident bewirkt ist, sondern, inwiefern es als kontingentes dargestellt oder gedeutet wird. Fragt man nach dem Standpunkt, von dem aus ein Ereignis als kontingent oder provident gedeutet wird, so gilt es, neben den vom Text entworfenen auch denjenigen der eigenen Interpretation zu berücksichtigen. Denn wie David Wellbery und Rainer Warning gezeigt haben, basieren die traditionellen narratologischen Modelle auf einem überzeitlichen Interpretationsstandpunkt, der voraussetzt, dass sich in einer Erzählung das verwirklicht, was von Beginn an darin angelegt ist. Auf diese Weise werden alle Elemente eines Textes als Ausdruck einer sich im Vollzug der Erzählung erfüllenden Ordnung – und damit als Kontingenzbewältigung – gelesen. Momente einer ›emphatischen Kontingenz‹, also textuelle Ereignisse, die die Sinnstiftung durchkreuzen, können in diesem Modell gar nicht sichtbar werden, weil sie vorab funktionalisiert sind. Um solch zirkuläre Analysen zu vermeiden, machen jüngere Studien die Kontingenzexposition nicht mehr ausschließlich an Ereignissen der Handlungswelt (histoire) fest, sondern beziehen verstärkt die Ebene des discours mit ein.
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Von solchen Überlegungen ausgehend, soll im Folgenden nach dem Verhältnis von Kontingenz und Providenz in der mittelalterlichen Literatur gefragt werden.145 Wie bereits erwähnt geht es nicht darum, ein anderes grand récit zu erzählen, sondern anhand von Einzelanalysen die erzählerische Dynamik, die mit der Kontingenzthematik einhergeht, zu analysieren. Es wird zum einen nach den Darstellungsformen und Erzählweisen von Kontingenz gefragt: Mit welchen Semantiken, Topoi und Motiven wird Kontingenz thematisiert und wie verändern sich diese literarhistorisch? In welchem Verhältnis stehen kontingente Ereignisse in der Handlungswelt zur Kontingenzexposition auf der Ebene des discours? Zum anderen wird nach den in den Texten implizierten Kontingenzkonzepten gefragt: Werden vordergründig kontingente Ereignisse im Verlauf des Textes immer in eine übergreifende Ordnung überführt oder zeichnen sich andere Relationierungen von Kontingenz und Providenz ab? Welche Unterschiede zwischen theologischphilosophischen und literarischen Kontingenzkonzeptionen werden erkennbar? Die folgenden Beiträge gehen von sehr unterschiedlichen Texten aus und passen den jeweiligen Zugang den Spezifika der untersuchten Texte an. Es wird ein breites Spektrum an Kontingenzdarstellungen und verhandelten Kontingenzkonzeptionen sichtbar. Dies liegt wohl nicht zuletzt daran, dass mittelalterliches Erzählen in hohem Maße gattungsgebunden ist und diese Erzählkonventionen auch die Kontingenzdarstellungen prägen. Aufgrund dieses Eindrucks sind die Beiträge gattungsbezogen angeordnet. Vor den literaturwissenschaftlichen Untersuchungen gibt jedoch zuerst Peter Schulthess einen Einblick in die philosophisch-theologischen Kontingenzdiskurse. Er analysiert insbesondere die Beziehungen und Verschiebungen zwischen der Kontingenzdiskussion in der Logik und derjenigen in der Metaphysik. Die ersten literaturwissenschaftlichen Beiträge befassen sich mit Legenden, also der Gattung, die das skizzierte Bild eines mittelalterlichen Erzählens als Kontingenzbewältigung wohl vordergründig am stärksten bestätigt. Albrecht Hausmann zeigt in seinem Beitrag, dass die Wiederholungen im Gregorius Hartmanns von Aue nicht eine gottgegebene Ordnung affirmieren, sondern ein »Autorisierungsdefizit« aufweisen. Dieses führe dazu, dass Gott als das Unbestimmbare schlechthin bzw. als »kontingente Autorität« erscheint, mit der der Mensch ›demütig‹ zu rechnen habe. Elke Koch geht in 145 Die inhaltliche Konzeption des Sammelbandes ist zusammen mit Cornelia Herberichs entstanden, der ich für die kritische Lektüre der Einleitung danke; einzelne Fragestellungen und Ideen verdanken sich auch einer gemeinsamen Lehrveranstaltung an der Universität Zürich zum Thema ›Theorien und Literaturen der Kontingenz‹ im Sommersemester 2006. Der hier folgende Überblick über den Inhalt des Bandes ist von uns beiden verfasst worden.
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ihrem Beitrag ebenfalls von Wiederholungen aus, nämlich von der mehrfachen Marterung und Tötung des Heiligen in mittelalterlichen Georgsdichtungen, auf die mehrfache Auferstehungen folgen. Bei dem wiederholten Erzählen vom Tode werde die »Notwendigkeit des Todes« für die Auferstehung mit narrativen Mitteln dementiert und dadurch der Tod »gleichsam kontingent gesetzt«. In der Georgsdichtung Reinbots von Durne werde darüber hinaus auch die Lenkung der Welt durch Gott thematisiert, indem u. a. der Erzähler an die Stelle Gottes rückt und diesen erst nachträglich wieder einsetzt. Anette Gerok-Reiter zeichnet das Spannungsfeld nach, in dem Heinrich von Veldekes Eneasroman steht: Die christliche Umbesetzung des antiken Vergilschen Geschichtsmodells führt im Eneasroman einerseits zu einer Forcierung der Providenz als geschichtsbildender Kraft; andererseits finden sich bei einer genauen Lektüre des Romans an zentralen Handlungsstellen narrative Inszenierungen von Kontingenz, die für die Poetik und literarhistorische Stellung dieses Textes aufschlussreiche Perspektiven eröffnen. Dass in weiteren Texten der volkssprachigen Antikenrezeption dieses Spannungsfeld literarisch produktiv gemacht wurde, kann auch anhand des Liet von Troye beobachtet werden: Der Beitrag von Cornelia Herberichs widmet sich diesem ersten deutschsprachigen Trojaroman, in dem sich Kontingenzreflexionen sowohl auf Motiv- als auch auf Erzählebene festmachen lassen. In der Forschung zu den höfischen Romanen wird die Kontingenzexposition vielfach an spezifischen Örtlichkeiten wie dem Wald oder dem Meer festgemacht. Mireille Schnyder geht in ihrem Beitrag diesen Räumen nach und fragt, ob und wie diese dargestellt werden. Sie zeigt, dass diese Räume der Kontingenz an der Grenze des Erzählbaren situiert sind, d. h. sich in Leere und »Perspektivenlosigkeit« auflösen und mit Angst und der Semantik der wilde konnotiert sind. Das Undarstellbare werde zwar einerseits intra- oder extradiegetisch in ein sinnvolles Geschehen überführt, andererseits sei diese Versprachlichung aber zugleich Ausgangspunkt einer ›neuen‹ Zufälligkeit, nämlich der der »Ambivalenz des Zeichens«. Die konstitutive Funktion der Kontingenz im Tristan des Gottfried von Strassburg arbeitet Volker Mertens heraus, der für die Figuren die Grenzen ihres Handlungsund zugleich für die Rezipienten die Eröffnung eines Verstehensspielraums vor dem Hintergrund einer poetischen Kontingenzreflexion ansetzt. Sowohl die Handlungslogik des Textes als auch die Ambigusierung der literarischen Sprache und noch die metanarrativen Erzählerkommentare steuerten eine Erkenntnis, die auf einer epistemischen Unbestimmtheit als ihrer Voraussetzung aufruht. Der späthöfische Minne- und Aventiureroman inszeniert demgegenüber, wie der Beitrag von Armin Schulz zeigt, in zugespitzter Weise eine Dynamik, welche die Kontingenzinszenierungen und deren narratologische Brechungen – u. a. im Apollonius von Tyrlant und im Wilhelm von Ös-
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terreich – freisetzen und die literarhistorisch als auf die frühe Neuzeit vorausweisend gelesen werden kann. In den Mären, die vielfach linear auf eine einfache Pointe ausgerichtet sind, stehen die handlungsweltlichen Zufälle vordergründig im Dienste der Komik. Dass damit aber zugleich auch eine vertiefte Kontingenzreflexion verbunden sein kann, zeigen die beiden Beiträge dazu auf: Michael Waltenberger analysiert am Märe Die drei Mönche zu Kolmar, wie in diesem Text die »Kontingenzexposition im Erzählen« und die »Kontingenz des Erzählens« ineinander verknüpft sind und wie dies die literarhistorische Einordnung des Textes erschwert. Die »Perspektivik auf der Ebene des Erzählens« führe zu einer »›Verschachtelung‹ von Modalitätszuschreibungen«, die die Opposition von Kontingenz und Notwendigkeit aufhebt und stattdessen deren »Differenz […] prozessiert«. Susanne Reichlin zeigt in ihrem Beitrag, wie im Märe Die Buhlschaft auf dem Baume innerhalb einer providentiellen Handlungswelt, die von Gott gelenkt wird, kontingente Momente komisch entfaltet werden. Dabei erscheinen Kontingenz und Notwendigkeit als Ergebnisse von Deutungsakten, die sich je nach dem zeitlichen Verhältnis von Ereignis, Rahmung und Deutung verändern und die dadurch die Zeitlichkeit von Kontingenz sichtbar machen. Anders als für narrative Texte ist für theatrale Spiele »der praktische Vollzug der Vergegenwärtigung von Ungewissheiten, Unwägbarkeiten und anderen Formen des Kontingenten« charakteristisch. Werner Röcke untersucht die Kontingenzdarstellung in verschiedenen Dramentypen der Frühen Neuzeit. Die Antichrist- und Weltgerichtsspiele zeigten das Jüngste Gericht als eine »Gewissheit der Ungewissheit«, die dem Publikum jeweils eine Entscheidung abverlange, wobei unterschiedliche Spieltypen Performativität auf je verschiedene Weisen zur Kontingenzdarstellung nutzten. Carla Dauven geht in ihrem Beitrag ebenfalls Erscheinungsformen von Kontingenz in mittelalterlichen Spieltexten nach, deren potentielle Aufführbarkeit in hohem Maße offen für Kontingenz ist: Handlungsanweisungen, Zeitzeugnisse und Anmerkungen in Spielhandschriften reflektierten das riskante Verhältnis von religiöser Performanz und lebensweltlicher Kontingenz. Die Frage nach Kontingenz eröffnet aber auch für die Lyrik interpretatorische Perspektiven, wie Ursula Kundert in ihrem Beitrag zur Minnelyrik zeigt. Insbesondere lasse sich die »Minneklage als de[r] privilegierte[] Ort innerhalb der mittelhochdeutschen Lyrik aufzeigen, an dem Grundfragen mittelalterlicher Kontingenzdiskussion verdichtet werden«. Unter Berücksichtigung der Kategorien mittelalterlicher Kontingenzdiskurse ließen sich für zentrale Konzepte und Semantiken der Hohen Minne (staete, lôn) deren inhärente Vielschichtigkeit und Polyvalenz präzise herausarbeiten. Harald Haferland geht in seinem Beitrag zu zwei frühneuzeitlichen Prosaromanen von Jörg Wickram vom Spannungsfeld zwischen Kontin-
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genz und Finalität aus: Weder sei eine radikale oder emphatische Kontingenz erzählbar, noch könne alles Geschehen vorab angekündigt und so jegliche Spannung final eliminiert werden. Haferland historisiert Wickrams spezifische Gestaltung dieses Spannungsfeldes, indem er es mit antiken, mittelalterlichen und modernen Texten und deren Umgang mit Kontingenz und Finalität vergleicht. Abschließend thematisieren zwei Beiträge Kontingenz in frühneuzeitlichen Wissensdiskursen und in darauf Bezug nehmenden literarischen Texten. Tobias Bulang zeigt, wie im 16. Jahrhundert aufgrund von Datenexplosion und enzyklopädischem Eifer die Zuordnung von Sache (Signifikat) und Name (Signifikant) in der Pflanzenkunde unsicher bzw. kontingent wird. Er führt vor, wie Fischart in der Geschichtklitterung dieses Problem aufgreift und aus den im Wissensdiskurs »ausgeschalteten Potentialitäten […] symbolische Überschüsse [erzeugt]«. Peter Schnyder untersucht die Bezüge zwischen Wahrscheinlichkeitstheorie und Defoes’ Robinson Crusoe im Sinne einer ›Poetik des Wissens‹. Die Probabilitätsformeln im Robinson seien Ausdruck eines ›neuen‹ Interesses für die »akzidentiellen Einzelheiten« des Weltgeschehens, von denen man sich eine Erkenntnis über die »verborgene Ordnung« der Welt erhoffte. Schnyder deutet dies als Veränderung des Wirklichkeitsbegriffes, der nun verstärkt auf Konsistenz und Kohärenz beruhe. Die drei letzten Beiträge zeigen somit punktuell auf, wie sich die Kontingenzkonzeptionen in den literarischen Texten und den damit korrespondierenden Diskursen in der Frühen Neuzeit verändern. Dies erscheint jedoch nicht als radikaler Bruch mit bestehenden Kontingenzkonzeptionen, sondern als Veränderung der seit jeher heterogenen Konstellationen, in denen Erzählformen und Wissensdiskurse zusammenfinden und dabei bestehende Positionen umbesetzen.
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Peter Schulthess
Kontingenz: Begriffsanalytisches und grundlegende Positionen in der Philosophie im Mittelalter1 1. Einleitung 1.1. Die Bedeutung des Themas: Modalitäten für die Philosophie Modalbegriffe gehören in der Philosophie zu den Grundbegriffen; sie kommen in allen ihren Disziplinen vor. Es erstaunt somit wohl nicht, dass sie in mehreren Bedeutungen gebraucht werden. Wir sprechen so z. B. von logischer, semantischer (zusammen auch: analytischer), metaphysischer oder physischer (auch: kausaler oder naturgesetzlicher) Möglichkeit und Notwendigkeit (auch: Kontingenz und Unmöglichkeit). Neben diesen sogenannten alethischen Modalitäten, die Wahrheiten modifizieren, spricht man auch von solchen, die Überzeugungen modifizieren, d. h. den epistemischen (z. B. sicher, beweisbar, unbezweifelbar, verifizierbar), aber auch von deontischen (z. B. geboten, erlaubt), axiologischen (z. B. gut, schlecht) oder temporalen (z. B. ›Es wird (war) der Fall (sein), dass… ‹) Modalitäten. Sie gehorchen nicht alle denselben Gesetzen: Wenn es aus logischen Gründen notwendig ist, dass p, dann ist p auch faktisch wahr; wenn es aus ethischen Gründen notwendig ist, dass p, dann muss es nicht auch faktisch so sein. Die metaphysischen Modalitäten wie beispielsweise ›sein können‹ bzw. ›möglich sein‹ gehören neben dem Begriff des Seienden zu den Grundbegriffen der Philosophie; sie modifizieren einerseits den philosophischen Grundbegriff des Seins. So war es spätestens seit Aristoteles nicht mehr möglich, das Seiende ohne Regress auf die Modalitäten zu denken. Andererseits gebrauchen wir die modalen Begriffe ›können‹ und ›möglich‹ bei der spezifischen menschlichen Tätigkeit des Denkens: wenn wir nachdenken, in die Zukunft schauen, uns eine mögliche Welt oder Situation vorstellen und bewerten. Ohne sie können wir keinen einzigen Gedanken denken und nicht einen einzigen Plan fassen.2 Mit August 1 Ich danke Dominique Kuenzle und Sebastian Weiner für kritische Lektüre und Diskussion des Aufsatzes. 2 Wie grundlegend die Ausdrücke sind, zeigt sich darin, dass die häufige deutsche Nachsilbe ›-bar‹ und oft auch die Nachsilbe ›-lich‹ auf eine Möglichkeit verweisen. Vgl. dazu Jacobi, Klaus, Das Können und die Möglichkeiten. Potentialität und Possibilität, in: Buchheim, Thomas, Kneepkens, Corneille H. und Lorenz, Kuno (Hgg.), Potentialität und Possibilität. Modalaussagen in der Geschichte der Metaphysik, Stuttgart 2001, S. 9–24, hier S. 9.
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Kontingenz: Begriffsanalytisches und grundlegende Positionen
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Faust und Klaus Jacobi wage ich die These: Die Fassung des Möglichkeitsbegriffs »wird aufs Engste vom jeweiligen System der Philosophie geprägt, und umgekehrt bestimmt die Interpretation der Modalbegriffe das jeweilige System der Philosophie durchgängig.«3 Man kann in diesem Lichte durchaus behaupten, dass die mittelalterliche Philosophie gegenüber der Antike in ihrer Reflexion auf die Modalitäten den Seins-Begriff radikal verändert hat.
1.2. Zum Begriff des Modus In sprachlichen Aussagen können wir mit der Sprache das, was ist, Seiendes oder Fakten, Sachverhalte oder Inhaerenzen (inesse) – sozusagen Teile der Welt – beschreiben, oder auch lediglich: Sinn konstituieren. Zum Sachverhalt oder Sinn können wir Stellung beziehen: ›Der Sachverhalt, dass p, besteht‹ ›es ist wahr (es ist so), dass p‹; ›p ist wahr‹ (assertorisches Urteil) ›Es ist möglich/kontingent, dass p‹ (problematisches Urteil) ›Es ist notwendig, dass p‹ (apodiktisches Urteil) ›Die Proposition p ist sinnvoll‹ (heißt: ist ein möglicher Sachverhalt)
Die alethischen Modalbegriffe scheinen zur reflektierenden Sprachschicht zu gehören, in der man über das in Aussagen Ausgedrückte, über Sachverhalte, Propositionen oder Sinn Aussagen macht. In der traditionellen Modalitätenlehre, z. B. bei Aristoteles (Analytica priora I.2, 25a1), kann man die drei modalen Prädikate ›notwendig‹, ›wirklich‹ und ›möglich‹ zusprechen; ebenso in Kants Modalitätenlehre, wo die Modalitäten die Stellung des Subjekts zum Aussageinhalt kennzeichnen. In der gegenwärtigen Modallogik wie auch bei Aristoteles an anderer Stelle (De Interpretatione 12, 21b26 ff.) jedoch besteht die gegensätzliche Tendenz, nur zwei Modi zuzulassen und die Wirklichkeit nicht als Modus zu zählen, sondern vielmehr als dasjenige, was modifiziert wird. Die modi sind dann so zu deuten: In einer modalen Aussage des Typs ›Mp‹ modifiziert der Modus (M oder Box [◊], welche für irgendeinen Modaloperator stehen) die Aussage oder Proposition p. Dass Wirklichkeit oder Wahrheit nicht als eigentliche Modi zu zählen sind, obwohl die entsprechenden Redeweisen den Modi der Notwendigkeit und Möglichkeit gleichen (z. B. ›p ist wahr/ist der Fall‹ verglichen mit ›p ist notwendig/möglich‹), liegt darin begründet, dass das Zusprechen der Prädikate ›ist wahr‹ und ›ist falsch‹, wie auch das veritative ›ist‹ (›es ist so, dass p‹), gegenüber ›p ist notwendig/mög3 Jacobi, Klaus, [Art.] Möglichkeit, in: Hermann Krings, Hans Michael Baumgartner und Christoph Wild (Hgg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 4, München 1973, S. 930–947, hier S. 938.
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Peter Schulthess
lich‹ zu verschiedenen logischen Formen führt. Dass das Zusprechen des Prädikats ›wahr‹ oder ›falsch‹ zu einer Aussage (›p ist wahr‹) – bzw. das veritative ›ist‹ – anders als die Modaloperatoren ›es ist notwendig, dass p‹ oder ›es ist möglich, dass p‹ modifiziert, zeigt sich im Zusammenhang mit der Negation einer solchen zusammengesetzten (modifizierten) Aussage: die Negation einer Aussage mit veritativem ›ist‹: ›Es ist nicht so, dass p‹ ist aequivalent zur Aussage: ›Es ist so, dass nicht p‹. Diese Aequivalenz gilt nicht zwischen: ›Es ist nicht notwendig, dass p‹ und ›Es ist notwendig, dass nicht p‹. Zudem ist der Aussageoperator ›Es ist so, dass p‹ wahrheitsfunktional oder extensional, jedoch sind es die modalen Aussageoperatoren nicht. Der Wahrheitswert der Teilaussage p bestimmt nicht den Wahrheitswert der Modalaussage, hingegen denjenigen des veritativen Operators. Die Modaloperatoren sind intensional bzw. opak (sogenannte ›intensionale Kontexte‹).4 Was wird nun durch die Modalität modifiziert? Die Modalität modifiziert unsere Stellung zum Modalitätsträger (Aussage, Inhalt oder Ausgedrücktes der Aussage) oder diesen selbst. In letzterem Fall ist die Modalität im sprachlichen Ausdruck auf derselben Stufe wie der Inhalt der Aussage angesiedelt, was sich in der Verbalisierung so ausdrückt: ›Jeder Mensch ist notwendigerweise ein Lebewesen‹ oder: ›p ist notwendigerweise/möglicherweise S‹, oder: ›P wird wahr von S ausgesagt‹. Dabei handelt es sich um die sogenannte Modalität de re, die sich sprachlich oft in einem Adverb äußert. Darin modifiziert der Modus das metaphysische inesse- oder Seinsverhältnis. Wenn p eine Aussage (dictum) ist, dann handelt es sich um eine Modalität de dicto, die Modalität modifiziert das Gesagte, das dictum. Wohl darum übersetzt Boethius den tropos, die Weise des dictum mit modus.5 Daraus entsteht die Rede von ›Modalität‹. Was der Modalitätsträger aber genau ist, ob Aussage, Proposition oder Wirklichkeit, ist fragwürdig. Wenn man sagt: ›Der Modalitätsträger ist Wahrheit‹, dann hat man das Problem auf einen Grundbegriff der theoretischen Philosophie verlagert: Was ist Wahrheit? Wenn man sagt: ›Der Modalitätsträger ist Sein bzw. Wirklichkeit‹ – dann ebenso. Daraus ersieht man, dass die Modalitäten mit zu den Grundbegriffen der Philosophie gehören. 1.3. Modalanalyse und Modallogik Die Modalanalyse ist von der Modallogik, dem Kalkül, zu unterscheiden. In der Modalanalyse untersuchen wir unser Reden von Modalitäten. Die Modalanalyse wird nicht durch das Herstellen eines Kalküls ausgeschöpft. So
4 Vgl. z. B. Tugendhat, Ernst und Wolf, Ursula, Logisch-semantische Propädeutik, Stuttgart 1983 (RUB 8206), S. 245 f. 5 Boethius, In Librum de interpretatione, ed. prima, Patrologia Latina, Bd. 64, S. 362C.
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Kontingenz: Begriffsanalytisches und grundlegende Positionen
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existieren heute viele Modalkalküle (S1-S5), die zudem jeweils verschieden interpretiert werden können. Die Basis der Modalanalyse sowie der Modallogik bildet der sogenannte ›Modalitätsstrahl‹ bzw. seine Einteilung von ›allem Möglichen und Unmöglichen‹:6 Wirklichkeit, Bestehen, Wahrheit, (der Fall) Sein: W[p] (auch nur: p)
Nichtwirkliches, Nicht-Bestehendes, Falsches, Kontrafaktisches i. w. S.: ¬Wp
›so sein‹; ›nicht anders sein‹; accidere: contingit; symbanei
›anders sein‹; ›nicht so sein‹
Notwendigkeit: Np Nicht-Notwendig, Unnotwendig: ¬Np ›so sein müssen‹; ›nicht so sein müssen‹; ›anders sein können‹ ›nicht anders sein können‹ Np p (›Was not- Np >–< ¬Np wendig ist, ist wirklich‹: Notwendigkeitsaxiom) weiteste Möglichkeit: Mp ›so sein können‹; quod potest esse; possibile (Aristoteles: endechomenon) p Mp (Möglichkeitsaxiom) Np Mp (Folgerung) Mp ¬Np (subkonträr)
Unmöglich: ¬Mp ›nicht so sein können‹; quod non potest esse
Notwendigkeit: N
Möglich': M'p Kontingenz i. e. S.; kontingent wirklich; Zufälliges
Np | ¬ Mp
M'p y p M¬p
Möglich": M''¬p Unmöglich: ¬Mp esse in potentia/ dynamei on; kontingent unwirklich; mere possibile; Kontrafaktisches i. e. S.; Fiktives M"p y ¬p Mp
Zweiseitige/Symmetrische Möglichkeit: M''' Kontingenz: Cp contingens specialiter; disjunktive oder doppelte Möglichkeit; utrumlibet; Def.: Cp y Mp Mp (Modalitätsprodukt); ›weder notwendig noch unmöglich‹; Ausschluss von Notw. (Cp | Np) und Ausschluss von Unm. (Cp | ¬Mp) Cp y ¬Np ¬(¬Mp) 6 Vgl. z. B. Becker, Oskar, Untersuchungen über den Modalkalkül, Meisenheim 1952, S. 58 ff.; vgl. Jacobi, Möglichkeit (Anm. 3), S. 931.
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Peter Schulthess
54 Bemerkungen:
[1] Der differenzierteste Modalstrahl ist im 4. Balken der Tabelle realisiert. Darin figurieren die Grundmodi: Notwendiges und Mögliches. Das Mögliche (Nicht-Unmögliche) enthält die Notwendigkeit. Zieht man die Notwendigkeit vom Möglichen ab, so bleibt dasjenige, was nicht unmöglich und nicht notwendig ist: das Kontingente. Dieses kann man nun nur mithilfe der Modalitäten Wirklichkeit und Nichtwirklichkeit einteilen: Das Wirkliche, nicht-notwendige Mögliche ist das Zufällige; das nichtwirkliche (kontrafaktische) Mögliche, d. h. nicht Unmögliche ist das mere possibile. [2] Zu den Grundmodalitäten (Möglichkeit, Notwendigkeit) gibt es – eine komplementäre Modalität (sprachlich mit ›Un-‹): zu Np: ¬Np und – eine negative Modalität (sprachlich mit nachgestelltem ›nicht‹): zu Np: N¬p [3] Modallogisches (aussagenlogisches) Quadrat: konträr |
Unmöglichkeit ¬Mp (y N¬p)
-
di
ra
kt
nt
or
ko
is
ch
Notwendigkeit Np (y ¬M¬p)
or
ra
is
ko
kt
nt
subaltern
di
subaltern
ch
Möglichkeit Mp (y ¬N¬p)
subkonträr
Nichtnotwendigkeit ¬Np (y M¬p)
[4] Auf Aristoteles7 geht die Unterscheidung von absoluten (reinen) und relationalen Modalitäten (modi recti et obliqui) zurück: Absolute Modalitäten sind Wirklichkeit und Unwirklichkeit. Die relationalen Modalitäten können bei Aristoteles mit einai (sein) oder mit gignesthai (werden) verbunden werden. Notwendigkeit, Nichtnotwendigkeit, Möglichkeit, Unmöglichkeit und z. T. Kontingenz werden ›relational‹ genannt, weil sie auf die absoluten (p, ¬p) Modalitäten bezogen sind, insofern sie sie modifizieren. ›p‹ oder auch
7 Aristoteles, De int. 12; Ana. pr. I.2, 25A 1–3.
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›P kommt S zu‹ kann nun eine Aussage, eine Wahrheit (›¬p‹ oder ›P kommt S nicht zu‹ entsprechend eine Falschheit) oder einen Sachverhalt, ein Faktum symbolisieren. Entsprechend handelt es sich um eine Modalität de re oder de dicto. Die absolute Modalität ist dann keine eigentliche Modalität. Möglichkeit ist immer Möglichkeit eines Wirklichen, z. B. die Möglichkeit zu sein. [5] Ob Kontrafaktizität im weiteren Sinne, welche das Unmögliche umfasst, von Kontrafaktizität im engeren Sinne unterscheidbar ist und ob Fiktives im engeren Sinne nicht auch von einem Fiktiven im weiteren Sinne, das z. B. das Unmögliche umfasst, abgegrenzt werden soll, hängt auch mit der Frage zusammen, welche Notwendigkeit vorausgesetzt ist. Wenn das Vorausgesetzte die physische oder kausale Naturnotwendigkeit ist, dann kann z. B. phantastische Literatur, in der Ereignisse gegen die Naturgesetze verstossen können, durchaus sinnvolle Fiktion sein. Fiktives enthält dann Unmögliches in sich. [6] Die Modallogik arbeitet gewöhnlich nur mit einer Möglichkeit (M); die Modalanalyse mit allen drei Möglichkeiten. In diesem Rahmen kann sie dann Kontingenz mithilfe der Möglichkeit definieren. [7] Axiome der Modallogik (primitive, die in allen Systemen gelten): Axiom 1: N(p q) Np Nq Axiom 2: Np p Mp [Gesetz des modalen Gefälles] Axiom 2 ist zusammengesetzt aus: Möglichkeitsaxiom: p Mp [ab esse ad posse valet consequentia] Notwendigkeitsaxiom: NP p [ab necesse ad esse valet consequentia] [8] Varianten der Grundfigur:8 In einer stoischen Welt ist alles notwendig: Das Mögliche, Wirkliche und Notwendige sind koextensional, weil die Welt absolut deterministisch ist. Entsprechend sind das Nichtnotwendige, das Unmögliche und das Nichtwirkliche koextensional. Die klassische Newtonsche Naturwissenschaft verfolgte auch diese Option. In der modernen Physik, wo im Bereich der Quantenphysik die kausale Determination aufgehoben ist, gilt das nicht mehr. In einer epikureischen Welt ist alles völlig indeterminiert: Es gibt nichts Notwendiges und damit auch nichts Unmögliches; es gibt nur Mögliches und Wirkliches; alles ist Zufall. Alles, was nicht wirklich ist, ist möglich. Damit ist nichts unmöglich. Gegen dieses Modell kämpfte schon Aristoteles. Heute vertritt nach Becker am ehesten die Existenzphilosophie diese Grundfigur.9 8 Vgl. Becker, Untersuchungen über den Modalkalkül (Anm. 6), S. 61 f. 9 Ebd., S. 70.
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In einer idealen bzw. modallogischen Welt kommen wir mit Möglichkeit und Notwendigkeit aus. Wir brauchen dabei keine Wirklichkeit und Unwirklichkeit. Die Modallogik betrachtet also ihre Möglichkeiten als reine, nicht als relationale. Die Kontingenz konstruieren wir aus der Möglichkeit: Cp = Mp M¬p [9] Welche Modalbegriffe sind fundamental/ursprünglich? Gibt es gleichursprüngliche?
1.4. Die Modallogik bei Aristoteles Aristoteles führt den Begriff der Möglichkeit in die Metaphysik (Met. V.5; 12; Met. IX) insbesondere zur Klärung des Begriffs der kinesis, des Prozesses, der Veränderung ein. Zudem definiert er die logischen Begriffe ›notwendig‹ und ›möglich‹ (De int. 9, 12 f.; Ana. pr. I.3; 8–22) und bestimmt deren Relationen: die Aequipollenzen wie die Implikationen. Darüberhinaus entwickelt er eine quantifizierte Modallogik (einen unabgeschlossenen Teil eines Systems der modalen Prädikatenlogik) und verwendet auch die modale Aussagenlogik, die er allerdings nicht kodifiziert. Zu den Grundproblem der aristotelischen Modalitäten gehört, dass Möglichkeit und Notwendigkeit – wie alle philosophischen Grundbegriffe bei Aristoteles – ein sogenanntes pollachos-legomenon sind, d. h. dass sie mehrere Bedeutungen haben, aber trotzdem nicht einfach äquivok sind.
1.4.1. Die Modalitäten In den Analytica priora (Grundtext: I.3; 13, vgl. auch De int. 12–13) verwendet Aristoteles zwei Modalitäten: Notwendigkeit und Möglichkeit, wobei Möglichkeit als zweiseitige, d. h. als Kontingenz definiert ist: Sie ist das, was nicht notwendig und nicht unmöglich ist [Cp y ¬Np ¬(¬Mp)].10 Jedoch benutzt er auch einen allgemeinen Möglichkeitsbegriff: Möglich ist, was nicht unmöglich ist [Mp]. Dieser Möglichkeitsbegriff wird zwar in den Analytica priora nicht eigens diskutiert; manche modale Syllogismen sind allerdings nur gültig, wenn man die Kontingenz als diese Art von Möglichkeit interpretiert. Formen modaler Aussagen ohne explizite Quantifikation sind: ›A kommt notwendigerweise/kontingenterweise B zu‹ oder: ›A kann/muss B zukommen‹. Ein Aussagetyp mit expliziter Quantifikation ist [z. B. to A panti to B endechetai (hyparchein)11]: ›A kommt notwendigerweise/kontingenter10 Aristoteles, De int. 12, 21a34–13; 23a26. 11 Aristoteles, Ana. pr. I.13, 32b31f; 32b38–40.
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weise jedem (keinem/einigen/einigen nicht) B zu‹. Die Aussage ›A kommt notwendigerweise allen B zu‹ kann verschieden interpretiert werden – je nachdem, was als Modalitätsträger vermeint wird. Die moderne Nomenklatur kann dies ad oculos demonstrieren: Nx(Bx m Ax) xN(Bx m Ax) x(Bx m NAx) x(MBx m NAx) x(NBx m NAx)
(de dicto) (de re) (de re) (de re) (de re)
Auch für eine kontingente Aussage ohne explizite Quantoren ›A kann B zukommen‹ (auch: ›Dem, wovon B ausgesagt wird, kann A zukommen‹) gibt es mehrere Interpretationen. Nach Aristoteles kann sie je nach der Interpretation des ersten Teils: ›Dem, welchem jenes (B) zukommt‹ oder ›Dem, welchem jenes (B) zukommen kann‹ zweierlei bedeuten: ›Dem, welchem B zukommt, kann auch A zukommen‹ oder ›Dem, welchem B zukommen kann, kann auch A zukommen‹.12 Im Kapitel 13 des ersten Buches seiner Analytica priora, das vom Möglichen (peri tou endechomenou) handelt, bestimmt Aristoteles jenen Begriff der Möglichkeit, die man auch als ›Kontingenz‹ oder ›zweiseitige bzw. symmetrische Möglichkeit‹ zu bezeichnen pflegt, durch folgende von mir strukturierte Definition:13 Wenn ich sage ›es ist möglich/kann sein, dass‹ (endechesthai) oder ›kontingent‹ (to endechomenon), so meine ich damit, dass es – erstens: nicht notwendig (mê anankaion) ist [¬Np; M¬p] und dass sich – zweitens: wenn man annimmt, es sei der Fall, aus dieser Annahme nichts Unmögliches (adynaton) ergibt [¬(¬Mp); Mp]. Bemerkungen: [1] In Kurzform kann man die Definition so formalisieren: Cp y Mp M¬p [2] Das endechomenon umfasst nicht mehr alles, was nicht unmöglich ist, sondern das Notwendige wird nun davon ausgeschlossen. So entsteht der Begriffe der symmetrischen Möglichkeit. Ein endechomenon ist, was weder notwendig noch unmöglich ist. Der einseitige Möglichkeitsbegriff (Mp) schließt nur das Unmögliche aus, aber auch das Notwendige ein. Der erste Teil dieser Definition, dem zufolge das zweiseitig Mögliche (endechomenon) nicht notwendig ist, dient damit lediglich der Abgrenzung des Kontingenzbegriffs, und zwar von dem das Notwendige mitumfassenden und daher 12 Aristoteles, Ana. pr. I.13, 32b25–29. 13 Aristoteles, Ana. pr. I.13, 32a18–20; vgl. Met. IX.3, 1047a24 ff.
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weiteren Begriff des einseitig Möglichen (dynaton): Es ist nicht alles kontingent, aber eventuell alles möglich. Entscheidend für die Möglichkeitsauffassung des Aristoteles ist der zweite Teil seiner Definition, dem zufolge etwas nur dann möglich ist, wenn man probeweise annehmen kann, es sei tatsächlich der Fall, ohne dass sich aus dieser Annahme eine unmögliche Konsequenz ergibt (ähnliche Formulierung auch in Met. IX.3, 1047a 24–26). Der zweite Teil ist das mere possibile oder Kontrafaktische im engeren Sinne. [3] ›A kommt dem B kontingenterweise zu‹ bedeutet nicht: ›A kommt dem B wahr zu, aber bloss kontingenterweise‹, sondern ohne faktische Information. ›Kontingent‹ ist also keine Bestimmung des faktischen Zukommens. Wäre sie das, müsste die Modalität ›zufällig‹ dabeistehen.
1.4.2. Die modale Syllogistik Die aristotelische modale Syllogistik ist eine Extension der assertorischen Syllogistik auf modale quantifizierte Propositionen. Das modale System des Aristoteles wurde allerdings nie zur Perfektion gebracht. Aristoteles untersucht nur modale Syllogismen, deren assertorisches Gegenstück gültig ist. Die Modalitäten modifizieren das inesse/hyparchein (Wirklichkeit). ›Assertorisch‹ ist dabei keine Modalität, sondern dasjenige, was modifiziert wird. Iterationen in der Modalität, wie sie in den heutigen Modalkalkülen vorkommen – z. B. das Axiom, das den Kalkül S5 konstituiert MNpmNp – sind bei Aristoteles und im Mittelalter nicht vorgesehen. Dabei ist ein Syllogismus modal, welcher mindestens eine Prämisse modalisiert hat, der also zu den Standardtermen die Terme ›notwendig‹, ›möglich‹ oder ›kontingent‹ hinzufügt. Es gibt – je nach Modalität der Prämissen – acht Gruppen von modalen Syllogismen:14 – – – – – – – –
NN [Ana. pr. I.8] N- [Ana. pr. I.9–11] -N [Ana. pr. I.9–11] CC [Ana. pr. I.14,17,20] C- [Ana. pr. I.15,18,21] -C [Ana. pr. I.15,18,21] CN [Ana. pr. I.16,19,22] NC [Ana. pr. I.16,19,22]
14 Bochenski, Joseph M., Formale Logik, Freiburg im Breisgau und München 41978 (Orbis academicus 3, 2), S. 99.
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Beispiele gültiger modaler Syllogismen:15 [1] NNN: Es gelten dieselben wie im assertorischen Fall. NNN/Barbara
A kommt notwendig allen B zu B kommt notwendig allen C zu A kommt notwendig allen C zu
NAaB NBaC NAaC
N-N/Barbara
A kommt notwendig allen B zu B kommt allen C zu A kommt notwendig allen C zu
NAaB BaC NAaC
Die Regel der assertorischen Syllogistik: ›Der Schlusssatz folgt der schwächeren Prämisse‹ gilt für die Modallogik nicht. Aus assertorischen Prämissen lassen sich in der Modallogik keine Schlusssätze mit notwendiger conclusio gewinnen. [2] CCC CCC/Barbara
A kommt kontingenterweise allen B zu CAaB B kommt kontingenterweise allen C zu CBaC A kommt kontingenterweise allen C zu CAaC
C-C/Barbara
A kommt kontingenterweise allen B zu CAaB B kommt allen C zu BaC A kommt kontingenterweise allen C zu CAaC
Beispiel: Für jedes Säugetier ist es kontingent, dass es braune Haare hat Jeder Mensch ist ein Säugetier Für jeden Menschen ist es kontingent, dass er braune Haar hat In Figur [1] gelten: NNN; N-N; -N-; CCC; C-C; CNC; weiter gelten: -CM; NCM für aaa; eae; aii; NC- für eae, eio.16 Die modallogische Syllogistik ist wie die assertorische axiomatisch aufgebaut. Neben den Axiomen17 gelten als Ableitungsregel die reductio ad absurdum, die ekthesis und folgende Konversionsregeln:18 15 Vgl. dazu Lagerlund, Henrik, Modal Syllogistics in the Middle Ages, Leiden, Boston und Köln 2000 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 70), S. 235. 16 ›a‹ symbolisiert eine universell-affirmative, ›e‹ eine universell-negative, ›i‹ eine partikulär-affirmative und ›e‹ eine partikulär-negative Aussage. 17 Zu den Axiomen vgl. Bochenski, Formale Logik (Anm. 14), S. 100. 18 Aristoteles, Ana. pr. I.3, 25a27–25b26; vgl. Lagerlund, Modal Syllogistics in the Middle Ages (Anm. 15), S. 10 f.
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60 [1] NAaB NBiA [2] NAiB NBiA [3] NAeB NBeA [4] CAaB CBiA [5] CAiB CBiA [6] CAeB CBoA
[7] CAoB CBoA [8] MAaB MBiA [9] MAiB MBiA [10] MAeB MBeA [11] CAaB CAeB19 [12] CAiB CAoB
Ferner verwendet Aristoteles modale aussagenlogische Regeln, die er nicht explizit nennt: ⊢pq
⊢pq
⊢ Np Nq
⊢ Mp Mq
Als Problem gilt in der Forschung, dass die Modalitäten in den Syllogismen de re interpretiert werden müssen, hingegen die Konversionsregeln de dicto.20
2. Kontingenz im Mittelalter 2.1. Die Schwierigkeiten bei der Rezeption der antiken Modalitäten im Mittelalter Al Farabi berichtet, die christlichen Bischöfe hätten in der Spätantike beschlossen, dass das Organon nur bis Ana. pr. I.7, nämlich bis »zum Ende der Figuren des Wirklichen« studiert werden dürfe, also ohne die modale Syllogistik, da diese für das Christentum schädlich sei.21 Dass es eine entsprechende Beschränkung gegeben haben muss, zeigen die syrischen Organon-Versionen, die oft an eben dieser Stelle abbrechen. Die Begründung dafür kann man wohl aus der Kritik an der Modlallehre im 11. Jahrhundert rekonstruieren. Im anti-dialektischen Milieu wurde schon früh spöttisch gebetet: A dialecticis libera nos, Domine. Es waren insbesondere auch die logischen Modalitäten, die zu manchen verzwickten metaphysisch-theologischen Thesen über Providenz, Praescienz und Determinismus führten und die dann im LogikUnterricht unter den jungen, noch verderblichen Seelen offen diskutiert wurden, obwohl sie der christlichen Anschauung zuwiderzulaufen schienen oder sie mindestens problematisierten. Petrus Damiani erzählt 1067 in De divina 19 Aristoteles, Ana. pr. I.3, 32a 30-b2. 20 Vgl. Lagerlund, Modal Syllogistics in the Middle Ages (Anm. 15), S. 14. 21 Vgl. Strohmaier, Gotthard, Von Demokrit bis Dante. Die Bewahrung antiken Erbes in der arabischen Kultur, Hildesheim u. a. 1996 (Olms Studien), darin: Von Alexandrien nach Bagdad – eine fiktive Schultradition, S. 313–319, hier S. 315.
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omnipotentia von einer solchen Begebenheit anläßlich eines Besuchs 1066 beim Rektor Didier in Montecassino. Mit ihm und den durch die artes beeindruckten jungen Mönchen sei folgende quaestio frivola diskutiert worden: Ob Gott einmal Geschehenes (z. B. die Gründung Roms) wieder ungeschehen machen könne? (Numquid potest Deus hoc agere ut, postquam semel aliquid factum est, factum non fuerit?)22
Die jungen Mönche hätten dabei Hieronymus zitiert, der an Eustochium, eine junge Frau, als Warnung schreibt: Ich wage zu sagen: Obwohl Gott alles kann: Er kann ein Mädchen, das nicht mehr Jungfrau ist, nicht mehr jungfräulich machen. (Audenter loquor, cum omnia possit Deus: suscitare virginem non potest post ruinam.)23
Die jungen Dialektiker gehen das Problem mit Aristoteles folgendermaßen an: Für alles, was jetzt ist, gilt: Wenn es ist, dann ist es ohne Zweifel notwendig (quidquid nunc est, quamdiu est, procul dubio esse necesse est24). Dasselbe gilt für Aussagen in der Vergangenheit oder in der Zukunft. Es gibt nun allerdings – wie schon Aristoteles bemerkte – zwei Varianten, diese Aussage zu deuten: – Im einen Fall ist mit ›notwendig‹ die logische Notwendigkeit gemeint. Es folgt mit logischer Notwendigkeit, dass ›wenn p, dann p‹ [N(pmp)]. Es handelt sich um die logische Notwendigkeit der Folgerung bzw. des Konditionals: necessitas consequentiae.25 – Andernfalls drückt die Notwendigkeit die Notwendigkeit des Sachverhaltes aus: ›Wenn p ist, dann ist p notwendig‹: pNp. Es handelt sich dabei um die Notwendigkeit des Schlussatzes (conclusio): necessitas consequentis.26 Der Schluss pNp wäre allerdings modallogisch falsch (im Sinne der sogenannten modal shift fallacy). Man schlösse mit dem bezeichnenderweise fatalism genannten Fehlschluss: p, (N(pmq) Nq 22 Petrus Damiani, De divina omnipotentia, hg. von André Cantin, Paris 1972, S. 412. 23 Vita III S. Hieronymi, Patrologia Latina, Bd. 22, 597B. 24 Aristoteles, De int. 9, 19a22–27. 25 In der modernen Logik ist das leicht zu sehen, weil pmp eine Tautologie ist. In der aristotelischen Logik stellte sich die Schwierigkeit, dass pp nicht als Syllogismus erfasst werden konnte; zur Definition des Syllogismus gehört nämlich, dass in ihm aus einer Prämisse etwas Verschiedenes folgt (vgl. z. B. Aristoteles, Topik I.1, 100a 25–27). 26 Diese Unterscheidung findet sich der Sache nach bei Anselm in Cur Deus homo (II., cap. 17), wo er anläßlich der Frage, ob sich Christus freiwillig ans Kreuz liefere oder ob er dazu durch die Notwendigkeit gezwungen werde, expliziert, man sage nicht mit Recht, dass es Gott unmöglich sei, zu bewirken, dass das, was vergangen ist, nicht vergangen sei.
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Diese fehlerhaft erschlossene Notwendigkeit bezüglich vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger facta schränkt nach Damiani Gottes Allmacht ein, so dass er recht eigentlich ohnmächtig sei: eum penitus impotentem reddant. Man überträgt also diese Notwendigkeit auf alle Tatsachen, auch auf diejenigen, die eben kontingent sind. Mit der Zufälligkeit wäre nicht nur Gottes Wundertätigkeit und vor allem seine Freiheit, sondern auch die menschliche Handlungsfreiheit aufgehoben. Die Notwendigkeit der Logiker ist aber, so Damiani, kein Prädikat von facta, Seiendem, sondern von Aussagenverbindungen: Sie formuliert die consequentia disserendi und ist ein Prädikat der Ordnung der Wörter oder Aussagen (ordo verborum). Sie soll in den Grenzen der Logik verbleiben und nicht beim Diskurs über facta verwendet werden.27 Ihre Anwendung auf theologische Fragen ist also gefährlich. Schon Aristoteles hatte diesen Fehlschluss im Kap. 9 (De int.) kritisiert. Es gelte die Universalität (gültig auch für futura contingentia) und Notwendigkeit des Bivalenzprinzips: Von zwei einander kontradiktorisch entgegengesetzen Aussagen (p: ›Morgen findet eine Seeschlacht in Salamis statt‹; ¬p: ›Morgen findet keine Seeschlacht in Salamis statt‹) ist die eine wahr und die andere falsch: ¬pp; auch: N(¬pp). Aus der Notwendigkeit der Disjunktion nun zu schließen, dass jedes der Disjunktionsglieder notwendig ist, sei, so Aristoteles, ein Fehlschluss der Komposition (synthesis): Man verwechsle den sensus divisus [Np, N¬p] mit dem sensus compositus [N(pmp)]. Man kann diesen Fall auf den obigen zurückführen, denn: N (pv¬p) N (pmp). Daraus folgt nun weder ›Np v N¬p‹, noch die absolute Notwendigkeit eines der beiden Glieder. Eine solche Folgerung wäre eine modal shift fallacy. Mit diesen Unterscheidungen des sensus divisus und compositus und der necessitas consequentis und consequentiae kann auch die Frage der Praescienz, die offenbar doch einen Determinismus impliziert, gelöst werden.28
27 Petrus Damiani, De divina (Anm. 22), S. 412; 414. Deshalb nennt Petrus Damiani sie expressis verbis logische Notwendigkeit in den Grenzen der Logik (consequentia necessitatis iuxta meram solius artis virtutem, S. 416). 28 Ein Ausgangspunkt der Diskussion waren die Sentenzen von Petrus Lombardus (Sententiae I, d. 38, c.2).
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2.2. Neuerungen in der Modallogik Im 12. Jahrhundert, dem ›logischen Jahrhundert‹, wie ich es nennen möchte, erlebten die Probleme der Logik im Zusammenhang mit den Neugründungen der Schulen – in Paris entstanden gleich deren vier berühmte – Hochkonjunktur. Aus diesem Milieu stammt wohl auch der unter Studierenden im Mittelalter kursierende Spruch: »An Modalitäten finden Esel [damit sind auch Laien gemeint] keinen Geschmack« (De modalibus non gustabit asinus).29 Darin manifestiert sich die Kehrtwendung in der Wertschätzung der Modallogik: Die Modalitäten (de modalibus) avancieren zu einem bedeutenden Teil der Logik, von dem Johannes von Salisbury im Metalogicon (IV.4) sagt, ihre Kenntnis, die ratio modorum, sei gerade für die Erkenntnis der Heiligen Schrift an vielen Stellen – ob sie nun explizit ausgedrückt seien oder nicht – pernecessarium, d. h. von grosser Wichtigkeit, was nun selbst die Theologen einräumten.
2.2.1. Modalitäten de dicto und de re Abaelard führte die bis heute in modalen Aussagen in Anschlag gebrachte Distinktion von modalen Aussagen de dicto und de re, die auch auf die Fehlschlusslehre des Aristoteles30 zurückgeht, in die Modallogik ein: Der Satz: possibile est stantem sedere (›Ein stehender Mensch kann sitzen‹) kann auf zwei verschiedene Weisen interpretiert werden: 1. de dicto/de sensu composito: Dass ein stehender Mensch sitzt, ist möglich [falsch] 2. de re/de sensu diviso: Ein stehender Mensch hat die Möglichkeit zu sitzen [wahr]31 In einer modalen Aussage de re modifiziert nach Abaelard der Modus die Inhärenz des Prädikats im Subjekt (AcI). Der Modus in der de dicto oder de sensu compositio wird von dem gesagt, was in einer nicht-modalen Proposition ausgedrückt wird: Die Proposition homo stans sedet ist möglich.
29 Autor unbekannt (wohl 12. Jahrhundert), Motto bei Lagerlund, Modal Syllogistics in the Middle Ages (Anm. 15), S. VIII. 30 Vgl. die in 1.1 angeführten Fehlschlüsse der Komposition; Aristoteles, Soph. El. 4, 166a 23–31. 31 Vgl. Petrus Abaelardus, Commentarius super periermenias, in: Laurentius Minio-Paluello (Hg.), Twelfth Century Logic. Text and Studies, Bd. II: Abaelardiana inedita, Rom 1958, S. 13 f.
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So erstaunt es nicht, dass die Modalitäten in fallacia- und syncategoremataTraktaten diskutiert werden.32 Dabei handelt es sich um Sophismata-Sammlungen, bei denen die Auflösung der Sophismen vorab durch Diskussion der Bedeutung und der logischen, semantischen und grammatischen Regeln der sogenannten synkategorematischen Terme geschehen. Synkategorematische Terme sind solche, welche nicht für sich allein, sondern nur zusammen mit anderen Termini etwas bedeuten (z. B. tantum, omnis, non, necessario, contingenter, esse), wohingegen kategorematische für sich allein signifizieren und an Subjekt- und Prädikatstelle einer Propositio stehen. Darin wurden die unterschiedlichen sprachlichen Formulierungen der Typen von Modalitäten diskutiert: – in nominaler Form: necesse est. (Bsp.: Sortem currere necesse est) – in adverbialer Form (modales Adverb): necessario. (Bsp.: Sortes necessario currit) – wird die Modalität innerhalb der Zusammensetzung gesetzt, dann ist die Modalität de re (Socrates possibile est currere) Daneben werden auch Aussagen berücksichtigt, die keinen Modalindikator haben, aber eine Notwendigkeit ausdrücken: Homo est animal. Ebenso unterscheidet man respektive (z. B. Sortes necessario movetur, si currit) von absoluter Notwendigkeit (Ein Dreieck hat drei Winkel) oder auch necessitas per accidens (Etwas, was hätte falsch sein können oder gar falsch war, aber jetzt nicht mehr falsch sein kann, weil es eingetreten ist, z. B. Cesarem vicisse Pompeium), von necessitas per se (Etwas, was nie falsch sein kann). Diese Diskussionen erfolgten einerseits in Hinsicht auf Grammatik (z. B. im Blick auf Adverbien, die die Handlung modifizieren und nach denen man durch quomodo? fragt,33 im Unterschied zu den Fällen, in denen der Modus die compositio [inesse] modifiziert). Andererseits wurden sie geführt mit Blick auf die Ontologie und Semantik in der Frage: Auf welche Entitäten oder Eigenschaften werden die modalen Begriffe angewandt? Auf logische Intentionen in Sätzen wie: Wovon die Species prädiziert wird, darauf wird auch das Genus prädiziert (de quocumque predicatur species, et genus), oder im Blick auf Sachverhalte (res: omnis numerus est par vel impar) und drittens im Blick auf logische Syntax (auf die logische Zusammensetzung von Sätzen in notwendigen Argumenten). Auch in die zur Suppositionslogik gehörige Theorie der Amplifikation traten die Modalitäten ein. Die Frage war, ob Notwendigkeit, Möglichkeit oder Kontingenz den Subjektterm amplifiziert. Petrus Hispanus und Lambert von Auxerre waren der Meinung, dass sie mindestens 32 Vgl. Spruyt, Joke, Thirteenth-Century Discussions on Modal Terms, in: Vivarium 32 (1994), S. 196–225. 33 Petrus Abaelardus, Commentarius super periermenias (Anm. 31), S. 3.
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den Subjektterm so amplifizierten, dass er auch zukünftige Dinge in sich enthalte. Im 12. und 13. Jahrhundert interessierten sich die Logiker vor allem für die Eigenschaften von singulären de re-Modalpropositionen. Eine entwickelte Theorie von de re-Modalpropositionen kommt erst im 14. Jahrhundert auf.34 Die mittelalterlichen Logiker nehmen an, dass Aristoteles in De interpretatione mit de dicto-Modalitäten gehandelt habe und mit de re-Modalitäten in den Analytica priora.35 Für Buridan sind lediglich de-re-Modalitäten eigentliche Modalitäten.36 2.2.2. Welche Ausdrücke sind überhaupt Modi? Man diskutierte auch, welche Ausdrücke überhaupt Modi sind, ob z. B. gut/ schlecht, wahr/falsch oder die Negation auch als Modi zu bezeichnen seien. Diese gelten nämlich im 12. und 13. Jahrhundert gewöhnlich nicht als Modalitäten.37 Über die alethischen Modalitäten (notwendig, kontingent, unmöglich, möglich) hinaus hat als erster Wilhelm von Ockham weitere eingeführt. Er ist der Meinung, dass es im aristotelischen Sinne durchaus eine Erweiterung der Logik auf die Modi (Boxes): – vera/falsa – scita/ignota – concepta, credita, opinata, dubitata geben muss. Darin steckt die Erweiterung der extensionalen Prädikatenlogik zur intensionalen Logik, die nicht nur die Modallogik im engeren Sinn (Logik alethischer Modalitäten), sondern auch die epistemische Logik ergeben kann. Dabei muss man aber wiederum den sensus compositus vom sensus divisus unterscheiden: So ist der Beispielsatz omnis homo scitur a te esse animal wahr sensu composito, sensu diviso jedoch ist er falsch. Ockham erachtet diese Erweiterung für die Theologie als äußerst wichtig. Viele Sätze mit creditur sind davon betroffen.38 34 Vgl. Buridans Oktagon der Opposition in Lagerlund, Modal Syllogistics in the Middle Ages (Anm. 15), S. 246. 35 Dass die modale Syllogistik in der aristotelischen Analytica priora für modale Propositionen in sensu diviso gemeint ist, steht schon in der Dialectica monacensis, De Rijk, Lambert M., Logica modernorum. A Contribution to the History of Early Terminist Logic, Bd. II/2, Assen 1962–67, S. 480. 36 Vgl. Lagerlund, Modal Syllogistics in the Middle Ages (Anm. 15), S. 137. 37 Vgl. z. B. Wiliam of Sherwood, Introductiones in Logicam. Lateinisch / Deutsch, hg. und übers. von Hartmut Brands und Christoph Kann, Hamburg 1995 (Philosophische Bibliothek 469), S. 33. 38 Quarum tamen ignorantia, sicut ignorantia propositionum et proprietatum earum, facit multos modernos errare et intricari in theologia et in aliis scientiis particularibus, tam speculativis quam practicis, Wilhelm von Ockham, Summa logicae, Opera philosophica I, St. Bonaventure 1974, S. 345.
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2.2.3. Definition und Division der Modalitäten Gewöhnlich unterschied man im Mittelalter vier verschiedene Modalitäten: Notwendigkeit, Kontingenz, Möglichkeit und Unmöglichkeit.39 In der Logik konzentrierte man sich allerdings in der modalen Syllogistik wie Aristoteles auf die Modalitäten ›Notwendigkeit‹ und ›Kontingenz‹. Man behandelte dabei contingens oft promiscue mit possibile (möglich), also Cp mit Mp.40 Deshalb können alle Modalitäten außer der Unmöglichkeit contingens (im Sinne von Mp, M'p oder Cp) sein: Sogar das Notwendige kann kontingent sein, insofern doch gilt: Alles, was notwendig ist (z. B. ›Der Mensch ist ein Lebewesen‹), ist der Fall und deshalb kontingent.41 Die Verhältnisse der modalen Aussagen (Inferenzen, Aequipollenzen) untereinander, die bei Aristoteles in einer ziemlich verwirrenden Passage in De int. 13 vorlagen, ordnete man zum modallogischen Quadrat:42 | konträr
impossibile est esse [¬Mp] non contingens est esse [¬Cp] necesse est non esse [N¬p] non possibile est esse [¬Mp]
-
di
ra
kt
nt
or
ko
is
ch
necesse est esse [Np] impossibile est non esse [¬M¬p] non contingens est non esse [¬C¬p] non possibile est non esse [¬M¬p]
or
ra nt
kt is
ko
Subalternativ
di
Subalternativ
ch
possibile est esse [Mp] contingens est esse [Cp] non impossibile est esse [¬(¬Mp] non necesse est non esse [¬N¬p]
subkonträr
possibile est non esse [M¬p] contingens est non esse [C¬p] non impossibile est non esse [¬(¬M)¬p] non necessse est esse [¬Np]
39 Bei Thomas von Aquin findet sich zudem bereits der Begriff des compossibile. 40 Knuuttila, Simo, Modalities in Medieval Philosophy, London und New York 1993 (Topics in Medieval Philosophy), S. 106 f. 41 Peter of Spain, Syncategoreumata, hg. von Lambert M. de Rijk, mit einer englischen Übersetzung von Joke Spruyt, Leiden 1992 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 30), S. 284. 42 Vgl. William of Sherwood, Introductiones (Anm. 37), S. 46; Petrus Hispanus, Tractatus – called afterwards Summule logicales, hg. von Lambert M. de Rijk, Assen 1972 (Philosophical texts and studies 22), S. 16.
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Man sieht in diesem modallogischen Quadrat, dass man von der Bedeutungsgleichheit von possibile mit contingens ausgeht, aber auch, dass aus der Notwendigkeit die Kontingenz folgt. Die Kontingenz als zweiseitige Möglichkeit ist die Konjunktion der unteren beiden Modalitäten: Cp y Mp M¬p. Im 14. Jahrhundert hat dann Buridan für die modale Prädikatenlogik ein differenziertes Octagon aufgestellt.43
2.3. Modalitäten in der Metaphysik und Naturphilosophie im Mittelalter Die aristotelische Metaphysik und die Physik wurde dem lateinischen Mittelalter erst im 13. Jahrhundert zugänglich und damit auch dessen metaphysische Modal- und Seinslehre. Andererseits hat sich ein Kontingenzbegriff eingebürgert, der von Boethius geprägt worden war und der eine beträchtliche Ambiguität aufweist. Aufgrund seiner Mehrdeutigkeit ist ihm ein großes Konfliktpotential inhärent.
2.3.1. Boethius’ ambiger Kontingenzbegriff Zunächst soll die ursprüngliche Semantik beleuchtet werden; vom Wort her nämlich bedeutet contingere44 – transitiv: etwas/jemand berühren, z. B. in den Modi: anstossend, bestreichend, kostend (etwa: Aasfressen) – intransitiv: zusammen sich berühren, sich treffen, fügen, glücken, gelingen, zutreffen, eintreffen. Der mittelalterliche philosophische Terminus contingens (contingentia) geht auf Marius Victorinus zurück, der das aristotelische und porphyrsche endechesthai (annehmen, möglich sein) durchgängig mit contingere übersetzt. In Boethius’ Übersetzungen von Porphyrs Isagoge und der aristotelischen Schriften des Organon wird diese Unsitte übernommen. Von diesen Boethianischen Übersetzungen her sind contingens und contingit in die scholastische philosophische Terminologie eingeführt worden. Boethius ist nicht nur der Meinung, dass possibile (dynaton) und contingens (endechomenon) Synonyme seien,45 43 Lagerlund, Modal Syllogistics in the Middle Ages (Anm. 15), S. 246. 44 Zum Abschnitt vgl. Becker-Freyseng, Albrecht, Die Vorgeschichte des philosophischen Terminus ›contingens‹. Die Bedeutungen von ›contingere‹ bei Boethius und ihr Verhältnis zu den Aristotelischen Möglichkeitsbegriffen, Heidelberg 1938 (Quellen und Studien zur Geschichte und Kultur des Altertums und des Mittelalters. Reihe D, H. 7). 45 Boethius, Commentarii in librum Aristotelis Peri hermeneias (secunda editio), hg. von Carl Meiser, Leipzig 1880, S. 382,17–22; 384, 6f; 392,17–393,12.
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er übersetzt auch mit contingit oder contingens zwei wesentlich verschiedene aristotelische Termini:46 – symbanein: wörtlich: zusammengehen [aus: syn und baino: sich rittlings auf etwas setzen, gehen, besteigen; Perfekt: symbebekenai: sich befinden] meint auch: trifft ein, ereignen. Damit ist allerdings ein tatsächliches Ereignis ausgedrückt. Symbainei wird mit lat. contingit übersetzt. Wichtig: Das Zusammengehen, das dadurch wörtlich ausgedrückt wird, erstreckt sich von notwendig bis hin zu zufällig.47 Kontingenz I: Wirklichsein – endechesthai [= dynaton einai;48 endechomenon = Möglichkeit]; Boethius übersetzt es befremdlicherweise, da es bloß ein mögliches Ereignis meint, auch mit contingit.49 Hier wird jedoch nur die Unmöglichkeit ausgeschlossen. Kontingenz II: Möglichkeit im weitesten Sinne (Mp) Boethius und Marius Victorinus übersetzen beide in Porphyrs Definition von symbêbêkos (accidens) endechetai mit contingit – auch diese Unsitte wurde im Mittelalter übernommen. Porphyrs Definition von symbebekos/accidens lautet: symbebekos estin, ho endechetai to auto hyparchein he mê hyparchein.50 Marius Victorinus übersetzt: Accidens est quod contingit alicui et esse et non esse.51 Boethius übersetzt wie Marius, aber ändert alicui zu eidem. Ein Akzidens ist also dasjenige, was derselben Sache zukommen oder nicht zukommen kann. Hier ist zwar das Geschehen (contingit) gemeint, nicht aber der Einschluss der Notwendigkeit. Diese Definition geht auf eine Stelle bei Aristoteles zurück, wo er Folgendes definiert: »Ein Akzidens (symbêbêkos) ist erstens das, was zwar keines von diesen ist, weder Definition noch Eigentümlichkeit, noch Gattung, der Sache (pragma) aber zukommt, und zweitens das, was einer und derselben Sache zukommen und auch nicht zukommen kann (hyparchein endechetai; Boethius: contingit inesse)«.52
An dieser Definition hätte klar werden müssen, dass das endechetai die Notwendigkeit ausschließt. Das zeigt sich auch in der Bestimmung der Akzidenzen in der Metaphysik: 46 Im Kommentar von Boethius zu cap. 9 von De int. ist diese Diffusion besonders eklatant. 47 Denn z. B. in der Definition des Syllogismus heißt es bei Aristoteles: ex anankês symbainei (»es ereignet sich notwendig«). 48 Aristoteles, De int. 13, 22a14–16. 49 Das tut er auch mit endechetai (3. P. Sg.). Siehe auch Becker-Freyseng, Die Vorgeschichte (Anm. 44), S. 15. 50 Porphyrius, Isagoge, hg. und ins Französische übers. von Alain de Libera, Paris 1998, § 5, S. 15. 51 Porphyrii Isagoge, translatio Victorini, in: Aristoteles Latinus I.6–7, Categoriarum Supplementa, hg. von Laurentius Minio-Paluello, Bruges und Paris 1966, S. 65. 52 Aristoteles, Top. I.5, 102 b4–7.
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»Ein symbêbêkos (accidens) nennt man dasjenige, was sich zwar an etwas findet (hyparchei tini/inest alicui: nicht modal!), und mit Wahrheit von ihm ausgesagt werden kann (alethes eipein/verum est dicere), aber weder notwendig (ex anangkês/ex necessitate), noch in den meisten Fällen (epi to poly/secundum magis) sich findet, z. B. wenn jemand beim Graben eines Loches für eine Pflanze einen Schatz (thesauros/thesaurus) fand«.53
Hier wird das Accidens zwar nicht mit contingit, auch nicht mit endechesthai bestimmt, sondern vielmehr als ein faktisches Zutreffen, aber sicher nicht als eines, das notwendig ist (das wird ja explizit ausgeschlossen). Contingit meint zwar auch faktisches Zutreffen; damit wird aber das Notwendige nicht ausgeschlossen. Beim Akzidens ist also die Modalität des Zufalls (M'p) im Spiel, welche die wirklich geschehende eine Hälfte der zweiseitigen Möglichkeit ist. Die genaue Nachbildung des lateinischen Wortes accidens ist das deutsche: ›Zufall‹.54 Dies wäre also ein Kontingenzbegriff III, den Boethius aber nicht explizit konzipiert. Zu den beiden Kontingenzbegriffen ›wirklich‹ und ›möglich‹ (im weitesten Sinne von Mp) kommt bei ihm ein dritter Kontingenzbegriff dazu, in dem er innerhalb der Möglichkeit im weitesten Sinn die Notwendigkeit ausschließt (contingens = non necessarium) und so die zweiseitige Möglichkeit gewinnt possibilitas utrumlibet (Cp).55
2.3.2. Modalitäten in der Metaphysik des Aristotelismus Von zentralem Interesse ist hier die aristotelische metaphysische Modaltheorie aus Metaphysik IX (Theta), dem sogenannten ›Buch über Möglichsein und Wirklichsein‹. Im Hochmittelalter haben sich die Metaphysik sowie die Naturphilosophie daran orientiert. Für Aristoteles ist die Unterscheidung der metaphysischen Modalbegriffe von Wirklichsein (energeia on/actualitas) und Möglichsein (dynamei on/potentia) – als Begriffe des Seins oberhalb der Kategorien angesiedelt – wichtig für eine Philosophie der Natur, des von Natur aus Seienden. Und zwar deshalb, weil das Phänomen der kinesis, also der 53 Aristoteles, Met. V.30, 1025a14 ff. 54 Diese Übersetzung kommt nach Eucken von Meister Eckhart. Siehe Eucken, Rudolf, Geschichte der philosophischen Terminologie [Erstdruck 1879], Hildesheim 1904, S. 121. 55 Boethius, Commentarii in librum Aristotelis Peri hermeneias (prima editio), hg. von Carl Meiser, Leipzig 1877, S. 106.8–14: Quae autem non insunt, sed inesse possunt, necessariae non sunt, quoniam huiusmodi retinent naturam, ut eas et esse et non esse possibile sit. potest enim fieri, ut hodie Alexander prandeat, et rursus potest fieri, ut hodie non prandeat. et hanc eveniendi vel non eveniendi possibilitatem utrumlibet vocamus. (»Die [Propositionen], die nicht zutreffend sind, aber zutreffend sein könnten, sind nicht notwendig, da sie eine solche Natur haben, dass es möglich ist, dass sie zutreffen oder nicht zutreffen. Denn es kann geschehen, dass Alexander heute frühstückt und umgekehrt kann es geschehen, dass er heute nicht frühstückt. Und diese Möglichkeit, dass etwas vorkommen kann oder nicht, nennen wir Möglichkeit auf beide Seiten.«)
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Veränderung oder der Prozessualität, nur mit dem Begriff des Möglichseins (Vermögens) oder auch der Kontingenz expliziert und beschrieben werden kann. Veränderung ist Umschlag von Möglichsein zu Wirklichsein. Möglichkeit steckt im Vermögen, wirklich etwas zu tun oder zu sein. Das Vermögen bestimmt Aristoteles als Prinzip, das eine Veränderung in einem anderen bewirkt oder auch im Subjekt selbst (arche kinesos), aber nicht, insofern es Träger des Vermögens ist.56 Wirklichsein (energeia on) ist bei Aristoteles die Basis, zu der ein Vermögen gehört und an der sich die modale Analyse vollzieht; es hat insofern Vorrang vor dem Möglichsein. Wirklichsein ist etwas in sich selbst. Möglichsein, also Vermögen ist nur im Blick auf etwas Wirkliches zu erklären: Wir formulieren es so: ›Es ist für a möglich … zu tun‹. Die Möglichkeit (dynamis) ist also reale Möglichkeit, ist Seinsmöglichkeit, Möglichkeit wirklich, aktual zu sein – oder anders gesagt: Verwirklichungsmöglichkeit. Das Unveränderliche, woran sich Veränderung vollzieht, ist das Wesen. Das Wesen einer Sache ist dann insofern notwendig, als es während der ganzen Dauer seiner Existenz, also immer, so und nicht anders ist. Darin kommt die Kernbedeutung der Notwendigkeit bzw. des Notwendigseins zum Ausdruck: Notwendig ist alles, was sich nicht anders verhalten kann, d. h. was so und nicht anders ist.57 Die Modalitäten ›Möglichsein‹ und ›Notwendigsein‹ sind also relationale; sie sind nicht ohne das Wirklichsein zu denken.
2.3.3. Kontingenz in der Naturphilosophie Aristoteles unterscheidet im Kosmos Bereiche des Veränderlichen von Bereichen des Unveränderlichen: Das natürlich Seiende der sublunaren Sphäre, das geschieht (contingit), und deshalb veränderlich sowie vergänglich (phtarton) ist, das sowohl sein wie nicht sein kann, nennt er Kontingentes (endechomenon).58 Das Kontingente ist unterschieden vom Notwendigen, solchem, das zum Bereich dessen gehört, was nicht nicht sein kann: Unveränderlichem, Unvergänglichem (aphtarton). In ihm werden Zeit und Modalität zusammen gedacht: Das Ewige ist das unveränderlich Notwendige. Die Naturphilosophie beschäftigt sich mit dem Bereich des natürlich Seienden, des Geschehenden, dem Bereich des Kontingenten (endechomena). In diesem Bereich kann nun das Kontingente durchaus mit dem Notwendigen zusammen gedacht werden: Auch das Notwendige geschieht (contingit). Die Grenze zwischen dem Notwendigen und Kontingenten wird hier also eingerissen. Das Geschehen in der Natur vollzieht sich zwar nach Naturnotwendigkeit; es ist allerdings nicht vollständig kausal determiniert. Das zeigt sich 56 Aristoteles, Met. IX.1, 1046a10 f. 57 Aristoteles, Met. V.5, 1015a34–36. 58 Aristoteles, Met. IX.8, 1050b13 f.; vgl. De caelo I.12.
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darin, dass der Bereich der endechomena, des Geschehenden, Kontingenten, im Mittelalter in eine auf Aristoteles59 zurückgehenden Unterscheidung zerfällt: 1. Contingens natum: Das, was sich von Natur aus (physei) so (gleich) verhält, was also von der (eigenen) Natur verursacht wird, oder was sich meistenteils, in der Regel (hos epi to poly) gleich verhält (z. B.: ›Der Mensch bekommt mit der Zeit in der Regel graue Haare‹). Das ist ein defizienter Modus oder Grad von Notwendigkeit (anankeion). Thomas nennt es dann contingens ut in pluribus.60 2. Contingens in(de)finitum: Das, was ›zufällig‹ (apo tyches) geschieht, sich in der gleichen Weise verhält, was so oder so sein kann, welches gleicherweise dazu tendiert zu sein, wie nicht zu sein. Im 13. Jahrhundert differenziert man zusätzlich auch die zweite Stufe. Thomas61 z. B. unterscheidet im Rahmen seiner drei Gattungen von kontingentem Geschehen (triplex genus contingentium) die zweite in: – contingens ad utrumlibet [indefinite Kontingenz]: Das Mittlere, was sich gleicherweise zu beiden Möglichkeiten (zu sein wie nicht zu sein) verhält (z. B. das, was im Zusammenhang mit freier Wahl vor sich geht [ex electione]). – contingens ut in paucioribus: was in einer Minderheit der Fälle geschieht. Es handelt sich also um seltene Geschehnisse, die auf Zufall oder Glück beruhen (a casu vel fortuna). Im Kontingenten (quod contingit) werden also gewissermaßen Grade der Modalität eingeführt: Thomas führt eine necessitas ex suppositione ein, die er einerseits von einer necessitas absoluta, aber auch vom Kontingenten im Sinne der zweiseitigen Möglichkeit unterscheidet. Er wendet sich in der Auslegung der Aristoteles-Stelle zur Seeschlacht62 gegen den absolut kausalen Determinismus, der sagt: omne quod est necesse est esse; simpliciter est ex necessitate – alles Seiende ist notwendig. Die Notwendigkeit ist hier simpliciter, sie ist die absolute Notwendigkeit des Seins selbst (Np). Für Thomas gilt vielmehr mit Aristoteles die relative Naturnotwendigkeit: Für alles, was ist, ist es notwendig, dass es ist, wann es ist (omne ens, quando est, est ex necessitate), nicht mit absoluter, aber mit relativer oder konditionaler Notwendigkeit: ex suppositione des Geschehens (N(pmq)). Man muss deshalb zwei Not59 Aristoteles, Ana. pr. I.13,3 2b4–14; vgl. Lagerlund, Modal Syllogistics in the Middle Ages (Anm. 15), S. 24 und 43 ff. 60 S. Thomae Aquinatis, Expositio libri peryermenias, in: Opera omnia, Bd. I, 1, hg. von Comissio Leonina, Paris 21989, S. 68. 61 Ebd., S. 68. 62 Ebd., S. 80 f.
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wendigkeiten, die relative und absolute, die wir bereits aus der Diskussion der Seeschlacht (Abs. 2.1.) kennen, unterscheiden: Np; N(pmq). Die Begriffe der relativen Notwendigkeit und der Kontingenz überschneiden sich also im wirklich Existierenden, sie sind aber nicht deckungsgleich: Notwendig ist das, was im Bereich der Natur, des natürlich, heute würde man sagen: ›naturgesetzlich Seienden‹ von Natur her und damit in der Regel geschieht. Gibt es dann aber überhaupt etwas, was dieser relativen Naturnotwendigkeit entzogen ist, was gleichsam natürlich kontingent ist – nicht im Sinne von contingit, sondern im Sinne der zweiseitigen Möglichkeit oder eben des auf die Wirklichkeit eingeschränkten Zufalls? Ist nicht alles natürlich Seiende schon durch seine Definition, wonach es das Prinzip seines Prozesses (kinesis) in sich hat, determiniert? Diejenigen Naturwesen, die nicht mit Willen und Vernunft begabt sind, wirken zwar immer entsprechend ihrem Naturstreben und insofern ist ihr Wirken physisch notwendig. Das impliziert aber keinen universellen Determinismus, denn mit Aristoteles nimmt Thomas eine akzidentelle Verursachung an, eine Wirkung (effectus) per accidens oder Zufall (casus).63 Das natürliche Wirken eines Naturwesens könne, so Thomas, durchaus durch eine andere hinzutretende (per accidens) natürliche Ursache gestört oder behindert werden, so dass durch das zufällige Zusammenwirken der beiden Ursachen etwas anderes geschehe als das, was nach dem Naturstreben der einzelnen Ursache für sich geschehen wäre.64 Wenn also zwei Kausalreihen (concursus) aufeinandertreffen, erfolgt die Wirkung zwar notwendig, aber dieses Zusammentreffen selbst ist nicht Auswirkung »einer eigens darauf ausgerichteten Naturursache, […] eines Naturstrebens, sondern erfolgt ohne bestimmte Regel, ohne ein eigenes Gesetz«, ohne eigene Finalität.65 Man muss also in der Naturphilosophie folgende Kontingenzbegriffe auseinanderhalten – darin spiegelt sich die Ambiguität des Kontingenzbegriffs bei Boethius: 1. Kontingenz als Wirklichsein, umfasst physische Notwendigkeit und Zufälligkeit (›Alles Geschehen ist kontingent‹) 2. Kontingenz als nicht notwendig und nicht unmöglich, zweiseitige Möglichkeit 3. Kontingenz als 1. oder 2. Kontingenz, contingens commune oder possibile 4. Kontingenz als Zufall oder Wirkung per accidens (›physische Kontingenz‹) 63 Aristoteles, Met. VI.2.; vgl. Weidemann, Hermann, Akzidentelle Verursachung. Ein Aristotelischer Gedanke aus moderner Sicht, in: Philosophia naturalis 43 (2006), S. 214–231. 64 Thomas von Aquin, Summa theologiae I, Madrid 1978 (Bibliotheca de auctores christianos), q. 115, art. 6. 65 Vgl. de Vries, Josef, [Art.] Kontingent, in: Ders.: Grundbegriffe der Scholastik, Darmstadt 1980, S. 59–63, hier S. 62.
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2.3.4. Interpretation der Modalitäten Die Interpretation der metaphysischen und naturphilosophischen – nicht der logischen – Modalitäten geschieht bei Aristoteles nach Maßgabe der Wirklichkeit (das Mögliche wird vom Vermögen, wirklich zu sein, her interpretiert), und – wie man auch aus der Interpretation des Naturgeschehens sehen kann – im sogenannten statistischen oder temporalen Modell (mit Häufigkeit). Man spricht von zeitgebundenen Modalitäten: N ¬M M C
y y y y
was immer der Fall ist (wahr ist) was nie der Fall ist was manchmal der Fall ist was manchmal der Fall ist und manchmal nicht:66 Nichts Ewiges ist kontingent
Es erstaunt nicht, dass C und M promiscue gebraucht werden. Die statistische Interpretation der Modalitäten wurde bis ins 13. Jahrhundert gepflegt, dann aber mindestens in der Metaphysik durch die schöpfungstheologische abgelöst, die nicht an der Wirklichkeit orientiert ist, sondern erstaunlicherweise an der Logik.
2.4. Der neue schöpfungstheologische Begriff der Möglichkeit: Das possibile absolutum Im Mittelalter hat man beginnend mit Avicenna gegenüber Aristoteles von der potentia die possibilitas unterschieden. Wenn wir über Potentialität sprechen, sprechen wir über Wesen und ihre Fähigkeiten oder Kräfte oder Dispositionen. Die potentia (dynamis) eines Vermögenden (a) kann man deutsch wiedergeben mit: ›Für a ist es möglich zu …‹ oder ›a kann …‹. Das ist eine typisch relative Möglichkeit, die auf die Wirklichkeit eines a, einer res bezogen ist. Die Possibilität hingegen gibt man eher wieder durch die Ausdrücke: ›Es ist möglich, dass …‹ oder ›Es kann sein, dass …‹.67 Wie diese Unterscheidung bei Thomas schöpfungstheologisch fundiert wird, soll im Folgenden dargelegt werden. Das theologische Dogma von der creatio ex nihilo stellte die Philosophie vor die Aufgabe, nicht nur das Werden in der Welt zu begreifen, sondern das Werden der Welt selbst. Aristotelisch verblieb in der Konzeption der Schöpfung, dass man dazu eine aktive Potenz ansetzte, die das Werden – den Übergang von Potenz in Akt – verursacht, und diese Potenz entsprechend der größeren Aufgabe – nämlich das Werden der Welt – zur rein aktualen Omni66 Vgl. Aristoteles, De int. 9, 19a9 ff. 67 Vgl. zu dieser Unterscheidung und zum Folgenden Jacobi, Das Können (Anm. 2).
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potenz steigerte.68 Unaristotelisch war, dass man die Wirklichkeit der Welt nun in ihrer Möglichkeit voraussetzen musste und nicht die Möglichkeit relativ auf die Wirklichkeit vorstellen konnte. Diese Möglichkeit darf auch nicht mehr wie beim Platonischen Demiurgen materiell gedacht werden. Die mögliche Welt musste als – nicht an der Wirklichkeit gemessener – Gedanke oder Plan in Gottes Geist gedacht werden. Diese Möglichkeit ist also keine reale und damit relative Möglichkeit (auf Wirklichsein bezogen) mehr, sondern nur noch absolute Seinsmöglichkeit: possibile absolute oder auch absolutum. Dieser Begriff des Absolutmöglichen ist nicht mehr im Rückgriff auf Wirklichkeit zu konstituieren. Entsprechend ist auch der Begriff der Unmöglichkeit nicht mehr von der Wirklichkeit oder der Natur her als physikalisch Unmögliches aufzufassen, sondern in Einklang mit dem Begriff der göttlichen Omnipotenz zu bringen, wie schon Petrus Lombardus in der Distinctio 42 und 43 des ersten Sentenzenbuches forderte und damit dieses Thema auf die Agenda des metaphysischen Denkens im 13. Jahrhundert setzte.69 Verfolgen wir diese Fundierung der absoluten Begriffe der Möglichkeit und Unmöglichkeit in der Schöpfungstheologie in Thomas’ Quaestio 25a 3 der Summa Theologiae. Thomas fragt darin, ob Gott allmächtig sei: Utrum Deus sit omnipotens? Dass das nicht so einfach zu denken ist, wie der erste Anschein glauben macht, zeigt folgende Überlegung, die Thomas in einem Gegenargument einführt. Die Stelle 1. Kor 1,20 ›Gott hat die Weisheit dieser Welt zur Torheit gemacht‹, kommentierten die Glossa ordinaria: Gott hat die Weisheit dieser Welt zur Torheit gemacht, indem er zeigte, dass möglich sei, was jene als unmöglich beurteilt hat. Daher sei, so das Argument weiter, anscheinend etwas nicht gemäß den niederen – natürlichen – Ursachen als möglich oder unmöglich (possibile vel impossibile) zu beurteilen, wie das die Weisheit der Welt tue, also bloß als relative Möglichkeit, sondern gemäß der göttlichen (All-)Macht. Wenn Gott also, so das Gegenargument weiter – übers Ziel hinausschießend – allvermögend (omnipotens) ist, dann wird alles möglich sein (omnia erunt possibilia); also ist nichts unmöglich. Wenn aber das Unmögliche aufgehoben wird, so das Gegenargument weiter, dann auch das Notwendige. Dann gibt es nichts Notwendiges mehr in den Dingen. Also sei, so schlussfolgert das Gegenargument mit reductio ad absurdum, Gott nicht allmächtig. Alles ist kontingent-zufällig: Das ist die Gegenposition zur stoischen deterministischen Doktrin, nach der alles Mögliche notwendig sei. Diese Position vertraten früher die Epikuräer, heute vertreten sie oft Existentialisten. Sie hat bis in die Politik und die Managementkurse durchgeschlagen, wo das Motto gilt: ›Nichts ist unmöglich, alles ist möglich!‹ Man kann 68 Vgl. Jacobi, Möglichkeit (Anm. 3), S. 939. 69 Faust, August, Der Möglichkeitsgedanke. Systemgeschichtliche Untersuchungen, Bd. 2, Heidelberg 1932, S. 200.
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auch von einer Endphase der Säkularisierung sprechen, wo der Mensch eine notabene durchaus fragwürdige divina omnipotentia übernehmen will. Thomas löst die Frage nun so: »Im allgemeinen bekennen alle, dass Gott allmächtig ist. Es scheint aber schwierig, den Begriff der Allmacht (ratio omnipotentiae) anzugeben.« Insbesondere muss man das ›All‹ im Begriff ›Allmacht‹ explizieren, genauer: dessen distributio. Wenn gesagt werde, ›Gott kann alles‹ (omnia posse Deum), was ist dann unter dieser Distribution ›kann alles‹ zu denken? Thomas antwortet: »Alles mögliche (omnia possibilia)«. Hier stellt sich die logische Frage: Wofür kann ein Term supponieren? Das Mögliche umfasst alles Vergangene, Gegenwärtige und Zukünftige und noch mehr. Aber was? Und: Ist dieses das mere possibile? Ist die Antwort: Deus possit omnia possibilia, et ab hoc omnipotens dicatur aber nicht lediglich zirkulär? Thomas bringt zur Abwehr der Zirkularität die beiden Bedeutungen von possibile aus dem V. Buch (12) der aristotelischen Metaphysik (1019b34) ins Spiel: [1] ›Möglich‹ (vermögend, dynaton) meint da einmal das in Bezug auf ein Vermögen (dynamis) Gesagte: possibile secundum potentiam. Man schreibt etwas ein Vermögen, eine Fähigkeit zu: z. B. ›Hans kann zeichnen‹; ›Ein Baum kann wachsen‹. Dieser Möglichkeitsbegriff drückt ein Können aus. Was dem menschlichen Vermögen untersteht, wird so ›menschenmöglich‹ (possibile homini) genannt. In diesem auf die Wirklichkeit relativen Sinne von ›möglich‹ könnte man nun sagen: Der Satz ›Gott kann alles, was möglich ist‹ bedeutet: All das, was für irgendein Geschaffenes (natura creata) je getrennt, für es selbst möglich ist, ist Gott insgesamt möglich. Das wäre aber falsch, sagt Thomas, denn Gottes Macht erstrecke sich weiter: Wie weit, wird erst anhand der zweiten Bedeutung von possibile klar. [2] Dies ist das zweite von Aristoteles angebotene Verständnis von ›möglich‹, das nicht von einem Vermögen und nicht von der Wirklichkeit abhängt: Das nicht notwendigerweise Falsche, welches in der Form ›es ist möglich, dass (…)‹ vorkommt. Thomas nennt es das auf absolute Weise Mögliche (possibile absolute oder absolutum): Deus dicatur omnipotens quia potest omnia possibilia absolute. Etwas ist absolut möglich oder unmöglich gemäß dem Verhältnis der Termini (Subjekt und Prädikat in der Aussage): möglich, insofern das Prädikat dem Subjekt nicht widerspricht (non repugnat), wie z. B. ›Sokrates sitzt‹. Das absolut Mögliche ist also das logisch Widerspruchsfreie; absolut unmöglich ist etwas, sofern das Prädikat dem Subjekt widerspricht (repugnat), etwa: ›Der Mensch ist ein Esel‹. Aristoteles definiert: Unmöglich ist etwas, dessen Gegenteil notwendig wahr ist. Damit ist nicht gemeint, dass die Notwendigkeit die natürliche Ordnung sei; es ist nämlich nicht so, dass lediglich hienieden ein Mensch kein Esel sein kann, insofern Mensch ein rationales und Esel ein irrationales Lebewesen ist. Sonst könnte ja in einer möglichen
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Welt ein Esel allenfalls noch über Modallogik sinnieren. Diese Möglichkeit ist also nicht potentia, sondern logisches possibile, Widerspruchsfreies. Mit dieser Unterscheidung kann Thomas seine Antwort formulieren: Gott wird omnipotens genannt, quia potest omnia possibilia absolute. Gott vermag alles Widerspruchsfreie zu erschaffen. Er ist in seinen Möglichkeiten nicht an die Möglichkeit als Vermögen des Wirklichen gebunden und damit nicht an die Wirklichkeit. Die Möglichkeit mutiert also von einer bei Aristoteles noch relativen zu einer absoluten (vgl. 1.3.). Was aber ist Widerspruchsfreies, insofern es von Gott erschaffen werden kann? Thomas argumentiert: Da ein agens immer ein sibi simile verursacht oder hervorbringt, Gott ein agens ist und sein Wesen, seine essentia das esse ist, gilt: Alles, was von Gott geschaffen werden kann, ist ein simile des göttlichen Seins: nämlich ein absolut mögliches, d. h. widerspruchsfreies Seiendes (ens: quidquid potest habere rationem entis). Die absolute Seinsmöglichkeit ist also die Möglichkeit des Geschaffenseins. Und: Da Gottes Macht nicht limitiert ist, ist jedes Widerspruchsfreie etwas, was geschaffen werden kann, also als ens absolute possibile70 ein factibile. Dieses possibile absolute ist also neben seiner Widerspruchsfreiheit auch dadurch charakterisiert, dass es eine Ursache für sein (Da-)Sein, seine Existenz braucht: Das ist seine metaphysische Kontingenz. Bereits Avicenna erweiterte den Aristotelischen Begriff der Kausalität von der Physik, wo er die vierfache causa motus (die intrinsischen Ursachen: causa materialis und causa formalis sowie die extrinischen causa efficiens und causa finalis) bedeutet, auf die Metaphysik, genauer Schöpfungstheologie, indem er gleichsam als fünfte Ursache die Ursache für die Existenz (causa essendi) einführt und das metaphysisch Notwendige als dasjenige bestimmte, was keiner Ursache für seine Existenz, sein esse, bedarf – was also von sich aus ist –, wohingegen das metaphysisch Kontingente einer solchen bedarf, um zu sein.71 Es kann also sein und kann nicht sein. 70 Quaecumque igitur contradictionem non implicant, sub illis possibilibus continentur respectu quorum dicitur Deus omnipotens, Thomas, Summa theologiae I (Anm. 64), q. 25, art. 3. 71 In Avicennas Metaphysica ist das Kapitel 6 thetisch überschrieben: capitulum in initio loquendi de necesse esse et de possibile esse et quod necesse esse non habet causam et quod possibile esse est causatum et quod necesse esse nulli est coaequale in esse nec pendet ab alio in esse. (»Über das notwendige Sein und das mögliche Sein und darüber, dass das notwendige Sein keine Ursache hat, das mögliche Sein verursacht ist und dass das notwendige Sein im Sein keinem andern Sein gleichgeordnet ist, noch auch von einem andern abhängig.«) Alles, was unter das Sein fällt, kann der Intellekt unterscheiden in: Quorum unum est quod, cum consideratum fuerit per se, eius esse non est necessarium; et palam est etiam quod eius esse non est impossibile, alioquin non cadet sub esse, et hoc est in termino possibilitatis. Alterum est quod, cum consideratum fuerit per se, eius esse erit necesse. (»Einiges [von dem Seienden] verhält sich so, dass, wenn es durch es selbst betrachtet wird, sein Sein nicht notwendig ist. Zudem ist es offenkundig, dass sein Sein nicht unmöglich ist, sonst würde es nicht unter das Sein fallen. Solche werden mit dem
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Wir können zusammenfassend formulieren: Das possibile absolutum ist das widerspruchsfreie, logisch in sich mögliche Seiende, als a Deo factibile das Kontingente. Das ist eine ganz neue Konzeption des Seienden und des Seins, die über Duns Scotus, Suarez zu Christian Wolff führt.72 Sie wird in die Metaphysik eingeführt beim Versuch, nicht nur über Wirklichkeiten, sondern auch über Wirklichkeit im Ganzen radikal nachzudenken. Im Konzept der Possibilität geht man über das Gegebene (Wirkliche) und dessen Möglichsein wesentlich hinaus auf die mögliche Welt. Man erweitert den Kreis dessen, was man in seine Überlegungen einbezieht über die Gebundenheit an die prozessuale Welt hinaus auf andere mögliche Welten. Die möglichen Welten sind nicht mehr relativ, d. h. nicht mehr nur alternativ zur wirklichen Welt, nicht mehr bloß solche, die kontrafaktisch im engeren Sinne sind (¬p Mp), wo wir uns also z. B. einfach das, was in unserer wirklichen Welt zufällig wahr ist, als falsch vorstellen. Sie sind auch nicht mehr an die physikalische Notwendigkeit unserer wirklichen Welt gebunden, sondern nur an die logische Widerspruchsfreiheit. Die Notwendigkeit ist lediglich noch das, was in allen möglichen Welten wahr ist. Man verlässt die gegebene wirkliche Welt und geht auf den weiteren und damit grundlegenderen Begriff des widerspruchsfrei Denkbaren über. Die Modalitäten ›Möglichkeit‹ und ›Wirklichkeit‹ sind nicht mehr relativ (auf Wirklichkeit) – sie sind absolut oder rein – und damit auch nicht mehr im statistischen Modell einzufangen. Es gilt vielmehr: Mp:
p ist widerspruchsfrei (Möglichkeit: wahr in mindestens einer möglichen Welt) ¬Mp: p ist nicht widerspruchsfrei, also widersprüchlich (Unmöglichkeit: N¬p: falsch in allen möglichen Welten) ¬M¬p: Das Gegenteil von p ist widersprüchlich (Notwendigkeit: Np: wahr in allen möglichen Welten) M¬p Mp: ¬p ist widerspruchsfrei und p ist widerspruchsfrei (Kontingenz: wahr in mindestens einer möglichen Welt und falsch in mindestens einer möglichen Welt)73 Terminus ›Möglichsein‹ bezeichnet. Andere sind in ihrem Sein notwendig, wenn man sie durch sie selbst betrachtet.«) Danach zeigt er, dass das necesse esse keine causa, das possibile esse jedoch eine causa hat. Avicenna Latinus, Liber de philosophia prima sive scientia divina, hg. v. Gérard Verbeke, Louvain und Leiden 1977, Bd. 1, S. 41. 72 Noch Kant sagt: »Das Wort absolut wird jetzt öfters gebraucht, um bloss anzuzeigen, dass etwas von einer Sache an sich selbst betrachtet und also innerlich gelte. In dieser Bedeutung würde absolutmöglich das bedeuten, was an sich selbst (intern) möglich ist, welches in der Tat das wenigste ist, was man von einem Gegenstande sagen kann.« (Kritik der reinen Vernunft, B 381). 73 ›Möglich‹ ist hier nicht alternativ oder relativ – auch ›p‹ drückt keine Aussage über die wirkliche Welt aus –, sondern absolut möglich oder widerspruchsfrei.
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Man sieht in dieser Bestimmung der Modalitäten keinen Rekurs auf die Wirklichkeit. Und, weil das absolut Mögliche weiter ist als alles, was faktisch war, ist und sein wird, so erstaunt es nicht, dass nun davon gesprochen wird, dass Gott alium mundum et aliam materiam hätte erschaffen können.74 Diese Möglichkeit spricht auch der Pariser Bischof Stefan Tempier 1277 Gott zu, als er den Satz verbot: quod causa prima non posset plures mundos facere.75 Wie weit man sich damit von der aristotelischen Metaphysik wegbewegt hat, zeigt sich in Folgendem: Aristoteles bewies in De caelo und in der Physik, dass, weil das Universum, der Kosmos, aus aller möglichen Materie besteht, es nur eine einzige Welt geben könnte. Dies allerdings – so nun die Schöpfungstheologen gegen Aristoteles – schränke die Allmacht Gottes ein und gebe dem Naturgeschehen zuviel Notwendigkeit oder Determination.76 Diese schöpfungstheologische Neuorientierung und Verabsolutierung des Möglichkeitsbegriffs erlaubt die Relativierung der Notwendigkeit des Naturgeschehens und eröffnet die Möglichkeit anderer Welten, die lediglich durch Widerspruchsfreiheit ausgezeichnet sind. Damit macht erstaunlicherweise gerade die mittelalterliche Schöpfungstheologie den logischen Möglichkeitsbegriff zum Fundament jeder ontologischen Möglichkeit und Kontingenz und initiiert damit eine ontologische Revolution, unter der wir – so denke ich – heute noch stehen.
74 Vgl. Bianchi, Luca und Randi, Eugenio, Vérités dissonantes. Aristote à la fin du Moyen Âge, aus dem Italienischen übers. von Claude Pottier, Freiburg im Uechtland 1993 (Vestigia 11), S. 81. 75 La condamnation parisienne de 1277, hg. v. David Piché, Paris 1999 (Sic et Non), art. 34, S. 90. 76 Pierre Duhem meinte in seiner Schrift Le système du monde. Histoire des doctrines cosmologique de Platon à Copernic, Paris 1954, Bd. 9, S. 380 die neue Physik würde auf diesen Gedanken zurückgehen; vgl. Bianchi/Randi, Vérités (Anm. 74), S. 76 f.
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Gott als Funktion erzählter Kontingenz Zum Phänomen der ›Wiederholung‹ in Hartmanns von Aue Gregorius
wâfen, herre, wâfen über des hellehundes list, daz er uns sô geværic ist! war umbe verhenget im des got daz er sô manigen grôzen spot vrumet über sîn hantgetât die er nâch im gebildet hât? (Gregorius,1 V. 332–338) sînen zorn huop er hin ze gote, er sprach: ›diz ist des ich ie bat […] des hâstû anders mich gewert danne ichs an dich hân gegert. (Gregorius, V. 2608–2616)
Wenn man mit Luhmann annimmt, dass sich die »Funktion der Religion […] auf die Bestimmbarkeit der Welt« bezieht,2 dann wird man sagen können, dass in Hartmanns von Aue Gregorius diese Funktion radikal in Frage gestellt wird – vielleicht nicht im Ergebnis der Handlung, wohl aber in ihrem Verlauf. Gott als Zentrum des Systems Religion erscheint dem Erzähler (Zitat 1) und dem Protagonisten (Zitat 2) undurchschaubar, unberechenbar, unbestimmbar – kontingent. Damit aber stellt sich weniger die Frage nach der ›Schuld‹ (oder ›Nicht-Schuld‹) des Gregorius, die vor allem die ältere Forschung bei ihrer Suche nach textueller Kohärenz umgetrieben hat.3 Das Problem ist viel1 Hier und im Folgenden zitiert nach: Hartmann von Aue, Gregorius, hg. von Hermann Paul. 13., neu bearb. Auflage besorgt von Burghart Wachinger, Tübingen 1984 (ATB 2). 2 Luhmann, Niklas, Religiöse Dogmatik und gesellschaftliche Evolution, in: Karl-Wilhelm Dahm, Niklas Luhmann und Dieter Stoodt (Hgg.), Religion – System und Sozialisation, Darmstadt, Neuwied 1972 (Sammlung Luchterhand 85), S. 15–132, hier S. 21. 3 Die Arbeiten, die sich mit dem Problem der ›Schuld‹ des Gregorius auseinandersetzen, sind derart zahlreich, dass ich hier auf eine Dokumentation verzichten muss; die ältere Forschung instruktiv zusammenfassend: Tomasek, Tomas, Verantwortlichkeit und Schuld des Gregorius. Ein motiv- und strukturorientierter Beitrag zur Klärung eines alten Forschungsproblems im Gregorius Hartmanns von Aue, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 34 (1993),
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mehr Gott selbst, weil er als jene Instanz, welche den Lauf der ›Geschichte‹ letztlich verantwortet, auch verantwortlich ist für das unbewusste ›Schuldigwerden‹ der Protagonisten – mithin für die Kontingenz, der die Handelnden ausgeliefert sind. Es geht mir im Folgenden darum zu zeigen, wie Hartmann gerade durch die Bearbeitung der in seiner Vorlage schon vorgefundenen Wiederholungsstruktur mit den beiden Inzesthandlungen genau diese Konfrontation mit dem Kontingenzproblem hervor treibt – und welche Lösung er dafür anbieten kann. Es wird sich zeigen, dass die Instanz ›Gott‹ am Ende nur dann ihre Funktion erfüllen kann, wenn ihre eigene Unbestimmbarkeit akzeptiert wird.4 Oder ganz einfach gesagt: Nur wer akzeptiert, dass ›Gott‹ nicht zu berechnen ist, kann genau damit rechnen. Ich frage also in eine andere Richtung als Peter Strohschneider und Werner Röcke, deren Beiträge5 derzeit wohl am überzeugendsten kulturanthropologische Konzepte für die Gregorius-Interpretation nutzbar machen. Beiden geht es um die ›Tiefenstruktur‹ des Textes. Röcke abstrahiert dazu durch den Vergleich mit ähnlichen Inzest-Erzählungen basale Muster – er nennt sie »Mytheme« –, welche Hartmann in seine eigene literarische und historische Situation durch eine »Positivierung« des Mythos eingepasst habe. Für StrohS. 33–47, hier S. 33–37 mit Hinweis auf die Forschungsreferate bei Gössmann, Elisabeth, Typus der Heilsgeschichte oder Opfer morbider Gesellschaftsordnung? Ein Forschungsbericht zum Schuldproblem in Hartmanns Gregorius (1950–1971), in: Euphorion 68 (1974), S. 42–80 und Herlem-Prey, Brigitte, Schuld oder Nichtschuld, das ist oft die Frage. Kritisches zur Diskussion der Schuld in Hartmanns Gregorius und in der Vie du Pape Saint Gregoire, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 39 (1989), S. 3–25. Einen Überblick bietet auch Wetzlmair, Wolfgang, Zum Problem der Schuld im Erec und im Gregorius Hartmanns von Aue, Göppingen 1997 (GAG 643). Die folgenden Überlegungen setzen voraus, dass Gregorius an keiner Stelle willentlich sündigt, er hat vielmehr Teil an einer ›existentiellen‹ Schuldhaftigkeit des Menschen, die auch die Möglichkeit einer unwissentlichen Schuld einschließt (so schon King, Keneth Charles, Zur Frage der Schuld in Hartmanns Gregorius, in: Euphorion 57 [1963], S. 44–66). Sucht man dagegen nach einer Möglichkeit, die Buße des Gregorius durch eine bestimmte Verfehlung zu ›erklären‹ (etwa den Weggang von der Klosterinsel u. ä.), dann wird damit auch das thematische Problem aus dem Text getilgt. Die Gegenposition vertritt nach wie vor Ernst, Ulrich, Der Gregorius Hartmanns von Aue: Theologische Grundlagen – legendarische Strukturen – Überlieferung im geistlichen Schrifttum, Köln, Weimar und Wien 2002 (Ordo 7), prägnant zusammengefasst S. 211–213. 4 Mit Luhmann kann man das als »Überführung von unbestimmbarer in bestimmbare Kontingenz« bezeichnen (Luhmann, Religiöse Dogmatik [Anm. 2], S. 29). Allerdings muss hier gesagt werden, dass die Einsicht in eine nahezu völlige Unbestimmbarkeit göttlichen Handelns kaum noch als »Überführung in bestimmbare Kontingenz« verstanden werden kann. 5 Röcke, Werner, Positivierung des Mythos und Geburt des Gewissens. Lebensformen und Erzählgrammatik in Hartmanns Gregorius, in: Matthias Meyer und Hans-Jochen Schiewer (Hgg.), Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. FS Volker Mertens, Tübingen 2002, S. 627–647; Strohschneider, Peter, Inzest-Heiligkeit. Krise und Aufhebung der Unterschiede in Hartmanns Gregorius, in: Christoph Huber, Burghart Wachinger und Hans-Joachim Ziegeler (Hgg.), Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters, Tübingen 2000, S. 105–133.
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schneider gründet die »mythische Struktur«6 der Erzählung auf der unhintergehbar genealogischen Dimension des Inzests, den er abstrakt als Krise der ›Unterscheidung‹ bestimmt. Indem Gregorius zur Heiligkeit gelangt, wird Differenz restituiert – diesmal als grundsätzliche Unterscheidung zwischen dem Profanen und dem Heiligen, was einer Ausstoßung des Inzest-Kindes aus dem genealogischen Diskurs gleichkommt und insofern genealogische Ordnung wiederherstellt. Strohschneiders Gregorius-Lektüre erschließt den Text nicht nur auf eine faszinierend neue Weise, sie besticht auch durch ihre erstaunliche Kohärenz, die aber auch daraus resultiert, dass sie sich – ›im Rücken‹ des mittelalterlichen Autors operierend – dem Text Hartmanns nur dort aussetzen muss, wo es eben ins Deutungskonzept passt.7 Demgegenüber geht es mir gerade nicht um die dem Gregorius-Stoff immer schon eingezeichnete mythische ›Tiefenstruktur‹, sondern um die Differenzqualität, die gerade Hartmanns Bearbeitung von seiner mehr oder minder ›unmittelbaren‹ Vorlage (also auch nicht, wie bei Röcke, von den ›vorgefundenen‹ Mythemen) unterscheidet. Dabei interessiert Hartmann offenbar weniger das dem Stoff inhärente genealogische Problem8 und auch nicht das Heilige als das ›ganz Andere‹,9 sondern eher die Frage nach dem ›Ursprung des Bösen‹, die er immerhin selber stellt (Zitat 1). Auch das weitgehende Ausblenden der von Strohschneider überzeugend gezeigten ›Tiefenstruktur‹ durch Hartmann ist bemerkenswert – jedoch im Folgenden nicht mein Thema. Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die ›Wiederholung‹ des Inzestgeschehens, die der Erzählung ihre grundlegende Struktur gibt.
6 Prägnant: Strohschneider, Inzest-Heiligkeit (Anm. 5), S. 133. 7 Dies ist die nicht vollständig reflektierte Konsequenz einer Interpretation »unterhalb [der] geistlichen wie weltlichen Semantiken« des Textes – und nicht, wie Strohschneider suggeriert, unausweichliche Folge jener perspektivischen Selektion, die mit ›Beobachten‹ eben immer verbunden ist (Inzest-Heiligkeit [Anm. 5], S. 106). 8 Zwar ist die genealogische Ordnung durch den Inzest gestört, aber durch die Ausstoßung des Inzestkindes und durch dessen ›Abschiebung‹ in den Bereich des Heiligen wird sie keineswegs vollständig wiederhergestellt. Die Probleme der konkreten Herrschaftsweitergabe in Aquitanien bleiben ungelöst, ja sie geraten am Ende nicht einmal mehr in den Blick. 9 Hartmanns Erzählung endet in Rom, aber das ist keineswegs (und schon gar nicht »genauer«) die »ewige[] Seligkeit« (Strohschneider, Inzest-Heiligkeit [Anm. 5], S. 109). Es ist vielmehr ein diesseitiger Raum, dem die ›Heiligen‹ nicht entrückt gegenüberstehen, sondern dem sie sich einfügen, indem sie ihre Fähigkeit zur Lösung von Konflikten umsetzen. Hier wird eine konstitutive Mittlerfunktion des ›Heiligen‹ zwischen ›Diesseits‹ und ›Transzendenz‹ erkennbar, welche die einfache Dichotomie ›profan – heilig‹ nicht erfassen kann.
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I. Für den mentalen Wahrnehmungsapparat des Menschen, der wesentlich auf dem (Re)konstruieren von Mustern beruht, ist die Kategorie ›Wiederholung‹ von elementarer Bedeutung: Ohne die Vorstellung, dass sich ›etwas‹ in der Zeit (aber auch im Raum) wiederholt, gäbe es ›für uns‹ weder synchrone (räumliche) noch diachrone (zeitliche) Muster. Dabei läuft die Wahrnehmung von Wiederholungen auf eine Komplexitätsreduktion hinaus (und das ist ja auch ihre Funktion): Tatsächlich nämlich wiederholt sich kein Ereignis und keine Situation ›vollständig‹, vielmehr kann es sich immer nur um Ähnlichkeit handeln. Mindestens von seiner zeitlichen Verortung her unterscheidet sich die Wiederholung vom Erstereignis, und das impliziert auch, dass zur Wiederholung immer auch die Erinnerung an das Erstereignis gehört, während dieses selbst insofern anders war, als es eben ›neu‹ erschien. Die Wahrnehmung von Ähnlichkeit wiederum beruht auf der mentalen Selektion bestimmter Wahrnehmungen, die als relevante Merkmale eines Ereignisses aufgefasst werden. Andere Merkmale, die womöglich eher Unterschiede indizieren würden, werden dagegen als irrelevant ausgesondert. Besonders wichtig ist die Kategorie Wiederholung für menschliches Erfahrungslernen. Ereignisse, die in sich selbst als kausale Zusammenhänge aus Ursache(n) und Wirkung(en) wahrgenommen werden (Typus: ›Ich habe etwas angestellt und werde deshalb bestraft‹), können in ihrer Wiederholung mental vorweggenommen werden (›Wenn ich wieder etwas anstelle, werde ich wieder bestraft werden‹). ›Lernen‹ bedeutet in diesem Zusammenhang, aus solchen Erfahrungen Regeln für mögliche Wiederholungen abzuleiten (›Wenn ich etwas anstelle, werde ich bestraft‹ – oder: ›Wenn ich etwas anstelle, sollte ich mich nicht erwischen lassen‹). Wer so lernt, verknüpft bestimmte Voraussetzungen mit bestimmten Folgen und nimmt an, dass diese Verknüpfung auch für künftige ähnliche ›Ereignisse‹ (also für Wiederholungen des ersten Ereignisses) gilt. Je häufiger die Verknüpfung zwischen Ursache und Wirkung sich dabei in der Erfahrung wiederholt, desto sicherer gehen wir von der Gültigkeit unserer Vorstellung über diesen Zusammenhang aus. Letztlich entstehen so ›Ordnungsvorstellungen‹ (bzw. es werden sozial vorgegebene Ordnungsvorstellungen auf diese Weise eingeübt). Wir finden uns also in unserer Umwelt u. a. auch deshalb zurecht, weil wir bestimmte Situationen und Ereignisse als Wiederholungen von schon erlebten Situationen oder Ereignissen wahrnehmen und annehmen, dass wieder die gleichen Handlungen von uns gefordert sind bzw. erwartet werden wie früher. Andererseits – und dies ist für das Folgende besonders wichtig – ermöglichen uns unsere Annahmen über den Kausalzusammenhang zwischen bestimmten Ursachen und Wirkungen auch prospektive Handlungskorrek-
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turen. Wenn eine bestimmte Handlung früher zum Misserfolg geführt hat, dann sollte eine Veränderung der als relevant angesehenen Faktoren (also zum Beispiel bestimmter Handlungen) bei der Wiederholung zum Erfolg führen. Entscheidend ist für den Erwerb dieser Korrekturkompetenz insbesondere die Annahme von verlässlichen (meist kausalen) Beziehungen zwischen Ursache(n) und Wirkung(en). Nur so kann man davon ausgehen, dass in der Wiederholung gleiche Handlungen wieder zu gleichen Ergebnissen führen oder korrigierte Handlungen auch verbesserte Resultate zeitigen. Was aber geschieht, wenn die Erwartung, dass bei einer Wiederholung bestimmter Voraussetzungen das Gleiche passiert, enttäuscht wird? Oder wenn trotz Handlungskorrektur doch nicht das erwartete Resultat eintritt, sondern das gleiche wie zuvor oder aber ein völlig anderes, mit dem man nicht gerechnet hat? Es stellt sich dann heraus, dass bestimmte Ursachen nicht in jeder Wiederholung die gleichen Ergebnisse produzieren, sondern ganz verschiedene, ohne dass mit Hilfe der bisherigen Vorstellungen über den kausalen Zusammenhang von Ursache und Wirkung sicher vorausgesagt werden könnte, was passieren wird. Das Resultat wird damit ›unverfügbar‹, es gibt ›Möglichkeiten‹, aber keine Sicherheit – kurz: Aussagen über den Zusammenhang zwischen Ursache und Resultat erweisen sich in solchen Fällen als kontingent. Die (scheinbare) Wiederholung ist der ›Ort‹, an dem diese Kontingenz erkennbar wird. Etwas abstrakter formuliert: Der Satz ›Aus A folgt B‹ erweist sich dadurch als kontingent, dass er zu einem Zeitpunkt t1 wahr ist, zu einem Zeitpunkt t2 jedoch der Satz ›Aus A folgt nicht B‹ zutrifft. Es lässt sich also eine logische Verbindung zwischen den Begriffen ›Wiederholung‹ und ›Kontingenz‹ herstellen:10 Kontingenz tritt auf, wenn in der Wiederholung eines Ereignisses die aus der Ersterfahrung gewonnenen Annahmen über den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung außer Kraft gesetzt werden; die Ergebnisse erscheinen dann als unabsehbare und unverfügbare Möglichkeiten, nicht mehr aber als notwendige Folgen bestimmter Voraussetzungen.11 Solche an (partielle) Wiederholungen geknüpfte Kontingenzerfahrungen sind immer relativ zu den Ordnungsvorstellungen, 10 Es geht mir also um einen Kontingenzbegriff, der die Zeitdimension wesentlich berücksichtigt. Vgl. zum Zusammenhang von ›Kontingenz‹ und ›Zeit‹ z. B. Thomas de Aquino, In Duodecim Libros Metaphysicorum Aristotelis Expositio, hg. von Raymundus Spiazzi, Turin 3 1977, S. 258 f. (Lib. V, lect. 14, Nr. 973). 11 Damit entspricht der hier verwendete Kontingenzbegriff grundsätzlich der aristotelischen Tradition: Kontingent ist, was auch anders möglich ist (Aristoteles, Met. IX.3, 1047a20–26). Bei Duns Scotus (Ioannes Duns Scotus, Opera Omnia, hg. von Karl Balić, Bd. 2, Vatikanstadt 1950, S. 178 f. [Ordinatio I, dist. 2, pars 1, q. 1–2, Op. omnia, Ed. Vatic. 2, Nr. 86]) ist kontingent verursacht dasjenige, dessen Gegenteil entstehen kann, wenn jenes entsteht. Dies lässt sich umformulieren und damit mit dem Konzept ›Wiederholung‹ verknüpfen: Kontingent verursacht ist das, was in einem Fall entstanden ist, in einem zweiten, gleichartigen Fall aber nicht entstanden ist; vielmehr ist nun das Gegenteil eingetreten.
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die aus dem Erstereignis entwickelt wurden oder die auf dieses als bereits akzeptierte Systemvorgaben appliziert wurden. Die Zerstörung solcher Ordnungsvorstellungen durch Kontingenzerfahrung erzeugt Irritationen, bisweilen auch eine völlige Demoralisierung.12 Solche Irritationen können nur auf zweierlei Weise überwunden werden: Entweder wird festgestellt, dass die zweite Situation der ersten gar nicht ähnlich war, dass es sich also gar nicht um eine Wiederholung handelte bzw. die ›falschen‹ Ähnlichkeitsmerkmale als situationsbestimmend selektiert wurden; oder aber es werden neue Ordnungsvorstellungen konstruiert.13 In diesen müssen die bisherigen Vorstellungen über den Zusammenhang von Ursache und Wirkung so revidiert werden, dass auch das Kontingenzereignis integriert werden kann. Wer aber erzeugt überhaupt Wiederholungen, seien sie nun mit Irritationen verbunden oder affirmativ? Diese Frage stellt sich auch und vor allem im Bereich des Erzählens. In einer erzählten – und das heißt: in einer dem Erzähler im Prinzip verfügbaren – Welt können Wiederholungen ja grundsätzlich durch den Erzähler ›herbeigeführt‹ werden. Allerdings unterliegt diese Möglichkeit in den verschiedenen historischen Epochen und in unterschiedlichen narrativen Gattungen je spezifischen Restriktionen. In der Moderne beispielsweise kollidieren allzu deutlich markierte Wiederholungen häufig mit dem Glaubwürdigkeitskriterium.14 Es ist mehr als bekannt, dass Wiederholungsstrukturen für eine Vielzahl von mittelalterlichen Erzählungen konstitutive Bedeutung haben: Der Doppelweg des Artusromans ist nur ein im akademischen Betrieb besonders präsentes Beispiel.15 An der sogenannten Julianus-Episode aus der Kaiserchronik
12 Die Entwicklungspsychologie beschreibt solche ›demoralisierenden‹ Kontingenzerfahrungen, und zwar ebenfalls im Zusammenhang mit dem Problem der Wiederholung: Das Kind, das für ein und dasselbe Verhalten einmal belobigt und einmal bestraft wird, erlebt eine folgenschwere Irritation. Ordnungsvorstellungen (die Eltern sind gerecht, konsequent, berechenbar usw.) geraten ins Wanken, neue und womöglich problematische werden entwickelt. 13 Vgl. dazu Thomas S. Kuhns Begriff des ›Paradigmenwechsels‹, dem ein ganz ähnliches Modell (wissenschaftlichen) Erkennens und ›Lernens‹ zugrunde liegt; Kuhn, Thomas S., Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt am Main 21976 (stw 25). 14 Bei mittelalterlichen Erzählungen war das Glaubwürdigkeitskriterium für das primäre Publikum vermutlich sehr viel weniger relevant. Eine für uns besonders ›konstruiert‹ wirkende (und daher unwahrscheinliche) Wiederholung konnte dann autorisiert sein, wenn nicht nur der Autor, sondern (angeblich) auch Gott sie verursacht hat. Dann unterläuft das Unwahrscheinliche nicht etwa die Autorität des Erzählens, sondern zeigt im Gegenteil die Allmacht Gottes. Deshalb ist ›Wunderbares‹ auch im Gregorius gerade nicht Ausweis von erzählerischer Souveränität, sondern von göttlicher Macht; anders Haferland, Harald, Metonymie und metonymische Handlungskonstruktion. Erläutert an der narrativen Konstruktion von Heiligkeit in zwei mittelalterlichen Legenden, in: Euphorion 99 (2005), S. 323–364, hier S. 358. 15 Zum ›Überdruss‹ am Doppelweg in der Mediävistik vgl. Schmid, Elisabeth, Weg mit dem Doppelweg. Wider eine Selbstverständlichkeit der germanistischen Artusforschung, in:
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(V. 10634–11137)16 lässt sich gut zeigen, wie Wiederholungen in einem mittelalterlichen Text motiviert und damit auch autorisiert werden können.17 Die Doppelung beruht bei diesem Beispiel im Wesentlichen auf einer Namensgleichheit, die zugleich eine Zweiteilung18 der ganzen Episode bewirkt. In der Kaiserchronik heißt nämlich nicht nur der heidnische Abgott, den der Kaiser Julianus als Handlanger des Teufels zum Mittelpunkt einer heidnischen Staatsreligion macht, Mercurius, sondern auch der wiedererweckte Märtyrer, der im zweiten Teil der Episode den Sieg für die Christen davonträgt. Diese Namensgleichheit geht, wie überzeugend gezeigt wurde,19 sehr wahrscheinlich auf den anonymen Autor der Kaiserchronik zurück, der sich hier aus ganz unterschiedlichen, historisch keineswegs synchronen Legenden bedient hat, um eine Doppelung herzustellen, bei der die Überlegenheit des christlichen Heiligen – und damit des Christengottes – gegenüber dem heidnischen Abgott und dem Teufel deutlich wird. Obwohl die Namensgleichheit und damit die Wiederholungsstruktur hier auf den Autor des Textes zurückgeführt werden kann, ist dieser jedoch für den mittelalterlichen Rezipienten nicht das eigentliche Subjekt dieser Wiederholung. Vielmehr erweist sich in der Handlungsführung das Wirken Gottes. Der Autor kommentiert dies in genau diesem Sinn: Nu wer mahte diu wunder elliu hân getân, wan der den aller êristen man gescuof von prôder erde und wil, daz er aver ze nihte werde? (Kaiserchronik, V. 11130 ff.)
Für den Rezipienten hat diese Wiederholung einen Urheber innerhalb der erzählten Welt selbst, sie hat ein intradiegetisches Subjekt, nämlich Gott.20 Der Friedrich Wolfzettel (Hg.), Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze, Tübingen 1999, S. 69–85. 16 Textausgabe: Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen, hg. von Edward Schröder, Hannover 1892 [Nachdruck 1984] (MGH Dt. Chroniken 1,1). 17 Vgl. zum Folgenden Stock, Markus, Kombinationssinn. Narrative Strukturexperimente im Straßburger Alexander, im Herzog Ernst B und im König Rother, Tübingen 2002 (MTU 123), S. 37–42. 18 Nöther, Ingo, Die geistlichen Grundgedanken im Rolandslied und in der Kaiserchronik, Hamburg 1970 (Geistes- und sozialwissenschaftliche Dissertationen 2), S. 209. 19 Stock, Kombinationssinn (Anm. 17), S. 40 f., mit Hinweis auf Ohly, Friedrich, Sage und Legende in der Kaiserchronik. Untersuchungen über Quellen und Aufbau der Dichtung, Münster 1940 [Nachdruck 1968] (Forschungen zur deutschen Sprache und Dichtung 10), der dies zuerst gesehen hat. 20 Vgl. Stock, Kombinationssinn (Anm. 17), S. 42: »Dem abgot Merkur kann Gott als ›Herr der Geschichte‹, sowohl dieser Narration als auch der Heilshistorie, einen richtenden Heiligen Merkur entgegenstellen.«
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Autor erscheint demgegenüber als ein Berichterstatter, der von einem Wunder erzählt, das nicht er erfunden oder vollbracht hat, sondern Gott.21 Die Wiederholung ist insofern Ausdruck einer von Gott stammenden Ordnung.22 Zweifellos handelt es sich hier um eine ›affirmative‹ Wiederholung: Die Ordnungsvorstellung des Rezipienten, nach der der Gott der Christen mächtiger ist als seine Feinde, wird bestätigt, das Wirken Gottes wird gerade an der Namensgleichheit offensichtlich, die kein Zufall ist, sondern ein Wunder. Anders funktioniert die ›Autorisierung‹ von Wiederholungen durch ein Subjekt im frühen Artusroman, etwa in Erec und Enide Chrétiens de Troyes.23 Die Wiederholung besteht hier darin, dass in einer ersten Situation das Verhalten des Protagonisten nicht oder nur scheinbar zu einer erfolgreichen Lösung führt, tatsächlich aber zu einer Krise. In einer zweiten Handlungssequenz, die der ersten ähnlich ist und deshalb als deren Wiederholung erscheint, verändert der Protagonist sein Verhalten, was dann zu einem positiven Ergebnis führt. Es geht mir hier nicht darum zu bestimmen, worin eigentlich die relevante Verhaltensänderung besteht; jedenfalls handelt es sich auch hier um eine systemaffirmative Wiederholung, denn sie bestätigt die Annahme einer berechenbaren Verknüpfung zwischen Ursache und Wirkung, zwischen Handlung und Handlungserfolg: Die Welt des frühen Artusromans ist insofern ›in Ordnung‹. Erzeugt hat diese Ordnung allerdings kein Gott, auch keiner der Protagonisten innerhalb der erzählten Welt, sondern der Autor, im Falle von Erec und Enide Chrétien de Troyes. Die beiden Beispiele Kaiserchronik und Erec und Enide repräsentieren, was das Subjekt der Wiederholung angeht, zwei grundsätzlich unterschiedliche Typen von narrativer ›Wiederholung‹ und damit auch zwei Extreme in einer möglichen Typologie von Erzählen im 12. Jahrhundert.24 In der Kaiserchronik 21 Insofern gibt es in geistlicher Literatur keine »Souveränität« des Erzählens, wie Haferland in Bezug auf das Schlüsselwunder im Gregorius annimmt; vielmehr kann der Erzähler hier nur deshalb scheinbar souverän über das Kriterium der Wahrscheinlichkeit hinweggehen, weil das wunderbare Wirken Gottes dadurch noch stärker zum Ausdruck kommt. Solche Wunder sind gerade nicht »metonymisch« gemeint, sie bedeuten nicht etwas jenseits des Erzählten, sondern sind selbst unmittelbarer Ausdruck göttlichen Wirkens in der erzählten Welt. Haferland, Metonymie (Anm. 14). 22 Sie trägt deshalb auch nicht nur ›Bedeutung‹, sondern ist Ausdruck einer spezifischen Beschaffenheit der erzählten Welt. Nach einer Unterscheidung Gérard Genettes wird man sagen können, dass die Wiederholung hier nicht zur Erzählung (récit) gehört, sondern zum Erzählten (histoire). 23 Text: Chrétien de Troyes, Erec und Enide, übers. und eingeleitet von Ingrid Kasten, München 1979 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 17). 24 An anderer Stelle soll diese Typologie noch weiter differenziert werden, für die Zwecke dieses Beitrags mag sie in dieser sehr vereinfachten Form genügen. – Die Unterscheidung zwischen intradiegetischer und extradiegetischer Autorisierung von Wiederholungen überschneidet sich teilweise, aber keineswegs vollständig mit dem sehr erhellenden Modell, das Matías
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sorgt Gott als ein innerhalb der erzählten Welt, d. h. intradiegetisch Handelnder für die Wiederholung. Sie geht demnach auf die Intention eines intradiegetischen Subjekts zurück. Prinzipiell dürfte dies der ›Normaltyp‹ von narrativen Wiederholungen in geistlicher Literatur sein (sofern es sich nicht um Wiederholungen handelt, die von einem menschlichen Protagonisten intentional herbeigeführt werden und damit ›ethisch‹ relevant sind25). Damit sind gewisse Grenzen für das Konzept Autorschaft in geistlicher Literatur impliziert: Der Autor ist (oder geriert sich) als ein Berichterstatter, der erzählt, was ein anderer – nämlich Gott26 – in der erzählten Welt getan und bewirkt hat. Daraus folgt auch, dass diese erzählte Welt nicht als Fiktion gesehen werden will, sondern als Teil der (Heils)geschichte – denn Gott kann letztlich nicht zu einer nur fiktiven Welt gehören. Ganz anders stellen sich die logischen Relationen zwischen Wiederholungssubjekt, erzählter Welt und Autor im Falle von Erec und Enide dar. Als Hervorbringer oder Bewirker von Wiederholungen kommt Gott hier in auffälliger Weise nicht vor.27 Stattdessen behauptet der Autor im Prolog, dass allein er dieser Geschichte ihre Struktur gegeben habe, indem er sie aus einzelnen Elementen gemäß einer mout bele conjointure (V. 14) zusammengefügt habe. Selbst wenn dies nicht – wie vor allem Haug mit Nachdruck behauptet hat28 – die Wiederholungsstruktur im engeren Sinn meinen sollte, so muss Martínez für die Beschreibung der (komplementären) Motivationsprinzipien in der FaustinianGeschichte der Kaiserchronik entwirft. Martínez differenziert Lugowskis Begriffe der Motivation ›von vorn‹ und ›von hinten‹ und unterscheidet kausale, kompositorische und finale Motivation; das Prinzip der finalen Motivation sei »transzendent« (Gott motiviert innerhalb der erzählten Providentia-Welt, dies entspricht etwa meinem Begriff des intradiegetischen Subjekts), das der kompositorischen Motivation »transzendental« (der Erzähler motiviert ›von außerhalb‹ der Fortuna-Welt). Martínez’ Modell eignet sich sehr gut für die Erklärung des letztlich hybriden Erzählens in der Faustinian-Geschichte, erzeugt aber bei der Übertragung auf den Gregorius das Problem, dass hier eben keine ›Fortuna-Welt‹ neben der ›Providentia-Welt‹ steht (z. B. im Sinne von vor/nach der Bekehrung zum Christentum, der Begegnung mit Petrus o. ä.). Auch die Wiederholungen sind deshalb nicht ›kompositorisch‹ (d. h. ›nur‹ von einem Erzähler motiviert), sondern letztlich auf Gott zurückzuführen. Vgl. Martínez, Matías, Fortuna und Providentia. Typen der Handlungsmotivation in der Faustinianerzählung der Kaiserchronik, in: Ders. (Hg.), Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen, Paderborn u. a. 1996 (Explicatio), S. 83–100, hier v. a. S. 96. 25 Dies wäre zum Beispiel der Fall, wenn der Märtyrer Mercurius gerade wegen seines Namens dazu motiviert würde, gegen den gleichnamigen Abgott zu kämpfen; der Anteil Gottes wäre dann auf die Schaffung der Voraussetzung (nämlich der Namensgleichheit) beschränkt. 26 Auch andere Subjekte sind denkbar und können vorkommen: Etwa der Teufel, der Tod, ein Heiliger, der Wunder bewirkt, u. a. Ich vereinfache im Text zugunsten einer besseren Nachvollziehbarkeit. 27 Die wenigen Stellen, an denen bemerkt wird, dass Gott selbst in die Handlung eingreift, motivieren jeweils keine der strukturgebenden Doppelungen. 28 Haug, Walter, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, Darmstadt 1985 (Germanistische Einführungen), prägnant S. 102.
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doch zugegeben werden, dass abgesehen vom Autor eigentlich kein ›Handelnder‹ zu erkennen ist, der etwa dafür sorgt, dass Erec Guivret le petit ein zweites Mal begegnet und sich dann bewähren kann (also die Möglichkeit zu einer Handlungskorrektur mit dementsprechend ›besserem‹ Ergebnis erhält). Diese Verschiebung im Bereich der Instanz, welche die in der Wiederholung etablierte Ordnung garantiert, scheint mir das wirklich Neue in Erec und Enide zu sein; es handelt sich dabei weniger um die ›Erfindung von Fiktionalität‹, vielmehr dürfte ›Fiktionalität‹ hier allenfalls ein Epiphänomen eben jener markanten Verschiebung der Autorisierungsinstanz von ›Ordnung‹ weg von einem intradiegetischen hin zu einem extradiegetischen Subjekt sein – einer Ordnung, die sich in der Wiederholungsstruktur erweist und realisiert. Beide Typen von Wiederholung – der ›geistliche‹ mit der Autorisierung durch Gott (2) und der ›weltliche‹ mit der Autorisierung durch einen strukturgebenden Autor (1) – implizieren wesentliche Probleme, um die es mir im Folgenden (auch) geht: (1) Auf die Problematik der Autorisierung von Handlungswiederholungen durch den Autor, wie sie etwa in Erec und Enide vorliegt, kann ich im Rahmen dieses Beitrags nur kurz hinweisen. Der Autor kann hier strukturrelevante erzählte Ereignisse nur ›ermöglichen‹ (also sich verfügbar machen), indem er sie zufällig geschehen lässt. Ich kann an dieser Stelle nur andeuten, dass dies für einen mittelalterlichen Rezipienten gerade vor dem Hintergrund dessen, was er aus der geistlichen Literatur kennt, sehr unbefriedigend sein konnte. Immerhin deuten die Wiederholungen ja auf eine Welt, die grundsätzlich ›in Ordnung‹ ist, in der Handlungskorrekturen tatsächlich zu einem optimierten Ergebnis führen. Es handelt sich also um eine Welt, in der Kontingenz als Moment der Irritation gerade keinen Platz hat. Diese Ordnung lässt sich aber narrativ nur durch Zufälle realisieren; Kontingenz kommt folglich nur deshalb nicht vor, weil aneinander gereihte Zufälle sie nicht in Erscheinung treten lassen.29 Was aber ist eine ›Ordnung‹, was eine Kontingenzbewältigung ›wert‹, die nur auf Zufällen beruht? Handelt es sich bei einer ›zufälligen Ordnung‹ nicht um einen Widerspruch in sich? Hier wird deutlich, dass die Autorisierung von Wiederholungen innerhalb der erzählten Welt allein durch eine extradiegetische Instanz – nämlich den Autor – gerade unter den Voraussetzungen mittelalterlichen Erzählens zu kaum auflösbaren Aporien führt. Man kann hier für den frühen Artusroman von einem ›intradiegetischen Autorisierungsdefizit‹ sprechen. (2) Im Rahmen des vorliegenden Aufsatzes interessieren mich allerdings eher die Fragen, die an den geistlichen Erzähl- und Autorisierungstypus ge29 An dieser Stelle wird übrigens der Unterschied zwischen ›Zufall‹ und ›Kontingenz‹ wünschenswert deutlich erkennbar.
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stellt werden können. Hier werden Wiederholungen nicht durch ein Autorisierungsdefizit zum Problem, sondern eher durch einen Autorisierungsüberschuss. Denn wenn solche Wiederholungen für die Protagonisten der Erzählung mit Kontingenzerfahrungen, d. h. mit Irritationen verbunden sind, dann erscheint das Subjekt der Ereigniswiederholung – also Gott – als Urheber eben dieser Kontingenzerfahrung; er wird zu einer ›irritierenden (weil kontingenten) Autorität‹, der auch der Autor als tatsächlicher oder angeblicher ›Berichterstatter‹ mit Unverständnis gegenüberstehen kann (Zitat 1). Hartmann von Aue hat im Gregorius durch die Art und Weise, wie er seine altfranzösische Vorlage, die Vie du Pape Saint Grégoire, im Hinblick auf die Doppelung von erstem und zweitem Inzest bearbeitet hat, genau diese Problematik herausgestellt.
II. Aus überlieferungstechnischen Gründen ist es nicht möglich, Hartmanns Bearbeitungsmaßnahmen exakt zu rekonstruieren.30 Der altfranzösische Text der Vie liegt heute in Handschriften zweier verschiedener Fassungen (*A und *B, repräsentiert von A1 und B1) vor, die offenbar beide nicht die Vorlage Hartmanns repräsentieren. Herlem-Prey hat nach einer ausführlichen Untersuchung die These aufgestellt, dass Hartmann nicht eine Handschrift der Redaktion *A oder *B, sondern den (heute verlorenen) Archetyp (also *AB)31 vor sich hatte. Hartmanns Text weise nämlich Merkmale beider Überlieferungszweige auf. Die Arbeit von Herlem-Prey ist angesichts der Materialfülle nicht leicht zu überprüfen, die methodologische Konsequenz bleibt jedoch stets die gleiche, egal ob man Herlem-Preys Ergebnis akzeptiert oder anzweifelt: Solche Passagen des altfranzösischen Textes, die von ›A vs. B Varianz‹
30 Zum Folgenden ausführlich: Herlem-Prey, Brigitte, Le Gregorius et La vie de Saint Grégoire. Détermination de la source de Hartmann von Aue à partir de l’étude comparative intégrale des textes, Göppingen 1979 (GAG 215); kritisch dazu: Burgio, Eugenio, La fonte del Gregorius di Hartmann von Aue. In margine ad alcune recenti richerche, in: Medioevo Romanzo 16 (1991), S. 141–187. Einen grundlegenden inhaltlichen Vergleich bietet: Schottmann, Hans, Gregorius und Grégoire, in: ZfdA 94 (1965), S. 81–108. 31 Ich weise darauf hin, dass dieser nicht einfach mit dem ›Original‹ der Vie gleichgesetzt werden kann, sondern allein den Endpunkt unserer Rekonstruktionsmöglichkeiten markiert. *AB kann über für uns heute stemmatologisch nicht mehr greifbare Zwischenstufen auf den Originaltext zurückgehen, die natürlich auch als Vorlagen für Hartmanns Bearbeitung in Frage kommen. Es kann also sein, dass Abweichungen Hartmanns von *AB nicht auf Hartmann, sondern auf Veränderungen des *AB-Redaktors gegenüber seiner Vorlage (die dann auch Hartmanns Vorlage war) zurückgehen.
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betroffen sind und bei denen Hartmann eine ›dritte‹, sowohl von A als auch von B abweichende Version bietet, sind für die Analyse der Bearbeitungstendenz Hartmanns nicht oder nur mit großer Vorsicht brauchbar. In solchen Fällen ist nämlich nicht bestimmbar, wie Hartmanns Vorlage ausgesehen hat: Hartmann kann hier die Fassung seiner Vorlage (abgesehen natürlich vom sprachlichen Transfer) bewahrt haben, während sowohl *A als auch *B sekundäre Veränderungen zeigen. Obwohl also hier heute besonders ›viel‹ Varianz zu sehen ist, kann es sein, dass gerade solche Passagen gar keine Hartmannschen Veränderungen oder Bearbeitungen zeigen. Geht entweder *A oder *B mit Hartmann zusammen, dann dürfte die Lesart der jeweils anderen Redaktion sekundär sein – auch hier also keine für die gestellte Frage relevante Varianz. Letztlich bleiben nur solche Passagen übrig, bei denen *A und *B weitgehend zusammengehen, Hartmann aber (inhaltlich) abweicht. Nur hier lässt sich wahrscheinlich machen, dass solche Unterschiede auf den Bearbeiter Hartmann zurückgehen.32 Trotz dieser methodisch notwendigen Kautelen lassen sich jedoch klare Aussagen über Hartmanns Bearbeitung machen:33 Die französische Vie lässt keinen Zweifel daran, dass das Unglück einen identifizierbaren Auslöser hat: Die körperliche Attraktivität der Schwester, so der Text schon in Vers 71, war für das Mädchen ein Unglück und brachte ihr nur Kummer. Mais sa grant biauté mar vit, Quar a grant duel li revertit. (Vie, V. 71 f.)34
32 Auch das ist nicht zwingend so, jedoch würde die Einbeziehung weiterer möglicher Szenarien die hier angestrebte Untersuchung letztlich unmöglich machen. Vgl. zu diesem Problem: Hausmann, Albrecht, Mittelalterliche Überlieferung als Interpretationsaufgabe. ›Laudines Kniefall‹ und das Problem des ›ganzen Textes‹, in: Ursula Peters (Hg.), Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150–1450, Stuttgart und Weimar 2001 (Germanistische Symposien. Berichtsbände XXIII), S. 72–95. 33 Der folgende Textvergleich überschneidet sich in den ausgewählten Textstellen und teilweise auch in der Interpretation der Befunde vielfach mit der sehr aufschlussreichen Arbeit von Kasten, Ingrid, Schwester, Geliebte, Mutter, Herrscherin: Die weibliche Hauptfigur in Hartmanns Gregorius, in: PBB 115 (1993), S. 400–420. – Das Folgende sollte auch zeigen, dass Hartmann bei genauerem Blick sehr wohl mehr ist als »ein getreuer Vermittler seiner französischen Vorlage«, der »den ›Geist der Erzählung‹ adäquat zu interpretieren versteht«, wie Haferland, Metonymie (Anm. 14), S. 357 annimmt. 34 »Aber ihre große Schönheit war ihr Unglück, denn sie brachte ihr großen Kummer.« Alle Übersetzungen entsprechen der Übersetzung von Ingrid Kasten in der hier zitierten Textausgabe: La vie du pape saint Grégoire ou La légende du bon pécheur, übers. und eingeleitet von Ingrid Kasten, München 1991 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 29). Zu vergleichen ist: La Vie du Pape Saint Grégoire. Huit versions de la légende du bon pécheur, hg. von Hendrik Bastiaan Sol, Amsterdam 1977.
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Diese auktoriale Aussage wird durch die Rede des Vaters auf dem Sterbebett auch aus der Figurenperspektive bekräftigt. Offenbar resultiert aus der Schönheit eine Gefährdung, gegen die der Vater zu Lebzeiten durch Verheiratung der Tochter hätte Vorkehrungen treffen sollen. In der französischen Vie bleibt dies die einzige Sorge des Vaters; der Sohn ist ja durch das reiche Erbe materiell genügend abgesichert. Hartmann hat seine Vorlage in diesem Bereich deutlich verändert. Die Schönheit des Mädchens spielt bei ihm zunächst keine herausgehobene Rolle; vielmehr sind beide Kinder auffallend schön: diu wâren gelîche sô rehte wünneclîche gerâten an dem lîbe daz einem herten wîbe ze lachenne wære geschehen ob si si müese an sehen (Gregorius, V. 203–208)
Hartmann macht in seiner Übertragung durch mehrere Maßnahmen deutlich, dass es hier nicht wie in der Vie um sexuell konnotierte weibliche Attraktivität geht (vgl. Vie, V. 69; 78). Er betont die Schönheit beider Kinder (gelîche) und imaginiert als Betrachter dieser Schönheit nicht einen Mann, sondern eine Frau (ein hertes wîp), deren Reaktion nicht sexuelles Begehren, sondern Freude (lachen) wäre. Auch in der Rede des Vaters auf dem Sterbebett hat Hartmann die Gewichte gegenüber der Vie verschoben. Der Vater wendet sich bei Hartmann deutlich stärker an beide Kinder, der Sohn spielt als Adressat einer von Hartmann offenbar hinzugefügten, religiös fundierten Verhaltenslehre eine größere Rolle als in der Vie. Der Vater kümmert sich um beide Kinder, nimmt beide bei der Hand (Gregorius, V. 243); die Sorge um die materielle Absicherung der Tochter wird dadurch neben die Sorge um den Sohn und sein künftiges Verhalten als Landesherr gestellt. Eine besondere Gefährdung der Tochter aufgrund ihrer Schönheit sieht der Vater offenbar nicht. Wesentlich deutlicher als in der Vie wird bei Hartmann die enge emotionale Bindung zwischen dem Vater und seinen Kindern in den Mittelpunkt gerückt. Die Voraussetzungen für den ersten Inzest sind also in der Vie und in Hartmanns Text durchaus unterschiedlich: Während in der Vie die Schwester von vornherein durch ihre Attraktivität einerseits gefährdet erscheint, andererseits aber auch selbst für andere eine Gefahr darstellt – und damit von Beginn an eine misogyne Färbung in den Text kommt –, besteht die besondere Problematik des Geschwisterpaares bei Hartmann zunächst allein im frühen Tod des Vaters und in der dadurch bedingten ›geschwisterlichen‹ Lebensführung der beiden Waisen ohne regulierende Eingriffe seitens der Erwachsenen.
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Die Relativierung der weiblichen Schönheit als auslösendes Moment für den ersten Inzest setzt sich bei Hartmann weiter fort.35 Die Vie hebt immer wieder die konkret sexuelle Komponente hervor: Das häufige – zunächst ganz geschwisterliche – Küssen gibt dem Teufel die Möglichkeit, die Geschwisterliebe auf Seiten des Bruders in sexuelle Lust zu verkehren. Hartmann bietet dagegen eine weitaus komplexere und abstraktere Motivation für den ersten Inzest. Vier Faktoren wirken zusammen: Die Liebe (minne) des Bruders zur Schwester, die Schönheit der Schwester, die üble Absicht des Teufels und die jugendliche Unerfahrenheit der Geschwister. Erst in ihrem Zusammenspiel und durch den Einfluss des Teufels wirken sich diese Faktoren negativ aus; für sich genommen erscheinen minne und schoene, potentiell aber auch kintheit – im Sinne von ›Unschuld, Naivität‹ – durchaus positiv. Der Teufel pervertiert diese Faktoren zur sexuellen Lust (daz er benamen gedâhte / mit sîner swester slâfen, Gregorius, V. 330 f.). Offensichtlich versucht Hartmann, die Protagonisten zu entlasten; ihr Verhalten ist erklärbar und von Motiven geleitet, die an sich nicht verwerflich sind. Diese Bearbeitungstendenz Hartmanns setzt sich durch die ganze Elterngeschichte hindurch fort. Als der Bruder seine Schwester vergewaltigt, erfährt man sowohl in der Vie als auch bei Hartmann vom Dilemma des Mädchens: Soll sie still sein – und damit den Inzest geschehen lassen – oder aber um Hilfe rufen – und damit Schande über ihren Bruder bringen? In der Vie ist das Schweigen der Schwester offenbar Resultat einer Entscheidung für die erste Option; das Mädchen macht sich dadurch letztlich mitschuldig, und entsprechend kommentiert der Erzähler: Ce fu del pis que faire pot (Vie, V. 200).36 Hartmann reduziert diese potentielle Mitschuld, indem er das Stillhalten des Mädchens nicht als Ergebnis einer (freien) Entscheidung, sondern als Folge des allzu langen Nachdenkens über die – in der Tat dilemmatische – Alternative darstellt: alsus versûmde si der gedanc, unz daz er mit ir geranc, wan er was starc und si ze kranc, daz erz âne der guoten danc brâhte ûf ein endespil. (Gregorius, V. 391–395)
Die Schwester trifft hier keine Entscheidung, vielmehr führt ihr Hin- und Herdenken zu einer Entscheidungsunfähigkeit, deren Resultat das Stillhalten ist. Deshalb kann Hartmann sie gerade in dieser Situation als guote qua-
35 Vgl. Kasten, Schwester (Anm. 33), S. 406 f. u.ö. 36 »[D]as war das Schlimmste, was sie tun konnte«.
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lifizieren und klarstellen, dass der Inzest âne […] danc geschieht. Gleich im folgenden Vers (Gregorius, V. 396) wird der Vorgang noch einmal als Pervertierung eigentlich positiver Voraussetzungen beschrieben: dâ was der triuwen alze vil. Hartmanns Bemühen, das Verhalten der Geschwister nicht oder jedenfalls nicht primär auf die sexuelle Attraktivität der Schwester und die allein dadurch ausgelöste Begierde des Bruders zurückzuführen, sondern auf prinzipiell positive, jedoch ins Negative verkehrte Voraussetzungen (minne, triuwe, vielleicht auch kintheit im Sinne von ›Unschuld‹, ›Naivität‹), ist nicht die einzige auf die Motivation der Handelnden zielende Bearbeitungstendenz im Bereich des ersten Inzests. Im Mittelpunkt steht dabei die Interpretation der eigenen ›Schuld‹ und ihrer Konsequenzen durch die Handelnden selbst. Vor allem die Schwester, aber auch der Bruder und der Berater verstehen den Inzest bei Hartmann als zwar überaus schwere, aber eben auch in sich begrenzte und allein von den Handelnden selbst zu verantwortende (Tat)schuld und suchen die Versöhnung mit Gott. Wichtiger noch: Sie glauben, dass diese Versöhnung durch eine die Tat ausgleichende Buße tatsächlich möglich ist. Schritt für Schritt zeigt sich im weiteren Verlauf der Elterngeschichte, dass dieser Wille zur Sühne die primäre Motivation der Handelnden, vor allem aber der Schwester ist – zusammen mit dem Wunsch, das im Inzest gezeugte Kind zu retten. Hier unterscheidet sich die Hartmannsche Fassung deutlich von der Vie. Im französischen Text ist die wesentliche Motivation der Handelnden nicht der Wille zur Sühne, sondern der Versuch, durch Verheimlichung des Inzests und Aussetzung des Kindes die Schande und damit die Vernichtung der eigenen sozialen Existenz zu verhindern. Die eigene ›Schuld‹ wird dabei primär als soziale Gefährdung verstanden, nicht aber als subjektiv belastende Sünde (d. h. als Auslöser von riuwe), die das Verhältnis zu Gott nachhaltig stört. Die Stellen, an denen dies deutlich wird, hat Hartmann jeweils revidiert und teilweise ins Gegenteil verkehrt:37 (1) Die Mitteilung der Schwester an den Bruder, dass sie von ihm schwanger ist, beinhaltet in der Vie keinen Hinweis auf die Sündhaftigkeit ihres Ver37 Die folgenden Textbelege zeigen auch, dass Strohschneider, Inzest-Heiligkeit (Anm. 5) die genealogische Problematik des ersten Inzests jedenfalls für Hartmanns Bearbeitung überbetont. Übrigens wird die Störung der genealogischen Ordnung in Aquitanien auch durch den Schluss nicht behoben, denn sowohl die Mutter als auch Gregorius bleiben im Weiteren kinderlos. Überlegungen zur Sicherung der Erbfolge spielen aber auch schon zuvor in Hartmanns Gregorius eine bemerkenswert geringe Rolle: Wenn der Ratgeber dem Bruder zum Kreuzzug, der Schwester aber zur Ehelosigkeit rät, dann ist die Wahrung genealogischer Kontinuität für ihn offenbar kein Thema. Später rät man der Schwester/Mutter zur Ehe, aber nicht, um die genealogische Ordnung wieder herzustellen, sondern um aktuelle und künftige Bedrohungen der eigenen Herrschaft abzuwenden.
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haltens, sondern problematisiert vor allem die Konsequenzen für das soziale Ansehen von Bruder und Schwester; zentraler Begriff ist an dieser Stelle honie (Vie, V. 263; 266). Bei Hartmann dagegen stellt die Schwester Sünde und Schande gleichwertig nebeneinander, wobei Seele und Gott in den jeweiligen Begriffspaaren an erster Stelle genannt werden: bruoder, ich bin zwir tôt, an der sêle und an dem lîbe. […] wande ich hân durch dich verlorn got und och diu liute. (Gregorius, V. 436 f.; 440 f.)
(2) Der Rat des Vasallen zielt in der Vie allein darauf, die Schwangerschaft zu verheimlichen und üble Nachrede (deparlér, Vie, V. 352) zu verhindern. Der Vasall will vor allem, dass die beiden sens honte e sens damage (Vie, V. 354)38 aus der Angelegenheit herauskommen. Das nur angedeutete Erlösungspotential der Kreuznahme (Vie, V. 396), zu der der Vasall dem Bruder rät, ist nicht unmittelbar auf die Schuld des Inzests bezogen. Für den Hartmannschen Ratgeber steht dagegen die Versöhnung mit Gott im Vordergrund. Der Kreuzzug wird hier als unmittelbare und exakt reziproke Buße für die Tatschuld präsentiert: der lîp hât wider in [Gott] getân: den lât im ouch ze buoze stân (Gregorius, V. 580 f.). Die lange und durch das Reimspiel um guot und muot hervorgehobene Ergänzung (Gregorius, V. 599–627), in der die richtigen Konsequenzen für die Schwester diskutiert werden, macht nur dann Sinn, wenn es dem Ratgeber um Buße geht; dann nämlich muss er erklären, warum er Weltentsagung (und damit beispielsweise den für die Zeitgenossen nahe liegenden Rückzug in ein Kloster) nicht für die adäquate Buße hält. In der Vie wäre eine solche Erklärung überflüssig, denn der Rat zielt dort gar nicht auf Buße, sondern soll die Herrschaftsverhältnisse unter Vertuschung des Inzests sanieren. Hartmann hat die besondere Qualität der Vorschläge des weisen Beraters noch dadurch hervorgehoben, dass er einen wahrnehmbaren Kontrast zwischen der (wohl von Hartmann eingefügten) Bitte des Bruders um Rat (Gregorius, V. 554–565) und dem dann erteilten Ratschlag eingebaut hat. Nicht umsonst leitet Hartmann diese Bitte um Rat mit einem Satz ein, der den Gegensatz zwischen kintheit und wîsheit herausstellt: sus sprach daz kint ze dem wîsen man (Gregorius, V. 554). Dem Bruder geht es in seiner Bitte primär um das akute Problem, wie man die Schwangerschaft und Geburt verheimlichen könnte; er denkt vor allem an die Schande und erweist sich darin als kint. Der Ratgeber dagegen stellt den Aspekt der Sühne in den Vordergrund – er ist der wîse man.
38 »ohne Schande und Schaden«.
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(3) Der Abschied von Bruder und Schwester ist bei Hartmann gegenüber der Vie erweitert; relevant sind vor allem folgende Verse: enheten si niht gevürhtet got, si heten iemer der werlde spot geduldet vür daz scheiden. (Gregorius, V. 639–641)
Hier wird Hartmanns Bearbeitungstendenz ganz explizit: Nicht die Furcht vor der Schande veranlasst die Trennung, sondern der Respekt vor Gott. Trennung und Kreuznahme sind Teil der Buße, dienen nicht – wie in der Vie – in erster Linie der Verheimlichung. (4) Die Furcht vor der Schande ist es auch, die die Schwester in der französischen Vie dazu bringt, das im Inzest gezeugte Kind auf dem Meer aussetzen zu lassen. Als Manifestation des Inzests ist das Kind nicht in die soziale Welt des Hofes zu integrieren: Weil es in Sünde gezeugt worden ist, darf es – wie betont wird – nicht gezeigt werden (Vie, V. 458 f.). Deshalb kann die Mutter mit dem Kind nichts anfangen, hält es für nichtswürdig (Vie, V. 456). Durch die ›schnippische‹ Androhung eines Hungerstreiks zwingt sie den Vasallen und seine Frau, sich an ihrem – zunächst freilich noch nicht offen gelegten – Plan zu beteiligen: Das Kind soll ausgesetzt werden. Alle Eingeweihten sehen darin eine Fortsetzung der Inzest-Sünde und halten den Tod des Kindes für wahrscheinlich, auch die Mutter (das folgende Selbstgespräch nur in A): Peché ot grant en l’engendrer, Mais pis sera de l’afoler. Lasse! Metrai le a morir? Miaus est que jel face norir E que en sosteigne le blasme. (Vie, V. 569–573)39
Hier wird ganz deutlich: Die Aussetzung ist nicht der Versuch, mit Gott ›ins Reine‹ zu kommen, sondern wird als Sünde – als Fortsetzung der InzestSünde – verstanden. Dagegen steht allein die Furcht vor der Schande: blasme. Auf der Tafel, die dem Kind mitgegeben wird, steht dies ganz explizit: Por ce qu’il iert de haut parage, Si en cremeit aveir hontage, Que ele en fust depeuplee E entre la gent abaissee, 39 »Es war eine große Sünde, es zu zeugen, aber schlimmer noch ist es, das Kind zu töten. Ich Unglückliche! Werde ich es töten? Besser ist es, daß ich es aufziehen lasse und die Schande auf mich nehme.«
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Ne sis freres ne fust honis: Si fu getés li fis petis. (Vie, V. 519–524)40
Eher beiläufig befehlen die Beteiligten das Kind bei der Aussetzung Gott an (Vie, V. 603). Hartmann hat die ganze Textstrecke von der Geburt bis zur Aussetzung des Kindes radikal umgestaltet und dabei völlig eigenständig konzipiert. Zweifellos muss die Existenz des Kindes auch bei Hartmann verheimlicht werden; dazu kommt aber ein weiteres Motiv: Das Kind soll leben, es soll gerettet werden. Schon gegenüber ihrem Bruder hatte die Schwester in einer wohl von Hartmann hinzugefügten Passage gesagt: […] und vint uns etelîchen rât, ob wir durch unser missetât âne gotes hulde müezen sîn, daz doch unser kindelîn mit uns iht verlorn sî, daz der valle iht werden drî. (Gregorius, V. 469–474)
Die Rettung des Kindes ist auch jetzt, nach seiner Geburt, wesentliches Motiv aller Beteiligten. Man berät sich gemeinsam – es handelt sich also nicht wie in der Vie um den einsamen Entschluss nur der Mutter – und kommt zu dem Ergebnis, dass angesichts der Unabsehbarkeit der Sünde, in der das Kind geboren wurde, und der daraus resultierenden eigenen Ratlosigkeit eine Lösung nur von Gott kommen könne (in der Vie ist der Mutter dagegen gerade nicht nach Beten zumute, sie verlässt sich nicht auf Gott: Car de priere ne li chaut, Vie, V. 482). Bei Hartmann kommentiert der Erzähler das Verhalten der Protagonisten an dieser Stelle mit dem Anspruch auktorialer Gültigkeit: dô muose in wol gelingen, wan im niemer missegât der sich ze rehte an in [Gott] verlât. (Gregorius, V. 696–698)
Der Plan, das Kind auf dem Meer auszusetzen, ist damit bei Hartmann völlig anders motiviert als in der Vie. Das Kind wird hier nicht aus der (sozialen) Welt geschafft, vielmehr wird sein Schicksal Gott übertragen. Die Aussetzung ist für die Beteiligten, aber offenbar auch für den Erzähler nicht Fortsetzung der Inzest-Sünde, sondern der Versuch, dem Kind jenseits der belasteten 40 »Weil sie von hohem Adel war, fürchtete sie die Schande, daß sie dafür von den Leuten geschmäht und herabgesetzt und ihr Bruder seine Ehre verlieren würde; deshalb wurde der kleine Sohn ausgesetzt.«
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Welt der Eltern unter der Führung Gottes ein neues und eigenes Leben zu ermöglichen. Die Schande spielt demgegenüber als Motiv nur noch eine untergeordnete Rolle. (5) Die Ehelosigkeit der Mutter wird sowohl bei Hartmann als auch in der Vie als Sühne begriffen. In der Vie wird dies in vier Versen einigermaßen lapidar vermerkt; Sühne ist dort vor allem funktional auf die Erlösung des Bruders bezogen: Tot a son cuer en Deu servir. Por l’arme son frere acheter Se peine molt de jeüner E des iglises essaucier E des povres Deu herbergier. (Vie, V. 732–736)41
Hartmann geht hier weit über seine Vorlage hinaus: Er betont die tiefgehende Minne der Schwester zu Gott, den aller tiuristen man / der ie mannes namen gewan (Gregorius, V. 873 f.). Hinter dieser innigen und offenbar bewusst als Minneverhältnis beschriebenen Verbindung mit dem gnädigen Gott tritt der Aspekt der auf Vergebung gerichteten Buße sogar in den Hintergrund. Gerade so aber ist dieses Verhalten der Schwester wâre riuwe, die – wie der Erzähler bemerkenswert deutlich auktorial bestätigt – aller sünden machet vrî (Gregorius, V. 897 f.). Die bisher beschriebenen Maßnahmen Hartmanns sind nicht – wie man vermutet hat – allein darauf gerichtet, das Mädchen und ihr Verhalten kohärenter erscheinen zu lassen. Hartmann lässt seine Protagonisten vielmehr ein Konzept von Schuld und Sühne realisieren, das weit vom ›archaischen‹ Schuldbegriff der Vie entfernt ist. Schuld ist hier – jedenfalls auf den ersten Blick – als konkrete Tatschuld (culpa), als intentionales Verhalten ›in der Zeit‹ eingrenzbar – und als solche auch zu verantworten und zu bewältigen. Sie ist nicht wie in der Vie existentielle menschliche Disposition, die sogar an die Nachkommen weitergegeben werden kann, und sie ist auch nicht wie in der Vie durch die sexuelle Prägung des Verhältnisses von Mann und Frau schon fast zwingend ›gegeben‹ – denn auch das Verhältnis der Schwester zu Gott wird bei Hartmann als Mann-Frau-Beziehung beschrieben. Schuld kann bei Hartmann offenbar gesühnt werden: Die Haltung der echten Reue macht frei von Sünde. Mit diesem eher ›modernen‹ – weil zumindest vordergründig an die Intention gebundenen – Schuldbegriff hängt eine zweite wichtige Bearbei41 »[S]ie widmet ihr Herz ganz dem Dienst Gottes. Um die Seele ihres Bruders zu erlösen, gibt sie sich alle Mühe, zu fasten und Kirchen zu errichten und die Armen Gottes zu beherbergen.«
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tungstendenz Hartmanns im Bereich der Elterngeschichte zusammen: Die Vie sieht die Sünde der Eltern auf das im Inzest gezeugte Kind übergehen. Im französischen Text gibt es eine Kontinuität der Sünde von der Eltern- auf die Kindergeneration. Deshalb kann schon über den soeben erst gezeugten Gregorius gesagt werden: Quar cest peché espeneï / Dont vos avés ici oï (Vie, V. 213 f.).42 Die Sünde der Eltern beherrscht Gregorius von Anfang an, überträgt sich auf ihn: Er ist deshalb schon bei der Geburt ein »schwerer Sünder« (fors pecher[], Vie, V. 445). Hier akzentuiert Hartmann deutlich anders: Guoten sündaere nennt Hartmann das Kind an der entsprechenden Stelle (Gregorius, V. 671). Und er lässt die Schwester in einer wichtigen Passage, die die Motive der Handelnden in der Vorgeschichte klarlegt, eindeutig erklären: ouch ist uns ofte vor geseit daz ein kint niene treit sînes vater schulde. ja ensol ez gotes hulde niht dâ mite hân verlorn, ob wir zer helle sîn geborn, wande ez an unser missetât deheiner slahte schulde hât. (Gregorius, V. 475–482)
III. Will man Hartmanns Bearbeitungstendenzen im Bereich des ›ersten Inzests‹ auf einen Nenner bringen, dann erweist sich dies angesichts der scheinbar eindeutigen Befunde als überraschend schwierig. Zweifellos grenzen Hartmanns Eingriffe die beiden Inzestgeschichten deutlicher voneinander ab als in der Vie und stellen dadurch den Kontrast innerhalb der Wiederholungsstruktur ›Inzest 1 – Inzest 2‹ heraus.43 Es gibt bei Hartmann keine ›genetisch‹ schuldhafte Prädisposition des Gregorius, und der zweite Inzest ist auch keine bloß gesteigerte Wiederholung des ersten. Auch wird man sagen können, dass alle aufgezählten Maßnahmen Hartmanns vor allem die Schwester, aber auch die anderen Handelnden ›symphatischer‹ erscheinen lassen als in der Vie. Ansonsten aber erweisen sich Hartmanns Eingriffe als 42 »Denn er tat Buße für die Sünde, von der ihr hier gehört habt«. 43 Anders Herlem-Prey, Schuld oder Nichtschuld (Anm. 3), S. 20. Man wird hier unterscheiden müssen: Hartmanns Maßnahmen zielen darauf ab, den Unterschied zwischen Inzest 1 und Inzest 2 hervorzuheben, um vor diesem Hintergrund zeigen zu können, dass dieser Unterschied gar nicht in der Weise relevant ist, wie die Protagonisten (und wohl auch die Rezipienten) zunächst vermutet haben.
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durchaus ambivalent: Da sind zum einen Maßnahmen, die – offenbar ausgehend von einem ›moderneren‹ Schuldbegriff als in der Vie – den ersten Inzest als Tatschuld charakterisieren. Vor allem für die Beteiligten selbst besteht daran überhaupt kein Zweifel: Der Inzest war schwere Sünde, und sie – aber auch nur sie allein – müssen dafür in adäquater Weise büßen. In dieser Sicht unterscheidet sich der erste Inzest bei Hartmann wesentlich vom zweiten, bei dem eine schuldhafte Absicht der Protagonisten nicht zu erkennen ist. Zum anderen aber stellt sich angesichts der Eingriffe Hartmanns die Frage, ob die ›Selbstinterpretation‹ der Beteiligten überhaupt zutrifft. Vor allem die sehr ausführliche Begründung der Tat selbst durch Hartmann (s. o.) lässt die Frage aufkommen, ob hier überhaupt von intendierter Schuld im Sinne von culpa die Rede sein kann.44 Sind die Kinder ›schuld‹ daran, dass der Teufel – so sagt es Hartmann – ihre an sich guten Anlagen ins Schlechte pervertiert? Ist die Schwester ›schuldig‹, wenn sie doch in einem für sie unlösbaren Dilemma steckt? Diese (für den christlichen Schuldbegriff stets relevanten)45 Fragen sind nicht anachronistisch, vielmehr stellt sie Hartmann selbst – und zwar als grundsätzliche Frage nach dem Wesen Gottes, der als Schöpfer die letzte Verantwortung für sein hantgetât hat. Mit sonst im ganzen Text nicht noch einmal vorkommender Emphase stellt der Erzähler die Frage, die der Hartmannschen Bearbeitung – wie ich meine – ihre Richtung gibt – und die ich deshalb diesem Aufsatz vorangestellt habe (Zitat 1). Diese von Hartmann erst in den Text eingeführte Uneindeutigkeit ist für die Wiederholungsstruktur im Gregorius von entscheidender Bedeutung. Der zweite Inzest hat ganz andere Bedingungen als der erste, unterscheidet sich bei Hartmann deutlicher vom ersten als in der Vie – und ist doch im Ergebnis dessen Wiederholung. Damit aber stellt sich die Frage, ob die Art und Weise, wie die Protagonisten den ersten Inzest ›verstehen‹ – und wie ihn vermutlich viele Rezipienten ›lesen‹ – überhaupt zutreffend ist. Diese ›Lesart‹ des ersten Inzests rechnet ja gerade nicht mit einer Wiederholung, weil sich letztlich alle Beteiligten gegen solches Schuldigwerden ›gerüstet‹ fühlen. Es kommt offenbar darauf an, welche der von Hartmann in der Erzählung vom ersten Inzest angelegten Deutungsmöglichkeiten man als zutreffend ansieht, welche 44 Insofern ist auch das Inzestvergehen der Eltern nicht so »deutlich als individuell anzurechnende Verfehlung ausgewiesen«, wie dies Tomasek, Verantwortlichkeit (Anm. 3), S. 34 behauptet; die dafür ins Feld geführten Passagen (V. 303 ff. und 2573 ff.) geben eine solche Eindeutigkeit jedenfalls nicht her. Ausführliche und erhellende Auseinandersetzung mit dem Problem bei Hallich, Oliver, Poetologisches, Theologisches. Studien zum Gregorius Hartmanns von Aue, Frankfurt am Main u. a. 1995 (Hamburger Beiträge zur Germanistik 22), S. 62–69. Allerdings scheint mir Hallich die ambivalente Aufladung des Geschehens, die auf der Differenz zwischen Figuren- und Erzählerperspektive beruht, zu wenig wahrzunehmen. 45 Überblick gewähren Janowski, Bernd, [Art.] Sünde, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 9, Freiburg im Breisgau u. a. 32000, Sp. 1117–1131 und Lutz, Bernd, [Art.] Schuld, in: ebd., Sp. 276–284.
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Voraussetzungen und Bedingungen als tatsächlich relevant erkannt werden. Anders ausgedrückt: Die (partielle) Wiederholung des Geschehens im zweiten Inzests erst zeigt, welche ›Lesart‹ der Elterngeschichte die eigentlich gültige ist. Je nachdem, wie man die Elterngeschichte ›bisher‹ verstanden hat, wird diese Wiederholung entweder zur Irritation oder zur Affirmation führen: Denjenigen, der schon in der Elterngeschichte keine Verantwortlichkeit des jungen Geschwisterpaares, sondern eine letztlich unentrinnbare Verführung durch den ›Teufel‹ gesehen hat, wird sie bestätigen – was freilich an der in Zitat 1 formulierten Ratlosigkeit des Erzählers nichts ändert, sondern die Frage nach dem Wesen Gottes nochmals deutlich hervor treibt (Zitat 2). Denjenigen dagegen, der das Schuldkonzept der Protagonisten teilt und Sünde als intentionale und deshalb auch individuell zu verantwortende Tatschuld verstanden hat, die durch Verhaltenskorrekturen in Zukunft vermieden werden kann, wird sie zutiefst irritieren. Eben diese Irritation ist bei jener Person zu beobachten, die als einzige den zweiten Inzest tatsächlich als ›Wiederholung‹ des ersten erlebt, bei der Mutter.46 Weil ihre Vorstellungen von intentionaler Tatschuld und wirksamer Buße durchkreuzt werden, erlebt sie den zweiten Inzest als demoralisierende Kontingenzerfahrung: si gedâhte daz si vür wâr zuo der helle wære geborn und got hæte verkorn ir herzenlîchez riuwen daz si begienc mit triuwen umbe ir erren missetât, als man iu ê gesaget hât […]. (Gregorius, V. 2488–2494)
Hier kommt es auf jedes Wort an: Die Vorstellung von Tatschuld und wirksamer Buße gerät ins Wanken, stattdessen glaubt die Mutter nun, dass sie von vornherein – von Geburt an – für die Hölle bestimmt gewesen sei und dass Gott ihre ehrliche und vertrauensvolle (mit triuwen) Reue verschmäht habe. An dieser Stelle bricht die eigene Interpretation des ersten Inzests und seiner Bewältigung zusammen: Der geglaubte Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung, zwischen Tat und Bewältigung erweist sich als kontingent, ja Gott selbst erscheint unabsehbar anders als erwartet.
46 Auf die Bedeutung der Mutter als der einzigen Gestalt, »die am Geschehen von Anfang bis Ende beteiligt ist«, weist auch Kasten, Schwester (Anm. 33), S. 400 hin.
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IV. Gregorius hat den ersten Inzest nicht erlebt, sondern – wie auch der Rezipient des Gregorius, dessen intratextuelles Alter ego er insofern ist – nur davon gelesen. Die Tafel, auf der die Mutter die Geschehnisse in groben Zügen geschildert hat, ist seine Quelle. Im Gregorius wird auf diese Weise innerhalb der Erzählung die Rezeption des Textes selbst thematisiert: Es geht auch, vielleicht sogar vor allem um die Frage, wie die Geschichte des ersten Inzests angesichts ihrer inhärenten Ambivalenz ›richtig‹ zu lesen ist. Gregorius ›liest‹ die Tafel ganz in dem Sinn, wie seine Eltern ihre Tat selbst verstanden haben – als ein ›einmaliges‹, in einer bestimmten Situation verortetes Geschehen und somit als Tatschuld seiner Eltern als ›historischer‹ (und nicht etwa ›exemplarischer‹) Personen.47 Dementsprechend reagiert er auf die Tafel: Er betet für seine Eltern – und er will wissen, wer seine Eltern waren, unter anderem um wirksamer für sie beten zu können. Namen und damit Individualisierungen enthält die Tafel aber gerade nicht,48 für Gregorius ist sie so mehrdeutig wie Hartmanns Erzählung vom ersten Inzest für den Rezipienten: Beschreibt die Tafel nur diesen einen ›historischen‹ Fall – oder versteht sich dieser Fall als exemplarische Geschichte? Mit dem Erkennen des zweiten Inzests muss sich Gregorius von seiner bisherigen Lesart der Tafel verabschieden. Von ihm ist die Rede, aber ganz anders, als er bisher dachte: Die Wiederholung macht die Erzählung auf der Tafel auf neue Weise zu seiner eigenen, und zwar nicht, weil er das Kind ist, von dem dort berichtet wird, sondern weil ihm das Gleiche geschieht wie seinen Eltern. Aus einer ›einmaligen‹ Geschichte wird durch die Wiederholung eine exemplarische, und er selbst ist die ›Probe aufs Exempel‹. An dieser Stelle ist nun die zweite maßgebliche ›Doppelungsstruktur‹ des Textes mit der Inzest-Wiederholung verzahnt: Der Hader mit Gott (Zitat 2), der aus der Figurenperspektive die Frage des Erzählers aus der Elterngeschichte wiederholt (Zitat 1), ist zugleich die zentrale Krise in dem durch vielfältige inhaltliche und strukturelle Signale (sie sind hier nicht mein Thema)
47 Ich gehe hier nicht auf den Aspekt der Materialität der Tafel ein, sondern allein auf ihre Eigenschaft als Träger von ›Zeichen‹. Eine andere Perspektive wählen Wenzel, Edith und Wenzel, Horst, Die Tafel des Gregorius. Memoria im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, in: Harald Haferland und Michael Mecklenburg (Hgg.), Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit, München 1996 (Forschungen zur Geschichte der Älteren deutschen Literatur 19), S. 99– 114. 48 Vgl. den Erzählerkommentar zu diesem ›Verschweigen‹, Gregorius, V. 766: daz was ouch in ze helne guot.
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als Doppelweg49 angelegten Lebensweg des Gregorius bis zum Papsttum in Rom.50 Diese Krise aber besteht letztlich darin, dass die in der Wiederholung plötzlich erkennbare Exemplarität des ersten Inzests für den Protagonisten nicht aufzulösen ist. Was kann Gregorius aus dieser Wiederholung ›lernen‹? Wenn nicht nur das unerfahrene und unvorbereitete junge Geschwisterpaar ›schuldig‹ wird, sondern auch Gregorius, der doch durch die Tafel für derlei ›Sünde‹ sensibilisiert war und der sich stets Gott anvertraut hat,51 dann lag es offenbar nicht einfach an der Böswilligkeit des Vaters/Bruders, dann war auch der erste Inzest nicht einfach individuell zurechenbare und zu verantwortende Tatschuld. Der bisher vermutete, ja als sicher angenommene Zusammenhang von Ursache und Wirkung erodiert. Offenbar kann jedem zu jeder Zeit geschehen, was dem jungen Geschwisterpaar damals – wie sich jetzt erweist und wie Hartmann mit seiner sorgfältigen Begründung des ersten Inzests schon früh nahe gelegt hat – eben auch ›geschehen‹ ist. Selbst jene, die sich Gott anvertrauen (Gregorius) und die im Vertrauen auf Gottes Gnade Buße tun und ehrlich bereuen (Mutter), sind dagegen nicht gefeit. Durch die Wiederholung wird der erste Inzest zu einem exemplarischen Ereignis, aber eine neue ›Regel‹ lässt sich vorderhand daraus nicht ableiten: Die Exemplarität bleibt für die Protagonisten irritierend kontingent (was letztlich ein Widerspruch in sich selbst ist, denn exemplarisch kann nur sein, was auch in der Wiederholung ›wieder so ist‹ und nicht ›auch anders sein kann‹). Der Überwindung dieser Irritation ist der zweite ›Cursus‹ der Geschichte von Gregorius mit den Stationen ›Fischer‹, ›Gregorius auf dem Stein‹, ›Rückkehr zum Fischer mit dem Schlüsselwunder‹ und ›Rom‹ gewidmet.52 Bei
49 Zur Affinität des Gregorius mit dem Strukturmodell des Artusromans grundlegend: Hirschberg, Dagmar, Zur Struktur von Hartmanns Gregorius, in: Klaus Grubmüller u. a. (Hgg.), Befund und Deutung. Zum Verhältnis von Empirie und Interpretation in Sprach- und Literaturwissenschaft, FS Hans Fromm, Tübingen 1979, S. 240–267. 50 In der Vie (hier B) gibt es den Hader mit Gott nicht, vielmehr wendet sich Grégoire herausfordernd an den Teufel (Vie B, V. 1531–1538) und dankt (!) Gott dafür, »daß er ihm beizeiten die List des Teufels entdeckt hat, daß er ihm somit die Möglichkeit verschafft hat, seinem Griff zu entgehen.« Rocher, Daniel, Das Motiv der felix culpa und des betrogenen Teufels in der Vie du pape Grégoire und in Hartmanns Gregorius, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 38 (1988), S. 57–66, der auf diese Differenz erstmals hingewiesen hat. 51 Von Hartmann besonders deutlich hervorgehoben bei der Abfahrt von der Abtinsel, als Gregorius die Hände zum Himmel erhebt und sich ganz und gar Gott überlässt (Gregorius, V. 1825–1841). Im kausalen Motivationsgefüge der Erzählung liegt hier eine der Schlüsselstellen für das Zustandekommen des zweiten Inzests. 52 Dass dieser zweite Teil der Lebensgeschichte des Gregorius den ersten kontrastierend parallel wiederholt, ist bereits oft beschrieben worden und muss hier nicht nochmals gezeigt werden; vgl. Hirschberg, Struktur (Anm. 49).
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Hartmann ist diese zweite Wegstrecke des Gregorius weniger ein Bußweg als vielmehr ein Prozess des Erkennens. Zunächst muss Gregorius verstehen, dass es Schuld auch jenseits der persönlichen Verantwortung gibt – eine ›existentielle‹ Schuld, der sich der Mensch als Handelnder nie entziehen kann, weil sie als Möglichkeit stets zum menschlichen Leben gehört.53 Damit ist aber nicht der Schritt zurück zum ›archaischen‹ Schuldbegriff der Vie gemeint. Während dort nämlich die Sünde dem Menschen – und vor allem der Frau – aufgrund bestimmter Grunddispositionen (u. a. Sexualität) wesenhaft ist, ist die existentielle Schuld bei Hartmann etwas, was dem Menschen ›geschieht‹, was also ›von außen‹ auf ihn zukommt.54 Hartmann hat dies sowohl durch die sorgfältige Begründung des ersten Inzests als auch durch die Ausschaltung jeglicher möglicher ›Verantwortlichkeiten‹ beim zweiten Inzest deutlich herausgestellt. Er berührt damit ein Grundproblem christlicher Wirklichkeitsdeutung. Es ist interessant zu beobachten, dass nicht nur der mittelalterliche Erzähler, sondern auch die Theologie des 20. Jahrhunderts bei der Auseinandersetzung mit diesem Problem kaum ohne das ›personalisierte Symbol‹ des Teufels auskommen:55 Der Teufel versinnbildlicht die grundsätzliche ›Außenheit‹ des Bösen (Paul Ricœur);56 Sünde erscheint als Ergebnis eines paradox ›versklavten‹ freien Willens, als Resultat einer Verführung ›von außen‹, der freilich der Mensch ›zustimmt‹. Für den zweiten Inzest lässt sich nicht einmal mehr diese ›Zustimmung‹ zum Bösen erkennen. Allenfalls kann man den Protagonisten ein ›Nicht-erkennen‹ der potentiellen Anzeichen vorwerfen. Dies begründet jedoch keine Verantwortlichkeit im Sinne eines intentionalen Schuldbegriffs, sondern deutet auf eine der Voraussetzungen für die existentielle Schuldhaftigkeit des Menschen, nämlich seine Unfähigkeit, die Welt in ihren Zusammenhängen und Möglichkei-
53 Vgl. hierzu und zum Folgenden Haug, Literaturtheorie (Anm. 28), S. 144 f. sowie Ders., Die Symbolstruktur des höfischen Epos und ihre Auflösung bei Wolfram von Eschenbach, in: Ders., Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters, Tübingen 1989, S. 483–512, hier S. 489 f. Haug zeigt wünschenswert deutlich, wie die Erzählung gerade dadurch funktioniert, dass die »Paradoxie schuldloser Verschuldung« (S. 490) in der Schwebe gehalten wird. 54 Vgl. zum Stellenwert dieser Frage in der mittelalterlichen Theologie Hallich, Poetologisches (Anm. 44), v. a. Kapitel II. – Dieses Problem ist nicht mit dem in vormodernem Erzählen üblichen ›Gehabtsein‹ der Protagonisten durch überpersönliche Mächte zu vermengen, wie es Lugowski, Clemens, Die Form der Individualität im Roman. Studien zur inneren Struktur der frühen deutschen Prosaerzählung. Mit einer Einleitung von Heinz Schlaffer, Frankfurt am Main 1976 (stw 151), S. 34 beschreibt, sondern bewegt sich auf einer übergeordneten, reflektierten Ebene. Vgl. Martínez, Fortuna und Providentia (Anm. 24), S. 92. 55 Ausführlich: Claret, Bernd J., Geheimnis des Bösen. Zur Diskussion um den Teufel, Innsbruck und Wien 22000 (Innsbrucker theologische Studien 49). 56 Ricœur, Paul, Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld, Bd. 2, Freiburg im Breisgau u. a. 21988, S. 295; vgl. Ders., Le scandale du mal, in: Esprit 12 (1988), S. 57–63.
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ten auch nur annähernd zu überblicken.57 Schuld in diesem Sinn ist Resultat einer für den Menschen kontingenten Wirklichkeit. Gregorius plädiert gegenüber seiner Mutter dafür, diese existentielle Schuld so zu büßen, als wäre sie persönlich ›verantwortet‹.58 Freilich stellt sich die Frage, ob und wie ›Schuld‹ in diesem Sinne überhaupt persönlich gebüßt werden kann. Immerhin ist erstaunlich, wie lapidar Hartmann die siebzehnjährige Bußzeit seines ›Helden‹ auf dem Stein abhandelt. Am Ende, so der Erzähler, hat Gott die ›Schuld‹ dem Gregorius nicht etwa verziehen, sondern er hat sie vergezzen (Gregorius, V. 3140).59 Die extrem lange Dauer der Buße hat also offenbar weniger die – eigentlich zu erwartende – Wirkung eines sukzessiven ›Abtragens‹ der Schuld gehabt und steht insofern auch nicht in direkter Proportionalität zur Größe der Schuld. Es ist nicht leicht zu beurteilen, ob die Vorstellung, der allwissende Gott könne etwas einfach ›vergessen‹, für den mittelalterlichen Rezipienten ein Ironiesignal darstellte. Jedenfalls aber spielt Gott das ›Spiel‹, dessen Regeln Gregorius bei dem Versuch aufgestellt hat, die irritierende Kontingenzerfahrung des zweiten Inzests zu überwinden, nicht mit: Er reagiert gerade nicht so, wie es Gregorius aufgrund seiner nach der Inzesterfahrung revidierten Ordnungsvorstellung erwartet und in seiner langen Ansprache an die römischen Gesandten formuliert (Gregorius, V. 3505–3584). Sicher nicht zufällig endet diese Rede, die Gregorius mit für den Rezipienten erkennbar falschen Vorannahmen hält, mit einer Gottesbeschreibung, die sich schon im nächsten Moment (für den Leser schon während des Lesens) als kompletter Irrtum erweist: ich vürhte, diu vreude und der gemach diu ich mit rede mit iu hie hân, ich müeze ir ze buoze stân 57 Hier ordnet sich auch das von Tomasek, Verantwortlichkeit (Anm. 3), sehr belastete Phänomen der gâchheit des Gregorius ein. Das ›Übereilen‹ wird man kaum als die Schuld des Gregorius werten können, es trägt aber zur Anfälligkeit des Menschen bei, weil es Abwehrmechanismen gegen die Kontingenz der Welt außer Kraft setzt. Freilich ist auch das Gegenteil, der völlige Stillstand, den Gregorius auf dem Stein praktiziert, offenbar nicht ›die Lösung‹. 58 Jedoch hebt Gregorius nicht auf irgendeine persönliche Verfehlung neben oder vor dem Inzest ab. Seine eigene Buße und auch die von ihm vorgeschlagene Bußleistung der Mutter bezieht er allein auf den Inzest selbst. Aus dem Umstand, dass Gregorius Buße leistet, kann deshalb noch nicht auf eine Verfehlung im Vorfeld des zweiten Inzests geschlossen werden, für den Gregorius dann ›eigentlich‹ büßt. Auch die Frage Kolbs, »Was wäre die Gerechtigkeit Gottes, wenn sie jemand für etwas büßen ließe, woran er nicht Schuld trüge?«, geht deshalb ins Leere – oder genauer: formuliert exakt das Problem; vgl. Kolb, Herbert, Der wuocher der riuwe. Studien zu Hartmanns Gregorius, in: Literaturwissenschafliches Jahrbuch 23 (1982), S. 9–56. 59 In diesem ›Vergessen‹ ist der Übergang vom Profanen zum Heiligen, der nach Strohschneider den narrativen Prozess der Legende bestimmt, besonders deutlich als ›Sprung‹ zu erkennen. Vgl. Strohschneider, Inzest-Heiligkeit (Anm. 5), S. 105.
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vor im der deheine missetât ungerochen niene lât. (Gregorius, V. 3580–3584)
Vielleicht ist auch diese Passage nicht ohne ironische Brechung: Der Büßer, der große zerknirschte Reden schwingt und dann zugeben muss, dass ihm dies Spaß (vreude und […] gemach) macht, wirkt angesichts seines Irrtums ebenso wie eine Karikatur wie der völlig heruntergekommene Einsiedler auf dem Stein, den Hartmann in einer weit gespannten Inversio als totale Negation der früheren (und vom Erzähler nirgends problematisierten) Schönheit des Gregorius schildert. Es fällt auf, dass im Gregorius explizit nicht etwa die Buße als wesentliche Voraussetzung für die Vergebung von Schuld dargestellt wird, sondern die riuwe – sie befreit, wenn sie echte innere Einstellung ist, von jeder Sünde, ja sie ist selbst Buße (Gregorius, V. 897–898; übrigens auch aus dem Mund des Gregorius: V. 2701 f.).60 Existentielle, also nicht willentlich begangene ›Schuld‹ kann man eben nicht ›einfach‹ büßen, man kann sie aber im Sinne einer contritio cordis bereuen – sie kann einem ›Leid tun‹, und daraus resultiert dann auch das innere Bedürfnis zum Handeln. Buße ist also Ausdruck von riuwe und insofern der riuwe notwendig nachgeordnet. Jedenfalls muss Gregorius weder ewig in der Weltferne büßen, noch verzeiht ihm Gott aufgrund seiner Bußleistung. Er vergisst – und übrig bleibt hulde. An dieser Stelle zeigt sich, dass im Gregorius die Frage nach der Natur von ›Schuld‹ auf die Frage nach dem Wesen Gottes hinausläuft. Im Erkenntnisprozess des zweiten ›Cursus‹ wird diese Frage für Gregorius erst spät beantwortet. Gott ist für den Protagonisten nicht nur im Zorn unmittelbar nach dem Erkennen des zweiten Inzests ein Rätsel, er ist es auch noch, als die römischen Gesandten vor ihm stehen.61 Während der siebzehn Jahre auf dem Stein hat er über Gott nichts gelernt. Vielmehr handelt es sich um eine Situation des (auch narrativen) Stillstands,62 was sich an den Gegenständen zeigt, 60 Vgl. dazu Beifuss, Helmut, Riuwe und buoze in Hartmanns Gregorius. Versuch einer Interpretation vor dem Hintergrund der Analyse der Wortbedeutung und des Wortgebrauchs, in: Petra Hörner (Hg.), Hartmann von Aue. Mit einer Bibliographie 1976–1997, Frankfurt am Main u. a. 1998 (Information und Interpretation 8), S. 51–89 (mit Aufarbeitung der gesamten älteren Forschung). 61 Vgl. Strohschneider, Inzest-Heiligkeit (Anm. 5), S. 106, der betont, dass erst die gnadenhafte Erwählung (und nicht schon die Buße auf dem Stein) Gregorius aus dem »Schuldund Sündenzusammenhang des Diesseits« ausschließt. Allerdings ist zu fragen, ob die Distanz zwischen Profanem und ›Heiligkeit‹ in der von Strohschneider vorausgesetzten Weise für den Gregorius anzunehmen ist. Das ›Heilige‹ stellt sich im Gregorius ja dar als die Integration des existentiellen Schudigseins in die diesseitige Welt. 62 Dies wird gerade dann deutlich, wenn man mit Hirschberg, Haug, Tomasek u. a. annimmt, dass im Doppelweg des Gregorius auf den Artusroman angespielt wird. Im Erec (der ja zeitlich im deutschsprachigen Bereich das einzige Referenzobjekt sein dürfte) wird die Krise vom Protagonisten handelnd überwunden. Gregorius dagegen verweigert jegliches Handeln.
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die Gregrorius mit auf den Stein nimmt: Während er die Tafel in der Eile vergisst, nimmt er die Eisen, die ihn fixieren werden, mit.63 Der Aufgabe, die ›richtige‹ Lesart für das zu finden, was auf der Tafel als seine Geschichte erzählt wird, stellt sich Gregorius auf dem Stein nicht. Sie kann erst als bewältigt gelten, wenn auch die Frage nach dem Wesen Gottes, die in Zitat 1 aus einer ganz bestimmten Perspektive gestellt wird, beantwortet ist.
V. Man kann unter dem im Einführungsteil (I.) dieses Beitrags erläuterten Aspekt der intradiegetischen Motivation von Wiederholung Folgendes behaupten: Als Subjekt, das über eine Reihe von scheinbar zufälligen Ereignissen die Wiederholung der ›Sünde‹ und damit den zweiten Inzest überhaupt erst herbeiführt, zumindest aber ermöglicht, kommt letztlich nur Gott selbst in Frage.64 Sicherlich hat dabei immer wieder der Teufel seine Hand im Spiel, aber in Hartmanns Gregorius ist der Teufel nicht wie in der Vie der große (und in gewisser Weise ebenso mächtige) Gegenspieler Gottes, sondern er ist diesem zweifellos untergeordnet. Wenn aber Gott der letztlich Verantwortliche für den ersten und für den zweiten Inzest ist, wie kann dann eine Religion, die diesen Gott in den Mittelpunkt stellt, ihre Funktion hinsichtlich der ›Bestimmbarkeit der Welt‹ noch erfüllen? Ist die Konsequenz aus der Wiederholung nicht letztendlich, dass Gott selbst der Inbegriff der Unbestimmbarkeit ist und damit – als offenbar unbestimmbares Subjekt des Geschehens – auch im Wesen kontingent ist? In dieser beunruhigenden Frage deutet sich jedoch auch eine Lösung für das Problem an, das Hartmanns Erzähler in Zitat 1 formuliert hat. Die TheoWie später im Parzival kommt die ›Lösung‹ als Gnade auf den Menschen zu, der sie freilich erkennen muss; vgl. Hirschberg, Struktur (Anm. 49), S. 266 f. 63 Tomasek, Verantwortlichkeit (Anm. 3), sieht in dieser gâchheit, die auch schon im ersten Teil der Lebensgeschichte Gregorius’ eine Rolle spielte, eine Art ›Schuld‹. Dies ist insofern problematisch, als die Eile hier durch den Bußeifer ausgelöst ist: Gregorius hatte die halbe Nacht gebetet und verschlief deshalb den Weckruf. Er vergisst die Tafel auch, weil er nur an sein selbst gewähltes ›Bußinstrument‹ (die eisernen Fußfesseln) denkt. Der Büßer, der vor lauter Beten nicht aus den Federn kommt und dann das eigentlich Wichtige zugunsten äußerlicher Bußinstrumente vergisst – ist das nicht eher eine humorvolle Kritik am Bußeifer des Gregorius? Wird hier also die gâchheit selbst problematisiert – oder die übertriebene Buße, auf die diese zielt? 64 An anderer Stelle wird dies genauer nachzuweisen sein. Entscheidend für diese Motivationskette ist im Gregorius die maritime Topographie; die Fahrten über das Meer gliedern die Handlung insgesamt und signalisieren auch die beiden dominierenden Wiederholungsstrukturen (erster – zweiter Inzest; Gregorius vor – nach der Entdeckung des zweiten Inzests).
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Gott als Funktion erzählter Kontingenz
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logie vor allem des 13. Jahrhunderts hat diese Lösung immer wieder präsentiert, sie war aber im christlichen Nachdenken über Gott seit der Spätantike vorgeprägt: Gott kann nur als der Unbestimmbare Gott sein.65 Damit betrifft die Wahrnehmung von Kontingenz aber nicht ihn selbst, vielmehr ist Gott ganz aus sich selbst heraus er selbst und damit ›notwendig‹ (und also nicht kontingent).66 Jedoch ist gerade das auch Grund für die partielle Unbegreiflichkeit seiner ›Wirkungen‹. Kontingenz – und damit das Obsoletwerden von eindeutigen Ursache-Wirkungs-Beziehungen – ist überhaupt die Voraussetzung für die Annahme, dass Gott in der Welt allmächtig wirkt, ist auch die Voraussetzung für seine ›Gnade‹ (denn Gnade ist unabdingbar kontingent, weil weder notwendig noch – weil sie ja geschieht – unmöglich). Vor diesem Hintergrund wird auch klar, warum Gregorius auf dem Stein als der gnâdelôse man (Gregorius, V. 3130, ähnlich V. 3104 und V. 3137) bezeichnet wird: als der, dem die Gnade noch fehlt. Die Bezeichnungen, mit denen Gregorius jeweils charakterisiert wird, zeigen den Stand seiner Erkenntnis an, weniger Gottes ›Haltung‹ gegenüber Gregorius. Auf dem Stein ist Gregorius der ›Gnadenlose‹ nicht, weil Gott ihm noch keine Gnade gewährt hat, sondern weil er für sich nicht mit Gottes Gnade rechnet. Man kann in diesem Zusammenhang durchaus von einer ›Selbstheiligung‹ in der Sukzession des Erkenntnisprozesses sprechen. Erst nach dem Schlüsselwunder hat Gregorius das Wesen Gottes verstanden: Er ist unbestimmbar, nicht an eindeutige Regeln gebunden. Deshalb bleiben auch die Gottesbezeichnungen, mit denen Hartmann im Gregorius spielt, hinter dem tatsächlichen Wesen Gottes zurück: Sie beinhalten jeweils Festlegungen, Regeln, die angeblich auch in der Wiederholung gelten. Aber Gott ist eben nicht der, der keine Untat ungerochen lässt (Gregroius, V. 3584). Seine Gnade entzieht sich solchen menschlichen Festlegungen.
VI. Im narrativen Prozess kommt der Rezipient zu dem gleichen Ergebnis, das auch Gregorius letztlich als Resultat seines Erkenntnisprozesses akzeptieren muss: Alle Aussagen über Gott sind kontingent, weil Gott selbst auch das Gegenteil zutreffen lassen kann. In irgendeiner Weise ist Gott auch verantwort65 Diese u. a. bei Thomas von Aquin ausgeprägte Konzeption (Summa theologica I, 3–11) kann ich an dieser Stelle nicht weiter erläutern. Instruktive Übersicht: Niehl, Franz W., [Art.] Gott, in: Lexikon für Theologie und Kirche (Anm. 45), Bd. 4, 31995, Sp. 852–871, hier vor allem Sp. 863–866. 66 Vgl. Breuning, Wilhelm, [Art.] Aseität, in: Lexikon für Theologie und Kirche (Anm. 45), Bd. 1, 31993, Sp. 1060 f.
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lich für das Böse in der Welt,67 er lässt den ersten Inzest zu, er verhindert nicht den zweiten, aber er macht auch Gregorius zum Papst. Wer aus der GregoriusErzählung auf eine Instanz rückschließen will, die die Handlung ›autorisiert‹ (und z. B. auch die Wiederholungen verantwortet), der findet einen Gott vor, über den Menschen nur kontingente Aussagen machen können – Aussagen, die sowohl gelten können als auch nicht. Diesen kontingenten Gott macht die Erzählung als Prozess überhaupt erst darstellbar. Insofern kann man sagen, dass Gott im Gregorius eine ›Funktion‹ (im Sinne von ›Ableitung‹) erzählter Kontingenz ist: Zwar wird eine Autorisierungsinstanz selbstverständlich vorausgesetzt, aber wie diese beschaffen ist, das lässt sich nur aus dem Erzählten ableiten, nicht vorher schon bestimmen. Die Wiederholungsstruktur im Gregorius geht damit deutlich über das hinaus, was affirmative Wiederholungen in geistlichen Erzählungen – ich erinnere an das Beispiel aus der Kaiserchronik – leisten. Auch dort hätte man fragen können, warum es Gott überhaupt so weit kommen lässt, warum es zu einem Martyrium kommen muss. Aber diese Fragen werden nicht nur nicht gestellt, sie werden durch die affirmative Wiederholung geradezu verdrängt.68 Im Gregorius dagegen stellen sie der Erzähler und der Protagonist, und die irritierende Wiederholung fordert eine Antwort darauf, die nur in einer revidierten Vorstellung von Gott bestehen kann, denn Gott ist ja das Subjekt, das die Wiederholung letztlich verantwortet. Man mag einwenden, dass der Schluss diese kontingente Natur Gottes wieder aufhebt, weil ja schließlich alles auf ein gutes Ende zuläuft; selbst die Geschichte vom doppelten Inzest ist insofern Heilsgeschichte. Schlägt also Kontingenz in Providenz um?69 Sind Schuld und Sühne ›notwendige‹ Voraussetzungen der Heiligkeit?70 Hat Gott von Anfang an einen großen Plan ge67 Rahner, Karl, Schriften zur Theologie, Bd. 10, Zürich, Einsiedeln und Köln 1972, S. 53. 68 Nicht unbedeutend ist hier übrigens, dass es sowohl in der Julianus- als auch in der von Martínez, Fortuna und Providentia (Anm. 24), interpretierten Faustinian-Geschichte um Bekehrungen von Heiden zum Christentum geht. Die Bekehrung rechtfertigt ex post auch das Böse, wenn es den Ungläubigen von der Allmacht des Christengottes überzeugt; der Fall des Gregorius ist deutlich problematischer, weil er (und auch seine Eltern) ja schon sub gratia leben. 69 Kann man wirklich mit Haferland, Metonymie (Anm. 14), S. 357 sagen, dass »Gottes Providenz […] den Lebensweg des Gregorius« begleitet? Zwar greift Gott offenbar immer wieder zugunsten des Protagonisten ein, aber diese Eingriffe ordnen sich nirgends explizit – und auch nicht implizit im Syntagma der Erzählung – in einen von Anfang an feststehenden Plan ein. Es sind vielmehr isolierte ›Rettungen‹ (der Wunschwind, das Speisewunder), die in einem ungeklärten Verhältnis zu den ›verhängnisvollen‹ Zufällen der Handlung stehen. Hier unterscheidet sich der Gregorius sowohl von der altfranzösischen Vie als auch von der final motivierten Faustinian-Geschichte der Kaiserchronik, wie sie Martínez, Fortuna und Providentia (Anm. 24), v. a. S. 88 interpretiert. 70 Vgl. Hallich, Poetologisches (Anm. 44), S. 112–124 mit Darstellung entsprechender Forschungspositionen.
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Gott als Funktion erzählter Kontingenz
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habt, dessen Ziel das Papsttum war?71 Das wäre eine zu einfache Lösung, die an keiner Stelle im Text nahegelegt wird.72 Die Protagonisten sehen es jedenfalls nicht so, für sie relativiert sich ihre Schuld nicht durch das gute Ende. Und auch die in Zitat 1 gestellte Frage nach der Verantwortung Gottes für seine Geschöpfe ist mit dem guten Ende nicht aus der Welt. Gott einen Plan zu unterstellen, ginge letztlich ebenso an Gottes Unbegreiflichkeit vorbei wie alle anderen Versuche, Gott ›kennen‹ zu wollen. Aus der Einsicht in die kontingente Natur Gottes ergibt sich allein, dass mit seiner Unberechenbarkeit zu rechnen ist. Dieses Rechnen mit der Unberechenbarkeit Gottes wird man als ›Demut‹ bezeichnen können. Es ist die Haltung, die Gregorius und seine Mutter am Ende praktizieren, indem sie in der Welt handeln – und es ist auch die Haltung, die im Prolog propagiert wird. Ihr Gegenteil, das im Gregorius immer wieder droht, ist die Desperatio – der zwîvel.
71 Vgl. dazu auch den von Rocher, Motiv (Anm. 50), S. 57–60 dargestellten Unterschied zwischen Vie und Gregorius: Während der Autor der Vie im Zusammenhang mit der Zeugung auf die spätere Heiligkeit des Grégoire hinweist und damit tatsächlich einen Plan Gottes suggeriert (der hier schon mehr ›weiß‹ als der ›betrogene‹ Teufel und gewissermaßen schon in der Sünde zum Gegenschlag ausholt), bleibt die Zeugung bei Hartmann unkommentiert und erscheint so eher als Vollendung des teuflischen Wirkens. 72 Dies muss auch Haferland, Metonymie (Anm. 14), S. 363 zugeben.
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Elke Koch
Erzählen vom Tod Überlegungen zur Finalität in mittelalterlichen Georgsdichtungen
Nichts ist so sicher wie der Tod.1 Die Unausweichlichkeit des menschlichen Sterbens schließt den Tod aus dem Bereich des Kontingenten aus, der nach der klassischen Definition dasjenige umfasst, was weder notwendig noch unmöglich ist.2 Ein Erzählen, das die Überwindung des Todes in der Auferstehung zum Zentrum hat, steht zur Notwendigkeit des Sterbens in charakteristischer Spannung. Dies lässt sich für einen Legendentypus geltend machen, der von Konrad Zwierzina treffend als Ausprägung des »Motivs vom unzerstörbaren Leben« bezeichnet worden ist.3 In den Legenden frühchristlicher Märtyrer, die nach einem Gelasian zugeschriebenen Dekret als apokryph gelten, überleben die Heiligen nicht nur höchst grausame Martern, sondern erstehen vom Tod wieder auf und vollziehen selbst Auferweckungs1 Zur Gewissheit des Todes als Wittgensteinsches Sprachspiel vgl. Macho, Thomas H., Todesmetaphern. Zur Logik der Grenzerfahrung, Frankfurt am Main 1987 (es 419), S. 138– 153. 2 Boethius führt in seiner Trostschrift die Sterblichkeit des Menschen als Beispiel für eine »einfache Notwendigkeit« im Unterschied zur »bedingten« an, welche zu einer Handlung erst durch das Kriterium des Wissens hinzutritt: Duae sunt etenim necessitates, simplex una, ueluti quod necesse est omnes homines esse mortales, altera condicionis, ut si aliquem ambulare scias eum ambulare necesse est. (V,6,27; »Es gibt nämlich zwei Notwendigkeiten, eine einfache, zum Beispiel, dass notwendigerweise alle Menschen sterblich sind, und die andere, von einer Bedingung abhängige, wie beispielsweise, wenn du weißt, dass irgendjemand spazieren geht, dieser notwendigerweise spazieren geht.«) Zit. nach Anicius Manlius Severinus Boethius, Philosophiae Consolatio, hg. von Ludwig Bieler, Turnholti 1957 (Corpus Christianorum, Series Latina XCIV). Zur Kontingenzkonzeption bei Boethius vgl. Frakes, Jerold C., The Fate of Fortune in the Early Middle Ages. The Boethian Tradition, Leiden u. a. 1988 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 23); zur Definition von Kontingenz vgl. Schütt, Hans-Peter, [Art.] Kontingenz (Zufall), III. Philosophisch, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Bd. 4, Tübingen 42001, Sp. 1643; für einen Überblick über Facetten des Kontingenzbegriffs vgl. Wetz, Franz Josef, Die Begriffe ›Zufall‹ und ›Kontingenz‹, in: Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard (Hgg.), Kontingenz, München 1998 (Poetik und Hermeneutik 17), S. 27–34. 3 Vgl. Zwierzina, Konrad, Die Legenden der Märtyrer vom unzerstörbaren Leben, in: Innsbrucker Festgruß von der Philosophischen Fakultät dargebracht der 50. Versammlung Deutscher Philologen und Schulmänner in Graz, Innsbruck 1909, S. 130–158.
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Erzählen vom Tod
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wunder. Diese Erzählungen lassen den Tod des Märtyrers als nahezu unwahrscheinlich erscheinen. Besonders augenfällig wird dies in Versionen der Georgslegende, die gleich mehrere Auferstehungen des Heiligen enthalten. Den folgenden Überlegungen liegt die These zugrunde, dass das Erzählen vom Tod in der Märtyrerlegende4 unter der Bedingung steht, Alternativen zum Tod zu eröffnen.5 Wie diese je unterschiedlich realisiert werden, untersuche ich an verschiedenen Bearbeitungen der apokryphen Georgslegende,6 einer der sogenannten Gallicanus-Versionen,7 im Folgenden als Passio bezeichnet, dem althochdeutschen Georgslied8 sowie dem Heiligen Georg Reinbots von Durne.9 Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, inwiefern durch die narrativen Mittel, die beim Erzählen vom Tod zum Einsatz kommen, Kontingenz evoziert oder reflektiert wird. Zweifellos ist es nicht der Zufall, der in der Märtyrerlegende dafür sorgt, dass der Tod unwahrscheinlich wird. Vielmehr ist dafür das Wunder verantwortlich; es ist also gerade Transzendenz, nicht Kontingenz, die sich darin manifestiert, dass die Unausweichlichkeit des Todes in diesen Texten ausgesetzt erscheint. Um Kontingenz zu bestimmen, setze ich jedoch im Folgenden nicht beim Zufall an, der für die literaturwissenschaftliche Diskussion dieses Problems vielfach zentral ist, sondern beim Aspekt der Alternative. 4 Zur Gattungstypologie vgl. Feistner, Edith, Historische Typologie der deutschen Heiligenlegende des Mittelalters von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zur Reformation, Wiesbaden 1995 (Wissensliteratur im Mittelalter 20). 5 Mein Interesse gilt nicht dem Aspekt der Bewältigung. Religion, so lautet eine inzwischen zum Gemeinplatz gewordene Einsicht, kann als Bewältigung von Kontingenz, im Sinne einer gesellschaftlichen oder individuellen Praxis des Umgangs mit dem ›Entwurfscharakter‹ sozialer Wirklichkeit einerseits, mit der Unhintergehbarkeit der eigenen Existenz andererseits gedeutet werden; vgl. Luhmann, Niklas, Funktion der Religion, Frankfurt am Main 1977 (stw 407); Lübbe, Hermann, Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung, in: Graevenitz/Marquard, Kontingenz (Anm. 2), S. 35–47. Für religiöse Dichtung ließe sich von dieser Prämisse ausgehend in jedem Fall behaupten, dass sie auf Kontingenzbewältigung ziele. Die hier vorgenommene Untersuchung gilt nicht dieser Funktionsebene, sondern ist auf die textuelle Konstruktion gerichtet. 6 In den ausgewählten Texten fehlt der für die Georgsikonographie wichtige Drachenkampf; zur Einführung dieses Komplexes vgl. Schwarz, Monika, Der heilige Georg – Miles Christi und Drachentöter. Wandlungen seines literarischen Bildes in Deutschland von den Anfängen bis in die Neuzeit, Köln 1972, S. 85–95. 7 Text zitiert nach: Passio Sancti Georgii, hg. von Wilhelm Arndt, Leipzig 1874 (Berichte über die Verhandlungen der königlich sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Classe 26), S. 43–70. 8 Text und Übersetzung zitiert nach: Haubrichs, Wolfgang, Georgslied und Georgslegende im frühen Mittelalter. Text und Rekonstruktion, Königsstein 1979 (Theorie – Kritik – Geschichte), S. 371–374. 9 Text zitiert nach: Reinbot von Durne, Der Heilige Georg, nach sämtlichen Handschriften hg. von Carl von Kraus, Heidelberg 1907 (Germanische Bibliothek. Kritische Ausgaben altdeutscher Texte 1).
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Elke Koch
Der Zufallsbegriff steht in Kontingenzkonzeptionen im Mittelpunkt, in denen es um das Eintreffen von Ereignissen im zeitlichen Verlauf geht. Mit dem Aspekt der Alternative wird dagegen auf ein Konzept rekurriert, in dem Kontingenz durch einen Horizont von zeitgleichen Möglichkeiten bedingt ist. Diese synchrone Konzeption von Kontingenz wird in der theologisch-philosophischen Diskussion des Mittelalters bei Johannes Duns Scotus relevant. Er macht plausibel, dass nicht alles Seiende als notwendig, sondern einiges als kontingent betrachtet werden muss, indem er mit der Evidenz der Marter argumentiert: […] & etiam isti, qui negant aliquod ens contingens, exponendi sunt tormentis, quousque concedant quod possibile est eos non torqueri.10 Auch für den Held einer Märtyrerlegende besteht die Möglichkeit, dass er nicht gefoltert wird; sie muss sogar bestehen, wenn das Martyrium als ein Akt des Sich-Opferns erkennbar werden soll. Zwar beruht die Gattung Legende aufgrund ihrer Einbettung in religiöse Praxis auf einem konstitutiven Ausschluss von Erzählalternativen: Vom Heiligen kann in der Legendendichtung des Mittelalters nicht erzählt werden, dass er (oder sie) nicht heilig ist bzw. ›wird‹. Die schematische Bindung der Gattung verdeutlichen Matías Martínez und Michael Scheffel: »Stellen wir uns […] probehalber eine christliche Heiligenlegende vor, deren Held ein gottesfürchtiges Leben führt, das alle Kriterien für eine künftige Heiligsprechung erfüllt. Nach vielen Jahren fällt er jedoch in die Hände blutrünstiger Heiden, die ihn in der Folterkammer von seinem Glauben abzubringen versuchen; da besinnt sich der Held des offenen Horizonts möglicher Handlungen, schwört seinem Glauben ab und führt hinfort vergnügt ein sündiges Leben. Eine solche Entwicklung verwandelt die gesamte Geschichte rückwirkend in etwas anderes als eine Legende – zum Beispiel in eine Legendenparodie.«11 Der Horizont möglicher Handlungen, Kontingenz also, wird in der Legende zwar immer auf die gleiche Weise ›geschlossen‹. Dafür muss er jedoch zunächst auch immer wieder neu konstituiert werden. Die Märtyrerlegende kann also nicht davon erzählen, dass ihr Held das Martyrium nicht erleidet. Doch zugleich muss davon auf eine Weise erzählt werden, welche die Notwendigkeit des Sterbens in einen Spielraum von 10 Ioannes Duns Scotus, Quaestiones in Lib. I. Sententiarum, dist. 39, q. V; »[…] und auch jene, welche leugnen, dass irgendein Seiendes kontingent ist, müssen der Folter ausgesetzt werden, solange bis sie zugeben, dass es möglich ist, dass sie nicht gefoltert werden.« Zit. nach: Ioannes Duns Scotus, Opera omnia, hg. von Luke Wadding, Lyon 1639 [Nachdruck Hildesheim 1968], Bd. V.2. Zum Stellenwert dieser Passage vgl. Söder, Joachim Roland, Kontingenz und Wissen. Die Lehre von den futura contingentia bei Johannes Duns Scotus, Münster 1999 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters NF 49), S. 35–50; vgl. dazu auch den Aufsatz von Michael Waltenberger in diesem Band. 11 Martínez, Matías und Scheffel, Michael, Einführung in die Erzähltheorie, München 72007 (C. H. Beck Studium), S. 122.
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Erzählen vom Tod
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Möglichkeiten überführt.12 Dieser kann als Horizont von Handlungsoptionen markiert sein, die den Figuren offen stehen. Andere Verfahren der Konstitution von Alternativen bieten sich in der Georgslegende dadurch, dass der Tod wiederholt wird und jeweils ›innerweltliche‹ Auferstehungen nach sich zieht. Diese Verfahren des Erzählens vom Tod sollen in den Analysen fokussiert werden. In der Forschung hat sich die Diskussion über Kontingenz in der Erzählliteratur des Mittelalters bislang vor allem auf zwei Aspekte konzentriert: auf den Zufall, dessen philosophische Bestimmung auf Aristoteles zurückgeht, sowie auf die Figur der Fortuna mit Bezug auf Boethius. Dabei wurde geltend gemacht, dass die Kontingenzreflexion in der Literatur des Mittelalters durch christliche Auffassungen begrenzt ist.13 Im Rahmen der Vorstellung einer vorgegebenen Schöpfungsordnung sei Kontingenz aus der Erfahrungswelt objektiv ausgeschlossen, so Walter Haug: »In einer Welt, für die gilt, daß kein Sperling ohne den Willen Gottes zu Boden fällt, hat der Zufall keinen Platz.«14 Da jedoch ein vollständiger Determinismus dem freien Willen die Basis entzieht, bleibe ein »Kontingenzrest« im menschlichen Handeln bestehen.15 Genau dieses Residuum von Kontingenz zeige sich in der Legende: »Nirgends wird die simplifizierende Schematik der auf den Entscheidungspunkt reduzierten Kontingenz offenkundiger als in der Heiligenlegende. Es stehen ihr zwei Grundmuster zur Verfügung: Entweder der Heilige bekennt sich zu Gott und beharrt darin auch unter größten Anfechtungen und physischen Qualen, oder aber er wendet sich dem Teufel zu und muß dann durch eine weitere punktuelle Umkehr wieder zu Gott zurückgeführt werden.«16 Für andere Gattungen, insbesondere den höfischen Roman, wird Kontingenzreflexion hingegen verstärkt geltend gemacht.17 12 Einen interessanten Sonderfall stellt in diesem Zusammenhang die älteste christliche Märtyrerin Thekla von Ikonien dar, die den Tod nicht durch das Martyrium erleidet. Nach dem Scheitern jedes Angriffs auf ihre körperliche Integrität kommt sie frei und stirbt nach Jahren schließlich auf ›natürliche‹ Weise; zur Theklalegende vgl. Lozar, Angelika, Verheißung, Erfüllung, Subversion. Die Legende von Thekla, der Apostolin und Erzmartyrin, in: Evamaria Heisler, Elke Koch und Thomas Scheffer (Hgg.), Drohung und Verheißung. Mikroprozesse in Verhältnissen von Macht und Subjekt, Freiburg im Breisgau 2007 (Rombach Wissenschaften. Reihe Scenae 5), S. 193–214. 13 Vgl. Köhler, Erich, Der literarische Zufall, das Mögliche und die Notwendigkeit, München 1973, besonders S. 27–31. 14 Haug, Walter, Kontingenz als Spiel und das Spiel mit der Kontingenz. Zufall, literarisch, im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Graevenitz/Marquard, Kontingenz (Anm. 2), S. 151–172, hier S. 152. 15 Ebd., S. 153. Vgl. auch Söder, Kontingenz und Wissen (Anm. 10), S. 19–23. 16 Haug, Kontingenz als Spiel (Anm. 14), S. 153. 17 Zum Spannungsverhältnis von Notwendigkeit und Möglichkeit unter dem Aspekt der Fortuna vgl. Köhler, Der literarische Zufall (Anm. 13), S. 28 ff.; Walter Haug und Burghart Wachinger (Hgg.), Fortuna, Tübingen 1995 (Fortuna vitrea 15); hier v. a. Worstbrock,
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In Clemens Lugowskis Untersuchung zum frühneuzeitlichen Roman lässt sich die Legende, in der alle Ereignisse und Handlungen auf die Manifestation von Heiligkeit ausgelegt sind, als Folie erkennen.18 Lugowski beschreibt diese Struktur des vormodernen Romans als Finalität. Demnach bezieht das Erzählte seinen Zusammenhang und seinen Sinn aus dem Ergebnis, das zwar erst am Ende des Textes erreicht wird, als Ziel aber bereits vorab feststeht. Die Frage des »Ob überhaupt« werde nicht durch den Lauf des Geschehens beantwortet, sondern zugunsten eines zeitlosen »immer« aufgehoben.19 In den Heymonskindern erweise sich die Vollendung des Helden schließlich als Verklärung zum Heiligen: »Damit ist der Sinn der linearen Reihe angedeutet; sie endet in einem Ergebnis, wie es sich ein christliches Volk ewiger und endgültiger nicht vorstellen kann: in Märtyrertum und Heiligkeit.«20 Die Finalität legendarischen Erzählens ist zuletzt erneut von Harald Haferland hervorgehoben worden, der die Gattung auswählt, um an diesem Beispiel sein Konzept der »metonymischen Erzählstruktur« zu erörtern.21 Anhand der Beispiele von Eustachiuslegende und Hartmanns Gregorius entwickelt Haferland die These, dass die akausale Verknüpfung von Handlungselementen, wie sie von Zufällen indiziert wird, Heiligkeit als Eigenschaft der Protagonisten zum Ausdruck bringt. Dabei macht er allerdings darauf aufmerksam, dass Finalität geradezu ein »Reizklima«22 für solche Verknüpfungen bildet. Im Anschluss an Haferland lässt sich danach fragen, inwiefern die Finalität der Legende auch dort akausale Verknüpfungen hervortreibt, wo diese nicht durch ›Wunder‹ schon ausreichend begründet sind. Im Folgenden wird dies mit Blick auf die Todesthematik analysiert. Denn das Erzählen vom Tod in der Märtyrerlegende ist auf das Kausalprinzip von Ursache und Wirkung angewiesen. Auf den Körper des Märtyrers muss erst Gewalt ausgeübt werden, Franz-Josef, Der Zufall und das Ziel. Über die Handlungsstruktur in Gottfrieds Tristan, S. 34–51; Haug, Walter, Eros und Fortuna: der höfische Roman als Spiel von Liebe und Zufall, S. 52–75. Zum Begriff der âventiure als Figuration von Kontingenzreflexion im höfischen Roman; vgl. Mertens, Volker, Frau Âventiure klopft an die Tür…, in: Gerd Dicke, Manfred Eikelmann und Burkhard Hasebrink (Hgg.), Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, Berlin und New York 2006 (TMP 10), S. 339–346; sowie Schnyder, Mireille, Sieben Thesen zum Begriff der âventiure, in: Dicke/Eikelmann/Hasebrink, Im Wortfeld, S. 369–375. 18 Lugowski, Clemens, Die Form der Individualität im Roman. Mit einer Einleitung von Heinz Schlaffer, Frankfurt am Main 21994 (stw 151). 19 Ebd., S. 80. 20 Ebd., S. 27. 21 Vgl. Haferland, Harald, Metonymie und metonymische Handlungskonstruktion. Erläutert an der narrativen Konstruktion von Heiligkeit in zwei mittelalterlichen Legenden, in: Euphorion 99 (2005), S. 323–364. 22 Ebd., S. 345.
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Erzählen vom Tod
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damit das Wunder der Unverletzbarkeit sichtbar wird. Indem der Kausalzusammenhang von Gewaltakt und Verletzung durch das Wunder aufgehoben wird, verweist der Text zwar auf eine höhere Ursache: auf Gott als Ursache von Leben und Tod. Dennoch muss die Märtyrerlegende das Prinzip der immanenten Kausalität immer wieder in den Text hineinholen, um seine Überwindung zu zeigen, aber auch, um vom Tod des Heiligen erzählen zu können. Auch der ›unsterbliche‹ Georg wird schließlich durch das Schwert zu Tode gebracht. Wie mit dieser Kausalität in der Georgslegende umgegangen wird, untersuche ich zunächst an der Passio.
I. Die Passio Sancti Georgii repräsentiert die frühe X-Rezension der Legende; der hier zugrunde gelegte Text findet sich in einer Sammlung von Heiligenleben, die im 9. Jahrhundert aufgezeichnet wurde.23 Da für die folgenden Analysen die Handlungsfolge relevant ist, gebe ich einen etwas ausführlicheren Überblick: Kaiser Dacianus beruft eine Gerichtsversammlung ein. Unter Folterdrohung befiehlt er, den heidnischen Göttern Opfer zu bringen. Georg24 von Kappadozien widersetzt sich, woraufhin der Kaiser ihn grausam martern lässt. Die Folter kann ihm jedoch nichts anhaben. Im Kerker erscheint ihm Gott, stärkt ihn und verkündet ihm ein siebenjähriges Martyrium und dreifache Auferstehung. Nach der vierten Hinrichtung werde er in den Himmel aufgenommen. Georg wird erneut gemartert und bleibt standhaft. Ein Versuch, Georg vergiften zu lassen, bleibt wirkungslos. Der Heilige wird nun auf einem mit Schwertern besetzten Rad in zehn Teile zerstückelt; er stirbt seinen ersten Tod und seine Gebeine werden in einem Brunnen versenkt. Gott haucht ihm neues Leben ein. Das Wunder ruft Bekehrungen unter den Heiden hervor. Georg wird nun einer weiteren grausamen Marter und Vernichtungsprozedur unterzogen, die er jedoch unversehrt übersteht. Vor Gericht wird Georg aufgefordert, hölzerne Thronsessel in Bäume zu verwandeln. Der Heilige vollzieht das Wunder, das jedoch als Werk der heidnischen Götter ausgelegt wird. Georg wird erneut hingerichtet, indem man ihn in zwei Teile zersägt. Sein Körper wird in einem Kessel mit Pech, Blei und Teer verbrannt und verkocht. Gott lässt den Heiligen ein zweites Mal auferstehen. Nun erweckt Georg den toten Ochsen einer armen Frau zum Leben und lässt aus dem Staub in einem alten Sarkophag mehrere Menschen wieder auferstehen, 23 Vgl. Arndt, Passio (Anm. 7), S. 44; zu typologischen Bezügen vgl. Schwarz, Der heilige Georg (Anm. 6), S. 25–37. 24 Um den (kulturellen, nicht textgeschichtlichen) Traditionszusammenhang zu kennzeichnen, verwende ich einheitlich den Namen Georg, obwohl der Name des Heiligen in den hier untersuchten Texten in unterschiedlichen Formen erscheint.
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die von ihm die Taufe empfangen. Der Heilige wird ins Haus einer armen Witwe gebracht, dort lässt er aus einem Holzbalken Früchte wachsen und heilt ihr krankes Kind, woraufhin die Frau sich bekehrt. Wiederum wird Georg von Dacianus der Marter unterzogen und er stirbt ein drittes Mal, wobei sein Körper verbrennt. Erneut wird er von Gott auferweckt. Seine Erscheinung bewirkt, dass sich einige der Heiden bekehren, die von Dacianus hingerichtet werden. Der Kaiser versucht nun, Georg dazu zu überreden, den heidnischen Göttern zu opfern. Dieser geht zum Schein darauf ein und wird vom Kaiser in den Palast eingeladen. Dort bekehrt Georg die Kaiserin Alexandra. Am nächsten Morgen soll das Opfer dargebracht werden. Der Heilige lässt Apollo aus dem Tempel holen. Der Götze gesteht, dass er ein gefallener Engel ist, gibt sich also als Teufel zu erkennen, und wird von Georg in die Hölle verbannt. Die Kaiserin bekennt sich zum Christentum und wird grausam gemartert und hingerichtet. Georg wird schließlich zum Tod durch das Schwert verurteilt. Auf ein Gebet des Heiligen hin fällt ein Feuersturm vom Himmel, der fünftausend Heiden, die Könige und Dacianus tötet. Georg wird von Gott zum Nothelfer erhoben. Er wird enthauptet, sein Tod geht mit der Erscheinung von Wundern einher.
Der Überblick zeigt, dass die Handlungsmacht Georgs, die einen Spielraum von Handlungsoptionen voraussetzt, gerade dort markiert wird, wo sein letzter Tod unmittelbar bevorsteht. Der Feuersturm, der durch das Gebet des Heiligen bewirkt wird, fegt seine Widersacher hinweg; die Macht des Kaisers wird nicht mehr nur durch Georgs Widerstand gebrochen, sondern aggressiv eliminiert. Nachdem niemand mehr da ist, der die Hinrichtung durchsetzen kann, Georgs Tod also nachgrade unwahrscheinlich geworden ist, lässt er selbst den Befehl von Dacianus’ Schergen vollstrecken: venite et complete, quae vobis precepta sunt (S. 69, c. 20).25 Mit Blick auf die Versehrbarkeit des Körpers zeigt sich, dass das Kausalprinzip von Ursache und Wirkung von Gewalt in der Inszenierung der Martern zugleich aufgerufen und unterlaufen wird. Die Folgen der Gewaltakte wie z. B. Wunden oder Ströme von Blut werden mehrfach benannt.26 Zugleich wird jedoch immer wieder mit Variationen der Formel non nocuit eum die Wirkungslosigkeit der Foltern markiert. Zwar lässt sich in der ersten Martersequenz die Unwirksamkeitsformel, die zu der Benennung der Wunden in Kontrast steht, noch als Verweis auf Georgs spirituelle Standhaftigkeit respektive die Unangreifbarkeit seines Glaubens beziehen. Im Verlauf der Handlung wird die gleiche Formel jedoch auch dort verwendet, wo durch Wunder die Wirkung der Martern am Körper ausgesetzt erscheint, eine Verletzung also nicht eintritt oder rückgängig gemacht wird (vgl. S. 54 f., c. 10). Die Relation von Ursache und Wirkung wird somit am Körper des Heiligen außer Kraft gesetzt, ohne sie jedoch ganz zu negieren.
25 »Kommt und vollendet [die Handlungen], die euch befohlen worden sind.« 26 Vgl. S. 50, c. 4; S. 51, c. 6; S. 55, c. 10.
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Erzählen vom Tod
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Eine weitere Inszenierungsstrategie lässt sich erkennen, wenn der Blick auf die Folterhandlungen gerichtet wird. In ihrer ganzen Drastik und Vielgestaltigkeit erscheinen die Martern und Tötungen Georgs insofern als austauschbar, als sie keine Steigerung der Gewalt markieren. Zwar werden auf der Ebene der Handlungsmotivierung die einzelnen Akte durch die Intention des Dacianus verknüpft, ein Mittel zu finden, um Georg zu überwinden. Dacianus sieht, dass die Folter mit einem Werkzeug unwirksam bleibt, und ordnet daraufhin die Anwendung einer anderen Tortur an (vgl. S. 51, c. 4). Auf der Ebene der narrativen Konstruktion des Martyriums, die sich in der Auswahl und der Reihenfolge der Martern manifestiert, werden die Gewaltakte aber nicht durchgängig in der Logik einer Steigerung arrangiert. Bereits in der ersten Marterreihe wird Georg mit einem eisernen Hammer auf den Kopf geschlagen, außerdem wird ihm eine massive Steinsäule auf den Bauch gelegt. Es wird also hier bereits der Versuch unternommen, ihn zu töten.27 Im Vergleich dazu wirkt die zweite Marter abgeschwächt, indem der Heilige ›nur‹ schwer geschlagen wird. Die Marter durch Einsperren in einen mit scharfen Spitzen versehenen Hohlraum wird wiederholt vollzogen. In der vierten Marterfolge, die Georgs ersten Tod herbeiführt, wird der Körper des Heiligen bereits zu Staub zermahlen. Zwar kann insofern eine gewisse Steigerung konstatiert werden, als nach dem zweiten Tod die Substanz von Georgs Körper angegriffen wird, indem seine Überreste verbrannt und gekocht werden. Doch in der folgenden Marter und dritten Tötung Georgs wird der Körper ebenfalls verbrannt. Auf der Ebene der Körperinszenierung wird also dadurch, dass die Martern wiederholt wirkungslos bleiben, sowie durch die Stärkungs- und Auferstehungswunder die Versehrbarkeit des Körpers immer wieder dementiert.28 Doch wird dies darüber hinaus auch auf der Ebene der Handlungsstruktur manifest. Denn das Prinzip von Ursache und Wirkung der Physis käme dann besonders zur Geltung, wenn die Gewalt nach jedem gescheiterten Angriff auf den Körper gesteigert würde. Das Erzählen vom Tod ist aber auf eine Weise konstruiert, die eine solche Steigerung verweigert. Dadurch wird das Kausalitätsprinzip abgewiesen, welches durch die Materialität und Endlichkeit des Körpers bedingt ist. Auf diese Weise führt die Legende auf einer Ebene ›unterhalb‹ der kausalen Motivierung von Handlungen durch die Materialität des Körpers und die Intentionen der Akteure eine Ebene akausaler Verknüpfung ein. Der Tod wird auf diese Weise narrativ gleichsam kontingent gesetzt. 27 Vgl. Zwierzina, Die Legenden der Märtyrer (Anm. 3), S. 149. 28 Zum Martyrium als »Auferstehungsperformanz« vgl. Bachorski, Hans-Jürgen und Klinger, Judith, Körperfraktur und herrliche Marter. Zu mittelalterlichen Märtyrerlegenden, in: Klaus Ridder und Otto Langer (Hgg.), Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur, Berlin 2002, S. 309–333.
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Die Thematisierung des Todes steht dem nicht im Weg, denn die Abwehr des Todes ist auf seine Faktizität bezogen. Entsprechend eindeutig werden die exitus Georgs benannt: […] in decem partibus disruptus est et emisit spiritum (S. 53, c. 9)29; […] segaverunt in duas partes et sic redidit sanctus Georgius spiritum (S. 56, c. 11)30; [a]rdebat enim corpus eius sicut cera […], emisit spiritum (S. 60, c. 15)31.
II. Das althochdeutsche Georgslied, dessen Entstehung Ende des 9. oder Anfang des 10. Jahrhunderts angesetzt wird,32 gehört als Heiligenhymnus nicht der Erzählgattung der Legende an.33 Formal und pragmatisch gehört es zur liturgischen Dichtung;34 vermutlich wurde es im rituellen Zusammenhang von Prozessionen zu Ehren des Heiligen gesungen.35 Dennoch kann eine kontrastive Analyse der Darstellung des Martyriums in diesem Text zur hier verfolgten Fragestellung beitragen. Die Refrainverse des Liedes führen in die 29 »[…] [E]r wurde in zehn Teile zerrissen und hauchte seinen Geist aus.« 30 »[…] [S]ie zertrennten ihn in zwei Teile und so gab der Heilige Georg seinen Geist auf.« 31 »Sein Körper brannte wie Wachs […], er hauchte seinen Geist aus.« 32 Vgl. Haubrichs, Wolfgang, Die Anfänge. Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter. Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, Bd. I/1, Tübingen 21995, S. 335. 33 Die weitgefasste Definition von Hellmut Rosenfeld, Legende, Stuttgart 41982 (Sammlung Metzler. Abt. E. Poetik 9), S. 10 als »dichterische Wiedergabe des irdischen Lebens heiliger Personen« erfasst im Georgslied die Legende »nur als stoffliches Element«, hier S. 37. 34 Haubrichs, Wolfgang, Heiligenfest und Heiligenlied im frühen Mittelalter. Zur Genese mündlicher und literarischer Formen in einer Kontaktzone zwischen laikaler und klerikaler Kultur, in: Detlef Altenburg u. a. (Hgg.), Feste und Feiern im Mittelalter. Symposium des Mediävisten-Verbandes, Sigmaringen 1991, S. 137 rechnet das Georgslied zum Funktionstyp des Memoriallieds, den er vom Erzähllied abhebt. Das Differenzkriterium sieht er darin, »dass derjenige, der sich aus diesem Lied die Vita des Heiligen rekonstruieren müßte, vor eine fast unlösbare Aufgabe gestellt [würde]«, da das Lied einzelne Begebenheiten hintereinander aufreiht. Meines Erachtens lässt sich dennoch Narrativität im Georgslied zumindest in Bezug auf den mittleren Strophencursus ansetzen. Denn obwohl die Ereignisse nicht in einer von der Überlieferung vorgegebenen Reihenfolge erzählt werden, sind die Motive hier als »zusammenhängende Geschichte« (ebd.) verknüpft. 35 Zur Rekonstruktion des lokalen Heiligenkults am vermuteten Ort der Entstehung vgl. Haubrichs, Wolfgang, Die Kultur der Abtei Prüm zur Karolingerzeit. Studien zur Heimat des althochdeutschen Georgsliedes, Bonn 1979 (Rheinisches Archiv 105); für eine andere Lokalisierung des Georgslieds (Reichenau) stimmt Schützeichel, Rudolf, Codex Pal. lat. 52. Studien zur Heidelberger Otfridhandschrift, zum Kicila-Vers und zum Georgslied, Göttingen 1982 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-historische Klasse 130), S. 59–95, hier 74–78.
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Erzählen vom Tod
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Darstellung von Ereignissen der Vita Georgs eine Wiederholungsstruktur ein. Doch lässt sich in den Strophen, die den Martyrien gewidmet sind, eine Tendenz zur linearen Gestaltung feststellen, die darauf beruht, dass die Todesarten nach dem Prinzip der Steigerung angeordnet sind.36 Im Unterschied zur Dekonstruktion der Kausalität körperlicher Endlichkeit in der Passio wird diese hier narrativ rekonstruiert. Um dies zu erhellen, muss berücksichtigt werden, wie im Lied Motive aus der Überlieferung ausgewählt und angeordnet werden.37 Das Georgslied übernimmt die Dreizahl der Auferstehungen aus der X-Rezension der Legende und zieht durch Umstellung der Wunder- und Bekehrungstaten die Darstellung des Martyriums in einem Strophencursus zusammen (V.-VII. Strophe).38 Da das Ende des Liedes nicht überliefert ist, bleibt es Spekulation, ob und wie darin auf die letzte Hinrichtung des Heiligen Bezug genommen wurde.39 Im hier zitierten Cursus (V–VII) ist jedem der drei vorhergehenden Tode eine Textstrophe gewidmet, auf die Refrainverse folgen, in denen die Auferstehung des Heiligen und sein Triumph über die Heiden gefeiert werden: Beghont ezs dher rhike man . fhile harte zhurnen . dacianus uhuoto . zhurnt ezs uhunterdhrato . her quhat GORIO uhari . hein ghoukelari . hiezs her GORIUN fhaen . hiezs en huuzs shieen . hiezs en slahen harto . mit uhunteruhasso shuerto . dhazs uheizs hik dhazs ist aleuhar . huffherstuont shik GORIO dhar . (huffherstuont shik GORIO dhar) . uhola (p)rediiot her dhar . dhie heidenen man . keshante GORIO dhrate fhram . Beghont ezs dher rhike man . fhilo harto zhurnen . dho hiezs er GORION binten . han en rhad uhinten . ce uhare shahen hik ezs hiuu . shie praken inen en cenuu .
36 Vgl. Schmidt-Wiegand, Ruth, [Art.] Georgslied, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 2, Berlin und New York 21980, Sp. 1213–1216, hier Sp. 1214; Schwarz, Der heilige Georg (Anm. 6), S. 48–50. 37 Vgl. dazu die Detailanalyse von Haubrichs, Georgslied und Georgslegende (Anm. 8), S. 341–357. 38 Dieser Block nimmt – im Rahmen des Überlieferten und Rekonstruierbaren – die zentrale Stellung ein; vgl. dazu Haubrichs, Georgslied und Georgslegende (Anm. 8), S. 358 f., zum Formargument der Nähe zur sogenannten Da-Capo-Sequenz vgl. S. 174 f. Zur Darstellung des Dacianus in diesem Teil des Georgslieds vgl. Keller, Hildegard Elisabeth, Zorn gegen Gorio. Zeichenfunktion von zorn im althochdeutschen Georgslied, in: Stephen C. Jaeger und Ingrid Kasten (Hgg.), Codierungen von Emotionen im Mittelalter, Berlin und New York 2003 (TMP 1), S. 115–142. 39 Vgl. Haubrichs, Georgslied und Georgslegende (Anm. 8), S. 358 f.
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dhazs uhezs hik dhazs ist aleuhar . huffherstuont shik GORIO dhar . huffherstuont shik GORIO dhar . uhola (prediiot her) dhar . dhie heidenen man . keshante GORIO fhile fhram . Dho hiezs er GORION fhaen . hiezs en harto fhillen . man kehiezs en mullen . ce puluer al uerprennen . man uharf an in dhen prunnen . er uhas allike (e)rsun(ten) . poloton shi dher ubere . steine mikil menige . beghonton shi ’nen umbeghan . hiezsen GORIEN huffherstan mikil dheta G(ORIO dhar) . sho her io dhuot uhar . dhazs uhezs hik (dhazs ist a)leuhar . huffherstuont shik GORIO dhar . (huffherstuont shik GORIO dhar) . uho(la) pr(ediiot her dha)r . dhie heidenen man . keshante GORIO fhile fhram . (V–VII)40
Georgs Martyrium erscheint als eine Abfolge von Tötungsversuchen, in denen bei jedem Anlauf die Zerstörung stärker vorangetrieben wird.41 Zuerst wird er mit einem Schwert geschlagen,42 dann auf dem Rad in zehn Teile geteilt, beim dritten Versuch schließlich wird der Körper zermalmt und verbrannt. Dem dritten Versuch der Vernichtung folgt die Bemühung, auch die Reste des Körpers aus der Welt zu schaffen, indem diese in einen Brunnen geworfen werden. Verbunden mit dem dritten Tod findet sich in der Georgsüberlieferung die Versenkung im Brunnen nur sehr selten, meist folgt sie auf 40 »Der Machthaber begann darüber sehr zu zürnen, der Tyrann Dacianus erzürnte sich ungestüm. Er sprach, Georg sei ein Zauberer. Er befahl, Georg festzunehmen; befahl, ihn auszustrecken; befahl, ihn arg zu schlagen mit einem wunderscharfen Schwert. // Das weiß ich, das ist wirklich wahr, auferstand der Georg da. Auferstand der Georg da, prächtig predigte er sogleich. Die Heiden machte Georg vollkommen zu Schanden. // Der Machthaber begann darüber sehr zu zürnen. Sogleich befahl er, Georg zu fesseln und auf ein Rad zu flechten. // Ich sage euch die volle Wahrheit, sie brachen ihn in zehn Stücke. // Das weiß ich … [Refrain, s. o.] // Da befahl er, Georg festzunehmen; befahl, ihn schwer zu geißeln; man befahl, ihn zu zermalmen und vollkommen zu Staub zu verbrennen. Man warf ihn in den Brunnen; er war sogleich versunken. Eine große Menge Steine wälzten sie darüber. Sie fingen an, um ihn herumzugehn, forderten Georg auf, aufzuerstehn. Großes wirkte Georg da, so wie er es immer machet [sic] offenbar. // Das weiß ich … [Refrain, s. o.].« 41 Haubrichs, Georgslied und Georgslegende (Anm. 8), S. 350 f. 42 Haubrichs, Die Anfänge (Anm. 32), S. 340 geht davon aus, dass es sich um eine Zerstückelung handelt, welche die Zersägung Georgs als Ursache des ersten Todes in der Legendentradition ersetzt. Schwarz, Der heilige Georg (Anm. 6), S. 48 nimmt an, dass hier bereits eine Enthauptung vollzogen werde. Der Text macht jedoch die Zerteilung des Körpers im Unterschied zu den beiden folgenden Strophen an dieser Stelle nicht explizit. Daher gehe ich davon aus, dass die Motivwahl in der Logik einer Steigerung steht, die von der tödlichen Verwundung des Körpers über seine Zerteilung zum Versuch seiner weitestgehenden Auflösung (ce puluer) führt. Die in der X-Rezension bereits angelegte Überbietung des ersten durch den zweiten Tod (Zersägung in zwei Teile, dann Zerstückelung und der Versuch, die Körpermaterie durch Verkochen mit anderen Substanzen zu zerstören) wird hier auf drei Schritte verteilt, gleichsam vergröbert und dadurch deutlicher hervorgehoben.
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Erzählen vom Tod
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den ersten Tod.43 Durch die Verschiebung des Motivs ans Ende der Sequenz wird das Steigerungsmoment verstärkt. Beim dritten Tod ist ein Motiv aus der Y-Rezension eingefügt, der Verschluss des Brunnens, mit dem seltenen Detail der Verwendung mehrerer Steine.44 Das Motiv betont das Bemühen der Heiden, den Körper des Heiligen, der nach jeder Zerstörungsattacke seine ursprüngliche Form wiedererlangt, unter Kontrolle zu bekommen. Die Martern zielen nicht nur auf die Tötung des Heiligen, sondern darüber hinaus, seine Auferstehung zu verhindern.45 Die Steigerungsstruktur der Martyrienstrophen des Georgsliedes ist an der oben entwickelten Kausallogik körperlicher Materialität ausgerichtet. Indem diese Logik den Handlungen der Heiden unterlegt ist, wird sie als defizitär ausgewiesen. Dennoch wird das Prinzip genutzt, um den Tod als Zielpunkt des Erzählens außer Kraft zu setzen und zu überschreiten. Ziel- und Höhepunkt des Strophencursus ist die Auferstehung, die hier in singulärer Weise hervorgehoben wird. Die Szene ist im Lied durch ein eigenständiges Motiv erweitert. Die Heiden ziehen um den Brunnen herum46 und verspotten Georg, indem sie ihn dazu auffordern, aufzuerstehen. Der Spott der Heiden ist in der Tradition vorgebildet, jedoch nicht als direkte Aufforderung zur Auferstehung.47 Mit seiner Fassung spitzt das Lied die Frage der Kontingenz zu. Die Heiden, die ihre Gewissheit, den Tod letztgültig durchgesetzt zu haben, in einer Ritualparodie auskosten, mokieren sich über die Auferstehung als scheinbar besiegte, ausgeschlossene Alternative. Indem aber genau dieses Un-Mögliche sich realisiert, triumphiert nicht einfach das eine über das andere. Vielmehr wird die Auferstehung als Einzig-Mögliches präsentiert. Georg kann nicht nicht auferstehen, selbst wenn die Auferstehung in beunruhigender Weise mit rituellen Handlungen der Heiden assoziiert ist. Die Notwendigkeit des Sterbens wird auf die Notwendigkeit der Auferstehung verschoben. Der Tod selbst hingegen, der immerhin Voraussetzung für die Auferstehung ist, wird aus der Handlung ausgeklammert. 43 Haubrichs, Georgslied und Georgslegende (Anm. 8), S. 351, hier auch Anm. 644. 44 Ebd., S. 352. 45 In der Passio Sancti Georgii wird die Versenkung im Brunnen mit dem Zweck verbunden zu unterbinden, dass Georgs sterbliche Überreste durch Christen geborgen und er als Märtyrer verehrt wird: ›ne quis christianorum rapiat de membris eius et suscitet martyrium eius, et confidant in eum […]‹, (S. 53, c. 9; »damit keiner der Christen etwas von dessen Gliedern an sich bringt, sein Martyrium wiederbelebt und sie auf ihn vertrauen […].«) Auffällig ist an dieser Stelle die Verwendung von suscitare, wodurch der Gedanke eines Auferweckungszaubers der Christen in Dacianus’ Überlegung mitschwingt. 46 Zu historischen Toten- und Strafbräuchen als möglichen Hintergründen des Motivs vgl. Haubrichs, Georgslied und Georgslegende (Anm. 8), S. 352, Anm. 647. 47 Vgl. ebd., S. 353.
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In den ersten beiden Strophen fällt der Tod mit dem Wechsel von Text zu Refrain zusammen: hiezs en slahen harto . mit uhunteruhasso shuerto / dhazs uheizs hik dhazs ist aleuhar . huffherstuont shik GORIO dhar (V,5 f.); ce uhare shahen hik ezs hiuu . shie praken inen en cenuu / dhazs uhezs hik dhazs ist aleuhar . huffherstuont shik GORIO dhar (VI,3 f.). Auf die Beschreibung der Marter in der Textstrophe folgt die Verkündung der Auferstehung im Refrain. Der Tod fällt gewissermaßen dazwischen. Durch die Ellipse wird das Eintreten des Todes aber nicht einfach als Ungesagtes ausgeschlossen und zum Verschwinden gebracht. Vielmehr wird durch den formalen Bruch der Tod als Leerstelle markiert. Dadurch wird der Moment der Ausgrenzung und Überwindung wahrnehmbar. Auf das Phänomen, dass in Legenden vom »unzerstörbaren Leben« darauf verzichtet wird, »die Tatsache des Todes durch scheinbar völlige Vernichtung des Körpers und das Wiederaufleben des unzerstörbaren Heiligen mit nackten Worten auszusprechen«, hat bereits Zwierzina hingewiesen.48 Dieser Verzicht wird im Georgslied mit aller Konsequenz durchgeführt: Georgs Sterben ereignet sich nicht. Auch in der dritten Strophe bleibt der Tod implizit. Hier fällt er jedoch nicht zwischen Text- und Refrainstrophe, sondern bleibt als Ereignis in einer fortgesetzten Folge von Übergriffen auf den Körper unerwähnt. Georg wird gegeißelt, zermalmt und verbrannt. Der Tod wird übergangen, indem der Text mit den Handlungen fortfährt, die mit den Überresten vollzogen werden. Im Unterschied zur Passio, wo nach den vollzogenen Tötungen der Körper und seine materialen Überreste als Objekte der Handlungen explizit benannt werden,49 wird im Georgslied auf den Heiligen während und nach seiner Tötung durchgängig pronominal referiert: man kehiezs en mullen . ce puluer al uerprennen / man uharf an in dhen prunnen . er uhas allike (e)rsun(ten) (VII,2 f.). Georg besteht fort, während sein Körper zerstört wird. Zwischen der Darstellung der Verspottung Georgs nach seinem dritten Tod und der Verkündung seiner Auferstehung in den Refrainversen liegt eine Prolepse, in der auf die Taten vorausgeblickt wird, die der Heilige danach vollbringt. Dabei wird der Zeitraum nicht auf die Frist bis zu seinem vierten, ›finalen‹ Tod begrenzt, sondern bis in die Gegenwart ausgeweitet: mikil dheta G(ORIO dhar) . sho her io dhuot uhar (VII, 6).50 Auch den ›endgültigen‹ Tod 48 Zwierzina, Die Legenden der Märtyrer (Anm. 3), S. 133. 49 Tunc iussit Dacianus ossa sancti Georgii iactare in puteum (S. 53, c. 9; »Da befahl Dacianus, die Gebeine des heiligen Georg in einen Brunnen zu werfen«); Tunc iussit imperator adduci caccabum aereum, […] et corpus sanctum ibi mitti precepit, et ignem supposuit ut membra eius ibidem perirent (S. 56, c. 11; Hervh. E. K. »Dann ließ der Kaiser einen goldenen Kessel herbeibringen […] und befahl, den heiligen Körper hinein zu legen, und darunter entfachte er ein Feuer, damit seine [Georgs] Glieder darin vernichtet würden«). 50 Zur Metrik des Georgslieds vgl. ebd., S. 157–164.
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Erzählen vom Tod
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Georgs lässt das Georgslied in einer Ellipse verschwinden. Die Aussparung der Zwischenzeit, in welcher dieser Tod sich zu ereignen hätte, fällt mit der metrischen Zäsur der Langzeile zusammen. Dadurch wird die Kontinuität zwischen dem leiblich auferstandenen Georg der Geschichte und dem im ›Heute‹ des Lieds verehrten Heiligen, der in Reliquien präsent ist, affirmiert. Die Auferstehung wird ›endgültig‹ vom Tod entkoppelt und aus dem Status eines Ereignisses ins Überzeitliche überführt. Das Lied inszeniert und feiert die Gewissheit und Unausweichlichkeit der Auferstehung. Den Tod, der dafür die Bedingung bildet, blendet es aus. Auch im Georgslied wird somit die Notwendigkeit des Todes mittels narrativer Strategien dementiert, die sich aber von den Verfahren in der Passio unterscheiden.
III. Reinbot von Durne verwendet in seiner Georgsdichtung aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts51 beide Verfahren, die bislang analysiert wurden: Trotz des eigenständigen Arrangements der Motive52 weist Reinbots Erzählung sowohl die akausale Sequenzierung der Tötungen und Martern auf, die sich in der Passio konstatieren ließ, als auch das Verfahren der Ausblendung des Todes, welches im Georgslied eingesetzt wird.53 Letzteres nutzt Reinbot jedoch nicht durchgängig, sondern nur einmalig in der Szene der Radmarter. Tatsächlich ist es hier nicht möglich, den Tod als ›Faktum‹ im Text dingfest zu machen.54 Während das Rad sich dreht und, wie der Erzähler versichert, die Schwerter den Heiligen schneiden, liegt dieser friedlich schlafend unter der Obhut eines Engels. Nachdem man dem Kaiser bereits den Tod gemeldet hat, wacht Georg unversehrt wieder auf. Explizit benannt wird der Tod nur 51 Zur Frage der Datierung vgl. Murray, Alan V., Reinbot von Durne’s Der Heilige Georg as Crusading Literature, in: Forum for Modern Language Studies 22 (1986), S. 172–183. 52 Eine direkte Quelle wird zwar von Teilen der Forschung angenommen, kann aber nicht identifiziert werden. Zu Traditionseinflüssen vgl. Haubrichs, Georgslied und Georgslegende (Anm. 8), S. 301; zur Frage der Quelle vgl. Feistner, Edith, Reinbot von Durne: Georgslegende, in: Horst Brunner (Hg.), Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen, Stuttgart 1993 (RUB 8914), S. 314, hier auch Anm. 15. 53 Vgl. zur Motivierung in der Verknüpfung der Episoden Feistner, Historische Typologie (Anm. 4), S. 140 ff. Feistner, S. 141, Anm. 162 macht eine Steigerung daran fest, dass der Heilige erst bei seinem zweiten Tod aufersteht, siehe dazu unten. 54 Feistner, ebd., sieht daher nur eine Auferstehung im Text, ebenso Brinker, Klaus, Formen der Heiligkeit. Studien zur Gestalt des Heiligen in mittelhochdeutschen Legendenepen des 12. und 13. Jahrhunderts, Bonn 1968, S. 139. In gewissem Sinne finden hier zwei Auferstehungen statt, jedoch nur ein Tod.
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im Konjunktiv der berichteten Rede: der keiser hiez sehen dar: / dô kômen im diu mære / daz er verscheiden wære (V. 3800–3802). Die Evidenz des Körpers wird durch die Erzählung Reinbots aufgehoben: Georgs Tod ist eine Falschmeldung. Transzendenz wird hier virtuos als das »paradoxe Zusammenfallen von Zerstörung und Integrität des Körpers«55 inszeniert. Die Frage nach der Bedeutung von Kontingenz wirft Reinbots Georg allerdings vielschichtiger auf als die bislang untersuchten Texte. Denn hier wird der Tod nicht nur durch die narrative Konstruktion gleichsam kontingent gesetzt, sondern der Text lässt ein Bewusstsein davon erkennen, dass durch das Erzählen Kontingenz generiert wird. Um dies herauszuarbeiten, muss der Blick über die Darstellung des Martyriums hinaus erweitert werden. Dann zeigt sich diese Reflexion von Kontingenz in Schlüsselstellen, in denen das Erzählen selbst thematisch wird.56 Im Prolog wird das Erzählen mit dem Thema des Todes enggeführt:57 Herre und liebe frouwe mîn, ich tuon iu beiden sampt schîn daz ich von sant Georjen sô sprich daz ir sîn werdet frô, mich enirre danne êhaft nôt: daz ist niht wan der tôt, dem niemen wol entrinnen kan. (V. 27–33)
Reinbot verspricht seinen Auftraggebern, Herzog Otto von Bayern (1231– 1253) und seiner Frau Agnes, von Georg zu erzählen, falls er nicht durch den Tod davon abgehalten werde. Durch diesen Hinweis, der auf den ersten Blick als formelhafte Absicherung des Versprechens erscheint, werden der Tod und das Erzählen einander gegenübergestellt. Für das Erzählen werden im Prolog zwei Alternativen geltend gemacht, denn Reinbot deutet die Möglichkeit an, dass er von Georg auch auf andere Weise erzählen könnte: 55 Strohschneider, Peter, Georius miles – Georius martyr. Funktionen und Repräsentationen von Heiligkeit bei Reinbot von Durne, in: Meyer, Matthias und Hans-Jochen Schiewer (Hgg.), Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. FS Volker Mertens, Tübingen 2002, S. 781–811, hier S. 792. 56 Zum Hervortreten des Erzählers vgl. Feistner, Historische Typologie (Anm. 4), S. 142. 57 Zum Prolog vgl. Vollmann-Profe, Gisela, Der Prolog zum Heiligen Georg des Reinbot von Durne, in: Grubmüller, Klaus u. a. (Hgg.), Befund und Deutung. Zum Verhältnis von Empirie und Interpretation in Sprach- und Literaturwissenschaft. FS Hans Fromm, Tübingen 1979, S. 320–341. Zum Vergleich mit dem Willehalm Wolframs von Eschenbach, auf den der Prolog explizit verweist, vgl. Kleinschmidt, Erich, Literarische Rezeption und Geschichte. Zur Wirkungsgeschichte von Wolframs Willehalm im Spätmittelalter, in: DVjs 48 (1974), S. 585–649, hier S. 607–611; Wyss, Ulrich, Theorie der mittelhochdeutschen Legendenepik, Erlangen 1973 (Erlanger Studien 1), S. 131–180.
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ich enbin der witze niht sô laz ich enkünne ez doch verre baz tihten unde zieren, mit lügenen florieren beide her unde dar: nû hât ez mir verboten gar von Beiern diu herzogin, der ich underhœric bin. (V. 49–56)
Das Erzählen von Heiligkeit und Wahrheit ist so von einer Wahl abhängig gemacht, d. h. Transzendenz bringt sich nicht ›von selbst‹ zur Geltung.58 Derart ostentativ der Kontingenz von Erzählalternativen unterstellt, gerät die Legende unter erheblichen Druck, ihre Sinnkonstitution transzendent zu begründen.59 Der auffallend häufig und extensiv geführte kosmologische Diskurs lässt sich als Kompensation für dieses Defizit verstehen. Reinbots Erzählung enthält zahlreiche Gebete und Religionsgespräche sowie Erzählerkommentare, die geradezu obsessiv um die Ordnung der Natur und um die Frage kreisen, wer die Welt lenkt.60 In Reinbots Georgsdichtung wird indessen die Frage der Kontingenz freisetzenden Erzählalternativen nicht bereits im Prolog abgehandelt. Vielmehr bleibt in der Geschichte, die um das ritterliche ›Vorleben‹ des Märtyrers erweitert ist, ein Möglichkeitsraum in Form des Erzählens von zwei Formen der Heiligkeit virulent. Zuletzt hat Peter Strohschneider die Vermittlung zweier Modelle, die im Ritter- und Märtyrerheiligen Georg zusammengespannt werden, als zentrales narratives Problem von Reinbots Georg beschrieben.61 Dabei zielt seine Interpretation auf die Differenz der Zeichen- und Wissensordnungen, die mit der adlig-laikalen Repräsentationskultur einerseits und der Darstellung von Transzendenz andererseits verbunden sind. Am Körper Georgs träten diese beiden Zeichenordnungen in ein Spannungsverhältnis, denn in der Logik feudaler Repräsentation fungiert der Körper als stets differentiell codiertes Zeichen, während Transzendenz die Aufhebung von Differenz voraussetzt. Der Körper des Ritters, der Herrschaft repräsentiert, sei insofern mit dem Körper des Märtyrers nicht vereinbar. Die Leistung Reinbots liegt dieser Sichtweise zufolge 58 Zu dieser Passage vgl. Wyss, Theorie (Anm. 57), S. 136; Vollmann-Profe, Der Prolog (Anm. 57), S. 328–330. 59 Das Gattungsbewusstsein Reinbots als Legendendichter hebt Feistner, Reinbot (Anm. 52), S. 314–316 hervor. 60 Die Auseinandersetzung mit der Anbetung Apollos als Sonnengott wird hierfür wiederholt produktiv gemacht; vgl. V. 2034–2049; 2303–2315; 2610–2637; 2857–2866; 2959–2885; 3439–3498; 3872–3943; 4346–4368; 4476–4520; 4537–4543; 5124–5154. 61 Vgl. Strohschneider, Georius (Anm. 55).
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darin, dass er beide Zeichenordnungen durch den Text zur Geltung bringt und das Paradox, welches daraus erwächst, narrativ bewältigt. Georgs Status als Ritter- und als Märtyrerheiliger birgt demnach strukturelle Probleme, die mit dem Hinweis auf die ›Höfisierung‹ des Heiligen,62 dessen Rittertum für seinen Autor eine schlichte »Selbstverständlichkeit«63 ist, noch nicht erfasst sind. Der Einzug Georgs am Hof Dacians bildet Strohschneider zufolge die Schaltstelle zwischen beiden Teilen, die Ablösung des Ritterheiligen durch den Märtyrer. Insofern sei der adventus zugleich als ein exitus zu verstehen.64 Demnach ist mit Georgs Wahl des Martyriums und der demonstrativen Selbstauslieferung an Dacian die Alternative des Ritterheiligen ausgeschlossen. Jedoch lässt sich spätestens an der Auferstehung nach dem zweiten Tod Georgs erkennen, dass mit dem Übergang zum zweiten Teil des Werkes der Ritterheilige nicht ein für alle Mal ›gestorben‹ ist. Georg wird in vier Stücke zersägt, und seine Seele trennt sich vom Körper. Von Engeln wird sie zum lîchnamen zurückgeführt (V. 4737). Der Text erzählt – anders als aus der Legendentradition bekannt – weder, wie die Stücke zusammengefügt, noch, wie Körper und Seele wieder vereint werden. Stattdessen fordern die Engel Georg auf, so wieder aufzuerstehen, wie er auf dem Höhepunkt seines ritterlichen Lebens und seiner herrscherlichen Macht gewesen war: als du ze Millêne / wær in dîner besten tugent, / in den kleiden, in der jugent (V. 4744– 4746.). An seinem Körper erweist sich die differentielle Zeichenordnung adliger Repräsentation nicht als aufgehoben, vielmehr wird gerade der auferstandene Körper über den typischen Code adliger Repräsentation inszeniert. Denn es ist nicht der Körper, der auf wunderbare Weise zusammengefügt ist, sondern Georgs Kleidung: ân nâdel, sunder schære wurden im diu kleit bereit; diu pflâgen solcher rîcheit daz künige keiser wære ze gelten al ze swære; wan ez was engelischiu wât, weder geweben noch genât. (V. 4750–4756)
Das Bild des Körpers als Kleid der Seele wird hier höfisch konkretisiert. Mittels der »Gegenwärtigsetzung von Transzendenz in den repetitiven Prozes62 Zur ›Höfisierung‹ des Heiligen vgl. Schwarz, Der heilige Georg (Anm. 6), S. 67–78; Brinker, Formen der Heiligkeit (Anm. 54), S. 153–168. 63 Vgl. Vollmann-Profe, Der Prolog (Anm. 57), S. 327, Anm. 27; Williams-Krapp, Werner, [Art.] Reinbot von Durne, in: Verfasserlexikon (Anm. 36), Bd. 7, 21989, Sp. 1156–1161, hier Sp. 1159. 64 Vgl. Strohschneider, Georius (Anm. 55), S. 788 f.
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sen der De- und Rekomposition des heiligen Körpers«65 wird aus dem Martyrium der Ritterkörper wiedergeboren. Dabei wird der Körper des Heiligen in eine unzerstörbare Wunderwaffe transformiert.66 Dieser Aspekt tritt auf der Handlungsebene dadurch hervor, dass Dacians Interesse an Georg als Verbündetem neu erwacht (V. 4861–4872). Die ›Wunderwaffe‹ wird aber – virtuell – gegen ihn selbst ins Feld geführt. Georg malt Dacian aus, wie er beim geplanten Angriff des Kaisers auf seine Brüder diesen zur Hilfe eilen werde: ich kan noch den alten slac, / den ich dâ vor hân geslagen (V. 4896 f.). Durch diese intradiegetische Erzählung werden Gotteskriegerschaft und Märtyrertum als Erzählalternativen präsent gehalten. Dieses Verfahren lässt sich mehrmals feststellen: Bei einer Versammlung der Könige, die über Georg Gericht halten, wird dieser gebeten, von seinem Sieg über den Heiden Tschofrît zu berichten, der zu dessen Konversion führte.67 Einer der Könige, der bei diesem Kampf auf der Seite der Heiden teilgenommen hat, ergänzt als Augenzeuge den Bericht. Er schildert den Kampf Georgs gegen den König von Azor, einen so gewaltigen Krieger, daz sîn der tôt bürge wart (V. 5430). Auffallend ist die Präsenzsuggestion, die erzielt wird, indem der intradiegetische Erzähler seine Zuhörer als Zeugen des Geschehens anspricht. Dabei evoziert er die Gefahr, der Georg im Zweikampf ausgesetzt ist: nu sorget umb die zwêne, umb Georîn von Millêne, umb Liberûn von Âzor, der ie die helde hebt enbor dazs im daz leben müezen lân. (V. 5443–5447)
Indem die Todesgefahr beschworen wird, in die Georg sich als Gotteskrieger begibt, werden Ritterheiligkeit und Märtyrerheiligkeit zur Übereinstimmung gebracht: In beiden erweist Georg seine Bereitschaft, sein Leben einzusetzen, 65 Strohschneider, Georius (Anm. 55), S. 791. 66 Haas, Alois, Der geistliche Heldentod, in: Arno Borst u. a. (Hgg.), Tod im Mittelalter, Konstanz 1993 (Konstanzer Bibliothek 20), S. 169–190, hier S. 185 hat die Darstellung des Todes im Heiligen Georg mit der Sterbeszene des Vivianz im Willehalm verglichen. Seinen Befund, dass der von Wolfram inszenierte idealtypische »geistliche Heldentod« bei Reinbot durch das Legendenübliche abgelöst werde, spitzt er polemisch zu: »Die von Gott genährte Wunderkraft macht den Heiligen zum Stehaufmännchen mit einem eigenen Automatismus, in dem der Tod je neu überwunden wird.« Reinbots spezifischer Umgang mit dem Legendenmaterial kommt hier nicht in den Blick. 67 Strohschneider, Georius (Anm. 55), S. 791 macht die Differenz von extra- und intradiegetischem Erzählen für die Unterscheidung von miles- und martyr-Narration geltend. Ergänzend halte ich den Umstand für beachtenswert, dass Georg, der letztlich die autorisierende Instanz der Legende darstellt (vgl. V. 3773–3784), von sich selbst als einem Ritterheiligen erzählt. Dadurch wird die miles-Dimension gegenüber der martyr-Dimension aufgewertet, die durch ihren Umfang und dadurch, dass sie das Ende der Erzählung bestimmt, größeres Gewicht hat.
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und beide offenbaren Gottes Wirken darin, dass der Tod abgewiesen wird. Diese Analogie überbrückt die Differenz der beiden Rollenentwürfe. Während Reinbot an anderer Stelle durch die Inszenierung des Körpers Märtyrer und Ritter ineinander übergehen lässt, verwendet er hier ein erzählstrukturelles Verfahren, um beide Erzählalternativen präsent zu halten und miteinander zu verschränken. Doch bringt die intradiegetische Erzählung diesen Entwurf auch in einer weiteren Hinsicht als Alternative in die Geschichte ein: als Möglichkeit, vom Am-Leben-Bleiben statt vom Getötet-Werden des Heiligen zu erzählen. Reinbot reiht die ›Geschichten‹ des Ritterheiligen und des Märtyrers nicht als zwei Phasen der Vita aneinander, sondern verschachtelt sie durch Erzählungen in der Erzählung. Der gattungskonstitutive Ausschluss von Erzählalternativen wird somit gattungsimmanent unterlaufen. Dadurch können beide Erzählalternativen gegeneinander ausgespielt werden: Das Martyrium lässt den Ritterheiligen auferstehen, der Märtyrer wird als unbesiegbarer Glaubenskrieger auch dort noch erkennbar, wo er sich vom Heiden töten lässt. Indem dies aber durch ein Mittel erreicht wird, welches den Akt der Narration sichtbar macht, wird die Gegenüberstellung von Tod und Erzählen, die im Prolog entworfen wird, eingeholt und verschoben. Während der Prolog die Möglichkeit markiert, dass das Erzählen der Legende durch den Tod des Erzählers ausgesetzt wird, eröffnen die intradiegetischen Erzählungen die Möglichkeit, den Tod Georgs durch das Erzählen von ihm auszusetzen. Die Alternative zum Tod konstituiert Reinbot somit nicht nur durch das Erzählen, sondern lokalisiert sie im Erzählen selbst. Indem dieser Text seinen Ausgang als vom Erzählen abhängig markiert, unterläuft er zwar nicht die Finalität der Erzählung, denn der Heilige wird bzw. ist Heiliger in jedem Fall. Doch bringt diese Finalität nicht mehr unmittelbar transzendent gestifteten Sinn zum Ausdruck. Der Erzähler rückt als ordnungstiftende Instanz an die Stelle Gottes und muss diesen als weltordnende Instanz im ›Kosmos‹ der Erzählung wieder einsetzen. Entsprechend wird die Schöpfung und Lenkung der Welt durch Gott immer wieder thematisiert und affirmiert. Auch das Martyrium wird explizit als gottverfügt ausgewiesen. Dabei kommt mit der Providenz zugleich die Kontingenz zum Vorschein, die darin aufgehoben wird. Die Szene der Radmarter setzt dies ins Bild. Dort werden beide Aspekte eng verbunden, und zwar nicht nur dadurch, dass Georg unter der Folter weitschweifig von der Schöpfung predigt.68 68 Wyss, Ulrich, Legenden, in: Volker Mertens und Ulrich Müller (Hgg.), Epische Stoffe des Mittelalters, Stuttgart 1984 (Kröners Taschenausgabe 483), S. 54 macht auf die Kompensationsfunktion dieser Predigten aufmerksam, die er allerdings auf eine verfehlte ›Episierung‹ des Stoffes bezieht: »Heiligkeit, die sich nicht bewähren kann, muß immer wieder rhetorisch beteuert werden.«
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Das Rad ist mit sieben Schwertern besetzt, von denen der Heilige zerschnitten werden soll. Mit dem Rad hat es bei Reinbot eine merkwürdige Bewandtnis: daz rat was mit listen gemachet ûf die kristen: als man es immer ane liez, her und dar ez vaste stiez reht alsam ein wintsprût. dar inne lac der gotes trût. swederhalp der wint wât, dar nâch daz rat umbe drât. (V. 3715–3722)
Das Folterwerkzeug ist als Windspiel konstruiert. Mit dem Bild des vom Wind gedrehten Rades schreibt Reinbot die Frage der Kontingenz in die Darstellung des Martyriums hinein und verschiebt sie auf jene Ebene kosmischer Ordnung, auf welcher der Text diese Frage in immer neuen Anläufen verhandelt. Der Hinweis auf die Richtung, in die der Wind das Rad dreht, ist auf der Handlungsebene irrelevant, denn verletzt wird Georg von dem Folterwerkzeug in jedem Fall. Mit diesem Signal wird jedoch das Bild des Rads der Fortuna aufgerufen.69 Die Macht der Fortuna ist hier, im Sinne mittelalterlicher theologisch-philosophischer Auffassung, der göttlichen Providenz unterstellt: Jesus ist, wie an anderer Stelle gesagt wird, daz vil wunderbære kint / daz dâ wæjen heizt den wint / beide her unde wider (V. 2611–2613).70 Reinbot überschreitet mit dieser Anspielung nicht den Rahmen des Abgesicherten, bemerkenswert ist aber, dass er diesen Rahmen dort ins Bild setzt, wo er aufgrund der Bedingungen der Gattung keiner Affirmation bedarf.71 Der von Gott geschaffene und geordnete Kosmos, in welchem die Kontingenz menschlicher Erfahrung enthalten ist, wird nicht in seiner Geltung in 69 Mit diesem Assoziationsraum wird ein Bogen zum Geschehen vor Georgs Einzug beim Hof Dacians gespannt. Hier wird das Bild explizit eingeführt, indem Georgs Bruder von ihm sagt: er ist komen ûf gelückes rat, / daz muoz im immer stille stên (V. 194 f.); vgl. dazu Strohschneider, Georius (Anm. 55), S. 798; auf die Assoziation des Folterrades mit dem Rad der Fortuna in einer lateinischen Legende verweist Haubrichs, Wolfgang, [Art.] Georg, Heiliger, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 12, Berlin u. a. 1984, S. 380–385, hier S. 384. 70 Haug, Kontingenz als Spiel (Anm. 14), S. 153 ff. verweist auf die Verbindung von Fortuna und Vergänglichkeit, S. 154: »[…] die Symbolik [des Rades, E. K.] akzentuiert doch den Absturz; die Vergänglichkeit zielt auf den Tod.« 71 Theisen, Joachim, Fortuna als narratives Problem, in: Haug/Wachinger, Fortuna (Anm. 17), S. 143–191, hier S. 148 f. hebt hervor, dass im narrativen Zusammenhang der Erzähler das ›Rad drehe‹, ebenso, wie es in mittelalterlichen Darstellungen von der Hand Gottes gedreht wird. So könne ein Erzähler sich von der Fortuna vertreten lassen, in derselben Weise, in der die Hand Gottes von der Fortuna vertreten wird. Übertragen auf Reinbots Text ist eine andere Konstellation festzustellen: Hier lässt sich der Erzähler über den Umweg der Fortuna durch Gott vertreten.
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Frage gestellt, aber in ostentativer Weise thematisiert. Damit wird in Reinbots Legende nicht nur narrative Kontingenzerzeugung greifbar, wie sie sich in der Passio und im Georgslied in den Verfahren der Dekonstruktion und Rekonstruktion von Kausalität fassen ließ, sondern auch eine Reflexion über Kontingenz. Am Schluss seines Textes räumt Reinbot dieser Reflexion einen Raum ein, der wiederum durch das Mittel der Erzählung in der Erzählung eröffnet, aber auch begrenzt wird. Im letzten Religionsgespräch zwischen Georg und Dacian versucht der Heilige, den Heiden anhand von alttestamentlich verbürgter Geschichte davon zu überzeugen, dass es der christliche Gott ist, der die Sonne lenkt. Durch ein Wunder gelingt Josua der Sieg: Gott hält den Lauf der Sonne auf, bis die heidnischen Feinde der Juden vernichtet sind (Jos. 10,12–14). Dacian leugnet nicht, dass sich das Wunder so zugetragen habe, doch gibt er dafür eine andere Erklärung. Die Heiden, die dort gefallen seien, hätten einem falschen Glauben angehangen und sich den Wechselfällen des Glücks überlassen: dem kindelîn si sprâchen zuo ›ob dir diu wîlsælde tuo daz dir von ir gelinge, dîn opfer du ir bringe. tuo aver si dir anders iht, sô bringe ir dîn opfer niht.‹ (V. 6017–6022)
An den Schicksalsgläubigen habe Apollo sich gerächt, indem er den Juden zum Sieg verholfen habe. Georg sieht daraufhin ein, dass er Dacian nicht bekehren kann: niht mêr ich mit iu reden wil (V. 6078). An der biblisch verbürgten Wahrheit von Georgs Version besteht hier kein Zweifel. Dacians Erzählung setzt Georgs ›Historie‹ den analogen Entwurf einer transzendent verfügten Welt entgegen, in welcher der falsche Gott die Sonne lenkt. In der ›Lügengeschichte‹ Dacians wird aber eine andere Welt entworfen, in der die wîlsælde, die man auch Fortuna nennen könnte,72 eigenmächtig regiert. Diese Welt ist zwar nicht wahr, doch lässt sich von ihr (auch in der Legende) erzählen.
72 Vgl. zur Verwendung von uuîlsâlda in Notkers Boethius-Übersetzung Frakes, The Fate of Fortune (Anm. 2), S. 138 f.
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Annette Gerok-Reiter
Die Figur denkt – der Erzähler lenkt? Sedimente von Kontingenz in Veldekes Eneasroman
1. Positionsbestimmung in drei Schritten (1) Systematisch gesehen bezeichnet Kontingenz »in der Tradition das, ›was sich so oder auch anders‹ verhalten kann und damit möglich, aber nicht notwendig ist«.1 Als das, was möglich, aber nicht notwendig ist, ist Kontingenz das »unvollständig Bestimmte«, das als »signifikante[] Unbestimmtheit« von der »reine[n] Unbestimmtheit« abzusetzen ist.2 Makropoulos differenziert Kontingenz als Ereignisraum offener Möglichkeiten hilfreich weiter: Ereignisraum meint zum einen »Handlungsraum«: Hierbei geht es um »Veränderungen, die individuellen und kollektiven Akteuren zuschreibbar sind«; Ereignisraum heißt jedoch auch Zufallsbereich, insofern »Veränderungen, deren Eintreten schlechterdings grundlos ist«, ebenso – den Handlungsraum interferierend – einbezogen werden müssen.3 Diese Definitionen gelten, so ist vorauszusetzen, für kulturelle wie narrative Kontexte gleichermaßen. Da das Phänomen Kontingenz in sich ambivalent ist, fallen die Wertungen entsprechend unterschiedlich aus: Wenn Kontingenz zur Bedingung von 1 Kranz, Margarita, [Art.] Zufall, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, Basel 2004, Sp. 1408–1412, hier Sp. 1409, in Anlehnung an die aristotelische Definition; vgl. Bubner, Rüdiger, Die aristotelische Lehre vom Zufall. Bemerkungen in der Perspektive einer Annäherung der Philosophie an die Rhetorik, in: Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard (Hgg.), Kontingenz, München 1998 (Poetik und Hermeneutik 17), S. 3–21, hier insbes. S. 6–8. 2 Makropoulos, Michael, Kontingenz und Handlungsraum, in: Graevenitz/Marquard, Kontingenz (Anm. 1), S. 23–25, hier S. 23. Oder in der Definition Niklas Luhmanns, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1984, S. 148–190, hier S. 152: »Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (Erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen. Er setzt die gegebene Welt voraus, bezeichnet also nicht das Mögliche überhaupt, sondern das, was von der Realität aus gesehen anders möglich ist.« 3 Makropoulos, Kontingenz und Handlungsraum (Anm. 2), S. 23.
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Freiheit avanciert,4 so ist damit eine positive Festschreibung verbunden, ja das Kontingente erscheint notwendig. In narrativen Kontexten kann Kontingenz insbesondere dann positiv konnotiert sein, wenn über sie ein finaler Prozess zum Ziel kommt.5 Kontingenz, die der Finalität in der narrativen Inszenierung letztlich problemlos zuspielt, lässt sich als ›konstruktive Kontingenz‹ bezeichnen. Wenn dagegen das Kontingente als irritierender Zufall, d. h. als Störung des Notwendigen, des Geordneten, des Sinnvollen erfahren wird, kann das Kontingente zur Erfahrung von Unordnung, Destruktion, Willkür, Sinnlosigkeit und Mortalität führen.6 Das Kontingente erscheint als Widersacher jeglicher Notwendigkeit. In narrativen Kontexten kann ein Übermaß an Kontingenz das Ende eines (sinnvollen) Erzählens bedeuten. In diesem Fall wäre von einer ›destruktiven‹ Kontingenz auszugehen. Zwischen beiden Möglichkeiten möchte ich eine ›de-konstruktive‹ Kontingenz ansetzen. Diese wirkt zwar deutlich destabilisierend und irritierend im kulturellen wie narrativen System, bleibt jedoch insgesamt – auch wenn eine Grenzüberschreitung oder ein Systemsprung geleistet werden muss – konstruktiv.7 Historisch und literarhistorisch gesehen spezifizieren sich Definition und Wertungen von Kontingenz vor allem über Verschiebungen im Verhältnis des Möglichen zum Notwendigen, d. h. über die Frage, ob das Verhältnis als Opposition, als Teilmenge oder als Korrelation gedacht ist, sowie über Verschiebungen im Verhältnis von abwehrender »Kontingenzbewältigung« und affirmierender »Kontingenznutzung«.8
4 In theologischer Perspektive: Herms, Eilert, [Art.] Kontingenz, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4., völlig neu bearb. Aufl., Bd. 4, Tübingen 2001, Sp. 1647–1650. Zur Kontingenz als Bedingung von Handeln-Können: Bubner, Die aristotelische Lehre (Anm. 1), S. 7: Der Zufall als »fixierte Kontingenz« begleitet »das Handeln wie ein Schatten«. 5 Vgl. dazu insbesondere den Beitrag von Harald Haferland in diesem Band. 6 Grundsätzlich: Waldenfels, Bernhard, Das Ordentliche und das Außer-ordentliche, in: Bernhard Greiner und Maria Moog-Grünewald (Hgg.), Kontingenz und Ordo. Selbstbegründung des Erzählens in der Neuzeit, Heidelberg 2000 (Neues Forum für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 7), S. 1–14; zur positiven Umkehrung des irritierenden Zufallsbereichs in den Naturwissenschaften sowie im Poststrukturalismus vgl. Wellbery, David E., Zur literaturwissenschaftlichen Relevanz des Kontingenzbegriffs. Eine Glosse zur Diskussion um den Poststrukturalismus, in: Klaus W. Hempfer (Hg.), Poststrukturalismus – Dekonstruktion – Postmoderne, Stuttgart 1992 (Text und Kontext. Romanische Literaturen und Allgemeine Literaturwissenschaft 9), S. 161–169. 7 ›De-konstruktive‹ Kontingenz wäre – in der Terminologie von Warning, Rainer, Erzählen im Paradigma. Kontingenzbewältigung und Kontingenzexposition, in: Romanistisches Jahrbuch 52 (2001), S. 176–209, hier insbes. S. 182 f. – ›harte‹, ›konstruktive‹ Kontingenz wäre mit ›weicher‹ Kontingenz vergleichbar. 8 Makropoulos, Michael, Modernität als Kontingenzkultur. Konturen eines Konzepts, in: Graevenitz/Marquard, Kontingenz (Anm. 1), S. 55–79, hier S. 71 (mit wichtiger Differenzierung ebd., Anm. 61).
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Die Figur denkt – der Erzähler lenkt?
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(2) Man wird von hier aus Makropoulos zustimmen können, die Neuzeit zeichne sich durch eine »Kontingenzkultur« aus, weil sie »von dem Grundgedanken« geprägt sei, »daß nicht sein muß, was ist«9 und diesen Gedanken nicht nur abwehrend zu bewältigen, sondern affirmativ zu nutzen wisse. Heißt dies in der Konsequenz, dass das Mittelalter keine »Kontingenzkultur« aufweist, weil ihm der Grundgedanke, »daß nicht sein muß, was ist«, fremd ist?10 Die Antwort steht oder fällt wohl eher damit, wie stark man den zweiten Aspekt, den Aspekt affirmativer Nutzung machen möchte. Denkbar wäre etwa auch ein Verständnis von Kontingenzkultur, bei dem ein Spektrum an affirmierenden Diskursen oder kreativen Nutzungsspielräumen bereits als hinreichendes Kriterium gelten könnte. Gibt es solcherart affirmierende Diskurse oder kreative Nutzungsmöglichkeiten von Kontingenz in mittelalterlichen Texten – und dies außerhalb von oder zumindest neben Providenzmodellen, in denen Kontingenz immer schon schadlos aufgehoben ist?11 (3) Ich setze mit Veldekes Eneasroman am äußersten Ende dieses Spektrums an, bei einem Beispiel, bei dem ein Raum offener Möglichkeiten von vornherein im Prinzip nicht gegeben ist, also gleichsam einer ›KontingenzNullvariante‹. Der Grund für die ›Nullvariante‹ liegt in der Rückbindung der mittelalterlichen Eneasromane an den antiken Stoff der Vergilschen Aeneis mit seinen politischen sowie religiösen kulturellen Vorgaben. Textexterne und textinterne Aspekte greifen somit ineinander. Vergils Aeneis beschreibt die mythische Vorgeschichte Roms, um von hier aus die Herrschaft des Augustus als Telos der Geschichte aufzuzeigen.12 Die Narration dient in der epischen 9 Ebd., S. 70, mit Rekurs auf Blumenberg, Hans, Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt am Main 1987, S. 57, der jedoch – anders als Makropoulos – die gesamte »nachchristliche Ära« darunter subsumiert. 10 Als Grundgedanken wird man die Überlegung, »daß nicht sein muß, was ist«, wohl kaum in mittelalterlichen Kontexten antreffen, als Gedanken scholastischer Philosophie jedoch sehr wohl: Vgl. dazu den Beitrag von Peter Schulthess in diesem Band. 11 Aufschlussreich in Hinblick auf die Verschmelzung hellenistischer und christlicher Erzähltraditionen: Martínez, Matías, Fortuna und Providentia. Typen der Handlungsmotivation in der Faustinianerzählung der Kaiserchronik, in: Ders. (Hg.), Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen, Paderborn u. a. 1996, S. 83–100. Zur Aufhebung der Kontingenz im Dienst der Providentia Dei unter systematischem Gesichtspunkt: Haug, Walter, Kontingenz als Spiel und das Spiel mit der Kontingenz. Zufall, literarisch, im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Graevenitz/Marquard, Kontingenz (Anm. 1), S. 151–172, hier S. 154–156. 12 Binder, Gerhard, Aeneas und Augustus. Interpretationen zum 8. Buch der Aeneis, Meisenheim am Glan 1971 (Beiträge zur klassischen Philologie 38); Pöschl, Viktor, Das Befremdende in der Aeneis, in: Ders., Lebendige Vergangenheit. Abhandlungen und Aufsätze zur Römischen Literatur und ihrem Weiterwirken. Kleine Schriften III, hg. von Wolf-Lüder Liebermann, Heidelberg 1995 (Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaft NF 2,92), S. 90–106, hier S. 97 f.; von Albrecht, Michael, Vergil. Eine Einführung. Bucolica. Georgica. Aeneis, Heidelberg 2006 (Heidelberger Studienhefte zur Altertumswissenschaft), insbes. S. 133–135; 171–173; 178 f.
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Ausgestaltung und unter dem Aspekt politischer Ideologisierung insofern dazu, die Faktizität der geschehenen Geschichte als finale Geschichte festzuschreiben, d. h. den Zufall so weit als möglich auszuschließen.13 Erzählt wird nicht unter dem Gesichtspunkt, wie etwas hätte anders sein können, sondern unter dem Gesichtspunkt, ›daß sein muß, was ist‹. Die programmatische Ausklammerung des Kontingenten bestätigt sich darin, dass den Göttern bei Vergil die alleinige und zwingende Handlungsregie zukommt. Der Protagonist kann gegenüber dieser Handlungsregie zwar hadern, zaudern, ausweichen; wählen kann er jedoch nicht. Die Machenschaften der Götter treiben bei allen Nebenwegen und Rückschlägen doch mit Gewissheit auf die eine Entscheidung zu, die das Fatum immer schon getroffen hatte und auf die hin selbstverständlich auch Jupiter (und mit ihm der Autor) sein Handeln und Entscheiden ausgerichtet hat.14 Mit ihrer Vorlage übernehmen die mittelalterlichen Autoren die Etappen der Vergilschen Handlung sowie den ideologischen Anspruch, das Faktische als das Notwendige festzuschreiben. Zugleich jedoch veranlassen die anachronistischen politischen wie religiösen Implikationen der antiken Vorlage sowie die veränderte Geschichtsauffassung die mittelalterlichen Autoren zu signifikanten Modifikationen. So musste in erster Linie der nationalrömische Gehalt der Vergilschen Aeneis von den mittelalterlichen Bearbeitern transformiert werden. Anknüpfungsmöglichkeiten bot das Konzept der Herrschaftslegitimation durch die Weltreichlehre und den Gedanken der translatio imperii.15 Auf diese Möglichkeit greift insbesondere Veldeke zurück, indem er das zweite Geschlechtsregister (V. 350,2 ff.) bis zur Geburt Christi ausdehnt, zugleich durch die Eckdaten Adam/Weltentstehung/Entstehung 13 Dabei haben Erzähler wie Zuhörer durch den Standpunkt des Rückblicks den Vorteil, immer schon zu wissen, zu welchem Schluss die erzählte Geschichte als geschehene Geschichte gekommen ist, d. h. die Finalität ist unwiderlegbar verbürgt in der Realität der historischen Erfahrung: vgl. dazu aus narrationstheoretischer Perspektive: Martínez, Fortuna und Providentia (Anm. 11), S. 97 f. 14 Dass Vergil den Helden Aeneas wie das Römische Imperium auch durchaus kritisch beurteilt hat, wird insbesondere von der angloamerikanischen Forschung akzentuiert. Grundlegend: Parry, Adam, The Two Voices of Vergil’s Aeneid, in: Arion 2 (1963), S. 66–80. Vgl. innerhalb der deutschen Forschung: Liebermann, Wolf-Lüder, Aeneas – Schicksal und Selbstfindung, in: Herwig Görgemanns und Ernst A. Schmidt (Hgg.), Studien zum antiken Epos, Meisenheim am Glan 1976 (Beiträge zur klassischen Philologie 72), S. 173–207, hier S. 199–203; Pöschl, Das Befremdende (Anm. 12); die Diskussion resümierend: Kofler, Wolfgang, Aeneas und Vergil. Untersuchungen zur poetologischen Dimension der Aeneis, Heidelberg 2003 (Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften NF 2,111), S. 105–117 (mit anschließender kritischer Stellungnahme). 15 Lienert, Elisabeth, Deutsche Antikenromane des Mittelalters, Berlin 2001 (Grundlagen der Germanistik 39), S. 15; 95 f.; Opitz, Karen, Geschichte im höfischen Roman. Historiographisches Erzählen im Eneas Heinrichs von Veldeke, Heidelberg 1998 (GermanischRomanische Monatsschrift. Beiheft 14), S. 199–226.
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der Sünde in der Welt einerseits, Erlösungshoffnung/Weltende andererseits die heilsgeschichtliche Perspektive betont16 und schließlich mit den Stauferpartien das missing link zwischen dem römischen Reich und der Endzeit der Erlösung einfügt.17 Fasst man die interpretatio christiana als eigentliche Zielsetzung von Veldekes Fassung,18 so erscheinen Aspekte des Kontingenten noch mehr als zuvor abgedrängt: Die Nationalgeschichte ist der Heilsgeschichte, das antike Fatum ist göttlicher Providenz gewichen – eine Umbesetzung, die Umwege nicht mehr Irrwege sein lässt, sondern selbst ihnen noch als Prüfungen Sinn verleiht. Wendet man sich jedoch von der Rahmen- bzw. Makrostruktur der Mikrostruktur des Geschehens und zugleich der Mikrostruktur des Erzählens zu, stößt man auf Reibungspunkte, die sich offenbar durch einen Transfer in das heilsgeschichtliche Konzept nicht bruchlos auflösen ließen. Anlass zu solchen Reibungspunkten bietet Vergils vielgestaltiger, lebhafter und aktiver Götterhimmel im Detail. Denn Veldeke greift nicht auf die gängigen Deutungsmuster, die bereits durch antike Mythentheorien vorgegeben waren, zurück:19 Er dämonisiert nicht; er macht nur in einem Fall lächerlich; er allegorisiert kaum; er moralisiert nicht. Stattdessen reduziert Veldeke drastischer noch als der Roman d’Eneas die Anzahl der Götter und zugleich ihre Rolle
16 Vgl. V. 351,27–352,10: Dô erslagen wart Jûljûs, / dô wart keiser Augustûs / dâ ze Rôme erkoren, / der von sînem kunne was geboren. / der berihte daz rîche / harde hêrlîche / und wart gewaldich wîten. / ez wart bî sînen zîten / vil stâter fride unde gût, […] bî des zîten wart der gotes sun / geboren ze Bethelehêm, / der sint gemartert wart ze Jersalêm / uns allen ze trôste, / wander uns erlôste / ûz der freislîchen nôt, / wandern êwigen tôt / mit sînem tôde ersterbete, / den Âdâm an uns erbete. Hier wie im Folgenden zitiert nach: Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Mhd./Nhd. Nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übers., mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke, Stuttgart 3 2004. 17 Vgl. V. 347,14 ff.; auch hier mit Blick auf die endzeitliche Erlösungshoffnung: dem keiser Friderîche / geschach sô manech êre, / daz man iemer mêre / wunder dâ von sagen mach / unz an den jungisten tach, / âne logene vor wâr (V. 347,36–348,1). Zu den politischen Bezügen vgl. Thomas, Heinz, Matière de Rome – Matière de Bretagne. Zu den politischen Implikationen von Veldekes Eneide und Hartmanns Erec, in: ZfdPh 108 (1989), Sonderheft, S. 65–104, hier S. 70–96. 18 Dittrich, Marie-Louise, gote und got in Heinrichs von Veldeke Eneide, in: ZfdA 90 (1960/61), S. 85–122; 198–240; 274–302; Dies., Die Eneide Heinrichs von Veldeke. Erster Teil. Quellenkritischer Vergleich mit dem Roman d’Eneas und Vergils Aeneis, Wiesbaden 1966; vgl. auch die Kritik bei Kartschoke, Dieter, Nachwort, in: Heinrich von Veldeke, Eneasroman (Anm. 16), S. 845–883, hier S. 878 f.; und Opitz, Geschichte (Anm. 15), S. 204–215. 19 Wehrli, Max, Antike Mythologie im christlichen Mittelalter, in: DVjs 57 (1983), S. 18–32; Schnell, Rüdiger, Die Rezeption der Antike, in: Henning Krauss (Hg.), Europäisches Hochmittelalter, Wiesbaden 1981 (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft 7), S. 217–242, hier S. 237 f.
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und Funktion, d. h. ihre Handlungsbefugnis.20 Angesichts des Sachverhalts, dass bei Vergil die Götter das ausschlaggebende Movens der Handlung darstellen, stellt sich die Frage, was bei Veldeke an ihre Stelle tritt. Diese Frage ist in der Forschung verschiedentlich aufgegriffen worden. Dabei wurden in der Regel die Substitutionen der antiken Götter durch got, die saelde oder das gelucke hervorgehoben,21 Substitutionen, die die Götterlenkung analog zur Makrostruktur in das Providenzmodell überführen.22 Zu wenig Beachtung haben dabei jedoch diejenigen Stellen gefunden, in denen eine solche Substitution gerade nicht oder nicht problemlos erfolgt: Blankostellen oder zumindest Irritationsstellen innerhalb der heilsgeschichtlichen Konzeption. Von diesen irritierenden Blankostellen aus lässt sich in nuce verfolgen, über welche historische Semantik, unter welchen literarhistorischen Bedingungen und mit welchem Funktions- und Wertungsspektrum sich ebendort Phänomene des Kontingenten in der Narration einschreiben, einlagern oder sogar vordrängen, wo ursprünglich kein Spielraum dafür vorgesehen war.23 Dabei erscheint bereits aufschlussreich, dass die
20 Sanders, Willy, Sal es gelücke walden!, in: Helmut Rücker und Kurt Otto Seidel (Hgg.), Sagen mit sinne. FS Marie-Luise Dittrich, Göppingen 1976 (GAG 180), S. 39–49, hier S. 39 f.: »Bestimmte in Vergils ›Aeneis‹ das Fatum im Verein mit dem gesamten olympischen Götterhimmel noch uneingeschränkt das Schicksal des Helden, so war dieser Apparat römischer Mythologie schon im ›Roman d’Eneas‹ stark reduziert worden. Diese Tendenz hat Veldeke bis fast zur Eliminierung fortgesetzt: Juppiter kommt überhaupt nicht mehr vor, Juno nur noch mehrmals ganz zu Anfang […]; lediglich die Liebesgottheiten, voran Frau Venus […], agieren relativ frequent in den Liebeshandlungen, aber auch sie wirken an vielen Stellen wie literarische Requisiten ovidischer Minnemotivik.« Entsprechend: Keilberth, Thomas, Die Rezeption der antiken Götter in Heinrichs von Veldeke Eneide und Herbots von Fritzlar Liet von Troye, Diss. Berlin 1975; Kasten, Ingrid, Heinrich von Veldeke: Eneasroman, in: Horst Brunner (Hg.), Interpretationen. Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen, Stuttgart 1993 (RUB 8914), S. 75–96, hier S. 80–82; Lienert, Deutsche Antikenromane (Anm. 15), S. 76; 99; leider widmet die Studie von Silvia Schmitz, Die Poetik der Adaptation. Literarische inventio im Eneas Heinrichs von Veldeke, Tübingen 2007 der unterschiedlichen Funktionalisierung der Götter keine systematische Aufmerksamkeit, so dass sich Schmitz hier nur dem allgemeinen Forschungskonsens der »antimythologischen Tendenzen der mittelalterlichen Eneasromane« (S. 110, Anm. 13) anschließen kann. 21 Dittrich, gote und got (Anm. 18); Sanders, Willy, Glück. Zur Herkunft und Bedeutungsentwicklung eines mittelalterlichen Schicksalsbegriffs, Köln und Graz 1965 (Niederdeutsche Studien 13), S. 130–161; Sanders, Sal es gelücke walden! (Anm. 20); Kartschoke, Nachwort (Anm. 18), S. 877. 22 Mehr Spielraum für menschliche Handlungsfreiheit sieht von Gosen, Renate, Das Ethische in Heinrichs von Veldeke Eneide: Formen, Inhalte und Funktionen, Frankfurt am Main, Berlin und New York 1985 (Europäische Hochschulschriften 829), S. 274–281. 23 Die Variationen im Zusammenspiel von Kontingenz und Notwendigkeit im sich daran anschließenden literarischen Kontext, insbesondere in der Perspektive des arthurischen Romans und des Tristan verfolgt Haug, Das Spiel mit der Kontingenz (Anm. 11), S. 163–172; unter der Perspektive der Fortuna-Problematik: Haug, Walter, O Fortuna. Eine historisch-
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wichtigsten Blankostellen zentrale Wendepunkte der Handlung betreffen: Eneas’ Aufbruch aus Troja, der Beginn des Krieges mit Turnus, der Zweikampf zwischen den Kontrahenten mit Turnus’ Tod am Ende.
2. Eneas’ Aufbruch aus Troja Bei Vergil erfährt der Hörer in Aeneas’ Bericht vor Dido rückblickend vom Aufbruch des Helden aus dem brennenden Troja. Der Aufbruch wird von Aeneas in einer Fülle von Szenenwechseln, bildmächtigen Szenenarrangements, Traum-, Rede- und Visionselementen als hochdramatisches Geschehen erinnert. Rhythmisierend antreibendes Moment ist dabei der spannungsreiche Wechsel von Hinweisen, die Stadt zu verlassen, und den Versuchen des Helden, das brennende Troja wenn nicht zu retten, so doch zu rächen: Zunächst erscheint ihm, zeitgleich mit dem Eindringen der Griechen in die Stadt, Hektor im Traum, fordert ihn auf zu fliehen und gibt ihm den Auftrag, die Penaten Trojas mitzuführen, um nach der Irrfahrt auf See für sie schließlich eine neue Bleibe zu bauen (II, 293–295). Aeneas erwacht, der Traum bestätigt sich, indem Aeneas das brennende Troja in der Ferne sieht und Panthus, Sohn des Priesters von Troja, die Heiligtümer über seine Schwelle trägt. Aeneas aber stürzt sich sogleich in den Kampf: moriamur et in media arma ruamus (II, 353).24 In Priamus’ Palast erscheint ihm seine Mutter Venus, weist auf die Ausweglosigkeit der Schlacht, die nicht Angelegenheit der Menschen, sondern Göttersache sei, befiehlt Aeneas zu fliehen und sein Geschlecht zu retten (II, 594–620). Aeneas eilt daraufhin zu seinem Haus, doch Anchises möchte Troja nicht verlassen, Aeneas nicht den Vater, und so bleibt als einziger Ausweg nur wieder der Kampf (II, 668). Erst ein Flammenzeichen auf dem Scheitel des Ascanius, dann ein strahlender Stern, den Jupiter als Wegweiser sendet, überzeugt alle und veranlasst den Aufbruch (II, 701–704). Auf dem Weg zu den Schiffen geht jedoch Creusa verloren. Auf der Suche nach ihr durchquert Aeneas noch einmal die brennenden Kampfstätten, vergeblich. Da erscheint ihm ein Schatten Creusas, weist ihn auf die Bestimmung der Götter, insbesondere Jupiters, das Land zu verlassen, die Irrfahrt durchs Meer aufzunehmen und schließlich dorthin zu gelangen, wo der »lydische Thybris« strömt, um ebendort Macht, ein Reich und eine neue Gemahlin zu finden (II, 776–784). Es bedarf somit der vierfachen Aufforderung – durch semantische Skizze zur Einführung, in: Walter Haug und Burghart Wachinger (Hgg.), Fortuna, Tübingen 1995 (Fortuna vitrea 15), S. 1–22, hier S. 10–21. 24 Zitiert nach: Vergil, Aeneis, hg. und übers. von Johannes Götte, München und Zürich 6 1983 (Sammlung Tusculum).
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die Traumerscheinung Hektors, durch Venus, durch ein Lichtzeichen Jupiters sowie durch die tote Creusa –, um Aeneas zur Flucht zu bewegen. In den verschiedenen Aufforderungen setzt sich schließlich mosaikartig die Notwendigkeit des Aufbruchs durch. Bei Veldeke beginnt dagegen die Narratio im einführenden Resümee des Erzählers mit Eneas’ Flucht. Statt einer dramatisch-erinnerten Szenerie mit bewegten Orts- und Redewechseln steht nun ein sachlich-knapper Bericht des Erzählers.25 So findet sich anstelle der unterschiedlichen Modi der Fluchtaufforderungen denn auch nur ein einziger subsumarischer Hinweis auf die goten (V. 18,25). Eine personale Inszenierung mit wörtlicher Rede fehlt. Veldekes Eneas hat lediglich vernomen (V. 18,25), dass er Troja verlassen soll. Von einem Auftrag für die Zukunft ist nicht die Rede. Damit substituiert Veldeke Bedeutung nicht auf der Ebene der histoire: Weiterhin veranlassen die Götter, nicht Gott oder christliche saelde, also christliche Providenz, Eneas zu seinem Tun; wohl aber modifiziert er auf der Ebene des discours: Durch Abstrahierung und Aussparung einer Begegnung sowie wörtlicher Rede versetzt er die Götter mitsamt ihrem Auftrag ins ›Off‹ der Narratio26 – eine Distanzierung, die im vorgegebenen Rahmen den Vordergrund der narrativen Inszenierung gleichsam freiräumt. Dieser Freiraum im narrativen Vordergrund erlaubt es im Folgenden, deutlich andere Akzente als Vergil zu setzen. Die Verschiebung der Akzente betrifft vor allem den Entscheidungsspielraum des Protagonisten. Zwar ist auch Vergils Aeneas vor eine Alternative gestellt: Ruhm zu erwerben im Untergang oder Ruhm zu erwerben durch die Rettung der Penaten. Doch diese Alternative erscheint in Aeneas’ wiederholter Rückkehr ins Schlachtgewirr nur aufgerufen, um umso nachdrücklicher widerlegt zu werden: Für Vergils Aeneas kann es nur einen Weg geben.27 Anders 25 Die Schilderung von Trojas Fall füllt bei Vergil das gesamte zweite Buch mit 804 Versen. 537 Verse, also zwei Drittel, sind davon dem Aufbruch gewidmet. Bei Veldeke ist die Schilderung über den Aufbruch auf etwa 120 Verse reduziert (V. 18,19–21,15). In Eneas’ Bericht vor Dido nimmt der Aufbruch nur noch eine marginale Stellung ein (V. 47,27–48,4). 26 Auch die Berufung auf Vergil in V. 18,11 im Zusammenhang der Schilderung von Eneas’ Mutter Venus könnte ein Distanzierungssignal sein. Berufungen auf Vergil fehlen im Roman d’Eneas. Bereits dort sind die Götter in der Eingangsszene gegenüber Vergil zurückgedrängt, dennoch gibt es hier noch – zudem in doppelter Ausführung – den deutlichen Götterbefehl zum Aufbruch: V. 32–41 (Le Roman d’Eneas, übers. und eingel. von Monica Schöler-Beinhauer, München 1972 [Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 9]). 27 Sämtliche Versatzstücke des turbulenten Anfangs arbeiten dieser Erkenntnis zu: So erläutert ihm die göttliche Mutter, Venus, selbst die Ausweglosigkeit einer weiteren Verteidigung; der Auftrag, die Götterbilder zu retten, stellt einen verpflichtenden Auftrag dar, der über ein individuelles Wünschen hinausreicht; die Iteration der Aufforderung, das Land zu verlassen, bestätigt nicht nur die Wahrheit des Götterauftrags, sondern demonstriert zugleich das Gewicht dieser Sendung. Vor allem aber offenbaren die Hinweise sich nach und nach nicht nur als Auftrag, sondern auch als Versprechen für eine Zukunft, die ebenfalls Ruhm bieten wird. Der
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bei Veldekes Eneas.28 Dieser wird nach der Götterweisung nicht vehement zur Tat getrieben,29 sondern zunächst in die Reflexion: Ênêas der hêre / der gedahte im vil sêre, / dô ime diu sorge zû quam (V. 19,7–9). Und darauf folgt ein Zweites, das ebenfalls in der Handlungsregie der Vergilschen Fassung undenkbar wäre. Veldekes Eneas berät sich mit seinen Verwandten und Freunden, was von dem Götterauftrag zu halten sei, wobei in der ob-oder-Konstruktion Handlungsvarianten deutlich als disponibel heraustreten: her sprach ›lieben frunt mîn, swie diu angest sî getân, doch newil ich niht gân ûz ûwer aller râte deweder frû noch spâte. nu saget mir ûwern mût, waz ûh dar umbe dunke gût, nâch diu und ir ez habet vernomen, ob wir lebende wellen hinnen komen oder wider kêren und sterben mit êren und unser frunt rechen. swaz ir wellet sprechen, daz û allen lieb sî, des ir mir getorret stân bî, des helfe ich û, ob ich mach.‹ (V. 19,22–37, Hervorh. A. G.-R.)
Zwischen den Rat der Götter und die Ausführung schiebt sich gleichsam eine zweite Ebene, die Ebene des feudalrechtlichen consilium mit den Gefolgsleuten. Diesen will Eneas in letzter Instanz, so hört es sich an, folgen, ihren Rat will er nicht außer Acht lassen. Natürlich lässt sich dies als realhistorisches Handlungsraum des Vergilschen Aeneas ist somit allenfalls ein Raum, in dem das Notwendige als solches erkannt werden muss. Er ist kein Entscheidungsraum, in dem verschiedene Möglichkeiten offen zur Disposition stehen. Liebermann, Aeneas – Schicksal und Selbstfindung (Anm. 14) hebt zwar die »Eigeninitiative« des Helden hervor (S. 175 u.ö.); diese beschränkt sich jedoch lediglich auf die Art und Weise der Aneignung der Göttergebote. 28 Der Versuch zur Verteidigung Trojas bleibt ausgespart, damit kann sich die Sinnlosigkeit dieser Alternative nicht als solche erweisen; ausgespart bleibt ebenso die Formulierung eines überindividuellen Auftrags oder ein Versprechen für die Zukunft. Eben deshalb ist für Veldekes Eneas der Sinn eines Aufbruchs schwer zu erkennen. Die Alternative Ruhm oder Leben ist daher eine wirkliche Alternative, über die sich nachzudenken lohnt. – Vgl. auch Kasten, Heinrich von Veldeke: Eneasroman (Anm. 20), S. 81 f. 29 Furor und ira (II, 316 ff.) sind bei Vergils Aeneas in diesem Moment die beherrschenden Kräfte: vgl. Liebermann, Aeneas – Schicksal und Selbstfindung (Anm. 14), S. 186 f.; zum affektgeleiteten Handeln von Vergils Aeneas vgl. auch Pöschl, Das Befremdende (Anm. 12), S. 93–95.
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Zugeständnis an das consilium30 als wesentlichem Bestandteil mittelalterlicher Herrschaftsausübung verstehen; natürlich rät der Rat im Sinn der Götter, d. h. die finale Motivation analog zur heilsgeschichtlichen Konstruktion bleibt gewahrt, ebenso wie die kompositorische Motivation von hinten31 ausschließt, dass Ratschluss und Götterspruch gegeneinander geführt werden. Dennoch aber ist auf funktionaler Ebene die von Veldeke eingezogene zweite Ebene der Beratung über den Götterauftrag bemerkenswert. Protegiert durch die abgedrängte Präsenz der Götter, macht sie Göttergebote zu einer Sache menschlicher Entscheidung, suggeriert zumindest, dass sich innerhalb des bestehenden heilsgeschichtlichen Rahmens mit seiner stringenten Motivation von hinten ein offener Handlungsraum auftut, ein Raum, in dem eine Handlungsfolge ›möglich, aber nicht notwendig ist‹, ein Raum des ›unvollständig Bestimmten‹.32 Und so brechen denn auch Eneas und seine Gefährten auf, indem sie zwischen den Handlungsalternativen Ruhm oder Leben eine Entscheidung treffen: dô dûhte sie daz baz getân, / daz sie daz lant rûmden (V. 19,40 f.). Umso deutlicher aber erweist sich dieser Entscheidungsraum als Raum der Kontingenz,33 als die Entscheidung, im Rat rational abgewogen und be30 Im Roman fehlt der Reflexionsaspekt des Eneas. Zudem wird die Beratung erst am Strand angesichts der Schiffe, die bestiegen werden sollen, platziert, »d. h. nach der Entscheidung, über die erst beraten werden soll« (vgl. den Kommentar zu V. 19,10 f. in: Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Die Berliner Bilderhandschrift mit Übers. und Kommentar, hg. von Hans Fromm. Mit den Miniaturen der Handschrift und einem Aufsatz von Dorothea und Peter Diemer, Frankfurt am Main 1992 [Bibliothek des Mittelalters 4], S. 776). Indem Veldeke gegenüber seiner Vorlage das consilium nach vorne zieht, gibt er ihm nicht nur »den Rang, der ihm in der vasallitischen Gesellschaft zukam« (ebd.), sondern gewichtet den Entscheidungsakt im funktionalen Zusammenhang auch stärker. 31 Zur »Motivation von hinten« grundsätzlich: Lugowski, Clemens, Die Form der Individualität im Roman. Studien zur inneren Struktur der frühen deutschen Prosaerzählung [Erstdruck 1932]. Mit einer Einleitung von Heinz Schlaffer, Frankfurt am Main 21994, insbes. S. 25–27; 66–81. In Anknüpfung daran unterscheidet Martínez, Fortuna und Providentia (Anm. 11), S. 95 f., zwischen finaler (providentiell-transzendenter) und kompositorischer (strukturell-transzendentaler) Motivation von hinten. 32 In diesem Zusammenhang erscheint auch signifikant, dass Veldeke den ›bethlehemitischen‹ Stern ausspart, der im Roman (V. 79 f.) dem Götterbefehl Nachdruck verleiht (vgl. Fromm, Komm. zu V. 19,30 [Anm. 30], S. 776 f.); ebenso könnte von hier aus doch – gegen Fromm, Komm. zu V. 20,19 (Anm. 30), S. 777 – die wörtliche Übersetzung der offenen Zielformulierung swar sô im geviele ihr Recht behaupten: »wohin es ihm nur gefiel«. 33 Vgl. aber auch die Ratsszenen in ähnlicher Konstellation: 66,26 ff.; 83,72 ff.; 164,24 ff. Hier werden Handlungsalternativen weit weniger prononciert. Ob auch diese Ratsszenen über die Inszenierung einer nachträglichen Legitimation hinausgehen, wäre insofern zu prüfen. In der Regel gilt: »Die metaphysische Verankerung politischer Entscheidungen setzt die Regularien des Gemeinschaftshandelns nicht außer Kraft, wenn auch kein Zweifel an der Zustimmung besteht«: Müller, Jan-Dirk, Ratgeber und Wissende in heroischer Epik, in: Frühmittelalterliche Studien 27 (1993), S. 124–146, hier S. 128; dazu auch: Althoff, Gerd, Colloquium familiare – Colloquium secretum – Colloquium publicum. Beratung im politischen Leben des
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gründet, initiiert ist durch die Emotionen34 des Einzelnen: ir iegelîcher des erschrach, / do ez an daz sterben solde gân (V. 19,38 f.; vgl. auch 19,23). Die Emotion, die Angst, bildet den eigentlichen Beweggrund, den unwägbaren Untergrund der Entscheidung. Was auf heilsgeschichtlicher Ebene als notwendige Handlung verbucht werden kann, umgesetzt in der finalen und kompositorischen Motivation von hinten, was sich auf Figurenebene einerseits als sinnvoll-rationale Entscheidung im consilium und damit als Versuch einer kausalen Motivation von vorne lesen lässt, hat somit zugleich einen labilen Untergrund, der die finale Orientierung auf Konstruktionsebene sowie die sinnvoll-rationale Entscheidung auf Figurenebene kaum merklich, eher potentiell, eher latent, aber eben doch zu schattieren vermag. Dieses latent-kontingente Potential der Entscheidung tritt bei Veldeke in Krisensituationen wieder an die Oberfläche der Narratio und bestätigt sich darin. So zum Beispiel, als der Seesturm über die Mannschaft hereinbricht und ein Schiff mitsamt der ganzen Mannschaft sinkt. Denn daraufhin heißt es: dô clagete Ênêas, / daz her ie dare quam, / daz her sîn ende niht ennam / zû Troie mit êren (V. 22,20–23). Der menschliche Handlungsraum erweist sich hier nicht als rational organisierter Raum souveräner Entscheidungen, sondern als Raum der Ungewissheit, der durchaus auch zu Fehlentscheidungen führen kann.35 D. h. Veldekes Eneas erscheint als Heros, der nicht nur früheren Mittelalters, in: Frühmittelalterliche Studien 24 (1990), S. 145–167; Ders., Zum Inszenierungscharakter öffentlicher Kommunikation im Mittelalter, in: Johannes Laudage (Hg.), Von Fakten und Fiktionen. Mittelalterliche Geschichtsdarstellung und ihre kritische Aufarbeitung, Köln, Weimar und Wien 2003, S. 79–93. Im literarischen Kontext ist jedoch von der narrationslogischen Einbindung her immer neu zu differenzieren. Abweichungen von der historisch verbürgten Norm sind durchaus denkbar: Ders., Spielen die Dichter mit den Spielregeln der Gesellschaft?, in: Nigel F. Palmer und Hans-Jochen Schiewer (Hgg.), Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Ergebnis der Berliner Tagung, 9.–11. Oktober 1997, Tübingen 1999, S. 53–71. Zu den Ratsversammlungen in Veldekes Eneas fehlt bisher eine fundierte Studie. 34 Die Verwendung des Begriffs ›Emotion‹ erfolgt in Anlehnung an die theoretische Argumentation bei Koch, Elke, Trauer und Identität. Inszenierungen von Emotionen in der deutschen Literatur des Mittelalters, Berlin und New York 2006 (TMP 8), S. 1 f. Sorge und Angst der Flüchtenden sind abzugrenzen sowohl gegenüber einem affektiven Verhalten der Überwältigung, das der Ratio nicht zugänglich ist, als auch gegenüber dem bloß gefühlsmäßigen Erleben, das den Handlungsaspekt unberücksichtigt lässt. 35 Die historische Differenz sitzt wie üblich im Detail: Veldekes Eneas beklagt sein Handeln, indem er auf Alternativen weist, Vergils Aeneas beklagt im »Verzweiflungsmonolog« des Seesturms (I, 94–101) sein Schicksal in der Abgrenzung von dem Schicksal anderer und bestätigt eben dadurch die Unausweichlichkeit des eigenen Weges: Liebermann, Aeneas – Schicksal und Selbstfindung (Anm. 14), S. 188 f.; 197. Wenn Vergils Aeneas somit über die Schwere des Auftrags klagt oder an anderen Stellen über Rückschläge, die das Ziel in unerreichbare Ferne rücken lassen, so stellen seine Klagen weder das Ziel des Weges noch Sinn oder Unsinn seines Schicksals zur Disposition, ebenso wenig wie sie auf Handlungsmöglichkeiten oder Fehlentscheidungen reflektieren.
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über die Last seines Schicksals nachdenkt, sondern über Alternativen des Handelns, der der Notwendigkeit seines Weges keineswegs mehr durchgehend gewiss ist, der durchaus auch den Zweifel kennt, seinen Weg zumindest streckenweise als kontingent erfährt.36 Der Ereignisraum tritt somit mehr als zuvor als Entscheidungsraum in Erscheinung. Diesem Ergebnis korreliert, dass auch mehr als zuvor ein Zufallsraum als solcher markiert ist. Dies zeigt paradigmatisch die narrative Inszenierung des Seesturms im Nahblick. Bei Vergil (I, 29–156) erweist sich der Seesturm in seinem Beginn, seinem Verlauf und seinem Ende als Arrangement der Götter: Weil die Trojaner Juno verhasst sind, verbündet sich Juno mit dem Gott der Winde, der diese entfesselt. Erst das Eingreifen des empörten Neptun weist die Winde in ihre Schranken und beruhigt damit das aufgewühlte Meer. Bei Veldeke findet sich das Arrangement der Götter wieder, wenn auch – wie zuvor – bezeichnend verkürzt: Juno wird als Urheberin des Sturms genannt (V. 21,35 f.).37 Andere Götter agieren jedoch nicht, und auch Juno verschwindet im weiteren narrativen Verlauf. Statt ihrer übernehmen die Naturkräfte selbst die Handlungsregie (der stormwint zerteilde dô / diu schif vile wîten […], V. 22,28 f.; oder: unze an den vierden tach, / daz der wint 36 Schmitz, Die Poetik der Adaptation (Anm. 20), insbes. S. 108–118 (vgl. auch S. 146–151; 293–308), kommt zu gegensätzlichen Ergebnissen: Nach ihrer Sicht betont Veldeke die »Autorität der Götter« (S. 111), um dadurch Eneas dem pius Aeneas der Vergilschen Konzeption wieder anzunähern (S. 118; 147 u. ö.). Schmitz kommt zu dieser Sichtweise aufgrund ihrer doch wohl eher deduktiven Vorgehensweise: Da die mittelalterlichen Bearbeiter in ihrem poetologischen »Habitus« durch den lateinischen Schulunterricht geprägt seien (S. 9 f.), könne sich ihre inventio nur in diesem Rahmen bewegen. Der vorgegebene Rahmen, der sich in den artes poetica niederschlage (S. 216), definiere das Prinzip der Figurengestaltung als »Figurendarstellung ad laudem« (S. 315–327). Von diesem Ansatz aus muss Schmitz alle Reibungsstellen, die die vorliegende Analyse im Text orten konnte, zugunsten einer harmonisierenden Eneasdarstellung nivellieren um den Preis von ›Reibungsstellen‹ in der eigenen Argumentation: Warum rechtfertigen der von Schmitz als Hervorhebung des Göttergebots verstandene Vers 18,25 (S. 110 f.) und das Zurücktreten der »Zeichen Jupiters«, die »durch den feudalrechtlichen Vorgang« des consilium ersetzt werden (S. 112), gleichermaßen die Flucht des Eneas? Warum entlastet der Ratsbeschluss Eneas vor dem »Feigheitsverdacht«, wenn die Trojaner ihre Entscheidung gerade »wegen der Wirkung« des »Schreckens« treffen, die Eneas mit Hilfe der »rhetorische[n] Dimension« seiner Rede erzielen wollte (S. 115)? Warum sollte der unentwegte Einbezug des êre-Problems zur Aufhebung eben dieses Problems führen (S. 116–118)? Kann das Schamempfinden, auch wenn es einen »ausgeprägte[n] Sinn für ritterliches Ansehen bezeugt« (S. 117, vgl. auch S. 149 f.), tatsächlich seine Ursache, die Schuld eines Fehlverhaltens, tilgen? Der heuristische Wert der von Schmitz beobachteten Rechtfertigungsstrategien würde weitaus mehr überzeugen, wenn sie diese nicht als Signum einer schlüssigen Adaptation gemäß den rhetorisch-poetischen Prinzipien der artes poetica, sondern als Reaktion auf eine durchaus problematische kulturhistorische Transaktion deuten würde. 37 Wieder signalisiert der eigens fingierte Verweis auf Vergil (V. 21,25) eine Distanzierung. Vgl. Fromm, Komm. zu V. 21,16–21 (Anm. 30), S. 777; Kartschoke, Komm. zu V. 21,25 (Anm. 16), S. 763; anders Dittrich, Eneide (Anm. 18), S. 17.
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dô gelach […], V. 22,37 f.) bzw. unbestimmte Handlungsträger innerhalb von Passivkonstruktionen (und geslihtet wart der sê […], V. 23,1) – eine Traversale von der quellengetreuen Wiedergabe der Götter als Handlungsträger über die Abgabe dieser Funktion an Naturkräfte bis hin zur unpersönlichen Passivkonstruktion, in der sich Veldekes Verfahren der Verschiebung der Götter ins ›Off‹ in einer weiteren Variante zeigt. Am Ende dieser Traversale aber steht mit Eneas’ Erleichterung ein vermittelnder Brückenschlag: des was sîn herze vil vrô, / daz in Fortûnâ sus erlôste (V. 23,10 f.). Doch die Berufung auf Fortuna ist wohl weniger Regress auf die antike Göttin, die Veldeke konsequent als Handlungsträgerin in seiner Fassung vermeidet,38 als vielmehr Aufruf des antiken Signifikanten in seiner abstrakten Bedeutung: Fortuna steht für das Glück, das leicht ins Unglück umschlagen kann, für den Wechsel von Aufstieg und Fall, die Unbeständigkeit des Schicksals an und für sich – Fortuna ist der Zufall.39 Statt also wie bei Vergil über die Konstruktion des ordo artificialis vom Seesturm und den Göttern an Land und ins Zentrum des politischen Konflikts zwischen Karthago und dem neu zu gründenden Weltreich getrieben zu werden, wird Veldekes Eneas über die Konstruktion des ordo naturalis40 zunächst ins Offene und Ungewisse einer Meerfahrt und eines Seesturms hinausgetrieben,41 eine Offenheit, die die Einschussstelle neuer Handlungsmotivationen bietet: Wenn die Götter das Geschick nicht mehr lenken, tritt an ihre Stelle die menschliche Entscheidung mit ihrem kontingent-emotionalen Bodensatz oder die Semantik und Syntax des Zufalls. 38 Während bei Vergil Fortuna 26 Mal, im Roman d’Eneas neun Mal erwähnt wird (V. 674– 692 stellt einen 19zeiligen Exkurs über Fortuna dar), wird Fortuna bei Veldeke nur zweimal genannt: V. 23,11 und 308,34 – ohne direkte Entsprechung in den Quellen (vgl. Sanders, Sal es gelücke walden! [Anm. 20], S. 44 f.; zur Trennung von Geschick und Zufall bei Veldeke: ebd., S. 46). Unspezifisch zwischen antiker und christlicher Fortuna-Tradition (vgl. dazu Haug, O Fortuna [Anm. 23], S. 4–9) angesiedelt, erscheint das Fortunamotiv bei Veldeke als narrative ›Notlösung‹. 39 So noch deutlicher im Roman d’Eneas im Umfeld dieser Stelle: V. 209 (aventure) und V. 230 (fortune). 40 Fromm, Hans, Die mittelalterlichen Eneasromane und die Poetik des ordo narrandi, in: Harald Haferland und Michael Mecklenburg (Hgg.), Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit, München 1996 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19), S. 27–39. 41 Vgl. Makropoulos, Modernität als Kontingenzkultur (Anm. 8), S. 55–59: Gemäß der »nautischen Metaphorik repräsentiert das Meer Unberechenbarkeit, Gesetzlosigkeit und Orientierungswidrigkeit; es ist der Inbegriff für die Sphäre der für den Menschen unverfügbaren Willkür der Gewalten. Denn das Meer ist kein strukturierter und strukturierbarer Raum wie das Land, sondern […] ein offener Wirklichkeitsbereich, der jeden Ordnungsversuch vereitelt« (S. 56). Dazu auch: Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß (Anm. 9), S. 5–41; Blumenberg, Hans, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt am Main 1979 (stw 289), insbes. S. 1–35.
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3. Der Beginn des Krieges Wie kommt es zum Krieg? Zunächst zu Vergil: Hier sieht Juno mit Argwohn, wie Aeneas bei seiner Ankunft in Latium Erfolg hat. Da Juno die höchsten Kräfte, Jupiter, nicht gegen Aeneas stimmen kann, will sie die untersten Kräfte in Anspruch nehmen. Sie holt Allekto, die Unheilsmacht, aus dem Dunkel herauf (VII, 323 ff.) und beauftragt sie, Tod und Verwüstung auszusäen. Allekto setzt darauf an zu einem dreifachen Schlag. Zunächst nähert sie sich Amata, der Mutter Lavinias, und träufelt ihr ein wahnsinnswirkendes Gift ein (VII, 343 ff.). Diese flieht darauf mit ihrer Tochter in die Berge, um dort Lavinia Aeneas zu entziehen und mit ekstatischen Gesängen für Lavinia und Turnus das Brautlied zu singen: eine orgiastische, eine entfesselte Szenerie. Allekto aber hat sich schon zu Turnus aufgemacht, um nun diesen aus dem Schlaf heraus und gegen seinen anfänglichen Widerstand zum Kampf gegen Aeneas aufzuhetzen. Anders bei Veldeke: Hier ist es nicht die Furie Allekto, die im Auftrag der Göttin den Keim des Krieges legt, sondern es ist allein der zorn der Königin, der den Stein ins Rollen bringt. Als diese von der Freigabe der Tochter an Eneas erfährt, stellt sie ihren Gatten empört zur Rede (V. 120,36 ff.). Ihre Argumente sind nach menschlichem Recht stichhaltig,42 doch sie werden durch ihren unmäßigen Zorn von vornherein disqualifiziert. zorne ist denn auch das Leitwort der Szenerie für die Königin: mit zorne (V. 120,38) hört sie vom Entschluss des Königs; mit zorne (V. 121,5) beginnt sie zu sprechen; mir ist zoren (V. 121,19), kommentiert sie sich selbst.43 Schließlich teilt die Königin ihrem Favoriten Turnus die veränderte Lage mit und fordert ihn auf, den Trojaner zu vertreiben. Turnus reagiert sofort, das Leitwort zorne geht an ihn über: dô zornde Turnûs, / daz im der kunech Latînûs […] sîne tohter nemen wolde (V. 126,11–14; vgl. auch 127,7). Der Krieg beginnt hier also nicht durch Lenkung von oben, durch Steuerung in der Vertikalen, sondern gleichsam in horizontaler Perspektive: aufgrund unterschiedlicher Rechtsvorstellungen, vor allem aber aufgrund unterschiedlicher Entscheidungen auf der Basis ungezügelter Emotionen. Ähnlich wie in der Anfangsszenerie wird hier ein Handlungsraum als Entscheidungs42 Ihre Argumente beziehen sich zum einen auf den Vertragsbruch und das Recht des Turnus, zum anderen auf Eneas, der ganz und gar unwürdig sei, weil er Troja im Stich gelassen und zudem Dido verlassen habe. 43 war zû ist der zoren gût? (V. 123,30), antwortet der König, und weiter: ir zornet zunmâzen, / ez ist ein ungefûge zorn (V. 124,4 f.); woldet ir ûch mâzen / solher unzuhte, […] ir habet ze grôze undolt (V. 125,2–7; entsprechend auch: V. 124,26 f.; 125,18 f.). In dieselbe Richtung weist der Erzählerkommentar: ir zuhte sie vergaz, / unsanfte sie nider saz (V. 121,1 f.; siehe auch V. 125,23; 125,31–34). Veldeke baut das zorn-Motiv gegenüber dem Roman deutlich aus.
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raum vorgestellt, wie zuvor erweist sich dieser Entscheidungsraum gerade durch die Unwägbarkeiten emotionaler Entscheidungsfindung als kontingent. Gesteigert ist jedoch die Dramatik, insofern das kontingente Potential, das sich durch das Agieren der Königin eröffnet, nun in keinem öffentlichen Rat ein legitimierendes Regulativ findet, sondern sich als Intrige, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, in Briefform44 seinen Weg sucht, wie auch Turnus in seinem Handeln trotz der mäßigenden Rede des Latinus und trotz der späteren Ratsversammlung nicht vom Zorn als causa seines Handelns abzubringen ist.45 Dieser Freisetzung eines kontingenten Entscheidungsraumes korrespondiert auch hier ein als solcher markierter Zufallsbereich. Beides zusammen bewirkt bei Veldeke die Katastrophe, während bei Vergil auch hier Allekto durch ihren dritten Schlag den Ausschlag gibt: Allekto eilt, nachdem sie die Königin und Turnus auf ihre Seite gebracht hat, nun zum Sohn des Aeneas und hetzt dessen Hunde zur Jagd auf einen Hirsch an, der denn auch getötet wird. Der Hirsch jedoch war zahm. Er gehörte Silvia, der Tochter des alten Adligen Tyrrhus, einem Gefolgsmann des Latinus. Ascanius’ Trojaner und die aufgeschreckten Leute des Tyrrhus gehen nun aufeinander los. Es kommt zu zahlreichen Toten, auch der älteste Sohn des Tyrrhus überlebt nicht. Zufrieden verrechnet Juno: stant belli causae (VII, 553) – die Gründe des Kriegs stehen fest. Sie selbst stößt die Pforten des Krieges auf (VII, 620 f.). Bei Veldeke dagegen braucht es nicht die Furie Allekto, um die Eskalation in Gang zu setzen, hier braucht es nur den jugendlich-unbedachten Ascanius und eine Kette von unglücklichen Zufällen, die zur Eskalation und zum Kriegsanlass werden. eins tages (V. 130,31), d. h. unvermittelt, bricht Ascanius zur Jagd auf; des selben tages quam ez sô (V. 132,18): Unglücklicherweise trug es sich zu, dass eben an diesem Tag auch der Hirsch unterwegs war und seinen Weg kreuzte; die Parteien versuchen sich gegenseitig die Situation zu erklären, aber: sin vernam sîner rede niet, / ir rede her ouch niht vernam. / hern weste niht daz her [der Hirsch] was zam (V. 133,40–134,2). So bricht der Kampf aus ohne Angabe des Grundes: ê sim gesageten die rede (V. 134,16). Die Folge: dô was in allen zorn (V. 134,8), ein zorn, der in einer Kette von Schlägen und Gegenschlägen, signalisiert im staccatoartig wiederkehrenden, immer gleichermaßen unvermittelten dô, die Eskalation der Ge44 Es wird zweifach hervorgehoben, dass sie selbst den Brief geschrieben habe (V. 125,36 und 38), ebenfalls, dass Turnus den brief selbe las (V. 125,40) im Gegensatz zur Mundbotschaft im Roman (vgl. Fromm, Komm. zu V. 125,35–127,6 [Anm. 30], S. 823 f.). 45 dô was dem hêren vil zoren […] daz Latînûs dise rede sprach. / her clagetez sînen mannen / und gienk mit zorne dannen / unde mit unminne / hin ze der kuniginne (V. 140,32–38). Da die Ratssitzung V. 150,7 ff. letztlich Turnus bestätigt, tritt das zorn-Motiv zurück; komplizierter verläuft die Ratssitzung V. 228,15 ff.: Hier scheint Turnus wieder auf seinen zorn (V. 232,33) zurückgeworfen.
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walt bedeutet: dô daz Ascânjûs gesach, / daz man sîne lûte slûch, / dô wart her zornich genûch (V. 134,22–24); Dô des der brûder wart gewar, / manlîche rander dar (V. 135,1 f.) usw.46 Krieg entspringt hier also nicht der Göttermacht, der der Mensch – unwissend gelenkt – Folge leisten muss, sondern er entsteht – so die narrative Inszenierung – aus »nichtigem Anlaß«, jugendlichem Überschuss und dem Zufall eines Treffers.47 Latinus versucht Eneas später dadurch zu entschuldigen, dass er beteuert: daz ez von ungelucke quam (V. 139,39), und setzt alles daran, diese »unglückliche[n] Zufälle«48 wieder auszugleichen.
4. Der Tod des Turnus Aeneas und Turnus stehen sich am Ende allein als Gegner gegenüber. Das Schicksal, so weiß Jupiter bei Vergil, wird nun entscheiden (XII, 725–727). Nach kurzem, doch erbittertem Kampf zeichnet sich die ausweglose Lage des Turnus ab. Nun aber greifen wieder die Götter ein. Juturna, die göttliche Schwester des Turnus, verschafft ihrem Bruder ein Schwert. Empört verhilft Venus darauf ihrem Sohn zum Speer. Beide Kontrahenten sind bereit zum letzten Schlag. Da unterbricht Vergil den Erzählfluss und schiebt ein Streitgespräch zwischen Jupiter und seiner Gattin Juno ein: Dieses Hin und Her wolle Jupiter nicht mehr länger mit ansehen, die Entscheidung sei doch längst schon für Aeneas gefallen, Juno möge endlich die Erfüllung des Schicksals nicht weiter hinauszögern (XII, 793) – und Juno willigt ein. Jupiter schickt darauf eine der Diren, der Todesbotinnen, hinab. Der Text kommentiert: Wie tapfer Turnus auch sein Leben zu verteidigen suche, die grausige Göttin, die Dire, versage ihm nun jeden Erfolg (XII, 913 f.). Die Ausweglosigkeit erkennend, steht Turnus schließlich hilflos da, bebend und geblen46 dô clagete hêre Ênêas, / daz her in dâ hin rîten liez. / driu hundert ritter her hiez / dâ hine varen balde / mit gewâfine ze walde (V. 135,28–32); Dô diu veste was verbrant, / dô fûren si uber al daz lant. / grôzen roub si nâmen (V. 137,17–19); vgl. auch V. 136,2 f.; 19; 28; 31. 47 Lienert, Deutsche Antikenromane (Anm. 15), S. 85; hervorgehoben ist damit die Diskrepanz von Anlass und Folgen; in der »unkontrollierbare[n] Eskalation von Gewalt« sieht Lienert »ein typisches Deutungsmuster für die Entstehung von Krieg im Antikenroman« (ebd.). Vgl. auch Lienert, Elisabeth, Zwischen Detailverliebtheit und Distanzierung. Zur Wahrnehmung des Krieges in den deutschen Antikenromanen des Mittelalters, in: Horst Brunner (Hg.), Die Wahrnehmung und Darstellung von Kriegen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, Wiesbaden 2000 (Imagines medii aevi 6), S. 31–48, hier S. 43 f. 48 Übersetzung Fromm (Anm. 30). Bei Vergil muss keine Entlastung des Aeneas in dieser Form stattfinden; auch der Roman verfährt anders, indem er den Kriegsausbruch stärker an Rechtsfragen und -diplomatie zurückbindet: vgl. Fromm, Komm. zu 138,21–155,31 (Anm. 30), S. 827.
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det vor Angst, ihm gegenüber – nicht allzu weit entfernt – Aeneas. Dieser mit erhobenem Speer: cunctanti telum Aeneas fatale coruscat sortitus fortunam oculis et corpore toto eminus intorquet. […] volat atri turbinis instar exitium dirum hasta ferens […] (XII, 919–924)49
Geschildert wird – einen Speerwurf lang, zwei Verse lang – der Kairos des Todes, nachdem die Götter Turnus fallengelassen haben. Der Weg des Speers ist vorbestimmt, sein Ziel gewiss. Auf diesen Speerwurf hin war die Szene ausgerichtet. Nicht, wer gewinnt, war die Frage, sondern wie die Gewissheit des Todes in den letzten Momenten auszuhalten, wie sie nicht auszuhalten sei. Zwar heißt es auch bei Veldeke in abstrakter Wendung, dass Turnus sich gerne gerächt hätte, wan daz ez was versprochen, / daz ez niht solde wesen sô (V. 328,16 f.).50 Doch das Götterpersonal ist in der Szene gänzlich abgezogen. Weder Jupiter noch Juno, weder Juturna noch Venus agieren mit. Aber auch von Fortuna, von Gott oder der saelde ist nicht die Rede. Deutlich aufgewertet ist dagegen Turnus. Gleichrangig tritt er neben Eneas auf: si wâren beide rîche / manhaft und hôchgemût (V. 324,22 f.). Es geht um die zwêne degene gûte (V. 325,28). Wiederholt hebt der Erzähler nicht nur Ausstattung, Erscheinung und Tapferkeit des Eneas, sondern auch diejenige des Turnus hervor: ir beider wâfen wâren gût (V. 324,24), beide Pferde stark und snel (V. 324,28; 35). Nicht nur Eneas, sondern auch Turnûs der helt balt / vaht mit grôzer gewalt (V. 327,1 f.). Und so hält sich das Kampfgeschehen zunächst in einer ausgewogenen Pattsituation: Zu gleicher Zeit verlieren sie ihre Pferde, und dennoch: ir newederre wolde / dem andern entwîchen (V. 325,34 f.). Gleichermaßen gilt: si gâben unde nâmen / slege grimme unde grôz (V. 325,38 f.).51 49 »Gegen den Zögernden schwingt Aeneas die tödliche Waffe, / sucht mit Augen den richtigen Punkt und schleudert mit voller / Wucht von ferne den Speer […] hinfliegt wie ein düsterer Wirbel des Windes, / grauses Verderben bringend, der Speer […]« (Übersetzung Götte [Anm. 24]). 50 M und w bieten jedoch eine andere Lesart: er hete es gerne errochen, / wan es was ofte gesprochen, / inzwischen in wære grozer nit. Vielleicht haben die Schreiber der Handschriften doch nicht »am Sinn ihrer Vorlage vorbeigelesen« (Fromm, Komm. zu V. 328,16 ff. [Anm. 30], S. 893; vgl. aber auch 332,22 f.). 51 Noch bis zum Ende erweist sich Turnus als Held: Nur für einen Augenblick weicht er zurück (V. 328,38 ff.; vgl. auch V. 328,10; 329,18–20); sein Steinwurf gelingt: Eneas kann sich danach kaum auf den Beinen halten (V. 329,12–17). Vgl. auch den hyperbolischen Nachruf: V. 331,39 ff.
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Zeichnet Vergils Fassung das unausweichliche Gefälle auf den tödlichen Speerwurf hin nach, so arbeitet der narrative Verlauf der Fassung Veldekes dem Gefälle des Schicksals gerade entgegen. Der Kampf, expliziert zwar als Schicksalsbeleg, realisiert sich in der narrativen Entfaltung – gleichsam gegenläufig – als Entscheidungskampf.52 Was aber verursacht dann die Wende? Zwei Hinweise werden gegeben. Zum einen sind es Eneas’ Rüstung, Schild und Schwert, die – vom Schmiedegott Volcanus geschaffen – nicht zu zerstören sind (V. 326,15–34): des verlôs Turnûs sîn leben (V. 326,27), heißt es ausdrücklich und wiederholt. Die aktive Unterstützung durch die Götter kommt nur vermittelt zum Zug, realisiert sich allenfalls medial in der gottgewirkten Ausstattung. Damit ist auch hier wieder eine jener vielfältigen narrativen Traversalen zwischen Göttermacht und Götterentmachtung zu fassen, die Veldekes Text kennzeichnen. Und auch hier verläuft der Transfer nicht glatt, sondern bleibt narrationslogisch widerständig. Einerseits wird durch die Aufwertung des Turnus der Spannung eines Entscheidungskampfes zugearbeitet, andererseits erhält das Kontingente, das den Entscheidungskampf erst zu einem solchen machen würde, keine Chance: Die Gewissheit der Vergilschen Fassung, dass das Schicksal unwiderlegbar sei, ist ersetzt durch die Sicherheit der Fassung Veldekes, dass die Rüstung des Eneas unzerstörbar ist – ein eher lapidarer Tausch, der einer Untermotivation gefährlich nahe kommt. Die vom Erzähler eingeblendeten Alternativen im Konjunktiv bestätigen denn auch weniger die Notwendigkeit des Geschehens, als dass sie diese – kontraproduktiv – gerade zu unterlaufen scheinen: Eneas wâre ouch des slages tôt, / wan daz in generde / der veste helm und herde (V. 328,26–28); und es heißt – in Parallele dazu – abschließend, Turnus habe die Vorzüglichkeit von zehn seiner Standesgenossen auf sich vereinigt: wan daz klagelîch unheil, / daz her des tages veige was / unde daz her Ênêas / sîn lîb danne solde tragen, / Turnûs het anders in erslagen (V. 332,22–26). Schicksalserfüllung einerseits, Untermotivation und eingeblendete Alternativen im Konjunktiv andererseits? Hier scheint das narrative Arrangement sich im Widerspruch zu verfangen. Doch der zweite Hinweis bietet die Auflösung: In ihm erhält das Kontingente eine offene und zugleich privilegierte Funktion. Denn die eigentliche Wende im Zweikampf erfolgt durch den Zufall eines Augenblicks. Als Turnus Eneas einen entscheidenden Schlag versetzt hat und Eneas zu unterliegen droht, heißt es: dô gesach der helt balt Ênêas der Troiân 52 Diese Gegenläufigkeit bleibt im Roman ausgespart, da hier einerseits der Schicksalsgedanke kaum ausgeprägt ist (andeutungsweise V. 9728 und 9747; vgl. Kartschoke, Komm. zu V. 328,15 ff. [Anm. 16], S. 817), andererseits aber auch keine Aufwertung des Turnus erfolgt.
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Lavînen zû dem venster stân: des gewan der helt gût grimmigen hôhen mût, wand im diu maget lieb was. (V. 327,20–25)
Eneas holt darauf aus zu einem gewaltigen Gegenschlag: der Anfang von Turnus’ Ende. Kein Götterdisput also führt zur Wende, sondern der Sachverhalt, dass Eneas zufällig Lavinia am Fenster erblickt: dô gesach – ein Zufall, der nun jedoch alle Notwendigkeit auf seiner Seite hat.53 Notwendig wird dieser Zufall jedoch nicht nur durch das Arrangement der finalen und kompositorischen Motivation von hinten, sondern vor allem durch das Arrangement einer kausalen Motivation, einer Motivation von vorne. Diese konnte entstehen, indem Veldeke analog zur französischen Vorlage die Vorgeschichte dieses Augenblicks als Minnegeschichte auserzählt hatte. Erst die vorausgegangene, minutiös entfaltete Liebesgeschichte macht plausibel, warum das zufällige Erblicken Lavinias bei Eneas zur Stringenz einer Kampfhandlung führt, die das Ende des Turnus bedeuten muss. Handlungsraum und Zufall treffen hier nicht in Opposition, sondern im Zusammenspiel aufeinander, ebenso wie Zufall und Notwendigkeit zu einer Engführung gelangen, wie sie sich zuvor nicht abzeichnen konnte. Keine Substitution mit Restposten, keine Ambivalenz, keine unbefriedigende Traversale: In der Engführung von Zufall und Notwendigkeit im Erblicken der Geliebten findet der Text zu einer szenischen Lösung, die ihm in seiner historischen Situation ›auf den Leib‹ geschrieben scheint und sich wohl gerade deshalb in anderen Texten fortgeschrieben hat.54
5. Ergebnisse (1) Widersprüchliches auf Handlungsebene: Man wird sagen können, dass die Adaptation des antiken Stoffs an eine christliche Verstehensmatrix bei Veldeke durchaus Einschussstellen des Kontingenten bietet, und dies an prominenten Stellen der Narratio. Man wird weiter festhalten können, dass sich die Semantisierungen von Kontingenz über die Umbesetzung des Handlungs53 Die Vorlagen kennen diesen ›Zufall‹ nicht: dazu ausführlich Fromm, Komm. zu V. 327,20–25 (Anm. 30), S. 892 f. 54 Bereits topisch und instrumentalisiert bei Hartmann von Aue, Erec, V. 935 ff. und 9174 ff.; als ironisches Spiel mit der Instrumentalisierung bei Wolfram, Parzival, V. 742,27 ff.; 743,24 ff.
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raums der Götter zum Entscheidungsraum menschlichen Handelns oder über eine Aktantenleerstelle als Einschreibung des Zufalls vollziehen, wobei sich jedoch keine einlinige Wertung erkennen lässt. Insofern wird man zu realisieren haben, dass sich die Einschussstellen des Kontingenten auf Handlungsebene primär als Folgeprodukt eines kulturellen Übersetzungsproblems, nicht aber als intendiertes thematisches Novum oder als narratologisch reflektierte Innovation darstellen. Eben deshalb verweisen die Verfahrensweisen, über die sich im Eneasroman Kontingentes einschreibt, trotz ähnlicher Semantisierung nicht auf ein homogenes Programm, sondern vielmehr auf die widersprüchliche Baustelle einer nicht reibungslos sich vollziehenden historischen Transaktion. Widersprüchlich aber bleibt diese Baustelle, da sich weder die heilsgeschichtliche Konzeption des Eneasromans insgesamt bestreiten lässt noch der Sachverhalt, dass auf Figuren- und Handlungsebene – keineswegs durchgehend, konsequent oder durchkonstruiert, aber doch in seinem punktuellen Erscheinen nachhaltig – ein gegenläufiges Moment eingeschrieben bleibt: eine gleichsam ›de-konstruktive‹ Kontingenz. Weder das eine noch das andere lässt sich hermeneutisch gegeneinander ausspielen oder miteinander verrechnen. Bemerkenswert erscheint vielmehr gerade das ›Sowohl-alsauch‹, das ›Zugleich‹ unterschiedlicher Motivationsansätze, die sich narrativ überlagern, obwohl sie sich systematisch widersprechen. Veldekes Eneasroman bietet somit keine stringente Lösung für die Frage, wie sich eine destabilisierende Kontingenz in einer Narration behaupten kann, die durch ihre heilsgeschichtliche Konstruktion final orientiert ist. Was er jedoch bietet, ist: die Kombination, Überlagerung und Interferenz unterschiedlicher Motivationsstrukturen von Szene zu Szene zugelassen zu haben, offensichtlich in Hinblick auf die Konstitution eines veränderten Heldentypus. (2) Die Funktion unter gattungsspezifischem Aspekt: Die ungelösten kulturellen Übersetzungsprobleme der Narration, d. h. jene Stellen, bei denen der Transfer der antiken Vorgaben in den neuen kulturellen Kontext nicht reibungslos gelungen ist, sondern zu Unklarheiten, Schattierungen, Interferenzen geführt hat, jene ›Schleuderstellen‹ einander widersprechender Motivationen, bei denen man auf der Suche nach heuristischer Eindeutigkeit interpretatorisch nur verlieren kann, genau jene Stellen sind diejenigen, an denen sich die literarhistorische Position von Veldekes Eneasroman am klarsten fassen lässt. Man hat diese literarhistorische Position zu Recht in der Zwitterstellung des Eneasromans zwischen Epos und Roman festzumachen gesucht. Wenn Entscheidungs- und Zufallsspielräume deutlicher markiert sind, wenn Eneas als Held erscheint, der der Notwendigkeit seines Weges keineswegs mehr durchgehend gewiss ist, der über Alternativen des Handelns nachdenkt, der seinen Weg – situativ bedingt – auch als kontingent erfahren kann, ist Veldekes Protagonist damit ein Heros, der kein Heros mehr
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ist. Oder gattungsspezifisch formuliert: Wo die Götter den Heros nicht mehr mit Gewissheit lenken, tritt an seine Stelle der Romanheld. Wieder wird man diese Verschiebungen in der Figurenauffassung nur in transitorischen Momenten verbuchen können: Mit der Freisetzung oder Restriktion von Kontingenz changiert Veldekes Protagonist in seiner gattungsspezifischen Kontur. Gewonnen wäre jedoch im Kriterium der Kontingenz ein ausreichend flexibles Interpretament, um die transitorischen Momente in ihrem Wechsel bestimmen zu können.55 (3) Bedenken unter narratologischem Aspekt: Wenn sich Kontingenz auf Handlungsebene als ein wesentliches Unterscheidungskriterium zwischen Epos und Roman angeben lässt, was eine entwicklungslogisch perspektivierte Lesart der Literaturgeschichte ermöglicht, wenn sich diese Lesart in den kulturgeschichtlichen Entwurf einordnen lässt, den etwa Makropoulos gegeben hat, so trifft diese entwicklungslogische Perspektivierung auf narratologischer Ebene auf ein entscheidendes und widerständiges Problem: Wie es keine Narration ohne Ordnung geben kann, so keine Narration ohne Kontingenz.56 Gilt diese Ausbalancierung von Chaos und Automatismus auch für das Epos, so müssen sich auch bei Vergil Anteile von Kontingenz in der Narration auf Handlungsebene finden. Das Fatum als oberste Handlungsinstanz kommt hierfür nicht in Frage, da es eben jene Instanz ist, die bestimmt, was nicht nur sein kann, sondern sein muss. Die Ebene menschlichen Handelns kommt dafür ebensowenig in Frage, da das Regulativ für sie auf Götterebene und letztlich im Fatum beschlossen liegt. Auf Götterebene, also gleichsam dem Zwischenglied, zeichnet sich jedoch eine bedingte Kontingenz ab, insofern die Götter in ihren Handlungsweisen gegenüber dem Fatum einen gewissen Freiraum genießen. Nicht ob das Fatum sich erfüllt, können die Götter beeinflussen, wohl aber, unter welchen Bedingungen, gegen welche Widerstände und um welchen Preis auf menschlicher Ebene. Es ist dieser Freiraum, aus dem das Spannungspotential auch des Vergilschen Epos erwächst. 55 Solcherart flexible und textnahe Kriterien unterlaufen in der Regel die Raster geschichtsphilosophischer Argumentation: vgl. Lukács, Georg, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Berlin 1920. 56 Eine Narration ohne Ordnung verfällt der Beliebigkeit oder dem Chaos; eine Narration ohne Kontingenz setzt sich dem Vorwurf des Automatismus aus. Das Mischverhältnis zwischen Ordnung und Kontingenz wird – je nach historischem Kontext – unterschiedlich austariert (Waldenfels, Das Ordentliche und das Außer-ordentliche [Anm. 6]; vgl. auch Lachmann, Renate, Zum Zufall in der Literatur, insbesondere der Phantastischen, in: Graevenitz/ Marquard, Kontingenz [Anm. 1], S. 403–432), zur Auflösung des Mischverhältnisses kann es jedoch nicht kommen. »L’art est non-hasard – par définition« (Paul Valéry, Cahier XXVI, S. 17) oder das Ästhetische als »Szenographie von Kontingenz« (Wellbery, Relevanz des Kontingenzbegriffs [Anm. 6], S. 166) sind deshalb extreme Formulierungen, die den Widerspruch herausfordern und insofern implizit bereits enthalten.
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Annette Gerok-Reiter
Vergleicht man diese Ebenen und ihre Zuordnung von Kontingenz bzw. Notwendigkeit mit der mittelalterlichen Erzählfassung, so wird deutlich, dass das Kontingenzpotential der Götterebene im mittelalterlichen Entwurf sich auf die Ebene menschlicher Handlungen oder auf eine Semantik bzw. Syntax des Zufalls verschoben hat. Das aber hieße in der Konsequenz, dass nicht primär ein erweiterter Spielraum von Kontingenz das (literar-)historische Unterscheidungskriterium sein kann, sondern die unterschiedliche Platzierung in den jeweiligen Handlungsregistern mitsamt ihren Konsequenzen. Platziert auf menschlicher Handlungsebene gewinnt das Kontingenzpotential erst seine eigentliche Dramatik, da sich erst auf dieser Ebene Legitimitätsfragen stellen. Wichtiger als die quantitative Einordnung von Kontingenz nach dem Kriterium von ›mehr oder weniger‹ erscheint somit im literarhistorischen Kontext die Frage nach der Art ihrer Markierung und dem Grad ihrer Dramatisierung. Indem Veldeke den Spielraum des Kontingenten auf die Ebene menschlichen Handelns verschiebt, setzt er das eigentliche Potential des Kontingenten in seiner Möglichkeit wie seiner Problematik erst frei. So gesehen beginnt Kontingenz als Modernitätskriterium erst und schon bei Veldeke wirksam zu werden, lässt sich – gerade im Blick auf die Gattung Roman – erst und schon bei Veldeke von den Anfängen einer affirmativen Kontingenzkultur sprechen. (4) These und Frage auf Erzählerebene: Eröffnet die Freisetzung von ›dekonstruktiver‹ Kontingenz für das Erzählen ein ungeheures Potential, das für die Romanentwicklung von größter Relevanz sein sollte, so bedeutet es zugleich eine erzählstrategische Gefahr: Mit der Freisetzung des Kontingenten muss – so die These – sogleich seine Regulierung erfolgen, will das Erzählen selbst nicht dem Zufall anheimfallen und im Chaos enden. Erkennbar wird das Ausmaß der Gefahr des freigesetzten Kontingenten deshalb jeweils an den Gegenkräften seiner Eindämmung. Bedarf es in Vergils Fassung am Ende nur der regelnden Frage Jupiters mit Blick auf das Fatum, um Juno in ihre Schranken zu weisen, im Zusammenschluss mit den Musen, die die Erzählung in diesem Augenblick in das Gefälle zum Schluss hin wenden (vgl. I, 8 oder auch VIII, 641 ff.), so muss in Veldekes Erzählung – eben weil die Götterebene zurückgedrängt und die Musen fern sind – das szenische Arrangement eines zufälligen Blicks die Lösung bringen, ein Arrangement, hinter dem nun nicht der Göttervater, sondern der Erzähler als regulative Instanz zum Vorschein kommt. Wenn die Götter das Geschick nicht mehr lenken, tritt an ihre Stelle der Zufall und mit ihm der Erzähler als Inszenator. Das heißt, analog zur stärkeren Markierung und Dramatisierung des Zufalls muss der Erzähler als dessen Organisator und ›Bändiger‹ in Erscheinung treten. Oder anders formuliert: Mit der markierten Einschreibung des Zufalls hat der Erzähler sich mehr als zuvor als Herr seiner Geschichte zu beweisen. Veldekes Eneasroman hat
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bekanntlich viele Herren: Vergil, Ovid, Nebenquellen, den französischen Roman d’Eneas, die Gräfin von Kleve, Hermann von Thüringen, heilsgeschichtlich-politische Ideologie, rhetorisch-poetologische Traditionen. Doch wird nicht ebendort, wo sich im Eneasroman Einschreibungen von Kontingenz profilieren, wird nicht genau in diesen Reibungspunkten der Narration am ehesten der Erzähler, ja vielleicht sogar der Autor als sein eigener Herr uns greifbar?
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Cornelia Herberichs
so muz ich gut gelucke han Kontingenzreflexionen im Liet von Troye Herborts von Fritzlar
Im hohen Mittelalter zeugen zahlreiche Spuren sowohl in der Gelehrtenkultur als auch in der höfischen Gesellschaft von der weiten Verbreitung des Troja-Stoffes: Anspielungen in Epen, in Geschichtswerken und literarische Allusionen illustrieren, dass das Wissen vom Trojanischen Krieg geläufig und der Untergang der antiken Stadt als bekannte historiographische Tatsache firmierte.1 In der höfischen Erzählliteratur des 12. Jahrhunderts hatte der Stoff seinen prominenten Ort bereits im Eneasroman Heinrichs von Veldeke, wo Eneas im Zwiegespräch mit Lavinia ausführlich vom Untergang Trojas berichtet.2 Galt der Untergang Trojas als historische Tatsache,3 so wurden in den verschiedenen mittelalterlichen Fassungen und Versionen der Geschichte je andere Details, Zusammenhänge und Perspektiven des Stoffes ausgestaltet. Das Ziel der Handlung, der vernichtende Sieg der Griechen über die Trojaner, blieb stets dasselbe, doch die Verknüpfungs- und Darstellungstechniken, Handlungsmotivationen und Figurengestaltungen der mittelalterlichen Texte sind von einer weitreichenden Heterogenität charakterisiert.4 1 Eine umfangreiche Verzeichnung der volkssprachigen Troja-Literatur in Brunner, Horst (Hg.), Die deutsche Trojaliteratur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Materialien und Untersuchungen, Wiesbaden 1990 (Wissensliteratur im Mittelalter 3). 2 Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übers., mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke, Stuttgart 32004, V. 910–1230. 3 Goez, Werner, Translatio imperii. Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und den politischen Theorien im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Tübingen 1958; Graus, František, Troja und trojanische Herkunftssage im Mittelalter, in: Willy Erzgräber (Hg.), Kontinuität und Transformation der Antike im Mittelalter. Veröffentlichung der Kongreßakten zum Freiburger Symposion des Mediävistenverbandes, Sigmaringen 1989, S. 25–43; Kellner, Beate, Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter, München 2004. 4 Zu den divergenten Konzepten der Eneas-Figur siehe Fromm, Hans, Eneas der Verräter, in: Johannes Janota (Hg.), FS Walter Haug und Burghart Wachinger, Bd. 1, Tübingen 1992, S. 139–163; zu den Geschichtskonstruktionen in Konrads Trojanerkrieg siehe Worstbrock, Franz Josef, Der Tod des Hercules. Eine Problemskizze zur Poetik des Zerfalls in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg, in: Harald Haferland und Michael Mecklenburg (Hgg.), Er-
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Das Spektrum der Gestaltungsmöglichkeiten des Troja-Stoffes, dies ist im Folgenden eine leitende These, steht in Zusammenhang mit Reflexionen auf Kontingenz, die in der mittelalterlichen Troja-Literatur sowohl auf der Handlungs- als auch auf der Darstellungsebene erfolgen. Bereits der erste deutschsprachige Troja-Roman, Herborts von Fritzlar Liet von Troye,5 bedient sich einer Vielzahl von Motiven und Erzähltechniken, um Kontingenz zu konstruieren und zu reflektieren. Im Folgenden interessieren einige besonders signifikante Aspekte, die auf verschiedenen Ebenen des Textes erfolgen: (1) über Prophezeiungen verschiedener Figuren, (2) mittels Vorausdeutungen auf Umbruchsmomente der Handlung, (3) in einer charakteristischen Technik eines Erzählens im Modus des Konjunktivs, (4) im spezifischen Gebrauch von Metaphern für Zufälligkeit und (5) in der Selbstthematisierung der Erzählerfigur Herborts als einer Instanz der Erzeugung literarischer Kontingenz. Als ein Vertreter der hybriden, sich im hohen Mittelalter von der Historiographie teilweise ausdifferenzierenden Gattung des ›Antikenromans‹, so wird abschließend vorgeschlagen, erzeugt und verhandelt das Liet von Troye mittels der Kontingenzreflexionen eine spezifische Form von Literarizität.
zählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit, München 1996 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19), S. 275–284; zu den motivischen Eigenheiten des Göttweiger Trojanerkriegs Kern, Manfred, Agamemnon weint oder arthurische Metamorphose und trojanische Destruktion im Göttweiger Trojanerkrieg, Erlangen 1995 (Erlanger Studien 104). 5 Die literarhistorische Einordnung und Datierung des Liet von Troye werden neu diskutiert von Bauschke, Ricarda, Geschichtsmodellierung als literarisches Spiel: Zum Verhältnis von gelehrtem Diskurs und Geschichtswahrheit in Herborts Liet von Troye, in: Christa Bertelsmeier-Kierst und Christopher Young (Hgg.), Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachliche Literalität 1200–1300, Cambridger Symposium 2001, Tübingen 2003, S. 155–174; Dies., Strategien des Erzählens bei Herbort von Fritzlar. Verfahren interdiskursiver Sinnkonstitution und ihr Scheitern im Liet von Troye, in: Wolfgang Haubrichs, Eckart Conrad Lutz und Klaus Ridder (Hgg.), Erzähltechnik und Erzählstrategien in der deutschen Literatur des Mittelalters. Saarbrücker Kolloquium 2002, Wolfram-Studien 18 (2004), S. 347–366; Bauschke argumentiert gegen die traditionelle These, das Liet von Troye sei ein ›frühhöfischer‹ Roman und plädiert für eine Entstehung nach der höfischen Blütezeit. Die Existenz eines Trojaromans vor Herborts Liet von Troye wurde insbesondere von der früheren Forschung diskutiert: Joseph, Eugen, Die Zeugnisse für eine deutsche Trojadichtung vor Herbort, in: ZfdA 30 (1886), S. 395–399. Zur literarhistorischen Einordnung siehe auch Fromm, Hans, Herbort von Fritslar. Ein Plädoyer, in: PBB 115 (1993), S. 244–278 und Mertens, Volker, Herborts von Fritzlar Liet von Troie – ein Anti-Heldenlied?, in: Jahrbücher der Reineke-Gesellschaft 2 (1992), S. 151–171.
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1. Vorausdeutungen und Prophezeiungen Literarische Vorausdeutungen generieren eine komplexe Zeitstruktur: Die Linearität der Erzählung wird mehrmals durchbrochen, wenn in Aussagen von Figuren oder in Metalepsen des Erzählers der Kriegsausgang antizipiert wird. Das Liet von Troye enthält zahlreiche Prolepsen, die auf verschieden Textebenen situiert und die im Kontext unterschiedlicher Handlungsmomente eingefügt sind. Die erste Vorausdeutung erfolgt nach der Wiedererrichtung der Stadt durch Priamus; der Erzählerkommentar formuliert, ein Akt der Illoyalität werde schließlich die abermalige und endgültige Zerstörung Trojas herbeiführen: Ez enwerre denne untruwe / vnd groz vurretennisse / so sazzen si gewisse (V. 1786–1788). Die metanarrative Vorausdeutung ist an die Leser des Romans adressiert, wodurch sie eine Diskrepanz im Vorwissen zwischen den Figuren der Handlung und den Rezipienten des Textes erzeugt. Die Vorausdeutung informiert aber nicht nur über den Ausgang der Geschichte, sie eröffnet zugleich Fragen nach der spezifischen Form der Einlösung dieser Ankündigung. Im Liet von Troye ist in dieser Hinsicht die Pluralität der Vorausdeutungen von besonderer Signifikanz: Nach dieser ersten geben noch zahlreiche weitere Ankündigungen im Verlauf des Romans über das Ende Trojas Auskunft, doch akzentuieren sie jeweils andere Ursachen des Untergangs als den hier vom Erzähler angedeuteten Verrat aus trojanischen Reihen: Prophezeiungen, die von Weissagern, übernatürlichen Gestalten oder aufgrund von Träumen verschiedener Figuren geäußert werden, benennen den Raub der Helena oder den Tod Hectors als jeweilige Bedingung für die Zerstörung der Stadt.6 Während die Vervielfachung und Redundanz der Prognosen die Unausweichlichkeit der Katastrophe unterstreichen, veranschaulicht die Pluralität der genannten Ursachen die Komplexität einer Untergangslogik, die auf mehreren Bedingungen aufruht – Bedingungen, die allerdings kaum ineinanderzugreifen scheinen. Wecken die Prolepsen derart die Erwartung des Untergangs, so erzeugen sie zugleich blinde Flecken im Vorwissen der Leser, indem die Kausalität des Untergangs sowohl jeweils ausgestellt wird als auch als eine (noch) nicht durchschaubare Verket-
6 Verschiedene Begründungen lösen einander derart ab: Die Einlösung der ersten Erzählervorausdeutung (V. 1786–1788) erfolgt erst ab V. 15225, wenn die verretennisse beginnt. Doch sodann ist es abermals ein anderer kausaler Zusammenhang, der die Untergangslogik determiniert, der Verbleib des Palladiums (Die wile diz bilde hie inne ist, / so enhoret dar zv deheine list, / da die stat mit si gewunnen, V. 15638–15640). In der ersten Romanhälfte wird neben Paris’ Ausfahrt auch Hectors Tod als Vorbote des Untergangs genannt, doch wird dieses Ereignis in der zweiten Romanhälfte als Auslöser des Untergangs Trojas nicht mehr reflektiert (s. u.).
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tung der Ereignisse entzogen bleibt; der Zusammenhang zwischen Königinnenraub, Verrat und militärischer Niederlage bleibt undurchschaubar. So zeitigen Vorausdeutungen im Liet von Troye einen paradoxen Effekt: Indem sie das Handlungstelos klar exponieren, lassen sie zugleich allererst zahlreiche Unbestimmtheiten des Handlungsprozesses in den Blick treten; sie bringen ein vorzeitiges Wissen über die Zukunft der Erzählung ein, doch generieren sie damit zugleich spezifische Effekte des Nicht-Wissens. Die narrative Funktion der Vorausdeutungen erschöpft sich folglich nicht in ihrem konstativen Gestus der Vergewisserung der bevorstehenden Katastrophe. Stattdessen eröffnen sie eine Differenz zwischen Kennen und Verstehen des künftigen Ereignisses. Schon die Struktur der meisten Prolepsen erweist sich bei näherem Hinsehen selbst als vielschichtig: So inszeniert bereits die erste Ankündigung eine gebrochene Teleologie, indem sie die Vorausdeutung in den Konjunktiv setzt (Ez enwerre denne untruwe) und so ein Oszillieren zwischen der Unausweichlickeit des Verrats und einer scheinbar möglichen Alternative in Gang setzt. Diese Form einer vermeintlichen Brechung der Determiniertheit ist auch für viele weitere Prophezeiungen im Liet von Troye charakteristisch: Vor der Ausfahrt des Paris nach Griechenland, um Elena zu entführen, sagen in der Ratsversammlung des Priamus drei wissagen unmittelbar nacheinander jeweils den unglücklichen Ausgang des Krieges voraus. Elenus, Panthus und Kassandra formulieren in ihren Klagereden drei Mal die identische Aussage, dass von Paris’ Handeln das Schicksal der Stadt abhängen werde – und erfüllen so abermals in verdichteter Form das für den Roman charakteristische Prinzip der Vervielfachung.7 Zugleich behaupten ihre Zukunftsprognosen, dass das Prophezeite gerade noch abwendbar sei; wenn Paris auf seine Ausfahrt verzichtete, werde sich das Schicksal von der Stadt abwenden lassen: ›Blibe min bruder hie, / so were min gedinge, / daz ez vns baz erginge‹ (V. 2328–2330).8 Auf der Handlungsebene erweisen sich die Prophezeiungen als folgen- und funktionslos, Cassandras gedinge (V. 2329) auf eine Abwendbarkeit des trojanischen Schicksals wird
7 In den Reden der wissagen behaupten diese ihre Prophezeiungen dabei selbst schon als jeweils wiederholte, bereits in der Vergangenheit erfolgte: So habe Elenus ez langens vor gesehen (V. 2236), dass Paris der Stadt eines Tages Unheil bringen werde, Panthus beruft sich auf eine längst vergangene Zukunftsvoraussage seines Lehrer (›Ensorbius min meister was, / vor funfzic iaren er ez las: […] / Er sprach, daz Troyge in groze not / queme noch von Paride‹, V. 2299–2303) und Cassandra weiß schon längst aus ihren Büchern, dass Paris die Stadt in den Untergang führen wird: Mich betroc min buch nie (V. 2327). Die Prophezeiungen sind derart jeweils in die Vergangenheit ›vordatiert‹; der Wahrheitswert der Weissagungen erscheint zum Zeitpunkt ihrer Äußerung insofern bereits evident, als schon die aktuelle Konfliktsituation um Paris’ Ausfahrt vorausgewusst war. 8 Elenus: Kinden vnd wiben / geschit noch von Parise / maniger leit (V. 2240–2242); Panthus: Er sprach, daz Troyge in groze not / queme noch von Paride (V. 2302 f.).
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in den Wind geschlagen;9 und schließlich wird die Uneinsichtigkeit des Paris und das Wissen der Weissagen in einer chiastischen Formulierung enggeführt, die sich an die Lesenden richtet: Daz liebete Parise, / daz im solde leiden, / als da was bescheiden / von den drin wissagen (V. 2340–2344). Die mehrfachen Prophezeiungen schließen also nicht, sie eröffnen Horizonte der Kontingenz, die sich mit der fortlaufenden Erzählung – indem sich die kausalen Begründungen verändern – wiederum verschieben. Die markierte Ausschaltung der »Ob überhaupt-Spannung« durch die Vorausdeutungen (und natürlich schon durch das kulturelle Vorwissen der Rezipienten) lenkt die Aufmerksamkeit umso mehr auf die »Vielfalt der Weisen«, in denen sich das »Wie«10 des Handlungsprozesses, das ›Warum‹ und das ›Wann‹11 des Untergangs gestalten – Weisen, die von den Prophezeiungen gerade nicht determiniert werden.
2. Hectors Tod und das zählbare Leid Für die Ankündigungen von Hectors Tod, dem eine zeichenhafte Bedeutung für das Schicksal der Stadt beigemessen wird, lässt sich diese paradoxe Funktion von Herborts Vorausdeutungen besonders anschaulich aufzeigen. Die Voraussagen bezüglich Hectors Sterben stiften nämlich nur scheinbar Orien9 Die Fruchtlosigkeit der Warnungen wird von Herbort sinnfällig veranschaulicht, indem jede der drei Reden mit einer Schilderung alterniert, wie Paris bereits seine Abreisepläne vorantreibt (V. 2282–2292; 2310 f.; 2333–2339); handlungslogisch nimmt Herbort sogar Ungereimtheiten in Kauf, indem er die Warnungen in der Ratsversammlung mit den landesweiten Vorbereitungen der Ausfahrt synchronisiert: Die Öffentlichmachung des Ratsbeschlusses, für die daz lant folc (V. 2283) erst eigens zusammengerufen werden muss, Paris’ langwierige Reisevorbereitungen (V. 2310 f.) und schließlich seine erreichte Abfahrtsbereitschaft (V. 2333 f.) – all dies scheint zeitlich parallel zu einer einzigen Ratsversammlung stattzufinden. 10 Terminologie nach Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Mit einer Einleitung von Heinz Schlaffer. Fankfurt am Main 1994 (stw 151), hier S. 42. 11 Auch was die Zeitgestaltung des Romans betrifft, werden von Herbort Prophezeiungen eingesetzt, die, statt den Lesenden eine Orientierung über die Chronologie der Ereignise zu geben, die unübersichtliche Zeitstruktur umso augenfälliger machen. Wenn im Apollo-Orakel (V. 3469–3538) die Länge des Krieges präzisiert wird (bi disen zehen jaren, V. 3525), so erweist sich dieser Informationswert für den Lektüreprozess als gering: Die Schilderung des zehnjährigen Krieges verzichtet fast vollständig auf Datierungen. Stattdessen entfaltet Herbort ein wechselvolles Netz an Zeitsprüngen und -dehnungen; der Roman gestaltet das Kriegsgeschehen geradezu als unüberschaubaren Wechsel von Schlachten und Waffenpausen, der – so das kritische Urteil der Forschung – eine ermüdende »Wiederkehr des Immergleichen« (Schmid, Elisabeth, Ein trojanischer Krieg gegen die Langeweile, in: Jan-Dirk Müller und Wolfgang Harms [Hgg.], Mediävistische Komparatistik. FS Franz Josef Worstbrock, Stuttgart und Leipzig 1997, S. 199–220, hier S. 200) erzeuge und der statt einer linearen Progression eine zyklische Struktur suggeriert. Trotz der Jahresangabe im Vorfeld des Kriegsausbruchs, bleibt die jeweilige zeitliche Distanz zum Untergang im Erzählprozess verborgen.
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tierung; sie erzeugen bei den Lesenden einen Erwartungshorizont, konterkarieren diesen tatsächlich aber immer wieder: Hectors Tod, so verheißen die Vorausdeutungen verschiedener Erzählinstanzen, werde das Ende der ganzen Stadt bedingen. In den Träumen von Andromache und Priamus (V. 9587–9657), im Vorfeld von Hectors letzter Schlacht, wird seine Rolle für das Schicksal Trojas auf den Punkt gebracht. Priamus warnt den Rat der Trojaner: ›Mir anet harte groz leit […] / Ich forchte, daz der erfalle, / der vns behutet alle‹ (V. 992–9603), und auch in einem Erzählerkommentar erscheint der bevorstehende Untergang Trojas aufgrund von Hectors Tod besiegelt: Jeder Stein der Stadt mochte[] wol geklage[t] han / durch hectoris vnheil: / Nv bleip ir ensament dehein teil (V. 10464–10476). Die durch diese Vorausdeutungen bei den Lesenden erzeugten konkreten Erwartungen bleiben nun aber vorerst gerade enttäuscht: Hectors Tod führt durchaus nicht unmittelbar zum Fall Trojas, er erfolgt keineswegs am Ende, sondern präzise in der Mitte der ausladenden Kriegsschilderungen (V. 10404–10408) – und des umfangreichen Romans. Bis zum Untergang der Stadt finden noch zwölf weitere Schlachten zwischen den Kriegsparteien statt. Die Prophezeiungen verursachen insofern bei den Rezipienten eine Desorientierung über die tatsächliche Chronologie der Niederlage; indem Erwartung und Ereignis aufgespreizt werden, generiert Herbort einen Zwischenraum der Kontingenzerfahrung im Medium der Narration. Zu den verschiedenen Mitteln, mit denen Herbort solche Formen der ›desorientierenden Orientierung‹ durchspielt, gehört auch eine Erzählstrategie, die ohne Vorbild ist in seiner französischen Vorlage, Benoîts Roman de Troye: Das Liet von Troye ›strukturiert‹ die Schlachtschilderungen, indem das durch den Krieg erzeugte Leid als abstrakte, numerische Größe gezählt wird. Mit dieser Erzähltechnik insinuiert es eine deterministische Struktur der Kriegsereignisse, die sich bis zu Hectors Tod kalkulierbar zu steigern scheint. Die Aufrechnung des Leids beginnt mit der Verdoppelung: Grozze not was da vor, hie wart daz leit zwifalt. (V. 5179 f.)
In steter Steigerung rechnet der Erzähler das Ausmaß der not in der Schlacht auf (Zwifalt was ir not e / nv wart si drifalt erhaben, V. 5189 f.), bis die Zahl Zehn erreicht ist (Als ich ez bis her han gezalt, / itzvnt was ez zehenfalt, / daz nvnvalt hiez, V. 5866–68). Ein Ende der Zahlenkette scheint erreicht, wenn statt einer weiteren Bezifferung nun ein Abstraktum des Unzählbaren eingesetzt wird: So vil leides da was, vnd so ich vz der mazze vil,
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ob ich rechte zelen wil, so leitet mich leit vber leit an die manicfaltickeit. (V. 5872–5876)
Doch ist die Zählung damit nicht abgeschlossen, wie man zunächst vermuten muss, denn tausend Verse später wird sie wieder aufgenommen und weitergeführt. Das Leid potenziert sich abermals, gerät vber manicfalt (V. 6698), und die Zählung setzt neu ein: In den selben stunden lac ir da zv drungen so vil vnd zvswalt, daz in wart zwifalt vber die manicfaltickeit beide ir angest vnd ir leit. (V. 6891–6896)
Auf dieses »eigentümliche[] Ordnungsprincip«12 hat die Forschung mehrfach hingewiesen und seine Funktion darin gesehen, »Ordnung in das wilde Durcheinander«13 der Schlacht zu bringen und »das Anwachsen des Elends stufenweise zu vergegenwärtigen«.14 Eine solche ›ordnungsstiftende‹ Funktion der Zahlenkette scheint allerdings hinterfragbar, da die Abstände zwischen den verschiedenen Nennungen von Zahlen ganz unterschiedlich lang sind und auch inhaltlich je verschiedene Anlässe sich mit deren Inserierung verbinden. Signifikant ist Herborts Zählkette meines Erachtens vielmehr für die Frage nach der teleologischen Dynamik der Erzählstruktur: Denn das 12 Vgl. Diebel, Claus Heinrich, Ein eigentümliches Ordnungsprincip bei Herbort von Fritslar, in: PBB 45 (1921), S. 467–472, der als erster auf die Zahlenreihe im Liet von Troye aufmerksam gemacht hat. Weitere ›Zählungen‹ im Text: 5394 f.; 5482 f.; 5524 f.; 5678 f.; 5750 f.; 5867–77; 6695–98; 6894 f.; 7001–03; 7428–30; 7602–05; 7902–04; 8741–43; 9534–37; 9947–49; dazu schon Schäfer-Maulbetsch, Rose Beate, Studien zur Entwicklung des mittelhochdeutschen Epos. Die Kampfschilderung in Kaiserchronik, Rolandslied, Alexanderlied, Eneide, Liet von Troye und Willehalm, 2 Bde., Göppingen 1972 (GAG 22/23), S. 211. 13 Diebel, Ordnungsprincip (Anm. 12), S. 471; Hahn, Reinhard, Zur Kriegsdarstellung in Herborts von Fritzlar Liet von Troye, in: Kurt Gärtner, Ingrid Kasten und Frank Shaw (Hgg.), Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters. Bristoler Colloquium 1993, Tübingen 1996, S. 102–112, hier S. 106 erklärt die Zählung als der Intention geschuldet, »der Stofffülle und Monotonie Herr zu werden«; vgl. auch Schäfer-Maulbetsch, Studien (Anm. 12), S. 94 und Fromm, Herbort von Fritslar (Anm. 5), S. 259. 14 Schäfer-Maulbetsch, Studien (Anm. 12), S. 94. In der Verwendung des ›schulmäßigen‹ Usus habe Herbort die rhetorisch-gelehrte Technik der Ennumeratio in »ironisch-manieristischer Weise überboten«. Fromm, Herbort von Fritslar (Anm. 5), S. 258, vgl. auch Worstbrock, Franz Josef, Zur Tradition des Troiastoffes und seiner Gestaltung bei Herbort von Fritzlar, in: ZfdA 92 (1963), S. 248–274, hier S. 258.
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Zählen des Leides dient stets auch dazu, weiteres Leid prospektiv anzukündigen. Gemäß des arithmetischen Prinzips gerät die Steigerung der not zu einer narrativen Struktur, die mit jeder erreichten Stufe eine Rezipientenerwartung sowohl erfüllt als auch neu erzeugt. Doch bricht Herbort die eigens konstruierte Kalkulierbarkeit schließlich auf: Wenn die Zählung nach Erreichen des nunvalt[igen] Leides (V. 3869) neu einsetzt (V. 5875 f.) und von nun an die sich steigernde manicfaltickeit (V. 7002) gezählt wird, so ist in der variierten Wiederholung der Zehnerreihe die Zähl- und damit auch die Erzähllogik auf das tatsächliche Ende der Zählkette hin nicht mehr durchsichtig. Dem Zählen eignet zwar eine Dynamik der Steigerung, die auf der Erzählebene eine Teleologie des Leides erzeugt; doch indem sie vervielfacht wird, erscheint die »Leidensklimax«15, erscheint das ›Ordnungsprinzip‹ selbst als kontingent. Die Vollendung der wiederholten Zehnerreihe kulminiert schließlich in einem Unsagbarkeitstopos: Die not, die wart so manicfalt, daz ichz gesagen niht enkvnde, vnd hette ich zehen mvnde. (V. 10444–46)
Erst rückblickend wird erkennbar, dass die Zählung des Leides unmittelbar nach Hectors Tod ihr Telos erreicht hat.16 Schäfer-Maulbetsch interpretiert das Abbrechen der Zählung daher als Reflexion auf die Determinierheit des Liet von Troye: »schließlich kommt ihm [dem Stilmittel des Zählens] an der letzten Stelle, an der es in Erscheinung tritt, bei Hectors Tod, vorausdeutende Funktion zu, da damit auch vom Stilistischen her deutlich wird, daß mit dem Tod dieses Helden das Schicksal Trojas besiegelt« sei.17 Doch: Die Kämpfe vor der Stadt dauern nach Hectors Tod noch lange an. Die ins Leere laufenden Erwartungen, die durch die Vorausdeutungen geweckt werden, erzeugen in 15 Fromm, Herbort von Fritslar (Anm. 5), S. 257. 16 Zur teleologischen Funktion der Zahlenreihe auch Knapp, Gerhard P., Hector und Achill. Die Rezeption des Trojastoffes im deutschen Mittelalter. Personenbild und struktureller Wandel, Bern und Frankfurt am Main 1974 (Utah Studies in Literature and Linguistics 1), S. 49; ebd., Anm. 80, mit Bezug auf Diebel, Ordnungsprincip (Anm. 12): »Mit Hectors Tod ist für Herbort Trojas Untergang besiegelt«. 17 Schäfer-Maulbetsch, Studien (Anm. 12), S. 94 f. Anders Lengenfelder, Helga, Das Liet von Troyge Herborts von Fritzlar. Untersuchungen zur epischen Struktur und geschichtsmoralischen Perspektive, Bern und Frankfurt am Main 1975 (EHS I,133), S. 94: »Die bis zum Tod Hectors wiederkehrende Zahlenformel hat die Funktion eines Leitmotivs, um die geschichtliche Bewegung als Fortschreiten auf dem Weg zur Verdammnis zu markieren. Das Leid entspringt der moralischen Schuld, und seine Steigerung ist Ausdruck wachsender Schuld […]. Die Bewegung der geschichtlichen Zeit […] wird nach der religiös bestimmten Auffassung seiner Zeit rational durchschaubar, weil Gott es nach Maß und Zahl gliedert.«
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der Erzählung eine teleologische Dynamik, die sich als eine des mehrfachen Aufschubs und damit als eine Dynamik der Kontingenz erweist.
3. Konjunktivisches Erzählen Über die Geradlinigkeit der Erzählrichtung, die mittels der Zahlenketten ebenso wie durch die Vorausdeutungen des Erzählers oder von Figuren entworfen wird, legt sich in den Kampfschilderungen eine gegenläufige Erzählbewegung, die punktuell diese Dynamik konterkariert: Die Möglichkeit von Hectors vorzeitigem Tod bzw. eines ganz anderen Kriegsverlaufs. Sie artikuliert sich auf der Textoberfläche in einer für Herbort charakteristischen narrativen Technik, dem ›konjunktivischen Erzählen‹, die von der Forschung bislang kaum beachtet wurde. Herbort deutet einen tödlichen Kampfausgang mehrmals als Möglichkeit an, um diese aber stets und sogleich wieder durchzustreichen: Da were Hector der degen / gewisliche tot gelegen, / wenne daz da bi im was / Troylus vnd Eneas (V. 6743–6746). Diese und ähnliche Textstellen, die im Liet von Troye in auffälliger Häufigkeit vorliegen, scheinen weniger auf der Handlungsebene aussagekräftig zu sein – etwa in ihrem Informationswert, dass Hector von seinen Verbündeten oder Verwandten Hilfe zuteil wurde. Bedeutsam sind sie vielmehr in ihrer spezifischen narrativen Verfasstheit: Sie schreiben in die Kampfschilderungen die Möglichkeit des vorzeitigen Todes Hectors ein, indem dieser konjunktivisch anerzählt und schließlich wieder abgewiesen wird. Bereits in der ersten Begegnung zwischen Hector und Achill spielt ein Erzählerkommentar die Möglichkeiten des Kampfausgangs durch: Vnder disen herren zwein were da tot blieben ein oder lichte beide, wen daz leit mit leide alda gescheiden wart. (V. 6351–6355)
Die Kämpfenden erhalten hierauf von beiden Seiten Unterstützung, worauf die Schilderung des Zweikampfes unmittelbar in die einer Massenschlacht übergeht.18 In einem nächsten Gefecht mit Achill wird Hector vom Pferd ge18 Lengenfelder, Das Liet von Troyge (Anm. 17), S. 26 macht an diesem Erzählkommentar die Vorherbestimmtheit des Todes der Protagonisten fest: »Es geht jetzt nicht darum, die inhaltliche Bedeutung der Formel ›leit mit leide scheiden‹ zu erklären, die Formel hat vermutlich in der Geschichtsexegese ihren Ort, sondern nur um die Feststellung, daß der Erzähler den Zeitpunkt des Todes seiner historischen Helden für bestimmt hält, und zwar auf eine ganz unper-
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worfen, sein Tod scheint gewiß: Da were Hector der degen / gewisliche tot gelegen, / wenne daz da bi im was / Troylus vnd Eneas (V. 6743–6746). Von Neuem trifft Achill sodann auf Hector und gewinnt die vberhant (V. 7017), und abermals wird Hectors Sterben anerzählt und abgewiesen: Wenne die kebes bruder sin, / er hette nimmer svnnen schin / gesehen me noch den tac (V. 7021–7023). Als Hector im weiteren Verlauf vor Cedius auf den Boden zu liegen kommt, vermag er sein Leben gerade noch selbst zu retten: Wen daz Ector was vil snel / vnd zv fuz spranc wider, / er were da tot gelegen nider (V. 7586–7588). Dieses Textphänomen wiederholt sich, wie gesagt, in signifikantem Maß. Von kaum einem der zahlreichen Kämpfer und Helden des Trojanischen Krieges wird nicht veranschaulicht, dass er beinahe getötet worden wäre, und es dann doch noch anders kam. Von Troilus,19 Paris,20 dem Griechen Miceres,21 Arpoin,22 Menelaus,23 Diomedes,24 Achill,25 Sarpedon,26 Agamemnon,27 dem Trojaner Philomenis,28 Pirrus,29 Polidamas30 wird erzählt, dass sie beinahe sönliche Weise und unabhängig von ihrem eigenen Handeln. […] Der reflektierende Erzähler führt aber nicht aus, welche Macht über Leben und Tod verfügt.« Die Formel leit mit leide scheiden bedeutet jedoch in ihrer narrativen Einbindung an dieser Textstelle, dass das Leid des Zweikampfes beendet wird, indem das Leid der Massenschlacht den Zweikampf zerstreut. Lengenfelder identifiziert Gott als Lenker dieser Szene, »wie der konkrete Hinweis in der Form des Erzählerkommentars auf die schicksalbestimmende Macht über den Menschen« zeige (ebd., S. 27). 19 Um die Signifikanz dieser Erzählstragie Herborts und die Vielfältigkeit ihrer Realisationen zu veranschaulichen, werden die Stellen in den folgenden Anmerkungen zitiert. Zu Troilus vgl.: Troylus des genoz, / daz er [Diomede] daz ros erstach: / Svlich gelucke im geschach (V. 376–378). 20 Z. B.: Achilles hette grozzen pris / al da begangen, / er hette [Hector, Troylus und Paris] gefangen, / alle daz ir da was, / wen daz ir glich des genas, / daz iene dort inne / sich werten von der zinne (V. 4592–4598); Da sluc [Menelaus] Parisen, / wen sin gut ysen, / er were tot da gelegen (6905–6907); Wen daz Eneas / da bi Parise was, / so were daz sin leste tag (V. 7129–7131). 21 [Menesteus] stach in vf des schildes rant / so vzzermazzen sere, / daz er gefallen were / vnd komen zv gezoge, / wenne der hinder satelboge […] (V. 5163–5167); vgl. dagegen Roman de Troie V. 8667–8670. 22 Von Polibete geschach Arpoin vngerete, / daz er na tot was, / wen daz er mit der flucht genas (V. 6919–6921). 23 Z. B.: Menelaus was entan, / im were missegangen, / er slaugen oder gefangen, / wen daz in loste vnder des / der herzoge Diomedes (V. 8936–8940). 24 Z. B.: Diomedes genoz, / Hern Tydeus son, / vnd daz Agomemnon / ime wol bi stunt, / doch wart er sere wunt (9048–52); Hette in Menelaus niht gerat, / er were gar vnder gelegen (V. 9936 f.). 25 Z. B.: Achilles hette vbel zit, / wen daz man sin hutte andersit, / er were da gar entan (V. 9083–9085) 26 In einem Zusatz erzählt Herbort: Sarpedon was in noten; / sin gedinge were kranc da, / wen der von Persia […] (V. 11018–11020); vgl. Roman de Troie V. 17237 f. 27 Z. B.: Philemenis hette erslagen / Agomemnon, den helt gut (V. 12924 f.). 28 Z. B.: Philemenis wart berat, / er hette lange not gehat (V. 14771 f.). 29 Z. B.: Er mvste mat sin bliben, / vnd hette die nacht ouch niht vertriben / die kvneginne dannen (V. 14575–14577). 30 Z. B.: Da were der herre tot bliben, / wen daz dar zv quam getriben / der wise Philemenis (V. 14719–14721).
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gestorben wären, und wie sie dennoch mit dem Leben davonkamen. Mit dieser Erzähltechnik, die sich des Konjunktivs als grammatischer Erscheinungsform der Kontingenz bedient, wird der Eindruck vermittelt, das Schlachtgeschehen setze sich aus einer Vielzahl von Zufällen zusammen. Selbst den endgültigen Kriegsausgang hält der Roman zuweilen im vermeintlich Ungewissen. Die Griechen erleiden solch große Verluste, dass ihre Niederlage als reale Möglichkeit erscheint: Die crichen weren endan / bliben in den sweren, / ob comen niet enweren / von Salemine Thelamon […] (V. 11578–81).31 Zunächst wird ein Ende des leidvollen Krieges zugunsten der Griechen in Aussicht gestellt ([Priamus] hette ouch sin riche / verlorn an deme tage, / wen daz er mit stiche vnd mit slage / daz menlichen werte, V. 11042–45), dann aber einer zugunsten der Trojaner: Wen daz die von dem lande / vor der nacht en mochten, / sie hetten da geuochten, / daz in nimmer mere / dehein leit enwere / von den crichen geschen (V. 12378–83). Und am nächsten Kampftag heißt es wieder: Vngelucke vnd vnheil / vnd groz vngerete / der crichen her hete. / Sie lagen tot vnd gewvnt. / Wen daz der abunt entstunt, / sie hetten verlorn ir macht (V. 12508–13).32 Anlass für die Schwächung der Griechen ist an diesen Stellen das Fernbleiben Achills von der Schlacht, so dass Troilus die Griechen beinahe in die Flucht zu schlagen vermag.33 Aber auch dessen Tod wird anerzählt und schließlich abgewiesen: von rossen vnd von pherden / were Troylus ertrat, / wen daz er in ziten wart gerat / von den bastharden (V. 12700–03). Angesichts der Erzählökonomie des Liet von Troye, dessen Charakteristik ansonsten gerade das Ideal der brevitas ist,34 sind diese grammatischen und narrativen Umwege umso bemerkenswerter. Sie machen augenfällig, dass Kontingenz durch einen Erzähler perspektivisch erzeugt wird, der sie in die sprachliche Verfasstheit seines Textes einlässt.35 Literarisch, im Medium der Narration, wird so Kontingenz gerade dort erfahrbar, wo sie geschichtlich nicht gegeben ist. 31 Vgl. V. 11806–11810; 11844–11850; 11935–11937. 32 Vgl. Wen daz der abunt entstunt, / sie hetten verlorn ir macht (V. 12512 f.; vgl. auch 12754– 12556; 12890–12892; 12973–12975). 33 Wen der von Salemine / Ayax, Thelamones son, / Troylus von Ylion / hette in den stunden / die crichen vber wunden (V. 12736–12740); Von Troylis handen / lac ir also vil darnider, / hette in die nacht niet wider / mit den sinen in die stat getriben, / sie weren alle tot bliben (V. 12888–12892). 34 Zu den verschiedenen Techniken und Funktionen der brevitas im Liet von Troye siehe Schmid, Ein trojanischer Krieg gegen die Langeweile (Anm. 11). 35 In dieser Hinsicht unterscheiden sich die ›abgewiesenen Erzählalternativen‹ im Liet von Troye von jenen in der Heldenepik, wo sie, in einem intertextuellen Spannungsfeld stehend, auf konkurrierende Geschichtsentwürfe verweisen; siehe dazu Schulz, Armin, Fragile Harmonie. Dietrichs Flucht und die Poetik der ›abgewiesenen Alternative‹, in: ZfdPh 121 (2002), S. 390–407, hier S. 392.
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4. Reflexive Metaphern Herborts elaborierte literarische Reflexion auf Kontingenz zeigt sich auch in seiner Verwendung von Metaphern. Zwei Beispiele sollen im Folgenden kurz illustrieren, wie unterschiedlich dabei die Verbildlichungen jeweils eingesetzt werden. In Anspielung auf das Bild vom Rad der Fortuna hat Herbort die Metapher der schibe gestaltet. Sie illustriert die Unbeständigkeit des Kriegsglücks, das zwischen Tod und Leben entscheide, kurz bevor Troilus, der nach Hectors Tod wichtigste Kämpfer auf trojanischer Seite, von Achill getötet wird: Die hetten sich gelazzen zv tode vnd zv libe, dar nach, daz die schibe des gluckes leuffet vnd get vnd vber vert vnd entstet nach glucke vnd nach heile. Do vurte sinen lip veile Troylus allen den tac. (V. 13164–13170)
Der ikonologischen Konvention der rota fortuna-Metaphorik verpflichtet,36 deutet Herbort an dieser Stelle ironisch an, dass die Kämpfenden nur die Aufwärtsbewegung des Glücksrades fokussieren ([…] vber vert vnd entstet / nach glucke vnd nach heile, V. 1368 f.). Achill, der dann auf Troilus trifft, wundert[] (V. 13174) sich folglich über das Verhalten des Trojaners, ane hute zu reiten (V. 13176) und wertet es als militärische vnwisheit (V. 13178). Doch auch Achills Einschätzung erweist sich als voreilig, denn er findet in Troilus einen zunächst gleichrangigen Gegner.37 Als Troilus schließlich einen tödlichen Schlag erhält, erscheint sein Fall wie eine konkretisierte Vollendung der metaphorischen (und absehbaren) Kreisbewegung des Glücksrads: Er vil tot vf daz gras (V. 13204). Auch an weiteren Stellen zeigt sich Herborts kreativer und spielerischer Umgang mit traditionellen Metaphern; etwa in einem ausführlichen Exkurs, der die Schilderung eines Massenkampfes während der zehnten Schlacht unterbricht. Zunächst wird die Willkürlichkeit des Krieges thematisiert: 36 Zur Ikonographie des Glücksrades siehe Schilling, Michael, Rota fortunae. Beziehungen zwischen Bild und Text in mittelalterlichen Handschriften, in: Wolfgang Harms und Peter L. Johnson (Hgg.), Deutsche Literatur des Mittelalters. Hamburger Colloquium 1973, Berlin 1975 (Publications of the Institute of Germanic Studies. University of London 22), S. 293–313. 37 Ein harte vbel stunde / in beiden samt entstunt, / sie wurden sere gewunt (V. 13190–13192).
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Beide tot vnd leben vuren an einer strazze, mit grozzer vmmazze also gar gliche, als ir iegeliche dem andern glich ist. Der hie des libes hette frist, der lac andersit tot; der hie was in sulcher not, daz er na tot was, harte kvme er genas. Susgetan gewerbe Ist aller der erbe, die gerne in strite sint. (V. 10976–10989)
Im Handlungskontext besitzt der Erzählerexkurs einen prominenten Ort: Inmitten der ersten Schlacht nach Hectors Tod charakterisiert er das Kampfgeschehen als ganz dem Zufall anheimgegeben. Die Wechselhaftigkeit des Kriegsglücks erscheint in der Abstraktheit der Sentenzen als ungerichtete Bewegung hin auf ein gleichgültiges Ziel. Die Überpersönlichkeit der Formulierungen (der hie; der lac; aller der) lässt keine handlungsspezifische Konkretisierung erkennen; der Exkurs thematisiert die Willkürlichkeit des Krieges, die als gleichsam überzeitliches Wesensmerkmal erscheint (aller der erbe). Der Erzählerexkurs fährt fort: Ir sehet wol, wi der starke wint die federn vmbe tribet, so sie nirgen blibet, weder verre noch na, itzunt hie vnd itzunt da, in allen steten meren: Also geschach den Troyren. Do sie wonden tot wesen, des tages waren sie genesen vnd begingen grozzen pris, Troylus vnd Paris vnd ander ir gesinde, des gliche ich sie dem winde. Zv glucke vnd ouch zv heile ist der ritter veile, zv verlust vnd zv gwine. (V. 10990–11005)
Die Metaphernführung flicht den metanarrativen Exkurs wieder in die Handlungsebene ein: Entwickelt wird in ihr zunächst das Ausgeliefertsein der
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Trojaner an die Griechen, indem der Erzähler die Trojaner mit Federn vergleicht, die vom Wind umhergeworfen werden (Also geschach den Troyren). Als ihre Niederlage gewiss scheint (Do si wonden tot wesen), wendet sich das Kriegsglück, und innerhalb der Metapher wechselt die Bezugsordnung: Jetzt werden die Trojaner mit dem Wind verglichen, da sie im Kampf ihre Überlegenheit gegenüber den Griechen zu behaupten vermögen (des gliche ich sie [die Trojaner] dem winde). Die Wendung des Kriegsglücks wird durch die Vertauschung der Referenzen innerhalb der zweistelligen Metapher charakterisiert. Während der 19. Schlacht greift Herbort das Bild des Windes abermals auf, als ein teil der Griechen (V. 14473) vor der Übermacht der Trojaner flieht: […] Ayax vnd Thelamon quamen so zv gerurt, als sie dar ge[vu]rt der starke wint hette. Irre gesellen vngerette wandelt sich schiere. Sie triben die Troyre rechte vf die graft. Wen die inre craft, geschutze vnd steine, ir were genesen kleine. (V. 14478–14488)
Herbort gestaltet eine komplexe Metaphernführung und überraschende Umbesetzungen der jeweiligen Bezüge: Das passive ›Vom-Wind-getrieben-sein‹ steht nun für die aktive Überlegenheit der Griechen und die Metapher des Windes für die Wechselhaftigkeit (wandel) des Kriegsglücks. Kaum ein Trojaner hätte diesen Ansturm überlebt (abermals formuliert im Modus des Konjunktivs: ir were genesen kleine) – doch dann kommt es wieder anders. Die sprichwörtliche Wechselhaftigkeit des Kriegsglücks wird durch die metaphorische Rede unmittelbar umgesetzt: Der allgemeingültige und überzeitliche, sich in den Sentenzen ausdrückende Anspruch (Zv glucke vnd ouch zv heile / ist der ritter veile, / zv verlust vnd zv gwine) wird wechselweise mit verschiedenen Konkretisierungen gefüllt. Die alternierende Besetzung der Tropen verweist einmal mehr auf die Praxis, in der sich Kontingenz medialisiert: in der Prozessualität der literarischen Erzählung.
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5. Kontingenz als Modus von Literarizität Den abschließenden Überlegungen liegt die These zugrunde, dass die impliziten Reflexionen auf Kontingenz, ihre Inszenierungen und Thematisierungen auf Handlungsebene, auch für das Erzählprogramm des Liet von Troye als Ganzes signifikant sind: Indem Kontingenz nämlich auch als ein Moment thematisiert wird, das den Akt der narrativen Vermittlung selbst betrifft, reflektiert Herbort die Kontingenz seines Textes als einen Modus von Literarizität. Abermals gestaltet Herbort auf verschiedenen Ebenen komplexe Semantiken und Konstellationen. Nach der ersten Zerstörung Trojas fasst der Erzähler seine Aufgabe, im Folgenden noch vom zweiten Trojanischen Krieg zu erzählen, in das so ungewöhnliche wie monumentale Bild einer Bergbesteigung. Das Riskante des literarischen Unterfangens wird mit dem Begriff des ›Glücks‹ verknüpft, der für das Gelingen des Autorenhandwerks ins Spiel gebracht wird: so muz ich gut gelucke han, / sol ich den berg vbergan, / daz ich niht ensige, / swenne ich in vberstige (V. 1653 f.). Der Erzähler überantwortet die Gelingensbedingung seines Textes der Instanz des Glückes und schränkt so die Rolle der eigenen Meisterschaft durchaus ein. Diese ›Bescheidenheitsgeste‹ des Erzählers ist in einen weiteren Kontext der Selbstprofilierung Herborts einzuordnen und in Zusammenhang mit jenen Autorinszenierungen zu sehen, mit denen er den Geltungsanspruch seiner eigenen Erzählung und die Autorität seiner Autorschaft mehrmals relativiert.38 Besonders aufschlussreich sind in dieser Hinsicht Prolog und Epilog des Liet von Troye.39 Am Beginn seines Werkes spielt Herbort auf zeitgleiche
38 Dass Herbort die Spezifik der ›Gefahr‹ nicht ausgestaltet bzw. sie werkimmanent bleibt, kennzeichnet die Differenz zu den Verfahren geistlicher Texte, den Erzählakt als ein Risiko zu benennen: Auf dem Spiel steht dort die gültige Heilsdidaxe, vgl. zum Priesterleben Kiening, Christian, Freiräume literarischer Theoriebildung. Dimensionen und Grenzen programmatischer Aussagen in der deutschen Literatur des 12. Jahrhunderts, in: DVjs 66 (1992), S. 405–449, hier S. 425 f. (überarbeitete Version dieses Aufsatzes: Ansätze literarischer Theoriebildung, in: Kiening, Christian, Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur, Frankfurt am Main 2003 [Fischer Tb. 15951], S. 113–129, hier S. 121 f.). – Zum Begriff ›Glück‹ siehe Sanders, Willy, Zur Herkunft und Bedeutungsentwicklung eines mittelalterlichen Schicksalsbegriffs, Böhlau 1965 (Niederdeutsche Studien 13). 39 Zum Prolog in jüngerer Zeit Kiening, Freiräume literarischer Theoriebildung (Anm. 38), S. 443–445; Lieb, Ludger, Die Potenz des Stoffes. Eine kleine Metaphysik des ›Wiedererzählens‹, in: ZfdPh 124 (2005), Sonderheft: Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur, hg. v. Joachim Bumke und Ursula Peters, S. 356–379; Kellner, Beate, daz alte buoch von Troye… daz ich ez welle erniuwen. Poetologie im Spannungsfeld von ›wiederholen‹ und ›erneuern‹ in den Trojaromanen Herborts von Fritzlar und Konrads von Würzburg, in: Gert Dicke, Manfred Eikelmann und Burkhard Hasebrink (Hgg.), Im Wortfeld des Textes.
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deutschsprachige Troja-Erzählungen an. Dadurch tritt das Liet von Troye (gleichgültig ob fiktiv oder real) in eine inszenierte Konkurrenz mit anderen Versionen: Nv hant ez ander lute / gemachet me ze dute. / Den ist ez vil wol gelungen (V. 71–73).40 Allerdings stellt Herbort an keiner Stelle heraus, was oder wie die zeitgenössischen Konkurrenten den Troja-Stoff präsentierten und in welcher Hinsicht sie sein Lob verdienten; indem er die namenlosen ›anderen‹ Versionen generell bloß nennt, ohne dabei etwas über alternative Erzählmöglichkeiten zu sagen,41 scheint es ihm nur um die schiere Relativierung seines Werks zu gehen als eines unter anderen. Herborts Rolle als Erzähler wird dabei unter Verwendung verschiedener Metaphern in einem Spannungsfeld von notwendiger und nicht-notwendiger Vermittlung gestaltet. Im Bild eines Gefährtes verweist er auf seine ambivalente Position innerhalb der TrojaÜberlieferungen: Sint ez aber von drin zungen mit eime sinne ist her gescriben, des bin ich dar zv beschiben, daz ich si daz fierde rat. Daz ist rechte svs bestat, sint ich von den drin quam, daz man mich zv dem fierden nam. (V. 74–77)
Die notwendige, »erforderliche Vierrädrigkeit des literarischen Wagens ›Trojabuch‹«42 weist dem deutschen Bearbeiter zunächst einen entscheidenden und auch vorbestimmten Platz zu, indem erst seine Arbeit das ›Gefährt‹ vervollständige. Diese Lesart wird auch dadurch gestützt, dass der Erzähler metaphorisch durch den Sprachwitz in Dienst genommen, beschiben, also zum Rad bestimmt und zum Rad (schibe) gemacht, das den einen gültigen sin (vgl. V. 63; 66) befördert. Hans Fromm verweist für das Wort beschiben auf die ihm inhärente Anspielung auf das Rad der Fortuna: »beschiben, d. h. durch Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, Berlin, New York 2006 (Trends in Medieval Philology 10), S. 231–262. 40 Zu dieser Stelle siehe Lieb, Die Potenz des Stoffes (Anm. 39), S. 378. Das Erzählen im Horizont von alternativen Möglichkeiten als einen Modus der ›Okkasionalisierung‹ von pragmatischen Ansprüchen diskutiert für den Tristan Chinca, Marc, Mögliche Welten. Alternatives Erzählen und Fiktionalität im Tristanroman Gottfrieds von Straßburg, in: Poetica 35 (2003), S. 307–333. 41 Ein Blick auf Gottfrieds Umgang mit möglichen Erzählalternativen, seinem »kontrastive[n] Umgang mit alternativen Tristanfassungen«, offenbart den Unterschied zu Herborts Konzept, siehe Chinca, Mögliche Welten (Anm. 40), S. 313. 42 Knape, Joachim, War Herbort von Fritzlar der Verfasser des Vers-Pilatus?, in: ZfdA 115 (1986), S. 181–206, hier S. 200; siehe zur biblischen Konnotation der Metapher Lieb, Die Potenz des Stoffes (Anm. 39), S. 376.
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das Rad, die schibe der Fortuna, [ist ihm] zugeteilt worden, das vierte Rad am Wagen zu sein«.43 Auch diese ›prädestinierte‹ Position wird allerdings wiederum relativiert: Hat ez ein ander follen bracht, als ich zv dem fierden wart gedacht, so zele man mich zv dem funften rade vnd frume ich niht, ich bin niht schade. (V. 81–84)
Ein mehrfacher Kontrast zu den vorangehenden Versen ist damit geschaffen: Nicht mehr von einem schicksalhaften beschiben ist nun die Rede, sondern ein konjunktivisches so zele man mich tritt an dessen Stelle. Die Bearbeitung Herborts, indem sie sich als eine für die translatio nicht notwendige Gestaltung entwirft, gewinnt nun erst eine Eigenständigkeit der erzählerischen Vermittlung, die in dem Bild des vierten Rades suspendiert war. Seine Erzählung entwirft sich im Bild des fünften Rades nochmals explizit als eine neben anderen desselben Stoffes. Herborts Adaptation ersetzt folglich weder die Vorlage noch mögliche andere parallele Adaptationen, sondern sie vermehrt das Tradierte. Translatio ist hier nicht Ablösung, sondern Vervielfältigung, nicht ein Ersetzen der Vorgängertexte, sondern eine Gleichzeitigkeit von Werken desselben Stoffes.44 Indem der Erzähler an dieser Stelle versichert, dass, selbst wenn seine Version nicht von Nutzen sein würde, sie neben den anderen Versionen auch zu keinem Schaden gereichen werde (vnd frume ich niht, ich bin niht schade, V. 84), hebt er auf eine Gleichrangigkeit jenseits eines literarischen Konkurrenzkampfes ab.45 Im Epilog knüpft Herbort an dieses Konzept an und greift dabei auf Begriffe des Prologs zurück. Der eigentümliche Bescheidenheitsgestus am Ende seines Werkes stellt den parallelen Status seines Textes zu anderen Texten abermals in den Vordergrund: Ir hat diz getichte wol gehort. Ez tichte von Fritslar Herbort, ein gelarter schulere. Ez en ist nicht achbere, 43 Fromm, Herbort von Fritslar (Anm. 5), S. 251. 44 Damit konkretisiert Herbort das translatio-Konzept auf eigentümliche Weise, welches ansonsten im Spannungsfeld von Tradition und einer aemulatio antiquitatis steht; Worstbrock, Franz Josef, Translatio artium. Über die Herkunft und Entwicklung einer kulturtheoretischen Theorie, in: AfK 47 (1965), S. 1–22, hier S. 11; 18. 45 Zum Topos der ›Diffamierung von Konkurrenten‹ in Chretiens Erec et Enide Haug, Walter, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, Darmstadt 1985 (Germanistische Einführungen), S. 103.
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daz er icht dichten kann, doch so nimet er sis an mit andern tichteren; der schar will er meren, er gert anders lobes niet. Alsus endet sich diz liet. (V. 18449–18458)
In den letzten Sätzen des Romans wird so die Pluralität literarischer Texte aufgerufen, innerhalb derer sich das Liet von Troye nur als ein Teil einer unbestimmt großen Summe an weiteren Texten versteht. In die anonym bleibende schar von Dichtern, die Herbort mehre, schreibt er sich mit seiner Namenssignatur ein. Herborts Konzeption seiner Erzählung als eines Entwurfs neben anderen steht in deutlichem Widerspruch zu pragmatischen Funktionen historiographischer Literatur: Relativiert wird in ihr die Rolle der geschichtlichen Wissensvermittlung46 ebenso wie der Anspruch auf Exemplarität von Geschichte.47 Der literarische ›Mehrwehrt‹, den das Liet von Troye allerdings 46 Die Würzburger Reihe ›Wissensliteratur im Mittelalter‹, die sich in besonderem Maße um die Erforschung der mittelalterlichen Troja-Literatur verdient gemacht hat, verknüpft den Begriff der ›Wissensliteratur‹ auf programmatische Weise mit den Troja-Romanen. Im Hinblick auf die jüngeren Diskussionen um den literaturwissenschaftlichen Wissensbegriff (vgl. Vogl, Joseph, Für eine Poetologie des Wissens, in: Karl Richter, Jörg Schönert, Michael Titzmann [Hgg.], Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930, Stuttgart 1997, S. 107–127), in welcher der Literatur als Wissensvermittlerin ihre Rolle als wissenskonstituierendes und -dekonstruierendes Medium gegenübergestellt wird, erscheint das Konzept der ›Wissensliteratur‹ für die Gattung der Antiken- und Trojaromane ebenso fruchtbar wie zunächst noch präzisierungsbedürftig. 47 Die Differenz zur gelehrten Historiographie wird hierin deutlich: Die lateinische Chronistik reflektiert Kontingenzmomente, indem sie beispielsweise das Eingreifen der Fortuna als letztlich dem Plan Gottes geschuldet inszeniert; der »meist kommentarhafte […] Rückgriff auf die fortuna diente der Erklärung des historischen Geschehens«, insbesondere angesichts historischer Ereignisse, die der Erwartung eines positiven Geschichtsverlaufs zunächst zu widersprechen schienen (zu Semantiken und Funktionen des Motivs der Fortuna in der Historiographie siehe Goetz, Hans-Werner, Fortuna in der hochmittelalterlichen Geschichtsschreibung, in: Jörg O. Fichte [Hg.], Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 1 [1996], S. 75–89, hier S. 85; auch Koselleck sieht anhand einiger exemplarischer Beobachtungen zu Inszenierungen und Funktionen von Kontingenz in der vormodernen Historiographie [S. 159– 161] in der ›vorhistorischen‹ Geschichtsschreibung die Tendenz wirksam, jede Zufälligkeit zu leugnen: Koselleck, Reinhart, Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung, in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 2 1992 [sw 757], S. 158–176, hier S. 175). Eine vergleichbare Form einer ausdeutenden »Geschichtserklärung« (Goetz, Fortuna, S. 89) eignet den Zufalls- und Kontingenzthematisierungen Herborts aber gerade nicht. Erst für die moderne Historiographie sind andere Verfahren der Kontingenzthematisierung kennzeichnend: Die theoretisch weit ausgreifende Studie von Hoffmann, Arnd, Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie. Mit zwei Studien zu Theorie und Praxis der Sozialgeschichte. Frankfurt am Main 2005 (Studien zur europä-
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Cornelia Herberichs
gerade in der postulierten Gleichrangikeit und -gültigkeit seines Textes gegenüber anderen Troja-Erzählungen erhält, liegt, so lautet die hier vorgeschlagene Perspektive, in wesentlichem Maße in der Erzeugung eines Spannungsfelds zwischen historiographischem Wissen und narrativen Spielräumen, zwischen geschichtlicher Determiniertheit und literarischer Kontingenz. Weil Kontingenz nichts in der antiken, durch die Überlieferungen verbürgten Geschichte Vorfindliches ist, ist es Herborts literarische Erzählung, die diese allererst produziert, um Sinn, auch den Sinn des Erzählens, verhandelbar zu machen. Die vielfachen, teilweise ineinander verschränkten Ebenen der Kontingenzreflexionen eröffnen den Blick auf eine historische Konzeption und Form von Literarizität, die für die Gattung des Antikenromans48 von spezifischer Signifikanz ist. Ohne den Wahrheitsanspruch der materia zu tangieren, ohne jedoch auch die Erzählung als fiktionale zu behaupten, etabliert Herbort eine literarische Dimension seiner historiographischen Erzählung: im Spiel der gleichzeitigen Produktion von Vorwissen und Nicht-Wissen, im konjunktivischen Andeuten alternativer Kampf- und Kriegsverläufe, in der Dynamisierung von Fortuna-Metaphern und in der Selbstthematisierung einer kontingenten Erzählung. Indem identische Metaphern (vgl. schibe), Semantiken (vgl. gelucke) und sprachliche Verfahren der Textierung vermeintlicher Alternativen (Konjunktive) sowohl auf Handlungs- als auch auf meta-narrativer Ebene Verwendung finden, erzeugt Herbort Spiegelungseffekte und schlägt im Roman mehrmals die Reflexion von der Kontingenz in der Erzählung zur Kontingenz der Erzählung um. Um die Komplexität von Herborts Kontingenzreflexionen angemessen zu denken und zu beschreiben, ist es daher notwendig, die verschiedenen Weisen, Formen und Ebenen ihres
ischen Rechtsgeschichte. Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main 184) reagiert auf das bereits von Koselleck diagnostizierte Desiderat, die ›Geschichte des Zufalls in der Geschichtsschreibung‹ aufzuarbeiten. Hoffmann aber spart in seiner Studie das Mittelalter ganz aus und geht der Reflexion auf Kontingenz und Zufall als Bedingungen geschichtlicher Erkenntnis anhand der Sozialgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts nach; in seiner Untersuchung macht er Zufall und Kontingenz im Sinne von »Konstruktions- und Textstrategien« (S. 303) als ein Signum ausschließlich neuzeitlich wissenschaftlicher Historiographie geltend, als ihr Mittel, auf der Ebene des Dargestellten ein Spannungsmoment gegen vereinheitlichende Kohärenzforderungen aus der ex-post-Perspektive des Historikers zu setzen. Siehe zu diesem Gestus moderner Geschichtstheorie, welche die Historiographie als Medium einer »Kontingenzerfahrungskultur« (Lübbe) reflektiert, auch Dalferth, Ingo U., Stoellger, Philipp, Einleitung: Religion als Kontingenzkultur und die Kontingenz Gottes, in: Dies. (Hgg.), Vernunft, Kontingenz und Gott. Konstellationen eines offenen Problems (Religion in Philosophy and Theology), S. 1–44, hier S. 20 f. 48 Zur Diskussion des Gattungsbegriffs siehe Lienert, Elisabeth, Deutsche Antikenromane des Mittelalters, Berlin 2001 (Grundlagen der Germanistik 39), S. 9–13; zur Kontingenz in Veldekes Eneasroman siehe den Beitrag von Anette Gerok-Reiter in diesem Band.
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so muz ich gut gelucke han
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Vorkommens aufeinander zu beziehen.49 Mikro- wie auch makrostrukturell erscheint Kontingenz im Liet von Troye dabei als das Resultat eines kreativen, literarischen Schreibaktes. Nicht zuletzt sind es die Kontingenzreflexionen im Liet von Troye, die zu einer angemessenen Beschreibung von Herborts von Fritzlar literaturgeschichtlicher Stellung dienen könnten.50
49 Die Kontingenz-Thematik in Herborts Werk lässt sich anhand von Einzelstellen nicht zureichend erhellen; bisherige Versuche, im Blick auf jeweils einzelne Romanaspekte, haben daher zur Formulierung einander widersprechender Aussagen geführt. So spricht Helga Lengenfelder von einer »Teleologie des Geschehens, die jede Handlung aus Zufall ausschließt« (Lengenfelder, Das Liet von Troyge [Anm. 17], S. 95, vgl. auch ebd. S. 25) während Hans Fromm konstatiert: »Blinder Zufall, so läßt [Herbort] erkennen, ist es, der oft genug das Sterben bestimmt« (Fromm, Herbort von Fritslar [Anm. 5], S. 271). 50 Das wäre sowohl motivisch als auch poetologisch zu verfolgen: vgl. zur literarhistorischen Stellung Herborts Schäfer-Maulbetsch, Studien (Anm. 12), S. 105, die darauf hinweist, dass das Motiv von der »Wechselhaftigkeit des Kriegsglückes […] in den vor dem [Liet von Troye] entstandenen […] Werken ausgesprochen selten [erscheint]«. Im Alexanderroman des Rudolf von Ems hingegen ist eine elaborierte Reflexion auf Fortuna und saelde zu verzeichnen, die auch die Autor-Reflexion einschließt (siehe Schouwink, Wlfried, Fortuna im Alexanderroman Rudolfs von Ems. Studien zum Verhältnis von Fortuna und Virtus bei einem Autor der späten Stauferzeit, Göppingen 1977 [GAG 212], S. 179–213).
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Mireille Schnyder
Räume der Kontingenz
Stellt man die Frage nach Räumen der Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur, so sind es immer wieder die gleichen Orte, die in den Blick fallen: Es sind die Meere, die Wälder, die leeren Felder, die zu Begegnungen führen, deren Zufälligkeit im Text mehr oder weniger ausgestellt wird und die in der Forschung als Reflexionen der Kontingenz gesehen wurden. So ist die Begegnung mit dem Fremden in der âventiure außerhalb des Hofes als kontingentes Ereignis beschrieben worden,1 entsprechend der Wald, in dem sie gesucht wird, als Raum des Zufalls.2 Und die Unsicherheit sowie Grenzenlosigkeit des Meeres, als Ort einer grundlegenden Gefährdung, ist schon fast topisch Raum der Kontingenz.3 Ich bringe hier keine neuen Räume ins Spiel, möchte aber die oben erwähnten beispielhaft etwas genauer betrachten. Raum in der Literatur heißt immer der versprachlichte, in eine Zeitstruktur hineingebrachte Raum, der in der Regel in ein Sinngefüge eingezeichnet, durch Zeichen bestückt und entsprechend semantisch aufgeladen und lesbar ist. Ist Kontingenz das noch nicht in einen sinnkonstituierenden Kontext eingebundene Ereignis, stellt sich die Frage, ob es in der mittelalterlichen Literatur überhaupt in diesem Sinn ›sinnentleerte‹ Räume gibt, die ihre Lesbarkeit negieren? Und versteht man unter Kontingenz die ungegliederte, nicht hierarchisierte Möglichkeitenfülle in einer spezifischen Situation, stellt sich grundsätzlich die Frage, ob in einer Literatur, die von Erzählmustern, von Erzählschemata und -strukturen geprägt ist, überhaupt von einer Möglichkeitenfülle in Bezug auf Handlungsentwicklung die Rede sein kann. Auf dem Hintergrund 1 Haug, Walter, Kontingenz als Spiel und das Spiel mit der Kontingenz. Zufall, literarisch, im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard (Hgg.), Kontingenz, Tübingen 1998 (Poetik und Hermeneutik 17), S. 151–172, hier S. 164 f.; Volker Mertens, Frau Âventiure klopft an die Tür…, in: Gerd Dicke, Burkhard Hasebrink und Manfred Eikelmann (Hgg.), Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, Berlin und New York 2006 (TMP 10), S. 339–346, hier S. 345 sagt: »Ich sehe in der Bedeutungsgeschichte von âventiure vor und um 1200 die Grundbedeutung von Kontingenz.« 2 Vgl. dazu u. a. Cormeau, Christoph, Fortuna und andere Mächte im Artusroman, in: Walter Haug und Burghart Wachinger (Hgg.), Fortuna, Tübingen 1995 (Fortuna Vitrea 13), S. 23–33. 3 Vgl. dazu Makropoulos, Michael, Modernität als Kontingenzkultur. Konturen eines Konzepts, in: Graevenitz/Marquard, Kontingenz (Anm. 1), S. 55–79, hier S. 56.
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dieser grundsätzlichen Fragen sollen hier skizzenhaft ein paar Überlegungen zur Diskussion gestellt werden.
1. Kontingenz und Visualität Als Ort, der keine Ordnung kennt, der keinen vom Horizont gerahmten Schauraum bietet und an dem sich lauter unbekannte Gefahren finden, ist der Wald der Raum für zufällige, unvorhergesehene Begegnungen. Diese finden aber nie im Dickicht des Waldes statt. Denn die Konstituierung eines Raums in der Sprache braucht die Möglichkeit der Beobachtung, braucht die beschreibbare Sichtbarkeit, die Gliederung in der Zeit und in verschiedene Raumstufen sowie die klare Begrenzung. Der dichte Wald aber ist weder sichtbar noch gegliedert. Nur da, wo Figuren auf Lichtungen, auf Wege, oder an den Rand des Waldes treten, wird Handlung beschreibbar und findet sie statt. Und so ist es der Moment der Lichtung, der Augenblick des Sichtbarwerdens und der Sichtbarmachung, der die dunkle Masse des Waldes hervorbringt, auf deren Hintergrund das Gesehene und Begegnete zum zufälligen Ereignis wird. Die Problematik einer Beschreibung des Dickichts selber zeigt sich da, wo es doch einmal dazu kommt: Wie be-schreibt man eine dunkle Fläche? Als der neu in höfischer zuht unterwiesene Parzival von seinem Erzieher Gurnemanz und dessen schönen Tochter Liaze wegreitet, heißt es: swar sîn ors nu kêre, er enmages vor jâmer niht enthabn, ez welle springen oder drabn. kriuze unde stûden stric, dar zuo der wagenleisen bic sîne waltstrâzen meit: vil ungevertes er dô reit, dâ wênic wegerîches stuont. tal und berc wârn im unkuont. genuoge hânt des einen site und sprechent sus, swer irre rite daz der den slegel fünde: slegels urkünde lac dâ âne mâze vil, sulen grôze ronen sîn slegels zil. (Parzival, 179,30–180,14)4 4 Wolfram von Eschenbach, Parzival, nach der Ausg. von Karl Lachmann revidiert und komm. von Eberhard Nellmann, übertr. von Dieter Kühn, 2 Bde, Frankfurt am Main 1994 (Bibliothek des Mittelalters 8 1/2).
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Die Beschreibung des Waldesdickichts beruht einerseits auf der Negierung des Koordinatennetzes der Strassen und Wege beziehungsweise der diese anzeigenden Zeichen (Wegkreuze, Hecken, Wagenspuren, Wegerich), anderseits auf dem Hinweis auf die Unberührtheit einer in Opposition zu einem bewirtschafteten Wald ins Gigantische überhöhten Natur. In dieser verliert selbst das Sprichwort seine Wahrheit, die sich nur da einstellen könnte, wo von Riesenäxten und entsprechenden Holzfällern ausgegangen würde. Unter der Hand gerät die Beschreibung des Dickichts im Rahmen assoziativer Bilder zur Szenerie mythischer Figuren und damit zum Raum kollektiver Imagination. Wichtiger aber noch ist, dass die in Orientierungs- und Richtungslosigkeit eingelassene Willenlosigkeit Parzivals durch die Negierung sämtlicher Raumkoordinaten zur vollkommenen Hingabe an ein Zufallsgeschehen wird. Es ist die Perspektivenlosigkeit des im Wald Verirrten, die die grundsätzliche Möglichkeit des reinen Zufalls evoziert. Es ist somit der nicht beschriebene, dunkle Wald, der als Matrix möglicher Geschichten, die sich alle an Wegen oder Lichtungen ereignen oder da ihren Anfang finden, figuriert. Die in die Sprache gebrachten Ereignisse, die Wegschneisen im Dickicht, die Lichtungen im Dunkel, sind kontingente Punkte, von deren zufälligen Setzung her sich erst ein Geschehen und eine Geschichte ergeben. Im Wald ist es die Undurchsichtigkeit, in der sich die Möglichkeitenfülle ballt, beim Meer ist es die Leere des Blicks. In beiden Fällen aber ist es eine Sichtlosigkeit, eine Perspektivenlosigkeit, in der sich der Raum auflöst. Als Tristan als kleiner Knabe von den norwegischen Kaufleuten entführt wird, wird deren Schiff auf dem Meer von einem Sturm erfasst. Sie müssen sich ganz dem Wind ergeben und haben keine Hoffnung mehr auf Rettung: si haeten sich mitalle ergeben an die vil armen stiure, diu dâ heizet âventiure. si liezen ez an die geschiht, weder si genaesen oder niht. wan ir dinges was nimê, wan daz si mit dem wilden sê ûf als in den himel stigen und iesâ wider nider sigen als in daz abgründe. si triben die tobenden ünde wîlent ûf und wîlent nider, iezuo dar und iesâ wider. ir aller keiner kunde noch enmohte keine stunde
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ûf sînen vüezen gestân. alsus sô was ir leben getân wol ahte tage und ahte naht. hie von sô haeten s’alle ir maht vil nâch verlorn unde ir sin. (Tristan, V. 2420–2439)5
Die dem Zufall des Auf und Ab ausgelieferten Seeleute sind ihres Willens beraubt und ergeben sich ganz dem Geschick, dem Schicksal. Sie überlassen sich der vil armen stiure, der schwachen und jämmerlichen Führung der âventiure. Durch das Epitheton ›jämmerlich‹ für diese Zufallsführung wird auf der Ebene des Textes eine klare Wertung mit eingezogen. Die Führung durch die âventiure als Zufallsgeschehen ist defizient. Es gäbe bessere Möglichkeiten. Dieses Bild vollkommener Kontingenz ist aber im Rückgriff auf den ambivalenten Begriff der âventiure auch an eine vom Ende her sinnvolle Narratio gebunden.6 Und über den Vergleich des Auf und Ab der Wellenfahrt mit dem Schwanken zwischen Himmel und Abgrund (Hölle), ist es auf der Ebene des Textes auch in die heilsgeschichtlichen Koordinaten eingepasst. Darin wird es zum exemplarischen Bild: alsus sô was ir leben getân (Tristan, V. 2436). Vor der Beschreibung dieser Meerfahrt findet sich jedoch eine Erzählerbemerkung, in der Gott als Urheber dieses Sturms benannt ist, mit dem er den Plan der Seeleute durchkreuzen wollte. Die perspektivenlose, verwirrte Not ist somit Teil eines göttlichen Plans: dô widerschuof ez allez der, der elliu dinc beslihtet, beslihtende berihtet, dem winde, mer und elliu craft bibenende sint dienesthaft. (Tristan, V. 2406–2410)
Das Grundbild der Kontingenz (das stürmische Meer) wird eingeführt als Strategie Gottes. Und so wird auch verständlich, warum die Führung durch die âventiure als arm bezeichnet wird (Tristan, V. 2421): Ein Entkommen ist nur möglich, indem die Gefährdung als Strafe Gottes erkannt wird und damit 5 Gottfried von Strassburg, Tristan, nach dem Text von Friedrich Ranke neu hg., ins Nhd. übers. mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort versehen von Rüdiger Krohn, 3 Bde., Stuttgart 1980 (RUB 4471–4473). 6 Zum Begriff der âventiure vgl. den Abschnitt »âventiure – Ein Paradigma historischer Semantik« mit Beiträgen von Hartmut Bleumer, Franz Lebsanft, Volker Mertens, Mireille Schnyder und Peter Strohschneider, in: Gerd Dicke u. a., Im Wortfeld (Anm. 1), S. 309–383.
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die Kontingenz (der Zufall) durch eine religiöse Rahmung negiert und zum Teil einer sinnvoll sich fügenden Geschichte wird. Die Perspektivenlosigkeit und die Ordnungsleere, die den Raum des Meeres für die gottfernen Seeleute füllt, begegnet auch im Herzog Ernst, als der Held auf seiner Jerusalemfahrt in einen Sturm gerät und dadurch vom Weg abkommt.7 Bevor er dann scheinbar gerettet zu den Kranichschnäblern kommt, der ersten Station seiner Fahrt durch die sagenhafte fremde Welt des Orients, heißt es: dô si wurden zetriben sô verre ûf dem wilden sê dâ weder sît noch ê nie kein mensche hin kam, dô leit der helt vil lobesam mit sînen mannen grôze nôt, dô sie den grimmigen tôt mit ir ougen muosen sehen. man mac mit wârheite jehen daz im geschach vil dicke wê. man gehôrte nie sagen mê von alsô starker arbeit sô der herzoge Ernest leit. (Herzog Ernst, V. 2164–2176)
Es ist die absolute Leere, das noch nie Geschaute und Unerhörte, dem sie da begegnen. Das einzige, was sie sehen, ist der grimmige […] tôt (Herzog Ernst, V. 2170). Der aber entzieht sich der Sprache und kann nur in einer leeren, ungedeckten Hyperbel angedeutet werden. Für diesen Punkt der Negation, der in paradoxer Art in diesem Raum des Unvorherzusehenden das einzig konkret Vorstellbare ist, damit aber auch alles Kontingente in sich aufsaugt, gibt es keine Möglichkeit der Versprachlichung. Erst da, wo diese Gefährdung ein Ende hat und am Horizont ein Land auftaucht, wird die erzählte Handlung wieder möglich. Der einzige Begriff, der im Kontext dieser ordnungslosen Leere des Meers immer wieder eingesetzt wird, ist: wild. Bei Tristan sind es die wilden winde (Tristan, V. 2417), die das Schiff treiben, es ist der wilde […] sê (Tristan, V. 2426), mit dem die Seeleute in den Himmel und in die Hölle kommen, Herzog Ernst begegnet dem Tod verre ûf dem wilden sê (Herzog Ernst, V. 2165). Im Begriff des ›Wilden‹ aber verschwimmt das Fremde, Verwirrte, Gefähr-
7 Herzog Ernst. Ein mittelalterliches Abenteuerbuch. In der mhd. Fassung B nach der Ausg. von Karl Bartsch mit den Bruchstücken der Fassung A, hg., übers., mit Anm. und einem Nachwort von Bernhard Sowinski, Stuttgart 2003 (RUB 8352), V. 2120–2163.
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liche, Ungeordnete, Unerhörte – und es stellt sich die Frage, ob darin nicht das Kontingente gefasst ist?
2. Kontingenz und Angst Die perspektivenlose, weglose und ungeordnete Wildnis des Waldes entzieht dem Protagonisten jede Möglichkeit der Sinngebung und Deutung. Diese ganz direkt mit Kontingenzerfahrung gekoppelte Ohnmacht des Willens wird mit Angst verbunden. Eine einzigartige Beschreibung dieser spezifisch auch affektbezogenen Kontingenzerfahrung findet sich im Tristan Gottfrieds von Straßburg. Als der kleine Tristan von seinen Entführern am fremden Ufer ausgesetzt wird, findet er sich zunächst in einer Wildnis, die zum Angstraum für ihn wird: nu warte ich allenthalben mîn und sihe niht lebendes umbe mich. dise grôze wilde die vürht ich. swar ich mîn ougen wende, da ist mir der werlde ein ende. swâ ich mich hin gekêre, dane sihe ich ie nimêre niwan ein toup gevilde und wüeste unde wilde, wilde velse und wilden sê. disiu vorhte tuot mir wê. über daz allez sô vürhte ich, wolve unde tier diu vrezzen mich, swelhen enden ich gekêre. (Tristan, V. 2500–2513)
Auch wenn hier scheinbar ein Schauraum aufgetan wird, indem der kleine Tristan in allen Richtungen um sich sieht, löst sich der Blick im Nichts auf und verliert so seinen Raum. Es ist nicht die Stille, sondern die Leere, die Tristan ängstigt. Was seinem Blick begegnet ist das Ende der Welt und ein Ort der Absenz von Leben. Gefüllt wird dieser in die Leere führende Blick mit Angst, die so zu einem Konstituens der Kontingenzerfahrung wird: dise grôze wilde die vürht ich (Tristan, V. 2502). Dabei ist auch in der Beschreibung dieser ängstigenden und unkonturierten Leere die ständige Wiederholung des Begriffs wild auffallend.
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3. Kontingenz und Tod Die vollkommene Leere des Blicks, gekoppelt mit der Auflösung des Raums und einer Todesangst, findet sich verschiedentlich im Herzog Ernst.8 Nachdem dieser auf seiner Fahrt nach Jerusalem durch einen Sturm in unbekannte Gefilde kam (Herzog Ernst, V. 2120–2163), da den Kranichschnäblern begegnete, denen er mit einem von Gott gesandten Wind entkommen kann, wird sein Schiff zum Magnetberg getrieben. Die anfängliche Hoffnung, die sich an dem am Horizont erscheinenden Land festmacht (Herzog Ernst, V. 3891–3919), wird schnell zunichte und schlägt in Verzweiflung um, als in diesem Land der Todespunkt des Magnetbergs erkannt wird. Wenn sie dann nach unsanfter Landung auf den Berg steigen, um Umschau zu halten, sehen sie nichts als das Nichts: Dô sie daz wunder [der hier gestrandeten Schiffe] besâhen, sie begunden vürbaz gâhen. der herzoge und sîne man kâmen ûf den berc gegân, ob si iender lant mohten sehen. ir keines ouge kunde erspehen daz si kæmen ze lande. daz was den recken ande. der berc stuont wîten in dem mer: dâ muosen die helde âne wer vil jâmerlîchen ersterben und vor hunger verderben. daz was den recken swære. dô muosen die helden mære angest lîden vor dem steine. (Herzog Ernst, V. 4069–4083)
Die Horizontlosigkeit des Todes wird dann jedoch in einen Raum des Heils eingebunden, indem die Perspektivenlosigkeit als Schlusspunkt eines Sündendaseins in der Welt und Anfangspunkt des Seelenheils gesehen wird. Sowohl auf der Ebene des Erzählers (Herzog Ernst, V. 3883–3891) wie in der Rede der Protagonisten wird dieser Tod zum guten Tod gemacht, indem er zum erlösenden Wendepunkt wird, zur Buße. Im Narrativ des Heils wird dieses Ende zur Schwelle in den Heilsraum. Entsprechend wird der diesen Punkt als eine Leerstelle umgebende Raum zu einem liminalen Raum, in dem die Beklommenheit vor der Leere als Todesangst zum leeren Punkt des Umschlags wird. 8 Vgl. auch die oben besprochene Stelle Herzog Ernst, V. 2164–2176.
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uns ist vil wol gelungen, sterben wir ûf disem wilden sê: wir sîn behalden immer mê bî gote in sîme rîche. nu freut iuch alle gelîche daz wir im sô nâhe komen. (Herzog Ernst, V. 3978–3983)
Der zum Punkt zusammengeschrumpfte Nicht-Raum der Kontingenz, wo die Möglichkeitenvielfalt sich in der Angst vor dem Tod verdichtet, in dessen Sinnlosigkeit alle Sinnmöglichkeiten aufgehoben sind, wird durch die Rahmung in ein Heilsgeschehen gebannt. In diesem Bann wird der Endpunkt zum Grenzraum erweitert, bei dessen Durchquerung das Kontingente, das immer auch das Fremde ist, zum deutbar Anderen und damit narrativ Erklärten wird.9 Der Tod wird zum Deutungspunkt, zum Achsenpunkt, um den herum sich alles zeichenhaft gliedert und sinnvoll fügt. Die Bewältigung der Kontingenzverfallenheit als einer Selbstverlorenheit und Todesangst gelingt allein durch die Rahmung durch ein erlösendes, da deutendes Narrativ. Erkannt als Ort der Buße (Herzog Ernst) wird das wilde Meer zum Raum des Heils, erkannt als Ort der Strafe Gottes (Tristan), wird es zum Handlungsraum der Providenz.10
4. Kontingenz und Erzählung Über die Erzählung, als einer Versprachlichung des Unvorstellbaren, wird das ganz Andere in die sinnvoll gedeutete Welt übersetzt. Dies zeigt sich auch deutlich da, wo im Artusroman âventiure, als Bestehen einer dem höfischen Erfahrungshorizont fremden und unerhörten Gefahr, im Wald gesucht wird. Terminus technicus für den Auszug des Artusritters in die unbe9 Vgl. dazu Wellberys Überlegungen zu Tod/Zufall: »Ich vermute, dass diese Schnittstelle Zufall/Tod auf eine andere Dimension des emphatischen Kontingenzbegriffs verweist, nämlich dessen Verwandtschaft mit dem Begriff (oder Nicht-Begriff) des Anderen. Der Zufall wäre der Ort, wo sich das Andere als das Beziehungslose ankündigt.« Wellbery, David. E., Zur literaturwissenschaftlichen Relevanz des Kontingenzbegriffs. Eine Glosse zur Diskussion um den Poststrukturalismus, in: Klaus W. Hempfer (Hg.), Poststrukturalismus – Dekonstruktion – Postmoderne, Stuttgart 1992 (Text und Kontext 9), S. 161–169, hier S. 163. Dabei würde durch die narrative Rahmung »das Beziehungslose« gerade in Bezug gesetzt und dadurch seiner Kontingenz beraubt. 10 Der wilde Wald lässt sich durch den zufällig gefundenen Weg lichten (Tristan, V. 2563– 2579). Es handelt sich um einen Zufall, der sich auf der Suche nach der Perspektive in die Weite ergibt: Tristan steigt auf den Berg hinauf, um das Land zu erkunden, den Horizont abzusuchen (Tristan, V. 2516–2532). Es ist die Bewegung aus diesem Ort weg, die den Ort lichtet.
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kannte Welt ist âventiure suoche. Kaum aber ist âventiure gefunden, formt sie sich in der höfischen Erzählung und wird sagbar. Der dichte, nicht gelichtete und nicht erzählte Wald ist als Matrix möglicher Konkretisierungen und Formungen Raum der Kontingenz, insofern er gerade nicht erzählter Raum ist. Der Wald ist nicht nur Raum aller möglichen Begegnungen, sondern so, wie diese erst als Erzählungen in den Kreis des Hofes treten und da bekannt werden, ist der Wald Raum aller möglichen Erzählungen – materia, aus der die Historien stammen. Indem nun aber die âventiure-suchenden Ritter ihre bestandenen Kämpfe jeweils am Hof berichten lassen, um über diese Erzählungen, im Spiegel des Hofes, ihre Identität zu bilden, wird ihr Selbstentwurf durch die im Wald möglichen Geschichten immer wieder neu auf die Probe gestellt. Die eigene Geschichte hat sich immer wieder gegen andere mögliche Geschichten des Selbst zu behaupten. Iwein muss sich nach seinem Wahnsinn wieder in seine Geschichte hineinfinden – gegen alle andern möglichen Geschichten.11 Enite wird immer wieder mit anderen möglichen Existenzen ihrer selbst konfrontiert, bis hin, dass sie sich durch schœnen list (Erec, V. 3842)12 selber eine andere Lebensgeschichte erfindet gegenüber dem aufdringlichen Grafen, der sie entführen will (Erec, V. 3838–3895). Bei Gottfried von Straßburg wird diese Möglichkeitenvielfalt der eigenen Geschichte von Tristan dann auf die Spitze getrieben. Die täuschenden Selbstentwürfe Tristans beginnen da, wo er aus der Wildnis kommt und am Wegrand sitzend von Pilgern gefunden wird. Auf deren Frage, wer er sei und woher er komme, erzählt er eine seltsame Geschichte, die nichts mit der im Roman erzählten Geschichte zu tun hat: er begunde in vremediu maere sagen (Tristan, V. 2694).13 In allen mittelalterlichen Geschichten gibt es das Prinzip der Selbsterzählung als Mittel einer Identitätskonstituierung. Die Vervielfältigung dieser Geschichten, die Variation des Selbst, sind Mittel der Reflexion und Offenlegung dieses Verfahrens. Dadurch wird zumindest die Frage nach einer Kontingenz des Einzelgeschicks und damit der erzählten âventiure gestellt. Es zeigt sich, dass Entscheidungsmomente im Wald oder auf dem Meer, das heißt Momente der Realisierung einer Möglichkeit, nie losgelöst von einer zur Disposition stehenden Identität des Helden zu sehen sind. Es han11 Vgl. dazu: Schnyder, Mireille, Ich-Geschichten. Die (Er)Findung des Selbst, in: Martin Baisch u. a. (Hgg.), Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters, Königstein im Taunus 2005, S. 75–90. 12 Hartmann von Aue, Erec, hg. von Manfred Günter Scholz, übers. von Susanne Held, Frankfurt am Main 2004 (Bibliothek des Mittelalters 5). 13 Tristan erfindet eine Geschichte, in der er behauptet, als Hiesiger sich bei einer Jagdpartie im Wald verirrt, sein Pferd bei einem Sturz verloren zu haben und nun vollkommen orientierungslos an diesem Ort gelandet zu sein (Tristan, V. 2694–2721).
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Räume der Kontingenz
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delt sich um Erprobungen der Möglichkeiten in Bezug auf die Erzählung seiner selbst.14
5. Kontingenz und Sprache Indem der Kontingenzpunkt im Sinne eines Punktes der Sinnlosigkeit, eines ›toten Punktes‹, aus dem heraus aber alles möglich ist, in ein Narrativ gefasst wird, wird er zum Zeichen und darüber auch zum Deutungs- und Anfangspunkt einer Sinnstruktur. Das heißt aber auch, dass er die Ambivalenz des Zeichens erhält und seine Deutung – als eine von vielen – kontingent wird. Damit wird die Versprachlichung des Geschehens zum Moment der Sinnstiftung, gleichzeitig aber auch zum Moment der Zufälligkeit. Am Beispiel der Überfahrt von Tristan und Isolde von Irland nach England wird dies deutlich. Da kommt es nicht nur zum verhängnisvollen Trinken des Minnetranks, sondern auch zum Geständnis der Liebe. Die Macht der Minne wird gerade da, wo sie scheinbar zum Zwang wird und als solcher eingeführt wird, in ihrem grundlegend kontingenten Charakter gezeigt.15 Anfang der Minne von Tristan und Isolde ist der Missgriff eines kleinen Hoffräuleins. Auf Tristans Bitte bringt sie vermeintlich Wein, in Wirklichkeit aber den Minnetrank. Irgendwo zwischen Irland und England kommt es zu diesem Einbruch der Kontingenz als Anfang einer Handlungskette, die unter der Herrschaft (gewalt) der Minne steht (Tristan, V. 11707–11715). Wobei der Missgriff des Fräuleins in einer Kausalkette mit den Unannehmlichkeiten des Meeres verbunden ist: Nicht gewohnt über Meer zu fahren, braucht Isolde mit ihren Frauen einen Zwischenhalt und da etwas zu trinken. Bezeichnend ist, dass dieses kleine Ereignis des Trinkens sowohl auf der Ebene der Erzählung als auch auf der Ebene der Personenrede mit dem Tod verknüpft wird. Der Erzähler definiert die Flüssigkeit in dem Gefäß folgendermaßen: ez was diu wernde swaere, / diu endelôse herzenôt, / von der si beide lâgen tôt (Tristan, V. 11674–11676) und Brangäne sagt: diz tranc ist iuwer beider tôt! (Tristan, V. 11706). Dass Brangäne, nachdem sie den Fehler entdeckt hat, das Fässchen in den tobenden wilden sê (Tristan, V. 11985) wirft, bringt in diesem Augenblick des magischen Umschlags, in dem das kleine Ereignis zum kontingenten Anfang einer zwanghaften und tödlichen Geschichte wird, das Meer als Ort 14 Inwiefern in diesen Momenten Kontingenz ausgestellt wird, um sie letztlich narrativ zu bewältigen und zu negieren, ist eine andere Frage. 15 Vgl. dazu auch: Worstbrock, Franz Josef, Der Zufall und das Ziel. Über Handlungsstrukturen in Gottfrieds Tristan, in: Haug/Wachinger, Fortuna (Anm. 2), S. 34–51.
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Mireille Schnyder
des Kontingenten in den Blick, tobend und wild, das heißt irrational und ungeordnet. Wenn dann im Text die Minne Isoldes als allmähliches Ertrinken beschrieben wird (Tristan, V. 11789–11813), wird der Raum der Kontingenz um den ›toten Punkt‹ des Umschlags zum Raum der Minne schlechthin. Die Minne bemächtigt sich der Kontingenz, aus der unter ihrem Regime kein Entkommen ist. Brangäne schreibt dieses Ereignis des Missgriffs und falschen Trinkens dem Teufel zu. Brangaene sprach: daz riuwe got, / daz der vâlant sînen spot / mit uns alsus gemachet hât! (Tristan, V. 12127–12129) und sieht sich von Gott vergessen: genaedeclîcher trehtîn, / wie vergaeze dû mîn sô! (Tristan, V. 12478 f.). Tristan, als er von der Verwechslung hört, sagt nur: nu walte es got! (Tristan, V. 12494) und stellt damit die folgende Ereigniskette unter Gottes Schutz. Die gegensätzlichen Perspektivierungen dieses kleinen Punktes in zwei verschiedenen Narrativen (dem Narrativ der Verdammung und dem Narrativ des Heils) macht im Text die Ambivalenz des über die Deutung zum Zeichen gewordenen Ereignisses sichtbar und stellt die Kontingenz des sich daran anschließenden Narrativs aus.16 Die Kontingenz der scheinbar so notwendigen Minne selber wird aber auch auf der Ebene der Sprache reflektiert. Und zwar auch wieder da, wo die Minne zum ersten Mal in die Sprache findet, beim Liebesgeständnis der beiden auf hoher See: ›lameir‹ sprach sî ›daz ist mîn nôt, lameir daz swaeret mir den muot, lameir ist, daz mir leide tuot.‹ dô sî lameir sô dicke sprach, er bedâhte unde besach anclîchen unde cleine des selben wortes meine. sus begunde er sich versinnen, l’ameir daz waere minnen, l’ameir bitter, la meir mer. der meine der dûhte in ein her. er übersach der drîer ein unde vrâgete von den zwein. er versweic die minne, ir beider vogetinne, ir beider trôst, ir beider ger. mer unde sûr beredete er. (Tristan, V. 11986–12002)
16 Vgl. Luhmann, Niklas, Kontingenz als Eigenwert der modernen Gesellschaft, in: Ders., Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 93–128, hier S. 99–101.
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Räume der Kontingenz
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Das Sprachzeichen wird in seiner Ambivalenz eingesetzt als Zeichen einer grundlegenden Verunsicherung des in die Vieldeutigkeit der Zeichenwelt geworfenen Menschen. Indem dann aus der Fülle der Bedeutungsmöglichkeiten des fremden (!) Wortes der Reihe nach einzelne realisiert, um dann durch Negation verworfen zu werden, perspektiviert sich das Verstehen immer mehr auf einen Deutungspunkt. Dieser wird aber sprachlich nicht mehr realisiert: Im Gegensatz zu bitter und mer spricht Tristan minne nicht mehr aus, sondern versteht nur noch das nun eindeutig gewordene französische Wort. In diesem Spiel mit den Bedeutungsmöglichkeiten des einen Wortes schließen sich Leere und Bitternis des Meeres mit der Minne zusammen und wird schließlich der Raum der Kontingenz über die Ambivalenz des Zeichens zum von der Minne beherrschten Raum. In leichter Verzögerung erst wird minne dann als Begriff genannt (Tristan, V. 12017). Damit aber wird das Fremde, Unerwartete, Magisch-Zufällige in die eigene Sprache und das eigene Reden hereingeholt – und in dem Moment beginnt die Geschichte von Tristans und Isoldes Minne. Das kontingente Ereignis ist zum Teil des Eigenen geworden, das Fremde zum Ich – womit jenes seine Kontingenz verliert.
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Volker Mertens
Wahrheit und Kontingenz in Gottfrieds Tristan
Die »Himmelfahrt der bösen Lust«1, das »Paar in der höchsten Glut der Sünde«2, auch eine Warnfabel vor den Fallstricken der Sinnenliebe sehen die einen in Gottfrieds Tristan, andere eine narrative Wertethik3 oder eine flammende Kritik an der restriktiven mittelalterlichen – und nicht nur mittelalterlichen – Liebesordnung,4 alternativ eine »Freigeisterei der Leidenschaft«5 oder eine neue Liebesreligion – die Deutungen kann ich gar nicht alle aufzählen. Ich habe bewusst Stichworte aus der Diskussion und Rezeption neuzeitlicher und mittelalterlicher Werke gemischt, um auf die Tatsache aufmerksam zu machen, wie sehr gerade beim Tristan die Wahrnehmung von der Diskussion über verbotene Liebe späterer Zeiten beeinflusst ist – und nicht nur von Richard Wagners Opus metaphysicum. Keine andere mittelalterliche Erzählung hat so divergente Interpretationen und Bewertungen erfahren wie Gottfrieds von Straßburg Tristan. Ich nehme gerade die Uneinigkeit der Interpreten zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen. Sie hat gegenüber diesen exemplarischen Interpretationen zu einem neuen Mantra der Tristanforschung geführt, dass nämlich eine eindeutige Aussage über den Sinn der Erzählung nicht möglich sei. Nicht das interessiert mich, sondern die Poetologie dieser, wenn man so will, Uneindeutigkeit. 1 Friedrich Heinrich Jacobi über den Schluss von Goethes Wahlverwandtschaften (am 10. Januar 1810 an Friedrich Köppen, zit. nach Härtl, Heinz, Die Wahlverwandtschaften. Eine Dokumentation der Wirkung von Goethes Roman 1808 – 1832, Berlin 1983, S. 113). 2 Richard Wagner über Tristan und Isolde: Cosima Wagner, Die Tagebücher, Bd. 2, München 1977, S. 255. Wagners Tristan und Isolde hat zweifellos die Interpretation von Gottfrieds Tristan beeinflusst. Rainer Warning spricht in dieser Hinsicht von einer »romantischen« Interpretation, sieht aber Wagner zu wenig differenziert und den Einfluss des Ehebruchdiskurses im 19. Jahrhundert überhaupt nicht: Die narrative Lust an der List. Norm und Transgression im Tristan, in: Ders. und Gerhard Neumann (Hgg.), Transgressionen. Literatur als Ethnographie, Freiburg im Breisgau 2003 (Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae 98), S. 175–212. 3 Mieth, Dietmar, Dichtung, Glaube und Moral. Studien zur Begründung einer narrativen Ethik mit einer Interpretation zum Tristanroman Gottfrieds von Straßburg, Mainz 21983 (Tübinger theologische Studien 7). 4 Tomasek, Tomas, Die Utopie im Tristan Gottfrieds von Straßburg, Tübingen 1985 (Hermea N. F. 49). 5 So der Titel von Friedrich Schillers Gedicht, das Franz Schubert (Der Kampf D 594) vertont hat. Schiller hat mit der Zeitangabe 1782 bewusst eine falsche Fährte gelegt; es reflektiert vermutlich die Beziehung zu Charlotte von Kalb.
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Wahrheit und Kontingenz in Gottfrieds Tristan
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Es handelt sich bei meinen Beobachtungen nicht um neue Wahrnehmungen – kann es sich bei einem Text, der auf sô manege wîs zetriben wurde, gar nicht handeln.6 Ich perspektiviere sie jedoch unter dem Begriff der Kontingenz und will damit eine übergeordnete Sicht gewinnen. Wenn ich von Kontingenz spreche,7 so meine ich Zufälligkeit, Offenheit, Unverfügbarkeit im Gegensatz zu Notwendigkeit und Ordnung, zu einer bestimmenden transsubjektiven Wahrheit, zur Exemplarität. Ich verwende den Begriff in Anlehnung an die Systemtheorie Niklas Luhmanns und greife das postmoderne Dilemma der Nichtdarstellbarkeit von Kontingenz auf. Dabei fühle ich mich v. a. Walter Haugs Tristan-Interpretationen nahe.8 Er ist der entschiedenste Gegner eines Verständnisses aus dem Geist der Exemplarität, sei sie positiv oder negativ. Stattdessen propagiert er die Partizipation am Text, die Erfahrung als Rezeptionsmodus, ohne allerdings genau zu zeigen, auf welche Weise sie erfolgt und worin sie besteht. Hier setze ich an. Meine These lautet in aller Kürze: Der Autor gestaltet die Liebe als kontingent, sagt das jedoch nicht direkt von ihr aus, da eine solche Aussage Wahrheit beanspruchen würde. Daher gibt es keine kognitiv kommunizierbare Wahrheit der Liebe, sie ist nur affektiv durch vom Autor erzeugte Empathie erfahrbar. Die poesiologischen Verfahren des Autors induzieren gerade diese Erfahrung, die nicht auf Bewunderung oder Vorbildlichkeit, sondern auf Empathie beruht. Im Roman gibt es selbstreflexive Passagen und poetische Chiffren, in denen der Autor sein erzählerisches Verfahren ausstellt. Dieses beruht auf der Ausnutzung erstens der Mehrdeutigkeit der Sprache und damit der Auflösung der Verbindung von Zeichen und Bezeichnetem, zweitens der Ausstellung von Topik als poetischem Verfahren und dem darauf beruhenden Verweis auf die Fiktionalität der Handlung und der Figuren, drittens der Wirkungspoetik als nicht kognitiver, empathischer Identifikation. Auf die Kontingenz der Figuren und Strukturen werde ich am Schluss kurz verweisen. 6 Meine Überlegungen berühren sich in manchen Punkten mit Müller, Jan-Dirk, Gottfried von Straßburg. Transgression und Ökonomie, in: Neumann/Warning, Transgressionen (Anm. 2), S. 213–242. 7 Vgl. die theoretischen Ausführungen von Susanne Reichlin in diesem Band. 8 Haug, Walter, Gottfrieds von Straßburg Tristan. Sexueller Sündenfall oder erotische Utopie?, in: Ders., Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters, Bd. 1, Tübingen 1989, S. 600–614; Ders., Der Tristan Gottfrieds von Straßburg: eine narrative Philosophie der Liebe?, in: Ders., Brechungen auf dem Weg zur Individualität. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters, Bd. 2, Tübingen 1995, S. 171–184; Ders., Âventiure in Gottfrieds von Straßburg Tristan, in: Ders., Strukturen, S. 557–582 und Ders., Der Tristanroman im Horizont der erotischen Diskurse des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Freiburg im Uechtland 2000 (Wolfgang Stammler Gastprofessur für Germanische Philologie 10). Die Ambiguität des Tristan hat besonders herausgearbeitet: Bertau, Karl, Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter, Bd. 2, München 1973, S. 918–964.
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Alle diese Verfahren gründen weder in einer fundamentalen Sprachskepsis noch einem grundsätzlichen Betrugsverdacht gegenüber der Fiktion und einer generellen Ablehnung exemplarischen Erzählens, sondern in der spezifischen Aufgabe, einen problematischen Stoff zu vermitteln, ohne in die Falle positiver oder negativer Exemplarität zu geraten. Dass dieser Stoff geeignet ist, in besonderem Maße die Bedingungen und Möglichkeiten menschlichen Handelns und menschlicher Existenz zu reflektieren, sei nicht bestritten; diese Dimension ist jedoch nur Vehikel zur Erzeugung intensiver Gefühle.
1. Die Ambiguisierung der Sprache Die Relativierung ihrer bezeichnenden Kraft äußert sich in der ›Verklanglichung‹ der Semantik in Gottfrieds liebsten Stilfiguren, der Annominatio bzw. dem Polyptoton, d. h. der Verwendung einer Wortwurzel in verschiedenen Wortarten – Substantiv, Adjektiv, Adverb, Verbum – bzw. verschiedenen Flexionsformen. Als Beispiel diene ein Zitat aus dem Prolog: der edele senedære der minnet senediu mære. von diu swer seneder mære ger, der envar niht verrer danne her; ich wil in wol bemæren von edelen senedæren, die reine sene wol tâten schîn: ein senedære und ein senedærin (V. 121–128)9
Aus der Wortwurzel sene – sehnsuchtsvoll lieben – wird das Substantiv senedaere (›Liebender‹) abgeleitet und das Verb senen, das in der Form des Partizips Präsens erscheint und zwar im Akkusativ Plural senediu [maere] und Genitiv Singular seneder [maere]. Dazu tritt das Kompositum senegluot. Hier wird die Wertschätzung von Liebesgeschichten durch Liebende nicht argumentativ behauptet, sondern etymologisch-klanglich hergestellt. Letztere Dimension verbindet sich in Gottfrieds Werk mit einer subtilen Rhythmik; beides zusammen erzeugt eine suggestive sprachliche Intensität, die zur Poetik der Empathie entscheidend beiträgt und daneben auf die Grenzen semantischer Versprachlichung verweist. 9 Gottfried von Straßburg, Tristan, hg. von Karl Marold, Leipzig 1906 (Teutonia 6). Die Übersetzungen der mittelhochdeutschen Zitate sind im Folgenden von mir.
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Aber der Erzähler geht weiter: Der prekäre Zusammenhang zwischen Zeichen und Bezeichnetem wird als unverlässlich an drei inhaltlich wichtigen Stellen vorgeführt. (1) Für den mittelalterlichen Adligen in Dichtung und Realität ist die väterliche Abstammung von zentraler Bedeutung. Erec wird häufig fil de roi Lac genannt,10 Parzival Gahmuretes kint,11 um nur zwei Beispiele anzuführen. Tristan hält seinen Erzieher Rual für seinen Vater. Als dieser an Markes Hof kommt, antwortet der junge Mann auf die Frage des Königs, wer der Mann sei: mîn vater, hêrre, der König insistiert: hâstû wâr? – jâ, hêrre mîn, (V. 4016 f.) erwidert Tristan.12 Der Leser weiß es besser, diese Wahrheit ist Tristans subjektive Wahrheit, nicht die objektive. Das enthüllt Rual später: Er ist mit Tristan nicht verwandt, sondern der Gefolgsmann seines richtigen Vaters Riwalin. Auf die Nachricht, dass dieser vor der Geburt seines Sohnes erschlagen wurde und seine Mutter bei der Geburt gestorben sei, reagiert Tristan wenig bewegt. Ihn schmerzt vielmehr, dass er in Rual vater unde vaterwân (V. 4370) verloren hat. Die Aussagen des treuen Erziehers nehmen ihm den »Vater und den Vaterglauben«. Es bleibt unklar, wer mit dem verlorenen Vater gemeint ist, der biologische Vater Riwalin oder der soziale Vater Rual. Der Autor setzt die Uneindeutigkeit programmatisch ein: Er will keine wahre Aussage machen, sondern spricht aus der subjektiven Sicht seiner Figuren und auch diese ist kontingent. Die Stelle hat über diese Funktion hinaus ein besonderes Hinweispotential, sie zeigt exemplarisch die Verwerfung des genealogischen Modells. Schon in der Elterngeneration wird es problematisiert, dem Sohn vom Erzähler nicht als biologisches, sondern als psychologisches zugesprochen. Er ist nicht Riwalînes kint, sondern erhält einen neuen Namen. Man tauft ihn auf den Namen Tristan – trûreclîch bei der Geburt, trûreclîch das Leben, trûreclîch der Tod (V. 2005; 2009; 2111). Tristan ist ein Solitär am Ende einer Generationenkette. Er will diesem Schicksal entgehen, aber es gelingt ihm nicht, so bleibt ihm nur die nachträgliche Zustimmung zur Kontingenz seiner Existenz; die Reaktion auf den Minnetrank: solte diu wunneclîche Îsôt iemer alsus sîn mîn tôt 10 Hartmann von Aue, Erec, übers., hg. und kommentiert von Volker Mertens, Stuttgart 2008 (RUB 18530), z. B. V. 2; 307; 362; 620 usw. 11 Wolfram von Eschenbach, Parzival. Nach der Ausg. v. Karl Lachmann rev. und komm. von Eberhard Nellmann, übertr. von Dieter Kühn, 2 Bde., Frankfurt am Main 1994 (Bibliothek des Mittelalters 8), z. B. V. 117,15; 212,2; 224,5; 293,2 usw. 12 Vgl. dazu Zotz, Nicola, Vaterverlust oder Vatergewinn? Rual zwischen Riwalin und Marke, in: Johannes Keller, Michael Mecklenburg und Matthias Meyer (Hgg.), Das Abenteuer der Genealogie: Vater-Sohn-Beziehungen im Mittelalter, Göttingen 2006 (Aventiuren 2), S. 87–104.
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sô wolte ich gerne werben ûmbe ein êweclîchez sterben. (V. 12503–12506)
Auf das Sprachliche komme ich noch, hier geht es darum, dass Tristan ein nicht-genealogisches Modell der Selbsttranszendenz ergreift: das der Liebe – vergleichbar der Rolle, die die Religiosität für Gregorius spielt. Ist hier die Ausrichtung auf Gott die Grundlage der Existenz, so ist bei Gottfried die Liebe der ›Ernstfall des Daseins‹, durch sie erst wird Tristan zum »Selbstfindling«, um mit Peter Sloterdijk13 zu sprechen. Religiosität und Liebe sind die beiden wichtigsten mittelalterlichen Möglichkeiten des ›genealogischen Analogons‹. (2) Die zweite Stelle ist das Liebesgeständnis Isoldes und Tristans Reaktion darauf. Beide wagen nicht, die durch den Trank entstandene Liebe dem anderen zu offenbaren, sondern erzählen einander zuerst Geschichten von ihrer Begegnung. Dann sagt Isolde in einer Formulierung, die ihre Liebe zugleich äußert und verbirgt, dass lameir ihrer Leiden Ursache sei. Tristan kennt drei Bedeutungen: l’amour (»die Liebe«), l’amère (»das Bittere«) und la mer (»das Meer«). Das eine Zeichen kann mehrere Dinge bezeichnen: der meine der dûhte in ein her (V. 12000), heißt es, »die Bedeutungen schienen ihm übermächtig viele«.14 Isolde nutzt die Polysemie der Klangfolge, um ein indirektes Liebesgeständnis zu machen, sich also nicht zu sehr zu exponieren für den Fall, dass Tristan ihre Liebe nicht erwidert. Ähnlich mehrdeutig hatte sich Tristans Mutter Blanscheflur bei der ersten Begegnung mit Riwalin geäußert. Sie hatte von ihrem besten Freund gesprochen, dem er Leid zugefügt habe (V. 752–754) – sie meint: ihr Herz und Riwalin beginnt zu rätseln, was sie meint. Der Autor verfügt anscheinend über mehrere Möglichkeiten, indirekte Liebesgeständnisse darzustellen: die Metapher und Polysemie. Er wählt im Fall von Isolde bewusst die Polysemie, um am Beginn der Liebesgemeinschaft die Uneindeutigkeit sprachlicher Aussagen programmatisch zu zeigen. Darüber hinaus wird ein existentieller Zusammenhang der drei Bedeutungen suggeriert: Die Liebe ist bitter – they say that love hath a bitter taste, sagt noch Salome bei Oscar Wilde,15 des Meeres und der Liebe Wellen hat nicht erst Franz Grillparzer miteinander in Verbindung gebracht und bei Richard Wagner will Isolde »ertrinken – versinken,«16 – die Liebe ist bitter, umfassend und gefährlich wie das Meer. 13 Sloterdijk, Peter, Weltfremdheit, Frankfurt am Main 1993 (es 1781). 14 Zum Liebestrank in den verschiedenen Versionen vgl. Huot, Sylvia, A Tale Much Told. The Status of the Love Philtre in the Old French Tristan Texts, in: ZfdPh Sonderheft zu Bd. 124 (2005), hg. v. Joachim Bumke und Ursula Peters, S. 82–95. 15 Original auf Französisch, ich zitiere die Übersetzung von Lord Alfred Douglas, Complete Works of Oscar Wilde, hg. von Vyvyan Holland, London 1980, S. 575. 16 Richard Wagner, Tristan und Isolde, in: Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd. 7, Leipzig [o. J.], S. 80.
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In diesen Zusammenhang der sprachlichen Ambiguisierung gehört auch die oben bereits angesprochene Reaktion Tristans auf Brangänes Mitteilung, der Trank bedeute den Tod für die Liebenden: ›nu walte es got!‹, sprach Tristan, ›ez wære tôt oder leben: ez hât mir sanfte vergeben. ine weiz, wie jener werden sol: dirre tôt der tuot mir wol. solte diu wunneclîche Isôt iemer alsus sîn mîn tôt, sô wolte ich gerne werben umbe ein êweclîchez sterben.‹ (V. 12498–12506)
Brangäne will den Trank lebensweltlich einordnen und meint damit die destruktiven gesellschaftlichen Konsequenzen und, in ihrer Folge, den physischen Tod, es handelt sich um eine klassische Voraussage. Tristan greift das Wort auf: »Das füge Gott! Sei es Tod oder Leben – der Trank hat mich süß vergiftet. Ich weiß nicht, wie jener Tod sein wird – dieser Tod ist mir gut. Wenn so die liebliche Isolde für immer mein Tod sein sollte, dann wollte ich mit Freude nach einem ewigen Sterben streben.« Die Stelle ist schwierig, denn sie hat verschiedene Bedeutungsschichten. Man hat früh bemerkt, dass die ewige Verdammnis eigentlich der êwige tôt heißen muss (wie z. B. im Gregorius Hartmanns von Aue, V. 86 und 149) und das Verb sterben dafür zumindest ungewöhnlich ist.17 Okken verweist in seinem Kommentar ohne weitere Erläuterungen auf eine Formulierung bei Augustinus (De civitate Dei, XII; XI) für den Zustand der ewigen Höllenstrafen: sine fine morientes seien die Verdammten.18 Alois Haas19 nennt Bernhard von Clairvaux, der moriri für die mystische Vereinigung, ein »ekstatisches Sich-Verströmen« benutzt, und sieht in der Tristan-Stelle eine Analogie zwischen dem mystischen und erotischen Sich-Hingeben angesprochen. Walter Haug schließlich hält es für möglich, dass »der Liebesakt als ein Sterben bezeichnet wird«.20 17 Vgl. das Referat der Forschung bei Dietz, Reiner, Der Tristan Gottfrieds von Straßburg. Probleme der Forschung (1902–1970), Göppingen 1974 (GAG 136), S. 121–124. Im religiösen Sinn im geistlichen Tagelied Hugos von Montfort Nr. 24, Str. XXX: won: ›gross laid volget den froden mit / am iungsten hie auff erden‹ – / wirtz ungebúßt und beschiht des nit / so btútz ain ewig sterben. Hugo von Montfort. Das poetische Werk. Texte. Melodien. Einführung, hg. von Wernfried Hofmeister. Mit einem Melodie-Anhang von Agnes Grond, Berlin und New York 2005 (de Gruyter Texte). 18 Okken, Lambertus, Kommentar zum Tristanroman Gottfrieds von Straßburg. Amsterdam 21996 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 57/58), S. 498. 19 Haas, Alois, Todesbilder im Mittelalter, Darmstadt 1989, S. 165. 20 Haug, Âventiure (Anm. 8), S. 578.
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Tristan aktiviert anscheinend mehrere metaphorische Bedeutungen von »Tod«: den geistlichen (und den gesellschaftlichen?) Tod im Jenseits, das religiös-mystische Absterben von der Welt und einen wie immer gearteten erotischen Sinn.21 Tristan akzeptiert den von Brangäne genannten Tod und vielleicht auch die Hölle um der Liebe willen. Die Mehrdeutigkeit des Wortzeichens ›Tod‹ umfasst die Kontingenz der Tristanliebe: der soziale und körperliche, auch der geistliche Tod wären ja die Eingliederung in einen SchuldStrafe-Zusammenhang und damit in eine Ordnung der Dinge, die mystische und körperliche Liebeseinheit aber als Belohnungssequenz bricht sie wieder auf. Indem Tristan auf die geistliche Konsequenz, den ewigen Tod anspielt, relativiert er die geistliche Ordnung durch die behauptete Überwertigkeit des seelisch-leiblichen Glücks, das aber gerade nicht êweclîch sein kann. So sind weder soziale oder moralische noch geistliche oder erotische Ordnungssysteme als verbindliche gegeben. Mit Haas spreche ich daher von einem »Beweis der Kontingenz«.22 (3) Die dritte Stelle ist die Isolde-Weißhand-Episode und Tristans Verunsicherung durch die Namensgleichheit von ursprünglich drei Frauen – seiner Heilerin, also der Mutter seiner Geliebten, der blonden Isolde von Irland 21 Haug, ebd., S. 579 spricht von der »das Ich aufhebenden, erlösenden Hingabe an das Du«. Dabei könnte er sich auf das syntaktische Identitätstauschspiel in den Versen 129 f. und die Aussagen Isoldes V. 18339 ff. sowie 18503 ff. beziehen. Von Erlösung ist dort zwar nicht die Rede, aber von leben und sterben in wohl hyperbolischem weltlichem Sinn. Die Vereinigung der Liebenden im Tode als Ziel ihres Strebens aus den mittelalterlichen Tristanromanen herauszulesen, wie es Gaunt, Simon, Love and Death in Medieval French and Occitan Courtly Literature. Martyrs to Love, Oxford 2006, S. 116 für Thomas tut, halte ich für eine Rückprojektion von Wagners Liebeskonzept in Tristan und Isolde. Die Bedeutung von Tod und Sterben an unserer Stelle ist bewusst ambivalent. Ob allerdings eine sexuelle Amphibolik anzusetzen ist, bleibt zweifelhaft, obwohl sie in antiken Texte vorkommt: Pichon, René, Index verborum amatoriorum, Paris 1902 weist für mori in der Bedeutung voluptas eine Stelle bei Properz (I,X,5) nach; Adams, J. N., The Latin Sexual Vocabulary, London 1982 verweist S. 159 auf die Metapher ›dying‹ »used of either or both partners in intercourse« bei Apuleius, Metamorphosen Lib. II,17, 2 (ähnlich 17, 3), Petronius 79.8, 5; ob Stellen bei Ovid so gelesen werden dürfen, ist umstritten. Unter den mittellateinischen Autoren ist Serlon de Wilton (hg. v. Jan Öberg, Stockholm 1965) Gedicht M, S. 83 zu nennen. Für Andreas Capellanus, der sonst mit entsprechender Doppeldeutigkeit nicht spart, ist eine Amphibolik für moriri nicht nachweisbar; vgl. Bowden, Betsy, The Art of Courtly Copulation, in: Medievalia et humanistica N. S. 9 (1979), S. 67–85; Enright, Dennis J. (Hg.), Fair of Speech. The Uses of Euphemism, Oxford 1985; Roy, Bruno, André le Chapelain, ou l’obscénité rendue courtoise, in: Ernstpeter Ruhe und Rudolf Behrens (Hgg.), Mittelalterbilder aus neuer Perspektive, München 1985 (Beiträge zur Romanischen Philologie des Mittelalters 14), S. 59–74; Leupin, Alexandre, Barbarolexis. Medieval Writing and Sexuality, Cambridge, Mass. 1989; ferner die Beiträge in: Ziolkowski, Jan M. (Hg.), Obscenity. Social Control and Artistic Creation in the European Middle Ages, Leiden u. a. 1998 (Cultures, Beliefs, and Traditions 4). Wann die in der Renaissancelyrik häufige erotische Bedeutung von morir, to die usw. entsteht, konnte ich nicht herausfinden. 22 Haas, Todesbilder (Anm. 19), S. 165.
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und der weißhändigen von Karke. In einem Abschnitt von 45 Zeilen kommt mehr als 25 Mal der Name Isôt vor. Er meint hier zwei verschiedene Personen; aus Isolde, der Weißhändigen, ist die blonde Isolde geworden: was den Stempel ›Isolde‹ trägt, dem will er Liebe und Ergebenheit entgegenbringen. Die Treue zum Namen ist die Treulosigkeit gegenüber der Person, den Personen, denn Tristan betrügt letztlich beide Isolden. Liebestreue und Liebesverrat fallen in eins. Wenig später bricht Gottfrieds Roman ab; ich habe keinen Zweifel daran, dass es äußere Gründe waren, die dazu führten. Er wäre seiner Quelle, Thomas von Britannien, sicher weiter gefolgt. Er verfügte über eine vollständige Handschrift, denn Momente aus dem Epilog des Anglonormannen sind in den Prolog integriert, Aspekte des Statuensaals in die Minnegrotte.23 Das unvollständige Akrostichon verweist ebenfalls auf einen ungewollten Abbruch und die Formulierung: lesen (in der Bedeutung von Lektüre und lectio) von Leben und Tod der Liebenden im Prolog verweist auf deren biologisches Ende als Schluss des Romans. Der Tristan wäre also zwar final, aber dennoch Kontingenz evozierend erzählt. Er hätte von dem keuschen Beilager Tristans und der Weißhändigen berichtet, von Tristans zweiter Giftwunde, seinem Sterben in Verzweiflung und Isoldes Liebestod. Vermutlich hätte er den Liebenden die symbolische Vereinigung im Jenseits durch das Pflanzenwunder von sich verschlingender Rose und Weinrebe und damit die Aufhebung von Kontingenz in der Transzendenz ebenso verweigert wie seine Vorlage. Vielleicht wäre auch abschließend Thomas’ Aussage von den engins d’amur (V. 3144), den »trügerischen Eigenschaften der Liebe« gefallen.24 Die Ambivalenz, die Kontingenz der Liebe erfahrbar zu machen, war ja das Bestreben des Erzählers.
2. Topik als Kontingenzsignal In einem zweiten Durchgang beschäftige ich mich mit der uneigentlichen Verwendung eines klassischen Topos, des locus amoenus, an zwei Stellen: bei Markes Maifest sowie der Umgebung der Minnegrotte, im wunneclîchen tal. König Marke hat ein Fest anberaumt, auch er ist ein meienbaere man, wie Wolfram von König Artus sagt (Parzival, V. 281,16). Der Erzähler führt das ganze Inventar des locus amoenus auf: Vögel, Blumen, Sonne und Schatten, Linden am Brunnen, grünes Gras, blühende Bäume… Die Herrlichkeiten 23 Mertens, Volker, Bildersaal, Minnegrotte, Liebestrank. Zu Symbol, Allegorie und Mythos im Tristanroman, in: PBB 117 (1995), S. 40–64. 24 Le Roman de Tristan par Thomas, hg. von Joseph Bédier, Paris 1902 (Société des anciens textes français).
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der Natur spiegeln sich allerdings in den Augen der Betrachter, sie sind nicht objektiv gegebene, sondern subjektiv wahrgenommene. Indem der Erzähler den Topos bricht, überführt er ihn aus der Kulisse, dem topischen Rahmen des Festes, in subjektive Stimmung, macht er aus ihm Erfahrung. Ich lese die Szene als poetologische Chiffre für den Roman selbst: nicht nur für die Fiktionalisierung (wie Walter Haug25), sondern für Subjektivierung und für Kontingenz. Der Topos fällt sozusagen aus der kosmologischen Ordnung heraus in das Auge des Betrachters, der keine Kohärenz herstellt, herstellen kann. Mit gutem Grund steht nämlich Markes Maifest am Beginn der Liebesgeschichte von Riwalin und Blanscheflur, die diejenige Tristans und Isoldes präfiguriert. Während im Minnesang der locus amoenus für die Utopie der glücklichen Liebe steht, wird hier die Liebe die Krankheit zum Tode – für die Eltern wie für den Sohn. Der zweite locus-amoenus-Topos findet sich im Zusammenhang mit dem Minnegrotten-Exkurs. Er ist hier mit dem sogenannten Tempe-Motiv verbunden, der Situierung des locus amoenus in umgebender Wildnis. Die Verbindung zum im ersten Fall nur implizierten arthurischen Pfingstfest wird durch Namensnennung ausdrücklich hergestellt (daz der sælige Artûs / nie in dekeinem sînem hûs / sô grôze hôchgezît gewan, V. 16865–16867); die topisch gezeichnete Natur wird nicht mehr nur subjektiviert, sondern anthropomorphisiert: linde reimt auf ingesinde (V. 16885 f.), die Aue ist der Hof. Sie gibt den Rahmen für die Beschäftigungen der Liebenden, die in der Erzählung unglücklicher Liebesgeschichten nach Ovid ihren Höhepunkt erreicht. Tristan und Isolde sind sowohl Produzenten wie Repräsentanten und Rezipienten der senemaere, vereinen also Autor, Figuren und Publikumsposition. Ganz so ist sie an der bereits zitierten Stelle im Prolog dargestellt: der edele senedære der minnet senediu mære. […] ich wil in wol bemæren von edelen senedæren. (V. 121 f.; 125 f.)
»Der edle Liebende liebt Liebesgeschichten. […] Ich werde ihm von edlen Liebenden schön erzählen« – von Tristan und Isolde. Im Idealfalle konvergieren Autor, die Protagonisten und Publikum. Der Autor wird deshalb in der Minnegrottenpassage selbst zur Figur der Erzählung, explizit bezieht er die Höhle zusammen mit Tristan und Isolde: Ich war dort, sagt er: Diz weiz ich wol, wan ich was dâ (V. 17104). Vorher hat der Erzähler auch sein Publikum in die Höhle geholt: wir kaphen allez wider berc / und schouwen 25 Haug, Âventiure (Anm. 8), S. 561 f.
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obene an daz werc (V. 16957 f.). Die Beschäftigung des Paares mit den Liebesgeschichten zieht das gemeinsame Musizieren und andere kulturelle unmüezekeit nach sich. Dass von der körperlichen Liebe in der Grotte nicht ausdrücklich die Rede ist, darf nicht zu ihrer Leugnung führen: Sie bleibt präsent im Zentrum des Grottenzentralbaus, als kristallenes Bett. Anders aber als der lectulus Salomonis in der Hoheliedauslegung ist es nicht Chiffre des Körperlichen, sondern konkreter Ort der Sexualität. Der Autor expliziert diese ferner in einzelnen unio-Formulierungen, wenn er davon spricht, dass dort man bî wîbe und wîp bî manne (V. 16908 f.) sind. Ferner in dem Mechanismus von Schloss und Schlüssel der ehernen Tür, der auf die ethischen Bedingungen der sexuellen Vereinigung auszulegen ist, wenngleich nicht auf ihre Physiologie (wie man getan hat26). Es fällt hier ein literarisch bedeutungsvoll aufgeladenes Stichwort, das von der rehten güete, die zum erotischen Ziel führt (V. 17056): Im Iwein-Prolog Hartmanns von Aue benennt rehte güete (V. 1) das Streben nach Glück und Ansehen, hier aber das nach der gemeinsamen Lust, wer mit rehter güete nach Liebe streben kann, den führt die Klinke zu goldenem Erfolg und Liebesglück. Gottfried verwendet hier nicht zufällig den Terminus (liebe[]) âventiure (V. 17061) und stützt damit den angeführten intertextuellen Bezug zum arthurischen Roman. Doch über die körperliche Liebe sind die unkörperlichen Tugenden und der Aufschwung in die höheren Regionen erreichbar. Im Unterschied zu Wolfram von Eschenbach ist Gottfried von Straßburg kein großer Verbalerotiker – wenn man etwa die Tagelieder oder den Willehalm zum Vergleich heranzieht. Der Erzähler des Tristan geht bei der Darstellung der ersten Liebesvereinigung nicht nur mit höfischer Diskretion, sondern sogar mit erstaunlicher Konventionalität vor. Er benutzt die gängige Heilungsmetaphorik und das Oxymoron der süßen Fessel: Minne, diu strickærinne / diu stricte zwei herze an in zwein / mit dem stricke ir süeze inein (V. 12180–182) – »die Verknüpferin Liebe fesselte ihrer beider Herzen mit dem Band ihrer Süßigkeit aneinander«, heißt es. Das ist kaum auf der sonstigen Höhe Gottfriedscher Poesie, wie er sie bei der Darstellung entstehender Liebe oder in der Abschiedsszene erreicht. Diese Schlüsselszenarien weisen besondere emotionale Intensität und Komplexität auf. Die Darstellung der Lust hingegen scheint ihn nicht herauszufordern. Er vermeidet sie in der Liebestrankszene sogar durch einen Wechsel der Diskursebene. Die sogenannte ›Bußpredigt der Minne‹ füllt die Zeit der gemeinsa26 Nellmann, Eberhard, Der Türverschluß der Minnegrotte (Tristan 19989–17061), in: Anna Keck und Theodor Nolte (Hgg.), Ze hove und an der strâzen. FS Volker Schupp, Stuttgart und Leipzig 1999, S. 305–310. Betz, Werner, Gottfried von Straßburg als Kritiker höfischer Kultur und Advokat religiöser erotischer Emanzipation, in: Alois Wolf (Hg.), Gottfried von Straßburg, Darmstadt 1973 (Wege der Forschung 320), S. 518–525 scheint mir angesichts der Möglichkeiten der sexuellen Amphibolik in lateinischen Texten nicht völlig widerlegt, vgl. die in Anm. 21 angeführten Titel, v. a. Bowden, Art, S. 72 f.
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men Lust.27 Sie wird in dem Lobpreis der Wirkungen der Liebe auf muot und herze reflektierend gebrochen dargestellt und im Tadel der falschen Minne sogar ex negativo beleuchtet. Da Wolfram in den Tageliedern und im Willehalm zeigt, dass sexuelle Nähe durchaus poetisch darstellbar ist, kann Gottfrieds Vorgehen nicht mit höfischen Zurückhaltungspostulaten erklärt werden. Von meiner These her gesehen dürfte auch eine poetische Positivierung der Lust nicht stattfinden, denn ihre Ambivalenz – love hath a bitter taste – muss gewahrt bleiben. Es stellt sich die Frage, ob die Minnegrotte auch unter Kontingenz fällt, oder ob sie zeit- und ortloser Zustand der Liebeswahrheit ist, ein »utopisches Gesamtmodell rechter Minne«, wie Tomasek behauptet.28 Die Grotte ist selbstverständlich ein literarisches Konstrukt aus locus-amoenus-Topos, Tempemotiv und Allegorese, keine gesellschaftliche Wirklichkeit, weder textintern und erst recht nicht textextern so verstehbar. Allerdings ist sie trotz ihres literarischen Charakters der Zeit unterworfen und damit kontingent: Die Liebenden leben nach Stundenplan – Spaziergang, Literatur und Musikstunde – und auch außerhalb vergeht die Zeit kontinuierlich. Nicht nur Liebende werden dorthin entrückt, selbst Markes Jäger kann die Grotte entdecken. Sie ist ein temporäres Exil, in dem zwar eine Binnenordnung herrscht, jedoch Merkmale der Kontingenz bleiben: die unglücklichen Liebesgeschichten, die Tristan und Isolde einander erzählen und die unverzichtbar auch im utopischen Glücksraum sind. Und die vorsorgliche Negierung der Liebesgemeinschaft: Als sie befürchten müssen, entdeckt zu werden, legt Tristan das Schwert zwischen sich und Isolde und passt sich der Außenwelt scheinbar an. Nur als kontingente ist Liebe vermittelbar – und damit bin ich bei meiner dritten Beispielreihe, die sich auf Prologe und Exkurse stützt und wo ich wiederum drei Textstellen bespreche.
3. Empathische Rezeption (1) Der Prolog29: Zu Beginn wird im strophischen Teil die Bedeutung der richtigen Rezeption als Kardinalpunkt ausgeführt. Die erwünschten Leser sind die edelen herzen (V. 47), die eine große Spannweite des Empfindens haben, Freude und Leid zu ertragen bereit sind. Erst in V. 97 enthüllt der Autor 27 Hübner, Gert, Erzählformen im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im Eneas, im Iwein und im Tristan, Tübingen und Basel 2003 (Bibliotheca Germanica 44), S. 351. 28 Tomasek, Utopie (Anm. 4), S. 168. 29 Der Prolog ist schon oft interpretiert worden, ich verzichte daher sowohl auf eine Auseinandersetzung mit Vorgängern wie auf Verweise auf Übereinstimmungen.
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seinen Gegenstand, eine Liebesgeschichte: »Ein Buch für Liebende«.30 Seine Lektüre steigert die Liebesfähigkeit. Der Erzähler beglaubigt diese These mit einem emphatisch, aber nicht singulär formulierten argumentum ab auctore: ich weiz ez wârez als den tôt / und erkenne ez bî der selben nôt (V. 119 f.) – »ich weiß es so wahr wie den Tod und erkenne es an demselben Schmerz«. Die Wahrheit, von der er spricht, ist eine Erfahrungswahrheit, nicht die Wahrheit irgendeiner Lehre, auch nicht die eines Exemplums. Es ist eine subjektive Lehre. Jetzt erst, V. 130, fallen die anstößigen Namen: Tristan, Isolde. Anstößig sind sie, weil es berühmte Ehebrecher sind, die Gottfrieds Vorgänger Eilhart nur durch den Zwang des Trankes entschuldigen konnte und die im Minnesang, etwa bei Bernger von Horheim und Heinrich von Veldeke,31 als Exempel einer unkontrollierten Leidenschaft gelten. Nach dem Entwurf eines Rezeptionsmodus wendet sich der Autor der Produktionsseite zu und zeigt sich selbst als abwägender Rezipient, also als Idealfall eines solchen. Das Verhältnis des Autors zu seiner Quelle ist ein Modell einer einerseits kritischen, andererseits bejahenden Lektüre: Allein Thomas von Britannien berichtet das Richtige und die Wahrheit von Tristan. Das ist eine andere Wahrheit als die des Exempels, es ist die Wahrheit der Erzählung, die im Verlauf des Romans immer wieder einmal beschworen wird: Es ist damit auch die Wahrheit des Autors, der der Erzählung in ihrem Geiste etwas hinzufügen kann, obwohl es nicht so in der Quelle steht.32 Die Wahrheit der schriftlichen Quelle ist nur die Voraussetzung für die von den Lesern erwartete Wahrheit der Erfahrung. Die im Prolog benutzte und viel diskutierte Brotmetapher33 hat den Vermittlungsprozess zwischen beiden Wahrheiten zum Gegenstand. Die Erzählung ist ›wie Brot‹, also geistige Speise. Das ›Essen‹ von Büchern ist ein geläufiges Bild, ihm verdankt der Theologe Petrus Comestor sive Manducator seinen Beinamen. Darüber hinaus wird auf die Eucharistie angespielt; ihr Genuss in der Kommunion bedeutet die subjektive Anverwandlung der Heilsgeschichte, der unblutigen Erneuerung des Opfertodes
30 So der Untertitel von Goethes Wahlverwandtschaften, ein Text dessen Schluss durch den Tristanroman beeinflusst ist, vgl. Mertens, Volker, Der Tristanstoff in der europäischen Literatur, in: Wagnerspectrum (2005), Heft 1, S. 11–42. 31 Vgl. Mertens, Volker, Intertristanisches. Tristanlieder von Chrétien de Troyes, Bernger von Horheim und Heinrich von Veldeke, in: Johannes Janota (Hg.), Kultureller Wandel und die Germanistik in der Bundesrepublik. Vorträge des Augsburger Germanistentages 1991, Tübingen 1993, S. 39–55; Nicola Zotz, Integration courtoise. Zur Rezeption okzitanischer und französischer Lyrik im klassischen deutschen Minnesang, Heidelberg 2005 (Germanisch-romanische Monatsschrift 19). 32 Zum Beispiel im Fall der Stärke Morolts: swie daz doch nie kein man gelas / an Tristandes mære, / ich mache ez doch wârbære (V. 6878–80). 33 Willms, Eva, Der lebenden brôt. Zu Gottfrieds von Straßburg Tristan 238, in: ZfdA 123 (1994), S. 19–44.
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Jesu in der Eucharistiefeier.34 Damit ist vornehmlich der Rezeptionsmodus angesprochen, nicht notwendig eine Sakralisierung des Lebens und Sterbens der Liebenden analog zu Jesus. Es geht bei der Eucharistie um eine gemeinsame Teilhabe an der Wirkung von Jesu Heilshandeln; gerade so sollen auch die edelen herzen der Verdienste Tristans und Isoldes teilhaftig werden. Verdienste können aber nur namhaft gemacht werden, wenn die Liebe als Binnenphänomen zwischen ihnen gesehen wird, die vielbeschworene triuwe der Liebenden gilt nur in diesem Raum.35 Es geht hier also nicht um eine Exemplarität, die Nachahmung einforderte, sondern um ein Mitfühlen des Fühlens. Die dadurch erzielte Steigerung der Gefühlsintensität ist die Voraussetzung der Liebesfähigkeit und sie soll durch die Lektüre des Romans induziert werden. Die Liebesfähigkeit schließt das Sexuelle ein, das im Rahmen der Gefühlswahrheit keiner eigenen Rechtfertigung bedarf. Diese Wahrheit wird performativ erzeugt, d. h. durch den lesenden Nachvollzug der erzählten Geschichte. Ein Beispiel aus dem Roman lässt sich als poetologische Chiffre dafür lesen. Blanscheflur zeigt die sympathetische Rezeption als Modellfall: wan swaz ich allen mînen lîp / umbe rehte minnendiu wîp / und umbe liebe hân vernomen, / daz ist mir in mîn herze komen: / der süeze herzesmerze, / der vil manes edele herze / quelt mit süezem smerzen, / der liget in mînem herzen (V. 1067–1074) – »was ich in meinem ganzen Leben von richtig liebenden Frauen und von Liebe je gehört habe, das ist (jetzt) in mein Inneres gekommen: der süße Herzensschmerz, der so viele edle Herzen mit süßem Schmerz peinigt, der liegt in meinem Herzen.« Die Liebesgeschichten, die sie gehört hat, ermöglichen ihr, die eigenen Gefühle zu erkennen und zu intensivieren – aber nicht, sie zu bewältigen oder zu ordnen. Insofern ist ihr Verhalten ein Spiegel des vom Autor intendierten Rezeptionsmodus. Die auserzählten Liebesgeschichten von Riwalin und Blanscheflur sowie von Tristan und Isolde, die lediglich evozierten von Dido, Phyllis und Byblis vermitteln keine Lehre. Der Autor spricht ausdrücklich nicht von der Nachahmung der Tugenden triuwe, staete und êre (V. 177–186), sondern von dem Gefühl, dass den Lesern diese Eigenschaften lieb werden. Denn von triuwe, staete und êre im Sinn des höfischen Tugendsystems kann ja im Roman nicht die Rede sein. Das Mit-Erleiden der Liebesgeschichte macht den Rezipienten allerdings fähig, tugendhaft zu sein, es vermittelt die Disposition, aber nicht die edlen Eigenschaften selbst. Der Tristanroman enthält also keine narrative Ethik.36 34 In der Eucharistietheologie der Zeit Gottfrieds wurden zentrale Debatten über die Eucharistie geführt (Innozenz III., Laterankonzil 1215). 35 Vgl. Mieth, Dichtung, Glaube und Moral (Anm. 3). 36 So nach dem Untertitel von Mieths Arbeit (Anm. 3).
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Diese Poetik einer performativ erzeugten Emotionalität hat ihre Wurzeln im zeitgenössischen religiösen Diskurs, in den über Kontemplation generierten Gefühlsprozessen, die zur affektiven Erkenntnis führen sollen. Man hat im Zusammenhang mit Gottfrieds Tristan auf Bernhard von Clairvaux und die Viktoriner37 verwiesen, es lässt sich jedoch generell im 12. Jahrhundert eine Aufwertung affektiver geistlicher Dispositionen erkennen, der bis in die deutschsprachige Predigt durchschlägt.38 Die Konsequenz, daraus ein poetologisches Konzept zu machen, ist jedoch Gottfrieds eigene Leistung. Allerdings sei nicht vergessen, dass schon Gottfrieds Vorgänger Hartmann die Rezeption des Werkes als ästhetische Erfahrung in den Prologen zum Gregorius und Iwein thematisiert hat.39 Diese ist bei ihm jedoch nur der Weg zur Übernahme ethischer und religiöser Haltungen, wobei für erstere im Iwein schon die eher vage Formel von der rehten güete, der Angemessenheit, eintritt, die auf Gottfrieds Ambiguisierung vorausweist. Es bleibt im Hinblick auf den Sinn des Romans allerdings die Frage, ob durch den Tod der Liebenden Kontingenz in Ordnung überführt wird – nicht im Sinn einer Strafe, sondern der Gründung einer Gemeinde der edelen herzen, analog zur Wirkung des Opfertodes Jesu. Da der Schluss ja nicht mehr ausgeführt ist, bleibt eine solche Annahme spekulativ. Wenn man von Gottfrieds Vorlage ausgeht, spricht jedoch alles für einen kontingenten Schluss. Tristan stirbt bei Thomas an einer bei banalen Abenteuern empfangenen Giftwunde, stirbt aus Enttäuschung, dass Iseut nicht kommt, wie er glaubt, glauben muss. Der Zufall, dass Iseuts Schiff von widrigem Wetter aufgehalten wurde, verhindert eine mögliche Heilung. So ist auch ihr Liebestod letztlich zufällig, weder bewusstes Opfer zur Entsühnung und damit zur Kontingenzbewältigung, noch Martyrium,40 ist kein Gründungsakt einer Liebesreligion, kein innerweltlicher Gegenmythos zum Leiden Christi, kein Kontrafaktum der christlichen Religion. Die Funktion der Lebens- und Liebesgeschichte für die edelen herzen ist nicht die heilsstiftende memoria einer exemplarischen Vita, sondern die imaginatio, die Steigerung der Seelenkräfte durch das ›Einbilden‹ der Gefühle der Protagonisten. 37 Vgl. Schwietering, Julius, Der Tristan Gottfrieds von Straßburg und die Bernhardische Mystik, in: Ders., Philologische Schriften, hg. von Friedrich Ohly und Max Wehrli, München 1969, S. 362–384; Baumgartner, Dolores, Studien zu Individuum und Mystik im Tristan Gottfrieds von Straßburg, Göppingen 1978 (GAG 259); Haug, Sündenfall (Anm. 8). 38 Vgl. Mertens, Volker, Das Predigtbuch des Priesters Konrad. Überlieferung, Gestalt, Gehalt und Texte, München 1971 (MTU 33), S. 117 f. 39 Vgl. Mertens, Volker, Imitatio Arthuri. Zum Prolog von Hartmanns Iwein, in: ZfdA 106 (1977), S. 350–358; Haug, Walter, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Eine Einführung, Darmstadt 21992. 40 Vgl. Kasten, Ingrid, Martyrium und Opfer. Der Liebestod im Tristan, in: Friederike Pannewick (Hg.), Martyrdom in Literature, Wiesbaden 2004 (Literaturen im Kontext 17), S. 245–256.
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In der Außenperspektive ist das Erzählte kontingent, es lässt sich bei aller Wertzusprache für positive Affekte nicht mit einer Tugendlehre vermitteln. Diese Kontingenz kann, wie gesagt, nicht programmatisch ausgesprochen werden, da das bereits eine Einordnung voraussetzen würde. Die einzige Möglichkeit ist das Aufscheinen, Sichtbarwerden, die Emergenz der Kontingenz, wofür ich Beispiele gebracht habe. Kontingenz ist umfassend und grundsätzlich, bedeutet nicht, dass die Abwesenheit von Sinn diesen ex negativo hervorbringt, etwa dass die irdische Liebe in ihrer Unvollkommenheit die vollkommenere göttliche provozierte. Sinn ist, wie der Prolog deutlich sagt, nur im Prozess der Rezeption als empathisches Empfindungserlebnis zu haben. Die Exkurse sprechen, wie ich an der Minnegrotte gezeigt habe, die gleiche Sprache. Sie sind nicht Orte der Utopie im Kontrast zur Kontingenz der erzählten Geschichte, sondern sie tragen zur Ambiguisierung bei. Das gilt nicht nur, weil man sie nicht isolieren sollte, sondern weil sie selbst Zwiespältiges entwerfen – in der sogenannten Bußpredigt der Minne nach dem Liebesgeständnis, die Rausch und Traurigkeit vereint, dem Preis der rechten Frau, der mir zu den Exkurselementen zu gehören scheint, die (mit Rüdiger Schnells Typologie) eher als leserbezogen, didaktisch-gnomisch, denn als programmatisch anzusehen sind.41 Die Ganzheit des Werkes ist dennoch gegeben – aber nicht in einer Programmatik, sondern in dem, was man mit Nietzsche gern das ›Artistische‹ nennt, im vereinheitlichenden Umgang mit der Sprache, die Kohärenz auf der Ebene ihrer formalen Verwendung stiftet. Die sprachlich-poetische Gestalt zeigt die Kontingenzkompensationskompetenz42 des Autors, sie ist jedoch nicht ästhetischer Solipsismus, sondern zielt, wie gesagt, auf eine Poetik der Emotionalisierung, die Kontingenz erfahrbar macht. (2) Schwertleite und Literaturexkurs: Im Unterschied zu Markes MaifestTopik verweigert Gottfried die Erwartungseinlösung bei Tristans Schwertleite. Mit scharfer Polemik gegen die Abgebrauchtheit des Formelinventars lehnt er die topische Beschreibung von Tristans Kleidung ab. Er setzt stattdessen zur Literaturschau an, die durch die Verwendung von Textilmetaphorik auf die Leerstelle verweist, die sie ausfüllt; auch die Bezeichnung der Nachtigall Walthers als kamerærîn (V. 4809) gehört in diesen Bildbereich: Sie ist für die Kleidung zuständig. Die Erzählung bricht mit der Binnentradition konventioneller Topik und der Autor springt auf eine andere Referenzebene: die zeitgenössischen Erzähler und Lyriker (von denen er fünf 41 Schnell, Rüdiger, Suche nach Wahrheit. Gottfrieds Tristan und Isold als erkenntniskritischer Roman, Tübingen 1992 (Hermea N. F. 67), S. 15 f. 42 In Abwandlung eines Terminus von Odo Marquardt, Inkompetenzkompensationskompetenz, in: Philosophisches Jahrbuch 81 (1974), S. 341–349, hier S. 341.
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nennt und auf einen sechsten, sicherlich Wolfram von Eschenbach, mit hinreichender Deutlichkeit anspielt43). Der Aufnahme Tristans in die Tradition des Ritterstandes durch das Ritual der Schwertleite entspricht die Konstruktion einer Literaturszene mit dem Ritual der Dichterkrönung. Während jedoch die Schwertleite ein reales soziales Ritual ist, handelt es sich bei der Auszeichnung des poeta laureatus um eine Fiktion. Sie verweist implizit auf die Fiktionalität des Erzählten insgesamt. Realität in der Dichtung ist immer Literatur. Das klingt banal, ist es aber nicht. Denn davon handelt auch der Prolog, der beteuert, dass das Gute nur durch die Rezeption existiert, also nur in Augen und Ohren des Publikums lebt. Eine von der ästhetischen Vermittlung unabhängige Exemplarität gibt es also nicht. Damit setzt sich Gottfried von der zeitgenössischen Beispielästhetik ab, wie sie z. B. Thomasin von Zirclære propagiert. An der bekannten Stelle, wo er von der Lektüre höfischer Romane spricht, heißt es: Juncherren suln von Gâwein hoeren, Clîes, Êrec, Îwein, und suln rihten sîn jugent gar nâch Gâweins reiner tugent. Volgt Artûs dem künege hêr, der treit iu vor vil guoter lêr. (V. 1041–1046)44
»Junge Adlige sollen von Gawein hören, [von] Cligés, Erec, Iwein und sollen ihre Jugendzeit auf Gaweins vollkommene Vorbildlichkeit ausrichten. Folgt dem edlen König Artus, der verkörpert sehr gute Lehren für euch.« Thomasin spricht (wie Horst Wenzel45 feststellt), als ob es sich bei den Genannten um lebende Personen handelte. Sie sollen als Identifikationsgestalten zum rechten Handeln anleiten. Den literarischen Status seiner Figuren hingegen reflektiert schon Hartmann von Aue, wenn er im Iwein-Prolog zwischen den Werken der Artusritter und der Erzählung unterscheidet, die Exemplarität vermittelt: dâ uns noch mit ir mære / sô rehte wol wesen sol: / dâ tâten in diu werc vil wol – »wo es uns mit ihren Geschichten so richtig gutgehen soll – damals ging es ihnen mit den Taten gut« (V. 56–58).46 43 Vgl. Geil, Gerhild, Gottfried von Straßburg und Wolfram von Eschenbach als literarische Antipoden. Zur Genese eines literaturgeschichtlichen Topos, Köln und Wien 1973. 44 Der welsche Gast, hg. von Heinrich Rückert, Quedlinburg und Leipzig 1852. 45 Wenzel, Horst, Imaginatio und Memoria. Medien der Erinnerung im höfischen Mittelalter, in: Aleida Assmann und Dietrich Harth (Hgg.), Mnemosyne. Formen und Funktion der kulturellen Erinnerung, Frankfurt am Main 1991 (Fischer Wissenschaft 10724), S. 57–82. 46 Text und Übersetzung nach: Hartmann von Aue, Gregorius. Der arme Heinrich. Iwein, hg. und übers. von Volker Mertens, Frankfurt am Main 2004 (Bibliothek des Mittelalters 6).
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Volker Mertens
Gottfried radikalisiert die Position Hartmanns, der nicht ohne Grund im Literaturexkurs als poeta laureatus fungiert: Nicht die (problematische) Vorbildlichkeit der Liebenden will er vermitteln, sondern den Genuss ihres Schicksals in ästhetischer Dimension. Um dieses Programm scheint es mir auch bei der Schwertleite zu gehen. Der Erzähler inszeniert sich nicht als Propagandist höfischer Rituale, sondern als kritischer Literat. Während er diese Haltung im Prolog auf den Umgang mit den Erzählungen von Tristan im Allgemeinen bezogen hat, ist hier die angemessene literarische Technik in ihrer Entsprechung zum Inhaltlichen entscheidend für die Akzeptanz. Im Prolog geht es zur Hauptsache um Rezeptionsphänomene auf Seiten von Publikum und Autor, in der Literaturschau um Produktionsphänomene. Beide Dimensionen ergänzen einander. Ich kann nur kurz erwähnen, dass Gottfried hier die Funktion der Minnesänger ganz im Sinn seiner empathischen Wirkungsästhetik darstellt: ir stimme ist lûter unde guot, / si gebent der werlde hôhen muot / und tuont reht in dem herzen wol. – »ihre Stimme ist rein und klar, sie schenken der Gesellschaft Freude und machen das Herz liebegeneigt« (V. 4757–4759). Der Minnesang dient der Etablierung und Stärkung einer liebesbereiten und liebesintensiven Lebenshaltung, ähnlich wie der Tristanroman selbst. Wie steht es nun mit Kontingenz im Schwertleite-Abschnitt? Ist die Literaturschau als Bruch inszeniert? Es sind beide Perspektiven möglich, die von Kontingenz und Kohärenz. Beim ersten Lesen oder Hören wirkt die Literaturschau kontingent, als inszenierte Besserwisserei des Autors an einer dafür unerwarteten Stelle der Erzählung. Nachdenken darüber fördert jedoch Kohärenz zu Tage: Der Initiation Tristans in die höfische Gesellschaft entspricht die Initiation des Erzählers in die literarische Tradition. Der Sprung von der Erzählung auf die literarisch selbstreflexive Ebene hat zudem ihre Vorbilder – bei Hartmann im Erec im Fall von Enites Sattel (V. 7426–7766), im Iwein beim Herzenstausch des Protagonisten mit Laudine (V. 2971–3028). Die Tradition ist also nicht nur deskriptiv, sondern auch formal präsent, die Inszenierung des Erzählers als ›Hartmannianer‹ findet auf zwei Ebenen statt. Aus dieser Perspektive ist die hergestellte Kohärenz logisch. Sie betrifft nicht die Geschichte, schon gar nicht die Figuren, sondern das ästhetische Verfahren, kurz: die Wahrheit ist eine rein ästhetische. (3) Kontingenz ist schließlich auch der Begriff, mit dem sich das Gottesurteil über Isolde fassen lässt: Isolde soll das glühende Eisen tragen, sie schwört einen formal wahren, inhaltlich aber falschen Eid. Daraufhin übersteht sie die Eisenprobe unbeschadet. Das entspricht der vorher aufgebauten Erwartung der Leser, dass Gott die Liebenden schützt. Diese ist zweifellos vom Erzähler induziert: einmal in einer eher unreflektierten Sympathie für die bedrängte Frau, dann in der zeitgenössischen Beichtpraxis, die die
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Wahrheit und Kontingenz in Gottfrieds Tristan
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Gewissenserforschung und das individuelle Sündenbekenntnis statt einer kollektiven Beichtformel zur Voraussetzung von Gottes Vergebung machen. Isolde öffnet sich dem genædigen Krist (V. 15549). Allerdings kann von Schuldbewusstsein keine Rede sein: Sie empfindet Angst vor dem Ehrverlust und Schmerz über die zu erwartende Offenlegung des Ehebruchs, bereut die Sündenfolgen, nicht die Sünde selbst. Ihr Gottvertrauen ist also problematisch. Der Erzählerkommentar spricht daher nicht von Vergebung und Gnade, oder gar vom Binnenwert der großen Liebe, sondern von einem mechanisch manipulierbaren Gott: erst allen herzen bereit ze durnehte und ze trügeheit. ist ez ernest, ist ez spil, er ist ie, swie sô man wil. (V. 15745–15748)
»Er steht allen zur Verfügung, ob aufrichtig oder betrügerisch, ob im Ernst oder im Spaß, er ist immer genau so, wie man ihn will«. Damit wird nicht allein das Gottesurteil als Absurdität gekennzeichnet, sondern Kontingenz ausgestellt: Keine der beiden christlichen Kohärenzmöglichkeiten gilt, weder die von Sünde und Gnade noch die von Schuld und Strafe. Auf die Figurenebene und die Struktur kann ich nur kurz verweisen. Die Gebrochenheit von Tristans Charakter durch den Mord an Morgan, von Isoldes durch den Anschlag auf Brangäne ist offensichtlich, um nur die eklatantesten Brüche zu nennen. Die Struktur ist nicht, wie beim Artusroman, zielgerichtet, sondern beruht auf dem prinzipiell offenen Repetitionsprinzip (»Episodizität«47) – v. a. im zweiten Teil: immer wieder ähnliche Listen, die nur kurzfristigen Erfolg versprechen. Wieder und wieder umgarnt Isolde ihren Mann bei ihren bettemæren (V. 14031), wieder wird die endgültige Entlarvung der Ehebrecher aufgeschoben. Eine vergleichbare Repetitionsstruktur gilt auch für die Rückkehrabenteuer bei Thomas, die nur zufällig zu einem Ende kommen.48 Figuren und Strukturen sind also ebenfalls kontingent. Es bleibt noch ein Wort zu sagen zum Thema ›Wahrheit‹. Gibt es eine Wahrheit jenseits der Gefühlswahrheit? Ich meine: ja! Es ist die Wahrheit des transzendentalen Obdachs, das zwar nicht wie in Hartmanns Gregorius für die Figuren und die Geschichte, die Erzählung von Leben und Tod der Liebenden gilt, wohl aber für Autor und Erzählung insgesamt. Das Kontingente ist letztlich in die heilsgeschichtliche Wahrheit extradiegetisch eingeschlossen. Ich halte die Geborgenheit im christlichen Kosmos für vorge47 Warning, Lust an der List (Anm. 2), S. 178. 48 Ebd., S. 206–210.
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geben – die Kontingenz ist somit eine relative, keine absolute. Gerade weil die ›große Ordnung‹ da ist, muss die Erzählung sich so daran abarbeiten, dass sie selbst kontingent wird, werden muss. Ein vorschnelles, letztlich triviales Einverständnis wird verweigert – die Erzählung endet in der Katastrophe. Der Tod bringt keine Ordnung, als biologischer ist er kontingent. Kontingenz aber ermöglicht eine cognitio existentiae humanae experimentalis – die endliche, endgültige Wahrheit bleibt unberührt, allerdings ist sie sehr weit weg. Ein Ausblick zum Schluss. Meine Tristan-Deutung ist anschlussfähig an den aktuellen Emotionalitätsdiskurs.49 Die Darstellung und Erzeugung von Emotionen, nicht die Vermittlung von Werten ist das Ziel des Autors. Seine Verfahrensweisen, wie gefühlshafte Effekte erzeugt werden, bleiben im Einzelnen zu untersuchen. Eines der wichtigen ist der Blick in das Innere der Protagonisten.50 Ich greife dafür noch einmal auf das Gottesurteil zurück. Die Innensicht von Isolde, die Darstellung ihrer Ängste und Hoffnungen erzeugt die Erwartung, es werde schon gut gehen. Eine nos-omnes-peccatores-Solidarität wird geweckt. Ein eher parareligiöser Vergebungsappell an Gott als Schützer der Liebenden scheint zu fruchten. Dann aber zerstört der Kommentar das Gefühl der Geborgenheit: Es ist alles Manipulation, es kommt nur auf die Geschicklichkeit an. Das ist nicht als Kritik an Gottesurteilen inszeniert. Dem Autor scheinen die Wechselbäder der Emotionen zu genügen. Sie appellieren an den Rezipienten. Die Gemeinschaft von Erzähler und Publikum kompensiert für den Augenblick der Rezeption Kontingenz, wenn man des guoten, das geschiht, gedenkt oder besser: sich ihm empathisch öffnet. Der am stärksten Fühlende hat ein edelez herze und ist der ideale Leser von Gottfrieds Tristan. Kontingenzerfahrung ist die Vorbedingung menschlicher Autonomie. Während der klassische Artusroman einen Sozialisationsprozess vorführt und einübt, der Genealogie und Familie verpflichtet bleibt,51 sind die ›genealogischen Analoga‹ Religiosität und Liebe die Gestaltungsmöglichkeiten der Autonomie. Gregorius handelt selbstverantwortlich, als er die ungewollte 49 Vgl. die Arbeiten aus der Schule von Ingrid Kasten: Eming, Jutta, Emotion und Expression. Untersuchungen zu deutschen und französischen Liebes- und Abenteuerromanen des 12. bis 16. Jahrhunderts, Berlin 2006 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 39) und Koch, Elke, Trauer und Identität. Inszenierungen von Emotionen in der deutschen Literatur des Mittelalters, Berlin 2006 (TMP 8). 50 Vgl. Hübner, Erzählformen (Anm. 27). 51 Vgl. die Arbeiten von Brall, Helmut, Gralsuche und Adelsheil. Studien zu Wolframs Parzival, Heidelberg 1983 (Germanische Bibliothek. Reihe 3. Untersuchungen und Einzeldarstellungen N. F.); Delabar, Walter, Erkantiu sippe unt hoch geselleschaft. Studien zur Funktion des Verwandtschaftsverbandes in Wolframs von Eschenbach Parzival, Göppingen 1990 (GAG 518) und grundsätzlich Kellner, Beate, Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter, München 2004.
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Wahrheit und Kontingenz in Gottfrieds Tristan
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Schuld annimmt, so wie Tristan in der besprochenen Stelle nach dem Liebestrank. Beide sind auf je eigene Weise ›Selbstfindlinge‹, weil sie Kontingenz erfahren haben. Zu einem analogen Prozess soll der Hörer und der Leser veranlasst werden. Man darf die ›artistische Emotionalität‹ nicht als elitäres Konzept gegen die religiöse Alternative, wie sie im Gregorius gestaltet ist, ausspielen. Auf diesem Niveau der Selbstfindung ist auch Religiosität elitär. Allerdings konnte sich Hartmann dabei auf Konzepte stützen, die in der zeitgenössischen Theologie diskutiert wurden, wie das der Willensfreiheit. Gottfried kannte diese gut, ihre Spur ist im Tristan zu finden, aber er hat sie weiterentwickelt zu einem innerweltlichen Diskurs.
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Armin Schulz
Kontingenz im mittelhochdeutschen Liebes- und Abenteuerroman
1. Vorbemerkungen Der welte schancz ist wunderlich, / Alle tag so wechselt sy sich – so beginnt Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrlant (V. 1 f.), die mittelhochdeutsche Bearbeitung eines spätantiken Liebes- und Abenteuerromans, in der der Held immer wieder den Wechselfällen eines Geschicks unterworfen ist, das er selbst nur begrenzt beeinflussen kann.1 Schancz meint »fall der würfel«, »würfelspiel«, weiter gefasst »wechselfall, glücksfall, spiel, wagnis, wobei man gewinnen oder verlieren kann«, eine Sache von unbestimmtem Ausgang also, deren Resultat nicht von vornherein festgelegt ist.2 Die mittelalterlichen Minne- und Aventiureromane sind die historischen Erben eines Erzählgenres, das sich durch narratives Ausstellen und Ausspekulieren von Kontingenz geradezu zu konstituieren scheint. Der hellenistische Liebes- und Abenteuerroman hinterlässt der europäischen Erzähltradition ein Strukturmuster, das die Tradition narrativer Großformen bis ins 18. Jahrhundert hinein prägt. Michail Bachtin hat für das topische Intervall zwischen der erzwungenen Trennung und der glücklichen Wiedervereinigung zweier Liebenden den Begriff der ›Abenteuerzeit‹ geprägt. Dieses transitorische Intervall wird durchgängig von scheinbar sinnlosen Zufälligkeiten, von Naturereignissen, Piratenüberfällen, menschlichen Intrigen und 1 Zitierte Ausgaben: Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland nach der Gothaer Handschrift, Gottes Zukunft und Visio Philiberti nach der Heidelberger Handschrift, hg. von S[amuel] Singer, Berlin 1906 [Nachdruck Dublin und Zürich 21967] (Deutsche Texte des Mittelalters 7); Die Gute Frau. Gedicht des dreizehnten Jahrhunderts, hg. von Emil Sommer, in: ZfdA 2 (1842), S. 385–481; Crescentia, in: Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen, hg. von Edward Schröder, Hannover 1892 (MGH. Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbücher des Mittelalters 1/1), V. 11352–12812; Johann von Würzburg, Wilhelm von Österreich, hg. aus der Gothaer Handschrift von Ernst Regel, mit 2 Tafeln im Lichtdruck, Berlin 1906 (Deutsche Texte des Mittelalters 3). 2 Vgl. Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke ausgearb. von Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke, Leipzig 1854–61 [Nachdruck Stuttgart 1990], Bd. 2/2, S. 84 f., Zitat S. 84; ähnlich afrz. chance, vgl. Greimas, Algirdas Julien, Dictionnaire de l’ancien français: le Moyen Âge, Paris 21992 (Trésors du français), s. v., S. 96.
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Kontingenz im mittelhochdeutschen Liebes- und Abenteuerroman
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der Launenhaftigkeit der Götter bestimmt.3 Nur vom Ende her gesehen, wenn die Liebenden wieder zusammenfinden und in die geordnete ›biographische Zeit‹ zurückkehren, zeigt sich, dass dahinter letztlich doch ein lenkendes Schicksal steht: Zweck aller – beliebig austauschbaren und sich nicht zu einer wie immer gearteten ›Entwicklung‹ fügenden – Fährnisse und Widerwärtigkeiten ist es, in einer paradigmatischen Reihe die getrennten und durch die übermächtigen Manipulationen Dritter weitgehend handlungsunfähigen Partner auf die Probe zu stellen, ob sie auch in der Not an ihrer Liebe und ihrer fast allein dadurch bestimmten Identität festhalten.4 Dieser Grundentwurf bleibt im Mittelalter gewahrt und vermischt sich schon in der Spätantike mit dezidiert christlichen Weltdeutungsmustern, so dass das Geschehen mit seinen weitgehend duldend-leidenden Figuren häufig legendarische Züge annimmt. Die lenkende Instanz ›hinter‹ allem ist hier Gott, der die Seinen auf die Probe stellt und zum guten Schluss belohnt. Neben diesem ersten Haupttypus, in dem es um das Schicksal eines bereits verheirateten Paares oder einer ganzen Fortpflanzungsfamilie geht, gibt es auch einen zweiten, in dem eine zunächst heimliche Liebesbeziehung sich nach ihrem Öffentlichwerden in einer langen Zeit der Trennung gegen die Widerstände der Gesellschaft letztlich doch legitime Geltung verschafft.5 Auch hier wird in der Trennungsphase, die zugleich – aber nur für den Mann – eine Abenteuerphase ist, mitunter massiv Kontingenz exponiert; aber auch hier nur, um insgesamt wieder abgewiesen zu werden – um zuletzt die bestehende, feudal-christliche, providentiell verbürgte Ordnung zu bestätigen. Kontingenz wird zugleich ausgestellt und ›durchgestrichen‹. Das Weltbild der Minne- und Aventiureromane wird also von zwei konträren Polen bestimmt, was zu mitunter prekären narrativen Lösungen führen kann.
3 Die ›Abenteuerzeit‹ »ist die spezifische Zeit der Einmischung irrationaler Kräfte in das menschliche Leben«, Bachtin, Michail M., Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, hg. von Edward Kowalski und Michael Wegner. Aus dem Russischen übers. von Michael Dewey, Frankfurt am Main 1989 (Fischer Wissenschaft 7418), S. 19. 4 Ebd., S. 33 f. 5 Vgl. Schulz, Armin, Poetik des Hybriden. Schema, Variation und intertextuelle Kombinatorik in der Minne- und Aventiureepik: Willehalm von Orlens – Partonopier und Meliur – Wilhelm von Österreich – Die schöne Magelone, Berlin 2000 (Philologische Studien und Quellen 161), v. a. S. 45–81.
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2. Sujet und Kontingenz ›Kontingenz‹ bedeutet, dass ein Sachverhalt »weder notwendigerweise besteht […] noch notwendigerweise nicht besteht […], dessen Bestehen also in diesem Sinne vom Zufall abhängt«, d. h. von allem, »was nicht als notwendig oder beabsichtigt erscheint und für dessen Eintreten wir keinen Grund angeben können«.6 Es geht um einen offenen Raum der Möglichkeiten, der auch das Sinnlose umfassen kann, die Unordnung. Mit Jurij M. Lotman gehört die Exposition von Kontingenz zum Erzählen selbst: »Das [narrative] Ereignis wird gedacht als etwas, was geschehen ist, obwohl es auch nicht hätte zu geschehen brauchen«,7 indem eine besondere Figur gegen jede Unmöglichkeit oder gegen jedes Verbot »die Grenze eines semantischen Feldes«8 überschreitet und damit die bestehende sujetlose Ordnung durchbricht.9 Sujethaftes Erzählen steht dabei, so Rainer Warning, »im Zeichen von Sinnbestimmung und also von Kontingenzbewältigung«.10 Obwohl das narrative Ereignis ein »revolutionäres Element«11 im Verhältnis zur anfänglichen Ordnung bildet, kann sujethaftes Erzählen auch eine Ordnung wiederherstellen, die zuerst gestört worden ist. Die Grenzüberschreitung ist durchaus reversibel.12 Überhaupt erscheint die Sujethaftigkeit mittelalterlichen Erzählens in den meisten Fällen auffällig nivelliert. Das heißt vor allem, es ist von Anfang an völlig undenkbar, dass der herausragende Held13 an seiner Aufgabe scheitern könnte. Mit Lugowski zu sprechen: Die ›Hinterweltlichkeit‹ des Geschehens, die durch die jederzeit kenntliche ›Motivation von hinten‹ verbürgt ist, sorgt
6 Wörterbuch der philosophischen Begriffe, begr. von Friedrich Kirchner und Carl Michaëlis, fortges. von Johannes Hoffmeister, vollst. neu hg. von Arnim Regenbogen und Uwe Meyer, Darmstadt 1998, s. v. ›kontingent‹ und ›Zufall‹, hier S. 358 und 751. 7 Lotman, Jurij M., Die Struktur literarischer Texte. Aus dem Russischen übers. von Rolf-Dietrich Keil, München 31989 [Erstdruck 1972] (UTB 103), S. 336. 8 Ebd., S. 332. 9 Vgl. ebd., S. 338. 10 Warning, Rainer, Die narrative Lust an der List: Norm und Transgression im Tristan, in: Ders. und Gerhard Neumann (Hgg.), Transgressionen. Literatur als Ethnographie, Freiburg im Breisgau 2003 (Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae 98), S. 175–212, hier S. 183. 11 Lotman, Die Struktur literarischer Texte (Anm. 7), S. 334. 12 Vgl. ebd., S. 339. Mediävisten denken hier gerne an den ›klassischen‹ Artusroman: »die im Prinzip stabile Grenze zwischen höfischer und unhöfischer Welt, der Held als die Figur, die Bedrohungen dieser Grenze aus dem Außenraum abwehrt, indem er sich in den Außenraum begibt, dort hausende Riesen und Ungeheuer besiegt und nach vollbrachter Tat in die kulturelle Welt zurückkehrt« (Warning, Die narrative Lust an der List [Anm. 10], S. 184). 13 Mit Lotman, Die Struktur literarischer Texte (Anm. 7), S. 338, die »bewegliche Figur […], die das Recht hat, die Grenze zu überschreiten«.
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Kontingenz im mittelhochdeutschen Liebes- und Abenteuerroman
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für eine ›Begrenztheit der Hindernisse‹.14 Da im vormodernen Erzählen die ›Ob überhaupt‹-Spannung hinter der ›Wie‹-Spannung zurücksteht und so das Ergebnis der Handlung auf Grund der Entspannung schon seit einem frühen Stadium der Erzählung gegenwärtig ist, wird die wirkliche ›Entwicklung‹ der Dinge entkräftet, entwertet, wird ihr der Ernst, das Gefährliche, Ungewisse, Zeithafte genommen, sie wird zur bloß physischen Realität, hinter der die ›metaphysische‹ Sphäre zeitlosen Seins im Ergebnis des glücklichen, befriedeten Daseins absolut gesichert ruht.15
Offenbar ist das die literarische Konsequenz eines Weltbildes, das von der unhintergehbaren Grundannahme bestimmt wird, ›über‹ oder ›hinter‹ allem stehe letztlich eine verantwortliche Instanz – Gott selbst. Providenz und Kontingenz bilden im Mittelalter kein gleichwertiges Gegensatzpaar, sondern eine Hierarchie, auch das arbiträr-sinnlose Walten der Fortuna ist einer höheren Ordnung unterworfen. Kontingenz ist, man denke besonders an die Consolatio Philosophiae des Boethius, nur im Kleinen möglich, unterhalb des göttlichen Heilsplans; in der Summe alles Einzelnen jedoch manifestiert sich die göttliche Providenz, auch wenn dies die menschliche Erkenntniskraft übersteigen kann.16 Deshalb ist selbst das vermeintlich Sinnlose grundsätzlich als Prüfung anzunehmen. Dieses Weltbild beeinflusst auch die mittelalterliche Epik, die es grosso modo darauf anlegt, Kontingenz innerweltlich zu bewältigen.17 Wo alles Erzählte im Wesentlichen ein ›Noch nicht‹ ist, wo das Erzählen nur die Entelechie eines ›zeitlosen Seins‹ ist, reicht die Macht des Zufalls nicht sehr weit – er mag im Sinne der ›Wie‹-Spannung ereignishafte Akzidentien auf der Ebene einzelner Episoden bestimmen, aber nicht das Sujet selbst. Entsprechend kann sich der Zufall – wie in der arthurischen Aventiure – letztlich nur als Mittel providentieller Fügung herausstellen. Aber auch grundsätzlich kann narrative Kunst, egal aus welcher Epoche sie stammt, Kontingenz allenfalls thematisieren, simulieren, inszenieren, fingieren, aber nicht ›real werden lassen‹, nicht allein, weil die Ereignisse, von 14 Lugowski, Clemens, Die Form der Individualität im Roman. Mit einer Einleitung von Heinz Schlaffer, Frankfurt am Main 21994 [Erstdruck 1932] (stw 151). 15 Ebd., S. 73. 16 Vgl. Boethius, Trost der Philosophie. Consolatio Philosophiae. Lateinisch / Deutsch, hg. und übers. von Ernst Gegenschatz und Olof Gigon. Eingel. und erl. von Olof Gigon, Düsseldorf und Zürich 51998 (Sammlung Tusculum), v. a. IV, p. 6. 17 Literarische Texte implizieren ein je spezifisches Weltmodell, das Modell einer vollständigen Welt, das unterschiedlich deutlich ausgearbeitet sein kann; es kann die zeitgenössisch kulturell üblichen Klassifikationen abbilden, muss dies aber nicht (vgl. Lotman, Die Struktur literarischer Texte [Anm. 7], S. 311–329).
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denen sie erzählt, fast immer, vom Prozess des Erzählens aus betrachtet, in der Vergangenheit situiert sind. Ereignisse, die sich je für den Augenblick oder aus der perspektivischen Sicht des Erzählers oder der Figuren als hochgradig kontingent und ergebnisoffen präsentieren, erweisen sich durch den bloßen Umstand, dass sie und keine anderen erzählt werden und dass es dann ein Ende gibt, als narrativ sinnstiftend und ordnungstragend, weil sie rückblickend notwendig funktional auf dieses Ende, auf dieses Ergebnis bezogen werden. Erzählen selbst stiftet Sinn, als Gegenpol zur Kontingenz, weil Erzählen immer einen Anfang und ein Ende hat, mag dieser Sinn nun optimistisch oder pessimistisch, eindeutig oder widersprüchlich angelegt sein, mögen der Anfang und das Ende deutlich markiert sein oder ihre Konturen in einer Fragmentform verwischt werden. Zumal in älterer Literatur, die weitgehend dem Prinzip des ›Wiedererzählens‹ (Worstbrock) auf ein bekanntes Ende hin verpflichtet ist, dämmt der bloße Umstand, dass das Erzählen immer ein Ende hat, zuletzt alle Kontingenz wieder ein, auch wenn sie im Detail durchaus deutlich exponiert worden sein kann. Unter diesem Vorbehalt stehen alle folgenden Überlegungen. Der arthurische Doppelweg blendet zwei Zeitsemantiken übereinander, eine teleologische und eine zyklisch-repetitive bzw. iterative. Die teleologische bestimmt die Biographie des Helden, der nur wird, was er werden muss; die zyklische ist seinem Weg abzulesen, auf dem er, der einzig legitime Grenzgänger, die Grenze zwischen dem Höfischen und dem Außerhöfischen immer wieder gegen andere Transgressionen in beide Richtungen restabilisieren muss, um eine ›nichtsujethafte Kollision‹, d. h. das Kollabieren der kulturkonstitutiven Grenzziehung,18 zu vermeiden. Die zyklische Zeitsemantik offenbart sich in einer solchen ›homöostatischen‹ Struktur.19 ›Wiederholung‹ impliziert Regelhaftigkeit.20 Und Regelhaftigkeit dämmt Kontingenz ein. Serielles Erzählen, wie es dann auch die ›nachklassische‹ Epik prägt, wiederholt die immergleichen thematischen Konfigurationen in paradigmatischer Variation.21 Selbst wenn Einzelepisoden je für sich Kontingenz exponieren, gilt das nicht für das Gesamt der Handlung: Ordnung wird regelhaft gestört und ebenso regelhaft restituiert. Mit Warning gesprochen erscheint die Welt im mittelalterlichen Erzählen nicht wie in der 18 Vgl. Warning, Die narrative Lust an der List (Anm. 10), S. 184 f., im Anschluss an Lotman. 19 Vgl. Simon, Ralf, Einführung in die strukturalistische Poetik des mittelalterlichen Romans. Analysen zu deutschen Romanen der matière de Bretagne, Würzburg 1990 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft 66), etwa S. 22. 20 Lugowski, Die Form der Individualität im Roman (Anm. 14), etwa S. 32. 21 Zum ›Erzählen im Paradigma‹ vgl. v. a. den gleichnamigen Aufsatz von Warning, Rainer, Erzählen im Paradigma. Kontingenzbewältigung und Kontingenzexposition, in: Romanistisches Jahrbuch 52 (2001), S. 176–209; Ders., Die narrative Lust an der List (Anm. 10).
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Kontingenz im mittelhochdeutschen Liebes- und Abenteuerroman
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›Abenteuerzeit‹ der hellenistischen Romane als ein Ort ›harter‹ Kontingenz,22 wo Zufälle, die einmal zum Guten, einmal zum Schlechten ausschlagen können, die »Normalität« bilden, sondern lediglich als ein Ort seriell ›weicher‹ Kontingenz, wo Zufälle lediglich einzelne Handlungsereignisse auslösen.23 Ich gebe ein Beispiel für solch eine Reihe, bei der sogar ›weiche‹ Kontingenz beinahe ausgelöscht erscheint: In Konrad Flecks Flore und Blanscheflur erweist sich die Suchfahrt des spanischen Prinzen nach seiner in den Orient verkauften Geliebten als wenig riskant, obwohl die potentiellen Gefahren beständig markiert werden.24 Flore hat in seiner Kaufmannsverkleidung nicht die geringsten Schwierigkeiten, das Mädchen zu finden, weil er ausschließlich an Personen gerät, die zuvor Blanscheflur beherbergt haben; jeder von diesen Stationswirten entdeckt in Flores äußerem Habitus, seiner Physis und den an ihm wahrnehmbaren Affekten zuerst seinen Adel und dann eine zuletzt bis zur Geschwisterlichkeit reichende, massive äußere Ähnlichkeit mit Blanscheflur. Dies bringt den jeweiligen Wirt ungefragt dazu, dem Gast von dem Mädchen zu erzählen und Flore zu eröffnen, wohin Blanscheflur dann gebracht worden sei. Auch hier ist es, wie in vielen anderen Minne- und Aventiureromanen, eine besondere Evidenz des adeligen Körpers, die gegen soziale Kontingenz immunisiert. Ich komme darauf zurück. Der passive Held wird gewissermaßen von Instanz zu Instanz weitergereicht. Dass er sein Ziel verfehlen könnte, ist völlig ausgeschlossen. In diesem speziellen Fall kommt noch hinzu, dass die Prädestination der beiden Liebenden füreinander durch eine abundante Fülle von Merkmalsgleichheiten markiert wird, deren auffälligste die körperliche ist.25 Vor allem, aber nicht allein damit werden die axiologischen Grenzziehungen – der heidnische Königssohn liebt verbotenerweise eine versklavte christliche Grafentochter – verwischt, indem andere Wertbereiche daneben als relevanter gesetzt werden.26 Die Ein-
22 Köhler, Erich, Der literarische Zufall, das Mögliche und die Notwendigkeit, Frankfurt am Main 1993 [Erstdruck 1973] (Fischer Tb. 11928), S. 28. 23 Warning, Erzählen im Paradigma (Anm. 21), S. 182. 24 Vgl. dazu Egidi, Margreth, Der Immergleiche. Erzählen ohne Sujet: Differenz und Identität in Flore und Blanscheflur, in: Matthias Meyer und Hans-Jochen Schiewer (Hgg.), Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. FS Volker Mertens, Tübingen 2002, S. 133–158. 25 Vgl. hierzu ausführlicher Schulz, Armin, Schwieriges Erkennen. Personenidentifizierung in der mittelhochdeutschen Epik, Tübingen 2008 (MTU 135), S. 279–289. 26 Vgl. die radikale These von Egidi, Der Immergleiche (Anm. 24); vorsichtiger Waltenberger, Michael, Diversität und Konversion. Kulturkonstruktionen im französischen und im deutschen Florisroman, in: Wolfgang Harms, C. Stephen Jaeger und Horst Wenzel in Verbindung mit Kathrin Stegbauer (Hgg.), Ordnung und Unordnung in der Literatur des Mittelalters, Stuttgart 2003, S. 25–43.
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dämmung von Kontingenz und die Reduktion von Sujethaftigkeit gehen hier Hand in Hand. Solche Wechselspiele zwischen Exposition und Einhegung von Sujethaftigkeit und Kontingenz gehören genuin zum mittelalterlichen Erzählen. Insgesamt neigt dieses sehr stark dazu, Normabweichungen nur zu exponieren, um sie entweder rückgängig zu machen oder kompromisshaft als bloß scheinbare umzuinterpretieren, indem daneben andere, durch die Abweichung nicht in Frage gestellte Normen als relevanter gesetzt werden.27 Dies betrifft neben Flecks Flore-Roman auch alle anderen Minne- und Aventiureromane. Im eher ›weltlichen‹ Typus – am deutlichsten im Willehalm von Orlens, variiert im Wilhelm von Österreich, in Konrads Partonopier und seinem Engelhard – geht es um eine ständische Mesalliance, die einen landfremden Grafen- oder Rittersohn zum Herrscher über ein Königreich macht.28 Der Held wird durch die Hofgesellschaft von der einzigen Herrschaftserbin getrennt, als er sich ihrer körperlich zu bemächtigen sucht, und muss sie sich erst durch Taten ›verdienen‹, bevor er sie dann mit öffentlicher Zustimmung heiraten und die Herrschaft über ihr Erbland antreten darf. Die öffentliche Legitimierung der Minne und damit auch der Minneehe dämmt die Sujethaftigkeit des Geschehens nicht erst im Augenblick der endgültigen Überschreitung entscheidend ein. Denn diese Tendenz ist von Anfang an auszumachen, indem schon der Grad der Mesalliance reduziert wird, weil der Grafensohn sich zum europäischen Spitzenadel zählen darf und das Mädchen das einzige Liebeshindernis allein in der noch fehlenden Schwertleite des jungen Mannes sieht. In den Texten wird zunächst eine konzeptionelle Konkurrenz zwischen Geburts- und Tugendadel etabliert, in der sich der Tugendadel des Helden letztlich durch seine schiere physische Evidenz öffentlich durchsetzt; in der Konsequenz setzt sich die passionierte Minne gegen die politisch bestimmte feudale Allianzbildung durch. Dabei erweist sich die Minneehe zuletzt als politisch oder heilsgeschichtlich sinnvoller als die alternativ mögliche politische Allianz des Mädchens mit einem ständisch passenderen Partner.29 Solche normativen Kompromisse reduzieren die Sujethaftigkeit des Geschehens erheblich. Das korreliert mit der Eindämmung von Kontingenz. Im hellenistischen Liebesroman werden die Liebespaare im Prinzip zufällig getrennt und nach langer Zeit zufällig wiedervereinigt. Im mittelalterlichen Minne- und Aventiureroman ist dies keineswegs der Fall. Die Trennung ist die kalkulierbare 27 Vgl. dazu Müller, Jan-Dirk, Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur Höfischen Epik, Tübingen 2007, programmatisch S. 43. 28 Ich blende hier die zusätzlichen Erzähllogiken aus, die die Struktur dieser hybriden Texte bestimmen. 29 Vgl. Schulz, Poetik des Hybriden (Anm. 5).
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Sanktion auf das Öffentlichwerden der heimlichen Liebe, und die Wiedervereinigung und damit die ›Einlösung‹ des Sujets wird durch hochrangige gesellschaftliche Instanzen ermöglicht, nachdem der Held sie sich durch Leistung verdient hat. Der Zufall spielt dabei nur noch eine sehr eingeschränkte Rolle. Dies gilt ähnlich auch für den ›frommen‹ Untertypus, in dem das Paar bereits verheiratet ist, als es sich zur Weltflucht entschließt, um ein Bettler- oder Pilgerleben in Armut zu führen, so im Wilhelm von Wenden und in der Guten Frau. Die Trennung zwischen Mann und Frau ist hier Resultat eines Kalküls, die Wiedervereinigung wird vor allem dadurch ermöglicht, dass die Frau trotz ihrer Identitätslosigkeit aufgrund der körperlichen Evidenz ihrer Tugenden woanders zur Landesherrscherin aufgestiegen ist. Die Radikalität der freiwilligen Weltentsagung und der Aufgabe der angestammten adeligen Identität wird auch hier kompromisshaft eingehegt, indem am Ende nicht der Sitz im Himmelreich, sondern die Erhöhung in der Welt steht. Die sujethafte Grenzüberschreitung – das freiwillige Verlassen der Welt der feudalen Repräsentation, der genealogisch bestimmten Identität, der Welt der genealogischen Prokreation – wird zuletzt rückgängig gemacht, sie bildet nur eine transitorische Phase, die letztlich gerade den Erfolg in der höfischen Welt garantiert.30 Mittelalterliches Erzählen tendiert insgesamt intra- und intertextuell zur Reduktion von Sujethaftigkeit: durch zyklisch-homöostatische Erzählarrangements wie im Artusroman; durch die Aufweichung, wenn nicht gar Einebnung axiologischer Differenzen zwischen den sujetkonstitutiven disjunkten semantischen Bereichen; durch die paradigmatische Variation immergleicher Situationstypen bzw. durch ein ›Erzählen im Paradigma‹, bei dem die Verletzung einer Regel in der Erfüllung einer anderen Regel aufgehoben erscheint; durch das offene Zurschaustellen der ›Motivation von hinten‹; oder durchaus analog durch die Schemagebundenheit, die das Erzählte einem erwartbaren Ablauf verpflichtet. Kontingenz wird zumeist nur punktuell, auf untergeordneter Ebene exponiert, um sie letztlich im Sinne der übergeordneten, göttlich vorgegebenen Ordnung zu negieren. Ich möchte dies im Folgenden noch näher ausarbeiten und dabei zeigen, wie solche Muster dann doch an ihre Grenzen stoßen, wie die Versuche, gegen den Einbruch von Kontingenz zu immunisieren, prekär werden, im Sinne einer Kippfigur: Die gleichen Muster können auf der einen Seite Kontingenz einhegen, sie auf der 30 Vgl. hierzu Schulz, Armin, Hybride Epistemik. Episches Einander-Erkennen im Spannungsfeld höfischer und religiöser Identitätskonstruktionen: Die gute Frau, Mai und Beaflor, Wilhelm von Wenden, erscheint in: Peter Strohschneider (Hg.), Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006, Berlin und New York 2009 (Germanistische Symposien-Berichtsbände).
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anderen aber auch massiv ausstellen. Meine Beispiele sind das Konzept des adeligen Körpers, spezifische Kohärenzstrategien und Motivationsfügungen sowie das Motiv des Liebestodes.
3. Ordnungsgaranten: Die physische Evidenz adeliger tugent Folgt man Heinrichs von Neustadt Apollonius-Prolog, so ist es die tugent (V. 3), die den Widerpart zur welte schancz (V. 1) bildet. Das wird mit einer höchst eigenwilligen Deutung von Nebukadnezars Traum aus dem Buch Daniel begründet (Dan. 2). Dort geht es um das Standbild eines goldenen Mannes, der eine goldene Krone trägt, seine Brust ist silbern, der leib was kupfer auff die knye / […] Pleyen warn die schuchpain (V. 31–33) und die Füße irden. Heinrichs Daniel deutet ihn aber nicht wie in der Bibel im Blick auf die vier Weltreiche, sondern legt den gulden man als die pluende jugentt aus, die eine goldene Krone erhalte, wenn sie in grosser tugent heranwachse (V. 68–72). Schwindet diese, wird aus Gold zuletzt Erde, und dann zerstört Gott alles. Es geht um Evidenzen. Tugend – und das meint immer adelige Tugend als Summe der positiven Eigenschaften einer Person – ist sichtbar, sie ist am Körper ablesbar. Dieses Programm wird von der Erzählung eingelöst. Adel gilt in den Minne- und Aventiureromanen insgesamt als eine physische, sichtbare, im Prinzip unzerstörbare Qualität, und er ist auch dann noch am körperlichen Habitus evident, wenn die Figuren ihre angestammte öffentliche Identität verloren haben, wenn sie keine standesgemäße Kleidung mehr tragen oder gar den topischen strahlenden Glanz ihrer Haut verloren haben.31 In der Crescentia-Erzählung der Kaiserchronik, die für die ›fromme‹ Variante der Minne- und Aventiurreromane des 13. Jahrhunderts als modellbildend gelten kann, wird die verleumdete Kaisergattin, die man im Tiber ertränken wollte, von einem Fischer gerettet, der sie an einen Herzogshof bringt. Dort macht der Fürst die vermeintlich Unbekannte, die ihre soziale Identität verloren hat, weil sie sie nicht offenlegen kann, alsgleich zur maisterin (V. 12094) seines Sohnes, nachdem er trotz ihrer bleichen Erscheinung ihren Adel erkannt hat: ich sihe wol an dînen gebæren: / dâ dîne haimuote wâren, / dâ mahtest dû wol gebieten (V. 12073–12075). Die Struktur des Textes wird, wie Markus Stock gezeigt hat, von einer Reihe sich steigernder, in ›korrelativer Sinnstiftung‹ aufeinander bezogener Wiederholungen bestimmt; paradigmatisch sind dabei die implizite Diskussion über die Sichtbarkeit von Adel und Identität sowie die Versuche eines männlichen Neiders, 31 Vgl. allgemein Schulz, Schwieriges Erkennen (Anm. 25), S. 239–254.
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der tugendhaften Protagonistin durch sexuelle Nachstellungen und, als diese erfolglos sind, durch Verleumdung an die Ehre und ans Leben zu gehen.32 Tatsächliche Zufälle gibt es hier kaum, weil alles Unerwartete heilsgeschichtlich überformt wird: Die Verleumder stiften Intrigen, weil der Teufel selbst sie beeinflusst oder sie schon längst dessen Bundesgenossen sind; Gott schlägt sie und alle, die Crescentia schaden, augenblicklich mit Aussatz. Als die Heldin zum zweiten Mal im Tiber ertränkt werden soll, wird sie von Petrus selbst gerettet, der sie beauftragt, den aussätzigen Herzog und alle anderen Widersacher, so sie öffentlich ihre Sünde bekennen, von ihrer Krankheit zu heilen. Jede Störung der vorgegebenen Ordnung richtet sich so zugleich gegen Gott selbst, und die Wiederherstellung der Ordnung kann gleichermaßen auf Gottes Eingreifen wie auf die Evidenz des adeligen Leibes bauen; derjenige Crescentias wird zuletzt selbst zum Werkzeug Gottes. In diesem heilsgeschichtlichen Rahmen ist der gute Ausgang vorprogrammiert. Nur als die Heldin zum ersten Mal im Tiber ertränkt werden soll, ist mit einem Mal ein Fischer da, der sie aus den Fluten rettet. Das gute Ergebnis wird in einer knappen Vorausdeutung (V. 11889) zusammengefasst, die glückliche Rettung aber nicht weiter begründet. Hier kann allenfalls der Eindruck eines »providentiellen Zufalls«33 aufkommen, weil die Vorausdeutung die ›Motivation von hinten‹ offenlegt. Vom Ende her gelesen sorgt die Technik der ›korrelativen Sinnstiftung‹ dafür, dass auch dieser Anschein von Zufälligkeit getilgt wird, indem die Situationswiederholung einen metonymischen und letztlich typologischen Konnex zwischen dem planvollen Agieren des Petrus und dem scheinbar zufälligen des ersten Fischers herstellt, gewissermaßen als zur Heilsgeschichte analoge Abfolge von figura und implementum, mittels derer auch der erste Fischer als Werkzeug der göttlichen Providenz erscheint. In der Welt der Crescentia-Erzählung scheint es Kontingenz selbst als abgewiesene Möglichkeit kaum zu geben – trotz aller vermeintlichen Schicksalsschläge. Eine solch massive heilsgeschichtliche Steuerung des Geschehens findet sich jedoch in den Minne- und Aventiureromanen des 13. Jahrhunderts nicht mehr, selbst in den ›frommen‹, die ihre Helden zeitweilig zu weltabgewandten Pilgern und Büßern machen. Hier scheint sich die göttlich verbürgte Ordnung auch ohne permanente Eingriffe der höchsten Instanz durchsetzen zu können. Sie erscheint gleichsam naturalisiert. Garant dafür ist der adelige Körper: Garant ist eine geblütsbedingte charismatische Leiblichkeit. Im Wilhelm von Wenden gerät das völlig erschöpfte Pilgerpaar an eine Bürgerswitwe, die beide gut aufnimmt, weil sie ihnen den Adel am körperlichen 32 Stock, Markus, Kombinationssinn. Narrative Strukturexperimente im Straßburger Alexander, im Herzog Ernst B und im König Rother, Tübingen 2002 (MTU 123), S. 54–70. 33 Köhler, Der literarische Zufall (Anm. 22), S. 44.
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Habitus ablesen kann. Als Wilhelm später allein in Jerusalem ankommt, erkennt sein Gastgeber seinen Adel und vermittelt ihn an den Patriarchen der Heiligen Stadt, dessen vornehmster Heidenkämpfer er nach seiner Taufe wird. Wilhelms verlassene Frau Bene avanciert unterdessen in der Fremde zur Landesherrscherin, nur weil ihre Adelstugenden allgemein evident sind. Auch die ›Gute Frau‹ steigt so in zwei Zwischenstationen durch Heirat – es handelt sich um Josephsehen, bei denen der neue Mann rasch stirbt – vom Rang einer verkauften Leibeigenen in den einer Königin von Frankreich auf. Konrad Flecks Flore macht sich in der Verkleidung eines Kaufmanns auf die Suche nach Blanscheflur – aber jeder, der ihm begegnet, hilft ihm nicht zuletzt deshalb, weil man Flore den Adel und seine Verbindung zu Blanscheflur vom Leib ablesen kann. Konrads von Würzburg Partonopier lebt beinahe wie ein Tier in der Wildnis, als ihn zufällig Meliurs Schwester Irekel findet, die in ihm zunächst das Adelswesen und dann bald den verstoßenen Liebhaber ihrer Schwester erkennt. Im Apollonius von Tyrlant gibt es mehrere Szenen, in denen der durch die wunderbare Welt des Orients irrende, immer wieder neutralisierte Held aufgrund seiner charismatischen Leiblichkeit als Adelswesen erkannt wird. Hier wie im Flore-Roman sorgt die paradigmatische Reihung ähnlicher Szenen dafür, dass Kontingenz im sozialen Raum grundsätzlich eingedämmt erscheint. Solche Sicherheit gilt allerdings nur für den idealisierten Körper als Basis adeliger Identität, nicht für deren personale bzw. private Komponente. Denn zumindest zeitweilig spannend wird es immer dann, wenn die lange getrennten Liebenden oder Familienmitglieder einander wiederbegegnen. In Mai und Beaflor, im Wilhelm von Wenden, in der Guten Frau (und auch im Apollonius von Tyrlant) ist die Familie bzw. sind Teile davon nach vielen Jahren endlich wieder an einem Ort vereint, und doch erkennt man einander nicht wechselseitig, obwohl die Präsenz des oder der anderen immer wieder Erinnerungen an das Verlorene evoziert, obwohl Ähnlichkeiten und Erkennungszeichen, die sonst zur zielsicheren Identifikation anderer führen müssten, durchaus bemerkt werden. Es gibt merkwürdige Asymmetrien, Verzögerungen, kognitive Lähmungen, die dann umständlich bis komödienhaft aufgelöst werden. Die Texte spielen mit der Möglichkeit, dass zuletzt doch alles umsonst gewesen sein könnte, wenn man einander einfach nicht identifizieren kann. Die üblichen Mechanismen des Einander-Erkennens bleiben zwar stets vorausgesetzt, aber sie greifen nicht mehr völlig selbstverständlich.34 Die Alternative, die hier aufscheint, ist, dass sich der hagiographisch beeinflusste Identitätsentwurf, der im Pendant zur ›Abenteuerzeit‹ dominie34 Man erkennt einander an äußeren Zeichen bzw. Gnorismata oder schlicht ›instinktiv‹, aufgrund der Teilhabe an einem gemeinsamen Sippenkörper; vgl. ausführlich Schulz, Schwieriges Erkennen (Anm. 25).
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rend war, letztlich radikal durchsetzen könnte. Ausagiert wird dies auf der Ebene der sozialen Epistemik. Denn der hereinzitierte antifamiliale Identitätsentwurf der Legende ist davon geprägt, aus dem identitätskonstituierenden Sippenverband auszuscheiden und sich selbst sozial zum Verschwinden zu bringen, so dass der Heilige – paradigmatisch wäre hier Alexius – nicht einmal von seinen nächsten Angehörigen als Adelswesen und als Person erkannt werden kann. Die ›frommen‹ Minne- und Abenteuerromane dämpfen diese Radikalität kompromisshaft ab, weil sich dann doch wieder die feudale Ordnung durchsetzt. Hier erwies sich zuvor, nach der Weltentsagung, die vorgängige adelige Identität als widerständig, so dass die Protagonisten nicht allzutief fallen konnten; bei der Rückkehr in die Welt aber bleibt nun zunächst der antifamiliale Identitätsentwurf der Entsagungsphase gewissermaßen an den Figuren haften, so dass es selbst für Ehepartner trotz aller Ahnungen und Zeichen erst einmal unmöglich ist, einander zu identifizieren.35 Scheitern oder Gelingen – und damit der Entwurf der künftigen Identität – werden lange in der Schwebe gehalten. Kontingenz scheint verhältnismäßig massiv auf, wird dann aber wieder erzählerisch ›durchgestrichen‹, im Sinne einer abgewiesenen Alternative. Die Weltentsagung wird nun auf das Alter verschoben. Die ›frommen‹ Romane restabilisieren den feudalen Gesellschaftsentwurf kompromisshaft gegen die Faszination radikalchristlicher Alternativen, indem sie die Konkurrenz der damit verbundenen Lebensentwürfe temporalisieren. Zwischen synchronen Alternativen jedoch erscheint die angestammte Ordnung nicht mehr in jedem Augenblick ›hinterweltlich‹ verbürgt. Ansatzweise wird sie prekär, auch hier im Sinne einer Kippfigur.
4. Zufall, Finalität und metonymische Handlungsführung Mittelalterliches Erzählen ist im Wesentlichen finales Erzählen. Das bedeutet nicht, dass kausale, auch im heutigen Verständnis ›wahrscheinliche‹ Handlungsmotivationen dabei keine Rolle spielten; es bedeutet nur, dass nicht jedes narrative ›Ereignis‹ auf diese Weise motiviert sein muss. Und nicht jede einzelne Kausalität ist im Sinne bündiger ›kompositorischer Motivation‹ (Lugowski) auf die übergreifende Finalität hin konzipiert. Denn vieles wird überhaupt nicht, bloß ›irgendwie‹ oder überschüssig bis widersprüchlich motiviert, die einzelnen Ursachen stehen dann ›aggregativ‹-unverbunden nebeneinander, so dass das narrative Ereignis überdeterminiert ist, mit Lugowski gesprochen, ›thematisch überfremdet‹. Ein solches ›Zuviel‹ an Ursachen verdient Aufmerksamkeit, nicht allein, wenn es synchron beobachtet werden 35 Vgl. hierzu ausführlich Schulz, Hybride Epistemik (Anm. 30).
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kann, sondern auch dann, wenn ein mittelalterlicher Text in einer Kette von Ereignissen tatsächlich jedes einzelne bündig durch eine (nach zeitgenössischer Weltsicht) empirisch mögliche Kausalität begründet, so dass sich die Kette von Ereignissen als lückenlose Kette von Kausalitäten darstellt. Denn das ist immer ein Ausnahme-, nie der Regelfall. Ralf Simon hat die Fragment gebliebene Chanson-de-geste-Schlusspassage von Konrads Partonopier untersucht, in der trotz einer geschickt arrangierten Waffenruhe das Geschehen eskaliert, weil einige jugendliche Ritter nicht der strategischen Vernunft, sondern ihrem feudalen Ehrkodex folgen. Die narrative Ordnung ist hier […] additiv. Die Art und Weise, wie der Anschluß gestaltet wird, besitzt keine innere Notwendigkeit, genauer: er besitzt keine teleologische Konsequenz, sondern nur ad-hoc-Kausalitäten, die ein Moment ins andere einklinken lassen, ohne daß – der Idee nach – noch ein Faden zwischen dem einen und dem übernächsten Moment bestände. Insofern scheint die Verknüpfung zweier Momente ganz willkürlich zu sein, obwohl für eine jede auch eine Kausalität besteht (aber wiederum nur eine singuläre, die in keine übergreifende Teleologie eingebunden ist).36
Simon weist darauf hin, dass diese Logik der kettenartigen Verküpfung aufs Ganze gesehen weniger kausal denn metonymisch ist, im Sinne einer prozessierten Kontiguitätsrelation.37 Ich komme darauf zurück. Für Simon zeichnet sich […] diese Art der Handlungsführung durch ein untergründiges Moment von Fatalität aus. Der jederzeit konstatierbaren Kausalität korrespondiert am Ende keine Vernunft, die über das Ganze herrschte. Ähnlich dem Hin-und-HerWogen des Kampfgeschehens wird die Kausalität durch ihre jeweilige Singularität ihres eigenen Anspruches auf Rationalität entkleidet, indem sie über die jeweils einzelne Verbindung hinaus blind bleibt.38
Ich würde diese Beobachtungen nur insoweit einschränken, als ich hier kein »untergründiges Moment von Fatalität«, sondern die massive Exposition von Kontingenz sehe, freilich dann doch nur auf einer insgesamt untergeordneten Ebene, weil, auch wenn der Text mitten in der Schlacht abbricht, der heilsgeschichtliche Rahmen der Chanson-de-geste-Handlung den völligen Untergang der Christen ausschließen dürfte. Kausalität bleibt der Finalität insgesamt untergeordnet; dies umso mehr, wenn das Ende der Geschichte auch tatsächlich erzählt wird. In der anonymen Guten Frau hat das Protagonistenpaar der Welt entsagt, aber während
36 Simon, Einführung in die strukturalistische Poetik des mittelalterlichen Romans (Anm. 19), S. 136 f. 37 Ebd., S. 137. 38 Ebd.
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des gemeinsamen Bettlerlebens hat die Frau immerhin noch zwei Söhne geboren. Um deren Überleben zu sichern, verkauft man die Mutter an eine reiche Dame, und der Mann zieht mit dem Geld und den Kindern weiter durchs Land. Doch dann verliert er alles, was ihm noch geblieben ist. Dabei zeigt sich eine merkwürdig überexplizite Kette von Kausalitäten (V. 1781–1806): Während eines Hochwassers kommt der Mann zu einem schmalen Steg über die Seine. Er lässt einen Sohn zurück, um zuerst den anderen hinüberzutragen, doch als der genâdenlôse man (V. 1793) den Kleinen am anderen Ufer abgesetzt hat und sich auf dem Rückweg gerade auf der Mitte des Stegs befindet, dô truoc daz wazzer enwec / beidiu man unde stec (V. 1795 f.). Er wird eine halbe Meile abgetrieben. Als er zurückeilt, findet er seine Söhne nicht mehr. Der eine ist inzwischen von einem Bischof, der andere von einem Grafen mitgenommen worden, die sich hier verabredet hatten: diu gotes gnâde dâ erschein / an disen erbelôsen zwein, / daz got ietwederem bescherte / den der ez zôch unde nerte (V. 1823–1826). Neben die immanente Ursachenkette für Glück und Unglück tritt hier noch eine transzendente Begründung: Gottes Gnade; der verzweifelte Vater hingegen wird – impliziert dies eine Begründung? – zum zweiten Mal als gnâdelôse[r] man (V. 1827) bezeichnet. Er hängt seine nassen Kleider an einen Baum und wendet sich an Gott, der ihm zuvor alles geschenkt, aber nun alles bis auf den Leib geraubt habe, der büeze dir die wîl er wer (V. 1845). Die Ursache ›hinter‹ allem kann auch für die Figur selbst nur Gott sein. Der Text etabliert auf der Ebene der Handlung, der Erzähler- und der Figurenrede konkurrierende Erklärungen: blinde, kontingente Kausalität in einer überexpliziten Ereigniskette, der das eine Mal Gottes gewährte Gnade als Korrektiv entgegengesetzt wird, das andere Mal aber gerade nicht; und Gottes unbegreiflicher Entschluss, Glück zu geben und im Gegenzug wieder zu nehmen. Nun fliegt ein Adler auf den Baum, der das rote Geldsäckel sieht. Weil er hungrig ist, fliegt er damit davon; der Mann jagt ihm erfolglos nach; zum zweiten Mal bleibt ihm nichts anderes übrig, als zu beten.39 Der Adler wird von anderen Vögeln verfolgt und als ein rat (V. 1869) bis zu dem Ort getrieben, an dem sich die kranke, verkaufte Frau des Mannes aufhält. Das Gekreische lockt sie heraus, sie sieht, wie die anderen Vögel den Adler malträtieren. Einer packt ihn am Hals, so dass er den Beutel fallenlassen muss. Die ›Bonne Dame‹ hebt das Säckel auf und bedauert den unglücklichen, halbverhungerten Adler, dessen Unterlegenheit für sie jeder sinnvollen Ordnung 39 Das Motiv des Beutels, der von einem hungrigen Raubvogel gestohlen wird, findet sich in teils abweichender Funktion auch im anonymen Märe Der Busant und in der Schönen Magelone; vgl. die Detailanalysen bei Schulz, Armin, Dem bûsant er daz houbt abe beiz. Eine anthropologisch-poetologische Lektüre des Busant, in: PBB 122 (2000), S. 432–454; Ders., Poetik des Hybriden (Anm. 5), S. 186–197.
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widerspricht, offenbar weil nach mittelalterlicher Vorstellung die Ordnung der Natur und der Gesellschaft gewissermaßen ein und dasselbe sind. Sie fragt: wie mohte sich daz vüegen?, um gleich anzuschließen: ich wæn ez sich gevüeget hât (V. 1884 f.), dass ihr nicht mehr geholfen werden könne und ihre Kinder hungern müssten – wären sie doch beisammen geblieben! Sie klagt exzessiv und schlägt ebenso exzessiv auf sich selbst ein. Der Erzähler vermerkt es als Wunder, dass sie sich damit nicht selbst getötet hat. Doch dann fügt sie sich in ihr Schicksal und vertraut sich Gottes Allmacht an. In ihre Kammer zurückgekehrt findet sie prompt – von gote ein trôst (V. 1916) – das Geld und ist nun überzeugt, dass Gott, der schon viel Unglück wieder rückgängig gemacht habe, gewiss für ihren Mann und die Kinder sorgen würde. Der Erzähler bestätigt nur, dass die Frau und die Kinder seither keine Unannehmlichkeiten mehr erdulden müssen, während der Mann hingegen zunächst immer tiefer ins Elend stürzt. Kontingenz wird durch die Überexplizitheit der Ursachen einerseits massiv ausgestellt, andererseits aber augenblicklich wieder zurückgenommen, gewissermaßen partiell durchgestrichen, indem sich am Ende der scheinbaren Katastrophen wenigstens Gottes Gnade an den Kindern und der Frau erweist. Die Frau wird in der Logik der Abfolge sogar dafür belohnt, dass sie ihren Glauben an die göttliche Fügung wiedergefunden hat – aber dies gilt nicht auch zugleich für ihren Mann, der Gottes Allmacht ebenso akzeptiert wie sie. Erst vom Ende her zeigt sich, dass die Verabschiedung des Mannes in den sozialen Tod zugleich die Voraussetzung für den gesellschaftlichen Aufstieg der Frau ist, an dem der Mann und die Söhne zuletzt teilhaben können. Die scheinbare Kontingenz der blinden Einzelkausalitäten kann überdies vom Ende her als keineswegs sinnloses, sondern als stark symbolisch verdichtetes Geschehen verstanden werden, in dem Relationen des ›Stehens für etwas anderes‹, der Teilhabe und der räumlichen und zeitlichen Nähe durch die zwingend-assoziative Logik ihrer Verknüpfung auf einen übergeordneten immanenten Heilsplan verweisen. Zentrale Elemente der Ereigniskette sind zugleich Repräsentanten der beteiligten Figuren und der zentralen Normund Wertbereiche. Darauf gibt es auch einen Hinweis im Text selbst, indem die Frau selbst eine ›uneigentliche‹ Interpretation des Geschehens leistet, wenn sie den bedauernswerten Zustand des Adlers – eines Tieres, das Herrschaft und Göttlichkeit symbolisieren kann40 – zum Anlass nimmt, am Schicksal ihrer Kinder und ihrem eigenen zu verzweifeln. Der wehrlose Adler repräsentiert für sie eine gestörte Ordnung; auffälligerweise fehlt in ihren Befürchtungen das Schicksal ihres Mannes, der zuvor Graf an ihrer Seite war und viel später mit ihr gemeinsam über Frankreich herrschen wird. Wie der gerupfte Adler wird er, hungrig und körperlich von den Unbilden der Witte40 Vgl. Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 1, Rom 1994, Sp. 70–76.
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rung bis zur völligen Unkenntlichkeit entstellt, den Weg zur ›Bonne Dame‹ finden. Der Beutel mit dem Geld ist der metonymische Stellvertreter der Dame selbst, die für eben dieses Geld verkauft worden ist; wenn er zu ihr zurückkehrt, entpuppt sich dies ex post als Vorzeichen dafür, dass sie ihre adelige Identität wiedergewinnen wird. Die beiden Söhne werden von einem Grafen und einem Bischof aufgezogen; diese Ersatzväter stehen für die beiden Bereiche des Feudaladels und des Christentums, die für die Identitätsentwürfe der dargestellten Welt prägend sind und später auch bei der Wiedervereinigung der Familie eine eminente Rolle spielen. Gewissermaßen hinter oder neben der Kette von Kausalitäten, deren Abfolge vordergründig Kontingenz exponiert, und neben dem undurchschaubaren göttlichen Wirken wird eine Kette von hauptsächlich metonymischen Repräsentationen kenntlich, ein vor allem metonymischer Subtext, dessen kontiguitäre Logik gerade das Aufscheinen von Kontingenz wieder tilgt – freilich nur, wenn man das Ende kennt. Die expliziten Hinweise auf Gottes Gnade stören hier eher, weil sie den Eindruck erwecken, dass Gott alles, was er auf der einen Seite gewähre, auf der anderen wieder wegnehme. Harald Haferland hat jüngst in zwei ungemein anregenden Aufsätzen darauf hingewiesen, welche bedeutende Rolle das Denken in metonymischen Relationen in der sozialen Praxis und in der Literatur des Mittelalters spielte.41 Dort, wo finales Erzählen vorherrscht, kann, so Haferland, die unbegründete und kausal unwahrscheinliche Abfolge zweier Ereignisse einen metonymischen Konnex herstellen, der Sachverhalte zum Ausdruck bringt, die von vornherein final verbürgt sind: etwa bestimmte Eigenschaften einer Person wie deren Heiligkeit oder den göttlichen Willen selbst – auch ohne dass dies explizit markiert würde. Allerdings wird solche Sinnstiftung in ihrer ganzen Fülle nur vom Wissen um das Ende her deutlich. Metonymische Konnektivität begleitet so im Apollonius von Tyrlant den Wechsel von einer heidnischen Abenteuerzeit in eine christliche Heilszeit. Grosso modo gilt hier, dass dasjenige, was dem Helden ein undurchschaubares Geschick bereitet, entweder von den Unbilden der Witterung – Seeund andere Stürme –, von einer ›unwahrscheinlichen‹, detaillierten Abfolge einzelner Kausalitäten oder von heidnischen Göttern herrührt. Opponenten sind, vor allem wenn sie Mensch-Tier-Mischwesen sind, häufig als Teufelsbündner markiert, der Teufel selbst hat explizit nur einmal die Hände im Spiel, als er anfänglich den König Antiochus dazu verleitet, mit seiner Toch41 Haferland, Harald, Das Mittelalter als Gegenstand der kognitiven Anthropologie. Eine Skizze zur historischen Bedeutung von Partizipation und Metonymie, in: PBB 126 (2004), S. 39–64; Ders., Metonymie und metonymische Handlungskonstruktion. Erläutert an der narrativen Konstruktion von Heiligkeit in zwei mittelalterlichen Legenden, in: Euphorion 99 (2005), S. 323–364.
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ter zu schlafen. Hingegen wird vieles, was dem Helden zum Guten ausschlägt, mit dem Eingreifen des einen Gottes erklärt, so etwa, wenn ein Blitzschlag das inzestuöse Pärchen pulverisiert, wonach Apollonius keine lebensbedrohliche Verfolgung mehr fürchten muss. Seine Abenteuer besteht er oft durch Zaubermittel oder durch loyale Helfer. Im Umgang mit anderen Menschen bewahrt ihn überdies, auch dort, wo er alles verloren hat, die körperliche Evidenz seines Adels vor dem sozialen Untergang; allerdings führt ihn letztere auch in immer neue Ehen, obwohl seine erste Frau, was er nicht weiß, immer noch lebt. Diese ›weiche‹ Kontingenz, der der Held immer wieder paradigmatisch ausgesetzt wird, findet ihr jähes Ende recht bald nach einem Seesturm, durch den das Schiff des Helden unversehens zu einer unendlich prachtvollen, verschlossenen Stadt mitten im Meer gelangt. Alle Späher, die vom Mast aus hinübergeschickt werden, kommen nicht wieder; alle, die von dort aus hinuntersehen, sterben stumm und blind. Man einigt sich darauf, ain paradeyß (V. 14773) gefunden zu haben, und gerät in einen weiteren Seesturm, der das Schiff zu einer ebenso prachtvollen Insel bringt. Dort begegnet Apollonius Elias und Henoch, die ihm von ihrer eschatologischen Sendung erzählen – und davon, dass auch sie in einem paradeyß (V. 14892) leben. Bei dieser Gelegenheit offenbart Apollonius zum ersten Mal, dass er schon von Jesus Christus gehört hat, der zehn Jahre zuvor gestorben ist. Metonymische Konnektivität führt zum heilsgeschichtlich positiven Ende, sobald der Held nur in die räumliche (und auch zeitliche) Nähe des christlichen Heils geführt und der Name Christi einmal ausgesprochen worden ist. Von nun an, nach dem Kontakt mit Stellvertretern des Göttlichen, sind alle Seefahrten nichts anderes als problemlose, zielsichere Ortswechsel, während sie zuvor oft genug von Stürmen und Irrfahrten gestört wurden. Apollonius findet seine totgeglaubte Tochter und seine totgeglaubte Frau wieder, zeugt mit ihr ein weiteres Kind und gründet die allererste Tafelrunde. Doch nun folgen merkwürdige Irritationen. Als artusgleicher Herrscher über fast den gesamten Orient ist Apollonius selbst zwar keiner Kontingenz mehr ausgesetzt, aber er muss immer wieder massive Störungen der höfischen Ordnung korrigieren und korrigieren lassen, über die man der Tafelrunde berichtet. Diese Störungen sind einerseits kontingent, weil sie urplötzlich aus dem räumlichen Außerhalb an den Hof herangetragen werden, andererseits beinhalten sie regelhaft Frauenschändung und Minnevergehen, womit sich ein loser metonymischer Bezug zur Biographie des Helden selbst eröffnet – als müsste gerade dieser kompensatorisch in einem Bereich Ordnung stiften, in dem er selbst zuvor als serieller Bigamist ungewusst gefehlt hat. Diese ›weiche‹ Kontingenz wäre im Prinzip trotz des Eingreifens des Helden ad infinitum fortsetzbar. Beendet wird sie erst dann schlagartig, als Apollonius auch Herrscher über Jerusalem und danach Christ und römischer Kaiser geworden ist. Auch hier gelingt die Stabilisierung nur über eine Setzung,
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Kontingenz im mittelhochdeutschen Liebes- und Abenteuerroman
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die sich erneut der Logik metonymischer Konnektivität bedient: Ordnung stiftet sich gewissermaßen in dem Augenblick von selbst, da Apollonius als Christ Herrscher über zwei zentrale Wirkorte christlichen Heils und über das größte Weltreich selbst geworden ist.
5. Spielfelder der Kontingenz: Die Ermordung Wildhelms und Aglyes Liebestod Viele der mittelhochdeutschen Minne- und Aventiureromane reagieren auf die Provokation der Tristanminne, indem deren ordnungsstörendes – und damit auch kontingentes – Moment domestiziert und eingehegt wird. Die anfänglich illegitime Minne fügt sich zuletzt doch ideal in die bestehende Ordnung. Das geht für die Protagonisten auch immer gut aus, mit einer Ausnahme, allerdings nachdem hier für die topische genealogische Prokreation gesorgt worden ist. Im Wilhelm von Österreich wird der Held zuletzt bei einem Jagdausflug durch die vergiftete Lanze eines Heiden getötet, und seine Frau Aglye stirbt über seiner Leiche den Liebestod, ähnlich wie die irische Isolde an der Bahre Tristans bei Eilhart und den Gottfried-Fortsetzern.42 Der Schluss bricht mit den intertextuell präfigurierten Erwartungen an einen Liebes- und Abenteuerroman. Strukturell ist er völlig überdeterminiert: durch Motivdoppelungen, durch die Verwandlung von Allegorie in Narration, durch Anklänge an die Heldenepik, durch Anspielungen auf die Tristan-Fortsetzer etc., so dass sich wie in einer literarischen ›Echokammer‹43 die Sinnspuren der einzelnen ›Echos‹ überlagern und aufheben. Wildhelm stirbt auf einer Einhornjagd, die sich nicht allegorisch ausdeuten lässt, durch eine vergiftete Lanze aus der Hand eines heidnischen Verwandten Aglyes. Er selbst hat lange zuvor im Turnier einen heidnischen Konkurrenten um Agyles Hand ebenfalls mit einer vergifteten Lanze getötet, doch scheint es auch aufgrund der Heidenkampfideologie unmöglich, aus der Motivrekurrenz eine handlungslogische Bestrafung des insgesamt statisch-ideal gezeichneten Helden abzuleiten; Aglye stirbt isoldengleich als große Liebende, aber es handelt sich dabei eigentlich fast um einen Unfall. Und der Erzähler be-
42 Zum Folgenden vgl. die Vorüberlegungen in Schulz, Poetik des Hybriden (Anm. 5), S. 122 f.; 128–131; 147–150. 43 Vgl. Stock, Markus, Alexander in der Echokammer. Intertextualität in Ulrichs von Etzenbach Montagewerk, in: Nikolaus Henkel, Martin H. Jones und Nigel F. Palmer (Hgg.), Dialoge. Sprachliche Kommunikation in und zwischen Texten im deutschen Mittelalter. Hamburger Colloquium 1999, Tübingen 2003, S. 113–134. Der Begriff ›Echokammer‹ bezieht sich auf Roland Barthes.
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klagt wie in der Heldenepik beständig ein unabwendbares Schicksal, allerdings ohne dieses vorab offenzulegen. Wie in den Tristan-Dichtungen resultiert der Tod des Heldenpaares nicht aus einer makrostrukturell angelegten Kausalität,44 sondern er erscheint als kontingent. Dieser Eindruck entsteht aus massiven Unbestimmtheiten und Ungenauigkeiten im Akt der Narration. Der Erzähler bekundigt seine eigene Machtlosigkeit, er kündigt an, dass die Geschichte mit jamers swær (V. 18842) enden werde, schweigt sich aber über die genaueren Umstände aus; Aglye, die Schlimmes geträumt hat, versucht Wildhelm die Jagd auszureden, aber sie fürchtet nicht um sein Leben, sondern um dasjenige der Jungfrau Belfant, die dem Einhorn ein Köder sein will; der Erzähler beklagt zwar, dass Aglye Wildhelm bald jæmerlichen (V. 18927) sehen werde, aber das ist kein eindeutiger Hinweis auf seinen bevorstehenden Tod. Von Aglyes Schicksal im Einzelnen ist in keiner Vorausdeutung die Rede. Als sie die schlimme Nachricht hört, die man ihr verheimlichen wollte, sinkt sie fFr tot (V. 19154) nieder, doch dann rafft sie sich wieder auf. Als sie dann die körperliche Nähe des toten Geliebten sucht, formuliert sie neben ihrer Klage darüber, dass sie lebe, während Wildhelm tot sei, den irritierenden Gedanken, ich můz in toten rFrn, / oder der tot rFrt mich (V. 19166 f.), als könnte so gerade ihr eigener Tod vermieden werden. Sie presst ihre nackte Brust an die offene Wunde, an das tote Herz Wildhelms, bis es ihr eigenes Herz spürt. Der Text ist an dieser Stelle ausgesprochen schwer verständlich, aber es scheint ganz so, als sterbe Aglye nicht, wie in der Topik des Liebestods vorgebildet, aufgrund einer magisch-metonymischen Logik der Teilhabe oder durch eigenen Entschluss, sondern weil der verzweifelte Versuch, ihre eigene Lebenskraft, die in der Hitze ihres Herzens situiert ist, auf den Toten zu übertragen, an organischer Überlastung scheitert, indem die junge Frau sich zu sehr verausgabt (V. 19191–19209). Man könnte natürlich sagen: Die Finalität des Geschehens erscheint durch die Topik des Liebestods vorab verbürgt, die kleinen Abweichungen, die im Detail aufblitzen, erscheinen so nur als potentielle Alternativen, die vom Fortlauf des Geschehens abgewiesen werden. Aber ist dies wirklich so? Die abundante Überdetermination der Sequenz verhindert doch gerade, dass sich die gerichtete ›Hinterweltlichkeit‹ der hereinzitierten Motive von selbst Geltung verschafft, d. h. die Sujetfügung wird letztlich nicht von einer finalen Motivation ›von hinten‹, sondern von einer kausalen ›von vorne‹ bestimmt. Und genau dies erzeugt den Eindruck einer massiven Kontingenz, die nicht mehr nur untergeordnetes Akzidenzphänomen im Rahmen eines göttlichen Heilsplans ist, dessen Gerechtigkeit auch auf Erden waltet. Rein innerweltlich, wie dies sonst Programm der hier behandelten Romane ist, kann dieser 44 Vgl. Warning, Die narrative Lust an der List (Anm. 10).
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Kontingenz im mittelhochdeutschen Liebes- und Abenteuerroman
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Heilsplan im Wilhelm von Österreich nicht mehr eingelöst werden. Der Erzähler klagt: Nu sehet an die welt hie, wie valsch ir lon ist! merket wie hat si gelont dem fFrsten hoch, der daz leben durch si vloch biz er erwarp ir werdekait (V. 19327–19331)
Nur im Himmel gibt es Gerechtigkeit, auf der Welt aber ist alles nur willig zu erdulden, um des himmlischen Lohns gewiss zu bleiben (V. 19370–19388). Der boethianisch inspirierte Kommentar sucht den Sinn dessen zu fixieren, wovon zuvor erzählt wurde, doch dasjenige, was die Narration ausgestellt hat, ist diskursiv nicht mehr einholbar und diskursiv nicht mehr zu bändigen. In Johanns Erzählung zeichnet sich gegen den Erzählerkommentar ein pessimistisches Weltbild ab, in dem der Zufall schon nicht mehr in der göttlichen Vorsehung aufgehoben ist. In diesem Sinn deutet der späte Text aus dem Jahr 1314 schon auf die Frühe Neuzeit voraus; bei ihm wird manifest, was in den prekären Lösungen der anderen Minne- und Abenteuerromane noch mühsam unter den Teppich gekehrt werden konnte. Bis zu den radikalen FortunaFigurationen des 16. Jahrhunderts, wie sie narrativ etwa im Fortunatus und diskursiv in Machiavellis Il principe gestaltet werden, ist es allerdings noch ein weiter Weg.
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Michael Waltenberger
Der vierte Mönch zu Kolmar Annäherungen an die paradoxe Geltung von Kontingenz
1. Theoretische Kontingenz Wer im späten Mittelalter tiefer über die Verfasstheit der von Gott geschaffenen Welt nachdachte und dabei die aristotelischen Standards rationaler Argumentation nicht mehr beiseite lassen wollte, dem musste jener »Schatten der Nothwendigkeit«1 beunruhigend auffallen, den die christlichen Theologeme des allmächtigen einzigen Gottes und seiner unvorgreiflichen Schöpfungs- und Erlösungsakte warfen und der die Erkenntnis menschlicher Weltverhältnisse zu verdunkeln drohte: Zufälliges kann es, jedenfalls sub specie aeternitatis, schlechterdings nicht geben – und zugleich darf weder der Ursprung dieser notwendigen Schöpfungsordnung selbst noch im Zentrum dieser Ordnung das liberum arbitrium des Menschen als Voraussetzung erlösender Gnade einer Notwendigkeit unterworfen sein. Die daraus erstehenden Widersprüche bringen Kontingenz metaphysisch allererst auf den Begriff; sie ließen sich auf (historische) Dauer aber nicht beherrschen, indem man Kontingenz ontologisch auf das sublunare Reich der Zeitlichkeit und Zweitursächlichkeit beschränkte oder epistemologisch der Begrenztheit menschlicher Rationalität und Sprache zurechnete.2 Ein alternatives Konzept, das mit dieser Schwierigkeit auf radikale Weise offensiv umging, entwickelte um 1300 der Franziskaner Duns Scotus in seinem Sentenzenkommentar:3 Für ihn ist contingentia nicht lediglich ein Pro1 Windelband, Wilhelm, Die Lehren vom Zufall, Berlin 1870, S. 5. 2 Erkenntnisfördernder Ausgangspunkt für Erkundungen dieser epochalen Transformation sind immer noch Hans Blumenbergs Thesen zur »Säkularisierung und Selbstbehauptung« [Erstdruck 1966] (erw. und überarb. Fassung in: Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe, Frankfurt am Main 21999 [stw 1268], S. 9–260); vgl. davon ausgehend besonders Makropoulos, Michael, Modernität und Kontingenz, München 1997; Küpper, Joachim, Mittelalterlich kosmische Ordnung und rinascimentales Bewußtsein von Kontingenz. Fernando de Rojas’ Celestina als Inszenierung sinnfremder Faktizität (mit Bemerkungen zu Boccaccio, Petrarca, Machiavelli und Montaigne), in: Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard (Hgg.), Kontingenz, München 1998 (Poetik und Hermeneutik 17), S. 173–223. 3 Meine Skizze kann die komplexe Argumentation selbstverständlich nur stark vergröbert darstellen. Vgl. hierzu v. a. Söder, Joachim R., Kontingenz und Wissen. Die Lehre von den futura contingentia bei Johannes Scotus, Münster 1999 (Beiträge zur Geschichte der Philo-
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Der vierte Mönch zu Kolmar
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blem sub specie temporis, sondern unmittelbare Auswirkung und ontologisches Korrelat des freien göttlichen Willens, soweit dieser sich nämlich in einem einzigen, alles umfassenden Kreationsakt äußert.4 Dementsprechend ordnet Duns das Kontingenzproblem auch nicht mehr der Differenz zwischen Immanenz und Transzendenz nach. Im Rahmen einer übergreifenden Praxis-Theorie, welche die evidente Freiheit des menschlichen Wollens an die Freiheit des göttlichen Schöpferwillens koppelt, stellt er vielmehr Kontingenz und Notwendigkeit als ›gleichberechtigte‹ Modi des Seienden einander gegenüber.5 Kontingenz wird von ihm also nicht mehr nur als (kosmo)logisch Sekundäres und Defizientes gegenüber primär waltender Notwendigkeit bestimmt – und ebenso wenig verbirgt sich für ihn hinter den ›äußeren‹ Zufälligkeiten eines Gegenstands oder Sachverhalts immer schon dessen notwendiges Wesen: Nach Duns Scotus ist Kontingenz nicht in der Welt, weil diese unvollkommen ist, sondern weil Kontingenz ihr durch den Schöpferwillen Gottes wesentlich zukommt.6 Welchen philosophisch revolutionären Denkmöglichkeiten von dieser These aus bereits vorgegriffen sein könnte, soll nicht weiter diskutiert werden.7 Es geht mir hier lediglich um die erkenntnistheoretische Konsequenz, die Duns Scotus daraus zieht und die in einer bemerkenswerten Legitimierung der lebensweltlichen Erfahrbarkeit von Kontingenz besteht: Als nicht mehr nur immanent-scheinhafte, sondern transzendent begründete entzieht sie sich sophie und Theologie des Mittelalters NF 49); Ders., Einleitung, in: Johannes Duns Scotus, Reportatio Parisiensis examinata I 38–44. Pariser Vorlesungen über Wissen und Kontingenz, Lateinisch / Deutsch, hg., übers. und eingel. von Joachim R. Söder, Freiburg im Breisgau, Basel und Wien 2005 (Herders Bibliothek der Philosophie des Mittelalters 4), S. 9–32; dort auch übersichtliche Informationen zur Rekonstruktion der Genese und zur komplizierten Überlieferungssituation des Sentenzenkommentars. 4 Vgl. hierzu besonders in der (Lectura genannten) frühen Fassung des Kommentars: Ioannes Duns Scotus, Opera omnia, hg. von Karl Balić, Bd. 17: Lectura in librum primum Sententiarum. A distinctione octava ad quadragesimam quintam, Vatikanstadt 1966, dist. 39, q. 5, S. 484–510 (Utrum cum scientia Dei stet contingentia rerum); entsprechend: Ioannes Duns Scotus, Lectura I, in: Ders., Opera omnia. Editio minor, Bd. II/1: Opera Theologica, hg. von Giovanni Lauriola, Alberobello 1999, S. 1–560, hier S. 528–541. 5 Söder, Kontingenz (Anm. 3), S. 125. 6 Und umgekehrt wird Gott selbst, wie Blumenberg formuliert, »in die Grundlosigkeit der K[ontingenz] hineingezogen« (Blumenberg, Hans, [Art.] Kontingenz, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 3, 3., völlig neu bearb. Aufl., Tübingen 1959, Sp. 1793 f., hier Sp. 1794). 7 Von Duns’ These, dass Gott auch eine andere Welt hätte erschaffen können – und zwar nicht unbedingt eine schlechtere –, führt ein direkter Weg zu Leibniz’ möglichen Welten und weiter in die Neuzeit (Söder, Einleitung [Anm. 3], S. 28 f.). Die Aktualität seiner Philosophie zeigt sich beispielsweise auch an einem neueren Versuch, aus ihrer Rekonstruktion eine Revision der (modernen) Rationalität zu entwickeln (Parisoli, Luca, La contraddizione vera. Giovanni Duns Scoto tra la necessità della metafisica e il discorso della filosofia pratica, Rom 2005 [Bibliotheca Seraphico-Capuccina 72]).
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nämlich dem beweisenden Zugriff einer philosophischen (mithin aristotelisch-rationalen) Metaphysik: Wenn Notwendigkeit und Kontingenz ontologisch gleichrangig den Begriffsinhalt von ›seiend‹ abdecken, dann geht der Kontingenz schlechterdings nichts voraus, aus dem sie abgeleitet werden könnte. Dass es kontingent Seiendes gibt, lässt sich also, so Duns Scotus, einerseits nicht a priori beweisen, andererseits aber a posteriori – als Erfahrungswissen eben – auch nicht bestreiten.8 In der einschlägigen Passage seines Sentenzenkommentars führt Duns dieses Dilemma vor Augen, indem er die an ihre Grenze gelangende theoretische Rede abbricht und zum exemplarisch plausibilisierten Postulat übergeht: Wer Kontingenz leugne, so heißt es hier, der solle cum tormentis et cum igne traktiert und verprügelt werden, bis er zugebe, dass seine Folterung nicht necessario, sondern contingenter geschehe.9 Zwar ist der ironische (vielleicht auch polemische) Gestus des doctor subtilis hinter der Maske des Inquisitors kaum zu übersehen. Dennoch ist der Wechsel von abstrakter Argumentation zu narrativer Konkretheit (bzw. von theoretischer zu mimetischer Rede) mehr als ein rhetorisch geschickter Effekt, denn er lenkt von der Paradoxie der Absicht, die Notwendigkeit einer Erfahrung des Nicht-Notwendigen zu beweisen, nicht etwa ab, sondern weist provozierend gerade darauf hin. Denn inwiefern wird hier Kontingenz als Erfahrungswissen tatsächlich plausibilisiert? Die Kontingenzleugner sollen ja nicht durch die Erfahrung eines kontingenten Ereignisses,10 sondern durch die Nötigung der gewaltsam 8 Vgl. Söder, Kontingenz (Anm. 3), S. 37–49. 9 Ich zitiere die Passage in der Fassung der Reportatio Parisiensis examinata, einer von Duns autorisierten Hörernachschrift seines Pariser Sentenzenkurses: Johannes Duns Scotus, Reportatio Parisiensis, hg. von Söder (Anm. 3), dist. 39/40, q. 3, § 30, S. 80: Et contra hoc negantes esset procedendum cum tormentis et cum igne et huiusmodi, et tam debent fustigari quousque fateantur quod possunt non tormentari, et ita dicere quod contingenter tormentantur et non necessario […]. Ähnlich findet sich die Passage bereits in der älteren Fassung der Ordinatio: Ioannes Duns Scotus, Opera omnia, hg. von Karl Balić, Bd. 6: Ordinatio. Liber primus. A distinctione vigesima sexta ad quadragesimam octavam, Vatikanstadt 1963, lib. I, dist. 38, pars 2, et dist. 39, q. 1–5, § 13, S. 414 f. (Contingentia in rebus est evidens et manifesta), hier S. 415. In allen Fassungen des Sentenzenkommentars weist Duns Scotus ausdrücklich auf das Vorbild seiner Pointe hin, nämlich eine Stelle in Avicennas Metaphysik (I c. 9), wo empfohlen wird, jemanden, der den Satz vom Widerspruch leugnet, ins Feuer zu werfen, bis er zugebe, dass Verbrennen und Nicht-Verbrennen nicht dasselbe sei. In der Lectura begegnet der Hinweis auf die Avicenna-Stelle, sie wird aber nicht explizit für das Kontingenzproblem umformuliert; vgl. Ioannes Duns Scotus, Lectura, hg. von Balić (Anm. 4), dist. 39, q. 5, S. 484–510, hier § 40, S. 491; entsprechend Ioannes Duns Scotus, Lectura I, hg. von Lauriola (Anm. 4), dist. 39, q. 5, § 40, S. 531 f. Ebenfalls in dieser knapperen Form findet sich der Avicenna-Verweis auch in Ioannes Duns Scotus, Reportata Parisiensia, in: Ders., Opera omnia. Editio minor, Bd. II/2: Opera theologica, hg. von Giovanni Lauriola, Alberobello 1999, hier dist. 40, q. 1, § 14, S. 478. 10 Etwa in der Art der immer wieder aufgerufenen aristotelischen Beispiele der zufälligen Begegnung zwischen Schuldner und Gläubiger auf dem Markt oder des zufälligen Schatzfundes auf dem Acker.
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kontingenzreduzierenden Folterprozedur exemplarisch zur Einsicht kommen. Das imaginierte Geschehen ist also in sich selbst gerade nicht zufällig. Nimmt man dennoch die erzwungene Aussage ernst, dass die Folter contingenter geschehe, dann macht sie offenbar auf eine Kontingenz aufmerksam, die nicht im Prozess des Geschehens auftritt, sondern diesem als Ganzes zugeschrieben werden kann. Über eine eventuelle Vermeidbarkeit des Geschehens innerhalb der imaginierten ›Welt‹ hinaus gibt sie einen Hinweis auf die Willkür, mit der diese ›Welt‹ durch die Rede-Instanz aufgerufen wird: Der Akt der Folter – und zugleich damit der Akt ihrer narrativen Imagination – hätte ebenso gut (oder sogar besser) unterbleiben können. Darin besteht die Pointe: Die Evidenz des exemplarisch Konkreten verleiht einer Aussage Geltung, die ihre eigene Notwendigkeit widerlegt. Statt die Wahrheit der Kontingenzerfahrung zu offenbaren, lässt sie erkennen, dass der Akt narrativer Imagination, der die Kraft des Beweises ersetzen soll (und dies tut, indem er sie als Folterzwang konkretisiert), selbst ›zuvor schon‹ mit Kontingenz behaftet ist. Die erzählende Rede könnte mithin geradezu als Sonderfall der von Duns propagierten Willkür des Schöpfers verstanden werden. Mit selbstironischer Konsequenz deutet sie jedenfalls pointiert die Paradoxie jeder – auch der eigenen – Absicht an, dem, was nicht notwendig ist, diskursive Geltung zu verschaffen.11
2. Narratologische Kontingenz Die »systematische Ambivalenz« des Kontingenten12 tritt hier – wie auch generell in Duns’ radikaler Neufassung des Problems – so deutlich ans Licht wie wohl kaum jemals zuvor. An der durch sie markierten Grenze des theoretischen Kontingenzdiskurses kann man ihr zugleich einen systematisch wichtigen Hinweis darauf entnehmen, inwiefern Kontingenz demgegenüber im Erzählen zur Geltung kommen kann.13 Immerhin ließe sich ja mit Paul Ricœur behaupten, dass dem Erzählen Kontingentes nicht nur ›unterläuft‹, sondern dass ganz prinzipiell die »narrative[] Funktion […] die Kontingenz anerkennt« und »in Ehren hält« – und sogar, dass die Kontingenz eine dem Erzählen eigentümliche Intelligibilität begründet.14 Sehr elementar geschieht 11 Darin unterscheidet sie sich grundlegend von ihrem Vorbild bei Avicenna, das ganz ungebrochen als Evidenzargument fungiert. 12 Makropoulos, Modernität (Anm. 2), S. 14. 13 Mir geht es für das Folgende lediglich um diesen systematischen Aspekt, nicht um eine diskursgeschichtliche Rekonstruktion. 14 Ricœur, Paul, Zufall und Vernunft in der Geschichte. Aus dem Franz. übers. von Helga Marcelli, Tübingen 1986, S. 11; bzw. Ders., Contingence et Rationalité dans le Récit, in: Ernst
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dies schon dadurch, dass erzählende Rede eine Mannigfaltigkeit vereinzelter und sinnloser ›Vorfälle‹ (occurences), die der ›rohen‹ Erfahrung gegeben sind, in bedeutsame ›Ereignisse‹ (événements) eines Geschichtszusammenhanges verwandelt. Die contingence sauvage wird im Erzählen zur contingence réglée.15 Auf höherer textueller Ebene fußt darauf der für Ricœur »erstaunlichste Aspekt des narrativen Ausdrucks der Kontingenz«:16 ihre Rolle für die ›Mitte‹ des aristotelischen Handlungsschemas, also vor allem hinsichtlich der Peripetie.17 Ricœurs Beschreibung der Funktionalisierung und Thematisierung von Kontingenz auf dieser Ebene sowie der Dialektik von krisenhafter Ordnungsbedrohung und Restitution ist grosso modo mit geläufigen literaturund erzähltheoretischen Konzeptionen durchaus vereinbar. Die ›regulierte‹ Kontingenz erscheint dabei zwar als Resultat eines Akts der mise en intrigue, ihre Bedeutung konstituiert sich aber vor allem über ihre Funktion im Handlungszusammenhang, also als ein Phänomen innerhalb der erzählten Welt. Sie gewinnt in dieser Hinsicht mit zunehmender Komplexität der Syntagmen und der Perspektivenstruktur an Profil, und demzufolge wird dieser Aspekt besonders bei elaborierten, fiktional-autonomen und romanhaften Großformen literarhistorisch auffällig. Bei kleineren und ›einfachen‹ Formen, bei unselbständigem und ›alltäglichem‹ Erzählen wird demgegenüber jedoch ein anderer Aspekt relevant, den Ricœur nur knapp und eher andeutend behandelt.18 Schon aus seinen Andeutungen erhellt allerdings, dass dieser Aspekt, den er unter den (wiederum auf das aristotelische Schema bezogenen) Stichworten »Kontingenz des Anfangs« und »des Endes« fasst,19 nur dann adäquat beachtet werden kann, wenn man kategorial unterschiedliche Textebenen aufeinander bezieht, die im Akt der mise en intrigue zusammengeschlossen sind: Einerseits nämlich wird das Erzählte an seinen ›Rändern‹ dadurch modalisiert, dass die Zäsuren des Anfangs und Endes der Geschichte hinsichtlich denkbarer UrWolfgang Orth u. a., Studien zur neueren französischen Phänomenologie. Ricœur, Foucault, Derrida, Freiburg im Breisgau und München 1986 (Phänomenologische Forschungen 18), S. 11–29, hier S. 11; unter gleichem Titel auch in: Henk Hillenaar und Evert van der Starre (Hgg.), Le roman, le récit et le savoir, Groningen 1986 (C. R. I. N. 15), S. 131–146. Ricœur verteidigt die Autonomie der narrativen »Intelligibilität« insbesondere gegen die »Rationalität« von »Diskurse[n] zweiten Grades« im Verhältnis zum Erzählen, nämlich »die Meta-Sprache der Narratologie und […] die der Historiographie zur Verfügung stehenden explikativen Konstruktionen« (S. 21). Im Weiteren charakterisiert er außerdem die spezifisch narrative Erkenntnisleistung als eine der »phronetische[n] Intelligenz« im Unterschied zur »theoretische[n]« (S. 22). 15 Vgl. Ricœur, Zufall (Anm. 14), S. 11–16 bzw. Ders., Contingence (Anm. 14), S. 11–15. 16 Ders., Zufall (Anm. 14), S. 17 f. 17 Ders., Zufall (Anm. 14), S. 17–20 bzw. Ders., Contingence (Anm. 14), S. 16 ff. 18 Ders., Zufall (Anm. 14), S. 16 f. bzw. Ders., Contingence (Anm. 14), S. 15 f. 19 Ders., Zufall (Anm. 14), S. 18 bzw. Ders., Contingence (Anm. 14), S. 16.
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sachen, die dem Handlungszusammenhang vorausliegen, sowie denkbarer Folgen über ihn hinaus mehr oder weniger evident erscheinen.20 Andererseits lässt sich diese Zäsurierung immer zugleich als Entscheidung der Erzählinstanz über die Grenzen des Erzählens betrachten: Erscheint sie nicht plausibel, dann drängt sich die Frage auf, weshalb gerade dies und nichts Anderes oder nichts Weiteres erzählt wird – das Erzählte insgesamt kann unter diesem Aspekt als kontingent wahrgenommen werden. In mündlicher Erzählrede kann diese Kontingenz durch den Situationsbezug aufgehoben sein oder dialogisch verhandelt werden. Im Medium der Schrift hängt ihre Virulenz nicht zuletzt von der ko(n)textuellen Einbettung und von paratextuellen Vorgaben ab: Ricœur selbst erinnert in diesem Zusammenhang an Lotmans Überlegungen zum ›Rahmen‹ des Textes.21 Vielleicht könnte man dies, Ricœurs Andeutungen weiterführend, folgendermaßen etwas präziser fassen: Kontingenz tritt in narrativer Rede nicht nur als Phänomen der Handlungsentwicklung und der Verknüpfung von Handlungssträngen auf, sondern kann ihr auch unter dem Aspekt der prinzipiellen Begrenztheit des von ihr präsentierten Weltausschnitts zugeschrieben werden. Dies wird in dem Maße relevant, in dem die Partialität und Perspektivität der erzählten Welt oder (zugleich) die Selektivität und Intentionalität des Erzählakts akzentuiert wird. Auch wenn solche Akzentuierungen am Anfang und am Ende eines narrativen Textes besonders wirkungsvoll sind, können dessen ›Ränder‹ selbstverständlich auch im Erzählprozess selbst (fokalisierend bis hin zu narrativen Paralipsen und Ellipsen22 oder auch durch explizite auktoriale praeteritio) konturiert und wahrnehmbar gemacht werden. Vielleicht sollte man also die Differenz zwischen den beiden Modalitätszuschreibungen nicht auf die aristotelische Handlungstriade beziehen, sondern stattdessen eine Kontingenz des Erzählens von der Kontingenzexposition im Erzählen unterscheiden. Während letztere, wie gesagt, mithilfe gängiger narratologischer Begrifflichkeit gut zu fassen ist, entzieht sich erstere einem engeren erzählanalytischen Skopus, denn sie lässt sich nur beschreiben, wenn an den ›Rändern‹ des Textes gegebenenfalls auch dessen mediale und kommunikative Bedingungen, paratextuelle Rahmungen, ko- und kontextuelle Nachbarschaften mitberücksichtigt werden. Wer nach der Diskursivierung von Kontingenz im Erzählen fragt, also nicht nur danach, wie sie im Erzählen zum Ausdruck, sondern auch, inwiefern sie in ihm zur Geltung kommen kann, der müsste möglichst beide 20 Ders., Zufall (Anm. 14), S. 16 bzw. Ders., Contingence (Anm. 14), S. 15. 21 Ders., Zufall (Anm. 14), S. 17 bzw. Ders., Contingence (Anm. 14), S. 15; vgl. Lotman, Jurij M., Die Struktur literarischer Texte. Übers. von Rolf-Dietrich Keil, München 41993 (UTB 103), S. 300–311. 22 Vgl. Genette, Gérard, Die Erzählung. Aus dem Franz. übers. von Andreas Knop, München 1994, S. 34 f., 76 ff. und 139 f.
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Aspekte in den Blick nehmen. Denn erst in der ›doppelten‹ Modalitätszuschreibung kann die spezifische – und vor allem auch eine je historisch spezifische – Form beobachtet werden, welche die »systematische Ambivalenz« des Kontingenten in der Narration annimmt. Die paradoxe Simultaneität von Notwendigkeit und Kontingenz in Duns’ Pointe weist eben darauf hin: An ihr zeigt sich in nuce, dass im Gegensatz zu abstrakter Reflexion das Erzählen unterschiedliche Modalitäten in komplexen, auch paradoxalen Überlagerungen präsentieren kann. Der Grund dafür liegt letztlich darin, dass nicht nur in der Perspektivenstruktur der erzählten Welt verschiedene Urteile und Geltungsansprüche zueinander ins Verhältnis gesetzt werden können, sondern dass diese Perspektivik auch auf der Ebene des Erzählens selbst nicht aufgehoben sein muss, sondern unentschieden bleiben kann. Dies ermöglicht nicht nur Relativierungen und Abstufungen anstelle eines logisch kontradiktorischen Gegensatzes zwischen Notwendigkeit und Zufälligkeit, sondern vor allem auch eine ›Verschachtelung‹ von Modalitätszuschreibungen, die deren Hierarchie abbilden, aber auch verunklaren oder kippen kann: Eine übergeordnete Instanz kann als notwendig erweisen, was aus untergeordneter Perspektive kontingent erscheinen mag – jedoch kann auch umgekehrt aus (vermeintlich) untergeordneter Perspektive die Notwendigkeitsbehauptung einer übergeordneten Instanz – ja sogar die des Erzählers selbst – bestritten werden. Eine ›oberste‹ Ebene, auf der diese potentiell rekursiven Wechselverhältnisse integriert würden, muss im Erzählen selbst nicht sichtbar werden; ihre Erwartung kann auf den Ko(n)text verschoben sein. Erzählen, so könnte man es zuspitzen, ist nicht selbst schon ein Ordnungsdiskurs, der dem Kontingenten nur vorläufig im Prozess der Ordnungsrestitution Geltung verleiht. Im Erzählen wird vielmehr stets die Differenz zwischen Zufälligem und Notwendigem prozessiert, und ob dies etwa der Bewältigung oder der Ausstellung von Kontingenz – oder eher noch einer Nezessitätsbewältigung23 – dient, hängt umso mehr von der ko(n)textuellen Einbettung ab, je deutlicher die Kontingenz des Erzählens selbst an seinen ›Rändern‹ akzentuiert wird.
23 So wäre eventuell ein Erzählen zu charakterisieren, welches inhaltlich wie performativ Aufschübe gegen den Zwang kultureller Normierungen und gegen die Unausweichlichkeit existentieller Grenzen geltend machen will. Das trifft besonders etwa auf novellistische Strategien eines ›Erzählens gegen den Tod‹ oder auch auf manche Spielarten der phantastischen und utopischen Erzählliteratur zu, soweit sie nicht nur ideale Weltentwürfe liefern, sondern in einer konstitutiv »unabschließbare[n], deutende[n] Annäherung« an die Kontingenz Potentialität vorstellbar machen (vgl. dazu Lachmann, Renate, Zum Zufall in der Literatur, insbesondere der phantastischen, in: Graevenitz/Marquard, Kontingenz [Anm. 2], S. 403–432, hier S. 426).
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3. Narrative Kontingenz Im späten Mittelalter ist eine gesteigerte Wahrnehmung und Problematisierung von Kontingenz nicht nur im theologisch-philosophischen Diskurs zu beobachten, sondern auch auf anderen epistemischen Feldern. Innerhalb der deutschen Literaturgeschichte werden insbesondere einige sogenannte Mären, meist mit schwankhafter Struktur, in dieser Hinsicht kontrovers diskutiert: Zufälligkeit spielt einerseits schon in ihren basalen Handlungsmustern und Motiven eine unübersehbare Rolle, andererseits aber werden sie – historisch oder systematisch – als Variationen exemplarischen Erzählens unter der Vorgabe didaktischer Funktionalität und eines entsprechend universalen Geltungsanspruchs wahrgenommen.24 Ein Text, der in diesem Zusammenhang immer wieder genannt wird, ist das unikal um 1430 in der sogenannten Liedersaal-Handschrift überlieferte, wohl bereits aus dem 14. Jahrhundert stammende Märe von den Drei Mönchen zu Kolmar.25 Es beginnt mit einem Promythion, das nicht eine wei24 Für den Diskussionszusammenhang um das Märe zwischen Exempel und Novelle sei lediglich pauschal auf die wichtigsten einschlägigen Beiträge von Klaus Grubmüller, Walter Haug, Joachim Heinzle, Hedda Ragotzky und Hans-Joachim Ziegeler hingewiesen. Im Rahmen dieser Diskussion kommt Kontingentes, wenn es nicht für eine quantité négligeable gehalten wird, zumeist als radikale Negation in den Blick – entweder als Konsequenz der gattungshistorischen Ablösung vom Exempelmodell oder als konsequente Realisierung eines gattungssystematisch vorgegebenen Potentials (vgl. zu ersterem jetzt Grubmüller, Klaus, Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter: Fabliau – Märe – Novelle, Tübingen 2006; zu letzterem: Haug, Walter, Entwurf zu einer Theorie der mittelalterlichen Kurzerzählung [Erstdruck 1993], in: Ders., Brechungen auf dem Weg zur Individualität. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters. Studienausgabe, Tübingen 1997, S. 427–454). Udo Friedrich hat hingegen gezeigt, dass die historische Entwicklung des märenhaften Erzählens nicht als Verdrängung der funktionalen Bindung durch ästhetische und literarische Autonomie zu beschreiben ist, weil diese Aspekte hier zunächst nicht voneinander geschieden werden und weil Phänomene, die man als literarische verstehen könnte, in den »Spielräume[n] rhetorischer Gestaltung« konstitutiv vorgegeben sind (Friedrich, Udo, Spielräume rhetorischer Gestaltung in mittelalterlichen Kurzerzählungen, in: Beate Kellner, Peter Strohschneider und Franziska Wenzel (Hgg.), Geltung der Literatur. Formen ihrer Autorisierung und Legitimierung im Mittelalter, Berlin 2005 [Philologische Studien und Quellen 190], S. 227–249). 25 Nieman, Die drei Mönche zu Kolmar, in: Neues Gesamtabenteuer, das ist Fr. H. von der Hagens Gesamtabenteuer in neuer Auswahl. Die Sammlung der mittelhochdeutschen Mären und Schwänke des 13. und 14. Jahrhunderts, Bd. 1, hg. von Heinrich Niewöhner. 2. Aufl., hg. von Werner Simon, Dublin und Zürich 1967, Nr. 30, S. 202–207. Auf Niewöhners Text basiert die im Folgenden benutzte Edition in: Novellistik des Mittelalters. Märendichtung, hg., übers. und komm. von Klaus Grubmüller, Frankfurt am Main 1996 (Bibliothek deutscher Klassiker 138; Bibliothek des Mittelalters 23), Nr. 32, S. 874–897. Zur Handschrift, dem ehemals Donaueschinger Codex 104, der sich inzwischen in der Karlsruher Landesbibliothek befindet, vgl. besonders Niewöhner, Heinrich, Der Inhalt von Laßbergs Liedersaal-Hand-
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ter reichende Geltung des Erzählten behauptet, sondern auf eine außergewöhnliche Geschichte (vremdiu mære) einstimmt und zugleich deren wârheit durch einen Gewährsmann verbürgt, welcher vom Ort des Geschehens – Kolmar – angereist sei (V. 1–6). Nach einer knappen Vorstellung der beiden Hauptfiguren, eines Kolmarer Ehepaars, wird die Handlung durch den Wunsch der ebenso frommen wie schönen Ehefrau initiiert, vor Ostern zur Beichte zu gehen. Nachdem sie einem Predigermönch gebeichtet hat, trägt dieser ihr zur Buße auf, sie solle unverzüglich mit ihm schlafen (V. 46 ff.). Vor dem Hintergrund geläufiger Schwankmotivik kommt das für den Rezipienten nicht unerwartet: Dass der Mönch den Liebesakt als Bußleistung deklariert, ruft zunächst Listmuster auf, in denen die erotische Absicht eines geistlichen Verführers – oft im Einvernehmen mit seiner Partnerin – im metaphorischen Hintersinn geistlichen Redens oder Tuns verborgen wird.26 Von einer stereotyp funktionierenden Schwankwelt hebt sich die ›wahre‹ Kolmarer Erzählwelt allerdings ab:27 Einerseits nämlich kommt die Bußforderung des Mönchs für die Frau überraschend. Sie begreift sofort, erschrickt und muss erst nachdenken, bevor sie hinhaltend antworten kann.28 Andererseits verhüllt der Mönch selbst seine Absicht nur halbherzig als auferlegte Buße: Listige Verstellung ist aus seiner Sicht nicht nötig; vielmehr bittet er nicht nur recht explizit, die Frau solle seinen willen tun, sondern verspricht ihr dafür von vornherein auch einen Lohn von dreißig Mark (V. 50). Offenbar kalkuliert er nicht die Naivität seines Gegenübers ein, sondern dessen beschrift, in: PBB 66 (1942), S. 153–196; Grubmüller, Klaus, [Art.] ›Liedersaal-Handschrift‹, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 5, Berlin und New York 21985, Sp. 818–822. 26 So dient etwa in dem Märe Der Guardian die Rede von Beichte und Buße der Verführung eines sexuell naiven Mädchens. Listig instrumentalisiert wird das Beichtsakrament außerdem beispielsweise in Des Weingärtners Frau und der Pfaffe, in Der vertauschte Müller oder in Die Beichte der zwölf Frauen. Vgl. zur »kommunikationsstrukturelle[n] Homologie von Beichte und Minnediskurs«, welche diese Listfunktion begünstigt: Lieb, Ludger und Strohschneider, Peter, Die Grenzen der Minnekommunikation. Interpretationsskizzen über Zugangsregulierungen und Verschwiegenheitsgebote im Diskurs spätmittelalterlicher Minnereden, in: Gert Melville und Peter von Moos (Hgg.), Das Öffentliche und Private in der Vormoderne, Köln, Weimar und Wien 1998 (Norm und Struktur 10), S. 275–305, hier S. 284. 27 Analog verläuft allerdings die Handlung in der nur fragmentarisch in einer Handschrift vom Ende des 15. Jahrhunderts erhaltenen Geschichte von der Frau des Seekaufmanns (in: Die deutsche Märendichtung des 15. Jahrhunderts, hg. von Hanns Fischer, München 1966 [MTU 12], Nr. 49, S. 415–418). 28 Da der Erzähler die Frömmigkeit der Frau betont (V. 21 ff.), kann man wohl davon ausgehen, dass sie nicht zum ersten Mal zur Beichte geht und jedenfalls der kirchlichen Minimalforderung einer jährlichen Beichte – zumindest zum Osterfest – schon zuvor entsprochen hat (vgl. die entsprechende Empfehlung des Vierten Laterankonzils: Denzinger, Heinrich, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, Freiburg im Breisgau, Basel und Wien 402005, S. 364, § 812).
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wusste Bereitschaft zur Prostitution. Dass man es nicht mit einem individuellen und spontanen Fehltritt zu tun haben könnte, zeichnet sich ab, als die Frau zwei weitere Beichtversuche bei einem Barfüßer und einem Augustinermönch unternimmt: Auch sie machen der Frau jeweils nach der Beichte ein entsprechendes – auf sechzig bzw. hundert Mark erhöhtes – Angebot, und jedes Mal entzieht sie sich mit der Ausrede, erst zu Hause prüfen zu müssen, ob die Gelegenheit günstig sei. Das Verhalten der Figuren impliziert also widersprüchliche Erwartungshorizonte: Aus der Sicht der Frau ist die Wahrscheinlichkeit durchaus gegeben, die Beichte korrekt ablegen zu können. Ihrer Perspektive verleiht der Erzähler durch die unzweideutig positive Wertung der Figur29 und durch die Mitteilung ihrer Gedanken(reden)30 hohes Gewicht. Die Wiederholbarkeit des Misserfolgs suggeriert hingegen, dass er aufgrund der verbreiteten luxuria der Mönche – zumindest in Kolmarer Klöstern31 – durchaus erwartbar wäre. Ob eher das eine oder das andere den Regularitäten der erzählten Welt entspricht, ist für den Rezipienten kaum zu entscheiden, denn der Erzähler verzichtet auf eine entsprechende Orientierung. Da zudem bereits das Promythion nicht etwa einen repräsentativen Anspruch der Geschichte angemeldet, dafür aber durch Lokalisierung und Authentifizierung die Begrenztheit der erzählten Welt als ›historisch‹ partikulare akzentuiert hat,32 scheint an ihrem Beginn die Kontingenz des Erzählens deutlich hervorzutreten.33 Welchen Status das Geschehen in dieser ersten Handlungsphase hat, bleibt zunächst auch deshalb unklar, weil der durch das Verhalten der Mönche ausgelöste Konflikt nicht sogleich handelnd ausgetragen, sondern durch den resignativen Handlungsverzicht der Frau suspendiert wird: Sie zieht sich nach dem dritten vergeblichen Beichtversuch weinend in die Kemenate ihres Hauses zurück, und die Handlung kommt erst wieder in Gang, als der Ehe29 V. 14–23, 36, 87 ff., 101. 30 V. 38 f., 51–58, 67 f., 71–76, 88 f., 105 ff., 133–138. 31 Seit dem frühen 14. Jahrhundert waren alle drei genannten Orden in Kolmar ansässig. 32 Auch im Verhältnis zum Kotext fällt diese akzentuierte Partikularität auf: Von den ersten siebzig Stücken der Sammlung – das Märe erscheint an 43. Stelle – wird jedenfalls kein anderes als vremdiu mære eingeführt, durch einen Städtenamen lokalisiert und durch einen Zuträger aus dieser Stadt authentifiziert. Niewöhners Versuch einer überlieferungsgeschichtlichen Rekonstruktion des Sammlungsarrangements lässt ebenfalls eine Sonderstellung der Drei Mönche zu Kolmar gegenüber ihrem Kotext erkennen (Niewöhner, Liedersaal-Handschrift [Anm. 25], S. 171 und 182 ff.). 33 Die Nennung Kolmars und die Spezifizierung der drei Orden mag daneben als konkrete satirische Spitze zu verstehen sein; vgl. Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Begründet von Helmut de Boor und Richard Newald, Bd. III/1: De Boor, Helmut, Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. Erster Teil: 1250–1350. 5., von Johannes Janota neubearb. Aufl., München 1997, S. 236. Die Aussageintention des Märe als Ganzes lässt sich aber nicht darauf beschränken.
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mann die Tränen seiner Frau bemerkt und sie drängt, ihm den Grund ihrer Trauer zu eröffnen. Ohne zu zögern, zettelt er nun eine Intrige an, die er seiner Frau gegenüber tröstend als Problemlösung anpreist: es wirt guot rât! (V. 165). Für den Rezipienten ist diese Aussage allerdings zweideutig, denn unmittelbar zuvor kann er der Gedankenrede des Mannes eine ganz andere Motivation entnehmen: Abhilfe soll die Intrige nicht so sehr der moralischen Not seiner Frau schaffen als der eigenen ökonomischen Not (V. 161–164). Schon in der Exposition der Geschichte hat man zwar von den stetigen und hohen Verlusten des Mannes erfahren, aber erst jetzt erhält dieser Umstand handlungsinitiierende Funktion. Und wie die Verluste keine rational fassbare Ursache zu haben scheinen, sondern dem gelücke zugeschrieben werden,34 so nimmt auch der Mann die aktuelle Situation als glückliche Gelegenheit wahr, wieder an Geld zu kommen. Die Entwicklung des Konflikts wird damit von einem deutlich kontingent eintretenden Faktor abhängig. Von diesem Umschlagpunkt an wird die Handlung durch einen Intrigenplan bestimmt, der von vornherein die Tötung der drei Mönche einkalkuliert: Sie werden zu unterschiedlichen Nachtzeiten ins Haus bestellt, wo sie von der Frau empfangen werden. Nachdem jeweils im Voraus der versprochene Liebeslohn entrichtet ist, schlägt der Ehemann von außen gegen die Hauswand. Auf den Rat der Frau hin springt der Mönch, um sich zu verstecken, in einen großen Zuber und verbrüht sich in dessen kochend heißem Wasser tödlich. Nun müssen nur noch die drei Leichen entsorgt werden: Ein zufällig vorbeiziehender betrunkener Student erklärt sich bereit, einen der toten Mönche, den der Ehemann vor die Haustür geschleppt hat, in den Rhein zu werfen. Während der Student unterwegs ist, trägt der Ehemann den zweiten Mönch vor das Haus und versagt dem zurückkehrenden Helfer den Lohn, denn er habe ja seine Arbeit noch nicht erledigt. Fluchend trägt der Student den vermeintlichen Wiedergänger davon, und dasselbe wiederholt sich mit der dritten Leiche. Diesmal jedoch trifft der Student auf seinem Rückweg vom Rhein einen zur Frühmesse eilenden Mönch. Erneut glaubt er, der Tote sei auf mysteriöse Weise vom Grund des Flusses wiedergekehrt; er packt den verdutzten Mönch, ohne auf die Einwände des völlig Ahnungslosen zu achten, schleppt ihn gewaltsam weg und wirft auch ihn ins Wasser. Der Tod des unbeteiligten Mönchs ist also das Resultat einer zufälligen Begegnung und eines Missverständnisses, das wiederum erst durch die List des Ehemanns ermöglicht (und durch die Trunkenheit seines Helfers wie durch die nächt34 V. 11–13: […] wan daz in vlôch alle tage / daz gelücke, daz im abe / guot gienc, daz unzellich ist. In V. 11 scheint mir die Lesart der Handschrift jm folget gegenüber Niewöhners und Grubmüllers Besserung in vlôch durchaus vertretbar. Die Kontingenz des Verlusts wäre damit noch deutlicher artikuliert, denn gelücke würde dann nicht das (günstige) Glück meinen, sondern das (neutrale) Geschick bzw. den Zufall, der erst durch den nachfolgenden Nebensatz als ungünstiger qualifiziert wäre.
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liche Dunkelheit vielleicht begünstigt) wird. Der Erfolg der Intrige, die mit der Auszahlung des Studenten zum Abschluss kommt, ist durch die überzählige Leiche allerdings nicht gefährdet. In Gedanken tadelt der Ehemann zwar das Handeln des Studenten und betet für die Seele des vierten Mönchs, aber er selbst fühlt sich offenbar nicht schuldig. Die Frage, in welcher übergeordneten Notwendigkeit die fatale Kontingenz dieses Kollateralschadens eventuell aufgehoben wäre, wird bis zum Ende der narratio weder innerhalb der erzählten Welt aufgeworfen, noch hat der Rezipient Anlass, sie zu stellen, solange er das Erzählte lediglich als staunen- und lachenerregende vremdiu mære nimmt.35 Erst das Epimythion verlangt ihm mehr ab, denn nun wird die Geschichte doch zum bîspel erhoben (V. 389), welches exemplarisch zeige, dass häufig ein unschuldic für die missetât eines schuldigen büßen müsse (V. 390– 393). Indem nun die zuvor nicht explizierte moralische Differenz ›schuldig‹ vs. ›unschuldig‹ auf die Geschichte angewandt wird, erhält diese also einerseits einen Ordnungsrahmen – aber nur, um andererseits ihre repräsentative Geltung gerade durch die Regelmäßigkeit des Ordnungsbruchs zu begründen. Hätte diu rede hier, wie der nachfolgende Vers konstatiert, tatsächlich ein ende (V. 394), dann würde damit recht deutlich eine paradoxe Geltung jener Zufälligkeiten beansprucht, die im Handlungsverlauf zum Tod eines Unschuldigen führen. Das skandalöse Ereignis erschiene als extremes Beispiel eines nicht weiter zu hinterfragenden alltäglichen Erfahrungswissens von Kontingenz: Derartiges nämlich bewært sich alle tage / und beschiht niht selten (V. 390 f.). Die kommentierende rede wird dann allerdings doch noch ein Stück weit fortgesetzt und zunächst gerade aus der zuvor betonten Kontingenz eine – allerdings sehr unspezifische – Lehre abgeleitet: dâ von hüeten sich gelîche / beide arm unde rîche / vor solîcher missetât (V. 395–397). Wenn diese Lehre anschließend noch einmal neu auf die narratio bezogen wird, dann geschieht dies jedoch nicht mehr unter dem Aspekt des Ordnungsbruchs, sondern unter dem der Ordnungsrepräsentation: Thematisiert wird nun nicht mehr die ungerechte Verschiebung der Strafe vom Schuldigen auf einen Unschuldigen, sondern die gerechte Strafe für den Missetäter selbst. Zugleich aber verschiebt sich der Fokus auf die Geschichte, denn statt des unverdient zu Tode gekommenen vierten Mönchs wird nun auf den verdienten Tod der ersten drei Mönche abgehoben. Dabei wird die Kontingenz, die auch hier dem Konnex zwischen Tun und Ergehen in der Handlungsentwicklung an35 Vgl. zur Komik in diesem Märe besonders Schupp, Volker, Die Mönche von Kolmar. Ein Beitrag zur Phänomenologie und zum Begriff des schwarzen Humors [Erstdruck 1968], in: Karl-Heinz Schirmer (Hg.), Das Märe. Die mittelhochdeutsche Versnovelle des späteren Mittelalters, Darmstadt 1983 (Wege der Forschung 558), S. 229–255.
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haftet, dadurch gewissermaßen anerkannt, dass sie den Mönchen selbst angelastet wird: Sie haben ungewonlich spil [versuochet] (V. 399), sind also bewusst ein hohes Risiko eingegangen und deshalb selbst für ihren schaden verantwortlich (V. 402).36 Und neben diesem immanenten, nicht unbedingt auch moralischen Urteil wird in den letzten Versen schließlich auch der transzendent begründete Konnex zwischen Sünde und Strafe angesprochen: Die Mönche verkêrten die bîht, und daz richet got (V. 403 f.). Die durchgängige syntaktische Verkettung der Aussagen im Epimythion kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die beiden gegensätzlichen exemplarischen Funktionalisierungen jeweils nur auf einen Teil des komplexen Handlungszusammenhangs zutreffen. Das Epimythion hat – markiert durch die verfrühte Schlussformel – eine Sollbruchstelle: Sie signalisiert, dass es die Geschichte, die insgesamt mehr ist als nur vremdiu mære, aber zu partikular, um als bîspel gelten zu können, nicht integrierend umfassen kann. Auch ex post sind somit weder die Zufälligkeiten der erzählten Welt noch ist die zu Beginn hervorgekehrte Kontingenz des Erzählens aufgehoben. Im Gegenteil: Da im letzten Vers der Aufruf der höchsten Ordnungsinstanz innerhalb der erzählten Welt (daz richet got […]) dezidiert einer auktorialen Instanz zugeschrieben wird, deren Name diesen Aufruf sogleich wieder annulliert ([…] sô Nieman spricht, V. 404),37 steht der Geltungsanspruch des Textes insgesamt ganz grundsätzlich in Frage.38
36 Die Mönche, so Werner Röcke, gehen »an ihrem Geschäftsrisiko« zugrunde (Röcke, Werner, schade und market. Zum Wandel feudaler Selbstverständigung im höfischen und schwankhaften Märe des Spätmittelalters, in: Danielle Buschinger [Hg.], Sammlung – Deutung – Wertung. Ergebnisse, Probleme, Tendenzen und Perspektiven philologischer Arbeit, Stuttgart 1988, S. 301–313, hier S. 313). 37 Die Handschrift hat: dez richet got _o niemā _pricht. 38 Im Hintergrund steht ein im lateinisch-klerikalen Milieu gängiges Pointenschema, das durch die einfache Personifikation des Pronomens nemo gerade die verbietenden und ausschließenden Aussagen des theologischen Diskurses bei unverändertem Wortlaut in Bestätigungen des Verbotenen und Ausgeschlossenen ummünzt und so die Autorität dieses Diskurses untergräbt; vgl. Schirmer, Karl-Heinz, Stil- und Motivuntersuchungen zur mittelhochdeutschen Versnovelle, Tübingen 1969 (Hermaea NF 26), S. 328. Dass ›Niemand‹ auch ein historisch belegter Familien(bei)name ist, relativiert die Pointe selbstverständlich in keiner Weise (anders Rosenfeld, Hans-Friedrich, [Art.] Niemand, in: Verfasserlexikon [Anm. 25], Bd. 6, 21987, Sp. 1001–1005, hier Sp. 1002). Vgl. zur Mehrdeutigkeit des letzten Verses auch Millet, Victor, Märe mit Moral? Zum Verhältnis von weltlichem Sinnangebot und geistlicher Moralisierung in drei mittelhochdeutschen Kurzerzählungen, in: Christoph Huber, Burghart Wachinger und Hans-Joachim Ziegeler (Hgg.), Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters, Tübingen 2000, S. 273–290, hier S. 289.
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4. Literarhistorische Kontingenz Mit einer solchen ambivalenten Offenheit ist literarhistorisch schwer umzugehen: Die paradoxe Geltung der Kontingenz muss möglichst selbst wiederum durch die Schließung der modalen ›Verschachtelungen‹ des Erzählens auf einer zu (re)konstruierenden ›obersten‹ Sinnebene aufgelöst werden, damit der Text einer bestimmten gattungs-, diskurs- oder kulturgeschichtlichen Position zugeordnet werden kann. Im Fall der Drei Mönche zu Kolmar hat dies bezeichnenderweise zu ganz unterschiedlichen Interpretationen geführt. Für Klaus Grubmüller beispielsweise repräsentiert die Geschichte insgesamt exemplarisch eine »gnadenlose Absurdität der Welt«, die »als eine von marionettenhaften Figuren bevölkerte und nach mechanistischen Regeln und Zufällen funktionierende Einrichtung denunziert« werde.39 Rüdiger Schnell hat dieser Deutung widersprochen und seinerseits versucht, eine repräsentative Gesamtaussage der Geschichte durch kontextualisierende Analyse zu erschließen:40 Die Widersprüche des Erzählten ebenso wie des Epimythions versteht er als Reflexionsanstoß, der den Rezipienten zwinge, dahinter »das grundsätzliche Problem zu begreifen«, nämlich das der Theodizee.41 Das Märe sei – von sekundärem »Erzählüberschuss« abgesehen – als »narrativ und diskursiv vorgetragene Darstellung der Theodizeefrage« zu verstehen.42 Schnells Interpretation zufolge ›spricht‹ der Text auf diese Weise allerdings nicht eigentlich in einen diskursiven Kontext ›hinein‹,43 sondern eher aus ihm ›heraus‹, denn sie setzt ganz selbstverständlich voraus, dass durch die Verschärfung der Frage nach der Geltung von Kontingenz nicht nur eine kontextuelle Berührung mit dem theologischen Diskurs vor einem gemeinsamen Problemhorizont zustande kommt, sondern dass auch die theoretische Bewältigung dieses Problems durch die Theologie von vornherein das Telos des Erzählens im Märe bilden muss. Das würde aber bedeuten, dass nicht nur die im Erzählen exponierten Kontingenzen, sondern auch die Selbstrelativierung der auktorialen Instanz und die damit akzentuierte Kontingenz des Erzählens lediglich Funktionen einer didaktisch motivierten Inszenie39 Grubmüller, Klaus, Kommentar zu Niemand: Die drei Mönche zu Kolmar, in: Novellistik des Mittelalters (Anm. 25), S. 1300–1307, hier S. 1304; ebenso in Ders., Die Ordnung (Anm. 24), S. 221. 40 Schnell, Rüdiger, Erzählstrategie, Intertextualität und ›Erfahrungswissen‹. Zu Sinn und Sinnlosigkeit spätmittelalterlicher Mären, in: Wolfram-Studien 18 (2004), S. 367–404, zu den Drei Mönchen S. 379–385. 41 Ebd., S. 384. 42 Ebd., S. 383. 43 Vgl. ebd., S. 379.
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rung wären: Die Brüchigkeit des Epimythions, so Schnell, solle zuletzt eine »naive, sich an der Oberfläche der Handlung orientierende Lektüre in Frage« stellen44 und zur epistemologischen Lösung des Theodizee-Problems führen: Die am Text wahrgenommene ›Unordnung‹ zeigt sich als Effekt der unzureichenden menschlichen Erkenntnisfähigkeit, und zugleich wird die Möglichkeit des Erzählens, eine solche ›Unordnung‹ darzustellen und ihr Geltung zu verleihen, ausgeschlossen. In der Konstruktion dieser ›obersten‹ Sinnebene fällt das Erzählen selbst mit unter die Prämisse des menschlichen Erkenntnisdefizits und wird so von vornherein als Ordnungsdiskurs ex negativo begriffen. Wie weit damit die Grenzen des Textes mittels einer ›Hermeneutik des Verdachts‹45 überschritten werden, zeigt sich mit Blick auf den vierten Mönch. Sein gewaltsamer Tod darf aus dieser Perspektive kein Zufall mehr sein, sondern macht ihn dem Interpreten auch noch suspekt: »Wer weiß schon, ob dieser Mönch nicht auch ›Dreck am Stecken‹ hat und somit Gott ihn seiner gerechten Strafe zugeführt hat?«46 Dafür freilich liefert das Erzählte keinen Anhaltspunkt, im Gegenteil: Abgesehen von der auktorialen Qualifikation als unschuldic besteht die einzige explizite Information, die die Erzählung über das ›Vorleben‹ des Mönchs preisgibt, darin, dass er sich offenbar gerade auf dem Weg ze mettî befunden hat, wo er seine Sünden gebüezet hân wollte (V. 351 f.). Wenn sein Tod solches vereitelt, dann könnte dies den Rezipienten an jenes Unrecht erinnern, das die Geschichte erst ins Rollen gebracht hat, nämlich die Verhinderung der Sündenreinigung.47 Will man hinter dem kontingenten Geschehen eine providentielle Fügung erkennen, dann würde also die göttliche Strafe für dieses Unrecht ausgerechnet in seiner gesteigerten Wiederholung resultieren. Wohl könnte man auch diese Irritation kasuistisch auflösen, jedenfalls aber würde auf diese Weise nicht einfach eine im Text selbst konturierte ›Leerstelle‹ gefüllt, sondern der Text nach Maßgabe einer diskursiven Position korrigiert, die jenseits seiner Grenzen liegt. 44 Ebd., S. 384. 45 Vgl. Ricœur, Paul, Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, übers. von Eva Moldenhauer, Frankfurt am Main 41999; Ders., Der Konflikt der Interpretationen, 2 Bde., München 1973 f. 46 Schnell, Erzählstrategie (Anm. 40), S. 385. 47 In der Stofftradition – und insbesondere in dem Fabliau Estormi, das dem Märe stoffgeschichtlich am nächsten steht (ohne sicher als dessen ›Vorlage‹ gelten zu können) – ist dieser Zusammenhang nicht vorgeprägt: Einerseits sind nur im Märe die Verführungsversuche der sehr viel ausführlicher erzählten ersten Handlungsphase an das Beichtmotiv geknüpft; andererseits befindet sich das unglückliche vierte Opfer der Intrige im Fabliau nicht auf dem Hin-, sondern bereits auf dem Rückweg von der Frühmesse, und erst im Märe wird explizit darauf hingewiesen, dass die Messe Gelegenheit zur Sündenreinigung bietet (vgl. [Hues Piaucele,] Estormi, in: Nouveau recueil complet des fabliaux, hg. von Willem Noomen und Nico van den Boogaard, Bd. 1, Assen 1983, S. 1–28).
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Den Zufälligkeiten, die das Geschehen in den Drei Mönchen zu Kolmar prägt, kann, wie es scheint, nur dann (literar)historische Signifikanz zugeschrieben werden, wenn man sie entweder verabsolutiert oder eliminiert.48 Im ersten Fall würde der Text einen radikalen Gegenentwurf zur göttlichen Weltordnung repräsentieren, im zweiten letztlich diese selbst. Um jedoch den Anspruch, anhand eines Weltausschnitts die Weltordnung insgesamt entweder zu negieren oder zu affirmieren, plausibel machen zu können, müssen beide Deutungsoptionen die im Text profilierte Kontingenz des Erzählens überspringen. Was aber würde es bedeuten, diesen Aspekt des Textes ernst zu nehmen? Man müsste dann, denke ich, damit rechnen, dass er in seiner gesteigerten Partikularität einer exemplarischen Funktionalisierung an sich widerstrebt. Seine Pointe bestünde darin, dass er nicht ›die‹ Ordnung oder ihr Gegenteil repräsentiert, sondern die Möglichkeit – und eventuell auch die konventionelle Erwartung – eines solchen universalen Geltungsanspruchs in Frage stellt oder sogar dementiert. Er würde erzählend nicht ›der‹ Ordnung oder ihrem Gegenteil, sondern einer unabgestimmten Konkurrenz heteronomer Teilordnungen Evidenz verleihen: jener nämlich der Religion und der Ökonomie, die im Verlauf der Geschichte derart prekär ineinander greifen, dass sie in den Grenzen des Texts nicht zu hierarchisieren sind.49 Hierzu noch eine abschließende Beobachtung. Das Handeln der Figuren in den Drei Mönchen zu Kolmar ist an dem Prinzip orientiert, jede sich bietende Gelegenheit zum Geldgewinn zu nutzen. Schon die Versuche der Mönche, den Liebesdienst ihres Beichtkindes zu 48 Auch Millet, Märe mit Moral (Anm. 38) nivelliert alle Brüche und reduziert jede Kontingenz des Märe auf die Repräsentation einer letztlich göttlich garantierten Ordnung: Die moralisatio sanktioniere »die Handlung und ihr Ergebnis, indem sie sie durch Gott gutheißen läßt« (S. 290). Ganz im Gegensatz zu Schnell (und weniger plausibel) begründet Millet dies nicht durch den Anschluss des Textes an die Komplexität des gelehrten theologischen Diskurses, sondern als Wirkung eines »extrem simple[n], ja instrumentale[n] Gottesverständnis[ses]« (ebd.). 49 Vgl. zum ökonomischen Aspekt v. a. Röcke, schade und market (Anm. 36). Auch stoffgeschichtlich scheint die Schärfung dieser Geltungskonkurrenz ein Charakteristikum der Drei Mönche zu Kolmar im Vergleich zu anderen Varianten des weit verbreiteten Handlungsmusters AaTh 1536 darzustellen (vgl. zur Stofftradition Grubmüllers Kommentar, in: Novellistik des Mittelalters [Anm. 25], sowie Roth, Klaus, [Art.] Bucklige: Die drei B[ucklige]n, in: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 2, Berlin und New York 1979, Sp. 980–987). Im Vergleich zu Estormi fällt nicht nur die gesteigerte Kontingenz des Geschehens und die Akzentuierung von religiösen und ökonomischen Aspekten auf, sondern auch deren motivationale Entkopplung: Im Fabliau sind einerseits die Geldangebote der geistlichen Verführer ausdrücklich dadurch begründet, dass sie über die Armut der Eheleute Bescheid wissen (Estormi, V. 12–16); andererseits sieht nicht nur der Mann, sondern von Anfang an auch seine Frau im Geldgewinn das Hauptziel der Intrige, die sie selbst vorschlägt (ebd., V. 52–78). Im Epimythion schließlich wird explizit dem verwerflichen Angebot, das mit der Käuflichkeit der Ehefrau rechnet, deren auch durch Armut nicht relativierte Ehrbarkeit entgegengestellt (ebd., V. 592–605).
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kaufen, setzen dieses Prinzip voraus,50 und der Intrigenplan des Ehemannes bestätigt die Geltung dieses Prinzips in der erzählten Welt. Die moralische Empörung seiner Frau wird dadurch relativiert, dass sie dem Intrigenplan ohne Weiteres zustimmt und aktiv an dessen Ausführung mitwirkt, wobei ihre eigene, eventuell abweichende Handlungsmotivation narrativ ausgespart bleibt. Auch auktorial wird eine Straf- oder Rachefunktion der Intrige nicht expliziert, so dass der ökonomisch-eigennützige und der religiös-moralische Sinn des Geschehens sich unvermittelt überlagern. Oberhalb der Kausalitäten der Intrige deutet immerhin die unverhältnismäßig grausame Todesart der drei Mönche einen finalen Zusammenhang zwischen Vergehen und Vergeltung an, denn das Verbrühen in kochendem Wasser könnte allgemein an verbreitete Höllenstrafmotive erinnern und im Besonderen als spiegelnde Strafe für die ›heiße‹ Sünde der luxuria verstanden werden.51 Eine eventuell darin indizierte höhere Notwendigkeit des fragwürdigen Geschehens wird allerdings durch dessen kontingente Fortsetzung, den Tod des vierten Mönchs, sofort wieder zweifelhaft.
50 Falls der merkwürdige Name des ersten Mönchs, Teciâ (V. 216), sich durch das allerdings sehr schwach belegte Lexem tecia mit der Bedeutung impositio, exactio erklären ließe (Du cange, Charles du Frense, Glossarium mediae et infimae latinitatis, Bd. 8, Niort 1887, S. 43), dann wäre auch dadurch die tiefe Verankerung des monetären Prinzips in der Erzählwelt signalisiert. 51 Im Fabliau Estormi werden die Mönche auf andere Weise getötet. Eine ähnliche Szene findet sich hingegen im Lai Equitan der Marie de France: Dort überrascht ein Seneschall seine Frau und den König, seinen Herrn, beim Liebesspiel. Der König springt daraufhin nackt in einen Badezuber mit siedend heißem Wasser, den das ehebrecherische Paar eigentlich für den Seneschall vorgesehen hatte. Nachdem sich der König tödlich verbrüht hat, taucht der Seneschall auch seine untreue Frau kopfüber in den Zuber und tötet sie so (Marie de France, Die Lais. Übers., mit einer Einleitung, einer Bibliographie sowie Anmerkungen versehen von Dietmar Rieger, München 1980 [Klassische Texte des romanischen Mittelalters 19], S. 130–151, hier S. 146 ff., V. 263–306). Feuersee und siedende Kessel als spiegelnde Höllenstrafe für unkeusche Priester, die zu Lebzeiten hatten geswebet in der girekeit aller wollust und hatten hie gebrant in der verwassenen unkúschekeit, finden sich beispielsweise bei Mechthild von Magdeburg (Das fließende Licht der Gottheit, hg. von Gisela Vollmann-Profe, Frankfurt am Main 2003 [Bibliothek deutscher Klassiker 181; Bibliothek des Mittelalters 19], S. 348, Buch V, cap. XIV). Im Bereich des irdischen Rechts hingegen ist die Strafe des Siedens in Wasser oder Öl – formelhaft als Richten ›mit dem Kessel‹ – mit spiegelnder Bedeutung vor allem für Falschmünzerei, später auch für Urkundenfälschung und falsches Zeugnis belegt (vgl. mit Quellennachweisen: Günther, L[ouis], Die Idee der Wiedervergeltung in der Geschichte und Philosophie des Strafrechts. Abt. 1: Die Kulturvölker des Altertums und das deutsche Recht bis zur Carolina, Erlangen 1889, S. 243–246; außerdem: Desnier, Jean-Luc, La justice du chaudron ou le chaudron de vérité, in: Schweizer Münzblätter 36 [1986], S. 95–101, und Bischofberger, Hermann, Das Sieden als Todesstrafe in der Schweiz, in: Schweizer Münzblätter 37 [1987], S. 59–64). Das Sieden als Strafe für einen Geldfälscher soll unter anderem 1275 auch in Kolmar vollzogen worden sein (Annales Basilienses, in: Monumenta Germaniae Historica SS, Bd. 17, Hannover 1861, S. 193–202, hier S. 198, Z. 33 f.).
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Der vierte Mönch zu Kolmar
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Erstaunlicherweise wird nun diesem Ereignis, dessen Zufälligkeit auch durch seine Überzähligkeit im triadischen Strukturgefüge der Geschichte52 deutlich hervortritt, im Nachhinein ebenfalls eine die Kausalitäten der Figurenebene übersteigende finale Stimmigkeit zugeschrieben. Als der Student vom Ehemann endlich den versprochenen Lohn für seine Arbeit erhält, stellt sich nämlich heraus, dass in dem im Voraus festgelegten Betrag – vier Pfennige – die überzählige Arbeit offenbar schon einkalkuliert ist: einen münch umb einen pfenning, so rechnet der Erzähler vor, het der schuoler hin getragen (V. 378 f.). Diese merkwürdige ›Fügung‹ lässt sich schwerlich der göttlichen Providenz zuschreiben; eher könnte sie auf die Intentionalität hinweisen, mit der die Instanz des Autors den Auftritt des vierten Mönchs arrangiert hat. Sie würde dann die auktoriale Willkür anzeigen, für die sein Leiden – ähnlich wie das von Duns Scotus für die Leugner der Kontingenz postulierte – auf paradoxe Weise notwendig ist, damit seine Zufälligkeit augenscheinlich werden kann. Immerhin kann man auch dies als Indiz dafür nehmen, dass die narrative Kasuistik wohl nicht auf ihre Auflösung hin berechnet ist. Der Kontext der Theodizee-Diskussion ist für das Märe sicher relevant. Es ist aber nicht durch die theoretischen Diskurse dieses Kontextes determiniert, sondern hebt sich von ihnen ab: Selbstverständlich geschieht dies nicht, indem etwa auf gleichem diskursiven Niveau die Argumente der theoretischen Kontingenzbewältigung widerlegt würden, sondern indem Kontingenz nicht theoretisch, sondern auf spezifisch narrative Weise diskursiviert wird. Erzählt wird ein von Zufälligkeit geprägtes Geschehen – und zugleich tritt Kontingenz als Voraussetzung der narrativen Rede hervor. Diese akzentuierte Kontingenz des Erzählens mag den Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit gleichgesetzt werden, und aus theologischer Sicht kann das narrativ vermittelte Wissen dann als vorläufig, scheinhaft und deshalb nichtig wahrgenommen werden. Vom diskursiven Standpunkt des Märe aus aber bliebe erst noch zu klären, ob die narrative Partialität und Perspektivität nicht selbst einen eigenen Geltungsanspruch begründet, der sich dezidiert von der universalen Ordnungsgewissheit des theoretischen Diskurses absetzt. Kontingenz kommt hier – beispielhaft für eine bemerkenswerte Tendenz des spätmittelalterlichen Märenerzählens überhaupt – als a priori nicht abzulei52 Die drei Handlungsphasen (Beichtversuche der Frau, listige Tötung der Mönche, Beseitigung ihrer Leichen) sind aufgrund der Dreizahl der Mönche jeweils in ebenso viele Teilepisoden gegliedert. Die Figurenkonstellationen sind ebenfalls triangulär: Zunächst entwickelt sich die Intrige auf der Basis des konventionellen Ehebruchsdreiecks, sodann in den Relationen zwischen dem Ehemann, seinem Helfer und den zwar toten, aber immer noch ›agierenden‹ Mönchen. Schirmers Gliederungsschema, das die Handlung in zwei große Abschnitte zu je drei ›Akten‹ einteilt, nivelliert die strukturell hervorstechende Irregularität des vierten Mönchs zugunsten scheinbar symmetrischer Geschlossenheit (Schirmer, Stil- und Motivuntersuchungen [Anm. 38], S. 99 f.).
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Michael Waltenberger
tendes Erfahrungswissen zur Geltung. Anders als bei Duns Scotus resultiert diese epistemische Aufwertung der Kontingenz nicht aus dem Bestreben, die umfassende Einheit der göttlichen Weltordnung durch die Bewältigung einer theoretischen Aporie neu abzusichern, sondern kann wohl als Verarbeitung einer tiefgreifenden epistemischen Verunsicherung verstanden werden: der Erfahrung nämlich, dass das alltägliche Handeln sich immer stärker an Teilordnungen (der religiösen Moral oder des ökonomischen Zwecks) ausrichtet, deren Hierarchie nicht mehr selbstverständlich ist und deren umfassende Einheit immer weniger greifbar wird. Dass in den Drei Mönchen zu Kolmar der göttliche Wille zur gerechten Rache die Notwendigkeit des Weltgeschehens in jedem Moment garantiere, kann jedenfalls im Rückblick auf den erzählten Weltausschnitt Niemand ernstlich behaupten.
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Zeitperspektiven Das Beobachten von Providenz und Kontingenz in der Buhlschaft auf dem Baume
Das Märe Das Studentenabenteuer A erzählt von zwei schuler, die nach Paris an die Universität wollen.1 Auf dem Weg begegnen sie einer Mutter und ihrer Tochter. Der eine schuler ist von der Schönheit der Tochter so hingerissen, dass sie ihr folgen und ihren Vater um Herberge bitten. Alle nächtigen in einem Zimmer, und es kommt zu einem ausgiebigen Bettentausch: Der eine Student steigt zur Tochter ins Bett, da er deren Zuneigung bereits am Vorabend beim Leseunterricht gewonnen hat. Als die Mutter bald darauf das Zimmer kurz verlässt, stellt der zweite Student die Krippe neben sein Bett. Er kann dadurch die Mutter, die sich an jener orientiert, zu sich ins Bett locken. Der Verführer der Tochter kehrt nach vollbrachter Tat zurück, orientiert sich aber ebenfalls an der Krippe und landet auf dem leeren Platz neben dem Hausherrn. In der Annahme, es handle sich um seinen gesellen, erzählt er dem wirt von seinem Liebesabenteuer. Dieser ärgert sich über seine vermeintlich betrunkene Frau und beginnt sein Gegenüber zu schlagen. Die Mutter und der Student, die sich im anderen Bett miteinander vergnügt haben, erwachen. Die Mutter holt Licht und währenddessen können alle wieder ihren angestammten Platz einnehmen. Die Mutter, die erst jetzt erkennt, dass sie nicht bei ihrem Mann gelegen hat, redet diesem ein, er sei einer Täuschung des Teufels aufgesessen. Das Märe endet folgendermaßen: Do ea tagen pegan Die _chuler _chieden von dan 1 Das Studentenabenteuer A ist in drei Handschriften und einem Fragment überliefert und wird ins 13. Jh. datiert; vgl. Kully, Rolf Max, [Art.] Studentenabenteuer A, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 9, Berlin und New York 21995, Sp. 461–464; Beschreibung der Handschriftenverhältnisse und kritischer Text bei Stehmann, Wilhelm, Die mittelhochdeutsche Novelle vom Studentenabenteuer, Berlin 1909 (Palaestra. Untersuchungen und Texte aus der deutschen und englischen Philologie 67), S. 1–30; 198–216. Da Stehmann die hier zitierte Stelle entgegen allen Handschriftenbelegen umstellt (vgl. Anm. 3), wird hier die Edition der Wiener Handschrift zitiert: Schmid, Ursula, Codex Vindobonensis 2885, Bern und München 1985 (Deutsche Sammelhandschriften des späten Mittelalters; Bibliotheca Germanica 26), S. 33–44.
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Susanne Reichlin
Mit vrlwb auf ir _traaaen. Si lachten ane maaaen Von di_er gemeleichen tat, Vnd daa _ich des gelükes rat Vnd ir _elden _cheiben Sich al_o lieaaen treiben. (V. 465–472)
Das Motiv des Bettentausches (Tale of the Cradle) ist beliebt, und der Handlungsverlauf wird trotz unterschiedlicher Kontextualisierungen meist ähnlich motiviert.2 Die gerade zitierten Schlussverse finden sich meines Wissens jedoch nur im anonym überlieferten Studentenabenteuer A. An die traditionelle Sinnstiftung im Epimythion hängt der mittelhochdeutsche Text somit zusätzlich eine Deutung des Geschehens durch die Protagonisten an, die in mehrerer Hinsicht irritiert:3 Erstens ist der Fortuna-Topos eigenartig verdoppelt: rat und scheibe, gelük und selde stehen nebeneinander, ohne dass deren Verhältnis bildlich aufgelöst würde.4 Zweitens sind Subjekt- und Objektposition der Aussage ambivalent: Lassen sich die Schüler vom Glücksrad treiben, lassen sie es treiben oder treiben sie es gar selbst an?5 In letztem Falle 2 Vgl. zum Motiv Ziegeler, Hans-Joachim, Boccaccio, Chaucer, Mären, Novellen: The Tale of the Cradle, in: Klaus Grubmüller, Peter L. Johnson und Hans-Hugo Steinhoff (Hgg.), Kleinere Erzählformen im Mittelalter, Paderborn 1988, S. 9–31; Frosch-Freiburg, Frauke, Schwankmären und Fabliaux. Ein Stoff- und Motivvergleich, Göppingen 1971 (GAG 49), S. 119–128; Stehmann, Studentenabenteuer (Anm. 1), S. 84–120. Weitere Literatur: Ziegeler, Hans-Joachim, Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispeln und Romanen, München 1985 (MTU 87), S. 288–296; Kugler, Hartmut, Über Handlungsspielräume im Artusroman und im Maere, in: Helmut Brall, Barbara Haupt und Urban Küsters (Hgg.), Personenbeziehungen in der mittelalterlichen Literatur, Düsseldorf 1994 (Studia humaniora 25), S. 251–268; Neuschäfer, Hans-Jörg, Boccaccio und der Beginn der Novelle. Strukturen der Kurzerzählung auf der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit, München 1969 (Theorie und Geschichte der Literatur und der Schönen Künste 8), S. 27 f., Anm. 16. 3 Stehmann, Studentenabenteuer (Anm. 1), S. 238 bemerkt: »Höchst auffällig ist, daß die ausführliche Moral nicht am Schluß der Novelle steht, sondern diese auseinanderreißt. Zwischen [V.] 456, Schluß der Täuschungsscene, und [V.] 465, Tagesanbruch und Abreise der Schüler, kann nicht die allgemeine Apostrophe der Hörer stehn.« Er fordert deshalb, entgegen dem Wortlaut aller Handschriften die Reihenfolge zu ändern und das Epimythion (V. 457–464) ans Ende zu stellen: »Nun erhält die persönliche Wendung [V.] 470–472 Bedeutung und Zweck: sie dient als Überleitung zur Schlußmoral«. 4 Zur Semantik der mittelhochdeutschen Fortuna-Topoi vgl. de Boor, Helmut, Fortuna in mittelhochdeutscher Dichtung, insbesondere in der Crône Heinrichs von dem Türlin, in: Hans Fromm u. a. (Hgg.), Verbum et signum. FS Friedrich Ohly, Bd. 2, München 1975, S. 311– 328, hier S. 313 f. und S. 315. Er betont, dass meist sælde personifiziert werde (vro Sælde), dagegen aber vom gelückes rat oder schîbe die Rede ist. 5 Stehmann, Studentenabenteuer (Anm. 1), S. 239 liest die Schüler als vom Glücksrad getriebene: »Sie lachten unmässig über diese Heldentat und liessen sich vom Glücksrad treiben«. Ziegeler, Tale of the Cradle (Anm. 2), S. 25 paraphrasiert dagegen: »[…] die schuoler können des gelückes rat […] weiter treiben lassen.«
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würde auf die seltenere Tradition des dahinrollenden Rades angespielt, das entweder nie da ist, wo der Glücksuchende ist, oder, wenn er es doch einmal erhaschen kann, so ergreift er ein trügerisches Glück, das sich ihm bald wieder entziehen wird.6 Doch unabhängig von den unterschiedlichen Lesarten von Subjekt- und Objektposition erstaunt drittens vor allem die moralische Entfunktionalisierung des Fortunarades: In der ikonographischen Tradition wird das Rad meist mit Aufstieg und Fall eines Einzelnen oder von Dynastien verknüpft. Es erinnert den Glücklichen an die Unbeständigkeit seines irdischen Glücks – oder tröstet den Unglücklichen – und ruft zur Konzentration auf unveränderliche, transzendente Werte auf.7 Demgegenüber verstehen die schuler die im Rad implizierte Unbeständigkeit als ›Produktion‹ von Chancen. Sie versuchen nicht, das Rad (bzw. die Räder) anzuhalten, sondern freuen sich über dessen Geschwindigkeit und lachen darüber, dass eine ergriffene Chance die nächste nach sich zieht.8 Diese Deutung ist zwar nur als personale Sichtweise der schuler dargestellt,9 doch deckt sich deren Gelächter mit demjenigen des Publikums. Damit, so könnte man meinen, wird der Topos des gelükes rat radikal umgedeutet: Er verweist nicht mehr auf transzendente Werte, sondern auf das schnelle Ergreifen der Möglichkeiten, die im unsteten Wandel aufblitzen.10 6 Vgl. de Boor, Fortuna (Anm. 4), S. 318. 7 Im Anschluss an den wirkmächtigen Aufsatz von Doren, A[lfred], Fortuna im Mittelalter und in der Renaissance, in: Fritz Saxl (Hg.), Vorträge der Bibliothek Warburg, Bd. 2, 1. Teil, Nendeln 1967 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1922/23], S. 71–145 wird gewöhnlich davon ausgegangen, dass die Unbeständigkeit der Fortuna seit der ›Christianisierung‹ durch Boethius auf die Wertlosigkeit irdischer Güter hinweist. Vgl. auch Courcelle, Pierre, La consolation de philosophie dans la tradition littéraire, Paris 1967 und Meyer-Landrut, Ehrengard, Fortuna. Die Göttin des Glücks im Wandel der Zeiten, München und Berlin 1997. Dass diese Beschreibung des Fortuna-Topos für die eher seltenen Belege in der mittelhochdeutschen Literatur nur bedingt zutrifft, zeigt de Boor, Fortuna (Anm. 4); vgl. dazu auch die Einleitung d. Vf. in diesem Band. 8 Eine ähnliche Formulierung – in ihrer Tendenz aber noch eindeutiger – findet sich auch im Pfaffen Amis. Nach dem Betrug in Konstantinopel sagt der Pfaffe: Ich bin des worden gewar, / swer gut erwerben kan, / der wirt da schire ein richer man. / Ich wil der selden schiben / williclichen triben, / seit si mir so vaste gat (V. 1826–1831; Der Stricker, Der Pfaffe Amis. Nach der Heidelberger Handschrift cpg 341, hg., übers. und kommentiert von Michael Schilling, Stuttgart 1994 [RUB 658]). Vgl. dazu auch Strohschneider, Peter, Kippfiguren. Erzählmuster des Schwankromans und ökonomische Kulturmuster in Strickers Amis, in: Jan-Dirk Müller (Hg.) unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner, Text und Kontext. Fallstudien und theoretische Begründungen einer kulturwissenschaftlich angeleiteten Mediävistik, München 2007 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 64), S. 163–190, hier S. 178. 9 Stehmann, Studentenabenteuer (Anm. 1), S. 38 deutet die gesamte Szene dagegen als Kritik an der Haltung der Schüler: »[…] die Schüler [scheiden] lachend, als wäre die Tat ihr Verdienst, während sie doch nur vom Glücksrad getrieben wurden.« 10 Doren, Fortuna (Anm. 7), S. 115 erwähnt ein Gedicht von Machiavelli, in dem Fortuna mehrere Räder hat, und der Einzelne, sobald sein Rad zu fallen anfängt, auf ein anderes springen muss. Dies deutet an, wohin die Verdoppelung des Rades führen könnte.
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Eine solche Haltung wird bei etwas späteren Zeugnissen meist als Beginn eines modernen Umgangs mit Kontingenz gedeutet.11 Doch sollen hier keine Epochenschwellen verhandelt, sondern die Fortuna-Anspielung zum Anlass genommen werden, um nach dem Verhältnis der Binnenmotivierung der Schwankhandlung zu ihren nachträglichen Deutungen zu fragen. Die Deutung des Geschehens durch die beiden Protagonisten hat eine ähnliche Struktur wie das vorangehende Epimythion: Beide Male wird das erzählte Geschehen rückblickend auf übergreifende Gesetzmäßigkeiten hin gelesen. Die beiden Schüler verstehen es als Zeugnis der Beständigkeit des Unbeständigen und versprechen sich weitere Chancen. Der Erzähler versteht das Schwankgeschehen dagegen als Ausdruck des Sprichwortes _tat macht den diep (V. 464) und fordert die Leser auf, niemandem solche Gelegenheiten zu bieten. In beiden Deutungen kommt dabei der _tat, also der sich ergebenden Gelegenheit, eine zentrale Rolle zu. Das Epimythion geht davon aus, dass es in der Macht des Einzelnen liegt, solche Gelegenheiten zu bieten oder zu verhindern, die Studenten betonen dagegen, dass es darum geht, sie zu nutzen. Betrachtet man nun die Schwankhandlung, so findet sich die _tat in den verschiedenen leeren Betten geradezu konkretisiert: Der leere Platz materialisiert die Gelegenheit, die sich den Studenten wiederholt anbietet. Er löst strukturell eine Handlungsepisode aus und ist zugleich deren Ergebnis, da bei jeder Verschiebung ein neuer leerer Platz frei wird. Dementsprechend liegt die Pointe des Märes nicht in der einmaligen zufälligen Gelegenheit (_tat), sondern in deren Wiederholung. Die Verschiebungen von einem Bett zum nächsten und die sie auslösenden Zufälle werden so lange wiederholt, bis die Erzählstruktur (i. e. die mechanische Rotation der Figuren von einem leeren Platz zum nächsten) transparent ist. Die Pointenstruktur der Erzählung basiert also darauf, das Geschehen als ein strukturell motiviertes auszuweisen. Gegenläufig dazu kann aber auch eine ausführliche kausale Motivierung beobachtet werden. Die einzelnen Rochaden werden meist sehr ausführlich begründet12 – beispielsweise wenn die Gedanken des alleine im Bett liegenden 11 Zu dieser verbreiteten These nur einige exemplarische Belege: Doren, Fortuna (Anm. 7), S. 135; Haug, Walter, Kontingenz als Spiel und das Spiel mit der Kontingenz. Zufall, literarisch, im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard (Hgg.), Kontingenz, München 1998 (Poetik und Hermeneutik 17), S. 151–172, hier S. 157; Hahn, Alois, Risiko und Gefahr, in: ebd., S. 49–53, hier S. 49 f.; Vogl, Joseph, Poetik des ökonomischen Menschen, in: Zeitschrift für Germanistik N. F. 17/3 (2007), S. 547–560, hier S. 549; Müller, Jan-Dirk, Die Fortuna des Fortunatus. Zur Auflösung mittelalterlicher Sinndeutung des Sinnlosen, in: Walter Haug und Burghart Wachinger (Hgg.), Fortuna, Tübingen 1995 (Fortuna vitrea 15), S. 216–238, hier S. 231–234. 12 Fischer, Hanns, Studien zur deutschen Märendichtung, Tübingen 21983, S. 132 versteht das detailreiche Erzählen im ersten Teil als »Arbeiten mit funktionslosen Geschehniselementen«. Ziegeler, Tale of the Cradle (Anm. 2), S. 24 zeigt dagegen, dass es sich um eine »exakt kalkulierte Motivkette« handelt, bei der das »traditionelle[] Handlungsschema« umbesetzt wird.
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Studenten geschildert werden, die dann zur Verschiebung der Krippe führen (V. 337–340).13 Es entsteht der Eindruck, dass kausale und strukturelle Motivierung geradezu gegeneinander ausgespielt werden. So motiviert der Erzähler des Studentenabenteuer eine Rochade, die in den anderen Versionen kausal gut begründet ist, explizit nicht:14 nu waia ich waa ea machte / Daa diw fraw her aua gie (V. 342 f.), sagt er, als die Mutter ihr Bett verlässt. Mittels der expliziten Verweigerung der kausalen Motivierung verweist er augenzwinkernd auf die strukturelle Logik des Geschehens. Diese sich überlagernden Motivationen werfen die in der Märenforschung15 breit diskutierte Frage auf, wie sich Zufälle auf der Handlungsebene und eine allfällige ›Erzählstrategie‹ zueinander verhalten: Stellen wiederholte Zu13 Ebenso zieht der Student anschließend das Kleinkind am Ohr, damit die Aufmerksamkeit der Mutter auf die Krippe gelenkt wird (V. 350). 14 So steht im französischen Fabliau Gombert et les deux clercs der Hausherr auf, um aufs Klo zu gehen. Der Schüler verschiebt die Krippe und steigt, als der Hausherr im falschen Bett eingeschlafen ist, zu dessen Frau (V. 84–115; Nouveau Recueil Complet des Fabliaux [NRCF], hg. von Willem Noomen und Nico Von den Boogard, Maastricht 1988, S. 281–301). Im Studentenabenteuer B von Rüdeger von Munre wird das Aufstehen der Mutter dadurch motiviert, dass ein Brett knarrt und die Mutter glaubt, die Tür sei nicht geschlossen (V. 468–473; Rüdeger von Munre, Irregang und Girregar, in: Gesammtabenteuer. Hundert altdeutsche Erzählungen. Ritter- und Pfaffen-Mären, Stadt und Dorfgeschichten, Schwänke, Wundersagen und Legenden, 3. Bd., hg. von Friedrich H. von der Hagen, Stuttgart und Tübingen 1850, S. 43–82). In Boccaccios Version (Dec. IX,6) wirft die Katze etwas um und die Mutter geht hinaus, um nachzuschauen, was geschehen ist; vgl. Boccaccio, Giovanni, Decameron, hg. von Vittore Branca, Milano 21996 (I Meridiani), S. 775–780, hier S. 777. Bei Chaucer (The Reeve’s Tale) steht die Mutter auf »and wente hire out to pisse« (V. 4215; Chaucer, Geoffrey, Die Canterbury-Erzählungen. Mittelenglisch / Deutsch. Übers. von Fritz Kemmler. Mit Erläuterungen von Jörg O. Fichte, Bd. 1, München 22000, S. 238–261). 15 Vgl. die Zusammenfassung der von Walter Haug angestoßenen Diskussion bei Schnell, Rüdiger, Erzählstrategie, Intertextualität und ›Erfahrungswissen‹. Zu Sinn und Sinnlosigkeit spätmittelalterlicher Mären, in: Wolfram-Studien 18 (2004), S. 367–404, hier S. 367–372. Schnell betont in Abgrenzung von Haug, Walter, Entwurf zu einer Theorie mittelalterlicher Kurzerzählungen, in: Ders. und Burghart Wachinger (Hgg.), Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts, Tübingen 1993 (Fortuna vitrea 8), S. 1–36, dass stärker zwischen der Handlungswelt und der Rezipientenebene unterschieden und die dargestellte Unordnung auf damit verbundene »Ordnungsmuster« bezogen werden müsse. Auch Grubmüller versteht das Mären-Erzählen – in Abgrenzung von Haug – als Wiederherstellung von Ordnung: Bei Kaufringer und Rosenplüt verselbständige sich jedoch das Erzählen und es zeige sich die »Kontingenz der Welt«. »Die anarchische Willkür wird Zeichen einer Welt, die sich dem ordnenden Zugriff entzieht«, so Grubmüller, Klaus, Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter: Fabliau – Märe – Novelle, Tübingen 2006, hier S. 199, vgl. auch S. 194–201 sowie Ders., Das Groteske im Märe als Element seiner Geschichte. Skizzen zu einer historischen Gattungspoetik, in: Haug/Wachinger, Kleinere Erzählformen, S. 37–54. Vgl. dagegen den von der Kategorie der Ordnung wegführenden Ansatz von Waltenberger, Michael, Vom Zufall des Unglücks. Erzählerische Kontingenzexposition und exemplarischer Anspruch im Nachtbüchlein des Valentin Schumann (1559), in: PBB 129/2 (2007), S. 286–312 sowie Waltenberges Aufsatz in diesem Band.
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fälle16 Kontingenz aus oder hebt deren strukturelle Funktionalisierung, gerade umgekehrt, Kontingenz auf?17 Hierbei gilt es jedoch zu bedenken, dass mit kausaler und struktureller Motivation auch zwei unterschiedliche Zeitperspektiven verbunden sind, die nicht problemlos ineinander überführt werden können. Die strukturelle Motivierung ist genau wie die Deutung im Epimythion erst vom Ende her bzw. dank des Überblicks über das Geschehen möglich. Sie fokussiert das, was sich wiederholt, also paradigmatische Strukturen. Die kausale Motivierung versteht dagegen die Erzählung als Reihe sukzessiver Schritte und nimmt dementsprechend den syntagmatischen Verlauf in den Blick. Dies wirft die Frage auf, inwiefern Kontingenzwahrnehmung immer auch durch die Zeitlichkeit der Beobachterverhältnisse (mit)geprägt ist.18 Peter Strohschneider hat in seinem jüngst erschienenen Aufsatz zum Pfaffen Amis gezeigt, wie die teleologische Schließung des einzelnen Schwankes aufgehoben wird, sobald er in einer Serie steht.19 Der Schwank verweise dann nicht als Besonderes auf das Allgemeine, sondern höchstens noch auf einen »Weltausschnitt«. Die im Einzelschwank bewältigte Kontingenz werde in der Reihung exponiert und die »Sinnsicherheit« gehe verloren. Dies verdeutlicht, dass in einem Text unterschiedliche Perspektiven auf sogenannt kontingente Ereignisse entworfen werden können und Kontingenz vielleicht gerade auch durch den Wechsel zwischen den Perspektiven thematisiert wird. Im Folgenden werden solche Kontingenzexpositionen nicht im Spannungsfeld von Einzeltext und Sammlung, sondern in dem von unterschiedlichen zeitlichen Perspektiven analysiert. Ich werde dazu das Märe Die Buhlschaft auf dem Baume untersuchen, in dem es nicht nur wie im Studentenabenteuer um das Deuten 16 Die Wiederholung von Zufällen an strukturell ähnlichen Positionen findet sich auch in einer Reihe weiterer Mären, so etwa in Rosenplüts Der fünfmal getötete Pfarrer oder bei Kaufringers Die unschuldige Mörderin. 17 Diese Frage wird insbesondere von Walter Haug wiederholt diskutiert, vgl. z. B.: Haug, Walter, Kontingenz als Spiel (Anm. 11), S. 164 u. ö.; Ders., Eros und Fortuna. Der höfische Roman als Spiel von Liebe und Zufall, in: Ders./Wachinger, Fortuna (Anm. 11), S. 52–75, insbesondere S. 62–65. 18 Ein Großteil der antiken und mittelalterlichen Kontingenzdiskussion geht von Aristoteles’ Frage aus, ob die Aussage ›Morgen findet eine Seeschlacht in Salamis statt‹ wahrheitsfähig sei (De int. c.9, 19a29–32); diese Frage stellt Kontingenz nicht nur in den Kontext logischer Aussagen, sondern impliziert, dass der zeitliche Beobachterstatus konstitutiv für die Kontingenzwahrnehmung ist; vgl. dazu u. a. den Aufsatz von Schulthess in diesem Band (Abs. 2.1); Söder, Joachim Roland, Kontingenz und Wissen. Die Lehre von den futura contingentia bei Johannes Duns Scotus, Münster 1999 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters N. F. 49), S. 15–19, 138–167 sowie Störmer-Caysa, Uta, Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman, Berlin 2007, S. 151–153; zum historischen und literaturtheoretischen Kontingenzbegriff sowie zu den folgenden narratologischen Überlegungen vgl. auch die Einleitung d. Vf. in diesem Band. 19 Strohschneider, Kippfiguren (Anm. 8), S. 167 f.
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von Zufällen und das ›Ergreifen‹ der sich bietenden Gelegenheiten, sondern auch um Kontingenz im Rahmen eines providentiellen Welt- und Erzählmodells geht. Bevor jedoch mit der Analyse begonnen wird, sollen die Zeitlichkeit und Beobachtbarkeit von Kontingenz kurz literaturtheoretisch, anhand von Überlegungen Paul Ricœurs, erörtert werden.
1. Kontingenz und narrative Zeitlichkeit Paul Ricœur bezieht im Aufsatz Narrative Time Heideggers Zeitphilosophie auf die Erzählanalyse. Er kritisiert dabei das allzu lineare Zeitmodell der klassischen Narratologie und postuliert unter anderem, dass Erzählungen von einem »paradox of contingency« heimgesucht würden.20 Dieses gründe darin, dass Erzählungen durch zwei inkommensurable Zeitlichkeiten konstituiert werden. Einerseits geschehe Erzählen sukzessive: Einzelne Ereignisse werden chronologisch aneinandergereiht. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf das, was kommen wird, so dass das Erzählen immer auf einen offenen Möglichkeitshorizont bezogen ist. Andererseits sei dem Erzählen eine konfigurierende Dimension eigen: Durch Ähnlichkeiten und Wiederholungen werden paradigmatische Beziehungen gestiftet, die den linearen Erzählverlauf strukturieren und ihn zu einer »bedeutungsvollen Ganzheit« machen. Eine solche konfigurierende Perspektive ist jedoch erst im ›Blick zurück‹, d. h. nach Beendigung der Erzählung bzw. eines Erzählabschnittes möglich.21 Die jeweilige Zeitperspektive prägt Ricœur zufolge auch die Deutung eines (erzählten) Ereignisses als kontingent oder notwendig. In einer konfigurierenden Perspektive werden vom Ende her paradigmatische Strukturen fokussiert. Diese sind erst erkennbar, wenn nur das erzählte Geschehen und nicht die damit einhergehenden Möglichkeiten betrachtet werden. Dadurch erscheint der Geschehensverlauf als notwendig und final gerichtet, weil nur die eine aktualisierte Kausalkette zum jeweiligen Ende zu führen 20 Ricœur, Paul, Narrative Time [Erstdruck 1980], in: Mieke Bal (Hg.), Narrative Theory. Critical Concepts in Literary and Cultural Studies, Bd. III: Political Narratology, London und New York 2004, S. 327–347, hier S. 335. Der Aufsatz deckt sich z. T. mit Passagen aus Zeit und Erzählung (Anm. 21), doch findet sich gerade der von mir hervorgehobene Punkt des »paradox of contingency« dort nicht. 21 Ders., Zeit und Erzählung, Bd. 1: Zeit und historische Erzählung. Aus dem Franz. von Rainer Rochlitz [Erstdruck 1983], München 1988 (Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt 18/1), S. 106–109, hier S. 108; vgl. auch Ders., Narrative Time (Anm. 20), S. 335 f. sowie Ders., Zufall und Vernunft in der Geschichte. Aus dem Franz. von Helga Marcelli, Tübingen 1986, S. 16 und 23 f.
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scheint.22 Die sukzessive Perspektive fokussiert dagegen das Kommende. Das, was geschehen könnte, steht gleichberechtigt neben dem, was geschehen wird. Wenn sich Möglichkeiten im Verlauf der Erzählung realisieren, so erscheint diese Realisierung als kontingent.23 Ricœurs »paradox of contingency« ist deshalb als Umschlagsmoment zu verstehen: Was in einer sukzessiven und prospektiven Zeitdimension kontingent erscheint, gilt in der konfigurierenden und retrospektiven als notwendig. Ricœur konzipiert Kontingenz auf diese Weise als »Beobachtungskategorie«24, also als Gegenstand der Deutung oder Zuschreibung. Sie ist von einem Beobachterstandpunkt abhängig, der sich insbesondere durch seine Zeitperspektive (sukzessiv und prospektiv oder konfigurierend und retrospektiv) auszeichnet.25 Ricœur tendiert in seinen Arbeiten jedoch dazu, die Inkommensurabilität der beiden Zeitdimensionen am Ende dialektisch aufzuheben. Die konfigurierende Zeitperspektive erzeuge letztendlich eine »Synthesis des Heterogenen« und mache aus den sukzessiven Einzelereignissen ein »intelligible[s] Ganzes«.26 So hebe der erzählte Zufall nicht nur Kontingenz hervor, sondern stelle sie auch »in den Dienst der Entwicklung der Geschichte«. Anders als der lebensweltliche Zufall verknüpfe der erzählte das Geschehen bzw. helfe, es zu entwirren.27 Ricœur versteht es nachgerade als »Wunder der Narration«, dass in einer Erzählung Kontingenz zugleich dargestellt und für die Sinnstiftung funktionalisiert werden kann. Er ordnet damit aber schlussendlich die sukzessive Zeitdimension der Synthesis der konfigurierenden unter und blendet das von der sukzessiven Zeitdimension entworfene ›Auch-andersSein-Können‹ dessen, was erzählt wird, aus.28 Wirft man einen Blick auf andere aktuelle literaturtheoretische Arbeiten zu Kontingenz, so zeigt sich, dass diese sich genau an dem Punkt, also bezüglich des Verhältnisses von Kontingenz und Sinnstiftung, von Ricœur unter22 Ders., Narrative Time (Anm. 20), S. 332: »Looking back from the conclusion to the episodes leading up to it, we have to be able to say that this ending required these sorts of events and this chain of actions.« 23 Ebd., S. 332: »But a narrative conclusion can be neither deduced nor predicted. There is no story, if our attention is not moved along by a thousand contingencies.« 24 Diese Bezeichnung wählt Strohschneider, Kippfiguren (Anm. 8), S. 169, der hier an Warning anschließt (vgl. Anm. 29). 25 Ricœur verfährt in seinem Aufsatz tendenziell ahistorisch. Er konzipiert das »paradox of contingency« unabhängig von der Analyse einzelner Texte oder von historischen Transformationen von Erzählformen. 26 Ricœur, Zeit und Erzählung (Anm. 21), Bd. 1, S. 106; Ders., Zufall und Vernunft (Anm. 21), S. 19. 27 Ebd., S. 18. Ricœur setzt erzählte Zufälle mehrheitlich ohne weitere Erläuterungen mit Kontingenz gleich; vgl. z. B. ebd., S. 14. 28 Zwar bezeichnet Ricœur die Konfiguration weiterhin als »concordance discordante« (ebd., S. 19), doch räumt er der ›discordance‹ systematisch keinen Platz ein.
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scheiden. Wenn Zufälle im Dienst der Geschehensentwicklung stehen, wird dies als bloß »funktionale« (Wellbery) oder »schwache« (Warning) Kontingenz bezeichnet. Dagegen geschieht gemäss Wellbery und Warning eine »emphatische« oder »starke« Kontingenzexposition, sobald die synthetisierend-konfigurierende Dimension gestört wird:29 Wenn die lineare Zeitlichkeit und die Funktionalisierung des Erzählten unterlaufen werden, zeige sich eine Kontingenz, die nicht mehr sinnstiftend aufgehoben werden kann.30 Solche Ansätze bergen jedoch die Gefahr, eine avantgardistische, nichtlineare Erzählweise gegen eine ›klassische‹ (also linear-teleologische) auszuspielen.31 Erstere wird als Kontingenzexposition, letztere als sinnstiftende Kontingenzbewältigung beschrieben,32 ohne dass genauer geklärt würde, welche Form von Kontingenz bewältigt oder exponiert wird. Um eine solche Opposition von Kontingenzexposition und -bewältigung zu umgehen, möchte ich stattdessen nach der Interdependenz von zeitlichen Beobachterverhältnissen und Kontingenzdarstellungen fragen. Ich werde mit Ricœur annehmen, dass Ereignisse je nach (zeitlichem) Beobachterstandpunkt kontingent oder provident erscheinen können (paradox of contingency). Solche zeitlichen Perspektiven sind jedoch – so die vorerst heuristische Abgrenzung von Ricœur – nicht a priori vorgegeben, sondern werden in den einzelnen Texten je unterschiedlich entworfen. Im Folgenden möchte ich deshalb am Märe Die Buhlschaft auf dem Baume zeigen, wie zeitliche Beobachtungsperspektiven entwickelt werden, sich überlagern und so die Exposition von Kontingenz erlauben.
29 Wellbery, David E., Zur literaturwissenschaftlichen Relevanz des Kontingenzbegriffs. Eine Glosse zur Diskussion um den Poststrukturalismus, in: Klaus W. Hempfer (Hg.), Poststrukturalismus – Dekonstruktion – Postmoderne, Stuttgart 1992 (Text und Kontext. Romanische Literaturen und allgemeine Literaturwissenschaft 9), S. 161–169; Warning, Rainer, Erzählen im Paradigma. Kontingenzbewältigung und Kontingenzexposition, in: Romanistisches Jahrbuch 52 (2002), S. 176–209. 30 Ebd., S. 180–183; Wellbery, Relevanz des Kontingenzbegriffs (Anm. 29), S. 161. Ricœur und Warning gehen beide von zwei ähnlich konzipierten Zeitdimensionen bzw. gemäss Warning von einer syntagmatischen und einer paradigmatischen Achse aus, bewerten diese aber anders: Während Warning postuliert, dass nur ein dominant paradigmatisches Erzählen Kontingenz exponieren könne, siedelt Ricœur Kontingenzexposition auf der syntagmatischen bzw. sukzessiven Achse an, da nur hier Erzählalternativen sichtbar würden. 31 Die unterschiedliche Ausrichtung der Ansätze zeigt sich auch darin, dass Ricœur seine Analysen tendenziell auf ›klassische‹ Texte bezieht (i. e. solche, die der Aristotelischen Poetik entsprechen). Wellbery und Warning haben dagegen vor allem Erzählungen und Romane der Moderne im Blick. 32 Warning, Erzählen im Paradigma (Anm. 29), S. 180.
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2. Die Buhlschaft auf dem Baume Das Märe Die Buhlschaft auf dem Baume A33 erzählt die Geschichte eines alten Blinden, der seine junge Frau streng zu bewachen versucht. Einem schüler, der die Frau begehrt, gelingt es, sich mit ihr brieflich zu einem Stelldichein zu verabreden. Er setzt sich auf eine Linde und die Frau gibt vor, auf diesem Baum Äpfel pflücken zu wollen. Dem besorgten Ehemann erklärt sie, er solle den Stamm umfassen, damit er merke, ob jemand zu ihr heraufsteige. Als sich das Liebespaar oben vergnügt, kommen der herr und Petrus vorbei. Petrus ist über den Betrug entrüstet und bittet Gott, den Blinden sehend zu machen. Gott erwidert, dass die Frau sich gewiss herausreden könne. Dennoch willigt er ein, das ›Wunder‹ zu vollbringen. Der plötzlich sehende Ehemann nimmt den Betrug wahr und will die Ehebrecher umbringen. Petrus erschrickt ob der Konsequenzen seines Eingreifens und bittet den herrn, den Ehemann sogleich wieder erblinden zu lassen. Doch bevor es dazu kommt, erklärt die Frau ihrem Mann, dass diese lieb die puß dafür sei, dass er seine augen zurückerhalten habe (V. 166; 171). Der schüler hätte ihr diese mer gelehrt, und das himelisch kint die Heilung bewirkt (V. 170; 168). Sie fordert ihren Ehemann daher auf, sich bei ihr und dem schüler zu bedanken und Gott um den Erhalt des Augenlichts zu bitten. Der Ehemann bedankt sich wortreich und zahlt dem schüler zehen pfunt pfenning Belohnung (V. 201). Petrus ist erneut entrüstet und tritt auf Erlaubnis Gottes mit der Forderung hinzu, der Mann solle seine Frau schlagen. Bevor er jedoch recht zu Wort kommt, wird er von der Frau beschuldigt, ihr nachgestellt zu haben. Der Ehemann zieht sein Messer gegen Petrus und dieser flieht erschrocken zu Gott. Dieser verweigert aber ein weiteres Eingreifen und betont, dass alle bei ihm Schutz finden und er allen Beichtenden ihre Schuld vergebe. Das Erzählmuster dieses ›doppelten Betrugs‹ ist beliebt.34 Bei Adolfus von Wien und bei Heinrich Steinhöwel steht im Unterschied zur Buhlschaft die 33 Es wird zitiert nach: Novellistik des Mittelalters. Märendichtung, hg. von Klaus Grubmüller, Frankfurt am Main 1996 (Bibliothek des Mittelalters 23), S. 244–258 (Kommentar S. 1114–1120). Grubmüllers Edition stützt sich auf: Die deutsche Märendichtung des 15. Jahrhunderts, hg. von Hanns Fischer, München 1966 (MTU 12), S. 485–492. Das Märe ist nur in einer Handschrift (cgm 713, Bl. 57r-63r) überliefert, deren erster Teil (Bl. 1–63) auf 1460–80 datiert wird; vgl. Schneider, Karin, Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München, Bd. 5: Die mittelalterlichen Handschriften aus cgm 691–867, Wiesbaden 1984 (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis 5.5), S. 57–78. Der erste Teil ist eine Sammlung aus mehrheitlich Kleinepik und Priameln. Der Buhlschaft geht das Märe Spiegel und Igel II (Bl. 54r-57r) voran, in dem ebenfalls von der absichtlichen (Sinnes-)Täuschung im erotisch-schwankhaften Kontext erzählt wird. 34 Zur Motivgeschichte vgl. Beyerle, Dieter, Der doppelte Betrug. Ein Thema der mittelalterlichen Novellistik, in: Romanistisches Jahrbuch 30 (1979), S. 63–82, insbes. S. 77–82. Eine
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Listigkeit der Frau im Zentrum.35 Sie ist Initiantin des Betrugs,36 und es finden sich lange Passagen, in denen der Erzähler oder der Ehemann über die Schlechtigkeit der Frauen klagt. Auch das Eingreifen der ›himmlischen‹ Figur ist anders gezeichnet: Der Ehemann vermutet einen Ehebruch, klagt diesen dem Schöpfer bzw. Jupiter und ihm wird geholfen.37 Dabei tritt die überirdische Macht nicht figürlich auf, sondern ist nur in ihrer Wirkung (Heilung des Ehemannes) präsent: Tunc deus omnipotens, qui condidit omnia verbo, / Qui sua membra probat vasa velut figulus, / Restituens aciem misero.38 Die Buhlschaft gehört dagegen wie Chaucers Merchant’s Tale und eine Erzählung aus dem Novellino zu den Texten, die zwei ›himmlische‹ Figuren in persona auftreten lassen. Nach der Überlistung des Ehemannes erscheinen relativ unvermittelt San Piero und Domenedio im Novellino bzw. Pluto und Proserpina im Merchant’s Tale. Sie diskutieren, ob sie dem Ehemann das Augenlicht zurückgeben sollen, und dabei wird die List der Frau bereits vorausgesagt. Der Auftritt der ›himmlischen‹ Figuren fungiert somit als retardierendes Moment, das die Schlusspointe durch ihre Ankündigung zusätzlich steigert. In der Buhlschaft erhalten die beiden ›nichtweltlichen Figuren‹ noch mehr Platz als bei Chaucer und im Novellino: Sie treten nicht nur einmal, sondern ausführliche Interpretation der Buhlschaft auf dem Baume A findet sich meines Wissens nur bei Slenczka, Alwine, Mittelhochdeutsche Verserzählungen mit Gästen aus Himmel und Hölle, Münster 2004 (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 5), S. 138–159; vgl. daneben Grubmüller, Die Ordnung (Anm. 15), S. 200 f. Die fragmentarisch überlieferte Fassung Die Buhlschaft auf dem Baume B (Fischer, Märendichtung [Anm. 33], S. 493–495) ist nicht von Fassung A abhängig; vgl. Meier, Jürgen, [Art.] Die Buhlschaft auf dem Baume B, in: Verfasserlexikon (Anm. 1), Bd. 1, 21978, Sp. 1114 f., hier Sp. 1114. Sie ist um einiges kürzer (74 V.) als Fassung A, und die himmlischen Figuren greifen – wie in den meisten Versionen des Stoffes – nur einmal ein. 35 Der Doligamus des Adolfus von Wien, hg. von Edwin Habel, in: Studi medievali N. S. 11 (1938), S. 103–147, hier S. 119–121; davon abhängig: Steinhöwels Äsop, hg. von Hermann Österley, Tübingen 1873 (Bibliothek des Litterarischen Vereins Stuttgart 117), Nr. 153, S. 326– 328, hier S. 327. Steinhöwels deutscher Text beginnt bezeichnenderweise mit der Eingangssentenz Frowen list unentlich ist. 36 So bei Steinhöwel, Äsop (Anm. 35), S. 328 sowie in einer Erzählung aus dem Novellino (Codex Panciatichiano-Palatino 138e), zit. nach: Sources and Analogues of Chaucer’s Canterbury Tales, hg. von W[illiam] F. Bryan und Germaine Dempster, New York 21958, S. 341– 343; ebenso in Chaucers The Merchant’s Tale (Canterbury Tales [Anm. 14], Bd. 1, S. 568– 635). In der Buhlschaft geht die Initiative dagegen nicht von der Frau, sondern vom schüler aus (V. 49–54). 37 Steinhöwel, Äsop (Anm. 35), S. 328: Das klag ich dem öbristen got Jupiter, der die betrübten laidige herezen wider ze fröden bringen mag und die blinden wider gesenhend machen, des ich in demütiglichen bitte. Im Doligamus heisst es: Conqueror hoc illi, qui dedit esse michi (V. 30); »Ich klage dies [Ehebruch] jenem, der mir das Leben geschenkt hat« (die Übersetzungen folgen denjenigen von Slenczka, Gäste aus Himmel und Hölle [Anm. 34], S. 142). 38 Doligamus V. 31–33: »Dann hat der allmächtige Gott, der alles durch sein Wort geschaffen hat, der seine Glieder prüft wie ein Töpfer die Gefässe, dem Armen die Sehkraft zurückgegeben«.
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mehrfach auf.39 Dadurch werden deutlicher als in den anderen Erzählungen zwei kategorial unterschiedliche Seinssphären (eine irdische und eine ›himmlische‹) nebeneinander gestellt und kausal miteinander verknüpft: Die Figuren in der hierarchisch übergeordneten Seinssphäre nehmen direkten Einfluss auf die untergeordnete Sphäre. Dort können jedoch nur die irdischen Wirkungen ihrer Einflussnahme und nicht die himmlischen Ursachen wahrgenommen werden. Im Folgenden möchte ich zeigen, wie in der Buhlschaft im Rahmen eines solchen ›einfachen‹ Providenzmodells Kontingenz thematisiert und exponiert wird. In einem ersten Teil wird dazu das Providenzmodell anhand eines Vergleichs mit Kaufringers Erzählung Der Einsiedler und der Engel genauer beschrieben. Die gegenüber der Erzählung Kaufringers verstärkte Kontingenzexposition in der Buhlschaft ist – so die These – nicht so sehr inhaltlichen als vielmehr formalen Änderungen geschuldet. In einem zweiten Teil wird auf die Deutungsstrategien der irdischen Figuren eingegangen: In der irdischen Sphäre interessiert nicht die kontingente oder providente Ursache eines Ereignisses, sondern deren mögliche Instrumentalisierung für die eigenen Zwecke. In einem dritten Teil möchte ich zeigen, dass die beiden Beobachterfiguren Petrus und der herr auch als Rezipienten und Produzenten von Erzählungen dargestellt sind. Auf diese Weise wird die Frage nach einer ontologisch-metaphysischen Kontingenz bzw. Providenz zu derjenigen nach der Providenz bzw. Kontingenz des Erzählens verschoben. In der Buhlschaft wird insbesondere die Kontingenz einer ›Rhetorik der Demonstration‹ exponiert, die sowohl intradiegetisch (der herr gegenüber Petrus) als auch extradiegetisch (der Text gegenüber dem Publikum) zum Tragen kommt. Dies führt abschließend zur Frage, wie nicht nur thematisch, sondern auch durch Erzählmodi Kontingenz erzeugt wird.
3. Zwei hierarchisierte Seinssphären Hanns Fischer zählt die Buhlschaft zu den Grenzfällen der Gattung Märe, weil sie von nichtmenschlichem Personal erzählt.40 Diese Feststellung trifft – unabhängig von der Gattungsfrage – einen entscheidenden Punkt der Erzählung, da Petrus und der herr einen anderen Status als die gewöhnlichen 39 Petrus und der herr treten in V. 134 von insgesamt 256 Versen zum ersten Mal auf. Insgesamt haben sie vier Auftritte (V. 134–151; 159–162; 204–207; 227–254), die einen großen Teil des erzählten Geschehens ausmachen. 40 Fischer, Studien (Anm. 12), S. 75. Dagegen plädiert Grubmüller, Novellistik des Mittelalters (Anm. 33), S. 1118 vehement dafür, den Text nicht nur wie Fischer als Grenzfall, sondern als der Gattung zugehörig zu betrachten.
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Figuren haben. Sie sind intradiegetische Beobachter, die ungesehen ins irdische Geschehen eingreifen können. Die irdischen Schwankfiguren wissen nichts von ihnen und nehmen höchstens die Wirkungen des ›himmlischen‹ Handelns wahr. Die Lesenden dagegen haben Kenntnis vom irdischen und vom himmlischen Geschehen: Sie können sowohl die ›himmlische‹ Einflussnahme als auch die Reaktionen der irdischen Figuren sowie deren beschränktes Wissen beobachten.41 Dieses Erzählmodell zweier hierarchisierter Seinssphären findet sich auch in Kaufringers Der Einsiedler und der Engel.42 Ein Einsiedler möchte die wunder Gottes anschauen. Ein Engel in menschlicher Gestalt wird sein geselle und begeht für den Einsiedler unverständliche Taten: Er tötet ein lange erwünschtes Kind, stiehlt einem guten Gastgeber einen Becher, den er einem Geizigen schenkt, und bringt am Ende auch noch einen zufällig vorbeikommenden Mann um. Nachdem der Einsiedler seinen gesellen mehrfach als Teufel beschimpft hat (V. 247; 265; 276), gibt sich der Engel zu erkennen. Er klärt den Einsiedler über den providenten Zweck seiner Taten auf. Das getötete Kind hätte die Eltern je länger je stärker vom Glauben an Gott abgehalten (V. 362 f.). Der gestohlene Becher war Diebesgut und hätte das ewige[] leben des guten Wirts zunichtegemacht (V. 388 f.), während das Seelenheil des geizigen Gastgebers bereits verloren gewesen sei (V. 402 f.). Der ermordete Mann kam gerade vom Beichten, hätte aber kurz darauf wieder zu sündigen begonnen (V. 426 f.). Nur durch das mörderische Eingreifen des Engels – so dessen Argumentation – konnte das Seelenheil der scheinbaren Opfer gerettet werden. Die mit diesem Erzählmodell verknüpfte philosophisch-theologische Kontingenzthematik ist in beiden Erzählungen höchstens am Horizont erkennbar: Die Frage nach dem Verhältnis einer zeitlosen göttlichen Ordnung (providentia) zu ihrer Realisierung (fatum)43 oder die, ob Gott mehrere Welten 41 Bereits im ersten Teil bestehen die Pointen darin, dass die Lesenden ›mehr‹ sehen als die Protagonisten. So steigt der Liebhaber entgegen der motivgeschichtlichen Tradition (Beyerle, Der doppelte Betrug [Anm. 34], S. 64 f.) nicht auf einen Birnbaum, sondern auf eine Linde (V. 78). Als der Blinde mit seinem Stock an den Baum schlägt, lässt er Äpfel herunterfallen. Damit werden implizit die Rezipienten adressiert, die den Kontrast von Schein und Sein sowie die komische Konnotation der Bäume erkennen: Die Linde ist topischer Ort der Liebesbegegnung und die Äpfel verweisen auf den Sündenfall; vgl. dazu Grubmüller, Kommentar zu Buhlschaft, in: Novellistik des Mittelalters (Anm. 33), S. 1119. Auch an anderen Stellen wird durch Zweideutigkeiten auf den kommenden Ehebruch angespielt (V. 102–107; 59 f.). 42 Heinrich Kaufringer. Werke, hg. von Paul Sappler, Tübingen 1972, S. 1–13. Vgl. zur Stoffgeschichte: Slenczka, Gäste aus Himmel und Hölle (Anm. 34), S. 19–44 (dort auch weitere Literaturverweise). 43 Diese Unterscheidung wird bei Boethius im 4. Buch eingeführt (Boethius, Trost der Philosophie. Lateinisch / Deutsch. Aus dem Lateinischen übers. von Ernst Neitzke, Frankfurt am Main 1997, S. 243–247) und bleibt für die folgende Providenzdiskussion prägend; vgl. Hoenen, M[aarten] J. F., [Art.] Vorsehung, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 8, München und
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hätte schaffen können,44 sind zwar mit dem Erzählmodell verknüpft, werden aber nicht zum Thema der Erzählungen. Stattdessen richtet Kaufringer sein Märe ganz auf die Theodizeefrage aus: Die scheinbar ›bösen Taten‹ des Engels erweisen sich am Ende als providentielle Eingriffe, die Seelenheil retten.45 Dabei zielt die Erzählung darauf, die göttliche Providenz aller Geschehnisse zu plausibiliseren, indem mit Hilfe der zwei hierarchisierten Seinssphären das menschliche Wissensdefizit und die Unbeobachtbarkeit der providentiellen Lenkung sichtbar gemacht werden. Der Engel, der die Taten der Providenz enthüllt, argumentiert mit zwei alternativen Handlungsverläufen: mit dem, was geschehen ist, und dem, was geschehen wäre, wenn er nicht eingegriffen hätte.46 Dadurch erscheinen seine Handlungen weder als ›böse‹ noch als kontingent, sondern als die einzige notwendige Art und Weise, Seelenheil zu retten. Die Erklärungen des Engels kann man mit RicAur als konfigurierende Sinnstiftung bezeichnen: Es werden retrospektiv zwei Handlungsverläufe mit zwei unterschiedlichen Ergebnissen zeitlos nebeneinander gestellt und so die Notwendigkeit des Realisierten suggeriert.47 Eine solche ›Suggestion von Notwendigkeit‹ gründet jedoch darauf – wie mit Ricœur argumentiert werden kann –, dass die unberechenbare Vielfalt möglicher Ereignisketten durch die retrospektiv-konfigurierende Perspektive auf zwei alternative Varianten reduziert wird.48 Zürich 1997, Sp. 1856–1858, hier Sp. 1857; Köhler, J., [Art.] Vorsehung, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, Darmstadt 2001, Sp. 1206–1218, hier Sp. 1211. 44 Vgl. dazu Goldstein, Jürgen, Kontingenz und Möglichkeit. Über eine begriffsgeschichtliche Voraussetzung der frühen Neuzeit, in: Wolfram Hogrebe (Hg.), Grenzen und Grenzüberschreitungen. Sektionsbeiträge. XIX. Deutscher Kongreß für Philosophie 2002, Bonn 2002, S. 659–669, insbes. S. 662–666. 45 Der Engel sagt am Ende zum Einsiedler programmatisch: wann all die wunder, die got tuot, / die beschehen nur durch guot / darmit bekümer dich nit mer (V. 437–439). Vgl. zur Theodizee-Problematik in Mären auch Schnell, Erzählstrategie, Intertextualität und ›Erfahrungswissen‹ (Anm. 15), S. 382–385. 46 Die Rezipienten wissen zwar im Unterschied zum Einsiedler von Beginn an, dass es sich bei dessen gesellen um einen Engel handelt, erfahren aber die Motive für dessen Handeln wie der Einsiedler erst nachträglich. Die retrospektive Deutung des Engels zielt somit nicht nur auf den Einsiedler, sondern auch auf die Lesenden. Slenczka, Gäste aus Himmel und Hölle (Anm. 34), S. 22 betont, dass zuerst das »Paradoxon« entfaltet werde, dass »ein Engel mordet, stiehlt und gestohlenes Gut verschenkt«, und im zweiten Teil dieses Paradoxon aufgelöst werde. Ihr zufolge besteht die Besonderheit Kaufringers im Unterschied zu den anderen Versionen des Stoffes darin, dass er die »fiktive[] Erfahrung« der Rezipienten steigert (S. 43). 47 Auch bei Kaufringer bleiben unterschwellig einige Fragen ungelöst: Wenn der Engel nur punktuell eingreift, deutet sich an, dass er auf Gegebenheiten reagiert, die nicht in seiner Macht (bzw. derjenigen Gottes) liegen; vgl. dazu ebd., S. 44. 48 Wellbery, Relevanz des Kontingenzbegriffs (Anm. 29), S. 167 wirft eine solch zirkuläre Deutungs-»Ökonomie« der klassischen Narratologie vor, »die alles, was im Verlauf der Narration vorkommt, seinem vorbestimmten Platz zuweist, und somit die narrative Zeit aus dem überzeitlichen Standpunkt einer Vor- und Rücksicht organisiert«.
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Durch eine andere erzählerische Anordnung wird in der Buhlschaft diese Zeitperspektive und damit die Wahrnehmung der Providenz verändert: In der Schwankerzählung kommt die himmlische Sphäre nicht nachträglich zur irdischen hinzu, sondern die beiden Seinssphären werden abwechselnd dargestellt. Es wird beispielsweise zuerst gezeigt, wie die beiden ›himmlischen‹ Figuren das irdische Geschehen beobachten und sich zum Eingreifen entschließen, und anschließend werden die irdischen Konsequenzen des Eingriffs geschildert. Dadurch werden nicht mehr die Gründe des providentiellen Handelns, sondern die Kontingenz der providentiellen Tat fokussiert. Petrus will den Ehemann vor dem Betrug schützen, doch wird der Ehemann dadurch doppelt betrogen. Durch die Akzentuierung der sukzessiven anstelle der konfigurierenden Zeitdimension wird die Kontingenzanfälligkeit der Realisierung einer Absicht hervorgehoben.49 Doch leidet nicht die Providenzinstanz Gott, sondern die Schwankfigur Petrus an dieser Kontingenz zwischen Absicht und Ausführung. Die Kontingenzerfahrung wird somit anhand einer Mittlerfigur präsentiert, die weder ganz der einen noch ganz der anderen Sphäre angehört. Kontingenz wird zwar exponiert, aber nicht ontologisch verortet.50 Diese Mittlerstellung von Petrus hat noch weitere Konsequenzen, die durch den Vergleich mit Kaufringers Erzählung sichtbar werden. Bei Kaufringer kommt der Engel als ein Bote der Providenz in die irdische Sphäre und belehrt dort den Einsiedler bzw. die Lesenden. In der Buhlschaft findet sich diese didaktische Figurenkonstellation ebenfalls: Petrus erscheint als leicht dümmliche Figur, die sich durch menschliche Eigenschaften auszeichnet51 49 Vgl. dazu Anm. 43 sowie Schnyder, Mireille, Glücksspiel und Vorsehung. Die Würfelspielmetaphorik im Parzival Wolframs von Eschenbach, in: ZfdA 131 (2002), S. 308–325, hier S. 322. 50 In Hans Sachs’ Schwankerzählung St. Petter mit der gais wird die Theodizeefrage sogar in den politischen Bereich verschoben (Hans Sachs, Sämtliche Fabeln und Schwänke, hg. von Edmund Goetze, Bd. 1, Halle an der Saale 1893, S. 441–445): Petrus beklagt sich bei Gott über den freffel der Welt (V. 11). Er erhält deshalb für einen Tag die Macht Gottes, scheitert aber auf kläglich-komische Weise, da er den ganzen Tag nichts anderes tut, als eine Geiß zu hüten. Im Epimythion wird zwar einerseits wie bei Kaufringer die Unerforschbarkeit des göttlichen Willens (V. 149–151), andererseits aber zudem die Unerforschbarkeit der Handlungen der Obrigkeit betont: [d]er gleich urteil in dieser zeit / Auch nit die weltlich =brigkeit (V. 155 f.). 51 Zu Petrus als Schwankfigur vgl. Cullmann, Fritz, Der Apostel Petrus in der älteren deutschen Literatur. Mit besonderer Berücksichtigung seiner Darstellung im Drama, Giessen 1928 (Giessener Beiträge zur deutschen Philologie 22), S. 25–39. Cullmann führt die humoristische Darstellung von Petrus u. a. auf das »Missverhältnis zwischen Wort und Tat […], das sich bei Petrus in der evangelischen Erzählung zeigt«, zurück (S. 27). Er zeigt zudem, dass die komische Rolle von Petrus oft mit bildlichen Darstellungen desselben verknüpft ist (S. 39); vgl. auch Lixfeld, Hannjost, [Art.] Erdenwanderung der Götter, in: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 4, Berlin und New York 1984, Sp. 155–164, hier Sp. 160 f., der betont, dass sich in den Petrusschwänken gegenüber anderen Erzählungen von der Erdenwanderung der Götter das
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und die durch den meister (V. 139) belehrt wird. Doch halten sich die beiden nicht wie bei Kaufringer in der irdischen, sondern in der himmlischen Seinssphäre auf. Durch die Gegenüberstellung von Gott (als Vertreter der Providenz) und Petrus (als Vertreter des menschlichen Wahrnehmens) wird so die Unterscheidung irdisch/himmlisch52 innerhalb der himmlischen Sphäre verdoppelt.53 Dies hat zur Folge, dass die Analogien zwischen immanenter und transzendenter Sphäre sichtbar werden: Petrus erscheint wie der Ehemann als ein sehend Blinder, und die Ehefrau benutzt gegenüber ihrem Mann ähnliche Formulierungen wie Petrus gegenüber Gott (V. 159 und V. 213).54 Zudem wird die Grenze zwischen irdischem und himmlischem Geschehen im Verlauf des Märes immer durchlässiger:55 Petrus überschreitet am Ende die Grenze und wird genau wie der Ehemann von der Ehefrau überlistet.56 Solche Analogien und Grenzverwischungen unterhöhlen die Differenzen zwischen den beiden Seinssphären und machen Interdependenzen sichtbar: Auch die Providenzinstanz herr scheint von den Zuschreibungen der weltlichen Figuren abhängig. Er erhält auffällig viele unterschiedliche Bezeichnungen: Es ist von Seiten des Erzählers von herr, meister und unser herrgot (V. 144) die Rede, die weltlichen Figuren wiederum sprechen vom himeSpannungsverhältnis zwischen Menschen und Göttern hin zu demjenigen zwischen Christus und Petrus verschiebt: »[D]ie indirekt an die Menschen gerichtete Belehrung ergeht an den stets beschämten Jünger«. 52 Vgl. die einflussreiche Bestimmung des Religiösen als »Teilung des […] Universums« in Heiliges und Profanes durch Durkheim, Emile, Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Aus dem Franz. von Ludwig Schmidts, Frankfurt am Main 1981, S. 67. 53 Luhmann beschreibt das Hineinnehmen der Unterscheidung immanent/transzendent in die Immanenz als re-entry und betrachtet es als Grundmodell des Kommunizierens über Transzendentes; vgl. Luhmann, Niklas, Die Religion der Gesellschaft, hg. von André Kieserling, Frankfurt am Main 2002 (stw 1581), S. 8 f.; 25 f.; 31–36. In der Buhlschaft wird ein solches reentry anhand der himmlischen Sphäre spiegelverkehrt thematisiert. 54 Daneben verweist die Konstellation vom meister und Petrus (V. 159) auf den irdischen schüler (V. 36), nämlich den Liebhaber, der am Ende zu den Überlegenen gehört. 55 Mit der ›Durchlässigkeit‹ der Grenze wird von Beginn an gespielt: Als Gott und Petrus vorbeikommen, hört der Blinde, der den Baum umfangen hält, die beiden. Da er einen Rivalen erwartet, fragt er drohend: wer get dapei? / wart, das er auch ein freunt sei (V. 137 f.). Im Weiteren können die beiden ›himmlischen‹ Figuren sich jedoch unterhalten, ohne vom Blinden gehört zu werden. Die Anfrage erweist sich somit als Vorausdeutung auf die Beschuldigung der Ehefrau, Petrus sei der eigentliche Ehebrecher, der das ›Wunder‹ hätte verhindern wollen (V. 213–218). 56 In Chaucers The Merchant’s Tale ist diese Analogie noch deutlicher, da nicht Gott und Petrus, sondern Pluto (als König der Feenwelt) und seine Gattin Proserpina das Geschehen beobachten. Da Pluto seine Gattin, wie der Erzähler erklärt, aus dem Ätna entführt hat (IV, 2227– 2232), werden die beiden Paare offensichtlich parallelisiert. Proserpina will den Plan Plutos, dem Ehemann das Augenlicht zurückzugeben, vereiteln und kündigt an, sie werde der Frau eine Antwort eingeben (IV, 2265 f.). Die beiden himmlischen Figuren sind somit im Unterschied zur Buhlschaft nicht hierarchisiert, sondern erscheinen als Konkurrenten. Damit fällt das Motiv der Belehrung, das in der Buhlschaft aufgerufen wird (s. u.), bei Chaucer fast vollständig weg.
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lisch[en] kint oder got (V. 168; 195). Die zahlreichen Benennungen weisen auf unterschiedliche Konzeptionen und Konkretisierungen von Providenz hin. Der herr erscheint nicht so sehr als eine vom Geschehen losgelöste und Stabilität garantierende transzendente Instanz, sondern als Effekt der Adressierungen, die ihn immer wieder neu und immer wieder anders entwerfen. Solche Analogien, Grenzverwischungen und Interdependenzen transformieren die kategoriale Differenz zwischen den beiden Sphären in eine graduelle und stellen damit das Providenzmodell grundlegend in Frage. Die Buhlschaft auf dem Baume übernimmt somit das didaktisch ausgerichtete Erzählmodell der ›zwei hierarchisierten Seinssphären‹, wie es bei Kaufringer zu erkennen war, verschiebt aber den Fokus von der Theodizee- hin zur Kontingenzfrage: Zum einen wird durch die sukzessive statt konfigurierende Darstellungsweise hervorgehoben, dass zwischen der providentiellen Absicht und deren Ausführung ein kontingenter Spielraum besteht; zum anderen wird durch Analogien und Interdependenzen die das Modell konstituierende Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz in Frage gestellt. Doch auch wenn das Providenzmodell – mit durchaus komischen Effekten – an dessen logische Grenzen getrieben wird, wäre es verfehlt zu behaupten, das Märe würde das Providenzmodell vollständig destabilisieren. Vielmehr schreibt es das Modell fort und kann so zugleich daran partizipieren.57 So bleiben die zwei hierarchisierten Seinssphären z. B. bis am Ende bestehen: Petrus kann auch nach seiner irdischen Niederlage zum herr[n] – und damit in die himmlische Sphäre fliehen. Er erscheint als Mittlerfigur, die das Modell nicht nur durch Grenzüberschreitungen in Frage stellt, sondern auch stabilisiert, indem die Differenz zwischen ihm und der ›eigentlichen‹ Providenzinstanz (herr) immer von Neuem markiert wird. Auch erzähltechnisch greifen Destabilisierung und Partizipation ineinander: Viele Pointen (etwa wenn Petrus am Ende ins Geschehen eingreift) basieren darauf, dass das Erzählmodell nicht ad absurdum geführt, sondern mit dessen Steigerungsmöglichkeiten gespielt wird.
4. Instrumentalisierung von unmotivierten Ereignissen Eine weitere Verschiebung des Providenzmodells ist bei der Heilung des Ehemannes erkennbar. Motivgeschichtlich handelt sich um ein klassisches Wunder (›Blindenheilung‹), d. h. ein Ereignis, an dem topisch der Einfluss einer transzendenten Instanz sichtbar wird. In der Buhlschaft wird die Heilung zusätzlich explizit ›von oben‹ motiviert, weil die Lesenden um die Verursachung Gottes wissen. Doch zielt diese explizite Motivierung nicht darauf, ein pro57 Vgl. dazu Waltenberger, Vom Zufall (Anm. 15), S. 304 und 305, Anm. 41.
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videntielles Weltbild zu plausibilisieren, sondern den Kontrast zwischen Ursache und Wirkung oder Ereignis und Deutung zu inszenieren. Denn die irdischen Figuren verstehen die Heilung weder als providenten Gnadenakt noch als Zeugnis von Kontingenz. Stattdessen instrumentalisiert die Ehefrau das ›Wunder‹ sogleich, indem sie sich selbst als Urheberin der Heilung darstellt. Sie erklärt, sie habe die Heilung durch den Ehebruch bewirkt: lieber man mein, diese lieb muß dir ein puß sein, das du nimmer werdest plint. des half mir heut das himelisch kint und auch darzu der schüler. der lernet mich dise mer, das du wider hast dein augen (V. 165–171)
Es wird deutlich, dass ein in der weltlichen Sphäre unmotiviertes Ereignis nicht als eindeutiger Effekt der Providenz, sondern als ambivalente Leeroder Verlegenheitsstelle erscheint, die für ganz unterschiedliche Deutungen offen ist. Es setzt sich die Deutung durch, die die Mehrheit überzeugt. Ob dabei eine transzendente Instanz, weltliche Kausalzusammenhänge oder universelle Kontingenz bemüht werden, sagt – der Perspektive des Märes zufolge – wenig über die ›tatsächliche Ursache‹ aus, aber viel über die Ziele derjenigen, die eine solche Deutung vertreten. Daher kann die Ehefrau in ihrer Argumentation transzendente und immanente Begründungszusammenhänge vermischen und ihre Ziele dennoch erreichen.58 Die bei Kaufringer vorherrschende Frage nach den Handlungsmotiven der Providenzinstanz wird in der Buhlschaft hin zu derjenigen verschoben, wie letztursächliche Begründungen für innerweltliche Zwecke ge- bzw. missbraucht werden können.59 58 Die Ehefrau stellt sich einerseits als Urheberin des Wunders dar, andererseits führt sie als Helfende den schüler und das himelisch kint an (V. 168 f.). Sie ruft zudem mit der Aussage diese lieb muß dir ein puß sein (V. 166) das Motiv der Sühne auf. Vgl. auch Steinhöwel, Äsop (Anm. 35), S. 328, dessen Erzähler die von Jupiter verursachte Blindenheilung als gehen zuofal bezeichnet: Do daz [Schimpfrede des Mannes] die frow erhöret, wie wol sie (als billig waz) von dem gehen zuofal erschrak, […] dannocht fande sie schnellen list der antwürt […]. 59 Luhmann postuliert in seinen systemtheoretischen Analysen der Religion, dass sich das moderne Kontingenzbewusstsein als Folge der Beobachtung zweiter Ordnung und insbesondere derjenigen Gottes ausgebildet habe; vgl. Luhmann, Niklas, Kontingenz als Eigenwert der modernen Gesellschaft, in: Ders., Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 93–128 sowie Ders., Die Religion der Gesellschaft (Anm. 53), S. 147–186. Trotz gewisser Ähnlichkeiten mit Luhmanns Thesen sollte nun deutlich geworden sein, dass die Buhlschaft diesem Modell nicht entspricht. Es wird nicht – wie etwa in der Erzählung Kaufringers – die Selektivität der einzelnen Beobachtungen, sondern die Ambivalenz von unterdeterminierten Ereignissen und das sich daraus ergebende divergente Deutungspotential fokussiert. Im Vordergrund steht nicht die Frage nach den Letztursachen, sondern diejenige nach dem Reden über diese.
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Doch auch diese Verschiebung destabilisiert das Erzählmodell nicht vollständig, sondern gründet weiterhin auf dessen entscheidendem Vorteil, nämlich der supragöttlichen Perspektive der Lesenden: Diese können zwei Seinssphären, also sowohl die providente Ursache als auch die irdische Deutung, beobachten. Nur auf diese Weise kann der komische Kontrast zwischen transzendenter Ursache und immanenter Deutung sichtbar gemacht werden. Eine weitere Pointe des Märes liegt darin, dass trotz des äußerst transparenten Motivationsgefüges und trotz der eindeutig himmlischen Verursachung der Blindenheilung die Ausrede der Frau auf den ersten Blick kaum zu falsifizieren ist. Der Ehebruch erscheint ›tatsächlich‹ als Bedingung für die Heilung des Mannes: Hätte die Frau den Mann nicht betrogen, hätte Petrus keinen Grund zum Eingreifen gesehen. Es handelt sich hierbei aber erneut um eine nachträgliche Deutung, die – wie bereits anhand der Erzählung Kaufringers erläutert wurde – die vergangenen Ereignisse als lineare und für das Ergebnis notwendige Folge darstellt. In der Buhlschaft wird jedoch eine solche ›Sinnstiftung ex post‹ problematisiert: Indem die List der Ehefrau im Voraus angekündigt wird und ihre Begründung zugleich einen dem Moment geschuldeten Einfall darstellt, wird sichtbar, wie durch eine nachträgliche Finalisierung Möglichkeiten ausgeblendet und der Eindruck von Notwendigkeit erzeugt wird.
5. Rezeption und Produktion von Erzählungen Der ›himmlische‹ Status von Gott und Petrus zeigt sich u. a. darin, dass sie das irdische Geschehen beobachten können, ohne ihrerseits beobachtet zu werden. Diese göttliche Beobachterposition wird immer wieder durch das Wortfeld des Sehens hervorgehoben: herr meister, lug! sichstu nit das grosse ungefug (V. 139 f.), beginnt Petrus das Gespräch. Er wiederholt die Formulierung später, als er zum zweiten Mal Gott bittet, ins irdische Geschehen einzugreifen (V. 159 f.). Beim dritten Interventionsversuch schildert der Erzähler zuerst den Akt der Wahrnehmung und dann Petrus’ Reaktion (das nam sant Peter eben war. / er sprach […], V. 204). Als Gott jedoch Petrus die Listigkeit der Ehefrau prophezeit, wird anstelle der Beobachtungs- eine Erzählsituation aufgerufen. Petrus antwortet nämlich ›das höret ich gern‹ (V. 147). Petrus erscheint als Rezipient, der dem Erzähler Gott zuhört. Die Allwissenheit, Unbeobachtbarkeit und Allmacht der Providenzfigur erhalten so neben der theologischen eine erzähltheoretische Bedeutung. Der herausgehobene Status von Gott und Petrus wird konnotativ als derjenige von Erzähler und Publikum ausgewiesen. Dementsprechend werden die Reaktionen der himmlischen Figuren auf die erste Überlistung des Ehemannes als spezifische Rezeptionsmodi lesbar.
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Petrus entrüstet sich über das Geschehen und entwirft eine positivere Erzählalternative: ich wollte gern das sein leip / sehen sollte den grossen mort (V. 142). Gott nimmt den Faden auf, skizziert aber die Folgen des veränderten Erzählgeschehens anders: sie [Ehefrau] fünd wol ein antwort / danoch, ob es der man sech an (V. 143 f.). Beide Figuren kontrastieren somit das Beobachtete mit alternativen Handlungsverläufen, entwickeln aber ihre Erzählalternativen nach unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten: Petrus glaubt, dass ein sehender Ehemann seine Frau sofort bestrafen würde; Gott hingegen geht von der immerwährenden Listigkeit der Frau aus, die sich auch gegenüber einem sehenden Mann herausreden könne. Diese beiden von Petrus und Gott entworfenen Handlungsverläufe basieren somit auf zwei unterschiedlichen Motivationsformen. Petrus’ Entwurf steht für eine kausale Motivierung: Werden die Ausgangsbedingungen verändert, so ergibt sich – gemäß kausalen Gesetzen – auch ein anderes Ergebnis. Gott hingegen scheint seine Erzählalternative aufgrund von Gattungsgesetzmäßigkeiten zu entwickeln: Ehefrauen sind ›immer‹ listig und untreu, Ehemänner auch sehend blind. Als sich Petrus’ Erwartungen nicht erfüllen, wird er zum naiven Rezipienten, der die Grenze zwischen der eigenen und der rezipierten Welt zu überschreiten versucht. Nachdem auch dies misslingt – er kommt gegen die List der Frau nicht an –, wird er zum Erzähler:60 herr, und hett ich gwalt […] ich gerech mich an diser bösen haut, das sie dorft sprechen überlaut, ich wer ir nachgestrichen. darzu so sprach sie: ›stich in!‹ das laß ich faren, herre got, und rich mich an ir durch dein gepot (V. 235–242)
Petrus berichtet sowohl, was ihm geschehen ist, als auch, was er zu tun beabsichtigt – zuerst im Konjunktiv und drei Verse später im Indikativ. Sein Erzählen soll das Misslingen des providentiellen Eingriffs vergessen machen. Liest man die erzähltheoretischen Konnotationen mit, so werden in der Buhlschaft unterschiedliche Rezeptions- und Produktionsmodi des Erzählens nebeneinander gestellt. Übergreifend fällt dabei die enge Verschränkung von Rezeption und Produktion auf. Im ersten Teil werden im Anschluss 60 Am Ende erscheint auch der herr erneut als Erzähler. Denn seine abschließende Aussage (V. 243–254) zitiert durch den belehrenden Gestus Mären-Epimythien an bzw. ersetzt das in der Buhlschaft fehlende. Sie ist jedoch fast nur als Parodie eines Epimythions lesbar, da die christliche Lehre ad absurdum geführt wird: dem sünder sol man vil vertragen. / […] ich wil sie [sünder] in meinem schirm han. / ee ich sie ließ in nöten, / ich ließ mich noch eins töten (V. 244–250).
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an die Beobachtung bzw. Rezeption alternative Handlungsverläufe entworfen, die im zweiten Teil ›verwirklicht‹ werden. Am Ende führt das Scheitern der unmittelbaren, ins Geschehen eingreifenden Rezeption zurück zum Erzählen. Die ›Produktion‹ von Erzählungen erscheint somit als Fortsetzung der Rezeption bzw. als Auseinandersetzung mit intertextuellen Mustern. Dies bedeutet jedoch weder eine Determination des Erzählten durch intertextuelle Vorgaben noch eine endliche Zahl möglicher Erzählvarianten. Vielmehr handelt es sich um ein experimentelles Verfahren, das – wie anhand des Scheiterns Petri sichtbar wird – neue Möglichkeiten generiert, weil es der Kontingenz zwischen Absicht und Realisierung unterliegt.
6. Kontingenz der Evidenz Die beiden himmlischen Figuren haben, wie im letzten Abschnitt gezeigt wurde, eine ähnliche Funktion wie die Personen einer Rahmenerzählung. Sie kommentieren das Geschehen und reflektieren die Rezeptionssituation. Erzähltheoretisch haben solche Metafiguren jedoch einen paradoxen Status: Einerseits sind sie ›außerhalb‹ der Erzählung, andererseits Teil derselben; einerseits zielen sie darauf, die erzählte Welt zu überschreiten, andererseits machen sie auf deren Begrenztheit aufmerksam. In der Buhlschaft unterwandert diese Doppeldeutigkeit – wie im Folgenden gezeigt werden soll – die Eindeutigkeit der Belehrung, die Petrus erfährt. In der Erzählung Kaufringers demonstriert der Engel dem Einsiedler (und den Rezipienten) die Unergründbarkeit providentieller Motive. In der Buhlschaft dient das Modell zweier gestufter Seinssphären ebenfalls der Belehrung, doch wird nicht über die Providenz (bzw. deren Beobachtbarkeit), sondern über ›Irdisches‹ aufgeklärt: Es wird Petrus gezeigt, dass die Frau sofort eine Ausrede findet, und er muss am eigenen Leib erfahren, dass er der Listigkeit der Frau nicht gewachsen ist. Auch hier zielt die Demonstration über Petrus hinaus auf die Lesenden, die erfahren, dass das ›Ergebnis‹ trotz des doppelten Eingreifens dasselbe bleibt. So wird auf der lebenspraktischen Ebene die Dummheit der Ehemänner und die Listigkeit der Ehefrauen,61 auf der erzähltechnischen Ebene dagegen die gattungstypische Motivierung vorgeführt. 61 So etwa Meier, Jürgen, [Art.] Die Buhlschaft auf dem Baume A, in: Verfasserlexikon (Anm. 1), Bd. 1, 1978, Sp. 1113 f., der dem Text »didaktische[] Züge« zuschreibt, oder Slenczka, Gäste aus Himmel und Hölle (Anm. 34), S. 155. Slenczka betont jedoch zugleich, dass aufgrund der Sympathielenkung die List der Frau durchaus positiv dargestellt werde und die Erzählung deshalb »mehrere Deutungen bereit [stelle]« (S. 159).
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Doch eine solche Lesart der Erzählung als komisches Exemplum ist allzu sehr der Rhetorik der Demonstration und dem Primat der höheren Seinssphäre verpflichtet. Sie missachtet, dass die Hierarchisierung der beiden Seinssphären durch Analogien, insbesondere durch die omnipräsente Semantik des Sehens, unterlaufen wird: Petrus ›sieht‹ den Ehebruch und will deshalb den blinden Ehemann ›sehend‹ machen.62 Anschließend lässt ihn Gott sehen (V. 149), dass auch der sehende Ehemann den Ehebruch nicht (an-)erkennt. Gottes Demonstration führt also einerseits vor, dass Sehen und Erkennen zweierlei sind. Da aber auch Gottes Demonstration als sehen [lassen] (V. 149) bezeichnet wird, überträgt sich andererseits der Zweifel an der Erkenntniskraft des Sehens auf die Demonstration Gottes. Petrus ist trotz aller Evidenz der göttlichen Demonstration genauso sehend blind wie der Ehemann. Dementsprechend bleibt auch offen, welche Erkenntnis die Lesenden aus dem, was ihnen gezeigt wird, erschließen bzw. erschließen sollen. Der Text hebt so ein weiteres Kontingenzmoment hervor, nämlich die Kontingenz zwischen dem ›zu sehen Geben‹ und dem Erkennen, und reflektiert dadurch die eigene narrative Evidenzerzeugung. Denn narrative Darstellungen haben gegenüber thetischen Formulierungen eine eigene Evidenzkraft und legitimieren sich – gerade im Bereich der exemplarischen Erzählungen – nicht selten darüber. In der Buhlschaft wird hingegen deutlich, dass der Übergang zwischen Demonstration und Erkenntnis kontingenzanfällig ist. Das Märe kann zwar ›vor Augen stellen‹, doch kann die damit erzeugte Evidenz von der – hier wohl stärker auktorialen als religiösen – Providenzfigur nicht vollständig bestimmt werden.
62 sichstu nit das grosse ungefug, / wie dem plinten tut das weip. / ich wollte gern, das sein leip / sehen solte den grossen mort (V. 140–143). Die körperliche Blindheit des Ehemanns steht auch in anderen Mären (z. B. Der betrogene Blinde) für die Dummheit von betrogenen Männern. Daneben postulieren die Motivgeschichten eine enge Beziehung zwischen der Buhlschaft und den Erzählungen, in denen der Ehebruch dem sehenden Ehemann als optische Täuschung oder Zauberei verkauft wird; so Beyerle, Der doppelte Betrug (Anm. 34), S. 65; Bratcher, James T., [Art.] Birnbaum: Der verzauberte B., in: Enzyklopädie des Märchens (Anm. 51), Bd. 2, 1979, Sp. 417–421. Entscheidender scheint mir jedoch, dass in Hans Sachs’ Ein gesprech zwischen einem waltbruder und eim engel, von dem heimlichen gericht Gottes die Unwissenheit des Menschen, also seine Unfähigkeit, den providentiellen Plan Gottes zu erkennen, als ›sehende Blindheit‹ bezeichnet wird. So sagt der Engel am Ende zum Waldbruder: Hör zu! / Menschlich augen hast du; / Deß magst erkennen nicht / Gottes heymlich gericht (Hans Sachs, Werke, hg. von Adelbert von Keller, Bd. 1, Hildesheim 1964 [Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1870], S. 409–414, hier S. 412, V. 11–15; ebenso S. 414, V. 22–25).
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7. Narrative Kontingenzexposition Strohschneider zeigt in dem bereits erwähnten Aufsatz, wie im Pfaffen Amis der Schwankheld »an die Stelle einer metaphysischen Steuerungsinstanz« tritt und »in der Welt seiner Opfer Kontingenz entstehen läßt«.63 In der Buhlschaft erzeugen dagegen sowohl ›die metaphysische Steuerungsinstanz‹ (Gott und Petrus) als auch die Schwankheldin (Ehefrau) für die jeweils andere Seite Kontingenz. Die Pointe der Buhlschaft besteht somit darin, beide ›Kontingenzproduktionen‹ nebeneinander sichtbar zu machen und durch die Inkommensurabilität dieser verschiedenen Perspektiven Kontingenz im ›emphatischen‹ Sinne zu exponieren:64 Zum einen werden Momente einer Kontingenz des providentiellen Eingriffs thematisiert, insbesondere die Kontingenz zwischen Absicht und Realisierung; zum anderen hebt der Text – indem der herr und Petrus Konnotationen von Erzähler und Rezipient tragen – Kontingenzmomente des Erzählens hervor. Es wird die Kontingenz der Rekombination intertextueller Vorgaben und diejenige zwischen narrativer Demonstration und Evidenzstiftung fokussiert. Beide Ebenen der Kontingenzexposition werden jedoch ihrerseits durch das Geschehen in der irdischen Seinssphäre konterkariert. Denn anhand der List der Ehefrau wird deutlich, dass unmotiviert scheinende Ereignisse – seien sie nun provident oder kontingent – besonders gut instrumentalisiert werden können, weil sie ganz unterschiedlichen Deutungen und Sinnstiftungen offenstehen. Es könnte deshalb der Verdacht aufkommen, auch die gerade erwähnten Darstellungen von Kontingenz seien erzählerisch funktionalisiert (z. B. indem sie der Erzeugung von Pointen dienten) und würden deshalb keine Kontingenz im emphatischen Sinne exponieren. Dieser Einwand soll abschließend mit Bezug auf die Überlegungen Ricœurs diskutiert werden. Petrus und der herr spekulieren bei ihrem ersten Auftritt darüber, was geschehen könnte, wenn der Ehemann sehend würde. Sie sprechen also im Irrealis über alternative Verläufe des irdischen Geschehens. Durch die Blindenheilung werden anschließend die irdischen Bedingungen verändert und in der Folge eine der erwähnten Erzählalternativen ›verwirklicht‹. Diese Szene korreliert mit der philosophisch-theologischen Kontingenzdiskussion, die fragt, ob es einen Wahrheitswert zukünftiger kontingenter Ereignisse (futura contingentia) gibt oder wie sich ein göttliches Vorauswissen (providentia) denken lässt, ohne damit das zukünftige Geschehen zu determinieren.65 Doch diese philosophisch-theologische Dimension der Szene ist in der Buhlschaft nicht 63 Strohschneider, Kippfiguren (Anm. 8), S. 178–180. 64 Der Begriff der ›emphatischen Kontingenz‹ wird benutzt im Sinne von Wellbery, Relevanz des Kontingenzbegriffs (Anm. 29), S. 161 f. 65 Vgl. dazu Söder, Kontingenz und Wissen (Anm. 18), S. 85–199.
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Thema. Der Konjunktiv in der Voraussage Gottes (si fünd wol ein antwort / danoch, ob es der man sech an, V. 144 f.) deutet an, dass der herr über das zukünftige irdische Geschehen nicht detailliert informiert ist, sondern bloß Vermutungen anstellt.66 Die Providenzinstanz wird so einem menschlichen Beobachter angenähert und die philosophisch-theologischen Fragen werden außen vor gelassen. Stattdessen tritt das ›Auch-anders-Sein-Können‹ des Erzählten in den Vordergrund. Gott und Petrus reden darüber, wie die Erzählung von der Überlistung der huote auch anders hätte verlaufen können. Sie potentialisieren damit das bereits Erzählte, indem sie es als eine (kontingente) Möglichkeit unter anderen darstellen. Es handelt sich dabei aber nicht um Erzählalternativen zum vorliegenden Märe (Buhlschaft), die als potentielle im Text selbst nicht explizierbar sind, sondern um Alternativen zum irdischen Geschehen. D. h. es sind intradiegetische Erzählalternativen, die extradiegetisch – als Erzählungen von etwas Möglichem – bereits realisiert sind. Dennoch kann genau mit Hilfe dieses Umwegs der nicht-explizierbare Möglichkeitsraum des vorliegenden Textes evoziert werden. Dagegen kann man einwenden, das Explizieren des ›fingierten‹ Möglichen verschließe den Text gegenüber dem ›realen‹ Möglichkeitsraum: Indem das Mögliche erzählerisch funktionalisiert werde, werde Kontingenz nicht exponiert, sondern konfigurierend verdeckt. Ich möchte jedoch nicht von einer solchen Alternative zwischen Kontingenzexposition und konfigurierender Funktionalisierung (Sinnstiftung) ausgehen, sondern die Szene als paradox of contingency im Sinne Ricœurs lesen. Die erzählten Möglichkeiten und die Möglichkeiten des Erzählens schlagen ineinander um, so wie bei der Blindenheilung der Ehebruch zugleich als notwendig und als kontingent erscheint. Durch das Umschlagen werden die Beobachterstandpunkte sichtbar, die der jeweiligen Sichtweise zu Grunde liegen: Entweder siedelt sich der Rezipient auf der Augenhöhe von Petrus und Gott an und betrachtet das irdische Geschehen sowie die entsprechenden Handlungsalternativen, blendet dabei aber die Ebene des discours weitgehend aus; oder er versteht sich als supragöttlicher Beobachter, der die himmlischen und die irdischen Figuren als Teil einer Erzählung betrachtet, ebnet damit aber die die histoire dominierende Differenz zwischen den beiden Sphären ein. Im Rahmen des intradiegetischen Providenzmodells werden solch unterschiedliche Beobachterstandpunkte hierarchisiert und zu einem Ganzen geordnet. Doch gilt eine solche synthetisierende Hierarchisierung nur für die Handlungswelt und wird von der Erzählung selbst unterlaufen, z. B. durch die Überlagerung verschiedener inkommensurabler (zeitlicher) Beobachterstandpunkte. 66 Da der Konjunktiv sich jedoch auch auf die – vom Standpunkt des irdischen Geschehens aus irreale – Situation beziehen könnte, ist es nicht ganz eindeutig, ob es sich bei der Aussage Gottes ›nur‹ um eine Vermutung und nicht um eine Prophezeiung handelt.
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Besonders deutlich zeigt sich dies bei der Analyse der verschiedenen Zeitperspektiven.67 Innerhalb der histoire sind die sukzessive und die konfigurierende Zeitdimension von Ricœur auf die irdische und die göttliche Sphäre aufgeteilt. Denn das irdische Geschehen folgt linear dem ›und dann‹, die ›himmlische‹ Sphäre dient dagegen der Konfiguration: Von einem zeitlosen Beobachterstandpunkt aus wird das irdisch-zeitliche Geschehen kommentiert und dadurch ein Sinnzusammenhang – die Diskussion über die Listigkeit der Frauen – für dessen Deutung bereitgestellt. Doch eine solche Aufteilung der beiden Zeitdimensionen betrifft bloß die erzählte Zeit (histoire) und nicht die des Erzählens (discours ). Der discours ist vom Wechsel zwischen den beiden Seins- und Zeitsphären geprägt bzw. wird durch diesen rhythmisiert. Das lineare Steigerungsschema der (irdischen) Schwankhandlung wird dadurch überboten, dass es durch den Einschub der ›zeitlosen‹ Seinssphäre aufgebrochen wird. Die Gespräche zwischen Gott und Petrus unterbrechen das Schwankgeschehen, und die Blindenheilung stellt es unter neue Ausgangsbedingungen. Deshalb kann es zu einer versetzten Wiederholung der List der Frau kommen: Die Schlusspointe, in der neben dem Ehemann auch Petrus von der Frau überlistet wird, ist durch die himmlischen Figuren bereits teilweise angekündigt worden. Sie basiert also auf der Verschränkung der beiden intradiegetischen Zeitsphären: Einerseits bewahrheitet sich die Prophezeiung Gottes, andererseits wird das Schwankgeschehen – scheinbar ungebrochen – fortgesetzt. Die Differenzen zwischen den Seinssphären werden somit einerseits eingeebnet, da der Wechsel zwischen den beiden als narrative Strategie der Steigerung erscheint. Andererseits wird die Differenz zwischen den beiden Seinssphären als Bedingung der Komik weiterhin vorausgesetzt und durch Petrus’ Grenzüberschreitung auch nochmals akzentuiert. Die vordergründig zeitlose Seinssphäre ist somit Bestandteil einer eminent zeitlichen Erzählstrategie. Sie trägt durch ihre retardierende und diskontinuierende Funktion auf paradoxe Weise zur letztlich linear erscheinenden Überbietungsstruktur des Märes bei. Die Buhlschaft stellt also einerseits verschiedene zeitliche Beobachterstandpunkte, die sich nicht hierarchisieren lassen, aus. Andererseits nutzt sie die verschiedenen Zeitlichkeiten für die Zeitmodulation des discours: Die erzählte Zeit wird mit der erzählenden verschränkt, ohne in ihr aufzugehen. Dadurch entstehen Diskontinuitäten, Kippeffekte und anachronistische Verweise, in denen die Kontingenz des Erzählens aufscheint: als Kollabieren des hierarchisch geschachtelten Zeitgefüges der histoire. Diese Kontingenz konstituiert und desintegriert das Erzählte gleichermaßen. 67 Die folgenden Überlegungen versuchen u. a., die von Warning, Erzählen im Paradigma (Anm. 29), S. 185; 190; 199; 208 entwickelten Thesen zu Kontingenz und der Zeitmodulation des Erzählens für die Analyse der Buhlschaft fruchtbar zu machen.
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Susanne Reichlin
Vor diesem Hintergrund kann auch nicht mehr davon ausgegangen werden, dass die Fortuna-Anspielung im Studentenabenteuer A durch die strukturelle Motivierung des Geschehens aufgehoben würde. Vielmehr liegt der Reiz des Textes darin, dass das Epimythion, die Pointenstruktur und die Deutung des Geschehens durch die Protagonisten unterschiedliche Zeit- und Sinnhorizonte aufrufen. Sie machen die Motivationskette der Handlung und deren Lücken auf je andere, unvereinbare Weise lesbar. Diese verdreifachte Sinnstiftung im Studentenabenteuer A verweist somit ebenso wie die narrativen Schachtelungen in der Buhlschaft auf ein narratives Experimentieren mit den unterschiedlichen Beobachtungsmöglichkeiten von Kontingenz und Providenz.
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Werner Röcke
Die Risiken der Gewissheit Inszenierungen von Kontingenz im Fastnacht- und Antichristspiel des Spätmittelalters
Risiken sind Funktionen menschlicher Entscheidungen. Sie drohen, weil ihre Möglichkeit bewusst in Kauf genommen wird, sie also aus Entscheidungen folgen können, aber nicht müssen. Anders als Gefahren, die einem von außen zukommen, ohne dass man sie selbst verursacht hätte oder sich in jedem Fall der Gründe für die Gefahren überhaupt bewusst wäre, sind Risiken durch eigene Entscheidungen bedingt, wären also auch prinzipiell vermeidbar. Alois Hahn hat, im Anschluss an Niklas Luhmann, diese Subjekt-Zentriertheit des Risikos zu dessen wichtigstem Unterscheidungsmerkmal gegenüber der Gefahr erklärt, zugleich aber auch vorgeschlagen, die Unterscheidung von Risiko und Gefahr einer genaueren Bestimmung des Umgangs mit Kontingenz, vielleicht sogar der Kontingenzbewältigung, zugrunde zu legen. Beim Versuch einer Typisierung verschiedener Formen des Umgangs mit Kontingenz, schreibt er in dem Aufsatz Risiko und Gefahr, »dürfte die Differenz von Risiko und Gefahr« eine der wichtigsten Voraussetzungen darstellen. Dabei stelle das Risiko »jene Bedrohung dar, die absichtlich gewagt wird, die man sich also selbst zurechnet und die im Prinzip vermeidbar wäre, wenn man auf bestimmte Handlungen verzichtete. Gefahr hingegen […] erscheint überhaupt unkontrollierbar oder doch wenigstens nicht primär durch eigene Aktionen«.1 Risiken und Gefahren also sind, das gilt für beide, auf die Zukunft bezogen. Sie beschreiben mögliche, aber keineswegs gewisse Entwicklungen; künftige, aber in Umfang und Zeitpunkt höchst unsichere, in der Regel nicht kalkulierbare Drohungen, unterscheiden sich aber in der Art und Weise, wie man auf diese Möglichkeiten der Zukunft reagiert. Dramatische Texte und Inszenierungen sind in dieser Hinsicht besonders interessant, sofern sie für Zukunft offen sind, diese Möglichkeiten der Zukunft im Spiel auf der Bühne vergegenwärtigen und konkretisieren, aber auch Möglichkeiten vorführen, wie auf sie 1 Hahn, Alois, Risiko und Gefahr, in: Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard (Hgg.), Kontingenz, München 1998 (Poetik und Hermeneutik 17), S. 49–54. Vgl. dazu auch Luhmann, Niklas, Soziologie des Risikos, Berlin und New York 1991.
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Werner Röcke
reagiert werden kann. Für die Frage nach den Formen des Umgangs mit Kontingenz ist das aus dem Grund aufschlussreich, als Kontingenz nicht ontologisch definierbar ist, sondern »eigens erzeugt werden (muss) […], wenn sie als Problem in den Blick gebracht und erfahrbar gemacht werden soll.«2 Ein Risiko beispielsweise, und d. h. eine der wichtigsten Funktionsweisen von Kontingenz, muss eingegangen werden, wenn seine Möglichkeiten überhaupt realisiert werden sollen. Es setzt, anders gesagt, den Vollzug einer riskanten Entscheidung voraus, wenn es als Risiko sichtbar und beurteilbar werden soll. Diese performative Dimension des Risikos aber steht im dramatischen Spiel im Mittelpunkt. Die Bühnenhandlung bietet die Inszenierung künftiger, kontingenter Ereignisse, die hier gleichwohl höchst gegenwärtig vollzogen werden und die den dramatis figuris bestimmte Entscheidungen abverlangen. Anders als in narrativen Texten, in denen von Kontingenz erzählt wird und sie lediglich durch die Form des Vortrags, also die Aufführung des Texts, vergegenwärtigt werden kann, ist der praktische Vollzug der Vergegenwärtigung von Ungewissheiten, Unwägbarkeiten und anderen Formen des Kontingenten, auf die das Publikum reagieren kann und soll, die wichtigste Besonderheit theatraler Spiele im Umgang mit Kontingenz. Allerdings erfolgt dieser Umgang mit Kontingenz in den verschiedenen Spielformen des Theaters auf unterschiedliche Weise, so auch im mittelalterlichen Theater. Im Folgenden möchte ich die literarischen Gebrauchsformen von Risiko und Gefahr, d. h. die Formen des Umgangs mit Kontingenz, an zwei Spieltypen des spätmittelalterlichen Theaters erörtern, die auf den ersten Blick nur wenig miteinander zu tun haben, gerade aber hinsichtlich ihres jeweils unterschiedlichen Umgangs mit Kontingenz sehr interessant sind: einerseits die Antichrist- und Weltgerichtsspiele des Spätmittelalters,3 andererseits die späten Nürnberger Fastnachtspiele Jacob Ayrers, und hier vor allem die Spiele um Jann Posset, die ich als Adaptationen der englischen Komödie des 16. Jahrhunderts, insbesondere der sogenannten error-plays, lese.4 Üblicherweise werden geistliche und weltliche Spiele des Mittelalters strikt getrennt. Sie werden unterschiedlichen Gebrauchszusammenhängen und ri2 Lobsien, Eckhard, Kontingenz des Erzählens und Erzählen der Kontingenz in Miltons Paradise Lost, in: Bernhard Greiner und Maria Moog-Grünewald (Hgg.), Kontingenz und Ordo: Selbstbegründung des Erzählens in der Neuzeit, Heidelberg 2000 (Neues Forum für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft 7), S. 47–57, hier S. 57. 3 Vgl. dazu schon die Überblicksdarstellung von Reuschel, Karl, Die deutschen Weltgerichtsspiele des Mittelalters und der Reformationszeit. Eine literaturhistorische Untersuchung. Nebst dem Abdruck des Luzerner Antichrist von 1549, Leipzig 1906. 4 Einführend dazu Brauneck, Manfred, Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters, Bd. 1, Stuttgart und Weimar 1993, S. 593 f. Vgl. dazu auch meine Ausführungen s. u.
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tuellen Kontexten zugewiesen und gelten – gerade die Unterschiede von inszenierter Heilsgeschichte im geistlichen Spiel und einer ausgeprägten Lust an Körperlichkeit und Gewalt im Fastnachtspiel unterstreichen das – als nicht kompatibel. Gleichwohl zeigen schon die Teufels- und Krämerszenen z. B. der meisten Osterspiele, dass eine strikte Trennung hier nicht weiterhilft. In diesem Zusammenhang ist nun auch der Umstand bemerkenswert, dass das wichtigste Antichristdrama des Spätmittelalters: Des Entkrist Vasnacht (15. Jahrhundert) – wie der Titel sagt – als Fastnachtspiel konzipiert ist, genauer gesagt: zunächst, und d. h. Mitte des 14. Jahrhunderts, als geistliches Spiel konzipiert und wohl in Zürich zur Aufführung gebracht, Anfang des 16. Jahrhunderts aber zum Fastnachtspiel umgearbeitet worden ist.5 Ich lege dieses Spiel Des Entkrist Vasnacht meinen Überlegungen zum Antichristspiel zugrunde; ergänzend ziehe ich aus der sehr viel breiteren Überlieferung der Weltgerichtsspiele das Berner Weltgerichtsspiel (Luzern 1465) heran.6 Während geistliche und weltliche Spiele also durchaus Überschneidungen zeigen, erweisen sich, gerade unter dem Gesichtspunkt ihrer Vergangenheits- bzw. Zukunftsorientierung und ihres entsprechenden Umgangs mit Kontingenz, die geistlichen Spiele keineswegs als homogene Textgruppe. So rufen z. B. Passions- oder Osterspiele vergangene Ereignisse auf; sie vergegenwärtigen die Heilsgeschichte, die Leiden der Passion Jesu oder das Wunder der Auferstehung und machen sie auf diese Weise erfahrbar. Demgegenüber sind die Antichrist- und Weltgerichtsspiele auf Zukunft angelegt. Damit aber sind gerade sie für die Frage nach literarischen Gebrauchsformen von Risiko und Gefahr, die – ich wies darauf hin – ebenfalls auf Zukunft bezogen sind, außerordentlich interessant. Das betrifft vor allem die Art und Weise, wie im Antichrist- und Weltgerichtsspiel auf die Drohungen der Zukunft, die Unwägbarkeiten und Gefahren des künftigen Gerichts reagiert wird und welche Handlungsmöglichkeiten sie eröffnen.
5 Des Entkrist Vasnacht, in: Frühe Schweizerspiele, hg. von Friederike Christ-Kutter, Bern 1963 (Altdeutsche Übungstexte 19), S. 41–61. Vorher schon in: Fastnachtspiele aus dem fünfzehnten Jahrhundert [Erstdruck 1853], hg. von Adelbert von Keller, Zweiter Teil, Darmstadt 1965 (Bibliothek des literarischen Vereins Stuttgart 28). Zu Überlieferung, Wirkungszusammenhang und Interpretation des Spiels vgl. Christ-Kutter, Friederike, [Art.] Des Entkrist Vasnacht, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 2, Berlin und New York 21981, Sp. 570 f. und Reuschel, Weltgerichtsspiele (Anm. 3), S. 41–50. 6 Berner Weltgerichtsspiel. Aus der Handschrift des 15. Jahrhunderts, hg. von Wolfgang Stammler, Berlin 1962 (Texte des späten Mittelalters 15). Vgl. dazu Rosenfeld, Hellmut, [Art.] Berner Weltgerichtsspiel, in: Verfasserlexikon (Anm. 5), Bd. 1, 21981, Sp. 748 f. und zuletzt Keller, Hildegard, losendt obenthür. Weltgerichtsspiele als Aktualisierungsmedien der Zeit. Am Beispiel des Berner Weltgerichtsspiels und des Churer Weltgerichtsspiels, in: Hans Joachim Ziegeler (Hg.), Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Tübingen 2004, S. 49–70.
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1. Der Zwang zum Risiko. Inszenierungsformen von Kontingenz im Antichrist- und Weltgerichtsspiel des Spätmittelalters Geistliche Spiele des Mittelalters gehen von der Gewissheit der Heilsgeschichte, des Gnadenversprechens und Heilshandelns Gottes aus. Sie realisieren je neu das Heilsgeschehen, die Depotenzierung des Teufels und Überwindung des Bösen und bestätigen somit die Ordnung der Zeiten, die im Heilsplan Gottes vorgegeben ist. Das gilt auch für die Antichrist- und Weltgerichtsspiele. Auch sie bestätigen den Zyklus der Heilsgeschichte, da sie nach Schöpfung und Kreuzestod Jesu – als Zäsur der bisherigen Geschichte – nun deren Zielpunkt in den Blick nehmen: das Weltgericht Gottes, das Ende von Zeit und Geschichte, das Ende der Welt. Vorbereitet wird dieser Endpunkt von Zeit und Geschichte mit dem Erscheinen des Antichrist, der – ebenso wie sein Erzeuger und Ratgeber: der Teufel – die Menschen in Versuchung und Verwirrung und schließlich zum Abfall von Gott bringen soll. In den Antichristbildern, den Antichristerzählungen und eben auch Antichristspielen des Mittelalters steht dieser Gesichtspunkt der Verwirrung der Gläubigen, sowie der Versuch, sie zum Abfall von Gott zu bewegen und ihn, den Antichrist, als Herrn der Geschichte anzuerkennen, im Mittelpunkt.7 Das aber ist kontingenztheoretisch von größtem Interesse. Auch Antichrist und Weltgericht sind – so sagten wir – feste Bestandteile des Heilsplans Gottes. Das endgültige Gericht ist darin ebenso unabänder7 Zu Deutung und Funktion des Antichrist in Mittelalter und Früher Neuzeit vgl. die Überblicksdarstellungen im Lexikon des Mittelalters, Bd. 1, München und Zürich 1980, Sp. 703–708 (mit weiteren Literaturangaben); im Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 1, Rom u. a. 1968, Sp. 119–122; im Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 1, Freiburg im Breisgau 1957, S. 634–638 sowie in der Enciclopedia dell’arte medievale, Bd. 2, Rom 1991, S. 117 ff. Von den verschiedenen Antichrist-Texten des Spätmittelalters (so z. B. die bayerische Versdichtung ›Von dem Anticriste‹, die anonyme Prosa ›Vom Antichrist‹ o. ä.; vgl. Verfasserlexikon [Anm. 5], Bd. 1, 21981, Sp. 397–400) verweise ich hier insbesondere auf eine Text-Bild-Erzählung von Geburt, Leben und Untergang des Antichrist, die im 15. und 16. Jahrhundert sehr weit verbreitet gewesen ist und so etwas wie eine ›Vulgata‹ der Antichrist-Überlieferung im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit darstellt: der Antichrist-Bildertext von ca. 1440/1450 in einer Frankfurter Inkunabel. Dabei handelt es sich um eine Reihe von halbseitigen Bildern zur Lebensgeschichte des Antichrist und zu den Fünfzehn Vorzeichen des Jüngsten Gerichts, die mit erklärenden Überschriften versehen sind. Das Buch ist um 1440/50 wahrscheinlich von einem bayerischen Anonymus geschaffen worden (Der Antichrist. Faksimile der ersten typographischen Ausgabe. Inkunabel der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, Inc. fol. 116. Veröffentlicht mit einem Kommentarband zum Faksimile der ersten typographischen Ausgabe eines unbekannten Straßburger Druckers, um 1480, Amsterdam, Hamburg 1979. Vgl. dazu auch Steer, Georg, [Art.] Antichrist (Endkrist)-Bildertext, in: Verfasserlexikon [Anm. 5], Bd. 1, 21981, Sp. 400 f.). Zu den Antichristspielen vgl. den (knappen) Überblick bei Brauneck, Die Welt als Bühne (Anm. 4), S. 368 f.
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lich vorgesehen, wie Schöpfung und Christi Selbstopfer. Zugleich aber sind Erscheinen des Antichrist und Weltgericht nur prophezeit, nicht – und anders als Passion oder Auferstehung – tatsächlich geschehen. Zwar geht man davon aus, dass es so kommen muss, doch hat man nur vage Vorstellungen, wie das Erscheinen des Antichrist und das Weltgericht erfolgen wird. Ebenso wie jedes prophetische Sprechen bleiben auch die Vorstellungen von Antichrist und Weltgericht denkbar allgemein und öffnen somit allen möglichen Ängsten davor, was passieren könnte, Tür und Tor. Dabei ist es gerade die Unsicherheit über das künftige Geschehen – von dem man nur weiß, dass es eintreten wird, aber nicht sagen kann, wie es erfolgen wird –, die dem Zufall, dem nicht Vorhergesehenen und Geplanten, größte Möglichkeiten eröffnet: Wer vermag schon vorherzusagen, wann der Antichrist und vor allem, wie er auftreten wird; wie sich Gottes Gericht ankündigen und wie es sich vollziehen wird? Zwar sind das Auftreten des Antichrist und der Beginn der Endzeit im Neuen Testament prophezeit worden (1. Joh. 2,18ff; 2. Joh. 7), doch ist eine konkrete Imagination des künftigen Geschehens auf dieser Grundlage nicht möglich. Die erfolgt erst in literarischen und künstlerischen Entwürfen, in denen das künftige Geschehen im Einzelnen konkretisiert und – was mir in unserem Kontext besonders wichtig zu sein scheint – vergegenwärtigt wird. Damit aber eröffnet sich eine Paradoxie, die für Antichrist- und Weltgerichtsspiele gleichermaßen konstitutiv ist: Zwar gehen sie von der Gewissheit aus, dass das Weltgericht Gottes unabweisbar kommen wird, ja dass es »nahe herbeigekommen« ist und unvermeidbar sein wird. Zugleich aber ist diese nahe Zukunft höchst ungewiss, unkalkulierbar und voller offener Möglichkeiten, die nicht genau vorhersagbar sind. Gleichwohl wird genau dies, also die konkrete Vorhersage der Zukunft, in den Antichrist- und Weltgerichtsspielen versucht. Sie prophezeien nicht nur das künftige Geschehen, sie bieten nicht nur apokalyptische Bilder, sondern auch bestimmte Ereignisse, die konkretes Handeln ermöglichen. Damit aber wird die Zukunft aller Ungewissheit und Zufälligkeit entkleidet und im Spiel auf der Bühne vergegenwärtigt. Diese Gewissheit der Ungewissheit; diese Sicherheit, die gerade aus der Unsicherheit und den Zufällen der Zukunft erwächst, hat zur Folge, dass die dramatis personae, aber zweifellos auch das Publikums mit dem Antichrist selbst konfrontiert werden, mit seinen Appellen zum Abfall von Gott und Christus, mit seinen Versuchungen zum Bösen, seinen Verlockungen und Verführungsstrategien. Das jedoch bedeutet, dass die handelnden Personen, aber mit ihnen auch das Publikum, in eine Entscheidung zwischen Gut und Böse, Christus und Antichristus, Gott und Teufel gezwungen werden, die ihnen – positiver formuliert – erhebliche Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Im Exposé zur Tagung haben Cornelia Herberichs und Susanne Reichlin nach dem Subjektstatus literarischer Figuren gefragt, der sich im Umgang
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mit der Kontingenz eröffne.8 Meine These dazu lautet, dass gerade die Antichristspiele – anders als die Weltgerichtsspiele (s. u.) – Entscheidungen erfordern, die über ihren weiteren Weg in Gnade oder Verdammnis entscheiden. Einleitend hatte ich als wichtigstes Kriterium des Risikos gegenüber der bloßen Gefahr die Bereitschaft zur Entscheidung für die Gefahr genannt. »Wer kein Flugzeug besteigt«, schreibt Luhmann, »kann nicht abstürzen«,9 setzt sich also nicht der Gefahr, aber eben auch nicht dem Risiko aus. Antichristspiele sind demgegenüber insofern interessant, als sie je neu Entscheidungen zwischen inkompatiblen Alternativen erzwingen. Sie bieten – anders gesagt – Modelle von Risiko und Risikobereitschaft, die den Unwägbarkeiten und Kontingenzen des künftigen Weltendes und -gerichts begegnen sollen. Das Spiel von des Entkrist Vasnacht z. B., das ich hier zugrunde lege, beginnt mit der Ankündigung, dass die Ankunft des Antichrist und damit der Anfang vom Ende der Welt unmittelbar (schier tzu hant, V. 6)10 bevorstehe. Nicht mehr tausend Jahre trennen uns vom Weltgericht Gottes, wie im Berner und anderen Weltgerichtsspielen behauptet wird, sondern es ist nahe herbeigekommen. Unterstrichen wird diese Behauptung der unmittelbaren Gegenwart der Endzeit dadurch, dass sie im Spiel faktisch realisiert wird, dabei aber auch der Zwang zur Entscheidung zwischen Christus und Antichristus von Anfang an im Mittelpunkt steht. Es gehört zu den Stereotypen der mittelalterlichen Antichristerzählungen sowie nahezu aller Antichrist- und Weltgerichtsspiele, dass die alttestamentlichen Propheten Elia und Enoch vor den Betrügereien und Versuchungen des Antichrist warnen, dafür aber auch von den Schergen des Antichrist getötet werden. In der Regel sind sie die einzigen, die ihrem Glauben treu bleiben. Alle anderen folgen den Versuchungen des Antichrist, auch wenn sie ihre Entscheidung abwägen und erörtern: sei es, wie der Kaiser im Rat seiner Vasallen, der Bischof im Rat seiner obersten Kleriker oder schließlich der Pilger, der sich zunächst sogar für seinen Glauben an Christus von den Schergen des Antichrist töten lässt, dann aber von diesem wieder vom Tode auferweckt und ebenfalls zu seinem Anhänger wird. Diese Reihe von je neuen Entscheidungen ist – so meine These – der eigentliche Inhalt des Spiels von des Entkrist vasnacht. Die dramatis personae haben die Gewissheit einer selbstver8 Herberichs, Cornelia und Reichlin, Susanne, Exposé: Kein Zufall. Konzeptionen von Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur, S. 3. 9 Luhmann, Niklas, Verständigung über Risiken und Gefahren, in: Die politische Meinung 36/5, 258 (1991), S. 86. Den Hinweis auf diesen Aufsatz Luhmanns verdanke ich Hahn, Risiko und Gefahr (Anm. 1), S. 49. 10 Im Folgenden zitiere ich nach der Ausgabe von Friederike Christ-Kutter (Anm. 5). Den Text in Adelbert von Kellers Fastnachtspielausgabe (Anm. 5) habe ich vergleichend herangezogen.
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ständlichen heilsgeschichtlichen Ordnung Gottes verloren. Sie erfahren die Ungewissheit und Kontingenz der Zukunft als gegenwärtiges Geschehen, dem sie begegnen müssen und dem gegenüber sie nahezu alle die falsche Entscheidung treffen. Das Spiel endet mit dem Sieg des Antichrist, was wohl weniger als theologische oder historische denn als performative Aussage zu werten ist: Mit dem Sieg des Antichrist ist die Ungewissheit des Risikos, das alle Figuren in ihrer Entscheidung zwischen Christus und Antichristus eingehen, auch dem Publikum übertragen, das sich nun seinerseits in die Entscheidung zwischen Gut und Böse gestellt sieht. Auch die Zuschauer sind, so verstehe ich diesen Schluss des Spiels, aufgerufen, ihre Risikobereitschaft in der Alternative von Christus und Antichristus unter Beweis zu stellen. Zwar wird diese performative Dimension des Spiels dadurch abgeschwächt, dass es mit den Schlussversen des Ausschreyers11 in den Gattungszusammenhang der Fastnachtspiele gerückt wird: Vor allem die Entschuldigung beim Wirt, er möge den vorhergehenden schÿmpff, also die komische Unterhaltung, entschuldigen, man habe ja nur den vaßnacht dienst besteen wollen (V. 515), unterstreicht das. Allerdings erwächst diese Adaptation des Antichristspiels an das Fastnachtspiel nicht aus dem Spiel selbst, sondern wirkt aufgesetzt und fremd. In der Forschung ist sie deshalb auch als Indiz einer nachträglichen Transformation eines geistlichen in ein Fastnachtspiel gedeutet worden,12 so dass ich den Appell an das Publikum, nun selbst in die Entscheidung zwischen rechtem und falschem Glauben einzutreten, dadurch nicht oder nur unwesentlich abgeschwächt sehe. Ganz im Gegenteil wird der Zwang zur Entscheidung noch durch die Art und Weise radikalisiert, wie der Antichrist seinen Glaubens- und Herrschaftsanspruch unter Beweis stellt und von seinem »auß schreyer« alle Welt ultimativ zur Anerkennung seiner Macht auffordern lässt: Er ist vnd haÿst der Entkrist Der aller der werlt gewalltig ist Wann er hÿmel vnd erd beschaffen hat Das kümpt von seiner hant gethat Ir schült glawben an in han Ir mügt im nit wider stan Er mag / alle dink volbringen Vnd es muß im allweg wol gelingen Ir müst auch noch seinen willen than Des sült ir glawben han 11 Herr wirt habt / vndern schimpf vergut / Wir haben gehabt ain guten mut / Ob wir dem schÿmpff heten zu vil gethan / So schült irs vns nit ver übell han / Wann wir wollen in der vaßnacht dienst besteen / Es wirt / vns schier allen ver geen / In der vaßten wenn wir die krapffen vdewen / So wirt es vns villeicht / all gerewen (Des Entkrist Vasnacht, V. 511–518). 12 Christ-Kutter, Friederike, Einleitung zu Des Entkrist Vasnacht (Anm. 5), S. 38.
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Wann er ist ain gewalltiger got das ist war on allen spot. (Des Entkrist Vasnacht, V. 75–86)
Seit den Anfängen der Konkretisierung und Erweiterung des im Neuen Testament noch eher diffusen Antichristbildes in der Epistula de ortu et tempore Antichristi des Adso von Montier-en-Der,13 das dann bis ins Spätmittelalter und in die Frühe Neuzeit immer weiter ausdifferenziert worden ist, begründet die antithetische Bindung des Antichrist an Christus seine besondere Gefahr: Von seiner – nun allerdings heillosen – Geburt über seine Predigt und Wundertätigkeit bis hin zu seinem endgültigen Sieg und seiner Himmelfahrt ist er an Christi Leben und Wirken orientiert und deshalb immer schwerer von ihm zu unterscheiden. Im Spiel von des Entkrist vasnacht wird das noch dadurch unterstrichen, dass er die zentralen Attribute göttlicher Macht für sich beansprucht und praktiziert: die Allmacht und die Schöpfergabe Gottes.14 Dem entspricht, dass er – wie Christus – Wunderheilungen vollbringen und Tote wieder zum Leben erwecken kann: eine Wundermacht, die auch die letzten Zweifler an seiner Gottesgleichheit zum Schweigen bringt. Eben darin wird seine ganz akute, höchst gegenwärtige Gefahr deutlich. Zugleich aber liegt darin auch die Möglichkeit der Entscheidung gegen ihn, die allerdings auch ergriffen werden muss. Im Spiel Des Entkrist Vasnacht werden verschiedene Entscheidungssituationen der Juden, des Kaisers, des Bischofs, des Abts, des Pilgers durchgespielt, die jeweils in die Entscheidungen für den Antichrist münden. Dabei liegt in der Analogie der einzelnen Szenen gerade die besondere Pointe des Spiels. Einleitend sagte ich, dass dramatische Texte und Spiele für die Inszenierung von Kontingenz besonders interessant seien, da Kontingenz erzeugt werden müsse, wenn sie erfahrbar gemacht werden solle.15 Im Spiel Des Entkrist Vasnacht geschieht genau dies: Es bietet eine Reihe offener Situationen, die eine Entscheidung erzwingen. Dabei wird der Voll13 Adso von Montier-en-Der, Epistula ad Gerbergam reginam de ortu et tempore Antichristi, in: Sibyllinische Texte und Forschungen [Erstdruck 1898], hg. von Ernst Sackur, Turin 1963, S. 104–113. Zu Adsos Leben und Werk vgl. Werner, K. F., [Art.] Adso, in: Lexikon des Mittelalters (Anm. 7), Bd. 1, Sp. 169 f. Zu den Transformationen und verschiedenen Funktionalisierungen des Antichristbildes in Literatur, Theologie und Politik des Mittelalters vgl. Cohn, Norman, Das neue irdische Paradies. Revolutionärer Millenarismus und mystischer Anarchismus im mittelalterlichen Europa. Reinbek bei Hamburg 1988, S. 72 ff., sowie Schaller, Hans Martin, Endzeit-Erwartung und Antichrist-Vorstellungen in der Politik des 13. Jahrhunderts, in: FS Hermann Heimpel, hg. von Mitarbeitern des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 2, Göttingen 1972 (Veröffentlichungen des Max Planck-Instituts für Geschichte 36), S. 924–947. 14 Vgl. dazu Des Entkrist Vasnacht, V. 88 f. (Ich pin der Entkrist / Der aller werlt gewaltig ist), V. 96–101 (Sie sein arm oder reich / Nÿemant/ ist mir geleÿch / Ich pin der war got / Sicherlich on allen spot / Der allen dingen wesen geÿt / Aller creatur leben an mir leÿt […]), V. 106–108 (Dauon schült ir alle schier / Gar wol glawben mir / Vnd scholt sprechen ich seÿ got) u. ö. 15 Im Anschluss an Lobsien, Kontingenz des Erzählens (Anm. 2), S. 57.
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Die Risiken der Gewissheit
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zug der Entscheidung dadurch plausibilisiert, dass sie in unterschiedlichen sozialen, sehr konkret ausgespielten Kontexten erfolgt: sei es, dass die Entscheidung im Rat des Kaisers kontrovers, mit gut nachvollziehbaren Gründen auf beiden Seiten erörtert, dann aber aufgrund von zaychen – der Antichrist lässt den Vater des Kaisers, den König von Böhmen, erscheinen – vollzogen wird; sei es, dass Bischof und Abt sich in der Hoffnung auf die Aufhebung des Zölibats für den Antichrist entscheiden; sei es, dass der Pilger, der dem Antichrist zunächst widerspricht und deswegen von ihm getötet wird, nach seiner Auferweckung von den Toten ebenfalls zu seinem Anhänger wird. Inszeniert werden je unterschiedliche Situationen der Entscheidung, die gerade den Spielraum zwischen den beiden Handlungsmöglichkeiten für oder gegen den Antichrist besonders unterstreichen. Dieses Risiko der richtigen oder falschen Entscheidung für oder gegen den Antichrist ist der entscheidende Akzent des Spiels von des Entkrist Vasnacht wie auch anderer Antichristspiele des Spätmittelalters. Sie bieten die Möglichkeit, dem Blick in die Zukunft sowie dem damit verbundenen Einbruch an Ungewissheit, Unkalkulierbarkeit und Angst vor der Zukunft dadurch zu begegnen, dass man sie nicht nur als Gefahr nimmt, die man erleidet und der man nichts entgegenzusetzen hat, sondern dass man sie durch eigene Entscheidungen zu beeinflussen versucht. »Gefahren«, schreibt Alois Hahn, »flieht man, Risiken sucht man«.16 Die Antichristspiele des Spätmittelalters bieten konkrete Spielformen, wie diese Bereitschaft zum Risiko in Szene gesetzt werden kann. »Der Begriff Risiko wird um 1500 aus dem Italienischen entlehnt, wo er seit dem 14. Jahrhundert im Seeversicherungswesen Verwendung findet und von wo er sich im 15. Jahrhundert im Mittelmeer ausgebreitet hatte.«17 Die Antichristspiele des 15. und 16. Jahrhunderts kennen diesen Begriff noch nicht. Die Sache aber kennen sie durchaus, wenn auch vom Ökonomiediskurs der spätmittelalterlichen Seeversicherungsgeschäfte auf die Ebene geistlicher Entscheidung zwischen Gut und Böse, Christus und Antichristus verschoben. In beiden Fällen geht es um einen bestimmten, eben riskanten Umgang mit Kontingenz, der Erfolg oder Verlust, Heilsgewissheit oder Verlust der ewigen Seligkeit ermöglicht, und dies aufgrund eigenständiger und selbstverantwortlicher Entscheidungen der Akteure.
16 Hahn, Risiko und Gefahr (Anm. 1), S. 49. 17 Rammstedt, Ottheim, [Art.] Risiko, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Basel und Stuttgart 1992, Sp. 1045–1051. Vgl. dazu auch Keller, Hildegard, Auf sein Auventura und Risigo handeln. Zur Sprach- und Kulturgeschichte des Risiko-Begriffs, in: Risk News 1 (2004), S. 60–65 und Dies., Der sechste Schöpfungstag und andere Abenteuer (»Zur Kulturgeschichte des Risikobegriffs«), in: RiskVoice. Stimmen im Risiko-Dialog, Heft 3/1 (Oktober 2001), S. 1–12.
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In den Weltgerichtsspielen ist genau dieser zentrale Punkt auf entscheidende Weise abgeschwächt, ja verändert. Auch Weltgerichtsspiele sind, ebenso wie die Antichristspiele, auf Zukunft ausgelegt. Sie inszenieren und vergegenwärtigen – wie jene – die Zukunft des Gerichts, zeigen konkret, was ohne Zweifel kommen wird und wovon man in aller Gewissheit ausgehen kann, bieten aber nicht – oder jedenfalls nur ganz verkürzt – die Möglichkeit der eigenen Entscheidung. Zwar finden sich in verschiedenen Weltgerichtsspielen auch Antichristszenen und damit die Möglichkeit der Entscheidung für oder gegen ihn. Generell aber gilt, dass in den Weltgerichtsspielen der Spielgestus der Strafe für Sünde und Vergehen vorherrscht; ein Spielgestus der verpassten Möglichkeiten, die nun nachträglich nicht mehr gegeben sind. Vor seinem Tode hat jeder Mensch, so antwortet im Berner Weltgerichtsspiel (geschrieben Luzern 1465) Jesus seiner Mutter Maria, die für die Verdammten um Gnade bittet, die Möglichkeit Buße zu tun. Nimmt er diese Chance nicht wahr, ist er endgültig verworfen und hat auch keinerlei Möglichkeit mehr, selbst irgendetwas daran zu ändern: Wer sich nit wil bekeren Vnd mich noch dich, muter, wil eren, Wann daz jn e begriffet der tod, Der sol jemer liden pin vnd not! (Berner Weltgerichtsspiel, V. 776–779)18
Damit aber ist die Möglichkeit, dem drohenden Gericht mit all seinen unkalkulierbaren Gefahren zumindest durch das Risiko der richtigen oder falschen Entscheidung zu begegnen, nicht mehr gegeben. In dem Maße allerdings, wie Christus hier als Richter, und d. h. in aller Gnadenlosigkeit als Exekutor des Straf- und Rachegedankens in Szene gesetzt wird, bleibt auch den betroffenen Sündern vor Gericht nur mehr die Möglichkeit der immer mehr minimierten Hoffnung. Das Berner Weltgericht folgt einer Logik der sich zunehmend verengenden und reduzierenden Hoffnung. So z. B. treibt Christus die Sünder aus seinem Gesichtsfeld: Scheident hin von dem antlit min! / VerflFcht s=nd jr jemer sin (Berner Weltgerichtsspiel, V. 502 f.) – woraufhin sie ihn bitten, dann doch wenigstens bei seinen Füßen bleiben zu dürfen; er verbannt sie in die Hölle, woraufhin sie um die Gnade bitten, dass die Höllenstrafe endlich sein möge (V. 532–535); sie werden in alle Ewigkeit verflucht, woraufhin sie wenigstens guot geselschaft in der Hölle erbitten (V. 542), was auch immer man sich darunter vorzustellen hat. In diesem Gericht sind alle Hoffnungen auf die Chancen menschlichen Handelns verlorengegangen. Alternativen sind hier nicht mehr erkennbar, die Bereitschaft zum Risiko ist ausgeschlossen. An dessen 18 Im Folgenden zitiere ich nach der Ausgabe von Wolfgang Stammler (Anm. 6.)
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Stelle tritt ein Gestus der Vergeblichkeit, der die Drohungen des künftigen Gerichts nurmehr als gnadenlosen Rechtsakt und als Akt der Gewalt erfährt, dem man sich ausgesetzt sieht, in den man aber nicht einzugreifen vermag. Die Kontingenz des künftigen Gerichts wird hier – im Rückgriff auf Hahns Unterscheidung – als Gefahr, nicht als Risiko aufgefasst. Sie ist theologisch begründet und gewinnt ihre unerbittliche Zwanghaftigkeit aus einer strengen Entsprechung von Sünde und Strafe, welche die Menschen von außen erfahren, in die sie aber nicht eingreifen können. Ein ganz anderes Bild von Gefahren, die sich aus zufälligen, nicht kalkulierbaren Entwicklungen der Zukunft ergeben und sich dabei menschlichen Entscheidungen entziehen, bieten die Fastnachtspiele Jacob Ayrers, insbesondere die Spiele um Jann Posset. Sie sind aus dem Grunde für die Frage nach literarischen Inszenierungen von Kontingenz besonders interessant, da sie nicht nur von Gewissheiten der Zukunft ausgehen – z. B. der Gewissheit des unmittelbar bevorstehenden Endes der Welt –, die sich allerdings als höchst ungewiss und wenig kalkulierbar erweisen, sondern ganz im Gegenteil künftige Ereignisse gerade als planbar und dementsprechend realisierbar darstellen. Der Witz dieser Spiele liegt dann allerdings darin, dass diese Gewissheit geplanter Zukunft im Verlauf der Spiele in die Brüche geht, aus den geplatzten Hoffnungen auf eine Gestaltung der Zukunft sich aber neue Unwägbarkeiten, Irritationen und Kontingenzen entwickeln.
2. Die Emergenz des Zufalls aus der Planung der Zukunft. Der Übergang vom Fastnachtspiel zur Komödie Fastnachtspiele des 16. Jahrhunderts kultivieren – ähnlich wie die Schwankdichtung – eine Komik der listigen Übervorteilung. Während noch die revueartigen Reihenspiele des 15. Jahrhunderts häufig die bloße Lust an der Ostentation des Körperlichen und des Obszönen, am Kampf der Geschlechter, an der Misogynie und der Gewalt in den Mittelpunkt stellen, orientieren sich die Handlungsspiele des 16. Jahrhunderts, so vor allem Hans Sachs’ und Jacob Ayrers, gern am Schwankmodell der klug vorausschauenden Kalkulation des eigenen Vorteils. Diese Fähigkeit zur List ist auf Zukunft ausgerichtet. Sie wartet nicht, was die Zukunft bringen, welche Gefahren, aber auch welche Möglichkeiten sie eröffnen könnte, sondern plant und gestaltet diese selbst. Auch die List also repräsentiert eine bestimmte Form des Umgangs mit Kontingenz. Ähnlich wie die Bereitschaft zum Risiko geht auch die List die Unwägbarkeiten und Zufälle der Zukunft offensiv an und entscheidet sich bewusst für die eine oder andere Handlungsoption. Darüber hinaus allerdings greift List sehr viel stärker in Zukunft ein. List meint die Kalkula-
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tion künftiger Handlungsweisen verschiedener Personen, deren Instrumentalisierung für einen bestimmten Zweck, häufig sogar gegen deren eigenen Willen; die konsequente Gestaltung einer Zukunft, in der nichts dem Zufall überlassen ist, mithin – so jedenfalls das Ziel – jede Form von Kontingenz ausgeschlossen ist.19 Hans Sachs und Jacob Ayrer, die beiden produktivsten Fastnachtspielautoren des 16. Jahrhunderts, haben diesen Typus kluger Übervorteilung im Fastnachtspiel an den unterschiedlichsten Stoffen und Textadaptationen immer wieder erprobt. Und es ist zweifellos kein Zufall, dass gerade Schwankbücher des 15. und16. Jahrhunderts von ihnen immer wieder zu Fastnachtspielen umgeformt worden sind.20 Nicht von Ayrers schier unerschöpflicher Produktivität von Fastnachtspielen im Allgemeinen allerdings soll im Folgenden die Rede sein, sondern von einem bestimmten Typus von Fastnachtspielen, die für die Frage nach dem Umgang mit Kontingenz außerordentlich interessant sind: die Spiele um den komischen, etwas beschränkten, häufig in größte Konfusionen geratenen Diener John Posset oder einfach »engelländischen Jann«, den Ayrer wohl in der zeitgenössischen englischen Komödie und vielleicht sogar bei reisenden englischen Spieltruppen in Nürnberg kennen gelernt hat.21 Im Folgenden lege ich vor allem das Fassnachtspiel, der verlohren Engellendisch Jahnn Posset sowie das Fassnachtspiel von dem engelländischen Jann Posset, wie er sich in seinem Dienst verhalten, zugrunde.22 Diese und (andere) Spiele sind insofern traditionell, als sie mit überkommenen Motiven 19 Zur Logik und – allerdings narrativen, nicht theatralen – Inszenierung der List vgl. den transgressionstheoretisch sehr interessanten Aufsatz von Warning, Rainer, Die narrative Lust an der List. Norm und Transgression im Tristan, in: Ders. und Gerhard Neumann (Hgg.), Transgressionen. Literatur als Ethnographie, Freiburg im Breisgau 2003 (Rombach Wissenschaften. Litterae 98), S. 175–212. 20 Vgl. dazu in ersten Ansätzen schon Wodick, Wilibald, Jakob Ayrers Dramen in ihrem Verhältnis zur einheimischen Literatur und zum Schauspiel der englischen Komödianten, Halle an der Saale 1912. Ayrers dramatisches Werk, vor allem seine Fastnachtspiele, ›Comedien‹ und ›Tragedien‹ fanden bislang in der Germanistik, aber auch in der Theaterwissenschaft, nur mäßiges Interesse. Ich möchte demgegenüber versuchen, in seinem Werk den Paradigmenwechsel vom spätmittelalterlichen Fastnachtspiel zur frühneuzeitlichen Komödie, und d. h. eine dramen- und theatergeschichtlich überaus wichtige Wende, deutlich zu machen. 21 Brauneck, Die Welt als Bühne (Anm. 4), S. 526 f. 22 Jakob Ayrer, Ein Fassnachtspil, der verlohren Engellendisch Jahnn Posset, mit vier Personen, in: Ayrers Dramen, hg. von Adelbert von Keller, Bd. 5, Stuttgart 1865 (Bibliothek des literarischen Vereins Stuttgart 80), S. 2907–2927. Der Text des Spiels ist auch abgedruckt in: Fastnachtspiele des 15. und 16. Jahrhunderts, unter Mitarbeit von Walter Wuttke ausgewählt und hg. von Dieter Wuttke, Stuttgart 21978, Nr. 19, S. 262–287 (RUB 9415). Jakob Ayrer, Fassnachtspil von dem engelländischen Jann Posset, wie er sich in seinem dienst verhalten mit acht Personen, in: Ayrers Dramen, hg. von Adelbert von Keller, Bd. 5, S. 2869–2905. Die Schreibweise Jann oder Jahnn wechselt bei Ayrer.
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des Fastnachtspiels oder auch der Schwankdichtung arbeiten: So z. B. ist Jann Diener eines alten Mannes, der eine junge Frau geheiratet hat, von ihr betrogen wird und das mithilfe seines Dieners zu verhindern sucht; bekanntlich eines der beliebtesten Motive des Fastnachtspiels, aber auch ritueller Inszenierungen wie Charivari oder anderer Rügebräuche gegen falsche Eheschließungen.23 Jann ist aber auch Opfer einer listigen Inszenierung der betrügerischen Ehefrau, einer der Standardfiguren und Standardsituationen des Fastnachtspiels. Jann ist ein Künstler des Wörtlichnehmens, wie es vor allem von Botes Ulenspiegel, aber auch im Fastnachtspiel ausgebildet worden ist; Ayrer bedient hier die misogynen Topoi des übelen wîp,24 des Geschlechterkampfs um die Macht im Haus25 u. ä., die keineswegs nur im Fastnachtspiel, aber gerade eben auch hier ausgebildet worden sind. Alle diese (und andere) Topoi des Fastnachtspiels sind auch für die Jann-Posset-Spiele konstitutiv. Zugleich aber – und dieser Punkt scheint mir für die theatergeschichtliche und kontingenztheoretische Bedeutung von Ayrers Spielen besonders wichtig zu sein – ist die Art und Weise ihres literarischen Gebrauchs bei Ayrer bemerkenswert. Denn Ayrers Jann-Posset-Spiele bieten nicht nur einen weiteren Beleg für die Verwendung dieser Topoi; sie werden nicht nur zitiert, sondern generieren in dem Maße, wie sie noch einmal durchgespielt werden, auch ungeplante, zufällige, kontingente Entwicklungen, die nur noch mit Mühe in das Sinnschema des traditionellen Fastnachtspiels zurückzubinden sind. Ich möchte diese Emergenz des Nichtkalkulierbaren aus dessen Gegenteil: der Planung und Sicherung künftigen Geschehens, vor allem an dem Fastnachtspiel Der verlohren Engellendisch Jahnn Posset erläutern. Das Stück ist als Spiel um Sicherheit und Gewissheit, Vertrauen und Misstrauen, Wahrheit und Unwahrheit angelegt. Der alte Simplicius hat eine junge Frau geheiratet, der er – wie sich bald zeigt, zurecht – misstraut. Als er zu einer Reise aufbrechen muss, beauftragt er Jann, dem er vertraut, seine Frau zu beaufsichtigen, niemand einzulassen, Haus und Ehre zu schützen. Sim23 Zum Verhältnis von Rügebräuchen (›Charivari‹) und Literatur vor allem im Bereich von Ehe und Fortpflanzung vgl. Röcke, Werner, Text und Ritual. Spielformen des Performativen in der Fastnachtkultur des späten Mittelalters, in: Das Mittelalter 5 (2000) Mediävistik als Kulturwissenschaft?, hg. von Hans-Werner Goetz, S. 83–100. Ich erläutere den Zusammenhang von Text und Ritual an dem misogynen Rügebrauch vom »Eggeziehen«. Vgl. dazu auch den wichtigen Aufsatz von Schindler, Norbert, ›Heiratsmündigkeit‹ und Ehezwang. Zur populären Rügesitte des Pflug- und Blockziehens, in: Ders., Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur in der frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1992, S. 175–214. 24 Vgl. dazu die Belegsammlung in Brietzmann, Franz, Die böse Frau in der deutschen Literatur des Mittelalters, Berlin 1912 (Palaestra XLII). 25 Ausführlicher dazu vgl. Röcke, Werner, Ehekrieg und Affentanz. Rituale der Gewalt und Gewaltvermeidung in der komischen Literatur des späten Mittelalters, in: Historische Anthropologie. Kultur – Gesellschaft – Alltag 10 (2002), S. 354–373.
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plicius also sieht die möglichen Gefahren der Zukunft, denen er mit Vertrauen und klaren Instruktionen für Jann zu begegnen sucht. Es gehört zur Topik der Ehebruchinszenierungen in Fastnachtspiel und Schwankdichtung, dass diese Bemühungen des dummen Ehemanns um eine Sicherung seiner Ehre und seiner Ehe durch die Raffinesse und die listige Planung seiner klügeren Ehefrau konterkariert und in der Regel auch zum Scheitern gebracht werden. Beide also, Ehemann und Ehefrau, versuchen die Zukunft zu planen und zu beeinflussen. Sie wissen, dass in der Zukunft – so für den Ehemann – Gefahren, aber auch – so für die Ehefrau – Möglichkeiten zu Ehebruch und Liebesglück liegen, die es zu verhindern bzw. zu fördern gilt. Zwar erfolgt diese Planung der Zukunft durch beide Eheleute auf unterschiedliche Weise. Gemeinsam aber ist ihnen der Versuch, die Unwägbarkeiten der Zukunft in den Griff zu bekommen: sei es durch Vorsichtsmaßnahmen oder durch listige Planung. Dieses traditionelle Modell literarischer Ehebruchsinszenierungen nun erfährt durch die Dienerfigur des Jann Posset eine neue Perspektive. Sie steht im Mittelpunkt dieser Spiele. Sie ist wohl auch die Figur, die Ayrer an den englischen Komödien seiner Zeit besonders fasziniert hat. Denn Jann steht zwischen den Versuchen von Hausherr und Hausfrau, den Unwägbarkeiten der Zukunft zu begegnen. Er will beiden gehorsam sein, dabei aber auch sein eigenes Spiel spielen. Er folgt dem Gebot des Simplicius, niemanden ins Haus zu lassen, würde aber das Geld des Liebhabers (Amator), der ihn bestechen will, schon nehmen, wenn der denn welches hätte. Ebenso folgt er schließlich auch dem Gebot der Ehefrau, ihr Wein zu holen und das Haus zu verlassen, gerät dadurch aber in die schlimmsten Konfusionen. Denn Duplicia tut genau das, was bereits in ihrem Namen angelegt ist: Sie lässt den Amator in Janns Kleider schlüpfen, schickt ihn ebenfalls nach Wein, verdoppelt ihn also und schafft sich damit die Möglichkeit zu einem Rendezvous, das Simplicius verhindern wollte. Duplicia ist eine Künstlerin listiger Planung und Verkleidung. Es ist ihr ranck (Der verlohren Engellendisch Jann Posset, V. 244), d. h. ihre List und ihre planerische Kompetenz, die sie dazu befähigt, Liebesglück zu gestalten, gewissermaßen also ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, so wie es viele listige Ehefrauen in der Novellen- und Schwankdichtung ebenso wie im Fastnachtspiel auch schon getan haben. Insofern sehe ich die Pointe von Ayrers Stück auch nicht in Duplicias Raffinesse, sondern in deren Konsequenzen für den Diener Jann Posset. Denn für den ist dadurch eine Welt zusammengebrochen. Als er vom Weinkauf in sein – wie er sicher annimmt – Haus zurückkommt, steht er mit seiner Weinkanne schon da, so dass weder sein Hinweis auf seinen Status und seine Funktion: Ich bin Knecht, ghör ins Hauß hinein (Der verlohren Engellendisch Jann Posset, V. 330) – oder vorher schon: [ich bin] Deß Herrn Diener, deß das Hauß ist (Der verlohren Engellendisch Jann Posset, V. 328) – ihm hier irgendetwas nutzt, noch auch
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der Verweis auf die Weinkanne, die er schließlich noch in der Hand halte26 oder auf den Gasthof, wo er den Wein geholt habe,27 irgendwie weiterhilft. Jann hat sowohl seinen Namen als auch seine Funktion, seine soziale und berufliche Zuordnung sowie seine Geschichte verloren. Denn vor ihm steht einer, der all das auch für sich beansprucht und es mit derselben Gewissheit vertritt. Damit aber beginnt ein Spiel der Verwirrungen und verlorenen Identität, des Zweifels an der Realität und an sich selbst, dem Jann nicht gewachsen ist. Er weint und klagt und hat sich selbst verloren: Ach, sol ich nicht mein Jammer klagn? Daß ich Jann wer, das hett ich gschworn. So seh ich wol, ich bin verlorn. Vnd ist ein andrer worn auß mir, Den hat die Frau nein gfFhrt mit jr, Vnd mich vbel geschlagen auß. (Der verlohren Engellendisch Jann Posset, V. 380–385)
Jann ist in dieser Verwirrung seiner selbst nicht zu helfen. Zwar hat er vorher schon das Publikum um Entscheidungshilfe gebeten, doch bleibt er mit dieser prinzipiellen Verunsicherung seiner Person, seiner Geschichte, seiner Identität allein. Ich kan mich selbst nicht kennen recht – bekennt er seinem Doppelgänger Amator: Ob ichs bin oder ob dus seist, Dieweil du eben auch Jann heist. Hast gleich eben wie ich ein Kleid Vnd haben Wein geholt allbeid Vnd seind all zween deß Herren Knecht. Ich bitt euch, jhr lieben Leut, secht, Welcher sey der recht Jann geborn, Ob vnser zween auß mir seind worn! Ich kann mich nicht besinnen schir. (Der verlohren Engellendisch Jann Posset, V. 348–357)
Dieser Jann kennt sich selbst nicht mehr. Identität kann man bekanntlich ganz unterschiedlich definieren. »Wie immer man (aber)« – schreibt Alois Hahn in seinem wichtigen Aufsatz über ›Partizipative Identitäten‹ – »soziale Identität definieren will, es bleibt unvermeidlich, dass Identität durch Fremdheit konstituiert wird. Jede Selbstbeschreibung muß Alterität in Anspruch 26 Vgl. dazu den Regiehinweis: Jann zeigt jhm [dem als Jann verkleideten Amator, W. R.] die Kandel vnd spricht ›Dasselbig jhr nicht reden solt. / Ich hab meiner Frauen Wein gholt.‹ (Der verlohren Engellendisch Jann Posset, V. 332 f.) 27 Den Wein thet ich der Frauen holn / Vnd zum Warzeichen bey der Cron, (Der verlohren Engellendisch Jann Posset, V. 336 f.)
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nehmen. [Denn] wenn man sagt, was man ist, muß man dies in Abgrenzung von dem tun, was man nicht ist.«28 Jann Posset allerdings ist diese Möglichkeit genommen. Er findet keinen Fremden und keine Alterität, sondern sich selbst, kann also seine Identität nicht nur nicht gewinnen, sondern verliert sogar die Möglichkeit zur Selbstidentifikation.29 Damit aber sieht sich Jann sehr viel radikaler als alle anderen Figuren des Spiels einer Herrschaft des Zufalls, des Unkalkulierbaren und Kontingenten ausgesetzt. Zwar hat er durchaus versucht, trotz aller Loyalität zu Hausherr und Hausfrau sein eigenes Spiel zu spielen. Eben daran aber scheitert er und gerät stattdessen in einen Strudel von Ungewissheiten, in den er zunächst auch Simplicius hineinzieht. Denn als der von seiner Reise zurückkommt und sein Haus betreten will, ist dieses von Duplicia in ein Wirtshaus verwandelt worden, in welchem man ihn nicht kennt und aus dem man auch ihn vertreibt. Dramaturgisch erfolgt diese Metamorphose des Hauses durch ein einfaches Wirtshausschild, das Duplicia an ihrem Haus anbringt. Für Jann allerdings ist damit auch noch die letzte Gewissheit seiner Identität geschwunden. Denn da nun auch sein Herr Simplicius in dieses Spiel der Verwirrungen und missglückten Identifikationen hineingezogen wird, sieht er keinerlei Möglichkeit mehr, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. Und da er die Zeichen, in diesem Fall das Wirtshausschild, als Indikatoren von Realität nimmt, bleibt nur die Gewissheit, dass er keinerlei Gewissheit mehr hat: Mir seind da vor einem Wirthshauß – erklärt er seinem Herrn Simplicius – Dann es henckt je ein Zeiger rauß. / Das Hauß kan warlich nicht eur sein (Der verlohren Engellendisch Jann Posset, V. 411–413). So bleiben ihm nur das Eingeständnis, dass er jede Orientierung und jede Möglichkeit, sich selbst wieder zu finden, verloren habe, und die ratlose Frage: O wir seind verlorn, wir seind verlorn / O lieber Herr, was fang wir an? (Der verlohren Engellendisch Jann Posset, V. 422 f.). Zwar lösen sich die Verwirrungen und Irritationen schließlich auf: Das Haus wird wieder – indem das Wirtshausschild entfernt wird – zum Haus des Simplicius; Duplicia empfängt ihren Mann, als wäre nichts gewesen; und dieser versteht endlich, dass er hintergangen worden ist, was er natürlich dem Diener Jann zur Last legt und ihn aus dem Haus jagt. Mit dem Schluss des Spiels also ist die Fastnachtspielwelt wieder in ihr Recht gesetzt: Die kluge Frau hat gewonnen, der tumbe Ehemann hat verloren, der Diener Jann muss die Zeche zahlen. Trotz dieser Rückkehr des Spiels in den vertrauten Rah28 Hahn, Alois, Partizipative Identitäten, in: Ders., Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Aufsätze zur Kultursoziologie, Frankfurt am Main 2000 (stw 1505), S. 15. 29 Zu den Problemen einer theoretischen Bestimmung »persönlicher Identität und Identifikation vor der Moderne« vgl. von Moos, Peter, Einleitung, in: Ders. (Hg.), Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft, Köln 2004 (Norm und Struktur 23), S. 1–24.
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men des Fastnachtspiels (Pack dich balt zu Hauß dein strassen!, ruft Simplicius Jann hinterher: Hab einander mal besser acht! / Gott geb euch alln ein gute Nacht, Der verlohren Engellendisch Jann Posset, V. 502–504) ist dessen Gattungsrahmen im Verlauf des Spiels gründlich verändert worden. Verwirrungen durch Personenverwechslungen, durch Verkleidungen und scheinbare Verdopplungen von Personen waren schon in der antiken Komödie sehr beliebt und repräsentieren zumindest im Komödienwerk von Plautus einen von vier Komödientypen.30 Am bekanntesten dürfte bis heute der Amphitruo sein, das Spiel vom Göttervater Zeus, der die Gestalt des Amphytrion, des Gatten der Alkmene, annimmt, mit ihr Herkules zeugt und damit erhebliche Verwirrungen verursacht.31 In der Frühen Neuzeit hingegen war eine andere Plautus-Komödie noch beliebter und für die Renaissance der antiken Komödie sowie die Anfänge eines neuen Typs von Komödie von größter Bedeutung: die Menaechmi.32 Dieses Spiel von den beiden Zwillingsbrüdern, die in früher Kindheit voneinander getrennt werden, im hohen Alter unerkannt wieder zusammentreffen und dabei eine ganze Fülle komischster Verwechslungen und Verwicklungen, Verwirrungen und Verrücktheiten bis hin zum drohenden Wahnsinn erfahren, war Ausgangspunkt und Muster eines Typs von Komödie, der das kunstvolle Spiel mit allen nur denkbaren Verwirrungen der eigenen Identität in den Mittelpunkt stellt. Identitätszweifel und Selbstverlust; der Bruch zwischen dem tatsächlich Gesehenen und dem für wahr Gehaltenen; die Ungewissheit über das eigene Selbst und die eigenen Handlungsmöglichkeiten bilden wichtige Bausteine dieses Komödientyps, der im 16. Jahrhundert, offensichtlich im Rückgriff auf die Menaechmi des Plautus, sowohl in England als auch in Deutschland begründet wurde. So z. B. waren die Menaechmi die Vorlage für Shakespeare’s Comedy of Errors (um 1594).33 Doch auch schon Hans Sachs (Monechmo, 1548)34 und dann vor allem Jacob Ayrer ließen sich diesen Stoff nicht entgehen: Ayrer hat ihn seiner Comedia von zweyen brüdern auss Syracusa, die lang einander nicht gesehen hetten vnnd aber von gestalt und person einander so ehnlich wahren, das man allenthalben einen vor den andern ansahe, zu30 Im Anschluss an Fuhrmann, Manfred, [Art.] Plautus, in: Der kleine Pauly. Lexikon der Antike, Bd. 4, München 1972, Sp. 907–917. 31 Plautus, [Art.] Amphitruo, in: Plautus, Terenz. Die römische Komödie. In den Übersetzungen von Wilhelm Binder und J. J. C. Donner, hg. von Walther Ludwig, München 1990 (Bibliothek der Antike. dtv 2255), S. 45–96. 32 Plautus, Menaechmi (die beiden Menaechmi), in: Plautus, Terenz. Die römische Komödie (Anm. 31), S. 191–242. 33 William Shakespeare, Die Komödie der Irrungen, in: William Shakespeare’s Dramatische Werke, hg. von Friedrich Bodenstedt, Bd. 2, Leipzig 41880, S. 1–73. 34 Hans Sachs, Ein comedi Plauti mit 10 personen, heyst Moneehmo unnd hat 5 actus, in: Ders., Werke, hg. von Adelbert von Keller, Bd. 7, Tübingen 1873 (Bibliothek des literarischen Vereins Stuttgart 115), S. 98–123.
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grunde gelegt.35 Offensichtlich – so verstehe ich diesen thematischen Zusammenhang zwischen Fastnachtspiel und antiker Komödie – hat die Kenntnis der englischen error-plays oder der Menaechmi-Komödie des Plautus in Ayrers Jann-Posset-Spielen erste Ansätze zu einer Transformation des Fastnachtspiels zum neuen, im Rückgriff auf die antike Komödie gewonnenen Komödientyp ermöglicht. Natürlich sind die Fastnachtspiele mit Jann Posset keine Komödie vom Typ der englischen error-plays. Einzelne Übereinstimmungen aber zeigen sie durchaus, die gerade dem Umgang mit Unwägbarkeiten und Kontingenzen, mit den entsprechenden Identitätszweifeln und Identitätsverlusten, geschuldet sind. Eine der wichtigsten Unterscheidungen im Zusammenhang mit verschiedenen Formen des Umgangs mit Kontingenz dürfte – so sagte ich einleitend im Anschluss an Alois Hahn – die Unterscheidung von Risiko und Gefahr sein. An den spätmittelalterlichen Antichristspielen versuchte ich zu zeigen, dass sie eine Art geistliche Risikobereitschaft indizieren, da sie eine Entscheidung zwischen Gut und Böse, Christus und Antichristus ermöglichen und erfordern, und auf diese Weise den Gefahren und Kontingenzen des künftigen Weltengerichts und Weltenendes begegnen. Jann Posset hingegen wird von den Verwirrungen der Realität und den damit einhergehenden Identitätsbrüchen förmlich überfallen. Er kann ihnen nichts entgegensetzen, sondern erlebt sie nur als Gefahr, die ihm von außen zukommt und ihn bedroht. Allerdings – und das ist gattungsgeschichtlich bemerkenswert – ist es gerade dieser Umgang mit Kontingenz, der für die moderne Komödie so überaus produktiv gewirkt hat.
35 Ayrers Dramen, hg. von Adelbert von Keller, Bd. 3, Stuttgart 1865 (Bibliothek des literarischen Vereins Stuttgart 78), S. 2133–2175.
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Carla Dauven-van Knippenberg
Fransen des Unfassbaren Providenzsicherung und Kontingenzvermeidung im geistlichen Spiel
I. ›Ein gewisser Mann‹, sagte Rex, als er mit Margot um die Ecke bog, ›verlor einmal einen diamantenen Manschettenknopf im großen blauen Meer, und zwanzig Jahre später aß er an genau dem gleichen Tag, anscheinend einem Freitag, einen großen Fisch – aber es war kein Diamant darin.‹1
Rex ist die Hauptfigur in Vladimir Nabokovs Roman Kamera Obskura. Er bringt in dieser kurzen, seiner Gegenspielerin Margot erzählten Geschichte den Kern des Begriffes ›Kontingenz‹ auf den Punkt: »etwas, das weder notwendig noch unmöglich« bzw. »was möglich, aber nicht notwendig ist«.2 Es ist zwar unwahrscheinlich, dass man einen Gegenstand, verloren im weiten, blauen Meer, wiederfindet, aber unmöglich ist es nicht. Die Pointe der Geschichte jedoch liegt weniger im Erzählen vom unwahrscheinlich Möglichen als vielmehr im Spiel mit dem Rezipienten. Dieser wird vom Autor bewusst auf die falsche Fährte gebracht, indem Nabokov im Ton eines Märchens die Aufmerksamkeit auf die Details lenkt: Ein wertvoller Gegenstand, der Manschettenknopf mit den Diamanten, geht in einem unermesslich weiten Wasser verloren. Die spezifische Zeitkomponente – auf den Tag genau zwanzig Jahre später – und die Markierung des Raumes – das Innere des Meeresbewohners, des Fisches – setzen die Erwartung frei, dass das schier Undenkbare geschehen sei: Der Fisch auf dem Teller habe den Diamanten verschluckt und der unglückliche Herr bekäme just diesen Fisch mit just seinem vor genau zwanzig Jahren verlorenen Diamanten im Bauch aufgetischt. Angesichts des märchenhaften Stils der kurzen Geschichte wäre
1 Vladimir Nabokov, Gelächter im Dunkel, in: Ders.: Gelächter im Dunkel. Verzweiflung. Camera obscura. Frühe Romane 3, übers. von Renate Gerhardt u. a., Reinbek bei Hamburg 1997 (Gesammelte Werke 3), S. 127. 2 Poser, Hans, [Art.] Kontingenz, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 19, Berlin 1989, Sp. 544–551 und 557–559, hier Sp. 544.
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das nicht einmal ein ungewöhnlicher Verlauf.3 Und was macht Nabokov damit? Er wendet die Geschichte mit einem ganz kleinen Nachsatz in ihr Gegenteil: Es war k e i n Diamant darin! Der Leser, der schon dem unwahrscheinlichen Ausgang vorauseilte, stockt irritiert. Die Kommunikation zwischen dem Text und dem Rezipienten nimmt eine unerwartete Wendung, indem der Zufall n i c h t eintritt – weil Nabokov das so und nicht anders will. Ganz so autark kann das geistliche Schauspiel nicht sein, denn die ihm zugrundeliegende Geschichte ist nicht irgendeine von einem Autor festgelegte. In ihm werden Abschnitte aus dem Heilsplan Gottes gezeigt. Durch diesen Heilsplan ist das Ende der Geschichte festgelegt: die Aufteilung der Menschheit am Ende der Zeiten in ewig Glückselige und ewig Verdammte. Dass ein Teil der Menschheit nach dem Sündenfall Adams und Evas und deren Vertreibung aus dem Paradies überhaupt in die Glückseligkeit eingehen kann, ist dem Umstand zu verdanken, dass Gott durch den Opfertod seines Sohnes Jesus die Ur- und Erbsünde der ersten Menschen gesühnt hat. Wie es der Proklamator nach dem Text des Villinger Passionsspiels (um 1600)4 beispielhaft mitteilt, will das Spiel das Unfassbare dieser Erlösung durch die Visualisierung fassbar machen:5 Weil aber kains menschen verstand, Auch kaines menschen gelehrte hand, Wie auch durch aus kains menschen mundt Begreiffen vnd erzellen kan im grundt, Wie Christus im leben gstritten, Vnd was er für vns hab glitten, Drumb wollen wir in ainfaltt Den passion in aller gstaltt Dem buchstab nach mitt allem fleis Auffs kürtzst fürtragen in spils weus. (28/1–28/10)
Der menschliche Verstand, die Bildkunst oder das Geschriebene, das Gespräch oder die Predigt, das alles reiche nicht, um die Größe, den ganzen Umfang der Passion zu erfassen. Erst das Miteinander dieser Kommunika3 Für Harald Haferland ist gerade in der Plotbildung des Märchens die Verschränkung von Finalität und Kontingenz am sichtbarsten: ohne Kontingenzen kein glückliches Ende. Vgl. den Beitrag von Harald Haferland in diesem Band. 4 Villinger Passion. Literarhistorische Einordnung und erstmalige Herausgabe des Urtextes und der Überarbeitungen von Antje Knorr, Göppingen 1976 (GAG 187). 5 Vgl. auch Neumann, Bernd, Geistliches Schauspiel im Zeugnis der Zeit. Zur Aufführung mittelalterlicher religiöser Dramen im deutschen Sprachgebiet, München und Zürich 1987 (MTU 84/85); vgl. den Registereintrag ›Intention von Spielen‹ (S. 1062).
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tionsformen und Künste,6 wie es im Spiel möglich ist, könne dieses Ziel erreichen. Das sei deshalb so wichtig, weil nicht nur der Opfertod des Gottessohnes den Zugang zum ewigen Glück überhaupt erst wieder ermöglichte, sondern weil auch die Erkenntnis der vollen Tragweite dieses Opfers den Menschen zu einem gottgefälligen und mit dem leidenden Gottessohn mitfühlenden Handeln veranlasse. Denn dann lebt der Mensch so, dass er sich des Opfers würdig zeigt und kann am Ende der Zeiten in die so qualvoll wieder zugänglich gemachte Seligkeit eingehen. Diese Christenlehre ist das Anliegen des geistlichen Spiels des Mittelalters. Es will berühren und anleiten. Dabei ist uneingeschränkte Eindeutigkeit gefragt, weil andernfalls die Lehre fehlschlagen könnte. Allerdings scheint die Größe, das Unvorstellbare des Lehrgegenstands stets auch Quelle und Ursache eines Nicht- oder Falschverstehens zu sein, denn sonst hätten die anderen Mediationsformen ihr Lehrziel ja erreicht. Das Schauspiel will daher auf zugleich ausdrücklichere wie unverfänglichere Weise Aussagen und Kontexte, also Heilslehre und Gegenwartswelt, näher zusammenrücken lassen. Das geistliche Schauspiel muss bei einer derart ambitionierten Zielsetzung auf äußerst sorgfältig ausgesuchte, dem Zeitgeschmack entsprechende pastorale Texte und Bilder zurückgreifen. So präsentieren sich die Spieltexte denn auch als Konglomerat unterschiedlichsten Materials: Man findet Gebete neben Parodien, Figuren aus Fastnachtspielen neben Heiligen, aufwändige Bühnenmaschinerien neben liturgischem Gebaren. Zugleich muss das Schauspiel, um seiner Aufgabe gerecht zu werden, selbstverständlich auch publikumswirksam sein. Das war bei der Realisierung eines Schauspiels nicht unproblematisch, denn so groß die Zahl an Zuschauern und Spielern war, so unterschiedlich waren Herkunft und Bildung der am Spiel teilnehmenden Personen. Wenn es im geistlichen Spiel darauf ankommt, durch dieses Spiel einen unverrückbaren Inhalt mit Spielern und Zuschauern möglichst eingängig und eindeutig zu kommunizieren, wenn aber zugleich, wie Walter Haug in seinen Überlegungen zum Phänomen ›Kontingenz‹ im gleichnamigen Sammelband annimmt,7 das kontingente Moment im Du liege, dann kann das bei dieser Diversität von Teilnehmern und der Unfassbarkeit des Dargestellten sowohl zu erwarteten wie auch zu unerwarteten Wendungen 6 Henkel, Nikolaus, Mediale Wirkungsstrategien des mittelalterlichen ›Dramas‹. Ein Beitrag zur Konstruktion historischer Intermedialität, in: Karl-Heinz Spiess (Hg.), Medien der Kommunikation im Mittelalter, Stuttgart 2003 (Beiträge zur Kommunikationsgeschichte 15), S. 237–263, hier S. 256 f.: »Insgesamt ist zu beobachten, wie das gesprochene Wort in seiner Wirkung gesteigert wird mit den Mitteln mehrdimensionaler Medialität.« 7 Haug, Walter, Kontingenz als Spiel und das Spiel mit der Kontingenz. Zufall, literarisch, im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard (Hgg.), Kontingenz, München 1998 (Poetik und Hermeneutik 17), S. 151–172, hier S. 170.
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führen.8 Dabei darf man davon ausgehen, dass das Maß des Andersseins – das Heilige der gnadenreichen Heilswelt und das Verwerfliche der gottfernen Unheilswelt im Vergleich zur Ich-Welt – die Potenz kontingenter Momente verstärkt: Je fremder einem eine Sache ist, umso größer die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem anders-als-gedachten Verstehen kommt, das seinerseits wiederum zu einem anders-als-beabsichtigten Handeln führt. Mit anderen Worten: Im geistlichen Spiel wird immer »in Kontexten, die weder instrumentierbar noch vollständig überschaubar sind«, agiert.9 Die überlieferten Spieltexte und auch die zahlreichen Spielzeugnisse bestätigen, dass es bei den Verantwortlichen tatsächlich ein Bewusstsein dieser Kontingenzen gab. Neumann etwa kennt in seiner Sammlung von Archivalien10 im Register in alphabetischer Reihenfolge unter anderem die Lemmata ›Bestrafung von Mitwirkenden‹, ›Bewachung von Bühne, Spielgerät, etc.‹, ›Ermahnung von Darstellern, Mitwirkenden, etc.‹, ›Ermahnung von Zuschauern‹, ›Feuerpolizei‹, ›Fremdenpolizei‹, ›Gesundheitspolizei‹, ›Kirchenvisitation‹, ›Konfiszierung von Spieltexten‹, ›Sicherheitsvorkehrungen‹, ›Spielgenehmigungen‹, ›Spielverbote‹, ›Unglücksfälle bei Aufführungen‹. Sie bezeugen das Vorkommen von Unerwünschtem und Unberechenbarem im Hinblick auf das zielorientierte Spiel. Auch textintern, etwa in den Vorreden, findet man Hinweise auf das Wissen um unberechenbare Momente. Im schlesischen Wiener Osterspiel,11 dessen überlieferte Niederschrift auf 1472 zu datieren ist, kündigt der Precursor an, man habe jetzt ein ostir spil / Das ist frolich vnd kost nicht vil (V. 27 f.), in dem man sehe, wie Gott auferstanden sei. Dann aber droht er, dass jeder, der mit dem Gezeigten oder den Spielern Spott treibe, es sei Kuntcze, Heinrich adir Oth, / […] Is sei frau adir man / […] valle / Alz eine fedir von eime stalle (V. 33–42).12
8 Vgl. auch Bubner, Rüdiger, Die aristotelische Lehre vom Zufall. Bemerkungen in der Perspektive einer Annäherung der Philosophie an die Rhetorik, in: Graevenitz/Marquard, Kontingenz (Anm. 7), S. 5–21, hier S. 13. Bubner weist darauf hin, dass ein »erfolgsorientiertes Redehandeln« genau der Situation angepasst sei. Das habe zur Folge, dass bei einem Wechsel der Umstände »ein unauflöslicher und nicht vernachlässigbarer Rest des Ausgeliefertseins« bleibe, ein Rest, der zu Nichtbeabsichtigtem führe. Übertragen auf die Zielgruppe eines geistlichen Schauspiels hieße das, dass dieser unkalkulierbare »Rest« sich sehr vielschichtig gestalten kann, da die Adressatengruppe sehr gemischt ist. 9 Ebd., S. 8. 10 Neumann, Geistliches Schauspiel (Anm. 5), Register ›Sachen und Begriffe‹, S. 1050–1085. 11 Das Wiener Osterspiel. Abdruck der Handschrift und Leseausgabe, hg. von Hans Blosen, Berlin 1979 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 33). 12 Wie eng die Gattungen Osterspiel und Fastnachtspiel zusammenhängen, sieht man daran, dass sich diese Passage im späteren Spiel von Rumpold und Mareth nahezu wortgleich wiederfindet. Vgl. Vigil Raber, Der Prozeß gegen Rumpold, in: Fastnachtspiele des 15. und 16. Jahrhunderts, hg. von Dieter Wuttke, Stuttgart 41989 (RUB 9415), S. 91–130, hier V. 25–36 (S. 92).
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Im rheinhessischen Alsfelder Passionsspiel,13 das wohl im Zusammenhang mit Aufführungen zwischen 1501 und 1511 aufgezeichnet ist, besagt ebenfalls der Proclamator-Spruch, Heyncz adder Concz (V. 112) oder wie auch immer sie heißen mögen, jeder, der do nit gehoret in dit spiel, der müsse mit den tufeln […] yn di helle gan (V. 109–116). Darauf wird im Spieltext der Schultheiß aufgefordert, den Ort des Spielgeschehens genau zu bezeichnen, so dass sich jeder danach richten könne. Die letzte Probe, die als Illustration eines Kontingenzbewusstseins ausgewählt wurde, stammt aus dem Züricher Passionsspiel des Jacob Rueff14 vom Jahre 1545. Hier heißt es im Argument, dass ein junger knab sprechen soll, die wyb vnd man sollten d vnzucht einr dem andren weren, damit die Passion Christi veracht nit werd / Mit lachen / gspey noch keinr geferd (V. 253–262). Man ist aufgrund all dieser Zeugnisse und Zuschauer-Ermahnungen geneigt anzunehmen, dass diese sich auf konkrete Aufführungssituationen beziehen, doch ist allzu bekannt, dass mancher ›Unfallbericht‹ eher Pamphlet denn Tatsachenprotokoll sein will.15 Auch die Reden, mit denen ein Spieltext beginnt, dürfen nicht unbedingt nur im Zusammenhang mit einer Aufführung gesehen werden. Durch Notizen in der Handschrift weiß man zwar, dass der Alsfelder Spieltext wohl tatsächlich in einem Aufführungszusammenhang stand, für das Wiener Osterspiel schließt Rolf Bergmann auf eine Lesehandschrift, wenn auch die Herkunft auf einen Aufführungszusammenhang weise.16 Vom Züricher Passionsspiel, das gedruckt überliefert ist, weiß 13 Alsfelder Passionsspiel: Frankfurter Dirigierrolle mit den Paralleltexten. Weitere Spielzeugnisse. Alsfelder Passionsspiel mit den Paralleltexten, hg. von Johannes Janota, Melodien hg. von Horst Brunner, Tübingen 2002 (Die Hessische Passionsspielgruppe 2). 14 Das Züricher Passionsspiel. Jacob Rueff, Das lyden vnsers Herren Jesu Christi das man nempt den Passion. 1545, hg. von Barbara Thoran, Bochum 1984. 15 Prominentestes, weil meistzitiertes Beispiel ist der sogenannte Unglücksfall in Bahn an der Thue, wo der Longinus-Spieler dem Jesus-Darsteller feindlich gesinnt gewesen sei, weshalb er ihn tatsächlich getötet habe. Der tendenziöse Bericht in der Chronik von Pommern des Thomas Kantzow will wissen, dass der Ermordete vom Kreuz herab auf die Maria fiel und sie so getötet habe, dass dann der erboste Johannesspieler nun den Longinus erwürgte, daraufhin geflohen sei, sich beim Sprung von einer Mauer die Schenkel gebrochen habe, ergriffen und gerädert worden sei (Neumann, Geistliches Schauspiel [Anm. 5], S. 898 f., Nr. 3737). Inwiefern bei dieser wohl fiktiven, unwahrscheinlichen Koinzidenzenreihung von Kontingenz die Rede sein kann, ist die Frage, handelt es sich doch um einen geplanten Übergriff mit Folgen. Das Schauspiel böte lediglich den Spielraum des Möglichen. Vgl. Bubner, Die aristotelische Lehre vom Zufall (Anm. 8), S. 9. 16 Bergmann, Rolf, Katalog der deutschsprachigen geistlichen Spiele und Marienklagen des Mittelalters, München 1986, S. 354: »Die Eintragung des Osterspiels in einem kleinformatigen Sammelband religiöser und literarischer Texte läßt die Lesefunktion dieser Niederschrift erkennen; das Nebeneinander verschiedener Fassungen einzelner Szenen zeigt Spuren älterer Textbearbeitungsphasen und damit wohl auch die Herkunft aus einem Aufführungszusammenhang.«
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man aus der Prosavorrede, in der Rueff das Spiel seinem Freund und Gönner Ambrosius Blarer widmet, dass der Verfasser den Text nicht nur als Spielvorlage hat sehen wollen, sondern auch als lehrhafte Lektüre für den jüngeren Leser.17 Es handelt sich bei den Ermahnungen demnach nicht unbedingt um Versuche der jeweiligen Spielleitung, die Zuschauer von Abschweifungen oder allzu regen Beteiligungen abzuhalten. Vielmehr trifft man hier auf eine rhetorische Strategie, mit deren Hilfe in einem Dramentext, der die Vergegenwärtigung des Glaubensgeheimnisses und eine Berührung des Rezipienten bewirken will, Präsenz evoziert wird.18 Im geistlichen Schauspiel wird Präsenz instrumentalisiert, denn durch Präsenz soll die Heilsbelehrung unterstützt werden. Zur rhetorischen Strategie der instrumentalisierten Präsenz gehört daher auch die in den Spieltexten so häufig zu beobachtende Kontrastierung von göttlicher Vorsehung mit irdischem Irren und teuflischen Abwegigkeiten. Neben den offenkundigen textlichen Signalen einer potentiellen Kontingenz sind es diese Kontrastmomente, die die Frage danach aufwerfen, wie die Spielverfasser bzw. -kompilatoren verfahren, um die Heilsbotschaft mit den Mitteln einer mehrdimensionalen Medialität sowohl publikumswirksam und allgemeinverständlich als auch unmissverständlich zu verkündigen. Am Fallbeispiel des Donaueschinger Passionsspiels soll erprobt werden, welche Strategien von Providenzsicherung und Kontingenzvermeidung sich erkennen lassen, scheint doch dieser Text für die Fragestellung besonders geeignet zu sein. Denn zum einen zeichnet er sich durch eine kontrastreiche Abfolge von Handlungseinheiten aus, zum anderen bietet er durch die ausführlichen Bühnenanweisungen eine dankbare Verschränkung verschiedener Mediationsformen. Analysiert werden im Folgenden das Vorspiel sowie das Weltleben und die Bekehrung der Maria Magdalena. 17 Thoran, Züricher Passionsspiel (Anm. 14), S. 5. Im Zusammenhang mit diesen Angaben, die die fließenden Benutzungsmodalitäten von Spieltexten belegen, ist die Beobachtung von Neumann und Trauden bemerkenswert, dass es sich bei den Zeugnissen geistlicher Spiele selten um solche handelt, die in einem Zusammenhang mit einem überlieferten Spieltext stehen. Offenbar gab es weitere Dimensionen außerhalb der Aufführung, die das Aufzeichnen oder zumindest aber das Erhalten eines Spieltextes veranlassten. Vgl. hierzu Neumann, Bernd und Trauden, Dieter, Überlegungen zu einer Neubewertung des spätmittelalterlichen religiösen Schauspiels, in: Hans-Joachim Ziegeler (Hg.), Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Tübingen 2004, S. 31–48. Siehe auch Herberichs, Cornelia, Lektüren des Performativen. Zur Medialität geistlicher Spiele des Mittelalters, in: Erika Fischer-Lichte und Ingrid Kasten (Hgg.), Transformationen des Religiösen. Performativität und Textualität im geistlichen Spiel, Berlin und New York 2007 (TMP 11), S. 169–185. 18 Kiening, Christian, Präsenz – Memoria – Performativität. Überlegungen im Blick auf das Innsbrucker Fronleichnamsspiel, in: Fischer-Lichte/Kasten, Transformationen (Anm. 17), S. 139–168; Petersen, Christoph, Ritual und Theater. Meßallegorese, Osterfeier und Osterspiel im Mittelalter, Tübingen 2004 (MTU 125), S. 11–16; S. 160–183.
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II. Vom Donaueschinger Passionsspiel19 nimmt man an, dass die auf nach 1470 datierte, unikal überlieferte Handschrift als Regiebuch im Dienste einer Aufführung gestanden habe.20 Auch wenn diese Annahme bislang nicht durch Beweise endgültig geklärt werden konnte, kann man doch feststellen, dass der niederalemannische Text21 durch seinen ausgeprägten Aufführungsbezug dem Performanztypus ›Schauspiel‹22 zuzuordnen ist. Der Text ist überschrieben mit register, Eintrag, vom Leiden Christi, ›solchermaßen in Sprüche gesetzt, dass man es zum Wohle der Welt und zur Andacht gut spielen könne‹.23 Zu dem Zweck brauche man hüsser vnd höff (V. *7), die anschließend aufgelistet werden. Sie sind in der Reihenfolge, wie sie später in der Geschichte vorkommen, aufgezählt, so dass man aus ihr nicht etwa auf eine räumliche Anordnung schließen kann.24 Wohl gibt die Liste zu erkennen, dass es offenbar viel weniger loca für die christicolae gibt: das Haus der christenen (V. *16), das Haus der zwölfbotten (V. *17), Lazarus’ Grab, das Himmelreich (V. *23; 26). Dem stehen gegenüber das Haus Simons des Pharisäers, der Tempel, die Judenschule, die Häuser des Cayphas, des Herodes, des Annas, und des Pilatus, die Hölle, das Gefängnis (V. *10; 13 f.; 18–21; 25; 30). Dazu sind einige Orte genannt, die vielleicht ›neutral‹ zu nennen wären: der Garten der Maria Magdalena, der Berg, die Stadt Naim, der Brunnen, der Ölberg, ein gemeine bürge (V. *9; 12; 15; 22; 24; 27). Schließlich besagt die Liste, dass man noch drei Kreuze, die Säule und ähnliches sowie einen Esel benötige (V. *31 f.). Käme es mit den genannten loca zur Einrichtung einer Spielstätte, nähmen die Gegenspieler Christi also einen viel größeren Raum ein als seine Anhänger. Das dürfte eine unübersehbare Akzentsetzung sein und auch ein Zeichen, dass der Raum der Gegenspieler mehr performative Möglichkeiten bietet, Möglichkeiten für auch unvorhergesehene Ereignisse.
19 Das Donaueschinger Passionsspiel, nach der Handschrift mit Einleitung und Kommentar neu hg. von Anthonius H. Touber, Stuttgart 1985 (RUB 8046); es wird nach dieser Ausgabe zitiert, gelegentlich werden jedoch gegen die Ausgabe Satzzeichen eingefügt. 20 Ebd., S. 22. 21 Ebd., S. 22–27. 22 Petersen, Ritual und Theater (Anm. 18), S. 13. 23 Hie nach volget das register des / lidens Ihesu cristi vnsers behalters / zu Sprüchen gesetzt in mass das / man das der welt zů gůt vnd / andacht woll spillen mag (Donaueschinger Passionsspiel, V. *1–5). 24 Gemeinhin geht man davon aus, dass es sich um eine ähnliche Anordnung gehandelt haben wird, wie sie sich auf dem der Handschrift inneliegenden Bühnenplan anbietet, auch wenn dieser nicht zum Donaueschinger Passionsspiel gehörte. Vgl. Touber, Das Donaueschinger Passionsspiel (Anm. 19), Einleitung, S. 27–31.
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Im Donaueschinger Passionsspiel folgt nun die Bemerkung, dass, wenn alles wie in der Liste verzeichnet vorbereitet ist und alle Personen passend gekleidet25 an ihren Ort gegangen sind, das Volk gebeten wird, sich hinzusetzen und Ruhe zu bewahren (V. *33–43). Man kann sich vorstellen, dass diese Eingangsprozession, im Falle einer theatralischen Umsetzung der Passionsgeschichte, für die nötige Unruhe sorgte.26 Wer für die Ruhemahnung zuständig sein sollte, wird nicht mitgeteilt.27 Es schließen sich zwei Gesänge an: Die Engel singen [S]ilete, [S]ilete, silentium habete (V. 1/2) und unmittelbar darauf ertönt ein Gesang der iuden schůll. Dieser ist in der Handschrift zwar nur mit einer Zeile angegeben,28 das textlich verwandte Luzerner Passionsspiel29 überliefert jedoch den vollständigen Text. Es ist ein pseudohebräisches Kauderwelsch, das der sozialen Positionierung jener Gruppe von Spielern in der theatralen Kommunikationssituation dienen soll. Es ist nicht nötig, dass das Publikum die Sprache versteht, allein schon der fremde Klang und das Sinnlose der Aussage charakterisieren diese Mitglieder der iuden schůll als lächerliche Spötter,30 umso mehr als dieser Gesang ohne Unterbrechung nach dem Engelsgesang erfolgt. Man kann sich fragen, inwiefern das Ruheheischen des Letzteren überhaupt als solches gemeint ist. Zum einen hat unmittelbar vorangehend eine Sprechstimme oder ein anderes Signal das Volk schon zum Schweigen aufgefordert, zum anderen schließt sich an ihn der wahrscheinlich Unruhe verursachende Judengesang an. Diese Kontrastierung steht wohl eher, sowohl auf textueller als auch auf performativer Ebene, im Dienst der Providenzsicherung. Auf der Ebene des Ereignisses jedoch kann eine solche Kontrastierung dazu beitragen, dass es zu unvorhersehbaren Ausfällen gegen die Gottesspötter kommt. Der Spieltext beugt dem vor, indem nun des proclamators knecht (V. 3a-b) abermals um Ruhe bittet und darauf hinweist, dass sein Herr jetzt die Heilslehre verkünden werde, damit ir uch dest bas vor sünden / wissent zehüten […] (V. 11 f.). Deshalb 25 Die in der Bemerkung genannte Kleiderliste, die sich am Ende der Aufzeichnung befinden sollte, ist nicht überliefert. 26 Es habe nichts mehr eine Freude bereitet, als in einem Spieler den Prediger oder den Lehrer zu erkennen, liest Hervé Martin aus den Chronistenberichten von Guillaume Le Doyen und Philippe de Vigneuilles heraus. Vgl. Martin, Hervé, Le métier de Prédicateur en France septentrionale à la fin du Moyen Âge 1350–1520, Paris 1988 (CERF Histoire), S. 90. 27 Vielleicht sind es auch die Hornbläser, denn in der Regiebemerkung V. 23a-b steht, dass diese nun zum dritten Mal blasen sollen. 28 Was wohl darauf hindeutet, dass der Text so bekannt war, dass man es für unnötig hielt, dass er aufgezeichnet wurde. 29 Das Luzerner Osterspiel, hg. von Heinz Wyss, Bern 1967, hier Bd. 3, Textteile 1597, 1616, Anmerkungen, Quellen, Glossar, S. 204 f. 30 Frey, Winfried, Pater noster Pyrenbitz. Zur sprachlichen Gestaltung jüdischer Figuren im deutschen Theater des Mittelalters, in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 2 (1992), S. 49–71, hier S. 66–69.
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solle man ihm, seinem Herrn, gut zuhören. Bevor der Proklamator beginnt, wird darüber hinaus noch durch Hornbläser die Ruhe eingefordert. Dann begibt sich, so die Regiebemerkung, der Proklamator zur Mitte des Platzes und spricht ein Gebet. Er fleht den heiligen Geist an, entzind in vns diner liebe flamen (V. 30). In diesem Gebet benutzt er inkludierend den Plural der ersten Person, wodurch die ganze Gemeinde der Gläubigen sich als zusammengehörig bestätigt sieht.31 Das wird durch die folgende Zeile noch gesteigert: die des begeren sprechent amen (V. 31). Alle zusammen, Spieler und Zuschauer, sollen nun also amen sagen, wie sie es aus dem Gottesdienst kennen.32 Dann hält der Proklamator einen Monolog, der sich durch die Publikumsansprachen und den frommen Sprechstil der Predigtpraxis nähert.33 Wiederholt wird auf die gehörte Heilsbelehrung hingewiesen.34 Schließlich mahnt er, wieder unter Benutzung des gemeinschaftsfördernden wir (V. 54), Sünden zu vermeiden und das bittere Leiden und Sterben Christi zu betrachten, ein Leiden und Sterben, das verursacht wurde: durch der valschen iuden rat. wie das begriffet vnser globen, das werdent ir alles schowen in figuren vnd ernstlicher geschicht. wie er so gäntzlich ward vernicht von den iuden mit grosser not […] Schwigend vnd betrachtent sin biter sterben, da durch wir müssen behalten werden. (V. 59–71; Interpunktion von C. D.)
Mit diesen ernsten Worten, die allerdings zugleich auch wieder gegen die Widersacher Christi aufwiegeln, erklärt der Proklamator das Spiel für begonnen. Das Gebet, die Aufforderung zum gemeinsamen Sprechen, der predigthafte Sprechstil, der Appell zur frommen Betrachtung sind dazu angetan, alle am Spiel Teilhabenden, also Spieler wie Zuschauer, in eine gottesfürchtige Verfassung zu bringen. 31 Vgl. Dauven-van Knippenberg, Carla, Das Personalpronomen im Dienste der Agitation. Zum Frankfurter Passionsspiel (1493), vv. 1–332, in: Leuvense Bijdragen 90 (2001), S. 309–323. 32 Petersen, Ritual und Theater (Anm. 18), S. 144 spricht hier von ›liturgisch-rituellem Substrat‹, wodurch das Spiel einen kultischen Anspruch erhebe. 33 Für die Frage, welche Mechanismen und Strategien dafür verantwortlich sind, dass dem geistlichen Spiel immer wieder das Prädikat ›predigthaft‹ angehängt wurde vgl. Dauven-van Knippenberg, Carla, Ein Anfang ohne Ende: Einführendes zur Frage nach dem Verhältnis zwischen Predigt und geistlichem Spiel des Mittelalters, in: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 38 (1994), S. 143–160. 34 Womöglich handelt es sich um ein Indiz, dass der proclamator in der außertheatralischen Welt vor derselben frommen Gemeinde predigt. Vgl. Martin, Le métier de prédicateur (Anm. 26), S. 90.
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Gleichzeitig potenziert und gebrochen wird dieser Ernst durch den darauf folgenden Gesang der iudenschůl: pater noster bigenbitz (V. 82). Es ist eine Parodie auf das Vater-Unser-Gebet, wohl das erste und heiligste Gebet der Christen, das Jesus selbst eingesetzt habe.35 Wieder ist der genaue Wortlaut des eher lustigen Gesangs nur aus dem Text des Luzerner Passionsspiels bekannt.36 Es wird dort auf Alltägliches, Essbares wie Birnen (pirenbytz), Schweinefleisch, Bratwürste und Senf angespielt. Es fallen sprechende Phantasienamen sowie biblisch-jüdische Namen, Kauderwelsch in hebräischem Ton, mit Alemannischem vermischt, insgesamt wieder unverständlich und zusammenhanglos, allerdings mit ausreichend Bekanntem, so dass man den Inhalt durchaus assoziativ einordnen kann. Frey erkennt in dieser Parodie, die im Zusammenhang mit Christi Leiden begegnet, ein Instrument, die Dummheit37 und den Unglauben der Juden zu demonstrieren und den überheblichen Zorn der Christengemeinde zu schüren; die christlichen Rezipienten können sich derart intensiver mit dem leidenden Christus identifizieren. Tatsächlich wirkt gemeinsamer Zorn gruppenfördernd; besonders wirksam ist die Art, diesen Zorn mit Hilfe eines ›Gassenhauers‹ und in Kontrast zur ernsten Spieleinführung des Proklamators in den Handlungsablauf einzuschreiben. Allerdings kann man sich – wieder auf der Ebene der theatralischen Realisierung – fragen, inwiefern die durch den Proklamatorspruch hergestellte Ruhe nach dieser Vater-Unser-Parodie noch vorhanden ist. Wenn die Melodie eher lustig ist und die Angabe der Anfangszeile als Erkennungszeichen des ganzen Liedes ausreicht, kann das in einer Aufführungssituation womöglich dazu führen, dass es von vielen Beteiligten mitgesungen wird, auch wenn das nicht unbedingt beabsichtigt ist.
III. Die ›Belustigung‹ wird mit dem folgenden Abschnitt fortgesetzt. Maria Magdalena präsentiert sich als fröhliche junge Frau, die den Soldaten Pilati, die übrigens alle jüdische Namen tragen (haben sie etwa das pater noster bigenbitz-Lied soeben mitgesungen?), den Kopf verdreht. Das Interessante an diesem Abschnitt ist, dass in ihm der Besuch Jesu bei Simon dem Pharisäer 35 Mt. 6,9–13 und Lk. 11,2 ff. 36 Frey, Pater noster Pyrenbitz (Anm. 30), S. 68 ff. 37 Vgl. etwa V. 475 f.; hier parodiert die iudenschůl den liturgischen Gesang »Ich bin Alpha und Omega, der erste und neueste und der Morgenstern, ich bin der Schlüssel aus dem Hause David«, siehe Touber, Das Donaueschinger Passionsspiel (Anm. 19), Kommentar, S. 271, Anm. zu V. 472–476. Eine textliche Pointe ist es, dass die iudenschůl statt ego clavis fälschlicherweise tu clavis singt, nicht wissend, dass sie damit genau die Wahrheit ausformuliert.
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eingearbeitet ist. Simultan agierend sieht man hier einerseits die lustige Gesellschaft um Maria Magdalena und anderseits Jesus mit seinen Jüngern, die zum Mahl bei Simon eingeladen werden und drittens den Knecht Simons, der Besorgungen für dieses Gastmahl macht und von Maria Magdalena mit der Frage, ob sein Herr gest habe, die frölich sind (V. 157), aufgehalten wird. Matusalem, der Knecht, meint, der selb ist nit für üch ein man / wan er nit schimpflichs triben kan (V. 165 f.). Sie solle weiter ihr fröden spill (V. 168) treiben, es sei denn, sie möchte von ihm etwas Gutes lernen und sich von ihren Sünden abwenden. Das schlägt bei Maria Magdalena ein wie ein Blitz. Was sie noch vor kurzem für unmöglich hielt, bricht durch die Worte Matusalems über sie ein. Sie stost […] das spill von ir vnd sitzt also er / Schrockenlich stil alsob sÿ ir / förcht (V. 172b-c). Zugleich begibt nun Simon sich zum Saluator und teilt ihm mit, dass das Mahl bereitet sei. Jesus und seine Jünger gehen mit zu Simons Haus und setzen sich zu Tisch, alle Pharisäer kommen hinzu. Als alle sitzen, schwenkt das Geschehen wieder zu Maria Magdalena. Noch einmal, was eine Bekräftigung des Entschlusses bedeutet, wird in der entsprechenden Regiebemerkung gesagt, dass sie das Schachspiel wegstößt, und zwar ganz spontan (fräuenlich, V. 176d). Sie springt nun auf und schickt die jungen Männer nach Hause, denn nach dem propheten stat min begir (V. 180). Sie verspüre eine große Reue, möchte den weltlichen Gelüsten entsagen und eine sälige[] rüwerin (V. 190) werden. Um Jesus zu ehren, will sie aromata (V. 194) kaufen. Maria Magdalena besucht nun mit ihren iunck frowen den Apotheker, der sich wundert, dass sie so traurig daherkommt. In ihrem Spruch bekennt sie auch ihm, dass sie zur Erkenntnis gekommen sei, dass sie ein falsches Leben führe und sie sich jenem Arzt zuwenden möchte, der alle Kranken gesund mache. Der Apotheker macht ihr ein Angebot für hervorragenden Balsam: 300 Gulden für vier Pfund (V. 226). Maria Magdalena kauft ein Pfund und begibt sich zu Jesus, der unterdessen in Simons Haus das Gastmahl einnimmt oder eingenommen hat. Die simultane Handlung sorgt für einen Wechsel zwischen Spannung und Zerstreuung.38 Die Ereignisse, die das Weltleben der sündigen Heiligen markieren, legen ganz andere Geltungsbereiche offen als etwa die Momente der Reue und Besinnung. Sie mögen, ebenso wie die Bereitung des Gastmahls, stark an eine Gegenwartswirklichkeit erinnern. Die Engführung mit der transzendentalen Heilswirklichkeit bzw. der Heilsgewissheit durch Reue und Buße, die durch die Auftritte der Jesus-Figur und den Reuemonolog der Maria Magdalena zustande kommt, gehört zu den Mechanismen der Providenzsicherung, die sich im Aufbau des Textes zeigen, wenn auch die Gefahr 38 Petersen, Ritual und Theater (Anm. 18), S. 231 spricht von Komik als Entlastungspotential, doch greift das wohl etwas zu kurz.
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gegeben ist, dass sich im Falle einer theatralischen Umsetzung die Zuschauer eher beim Geschehen im Garten der Magdalena aufhalten, als dort, wo Jesus sich befindet. Es mag denn auch kaum zufällig sein, dass in diesem Abschnitt der Sprechpart für Jesus sehr klein bleibt. Das Zusammentreffen zwischen Jesus und der Sünderin – es findet jetzt keine Handlung simultan mehr statt – wird ausführlich in der Regiebemerkung beschrieben: Sie setzt sich hinter Jesus, weint über seine Füße, trocknet diese mit ihrem Haar, küsst sie und salbt sie mit dem kostbaren Balsam (V. 242c-f). Die Regiebemerkung lehnt sich mit dieser Bildbeschreibung eng an das Lukasevangelium (Lk. 7,37 ff.) an.39 Auch als ikonographisches Muster dürfte das Bild nicht unbekannt gewesen sein, so dass auch von dieser Seite eine Kanalisierung des Verstehens ausgehen dürfte. Das Bild der weinenden, küssenden und salbenden Maria Magdalena wird über längere Zeit festgehalten. Währenddessen spricht Simon sein Erstaunen darüber aus, dass sein Gast sich von dieser unreinen Frau berühren lasse. Jesus belehrt ihn mit dem Schuldnergleichnis (Lk. 7,41 – 43), zeigt noch einmal ausdrücklich auf Maria Magdalena zu seinen Füßen und hebt ihr Verhalten positiv hervor (V. 273– 292). Die beim Gastmahl anwesenden Juden geraten in Diskussion, bis Jesus gut sechzig Verse und einige Sprecherwechsel weiter dem ein Ende bereitet und sich wieder Maria Magdalena zuwendet. Die Texte sind eng an die biblische Geschichte angelehnt. Jesus spricht viel,40 seine Gebärdensprache entspricht ikonografischen Gepflogenheiten: so etwa das Zeigen mit einem Finger (V. 272b), die Vergebungshaltung der Sünderin, die mit hochgehobenen Händen vor dem stehenden Jesus kniet (V. 312a-d). Nachdem Jesus sich ihr zugewandt hat, hält Maria Magdalena einen langen Monolog, in dem sie ausdrücklich die rechte Reue predigt: Sie begibt sich in die Gnade Gottes, bittet um Lebenszeit, auf dass sie ihre großen Sünden büßen kann, fleht um Kraft, ein rechtes Leben zu führen und verspricht schließlich, künftig ohne Sünden leben zu wollen. Es ist – die Sünderin kniend vor Jesus – eine mustergültige Beichte, die das Publikum hier vorgeführt bekommt. In ihrer Figur ist eine Gegenspielerin zu Judas geschaffen, der meint, seine Sünden seien für eine Vergebung zu groß, weshalb er verzweifelt selbst sein Leben beendet. Auch dieser Handlungsabschnitt wird im Donaueschinger Passionsspiel unter Benutzung ikonographischer Muster sehr ausführlich gestaltet; so dass man 39 Schon Dinges macht darauf aufmerksam, dass der Bibelabschnitt Luk. 7,36–50 als Perikope in der fünften Woche der Fastenzeit am Donnerstag verlesen wurde. Vgl. Dinges, Georg, Untersuchungen zum Donaueschinger Passionsspiel, Breslau 1910 (Germanistische Abhandlungen 35), S. 95 ff. 40 Könneker sieht in diesen Sprecheranordnungen ein sehr frühes Beispiel der im neuzeitlichen Drama Eingang findenden Exposition: Aus der Perspektive der Mitspieler werde Christi Identität aufgebaut und die daraus hervorgehende Konfliktsituation angezeigt. Vgl. Könneker, Barbara, Das Donaueschinger Passionsspiel, in: Euphorion 79 (1985), S. 13–42, hier S. 17 f.
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an eine große Klammer innerhalb der wiedergegebenen Abschnitte aus der Heilsgeschichte denken kann.41 Beide Figuren reichen aus der überzeitlichen Heilsgeschichte hinein in die zeitliche Gegenwartswelt und dienen so, dank der kontingenten Potentiale, die die Ausgestaltung der Abschnitte in sich bergen, durch ihre offenkundig pastoralen Formen der Heilsvergewisserung.
IV. Die Beobachtungen am Text legen mehrere Ebenen frei. Jede für sich fügt sich eigenen Gesetzen. Auf der Figurenebene steht die Kontingenz im Dienste der Finalität, also letztendlich im Dienste der Heilsgeschichte und somit im Dienste der Providenzsicherung: Maria Magdalena gelangt zu der für sie völlig unerwarteten und unwahrscheinlichen, weder notwendigen noch unmöglichen Erkenntnis, dass sie ihre Seele heilen lassen will. Im Donaueschinger Passionsspiel trifft man häufiger auf die ausdrückliche Betonung des freien Willens im Prozess der Gottfindung. Der Proklamator schon legt den Teilnehmenden nahe: wen wir vns selbs zehilff ouch komen […] wend wir nu alle gemeinlich besitzen gotz das ewig rich. (V. 52–55)
Wenn wir uns selbst helfen wollten, würden wir alle in das ewige Gottesreich eingehen. Das ist so zu verstehen, dass »die intensive Erforschung unserer selbst zu der Erkenntnis führt, wir seien nur wir selbst, weil sich in unserem geistigen Leben drei unterscheidbare Momente untrennbar wechselseitig durchdringen. Wir erkennen z. B. nur, wenn wir erkennen wollen; wir wollen nur, wenn wir erkennen; wir erkennen und wollen nur, wenn eine grundlegende geistige Selbstgegenwart das Erkennen und Wollen als unsere Tätigkeiten zusammenhält.«42 Wenn der Mensch bereit ist, in sich zu gehen, um zu 41 Auch in diesem Aspekt zeigt sich das Donaueschinger Passionsspiel auf dem Weg in die Neuzeit. In der Longinus-Handlung kann man ein gleiches Verfahren beobachten: Der Spielverfasser gibt dem Soldaten, der nach der Kreuzigung Jesu Seite durchbohren sollte, schon früh im Spiel eine Vorgeschichte, wodurch sich seine spätere Handlung aus der aufgebauten Konfliktsituation ergibt. Vgl. auch Touber, Das Donaueschinger Passionsspiel (Anm. 19), S. 277 f., Anmerkung zu V. 1043. 42 Flasch, Kurt, Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli, Stuttgart 1986 (RUB 8342), S. 42. Zu beachten ist, dass dieses Primat der Willensfreiheit wohl radikal franziskanischem Denken in der Verlängerung der Schriften des Petrus Johannis Olivi († 1298) entstammen könnte (ebd., S. 378 f.).
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erfassen, was er wirklich will, und er entscheidet sich so im freien Willen für das Gute, dann ist die Spur zur Glückseligkeit gefunden. Der Spieltext scheint hier auf Augustins Trinitätslehre hinzuweisen, die über viele Zwischenstationen auch in das theologische Grundwissen der Pastorallehre des 15. Jahrhunderts eingegangen ist. Wenigstens lässt der Spieltext auch Maria Magdalena beim Salbenkauf zum über ihren Gesinnungswechsel verwunderten Apotheker sagen das mich villicht bald neme der tod / kem ich mir selbs zehilffe nitt (V. 210 f.). Die Figur der zur Buße bewegten Sünderin benötigt handlungsintern den Moment der Kontingenz, der ihre Wende markiert. Maria Magdalena widerfährt etwas, was sie nicht für möglich gehalten, was sie nicht beabsichtigt hat. Dieser Moment wird durch das Wegstoßen des Schachspiels nach außen hin erkennbar gemacht. Dass es sich hier aber nicht bloß um eine publikumswirksame Aktion handelt, sondern dies theologisch wohldurchdacht ist, zeigt die Betonung des eigenen, freien Willens als Beweggrund für die Erkenntnis Gottes. Das handlungsintern Unerwartete ist aus der Perspektive der Heilslehre also gewollt unerwartet, so dass der Moment der freien Willensentscheidung für das gottgefällige Leben hervorgehoben werden kann. Auf der Ebene der narrativen Struktur findet Providenzsicherung namentlich durch Kontrastwirkung statt. Diese Kontraste werden durch das Zurückgreifen auf Bildmuster, Gebräuche und Rituale, die den Teilnehmern aus der Frömmigkeitspraxis bekannt sind, vor Kontingenzen geschützt. Das funktioniert tadellos, so lange der Rezeptionskontext außerhalb einer figuralen Aufführung liegt. Die in der Forschung fest etablierte Annahme, es handele sich beim Donaueschinger Passionsspiel um einen Aufführungstext, verpflichtet jedoch dazu, diese theatrale Realisierung der Leidensgeschichte Christi mit in Betracht zu ziehen. Und dann zeigt sich ein anderes Bild, denn auf der Ereignisebene kann die rhetorische Strategie der Polarisierung fehlschlagen. Man stelle sich vor, der hübsche und schön höfisch gekleidete43 junge Mann – meistens wurden auch die Frauenrollen von Männern erfüllt –, der Maria Magdalena spielt, der mit den Soldaten Pilati schäkert, der lange über Jesu Füße weint, diese küsst etc. Die Forschung lässt uns glauben, dass man sich zu jener Zeit nicht daran gestört habe bzw. nicht daran ergötzt habe, Männer in Frauenkleidung zu sehen, dass man immer nur die Person, die vergegenwärtigt wurde, habe sehen wollen, also Maria Magdalena, und nicht die Person hinter der Figur der Heiligen. Gewiss war es erwünscht – man bedenke die zu Beginn erwähnten Ermahnungen – die Spielrollen, das Spiel so zu verstehen. Dass die Spielleiter sich aber um »passendes« Personal bemühten, besagen nicht nur die zahllosen von Neumann aufgezeigten Archivalien. In dem Material, das M. Blakemore Evans in der Vorbereitung 43 So das für das Luzerner Passionsspiel überlieferte Kleiderverzeichnis, vgl. Neumann, Geistliches Schauspiel (Anm. 5), S. 461; 528.
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zu einer vorgenommenen Edition des Luzerner Passionsspiels gesichtet hatte, findet man auch Angaben dazu, dass etwa das Äußere oder die Stimmlage der entsprechenden Rolle angemessen zu sein hatten.44 So sollten die 4 Ertzengel gwachsen by 14 jaren allt, doch Millter stimm, all glych sein, sie sollen die richtige Größe haben, und zwar so, dass die 4 Ertzengel […] gross vnd glycher grösse syn. Die 4 Mittlern Engel sond ettwas kleiner syn […] Die 12 kleinen Engel sond ouch kleiner sin.45 Die Frauenrollen brachten besondere Probleme mit sich. So sollten die Mägde zwar gwachsen sin, aber zarte wybische stimmen haben, sollte man die Rolle der Magd Maria eintweders einem jungen priester oder knaben geben, Rechter statur vnd millter stim, züchtiger geberden Et inculpatae vitae.46 Das besagt, dass es bei der Spielleitung also durchaus ein ›casting‹-Bewusstsein gab und dass das geistliche Schauspiel trotz seiner kultischen Funktion den Gesetzen theatralen Handelns Rechnung trug. Überall dort, wo der Spieltext im theatralischen Bereich Akzente setzt, die man wie die Fransen der unfassbaren Aufführung auch heute erkennen kann, überall dort kann man Zufall- oder Unfallkontingenzen hineinprojizieren. Sie müssen aber bald mehr, bald weniger spekulativ bleiben.47 Vorsicht ist geboten bei der Interpretation von ›Kontingenzmarkern‹ wie dem Silete-Gesang. Es zeigte sich, dass dieser im Donaueschinger Passionsspiel nicht so sehr der Ruheheischung diente, sondern eher als rhetorisches Mittel eingesetzt wurde, um Anhänger und Gegenspieler Christi deutlicher zu kontrastieren. Auf der Text- und Figurenebene aber sind die Unvorhersehbarkeiten wohlkalkulierte Strategien des instrumentalisierten Redens. Kontingenzen werden auf ihr Ziel hin inszeniert. Sie tragen dazu bei, dass der Mensch in einer freien Willensentscheidung beschließt, ein gottgefälliges Leben zu führen. Obwohl es sich also bei den erbaulichen, pastoralen Texten des Mittelalters, zu denen das geistliche Schauspiel zu rechnen ist, um ein Erzählen mit gewusster Finalität handelt (wobei diese Finalität über einen planvollen Weg, dem Heilsplan Gottes, zu erreichen wäre), ist das Prinzip Kontingenz strukturell und dient dem Blick auf den glücklichen Ausgang.
44 Evans, M. Blakemore, Das Osterspiel von Luzern. Eine historisch-kritische Einleitung. Übersetzung des englischen Originaltextes von Paul Hagmann, in: Schweizer Theater-Jahrbuch 27 (1961), S. 9–275, hier besonders Kapitel 5, Vorbereitungen zum Spiel (S. 84–117). 45 Ebd., S. 91. 46 Ebd., S. 92. 47 Manche Berichte entstehen erst vor dem Hintergrund der elitären, durch Reformation und Aufklärung geprägten Geisteshaltung, die das Mittelalter als dunkel und katholisch apostrophieren (vgl. etwa Anm. 15). Die Aufnahme solcher Berichte in die Forschung, wodurch sie erst eine überzeitliche, ›kanonische‹ Geltung bekommen, mag mit durch diese Geisteshaltung, multipliziert durch die Abneigung gegen ›niedere‹ Kulturprodukte, bewirkt worden sein. Beim Heranziehen als ›Beweismaterial‹ ist dem Rechnung zu tragen.
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Minneklage als Nachdenken über eine ungewisse Zukunft Walthers stæte-Lied 66 (L 96, 29 ff.) aus kontingenztheoretischen Perspektiven des Mittelalters
Was hat Lyrik mit dem Thema Kontingenz zu tun? Das darf mit Recht gefragt werden, denn in der bisherigen literaturwissenschaftlichen Mediävistik wurde die Frage nach der Kontingenzbehandlung hauptsächlich für Romane gestellt.1 Im Zentrum stand entsprechend die Kontingenzbehandlung, welche im Ergehen und in den Handlungen der Figuren zutage tritt. Lyrik ist hingegen in der Regel ziemlich ereignislos und handlungsarm. In der Minneklage sind die Figuren in einer statischen Situation gefangen, welche kaum Erzählung zulässt. Woher sollte da der Stoff aus Ereignisfolgen und Handlungsabläufen zur Beurteilung der Kontingenzbehandlung in der Lyrik herkommen? Gerade in der Minneklage scheint ja die Welt so festgezurrt wie sonst nirgends. Das liebende Ich hält genauso eisern an seiner Liebe fest wie die geliebte Dame an ihrer ablehnenden Haltung. Die Klage betrifft deshalb nicht selten gerade das Fehlen von Veränderung, von Handlungsspielräumen. Walther treibt diese Situation im Lied 66 auf die Spitze, indem er die erste Strophe so beginnen lässt: stæte ist ein angest vnd ein nôt (I, 1; L 96, 29).2 Hier wird 1 Eine Typologie der Kontingenzbehandlung unternimmt anhand der erzählenden Literatur (Alexander Rudolfs von Ems, Melusine Thürings von Ringoltingen, Fortunatus, Boccacios Griselda, Chrétiens Yvain, Wolframs Parzival und Gottfrieds Tristan) Haug, Walter, Kontingenz als Spiel und das Spiel mit der Kontingenz. Zufall, literarisch, im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard (Hgg.), Kontingenz, München 1998 (Poetik und Hermeneutik 17), S. 151–172. – Vgl. zur darin nicht vorkommenden Heldenepik Schulz, Armin, Fragile Harmonie. ›Dietrichs Flucht‹ und die Poetik der ›abgewiesenen Alternative‹, in: ZfdPh 121 (2002), S. 390–407. – Für den aktuellsten Forschungsstand vgl. die Beiträge dieses Bandes. 2 Walther 66, I, 1; L 96, 29; 87 bzw. 92 C. Ich zitiere nach Strophe und Vers gemäß der Ausgabe Walther von der Vogelweide, Leich, Lieder, Sangsprüche, hg. von Christoph Cormeau, Berlin und New York 1996, Nr. 66, S. 210 f. sowie nach der Sigle L mit der Lachmannschen Zählung. Da die editorischen Entscheidungen bei diesem Lied vor allem in der Frage der Großschreibung von stæte von interpretatorischem Gewicht sind, zitiere ich jedoch durchgängig in Kleinschreibung. In der zweiten Strophe überzeugt die Zeichensetzung nicht. Ich lese Fragezeichen nach dem zweiten Vers, Komma nach dem dritten und Fragezeichen nach dem vierten
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Minneklage als Nachdenken über eine ungewisse Zukunft
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das eigene Handeln des liebenden Ich zu einem unabänderlichen quasi-notwendigen Zustand stilisiert. Und das sogar ganz wörtlich, heißt doch angest zunächst einmal ›Bedrängnis‹, ›Einengung‹, also ›körperliche Einschränkung von Bewegungsmöglichkeiten‹ und bedeutet doch nôt eben auch ›Notwendigkeit‹, etwa in den Verbindungen durch nôt oder âne nôt.
1. Kontingenz als methodisches Problem Es stellt sich also zunächst die methodische Frage, ob es überhaupt legitim ist, den Begriff der Kontingenz an mittelalterliche Lyrik heranzutragen. Dies ist zugleich eine Frage nach der Kontingenz von Lektüren. Grundsätzlich ist dies aus der Sicht vieler Literaturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts auf jeden Fall zulässig. Für Umberto Eco etwa sind die Kunstwerke aller Jahrtausende für unendlich viele Rezeptionsarten offen. Denn das Kunstwerk sieht er nicht primär als eingekochtes Erlebnis, sondern umgekehrt »als unerschöpfliche Quelle von Erfahrungen«.3 Über Eco hinaus betont Paul Ricœur die Flüchtigkeit und Einseitigkeit aller Interpretationen, indem er sie als Performanzphänomen fasst und damit die dynamische hermeneutische Kehrseite des ›toten Autors‹ beschreibt.4 In einem semantischen Raum ergibt sich eine grundsätzliche Mehrdeutigkeit (im Sinne einer Mehrdeutbarkeit) eines Textes. Demgegenüber ist Lesen nach Ricœur in spezifischer Weise einseitig: ›Texte enthalten mögliche Bedeutungshorizonte (»potential horizons of meaning«), welche auf verschiedene Arten aktualisiert werden können.‹ Trotz der grundsätzlichen Mehrdeutigkeit von Texten und der Flüchtigkeit der Bedeutungen sind nach Ricœur nicht alle Textinterpretationen gleichermaßen legitim. Der Text als Ganzes erlaube eine beschränkte Bandbreite möglicher Bedeutungskonstitutionen. Es gibt also durchaus unmögliche Lesarten, solche, die aus dem Text nicht abgeleitet werden können. Aber es gibt keine richtige, einzig wahre Lesart, sozusagen eine notwendige. Es geht also nicht darum, den Sinn ›hinter‹ dem Text, eine ursprünglich gemeinte Bedeutung oder eine Referenz auf die sinnliche Welt, am besten zu erfassen, sondern die möglichen Sinne ›vor‹ dem Text zu erkunden, das heißt die Art und Weise, in der der Text zu (vgl. auch Vollmer, Vera, Die Begriff der Triuwe und der Stæte in der höfischen Minnedichtung, Tübingen 1914, S. 121). 3 Eco, Umberto, Das offene Kunstwerk, Aus dem Ital. übers. von Günter Memmert, Frankfurt am Main 1977, 61993 (stw 222) (Ital. Original: Opera aperta, Mailand 1962), S. 60 f. 4 RicŒur, Paul, Interpretation Theory. Discourse and the Surplus of Meaning, Fort Worth 4 1976. Das Folgende bezieht sich v. a. auf S. 75–79 und 87 f. (Übers. von U. K. in einfachen Anführungszeichen).
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einer neuen Betrachtungsweise auffordert. ›Der Text spricht von einer möglichen Welt (»possible world«)5 und von einer möglichen Art und Weise, sich darin zu orientieren. Die Dimensionen dieser Welt werden vom Text genau erschlossen und enthüllt.‹ Aufgabe einer allgemeinen Hermeneutik als ›Theorie sinnstiftender Ausdrucksweisen‹ ist es deshalb, Kriterien zur Beurteilung und Abstufung verschiedener Interpretationen zur Verfügung zu stellen.6 Im Folgenden nenne ich einige Gründe, weshalb es sinnvoll ist, aus vielen möglichen (kontingenten) Lektüren eine kontingenztheoretische Perspektive für die Analyse von Walthers stæte-Lied zu wählen. Zusätzlich wird zu fragen sein, zu welchen möglichen Sinnen ›vor‹ dem Text dieses Lied einlädt, wenn es kontingenztheoretisch betrachtet wird. Damit soll eingelöst werden, was Walter Haug in der Einleitung zum Fortuna-Band von 1995 bereits mit Hinweis auf Jerold C. Frakes’ vorbildliche Studie7 anmahnte, nämlich nicht nur die Fortuna-Figur in ihren verschiedenen Erscheinungsformen nachzuzeichnen, sondern auf ihre »spezifische Position in den Konzepten zu achten, mit denen jeweils versucht worden ist, das Begriffsfeld: Zufall, Glück und Unglück, Erfolg und Mißerfolg, Verdienst und Lohn, Vorsehung und Schicksal, Möglichkeit und Notwendigkeit, Ordnung und Chaos sinngebend zu bewältigen«.8 So ist es über das von Haug
5 Ricœur nimmt hier auf die possible-world-Theorien Bezug, auf die sich für das Verhältnis von realer Lebenswelt und möglichem Anderssein auch Luhmann, Niklas, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 92001 (stw 666), S. 152 beruft. – Spezifischer literaturwissenschaftlich entwirft Doležel, Lubomir, Mimesis and Possible Worlds, in: Poetics Today 9 (1988), S. 475–496 ein Konzept von Fiktionalität, das nicht mimetisch funktioniert (d. h. in Absetzung von einer einzigen realen Welt), sondern sich als ›Semantik der Fiktionalität möglicher Welten‹ versteht. – In diachroner Perspektive fragt danach, wie frei die Literatur im Entwerfen von Welten ist, Pavel, Thomas G., Fictional Worlds, Cambridge, Mass. und London 1986. – Zum Verhältnis von philosophischer Theoriebildung und literaturwissenschaftlicher Anwendung vgl. den Sektionsbericht Eco, Umberto, Literature and Arts, in: Sture Allén (Hg.), Possible Worlds in Humanities, Arts and Sciences, Berlin und New York 1989, S. 343–355. 6 Für Ricœur ist eine entsprechende Methode mit dem Strukturalismus gegeben; sein Beispiel ist deshalb die Strukturanalyse des Ödipus-Mythos durch Lévi-Strauss. Er gibt jedoch zu, dass gerade Text- und Kommunikationsverläufe mit einer solchen Strukturanalyse nur unzureichend erforscht werden können und dass deshalb auch andere Zugänge legitim seien (Ricœur, Surplus [Anm. 4], S. 82). 7 Frakes, Jerold C., The Fate of Fortune in the early Middle Ages, Leiden u. a. 1988 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 23), S. 3 will mit seiner Studie zu den Consolatio-Übersetzungen von Alfred dem Großen und Notker III. von St. Gallen »the analysis of ›fortuna‹ as a complex element in a comprehensive philosophical and terminological system« leisten. 8 Haug, Walter, O Fortuna. Eine historisch-semantische Skizze zur Einführung, in: Ders. und Burghart Wachinger (Hgg.), Fortuna, Tübingen 1995 (Fortuna vitrea 15), S. 1–22, hier S. 3.
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Geforderte hinaus möglich, unter diesen Begriffen Zusammenhänge aufzudecken, die neue Lektüre-Perspektiven zu eröffnen vermögen.
2. Akademische Anklänge Obwohl in Walthers stæte-Lied die für die Minneklage üblichen Rollen an ein liebendes Ich und ein geliebtes Du vergeben werden, sträubt sich die Textoberfläche doch sehr dagegen, in der Darstellung einer konkreten Liebessituation aufzugehen. Die ersten beiden Strophen enthalten mit stæte, si, liebe mîn frô stæte und diu liebe Figuren, die wahlweise als Geliebte, Gottheit oder Personifikation gelesen werden können. Zwei weitere Auffälligkeiten ermuntern dazu, den Text auch abstrakt zu lesen: Erstens häuft Walther das kontingenztheoretisch interessante Wort stæte, dessen Abstraktion in der mittelhochdeutschen Lyrik auffällt. Das Wort stæte kommt in Walthers Werk ausgesprochen oft vor. Es finden sich 36 Stellen im Verhältnis zu 2013 Stellen in der mittelhochdeutschen Literatur, also fast 2 % der Belegstellen stammen aus Walther.9 Im Vergleich dazu enthält die Anthologie Minnesangs Frühling nur leicht mehr als doppelt so viele, nämlich 74 stæte-Stellen. Walthers Stellen machen ein Drittel derjenigen der gesamten mittelhochdeutschen Lyrik (111) aus.10 Von diesen Stellen gehören 13 zu Walthers stæte-Lied, also immerhin noch 0,6 % aller mittelhochdeutschen Belegstellen! Eine ähnliche Dichte der staete-Stellen begegnet in der Lyrik sonst nur bei Hartmann von Aue mit 11 Belegen (MF 211, 35–212, 12). Innerhalb des Liedes werden die stæte-Stellen ebenfalls geballt: Es kommt in adjektivischer, adverbialer und substantivischer Form in den ersten beiden Strophen des stæte-Liedes insgesamt zwölf Mal vor. Zusätzlich erscheint es noch einmal in der vierten und letzten Strophe: frowe, ich weis wol dînen muot, / daz dv gerne stæte bist (IV, 1 f.; L 97, 23 f.). Walther behandelt das stæte-Thema mit Abstand am abstraktesten im gesamten Minnesang. Das zeigt sich nur schon daran, dass im Minnesang insgesamt das Adjektiv weit häufiger auftritt als das Substantiv, während Walther – gerade auch dank dieses Liedes – mit 13 substantivischen Nennungen eine absolute Spitzenstellung einnimmt und als nächster Reinmar mit zehn 9 Die Auswertung beruht auf der Zählung der staete-Lemmata (Adj., Adv., Subst.) der Mittelhochdeutschen Begriffsdatenbank http://mhdbdb.sbg.ac.at am 26. September 2007. 10 Deutlich häufiger tritt der Begriff in der spätmittelalterlichen Romanliteratur auf: Dort wird Walthers Werk übertroffen vom Jüngeren Titurel (186), vom Trojanerkrieg (154), vom Rennewart (119), von Partonopier und Meliur (100), vom Barlaam und Josaphat (97), vom Frauendienst (77), vom Welschen Gast (67), von Ulrichs (58) und Rudolfs (49) Alexander, vom Wilhelm von Österreich (42) und vom Engelhard (38).
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Vorkommen folgt. In der zweiten Strophe des stæte-Liedes wird das staeteThema außerdem zu sentenzhafter Allgemeingültigkeit geöffnet (II, 2–6). Diese ungewöhnliche Häufung ist denn auch der Forschung schon aufgefallen; Nolte, Schweikle und Scholz sehen darin ein mögliches Ironiesignal und damit eine Distanzierung von der Tugend der Beständigkeit in der Liebe.11 In diesem Zusammenhang ist es allerdings sehr irritierend, dass der zweite Vers ganz explizit Zweifel am moralischen Wert der stæte aufkommen lässt: in weiz niht, ob si êre sî (»Ich weiß nicht, ob sie etwas Ehrenhaftes sei«, I, 2). Aber gerade diese indirekte Frage, wie sie für Disputationen typisch ist,12 hat Forscher an akademische Anklänge denken lassen. Damit wäre ein zweiter Grund für eine abstrakte Lektüre im Bereich der Formulierung geschaffen. Hans Naumann behandelt 1930 das Lied in einer kurzen Bemerkung als lehrhaftes Werk, das auf die Didaktik der absurden Gegenthese setze, nämlich, dass stæt […] ein angest und ein nôt sei. Er stellt deshalb an diesem »Übungsstück ein scholastisches Geschmäcklein« fest.13 In Weiterführung dieser These vertritt Korn 1932 die Ansicht, dass Walthers stæte-Lied eine Quaestio-Struktur aufweise.14 Die Quaestio im engeren Sinne sieht er in der ersten Strophe formuliert, indem diese frage, ob »die Stete in das Wertgebiet des Honestum gehören [könne], da sie doch nur Ungemach« gebe. Etwas unklar in Korns Darstellung bleibt, welche Rolle der zweiten Strophe zukommt. Er spricht von einer Vertiefung der aufgeworfenen Frage. In den Strophen 3 und 4 findet sich dann laut Korn die Argumentation, und zwar ziele sie auf die These eines harmonischen Verbindungs11 Nolte, Theodor, Walther von der Vogelweide. Höfische Idealität und konkrete Erfahrung, Stuttgart 1991, S. 191. – Walther von der Vogelweide, Werke. Gesamtausgabe Bd. 2: Liedlyrik. Mhd./Nhd., hg., übers. und komm. von Günther Schweikle, Stuttgart 1998 (RUB 820), S. 566. – Scholz, Manfred Günter, Walthers Lied über die Stæte (L 96,29 ff.) und seine ›naive‹ Rezeption, in: Volker Mertens und Ulrich Müller (Hgg.): Walther lesen. Interpretationen und Überlegungen zu Walther von der Vogelweide. FS Ursula Schulze, Göppingen 2001 (GAG 692), S. 39–58, hier S. 47. 12 Eine fundierte Beschreibung der Quaestio und verwandter Gattungen an den Artistenfakultäten des 13. bis 15. Jahrhunderts bietet Weijers, Olga, La ›disputatio‹ à la Faculté des arts de Paris (1200–1350 environ). Esquisse d’une typologie, Turnhout 1995 (Studia Artistarum 2). Dies., La ›disputatio‹ dans les Facultés des arts au moyen âge, Turnhout 2002 (Studia Artistarum 10). – Für die theologischen Fakultäten vgl. Bazàn, Bernardo C., Les questions disputées et les questions quodlibétiques dans les facultés de théologie, de droit et de médecine, Turnhout 1985 (Typologie des sources du Moyen Âge occidental 44/45). 13 Naumann, Hans, Das Bild Walthers von der Vogelweide, Berlin und Leipzig 1930 (Schriften der Strassburger wissenschaftlichen Gesellschaft an der Universität Frankfurt am Main 12), S. 12. 14 Nämlich dieselbe wie Reinmars Lied (MF 153, 16; Nr. 29). Korn, Karl, Die scholastische Quaestio als Strukturprinzip der Minnereflexion, in: Ders., Studien über ›Freude und Trûren‹ bei mittelhochdeutschen Dichtern. Beiträge zu einer Problemgeschichte, Leipzig 1932 (Von deutscher Poeterey 12), S. 54–61, hier und im Folgenden S. 59 f.
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weges zwischen Ethos und Freude. Damit sei schließlich die Gegenthese zur Ausgangsthese erreicht, nämlich – laut Korn – dass das Ich »um der Freude willen ›staete‹ sein« müsse, so dass stæte doch nicht ein angest und ein nôt sei. Diese Interpretation bedeutet aber, dass Korn die letzten beiden Verse schlicht außer Acht lässt, da sie ja doch klar für eine Abwendung der Geliebten von ihrer stæte plädieren. Das kommt dadurch zustande, dass Korn offenbar gar nicht bemerkt, dass nicht nur die stæte des männlichen Ich zur Diskussion steht, sondern auch diejenige der weiblichen Geliebten (IV, 2). Diese Problematik hat hingegen Manfred Günter Scholz jüngst sogar als Hauptcharakteristikum dieses Liedes in der Behandlung des stæte-Themas gesehen: Es stelle ein Ich vor, das die Unmöglichkeit erkenne, »daß beide Seiten stæte bleiben können, wenn die Beziehung zu einem glücklichen Ende führen soll, und das deshalb letztlich den radikalen Schritt« vollziehe, die Frau zur Abkehr von der stæte zu bewegen.15 Walthers Lied zeige damit auf, in welche Aporien eine zu Ende gedachte stæte-Konzeption führen könne, die Minnelohn einerseits und weibliche Ablehnung andererseits fordere. Darin würde ich Scholz recht geben. Naumanns und Korns scholastische Verdachtsmomente kommen nicht von ungefähr, sondern ich werde im Folgenden darlegen, dass Walthers Lied nicht nur moralische Aporien bewusst werden lässt, wie das Scholz bereits gezeigt hat, sondern dass es am Beispiel der Liebeswerbung ganz allgemein die Frage nach der Gewissheit der Zukunft stellt. Damit möchte ich zugleich die Minneklage als den privilegierten Ort innerhalb der mittelhochdeutschen Lyrik aufzeigen, an dem Grundfragen mittelalterlicher Kontingenzdiskussion verdichtet werden. Walthers Lied ragt daraus insofern zusätzlich hervor, als es die abstrakt-logischen Dimensionen des Liebesproblems auch sprachlich deutlich werden lässt.
3. Mittelalterliche Kontingenztheorien Die mittelalterlichen Kontingenztheorien finden sich in der Gattung des Kommentars in zwei Traditionslinien. Der erste Ausgangspunkt sind die Sentenzen des Petrus Lombardus.16 In diesem Standardwerk17 der mittelalterlichen Theologie versammelt er unter anderem Lehrsätze über die Eigenschaften Gottes (Sent. 1 d. 35–48). Wichtige Aspekte von Gottes Wissen drücken die 15 Scholz, ›Naive‹ Rezeption (Anm. 11), hier und im Folgenden S. 57. 16 Petrus Lombardus, Sententiae in IV libris distinctae, Grottaferrata 1971 (Spicilegium Bonaventurianum 4). 17 Flasch, Kurt, Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli, Stuttgart 22000, S. 283.
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Begriffe Vorherwissen (praescientia=providentia), Vorsehung (praevidentia), Ordnung (dispositio=providentia) und Vorherbestimmung (praedestinatio) aus, die sich allesamt auf Zukünftiges beziehen. Wenn es nun aber keine Zukunft gäbe, so fragt Petrus, würden dann nicht diese Aspekte von Gottes Wissen wegfallen und damit Gottes Wesen (essentia) durch den Wegfall von Vorherwissen, Vorsehung und Vorherbestimmung in Frage gestellt sein? Nein, antwortet Petrus, Gott weiß alles in der Ewigkeit; wenn wir von Zukunft sprechen, dann tun wir es mit Bezug auf die zeitlichen Dinge, die er vorherweiß, in seiner Vorsehung anordnet und deren Heil er vorbestimmt (Sent. 1 d. 35 c. 7,4). Weil Gottes Wissen sich nicht ändern und weder zu- noch abnehmen kann, weiß Gott von Ereignissen, Wesen und Folgen, die Wirklichkeit werden können oder nicht, also kontingent sind, und er weiß, ob sie Wirklichkeit werden, aber er weiß beide Varianten gleichermaßen (Sent. 1 d. 39 c. 1,1–4,3 und d. 41 c. 3,1; S. 280–283 und 292 f.). Vorherwissen (praescientia) stellt jedoch keine Ursache dar: Im Falle von kontingenten Handlungen von Geschöpfen mit freiem Willen, sieht Gott die Folgen kontingenter Handlungen voraus, verursacht sie aber nicht (Sent. 1 d. 38 c. 1; S. 275– 279). In seiner Diskussion befasst sich Petrus also mit Gott und nicht etwa mit den Menschen und anderen Geschöpfen. Er stützt sich in seiner Position auf Augustinus und andere Kirchenväter, nicht aber auf Aristoteles und Boethius.18 Diese beiden Autoren stehen für den zweiten Ausgangspunkt mittelalterlicher Kontingenztheorie. In der Hermeneutik und der Physik (II, 4–9; 195b31– 200b8) beschäftigt sich Aristoteles ausführlich mit dem Kontingenzproblem. Die Hermeneutik wird dem abendländischen Mittelalter durch Boethius vermittelt, der sie erstens ins Lateinische übersetzt19 und – unter Verwendung der Physik-Kapitel – zweitens zwei Kommentare20 dazu verfasst und sie drittens im fünften Buch seiner Consolatio Philosophiae in Auszügen dialogisch präsentiert.21 Boethius’ Übersetzung ist als Teil der sogenannten logica vetus schon dem frühen Mittelalter bekannt und bleibt bis zum Humanismus maß-
18 Zu dem in diesem Absatz Referierten vgl. Colish, Marcia L., Peter Lombard, Bd. 1, Leiden u. a. 1994 (Brill’s studies in intellectual history 41,1), S. 286–288. 19 Aristoteles, De Interpretatione vel Periermenias, ins Lateinische übers. von Anicius Manlius Severinus Boethius, hg. von Lorenzo Minio-Paluello, Brügge und Paris 1965 (Corpus Philosophorum Medii Aevi. Aristoteles Latinus 2,1), S. 1–38. 20 Boethius, Anicius Manlius Severinus, In librum Aristotelis Peri Hermeneias Commentarii. Prima Editio, hg. von Karl Meiser, Leipzig 1877, S. 29–225. – Ders., In librum Aristotelis Peri Hermeneias Commentarii. Secunda Editio, hg. von Karl Meiser, Leipzig 1880 (Bibliotheca scriptorum graecorum et romanorum Teubneriana), S. 1–504. 21 Boethius, Anicius Manlius Severinus, De Consolatione Philosophiae, in: Ders., De Consolatione Philosophiae. Opuscula Theologica, hg. von Claudio Moreschini, München 22005, S. 1–162, hier 5. Buch.
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geblich.22 An Popularität wird sie jedoch weit übertroffen von der dialogischen Bearbeitung in der Consolatio, welche eine Stoffgrundlage der karolingischen Schule des 9. Jahrhunderts ebenso wie der Artistenfakultät des 15. Jahrhunderts bildet23 und in rund vierhundert Handschriften überliefert ist.24 Die Consolatio ist eine der klassischen Autoritäten für die Ansicht, dass der menschliche Wille nicht eingeschränkt wird durch die göttliche Vorsehung. Im hohen und späten Mittelalter werden dazu gerne Boethius’ Argumente aus dem fünften Buch zitiert:25 Es ist zwischen der Vorsehung Gottes in ewiger Gegenwart (providentia) und dem Voraussehen der Zukunft (praevidentia) zu unterscheiden (Boethius, cons. 5, 6, 17). Gottes Wissen ist unzeitlich (tota simul, Boethius, cons. 5, 6, 4 und 21 f.). Das Wissen hängt von den Fähigkeiten des Wissenden (Gott), nicht von denjenigen des Gewussten (Mensch) ab (Boethius, cons. 5, 4, 25).26 Es gibt zwei Arten von Notwendigkeit: eine einfache oder absolute und eine bedingte (Boethius, cons. 5, 6, 27). »Der Mensch […] hat freie Entscheidung über Dinge, die nur bedingter Notwendigkeit unterstehen«.27 Daraus ergibt sich Boethius’ Lösung für die Vereinbarkeit von göttlicher Vorsehung und menschlichem freien Willen, die Peter Huber wie folgt zusammenfasst: »Gottes Vorsehung erkennt das zukünftig Mögliche als Gegenwärtiges in bedingter Notwendigkeit.«28 In historischer Hinsicht bieten die Kontingenzüberlegungen von Boethius und Petrus einen möglichen produktionsästhetischen Hintergrund zu Walthers Lied. Wenn es hier aber um mögliche Lektüren gehen soll, sind ihre zwei wichtigsten Kommentatoren zu berücksichtigen, die beide in die Zeit um 1300 führen, also in die Zeit der Manessischen Liederhandschrift, in der das stæte-Lied als Strophen 87–90 unter Her walther von der Vogelweide überliefert ist. Thomas von Aquin macht sich in seinem Kommentar zu Hermeneutik und in seiner Summa contra gentiles in den Sechziger- und Siebziger22 Weidemann, Hermann, Einleitung, in: Aristoteles, Peri hermeneias, übers. von Hermann Weidmann, Berlin 1994 (Werke in deutscher Übersetzung 1,2), S. 41–94, hier S. 84 f. 23 Gruber, Joachim, Kommentar zu Boethius’ ›De consolatione philosophiae‹, Berlin 2 2006 (Texte und Kommentare 9), S. 47 f. 24 Hunger, Herbert u. a., Die Textüberlieferung der antiken Literatur und der Bibel, München 21988 (dtv 4485), S. 421. 25 Nauta, Lodewijk Willem, William of Conches and the Tradition of Boethius’ Consolatio Philosophiae. An Edition of his Glosae super Boetium and Studies of the Latin Commentary Tradition, Groningen 1999, S. lix f. (mit Angabe der älteren Literatur). 26 In drei Verhältnisse differenziert schon bei Ammonios, In Aristotelis De interpretatione commentarius 135, 19–32, vgl. Huber, Peter Thomas Morus, Die Vereinbarkeit von göttlicher Vorsehung und menschlicher Freiheit in der Consolatio Philosophiae des Boethius, Diss. Zürich 1976, S. 43. – Allerdings ist Boethius nicht von Ammonios abhängig (Sorabji, Richard, Preface, in: Ders. u. a., On Determinism, Duckworth und London 1998, S. vii.). 27 Fichte, Joerg O., Providentia – Fatum – Fortuna, in: Das Mittelalter 1 (1996), S. 5–20, hier S. 13. 28 Huber, Die Vereinbarkeit (Anm. 26), S. 58.
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jahren des 13. Jahrhunderts kontingenztheoretische Überlegungen zum freien Willen mit Bezug auf (den von Boethius vermittelten) Aristoteles.29 Wie dieser interessiert sich Thomas für die Kontingenz als Freiraum für Handlungen, durch die Mögliches in Wirkliches verwandelt wird. Besonders interessant für unser Lied ist seine Auseinandersetzung mit dem Begriff des Schicksals und mit dem Kontingenz-leugnenden Determinismus, die er vor allem in der Summa contra gentiles bespricht. Im dritten Buch dieser Schrift behandelt Thomas, nachdem er Gotteslehre und Schöpfungslehre ausgebreitet hat, das Problem der Zielbestimmung der Schöpfung und entsprechend die Vollkommenheit Gottes als Lenker der Welt (omnium entium rector).30 So gelangt auch dieser aristotelische Strang zur Frage, wie Gottes Vorsehung mit kontingenten Ereignissen zu vereinbaren sei. Johannes Duns Scotus thematisiert um 1300 Kontingenz in seiner Kommentierung der Sentenzen von Petrus Lombardus (fassbar in der Oxforder Lectura, in der Ordinatio und in der Reportatio Parisiensis examinata).31 Auch seine Herangehensweise ist von der Interessenlage bestimmt, die der Text vorgibt, den er kommentiert: Es geht dabei darum, wie Gottes Vorsehung und Allwissenheit in Bezug auf eine kontingente Welt zu denken sind. Diese Ansätze sind so verschieden, dass in ihrem je anderen Lichte betrachtet andere Kontingenzprobleme in Walthers stæte-Lied in den Vordergrund treten. Heute überwiegt wohl eher ein passives Kontingenzverständnis: Zufälle machen uns das Leben schwer, weil sie uns unvorbereitet treffen. Es ist eine Betrachtungsweise, wie sie sich auch dem eingekerkerten und vor dem sicheren Tod stehenden Ich in der Consolatio des Boethius aufdrängt, bevor es von der Philosophia eines Besseren belehrt wird. Bei Thomas (und auch bei Duns Scotus) ist jedoch ein überaus aktives Kontingenzverständnis festzustellen: Für sie ist Kontingenztheorie eine große Chance für die christliche Philosophie, denn mit ihr lässt sich sowohl Gottes Schöpfermacht als auch der freie Wille des Menschen als Handlungsfreiheit schon im Bereich der Philosophie konzipieren. Sie vermeiden damit einen Streit der Behauptungen zwischen Bibel und antiker Philosophie.32
29 Thomas von Aquin, Expositio libri peryermeneias I 14 f., in: Opera omnia, Bd. I* 1, hg. von Comissio Leonina, Rom und Paris 21989, S. 70–82. 30 Thomas von Aquin, Summe gegen die Heiden, Bd. 3, 2 Teile, hg. von Leo Gerken, übers. von Karl Allgaier, Darmstadt 1990 / 1996 (Texte zur Forschung 17/18), hier 3, 1, Bd. 1, S. 3. 31 Johannes Duns Scotus, Reportatio Parisiensis examinata I 38–44. Pariser Vorlesungen über Wissen und Kontingenz, hg., übers. und eingel. von Joachim Roland Söder, Freiburg im Breisgau 2005 (Herders Bibliothek der Philosophie des Mittelalters 4). – Vgl. Ingham, Mary B., Johannes Duns Scotus, Münster 2006 (Zugänge zum Denken des Mittelalters 3), S. 20 f. 32 Faust, August, Der Möglichkeitsgedanke. Systemgeschichtliche Untersuchungen, Bd. 2: Christliche Philosophie, Heidelberg 1932 (Synthesis 7), S. 212.
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4. Kontingenzdiskurs in der Dichtung Ausgehend von diesen Positionen der Schulphilosophie und -theologie entspinnt sich eine auch volkssprachig geführte Kontingenzdiskussion. Im Netz kontingenztheoretischer Signalwörter, Motivketten und Argumentationslinien entsteht in Walthers stæte-Lied ein raffiniertes Spiel von Anklängen und Umkehrungen. Mit der Kontingenzdiskussion verbindet sich Walthers Lied auf zwei grundsätzlichen Ebenen. Zum einen gibt es einen Zusammenhang zwischen Beständigkeits- und Kontingenzdiskurs, zum anderen zwischen Kontingenzdiskurs und Minneklage. Am semantischen Gehalt des Substantivs stæte lässt sich erkennen, dass es sich um einen Begriff mit diskursivem Bezug zur mittelalterlichen Kontingenzdiskussion in lateinischer und deutscher Sprache handelt. Das zeigt sich deutlich in der Opposition zum Begriff und zur Personifikation der Fortuna und in Übereinstimmung mit dem Begriff der constantia beziehungsweise der perseverantia. Wie Vera Vollmer herausgearbeitet hat,33 lassen sich für die stæte grundsätzlich eine lokale (ursprüngliche) und eine moralische (übertragene) Bedeutung unterscheiden. Die Bezüge zur Fortuna sind anhand der lokalen Bedeutung deutlicher erkennbar, diejenigen zur constantia beziehungsweise perseverantia anhand der moralischen. Stæte bedeutet zunächst ›was stehen kann‹.34 Stæte ist in lokaler Bedeutung nicht nur Beharrung, sondern absolute Bewegungslosigkeit. In anderen Walther-Texten lässt sich diese ursprüngliche Bedeutung von stæte in ausführlicher Ausgestaltung nachweisen: Walther kontrastiert in einem Spruch die Sentenz, dass ein Freund, der sich âne wanken lât behalten (54, VI, 3; L 79, 27), willkommen sei, und einen Bericht des Ich, dass es einige Male einen Freund gezwungenermaßen aufgeben musste, weil er sinewel an sîner stæte (54, VI, 6; L 79, 29) gewesen sei. Etwas Rundes (sinewel) kann natürlich gerade nicht stehen; wer also sinewel an sîner stæte ist, dem gebricht es an den fundamentalsten Voraussetzungen für stæte, er ist eben auch nicht âne wanken. In der Handschrift C folgt unmittelbar darauf eine Spruchstrophe desselben Bogenertons. In ihr wird ganz ähnlich die stæte mit dem Unbeweglichen, die unstaete mit dem Beweglichen assoziiert: Das Ich beschreibt denjenigen, der ›glitschig wie Eis ist‹ (slipfic ist als ein îs, 54, VII, 1; L 79, 33), das Ich ›aufhebt wie einen Ball‹ und dem das Ich ›in seinen Händen rund‹ 33 Vgl. auch für das Folgende Vollmer, Begriff der Triuwe und der Stæte (Anm. 2), S. 76–78. 34 Kluge, Friedrich, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin und New York 242002, S. 882 erklärt das nhd. Adjektiv »stet« als »Verbaladjektiv, wohl zu standan […], obwohl der Vokal nicht paßt; sonst zu stehen mit ti/tjo-Suffix«.
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ist (mich ûf hebt in balles wîs, / sinewelle ich dem in sînen handen, 54, VII, 2; L 79, 34 f.). Ein solcher solle das Verhalten des Ich nicht als unstæte rügen (54, VII, 4; L 79, 36), denn einem treuen Freund gegenüber sei das Ich einlœtic unde wol gevieret (54, VII, 6; L 79, 38). Der stæte entsprechen demnach die Bedeutungen ›unvermischt‹ und ›schön viereckig gemacht‹, der unstæte ›glitschig‹ und ›rund‹. Zwischen der unstæte und der Fortuna beziehungsweise dem gelücke gibt es nun eine doppelte Bedeutungsbrücke: Die Veränderlichkeit wird als Hauptcharakteristikum von allen dreien beschrieben.35 In der Consolatio Philosophiae des Boethius lässt die Figur der Philosophie in einer Prosopopöie die Fortuna sich selbst vorstellen: ›Und mich soll die unstillbare Begierde der Menschen auf eine meinen Gewohnheiten ganz fremde Beständigkeit festlegen? Dies[…] ist meine Stärke, und dies ist das Spiel, das ich unablässig spiele: Ringsherum (orbe) drehe ich das flüchtige (volubili) Rad, und mich freut es, das Unterste mit dem Obersten und das Oberste mit dem Untersten zu tauschen (mutare). Du steige nach oben, wenn es dir gefällt; doch unter der Bedingung, daß du das Heruntersteigen, wenn meine Spielregel es so verlangt, nicht als ein Unrecht ansiehst.‹ (Boethius, cons. 2, 2, 8–10)36
Wie diese Fortuna beschreibt nun Thomasin von Zerklære im Welschen Gast die unstæte: Waz ist unstæte? […]. si zimbert daz vil schiere hât zebrochen ir unstæter rât. unstætekeit verkêret snelle daz vierekke an sinewelle. daz sinwel si niht verlât, wan ez baz an vier ekken stât. […] nu stîget si, nu vellt si nider (Welscher Gast, V. 1837–1865)
Genauso rollend wie Fortuna und die unstæte wird in der mittelhochdeutschen Dichtung das gelücke gezeigt.37 Über eine solche runde Beschaffenheit ergibt sich die zweite Verbindung zwischen unstæte und Fortuna: Das Adjek35 Als gebräuchliche Epitheta für Fortuna erscheinen in der lateinischen Literatur des Mittelalters gerade auch inconstans und instabilis (Patch, Howard R., The Goddess Fortuna in Mediaeval Literature, New York 1967, S. 38). 36 Boethius [Anicius Manlius Severinus], Trost der Philosophie. Zweisprachige Ausgabe, übers. von Ernst Neitzke, Frankfurt am Main und Leipzig 1997, S. 63 (Ergänzungen der Originalausdrücke U. K.). 37 Zum Verhältnis von gelücke und Fortuna mit Bezug auf die Boethius-Stelle ausführlicher: Sanders, Willy, Glück. Zur Herkunft und Bedeutungsentwicklung eines mittelalterlichen Schicksalsbegriffs, Köln und Graz 1965 (Niederdeutsche Studien 13), S. 12–43.
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tiv sinewel, das Walther im erwähnten Spruch als Attribut zur unstæte setzt, wird sonst, wenn es nicht als Eigenschaft von Figuren oder Gegenständen gebraucht wird, vorzugsweise als Attribut zu gelücke verwendet: Gedanke und ougen die sint snel Gelücke daz ist sinwel Und belîbet niht an einer stat: […] Einer ûf stîget, den wil ez rîche[n], Der ander nider sîget: dem wil ez entwîche[n] Jener sitzet ûf dem rade: wer könde im gelîche[n] […] Diz rat betriuget uns alsus, Wenne ez ist wilder denne ein fuhs. […] Ez goukelt mit uns allen (Renner, V. 17269–17281)38
Die Opposition von constantia beziehungsweise perseverantia und Fortuna lässt sich also auch innerhalb der deutschen Literatur als Opposition zwischen stæte und unstæte beziehungsweise gelücke nachweisen. Bei unstæte und gelücke geht es um die passive Kontingenz nicht beeinflussbarer Umstände einschließlich der Charaktermerkmale anderer Menschen. In Walthers stæte-Lied changiert die angesprochene weibliche Figur zwischen stæte, also einer Gegenfigur zur Fortuna, in der ersten Strophe, einer wendemächtigen Figur (daz wende II, 9) in der zweiten Strophe, die deshalb und wegen des Attributs sælic (II, 9) der Fortuna gleicht, und einem Du, das ebenfalls mit sælic und sælde in Verbindung gebracht wird (III, 10 und IV, 7), aber auch – und zwar gerne, das heißt aus eigenem Antrieb – stæte ist (IV, 2). Hier spielt also der semantische Bereich der sælde herein, welcher die Kontingenz anders perspektiviert als unstæte und gelücke. Sælde begegnet in anderen Liedern Walthers in dreifacher Variation: als Geberin und Personifikation der Gelegenheit (Vrô Sælde, 31, V, 1; L 55, 35),39 als Schicksal (dem ez sîn sælde füeget sô, 65, II, 3; L 95, 29)40 und als von Gott Verliehenes (und lâze 38 Weitere Bsp.: gelücke daz ist sinewel dicke alsam ein bal (Kudrun, 649, 2); daz gelücke daz ist snel, / reht als ein kugel sinewel. / […] ez welzet her unde dar (Ulrich von Etzenbach, Alexander, V. 5059–5063); si sprach: »gelücke, daz ist sinewel. […]« (Wolfram von Eschenbach, Willehalm, 246, 28); ähnlich auch: Wolfhart sprach: »der liute heil / ist ungewegen und sinewel […]« (Biterolf und Dietleib, V. 12440 f.). Vgl. dazu mit weiteren Belegen Sanders, Glück (Anm. 37), S. 232–235. 39 Dazu: Wisbey, Roy, Fortuna and Love, Reason and the Senses. Traditional Motivs in Walther’s song Ich freudehelfelôser man (L 54, 37 ff.), in: Oxford German Studies 13 (1982), S. 115–142. 40 Dieses Lied steht in C unmittelbar vor Walthers stæte-Lied.
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got der sælden phlegen, 75, I, 13; L 105, 10). Im Gegensatz zur Negativfolie der unstæte, welche die Wechselhaftigkeit als negative Seite der Kontingenz betont, kommen hier verschiedene Kontingenzerfahrungen in den Blick und damit die Ambivalenz menschlichen Glücks. Im stæte-Lied wird sælde nur bei der wendemächtigen Herrin mit Veränderlichkeit in Zusammenhang gebracht, in den übrigen Fällen ist sælde sogar ausschließlich als Kontingenzerfahrung des glücklichen Zufalls dargestellt. An allen Textstellen bei Walther kann das Ich allerdings handelnd nichts ausrichten; sælde geschieht völlig unabhängig davon. Damit gleicht sie der Fortuna in der Consolatio Philosophiae des Boethius, welche Glücksgüter austeilt, auf die der Mensch jedoch keinen Einfluss hat. stæte hingegen bezieht sich im stæte-Lied auch und gerade auf das Ich und das Du, das heißt, es ist eine Dimension, in der der Mensch mitgestalten kann. Deshalb hat stæte neben der lokalen auch eine moralische Bedeutung: Sie ist Übersetzungsgleichung zu constantia und perseverantia und in diesem Sinne Gegenmittel zwar auch gegen die Unbeständigkeit der Umstände (constantia),41 aber vor allem gegen die Unbeständigkeit im eigenen Verhalten (perseverantia).42 Das Augenmerk wird also hier auf die Kontingenz als Handlungsspielraum des Menschen gerichtet. Zwar ist das gelücke tatsächlich auf die ohnmächtig erlebte Kontingenz festgelegt, und Haug hat insofern Recht, wenn er die literarisch-rhetorische Verwendung der Fortuna-Figur auf »alles Willkürliche im irdischen Bereich« reduziert.43 Aber der verbindende Gegensatz von unstæte und stæte zeigt, dass auch in der Dichtung ein anderes Kontingenz-Konzept jenem gegenübergestellt wird, indem diese beiden Begriffe unter moralischem und damit handlungs- und entscheidungsrelevantem Blickwinkel betrachtet werden. Anders als bei der ohnmächtig erlebten
41 »constantia: Festigkeit, Beständigkeit, Standhaftigkeit: labor, quem homo sustinet in continuata executione boni operis, quod pertinet ad constantiam, th. II. II. 136. 5 c; vgl. 4 sent. 29.1.2 c.« (Schütz, Ludwig, Thomas-Lexikon, http://www.corpusthomisticum.org/tlc.html# constantia am 14. Januar 2007, hg. von Enrique Alarcón, Navarra 32006). – »constantia autem facit firmiter persistere in bono contra difficultatem, quae provenit ex quibuscumque aliis exterioribus impedimentis, th. II. II. 137. 3 c; vgl. ib. 128. 1 ad 6.« (Ders., Thomas-Lexikon, http://www. corpusthomisticum.org/tlp.html#perseverantia am 14. Januar 2007). 42 »perseverantia: Ausdauer, Beharrlichkeit […]: perseverantia dupliciter dicitur. Quandoque enim est specialis virtus, et sic est quidam habitus, cuius actus est habere propositum firmiter operandi […] Alio modo accipitur perseverantia, prout est circumstantia quaedam virtutis designans permanentiam virtutis usque in finem vitae, verit. 24. 13 ad 3; vgl. 2 sent. 29.1.3 ad 2; […] virtus perseverantiae proprie facit firmiter persistere hominem in bono contra difficultatem, quae provenit ex ipsa diuturnitate actus, constantia autem facit firmiter persistere in bono contra difficultatem, quae provenit ex quibuscumque aliis exterioribus impedimentis, th. II. II. 137. 3 c; vgl. sent. 128. 1 ad 6.« (Schütz, Thomas-Lexikon [Anm. 41], http://www.corpusthomisticum.org/ tlp.html#perseverantia am 14. Januar 2007). 43 Haug, O Fortuna (Anm. 8), S. 4.
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Kontingenz stellt sich hier die Frage, bei welchen Handlungen stæte bewahrt werden soll. Der andere diskursive Zusammenhang, derjenige zwischen Minneklage und Kontingenzdiskurs, wird fast noch stärker über die Consolatio Philosophiae des Boethius vermittelt. In seiner Untersuchung der handschriftlichen Überlieferung der Consolatio Philosophiae im Hochmittelalter stellt Troncarelli verschiedene Zugänge fest. Im elften Jahrhundert wird das fünfte Buch zusammen mit Boethius’ Kommentar zu Aristoteles’ Peri hermeneias als logischer Beitrag zum Kontingenzproblem gelesen: Die Philosophia erscheint entsprechend in den Miniaturen als Dialectica, Boethius wird wie Aristoteles als lehrender Magister dargestellt.44 Aber nicht nur auf Logik, sondern auch auf körperliche Liebe bezieht im 11. Jahrhundert ein lateinischer marianischer Conductus45 die Kontingenzdiskussion, für die der Name Boethius als Chiffre dient: In hoc fallit quod docuit Boetius qui retulit quod mulier, si peperit, necessitas hoc arguit, quod cum viro concubuit46
Der Conductus ist in einer Sammelhandschrift aus dem 11. Jahrhundert überliefert, die deshalb doppelt berühmt ist, weil sie die älteste Quelle für aquitanische Polyphonie bildet und neben geistlichen Spielen, liturgischen Texten und Gesängen die früheste Sammlung lateinischer Lieder aus Aquitanien enthält.47 In diesem Kontext, der die Aufführung vor einem breiteren Publikum impliziert, zeigt sich, wie mit der Verbindung von Liebes- und Kontingenzthematik durchaus auch schalkhaft auf die akademische Kontingenzdiskussion Bezug genommen werden kann.
44 Troncarelli, Fabio, Boethiana aetas. Modelli grafici e fortuna manoscritta della Consolatio Philosophiae tra IX e XII secolo, Alessandria 1987, S. 119. 45 Spanke, Hans, Das öftere Auftreten von Strophenformen und Melodien in der altfranzösischen Lyrik, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 51 (1928), S. 73–117, wieder in: Studien zur lateinischen und romanischen Literatur des Mittelalters, hg. von Ulrich Mölk, Hildesheim 1983 (Collectanea 31), S. 279–323, hier S. 323. 46 »In diesem, was er lehrte, täuscht sich Boetius, der behauptete, dass, wenn eine Frau geboren hat, die Notwendigkeit beweise, dass sie mit einem Mann geschlafen hat« (Chant sur la Nativité de Christ Nunc clericorum concio [überliefert in Paris, Bibliothèque Nationale de France, ms. lat. 1139 [11. Jh.], Bl. 30v], in: Poésies latines du moyen âge, hg. von Edélestand Du Méril [Biblioteca musica Bononiensis 5, 3], Bologna o. J. [Nachdruck von: Paris 1847], S. 43–46, hier S. 45. – Übers. U. K.). 47 Fuller, Sarah, Hidden Polyphony. A Reappraisal, in: Journal of the American Musicological Society 24 (1971), S. 169–192, hier S. 169.
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In der ersten Hälfte des zwölften Jahrhunderts entdecken Bernardus Silvestris, Alanus von Lille, Wilhelm von Conches und Abaelard die (neu-)platonischen Aspekte der Consolatio Philosophiae wieder.48 Die Liebe wird bei Boethius als glühendes Verlangen nach der Wahrheit, nach dem Einen gefasst (sed cur tanto flagrat amore / veri tectas reperire notas?, cons. 5, carm. 3, 11 f.). Diese Liebe kann also problemlos für die Liebe stehen, welche den Weg zu Gott weist. Hier besteht ein Berührungspunkt mit der weltlichen Liebeslyrik. Es gibt (seit dem Hohelied und deshalb nicht nur neuplatonisch inspiriert) zahlreiche Beispiele dafür, dass Topoi des weltlichen Liebesdienstes zur Beschreibung und Imagination des Gottesdienstes verwendet werden. Stæte beziehungsweise perseverantia ist damit zugleich Norm für die Gottsuche und für die irdische Liebe. Die stæte erscheint bereits in den Werbesituationen der frühesten deutschen Liebeslyrik als Element des Dienstangebots des Ich in weiblicher und männlicher Variante: Ich bin mit rehter stæte einem guoten rîter undertân (Burggraf von Regensburg, MF 16, 1), ich wil ir niemer abe gegân / und biut ir stæten dienest mîn (Burggraf von Rietenburg, MF 18, 22).49 Durch solche Verfahren wird im Beständigkeitsdiskurs abgesehen »von den Glaubens- und Beichtbekenntnissen sowie von der Predigtliteratur […] die Beziehung zwischen Mensch und Gott gleichsam zurück auf die Erde geholt und in eine Mensch-Mensch-Relation umgebildet«.50 An der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert schließlich gewinnt ein Boethius-Bild die Oberhand, das schon lange Vorläufer hat, nun aber allgemeine Verbreitung genießt: Boethius als Märtyrer unter dem Namen des sanctus seuerinus, wie ihn eine Vita des 13. Jahrhunderts nennt.51 Die Consolatio Philosophiae wird nun sehr breit rezipiert,52 in Briefen und Predigten und im liturgischen Kontext: In Limoges wird das 9. Gedicht des dritten Bu48 Nauta, William of Conches (Anm. 25), S. xxxiii–xxxvi. Aber: »William’s commentary […] offers no in-depth analysis of future contingents and divine prescience such as we find in Anselm’s De concordia and in Abaelard’s Dialectica and the Logica ›Ingredientibus‹« (Ebd., S. lx). 49 Vgl. Schweikle, Günther, Minnesang, Stuttgart 21995 (Sammlung Metzler 244), S. 174, der die gängigen Klischees der nur männlichen beständigen Dienstminne und des erst mit der Rezeption der romanischen Dichtung einsetzenden Konzepts der Hohen Minne mit dem Hinweis auf den frühen Minnesang gleichermaßen entkräftet. 50 Wüstemann, Sybille, Der Ritter mit dem Rad. Die stæte des Wigalois zwischen Literatur und Zeitgeschichte, Trier 2006 (Literatur, Imagination, Realität 36), S. 25 mit Bezug auf u. a. Wisniewski, Roswitha, Stæte, in: Götz Grossklaus (Hg.), Geistesgeschichtliche Perspektiven. Rückblick – Augenblick – Ausblick, Bonn 1969, S. 47–60, hier S. 47. 51 Vita Nr. 6, in: Boethius, Philosophiae Consolationis libri qvinqve, hg. von Rudolf Peiper, Leipzig 1871, S. XXXV. – Vgl. Patch, Howard Rollin, The tradition of Boethius. A study of his importance in medieval culture, New York 1970, S. 13 und 58–60 weist auf das altprovenzalische Boethiuslied in einer Handschrift des 11. Jahrhunderts aus Orléans (hg. Hündgen) hin, das Boethius der zu ermahnenden Jugend als Beispiel vorhält. 52 Courcelle, Pierre, La consolation de philosophie dans la tradition littéraire. Antécédents et postérité de Boèce, Paris 1967 (Études Augustiennes), S. 136–138; 144–146, Abb. 68–70.
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ches als versus misse gesungen.53 Die Figuren der Consolatio verlieren an allegorischer Distanz und laden zu einer stärkeren personalen Begegnung ein. Das individuelle Schicksal des Boethius ermuntert zum geistigen Nachvollzug. In einer Handschrift des 12. Jahrhunderts, in der auch eine BoethiusVita enthalten ist, stellt ein Miniaturist die Begegnung zwischen Boethius und der Philosophia als höfisches Liebesgespräch dar: Philosophia ist nicht als Göttin, sondern als Königin, als höfische Dame dargestellt, die zu einem Troubadour spricht.54 Diese Konstellation greift die allegorische Liebesdichtung in allen Variationen auf.55 Für die Minneklage bedeutet dies umgekehrt, dass die Dame gleichzeitig Lehrfigur ist, welche das Ich bildet, und das Mittel, der Verzweiflung an der Kontingenz zu entrinnen. Die boethianische Kontingenzdiskussion ist in dieser Rezeptionsform der weltlichen Liebe nicht so feindlich, wie Walter Haug sie in seiner ›Begriffsund Metapherngeschichte der Fortuna vom frühen Mittelalter bis ins 16. Jahrhundert‹ als erste Etappe zeichnet: »das scheinbar Zufällige wirkt im Dienst der Providentia auf eine Umkehr des Menschen hin, die ihn auf jene Ordnung hinlenkt, die jenseits allen willkürlichen Wandels steht [und bewirkt,] daß man sich vom Irdischen abkehrt und dem Ewigen zuwendet.«56 Höfische Liebe erscheint aus kontingenztheoretischer Sicht viel eher als Mittelweg zwischen willenlosem Ausliefern ans Liebesglück und der Beschränkung auf geistige Liebe. Gerade die Diskussion des Begriffes der stæte bringt diese beiden Extreme zum Vorschein. Während Walthers äußerst reflektiertes und ja gerade an seiner Beständigkeit verzweifelndes Ich eher dem zweiten Pol zuneigt, inszeniert Hartmann von Aue das andere Extrem. Hartmanns Der mit gelücke trûric ist (MF 211, 27 ff.; 27–29 C)57 zeichnet ein Ich mit fatalistischer Veranlagung, das mit Schicksalsschlägen so umgeht, dass es sich öffnet für günstige 53 Katalog der Bibliothek der Abtei von Limoges aus dem 12. Jahrhundert, in: Manitius, Max, Handschriften antiker Autoren in mittelalterlichen Bibliothekskatalogen, Leipzig 1935 (Zentralblatt für Bibliothekswesen Beiheft 67), S. 300. – Vgl. Troncarelli, Boethiana aetas (Anm. 44), S. 124 f. 54 Cambridge, University Library, Ms. Dd VI 6, Bl. 3v. – Vgl. Troncarelli, Boethiana aetas (Anm. 44), S. 125 f. 55 Wolfzettel, Friedrich, Spätmittelalterliches Selbstverständnis des Dichters im Zeichen von Fortuna. Guillaume de Machaut und Christine de Pizan, in: Das Mittelalter (1996), S. 111–128, hier S. 115 f. bespricht das Beispiel des Remède de Fortune (ca. 1340) des Guillaume de Machaut. – Patch, The tradition of Boethius (Anm. 51), S. 24 f. und 43 weist u. a. auf die langen Boethius-Zitate über den freien Willen im Roman de la Rose von Jean de Meun (V. 17302 ff.) hin. 56 Haug, O Fortuna (Anm. 8), S. 21. 57 Burdach, Konrad, Reinmar der Alte und Walther von der Vogelweide. Ein Beitrag zur Geschichte des Minnesangs, Leipzig 1880, S. 106, Anm. 8 nimmt angesichts der intensiven stæte-Thematik in beiden Liedern sogar an, dass Walthers Lied von demjenigen Hartmanns beeinflusst ist.
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Schicksalswendungen: swaz mir geschiht zu leide, sô gedenke ich iemer sô: / ›Nu lâ varn, ez solte dir geschehen. / schiere kumet, daz dir vrumet‹ (I, 4–7). Gerade deshalb ist es nicht beständig und klagt darüber, dass diese fatalistische Unbeständigkeit ihn die Liebe seiner beständigen Verehrten gekostet habe: des hât mir mîn unstaetekeit / ein staetez wîp verlorn (II, 4). Damit ist Hartmanns Ich näher an der Kontingenzkonzeption des Boethius als Walthers. Das zeigt sich nur schon daran, dass in Hartmanns Lied das gelücke explizit genannt wird, also eine Figur, die für Boethius von zentraler Bedeutung ist.58 Das Verhältnis der beiden Lieder wurde bisher unterschiedlich beurteilt. Während Naumann Hartmanns liebendem Ich, das kokett zwischen stæte und unstæte schwankt, eindeutig den Vorzug gibt vor der seiner Meinung nach pedantischen Behandlung durch Walther,59 meint Scholz, dass Hartmanns Lied uns ein etwas unbedarftes Ich präsentiere, das die Beständigkeit banalisiere und »zur Option« mache, auf die man nach Belieben zurückgreifen oder es auch bleiben lassen könne«, Hartmann mache aus dem Thema also ein »Exempel einer Trivialisierung der Werte«.60
5. Wird Beständigkeit gemacht oder stößt sie zu? Auf der Grundlage des Beziehungsdreiecks zwischen Minneklage, Beständigkeits- und Kontingenzdiskurs liest sich Walthers Gedicht als kontingenztheoretische Problematisierung der Liebe. Das Gedicht teilt sich dabei in zwei Teile: Die ersten beiden Strophen erörtern das Thema eher theoretisch; die zwei Strophen der zweiten Hälfte beziehen sich stärker auf die beiden Figuren des Ich und des Du. An hervorgehobener Stelle, in der Mitte des Gedichts steht mit daz wende (II, 9) ein Ausdruck, der die beiden Teile unter kontingenztheoretische Vorzeichen stellt. Jede Strophe legt den Schwerpunkt außerdem etwas anders in der Frage nach der Gewissheit der Zukunft. Die erste Strophe macht höchst unterschiedliche Aussagen darüber, inwiefern das Ich sein Ergehen selbst bestimmen kann. Die Erzählung sît das diu liebe mir gebot, / daz ich stæte wære bî (I, 4 f.) einerseits und der Imperativ lât mich ledig (I, 7) andererseits lassen die Frage aufkommen, ob das Ich 58 Zu Boethius vgl. »This basic opposition of order [ordo] to disorder [fortuna] provides the essential tension in the Consolatio, since it is the point on which the entirety of Boethius’ system hinges« (Frakes, Fate of Fortune [Anm. 7], S. 63). 59 Naumann, Das Bild Walthers (Anm. 13), S. 12. 60 Scholz, ›Naive‹ Rezeption (Anm. 11), S. 57 f.
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aktiv beständig ist (wenn auch in Befolgung eines Befehls) oder ob die Beständigkeit ihm zustößt. In Walthers Gedicht könnte statt stæte ohne Verletzung der Konventionen des Minnesangs minne stehen. Damit würde Walther diskutieren, inwiefern das Ich der Minne willenlos ausgeliefert ist61 und inwiefern es sich gegen sie wehren kann. Diese Problematik verstärkt nun Walther, indem es gar nicht um die Macht der Liebe geht, sondern um die Frage, welchen Anteil das Ich an einem Verhalten haben kann, dass sich in der Zeit erstreckt. Damit steht nicht die Intensität oder das Maß der Liebe zur Diskussion,62 sondern die Dauer, diejenige Dimension also, die am engsten mit der Kontingenzfrage verknüpft ist. Im vierten Vers der ersten Strophe wird erklärt, wie es zu diesem unabänderlichen Zustand kam. Die Personifikation des Wohlwollens oder die freundliche Geliebte hat dem Ich befohlen, beständig in der Nähe zu sein. Das Adverb stæte betont hier die Dauer der geforderten Anwesenheit: sît daz diu liebe mir gebôt / daz ich stæte wære bî (I, 4 f.). Auf diesen Bericht des Ich folgt die Aufforderung an die Personifikation der Beständigkeit, es loszulassen: lât mich ledig liebe mîn frô stæte (»Lasst mich los, meine liebe Frau Beständigkeit!«). Das Ich wird also aktiv und wehrt sich gegen die Beständigkeit. Es wehrt sich gegen die geforderte Dauer seiner eigenen Präsenz. In der Verweigerung des Befehls richtet es sich nicht an dessen Verursacherin, die liebe (I, 4), sondern an die Personifikation der geforderten Dauer selbst. Daraus lässt sich schließen, dass nicht die Personifikation des Wohlwollens oder die Geliebte es gefangen halten, sondern seine eigene Beständigkeit. Das Ich erkämpft sich hier also Handlungsspielraum gegen sich selbst, oder vielleicht genauer: gegen die Handlungskonstanz, die es in Erfüllung eines äußeren Befehls der liebe an den Tag legt. Das Darstellungsmittel der fesselnden Personifikation legt nahe, dass das Ich nicht in der Lage ist, sein Handeln aus eigenem Antrieb zu ändern. Das Ich hat zwar sehr wohl Handlungsfreiheit, nämlich etwas zu fordern. Das bedeutet aber offenbar noch nicht, dass es auch die Freiheit besitzt, auch nicht beständig sein zu können. Walther konstruiert hier eine paradoxe Verschränkung, eine miseen-abîme der Kontingenz: Das Ich fordert die Möglichkeit, auch anders handeln zu können, gerade von der Eigenschaft seines Verhaltens, die ihm ein solches anderes Handeln verbietet. 61 Für solche Bsp. vgl. Schnell, Rüdiger, Causa amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur, Bern und München 1985 (Bibliotheca Germanica 27), S. 428. 62 Vgl. dazu die zahlreichen Aufrufe zur maßvollen Liebe in der mhd. Literatur (vgl. Walthers Lied 20; L 43, 9 ff.) und: Quod felicitas humana non consistit in delectionibus carnalibus […] Quod non est bonum nisi secundum quod est moderatum, non est secundum se bonum, sed accipit bonitatem a moderante (Thomas von Aquin, Summe gegen die Heiden, Bd. 3 (Anm. 30), hier 3, 27.)
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Thomas von Aquin lobt eine solche innerlich konstruierte Notwendigkeit, weil sie die Tugend befördere.63 Da jedoch Beständigkeit im Guten nach Thomas ohne göttliche Gnade nicht möglich ist,64 spitzt diese zeitliche Dimension das Verhältnis zwischen Ich und Liebe auf die Spannung zwischen freiem Willen und göttlicher Vorsehung zu. Die Liebe scheint in diesem Zusammenhang ein trickreiches Phänomen zu sein, denn es ist höchst ungewiss, ob sie den Menschen zustößt oder von ihnen gemacht wird. Diese Spannung, welche ja im Minnesang mit den Figurationen des muotes intensiv diskutiert wird,65 stellt die Frage nach aktiver Kontingenz. In seiner exegetischen Lehrschrift De archa Noe verdichtet Hugo von St. Victor im 12. Jahrhundert diesen Zusammenhang, indem er zwischen der Notwendigkeit, Begehren zu empfinden, und der Möglichkeit, Begehren auszuleben, unterscheidet.66 Auch Thomas von Aquin wählt die Liebe, um den freien Willen kontingenztheoretisch zu diskutieren. Er macht plausibel, dass ein reizendes Körperliches nicht ausreiche, um jemanden dazu zu zwingen, dies zu wählen. Nur der Maßlose gebe dieser Versuchung nach. Als Beispiel nennt Thomas unter anderem den Anblick einer Frau. In Analogie zu diesem Beispiel schließt nun Thomas darauf, dass die himmlischen Körper den Menschen nicht zu Leidenschaften zwingen können, sondern er seinen Willen dagegen setzen könne.67 63 Est enim duplex necessitas. Quaedam coactionis […] voluntati contrarium. – Est autem quaedam necessitas ex interiori inclinatione proveniens. Et haec laudem virtuosi actus non minuit, sed auget: facit enim voluntatem magis intense tendere in actum virtutis (Thomas von Aquin, Summe gegen die Heiden, Bd. 3 (Anm. 30), hier 3, 138). 64 Perseverare autem non dicit aliquid ut nunc operabile, sed continuationem operationis per totum tempus. Iste igitur effectus qui est perseverare in bono, est supra potestatem liberi arbitrii. Indiget igitur homo ad perseverandum in bono auxilio divinae gratiae. […] Oportet igitur adesse homini auxilium divinae gratiae ad hoc ut perseveret (Thomas von Aquin, Summe gegen die Heiden, Bd. 3 (Anm. 30), hier 3, 155). 65 In Walthers Liedern z. B. 28, V, 5; L 52, 11. / 32, VI, 6; L 57, 20. / 78, I, 2 und II, 1–4; L 110, 14 und 20–23. / 85, II, 6; L 114, 4. / 91, IV, 3; L 119, 7. / 93, III, 4; L 219, 4. 66 manifeste declarauit [Apostolus Paulus] omni homini, quandiu in hac uita est, concupiscendi necessitatem ex corruptione primae natiuitatis inesse, adiuuante tamen gratia Dei, ut eidem concupiscentie non consentiatur, nulli impossibile […] Impossibile est ut illud non sentiatis, sed non necesse est ut illi consentiatis. (Hugo von St. Victor, De archa Noe, hg. von Patricius Sicard, Turnhout 2001 [Corpus Christianorum Continuatio Mediaevalis 176], IV, 7, 41–51 auf S. 104). – Vgl. weitere ähnliche moraltheologische Positionen bei Schnell, Causa amoris (Anm. 61), S. 427. 67 Non enim est sufficiens causa nostrae electionis quod aliqua corporalia nobis exterius praesententur: patet enim quod ad occursum alicuius delectabilis, puta […] mulieris, temperatus non movetur ad eligendum ipsum, intemperatus autem movetur. Similiter etiam non sufficit ad nostram electionem quaecumque immutatio possit esse in nostro corpore ab impressione caelestis corporis: cum per hoc non sequantur in nobis nisi quaedam passiones, vel magis vel minus vehementes; passiones autem, quantumcumque vehementes, non sunt causa sufficiens electionis, quia per easdem passiones incontinens inducitur ad eas sequendum per electionem, continens autem non inducitur. non potest igitur dici quod corpora caelestia sunt causae nostrarum electionum (Thomas von Aquin, Summe gegen die Heiden, Bd. 3 (Anm. 30), hier 3, 85).
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Das Ausleben von Begehren ist also ein kontingentes Ereignis: Es ist nicht notwendig, sondern ein Mensch kann ihm entweder zustimmen oder nicht, das heißt, er kann frei entscheiden. Wenn Walthers Ich nicht beklagen würde, dass seine Beständigkeit es in die Verdammnis treibt, sondern sein Begehren, dann würde sich dies nahtlos in diese moraltheologischen Betrachtungen fügen: Hier lässt jemand Begierde zu und bringt sich deshalb um das Seelenheil. Walthers Ich beklagt jedoch nicht, von der Liebesleidenschaft nicht lassen zu können, sondern es beklagt, vom Nichtlassenkönnen nicht lassen zu können. So gesehen leidet das Ich unter potenzierter Sündenverfallenheit, formuliert dies aber – und hierin ist durchaus eine ironische Pointe zu sehen – mit dem Tugendbegriff der stæte! Es erstaunt dann kaum noch, dass das Ich sich fragt, ob solche Beständigkeit anständig sei (I, 2). Ja, rückblickend scheint das Ich schon im ersten Vers eine apologetische Strategie verfolgt zu haben, wenn es die stæte als angest unde nôt beschreibt. Rüdiger Schnell hat auf den Zusammenhang zwischen mildernden Umständen im kanonischen Recht und Formulierungen der Macht und des Zwangs in der Liebesliteratur hingewiesen: Als mildernder Umstand galt im 12. Jahrhundert nicht nur eine äußerliche Notlage wie Hunger, sondern auch ein starker innerer Antrieb zur Sünde. Entsprechend »konnte das Liebesverlangen und die daraus hervorgehenden Handlungen mittels der Personifikation ›Liebe‹ Zwangscharakter annehmen und deshalb mit Nachsicht rechnen. So entschuldigt im 7. Dialog von De amore der ungestüme Verehrer seine dreiste Forderung nach Liebeslohn mit der Liebesmacht, die ihn wie eine necessitas überkomme.«68 Kontingenztheoretisch betrachtet geht es hier zwar nicht darum, dem Liebesempfinden seine Eigenschaft als kontingentes Ereignis abzusprechen, sondern es geht hier um die kontingente Handlung der Nötigung. Der Mensch könnte zwar anders handeln, wird aber durch äußere Umstände davon abgehalten. Dies entspricht genau der aristotelischen Definition der Tyche (›Fügung‹).69 Damit wird einem solchen Liebenden durchaus Entscheidungskraft zugesprochen (vgl. Physik 197b5–9). Walther thematisiert also nicht die Liebe als bestimmende Macht, sondern macht die Bestimmung selbst zum Thema. Im Lichte der Kontingenzdis68 Nam si nimius me cogit affectus, et intrinseco vulnere sum sauciatus amoris, iusta me necessitas ab hac improbitate tuetur. Importuna namque necessitas nulla potest iuris regula coartari (zit. n. Schnell, Causa amoris [Anm. 61], S. 426 f. mit Bezug auf Andreas Capellanus, De amore, hg. von Emil Trojel, München 21964, S. 137, übers. von Schnell). – Vgl. auch Schnell, Rüdiger, Andreas Capellanus. Zur Rezeption des römischen und kanonischen Rechts in De amore, München 1982 (Münstersche Mittelalter-Schriften 46), S. 101 f. 69 Physik II, 5 197a5 f. Vgl. Boethius in herm. comm. sec. (Anm. 20), 3, 9; S. 203, 2–5 und cons. (Anm. 21), 5, 1, 13 sowie Thomas von Aquin, Expositio peryermeneias (Anm. 29), I 13, 172.
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kussionen des Mittelalters steckt durchaus Schalk dahinter: Als Gegenmittel gegen das wandelbare Glück, für das die Fortuna steht, wäre stæte eigentlich eine rettende Tugend, unter dem Vorzeichen der Diskussion des freien Willens erscheint sie hingegen als aufgenötigte Handlungskonstanz, wenn nicht gar als Verstocktheit.70 Eine ähnliche paradoxe Mehrdeutigkeit weist der Gegenbegriff71 wandel auf: Er bedeutet grundsätzlich ›Veränderlichkeit‹, was einerseits negativ als ›Fehler‹ und ›Sünde‹,72 andererseits aber positiv als ›Umkehr‹ und ›Buße‹ verstanden werden kann.
6. Kann beständiges Lieben gelingen? Dadurch dass Walther in der ersten Strophe die Beständigkeit in den Vordergrund stellt, macht er klar, was das paradoxe amoureux überhaupt zum Paradox macht. Denn warum sollte Liebe, die Gegenliebe will, paradox sein? Paradox wird sie nur dann, wenn die Beständigkeit des liebenden Ich es gerade daran hindert, dass seine Liebe Gegenliebe findet, weil es sich nicht einer Dame zuwenden kann, die gnädiger gesinnt wäre. Das Gegenmittel gegen das wandelbare (Liebes-)Glück, die Beständigkeit, droht als Sturheit und Verstocktheit dem Ich zum Untergang zu werden. Die kontingenztheoretische Frage, welche die zweite Strophe behandelt, stellt sich dem Publikum damit von selbst: Kann beständiges Lieben gelingen? Von der Beständigkeit, die sich durch ausbleibenden (irdischen) Lohn nicht beirren lässt, und als ›rein‹ (lûter, V. II, 6) bezeichnet wird, ist die Assoziation zur Vorstellung einer Beständigkeit im Glauben leicht. Die Motivation, Gott überhaupt suchen und gefallen zu wollen, ist sowohl bei Boethius als auch bei Thomas und Duns Scotus in neuplatonischer Weise ein natürliches beziehungsweise begnadetes Zurückstreben des Vereinzelten zum Einen, was als Liebe aufgefasst wird.73 Thomas führt aus, dass die Ausrichtung auf das Ziel, wohin die göttliche Gnade den Menschen lenke, vor allem sein Gefühle (affectus hominis) vollende. Die Liebe ist nach Thomas einerseits die Vollendung der Gefühle (dilectio), andererseits befähigt sie (amor) überhaupt zu beharrlicher Tätigkeit (constanter) ohne Zögern und ist damit Voraussetzung für die An70 per obstinationem, quando scilicet homo firmat suum propositum in hoc, quod peccato inhaereat (Thomas von Aquin, Summa theologica, in: Die deutsche Thomas-Ausgabe, Bd. 15, hg. von Emil Joseph Vierneisel, Heidelberg und Graz 1950, hier II. II. 14. 2 c). 71 Wisniewski, Stæte (Anm. 50), S. 47. 72 Z. B.: si jehent, daz niht lebendiges âne wandel sî, / sô ist ouch mîn frowe wandelbære (Walther 34, II, 3 f.; L 59, 21). – Ich hân iu geseit, waz ir missestât: / zwei wandel hân ich iu genennet (Walther 34, VI, 1 f.; L 59, 28 f.). 73 Boethius, cons. (Anm. 21), 4, carm. 6, 47 f.
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näherung an dieses Ziel. Constantia braucht also einerseits Liebe (amor), um überhaupt bestehen zu können, andererseits führt sie aber auch zur Vollendung der Gefühle (dilectio) hin.74 Anhand dieser neuplatonischen Vorstellung lassen sich die scheinbar widersprüchlichen Aussagen von Walthers Ich zur stæte ordnen. Auch die Reihenfolge der Strophen, zu der keine Alternativen überliefert sind, ist in dieser Hinsicht stimmig. Die auf das Liebesverhältnis abstellende Interpretation sieht eine Folge von Bitte um Erhörung (I), Bekräftigungen dieser Bitte mit zusätzlichen Argumenten (II, III) und paradoxer Kombination zwischen dem Lob der Dame für ihre Beständigkeit einerseits und andererseits der Aufforderung zur Abkehr davon, damit sie dem Ich den verdienten Liebeslohn gewähre (IV). Eine Lektüre unter den Voraussetzungen von Thomas’ Konzept profiliert nun einzelne Wörter weit deutlicher moraltheologisch (in heutiger Sprache: motivationspsychologisch) und lässt einen engen Zusammenhang zwischen Liebe und Beständigkeit im Spannungsfeld von Fremd- und Eigenbestimmung und mit Blick auf die Zukunft, also in kontingenztheoretischer Hinsicht aufscheinen. Mit der moraltheologischen Bedeutung von stæte, wie sie auch in Walthers Leich erscheint,75 treten geistliche Deutungsmöglichkeiten des stæte-Liedes hervor, ohne dass diese Minneklage einen Aufstieg zu Gott als dominantes Strukturmerkmal verwenden würde, wie es andere tun.76 Der Zusammenhang von Beständigkeit und Liebe mit Blick auf die Zukunft tritt an drei markanten Punkten des Gedichts hervor: Die Paradoxie liegt für die moraltheologische Lektüre nicht am Schluss, sondern in der ersten Strophe. Warum soll jemand wegen seiner Beständigkeit verdammt sein (ich muoz von mîner stæte sîn verlorn)? Der restriktive Nebensatz klärt es: Das Ich braucht (gnadenhafte) Liebe (diu liebe enunderwinde ir sich, I, 10). Die sich reimenden Stichwörter gerungen und gelungen in der Mitte des Gedichts unterstützen diese Forderung, indem sie verdeutlichen, dass das beständige Ringen bisher ein Hasardspiel war, allerdings ohne glücklichen Ausgang. Die daran anschließende Forderung das wende sælic frowe mîn (II, 9) bedeutet aus dieser Perspektive ein Gebet um Veränderung aus dem Gnadenschatz (sælic) der Herrin. Die Paradoxie des Schlusses löst sich hingegen auf: In geistiger Lesart schließt die stæte des einen, diejenige der anderen nicht mehr aus, sondern die Forderung an das beständige Du, dem Ich zum Lohn für das auf74 Thomas von Aquin, Summe gegen die Heiden, Bd. 3 (Anm. 30), hier 3, 151. 75 Das Ich bittet Gott, dass er gegen den fürsten ûz helle abgründe den Menschen sô starke stæte widerstrebe geben möge (1, I, 12 und II a1, 8; L 3, 12 und 20). 76 Vgl. Kundert, Ursula, Gefühl und Wissen im virtuellen Raum. Dynamische Konfigurationen in Minnesang und Enzyklopädik des 13. Jahrhunderts, in: Elisabeth Vavra (Hg.), Virtuelle Räume. Raumwahrnehmung und Raumvorstellung im Mittelalter. Akten des 10. Symposiums des Mediävistenverbandes, Krems und Berlin 2005, S. 109–134.
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richtige Begehren Genuss zu gönnen, ist auf neuplatonischer Folie unproblematisch. Alles beständig Suchende beziehungsweise Liebende strömt letztlich im Einen zusammen.
7. Macht Bitte um Gegenliebe Sinn? Wenn die Minneklage gerne gebetsähnliche Passagen verwendet, so greift sie mit dieser Form ein Argument derjenigen spätantiken Theoretiker auf, die sich für ein aktives Kontingenzverständnis im Sinne von Willensfreiheit einsetzen. Was in der ersten Strophe, gleichsam im Sinne einer Exposition dargelegt worden ist, nämlich, dass das Ich trotz freien Willens nichts an der Situation ändern kann, wird in der zweiten Strophe durch eine gebetähnliche Passage weiter ausgeführt: Es folgt eine direkte Anrede an die glückliche Herrin, die verstanden werden kann als Personifikation des Glücks (durch das Adjektiv) oder der Beständigkeit (weil diese vorher schon einmal angeredet wurde I, 7) oder als Geliebte (durch die Parallele zu sælic wîp in III, 10): daz wende sælic frouwe mîn, / daz ich der valschen ungetriuwen spot / von mîner stæte iht müeze sîn (II, 9–11). Die einfachste Interpretation dieser Stelle fasst die sælic frouwe mîn als Geliebte auf. Daraus ergibt sich, dass die Geliebte (durch das Ablassen von ihrer negativen Beständigkeit) verhindern soll, dass das Ich zum Gespött der andern, nämlich der Unanständigen und Unsolidarischen wird. Etwas komplizierter wird die Diskussion, wenn sælic frouwe mîn als Personifikation des Glücks oder der Beständigkeit gilt.77 Dafür spricht, dass das Ich an die Dame mit daz wende (II, 9) mit einem Bild appelliert, welches das umstürzlerische Glück evoziert, und dass Fortuna gerne in Form einer Klage angeredet wird, so auch bei Boethius.78 Damit wird der Spielraum im Bereich der kontingenten Ereignisse nicht mehr dem Ich als Handlungsmöglichkeiten eröffnet, sondern einer schicksalshaften oder gottgleichen Macht überlassen, die das Ich nur anrufen kann. Der Appell steht innerhalb des Gedichts an hervorgehobener Stelle: Er bildet das Scharnier zwischen den ersten und den letzten beiden Strophen. Das Lied breitet vor allem in den zwei letzten Strophen eine ganze Palette möglicher Glückszustände aus: heil, êre, werdekeit, fröide und sælde. Wäh77 Scholz, ›Naive‹ Rezeption (Anm. 11), S. 47 schlägt einer Anregung von Nicola Kaminski folgend genau umgekehrt vor, »daß sich die frowe selbst […] zur Stæte in Person macht«. 78 Vgl. Uellem autem pauca te cum Fortunae ipsius uerbis agitare; tu igitur an ius postulet animaduerte. »Quid tu, homo, ream me cotidianis agis querelis?« (Boethius, cons. [Anm. 21], 2, 2, 1 f.).
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rend über die weiblichen Figuren (stæte, wendemächtige frowe, dû) bereits gesagt werden kann, dass sie sælde besitzen, kann das Ich in Bezug auf sich selbst noch keine sichere Aussage machen, sieht sich also für seine Aussagen auch mit dem Kontingenzproblem konfrontiert. Das Ich ist sich gattungskonform dessen höchst ungewiss, was ihm die Zukunft bringen wird. Wie in der Minneklage üblich ist in der weltlichen Liebe geübte stæte – besonders aus männlicher Perspektive79 – eng mit der Hoffnung auf Lohn verknüpft.80 Beides zusammen, die Unsicherheit über die Zukunft und die Hoffnung auf Lohn, führen zu einem Topos der Kontingenztheorie, zur These nämlich, dass Kontingenz Voraussetzung für die Belohnung von Tugend und für den Sinn von Begehren, Bitten und Gebeten ist. Über diese These verbinden sich die Hauptillokutionen auf der Figurenebene (Bitte um Lohn) und auf der Erzählebene (Bitte und Klage als Gattungssignal). Dass die sælic frowe mîn als Schicksal, als Gott und als Geliebte interpretiert werden kann, passt ausgezeichnet zu den kontingenztheoretischen Möglichkeiten, die sich in einem solchen Fall ergeben. Das Schicksal stünde über dem freien Willen der Geliebten und könnte sie damit zur Liebe zwingen. Das entspräche der deterministischen Position. Gerade gegen die These, dass das Leben vom Schicksal bestimmt werde, wenden sich aber schon in der heidnischen Antike Kontingenztheoretiker unter anderem mit dem Argument, dass sonst Gebete sinnlos wären.81 Nemesius, der Bischof von Emesa, verfolgt im 4. Jahrhundert diese Argumentationslinie für seine Schrift De natura hominis, die im Mittelalter zweimal, durch Alfanus von Salerno und durch Burgundio von Pisa, ins Lateinische übersetzt wird.82 Dass es kontingente Ereignisse geben müsse, begründet schon Aristoteles anschaulich damit, dass sonst Beraten und Verhandeln sinnlos wären 79 Vollmer, Begriff der Triuwe und der Stæte (Anm. 2), S. 138 f. 80 Dazu ausführlicher ebd., S. 116–126, zu Gemeinsamkeiten zwischen weltlicher Liebe und Gottesdienst v. a. S. 124. 81 Stellen, welche die Gängigkeit des Arguments belegen bei Amand, David, Fatalisme et liberté dans l’antiquité grecque. Recherches sur la survivance de l’argumentation morale antifataliste de Carnéade chez les philosophes grecs et les théologiens chrétiens des quatre premiers siècles [Erstdruck Löwen 1945], Amsterdam 1973 (Recueil de travaux d’histoire et de philologie 3, 19), S. 62 und passim. 82 Verbeke, Gérard, Fatalism and Freedom, in: Ders. (Hg.), The Presence of Stoicism in Medieval Thought, Washington D. C. 1983, S. 71–96, hier S. 76 mit Bezug auf Nemesius von Emesa, De Fortuna, in: Ders., De natura hominis. Aus dem Lat. übers. von Burgundio von Pisa, hg. von Gérard Verbeke und J. R. Moncho, Leiden 1975, 34, 59–11 (entspricht Matthaei 289–294), hier 34, 59–64 (Matthaei 289): Qui circulari motui astrorum causam omnium quae fiunt ascribunt, […] omnem civilitatem inutilem ostendunt. Nam inconvenientes quidem sunt leges, superflua vero iudicia punientia eos in his quorum non sunt causa; irrationabiles vero sunt et vituperationes et laudes; insipientes vero et orationes, omnibus secundum fortunam existentibus.
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(De int. 18b31 f.).83 In seinem größeren Kommentar nutzt Boethius diese Aristoteles-Stelle zu einer ausführlichen Verteidigung des freien Willens gegen die Meinung, die unter anderem die Stoiker verträten, dass alles aus der Notwendigkeit des Schicksals hervorgehe und dass alles, was vom Schicksal angeordnet werde, mit Notwendigkeit eintreffe (contingere).84 Wir würden auch nicht etwas mit glücklichem oder unglücklichem Ausgang tun oder erleiden (vel aliquid feliciter vel aliquid infeliciter facere vel pati)85. In der Consolatio Philosophiae stehen im Rahmen des großen Lehrgesprächs über den freien Willen hingegen moralische Beispiele im Vordergrund: Über das Verhalten der Menschen könnte in einem solchen Fall gar nicht geurteilt werden, es gäbe keine Tugenden und Laster, Erhoffen oder Erbitten von Begehrenswertem wäre sinnlos.86 Auch mittelalterliche Autoren folgen dieser Argumentationslinie,87 wie zum Beispiel Thomas von Aquin in der Summa theologiae (I, q. 83, a. 1) und in der Summa contra gentiles (3, 96). Wieder dienen die Stoiker als Absetzungsfolie.88 Aus der Interessenlage eines Tho83 necesse est oppositarum hanc esse veram, illam vero falsam, nihil autem utrumlibet esse in his quae fiunt sed omnia esse vel fieri ex necessitate. Quare non oportebit neque consiliari neque negotiari quoniam, si hoc facimus, erit hoc, si vero hoc, non erit (Aristoteles, De interpretatione, übers. von Boethius [Anm. 19], S. 15, 12–16). 84 Boethius in herm. comm. sec. (Anm. 20), 3, 9; S. 217, 19–23. 85 Ebd., 3, 9; S. 218, 20 f. 86 quid enim vel speret quisque vel etiam deprecetur, quando optanda omnia series indeflexa conectit? Auferetur igitur unicum illud inter homines deumque commercium, sperandi scilicet ac deprecandi (Boethius, cons. [Anm. 21], 5, 3, 33 f.). 87 Übersicht bei Amand, Fatalisme et liberté (Anm. 81), S. 41–68. 88 »die Stoiker […] behaupteten, Bittgebete (orationes) seien zu nichts nütze, so wie sie meinten, der Wille (voluntates) der Menschen und ihre Wünsche (desideria), aus denen die Bittgebete hervorgehen, seinen in dieser allgemeinen Ordnung (universalis ordo) nicht inbegriffen. Denn wenn sie sagen, aus der allgemeinen Ordnung der Dinge folge (sequitur), ob Bittgebete ergingen oder nicht, nichtsdestoweniger dieselbe Wirkung in den Dingen, so weichen die Gebete der Bittenden (vota orantium) offensichtlich von dieser allgemeinen Ordnung ab. […] Bittgebete (orationes) haben […] einen Wert: nicht als ob sie die Ordnung des ewigen Plans (ordo aeternae dispositionis) veränderten, sondern insofern sie auch unter dieser Ordnung eigenständig sind« (Thomas von Aquin, Contra gentiles [Anm. 62], 3, 96; übers. von Allgaier [Anm. 30], Bd. 2, S. 81, Ergänzungen der Originalausdrücke U. K.) – Vgl. auch die vorangehende Stelle: quod, sicut providentiae immobilitate necessitatem rebus provisis non imponit, ita etiam nec orationis utilitatem excludit (Thomas von Aquin, Contra gentiles [Anm. 62], 3, 95). – In der Absetzung werden stoische Meinungen etwas überprofiliert, gibt es doch durchaus stoische Versuche, die Schicksalvorstellung mit der Wirksamkeit von Gebeten zu versöhnen (vgl. Seneca, Quaestiones naturales II 37, 2–3; christliche Rezeption bei Augustinus, De civitate Dei V 10; weitere Stellen s. Pseudo-Plutarch, De fato – Peri heimarmenes, hg., auf Italienisch übers. und komm. von Ernesto Valgiglio, Rom 1964, S. 62). – Vgl. »A well educated man [in the late Middle Ages] might know that the Stoics thought everything was governed by fate and that virtue is the highest good, and little else« (Ebbesen, Sten: Where were the Stoics in the late Middle Ages?, in: Steven K. Strange und Jack Zupko [Hgg.], Stoicism. Traditions and Transformations, Cambridge 2004, S. 108–131, hier S. 108 f.).
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mas wird die Frage nach der Allmacht Gottes also zu einem Kampf gegen das notwendige Schicksal. In mittelalterlicher kontingenztheoretischer Sicht stellt also nur schon die Gebetform klar, dass der Mensch Willensfreiheit besitzt. Entsprechend fällt bei thomistischer Lektüre auf, dass in den Gedichten die Frau Liebe oder Beständigkeit als schicksalsähnliche Figur gestaltet wird. Hier Kontingenz zu schaffen, erreicht das Ich, indem es zu ihr wie zu Gott betet und damit eine Kommunikation eröffnet, welche Kontingenz unterstellt, da ohne Handlungsfreiheit sowohl der angesprochenen Macht als auch des Ich ein solcher Appell mit Blick auf die göttliche Macht nicht sinnvoll bzw. mit Blick auf das Ich nicht möglich wäre. Im Gegensatz zu Boethius, der das paradoxe Nebeneinander von göttlicher Vorsehung und freiem Willen mit den unterschiedlichen Erkenntnisweisen von Gott und Mensch und dem unterschiedlichen Zeitbezug löst, erklärt Thomas kurz vor dieser Zurückweisung der stoischen Meinung, wie (willkürliches) Gebet und Vorsehung zu vereinbaren seien, nämlich über die platonische Liebe zum Guten und die neuplatonische Vorstellung von der Teilhabe: Es liegt im Wesen der Freundesliebe (amicitiae), daß der Liebende (amans) dem Wunsch (desiderium) des Geliebten (amati) Erfüllung wünscht, insofern er ihm Gutes und Vollkommenheit wünscht. […] Gott sein Geschöpf liebt (amat); und er liebt ein jedes umso mehr, je mehr es an seiner Gutheit (bonitas) teilhat, die er als erstes und vornehmlich liebt […]. Er will also, daß sich die Wünsche des vernünftigen Geschöpfs (rationalis creatura) erfüllen, das unter den übrigen Geschöpfen am vollkommensten an der göttlichen Gutheit teilhat (participat). […] Also gehört es zur göttlichen Gutheit, daß sie die Wünsche des vernünftigen Geschöpfs erfüllt, die ihr im Bittgebet (oratio) vorgetragen werden […] insofern es das Gute wünscht.89
Wird die wendemächtige liebe frowe mîn nicht als Schicksal, sondern zugleich als Gott und Geliebte aufgefasst, läuft die Argumentation des Ich in der dritten Strophe darauf hinaus, dass ihm die Handlungsalternative der Trennung von der Geliebten nicht gut täte (III, 7–9), und würde die Geliebte dazu motivieren, seine Bitte zu erhören, und zwar gerade deshalb, weil sie beide an einer übergreifenden Tugend teilhaben, an der stæte. Die zweite Strophe löst damit den gordischen Knoten der ersten mit einem weiteren Paradox, indem sie den Fokus vom Ich weg auf eine wendemächtige Gewalt verlagert, die dem Ich helfen soll, dass seine beständige Werbung auf diese einvernehmliche Weise endlich gelingt. Hatte Kolb noch die Aussagen über die Schicksalhaftigkeit von Liebe als frühhöfisches Motiv und die Auffassung von einer eigeninitiativen Liebe als spätere Entwicklung proklamiert, zeigte Schnell in Causa amoris Beispiele, 89 Thomas von Aquin, Contra gentiles 3, 95 f., übers. Allgaier (Anm. 30), Bd. 2, S. 73 f., Ergänzungen der Originalausdrücke U. K.
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die gegen diese Aufteilung und im Gegenteil geradezu für eine Kontamination beider Betrachtungsweisen durch die Kombination der von Schnell als »Bildmotive« gewerteten Elemente sprechen.90 Pfeileschießender Amor und mächtige Minne sind natürlich solche Bildmotive und Topoi der Liebesbeschreibung, aber sie gewinnen entschieden mehr Brisanz vor dem Hintergrund einer mit dem Problem der göttlichen Vorsehung und des freien Willens konfrontierten christlichen Philosophie. Die Frage, ob die äußeren Gewalten, welche die Liebe bewirken, nur Darstellungsmittel oder ›geglaubte‹ äußere Mächte seien, kann zwar auch so nicht gelöst werden, aber die Vermengung von Personifikationen und Figuren (minne / frouwe) und die gebetähnlichen Passagen können als Strategie zur Abmilderung des stoischen (Liebes-)Schicksals gegenüber einer Aufwertung der kontingenten Handlungen beziehungsweise als Verschränkung beider Betrachtungsweisen gewertet werden.
8. Welche Handlungsalternativen gibt es für die Zukunft? An der sprachlichen Gestaltung der zweiten Hälfte von Lied 66 fällt auf, dass sich in der dritten Strophe die Konjunktive häufen (Het, möht, Solt, müeste, wære) und dass die Pronomina von si und der auf dû wechseln. Geradezu im harten Kontrast trifft die Verantwortung delegierende Gebetspassage der zweiten Strophe auf die dritte Strophe, in der ein Ich ausdrücklich seine Handlungsalternativen erörtert. Ein solches Denken in Alternativen bringt Duns Scotus in die Kontingenzdiskussion ein. Duns entwirft eine neue Lösung der Frage, wie Vorsehung und Allwissenheit Gottes angesichts einer kontingenten Welt zu denken ist. Wichtig für diese Art von Kontingenz ist es, dass sie nicht nur konkreten Dingen, sondern allen Verstandesdingen zugesprochen wird.91 Duns teilt seinen Lösungsvorschlag in zwei Schritte, die logisch, aber nicht zeitlich, aufeinander folgen: Gottes Verstand erkennt die Möglichkeiten, und Gottes Wille wählt daraus diejenigen aus, die zur Verwirklichung kommen sollen. Gott wird also eine kontingente Handlung zugebilligt und – das ist für die Übertragung auf die Literatur wichtiger – ein Denken in Alternativen unterstellt. Was Gott schließlich auswählt, ist logisch widerspruchsfrei, aber nur eine von vielen möglichen Welten. Duns Scotus muss erklären, wie die Erst90 Schnell, Causa amoris (Anm. 61), S. 227 f. 91 Also eine »[a]lethische Kontingenz« de re im Gegensatz zur »ontische[n] Kontingenz« de dicto bei Thomas von Aquin (Poser, Hans, [Art.] Kontingenz. I. Philosophisch, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 19, Berlin und New York 1987, S. 544–551, hier S. 544 und 546).
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ursache, also Gott, Seiendes in kontingenter Weise verursachen kann. Duns Scotus beschreibt in der Ordinatio und in De primo principio die entsprechende Eigenschaft Gottes als Lieben (amare), genauer als »nicht-naturhafte, frei-willige Liebe zu den durch es hervorbringbaren Wirkungen«.92 Überträgt man dies nun auf das Gedicht, avanciert der Ich-Erzähler zum Analogon von Gott vor der Schöpfung, allerdings im Gegensatz zu diesem, mit einem beschränkten Vorstellungsrepertoire der Kontrafaktizität und mit einer zeitlichen Unterscheidung zwischen Vorstellung und Verwirklichung. Indem das Ich sich als Liebender zumindest eines Teils seiner Vorstellung, nämlich der Dame, des herze lieb, ausgibt, drängt es sie zur Verwirklichung, – sozusagen ein scotistisches Pygmalion-Motiv. Duns Scotus betont das wechselseitige Entsprechungsverhältnis von logischer und realer Möglichkeit, das in der sie umgreifenden ›ersten Wirklichkeit‹, dem Willen, gründet. Der Wille »stellt die entscheidende Realisierungsinstanz dar, um ein Mögliches (possibile) aus der bloßen Denkbarkeit in die Wirklichkeit zu überführen. Indem der Wille auf die im Intellekt vorgestellten logisch möglichen Dinge (possibilia logica) Bezug zu nehmen vermag, gewinnt das logisch Mögliche den Charakter des prinzipiell Verwirklichbaren. Es ist mehr als ein reines fictum, es ist ein Seiendes möglicher Wirklichkeit.«93 Die Dame selbst und ihre Gegenliebe werden also durch die beschriebene Liebe des Ich von reinen fiktiven Gegenständen zu prinzipiell Verwirklichbarem. Damit geraten die Überlegungen zu Handlungsalternativen in der dritten Strophe in den Blick: Sprachlich markiert sind sie mit der Korrespondenz von solt ich und solt dû. Das solt ich erwägt eine Möglichkeit, die das Ich sogleich verwirft, obwohl sie – so nehmen wir an – prinzipiell verwirklichbar wäre: solt ich danne mîn herze von dir scheiden, / sô müeste ich mir selben leiden (III, 7 f.). Klanglich entsprechend, nun aber mit appellativer Funktion, fordert das Ich die Frau auf, doch zu berücksichtigen, dass es nun schon lange Kummer ertrage: doch solt dû gedenken, sælic wîp, / daz ich nû lange kumber hân (III, 10). Damit ist nun genau die komplementäre Möglichkeit angesprochen, dass nämlich nicht das Ich, sondern die Frau ihr Verhalten ändert, und dadurch die unhaltbare emotionale Situation des Ich ein Ende finden kann. Das prinzipiell Verwirklichbare wird nun sprachpragmatisch durch den Appell und scotistisch durch das emotionale Engagement des Ich zur Verwirklichung gedrängt. 92 Söder, Joachim Roland, Kontingenz und Wissen. Die Lehre von den futura contingentia bei Johannes Duns Scotus, Münster 1999 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters N. F. 49), S. 81. 93 Ebd., S. 200 mit Bezug auf Johannes Duns Scotus Lect. I d. 39 n. 51 (Vat. XVII 495) und Ord. I d. 38/2–39 n. 16 (Vat. VI 418).
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Voraussetzung der Verwirklichung ist nun aber nach Scotus, dass die zu verwirklichende Welt widerspruchsfrei vorgestellt wurde. Das scheint im Minnesang keineswegs immer der Fall zu sein. Ein wahres Meisterstück solcher Widersprüchlichkeit ist das Lügenlied Berngers von Horheim (MF 113, 1 ff.; 8–11 C), das in jeder Strophe glückliche Liebe behauptet, um sie im Refrain als Lüge hinzustellen. Hier wird ein Zustand gegen seinen Widerspruch gesetzt, also – im Gegensatz zu Walthers Lied – sogar logisch genau verfahren in der Produktion von Widersprüchlichkeit. Damit ist aus Scotus’ Sicht die Verwirklichung der vorgestellten Liebe sowieso schon unmöglich. In Walthers stæte-Lied werden keine widersprüchlichen Thesen vertreten. Auf der propositionalen Ebene oder mit Scotus im Augenblick der Vorstellung des Intellekts lässt sich alles miteinander vereinbaren. Die Widersprüche treten auf der illokutionären Ebene, also im Bereich des Willens auf. Gerade die vierte Strophe spitzt die unterschiedlichen Illokutionen der Äußerungen des Ich zu einem klaren Gegensatz zwischen dem Lob der weiblichen Beständigkeit und der Forderung, dass die Dame das Ich erhören soll, zu. Nicht die Verstandesleistung des Ich verhindert also die Verwirklichung, sondern die emotionale Unfähigkeit, eine Wahl zwischen einander ausschließenden Willensakten zu treffen. Aus scotistischer Perspektive erwächst also ein Interesse aus der Gestaltung von Kontingenz auf verschiedenen Ebenen: Erstens tritt dadurch das Interesse am Kontrafaktischen in den Vordergrund, ein Vorstellungsspiel mit Möglichkeiten, die gerade nicht zur Verwirklichung kommen. Und zweitens fällt dem auf Widerspruchslosigkeit erpichten scotistischen Leser auf, dass die Vorstellungswelt der Minnesänger nur so von Widersprüchen wimmelt, dass es also ganz einsichtig ist, dass sie nicht zur Verwirklichung kommen. Oder umgekehrt ausgedrückt: Die Unmöglichkeit, Gegenliebe zu schaffen, wird ganz treffend in eine Darstellung von Widersprüchen gefasst.
9. Lässt sich die Zukunft beeinflussen zugunsten eines Auswegs aus dem paradoxe amoureux? Das für die Minneklage typische paradoxe amoureux, dass das Ich die Geliebte weder verlassen noch haben kann (Rudolf von Fenis: sît ich si mac weder lâzen noch hân, MF 80, 4), hat sich durch die kontingenztheoretische Lektüre von Walthers Gedicht mit weiteren Problemen angereichert: mit dem Problem des freien Willens angesichts einer höheren Macht, mit der Frage, ob Beständigkeit ein Mittel gegen das wandelbare Liebesglück oder eher tadelnswerte Sturheit darstelle, mit der Unwahrscheinlichkeit, dass das emo-
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tionale Durcheinander des Ich zur Verwirklichung seiner Wünsche führen kann. Gerade durch die Paradoxa und Gegensätze macht das Gedicht jedoch deutlich, dass es etwas außerhalb der Welt der Verwirklichungen gibt und diese Welt – Grundlage der Literatur – feiert es doppelt: Hier ist ein Lohn zu holen, der nicht auf die Gegenliebe der Dame angewiesen ist. Hier kann Freude und Vergnügen im Lektürevorgang ›gemacht‹ werden. Denn auf der Textoberfläche beschwört das Ich regelrecht den Weg zur ersehnten vergnüglichen Vereinigung. Das staete-Ostinato der ersten beiden Strophen fokussiert den Lektürevorgang auf einen einzigen Begriff. Damit wird die stæte-Lektüre lautlich inszeniert als stæte Lektüre. Und tatsächlich ist im Verhaltensschrifttum des 13. Jahrhunderts stæte vor allem eine LeseTugend. Topisch94 ist in diesem Zusammenhang Eccl. 27, 12 Stultus ut luna mutatur, sapiens permanet ut sol. Entsprechend diesem Bibelwort (jedoch ohne ausdrückliches Zitat) ist für Thomasin von Zerklære im Welschen Gast der Bildungsverweigerer ein Paradebeispiel dafür, wie man dem wandelbaren Glück gerade nicht begegnen soll. Unmittelbar nachdem Thomasin die unstæte definiert und beschrieben hat, erläutert er den positiven allgemeinen Grundsatz swer stæt wil sîn, der sî an einem (Der welsche Gast, V. 1894) mit verschiedenen Beispielen, zuerst mit einer Anleitung, dass stæte die richtige Lektüre-Haltung sei: Der pfaffe der vil buoche hât sî stæte an eim […] swer von buochen wîstuomes gewin suochen wil, der habe vast, swenner begrîft des sinnes ast. […] der hât ein guote rede vür niht dem si ze merken niht geschiht swers aver wol merken kan, der vindet grôze vreude dran. (Der welsche Gast, V. 1895–1916)
Das Studium als Gegenmittel gegen das runde Glück behandelt um 1300 auch Hugo von Trimberg: Swer aber volget der wîsen lêre, / Der gewinnet ê friunde, guot und êre / Denne jener, den dünket er sî flücke [der meint, er könne nicht abstürzen,] / Und sich lêt an valsch gelücke. / Gedanke und ougen die sint snel, / gelücke daz ist sinwel (Der Renner, V. 17265–17270). Entsprechend der Einteilung des Renner in Lehren zu den sieben Todsünden wird dies in der Distinctio zur Trägheit (lazheit) abgehandelt. Die Forderung nach stæte formuliert Hugo deshalb ex negativo als Zeitenklage über faule 94 Belegstellen aus der deutschen und lateinischen exegetischen Literatur verzeichnet Vollmer, Begriff der Triuwe und der Stæte (Anm. 2), S. 84.
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Schüler der Gegenwart, welche kein Auge auf die schönen und beständigen Töchter der Mutter Grammatik werfen mögen: Künste muoter und schuoler amme Gramaticâ, von der diu flamme Gotes liebe wirt entzündet, Di si gelêrten herzen kündet, Diu hât sehs töhter in irm krâme, Schœne und stête […] Ir krâme was wîlent vil genême, Der ist nu leider widerzême: Aleine im offen stê diu tür, Doch gênt die schuoler alle vür Und kêrent ir ougen niendert dar (Der Renner, V. 16665–16670; 16727–16731)
Im Reigen mit Trägheitsbeispielen aus allen Ständen wird auch die Faulheit der Schüler und der Pfaffen spezifiziert. Der Schüler ist zwar bibliophil, aber lesefaul (Der koufet schœniu büechelîn, / Diu er mit im ze lande füere / Und nimmer mêr si denne gerüere, V. 16766–16768). Der faule Prediger lernt ein paar wenige Messen auswendig, mit denen er dann durch die Lande zieht, ohne sich um tiefere Schriftkenntnis zu bemühen (Der lernet fünf messe, zwuo lêt er sîn. / Mit disen loufet er durch diu lant. / Der schrift ist im niht mêr bekant / Denne die fünfe, die er kan: / Die selben videlt er nâch wân, V. 16770–16774). Die Verhaltensschriftsteller Thomasin und Hugo empfehlen also beide intensive Lektüre im Sinne eines beständigen Bemühens um ein vertieftes Verständnis als Gegenmittel gegen das Auf und Ab menschlichen Glücks. Thomasin verspricht als Lohn für die Anstrengung der Lektüre und des Lernens großes Vergnügen. Gemäß der moraltheologischen Anlage des Renners kann, wer dadurch der Trägheit entflieht, auf Belohnung im Jenseits hoffen. Auf einer Metaebene könnte diese betont beständige Suche nach Liebe (über den beschriebenen diskursiven Hintergund der beständigen Suche nach Gottes Liebe durch intensive Schriftexegese) die unablässige Beschäftigung mit Liebesdichtung auf dem Weg zur Geliebten propagieren. Wo dieser Lektüreweg enden könnte und sollte, inszeniert das Ich lautlich, indem es das stæteOstinato der ersten zwei Strophen in den zwei weiteren mit einer Häufung der Wortfamilie der fröide ablöst. Nicht ganz so oft, aber immerhin viermal kommen ihre Vertreter in den letzten beiden Strophen vor und schaffen damit zumindest lexikalisch und klanglich ein Ambiente des Vergnügens, das im Aufführungsmoment über die Lust am Gleichklang performativ tatsächlich Vergnügen schaffen kann – wenn auch ein anderes als das Ich explizit ersehnt.
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10. Schluss Die Quaestio-These von Korn kann nun widerlegt werden: Das Muster für Walthers Gestaltung des stæte-Themas in den vier Strophen ist nicht die Quaestio, sondern die argumentative Rede. Walther greift in Lied 66 keineswegs eine einzelne Quaestio der wissenschaftlichen Literatur auf, sondern die kontingenztheoretische Betrachtung hat gezeigt, dass er verschiedene Topoi sowohl der universitären und als auch der außeruniversitären Kontingenzdiskussion bedient und mit der Liebesthematik verbindet und damit die Minneklage als vieldimensionales Nachdenken über eine ungewisse Zukunft gelesen werden kann. Obwohl die Thomas-Lektüre auch einen abstrakten Sinn des Personifikationsspiels herstellen konnte, ist die Personifikation als rhetorisches Mittel kein typisches Stilmittel der Quaestio. Außerdem ist der appellative Charakter sehr stark, was für die Quaestio völlig unüblich ist. Auch Korns Analyse, dass hier eine These argumentativ in ihr Gegenteil verkehrt würde, trifft so nicht zu, denn die Widersprüche in Walthers Lied, das hat vor allem die Scotus-Lektüre gezeigt, sind eben nicht auf der propositionalen Ebene angesiedelt, sondern im Bereich der Willensäußerung, d. h. auf der illokutionären Ebene zu finden. Die Gemeinsamkeiten ergeben sich aus dem gemeinsamen Grund von Rede und Quaestio, nämlich aus der Argumentationstheorie (Dialektik). Der argumentativen Rede entspricht der Aufbau: I.
Ein Paradox wird als Stilmittel der Aufmerksamkeits-Erzeugung und Exposition des Problems in der ersten Strophe nicht so sehr formuliert als vielmehr inszeniert. II. Die zweite Strophe enthält die Erzählung (Narratio) mit einem Vergleich der eigenen Handlung im Verhältnis zur Norm und das Hauptanliegen in Form eines Appells. III. In der dritten Strophe werden die Einwände, in diesem Fall in Form von Alternativvorschlägen, entkräftet. IV. Die vierte Strophe schließlich bringt die Perlokution: Mit einer emotionalen Steigerung durch die Umkehrung des Häufigkeitsverhältnisses von stæte zur fröide und mit dem Lob der Dame wird die emotionale Empfänglichkeit für den appellativen Schlusssatz geschaffen. Dieser wiederholt ganz nach der rhetorischen Lehre den Appell und fasst die Argumentation im letzten Vers nochmals zusammen. Wenn Walthers Lied so interpretiert wird, dass es auf einem Rede-Schema beruht, ist die Tatsache, dass Walther im Bereich der Argumentation zwar zu Mitteln der Dialektik greift, aber in einer wenig formalisierten Weise, auch
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bei den hohen dialektischen Standards in der Wissenschaft um 1300 durchaus akzeptabel. Denn für die Rede lässt auch Aristoteles eine Lockerung der logischen Strenge und Ausführlichkeit zu. So muss zum Beispiel der Syllogismus nicht immer vollständig ausgeführt werden. In Strophe II etwa fehlt zum Obersatz, dass unglückliche beständige Liebhaber eine reinere Beständigkeit vertreten, und zum Untersatz, dass das Ich bisher ein unglücklicher beständiger Liebhaber war, die explizite Formulierung des Schlusses, dass das Ich also eine reinere Beständigkeit vertrete. Aus der Sicht dreier Kontingenztheoretiker des Mittelalters verwendet Walther also Thema und Form der Minneklage dazu, ein paradoxes Kontingenzproblem zu formulieren und durch dessen weitere Ausfaltung wichtige Teil- und Anschlussfragen wie diejenigen nach dem freien Willen und der Prädestination zu erörtern; oder allgemeiner formuliert: Die Minneklage ist der diskursive Ort im Bereich der lyrischen Literatur, an dem – wenn man vom Thema der Liebessituation abstrahiert – das Verhältnis von Notwendigkeit und Kontingenz diskutiert wird. Die kontingenztheoretischen Perspektiven sollten zeigen, wie unterschiedlich solche Texte im Verlauf des Mittelalters gelesen werden konnten: mit dem Fokus auf das Problem des Gebets (mit Boethius), des freien Willens (mit Thomas) und möglicher Welten (mit Duns). Damit wurde deutlich, dass es die mittelalterliche kontingenztheoretische Lektüre von Walthers stæte-Lied nicht gibt, sondern sie sich als kontingente Lektüre nur schon unterscheidet zwischen Abfassungs- (Petrus, Boethius) und Überlieferungszeitpunkt (Thomas, Duns). Die vorgeführten Lektüren wollten damit die Berücksichtigung historischer Theorien bei der Analyse der Kontingenzproblematik mittelalterlicher Texte anstoßen. Die Frage nach der Kontingenz wird in der Minneklage von der anderen Seite gestellt als in der modernen Kontingenz-Diskussion. Sie fragt nicht: Wie lässt sich in einer unberechenbaren Welt Planungssicherheit für die eigenen Handlungen erreichen? Sondern sie fragt: Wie lassen sich in einer festgefahrenen Situation, die weder durch äußere Fährnisse noch durch die Handlungen der Beteiligten eine Veränderung erfährt, wieder Entwicklungspotential und Handlungsspielraum gewinnen? Im Gegensatz zu antiker und moderner Fokussierung auf das wechselhafte Glück ergibt sich sowohl aus thomistischer als auch scotistischer Perspektive eine Lektüre von Minneklagen, die weniger Kontingenzbewältigung als vielmehr Notwendigkeitsbewältigung ist. Es wird sogar für einen üblicherweise als kontingent betrachteten Zusammenhang eine Notwendigkeit konstruiert, der es dann zu entrinnen gilt. Mit der Betonung der stæte scheint Walther hier eine spezifisch mittelalterliche Sicht zu ermöglichen.
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Harald Haferland
Kontingenz und Finalität1
1. Einführung Wozu überhaupt erzählen, wenn nicht Kontingenz erzählen und Kontingentes? Was jemandem zugestoßen ist (wovon er vorher nichts wissen konnte), was sich alles ereignete (ohne dass man es absah), was sich plötzlich herausstellt (niemand ahnt etwas, nicht einmal der Leser) – das weckt überhaupt erst unsere Beteiligung und bringt die alles entscheidende Spannung ins Spiel, die wir vom Erzählen erhoffen. Das Geschehen dann noch über das historische Präsens oder über vergegenwärtigende Zeitadverbien wie ›heute‹, ›jetzt‹ oder ›eben gerade‹ ins gegenwärtige Erleben des Lesers zu stellen – Heliodor probiert dies zu Beginn seines Romans über die Abenteuer von Theagenes und Charikleia, soweit ich sehe, als erster – hat dann Teil an einer Spannung, die im Leben bedrohlich ist und doch im Roman wohltuende Unterhaltung verspricht: Man ist ja nicht selbst betroffen. Kontingenz in diesem Sinne scheint das Lebenselixier des Erzählens. Wozu dagegen überhaupt erzählen, wenn nicht final erzählen, so dass es auf etwas hinaus- und nicht im Sande verläuft? Nicht alles, was sich kontingent ereignet, lohnt ja erzählt zu werden, und mit lauter losen Enden fängt man nichts an. Und radikal kontingent zu erzählen – so dass man etwa eine spannungsvoll begonnene Handlung durch ein anderes Geschehen unterbricht, ohne sie im Weiteren noch einmal aufzunehmen –, ist nur von Interesse, wenn man mit Lesererwartungen spielt. Schneidet man das Geschehen oder das Erzählen zum Beispiel kontingent, sei es in der erzählten oder der Erzählzeit, um 13:37 Uhr ab, so stirbt die Spannung, man hat kein Ergebnis und bräuchte gar nicht erst anzufangen. Kontingenz kann also in ihrer narrativen Realisation so weit getrieben werden, dass sie das Erzählte unbrauchbar zu machen droht, indem sie es entfinalisiert. Umgekehrt kann Finalität so weit getrieben werden, dass sie, wenn man nämlich längst schon weiß, wie alles endet, der Kontingenz zu wenig Raum gibt und das Erzählen von der anderen Seite her spannungslos erscheint. Kontingenz und Finalität stehen deshalb in einem prekären Verhältnis zueinander: total final geht ebenso wenig wie konsequent kontingent. 1 Der Aufsatz behält den Vortragscharakter weitgehend bei.
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Harald Haferland
Eine Seitenbemerkung: Was ich umrissen habe, findet man zu Teilen schon bei Aristoteles, aber mit einer klaren Betonung der Rolle der Finalität. ›Das Ende ist überhaupt das Wichtigste von allem‹, heißt es, wonach man gut aufgebaute Handlungen nicht – radikal kontingent – an einem beliebigen Punkt beginnen oder abbrechen lassen darf.2 Die Rolle der Kontingenz ist hier gewissermaßen im poetisch Verbotenen versteckt: Sie wäre Merkmal einer schlecht aufgebauten Handlung. Ihre kritische Bedeutung für die Erzählkunst ist bei Aristoteles ansonsten allenfalls im Begriff der Peripetie mit enthalten, die unerwartet eintritt. Damit ist aber Kontingenz kaum adäquat erfasst. Obwohl das Spannungsverhältnis von Kontingenz und Finalität immer schon bestand und – von Experimenten abgesehen, die auf eine Aufhebung der Finalität abheben – vermutlich immer bestehen bleiben wird, lässt die Geschichte des Erzählens hierzu doch zweierlei erkennen: Einmal erobert sich Kontingenz einen immer größeren Spielraum, andererseits tritt offenkundige Finalität zurück und wird zugleich unendlich abgewandelt. Man kann das so beschreiben, dass das Erzählen in seiner Geschichte die strengen Auflagen des Aristoteles – die ja zunächst gar nicht für den Roman gelten sollten und konnten – Zug um Zug lockert, ihnen ausweicht, ja gegen sie verstößt. Allerdings braucht es lange, bis es so weit kommt. Dabei spielt zweifellos auch der Umstand eine Rolle, dass man, wenn man als Erzähler/Autor erzählt, immer schon weiß, wie es ausgeht. Vermutlich hat vor dem 20. Jahrhundert kein Erzähler je mit dem Gedanken gespielt, geschweige denn wirklich ernst damit gemacht, eine Geschichte zu beginnen, ohne zu wissen, wie sie wenigstens ungefähr enden würde. Heute ist dies eine gelegentlich bewährte Praxis selbst bei Filmproduktionen, und es verspricht eine besondere Dynamik am Set, wenn die Schauspieler mit herausfinden dürfen, wie es weitergeht. Geübten Romanautoren mag es ausreichen, eine Einstiegssituation, einen Charakter, ein unerwartetes Abweichen vom gewohnten Verhalten und damit eine Initialkontingenz zu haben (jemand kommt eines Abends nicht mehr nach Hause), um weiter zu schreiben, ohne schon zu wissen, wie es ausgeht.3 Der Roman des 20. Jahrhunderts entdeckt dies als Schreibverfahren, und André Gide hat eben darüber einen Roman geschrieben: Die Falschmünzer. 2 Aristoteles, Poetik. Griechisch / Deutsch, hg. und übers. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1987 (RUB 7828), Kap. 6–7, S. 18–27. 3 Ich zitiere die nicht untypische Aussage des Krimiautors Felix Huby: »Ich erfinde nicht. Der Text erfindet sich selbst, er rennt mit mir davon. Ich muss nur nachkommen. Ich habe einen Satz, und dann fangen die Figuren an zu reden, zu leben. Manchmal gehe ich nur deswegen an den Schreibtisch, um zu erfahren, wie es weitergeht.« (Spiegel-Interview Heilige Liebe, heiliges Geld, in: Der Spiegel Nr. 8, 2007, S. 76 f., hier S. 77). Allerdings macht Huby auch deutlich, dass dabei eine Reihe vorgeprägter Erzählzüge und ein finalisiertes Format zum Zuge kommen (›der Mörder wird gefangen‹).
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In der Mitte des Romans »macht der Autor (der nichts im Voraus weiß) ein wenig Rast, schöpft Atem und fragt sich unruhig, wohin seine Erzählung ihn führen soll«.4 Gide – eben dieser Autor – beendet sie final: Eine der Figuren, Boris, erschießt sich (vermutlich hat Gide das aber doch schon vorher gewusst). Eine unmittelbar an dem zu diesem Ende führenden Geschehen beteiligte Figur, Édouard, ist ein Romanautor, der einen Roman – mise en abyme – über eine Gruppe von Falschmünzern schreiben will. Er kennt die Handlung noch nicht, führt aber ein Tagebuch (das ein Drittel des Romans von Gide einnimmt), in dem er Material zur Handlung sammelt. Immerhin weiß er, dass er einen Romanautor zur Hauptfigur machen will, der sich genau so wie er selbst an der Wirklichkeit abarbeitet. Er selbst, Édouard, will die Totalität der Erscheinungen, gewissermaßen die Wirklichkeit an sich und also alles, was ihm kontingent begegnet, einfangen. Diese Wirklichkeit soll ihm den Plan seines Romans diktieren, wie er sagt.5 Er wird nicht fertig, hat am Ende – Boris ist tot – noch nicht einmal begonnen, und deshalb muss man annehmen, dass auch seine Hauptfigur nicht fertig werden würde. Hier sind also Autoren hintereinander geschaltet, die die Wirklichkeit nicht ummünzen wollen, dabei allerdings an ihr und ihrer Kontingenz scheitern und nicht einmal anfangen können zu schreiben. Immerhin: André Gide ist fertig geworden. Auch also, wenn man programmatisch Kontingenzen zulässt und wenn man gar Kontingenz zu einer Technik des Schreibens entwickelt, scheint man Finalität nicht ganz ausschalten zu können und zu sollen: Tatsächlich dominiert sie immer schon das Erzählen. Wenn man nicht weiß, wohin es führen soll, hat man Schwierigkeiten, mit dem Erzählen überhaupt zu beginnen, so zumindest Édouard. Wenn man es andererseits begonnen hat, ohne zu wissen, wohin es führen soll, sieht man sich irgendwann genötigt, ein Ende anzusteuern, das nicht ›in der Luft hängt‹. Avantgardistisches Erzählen des 20. Jahrhunderts lässt sich zweifellos dahingehend analysieren, dass diese Problematik immer schon mit verhandelt und ein allzu konformes Ende umgangen wird. Dann liegt viel an der Bestimmung dessen, was als Ende herhalten kann. Zuvor schon setzt aber eine Lockerung nicht am Ende, sondern an der Aufsprengung eines absehbar finalen Verlaufs an. Heute ist selbst Schemaliteratur so sophisticated, dass das zu erwartende Ende recht unerwartet eintritt. Vor dem 20. Jahrhundert weiß man das erzählte Geschehen als Erzähler/ Autor immer schon voraus, und je weiter man in der Geschichte des Erzählens zurückgeht, desto dominanter wird der integrale Plot. Deshalb ist es historisch für einen Erzähler zunächst überhaupt nicht leicht, konsequent zukunftsoffen – als wüsste er noch nicht, wie alles endet – zu erzählen. Da er 4 André Gide, Die Falschmünzer. Aus dem Französischen übers. von Ferdinand Hardekopf, Stuttgart 1964, S. 201. 5 Ebd., S. 172 f.
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es weiß, kann narrative Trägheit ihn leicht dazu verleiten, offenkundig final zu erzählen: Auch die Rezipienten können deshalb ganz oft schon absehen – sie kennen das Erzählformat –, wohin alles führen soll und führt.6 Heute gewöhnt uns Schemaliteratur noch an solche Voraussicht. Und Schemaliteratur knüpft ja an vorliterarische Gattungen an, in denen immer schon ›schematisch‹ und in der Folge final erzählt wird. Wie immer man es mit der Autonomieästhetik hält: Ich gehe davon aus, dass sich ein deskriptiv-neutraler Begriff der Autonomie für die Wirkungsfunktion, aber auch für die Entwicklung der Künste und der Erzählkunst im Besonderen entfalten lässt, über den eine fortschreitende Entwicklung der Formen des Erzählens beschrieben werden kann. Erzählen ist zunächst nicht in allen seinen Formen frei, einfach zu erzählen. Zum Beispiel der Mythos: Er wird etwa erzählt, um vortheoretische Fragen zu beantworten oder um eine primordiale Ordnung über das erzählte ›Einst‹ in der Gegenwart zu statuieren. Erzählen um der Unterhaltung der Zuhörer willen ist dagegen eine zwar wohl sehr alte, aber gleichwohl schon autonomisierte Funktion des Erzählens und dem Mythos als alleiniger Wirkungsfunktion fremd. Sie dürfte mit dem Erzählen von Märchen, Tiergeschichten oder vergleichbarer narrativer Folklore einhergehen, wie sie zweifellos schon neben dem Mythos existiert hat. Im Zuge der Entwicklung des Erzählens – von der unterhaltenden Folklore zum modernen Roman – wird das Ende und damit die Finalität der Erzählung für den Leser während des Hörens/Lesens immer weitergehend unabsehbar. Es ist allerdings kaum möglich, Finalität ganz verschwinden zu lassen. Ein Roman würde ja – radikal kontingent – mitten in der Handlung und mehr noch: mitten im Satz ohne jede Betonung eines Endes, ohne Ende enden. Das halten Leser nicht gut aus, und Erzähler würden um ihre Moral gebracht, wie dünn sie auch immer ausfällt. Ohne zu solch radikalen Mitteln wie einem Ende ohne Ende zu greifen, lässt sich Finalität auf der Erzählstrecke aber doch austricksen, und eine Reihe einmal (je neu) gefundener narrativer Verfahren erreicht dies bei gleichzeitiger Verstärkung der Illusionsbildung.7 Illusionsbildung hängt aber nicht unwesentlich auch an der Suggestion von Zukunftsoffenheit.8 6 Ong, Walter J., Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. Aus dem Amerikanischen übers. von Wolfgang Schömel, Opladen 1987, S. 138–154 hat diese Trägheit auf die Eigenschaften des oralen Gedächtnisses zurückgeführt. Viele in der Oralität entstandene Gattungen reichen in die Literalität hinein, und deshalb werden ursprünglich orale Erzählformate mitgeschleppt. Vgl. auch Matías Martínez (Hg.): Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen. Paderborn u. a. 1996 (Explicatio). 7 Ich klammere die Tradition illusionsstörenden Erzählens, die es natürlich auch gibt, im Folgenden aus. 8 Illusionsbildende Gestaltung bemüht sich um Imitation lebensweltlicher Wahrnehmung. So Wolf, Werner, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst. Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen, Tübingen 1993
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Natürlich handelt es sich hier nicht nur um narrative Verfahren, die beliebig gefunden werden: Es gibt einen erfahrbaren Verlust von ›Finalität‹ in der Lebenswelt, in der mit der Frühen Neuzeit soziale Kontingenz, und das heißt alle Arten von Mobilität bei ungesicherter Zukunft aufkommen, in der Lebensläufe in auf- und absteigender, in chaotischer Linie sich kreuzen, wo ein Wimpernschlag des einen Partners das Glück oder den Untergang des anderen bedeutet – wie jener Flügelschlag eines Schmetterlings am Pazifik den Sturm auf dem Atlantik auslöst. Narrative Verfahren, die Zukunftsoffenheit modellieren, sind deshalb wohl letztlich ebenso wie auch entsprechende Gattungen, z. B. der Picaroroman, lebensweltlich motiviert.
2. Kontingenz und Finalität Was ist Kontingenz und was kontingent? Kontingent ist, was menschliche Wünsche, menschliche Hoffnung und Erwartung, menschliche Handlungsund Lebensplanung unvorhersehbar konterkariert und durchkreuzt, oder einfach nur: kreuzt, denn es sind ja auch Glückskontingenzen möglich. Also: kreuzt, und zwar – dies scheint mir eine notwendige Bedingung – ohne dass es jemand beabsichtigt hat.9 Es ist also nicht kontingent, wenn mich jemand, ohne dass ich es vorhersehe, tötet, indem er mir einen Ziegel an den Kopf wirft, – er wollte es so – und es ist natürlich auch nicht kontingent, dass ich überfahren werde, wenn ich auf die Straße gehe, ohne vorher Acht zu geben – ich hätte es wissen und vorhersehen können.10 Aber der viel beredete Ziegel, der sich ausgerechnet, kurz bevor ich seine ballistische Bahn kreuze, vom Dach löst, führt dann zu einem kontingenten Ereignis, wenn er mich erschlägt. Kontingenz wäre also Zufälligkeit im Sinne eines unabsehbaren Zusammentreffens unverbundener Kausalketten oder Handlungsfolgen.11 (Anglia 32), S. 131 f. Zukunftsoffenheit ist aber ein wesentliches Merkmal alltäglich-lebensweltlicher Wahrnehmung. 9 Mir scheint, wir würden ein nur von einer Seite vorhergesehenes, weil beabsichtigtes, Handeln, das einen Betroffenen indes unvorbereitet trifft, gleichwohl nicht als im eigentlichen Sinne kontingent bezeichnen. 10 Damit schließe ich einen zentralen Strang der traditionellen Kontingenzdiskussion, der mit der Vorstellung des freien, nicht-determinierten (und in diesem Sinne kontingenten) Handelns gegeben ist, aus der hier vorzunehmenden Bestimmung von (narrativ relevanter) Kontingenz aus. 11 Zu dieser bereits bei Aristoteles vorgesehenen Bestimmung von Kontingenz als Zufall vgl. die Beiträge von Bubner, Rüdiger, Die aristotelische Lehre vom Zufall. Bemerkungen in der Perspektive einer Annäherung der Philosophie an die Rhetorik, in: Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard (Hgg.), Kontingenz, München 1998 (Poetik und Hermeneutik 17), S. 3–22, hier S. 8 ff. und Wetz, Franz Joseph, Die Begriffe ›Zufall‹ und ›Kontingenz‹, in: ebd., S. 27–34, hier S. 28 ff.
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Dies ist ein für die Zwecke der folgenden auf Erzählungen bezogenen Überlegungen reduzierter, anthropozentrischer und auf unabsehbar eintretende Einzelereignisse (nicht auf die Realisierung freien Handelns!) bezogener Kontingenzbegriff.12 Ich blende dabei eine Vertiefung in Geschichte und Gebrauch der Modalkategorien (Möglichkeit, Notwendigkeit, Wirklichkeit) ganz aus und erläutere das kurz: Gewiss lässt sich der tödliche Ziegel auch als etwas beschreiben, was anders möglich gewesen wäre und keineswegs notwendig geschah – dies ist die übliche modalitätstheoretische Bestimmung von Kontingenz –, aber eine solche Beschreibung verspricht kaum Einsicht in das, was Erzähler und Rezipienten bewegt. Diese beiden werden interessiert durch etwas, was im Einzelnen unvorhersehbar eintritt, und deshalb kann der Begriff der Nichtvorhersehbarkeit eine alternative Beschreibung mithilfe von Modalbegriffen ersetzen. Modalbegriffe erscheinen hier verzichtbar.13 Auch dann ist noch weiter einzugrenzen: Niemand sieht vorher, welche Zahl nach dem Wurf eines Würfels oben liegt, aber dass es eine Zahl zwischen 1 und 6 sein wird, weiß jeder. Nichts an dem Ergebnis ist, obwohl es kontingent – im Sinne reiner Zufälligkeit – ist, narrativ signifikant, denn es fällt nicht aus dem Erwartungsrahmen: Niemand kann plausibel erwarten, dass es eine 6 sein wird. Also kann es auch eine andere Zahl sein, womit denn auch jedermann rechnen muss. Dagegen kann niemand plausibel damit rechnen, durch einen vom Dach fallenden Ziegel erschlagen zu werden, da diese Todesart allzu selten vorkommt. In den Bereich narrativer Signifikanz geraten deshalb singuläre Ereignisse, für deren Zustandekommen sich zwei oder mehr hierbei wahrgenommene Ereignisreihen in einem ganz unerwarteten Ergebnis treffen. Ein Ziegel liegt etwa schon monatelang auf der Kippe, bevor etwa der entscheidende Windstoß kommt, der ihn zum Fallen bringt. Oder ein Schmetterling setzt sich auf dessen frei schwebende Hälfte. Nun kreuzt aber gerade im kritischen Moment ein Fußgänger seine Bahn. Ereignisse dieser Art besitzen die Eigenschaft narrativer Signifikanz. Unsere Alltagswelt ist weithin vorhersehbar strukturiert, kaum einmal geschieht etwas gänzlich Unerwartetes. Tritt es indes ein, so interferiert oft ein 12 Hinzuweisen ist darauf, dass der von mir gesuchte Kontingenzbegriff evolutionstheoretisch und geschichtsphilosophisch uninteressant ist, da für gesellschaftliche Evolution und den historischen Ereignishorizont Einzelereignisse nicht ins Gewicht fallen. Dass Geschichte und Evolution auch anders verlaufen können, was seit dem Mittelalter zunehmend ins Bewusstsein rückt und zutreffend als moderne Kontingenzerfahrung beschrieben wird, will ich hier analytisch nicht erfassen. Kontingenzbegriffe wären dementsprechend für unterschiedliche theoretische und analytische Absichten unterschiedlich zu formulieren. 13 Dies kann sich allerdings schon bei der erzähltheoretischen Bestimmung des Begriffs der Wahrscheinlichkeit ändern.
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Ereigniszusammenhang, der nicht absehbar erschien. Anthropozentrisch relevant und narrativ signifikant ist nur jene schmale Auswahl von Ereignissen, die unser Glück oder Unglück bedeuten. Denn wir zeigen – jenseits aller Reflexion und Spekulation über Modalitäten im Übrigen – wenig Neigung, von Kontingenz zu sprechen, wenn der Ziegel einen Meter neben mir herunterkommt oder ein paar Sekunden später, nachdem ich als potentiell Betroffener die Stelle passiert habe (ich atme auf oder komme auch ins Grübeln), obwohl wir es konsequenterweise für genauso kontingent halten müssten, wie wenn er mir auf den Kopf fällt. Als Naturereignis betrachtet sind sämtliche raumzeitlich verteilten Einschläge des Ziegels von einem bestimmten Zeitpunkt der Lockerung in seiner Halterung an genauso kontingent wie der Moment, in dem er mich trifft. Naturereignisse sind ja unbekümmert um die Wirkungen, die sie etwa in der Menschenwelt verursachen, und für den Ziegel ist es gleich, ob er meinen Kopf, einen Käfer oder irgendwelche Mikroorganismen zerdrückt oder ob nur Stein auf Stein trifft. Man müsste nun aber schon annähernd so etwas wie eine Gesamtstatistik des Universums parat haben, um zu berechnen, warum der Ziegel sich zu einem und nur einem Zeitpunkt aus der Halterung löste – als ich die Stelle gerade passierte. Hat man diese Statistik nicht – niemand wird sie je haben – dann sind in der Tat alle Erfahrungstatsachen – zumindest bei Naturereignissen – kontingent.14 Voraussagen und Erklärungen sind deshalb, wenn sie auf Einzelereignisse hin zugespitzt werden, immer auf entsprechend formulierte Randbedingungen angewiesen, sonst greifen sie nicht.15 Dies löst auf der einen Seite philosophische Unruhe aus, auf der anderen Seite lässt es sich narrativ fruchtbar machen. Aus der Sicht des Erzählens ist dann nicht die Menge aller kontingenten Raum-Zeit-Stellen von Ereignissen relevant, sondern der gar nicht so häufige Fall, dass jemandem etwas zustößt, was über sein weiteres Leben entscheidet. Dieses kontingente Zustoßen fällt aber nur auf eine Raum-Zeit-Stelle. Lokalisierung und zeitliche Relationierung bzw. Datierung bilden die elementarsten Leistungen aller Erfahrungsrahmen und mit ihnen sind wir besonders gut auf solche seltenen Fälle vorbereitet. Deshalb wollen wir übrigens am Anfang von Erzählungen wissen, wo und wann das Erzählte spielt. Sind Ort und Zeitpunkt schon für den Aufbau der Lebenswelt und für den Ablauf des Lebens – und deshalb für das Erzählen – zentral, so sind sie doch bei den wenigsten natürlichen Ereignissen im Universum bestimmbar. Wenn man 14 Sie sind es allerdings nur in Relation zu unserem begrenzten Wissen. Ein Wesen, das über ein vollständiges Wissen verfügte, wäre in einer anderen Lage. Dies war in etwa die Position von Leibniz. 15 Vgl. zum Verhältnis von Gesetzesaussagen und Vorhersagen zu Einzelereignissen Hempel, Carl G., Aspekte wissenschaftlicher Erklärung. Übers. von Wolfgang Lenzen, Berlin und New York 1977, S. 20–27; 40–54.
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nicht eben etwa die Bahnen bewegter Körper vorausberechnet, – wie etwa die Bahn des Ziegels, nachdem er sich gelöst hat – dann schließt die Formulierung von Naturgesetzen keine absoluten Orts- und Zeitangaben ein.16 Im Gegensatz zur Natur ist die Sozialwelt dagegen immer schon immanent datiert. Das beginnt bereits mit dem autobiographischen Gedächtnis, das Ort und Zeit immer in Relation zu vorhergehenden Erfahrungen verzeichnet. Dabei wird die Sozialwelt von Naturereignissen wie Meteoriteneinschlägen und Sonnenfinsternissen, Erdbeben und Vulkanausbrüchen (oder eben herabkommenden Ziegeln) kontingent betroffen, soweit man das Auftreten oder die Bahnverläufe nicht vorausberechnen kann. Dann werden sie jedoch immer noch im Nachhinein lokalisiert und datiert und entsprechend auch ins Erzähluniversum aufgenommen: »In St. Jago, der Hauptstadt des Königreichs Chili, stand gerade in dem Augenblick der großen Erderschütterung vom Jahre 1647 […]«, beginnt etwa Kleists Erzählung.17 Im Nachhinein fällt dann allerdings eine Erklärung leichter als eine Vorhersage im Voraus. Die Formulierung der Randbedingungen ist zu komplex, als dass sie im Vorhinein bewältigt werden könnte. Im Gegensatz zur natürlichen Umwelt scheint die Sozialwelt – allerdings auch nur auf den ersten Blick – nicht kontingent, und dieser Umstand dürfte für das philosophische Kontingenzproblem gewissermaßen in umgekehrtem Sinne verantwortlich sein. Menschliche Handlungsplanung schaltet Kontingenz nämlich gerade aus – oder versucht es doch (weil das so ist, wird Kontingenz auch überhaupt erst auffällig) – und sie kommt auch dort nicht gleich wieder ins Spiel, wo menschliche Handlungspläne sich kreuzen. Wenn ich nicht sterben will und jemand mich dennoch mit einem Ziegel tötet, so ist das eben nicht kontingent, selbst wenn ich nicht einmal die Gelegenheit habe, mich zur Wehr zu setzen, und der Ziegel mich von hinten trifft. Es mag mir kontingent erscheinen, wenn ich aus einem Leben herausgerissen werde, das auf diese Weise kein angemessenes Ende findet, aber unabhängig von meinem subjektiven Erleben liegt zunächst kein Fall von (narrativ relevanter) Kontingenz vor. Das heißt das Betroffensein durch fremde, auch strategisch geheim gehaltene Handlungspläne schafft keine narrativ relevante Kontingenz. Wenn der Ziegelwerfer mich allerdings mit jemandem anderen verwechselt hat, den er eigentlich töten wollte oder mich versehentlich tötete – dann ist es wieder kontingent, dass er mich traf. Denn Verwechslung und Versehen stellen kein Moment der Handlungsplanung dar. 16 Zur Sonderstellung von Einzelereignissen vgl. Staudinger, Hansjürgen, Singularität und Kontingenz, Stuttgart 1985 (Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der J. W. Goethe-Universität Frankfurt am Main 21,3). 17 Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, hg. von Helmut Sembdner, München 1965, 2. Bd., S. 144–159, hier S. 144.
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Nun stellt aber die menschliche Lebenswelt ein Mischmilieu dar, in dem Handlungspläne fortwährend von Umständen vereitelt werden, die ihrerseits nicht als Resultat von Handlungsabsichten zustande kommen, und deshalb taucht Kontingenz in großem Umfang auch in der Lebenswelt auf. Das geschieht immer dann, wenn Handlungen nicht-intendierte Folgen zeitigen. Es war nicht Absicht, dass wir seit der hochdeutschen Lautverschiebung bestimmte Konsonanten anders aussprechen – irgendeiner muss damit angefangen haben –, und also war die Lautverschiebung nicht beabsichtigt. In diesem Sinne ist Sprache insgesamt kontingent, und ein solcher Schluss lässt sich – mit intellektuellen Siebenmeilenstiefeln – schnell auf viele weitere soziale Einrichtungen hin ausdehnen.18 Auf solche nämlich, die mit Durkheim als faits sociaux, als soziale Tatsachen bezeichnet werden können. Ihre Auswirkungen und Folgen gleichen denen natürlicher Erfahrungstatsachen. In welchem Ausmaß etwa Recht und Gesetz Kontingenzen erzeugen können, kann man bei Kafka nachlesen. Nicht alles führt andererseits immer gleich zu sozialen Einrichtungen, und zahllose singulär-kontingente Ereignisfolgen verschwinden spurlos wieder aus der Lebenswelt und dem individuellen oder kollektiven Gedächtnis. Viele davon sind absolut unauffällig und unbedeutsam, einige wenige indes signifikant. Es ist aber gerade deren Kontingenz, die für das Erzählen interessant wird. Dabei erzeugt die Sozialwelt geradezu Multiplikatoreffekte für Kontingenzen: Als Menschen haben wir die Zusammensetzung unserer Eigenschaften nur unzureichend im Griff, und welche Eigenschaft auf welche Belastung19 hin zutage tritt, wissen wir oft selbst nicht und sind uns dann selbst kontingent. Allemal sind wir es gegenseitig, wenn wir nicht absehen können, wie die Begegnung mit einem Anderen verläuft und ausgeht. Hier bekommt der Begriff der doppelten Kontingenz seinen tieferen Sinn. Tatsächlich ist die Sozialwelt hoffnungslos kontingent, und unsere Handlungsplanung sichert einen zu kleinen Ausschnitt, um den Verlauf unseres Lebens zu unserer Zufriedenheit begreifen zu können. Hier bringe ich (m)einen weiteren Begriff ins Spiel: Was ist Finalität und was final? Ich bin auf dem Wege, die genannten singulär-kontingenten Ereignisse als Kandidaten für finalisierte Kontingenz zu favorisieren: Final ist zunächst die zielgerichtete Veränderung eines Anfangs- zu einem Endzustand hin. Das trifft insoweit für mechanisch-maschinelle so gut wie für biologische Systeme zu, und es kann die Aufrechterhaltung der Innen-AußenDifferenz dieser Systeme, ihre funktionelle Regulation, ihre Produktion oder 18 Vgl. Rorty, Richard, Kontingenz, Ironie und Solidarität. Aus dem Amerikanischen übers. von Christa Krüger, Frankfurt am Main 1992 (stw 981), Kap. 1–3. 19 Dies ist analog etwa zu Ermüdungserscheinungen bei Materialien zu denken, mit denen man natürliche Ereignisse über Dispositionen erklärt. Vgl. Hempel, Aspekte (Anm. 15), S. 46 f.
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ihre Auslegung auf volle Entfaltung ihrer Funktionstätigkeit betreffen. Einschlägiger für den von mir gesuchten Begriff der Finalität ist allerdings die Struktur menschlichen Handelns: Hier allein ist ein erreichtes oder zu erreichendes Ziel (finis, telos) auch intendiert. Das ist bei Maschinen und Organismen nicht so.20 Dass für menschliches Handeln das Ziel als Handlungszweck seinem Eintreten in gewisser Weise vorausgeht, da es im Geiste vorweggenommen wird, hat die philosophische Tradition seit der Antike beobachtet. Der Umstand wird etwa durch den Einkaufszettel belegt – das Beispiel diskutiert Elizabeth Anscombe21 –, auf dem ich vorher festhalte, was ich später einkaufen will. Dann kann allerdings noch manches dazwischenkommen, nicht nur der Ziegel, sondern auch, dass ich den Zettel vergesse oder: dass ich es mir anders überlege. Hier wird es beunruhigend, denn dies lässt erkennen, dass sich in den inneren Bereich von Intentionalität Kontingenzen hereindrängen. Ich hatte gesagt, dass Handlungsplanung Kontingenz ausschaltet. Das gilt allemal, solange sie nicht durch natürliche und quasi-natürliche Ereignisse, durch Kontingenz also, durch- und gekreuzt wird. Wenn sie sich selbst durchkreuzen kann, indem Intentionen sich gegenseitig den Garaus machen, ist die Finalität, die Zweckorientierung der Handlungsplanung auch durch eine Art von Selbstkontingenz des Menschen gefährdet.22 Wobei man Selbstkontingenz auch inszenieren kann und dann vorher nicht weiß, was man tun wird, um es endlich ohne Motiv zu tun.23 Ist die Sozialwelt hoffnungslos kontingent, so kann man keineswegs sicher sein, ob nicht auch der einzige Bereich im Universum, in dem sich Kontingenz zeitweilig ausschalten lässt – der menschliche Geist nämlich –, hoffnungslos kontingent ist. Wenn menschliches Handeln in einem starken Sinne final, weil intendiert ist, dann hängt Finalität als Interpretationskonstrukt,24 d. h. als kognitive 20 Vgl. Spaemann, Robert, [Art.] Teleologie, in: Helmut Seiffert und Gerhard Radnitzky (Hgg), Handlexikon zur Wissenschaftstheorie. München 1989, S. 366–368 sowie Spaemann, Robert und Löw, Reinhard, Die Frage Wozu? Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens, München und Zürich 1981. 21 Anscombe, Gertrude Elizabeth M., Absicht. Übers., hg. und eingel. von John M. Connolly und Thomas Keutner, Freiburg im Breisgau und München 1986 (Praktische Philosophie 24), S. 88 f. 22 Ich überlasse diese hochinteressante Problematik den Philosophen, die sich u. a. auch mit Selbsttäuschung beschäftigen, und der moderne Roman liefert hierzu zweifellos das am besten aufbereitete Anschauungsmaterial. 23 Hierfür hat wiederum André Gide mit dem Mord ohne Motiv, einem acte gratuit, in seinem Roman Die Verliese des Vatikan, hg. von Peter Schnyder, übers. von Thomas Dobberkau, München 32003 (dtv 12285) eine Mustervorlage geliefert. 24 Vgl. Lenk, Hans, Interpretationskonstrukte. Zur Kritik der interpretatorischen Vernunft, Frankfurt am Main 1993, bes. S. 599–605, der sich hier weitgehend auf Ricœurs Zeit und Erzählung stützt.
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Leistung zweifellos damit zusammen. Weil man handelt, kann man die Welt als Ansammlung von ihrerseits handelnden Subjekten betrachten und Ereignisse in der Welt als durch handelnde Subjekte herbeigeführt. Hier bin ich nun bei einem Begriff von Finalität, der für das Erzählen relevant wird. Ich gehe dabei von dem – konstruktivistisch geleiteten – Gedanken einer Weltmodellierung als Schemaanwendung aus. Wenn man Eigenschaften des Handelns in die Welt projiziert, dann lassen sich Zustände oder Ereignisse unter dem Gesichtspunkt ihres betonten Hervorgehens aus einem oder mehreren vorhergehenden Zuständen und Ereignissen betrachten. Nicht nur soziale, auch natürliche Ereignisse lassen sich dann als zielgerichtet, ja als (anthropomorph) zielintendiert auffassen, und eine entsprechende Weltsicht ist in der Menschheitsgeschichte noch nicht lange und noch nicht überall aufgegeben. Hiermit ist ein recht umfassender und notwendig unscharfer Begriff von Finalität verbunden, unter den alles Mögliche fällt, auch Kausalität, allerdings insofern sie lokalisiert und zeitlich relationiert wird bzw. indem sie individuiert ist. Zufolge der genannten Schemaanwendung können auch einzelne kausale Ereignisreihen final bestimmt und interpretiert werden. Über ihre kognitive Konstruktion erscheinen sie dann als final. Das gilt ebenso für kontingente Ereignisse. Dass mich jener Ziegel unvorhersehbar trifft, war ein Fall von Kontingenz und nicht von Finalität. Aber es kann ein Fall von Finalität werden, wenn der Tod etwas zwar kontingent, aber doch auf irgendeine Weise sinnvoll zum Abschluss bringt. Eben hieraus beziehen Erzählungen ihren Sinn und hierin verteilen sie Sinn. So mag etwa schon in einfachen Sätzen – als Miniaturerzählungen – implizite Finalität im Miniaturformat enthalten sein. Ein Beispiel: ›Der Ziegel löste sich vom Dach, er fiel und traf mich‹ (oder besser: ›ihn‹, damit man auch den Tod erzählen kann). Das bezieht sich auf eine ganz bestimmte, individuierte Ereignisfolge, und die ist über die Aufzählungsstruktur und schon über die Satzstruktur final arrangiert: Der Ausgang der Folge wird betont. Wird der Ausgang einer sei es auch kausalen Ereignisfolge narrativ hervorgehoben und fixiert, wird er zudem noch mit Sinn aufgeladen, so wird die Ereignisfolge final aufgefasst. Das geht nun auch anders: ›Irgendetwas traf ihn. Es musste ein Ziegel gewesen sein.‹ Der Betroffene überlebt hier offenbar noch einen Augenblick, er realisiert noch – in der sogenannten erlebten Rede – was ihm zugestoßen ist. Damit liegt eine andere Ereignisfolge vor: erst der Treffer, dann die Einsicht in seine Verursachung, die hier das Ziel der finalisierten Satzfolge ist. Erst also ein natürliches, dann ein geistiges Ereignis, und das natürliche führt final zum geistigen. Wichtig ist der Hinweis, dass eine zugrunde liegende Ereignisfolge – als zeitliche Folge – notwendige Bedingung von Finalität ist. Zwar erhält sie
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finalen Charakter erst als Interpretationskonstrukt, aber dessen Bestimmungspotential geht doch nicht so weit, dass man Finalität über eine Darstellung, welche die Reihenfolge umkehrt und ihr Ende an den Anfang setzt, umgewichten und nun einen anderen, neu endgestellten Erzählzug als Ende ausgeben könnte. Ein Roman also, der den Ziegeleinschlag erzählt und dann, wie es zu ihm gekommen ist, erreicht nicht, dass die Finalität neu festgesetzt wird und in umgekehrter Richtung verläuft – Erzähl- und Darstellungsverfahren besitzen diese Macht nicht. Finalität ist also nicht durch die finale Position in der Erzählung bestimmt, sie ist kein Positionseffekt, was die Erzählung/Darstellung anbetrifft, sondern, was zählt, ist die Position in der Ereignisfolge.25 Entsprechende Versuche: ›Ein Ziegel traf ihn. Das war so gekommen: Jahrzehntelange Herbststürme hatten ihn Zug um Zug aus seiner Halterung gelöst [usw.]‹ – die nachgetragene Erklärung konstituiert ihrerseits keine neu festgesetzte Finalität – es bleibt beim Ziegeleinschlag als finalem Ereignis. Oder: ›Irgendetwas traf ihn. Es war ein Ziegel‹ stellt wiederum einen komplexen, zusammenhängenden Zustand dar und keine finale Folge. Es wird hierbei deutlich, dass sich Kontingenz und Finalität nicht entgegenstehen: Niemand kann mich hindern, den tödlichen Ziegeleinschlag als das verdiente Ende eines Schurken zu begreifen. Zugleich wird deutlich, dass Finalität sich vergleichbar anthropozentrisch deuten lässt wie Kontingenz und auch eine vergleichbare Bedeutung für uns hat, denn sie hat ebenso umfassend mit unseren Wünschen, Hoffnungen, Erwartungen, mit unserer Handlungs- und Lebensplanung zu tun. Hören wir Erzählungen zu, so müssen wir dies alles imaginativ umsetzen. Es sind gewissermaßen Wunschkognitionen, die uns schon natürliche und allemal sozial-kontingente Ereignisfolgen als endbetont auffassen lassen. Grundsätzlich kann das Finalitätsschema sehr weit reichend und wahllos eingesetzt werden: Es gibt eigentlich nichts, was sich nicht noch als ein betontes, sinnvolles Ende einer kontingent erscheinenden Ereignisfolge verstehen ließe. Finalität ist damit auch ein elementarer Modus von Kontingenzbewältigung. Sie kommt im Erzählen zum Zuge, und erzählt wird dann Kontingentes, das final aufgehoben wird (solange nicht in narrativen Experimenten diese Finalität ihrerseits durch Kontingenz aufgelöst wird). Literatur überhaupt stellt den einzig privilegierten Gestaltungsbereich von Kontingenz und Finalität dar, und es ist schon sehr merkwürdig, dass die Begriffe in der Literatur- und Erzähltheorie keine oder doch so gut wie keine Rolle spielen; wobei zuzugeben ist, dass sie recht allgemeine Gesichtspunkte der Literatur25 Ob und in welcher Weise also die Erzählung von der Ereignisfolge abweicht (Stichwort ordo artificialis), hat mit finaler Orientierung nichts zu tun, die ihrerseits immer geschehenskonform über der reinen Ereignisfolge liegt, auch wenn die Erzählfolge davon abweicht.
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analyse betreffen. Man denke aber – abgesehen davon, dass Liebe und ihr Beginn immer schon als kontingentes Geschehen erzählt worden sind – nur an Baudelaires Sonett À une Passante: Eine Unbekannte gerät auf der Straße ins Blickfeld, und in ihren Augen spiegelt sich eine schockartig aus der Kontingenz herausmodellierte unausgeschöpfte Möglichkeit der eigenen Lebensgeschichte des Dichters. So die Zuwendung im letzten Vers: ›O du, die ich geliebt hätte, du, die das auch weiß.‹26 Lyrisch final ist dabei die Feststellung der vorübergegangenen Möglichkeit und das Bedenken der (verschenkten) futura contingentia. Dies ist allerdings nur lyrisch und nicht narrativ final, und lyrische Finalität betrifft – wie hieran sichtbar wird – Gedanken- und nicht mehr Ereignisfolgen. Hier zählt eher die Darstellungsposition und weniger die Ereignisposition. So kann man auch den Syllogismus als in elementarer Weise gedanklich final betrachten, und die Conclusio besetzt dann eine finale Position. Es ist im Übrigen nicht ganz ohne Grund, wenn hier wieder Modalbegriffe am Platz sind. Der Lyriker bedenkt Möglichkeiten. Doch eröffnet dies ein neues Feld der Überlegung, das ich hier nicht betrete.
3. Erzählen als Gestaltungsbereich von Kontingenz und Finalität Dass die Königstochter den Frosch an die Wand wirft, – ich lasse den Ziegel jetzt fallen – lässt erkennen, dass sie sich ekelt und schon gar niemanden erlösen will. Es ist nicht-intendiert und kontingent, dass sie den Märchenprinzen auf diese Weise von seiner Tiergestalt erlöst und in einen Menschen zurückverwandelt. Diese drastische Gestaltung stammt übrigens von Wilhelm Grimm – alle anderen gesammelten Varianten des Märchens führen die Erlösung des Prinzen weniger brutal herbei.27 Es gibt eine systematische, unvermeidliche Verschränkung von Kontingenz und Finalität bei der Plot-Bildung von Märchen, ja letztlich bei aller Plot-Bildung (das wurde von den Plot-Grammatiken der 70er Jahre übersehen), nur dass sie an Märchen am sichtbarsten hervortritt. Finalität ist ein nur schwer abzustellendes Gestaltungsmittel allen Erzählens, das im Mär26 Charles Baudelaire, Œuvres complètes I, Texte établi, présenté et annoté par Claude Pichois, Paris 1975, S. 92 f.; übers. von H. H. 27 Vgl. Röhrich, Lutz, [Art.] Froschkönig, in: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Märchenforschung, Bd. 5, Berlin und New York 1987, Sp. 410–424, hier Sp. 411 und Ders., ›und weil sie nicht gestorben sind…‹. Anthropologie, Kulturgeschichte und Deutung von Märchen, Köln, Weimar und Wien 2002, S. 337–352, hier S. 338 f.
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chen unverhüllt zum Zuge kommt. Dass der Prinz erlöst wird und die Königstochter heiraten muss, ist die finale Orientierung im Froschkönig, und fast alle Märchen unterstehen einem entsprechenden Finalitätsschema, das durch Erlösung, Bewährung, Glück und andere Erzählziele mehr charakterisiert ist.28 Das Finalitätsschema zeigt sich auffällig problematisch in unbefragten Setzungen von Erzählzügen, zu denen sich leicht Fragen stellen ließen. Warum sitzt denn der Frosch (die Kröte, Schlange usw.) gerade dabei, als die Königstochter die Kugel (den Ball, Ring usw.) in den Tümpel (den Quell, Brunnen usw.) rollen lässt, bzw. warum entrollt der Königstochter die Kugel gerade, als der Frosch dabeisitzt?29 Ohne solche geradezu systematisch erscheinenden Kontingenzen ließen sich Märchen aber gar nicht erzählen. Die Kontingenzen werden gebraucht, um das erwünschte Ende und damit die Finalität in die Erzählung hineinzubekommen: Das Ende kommt ja nicht zustande, wenn der Frosch nicht in Gegenwart der Königstochter auftaucht, und so taucht er denn auf, einigermaßen unmotiviert. Es ist nicht immer leicht, solche Stellen plausibel zu motivieren, denn wenn erzählt würde, dass er auftauchte, um Luft zu holen, würde man sich fragen, warum er gerade jetzt Luft holen muss, usw. Die Literaturwissenschaft pflegt solche Erzählzüge mit dem unverzichtbaren Begriff der Motivation von hinten zu bezeichnen. Motivation von hinten wird eigentlich nur für den modernen und gehobenen Erzählgeschmack auffällig, wenn der Leser nämlich merkt, dass ein Erzählzug gebraucht wird, um die Handlung einem bestimmten Ende näher bzw. zu einem Teilziel zu bringen. Auf der Ebene der Handlung erscheint das Erzählte dann als nebensächlich kontingent, um die Konstruktion der Handlung aber final auf das Ende hin zu trimmen. Dies ist eine hintergründige, eher strukturelle Form von Kontingenz, die nicht als Beschaffenheit der erzählten Welt auffällig wird, sondern eben auf der Ebene der Plot-Konstruktion. Schaut man genauer hin, so wird man nicht nur in Märchen mehr oder weniger versteckt ein Knäuel von finalisierter Kontingenz bzw. von über Kontingenzen laufender Finalität entdecken können. An Märchen allerdings hat dies Max Lüthi eingehend beobachtet und auf den ›abstrakten Märchenstil‹ zurückgeführt: Man hat viel von der Herrschaft des Zufalls im Märchen gesprochen. Man könnte auch sagen: Das Märchen ist eine Dichtung, die den Zufall nicht kennt. Man hat es Zufall genannt, daß im Zwölfbrüdermärchen die Heldin gerade erst in dem Augenblick zum Tod verurteilt und zum Scheiterhaufen geführt wird, als 28 Zur Erlösung vgl. Röhrich, Lutz, [Art.] Erlösung, in: Enzyklopädie des Märchens (Anm. 27), Bd. 5, 1987, Sp. 195–222; zur Bewährung Ders., [Art.] Bewährungsprobe, in: Enzyklopädie des Märchens (Anm. 27), Bd. 2, 1979, Sp. 274–279. 29 Vgl. zu diesem Zufall Röhrich, Froschkönig (Anm. 27), Sp. 417.
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die drei- oder siebenjährige Frist der Verwünschung für ihre Brüder eben abgelaufen ist, so daß diese zur Rettung herbeieilen und die Schwester noch unversehrt aus dem Feuer reißen können. Dieses genaue Aufeinanderpassen der Situationen ist aber nichts anderes als eine Konsequenz des abstrakten Märchenstils. Die beiden äußerlich völlig isolierten Vorgänge: das Vertrauen des königlichen Gemahls geht endlich verloren – die Zeit der Verwünschung ist endlich abgelaufen – sind auf unsichtbare Weise koordiniert. Ihr Zusammenfallen ist nicht Zufall, sondern Präzision. Man ist versucht, zu sagen: Der Märchendichter richtet es so ein. Damit aber würden wir von dem Grundsatze, zunächst nur das Werk und seine Wirkungsweise zu betrachten, abgehen. Wir fragen nicht nach den Absichten des Märchenbildners; es ist schwer, zu entscheiden, wie weit er bewußt konstruiert, wie weit er unbewußt Erschautes nachzeichnet. Aber es ist reizvoll genug, das Werk selber und seine Geheimnisse zu durchleuchten; die Frage nach seinem Schöpfer liegt in der Ferne. Wenn wir das Werk, das Märchen, fragen und darauf achten, wie es aufgenommen wird, so erkennen wir sogleich mit völliger Klarheit: Der Zusammenfall der beiden Ereignisse wirkt innerhalb des Märchengefüges durchaus natürlich. Wir empfinden ihn nicht als ›eingerichtet‹ und nicht als ›Zufall‹; denn er entspricht vollkommen dem Stil, der das ganze Märchen durchdringt. Er wird möglich durch das, was im Märchen auch alles andere beherrscht: durch die Isolation und universale Beziehungsfähigkeit.30
Man sieht, wie Lüthi sich hier abmüht, den konstruktiven Aspekt von Märchen auf ihren Stil zurückzuführen, und das ist auch nachvollziehbar, wenn man unter dem Stil eine überindividuelle Erzählgewohnheit versteht, die Märchendichter nicht willkürlich und nach eigenem Gutdünken je aufs Neue einrichten. Aber gleichwohl gibt es den – dann überindividuell eingespielten – konstruktiven Aspekt, in dem Kontingenz und Finalität zusammengehen: die unsichtbar koordinierte Ab- und Ausrichtung des Zufalls auf ein finales Moment hin. Wenn wir den Zufall und die finale Einrichtung nicht mehr empfinden, dann weil wir an das Erzählformat von Märchen gewöhnt sind. Nichtsdestoweniger sind sie vorhanden. Wenn Clemens Lugowski den resultathaften Erzählstil und die Betonung des Ergebnismoments im frühneuzeitlichen Roman herausgearbeitet hat, dann meinte er genau das, was ich hier final nenne. Etwas unglücklich nur die (der Lektüre Cassirers geschuldete) Rede vom mythischen Analogon, denn weniger die Mythenerzählung weist das eigentümliche Miteinander von Kontingenz und Finalität auf als vielmehr die neben dem Mythos herlaufende narrative Folklore, die mit – übrigens auch vom Mythos aufgegriffenen – Versatzstücken und Motiven u. a. einer schamanistischen Vorwelt (Verwandlung in und aus der Tiergestalt, Verschlingen und Hervorwürgen von Lebewesen, Zerstückeln und Zusammensetzen von Körperteilen u. a. m.)
30 Lüthi, Max, Das europäische Volksmärchen. Form und Wesen. Sechste durchges. Aufl., München 1978 (UTB 312), S. 51 f.
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arbeitet, ohne sie noch in ihrer ursprünglichen rituell-symbolischen Bedeutung zu verstehen.31 Lugowski beobachtet – ebenso wie Lüthi den über Kontingenz finalisierten Zusammenfall zweier Ereignisse beobachtet – das als gänzlich zufällig erscheinende Zusammenkommen zweier Figuren zur Rettung einer dritten in einem Roman Wickrams, dem Goldfaden: Leufrid wird nur gerettet, weil sein Vater und sein Bruder zufällig zur Stelle sind. All diese ›zufälligen‹ Zusammentreffen setzen scheinbar eine erstaunliche Beschränktheit der Welt in Raum und Zeit voraus, von der sie erst ermöglicht werden. In Wahrheit ist der Stil dieser Erzählungen nicht im Geringsten an den räumlichen und zeitlichen Problemen interessiert, von denen her jene gehäuften ›Zufälle‹ unglaubwürdig erscheinen. Man könnte fragen, was denn geschehen wäre, wenn Walter und sein Vater nicht rechtzeitig oder überhaupt nicht an jene Stelle des Waldes gekommen wären, wo Leufrid todwund lag?32
Es sind solche Stellen, an denen der konstruktive Aspekt des finalen Erzählens am deutlichsten zutage tritt, wenn auch nur kleinformatig. Aber er ist auch sonst immer, wenn auch weniger sichtbar, in unterschiedlichen Eigenschaften des Erzählens zugegen. Lugowski hat das als »strengste Gebundenheit alles Einzelnen in der Ganzheit einer doppelt strukturierten Welt« ausgedrückt; doppelt strukturiert ist sie durch Inhalt und Form oder durch die Handlungs- und die Erzählebene. »Diese Gebundenheit drückte sich in der ›Motivation von hinten‹ aus und ließ jedes Einzelhafte als ein Teilhaftes erscheinen […].«33 Es ist die Finalität des Erzählens, die das Verhältnis des Einzelnen zu seinen Teilen hier überhaupt erst konstituiert. Am Artusroman hat Christoph Cormeau die Verknüpfung ganzer Episoden durch den Zufall herausgearbeitet und zugleich eine Bestimmung von Finalität vorgenommen: Der lineare, z i e l g e r i c h t e t e A u f b a u fügt die Episoden zur Handlung zusammen. Untereinander verknüpft die Einzelepisoden keine oder nur rudimentäre Kausalität, die neue Situation wird überwiegend durch den Zufall hergestellt. […] Der Zufall der Aventiure ist eine Funktion des Wegs. Zwei (oder mehr) Episodensequenzen, in sich final konstruiert, sind zu einer finalen Gesamtstruktur verbunden.34 31 Das zeigt etwa Menninghaus, Winfried, Lob des Unsinns. Über Kant, Tieck und Blaubart, Frankfurt am Main 1995, Kap. VI. 32 Lugowski, Clemens, Die Form der Individualität im Roman, hg. und eingel. von Heinz Schlaffer, Frankfurt am Main 21994 (stw 151), S. 107. 33 Ebd., S. 83. 34 Cormeau, Christoph, Wigalois und Diu crône. Zwei Kapitel zur Gattungsgeschichte des nachklassischen Aventiureromans, Zürich und München 1977 (MTU 57), S. 15. Vgl. auch Ruh, Kurt, Höfische Epik des deutschen Mittelalters, Bd. I: Von den Anfängen bis zu Hartmann von Aue, Berlin 21977 (Grundlagen der Germanistik 7), S. 114.
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Das Ziel ist positives Ziel, der Endstatus Sinnfülle gegenüber der Neutralität des Anfangs, auch wenn die Handlung an den Ausgangsort zurückkehrt, nicht nur Wiederholung einer Ausgangslage nach Überwindung der Störungen. Dieses Ziel steuert die strikte Endbezüglichkeit, die Einzelepisoden erhalten ihren vollen Sinn aus der Position im finalen Ablauf.35
Das resümiert die Beobachtungen Lüthis am Märchen und Lugowskis am frühneuzeitlichen Roman anhand einer weiteren Erzählgattung, an der Cormeau es im großen Maßstab beobachtet, und es führt mich zu der schnell verallgemeinernden Einschätzung: Irgendwie ist das bei fast jeder Erzählung und bei fast jedem Roman so. Irgendwie auch dann, wenn es nicht so deutlich hervorsticht wie in signifikanten Fällen einer Motivation von hinten, die wir heute als narrativen Fehler verbuchen würden, und in dem durchfinalisierten Großformat des Artusromans. Jede Erzählung setzt eine auf irgendeine Weise endbetonte Ereignisfolge, und um die Handlung zu diesem Ende zu bringen, braucht es immer auch Kontingenzen. Finalität und Kontingenz sind deshalb systematisch korreliert. In Verfolgung einer zunächst klaren Unterscheidung hat Matías Martínez diese Korrelation außer Acht gelassen, indem er Finalität als eine immanente Eigenschaft von bestimmten Ereignisfolgen ausschließlich auf die Seite der erzählten Handlung oder der erzählten Welt bringt und unter dem Begriff der finalen Motivierung abbucht, wogegen das alternative Verfahren der ästhetisch-kompositorischen Motivierung stehen soll.36 Es gäbe also finale vs. kompositorische Motivierung. Beides wird noch einmal unterschieden von kausaler Motivierung. Final ist danach, wenn die personifizierte Tyche, der lenkende Gott oder irgendeine providentiell wirkende Instanz die erzählten Ereignisse auf ein Ziel hinführt – die Instanz steht dann hinter den Zufällen und prädestiniert für die erzählten Figuren gewissermaßen den Plot ihres Lebens. Sie ist expliziter Bestandteil der Handlung, in die sie mehr oder weniger sichtbar eingreift. Das Finalitätsschema würde hierbei als eine charakteristische Eigenschaft der erzählten Welt – als ihre Disposition für Prädestination und Providenz – in die Handlung hineinprojiziert.37 Auch die kausale Motivierung gehört auf die Seite der erzählten Welt, was ich nicht weiter erläutern muss. Kompositorisch motiviert sind dagegen etwa Handlungsrequisiten (eine Pistole, die, irgendwo eingeführt, später dann gebraucht wird) oder Motive. Dies richtet natürlich der Autor so ein. 35 Cormeau, Wigalois (Anm. 34), S. 17. 36 Martínez, Matías und Scheffel, Michael, Einführung in die Erzähltheorie, München 1999 (Beck Studium), S. 111–119. 37 Vgl. als Analyse eines entsprechenden Falls Martínez, Matías, Fortuna und Providentia. Typen der Handlungsmotivation in der Faustinianerzählung der Kaiserchronik, in: Ders., Formaler Mythos (Anm. 6), S. 83–100.
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Ich bin mir unschlüssig, ob diese Trias alle Fälle abdeckt. Immerhin erfasst sie nicht, woran mir hier liegt. Einerseits können kontingente Ereignisse in einer Erzählung unmotiviert erscheinen, – und somit weder als final, kausal noch auch als kompositorisch motiviert – andererseits drückt sich Finalität m. E. nicht nur über die Ebene der Motivierung aus, sondern, wie ich zu zeigen versucht habe, in der narrativen Betonung des letzten Gliedes einer Ereigniskette. Finalität erscheint mir deshalb nicht zuvörderst als eine Angelegenheit der Motivierung und als immanente Eigenschaft der erzählten Welt, sondern als eine Eigenschaft der Plot-Konstruktion. Sie liegt also eher auf der Seite der Komposition, die ihrerseits ja nicht nur eine Angelegenheit der Motivierung ist und etwa die Erzählreihenfolge einschließen müsste. Richtig ist, dass sie auch über die Ebene der Motivierung zum Zuge kommen kann. Entscheidend ist aber, welches Endereignis über welche Teilereignisse angesteuert wird. In den von mir aufgegriffenen Beispielen – dem Märchen, dem Artusroman, dem frühneuzeitlichen Roman – wird eine providentiell wirkende Instanz gar nicht namhaft gemacht, und ich würde ungern den Begriff der Finalität für die Vielzahl der Beobachtungen, die man darunter nicht nur für diese wenigen Beispiele versammeln kann, preisgeben wollen. Zu unterscheiden wären also in Berücksichtigung der Unterscheidung von Martínez providentielle und narrativ konstruktive Finalität, die eine auf der Ebene der erzählten Handlung, die andere auf der Ebene des Erzählens selbst. Die Komposition der Handlung macht noch einen weiteren Unterschied aus. So wird man auch dem Umstand gerecht, dass im Märchen so gut wie noch in der Schemaliteratur Erzählgewohnheiten an der Tagesordnung sind, die nicht gleich zu einer Angelegenheit der Komposition werden und die doch dem Happy-End immer auf unabweisbar finale Weise entgegenstreben oder der poetischen Gerechtigkeit Genüge tun. So aber hält man sich auch die Theorieoption offen, eine Entwicklung vom eher finalen zum eher kausalen – im weiteren Sinne einer narrativen Kausalität – Erzählen zu beschreiben. Die ursprünglich präponderante konstruktive Finalität allen Erzählens hat natürlich einen recht trivialen Aspekt: Erzählen ist immer auch ein Handeln und hat deshalb teil an bestimmten Eigenschaften des Handelns, das z. B. Teilhandlungen zu einer Gesamthandlung integrieren kann. Erzählzüge fungieren deshalb geradezu als Handlungszüge. Lege ich beim Autofahren den ersten Gang ein, um loszufahren, so erzähle ich entsprechend eine Episode, um zu einem Teilziel der Erzählhandlung zu kommen. Nur dass das Einlegen des ersten Ganges nicht weitergehend sinnhaltig ist. Erzählzüge sind dagegen mit Sinn belegt: Auf der Ebene der Erzählhandlung ist ihr Inhalt – im besten Falle – kausal und transportiert die Motivation der Erzählhandlung; auf der Ebene des Erzählens sind sie hingegen (konstruktiv) final motiviert und tragen dann Sinn. Im hier
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diskutierten Fall lassen sie allerdings entweder eine Motivationslücke oder stiften Kontingenz, oft über charakteristische, eingespielte Formate oder charakteristische Motive. Hieraus folgt, dass Erzählzüge immer – auch dann, wenn ihr Inhalt vollständig kausal motiviert ist – gleichzeitig eine finale Orientierung tragen, wenn sie nicht eben eine Realität auf eine Weise zeichnen sollen, von der man nicht sagen kann, dass sie final angelegt ist: wie wenn man etwa eine Kamera einige Zeit lang irgendwo mitlaufen ließe, bis das Filmmaterial verbraucht ist, oder sie einfach um 13.37 Uhr abschaltete. Oft wird die Belegung mit Sinn nicht gesondert auffällig, weil die kausale Motivation alle Aufmerksamkeit absorbiert. Die Kunst besteht also darin, es ununterbrochen so aussehen zu lassen, als gäbe es keine finale Orientierung – solange es sie gibt. Es verhält sich heute so, dass Schemaliteratur hierin gehobenen Ansprüchen gegenüber offenkundig nicht immer erfolgreich ist, andererseits hat gerade Schemaliteratur eine solche Kunst durchaus zu beherrschen gelernt. Für die Entwicklung des Erzählens hat Kontingenz innerhalb der systematischen Korrelation von Kontingenz und Finalität eine kritische Rolle, indem sie die Macht der Finalität untergräbt. Vom Grundgedanken her meint dies genau das, was Lugowski mit seiner Rede von der Zersetzung oder Zerrüttung des mythischen Analogons meinte.38 Ich sehe die Rolle der Kontingenz dabei grundsätzlich auf drei Ebenen: zunächst 1.) auf der strukturellen Ebene des Plots in von hinten motivierten Erzählzügen – hier operiert sie in Form (naiver) narrativer Setzungen, oft unbemerkt. Finalität wird hierbei auch noch nicht untergraben, sondern vielmehr befördert. Dann 2.) auf der Ebene der Erzählmotive und illusionsgesättigten Erzählzüge – hier wird Kontingenz motivisch gestaltet oder die Erfahrungswirklichkeit in einer Detailfülle imitiert, dass Kontingenz als Realitätseffekt durchgeht. Alles, was mit ›Plötzlich […]‹ begonnen wird, mag einem in dieser Form auch im Leben begegnen. Deshalb scheint Finalität vorübergehend ausgeschaltet. Schließlich 3.) auf der Ebene narrativer Verfahren, und hier wird es für das moderne Erzählen interessant. Deutlich wahrnehmbare Finalität lässt ja den konstruktiven Charakter des Erzählens zutage treten, und dies unterbricht und stört die Illusionsbildung. Das ist der Grund, weshalb sie im Zuge der Entwicklung illusionsbildender Erzählverfahren abgebaut worden ist. Zweifellos sind dabei die Ansprüche des Lesepublikums im Laufe der Jahrhunderte gestiegen. Ich charakterisiere kurz die Ebenen, zunächst die erste: Es gibt anstelle einer Motivationslücke z. B. die charakteristischen, z. T. motivisch verdichteten Erzählzüge des zufälligen Zusammentreffens zweier oder mehrerer Figuren oder des zufälligen Einschlagens einer Richtung durch eine Figur, wobei es jeweils zum ›richtigen‹ Ergebnis kommt. Es trafen gerade die Richtigen zu38 Lugowski, Individualität (Anm. 32), S. 83–98 u. ö.
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sammen (obwohl es, wenn es mit rechten Dingen zugegangen wäre, tausende von Fehlversuchen dazu gebraucht hätte), und die Richtung war gerade die richtige (obwohl nichts darauf hinwies). Erscheint dies als bloße narrative Setzung, so hat es Anteil an der Bildung der Plot-Struktur, wird aber noch nicht selbst Gegenstand der Gestaltung. Das wird es – die zweite Ebene –, wenn es unter dem Gesichtspunkt des Glücks, der höheren Erwählung, der poetischen Gerechtigkeit oder der Wirklichkeitsähnlichkeit zu verbuchen ist und entsprechend eingebettet wird. Dafür gibt es breit ausgestaltete motivische Szenarien: etwa Wildnis, Wald oder hohe See als Lokalität der (natürlichen) Kontingenz. Man verirrt sich, wird im Sturm verschlagen und gerät in die Hände von Räubern. Das ist im antiken Roman so, in den apokryphen Apostelgeschichten, im ganzen Mittelalter – die Beispiele sind Legion. Noch der Fortunatus allegorisiert in gewisser Weise diese Örtlichkeit – allerdings positiv –, wenn Fortunatus gerade im Wald sein Glück findet. Neben solchen motivisch verdichteten und veredelten Formen stehen Erzählzüge, die Wirklichkeit abzubilden suchen, und dabei ist vorausgesetzt, dass die Wirklichkeit von Kontingenzen durchsetzt ist. Zur dritten Ebene: Es scheint so, als sei Kontingenz anders als Finalität auf der Ebene des Geschehens, des Erzählten, der histoire angesiedelt, Finalität dagegen auf der Ebene der Geschichte, des Erzählens, des discours. Kontingent sind ja zunächst einmal die erzählten Ereignisse, final ist die Konstruktion, die ihnen eine Bedeutung geben soll. Aber wie man Finalität unter Einbringung einer providentiellen Instanz in die erzählte Welt hineintragen kann, so kann man Kontingenz aus den Ereignissen heraus auf die Ebene des Erzählens ziehen. Vergegenwärtigung des Erzählten unter Einbringung entsprechender Zeitadverbien hat auch den Effekt, Kontingenzerfahrung abzubilden. Spannung – zumindest die von Lugowski so genannte Ob-überhaupt-Spannung39 – setzt die Unvorhersehbarkeit der Ereignisse voraus und stellt deshalb literarische Kontingenzerfahrung sui generis dar. Beim Aufbau von Spannung wird Kontingenz in Lesepsychologie umgesetzt. Das setzt aber entsprechende narrative Verfahren voraus, auf die ich noch zurückkommen werde. Also noch einmal – drei Arten von Kontingenz im Erzählen. Zunächst erstens strukturbildende Kontingenz, die in der narrativen Folklore und noch weit darüber hinaus mit dazu beiträgt, eine Erzählhandlung final auszurichten: indem nämlich Zufälle wie von unsichtbarer Hand geleitet die Handlungen der Figuren koordinieren. Dann zweitens Kontingenz als Motiv, das eine kontingenzträchtige Lokalität (Wald, Wildnis, Meer) oder Situation (Begegnung mit einer/m Unbekannten) vorführt. Dem Motiv kann dabei 39 Ebd., S. 40 f.
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immer noch eine konstruktive Rolle bei der Plot-Bildung zukommen, während die kontingente Situation etwa als additive Anreihung wirklichkeitsgesättigter Erzählzüge die Fortführung des Erzählens besorgt. Und drittens schließlich Kontingenz als narratives Verfahren, das die lebensweltliche Signifikanz kontingenter sozialer Begegnungen auf die Erzählweise projiziert und dabei spannungssteigernd und illusionsbildend wirkt. Es ist diese narrativierte Kontingenz im modernen Erzählen, die erlaubt, Finalität zunehmend hinter den erzählten Ereignissen zu verstecken, ja im Fall experimentellen Erzählens auszuschalten.
4. Zwei Beispiele partieller narrativer Auflösung von Finalität durch Kontingenzdarstellung (aus Jörg Wickrams Nachbarnroman und dem Fortunatus) Jörg Wickram scheint der erste, der die Korrelation von Kontingenz und Finalität bemerkt und ihr eine Betrachtung widmet. Im Dialog vom ungeratenen Sohn gibt er Hintergründe der Entstehung seines Romans Knabenspiegel preis: Für die Figuren hat er sich auf reale Vorlagen gestützt, insbesondere auch für die Hauptfigur. Allerdings ist ihm deren reales Vorbild irgendwann aus den Augen geraten. Er kann also das Ende seines Romans nur im Rahmen einer freihändig hergestellten Handlungskonstruktion bilden, der das – ausnahmsweise gütliche – Ende abschließend Sinn verleiht: Die Fiktion kann Ganzheit schaffen und den Lauf der Welt in seinen Grundgesetzen ›vorspiegeln‹ dort, wo die kontingente Alltagswirklichkeit den befriedigenden Abschluß verweigert.40
Die Fiktion kann Lebensläufe mit freier Hand um- und zurechtbiegen. Ganzheit heißt, einen Schlusspunkt zu setzen und die Handlung dabei mit einem betonten Ende zu versehen. Befriedigend muss es nicht notwendig sein, aber teilnahmeheischend, belehrend, poetisch gerecht, Mitleid erregend oder auch nur – freilich ist das erst eine Entdeckung des 20. Jahrhunderts – beispielhaft Kontingenz vorführend. Heinz Schlaffer hat davon gesprochen, dass – bis es soweit kommt – literarische Figuren von den Kontingenzen des Daseins befreit [sind] – sie kennen keine Zerstreuung, kein Versehen, keine Bewußtlosigkeit, kein Stolpern, sofern dies nicht selbst wiederum auf bedeutende Weise und mit dämonischer Notwendigkeit 40 So Jan-Dirk Müller im Kommentar zu seiner Ausgabe des Dialogs, in: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten, hg. von Jan-Dirk Müller, Frankfurt am Main 1990 (Bibliothek der Frühen Neuzeit 1), S. 1283.
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zum poetischen Entwurf der Person gehört. Entsprechend sinnvoll, geschlossen und stimmig sind die Schicksale, die fiktionale Figuren treffen. (Auch in einem realistischen Roman wird der dem Tod geweihte Liebhaber im Duell oder durch Selbstmord enden und nicht, wie es im Leben passiert, versehentlich die Treppe herabstürzen. Effi Briest welkt, vom Schicksal gebrochen, früh dahin; ihr reales Vorbild, Frau von Ardenne, stirbt erst 1952, im Alter von 99 Jahren.)41
Jede Konstruktion von Plots entnimmt ihre Bestandteile der Wirklichkeit oder dem, was dafür gehalten wird. Keine Konstruktion von Plots bleibt aber bei der Wirklichkeit. Ist diese hoffnungslos kontingent, so der Plot, wenn nicht hoffnungsvoll, doch auf eine integrale Form getrimmt und final. Kontingenz wird hier und insoweit allerdings nur auffällig auf Seiten der Wirklichkeit, deren für das Erzählen hinderlichste Eigenschaft sie darstellt – Wickram musste sie insofern für seinen Knabenspiegel vernachlässigen oder durfte sie negieren, um den Roman in einem Sinn gebenden Akt zu Ende zu führen. Dagegen stellt sich die Frage, wie und auf welche Weise er der Kontingenz einen Spielraum in seinen Romanen verschafft. Er tut dies auf allen oben genannten Ebenen, und ich möchte hier nur die dritte Ebene, die der narrativen Verfahren der Kontingenzdarstellung ansprechen, weil dies der für die Evolution des Erzählens bedeutsamste Fall ist, und sie an einem Beispiel illustrieren.42 Wenn es richtig ist, dass in der Geschichte des Romans final ausgerichtete Plots durch Kontingenz immer weiter aufgesprengt werden, dann liefert Wickram neben dem passenden städtischen Milieu seiner bürgerlichen Romane, in dem sich die Wege einander Unbekannter unabsehbar kreuzen, auch einige zugehörige Verfahren mimetischer Abbildung von Kontingenzerfahrung. Eines davon hat ein Nachleben im Roman des 19. Jahrhunderts gefunden. In Balzacs Chagrinleder etwa erfährt man über viele Seiten hinweg nicht, wie die Hauptfigur, Raphael de Valentin, eigentlich heißt – es ist immerzu nur vom jungen Mann die Rede. Dieser befindet sich in einem intensiven Gespräch mit einer weiteren Figur, deren Name ebenfalls ungenannt bleibt. Anstelle der Namen müssen Beschreibungen herhalten. Nach vielen Seiten wird der junge Mann von einer weiteren hinzugekommenen Figur mit »Raphael« angesprochen: Von da an nutzt auch der Erzähler den Namen. Bei Fontane ist dies dann zur gelegentlich preziös geübten Technik gediehen: »Die so freundlich als Frau Dörr Begrüßte« oder »der von dem herzu41 Schlaffer, Heinz, Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewusstseins und der philologischen Erkenntnis. Erw. Ausgabe, Frankfurt am Main 2005 (stw 1779), S. 147. 42 Ich habe bisher unbeachtet gelassen, wo Kontingenz in die Erzählhandlung eingelassen ist: ob am Anfang, in der Mitte oder ob eine Erzählung kontingent beendet wird (was den eher experimentellen Ausnahmefall darstellt). Ebenso ist unbeachtet geblieben, wie weit Finalität schon in den Handlungsverlauf zurückreicht und ob das Ende womöglich schon im Anfang steckt. Dies wären Fragen an eine weitergehende Analyse.
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Kontingenz und Finalität
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kommenden Wedell als Serge Begrüßte« heißt es etwa in Irrungen und Wirrungen, danach übernimmt der Erzähler den auf diese Weise eingeführten Namen.43 Es handelt sich um eine Technik, als Erzähler so zu tun, als verfüge man nur über den Wissensstand der beteiligten Figuren. Der vorgeblich unvollständige Wissensstand wird als Form der verzögerten Leserinformation umgesetzt: Der Leser wird in die Welt der Figuren hineingezogen, deren Wissensstand auf ihn überspielt wird. Insoweit die erzählten Figuren einander kennen und ihre(n) Namen im Gespräch fallen lassen, übernimmt der Erzähler die vermeintliche Information von ihnen. Solange aber geht er mit dem unvollständigen Wissensstand mit.44 Diese Technik sollte nicht gleich mit dem Phänomen der narrativen Perspektive zusammengeworfen werden, obwohl sie durchaus eine Rücknahme auktorial-allwissenden Erzählens anzeigt. Viele Romane des Realismus nutzen die Technik, die auch eine Art der Wissenszunahme in der Sozialwelt imitiert: Den Namen eines Unbekannten, der uns begegnet, kennen wir noch nicht. Hören wir aber, wie er von einem Dritten angesprochen wird, so erwerben wir nebenher ein Wissen, das wir uns andernfalls nur offensiv verschaffen könnten, indem wir nämlich den Unbekannten nach seinem Namen fragen. Nicht immer gibt es Gründe, so offensiv vorzugehen. Dann ist es uns recht, nebenher erworbenes Wissen nutzen zu können. Es scheint wenig narrative Logik zu besitzen, wenn diese Art des Wissensaufbaus beim Erzählen eines Romans nachgestellt wird: Es ist uns als Lesern völlig klar, dass der Erzähler die Kenntnis des Namens nicht so erwirbt, wie wir das tun. Er baut nur unser Wissen so auf, wie wir es auch in unserer Lebenswelt zu erwerben genötigt sind. Das heißt, er schafft für uns eine Illusion von Wirklichkeit, wie wir sie kennen. Das narrative Verfahren dient der Illusionsbildung. Dabei wird aber eine Alltagssituation nachgestellt, die für uns einen Teil jener Kontingenzen birgt, denen wir uns auch im Alltag gegenüber sehen. In seinem 1556 erschienenen Roman Von guten und bösen Nachbarn erzählt Wickram von einem in Antwerpen niedergelassenen Handelsherrn mit Namen Robertus, dem das Leben durch einen missgünstigen Nachbarn verleidet wird. Seine ganze Familie wird zudem von einer tödlichen Krankheit 43 Theodor Fontane, Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes, Abt. 1, Bd. 2, hg. von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger, München 1971, S. 320; 359. 44 Eine entsprechende Erzähltechnik verwendet etwa auch Wolfram von Eschenbach schon einmal in seinem Parzival, wenn er wichtige Informationen in die Figurenrede verlegt (z. B. in 672,8–14), anstatt sie auktorial zu vermitteln. Man kann hierfür von ›Filtertechnik‹ sprechen. Vgl. Hübner, Gerd, Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im Eneas, im Iwein und im Tristan, Tübingen und Basel 2003 (Bibliotheca Germanica 44), S. 56.
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befallen, die nur seine Frau und die jüngste Tochter überleben; alle weiteren Kinder sterben. Robertus ist untröstlich. Während ein Seelsorger sich noch um ihn bemüht, kommt – die Erzählung geht kurz ins Präsens über – ein Bote mit dem Brief eines in Lissabon lebenden Verwandten, der sich aufs Altenteil zurückziehen und Robertus seine Geschäfte überlassen möchte. Robertus ergreift die Gelegenheit und baut sich mit seiner Restfamilie in Lissabon über eine Reihe von Jahren hin eine neue Existenz auf, bis sein Verwandter stirbt und das Geschäft ganz in seine Hände übergeht. Nun setzt die Erzählung mit einer von London ausgehenden Handelsreise neu an, bei der sich die Kaufleute in einer gemeinen geselschafft zusammen tun, um im Falle eines Unglücks auf See ihr individuelles Risiko zu minimieren.45 Dies ist eine Situation von charakteristischer Kontingenz, wie sie historisch denn auch zum Aufbau des modernen Versicherungswesens beigetragen hat. Auf dem Schiff befindet sich auch ein reicher Kaufmann, der viel Geld in Handelsgesellschaften angelegt hat: Der selbig herr hett im auch gon Lisabona zů raisen für genumen / kam zů einem andren herren der zimliches alters was / auff dem schiff / der dann seine wonung in der statt Lisabona hett / zů dem selbigen gesellet sich der gemelt jung Hispanisch kauffherr […].46
Die beiden Herren freunden sich an. Der junge Kaufmann aber fällt bald in ein Fieber, schwebt zwischen Leben und Tod, wird vom alten gepflegt und, als man in Lissabon angelangt ist, zur weiteren Gesundung in sein Haus eingeladen. Dort kümmert sich auch die Tochter um ihn. Als schließlich deren Name fällt, kann der Leser, der vorher schon einmal nebenher erfahren hatte, dass des Robertus Tochter Cassandra heiße,47 allererst vermuten, dass der alte Kaufmann jener bereits mit Namen eingeführte Robertus ist, der denn auch bald wieder genannt wird. Eine Namensnennung, identifizierende Beschreibung oder kontinuierliche Pronominalisierung wird hier aber von Wickram durch die Rede von einem andren herren der zimliches alters was ausdrücklich unterbrochen. Diese Erzählweise hat (noch) nicht jene Gestalt wie im späteren Roman und ist zum mindesten ungewöhnlich: Wickram anonymisiert seinen Protagonisten, als der sich unter Fremden auf jener Schiffsreise befindet. Der Leser kennt ihn zwar schon mit Namen, wird aber noch einmal in den Stand des Unwissens zurückversetzt. Warum? Offenbar will Wickram doch jene Situa45 Georg Wickram, Von guten und bösen Nachbarn, in: Sämtliche Werke, Bd. 4, hg. von Hans-Gert Roloff, Berlin 1969 (Ausgaben der deutschen Literatur des XV.–XVIII. Jahrhunderts), S. 29. 46 Ebd., S. 30. 47 Ebd., S. 28. Die in Frage stehende Nennung erfolgt ebd., S. 32.
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Kontingenz und Finalität
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tion vollständiger Kontingenz, sowohl was das Befinden auf hoher See als auch was die unabsehbare Begegnung Fremder anbetrifft, über deren gegenseitige Anonymität aufleben lassen. Man weiß nicht, auf was und auf wen man sich verlassen kann: Diese Ungewissheit und dieses Unwissen werden narrativ nachgestellt. Richtet Wickram seine Erzählhandlung im Weiteren und am Ende final aus, so kommt doch zwischendurch Kontingenz in erstaunlicher Konsequenz über das eingesetzte narrative Verfahren zur Geltung. Ein weiteres Beispiel von Kontingenzdarstellung aus dem schon 1509 erschienenen Fortunatus: Mitten im Kapitel, ohne Voranzeige durch die Kapitelüberschrift, und mitten im Absatz, ohne weitere Hervorhebung durch Einrückung, beginnt hier die Andrean-Episode: Nun in denen dingen / was ain Florentin / ains reichen mans sun / dem sein vater groß gůt geben / und yn darmit gen Prugk in Flandern gesandt hett. das er auch gar in kurtzer zeit unnutzlichen verthet.48
Folgendes aber ist bis hierhin passiert: Fortunatus verdingt sich, um seinen Eltern nicht zur Last zu fallen, beim Grafen von Flandern und verlässt mit ihm seine Heimat Zypern. Als er das Gefallen des Grafen erregt, muss er vor dem Neid der anderen Angestellten des Grafen fliehen. Er gelangt nach London, gerät in schlechte Gesellschaft und vertut seine ganzen Ersparnisse. Mittellos begibt er sich in den Dienst eines reichen Florentiner Kaufherrn namens Jeronimus Roberti, der ihn zum Laden und Entladen seiner Schiffe anstellt. Fortunatus erweist sich als geeignet und zuverlässig. Hier schließt nun die zitierte Partie ganz unvermittelt an und wirkt dabei wie der Einbruch einer neuen Realität. Man könnte erwarten, dass der reiche Bürgersohn Andrean aus Florenz Fortunatus bald über den Weg läuft, aber dazu wird es gar nicht kommen: Die beiden werden sich nie begegnen. Dabei umfasst die Seitengeschichte fast ein Zehntel des ganzen Romans, und man sieht lange Zeit nicht klar, worauf sie überhaupt hinausläuft. Man bleibt als Leser in dem undurchsichtigen Fortgang der Geschichte einige Zeit allein und erkennt nicht, wie sie in die Handlung integriert ist. Jim Jarmusch hat in seinem auffällig erzählten Film Mystery Train mehrere in verschiedenen Hotelzimmern spielende Erzählepisoden hintereinander gestellt, deren narrativer Zusammenhang erst zum Schluss aufgeklärt wird. Man hört am Ende jeder Episode jeweils einen Schuss aus einem benachbarten Hotelzimmer. Die letzte Episode erst klärt auf, wie es zu diesem Schuss kam, und außer dass die Episoden im selben Hotel spielen, hält sie nichts zusammen. Nur dass auch alle beteiligten Figuren den Schuss hören. Bei Beginn einer neuen Episode weiß der Zuschauer zunächst nicht, was sie an 48 Fortunatus. Studienausgabe nach der Editio Princeps 1509, hg. von Hans-Gert Roloff, Stuttgart 1981 (RUB 7721), S. 25.
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die vorhergehende bindet – bis er zum zweiten oder dritten Mal den Schuss hört; dann beginnt jeweils die nächste Episode. Das narrative Verfahren besteht darin, den Zuschauer über die Verknüpfung der Episoden so lange wie möglich im Unklaren zu halten. Das Erzählverfahren, das der Verfasser des Fortunatus wählt, erinnert an diesen zugespitzten Fall. Nach dem oben zitierten unvermittelten Neuansatz wird in so großer Detailfülle erzählt, was Andrean anrichtet, dass die vorhergehende Handlung beinahe in Vergessenheit gerät. Fortunatus wird dann von den Folgen kontingent betroffen, ohne dass Andrean überhaupt von seiner Existenz wüsste oder Fortunatus ihn zu Gesicht bekäme. Die Episode liegt quer zur auf Fortunatus ausgerichteten Haupthandlung. Andrean, von seinem Vater mit viel Geldvermögen aus Florenz nach Brügge geschickt, verprasst dort alles, anstatt es zu vermehren. Schon mittellos nimmt er noch Wechsel auf den Besitz seines Vaters auf, ruiniert ihn und findet schließlich niemanden mehr, der ihm etwas leihen will. Auf der Rückreise nach Florenz hört er in Tours von einem im Kerker dahinschmachtenden Edelmann, den er zu schröpfen hofft. Der indes schöpft noch einmal Hoffnung und schickt ihn nach London, wo seine Freunde bei Jeronimus Roberti für ihn bürgen sollen, damit dieser seinerseits das Geld zur Freilassung stellen möge. Am Namen Jeronimus Roberti hängt für den Leser zunächst die einzige Verbindung zum Schicksal des Fortunatus. Nun beansprucht aber das verruchte Handeln des Andrean viele weitere Seiten des Romans: Im Hause des Jeronimus begeht er einen Mord, ohne doch an den für den englischen König bestimmten Schmuck des ermordeten Juweliers zu gelangen. Er muss sich absetzen und gelangt mit Glück ins ferne Alexandria, wo er zum Islam konvertiert und für keine Strafverfolgung mehr erreichbar ist. Jeronimus aber, der den Mord zwar entdeckt, aber aus Angst nicht angezeigt hatte, wird mit Familie und Dienerschaft vor den Henker geführt. Fortunatus lässt man, da er beim Mord nicht im Haus war und von nichts weiß, schließlich als einzigen laufen; alle anderen sterben unter dem Henkersbeil. Als dann unerwartet die gut versteckten Schmuckstücke doch noch auftauchen, beansprucht die eingeschobene Erzählung noch einmal mehrere Seiten, um deren Verbleib zu erzählen. In der Andrean-Episode kreuzen sich auf komplexe Weise verschiedene Handlungspläne: die Bereicherungsabsicht des Andrean, die Arglosigkeit des Juweliers, der in weiser Voraussicht seinen Schmuck dennoch kaum auffindbar versteckt hat, die aus Furcht unterlassene Anzeige des Jeronimus und seiner Dienerschaft und das Interesse des Königs am Schmuck sowie seine Strafverfolgung in unbarmherziger Anwendung eines Rechtsgrundsatzes. Fortunatus ist dabei der einzige, der von den Folgen des Geschehens völlig kontingent betroffen wird. Um ein Haar nur entgeht er, obwohl doch ganz und gar unbeteiligt und unschuldig, dem Henker.
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Kontingenz und Finalität
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Die Episode narrativiert Kontingenz auf so atemberaubende wie beispielhafte Weise: Andrean kommt aus dem internationalen Milieu der Großkaufleute, verspielt aber alles Vertrauen, dem dieses Milieu seinen Erfolg verdankt, begeht ein Verbrechen und verschwindet irgendwo im Orient. Dabei reißt er gleich eine ganze Reihe von mehr oder minder unschuldig Betroffenen ins Verderben. Für den Leser verläuft die quer zur Haupthandlung angesetzte Episode zunächst ganz unabsehbar, und so müssen ihm die Wechselfälle des Lebens als Wechselfälle des Lesens erscheinen. Meine Beispiele lassen eine Kontingenz zum Zuge kommen, die nicht mehr an jene natürliche Umgebung der Wildnis gebunden ist, in der man sich in Gottes Hand befindet. Es handelt sich vielmehr um rein soziale Kontingenz. Sie geht hervor aus der neuen, unkalkulierbaren Sozialwelt der Städte. Es ist diese soziale Kontingenz, die der Roman in seiner Entwicklung in den nächsten Jahrhunderten narrativ entfaltet.
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Tobias Bulang
Epistemische Kontingenzen und ihre literarische Aktivierung Fallstudie zur Nomenklatur der Pflanzen in Johann Fischarts Geschichtklitterung
Sucht man Kontingenzphänomene in literarischen Texten zu bestimmen, so bemisst sich die Kontingenz eines Ereignisses immer an einer angenommenen Ordnung. Diese aber kann nicht die Ordnung der Welt schlechthin sein, vielmehr handelt es sich um Ordnungen von Weltentwürfen, welche literaturwissenschaftlich als Arrangements der Literatur selbst oder aber als Ordnungen, auf die Texte sich beziehen, thematisiert werden können. Fokussiert man die Bezugnahmen literarischer Texte auf außerliterarische Weltentwürfe, so lässt sich diese Beziehung als die von Literatur zum Wissen präziser fassen.1 Um Kontingenzphänomene, die bei der Literarisierung von Wissen sichtbar werden, soll es in folgender Fallstudie gehen, die sich auf pflanzenkundliches Wissen beschränkt und seine Umsetzung in Fischarts Geschichtklitterung nachvollzieht. Zunächst werde ich die Kontingenzphänomene darlegen, welche die Pflanzenkunde im 16. Jahrhundert bereithält. Sodann gehe ich auf pflanzenkundliche Ausführungen in Fischarts Geschichtklitterung ein, um daraufhin mit einigen Anmerkungen zu Wissen, Literatur und Kontingenz zu schließen.
1 Die Relation von Literatur und Wissen ist in der jüngeren Forschung unterschiedlich konzeptionalisiert worden. Dass Literatur unterschiedliches Wissen aufnimmt, ordnet und unter bestimmten historischen Bedingungen als eigenständige Wissensordnung erscheinen kann, betonen etwa Richter, Karl, Schönert, Jörg und Titzmann, Michael, Literatur – Wissen – Wissenschaft. Überlegungen zu einer komplexen Relation, in: Dies. (Hgg.), Die Literatur und die Wissenschaften. 1770–1930. FS Walter Müller-Seidel, Stuttgart 1997, S. 9–36.
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Epistemische Kontingenzen und ihre literarische Aktivierung
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1. Philologie und Empirie – Die Kontingenz der Sprache in den Pflanzenkunden des 16. Jahrhunderts Die mittelalterliche Kräuterkunde war selten einem selbständigen botanischen Interesse gefolgt, sondern war als Propädeutik eingebunden in die Traditionen der materia medica.2 Pflanzen wurden weitgehend als Träger von Heilkräften betrachtet. Galen, Plinius, das pseudoaristotelische Liber de plantis und insbesondere Dioskurides galten als die maßgeblichen Autoritäten auf diesem Feld. Die Pflanzenkunde entfaltete sich abgesehen von wenigen Ausnahmen als kompilierende, exzerpierende und kommentierende Buchwissenschaft mit schwacher empirischer Referenz der Pflanzennamen.3 Das Verhältnis zwischen Buchwissen und Naturbeobachtung verschiebt sich in der Frühen Neuzeit. Zunehmend gewinnen empirische Daten an Relevanz und die Kräuterbücher4 des 16. Jahrhunderts werden den Abgleich von Literatur- und Pflanzenstudien zum Gegenstand ihrer Bestandsaufnahmen machen. Im Vorwort des Kräuterbuches von Hieronymus Bock z. B. kann man lesen: Was mir nun für arbeit / mFhe / auch etwan geferde / auff dem Lande / in finstern d(lern / hohen bergen / vnnd vielen grossen wildtnussen bei tag vnd nacht / neben dem stetigen lesen vieler bFcher der alten und newen darauff gegangen vnd widerfaren / will ich dißmal nit erzelen / dann es würden jr wenig sein die vielleicht mir solchs glauben k=nten.5 2 Fischer, Hermann, Mittelalterliche Pflanzenkunde. Mit einem Vorwort von Johannes Steudel, Hildesheim 1967 [Nachdruck der Ausg. von 1929], S. 2 f. Fischer sucht in seiner Studie immer wieder gezielt nach Ansätzen einer reinen Botanik im Mittelalter, bei ihm finden sich somit die Ausnahmen zur angegebenen Regel; siehe auch Meier Reeds, Karen, Botany in Medieval and Renaissance Universities, New York und London 1991, S. 3. 3 Dilg, Peter, [Art.] Pflanzenkunde, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 6, Zürich und München 1993, Sp. 2038–2046, hier Sp. 2044; Meier Reeds, Karen, Renaissance Humanism and Botany, in: Annals of Science 33 (1976), S. 519–542; Meier Reeds, Botany in Medieval and Renaissance Universities (Anm. 2), S. 3–7; Daems, Willem F., Synonymenvielfalt und Deutungstechnik bei den nomina plantarum mediaevalia, in: Peter Dilg (Hg.), Perspektiven der Pharmaziegeschichte. FS Rudolf Schmitz, Graz 1983, S. 29–37; vgl. Daems, Willem F., Nomina simplicium medicinarum ex synonymariis medii aevi collecta. Semantische Untersuchungen zum Fachwortschatz hoch- und spätmittelalterlicher Drogenkunde, Leiden, New York und Köln 1993 (Studies in Ancient Medicine 6). 4 Einen bilderreichen Einblick bietet: Heilmann, Karl Eugen, Kräuterbücher in Bild und Geschichte, München-Allach 21973. Eine Übersicht über die Kräuterbücher bei: Friedrich, Christoph und Müller-Jahncke, Wolf-Dieter, Geschichte der Pharmazie, hg. von Rudolf Schmitz, Bd. 2: Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Eschborn 2005, S. 101–119. 5 Kreüter Bůch. Darin Underscheid / Würckung und Namen der Kreüter so in Deutschen Landen wachsen / Auch der selbigen eigentlicher und wolgegründter gebrauch inn der Artznei fleissig dargeben / Leibs gesundheit zů behalten vnd zů fürderen seer nutzlich und tr=stlich /
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Tobias Bulang
Neben dem Studium der Bücher werden nun auch lebende Gewächse aufgesucht. Ausgangspunkt für diesen Prozess sind philologische Probleme gewesen. Die neuzeitliche Wendung hin zu empirischer Pflanzenbeobachtung wurde maßgeblich durch die Textkritik des Humanismus ausgelöst.6 Die Humanisten hatten neben den klassischen Schriften der Philosophie, Rhetorik und Dichtkunst auch die antike Naturhistorie genauer als jemals zuvor in Augenschein genommen. Dabei erfolgte eine Problematisierung der alten Autoritäten. Im letzten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts bereits hatte die Philologie der Florentiner Humanisten so zur Relativierung und zu Autoritätsabbau beigetragen: Niccolò Leoniceno hatte Fehler von Plinius ermittelt, sie als Übersetzungsfehler aus dem Griechischen identifiziert und den klassischen Autor als Gefahr für die öffentliche Gesundheit gebrandmarkt.7 Ermolao Barbaro lastete in seinen Castigationes Plinianae die offensichtlichen Fehler den arabischen Kopisten an und betonte, dass Plinius den Pflanzen ihre richtigen Namen gegeben habe.8 1493, ein Jahr nach dem Erscheinen von Leonicenos Kritik, antwortete Pandolpho Collenuccio mit einer Pliniana defensio.9 In schneller Folge erscheint ab 1516 eine Fülle von lateinischen Vorab dem gemeinem einfaltigen man. Durch H. Hieronymum Bock aus langwiriger und gewisser erfarung beschriben […], Straßburg, Wendel Rihel 1546, Vorrede H. Hieronymi Bock zům Leser (o. S.). Hier und im Folgenden gebe ich bei frühneuzeitlichen Drucken Schaft-s als Rund-s wieder, u/v Schreibungen werden nach vokalischem und konsonantischem Wert unterschieden, die gängigen Abbreviationen werden aufgelöst. 6 Meyer, Ernst H. F., Geschichte der Botanik. Studien, Bd. 4, Königsberg 1857, S. 207– 253; Dilg, Peter, Die Pflanzenkunde im Humanismus – Der Humanismus in der Pflanzenkunde, in: Rudolf Schmitz und Fritz Krafft (Hgg.), Humanismus und Naturwissenschaften, Boppard 1980 (Beiträge zur Humanismusforschung 6), S. 113–134; Meier Reeds, Renaissance Humanism and Botany (Anm. 3), S. 519–542. Zur komplexen Verflechtung naturhistorischer und philologischer Aspekte und ihrer politischen Dimension in gelehrten Kontroversen des Florentiner Humanismus vgl. besonders Godmann, Peter, From Poliziano to Machiavelli. Florentine Humanism in the High Renaissance, Princeton, New Jersey 1998, S. 81–234. 7 Niccolò Leoniceno, Plinii ac plurium auctorum, qui de simplicibus medicaminibus scripserunt, errores notati, Ferrara 1492. (Ich verwende: Nicolai Leoniceni Vincentini De Plinii, et plurium aliorum medicorum in medicina erroribus opus primus Angelo politiano dedicatu […], Ferrara, Machiochius 1509). 8 Castigationes Plinij Hermolai Barbari, [Rom, Eucharius Silber] [1492/93?] (Zugänglicher: Hermolai Barbari Patritii Venetii in C. Plinii naturalis historiae libros castigationes, Basel, Johannes Valderus 1534); vgl. auch Meyer, Geschichte der Botanik (Anm. 6), Bd. 4, S. 222 f. 9 Pliniana defensio Pandulphi Collenuccii Pisauriens. Adversus Nicolai Leoniceni accusationem, Ferrara, Andreas Belfortis gallicus [1493]. Mit Leonicenos errores, Barbaros castigationes und Collenuccios defensio erfolgte der Beginn dieser Auseinandersetzung, die bis weit ins 16. Jahrhundert reichte. Vgl. besonders Godmann: From Poliziano to Machiavelli (Anm. 6), S. 98–104; Meier Reeds, Renaissance Humanism and Botany (Anm. 3), S. 523 f.; Dies., Botany in medieval and Renaissance Universities (Anm. 2), S. 19–21. Noch für die Kräuterbücher des 16. Jahrhunderts bildet diese Debatte einen wichtigen Hintergrund. So sind im dritten Teil der
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Epistemische Kontingenzen und ihre literarische Aktivierung
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und volkssprachlichen Übersetzungen und Kommentaren der materia medica des Dioskurides, ich erwähne hier nur die konkurrierenden Ausgaben von Jean Ruell (1516), Ermolao Barbaro (posthum 1516) und Marcello Virgilio (1518).10 Das Projekt philologischer und empirischer Revisionen von Schriften naturhistorischer Autoritäten wurde im 16. Jahrhundert fortgesetzt. Kein geringerer als Julius Caesar Scaliger – um nur ein weiteres Beispiel zu nennen – kommentierte die Pflanzenkunde des Theophrast.11 Er untersuchte auch die dem Aristoteles zugeschriebenen pflanzenkundlichen Schriften und konnte sie als pseudoepigraphica ausweisen.12 In Scaligers Vorrede zu den pseudoaristotelischen Schriften heißt es auch, dass jahreszeitliche und regionale Varianten die Identifikation europäischer Pflanzen mit denen der klassischen Schriften erschweren. Probleme wie diese waren unausweichlich geworden. Viele der mediterranen Pflanzen, die Dioskurides beschrieb, wachsen in Mitteleuropa nicht, dafür aber andere. Die Pflanzenbeschreibungen der klassischen Autoritäten werden als ungenügend wahrgenommen, sie erlauben oft keine eindeutige Identifizierung: Bei Dioskurides sind Blattformen, Blüten und Früchte in vielen Fällen unvollständig erfasst.13 PflanZweitauflage des Herbarum vivæ eicones von Otto Brunfels (1532), im De vera Herbarum cognitione apendix, auch die Klassiker der Debatte abgedruckt: Nicolaus Leonicenus de falsa quarundam herbarum inscriptione a Plinio (Brunfels, Herbarum vivae eicones, Straßburg, Johannes Schott 1532, Tl. III, S. 44–89) sowie Pandulphi Collinutii adversus Nic. Leonicenum Philomastigem defensio (ebd., S. 89–116). Und bei Hieronymus Bock heißt es: Ich glaub daß Plinius und viel vor ihm und nach ihm der Kräuter nit viel gekant noch gesehen haben / sondern allein vom Hörensagen / und aus Büchern / ir schreiben genommen. Daraus nit allein Irrtum sondern großer Abbruch und Verdunkelung vieler Stück entstanden. Bock, Kreüter Bůch, Straßburg, Wendel Rihel 1539, Tl. 1 Kap. xxviii, S. 22 f. (zit. nach Hoppe, Brigitte, Das Kräuterbuch des Hieronymus Bock. Wissenschaftshistorische Untersuchung. Mit einem Verzeichnis sämtlicher Pflanzen des Werkes, der literarischen Quellen der Heilanzeigen und der Anwendung der Pflanzen, Stuttgart 1969, S. 89, Anm. 10). 10 De materia medica lib. V se virulentis animalibus, et venenis, cane rabioso, eorundem notis et remediis libri IV / Dioscorides Joh. Ruellio interprete, Paris 1516; Joannis Baptistae Ignatii Veneti In Dioscoridem ab Hermolao Barbari tralatum annotamenta […] Dioscorides […] de medicinalia materia ab eodem Barbaro Latinate primum donati […] Hermolao Barbari […] Corrolarium libris quinque absolutum, Venedig, Ignatius 1516; Pedacii Dioscoridae Anazarbei: de Medica materia libri sex, interprete Marcello Virgilio cum eiusdem annotationibus […], Florenz, Philipp Giunti Erben 1518. Vgl. Meier Reeds, Renaissance Humanism and Botany (Anm. 3), S. 525 f.; zu Marcello Virgilios Übersetzungsprojekt und dem gelehrten Kontext Godmann, From Poliziano to Machiavelli (Anm. 6), S. 212–234. 11 Iulii Caesaris Scaligeri, viri clarissimi, commentarii, et animadversiones, in sex libros de causis plantarum Theophrasti […], Lyon, Guilielmus Rovillius 1566. 12 Iulii Caesaris Scaligeri, viri clarissimi, In libros de plantis Aristoteli inscriptos, commentarii abstrusiore cum Græcorum, tum Latinorum scriptorum doctrina […] Lyon, Guilielmus Rovillius 1566; auch: Genf, Jean Crispin 1566. 13 Vgl. Sachs, Julius, Geschichte der Botanik vom 16. Jahrhundert bis 1860, München 1875 (Geschichte der Wissenschaften in Deutschland, Neuere Zeit 15), S. 3 ff.; S. 16 f.; Dilg, Pflanzenkunde im Humanismus (Anm. 6), S. 122 f.
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zen werden über Vergleiche mit anderen Pflanzen beschrieben, was zur Klärung wenig beiträgt, wenn die Identität beider unsicher ist.14 In einer neuen Weise werden die früher durch den autoritativen Status gesicherten antiken Pflanzenkunden einem Referenzialisierungsdruck ausgesetzt: Die Pflanzen der ›Alten‹ werden nun auch wieder in der Natur aufgesucht. Wie sich die Akzente verlagert haben, zeigt ein Vergleich des lateinischen Kräuterbuchs von Otto Brunfels mit seiner vom Verfasser erstellten deutschen Übersetzung. Das dreibändige Herbarum vivæ eicones ad naturæ imitationem erschien bei Johannes Schott in Straßburg von 1530 bis 1536, ebenda auch die deutsche Fassung in zwei Teilen 1532 bis 37.15 Ich versuche an der Christwurz (helleborus niger),16 auf die ich noch öfter zurückkommen werde, die Veränderungen zu zeigen. Zunächst fallen in beiden Fassungen die ganz außergewöhnlichen nach Aquarellen von Hans Weiditz gefertigten Abbildungen auf (Abb. 1). Weiditz’ Darstellungen einzelner Pflanzen kennzeichnet ein frappanter Realismus, der sich u. a. darin äußert, dass die Pflanzen mitunter im halbwelken Zustand oder mit Raupenfraß gezeigt werden.17 Die Bilder sind bezüglich der Wiedergabe morphologischer Besonderheiten avancierter als die Praktiken der Pflanzenbeschreibungen der Zeit: Bei der Abbildung des helleborus niger etwa ist sehr gut der Unterschied zwischen Laub- und Hochblättern erkennbar, für welchen die hellebori erst später zum Lehrbuchbeispiel geworden sind. Für den helleborus niger gibt die lateinische Fassung von Brunfels zunächst den deutschen Namen Christwurtz an sowie lateinische und griechische Synonyme. Abgesetzt und unterschieden werden die nomenclaturæ nigri von den bekannten Namen für helleborus albus. Es folgen 14 Vgl. Meier Reeds, Renaissance Humanism and Botany (Anm. 3), S. 528 f. 15 Zur Druckgeschichte vgl. Meyer, Geschichte der Botanik (Anm. 6), Bd. 4, S. 298–301; Nissen, Claus, Die botanische Buchillustration. Geschichte und Bibliographie, 3 Bde., Stuttgart 1951–1966, Bd. 1, S. 39–44. Ich greife zurück auf: Herbarum vivæ eicones ad naturæ imitationem, summa cum diligentia et artificio effigiatae, una cum effectibus earundem, in gratiam veteris illius, & iamiam renascentis Herbariæ Medicinæ per Oth. Brvnf. recens editæ, Straßburg, Johannes Schott 1530; Contrafayt Kreüterbůch Nach rechter vollkommener art / unnd Beschreibung der Alten / besstberFmpten (rtzt / vormals in Teütscher sprach / der Masszen nye gesehen / noch in Truck auszgangen. Sampt einer gemeynen Inleytung der Kreüter urhab / erkantnüssz / brauch / lob und herzlichkeit. Durch Otho Brunnfelsz newlich beschriben 1532 […], Straßburg, Johannes Schott 1532–1537 [Nachdruck 1964]. 16 Brunfels, Herbarum vivæ eicones 1530 (Anm. 15), S. 30–35. 17 So bereits Walther Rytz, der die Weiditzschen Aquarelle, welche als Vorlage für die Druckstöcke des Brunfelsschen Herbariums gedient hatten, im Jahre 1930 im Herbar Felix Plattners auf dem Dachboden des Berner Botanischen Instituts entdeckte: Walther Rytz (Hg.), Pflanzenaquarelle des Hans Weiditz aus dem Jahre 1529. Die Originale zu den Holzschnitten im Brunfels’schen Kräuterbuch, Bern 1936. Eine kompetente und detaillierte Würdigung der Pflanzendarstellungen mit ausführlicher Druckgeschichte und Angaben zu der Verwertung der Druckstöcke findet sich bei Nissen, Die botanische Buchillustration (Anm. 15), Bd. 1, S. 41–44.
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Abb. 1 Christwurz, aus: Otto Brunfels, Herbarium vivae eicones ad naturae imitationem…, Straßburg 1532, S. 30. (Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Signatur: Botan. 194,1-1).
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Placita Authorum de Helleboro: zunächst die Beschreibung des Dioskurides, dann unter der Überschrift de inventore et monstratore ein Plinius-Auszug, in dem es heißt, die Pflanze heiße Melampodion, nach dem Weissager und Arzt Melampus oder aber weil ein Hirte gleichen Namens die abführende Wirkung der Wurzel bei Ziegen beobachtet und sie eingesetzt habe, um die wahnsinnig gewordenen Töchter des Proitos zu heilen.18 Als Superstitio Theophrasti wird die Bemerkung zitiert, dass sich bei der Wurzelernte kein Adler nähern dürfe. Angegeben werden sodann die unterschiedlichen Wirkungen beider hellebori nach Dioskurides, Razez und Mesue, ihr Einsatz bei der Heilung verschiedener Krankheiten sowie beim Töten von Tieren; es folgen Auszüge aus Rezeptvorschriften, zuletzt unter der Überschrift authores & descriptores hellebori ein Quellenregister der zitierten loci.19 Die deutsche Fassung des Brunfelsschen Herbars weicht in einigen Punkten ab, so etwa darin, dass Brunfels den deutschen Namen etymologisch begründet: Würt genennt Christwurtz / darumb das sein blům / die gantz gryen ist / vff die Christnacht sich vffthůt / und blFet. welches ich auch selb wargenommen vnd gesehen / mag für ein gespötte haben wer do will.20 Anstelle der Auszüge aus den antiken Schriften mit Verfasserangabe enthält die deutsche Ausgabe Paraphrasen, die sich oft mit allgemeinen Verweisen auf die Schriften der ›Alten‹ begnügen. Die Pflanzenbeschreibungen sind in der deutschen Fassung oft nicht als Dioskurideszitate ausgewiesen und die Quellenregister, welche die Kapitel der lateinischen Fassung beschließen, fehlen: Die Kompilation wird unkenntlich gemacht. Der Verfasser ist hier weniger Sprachrohr einer Tradition antiker Kapazitäten, sondern er ist als Autor profiliert. Mehrfach betont Brunfels in der deutschen Ausgabe das Beschriebene auch selbst gesehen zu haben. Der Übersetzungstendenz entspricht die Entwicklung pflanzenkundlichen Schrifttums im 16. Jahrhundert: die »Rückkehr durch das Studium der klassischen Literatur zur Naturbeobachtung«.21 Die Empirisierung sollte dabei nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein gewichtiges Problem der Pflanzenkundler sprachlicher Natur ist. Denn es geht nicht allein um die Zuordnung der griechischen und lateinischen Namen der ›Alten‹ zu mitteleuropäischen Ge-
18 Brunfels, Herbarum vivæ eicones 1530 (Anm. 15), S. 31; vgl. C. Plinii Secundi Naturalis Historiae liber XXV / Naturkunde, Lateinisch / Deutsch, Buch XXV: Medizin und Pharmakologie: Heilmittel aus wild wachsenden Pflanzen, hg. und übers. von Roderich König in Zusammenarbeit mit Joachim Hopp und Wolfgang Glöckner, Düsseldorf und Zürich 1996 (Sammlung Tusculum), XXI 47 (S. 46 f.). 19 Vermerkt werden Textstellen zum Helleborus bei Plinius, Dioskurides, Galen, Mezue, Theophrast, Avicenna, Macer, Serapion, Razes und Hippokrates. Bei anderen Pflanzen werden auch die humanistischen Gelehrten mitberücksichtigt: u. a. Leoniceno, Barbaro und Collenuccio. 20 Brunfels, Contrafayt Kreüterbůch (Anm. 15), S. 62. 21 So der nach wie vor treffende Titel des 14. Buches in: Meyer, Geschichte der Botanik (Anm. 6), Bd. 4, S. 207-241.
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wächsen,22 sondern auch um die Integration der verschiedenen volkssprachigen Pflanzennamen sowie der konkurrierenden Benennungen durch Apotheker, Bader und Ärzte.23 Hinzu kommt die Diversifizierung der Arten: Die alten Autoren beschrieben eine Pflanzenart, wo Gesner zehn oder mehr Spezies kennt.24 Vermehrt wird die zu bewältigende Nomenklatur noch durch die Tatsache, dass Pflanzenkundler neuentdeckten Pflanzen, denen sie keine Namen aus der Tradition zuordnen konnten, konkurrierende Bezeichnungen gaben. Schneller noch als die Zahl der Pflanzen wuchs die Menge ihrer Namen.25 Die nomenklatorischen Zuordnungsprobleme werden in den Kräuterbüchern immer wieder explizit.26 Am amüsantesten hört sich das bei Hie22 Einen Eindruck vermittelt das Verzeichnis der Synonyma für die Christwurz bei Bock: Diosc. nent die schwartz Nießwurtzel Helleborum nigrum / Veratrum nigrum und Melampodion / darumb das der hirt Melampus die unsinnige d=chter des königs Proeti in Arcadia darmit purgiert hat / er nent sie auch Proetion der selben d=chter halben / fürter nent er sie Polyrhizon / multi radicem / Melanorrhizon / Nigram radicem schwartz wurtzel und Cirrhanion / und Elaphinem und Celinen und Saraca und Zomarition und Isaiam und Prodiorna und Ectonion. Plinius schreibt von beiden Nieswurtzeln lib. xxv. cap. v. vnd seind die selbige wort Plinii fast auß Theophrasto lib. ix. cap. xi. genommen. […] Serap. cap. cccxxiii nent bede Nießwurtzel / Cherbachen. In Averrhoe heist sie Barbacus / und Condisi / wiewol etliche w=llen Condisi sei ein ander gewechs / das man Struthion nent / oder Lavariam herbam / davon Diosco. Lib. ii. cap. clii. schreibt / in Mesue heißt Barba Alfugi / Helleborus. Bock, Kreüter Bůch (Anm. 5), Bl. 153v. 23 Letztere werden angeführt bei: Conrad Gesner, Catalogus plantarum Latine, Graece, Germanice, & Gallice […] Namenbůch aller Erdgew(chsen / Latinisch / Griechisch / Teütsch / und Frantzösisch […] Adjectae sunt etiam herbarum nomenclaturæ variarum gentium, Dioscoridi ascriptæ, secundum literarum ordinem expositæ, Zürich, Christoph Froschauer 1542. 24 Vgl. etwa beim Enzian: Epistolarum medicinalium, Conradi Gesneri, philosophi et medici Tigurini libri III. His accesserunt eiusdem Aconiti primi Dioscoridis Asserveratio, & De Oxymelitis Elleborati utriusque descriptione & usu libellus. Omnia nunc primum per Casparum Vvolphium medicum Tigurinum in lucem data, Zürich, Christoph Froschauer 1577, Bl. 94v. 25 Den Aspekt einer Datenexplosion akzentuiert besonders Ogilvie, Brian W., The Many Books of Nature. Renaissance Naturalists and Information Overload, in: Journal of the History of Ideas 64 (2003), S. 29–40, hier S. 33 f.; Dilg, Pflanzenkunde im Humanismus (Anm. 6), S. 116–121; Daems, Nomina simplicium (Anm. 3), S. 15 ff. 26 So vermerkt Gesner beim Hellichrysos: Etlich meynend es syend rynblůmen / gefallt mir nit: ich halt sy mer für Ageraton. Die andern argw=nend Helichrysos sye keuthil / gefallt mir auch nit. Wirdt gmeinlich hepffen genennt, Gesner, Catalogus plantarum (Anm. 23), Bl. 39v, 40r: Auch im Kräuterbuch des Leonhard Fuchs werden die Zuordnungsprobleme immer wieder thematisch, so heißt es im 43. Kapitel ›Von Angelick‹: Dis nutzlich kraut so auff Teütsch Angelick genent würt / oder des Heyligen Geysts wurtzel / oder Brustwurtz / wissen wir mit seinem rechten Lateinischen oder Griechischen namen / ist es anders den alten bekant gewesen / nit zů nennen. Fuchs, Leonhard, New Kreüterbůch / in welchem nit allein die gantz histori / das ist / namen / gestalt / statt und zeit der wachsung / natur / krafft und würckung / des meysten theyls der kreüter so in Teütschen unnd andern Landen wachsen / mit dem besten vleiß beschriben / sonder auch aller derselben wurtzel / stengl / bletter / blůmen / samen / frücht / und in summa die gantze gestalt / allso artlich und kunstlich abgebildet und contrafayt ist / das deßgleichen vormals nie geschenen […], Basel, Michael Isingrin 1543, Kap. xliiiA.
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ronymus Bock an. So heißt es zur Bibernell (Pimpinella): Hilf Gott / was hat dise gemeine wurtzel sich müssen leiden bei den gelerten / haben alle darüber gepumpelt und gepampelt / noch nie eigentlich dargethon / wie sie bei den alten heiß / oder was es sei.27 Das 135. Kapitel seines Kreüter Bůch aus dem Jahre 1546 heißt Von Christwurtz und in ihm ist von mehreren Pflanzen die Rede (Abb. 2). Unter der Überschrift und der Abbildung vermerkt Bock, dass die Christwurz am Ende des Christmonats blüht: die blůmen seind an der farb mer grFner dann geeler – bei Bock behandeln sowohl Abbildung als auch Beschreibung die heute als grüne Nieswurz (helleborus viridis Linné) bezeichnete Pflanze.28 Er unterscheidet ein zahmes und ein wildes Geschlecht. Die wilde Christwurz sehe ähnlich aus, stinke aber sehr und gehöre zu den Leüßkreutern, es handelt sich hier um die heute als stinkende Nieswurz bezeichnete Art (helleborus foetidus Linné).29 Die schwarze Nieswurzel nun, so Bock, sei etwas anderes. Die Apotheker verkauften sie zwar unter dem Namen Christwurzel, es handle sich aber vielmehr um die Wurzel einer anderen Pflanze. Bild und Beschreibung legen hier das Frühlings-Adonisrößchen nahe (adonis vernalis Linné).30 Im Absatz Von den namen heißt es dann wieder über die Christrose, dass unsere weiber sie so nennten, weil sie um den Christtag blühe oder aber weil sie von ihnen zu Clystierungen gebraucht würden (die in Frage kommenden hellebori sind Winterblüher31 und mittelhochdeutsch crystieren ist eine Nebenform zu clistieren32). Nun erfolgt der Ab27 Bock, Kreüter Bůch (Anm. 5), Kap. clvi, Bl. 177r. 28 Vgl. Wick, Ferdinand, Beiträge zur Geschichte von Helleborus und Veratrum, Stetten und Basel 1939, S. 45 f. Die gründliche Aufarbeitung aller Pflanzennamen bei Bock erfolgt im wissenschaftlichen Kommentar zum Kräuterbuch von Hoppe, Das Kräuterbuch (Anm. 9), S. 90–396, zum helleborus niger: S. 205 f. 29 Wick, Beiträge (Anm. 28), S. 45; Hoppe, Das Kräuterbuch (Anm. 9), S. 205. 30 Ebd.; Wick, Beiträge (Anm. 28), S. 45. 31 In vielen Sprachen wird die Pflanze aufgrund ihrer Blüte um die Weihnachtszeit benannt. So z. B. im Obersorbischen und zwar sowohl als božonócne zelo als auch als hodowne zelo bzw. hodownička; vgl. Radyserb-Wjela, Jan, Serbske rostlinske mjena w dw,maj dźelomaj a sedmjoch stawach po abejcejskim rjedźe, čestny pomnik za serbskeho přirodnospytnika njeboh Michała Rostoka […], in: Časopis maćicy serbskeje 62 (1909), S. 1–96b, hier S. 44, 48; Lajnert, Jan, Rostlinske mjena. Serbske – Němske – Łaćanske [sic!], rjadowane po přirodnym systemje, hg. nakładna redakcija serbskich wučbnicow w Budyšinje, Berlin 1954, S. 48. 32 Vgl. den Eintrag kristieren bei Lexer, Matthias, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1872–1878 mit einer Einleitung von Kurt Gärtner, Bd. 1, Stuttgart 1992, Sp. 1738. Eine phonetische Erklärung des Zustandekommens der Nebenform und eine Dokumentation ihrer gelehrten Kritik und Korrektur bei: Grimm, Jacob und Grimm, Wilhelm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 5, bearbeitet von Rudolf Hildebrand, Leipzig 1873, Sp. 1309 f. Marzell kennt nur wenige weitere Belege für diese Etymologie der Christrose; vgl. Marzell, Heinrich, Wörterbuch der deutschen Pflanzennamen. Mit Unterstützung der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin bearbeitet von Heinrich Marzell unter Mitwirkung von Wilhelm Wissmann und Wolfgang Pfeifer, Bd. 2, Leipzig 1972, zum helleborus niger: Sp. 796–806, hier Sp. 797.
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Abb. 2 Christwurz, aus: Hieronymus Bock: Kreuter Bůch…, Straßburg 1546, Bl. 152v (Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Signatur: Botan. 59).
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gleich mit der Tradition: Dise wurtzel můß bei unsern gelerten die schwarz Nießwurtz sein / von welcher Diosc.lib iiii cap. cxlvj schreibt wie dan die beschreibung […] / nit gar ubel darzů stimpt.33 Damit stünde der Identifikation der Christwurz mit der schwarzen Nieswurz und dem bei Dioskurides und Theophrast beschriebenen helleborus nichts im Wege, jedoch entspricht die Harmlosigkeit der deutschen Wurzel nicht der in den antiken Schriften beschriebenen tödlichen Wirkung. Es müsse sich also entweder um eine superstition handeln, die auß Theophrasto in den Dioscoriden gesetzt worden sei,34 oder aber diese schrieben von einer anderen Pflanze, was Bock annimmt. Nach einem Durchgang durch die antik überlieferten Namen nimmt Bock schließlich auch die eingangs erwogene Ähnlichkeit der Pflanze mit der Beschreibung bei Dioskurides zurück: In summa mich wil duncken / die Christwurtz sei kein Elleborus / ursach / die beschreibung Ellebori nigri reimpt sich nit gar dohin / zům andern so mag Christwurtzel on allen schaden im leib genützet werden / on alles auff stossen und kotzen / welches für allen dingen dem schwartzen Nießwurtz fehlet / inhalt aller alter und newer scribenten.35
Er erwähnt auch eine heimische Pflanze, die er allerdings nicht beschreibt, bei der es sich möglicherweise um die schwarze Nieswurz handeln könne: […] so graben die frembden wurtzler gar ein ander Christwurtz zů Ingelheim auff der heiden zwischen Bingen und Meintz / die dragen sie feil / bis gehen Venedig / da selbst gilt jnen diese Ingelheimer wurtzel gelt / vnd mag meines bedunckens die schwarz Nießwurtz sein / wie ich sie dann selbs gegraben habe / Anno 1544. am gebirg nit fern / von dem flecken Leiningen.36
Auch hier begegnet – wie oben in der deutschen Ausgabe des Brunfels – die empirische Verifizierung und die Beglaubigung durch den Augenschein. Im New Kreüterbůch des Leonhard Fuchs heißt es im 105. Kapitel, dass jedermann die Christwurz für die schwarze Nieswurz der Alten halte, die sie doch nit ist, wie aus dem Vergleich der Pflanze mit der Beschreibung bei Dioskurides hervorgehe. Fuchs konstatiert, dass sich krafft und wirkung von schwarzer Nieswurz und Christwurz durchaus ähnelten, dass sie aber in der Gestalt nicht übereinstimmten.37 Auch Fuchs behandelt unter dem Namen Christwurz die heute als grüne Nieswurz bekannte Pflanze (Abb. 3). Auch er unterscheidet ein zam von einem wild Geschlecht. Letzteres werde auch Leüß33 34 35 36 37
Bock, Kreüter Bůch (Anm. 5), Kap. 135, Bl. 153 v. Ebd. Ebd., Bl. 155r. Ebd., Bl. 153v. Fuchs, New Kreüterbůch (Anm. 26), Kap. cvAB.
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kraut genannt, und sei der Christwurz äußerlich sehr ähnlich stinckt aber fast ubel – dieses Leüßkraut wird heute als stinkende Nieswurz benannt (Abb. 4). Diese Zuordnungen sind im 16. Jahrhundert gängig ebenso wie der Vergleich mit einem helleborus albus, der heute als weißer Germer bezeichnet wird (veratrum album Linné). Fuchs führt weiter aus, dass es Schwierigkeiten mit der Zuordnung gebe, weil die Christwurz von den Apothekern als schwarze Nieswurz bezeichnet werde. Um hier Sicherheiten zu schaffen, schlägt Fuchs folgende lateinische Nomenklatur vor: für die zame Christwurtz: elleborus adulterinus niger hortensis (heute helleborus viridis Linné), für das wilde Leüßkraut: elleborus adulterinus niger sylvestris (heute helleborus foetidus Linné).38 Es ist bezeichnend für die Schwierigkeit der zu vollziehenden Abwägungen, dass Fuchs und Bock in ihrer Entscheidung übereinstimmen, die Identifikation von Christwurz und schwarzer Nieswurz abzulehnen, dies jedoch geradezu gegensätzlich begründen: Behauptet Fuchs, die Wirkung sei ähnlich aber die Beschreibung bei Dioskurides stimme nicht mit der Pflanze überein, so konstatiert Bock, die Beschreibung passe recht gut zur Pflanze, die Wirkung aber unterscheide sich erheblich. Angesichts des Tatbestandes, dass die Wirkungen der Pflanzendrogen in den antiken Schriften die größte Aufmerksamkeit erfahren haben,39 empfiehlt sich für den Abgleich der Pflanzennamen der Selbstversuch. Der Zürcher Arzt, Naturforscher und Philologe Conrad Gesner, bei dem das medizinische Interesse engstens mit dem philologischen verklammert war,40 vergiftet sich dabei am helleborus albus41 und schildert in einem Brief irenisch die Symptome: Zunge und Kehle seien heiß geworden, ein Brennen in 38 Ebd. 39 Meyer, Geschichte der Botanik (Anm. 6), Bd. 2, S. 114. 40 Dafür stehen viele Editionen und lexikographische Projekte Gesners, wie etwa seine Ausgabe der Schriften Galens, sein Verzeichnis der Pflanzennamen und sein Wörterbuch der Namen der Fische und Wassertiere: Gesner, Catalogus plantarum (Anm. 23); Konrad Gessner, Deutsche Namen der Fische und Wassertiere. Neudruck der Ausgabe Zürich 1556, hg. und eingel. von Manfred Peters, Aalen 1974 (hier auch das Vorwort von Manfred Peters); Gesner, Opera Galeni, Basel, Froben 1561; Gesner, Prolegomena in opera Galeni 1562. Gesners Fossilienbuch von 1565 führt philologische und naturhistorische Fragestellungen schon im Titel zusammen: liber non solum medicis, sed omnibus rerum naturae et philologiae. Vgl. auch Zoller, Heinrich, Conrad Gessner als Botaniker, in: Conrad Gessner. 1516–1565. Universalgelehrter, Naturforscher, Arzt. Mit Beiträgen von Hans Fischer u. a., Zürich 1966, S. 57–63; sowie (mit weiterer Literatur): Klein, Wolf Peter, Am Anfang war das Wort. Theorie- und wissenschaftsgeschichtliche Elemente frühneuzeitlichen Sprachbewußtseins, Berlin 1992, Kap.: Conrad Gesner: Lexikographie und Naturgeschichte, S. 249–262. 41 Hans Fischer erwähnt eine helleborus niger-Vergiftung Gesners, die in einem Brief an Achilles Pirmin Gasser ausführlich beschrieben worden sei; Fischer, Hans, Conrad Gessner als Arzt, in: Conrad Gessner. 1516–1565 (Anm. 40), S. 39–47, hier S. 41–43. Mir ist lediglich die Schilderung der helleborus albus-Vergiftung im Brief an Adolph Occo III. bekannt (siehe folgende Anm.).
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Abb. 3 Christwurtz, aus: Leonhart Fuchs, New kreüterbůch…, Basel 1543, c. 105 (Medizinhistorisches Institut und Museum der Universität Zürich, Signatur: 6 F951 NE).
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Abb. 4 Leüßkraut, aus: Leonhart Fuchs, New kreüterbůch…, Basel 1543, c. 105 (Medizinhistorisches Institut und Museum der Universität Zürich, Signatur: 6 F951 NE).
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Schulterblättern, Gesicht und Kopf habe sich eingestellt, schließlich Aufstoßen und eine Schwellung der Speiseröhre »als ob ich ersticken sollte«. Nach dem Auslösen von drei- oder viermaligen Erbrechen mittels einer Feder und des Fingers trinkt Gesner eine lauwarme Abkochung von Mastix und befindet sich »durch Gottes Gnade […] in bester Gesundheit«.42 In dem durch viele Beispiele ergänzbaren Rätselraten um Namen und Wirkungen der Pflanzen manifestieren sich die Kontingenzerfahrungen einer Datenexplosion: res certe infinita est, heißt es in einem Brief Gesners über die Pflanzenkunde.43 Aber man sollte dies nicht als Krise missverstehen.44 Die mit der Datenexplosion einhergehenden Erfahrungen eines immensen Möglichkeitsreichtums bleiben gerade in der Botanik immer rückgebunden an den Topos von der Unausmessbarkeit göttlicher Schöpfung. So mahnt Bock, bei der Beurteilung seines Kräuterbuches angemessen zu berücksichtigen, wie schwer es sei, also viel unnd seltzamer gewechs in ein Buch zu bringen und ein jedes mit rechtem nammen nennen sowie seinen Nutzen anzugeben. Der Hinweis auf die Komplexität des Unterfangens geht unmittelbar über in das Lob Gottes: wir sollen aber gar nit vergessen unsern Gott vnd sch=pffer darbei zů loben unnd jm danckbar sein / das er uns menschen noch t(glich wie von anfang der welt / so
42 Gesner an den Augsburger Stadtarzt Adolf Occo III. am 18. Februar 1565: Gesner, Epistolarum medicinalium […] libri III, Zürich, Froschauer 1577, Bl. 69r: […] heri duabus ante cœnam horis circiter i. boni ponderis sumpsi: paulo post sextam coenavi pro more, bene habebam, sed in media cœna, feruor lingue et gutturis augetur: ardores quosquam circa scapulas, in facie etiam & capite percipio. pergo cœnare. appotabam, nullo metu. noram enim iam alias, alijs modis expertus, ellebori naturam. mox singulus supervenit, & inflatio quædem æsophagi ceu suffocaturus, sed leviter: itaque anambulo, nullo timore nulla debilitate: & cum singultus fere dimidia hora perseverasset, penna & digitis in fauces insertis, ter quaterue vomitum provocavi: & mox mastiches decoctum tepidum bibi: & (Dei Gratia) optime habui. Übersetzung des Briefes bei: Durling, Richard J., Konrad Gessner’s Briefwechsel, in: Schmitz/Krafft, Humanismus und Naturwissenschaften (Anm. 6), S. 101–112, hier S. 106 f. Zum Austausch über Botanica vgl. auch Gesners gelehrten Briefwechsel mit Gasser: Achilles Pirmin Gasser (1505–1577). Arzt und Naturforscher, Historiker und Humanist, hg. und übersetzt von Karl Heinz Burmeister, Bd. III: Briefwechsel, Wiesbaden 1975. Gesner beschrieb den Helleborus niger in seiner Schilderung einer von ihm favorisierten Arznei, des Oxymeli; der Text wurde von Wolf aus dem Nachlass als Anhang der Briefsammlung publiziert: Conradi Gesneri philosophi et medici Tigurini, de aconito primo Dioscoridis asservatio et eiusdem De oxymelitis elleborati utriusque descriptione et usu libellus, Zürich, Froschauer 1577, Bl. 21r-28r. 43 Gernot Rath, Die Briefe Conrad Gessners aus der Trewschen Sammlung, in: Gesnerus 7 (1950), S. 140–170, hier S. 155, vgl. S. 159; vgl. Durling, Gessners Briefwechsel (Anm. 42), S. 104 f. 44 Dies geschieht beispielsweise bei Ogilvie, The Many Books (Anm. 25), S. 35: »Serious scholars too felt threatened, if not overwhelmed, by the explosion of botanical information.« Daselbst aber eine gute Zusammenfassung der neuen Verfahren, die eingesetzt wurden, um die Informationsfülle zu bewältigen.
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reihlich mit allerlei gaben / uberschwencklich begnadet. Dann so wir seiner hende werck besehen / erfindt sichs klar / das niemands auff erden ist der das aller kleinest greßlin gnůgsam kunth außstreichen / wie das auffwachs / oder war zů es gůt sei […].45
Die Kontingenz ist weniger in einer Krise als vielmehr im sich öffnenden Möglichkeitsreichtum der Sprache und der Dinge zu sehen. Zwischen die Namen und Dinge schieben sich Unwägbarkeiten. In diesem Möglichkeitsreichtum bei der Zuordnung sehe ich jene Kontingenz, welche von den Kräuterbüchern verwaltet wird. Völlig anders als die Kräuterkundler gehen Paracelsus und die Paracelsisten mit den Kontingenzen der Pflanzenkunde um. Anstelle des diffizilen Abgleichs überlieferter Namen steht bei Paracelsus die Nomenklatur aus dem Geist der Analogien.46 Die Signaturenlehre geht von der Manifestation innerer Eigenschaften und Kräfte eines Geschöpfs in seinen äußeren Kennzeichen aus. Auch bei Pflanzen wird aus ihrer Form oder einem anderen Merkmal die medizinische Wirkung abgeleitet.47 So wird etwa durch die Analogie von Teilen der Pflanze mit Teilen des menschlichen Körpers die therapeutische Wirksamkeit angezeigt. Signaturisten erschließen den unsichtbaren Gehalt der Dinge aufgrund sichtbarer Zeichen auf ihren Oberflächen: […] die form ist ein anzeigen, dorzu sie gut ist. Eufragia [sic!] dient den augen, aus 45 Bock, Kreüter Bůch (Anm. 5), zum Leser. Zur Wertschätzung der mirabilia dei bei Bock vgl. auch Hoppe, Das Kräuterbuch (Anm. 9), S. 88, Anm. 6. 46 Zur Sprachreflexion bei Paracelsus vgl. besonders: Klein, Am Anfang war das Wort (Anm. 40), S. 121–144; Eco, Umberto, Die Grenzen der Interpretation, aus dem Italienischen von Günter Memmert, München und Wien 1992, S. 86–91; Meier-Oeser, Stephan, [Art.] Signatur, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Basel 1995, Sp. 750–754; Ders., Die Spur des Zeichens. Das Zeichen und seine Funktion in der Philosophie des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Berlin und New York 1997 (Quellen und Studien zur Philosophie 44), S. 309–350; Ohly, Friedrich, Zur Signaturenlehre der Frühen Neuzeit. Bemerkungen zur mittelalterlichen Vorgeschichte und zur Eigenart einer epochalen Denkform in Wissenschaft, Literatur und Kunst, aus dem Nachlass hg. von Uwe Ruberg und Dietmar Peil, Stuttgart und Leipzig 1999, S. 73–86; Fuss, Peter, Von den Zeichen der Welt zur Welt der Zeichen. Semiologische Konzepte bei Paracelsus und Fischart, in: Wirkendes Wort 3 (2002), S. 333–360. Die anregenden Ausführungen von Fuß sind dort problematisch, wo auf Foucault zurückgreifend Paracelsus zum Vertreter einer vormodernen Episteme der Ähnlichkeit gemacht und von einer Episteme der Repräsentation bei Fischart unterschieden wird. Foucault hatte paracelsistische Texte in der Tat als Beleg für die Episteme der Ähnlichkeit angeführt; vgl. Foucault, Michel, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main 121994, S. 56–61. Zu Foucaults Ausweitung der Prinzipien der Signaturenlehre auf die gesamte Renaissance, ja die vormoderne Welt schlechthin hat es vielfach Kritik gegeben. Wesentliche Argumente werden zusammengefasst bei Otto, Stephan, Das Wissen des Ähnlichen. Michel Foucault und die Renaissance, Frankfurt am Main, Bern und New York 1992. 47 Zu den Sinnträgergattungen der Signaturenlehre vgl. Ohly, Zur Signaturenlehre (Anm. 46), S. 11 f.
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was ursachen? das sie anatomiam oculorum hat […].48 Die deutsche Bezeichnung von euphrasia ist Augentrost: Paracelsus referiert, dass viele Wurzeln, Kräuter und Pflanzen ir namen bekommen hätten, und geht auf die dem Namen entsprechenden Heilwirkungen von Augentrost, Blutwurzel, Grintwurzel und Harnkraut ein.49 Auch der Name, sofern er der rechte Name ist, zeigt an. Die rechten Namen stehen bei Paracelsus immer im polemischen Gegensatz zu Lehre und Begrifflichkeit der Universitätsmedizin. Er inszeniert den totalen Traditionsbruch. Ihre sprachkritische Akzentuierung erfährt seine Polemik, wo diese Tradition immer wieder als Avicennische geschwez und verlogne red Galeni diskreditiert wird, als ploderwerk, darinen Galenus, Rasis und Avicenna mit iren commentarien plerren und schreien.50 Die Sprache der traditionellen Medizin ist konventionell und deshalb therapeutisch wertlos, sie entstammt der babylonischen Verwirrung. Ihr gegenüber setzt Paracelsus die kreftigen Worte, die wahrer Anschauung der Natur entstammen und auf die adamitische Sprache des Paradieses zurückführen.51 Paracelsus betätigt sich mitunter selbst als Einsetzer der rechten Namen, wie etwa im Falle der schwarzen und weißen Nieswurz. Diese Namen aber seien unangemessen, weil sie nur die Farben der Wurzeln, nicht aber ihre Heilkräfte betreffen: so nun der nam aus den tugenden zu nemen ist, so sol die weiß nieswurzen die jung geheißen werden und die schwarz die alt nieswurzen, im latein iunior alba und die ander senior nigra, und der nam elleborus soll hinweg getan werden. warumb ich solches anzeig, vermerket also. die zwo wurzen haben einerlei tugent aber in der selbigen 48 Paracelsus, Weitere verstreute Bruchstücke über das Podagra, in: Theophrast von Hohenheim, genannt Paracelsus, Sämtliche Werke Abt. 1: Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften, hg. von Karl Sudhoff, Bd. 1, München und Berlin 1929, S. 376. Dass die Ähnlichkeiten, die der Signaturenlehre zu Grunde liegen, mit der Heilwirkung der Pflanzen oder der Ähnlichkeit mit anderen Dingen bereits bei der Benamung der Pflanzen eine Rolle spielten, ist offensichtlich. Somit sind es komplexe rhetorische Operationen, mittels derer die Signaturisten das von ihnen Entdeckte selber setzen. Wenn also bei Paracelsus im Zusammenhang mit den ›rechten Namen‹ der Pflanzen gelegentlich von der adamitischen Ursprache die Rede ist, so invisibilisieren solche Projektionen die der Signaturenlehre eigenen semantischen Zirkelschlüsse. Vgl. dazu Eco, Grenzen der Interpretation (Anm. 46), S. 91. 49 Vgl. auch Paracelsus, Die neun Bücher de natura rerum, in: Paracelsus, Sämtliche Werke (Anm. 48), Abt. 1, Bd. 11, S. 398. 50 Paracelsus, Von den podagrischen Krankheiten und was in anhängig ist […], in: Paracelsus, Sämtliche Werke (Anm. 48), Abt. 1, Bd. 1, S. 347; Ders., De morborum utriusque professionis origine et causa […], in: Paracelsus, Sämtliche Werke (Anm. 48), Abt. 1, Bd. 9, S. 137. 51 Vgl. etwa Paracelsus, Die neun Bücher de natura rerum, in: Paracelsus, Sämtliche Werke (Anm. 48), Abt. 1, Bd. 11, S. 397 ff.; Fuss, Von den Zeichen der Welt zur Welt der Zeichen (Anm. 46), S. 341; vgl. auch Klein, Am Anfang war das Wort (Anm. 40), S. 142 f.; Ohly, Signaturenlehre (Anm. 46), S. 73–78.
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gespalten, also das die jung nieswurzen alein den jungen füegt und gebraucht sol werden denen, so under fünfzig jaren seind, und den jenigen, so nach den fünfzig jaren seind, den selbigen sol die alt nieswurz gegeben werden.52
Im onomastischen Rigorismus des Paracelsus und der Paracelsisten kann eine Flucht nach vorn aus der Philologie in den Kratylismus gesehen werden. Aus der Fülle verfügbarer Namen wird einer präferiert und als der rechte Name überhöht. Mit den verbleibenden Namen wird auch das linguistische Problembewusstsein der Pflanzenkundler perhorresziert. Insbesondere den deutschen Pflanzennamen kommt bei Paracelsus besondere Aufmerksamkeit zu, ja er beansprucht für sich, hier über die Kräuterkunde seiner Zeit hinausgegangen zu sein: Wiewol das ist das etlich teutsch aufgestanden sind, haben sich die kreuter zu beschreiben sc. understanden und in das werk bracht, deren arbeit gleich ist einem betler mantel, hin und her zusamengeflikt und gelesen von allen zusamen in eins, und in summa alles nichts; falt von einander gleich wie der bettelmantel […] die selbigen irrer und verfürer, falsch anzeiger und lerer in der arznei sollen mich nichts bekümern, sie seind niemants mer nuz, als alein den buchtrückern […].53
Anders als die Verfasser der Kräuterbücher des 16. Jahrhunderts hat Paracelsus wenig Interesse an der Integration antiker Schriften und alternativer Nomenklaturen. Um die kratylistischen Relationen zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem zu sichern, und somit dem Möglichkeitsreichtum alternativer Zuordnungen zu entgehen, betreibt Paracelsus im Zeichen wahrer Namen eine radikale Komplexitätsreduktion. Im empirisch begrenzten philologischen Diskurs der Kräuterbücher und in der analogiegeleiteten Semiose paracelsistischer Pharmakognostik äußern sich verschiedene Bewältigungsstrategien für die Kontingenzen der pflanzenkundlichen Nomenklatur.
52 Paracelsus, Von den natürlichen Dingen (das erste Buch) Vom Terpentin, von schwarzer und weißer Nieswurz, vom Wasserblut, vom Salz, vom St. Johannis=Kraut, vom Magneten, vom Schwefel, vom Vitriol, vom Arsenik (vom Tartaro) [1525?], in: Paracelsus, Sämtliche Werke (Anm. 48), Abt. 1, Bd. 2, S. 73. 53 Paracelsus, Herbarius Theophrasti de virtutibus herbarum, radicum, seminum etc. Alemaniae, patriae et imperii, in: Paracelsus, Sämtliche Werke (Anm. 48), Abt. 1, Bd. 2, S. 5 f.
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2. Kontingenz in der Pflanzenkunde – Kontingenz in der Geschichtklitterung Fischart hatte auch als Fachpublizist an den hier aufgezeigten Diskursen partizipiert. Mit dem Paracelsisten Toxites (d. i. Michael Schütz) gab er ein Fachwörterbuch heraus, in dem sich zwei Onomastica befinden: ein Synonymverzeichnis von Gegenständen der materia medica (Onomasticon I) und ein paracelsistisches Wörterbuch (Onomasticon II).54 Im ersten werden Entsprechungen medizinisch relevanter Dinge auf Deutsch, Französisch, Italienisch, Englisch sowie in den Sprachen der Salber, Apotheker und des Paracelsus wiedergegeben.55 Den größten Teil der Einträge machen Pflanzennamen aus. Fischart hat mehrere Quellen kompiliert, insbesondere Einträge aus dem Nomenclator omnium rerum des Hadrianus Junius wurden genutzt und wahrscheinlich auch Dioskurideskommentare des Valerius Cordus sowie Gesners Catalogus plantarum.56 Fischarts onomastische Klitterungen, die den erreichten nomenklatorischen Sachstand der Kräuterbücher oft unterschreiten, sind wieder reine Buchwissenschaft. Wesentlich lebendiger gestalten sich gegenüber solchen toten Wörtern die Rückgriffe auf die Pflanzenkunde in der Geschichtklitterung. Rekurse auf die hier dargestellten pflanzenkundlichen und pharmakognostischen Bereiche erfolgen etwa im Zusammenhang von Gargantuas Geburt. Bei seiner Mutter Gargamelle setzen die Wehen ein und sogleich sind unzählige Hebammen zur Stelle, wobei sich zwo alte verrostete Schellen besonders auszeichnen, welche für grosse Kůhärtztin und Alraundelberin geacht waren, und die ein auß der Krautenau von Colmar, die ander von Wisensteig bei Ulm dargegabelet 54 [Toxites, Michael/Johann Fischart]: Onomastica II. I. Philosophicum, Medicum, Synonymum ex variis vulgaribusque linguis II. Theophrasti Paracelsi: hoc est, earum vocum, quarum in scriptis eius solet usus esse, explicatio. Nunc primum in commodum omnium Philosophiae ac Medicinae Theophrasticae studiosorum, cuiuscunque nationis sint: fideliter publicata. Gründliche Erklärung in allerlei Sprachen, der Philosophischen, Medizinischen und Chimicischen Namen, welcher sich die Arzet und Apotheker und auch Theophrastus zu gebrauchen pflegen […], Straßburg, Bernhard Jobin 1574. 55 Die Geschichtklitterung enthält im 27. Kapitel eine Polemik gegen die betrügerischen Praktiken der Krautnirer, Pulverkremer, Simplicisten, Kälberarzt, Bader etc. In diesem Zusammenhang präsentiert Fischart ausführlich den auch im Onomasticon aufgearbeiteten Wortschatz; vgl. Johann Fischart, Geschichtklitterung (Gargantua). Text der Ausgabe letzter Hand von 1590 mit einem Glossar von Ute Nyssen. Nachwort von Hugo Sommerhalder, Illustrationen nach Holzschnitten aus den songes drolatiques de Pantagruel von 1565, Darmstadt 1977, S. 274 ff. 56 Böss, Hugo, Fischarts Bearbeitung lateinischer Quellen. I: Fischarts Onomastica und seine Quellen […], Reichenberg im Breisgau 1923 (Prager Deutsche Sudien 28), S. 1–10; Weidmann, Karl, Hadrianus Junius als Quelle für Johann Fischart. Ein Beitrag zur Erforschung des Fischartschen Wortschatzes, in: Zeitschrift für deutsche Wortforschung 13 (1911/12), S. 116–124.
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waren.57 Hier sind die Kräuterweiber schon durch die Namen ihrer Heimatdörfer kenntlich gemacht, es folgt die Listung der Heilpflanzen: Alsbald postierten die Hebammen Säcklin herzu, trugen den Achgnesischen Babst her auff dem Agnesischen Habetstul, mischt Schnittlauch, Bingelsafft, Hasenrennlin, Gichtkörner, Gertwürtzlin, Natterwurtz, Nesselsamen, Quittenkerner, Pappelskäßlin, Balsamrauch, Magdalenenkraut, Basiliscendampff, Nepten, welchs sie alles zuvor gebraucht gehabt: Aber in der höchsten noht stieß man ihr Magnetstein zu, Trachenkraut, Adlerstein, Smaragden, Corallen, Sibenzeit, Nebelgertlin, Camillen, Eisenkrautwasser, Betonien, Hirtzkreutz, Helfantenzän, Büglin, Bibergeil, unser Frauen eyß.58
In diesem deutschsprachigen Heilpflanzenkatalog wird umfassend obstetrische (geburtshilfliche) Rezeptliteratur geplündert,59 herbeizitiert werden die für die Geburt einzusetzenden Heilpflanzen und weitere Mittel. In seiner Ausführlichkeit entspricht der Katalog der Riesenhaftigkeit der Romanfiguren. Im Sinne solcher Entsprechungen wird das Verhältnis von Literatur und Wissen in der Geschichtklitterung immer wieder relationiert: Der Monstrosität der Riesenfamilie entspricht eine besonders umfassende Inventarisierung verschiedenster Wissensbestände – etwa wenn ausführliche Wurstoder Weinkataloge die Fülle der Dinge in der Welt und zugleich das immense Fassungsvermögen der Riesenleiber vergegenwärtigen.60 Auch bei der Geburt besonders großer Helden müssen offenbar besonders viele, möglichst alle in Frage kommenden Pflanzen gelistet werden. 57 Fischart, Geschichtklitterung (Anm. 55), S. 147. 58 Ebd. 59 Vgl. etwa Jacob Rueff, Ein sch=n lustig TrostbFchle von den empfengknussen und geburten der menschen / und iren vilfaltigen zůfellen vnd verhindernussen […], Zürich, Froschauer 1554; Gualtherius Ryff, Schwangerer Frauen Rosengarten. / GrFndliche/nothwendige be-/ schreibung allerhand / zůf(lle, so sich mit schwangern Frauwen vor, inn, und nach der geburt, manichfaltig zůtragen m=gen, Frankfurt am Main 1569, Christian Egenolffs Erben; Eucharius Rößlin, HebammenbFchlin. Empfengnuß und geburt des Menschen […], Frankfurt am Main, Christian Egenolffs Erben 1578; (Pseudo-)Albertus Magnus, Weiber geheimnuß. Albertus Magnus / von Weibern unnd geburten der Kinder / sampt ihren Arzneyen. Auch vonn tugenden etlicher fFrnemer Kreuter und von Krafft der Edlen gestein, von art und natur etlicher Thir […], Frankfurt am Main 1566; vgl. zur mittelalterlichen Tradition der secreta mulierum: Kruse, Britta-Juliane, ›Die Arznei ist Goldes wert‹. Mittelalterliche Frauenrezepte, Berlin und New York 1999. 60 Vgl. Ertzdorff, Xenja von, Lachen über das Essen und Trinken der Riesen in Johann Fischarts Geschichtklitterung (1590), in: Dies., Spiel der Interpretation. Gesammelte Aufsätze zur Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Göppingen 1996 (GAG 597), S. 481–489, hier S. 485; Bachorski, Hans-Jürgen, Irrsinn und Kolportage. Studien zum Ring, zum Lalebuch und zur Geschichtklitterung, Trier 2006 (Literatur, Imagination, Realität 39), S. 370–382. Vgl. auch Jauss, Hans Robert, Über den Grund des Vergnügens am komischen Helden, in: Wolfgang Preisendanz und Rainer Warning (Hgg.), Das Komische, München 1976 (Poetik und Hermeneutik 7), S. 103–132, hier S. 118 f.
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Naturgemäß entwickelt sich der Riesenzögling zum großen Säufer, Fresser und Spieler. Das Kapitel über die Studierpraxis des Gargantua zeigt den Riesenknaben nicht etwa bei eifrig vorangetriebenen Studien, vielmehr wird nach dem Muster der grobianischen Literatur vorgeführt, wie der Tagesablauf dominiert ist vom Fressen, Saufen und von kindlichen Spielen. Angesichts dieses eklatanten Missverhältnisses und der undietlichkeit und schädliche[n] weiß zuleben61 greift der neue Lehrmeister namens Kundlob zu drastischen Maßnahmen.62 Er veranlasst die Bereitung einer Teuffelsbannige[n] scharffe[n] Purgatz von Anticirischem Helleborischem Nießwurtz, welche den Schüler von aller verruckung, verschupffung, alteration unnd verkehrte[r] disposition und unwesenlichkeit des Hirns63 reinigt. Wo bei Rabelais allein der Name der Pflanze und die erfolgreiche Kur vermerkt ist, widmet Fischart der Pflanze selbst eine Digression: Es hat doch der Warsager Melampus (der also genandt ward von dem einen schwartzen fuß: dann als ihn sein Mutter Kindsweiß inn ein Wald ließ vertragen, ward ihm inn der eil alles verdeckt ausserhalb eim fuß, welchen die Sonn gar schwartz brante) derselb Schwartzfuß hat mit der schwartzen Nießwurtz, oder Daubmäl, des Königs Proeti unsinnigen Töchtern wider zu recht geholffen, unnd die ein Tochter Hüpschnäßlin darmit verdienet. Hat der nicht wol genießt, so sagt ihm, Gott helff euch. Was sag ich vom schwartzen Mäl am Fuß? Carneades der Philosophus mit den langen Negeln, hat nimmer ein Buch anfangen zu schreiben, er hat zuvor die schwartz Christierwurtz (welche die Narren Christwurtz nennen) gebraucht. Darumb haben alle Würtzler umb Bingen unnd Mentz, auch damals, als Lingeculius für unser Strotzgurgel das Recept macht, die Clistierwurtz auff der Ingelheimer Heyd all ergraben unnd zutragen müssen, also daß es die Venediger, denen mans hievor Ruckörbenweiß zugetragen, sehr geklagt, auch die Bingheimer Meuß, so deren gelebt, vor leid seidher gestorben. Nun mit disem Hirnhölenborn bracht Kundlob zuwegen, daß er alles das, welchs er zuvor unter seinen alten Lehrmeistern eingesogen, vergaß […].64
Die Sprachprobleme der Pflanzenkunde nimmt Fischart auf und formt sie zum charakteristischen Amalgam aus verballhornten Exempeln und Sprachspielereien. Letztere lassen sich zudem auf Sprachreflexionen beziehen, die im Diskurs der Signaturisten als Geflecht universeller Analogien zwischen Namen, Gestalten und Wirkungen von Pflanzen entworfen wurden. Die bei Herodot und Apollodor überlieferte Geschichte von Melampos, der die ra61 Fischart, Geschichtklitterung (Anm. 55), S. 251. 62 Zu den antihumanistischen Implikationen dieser Kur vgl. Kellner, Beate, Verabschiedung des Humanismus – Fischarts Geschichtklitterung, in: Nicola McLelland, Hans-Jochen Schiewer und Stefanie Schmitt (Hgg.), Humanismus in der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. XVIII. Anglo-German Colloquium Hofgeismar 2003, Tübingen 2008, S. 155–181, hier S. 164–168. 63 Fischart, Geschichtklitterung (Anm. 55), S. 252. 64 Ebd.
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senden Töchter des Proitos durch Purgieren geheilt habe,65 dient als Vorlage für jene Märendeitungen, die Fischart in der Geschichtklitterung betreibt. Wird traditionell der Name Melampodion überliefert, weil Melampos die Wirkung der Pflanze entdeckt habe, so konstruiert Fischart eine andere Analogie des deutschen Namens mit dem antiken Arzt: Vom sonnenverbrannten schwarzen Fuß des Melampos wird auf die schwarze Wurzel der Pflanze assoziiert. Dabei handelt es sich um eine jener M y t h o l o g i a s P a n t a g r u e l i c a s dz ist Alldurstige Grillengeheimnussen und Märendeitungen, von denen Fischart an anderer Stelle behauptet diß wer dieses buches warer Titul.66 Die okkasionelle und lusorische Inanspruchnahme mythischer Denkfiguren hat aber dort, wo sie mit Praktiken der Analogiebildung in bestimmten Wissensbereichen konfrontiert wird, den Charakter einer Distanzierung. Erscheinen die Ähnlichkeiten der Signaturisten aus heutiger Perspektive als willkürlich, so handelte es sich bei ihnen jedoch nicht um Ähnlichkeiten von allem und jedem: Schwarze Füße von Heilern des Altertums und schwarze Wurzeln gehören verschiedenen Bezugssystemen an, ihre Vergleichbarkeit ist im Diskurs der Signaturisten nicht gewährleistet – im literarischen Rahmen der Geschichtklitterung ergibt sie sich zwanglos. Die Vernetzung der Welt in einem Bezugsgeflecht von Analogien wird hier willkürlich in Anspruch genommen. Schließlich wird sie bis in den groben Unsinn getrieben: Was sag ich vom schwartzen Mäl am Fuß? Aus Melampus wird Mehl am Fuß und zwar schwarzes Mehl.67 Mit dem Oxymoron ist die Praxis der Analogiebildung als sprachlicher Unsinn entlarvt – als Grillengeheimnuss. Damit aber wird die Praxis der Signaturisten implizit als jenes Sprachspiel ausgestellt, das unausgewiesen die Paracelsisten betrieben, wo sie von Pflanzennamen per analogiam auf wesentliche, vom Schöpfer beigegebene Eigenschaften meinten schließen 65 Bei Herodot gilt der Seher Melampus als derjenige, der den Dionysos-Kult in Griechenland bekannt machte und den Phallos-Umzug einführte, erwähnt wird auch die Heilung der Frauen von Argos und die Verhandlungen um den Lohn dafür. In den Bibliotheke des Apollodorus heißt es, Melampos habe die Stimmen der Vögel verstanden, weil Schlangen ihm, während er schlief, die Ohren geleckt hätten. Sowohl Herodot als auch Apollodoros erwähnen die Geschichte der Heilung der Proitos-Töchter, bei Apollodor werden auch deren Namen erwähnt: Lysippe, Iphinoë, Iphianassa; vgl. Herodot, Historien. Bd. 1, Buch I–V, Griechisch / Deutsch, hg. von Josef Feix, München und Zürich 1988, II, 49 (S. 242 ff.); ebd., Bd. 2: Buch VI–IX, IX, 34 (S. 1192 ff.); Apollodor, Bibliotheke. Götter und Heldensagen, Griechisch / Deutsch, hg., übers. und kommentiert von Paul Dräger, Düsseldorf und Zürich 2005 (Sammlung Tusculum), I, 96 f. (S. 48 f.); II, 26–29 (S. 82 f.). C. Plinii Secundi Naturalis Historiae liber XXV (Anm. 18), XXI, 47 (S. 46 f.). 66 Fischart, Geschichtklitterung (Anm. 55), S. 10 f.; vgl. das Titelblatt des Romans. Vgl. auch meine Studie: Literarische Produktivität – Probleme ihrer Begründung am Beispiel Johann Fischarts, in: Corinna Laude und Gilbert Hess (Hgg.), Konzepte der Produktivität vom Mittelalter in die Frühe Neuzeit, Berlin 2008, S. 89–118. 67 Vgl. Seelbach, Ulrich, Ludus lectoris. Studien zum idealen Leser Johann Fischarts, Heidelberg 2000 (Beihefte zum Euphorion 39), S. 190.
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zu können. Im Zusammenhang solcher Spiele nun sind auch gewagte Etymologien zulässig: Aus der Tochter des Proitos, Iphianassa,68 die Melampos ehelichte, wird ein Hüpschnäßlin,69 was recht hübsch zur Verabreichung von Niespulver passt. Dass sich der Philosoph Karnaedes vor dem Abfassen seiner Repliken auf die Bücher Zenons des helleborus bediente, entnahm Fischart der Naturhistorie des Plinius, wo auch erwähnt wird, dass viele Gelehrte den helleborus zur Beförderung ihrer Studien einnehmen würden (ad pervidenda acrius quae commentabantur).70 Der Erfolg der Kur resultiert einerseits aus der purgativen Wirkung des Pharmakons, das dem Zögling gewissermaßen das Hirn von Überflüssigem leerbläst, sodann aus der traditionell bekannten Einsetzbarkeit gegen Schwachsinn sowie aus der konzentrationsfördernden Wirkung der Pflanzendroge, die Plinius an Karnaedes belegt. Der Pflanzenname selbst wird sodann zum Gegenstand sprachspielerischer Produktivität. Der deutsche Name Christwurz wird in den KräuterBüchern darauf zurückgeführt, dass die Pflanze manchmal zur Weihnachtszeit blüht. In der Welt der Geschichtklitterung wird die Pflanze nur von Narren so genannt. Fischart ändert weniges und prägt aus dem Lautmaterial des deutschen Namens den Begriff Christierwurtz – diese Neuprägung geht auf eine seltene Etymologie der Pflanze zurück, welche immerhin bei Hieronymus Bock begegnet. Fischart geht weiter, er ergänzt schließlich nach dieser Zwischenstation auch folgerichtig die Clistierwurtz. Damit ist die purgative Anwendung der Pflanze endgültig in den Namen hineingemogelt.71 Durch Buchstabenspiele wird allererst hergestellt, was Signaturisten voraussetzen, nämlich dass sich im Namen der Pflanzen auf ›natürliche‹ Weise ihre Wirkung manifestiere. Passend zur großen Hirnpurganz, zur Löschung der Wissensbestände des Gargantua mittels Verabreichung eines Niespulvers, mutiert schließlich der lateinische Gattungsname Helleborus bei Fischart zu Hirnhölenborn. Sowohl im Falle der Clistierwurtz als auch beim Hirnhölenborn werden sprachliche Hybriden zwischen Lateinischem und Deutschem generiert, der nomenklatorische und historische Diskurs der Botanik her68 Die Namen der Töchter bei Apollodor, Bibliotheke (Anm. 65), II, 26–29; vgl. auch Seelbach, Ludus lectoris (Anm. 67), S. 431. 69 Vgl. die korrekte Etymologie ebd. S. 190, Anm. 115. 70 C. Plinii Secundi Naturalis Historiae liber XXV (Anm. 18), S. 48. 71 In seinen Ausführungen zu Religion und Karneval führt Bachorski die assoziative Kette von Christwurtz über Christierwurtz zur Clistierwurtz als Beleg dafür an, dass auch der Name Jesu in den Strudel der grotesk-assoziativen Vermischung von Erhabenem und Fäkalischem gerät; vgl. Bachorski, Irrsinn und Kolportage (Anm. 60), S. 440. Aufgrund der bei Bock verhandelten auf cristieren, clistieren zurückgehenden Etymologie des Pflanzennamens relativiert sich ein solcher Befund offensiver Karnevalisierung des Religiösen an dieser Stelle. Die groteske poetische Einlösung von im pharmakognostischen Diskurs unterstellten Relationen scheint mir hier der eigentliche Witz der Passage zu sein.
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anzitiert und transformiert. Den bei Hieronymus Bock sich findenden Bericht von den wurtzlern, die auf der Ingelheimer Heide die Nieswurz graben, um sie in Venedig zu verkaufen, greift Fischart auf und behauptet, es seien dort alle diese Wurzeln ausgegraben worden, um das Purgativ für Gargantua herzustellen. Hier begegnet wieder die monströse Aufblähung von Wissenselementen zur Illustration der Riesenhaftigkeit. Für die große Nase des Riesen bedarf es sämtlicher verfügbarer Wurzeln auf der Ingelheimer Heide. Als Resultat dieser drastischen Korrektur steht ein völlig neues Verhältnis von Leib und Wissen, ja von Körper und Text. Alle Ausübung der Leibesfunktionen und die Befriedigung körperlicher Bedürfnisse werden fortan an die Aufnahme von Wissen gebunden: Bereits während der Morgentoilette werden Bibelstellen vorgelesen. Auch bei Mahlzeiten wird das Einzuverleibende gewissermaßen vertextet. Zu Beginn des Essens wird ein Lustige Hystori vorgelesen. Alsdann werden Gespräche geführt nach form des Philosophischen Me n s æ . Die Rede ist von krafft, Tugend, stärck, eigenschafft und Natur der aufgetragenen Speisen (Prot, Wein, Wasser, Saltz, Speiß, Fischen, Früchten, Ops, Kraut, Wurtzeln): Mit welcher Tischweiß er inn kurtzer zeit alle die örter und allegationen, so zu disen sachen auß dem Plinio, Atheneo, Dioscoride, Polluce, Galeno, Porphirio, Opiano, Polybio, Heliodoro, Aristotele, Eliano unnd anderen, so hie von etwas gedacht, angezogen und gefunden werden, kondt wissen unnd ohn sondere müh ergreiffen: Pflegten auch offt, meherer vergwissung halben, die gemelte Bücher über Tisch darzureichen.72
Das Essen wird ausführlich kommentiert und mit dem naturkundlichen Schrifttum abgeglichen. Das Ineinandergreifen von Naturgeschichte und Philologie ist für den oben geschilderten Diskurs typisch und wird in der Geschichtklitterung als Erfolg der Diätetisierung des Grobians Gargantua präsentiert. Damit wird im Register grotesker Körperlichkeit auch eine epochale epistemische Verschiebung auf dem Gebiet der Pflanzenkunde kommentiert. Bei Fischart wie bei Rabelais wird das Programm humanistischer Vervollkommnung im Wissen freilich ausgelöst und determiniert von einer Droge. Bei Fischart läßt sich beobachten, dass die Kontingenzen im Wissen der Pharmakognosten dabei produktiv genutzt werden.
72 Fischart, Geschichtklitterung (Anm. 55), S. 255.
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3. Anmerkungen zu Kontingenz und Wissen Bei Johann Fischarts Geschichtklitterung handelt es sich um enzyklopädische und parodistische Literatur, also um einen Text, der Wissensbestände seiner Zeit in exorbitanter Häufung präsentiert und sich zugleich zu vorgängigen literarischen Formen verfremdend verhält. Wie bereits in Rabelais’ Gargantua tritt die narrative Entfaltung einer Elternvorgeschichte, einer wunderbaren Geburt des Helden, seines Aufwachsens und seines Bestehens von Abenteuern zurück hinter eine in Wortreihen, Listen, Zitatassemblagen und polemischen Kommentaren sich ergehenden Exponierung von Wissen. Die parodistische Brechung literarischer Traditionen betrifft dabei auch das in den Gattungstraditionen aufgehobene Wechselspiel zwischen Kontingenzzumutung und providentiellem Schutz. Wenn etwa die Herausgehobenheit und große Bestimmung des Heros sich darin zeigt, dass der Neugeborene brüllend nach Wein verlangt und in diesem Zusammenhang in enzyklopädischer Häufung andere Wundergeburten gelistet werden, so findet neben der Parodie des providentiellen Musters ›Wundergeburt des Heros‹ auch seine Inventarisierung statt.73 Man könnte nun aus dem Tatbestand ihrer Brechungen folgern, dass die providentiellen Sicherheiten der Epopöe nicht mehr gelten würden.74 Solche Kontingenzdiagnostik ist historisch nicht besonders auflösungsscharf, sie operiert mit Ordnungsmodellen bzw. Weltverständnissen in toto und verfährt dabei ihrerseits metaphysisch. Mir scheint, es sei fruchtbarer, wesentlich kleinteiliger anzusetzen und zu untersuchen, wie enzyklopädische und parodistische literarische Texte mit den ganz konkreten Wissensbeständen umgehen, die sie aufgreifen. Fischarts My thol o g i a s Pantag r u eli ca s , seine Alldurstige Grillengeheimnussen und Märendeitungen plündern die Wissensbestände seiner Zeit und organisieren sie okkasionalistisch und lusorisch immer wieder um.75 Dabei aktiviert Literatur jene Momente der Kontingenz, die in den Wissensformationen gedrosselt werden. So werden für Fischart auch die Praktiken der Pflanzenkunde zum Anlass für Pantagruelische Mythologias. Sie werden ausgesponnen und mit Ma-
73 Die Schilderung der Geburt Gargantuas: Fischart, Geschichtklitterung (Anm. 55), S. 145–151; vgl. zur Liste der Wundergeburten Seelbach, Ludus lectoris (Anm. 67), S. 225– 228. 74 Lukács, Georg, Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Neuwied u. a. 1971 [Erstdruck 1920]. 75 Vgl. Kellner, Beate, Spiel mit gelehrtem Wissen. Fischarts Geschichtklitterung und Rabelais’ Gargantua, in: Jan-Dirk Müller (Hg.), Text und Kontext: Fallstudien und theoretische Begründungen einer kulturwissenschaftlich angeleiteten Mediävistik, München 2007 (Schriften des historischen Kollegs 64), S. 219–243.
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Epistemische Kontingenzen und ihre literarische Aktivierung
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nipulationen am Wortkörper versetzt.76 Dabei wird die Sprache um Begriffe und Wendungen ergänzt, die kein Wörterbuch bereithält.77 Der Möglichkeitsreichtum der Sprache gewinnt Oberhand über ihre Wirklichkeit, ihre Kontingenz scheint auf. Literatur schafft so neue Sinnbezüge bzw. Unsinnsbezüge. Bei Erich Köhler heißt es über die Dichtung, sie fasse souverän zerstreutes Mögliches zusammen und konzentriere es im selbstgewählten Zufall. In der Fiktion werden Möglichkeiten, die in der Wirklichkeit nicht aktualisiert werden, und die doch wesentliche Elemente dieser Wirklichkeit sind, realisiert.78 In diesem Sinn akzentuiert Luhmann: […] daß jeder erlebte Sinn eine Überfülle von Möglichkeiten weiteren Erlebens anbietet, aus denen nur einige wenige realisiert sind bzw. realisiert werden können. […] Was die Kunst erstrebt, könnte man […] als Reaktivierung ausgeschalteter Possibilitäten bezeichnen. […] Eben deshalb müssen die Normalverweisungen des täglichen Lebens, die Zwecke und Nützlichkeiten gebrochen werden, um die Aufmerksamkeit von diesen Ablenkungen abzulenken. […] Kunst weist darauf hin, daß der Spielraum des Möglichen nicht ausgeschöpft ist […].79
Wo Köhler von der Wirklichkeit spricht und Luhmann an angegebener Stelle über das tägliche Leben, würde ich gern den Begriff des Wissens einsetzen. Der im geltenden Wissen – und zu ergänzen wäre in der gebräuchlichen Sprache – ausgeschalteten Potentialitäten bemächtigt sich die Literatur, um ihre symbolischen Überschüsse zu erzeugen.
76 Vgl. Seitz, Dieter, Johann Fischarts Geschichtklitterung. Untersuchungen zur Prosastruktur und zum grobianischen Motivkomplex, Frankfurt am Main 1974 (These N. F. 6); Müller, Jan-Dirk, Texte aus Texten. Zu intertextuellen Verfahren in frühneuzeitlicher Literatur am Beispiel von Fischarts Ehzuchtbüchlein und Geschichtklitterung, in: Wilhelm Kühlmann und Wolfgang Neuber (Hgg.), Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven, Frankfurt am Main, Berlin, Bern u. a. 1994 (Frühneuzeit-Studien 2), S. 63–109, hier S. 85 ff. Zu Fischarts Wortmanipulationen, -verdichtungen und -zusammensetzungen vgl. Bachorski; Irrsinn und Kolportage (Anm. 60), S. 460–466. 77 Zu Fischarts sprachschöpferischer Produktivität vgl. Bulang, Literarische Produktivität (Anm. 66). 78 Köhler, Erich, Der literarische Zufall, das Mögliche und die Notwendigkeit, Frankfurt am Main 1993 [Erstdruck 1973], S. 116 f. Als Begründungsinstanz für eine Bestimmung des Fiktiven sucht Andreas Kablitz das Potentielle fruchtbar zu machen: Kablitz, Andreas, Kunst des Möglichen. Prolegomena zu einer Theorie der Fiktion, in: Poetica 35 (2003), S. 251–273. 79 Luhmann, Niklas, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt am Main 1998 (stw 1360), S. 352 f.
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Robinson der Spieler Erzählen im Zeichen einer ›Geometrie des Zufalls‹
[…] fitly was that question propounded, Whether men in Ships at Sea were to be accounted among the living or the dead, because there were but few inches betwixt them and drowning. The same quaere may be made of great Gamesters. (Charles Cotton, The Compleat Gamester, London 1674)
Die Versuchung ist groß, die Differenz zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit als die zwischen einer Epoche der Providenz und einem Zeitalter der Kontingenz zu bestimmen. Jeder genauere Blick zeigt allerdings, dass eine solche Oppositionsbildung in mehrfacher Hinsicht problematisch ist, zumal der Begriff der Kontingenz tief in der Überlieferung der christlichen Philosophie wurzelt.1 Es ist unter diesen Umständen angemessener, nach den Differenzen zwischen mittelalterlichen und neuzeitlichen Formen des Umgangs mit dem Phänomen der Kontingenz und des Zufalls zu fragen. Auch hier stellt sich freilich sogleich die Frage, wann denn der entscheidende Übergang von den einen zu den anderen Formen stattgefunden haben soll? Viele plädieren für eine Schwelle um 1500 und weisen dabei prominent auch auf Veränderungen in der biographischen und autobiographischen Literatur jener Zeit hin. Wie unter anderen Jan-Dirk Müller gezeigt hat, bleiben allerdings verschiedene Punkte bei einer solchen Grenzziehung unbefriedigend.2 Andere machen die Zeit um 1700 als Schwelle stark, und auch hier sind zweifellos verschiedene Differenzierungen angebracht. Dennoch gibt es in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ein wissensgeschichtliches Ereignis, durch das sich der Umgang mit Zufall und Kontingenz nachhaltig veränderte: Die ›Emergenz der Wahrscheinlichkeit‹.3 – Im Folgenden soll der Versuch unter1 Blumenberg, Hans, [Art.] Kontingenz, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 3, 3., völlig neu bearb. Aufl., Tübingen 1959, Sp. 1793 f. 2 Müller, Jan-Dirk, Der Prosaroman – eine Verfallsgeschichte? Zu Clemens Lugowskis Analyse des ›Formalen Mythos‹, in: Walter Haug (Hg.), Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 143–163. 3 Hacking, Ian, The Emergence of Probability, Cambridge 1975. Hackings These von der ›Emergenz der Wahrscheinlichkeit‹ um 1650 ist teilweise kritisiert worden. Vgl. dazu Knebel, Sven K., Wille, Würfel und Wahrscheinlichkeit. Das System der moralischen Notwendigkeit in
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nommen werden, am Beispiel von Daniel Defoes Robinson Crusoe, der 1719 zum ersten Mal erschien, nach den literarischen Implikationen dieser Emergenz zu fragen.4 Dabei werde ich nach einigen allgemeinen Bemerkungen zu Defoes Roman (I.) das für die Wahrscheinlichkeitstheorie zentrale Konzept einer ›Geometrie des Zufalls‹ vorstellen, wie es um 1650 von Pascal entwickelt worden ist (II.), um schließlich noch einmal auf den Robinson zurückzukommen und unter den Stichworten ›Probabilitätsformeln‹, ›Wirklichkeitsbegriff‹ und ›Subjektivität‹ nach dessen Poetologie im Zeichen jener neuen Zufallstheorie zu fragen (III.).
I. Daniel Defoes Robinson Crusoe ist ein Klassiker der Weltliteratur – und dennoch weitgehend unbekannt. Alle kennen den Protagonisten dieses Romans, doch nur wenige haben seine Geschichte in ihrer originalen, dreiteiligen Version gelesen. Der dritte Teil, die Serious Reflections, die mit der Vision einer ›Weltraumfahrt‹ Robinsons enden, ist fast unbekannt.5 Der zweite Teil, die Farther Adventures, wird kaum gelesen; und sogar der erste Teil, The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe, der oft für das ganze Werk genommen wird, ist bei vielen nur in einer gekürzten Version bekannt. Im kollektiven Gedächtnis ist Defoes Klassiker in der pädagogisch zurechtgestutzten Version Rousseaus präsent, das heißt als die Geschichte eines jungen Mannes, der sich als einziger Überlebender nach einem Schiffbruch auf einer unbewohnten, tropischen Insel durchschlagen muss, während 28 langen Jahder Jesuitenscholastik 1550–1700, Hamburg 2000, S. 40–75. Dass allerdings mit der Entwicklung der Glücksspielrechnung ein neues Kapitel in der Geschichte des Zufalls begann, konzedieren auch die Hacking-Kritiker. Vgl. beispielsweise Franklin, James, The Science of Conjecture. Evidence and Probability before Pascal, Baltimore 2001, S. xii: »The very idea of a ›geometry of chance‹, as Pascal put it, is revolutionary.« 4 Es handelt sich dabei teilweise um Überlegungen, die ich breiter ausgeführt habe in den entsprechenden Abschnitten meiner Studie Alea. Zählen und Erzählen im Zeichen des Glücksspiels (1650–1850), Göttingen 2009. Vgl. für eine Lektüre des Robinson im Kontext der ›Emergenz der Wahrscheinlichkeit‹ auch Campe, Rüdiger, Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist, Göttingen 2002, S. 188–208. Die folgenden Ausführungen verstehen sich auch als kritische Auseinandersetzung mit diesem Robinson-Kapitel aus Campes wichtiger Studie. 5 Vgl. zu Robinsons ›Weltraumflug‹ das erstaunliche Titelkupfer der ersten deutschen Übersetzung: Daniel Defoe, Ernstliche und wichtige Betrachtungen des Robinson Crusoe, welche er bey den Erstaunungsvollen Begebenheiten seines Lebens gemacht hat. Benebst seinem Gesicht von der Welt der Engel. Aus dem Englischen und Frantzösischen übersetzt wie auch mit curiösen Kupffern, nebst einer accuraten Land-Charte, worauf alle des Auctoris Reisen gezeichnet sind, gezieret, Amsterdam 1721.
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ren alle möglichen Kulturtechniken erlernt und schließlich, durch seine disziplinierte Arbeit gereift, nach Europa zurückkehrt. Der so zensurierte Robinson war das einzige Buch, das Rousseau seinem Emile zu lesen geben wollte. Die ganze Vor- und Nachgeschichte der Inselepisode war für den Pädagogen aus Genf nur »Ballast« und »Abfall« – »fatras«.6 Und viele Bearbeiter des Robinson sind ihm in dieser Einschätzung gefolgt.7 Liest man den ersten Band von Defoes Robinson, zeigt sich bald, dass Rousseau guten Grund hatte zu zensieren, denn in der integralen Fassung droht die für ihn und seine Nachfolger zentrale pädagogische Botschaft, wonach disziplinierte und unentfremdete Arbeit zum Erfolg führt, subvertiert zu werden: Defoes Protagonist ist nach seiner Rückkehr nach England keineswegs in der Lage, sich selbst zu helfen. Seine ›Insel-Erziehung‹ nützt ihm nichts. Vielmehr ruhen all seine Hoffnungen auf den Erträgen aus einer Plantage, die er bereits vor seiner fatalen Schiffsreise in Brasilien aufgebaut hat, und so macht er sich auf nach Lissabon, um von dort aus durch einen ausgedehnten Briefwechsel sein südamerikanisches Vermögen einzufordern. In einem ersten Schritt muss er sich dabei durch einen Notar seine bürgerliche Existenz bestätigen lassen, denn auf Grund seiner langen Abwesenheit ist diese suspendiert worden; er hat den »bürgerlichen Tod« – den »Civil Death« (204)8 – erlitten, wie er unter Verweis auf die einschlägige juristische Fachterminologie berichtet.9 Er befindet sich in einer liminalen Position »betwixt and between«10 und muss sich durch ein Schriftstück gleichsam zu neuem 6 Jean-Jacques Rousseau, Emile ou de l’Education, in: Œuvres complètes, hg. von Bernard Gagnebin und Marcel Raymond, Bd. 4, Paris 1990 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 239–868, hier S. 455: »Ce roman débarrassé de tout son fatras, commençant au naufrage de Robinson près de son Isle, et finissant à l’arrivée du vaisseau qui vient l’en tirer sera tout à la fois l’amusement et l’instruction d’Emile durant l’époque dont il est ici question.« 7 Im deutschen Sprachraum war es vor allem Joachim Heinrich Campes Defoe-Bearbeitung Robinson der Jüngere (1779/80), die zu einer ›rousseauistischen‹ Verzerrung des Romans führte. 8 Es wird nach folgender Ausgabe zitiert und werden die Seitenzahlen in Klammern angegeben: Daniel Defoe, Robinson Crusoe [Erstdruck 1719]. An Authoritative Text, Contexts, Criticism, hg. von Michael Shinagel, New York und London 21994 (A Norton Critical Edition). 9 Vgl. zum Begriff des ›Civil Death‹: Jowitt, Earl und Walsh, Clifford, Jowitt’s Dictionary of English Law, Bd. 1, 2. Aufl. bearb. von John Burke, London 1977, S. 557: »Besides natural death, or death in deed, mors naturalis, there was formerly what was known as civil death, or death in law, mors civilis. Civil death formerly took place when a man was banished or abdjured the realm by the process of the common law, or when a man became professed in religion […].« 10 Vgl. zum Konzept der Liminalität Turner, Victor, ›Betwixt and Between‹. The Liminal Period in Rites de Passage [Erstdruck 1964], in: William A. Lessa und Evon Z. Vogt (Hgg.), Reader in Comparative Religion, New York 31972, S. 338–347; für eine Lektüre des RobinsonRomans unter dem Aspekt der Liminalität: Bender, John, Imagining the Penitentiary. Fiction and the Architecture of Mind in Eighteenth-Century England, Chicago und London 1987, S. 43–62.
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Leben erwecken lassen, bevor er wieder zu einem vollwertigen Teilnehmer am Geld- und Schriftverkehr werden kann. Kaum ausgestattet mit dieser schriftlich beglaubigten Existenz, setzt er sich dann hin, um nach Brasilien zu schreiben, und tatsächlich erhält er schon bald Briefe von seinen einstigen Freunden, die seine Ländereien treu verwaltet haben. Aus zahlreichen schriftlichen Abrechnungen, die ihm alle zugestellt werden und die er auch den Lesern seines Lebensberichts nicht vorenthält, kann Robinson entnehmen, dass er reich geworden ist, und er ist so glücklich über diese unverhoffte Wendung seines Schicksals – und über das Geld, das er auf der Insel noch so verachtet hatte11 –, dass er buchstäblich beinahe stirbt vor Freude: »It is impossible to express here the Flutterings of my very Heart, when I look’d over these Letters, and especially when I found all my Wealth about me […]. In a Word, I turned pale, and grew sick; and had not the old Man [sein portugiesischer Freund] run and fetch’d me a Cordial, I believe the sudden Surprize of Joy had overset Nature, and I had dy’d upon the Spot« (205). Nach dieser Rückkehr in die Geld- und Schriftzirkulation und der Auferstehung aus dem »Civil Death« – deren Beschreibung genau mit der Schilderung der Rettung aus dem Schiffbruch korrespondiert12– setzt sich Robinson bald noch einmal hin, um eine ganze Reihe von Dankesbriefen zu schreiben, in denen es, wie in weiteren schriftlichen Anordnungen, wiederum zentral um die Verteilung von Geldern geht, und schließlich lässt er sich verschiedene Wechsel für seine Rückreise nach England ausstellen. Der Lebensbericht Robinsons wird an dieser Stelle mithin zu einer eigentlichen Apotheose der arbiträren Zeichensysteme von Geld und Schrift, und angesichts dieser mit großem erzählerischen Aufwand inszenierten Apotheose, die so schlecht zu einer Idealisierung des Naturzustandes passt, ist es kaum verwunderlich, dass Rousseau seine Fassung des Robinson auf die Inselepisode beschränken wollte. Hinter 11 Robinson gibt seiner Verachtung für das Geld mehrmals Ausdruck (43, 94 und 140); zugleich beschließt er »upon Second Thoughts« (43), die Münzen, die er noch hat, nicht wegzuwerfen. In diesen Münzen, die er zusammen mit seinem Tagebuchfragment wie »Reliques« (200) aufbewahrt, schlummert gleichsam der Verdacht, dass mit der Arbeitsdisziplin der ökonomische Erfolg noch keineswegs gesichert ist. Vgl. zu Robinsons Umgang mit den Münzen Novak, Maximillian E., Economics and the Fiction of Daniel Defoe, Berkeley und Los Angeles 1962, S. 60–62; das Thema wird zu einem (unterschiedlich ausgestalteten) Topos in den Robinsonaden des 18. Jahrhunderts. Vgl. dazu Fohrmann, Jürgen, Abenteuer und Bürgertum. Zur Geschichte der deutschen Robinsonaden im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1981, S. 86. 12 Vgl. für jene Schilderung: »I was now landed, and safe on Shore […]. I believe it is impossible to express to the Life what the Extasies and Transports of the Soul are, when it is so sav’d, as I may say, out of the very Grave; and I do not wonder now at that Custom, viz. That when a Malefactor who has the Halter about his Neck, is tyed up, and just going to be turn’d off, and has a Reprieve brought to him: I say, I do not wonder that they bring a Surgeon with it, to let him Blood that very Moment they tell him of it, that the Surprise may not drive the Animal Spirits from the Heart, and overwhelm him« (35).
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dem gleichsam rousseauistisch verstellten Robinson zeigt sich damit eine andere Geschichte – eine Geschichte »ohne Sonnenuntergänge«, wie Virginia Woolf ebenso lakonisch wie treffend bemerkt hat.13 Darüber, wie dieser Robinson, in dem es keine tropischen Sonnenuntergänge gibt, zu lesen ist, herrscht allerdings keineswegs Klarheit. Zum einen wurde die Geschichte des Jünglings, der gegen den Rat und Wunsch seines Vaters zur See fährt und nach verschiedensten Abenteuern in Westafrika, in Brasilien, auf seiner Insel und in Europa schließlich als wohlhabender Mann in London lebt, gleichsam zu einem fiktionalisierten Manifest des aufkommenden Kapitalismus stilisiert. In dieser Perspektive erscheint die Auflehnung des jungen Robinson gegen seinen Vater, der für ihn eine sichere mittelständische Karriere als Jurist vorgesehen hat, als der Aufbruch einer damals neuen, risikofreudigen Generation, deren wirtschaftlicher Erfolg die konservativen Warnungen der Väter Lügen straft – freilich, wie zuweilen aus kapitalismuskritischer Sicht bemerkt wurde, um den Preis, dass die Angehörigen dieser Generation egoistisch, gefühlskalt, berechnend und beziehungsunfähig geworden seien.14 Zum andern wurde aber auch auf die unübersehbaren religiösen Momente in Defoes Roman verwiesen und betont, dass diese nicht bloß beliebige Versatzstücke einer auf ihre Schwundstufe reduzierten ›Freizeit-Religion‹ seien, als welche Robinsons Bet- und Andachtspraxis seit dem Defoe-Leser Marx abqualifiziert wurde.15 Vielmehr seien sie als tragende Elemente ernst zu nehmen und der ganze Roman im Kontext der reichen Tradition der protestantischen »spiritual autobiography« zu sehen.16 Tatsächlich lassen sich im Robinson die verschiedenen klassischen Stationen einer solchen Biographie ausmachen, von der Anfangssünde (der Auflehnung gegen den Vater) über eine Phase der geistlichen Verhärtung (während der Zeit in Westafrika und Brasilien) und einer solchen der einsetzenden Reue (während den ersten Monaten auf der Insel) bis zur schließlichen Konversion. Und zudem wird auch vom fiktiven Herausgeber von Robinsons Lebensbeschreibung im Preface explizit auf den entsprechenden Lektüreschlüssel verwiesen: »The Story is told 13 Woolf, Virginia, Robinson Crusoe, in: Dies., The Common Reader, London 21932, S. 51–58, hier S. 54: »There are no sunsets and no sunrises […]. There is, on the contrary, staring us full in the face nothing but a large earthenware pot.« 14 Vgl. beispielsweise Watt, Ian, The Rise of the Novel. Studies in Defoe, Richardson and Fielding [Erstdruck 1957], London 41994, S. 60–92. 15 Marx schreibt im ersten Band des Kapitals: »Vom Beten u. dgl. sprechen wir hier nicht, da unser Robinson daran sein Vergnügen findet und derartige Thätigkeit als Erholung betrachtet« (Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1, Berlin 1989 [MEGA 8], S. 105). 16 Vgl. dazu vor allem Starr, George A., Defoe and Spiritual Autobiography, Princeton 1965; Hunter, J. Paul, The Reluctant Pilgrim. Defoe’s Emblematic Method and Quest for Form in Robinson Crusoe, Baltimore 1966.
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with Modesty, with Seriousness, and with a religious Application of Events to the Uses to which wise Men always apply them (viz.) to the Instruction of others by this Example, and to justify and honour the Wisdom of Providence in all the Variety of our Circumstances, let them happen how they will« (3). Ist Robinson also doch kein moderner homo oeconomicus, sondern ein rückwärtsgewandter homo religiosus? Die Diskussion um die ›richtige‹ Lektüre von Defoes Robinson zeigt paradigmatisch, wie umstritten auch die Grenze ›um 1700‹ ist, wenn es um epochale Verschiebungen im Umgang mit Kontingenz geht.17 Es ist hier, wie im Falle der Grenze ›um 1500‹, eine gewisse Zurückhaltung angezeigt. Öffnet man freilich die Perspektive über die Opposition Kapitalismus/Religion hinaus – die, wie man eigentlich seit Max Weber weiß, in mancher Hinsicht ohnehin eine Scheinopposition ist – und nimmt andere Wissensfelder mit in den Blick, kann doch gerade bezogen auf den Umgang mit Kontingenz und Zufall eine nachhaltige Verschiebung ausgemacht werden; eine Verschiebung, die, wie angedeutet, mit der ›Emergenz der Wahrscheinlichkeit‹ zu tun hat und mit Pascals glücksspieltheoretischen Arbeiten zu einer ›Geometrie des Zufalls‹ begann.
II. Die Entwicklung der Wahrscheinlichkeitsrechnung geht auf ein recht alltägliches Problem zurück, das sich so umreißen lässt: Zwei Spieler A und B einigen sich darauf, ein Glücksspiel wie ›Kopf oder Zahl‹ so lange zu spielen, bis einer von ihnen sechs Mal gewonnen hat. Nun werden sie beim Stand von 5:3 für Spieler A gestört und können die Partie nicht zu Ende spielen. Wie soll in diesem Fall die von beiden Spielern zu gleichen Teilen eingezahlte Gewinnsumme gerecht aufgeteilt werden? – An diesem Problem des unterbrochenen Spiels haben sich seit dem ausgehenden Mittelalter verschiedene Mathematiker, von Luca Pacioli über Girolamo Cardano bis zu Nicolo Tartaglia, versucht, doch sie kapitulierten letztlich alle vor einem mathematischen Ausgriff in die noch ungespielte Spielzukunft. Besonders anschaulich zeigt sich das auch noch bei Lorenzo Forestani, der 1603 mit dem Verweis auf einschlägige Verse Ariosts meint, in jener Spielzukunft herrsche die im eigentlichen Sinne unberechenbare Fortuna: 17 Vgl. für eine differenzierte Diskussion der Robinson-Figur im Spannungsfeld zwischen homo oeconomicus und homo religiosus an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert Frick, Werner, Providenz und Kontingenz. Untersuchungen zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts, Bd. 1, Tübingen 1988 (Hermaea NF 55), S. 103–153.
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[…] nous, nous disons que la Fortune peut se retourner rapidement, et favoriser l’autre [joueur] à gagner le tout, comme on l’a vu et comme on le voit un nombre infini de fois, aussi bien dans le jeu de la balle que dans tout autre, mais principalement dans les choses de la guerre […] ainsi que l’a doctement montré l’Arioste en la personne de Charles dans ces deux vers: ›Ainsi la Fortune sourit-elle à Agramant / Qui devint de nouveau, de Charles l’assiégeant.‹ Charles ayant en effet assiégé Agramant, la Fortune se retourne à un tel point qu’Agramant mit en déroute en un instant l’armée de Charles et l’assiégea une nouvelle fois dans Paris.18
Unter diesen Bedingungen hat es keinen Sinn zu rechnen. In der Mitte des 17. Jahrhunderts aber wird das Problem des unterbrochenen Spiels ganz neu konzeptualisiert: Für Pascal zerfällt der Verlauf des Spiels – seine Narration – nicht mehr in eine abgeschlossene Vergangenheit und eine von dieser radikal unterschiedene Zukunft, die sich dem rechnenden Zugriff verweigert. Vielmehr behandelt er sie als eine Geschichte, die zwar nicht beendet ist, deren Vergangenheit und Zukunft aber doch ein Kontinuum ausmachen, das über die Chancenberechnung erschlossen werden kann. Und mit diesem neuen Zugriff glaubt er, die »wankelmütige Fortuna« endlich zähmen zu können, wie er 1654 in einer kurzen Präsentation seiner wichtigsten Forschungsarbeiten vor der Akademie der Wissenschaften in Paris enthusiastisch ankündigt: Die neuste Abhandlung aber hat einen bis heute noch gänzlich unbekannten Gegenstand, nämlich die Anordnung des Zufalls in den Spielen, die diesem unterworfen sind. In unserer französischen Muttersprache heißt dieses Problem faire les parties des jeux, und die wankelmütige Fortuna wird dabei durch die Ausgeglichenheit der Vernunft so unterdrückt, dass den beiden Spielern immer genau zugesprochen wird, was ihnen gerechterweise zusteht. Und dies ist umso mehr durch Rechnung zu suchen, als es nicht durch Versuchen [tentando] untersucht werden kann. Die Resultate des ungewissen Losschicksals werden mit Recht eher der zufälligen Kontingenz [fortuitae contingentiae] als der natürlichen Notwendigkeit zugeschrieben. Deshalb war diese Sache bis heute so unsicher; jetzt aber kann, was gegen die Erfahrung rebellierte, der Herrschaft der Vernunft nicht entgehen. Wir haben sie, dank der Geometrie, mit großer Sicherheit in eine Wissenschaft überführt, so dass sie an der Gewissheit der Geometrie partizipiert und sich bereits kühn entwickelt. Und so die Strenge des wissenschaftlichen Beweises mit der Unsicherheit des Zufalls verbindend und vermeintlich Gegensätzliches versöhnend, nimmt diese Kunst ihren Namen von beiden Seiten her und beansprucht mit Recht die erstaunliche Bezeichnung: Geometrie des Zufalls.19 18 Lorenzo Forestani, Pratica d’aritmetica e geometria [Erstdruck 1603], Siena 1682, S. 367. Zit. nach der französischen Übersetzung in Coumet, Ernest, Le Problème des partis avant Pascal, in: Archives internationales d’histoire des sciences 18 (1965), S. 245–272, hier S. 259. 19 Blaise Pascal, Celeberrimae Matheseos Academiae Parisiensi, in: Ders., Œuvres complètes, hg. von Jacques Chevalier, Paris 1954 (Bibliothèque de la Pléiade 34), S. 73 f., hier S. 74 (Übers. und Hervh. P. S.). Der Abschnitt lautet im Original: Novissima autem ac penitus intentatae materiae tractatio, scilicet de compositione aleae in ludis ipsi subjetis, quod gallico nostro idiomate dicitur faire les parties des jeux, ubi anceps fortuna aequitate rationis ita reprimitur
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Der stupendus titulus – das Oxymoron aleae Geometria – bringt sehr treffend den unerhörten Ausgriff von Pascals neuem Wissenschaftsprojekt auf den Punkt. Von der Sache her bleibt hier der rechnerische Zugriff zwar noch auf »les jeux« beschränkt, vom Vokabular her aber wird bereits das ganze weite Reich von alea20 (und dessen Schwesterbegriffen sors und fortuna) in den Blick genommen, und damit wird deutlich, dass Pascal mit der Entwicklung der Glücksspielrechnung nicht nur einen neuen Zweig der Mathematik begründete, sondern die Grenzen der Wissenschaft überhaupt in Frage stellte. Mit dem Oxymoron aleae Geometria riss er die altehrwürdige Grenzmauer zwischen dem engen Bereich der scientia als der Wissenschaft, die allgemeiner, deduktiver Wahrheiten fähig war einerseits, und der bloßen opinio als der keiner deduktiven Wahrheiten fähigen Meinung andererseits nieder.21 Hatte über Jahrhunderte der aristotelische Grundsatz gegolten, dass es ebenso unvernünftig wäre, in der Rhetorik – als dem Kerngebiet des ›Wahrscheinlichen‹ (im Sinne des eikos) und der ›Meinung‹ – strenge Beweise zu fordern, wie in der Mathematik mit bloß wahrscheinlichen Resultaten zu operieren,22 so zeigte sich nun, dass die Mathematik doch erfolgreich in das Gebiet der opinio ausgreifen konnte. Pascal öffnete die weiten, unüberschaubaren Felder der bloß probablen, von unzähligen Umständen (circumstantiae) abhängigen futura contingentia für den kolonisierenden Zugriff der strengen Mathematik, und er ließ den Eroberungsgestus, den diese Metaphorik impliziert, durchaus auch in seinen Text einfließen, wenn er von der »wankelmütigen Fortuna« spricht, die durch die Vernunft »unterdrückt« (reprimitur) werden soll, und wenn er ankündet, dass das, was bis anhin gegen die Erfahrung »rebelliert« habe (rebellis fuit), nun der »Herrschaft der Vernunft nicht entgehen« könne (rationus [= rationis] dominium effugere non potuit).
ut utrique lusorum quod jure competit exacte semper assignetur. Quod quidem eo fortius ratiocinando quaerendum, quo minus tentando investigari possit. Ambiguae enim sortis eventus fortuitae contingentiae potius quam naturali necessitati merito tribuuntur. Ideo res hactenus erravit incerta; nunc autem quae experimento rebellis fuit rationus [= rationis] dominium effugere non potuit. Eam quippe tanta securitate in artem per Geometriam reduximus, ut certitudinis ejus particeps facta, jam audacter prodeat; & sic matheseos demonstrationes cum aleae incertitudine jungendo, et quae contraria videntur conciliando, ab utraque nominationem suam accipiens, stupendum hunc titulum jure sibi arrogat: aleae Geometria. 20 Alea bedeutet zunächst Würfel, dann wird das Wort aber auch (gerade im Latein der frühen Neuzeit) für alle Glücksspiele verwendet. Vgl. dazu beispielsweise Jean Baptiste Thiers, Traité des Jeux, Paris 1686, S. 134 f.: »Le mot alea […] signifie toutes sortes de jeux de hazard, parce que c’est le hazard qui les regle […].« Schließlich heißt alea aber auch in abstraktem Sinne ›Zufall‹. Die Semantik ist also dieselbe, wie diejenige des französischen ›hazard‹, das ursprünglich auch für ein bestimmtes Würfelspiel stand. Vgl. dazu Le Grand Robert de la langue française, Bd. 5, Paris 22001, S. 114. 21 Vgl. dazu Hacking, Emergence (Anm. 3), S. 19–30. 22 Aristoteles, Nikomachische Ethik 1094b.
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Bald nach Pascal wurde das Glücksspielkalkül dann auch auf andere Lebenszusammenhänge übertragen, zunächst, wie in der Logik von Port Royal (1662/85) noch unsicher tastend, später, wie in Jakob Bernoullis Ars conjectandi (1713), mit großer Zuversicht. In diesen Zusammenhang gehören die Anfänge des modernen Versicherungswesens und der Statistik, kurz, all das, was mit dem Begriff der »probabilistischen Revolution«23 verbunden wird. Wie sich im Zuge dieser Revolution zeigte, ließen sich ganz unterschiedliche Prozesse nach dem Modell des Spiels konzeptualisieren, und so erhielt die alte Metapher vom Leben als Spiel, oder genauer, vom Leben als Glücksspiel eine ganz neue wissenschaftliche Bedeutungsdimension: Es zeigte sich nun, dass Ereignisprozesse ausgerechnet durch die Modellierung nach dem Spiel (als dem Inbegriff des Unberechenbaren) der Berechnung zugänglich gemacht werden konnten. Wenn also der Mathematiker Pierre Rémond de Montmort um 1700 meint, »on peut dire que la vie de l’homme est un jeu où regne le hazard«,24 so ist dies für ihn – genau wie für Leibniz und andere Probabilisten – nicht Grund zur Resignation, sondern Versprechen dafür, dass dieses Leben der Berechnung zugänglich gemacht werden kann. Wichtig ist dabei allerdings zu betonen, dass die Rede vom Leben als Glücksspiel für alle frühen Probabilisten nur eine Rede im Modus des ›Als-ob‹ sein konnte. Keiner von ihnen ging davon aus, dass Ereignisprozesse in der Welt tatsächlich nach dem Zufallsprinzip ablaufen würden. Vielmehr waren sie alle – und das kann nur auf den ersten Blick überraschen – konsequente Deterministen.25 Bei der Rede von einem nachmittelalterlichen »Notwendigkeitsschwund«26 ist demnach Vorsicht geboten, denn der neuzeitliche Determinismus bedeutete eine klare ›Notwendigkeitszunahme‹ gegenüber früheren Auffassungen. Keiner der Pioniere der Wahrscheinlichkeitstheorie glaubte wirklich an den Zufall als eine ontologische Realität, vielmehr waren sie alle der Meinung, dass ›Zufall‹ bloß ein Wort zur Bezeichnung von Sachverhalten sei, die noch nicht in ihrer kausalen Determiniertheit durchschaut worden seien. Der Zufall war demnach nicht objektiv ein Zufall, sondern bloß subjektiv, für die in ihrer Erkenntnis mehr oder weniger beschränkten Menschen.
23 Krüger, Lorenz u. a. (Hgg.), The Probabilistic Revolution, Cambridge, Mass. und London 1987. 24 Pierre Rémond de Montmort, Essay d’Analyse sur les Jeux de Hazard [Erstdruck 1708], Paris 21713, S. xiv. 25 Vgl. dazu Daston, Lorraine J., Classical Probability in the Enlightenment, Princeton 1988, S. 36 f. 26 Von einem solchen nachmittelalterlichen »Notwendigkeitsschwund« ist, freilich in Frageform, die Rede in der Einleitung zu Graevenitz, Gerhart von und Marquard, Odo (Hgg.), Kontingenz, München 1998 (Poetik und Hermeneutik 17), S. xii.
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III. Die Verschiebung im Umgang mit dem Zufall, wie sie im Blick auf Pascals ›Geometrie des Zufalls‹ erkennbar wird, zeitigte sowohl in der Wissenschaft als auch in der Literatur nur allmählich Konsequenzen. In den beiden ersten Jahrzehnten nach 1700 wurden diese Konsequenzen aber im gesamten Raum des Wissens spürbar, wie sich auch an Defoes Robinson Crusoe zeigen lässt; einem Roman, der sich nicht nur deshalb für eine Lektüre unter dem genannten Gesichtspunkt aufdrängt, weil er generell als paradigmatisch für jene Epoche betrachtet wird, sondern vor allem auch, weil sein Verfasser sich in seinem Essay upon Projects (1697) eingehend mit Versicherungs- und Lotterieprojekten beschäftigt hatte und sich, gerade in der Zeit, als er den Robinson schrieb, auch intensiv mit der ›Geometrie des Zufalls‹ auseinandersetzte. In der eigens dafür von ihm gegründeten Zeitschrift The Gamester publizierte er 1719 zwei – bis heute nie wieder abgedruckte und deshalb kaum bekannte – Essays über die Gewinnchancen in Glücksspielen.27 Mit dieser popularisierten Variante von Abraham de Moivres Doctrine of Chances (1718) hoffte er, die Spieler aufzuklären und ihnen einen im emphatischen Sinne vernünftigen Umgang mit Risiken beizubringen: »In the following Sheets you may expect a Calculation of the Chance or Hopes any one has of getting a Prize, or Prizes, in the Lotteries […]. I shall also inform my Readers in how many Days the 20000 l. Lot may come up in […]: With several other very nice and curious Remarks for all my Adventurers Profit.«28 Die ›Abenteurer‹, die Defoe mit seiner Zeitschrift im Auge hatte, waren zunächst jene, die die »aventure du jeu« (Pascal)29 eingehen wollten. Darüber hinaus wurde er aber nicht müde zu betonen, wie nützlich die Theorie eines vernünftigen Umgangs mit Gefahren – weit über den Spieltisch hinaus – für alle »Adventurers« sei;30 und es liegt deshalb nahe, nach der Phänomenologie der neuen Vernünftigkeit und des neuen Umgangs mit dem Zufall im spezifisch literarischen Medium der Geschichte des paradigmatischen Abenteurers Robinson zu fragen.
27 Defoe, Daniel, The Gamester, London 1719. Die beiden Zeitschriftennummern erschienen anonym. Vgl. für den Nachweis der Verfasserschaft Defoes Moore, John Robert, A Checklist of the Writings of Daniel Defoe, Hamden 21971, S. 165 f. 28 Defoe, The Gamester I (Anm. 27), S. 13. 29 Von der »aventure du jeu« spricht Pascal im Traité du triangle arithmétique: Pascal, Œuvres (Anm. 19), S. 115. 30 Vgl. Defoe, The Gamester II (Anm. 27), S. 3 und 4; dann auch II, S. 10, wo die Rede ist von den »infinite Uses and Advantages, even in the common and usual Affairs and Occurrences of civil Life, those sublime and noble Theories are capable of producing«.
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Probabilitätsformeln: Die auffälligsten und offensichtlichsten Spuren der neuen probabilistischen Rationalität in Robinsons Lebensbericht sind Stellen, an denen tatsächlich Risiken und Wahrscheinlichkeiten quantifiziert werden; so beispielsweise in Robinsons Bericht von seinem Schiffbruch und seiner glücklichen Rettung: Kaum habe er sich nach der Katastrophe einigermaßen gefasst, sei ihm bewusst geworden, wie günstig das Schiffswrack zu liegen gekommen sei; es sei ihm klar geworden, dass die Chance, dass das Schiff, nachdem es weit draußen vor der Insel auf Grund gelaufen war, noch einmal hochgehoben und so nahe an den Strand gespült wurde, dass es ihm möglich war, alle lebensnotwendigen Dinge daraus zu retten, nicht mehr als 1:100000 betragen habe.31 – Später meint er dann, es sei nur gut gewesen, dass seine ersten Versuche, auf eigene Faust mit einem selbstgebauten Boot das Festland zu erreichen, fehlgeschlagen seien, denn es hätte wohl ein Risiko von mehr als 1000:1 bestanden, dass er bei einer Begegnung mit Kannibalen getötet worden wäre: »[…] if I once came into their Power, I should run a Hazard more than a thousand to one of being kill’d, and perhaps of being eaten« (91). – Ein wenig anders verhält es sich schließlich noch mit einer dritten Wahrscheinlichkeitsformel, die im Text auftaucht: Wie Robinson berichtet, fürchtete er sich, von Lissabon, wo er von seinem brasilianischen Vermögen erfahren hatte, direkt auf dem Seeweg nach London zurückzukehren. Lieber wählte er zunächst den Landweg über Spanien und Frankreich, um so die Schifffahrt auf die Strecke des Ärmelkanals zu verkürzen. Beim Überschreiten der Pyrenäen geriet seine Reisegesellschaft allerdings durch die Schuld eines schlechten Führers in große Gefahr. Nur knapp gelang es ihr, einem Rudel Wölfen zu entkommen, was Robinson mit dem Hinweis unterstreicht, die Leute in Toulouse hätten ihm nach seiner Ankunft gesagt, die Chancen, eine solche Attacke zu überleben, seien gerade mal 1:50: »[…] they blam’d us exceedingly, and told us it was fifty to one but we had been all destroy’d« (217). Hier sind es also die ortskundigen Einheimischen, die Robinson gleichsam eine Risikotabelle für Begegnungen mit Wölfen präsentieren. Wie Rüdiger Campe herausgearbeitet hat, fügen sich die drei genannten Risikoformeln zu einer Reihe aufsteigender Überlebenschancen, wobei diese Reihe gleichsam als quantifizierte Variante von Robinsons sukzessiver Annäherung an sein Heilsziel gelesen werden könne.32 Die Formeln hätten demnach gleichsam eine allegorische Qualität. – Das hat zunächst einiges für sich, doch stellt sich die Frage, ob die drei so unterschiedlichen Risikoabschät31 Robinson drückt die Wahrscheinlichkeit umgekehrt und in kursiv gesetzten Worten aus (»an Hundred Thousand to one«, 47). 32 Campe, Spiel der Wahrscheinlichkeit (Anm. 4), S. 190: »Die Chancenverhältnisse, die in arithmetischen Figuren gegeben sind, sind auf fallender Kurve die Chancen für Crusoes Umkommen und darum umgekehrt numerische Fingerzeige auf seine göttliche Rettung.«
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zungen tatsächlich in eine Reihe gebracht werden dürfen, denn um eine wirkliche Überlebenschance geht es eigentlich nur im letzten Falle, während es im ersten um die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses geht, das zwar viel mit den Überlebenschancen auf der Insel zu tun hat, aber doch nur vermittelt: Robinson macht nur eine Aussage über die Wahrscheinlichkeit der günstigen Positionierung des Schiffswracks und sagt nichts über seine Überlebenswahrscheinlichkeit für den hypothetischen Fall, dass das Wrack außerhalb seiner Reichweite geblieben wäre. Noch problematischer ist schließlich die zweite Nennung eines bezifferten Risikos, denn wenn Robinson rückblickend sagt, falls es ihm gelungen wäre, mit einem selbstgebauten Kanu aufs Festland zu gelangen, wären die Chancen, ein Zusammentreffen mit den Kannibalen zu überleben, 1:1000 gewesen, so äußert er sich bloß im Irrealis über ein Geschehen, dessen Eintreten unter den damaligen Umständen extrem unwahrscheinlich war, denn es war ihm trotz aller Bemühungen faktisch unmöglich, allein ein seetüchtiges Boot zu bauen. Das heißt aber, dass in der fraglichen Situation Robinsons tatsächliche Überlebenschancen keineswegs 1:1000 waren. Vielmehr war er unter den damaligen circumstantiae sogar sehr sicher. Er wäre nur in die genannte Gefahr geraten, wenn seine ganz und gar unrealistische Planung Erfolg gehabt hätte. Die verschiedenen Wahrscheinlichkeitsformeln in Defoes Roman bilden also keinen Dreischritt aufsteigender Überlebenschancen. Sie beziehen sich auf zu unterschiedliche Phänomene und Aussagemodi, als dass sie in eine Reihe gezwungen werden könnten. Und auch eine zweite Beobachtung Campes erweist sich als problematisch: Er weist zu Recht darauf hin, dass die Formeln immer nur zur nachträglichen Bezifferung von Wahrscheinlichkeiten dienten. Mit unterschiedlicher Distanz zu bestimmten tatsächlichen oder in der Vergangenheit möglichen Ereignissen würden Probabilitäten genannt, ohne dass diese allerdings in eine konkrete Planung einflössen. Das geschehe erst im zweiten Band des Robinson, in den Farther Adventures; erst da tauchten an drei Stellen solche Formeln zur Risikoabschätzung in Entscheidungssituationen auf, und aufbauend auf den spiegelbildlichen Bezug zwischen den drei Formeln des ersten und den ebenfalls drei Formeln des zweiten Teils entwickelt Campe eine komplex angelegte Hypothese zu der Art, wie der zweite den ersten Band »reflektiert«.33 Das Problem dieser Hypothese ist allerdings, dass im ersten Band an prominentester Stelle noch eine vierte Probabilitätsformel vorkommt, die einer solchen Reflexionskonstruktion weitgehend den Boden entzieht: Nach vielen Jahren entdeckt Robinson auf einem Ausflug auf die andere Seite seines »Island of Despair« (52)34 per Zufall einen einzel33 Ebd., S. 202. 34 Campe (ebd., S. 202) betont fälschlicherweise den Umstand, dass die Insel keinen Namen habe. Die Namensgebung durch Robinson gehört zur zentralen Thematik des »naming«
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nen Fußabdruck am Strand. Er ist wie vom Donner gerührt und beginnt sogleich, fieberhaft nach Erklärungen für diese menschliche Spur zu suchen, und da er kein Boot und keine anderen Hinweise auf die Präsenz von Menschen finden kann, kommt er zum Schluss, dass es der Teufel sein müsse, der ihn in menschlicher Gestalt auf seiner Insel heimsuche. Zugleich scheint es ihm aber doch unwahrscheinlich, dass ihn der »Satan« (112) auf diese Art und Weise mit einem einzelnen Fußabdruck erschrecken würde, denn diesem stünden doch – wie er in einer Argumentation folgert, die nicht der Komik entbehrt – sicher ganz andere Mittel zur Verfügung. Vor allem scheint es Robinson nicht plausibel, dass der Teufel, wollte er ihn denn wirklich so erschrecken, seine Spur ausgerechnet auf dieser Seite der Insel zurückgelassen haben sollte. Schließlich wohnte er, Robinson, auf der anderen Seite, und so bestand doch nur eine Chance von 1:10000, dass er den Fußabdruck überhaupt finden würde: »I consider’d that the Devil might have found out abundance of other Ways to have terrify’d me than this of the single Print of a Foot. That as I liv’d quite on the other Side of the Island, he would never have been so simple to leave a Mark in a Place where ’twas Ten Thousand to one whether I should ever see it or not, and in the Sand too, which the first Surge of the Sea upon a high Wind would have defac’d entirely: All this seemed inconsistent with the Thing it self, and with all the Notions we usually entertain of the Subtilty of the Devil« (112 f.). – Auch hier beziffert die Probabilitätsformel ein Risiko in der Vergangenheit, doch sie hat für Robinson unmittelbare Auswirkungen auf die weitere Planung seines Vorgehens. Er kommt bei seinem Räsonnement über die Schlauheit des Teufels zum Schluss, dass die ominöse Fußspur von einem Menschen stammen muss, was ihn zwar keineswegs beruhigt – ganz im Gegenteil35 – was ihn aber doch entsprechende ›vernünftige‹ Vorsichtsmassnahmen ergreifen lässt. Schon im ersten Band der Robinson-Trilogie wird damit an prominentester Stelle deutlich, dass Wahrscheinlichkeitsformeln nicht bloß zum retrospektiven Beweis der providentiellen Fügung von Robinsons Leben, sondern auch bereits zur rationalen Lageanalyse eingesetzt werden. Wirklichkeitsbegriff: Nun ist selbstverständlich keine der von Robinson in seine Erzählung eingeflochtenen Wahrscheinlichkeitsformeln als tatsächin Defoes Roman. Vgl. dazu Novak, Maximillian E., Friday: or, the Power of Naming, in: Albert J. Rivero (Hg.), Augustan Subjects. Essays in Honor of Martin C. Battestin, Newark und London 1997, S. 110–122, v. a. S. 114: »Crusoe’s narrative may be seen, in part, as a story about naming […].« 35 Robinson berichtet dazu: »I presently concluded then, that it must be some more dangerous Creature. (viz.) That it must be some of the Savages of the main Land over-against me, who had wander’d out to Sea in their Canoes. […] Then terrible Thoughts rack’d my Imagination […]« (113).
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licher statistischer Wert zu verstehen. Sie sind aber auch nicht bloß als quasimathematische, allegorische Umschrift eines Bekenntnisses zur Spezialprovidenz eines Gottes zu verstehen, der als »deus ex machina« Robinson auch noch aus den hoffnungslosesten Situationen rettet.36 Vielmehr wird mit ihnen eine Weltsicht anzitiert, in der die Vorstellung einer willkürlich eingreifenden Spezialprovidenz gerade keinen Platz mehr hat. Sie sind hoch signifikante Symptome für einen neuen Umgang mit Zufall und Kontingenz, denn in ihnen wird ganz konkret fassbar, wie seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert unterschiedlichste Ereigniszusammenhänge mit dem Modell des Glücksspiels überblendet wurden, und diese Überblendung ist in engstem Zusammenhang mit der Heraufkunft eines neuen Wirklichkeitsbegriffs zu sehen. Die Berechnung der Wahrscheinlichkeiten im Spiel war nur möglich geworden, indem das Geschehen auf dem Spieltisch konsequent aus den undurchschaubaren Bezügen zu einer willkürlich Einfluss nehmenden Fortuna, aber auch aus den Bezügen zu einer ›spezialprovidentiell‹ eingreifenden göttlichen Macht herausgehoben wurde. Erst nachdem solche Verbindungen gekappt waren, konnten die Ergebnisse der einzelnen Spielrunden für sich genommen ein besonderes Interesse beanspruchen, denn nur so konnte man hoffen, über eine rein spielimmanente Untersuchung die Grundlagen für eine im emphatischen Sinne vernünftige Entscheidung zu erhalten. Übertragen auf andere Lebensbereiche hieß das aber, dass auch hier die unmittelbare Verbindung von Ereignissen – seien es nun Schiffshavarien oder Todesfälle – zu einer transzendenten Macht gekappt werden mussten, um die entsprechenden Daten für eine vernünftige Planung operationalisierbar zu machen, und da es nun ganz auf das immanente Zusammenspiel dieser Daten ankam, erfuhren die circumstantiae des Lebens eine zuvor undenkbare Aufwertung. Die Umstände des Weltgeschehens, die zuvor als bloß akzidentelle Einzelheiten vernachlässigbar schienen, rückten unvermittelt in den Interessenfokus, denn gerade über das vertiefte Studium dieser vermeintlichen Nebensächlichkeiten – dieser ›Zufälligkeiten‹ im Sinn von Akzidentien – versprach man sich nun einen Zugang zur verborgenen Ordnung der Welt. Unter diesen Voraussetzungen erschien Wirklichkeit – mit Hans Blumenberg zu sprechen – nicht mehr als »Realität der momentanen Evidenz«.37 Sie ergab sich nicht mehr aus dem Vertrauen in die unmittelbare Evidenz einer metaphysischen Ideenwelt, angesichts derer alles empirisch-sinnlich Gegebene erkenntnistheoretisch bedeutungslos bleiben musste. Und sie ent36 Campe meint, die Formeln dienten nur zum quasi-mathematischen Nachweis des »deus ex machina der Spezialprovidenz« (Campe, Spiel der Wahrscheinlichkeit [Anm. 4], S. 194). 37 Vgl. dazu Blumenberg, Hans, Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans [Erstdruck 1963], in: Hans Robert Jauss (Hg.), Nachahmung und Illusion, München 21969 (Poetik und Hermeneutik 1), S. 9–27, hier S. 10 f.
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sprach auch nicht mehr einem Begriff der »garantierten Realität«,38 wie er nach Blumenberg für das Mittelalter prägend war und wonach die Zuverlässigkeit der gegebenen Realität nur durch eine Garantie untermauert werden konnte, deren sich das Denken in einem umständlichen metaphysischen Verfahren versicherte. Vielmehr zeichnet sich ein Wirklichkeitsbegriff ab, der als die »Realisierung eines in sich einstimmigen Kontextes« umschrieben werden kann.39 Die Realität eines Geschehens ergibt sich damit nicht mehr durch seine Rückbindung an eine transzendente Welt, sondern durch seine immanente Konsistenz. Oder genauer: Die transzendente Rückbindung des irdischen Geschehens ergibt sich nicht mehr unmittelbar, sondern allein noch über den Nachweis einer immanenten Ordnung im Weltgeschehen. Und genau damit verändert sich auch die Bedeutung des Wahrscheinlichen grundlegend. Denn dieses wird nun nicht mehr im Rahmen einer Adäquationstheorie der Wahrheit gedacht, wonach die Wahrscheinlichkeit eines Faktums nach seinem Abstand zu einer transzendenten absoluten Wahrheit bemessen wurde.40 Vielmehr ergibt sich dessen probabilitas nun aus dem »formalen Wirklichkeitsausweis«41 der konsistenten Einbindung des Geschehens in einen bestimmten Kontext, und diese Einbindung konnte allein über die möglichst sorgfältige Sammlung und Speicherung der in arbiträre Zeichensysteme übersetzten circumstantiae eines Geschehensprozesses überprüft werden. Eben diese neuartige Aufmerksamkeit für die circumstantiae ist aber das, was die auf politische und gesellschaftliche Zusammenhänge angewandte Wahrscheinlichkeitstheorie mit der Poetik des neuen Romans nach 1700 verbindet;42 mit einer Poetik, für die Defoes Robinson als Paradigma gilt und die gemeinhin mit dem Begriff des circumstantial realism in Verbindung gebracht wird.43 Und gerade im stereoskopen, sowohl wissenschaftsgeschichtlichen wie literaturwissenschaftlichen Blick auf die neue Aufmerksamkeit für die circumstantiae deutet sich so an, wie diese Aufmerksamkeitssteigerung 38 Ebd., S. 11 f. 39 Ebd., S. 12. 40 Vgl. dazu Blumenberg, Hans, Paradigmen zu einer Metaphorologie [Erstdruck 1960], Frankfurt am Main 1998 (stw 1301), S. 126: »Das Wahrscheinliche […] wird autonom, verliert sein Gemessenwerdenkönnen an einer absoluten Wahrheit.« 41 Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff (Anm. 37), S. 21. Vgl. als frühes Beispiel für diesen formalen Wirklichkeitsausweis Andreas Osianders Vorrede zu den Revolutiones von Kopernikus: Neque enim necesse est, eas hypotheses esse veras, immo ne verisimiles quidem, sed sufficit hoc unum, si calculum observationibus congruentem exhibeant […] (zit. nach Blumenberg, Paradigmen [Anm. 40], S. 126, Anm. 143). 42 Vgl. zum Zusammenhang zwischen Statistik und Romanpoetik Kavanagh, Thomas M., Enlightenment and the Shadows of Chance. The Novel and the Culture of Gambling in Eighteenth-Century France, Baltimore und London 1993, v. a. S. 121. 43 Vgl. dazu vor allem Watt, The Rise of the Novel (Anm. 14).
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ihrerseits eingebunden ist in einen allgemeinen mediengeschichtlichen Wandel. Die neue Kontingenzsemantik wird damit in ihrer medialen Bedingtheit erkennbar.44 Denn nur wenn Medien vorhanden waren, das akzidentelle Geschehen möglichst detailliert zu registrieren, konnte die neue, auf Konsistenz beruhende Wirklichkeit sichtbar gemacht werden. Nur so konnte sie als »Syntax von Elementen« in ihrer grundsätzlich »epischen Struktur« erkennbar werden.45 Subjektivität: Der Fokus der klassischen Wahrscheinlichkeitstheorie liegt auf dem Subjekt. Ihr geht es nicht um die Messung objektiver Häufigkeiten, sondern um Grade der Gewissheit eines vernünftigen Subjekts, und sie versteht sich demnach gleichsam als mathematische Umschrift des gesunden Menschenverstandes. Das zeigt sich paradigmatisch auch noch bei Laplace, der in seinem Essai philosophique sur la probabilité abschließend meint: »Man ersieht aus diesem Essai, dass die Wahrscheinlichkeitstheorie im Grunde nur der der Berechnung unterworfene gesunde Menschenverstand ist; sie lehrt das mit Genauigkeit abschätzen, was ein gerader Verstand mit einer Art Instinkt fühlt, ohne dass er sich oft davon Rechenschaft geben kann.«46 Auch ein »gerader Verstand« schätzt allerdings bestimmte Wahrscheinlichkeiten nicht immer gleich ein. Je nach physischen und psychologischen Umständen kann auch ein ›vernünftiges‹ Subjekt in seinen Einschätzungen zu unterschiedlichen Schlüssen kommen. Daraus ergab sich für die Wahrscheinlichkeitstheorie in der Aufklärung ein viel diskutiertes Problem, bis schließlich im 19. Jahrhundert der Interessefokus vom unzuverlässigen Subjekt auf die Messung objektiver Häufigkeiten verlegt wurde.47 Defoes populärwissenschaftliche Arbeiten zur Glücksspielrechnung standen ganz im Zeichen der klassischen Wahrscheinlichkeitskonzeption; auch sie gingen vom Richtwert eines ›geraden Verstandes‹, das heißt eines vernünftigen Subjekts, aus. Zugleich registrierte Defoe allerdings auch die Grenzen solcher ›Vernünftigkeit‹. Sensibel tastete er die Risse ab, die sich in jenem Konzept eines vernünftigen Subjekts im späteren Verlauf des 18. Jahrhunderts immer deutlicher zeigen sollten, und gerade in seinen literarischen Texten lotete er die Zonen aus, wo eine im eigentlichen Sinne unberechenbare
44 Vgl. dazu Wellbery, David, Mediale Bedingungen der Kontingenzsemantik, in: Graevenitz/Marquard, Kontingenz (Anm. 26), S. 447–450. 45 Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff (Anm. 37), S. 21 und 13. 46 Laplace, Pierre Simon de, Philosophischer Versuch über die Wahrscheinlichkeit [Erstdruck 1814]. Übers. von H. Löwy, hg. von R. van Mises, Thun und Frankfurt am Main 21996 (Ostwald’s Klassiker der exakten Wissenschaften 233), S. 170. 47 Vgl. dazu Daston, Lorraine J., Rational Individuals versus Laws of Society: From Probability to Statistics, in: Krüger, The Probabilistic Revolution (Anm. 23), Bd. 1, S. 295–304.
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Subjektivität sichtbar wurde. Hier spürte er der Psychologie des »Risikos«48 nach, die seinen »Adventurer« Robinson eben als Zwillingsbruder jener »Adventurer« erkennbar werden lässt, um die es in der Zeitschrift The Gamester ging. Robinson lässt, wie gezeigt, Probabilitätsformeln in seinen Lebensbericht einfließen; teils aus der Warte des alten Erzählers urteilend, teils berichtend, wie er als junger Mann geurteilt habe. Sowohl auf der Ebene des erzählenden wie derjenigen des erzählten Robinson ist damit die probabilistische, glücksspielförmige Zurichtung der Welt anzitiert und so als Lektürehorizont in den Roman eingezogen. Vor diesem Horizont erscheint zumal der junge Robinson wie ein unvernünftiger Spieler, der, wie es in verschiedenen Situationen vor seinem Inselaufenthalt heißt, bei seinen Entscheidungen die »circumstances« seines Lebens nicht angemessen in Rechnung stellte.49 Auf der Insel beginnt dann allerdings ein Prozess der Besinnung, der ganz wesentlich mit dem Aufbau einer geordneten, wohlverwalteten Ökonomie einhergeht und signifikanterweise auch zu ersten schriftlichen Aufzeichnungen über das tägliche Leben auf der Insel führt. Im Rahmen dieser Ordnung lernt Robinson (neben manchem anderen), genauer auf die »circumstances« seines Lebens zu achten, und es kommt schließlich zu Episoden, in denen er ganz vernünftig probabilistisch Risiken abwägt; so etwa in der Schlüsselszene, als endlich ein Schiff auf seiner Insel landet, und er den Ankömmlingen begeistert entgegenlaufen möchte, dann aber nach der Prüfung verschiedener Beobachtungen zum Schluss kommt, dass es »most probable« (180) sei, dass diese Ankömmlinge nichts Gutes im Schilde führten. Es scheint also, als durchliefe Robinson gleichsam einen Lehrgang in Wahrscheinlichkeitstheorie, als wäre er ein guter Leser von The Gamester, wo es heißt, »all a wise Man can do […] is, to lay his Business on such Events, as have the most powerful Second Causes: And this is true, both in the great Events of the World, and in ordinary Games.«50 – Zugleich ist aber offensichtlich, dass dieser ›Lehrgang‹ 48 Vgl. zum Begriff des Risikos Hahn, Alois, Risiko und Gefahr, in: Graevenitz/Marquard, Kontingenz (Anm. 26), S. 49–54. 49 Vgl. dazu etwa Robinsons Bemerkung, er habe seine allererste Reise unternommen »without any Consideration of Circumstances or Consequences« (7); ebenso 29 f., 140 und 143. 50 Defoe, The Gamester II (Anm. 27), S. 3. – Dieses Räsonnement, das nicht dem Glauben an Wunder, sondern dem Vertrauen in gleichsam statistische Regelmäßigkeiten folgt, wird von Robinson selbst in den Serious Reflections umrissen: »The dispositions of Heaven to approve or condemn our actions are, many of them, discovered by observation; and it is easy to know when that hand of Providence opens the door for, or shuts it against, our measures, if we will bring causes together, and compare former things with present, making our judgment by the ordinary rule of Heaven’s dealing with men« (Defoe, Daniel, Serious Reflections during the life and Surprising Adventures of Robinson Crusoe, hg. von George A. Aitken, London 1895 [Romances and Narratives 3], S. 187 f.).
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nicht ohne Rückschläge verläuft, denn wie sich einige Jahre nach der Rückkehr nach Europa zeigt, ist er doch wieder bereit, auf seinen »farther adventures« große Risiken einzugehen. Der erzählende Robinson allerdings, der zu einem Zeitpunkt schreibt, da er alle Abenteuer – also auch die »farther adventures« – hinter sich hat, scheint dennoch eine höhere Stufe im Umgang mit den circumstantiae des Lebens erreicht zu haben; jedenfalls suggeriert das die Qualität des Lebensberichts, den er vorlegt und den er streckenweise selber kontrastiert mit den Tagebuchaufzeichnungen seiner Erlebnisse während des ersten Jahres auf der Insel. In einer erzähltechnisch hochinteressanten Passage schaltet er diese Aufzeichnungen ein, in denen teilweise Dinge geschildert werden, die er bereits zuvor erzählt hat. Dadurch ergibt sich eine intrikate Verdoppelung; eine Verdoppelung, die unterstreicht, wie die Schilderung bestimmter circumstantiae ihrerseits abhängig ist von den Umständen, unter denen ein Subjekt seine Geschichte erzählt. Wie die Reflexionen zeigen, die der erzählende Robinson in seine einstigen Aufzeichnungen einflicht, erlaubt ihm seine im Laufe des Lebens gewonnene Erfahrung, souveräner mit den circumstantiae seiner Inselexistenz umzugehen.51 Die Perspektive, die er als Erzähler gewonnen hat, eröffnet ihm eine konsistentere Wirklichkeit. Es geht hier allerdings nur um eine relative Entwicklung, denn auch die neu gewonnene und in Zeichen gefasste Wirklichkeit bleibt prekär. Zum einen wegen ihrer Rückbindung an das Subjekt, zum andern wegen ihrer Darstellung im Medium arbiträrer Zeichen. Auf den prekären Status des Subjekts im Robinson Crusoe hat jüngst auch Christian Kiening in seiner Kleinen Poetik der Neuen Welt aufmerksam gemacht. Er hat gezeigt, wie der Erzähler »souverän und fragil«52 zugleich sei, und wie sich im erlebenden Robinson beständig Momente der Selbstermächtigung und der Selbsterniedrigung, der Kontrolle und des Kontrollverlusts abwechselten.53 Robinson sei der Herr seiner Insel, auf der er fein säuberlich einen europäischen Kalender führe, und auf der er Namen geben könne: so ganz paradigmatisch, als er Freitag nach dem Tag benenne, an dem er diesen aus den Händen der Kannibalen befreit habe. Zugleich werde dieses souveräne Subjekt aber wiederholt von Krisen heimgesucht. Damit sind die zwei Pole der grundlegenden Ambivalenz des Subjekts stichwortartig umrissen. – Man kann freilich noch einen Schritt weitergehen, denn bei näherem Hinsehen erweist sich, dass der Pol der souveränen Kontrolle durch Registrie51 Zunächst sind die eingerückten Einträge aus dem Journal ganz deutlich erkennbar (52 ff.); dann beginnen sie sich allerdings zunehmend mit Kommentaren des erzählenden Robinson zu vermischen. 52 Kiening, Christian, Das wilde Subjekt. Kleine Poetik der Neuen Welt, Göttingen 2006 (Historische Semantik 9), S. 237; vgl. den ganzen Abschnitt zu Robinson ebd., S. 237–244. 53 Dieses Wechselspiel ist auch noch an Robinsons Praxis der Bibellektüre erkennbar: Bald folgt er dabei dem Zufallsprinzip des Bibelstechens (69; 83), bald geht er systematisch vor (71).
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Peter Schnyder
rung und Benennung im Roman selbst gleichsam mit einem Riss versehen ist. Ganz subtil wird durch ein Detail auf die unhintergehbare Arbitrarität der Ordnung verwiesen, die der neue Adam Robinson installiert. Es zeigt sich nämlich, dass die Benennung Freitags sozusagen potenziert arbiträr ist: Als Robinson nach 28 Jahren wieder mit Europäern Kontakt hat, bemerkt er, dass sich eine Ungenauigkeit in seinen Inselkalender eingeschlichen hat. Es fehlt ihm ein Tag. Diesen Tag hat er offenbar während eines Tabak- und Alkoholrauschs in seiner frühen Zeit auf der Insel verschlafen (69 f.). Das heißt aber, dass der Tag, an dem er den Kannibalen Freitag traf, kein »fleischloser Freitag«,54 sondern ein Samstag war. Freitag müsste also im Grunde Samstag heißen.55 Diese Konsequenz entgeht dem erzählenden Robinson, doch ihre Bedeutung für das Problem der Fragilität arbiträrer Zeichenordnungen – und, allgemeiner, der Kontingenz von Erzählordnungen und kulturellen Narrativen – liegt auf der Hand.
54 Mit der Arbitrarität der Namensgebung wird somit auch die Relativität der Unterscheidung zwischen anthropophagen und nicht-anthropophagen Kulturen thematisiert. Vgl. zu Defoes Auseinandersetzung mit dem Thema des Kannibalismus Novak, Maximillian E., Fleischlose Freitage. Kannibalismus als Thema und Metapher in Defoes Robinson Crusoe, in: Daniel Fulda und Walter Pape (Hgg.), Das Andere essen. Kannibalismus als Motiv und Metapher in der Literatur, Freiburg im Breisgau 2001 (Litterae 70), S. 197–216. 55 Vgl. dazu auch Novak, Friday (Anm. 34), S. 117: »Ironically enough, Crusoe’s choice of a name for Friday is not even adequate as a way of capturing him within the Western concept of time, for Crusoe later discovers that he has made a mistake of one day in his effort to keep a calendar.« Auf die durchaus ernsten Konsequenzen dieser Ironie geht Novak allerdings nicht ein.
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Die Autorinnen und Autoren
Bulang, Tobias, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Seminar der Universität Zürich. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Wissen; Johann Fischart. Publikationen: Barbarossa im Reich der Poesie. Verhandlungen von Kunst und Historismus bei Arnim, Grabbe, Stifter und auf dem Kyffhäuser, Frankfurt am Main u. a. 2003 (Mikrokosmos 69); Ursprachen und Sprachverwandtschaft in Johann Fischarts Geschichtklitterung, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift N. F. 56 (2006) H. 2, S. 127–148; Zur Exponierung von Imagination in Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst, in: Kathryn Starkey und Horst Wenzel (Hgg.), Imagination und Deixis. Studien zur Wahrnehmung im Mittelalter, Stuttgart 2007, S. 65–84. Dauven-van Knippenberg, Carla, Associate Professor für Deutsche Literatur an der Universiteit van Amsterdam. Forschungsschwerpunkt: Geistliche Spiele des Mittelalters. Publikationen: mit frölicher berg – Über das Miteinander von Komik und Passion Christi, in: Klaus Ridder (Hg.), Fastnachtspiele. Beiträge zum Internationalen Kolloquium Blaubeueren, 9.–12. September 2007, Tübingen 2009; Das Maastrichter Passionsspiel (um 1300), in: Cornelia Herberichs und Christian Kiening (Hgg.), Literarische Performativität. Lektüren vormoderner Texte, Zürich 2008 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 3), S. 222–239; Ein Spiel vom Leben angesichts des Todes? Rezension zu Maike Claußnitzer: Sub specie aeternitatis.Studien zum Verhältnis von historischer Situation und Heilsgeschichte im Redentiner Osterspiel. Frankfurt am Main 2007 (Mikrokosmos 75), in: www.iaslonline.de. Gerok-Reiter, Annette, Prof. Dr., Univ.-Professorin FU Berlin, Institut für Deutsche und Niederländische Philologie. Forschungsschwerpunkte: Historische Anthropologie; historische Narratologie; Intellectual History; Roman 12.–17. Jahrhundert; Minnesang. Publikationen: Individualität. Studien zu einem umstrittenen Phänomen mittelhochdeutscher Epik, Tübingen und Basel 2006 (Bibliotheca Germanica 51); Erec, Enite und Lugowski, C. Zum ›formalen Mythos‹ im frühen arthurischen Roman. Ein Versuch, in: Gisela Vollmann-Profe, Cora Dietl, Annette Gerok-Reiter, Christoph Huber und Paul Sappler (Hgg.), Impulse und Resonanzen. Tübinger mediävistische Beiträge zum 80. Geburtstag von Walter Haug, Tübingen 2007, S. 131–150; Die Rationalität der Angst: Neuansätze im Fortunatus, in: Wolfgang Haubrichs, Eckart Conrad Lutz und Klaus Ridder (Hgg.), Reflexion und Inszenierung
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Die Autorinnen und Autoren
von Rationalität in der mittelalterlichen Literatur. Blaubeurer Kolloquium 2006 (Wolfram-Studien XX), Berlin 2008, S. 273–298. Haferland, Harald, Prof. Dr., Universität Osnabrück, Institut für Germanistik. Forschungsschwerpunkte: Mündlichkeit/Schriftlichkeit; kognitive Anthropologie des Mittelalters. Publikationen: Mündlichkeit, Gedächtnis und Medialität. Heldendichtung im deutschen Mittelalter, Göttingen 2004; Verschiebung, Verdichtung, Vertretung. Kultur und Kognition im Mittelalter, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 33 (2008), S. 52–101; Kontiguität. Die Unterscheidung vormodernen und modernen Denkens, in: Archiv für Begriffsgeschichte 2009 [im Erscheinen]. Hausmann, Albrecht, Dr. phil., Vertreter des Lehrstuhls für Germanische Philologie an der Universität Freiburg im Breisgau. Forschungsschwerpunkte: Mittelhochdeutsche Lyrik; Erzählen im Mittelalter; Formen und Konzepte von Reproduktion in Mittelalter und Früher Neuzeit. Publikationen: Reinmar der Alte als Autor. Untersuchungen zur Überlieferung und zur programmatischen Identität (Bibliotheca Germanica 40), Tübingen und Basel 1999; Mittelalterliche Überlieferung als Interpretationsaufgabe. ›Laudines Kniefall‹ und das Problem des ›ganzen Textes‹, in: Ursula Peters (Hg.), Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150–1450, Stuttgart und Weimar 2001 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 23), S. 72–95; tütsch brieff machen, och hoflich reden. Zur Terminologie deutscher Artes dictandi des 15. Jahrhunderts, in: Manfred Eikelmann, Burkhard Hasebrink und Gerd Dicke (Hgg.), Im Wortfeld des Textes, Berlin und New York 2006 (TMP 10), S. 137–163. Herberichs, Cornelia, Dr. des., Wissenschaftliche Mitarbeiterin im NFS Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen. Historische Perspektiven, Universität Zürich. Forschungsschwerpunkt: Geistliche Literatur des späten Mittelalters. Publikationen: mit Manuel Braun (Hgg.), Gewalt im Mittelalter. Realitäten – Imaginationen. München 2003; quasi sub unius pagine visione coadunavit. Zur Lesbarkeit der Ebstorfer Weltkarte, in: Jürg Glauser und Christian Kiening (Hgg.), Text – Bild – Karte. Kartographien der Vormoderne, Freiburg im Breisgau, Berlin und Wien 2007 (Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae 105), S. 201–217; Lektüren des Performativen. Zur Medialität geistlicher Spiele des Mittelalters, in: Ingrid Kasten und Erika Fischer-Lichte (Hgg.), Transformationen des Religiösen. Performativität und Textualität im geistlichen Spiel, Berlin und New York 2007 (TMP 11), S. 169–185. Koch, Elke, Prof. Dr., Heyne-Juniorprofessorin für Germanistische Mediävistik an der Georg-August-Universität Göttingen. Forschungsschwerpunkte: Höfische und religiöse Literatur des hohen und späten Mittelalters; Media-
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Die Autorinnen und Autoren
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lität; literarische Anthropologie. Publikationen: Trauer und Identität. Inszenierungen von Emotionen in der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin und New York 2006 (TMP 8). Kundert, Ursula, Prof. Dr., Juniorprofessorin für Deutsche Literatur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: Zusammenhänge zwischen Literatur-, Frömmigkeits- und Wissenschaftsgeschichte, insbesondere im mittelhochdeutschen Leich, in vormodernen Enzyklopädien und im Bibelroman. Publikationen: Konfliktverläufe. Normen der Geschlechterbeziehungen in Texten des 17. Jahrhunderts, Berlin 2004 (Quellen und Forschungen zur Literaturund Kulturgeschichte 33); mit Barbara Schmid und Regula Schmid (Hgg.), Ausmessen – Darstellen – Inszenieren. Raumkonzepte und die Wiedergabe von Räumen in Mittelalter und früher Neuzeit, Zürich 2007; mit Marion Gindhart (Hgg.), Disputatio (1200–1800). Form, Funktion und Wirkung eines Leitmediums universitärer Wissenskultur, Berlin 2009. Mertens, Volker, Prof. Dr. Dr. h. c., Ordinarius emerit. FU Berlin, Institut für Deutsche und Niederländische Philologie. Forschungsschwerpunkte: Performativität; historische und vergleichende Kulturwissenschaft; musikwissenschaftliche Perspektiven der Philologie; Lyrik; Höfischer Roman; Geistliche Literatur (Predigt). Publikationen: Der Gral. Mythos und Literatur, Stuttgart 2003 (RUB 18261); Visualizing Performance. Music, Word and Manuscript, in: Kathryn Starkey und Horst Wenzel (Hgg.), Visual Culture and the German Middle Ages, New York u. a. 2005, S. 135–158; Groß ist das Geheimnis. Thomas Mann und die Musik, Leipzig 2006; Giacomo Puccini – Wohllaut, Wahrheit und Gefühl, Leipzig 2008. Reichlin, Susanne, Dr. des., Assistentin am Deutschen Seminar der Universität Zürich. Forschungsschwerpunkte: Spätmittelalterliche Kleinepik; Prosaromane; Gabe und Tausch in der mittelalterlichen Literatur. Publikationen: Ökonomien des Begehrens, Ökonomien des Erzählens. Zur poetologischen Dimension des Tauschens in Mären. Göttingen 2009 (Historische Semantik 12); Erzählen vom magischen Augenblick. Mediale Selbstüberschreitungen in Jörg Wickrams Goldtfaden, in: Christian Kiening (Hg.), Mediale Gegenwärtigkeit, Zürich 2007 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 1), S. 207–224; Gescheiterte Liebeserziehung, gelungene Beschriftung. Sprache und Begehren im Märe Des Mönchs Not, in: Mireille Schnyder (Hg.), Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters, Berlin 2008 (TMP 13), S. 221–241. Röcke, Werner, Prof. für Ältere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Lachkulturen in Mittelalter und
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Die Autorinnen und Autoren
Früher Neuzeit; Geschichte des Romans; Hermeneutik der Fremde. Publikationen: mit Katja Gvozdeva (Hgg.), risus sacer – sacrum risibile. Interaktionsfelder von Sakralität und Gelächter im kulturellen und historischen Wandel, Bern 2009 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik NF 20); mit Marina Münkler (Hgg.), Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, München 2004 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1); Maria Magdalena und Judas Ischarioth. Das Alsfelder Passionsspiel und die Erlauer Spiele als Experimentierfelder des Bösen und soziokultureller Standards im Spätmittelalter, in: Ingrid Kasten und Erika Fischer-Lichte (Hgg.), Transformationen des Religiösen. Performativität und Textualität im geistlichen Spiel, Berlin und New York 2007 (TMP 11), S. 80–96. Schnyder, Mireille, Prof. Dr., Ordentliche Professorin für Ältere deutsche Literatur bis 1700 an der Universität Zürich. Forschungsschwerpunkte: Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit; Poetologie; Narratologie; Medialität; Wahrnehmung des Fremden. Publikationen: Topographie des Schweigens. Untersuchungen zum deutschen höfischen Roman um 1200, Göttingen 2003 (Historische Semantik 3); Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters, hg. von Mireille Schnyder, Berlin und New York 2008 (TMP 13); Minnesang, in: Cornelia Herberichs und Christian Kiening (Hg.), Literarische Performativität. Lektüren vormoderner Texte, Zürich 2008 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 3), S. 121–139. Schnyder, Peter, PD Dr. phil. (Zürich), M.Phil. (Cambridge), Privatdozent am Deutschen Seminar der Universität Zürich. Forschungsschwerpunkte: Deutsche Literatur des 17. bis 21. Jahrhunderts im europäischen Kontext; Ästhetik und Politik; Literatur und Wissenschaft. Publikationen: mit Michael Gamper (Hgg.), Kollektive Gespenster. Die Masse, der Zeitgeist und andere unfaßbare Körper, Freiburg im Breisgau 2006 (Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae 148); Schillers ›Pastoraltechnologie‹. Individualisierung und Totalisierung im Konzept der ästhetischen Erziehung, in: Jahrbuch der Deutschen SchillerGesellschaft 50 (2006), S. 234–262; Alea. Zählen und Erzählen im Zeichen des Glücksspiels (1650–1850), Göttingen 2009. Schulthess, Peter, Prof. Dr., Ordinarius für theoretische Philosophie an der Universität Zürich. Forschungsschwerpunkt: Das Verhältnis von Logik, Semantik und Ontologie in der Philosophie im Mittelalter und in der Gegenwart. Publikationen: Sein, Signifikation und Erkenntnis bei Wilhelm von Ockham, Berlin 1992; Am Ende der Vernunft – Vernunft am Ende? Die Frage nach dem logos bei Platon und Wittgenstein, St. Augustin 1993; mit Ruedi Imbach (Hgg.), Die Philosophie im lateinischen Mittelalter. Ein Handbuch mit einem bio-bibliographischen Repertorium, München und Zürich 1996.
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Die Autorinnen und Autoren
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Schulz, Armin, PD Dr., wiss. Mitarbeiter am Institut für Deutsche Philologie, Universität München. Forschungsschwerpunkt: Erzähltheorie und historische Anthropologie. Publikationen: Poetik des Hybriden. Schema, Variation und intertextuelle Kombinatorik in der Minne- und Aventiureepik, Berlin 2000 (Philologische Studien und Quellen 161); Die Zeichen des Körpers und der Liebe. Paris und Vienna in der jiddischen Fassung des Elia Levita, Hamburg 2008; Schwieriges Erkennen. Personenidentifizierung in der mittelhochdeutschen Epik, Tübingen 2008 (MTU 135). Waltenberger, Michael, Dr. phil., Wissenschaftliche Mitarbeiter im Teilprojekt B 6 (»Autorität des Nichtigen: Wissensformen und Geltungsansprüche ›niederen‹ Erzählens im 15. bis 17. Jahrhundert«) des SFB 573 (»Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit«) an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Forschungsschwerpunkte: Mittelalterliche und frühneuzeitliche Kleinepik; Beziehungen zwischen deutscher und französischer Literatur; Erzähltheorie. Publikationen: Das große Herz der Erzählung. Studien zu Narration und Interdiskursivität im Prosa-Lancelot, Frankfurt am Main u. a. 1999 (Mikrokosmos 51); Diß ist ein red als hundert. Diskursive Konventionalität und imaginative Intensität in der Minnerede Der rote Mund, in: Horst Wenzel und C. Stephen Jaeger (Hgg.), Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Bildern und Texten, Berlin 2006 (Philologische Studien und Quellen 195), S. 248–274; ›Einfachheit‹ und Partikularität. Zur textuellen und diskursiven Konstitution schwankhaften Erzählens, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 56 (2006), S. 265–287.
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Historische Semantik
hg. von Bernhard Jussen, Christian Kiening, Klaus Krüger und Willibald Steinmetz
Band 3: Mireille Schnyder Topographie des Schweigens
Band 5: Udo Friedrich Menschentier und Tiermensch
Untersuchungen zum deutschen höfischen Roman um 1200 2003. 447 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-36701-8
Diskurse der Grenzziehung und Grenzüberschreitung im Mittelalter 2009. 437 Seiten mit 10, z.T. farb. Abb., gebunden. ISBN 978-3-525-36704-9
M. Schnyder untersucht die Grundmuster der Schweigewahrnehmung und ihre Darstellungsformen im deutschen höfischen Roman um 1200. »Schnyders Buch gehört zu den Arbeiten, die künftiger Forschung viele neue Horizonte erschließen...« Jan-Dirk Müller, Zeitschrift für deutsche Philologie
Die Grenze zwischen Mensch und Tier gehört zu den zeitlosen Themen der Kulturgeschichte. Diese Studie untersucht Szenarien der Grenzziehung und Grenzüberschreitung in literarischen Texten des 12. und 13. Jahrhunderts.
Band 4: Thomas Maissen Die Geburt der Republic Staatsverständnis und Repräsentation in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft 2., veränderte Auflage 2008. 672 Seiten mit 43 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-36706-3 »Maissens Studie gehört zur seltenen Sorte Bücher, die auch jenen imponieren müssen, denen sie gegen den Strich gehen.« Caspar Hirschi, Frankfurter Allgemeine Zeitung »Maissens Buch setzt Maßstäbe, es darf als Meilenstein in der schweizerischen Geschichtsschreibung betrachtet werden.« Clausdieter Schott, Neue Zürcher Zeitung »Elegant geschrieben, quellennah und nüchtern argumentierend darf man dieser meisterlichen Arbeit rege Aufnahme wünschen.« Karin Gottschalk, H-Soz-u-Kult
Band 6: Matthias Müller Das Schloß als Bild des Fürsten Herrschaftliche Metaphorik in der Residenzarchitektur des Alten Reichs (1470–1618) 2004. 560 Seiten mit 208 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-36705-6 »Eine vielstimmige Untersuchung zur Manifestation des fürstlichen Regiments in der Architektur.« Jarl Kremeier, Zeitschrift für Historische Forschung
Band 7: Marion Oswald Gabe und Gewalt Studien zur Logik und Poetik der Gabe in der frühhöfischen Erzählliteratur 2004. 372 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-36707-0 Aus interdisziplinärer Perspektive wird der diskursive Zusammenhang von ›Gabe und Gewalt‹ untersucht.
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Historische Semantik
hg. von Bernhard Jussen, Christian Kiening, Klaus Krüger und Willibald Steinmetz
Band 8: Christel Brüggenbrock Die Ehre in den Zeiten der Demokratie Das Verhältnis von athenischer Polis und Ehre in klassischer Zeit 2006. 354 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-36708-7 Die Arbeit analysiert das ehrenhafte Verhalten athenischer Bürger in der demokratischen Polis in klassischer Zeit. »Brüggenbrock hat eine anregende Arbeit zu einem sehr komplexen Thema verfasst.« H-Soz-u-Kult
Band 9: Christian Kiening Das wilde Subjekt Kleine Poetik der Neuen Welt 2006. 311 Seiten mit 32 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-36709-4 »Insgesamt macht Christian Kienings kleine Poetik der neuen Welt deutlich, dass eine kulturwissenschaftlich fundierte und literaturwissenschaftlich inspirierte Fragestellung auch an einem scheinbar abgegriffenen Thema zahlreiche neue Entdeckungen machen kann.« Marina Münkler, Süddeutsche Zeitung »Es wäre Selbstaufgabe, wenn Kiening seinem Leser ein einfaches Ziel in Aussicht stellen würde. Die Lektüre bekommt so durchaus experimentellen Charakter. Sich darauf einzulassen, lohnt sich.« Franz Mauelshagen, Tages-Anzeiger
Band 11: Kathrin Müller Visuelle Weltaneignung Astronomische und kosmologische Diagramme in Handschriften des Mittelalters 2008. 438 Seiten mit 26 farb. und 90 s/w Abb., gebunden ISBN 978-3-525-36711-7 Dieses Buch analysiert astronomische und kosmologische Diagramme des Mittelalters und zeigt, wie sich die Menschen die Bewegungen der Planeten vorstellten und Himmelsphänomene erklärten.
Band 12: Susanne Reichlin Ökonomien des Begehrens, Ökonomien des Erzählens Zur poetologischen Dimension des Tauschens in Mären 2009. Ca. 288 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-36712-4 Eine literarhistorische und kulturgeschichtliche Untersuchung des Tausches von minne gegen Geld in Mären im Kontext der Diskussion um die Logik vormoderner Ökonomien.
Weitere Bände der Reihe sind in Vorbereitung. Band 1 ist vergriffen. Lesen Sie mehr unter www.v-r.de
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