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German Pages 290 Year 2017
Nicole Maria Bauer Kabbala und religiöse Identität
Religionswissenschaft | Band 7
Nicole Maria Bauer promovierte 2015 im Fach Religionswissenschaft an der Universität Heidelberg. Im Zuge ihrer Feldforschung in London, Tel Aviv und Berlin untersuchte sie die religiöse Praxis gegenwärtiger kabbalistischer Gruppen. Sie ist Lehrbeauftragte im Fach Religionswissenschaft an der Universität Heidelberg.
Nicole Maria Bauer
Kabbala und religiöse Identität Eine religionswissenschaftliche Analyse des deutschsprachigen Kabbalah Centre
Inauguraldissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Zentrum für Europäische Geschichts- und Kulturwissenschaften. Institut für Religionswissenschaft. Heidelberg April 2015, überarbeitete Fassung Februar 2017 Promotionsförderung durch das Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk
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Meinen Großeltern. „Diese Welt ist wie das Ufer und die Kommende Welt wie das Meer.“ RABBI MOSCHE CHAIM LUZZATTO „The present is movement, and movement is progress.“ ELIJAH BENAMOZEGH, TEOLOGIA
Inhalt
Vorwort | 9 Einleitung | 11 Forschungsstand | 19
Forschungsfeld Kabbala und jüdische Mystik | 19 Forschungsfeld Gegenwartsreligiosität | 24 Theoretische Betrachtungen | 33
Erkenntnistheoretischer Rahmen | 33 Das Kabbalah Centre als Neue Religiöse Bewegung? | 43 Theoretische Betrachtungen zur Konstruktion religiöser Identität | 57 Theoretische Betrachtungen zur Konstruktion kollektiver religiöser Identität | 66 Religionsökonomie | 80 Methodischer Zugang | 99
Multimethodische Ansätze in der Erforschung von Gegenwartsreligiosität | 99 Ethnographische Methoden in der Religionswissenschaft | 102 Zur Umsetzung der qualitativen Forschungsmethoden | 105 Die Erfindung einer kabbalistischen Tradition – Religionsgeschichtliche Verortung von Kabbala | 119
Kabbala und Judentum | 119 Kabbala und Esoterik | 135 Gegenwärtige Kabbala | 139 Das Kabbalah Centre | 143
Kabbala, Kabbalah Centre und New Age | 143 Die Entwicklung des Kabbalah Centre | 153 Kollektive religiöse Identität im Kabbalah Centre | 161
Konstruktion von Geschichte und Tradition | 161
Rezeption und Adaption jüdischer und kabbalistischer Ideen und Praktiken im Kabbalah Centre | 168 Heilung und Selbstoptimierung als Baustein kollektiver religiöser Identität im Kabbalah Centre | 198 New-Age-Rezeption im Kabbalah Centre: Die Erfindung einer ‚spirituellen Transformation‘ | 200 Wissenschaft und Religion im Kabbalah Centre | 204 Faith Branding und die Konstruktion der Kabbalah-Centre-Community | 207 Die religiöse Identitätskonstruktion der Akteure | 211
Zur Auswertung der qualitativen Interviews | 211 Spirituelle Identitätskonstruktion in der narrativen Selbstdarstellung der Akteure | 213 Die Konstruktion einer spirituellen Identität | 226 Reinkarnationsvorstellungen in der Darstellung der Akteure | 232 Die jüdische Identität der Akteure: Die Identifikation mit dem Judentum | 235 Die Identifikation der Akteure mit dem Kabbalah Centre | 240 Identität und Branding | 246 Schlussbetrachtungen und Ausblick | 249
Theoriebausteine religiöser Identitätskonstruktion: Identität und Faith Brand | 250 Personale religiöse Identitätskonstruktion | 254 Ausblick | 258 Literatur | 261
Vorwort
Als ich im Rahmen meiner Diplomarbeit am Institut für Soziologie an der Universität Graz die Israelitische Kultusgemeinde Graz unter religionssoziologischen Aspekten untersucht habe, konnte ich die Beobachtung machen, dass besonders von nicht-jüdischer Seite großes Interesse am Judentum besteht. Das vielfältige Angebot des Israelitischen Kultusvereins, das von Klezmer-Musik bis hin zu unterschiedlichen Kulturveranstaltungen reicht, zog insbesondere ein (religiös) heterogenes Publikum an, das sich über das Judentum informieren oder an der jüdischen Kultur teilhaben wollte. Darüber hinaus konnte ich feststellen, dass die Identifikation mit dem Judentum häufig auch den Wunsch nach der Konversion zum Judentum nach sich zog. Als ich 2010 begann, mich im Zuge meines Promotionsprojektes mit dem Kabbalah Centre zu beschäftigen, ging ich anfangs der Frage nach, inwiefern Menschen über das Kabbalah Centre Zugang zum Judentum suchen. Die viel facettenreicheren Motivationen und Intentionen der religiösen Akteure, die dem Kabbalah Centre auf ihrer ‚spirituellen Wanderschaft‘ begegnen und sich damit identifizieren, werden im Zuge dieser Arbeit reflektiert und diskutiert. Dabei wird ein Neuansatz in der religionswissenschaftlichen Identitätsforschung vorgeschlagen: die Verknüpfung von personaler und kollektiver religiöser Identitätskonstruktion mit religionsökonomischen Modellen. An dieser Stelle möchte ich einigen Personen danken, die mich in den letzten Jahren begleitet und mich bei der Publikation dieser Arbeit unterstützt haben. Für die Ermöglichung der Promotion am Institut für Religionswissenschaft danke ich ganz besonders meinem Doktorvater Prof. Dr. Gregor Ahn. Durch den intellektuellen Austausch mit ihm ist diese Arbeit gewachsen und gereift. Ebenso danke ich meinem Zweitgutachter Frederek Musall, Professor an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg, für die konstruktiven Gespräche und judaistischen sowie religionsphilosophischen Impulse.
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Für die finanzielle und ideelle Förderung während meiner Promotion möchte ich dem Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerk (ELES) meine Dankbarkeit aussprechen. Die umfangreichen Feldforschungen in Tel Aviv, Jerusalem, London und Berlin, sowie die Teilnahme an einem Hebräisch-Kurs an der Hebrew University of Jerusalem, wären ohne die finanzielle Unterstützung des Studienwerkes nicht in diesem Umfang möglich gewesen. Persönlich danke ich ebenso meinem Vertrauensdozenten des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks Prof. Dr. Daniel Krochmalnik für konstruktive Impulse. Für wichtige Denkanstöße während der Anfangsphase meiner Dissertation danke ich der Kabbala-Expertin Dr. Elke Morlok. Für weitere Unterstützung und fachliche Anregungen danke ich außerdem der Religionswissenschaftlerin Prof. Dr. Inken Prohl sowie Boaz Huss, Professor für Jüdische Geistesgeschichte. Für das Redigieren des Manuskripts danke ich besonders Prof. Dr. Peter Meusburger und Silke Hasper. Außerdem danke ich allen Personen, die mich bei der Transkription des Interviewmaterials unterstützt haben. Mein ganz besonderer Dank geht an Christian Deisenroth, der mich nicht nur mit seinem technischen Know-how und seinen fachlichen Anregungen unterstützt hat, sondern mich unermüdlich motiviert hat diese Arbeit zu schreiben. Das Forschungsprojekt wäre nie zustande gekommen ohne die Bereitschaft und Offenheit der Interviewteilnehmer1 und der Zustimmung und Unterstützung einzelner Kabbalah Centre-Mitarbeiter, denen ich auf diesem Wege ebenfalls ganz besonders danken möchte. Für die Reflexion der jüdischen Aspekte meiner Arbeit danke ich dem Hochschulrabbiner Shaul Friberg und dem Rabbiner Tobias Jona Simon, deren innerjüdische Perspektive mir eine neue Sichtweise auf meinen Forschungsgegenstand eröffnet hat. Außerdem möchte ich an dieser Stelle meiner Familie danken, die mich auf meinem Weg immer unterstützt hat. Ganz besonders danke ich meinen Eltern und Großeltern, die mich trotz der großen Entfernung bei der Betreuung meiner Tochter unterstützt haben. Ohne deren Engagement wären meine Feldforschungsreisen wohl nicht in diesem Umfang möglich gewesen. Zu guter Letzt möchte ich mich bei meiner wunderbaren Tochter Sophie dafür bedanken, dass auch Sie mich auf diesen Weg begleitet und mich dabei täglich an die wesentlichen Dinge des Lebens erinnert hat!
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Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.
Einleitung
Das Kabbalah Centre ist eine religiöse Organisation, die in den späten 1960er Jahren von Philip Berg1 (1929-2013) gegründet wurde. Berg verfolgte in der Anfangszeit das Ziel, säkulare Juden über Kabbala mit ihrer jüdischen Religion vertraut zu machen. Er stellt sich dabei als Nachfolger von Yehuda Ashlag2 (18841954) dar, der ein bedeutender Kabbalist des 20. Jahrhunderts war, und entwickelte in Anlehnung an Ashlag eine eigene kabbalistische Lehre. Dabei adaptierte er unterschiedliche kabbalistische Narrative, wie die Idee des Tikkun, die Vorstellung der zehn Sefirot oder Ashlags Schöpfungsnarrativ und verknüpfte diese mit psychologischen und therapeutischen Elementen. Im Laufe der letzten beiden Jahrzehnte änderte sich die Ausrichtung des Kabbalah Centre. Statt eines jüdischen Publikums richtete sich das Kabbalah Centre auch an ein nicht-jüdisches Publikum. Kabbalistische Ideen werden heute in Form von Publikationen, Vorträgen und Kursen als Selbst-Hilfe und Selbst-Optimierungsangebote angeboten. Gleichzeitig bietet das Kabbalah Centre die Teilnahme an jüdischen Traditionen und Ritualen an: die jüdischen Feiertage werden zelebriert und der Shabbat3 wird gehalten. Diese Entwicklung wird auch an den Veröffentlichungen der Organisation deutlich: Die Macht der Kabbalah (im Original: The Power of Kabbalah) zählt zu den bekanntesten Publikationen des Kabbalah
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Berg wuchs als Shraga Feivel Gruberger in einer jüdisch-orthodoxen Familie in New York auf. Details zu seiner Biographie sind der Enzyklopedia Judaica zu entnehmen (vgl. Myers 2007a).
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Yehuda Ashlag wuchs in einer chassidischen Familie in Polen auf und wurde mit 19 Jahren zum Rabbiner ordiniert. Er entwickelte die Lehren des bekannten Kabbalisten Isaak Luria (1534-1572) weiter und verband sie mit marxistischer Ideologie sowie chassidischen Ideen und Praktiken seiner Heimat (vgl. Myers 2007:30).
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Der Shabbat ist ein jüdischer Ruhetag, der eine zentrale Stellung in der jüdischen Tradition einnimmt.
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Centre und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt (vgl. The Kabbalah Centre 2016).4 Damit setzte Yehuda Berg den Anfang einer neuen, populären Form von Kabbala. Diese sieht sich längst des Anspruches enthoben, Teil einer aus dem Judentum stammenden Lehre zu sein. Im Gegensatz zu Philip Bergs frühen KabbalaPublikationen, die sich an eine jüdische Leserschaft richteten, verzichtet Y. Berg in seinen Veröffentlichungen nicht nur weitgehend auf jüdische Referenzen, sondern richtet sich an Menschen, die weder mit der jüdischen Tradition noch mit kabbalistischen Ideen oder Praktiken vertraut sind. Er bietet ein inhaltlich vereinfachtes und auf praktische Aspekte des alltäglichen Lebens ausgerichtetes Konzept von Kabbala an, das dem einzelnen Leser unmittelbare Erfüllung und Selbsthilfe in allen Lebensbereichen verspricht. Wirft man einen Blick auf die offizielle Webseite des Kabbalah Centre (www.kabbalah.com), bekommt man sehr schnell einen Eindruck von dem umfassenden Angebot der Organisation. Neben einer umfangreichen Reihe an Publikationen werden auch religiöse Objekte angeboten, denen eine heilige Kraft zugeschrieben wird. Hier ist besonders das Kabbalah Water als „one of the simplest modes of healing that is offered by the Centre“ (Myers 2007b, 170) hervorzuheben. Durch das Trinken dieses Wassers soll „the power and sanctity of the holy book“ (ebd. 171) aufgenommen werden, um Heilung herbeizuführen. Abbildung 1: Kabbalah Water
Quelle: Nicole M. Bauer, 2016
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2003 erschien das Buch unter dem Titel Die Macht der Kabbalah. Von den Geheimnissen des Universums und der Bedeutung unseres Lebens auf Deutsch.
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Das bekannteste Produkt des Kabbalah Centre ist ein roter Wollfaden, der Red String. Er stellt ein Markenzeichen dieser religiösen Organisation dar und ist damit ein zentraler Identifikationsmarker des Kabbalah Centre (vgl. Bauer 2015). Schon vor einigen Jahren haben Berühmtheiten wie die Popsängerin Madonna zur öffentlichen Präsenz des Kabbalah Centre durch das Tragen des roten Wollfadens als Erkennungszeichen gesorgt. Wie zudem in den Medien festgestellt wurde, erkennt man „am roten Bändchen [...] auch Elizabeth Taylor, Elton John, Barbra Streisand und Naomi Campbell“ (Kissler 2010, 1) als Anhänger des Kabbalah Centre. Während sich der Großteil der prominenten Kabbalah-Centre-Akteure kaum öffentlich zur persönlichen Religiosität äußert, integriert die Popsängerin Madonna kabbalistische Elemente in ihre Werke und inszeniert diese als Teil ihrer nach außen hin gezeigten, religiösen Identität. Ihre religiöse Identität wird in unterschiedlichen Werken deutlich, wie beispielsweise in dem Musikvideo zum Lied Die Another Day, welches für den James Bond Film Stirb an einem anderen Tag (2002) produziert wurde. In diesem Musikvideo kombiniert die Sängerin kabbalistische, jüdische und populärkulturelle5 Elemente und löst dadurch die „herkömmliche[n] Grenzen zwischen Eliten- und Massenkultur, zwischen Judentum und Christentum und zwischen Religion und Unterhaltung“ auf (Huss 2004, 290). Das Video deutet einen Kampf mit dem Ego an und endet mit dessen Zerstörung (vgl. ebd.). Dabei lehnt sich Madonna an die Kabbala-Interpretation von Philip Berg und dessen Nachfolgern Yehuda, Michael und Karen Berg an. Im Mittelpunkt deren Kabbala-Interpretation steht die Zerstörung des Egos, das sich im menschlichen Wunsch, alles für sich selbst zu empfangen, manifestiert und zugleich den Motor für eine spirituelle Transformation darstellt (vgl. Yehuda Berg 2003a, 112ff.). In der Kampfszene im Musikvideo, die zwischen einer schwarz und einer weiß gekleideten Madonna stattfindet, werden sowohl traditionelle jüdische Elemente6 als auch kabbalistische Symbole, die vor allem im Kontext des Kabbalah Centre eine besondere Bedeutung innehaben, dargestellt7 (vgl. Huss 2004, 290f.). Durch die mediale Präsenz von Madonna und ihrer religiösen Selbstdarstellung erschien auch das Kabbalah Centre in den letzten Jahren häufiger in
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Der Zusammenhang von ‚Populärkultur‘ und ‚Religion‘ wurde u. a. von Ellen Frances King (vgl. King 2014) und Terry Mattingly (vgl. Mattingly 2005) bearbeitet.
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Beispielsweise die jüdischen Gebetsriemen (tefilin).
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So hat Madonna z. B. die hebräischen Buchstaben lamed, aleph und waw auf ihren rechten Oberarm tätowiert. Diese Buchstabenfolge stellt einen der 72 Namen Gottes dar, die auf eine alte jüdische Überlieferung zurückgehen (vgl. Huss 2004, 280) und durch
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den Medien. Schlagzeilen wie Madonnas Modereligion (vgl. Hyams 2004), Kabbalah und Euros (vgl. Kühn 2003) oder Kabbalalala (vgl. Kissler 2010) spiegeln den öffentlichen Diskurs über das Kabbalah Centre wider. Verschiedene Autoren kritisieren beispielsweise die vermeintliche Oberflächlichkeit der Lehren des Kabbalah Centre und unterstellen diesem gleichzeitig „Scharlatanerie“ (Kühn 2003), die sich von den traditionellen kabbalistischen Modellen unterscheiden würde. Sie betrachten das Kabbalah Centre als kabbalistische „Light-Version“ (ebd.) oder als „leicht erlernbare und tolerante McSpirituality“ (Hyams 2004), die „bestens mit anderen Wohlfü hllehren“ (ebd.) harmoniere. Auch ein Vergleich zu Scientology wurde gezogen: Als „Scientology auf jüdisch“ (Kühn 2003) sei es „eine ganz schlimme Sache“ (ebd.) und als „pseudojüdische Lehre“ (ebd.) stehe das „Kabbalah Centre in Opposition zur echten Kabbala“ (Hyams 2004). Diesen Positionen reflektieren die in Deutschland medial geführte Debatte um die sogenannten Sekten bzw. Jugendsekten8 (vgl. Baumann 1995, 111ff.; Murken 2009, 11ff.). Trotz dieses negativ aufgeladenen medialen Diskurses fühlen sich jüdische und nicht-jüdische Menschen zu den Ideen und Praktiken des Kabbalah Centre hingezogen. Unabhängig von ihrer religiösen Provenienz nehmen sie an Veranstaltungen teil, besuchen Kurse, kaufen Bücher, feiern zusammen die jüdischen Fest- und Feiertage, halten zusammen den Shabbat, integrieren kabbalistische Praktiken in ihren Alltag und adaptieren die vom Kabbalah Centre angebotenen kabbalistischen Elemente in ihre religiösen Identitätskonstruktionen. Sie besuchen das Kabbalah Centre in Berlin, wo Veranstaltungen, Kurse und religiöse Zeremonien stattfinden, und haben die Möglichkeit das Kabbalah Centre über das Internet kennenzulernen. Die große Diskrepanz der Zahlen derer, welche jährlich an Veranstaltungen teilnehmen, und jener kleinen Gruppe, die den inneren Kreis der deutschsprachigen ‚Kabbalah-Centre-Community‘ bildet, lässt vermuten, dass der Großteil der Interessenten das Kabbalah Centre auf der spirituellen Wanderschaft ‚testet‘ (vgl. Bochinger, Engelbrecht und Gebhardt 2005).9 Wirft man einen Blick auf die reli-
die Publikationen des Kabbalah Centre gegenwärtig Popularität erlangten (vgl. Yehuda Berg 2003b). 8
An dieser Stelle sei angemerkt, dass der Sekten-Begriff in der deutschen Religionswissenschaft aufgrund der negativen Zuschreibungen an den Begriff kaum mehr Verwendung findet.
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Es gibt zwar keine offizielle Mitgliedschaft im Kabbalah Centre, dennoch verpflichten sich einige Akteure zu freiwilligen, monatlichen Spendenabgaben an das Zentrum, was eine Verbindlichkeit darstellt.
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giöse Landschaft in Deutschland, kann dies innerhalb eines aktuellen Trends gelesen werden, der bereits von Religionswissenschaftlerinnen und Religionswissenschaftlern konstatiert wurde: Während auf der Organisationsebene offene Partizipationsstrukturen einem Bedürfnis der Akteure nach Flexibilität und ‚religiöser‘ Autonomie nachkommen können, ist das gegenwärtige religiöse Feld auch auf der Ebene religiöser Ideen von einer Hybridität geprägt, die den religiösen Akteuren eine „bedarfsorientierte Nutzung religiöser Angebote“ (Prohl und Rakow 2008, 4) bietet. Themen wie „Selbstoptimierung“, „Selbsterfahrung“ und „Heilung“ finden daher im Kabbalah Centre besondere Beachtung. Während einerseits die Zerstörung des Egos im Zentrum der Kabbala-Interpretationen der Bergs steht, wird andererseits das Selbst zum Zentrum der religiösen Auseinandersetzung. Das Kabbalah Centre ist in diesem Sinne „Ausdruck einer postmodernen Form von Spiritualität“ (Huss 2004, 290). Postmoderne Spiritualität zeichnet sich durch eine Bezugnahme auf das Selbst aus und rückt individuelle Erfahrungsdimensionen ins Zentrum (vgl. Carrette 2004; Bochinger, Engelbrecht und Gebhardt 2005). Im Kabbalah Centre wird dies darin deutlich, dass die individuelle Wirksamkeit und Erfahrbarkeit der kabbalistischen Praktiken im Vordergrund steht. Gleichzeitig werden unterschiedliche religiöse Elemente miteinander kombiniert, was ebenso ein Charakteristikum gegenwärtiger bzw. postmoderner Spiritualität darstellt. Im Kontext des Kabbalah Centre lässt sich außerdem eine fluide ‚kollektive Identität‘ feststellen. Diese zeichnet sich durch einen stetigen Wandel der religiösen Ideen und Praktiken10 aus. So befindet sich die kollektive religiöse Identität des Kabbalah Centre in einem diskursiven Aushandlungsprozess, der durch den lokalen, kulturellen und sozialen Kontext des Zentrums bedingt ist. Dabei ist der jüdische Kontext hervorzuheben, innerhalb dessen auch die religiösen Identitäten von Kabbalah-Centre-Akteuren ausgehandelt werden. Neben der Betonung kapitalistischer Werte, wie „materiellem Erfolg“, in den Angeboten des Kabbalah Centre wird das Zentrum selbst zu einem faith brand (vgl. Einstein 2008), das von den religiösen Akteuren konsumiert wird, und als Identitätsmarker fungiert. Bestimmte Angebote, die mit dem Selbstkonzept des jeweiligen Akteurs übereinstimmen, werden konsumiert und stellen gleichzeitig wichtige Elemente für die religiöse Identitätskonstruktion dar.
10 Im Kontext des Kabbalah Centre werden insbesondere jüdische und kabbalistische Ideen und Praktiken mit Vorstellungen, die in der New-Age-Bewegung zu verorten sind, kombiniert (vgl. Kapitel 6.4). Außerdem werden weitere Elemente aus dem europäischen Religionsdiskurs, wie beispielsweise das westliche Reinkarnationskonzept, in die Ideenwelt des Kabbalah Centre integriert (vgl. Kapitel 6.4).
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Die Bedeutung religiöser Aspekte als wesentliche Bausteine für die Identitätskonstruktion einer Person wird am Beispiel der Namensänderung deutlich, die, wie die Wissenschaftlerin Jody Myers betont, als eine der wichtigsten Heilungsmethoden in den Schriften von P. Berg gilt. Dieser Transformationsprozess, der sich auf Ebene der personalen Identität vollzieht, gilt als eine aus der Bibel entlehnte Praktik11 und wurde von P. Berg adaptiert (vgl. Myers 2007b, 154f.). Eines der bekanntesten Beispiele ist die Popsängerin Madonna, die Medienberichten zufolge den jüdischen Namen „Esther“ trägt, welchen sie im Zuge ihrer Beschäftigung mit Bergs Kabbala angenommen hat (vgl. u.a. Faz.net 2004). Besondere Berücksichtigung finden in dieser Arbeit der historische Kontext des Kabbalah Centre, sowie die gegenwärtige Situation des Kabbalah Centre in Deutschland. Aktuell existieren etwa fünfzig große Zentren weltweit12, die sich als „Kabbalah Centre“ bezeichnen – u. a. in New York, Los Angeles, London, Tel Aviv und Berlin – sowie rund siebzig kleine Büros, die von dem jeweiligen Zentrum des Landes bzw. der Region organisiert und finanziert werden (vgl. Einstein 2008, 150). Diese Zentren stehen miteinander vor allem auf organisatorischer Ebene in enger Verbindung. Mehrmals pro Jahr werden internationale Treffen organisiert, die häufig im Beisein der Familie Berg stattfinden. Dies geschieht meist anlässlich der wichtigen jüdischen Fest- und Feiertagen wie Pessach, Rosch Haschana, Jom Kippur oder Chanuka. Seit 2003 findet man des Kabbalah Centre auch in Deutschland. In verschiedenen Städten wie Hannover, Berlin, Frankfurt oder Mannheim werden Workshops, Vorträge und religiöse Veranstaltungen angeboten (vgl. Finke 2005, 185ff.). Seit Februar 2011 gibt es zudem ein offizielles Büro des Kabbalah Centre in Berlin und zahlreiche Interessierte, die jährlich an den Veranstaltungen der Organisation teilnehmen. Die vorliegende Arbeit gliedert sich in neun Kapitel, über die im Folgenden ein kurzer Überblick gegeben wird.
11 Eine der wohl bekanntesten Namensänderungen in der Bibel ist die Änderung von „Abram“ in „Abraham“ und von „Sarai“ in „Sarah“ in Genesis 17, 5 und 15: „Und nicht soll fortan dein Name Abram genannt werden, sondern dein Name sei: Abraham; denn zum Vater einer Menge von Völkern mache ich dich“ (Zunz 1997, Genesis 17, 5). „Ferner sprach Gott zu Abraham: Dein Weib Sarai, nicht nenne ihren Namen Sarai, sondern Sarah sei ihr Name“ (ebd. Genesis 17,15). 12 Auch Veronique Altglas sowie Andreas Finke gehen von ca. 50 Zentren weltweit aus (vgl. Altglas 2011a, 243; Finke 2005, 185).
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Nach der Einleitung der Arbeit wird der aktuelle Forschungsstand zu Kabbala sowie dem Kabbalah Centre aufgezeigt. Dabei werden unterschiedliche Herangehensweisen für die Erforschung von Kabbala dargestellt. Daran anschließend wird das Forschungsfeld Gegenwartsreligiosität beschrieben und es werden unterschiedliche Ansätze und Studien zu diesem vorgestellt. Auf die Einordnung des Kabbalah Centre im gegenwärtigen religiösen Feld folgt eine Erläuterung des theoretischen Rahmens der vorliegenden Arbeit. Ausgehend von erkenntnistheoretischen Überlegungen, die von einer diskursiven und konstruierten Bedingtheit von Wirklichkeit ausgehen, wird ein theoretisches Modell vorgestellt, das die Analyse religiöser Identitätskonstruktionen auf personaler und auf kollektiver Ebene ermöglicht. Dabei wird ein sozialpsychologischer Ansatz der Identitätsforschung vertreten, der zur Analyse religiöser Akteure in spätmodernen Kontexten beiträgt. Betont wird in diesem Ansatz der konstruierte und prozessuale Charakter postmoderner Identitätsbildung. Die Ansätze zur personalen und kollektiven religiösen Identität werden schließlich mit religionsökonomischen Überlegungen wie dem faith-brand-Modell verknüpft. Anschließend wird der multimethodische Ansatz vorgestellt, der dieser Studie zugrunde liegt. Darin werden ethnographische Methoden mit Methoden der qualitativen Inhaltsanalyse verknüpft. In den folgenden beiden Kapiteln wird der religionsgeschichtliche Kontext von Kabbala und dem Kabbalah Centre dargestellt. Dabei wird eingehend auf den jüdischen Entstehungskontext Bezug genommen. Gleichzeitig werden auch Kabbala-Diskurse außerhalb des Judentums dargestellt. Die Auswertung des umfangreichen empirischen Materials wird in den folgenden beiden Kapiteln präsentiert: Im ersten Teil steht die Konstruktion kollektiver religiöser Identität im Kontext des Kabbalah Centre im Vordergrund. Es wird die Konstruktion von Geschichte und Traditionen, die Rezeption jüdischer und kabbalistischer Narrative sowie die Integration psychologischer und psychotherapeutischer Diskurse in das Angebot des Kabbalah Centre aufgezeigt. Im anschließenden Auswertungsteil werden die religiösen Identitätskonstruktionen der Akteure präsentiert. Im Fazit werden die Hauptergebnisse der Studie dargelegt und theoretische Schlussfolgerungen diskutiert, die sich aus der Umsetzung von transdisziplinären theoretischen Ansätzen auf einen religionswissenschaftlichen Gegenstand ergeben.
Forschungsstand
F ORSCHUNGSFELD K ABBALA UND JÜDISCHE M YSTIK Historisch-philologische und phänomenologische Erforschung von Kabbala Seit der Etablierung der akademischen Mystik-Forschung durch den Religionshistoriker Gershom Scholem (1897-1982), wird Kabbala innerhalb der Kategorie jüdische Mystik untersucht. Scholem selbst hatte ab 1933 den ersten Lehrstuhl zur Erforschung der jüdischen Mystik an der Hebräischen Universität Jerusalem inne. In seinem Werk Major Trends in Jewish Mysticism (1941) beschreibt Scholem allgemeine Wesenszüge der jüdischen Mystik1, klassifiziert die verschiedene kabbalistischen sowie chassidischen Schriften und ordnet sie bestimmten Hauptströmungen zu (Scholem 1993). Seiner Definition zufolge ist Kabbala, die er auch als „Theosophie“ verstand, eine „mystical doctrine, or school of thought, which purports to perceive and to describe the mysterious workings of the Divinity, perhaps also believing it possible to become absorbed in its contemplation“ (Scholem 1971, 206). Scholem geht in seinem Ansatz davon aus, dass es zwar mystische Erfahrungen gebe, diese jedoch nicht auf eine „Mystik an sich“ (Scholem 1993, 6) 1
An dieser Stelle ist anzumerken, dass es im hebräischen Sprachgebrach kein analoges Wort für den Begriff „Mystik“ gibt. Jüdische Wissenschaftler verwendeten am Beginn des 20. Jahrhunderts den hebräischen Begriff „mistorin“ als Übersetzung für den Begriff „Mystik“ (Huss 2008, 11 Fußnote 9). Da es sich bei diesem Begriff um die Adaption eines ursprünglich christlichen Begriffes handelt und es im Judentum kein Pendant dazu gibt, wird in den letzten Jahren die Anwendung dieses Begriffes als analytische Kategorie zur Erforschung kabbalistischer Vorstellungen und Praktiken oftmals kritisiert (vgl. Dan 2007, 20ff.; Huss 2008, 3).
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hinwiesen, sondern immer in ihrem jeweiligen historische Kontext zu betrachten seien (vgl. ebd. 6f.): „Jüdische Mystik ist, nicht anders als griechische oder christliche Mystik, eine Gesamtheit bestimmter konkreter historischer Phänomene.“ (Ebd. 7)
Während Scholem und seine Schüler jüdische Mystik als literarisches, philologisch-historisches Phänomen analysierten (vgl. Garb 2009, 11), etablierte sein Nachfolger Moshe Idel einen phänomenologischen Ansatz in der Erforschung der jüdischen Mystik.2 Im Zentrum von Idels Forschungen steht die Annahme, Mystik3 sei ein universelles Phänomen und gleichzeitig die Essenz jeder Religion. Dabei stehe die Erfahrungsdimension im Vordergrund: die Begegnung mit dem Göttlichen oder anderen transempirischen Wesen (vgl. Idel 1988). Mystische Phänomene wurden als unabhängig, nicht auf ökonomische, soziale oder psychologische Faktoren reduzierbar betrachtet und mithilfe phänomenologischer oder komparativer Methoden erforscht. Kabbala wurde entsprechend als jüdischer Ausdruck dieses universellen Phänomens verstanden. Gegenwärtige Kabbala wurde jedoch nur marginal in die Erforschung der jüdischen Mystik miteinbezogen. Ein Grund hierfür ist, dass gegenwärtige kabbalistische Schriften im Vergleich zu älteren kabbalistischen Schriften als nicht-authentisch betrachtet wurden (vgl. Huss 2011, 361ff.). Während Wissenschaftler aus dem Umfeld der Jüdischen Mystik bisher wenig Interesse an der Erforschung neuerer Formen von Kabbala zeigten, beschäftigten sich hingegen Anthropologen, Soziologen, Historiker oder Soziologen mit gegenwärtigen Formen von Kabbala (vgl. ebd. 361). 4 Erst in den letzten Jahren steigt auch innerhalb der Disziplin Jüdische Mystik das Interesse an der Erforschung gegenwärtiger Kabbala. Im Fokus dieser Forschungen stehen beispielsweise die Untersuchung der Chabad-Bewegung (vgl.
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An dieser Stelle ist anzumerken, dass auch Scholems Kabbala-Verständnis phänomenologische Züge aufweist. Eine ausführliche Darstellung seines methodologischen Zugangs ist in der Dissertation von Elisabeth Hamacher nachzulesen (vgl. Hamacher 1999, 105ff.).
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Was die Definition des Mystik-Begriffes betrifft, sei hier angemerkt, dass es seit William James und Rudolph Otto verschiedene Definitionsversuche gab, die jedoch wieder verworfen wurden.
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Für eine detaillierte Beschreibung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Formen von Kabbala innerhalb der Disziplin Jüdische Mystik siehe Huss 2007c; 2011.
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Wolfson 2009; Heilman und Friedman 2012), des gegenwärtigen Chassidismus, der Jewish-Renewal-Bewegung (vgl. Ariel 2003; Ariel 2006) oder eben des Kabbalah Centre von Philip Berg (vgl. Myers 2011). Gleichzeitig wurde das fehlende wissenschaftliche Interesse an zeitgenössischer Kabbala in den letzten Jahren reflektiert. Autoren wie Jonathan Garb oder Boaz Huss weisen auf das „stigma of popularism, superficiality, and even charlatanism associated with some contemporary kabbalistic works“ (Garb 2009, 3) hin und wenden sich vermehrt auch der Erforschung gegenwärtiger Ausformungen von Kabbala zu (vgl. ebd.; Huss 2005; Huss 2007b; Huss, Pasi und Stuckrad 2010; Huss 2011). Kulturwissenschaftliche Erforschung von Kabbala Wie in der kulturwissenschaftlich orientierten Religionsforschung (vgl. Hock 2008, 67), gerieten auch in der Kabbala-Forschung phänomenologische Herangehensweisen in Kritik. Diese richtet sich gegen die vorherrschende These, dass es allen Kulturen und Religionen innewohnende mystische Phänomene gebe und Kabbala die jüdische Ausformung des universellen Phänomens ‚Mystik‘ sei. In neueren kulturwissenschaftlich orientieren Ansäten wird im Gegensatz dazu die diskursive Bedingtheit kabbalistischer Ideen betont: „Mysticism in general and Jewish Mysticism in particular are discursive constructions which came into being in the modern era in Europe, as a result of the expansion of the meaning of the term mysticism – a specifically Christian theological notion – and its application to different cultures that were not familiar with it and did not employ any congruent term.“ (Huss 2008, 3)
Die kulturellen Phänomene, die als jüdische Mystik kategorisiert wurden, seien nicht als Ausdruck eines universellen, religiösen Phänomens zu erforschen, sondern als „kulturelles Produkt, als Resultat von verschiedenen politischen Interessen in unterschiedlichen historischen, ökonomischen und sozialen Kontexten [Übersetzung N.B.]“ (ebd. 3). Mit dieser Kritik geht gleichzeitig eine Kritik am Mystik-Begriff als analytische Kategorie in der Kabbala-Forschung einher. In der Religionswissenschaft wurde analog dazu das Konzept der Religion als universales Phänomen kritisiert. Diese Kritiken, die den eurozentrischen Determinismus des Religionsbegriffes (vgl. Ahn 1997) aufzeigen, können auch auf den Mystik-Begriff übertragen werden. Auch Mystik sei, wie Boaz Huss feststellt, ein aus dem Christentum stammender Begriff:
22 | K ABBALA UND RELIGIÖSE I DENTITÄT „Even though I do not believe that a scholar is confined to the terms and categories that are used by the objects of his study, I see no justification for using a concept of Christian theological provenance as an analytic category in academic discourse.“ (Huss 2008, 3).
In der kulturwissenschaftlichen Religionsforschung untersucht man Kabbala deshalb vielmehr als „diskursive Kategorie“. Kabbala solle dementsprechend nicht als jüdischer Ausdruck eines universalen Phänomens verstanden und erforscht werden, sondern als kulturelles Produkt bzw. als Ergebnis der Auseinandersetzung unterschiedlicher politischer Interessen im historischen, ökonomischen und sozialen Kontext (vgl. Huss 2008, 1). Aufbauend auf den Ansatz von Huss werden auch in dieser Arbeit diskursive Aushandlungsprozesse von Kabbala aufgezeigt und untersucht. Forschungsstand zum Kabbalah Centre Zuvor wurde bereits beschrieben, dass gegenwärtige kabbalistische Gruppen, wie das Kabbalah Centre, bisher kaum untersucht wurden. In der akademischen Judaistik veröffentlichte Boaz Huss einige Artikel über das internationale Kabbalah Centre, in denen er dessen postmodernen Charakter aufzeigt.5 Die bisher umfangreichste Untersuchung des US-amerikanischen Kabbalah Centre stellt die Studie Kabbalah and the Spiritual Quest. The Kabbalah Centre in America der Religionswissenschaftlerin Jody Myers (2007b) dar. Der Publikation ging eine mehrjährige Forschungsarbeit in den Kabbalah-Centre-Standorten von Los Angeles, New York, London und Tel Aviv voraus. Das Kabbalah Centre kann, ihrem Ansatz folgend, sowohl als „Neue Religiöse Bewegung“6 als auch als „jüdische Sekte“ 7 beschrieben werden (vgl. Myers 2008, 409). Viele Eigenschaf-
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Vgl. z. B. Boaz Huss Artikel Madonna, die 72 Namen Gottes und eine postmoderne Kabbala (2004) und All You Need is LAV: Madonna and the Postmodern Kabbalah (2005) sowie den von Huss, Marco Pasi und Kocku von Stuckrad herausgegebenen Sammelband Kabbalah and Modernity. Interpretations, Transformations, Adaptations (2010).
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Im englischsprachigen Raum wurde der Begriff „New Religious Movement“ (NRM) in der Forschung statt des sehr negativ konnotierten Begriffs „cult“ eingeführt. Eine ausführliche Darstellung dieser Debatte ist im Kapitel 2.2 zu finden.
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An dieser Stelle ist anzumerken, dass der Begriff (sect) in der angloamerikanischen Wissenschaft nicht pejorativ verwendet wird (s. Kapitel 2.2). Dem deutschen Begriff Sekte entspricht vielmehr der englische Begriff „cult“.
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ten des Kabbalah Centre, so die Autorin, deuten auf eine Neue Religiöse Bewegung hin, wie beispielsweise die Hybridität und das Tempo interner Veränderung, die einfache Beschreibungen und Definitionen erschweren. Auf der anderen Seite kann ihr zufolge das Kabbalah Centre auch als eine Variante des orthodoxen Judentums angesehen werden (vgl. ebd.). Myers unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen einem „inneren Kreis“ und einem „äußeren Kreis“ (vgl. ebd. 417). Während der innere Kreis aus einer Gruppe streng religiöser Juden bestehe, welche die jüdischen Gebote und Verbote (Mizwot), die Fast- und Feiertage und den Shabbat streng einhielten, bestehe der äußere Kreis aus einer heterogenen Gruppe von Menschen unterschiedlichster Herkunft und Religionszugehörigkeit, welche sich ihren kabbalistischen Zugang, also den Einbezug kabbalistischer Lehren in ihre Lebenswelt, individuell gestalteten. Eine im Jahr 2014 von der Sozialwissenschaftlerin Véronique Altglas veröffentlichte Studie vergleicht gegenwärtige Kabbala, wie das Kabbalah Centre, mit der Verbreitung von Yoga im Westen. In ihrer ausführlichen Darstellung analysiert Altglas die Popularisierung von neo-hinduistischen Religionen und dem Kabbalah Centre vor dem Hintergrund therapeutischer Diskurse und zeigt auf wie exotische Ressourcen zu Methoden der Selbstverbesserung transformiert werden (vgl. Altglas 2014). In der Monographie Brands of Faith der Wirtschaftswissenschaftlern Mara Einstein (2008) findet sich wiederum eine ökonomische Perspektive auf das Kabbalah Centre. Einstein zeigt exemplarisch auf wie im Kabbalah Centre Spiritualität vermarktet und das Zentrum selbst damit zu einem faith brand wird (vgl. Einstein 2008, 148ff.). Trotz der Bekanntheit und Medienpräsenz des Kabbalah Centre war es bisher nicht Gegenstand von Studien, die über die hier genannten thematisch hinausgehen. Im deutschsprachigen Raum war es bisher ausschließlich die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, die auf das Kabbalah Centre aufmerksam machte (vgl. Finke 2005). Diese Forschungslücke soll diese Publikation mit einer umfangreichen Darstellung des Kabbalah Centre und gegenwärtiger populärer Formen von Kabbala schließen. Für den deutschsprachigen Raum stellt diese Studie zudem die erste umfangreiche kulturwissenschaftlich orientierte religionswissenschaftliche Untersuchung des Kabbalah Centre dar.
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F ORSCHUNGSFELD G EGENWARTSRELIGIOSITÄT Das Feld der Gegenwartsreligiosität in Europa sowie die religiösen Akteure und deren Praktiken finden in religionswissenschaftlichen Studien erst in den letzten Jahrzehnten vermehrte Aufmerksamkeit.8 Der Vernachlässigung Europas und der Akteursperspektive liegen zwei Ursachen zugrunde, die eng mit der Entwicklung der Fachdisziplin Religionswissenschaft in Zusammenhang stehen. Zum einen hat es lange kaum religionswissenschaftliche Auseinandersetzungen mit der Erforschung Europas im Allgemeinen gegeben. Europa wurde für die Phase nach der Christianisierung, wie Günter Lanczkowski betont, fast ausschließlich durch Kirchenhistoriker untersucht (vgl. Lanczkowski 1971, 24). Grund hierfür ist, dass Europa als christlicher Kontinent galt und somit Lanczkowskis Meinung nach in den Forschungsbereich der Kirchengeschichte fällt. Obwohl, wie Burkhard Gladigow 1995 in seinem Artikel Europäische Religionsgeschichte festhält, „Europa die Region der Erde mit der höchsten ‚Religionsdichte‘, Dichte an unterschiedlichen Religionen“ (Gladigow 1995, 22) darstellt, hat eine religionswissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Feld nur unter Vorbehalten stattgefunden.9 „Das Gesamtspektrum an religiösen Orientierungen in Europa, der europäische Markt an Sinnangeboten, seine Breite, Struktur und spezifische Tradition, sind auf diese Weise nie wirklich Gegenstand der Religionswissenschaft geworden.“ (Ebd.)
Erst allmählich vollzog sich durch die Etablierung des Faches Religionswissenschaft als einer von der Theologie unabhängigen Disziplin ein Perspektivenwechsel. Ein Ergebnis dieses Perspektivenwechsels war die Auseinandersetzung mit der „europäischen Religionsgeschichte“, welche die „regional entstandenen, spezifischen Konstellationen, die durchaus den Bereich ihrer Entstehung überschreiten können“ (Gladigow 1995, 22), in Augenschein nimmt. Das Erkenntnisinteresse der Religionswissenschaft bei der Untersuchung der europäischen Religionsgeschichte sieht Gladigow in der Darstellung des Gesamtspektrums der religiösen Orientierungen. Das beinhaltet die „Erfassung der positiven, institutionell verfestigten Religionen, sowie koexistierende, anders organisierte religiöse Deutungs- und Orientierungsmuster“ (ebd. 24f.). Die zweite Ursache betrifft den Fokus auf die Akteure und deren Praktiken. Das diese von der Religionswissenschaft lange kaum untersucht wurden, liegt in
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S. Bochinger, Engelbrecht und Gebhardt 2009a; Laack 2011 und Miczek 2013.
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Diese Aussage kann in Hinblick auf die Messbarkeit der Religionsdichte durchaus kritisch gesehen werden.
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der methodischen Ausrichtung des Faches. Seit der Etablierung der Religionswissenschaft durch Friedrich Max Müller (1823–1900), der mit seinem sogenannten ‚philologischen Jahrhundertfund‘ eine Parallele zwischen Sprachwissenschaft und Religionswissenschaft zu begründen versuchte, dominierte in der Religionswissenschaft eine historisch-philologische Ausrichtung des Faches (vgl. Kippenberg 1997, 70ff.; Müller 1874, 152ff.).10 Da den Forschern überwiegend Texte als Quellen dienten, war, davon abgeleitet, auch der Gegenstand der Religionswissenschaft nicht der einzelne religiöse Akteur, sondern Religionen als monolithische Blöcke oder deren Stifter. Erst die Kritik an dieser sogenannten ‚ArmchairWissenschaft‘ führte zu einer verstärkten Einbeziehung von Nachbardisziplinen wie Soziologie, Psychologie, Ethnologie und Ökonomie sowie deren Methoden in die religionswissenschaftliche Forschung. Diese kulturwissenschaftliche Ausrichtung des Faches führte letztendlich zu einem Paradigmenwechsel innerhalb der Religionswissenschaft, den Burkhard Gladigow bereits 1988 im Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe in seinem Aufsatz Gegenstände und wissenschaftlicher Kontext von Religionswissenschaft (Gladigow 1988) formulierte.11 Dieser führte zu einer stärkeren Einbeziehung der religiösen Akteure und deren Alltagsreligiosität in den Gegenstandskatalog der Religionswissenschaft. Qualitative Forschungsmethoden und die Einbeziehung von ethnographischen Methoden führten außerdem zur Berücksichtigung des eigenen Erlebens des Forschers aufgrund der Partizipation im Forschungsfeld. So ist der Forscher während der teilnehmenden Beobachtung aktiv in das Geschehen involviert und kann somit auch die Sinneseindrücke, die durch die religiösen Praktiken hervorgerufen werden, entsprechend eines religionsästhetischen Zuganges, methodisch reflektieren und zum Objekt seiner Forschung machen (vgl. Prohl 2004). Dieses ethnographisch orientierte Forschungsgebiet wurde im deutschsprachigen Raum lange Zeit marginal betrachtet und nur von vereinzelten Autoren, wie etwa Roland Girtler (1980), systematisch behandelt.12 Eine
10 Friedrich Max Müller trug bereits in seiner ersten Vorlesungsreihe in London im Jahre 1870 seine zentrale These vor, in der er begründet, dass nur eine linguistische Klassifikation der Religionen eine verlässliche Basis in der wissenschaftlichen Forschung darstellte, und leitet davon eine Analogie zwischen Sprachwissenschaft und Religionswissenschaft ab (vgl. Kippenberg 1997, 64–66). 11 Vgl. auch Kippenberg und Stuckrad 2003, darin Religionswissenschaft als Kulturwissenschaft (11ff.). 12 Eine Herangehensweise, die den Forscher in eine Situation des Miterlebens religiöser Gefühle versetzt, ist in der religionswissenschaftlichen Forschung ad acta gelegt worden, da diese auf der Annahme eines substanziellen Religionsbegriffes beruht, wie er
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Neubewertung erfährt die ethnographische Forschung, die das Miterleben des Forschers fordert, erst wieder im Diskurs um die sogenannte „Anthropologie der Sinne“ (vgl. Münster 2001), die, trotz methodischer Schwierigkeiten bei der Operationalisierung und Auswertung, wichtige Hinweise für die Umsetzung religionsästhetischer Fragestellungen liefert (vgl. Prohl 2004, 294). In der qualitativen Religionsforschung finden sich mittlerweile zahlreiche Studien, die sich mit religiösen Phänomenen qualitativ auseinandersetzen, allerdings besteht das empirische Material meist nur aus Interviewdaten (vgl. Knoblauch 2003, 28). Gerade bei der Erforschung der „lebendigen Gegenwartsreligion“ (ebd.) stellt eine ethnographische Vorgehensweise die Möglichkeit dar, „gegenwärtig existierende Formen religiösen Lebens in Augenschein zu nehmen, am eigenen Leib zu erfahren und von innen heraus zu beschreiben“ (ebd.). Für eine religionsästhetische Untersuchung, in der die Teilhabe des Forschers an religiösen Praktiken im Zentrum der Forschung steht, sind die Sinneseindrücke ein notwendiges Forschungsinstrument und müssen einer permanenten Reflexion und Analyse unterzogen werden. Die Religionswissenschaftlerin Inken Prohl verweist auf eine mögliche schrittweise Vorgehensweise in einer religionsästhetischen Untersuchung und betont, dass von den festgestellten subjektiven Wirkungen nicht automatisch auf die religiösen Akteure zu schließen sei (vgl. Prohl 2004, 295). Dieses Verfahren, das von Prohl als „distanzierte Teilhabe“ (ebd.) an religiöser Praxis bezeichnet wird, stellt einen wesentlichen Beitrag zur Erforschung und zum Verständnis der religiösen Gegenwartskultur dar. Von der Säkularisierungs-These zum spirituellen Wanderer Der Diskurs über Gegenwartsreligiosität war in den letzten Jahrzehnten vor allem von (religions-)soziologischen Modellen geprägt. Im folgenden Teil werden einige zentrale Positionen dieses Diskurses vorgestellt, die in verschiedenen Studien aufgegriffen werden. Inhaltlich wurde in religionssoziologischen, meist quantitativ ausgerichtete Studien, in den letzten Jahre zum einen nach den Ursachen und Folgen des Bedeutungsverlustes der institutionalisierten Religionen geforscht,
von Rudolf Otto 1917 in seinem Werk Das Heilige (vgl. Otto 1997 [1917]) postuliert wurde. Der sogenannte methodologische Agnostizismus (vgl. Knoblauch 2003, 28) ist für die religionswissenschaftlichen Forschung unumgänglich. In Anlehnung an Peter L. Bergers Begriff des „methodologischen Atheismus“ (vgl. Berger 1973, 98) betont dieser Terminus, dass Wissenschaftler Aussagen über höhere bzw. göttliche Mächte weder bestätigen noch widerlegen können, sondern einklammern müssen (vgl. Knoblauch 2003, 28).
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zum anderen wurden „Veränderungen im Bereich der religiösen Organisationsstrukturen“ (Bochinger, Engelbrecht und Gebhardt 2005, 138) in den Blick genommen. Schlagworte wie „Säkularisierung“, „Individualisierung“ oder „Pluralisierung“ stehen dabei im Fokus verschiedener Erklärungsmodelle und finden in den Sozialwissenschaften sowohl Befürworter als auch Kritiker. Säkularisierung, Individualisierung und neue Religiosität Die sogenannte „Säkularisierungsthese“, die als Erklärungsmodell für die kontinuierliche Abnahme kirchlicher Bindungen herangezogen wird, dominiert seit den 1960er Jahren den Diskurs zu Gegenwartsreligiosität (vgl. Knoblauch 2009, 16f.). Dabei wird an ältere Ansätze angeknüpft, die Säkularisierung als Teilaspekt des Modernisierungsprozesses sehen – zu finden u. a. bei Max Weber, Ernst Troeltsch und Emile Durkheim (vgl. Bergunder 2001a, 214). „Wenn es eine Wahrheit gibt, die die Geschichte über jeden Zweifel erhoben hat, dann die, dass Religion einen immer kleineren Anteil des sozialen Lebens umfasst. Am Anfang erstreckt sie sich auf alles; alles, was sozial ist, ist religiös […]. Nach und nach lösen sich die politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Funktionen von der religiösen Funktion, richten sich gesondert ein und nehmen einen immer weltlicheren Charakter an.“ (Durkheim 1988, 224)
Verschiedene Ansätze in der Soziologie, wie der von Peter Berger (1967), beschreiben die Säkularisierung als „selbstverständlichen Teilaspekt des Modernisierungsprozesses, in dem die traditionelle Legitimation der Welt für den modernen Menschen immer mehr an Plausibilität verliert“ (Bergunder 2001a, 214). Allerdings betont Berger, dass Säkularisierung nicht zum Verschwinden der Religion führt, sondern vielmehr zu religiösem Pluralismus. Er sieht den Prozess der Säkularisierung vor allem im öffentlichen Bereich weit fortgeschritten, im privaten Bereich sei Religion nach wie vor ein wesentlicher Bestandteil. Die pluralistische Situation lässt sich seiner Meinung nach zum ‚Marktmodell der Religionen‘ überführen. Auf diesem Markt seien die einzelnen religiösen Akteure zur aktiven Wahl gezwungen (vgl. Kippenberg und Stuckrad 2003, 128f.). Dieses soziologische Konzept des „häretischen Imperatives“ (Berger 1992) bestimmt bis in die Gegenwart den religionssoziologischen Diskurs.13
13 Eine sehr übersichtliche Darstellung der religionssoziologischen Debatte ist bei Michael Bergunder (2001) nachzulesen. Als wichtiger Vertreter der deutschen Soziologie
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Eine der einflussreichsten Kritiken an der Säkularisierungsthese stellt die Arbeit von Thomas Luckmann dar, der in seinem 1967 veröffentlichten Buch Die unsichtbare Religion die Säkularisierungsthese als „modernen Mythos“ zu enttarnen versucht. Mit einem erweiterten Religionsbegriff14 zeigt Luckmann auf, dass mit dem Rückgang der institutionalisierten Religion religiöse Inhalte beliebiger würden und sich somit die ‚Sozialform‘ der Religion verändere. Religion bestehe unsichtbar im Privaten weiter, „religiöse Inhalte [treten] immer häufiger in einer sozialen und kommunikativen Gestalt [auf], die nicht mehr als religiös erkennbar“ seien (Knoblauch 2009, 25). Die ‚Privatisierung der Religion‘ führe zu einer Transformation der Religion. Das religiöse Feld sei immer stärker von ‚Patchworkreligiosität‘ und ‚Synkretismen‘15 geprägt (vgl. ebd. 25f.). Damit einhergehend wird ein vermehrtes Auftreten ‚alternativer‘, diffuser Formen von Religionen festgestellt: „Neben den stärker werdenden religiösen Bewegungen wie z.B. den Neo-Sannyasins, sind religiöse Bewegungen, wie die des New-Age16 zu nennen. Esoterische Praktiken haben
ist hier außerdem auf Detlef Pollak hinzuweisen, der die These vertritt, dass die Säkularisierung immer weiter fortschreiten und sich langfristig betrachtet durchsetzen werde (vgl. Pollack 2003). 14 Thomas Luckmann arbeitet mit einem anthropologisch-funktionalen Religionsbegriff. Die Transzendierung der biologischen Natur des Menschen steht dabei im Zentrum seines Religionsverständnisses (vgl. Bergunder 2001a, 215). 15 An dieser Stelle soll auf die Problematik des Synkretismus-Begriffes in der Religionswissenschaft verwiesen werden. Dieser wird häufig pejorativ konnotiert (vgl. Sandten 2001, 57) indem der ‚synkretistischen’ Religion eine ‚wahre’ Religion gegenübergestellt wird. Zudem setzt eine solche Herangehensweise die Annahme monolithischer Konzepte von Religion voraus, die in der Religionswissenschaft kritisch zu sehen sind (vgl. Hock 2008, 52f). Zum Umgang mit dem Synkretismus-Begriff als analytische Kategorie in der Forschung soll hier auf Stewart/Shaw (1994) verwiesen werden. Vor dem Hintergrund dieser Reflexionen und der Problematisierung des Begriffes wird der Begriff in dieser Arbeit als heuristische Kategorie herangezogen, um die Verschmelzung unterschiedlicher religiöser Elemente zu analysieren. 16 An dieser Stelle muss betont werden, dass der Begriff „New Age“ meist als Sammelbegriff für diverse Vorstellungen und Praktiken, die als „alternativ“ aus der Perspektive des westlichen Mainstream empfunden werden, dient. New Age erlangte in Europa und den USA während der 1980er Jahren große Popularität (vgl. Hanegraaff 2009).
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Konjunktur, die beispielsweise Pendeln, Astrologie und religiöse Meditation umfassen.“ (Krech 1999, 91f.)
Von verschiedenen Vertretern des ‚Individualisierungsthese‘ werden diese diffusen Formen von Religion als Beleg für die vermeintliche Kompensation institutionalisierter Religiosität gesehen. Untersuchungen zur religiösen Pluralisierung in Deutschland können dies jedoch nur teilweise bestätigen (vgl. Bergunder 2001a, 220ff.). Als Indiz für den zuvor angesprochenen Transformationsprozess des Religiösen wird von Religionssoziologen somit neben den stetig sinkenden Mitgliederzahlen der Kirchen auch die Präsenz von Esoterik und „New Age“-Ideen gesehen (vgl. ebd. 100ff.). In der Wissenschaft wie auch in der Selbstbeschreibung der Akteure taucht zudem in den letzten Jahren zunehmend der Begriff „Spiritualität“ auf, der häufig in Opposition zum Religionsbegriff verwendet wird.17 Auch im Zuge dieser Studie ist die Selbstbezeichnung der Akteure als „spiritual, but not religious“ (vgl. Fuller 2001), ein zentraler Identifikationsmarker. Als ein weiteres Indiz für die Veränderung der religiösen Landschaft Deutschlands werden in letzter Zeit nicht-kirchliche Gruppen, sogenannte neue religiöse Bewegungen, untersucht. Diese Gruppen finden als neue Ausdrucksformen des Religiösen auch in der Religionsforschung Beachtung (vgl. Hero 2008a, 165). Hero bezeichnet diese neuen Formen von Religiosität, die mit den oben genannten Veränderungen einhergehen als „neue Religiosität“ (ebd.) und beschreibt damit konkret alle religiösen Gruppen, „die seit Mitte des 20. Jahrhunderts entstanden sind, keine unmittelbare Abspaltung von einer bestehenden Kirche oder Weltreligion sind und oft eine synkretistische Verschmelzung von religiösen Anschauungen aufweisen“ (ebd.). Er unterscheidet dabei fernöstlich geprägte Religionen, neu-heidnische Gruppierungen, „synkretistische Strömungen mit lebensreformerischen Tendenzen“ (ebd.) sowie den Esoterik-Bereich, den er als organisierte Szene der spirituellen Lebensbewältigung definiert. In seiner anschließenden Analyse der ‚alternativ-religiösen‘ Landschaft in Nordrhein-Westfalen teilt er das Feld in die sogenannten Neuen Religiösen Bewegungen, zu denen er Gruppierungen wie ISKON, die Bagwhan-Osho-Bewegung, Ananda Marga und die Transzendentale Meditation (vgl. ebd. 167) zählt, und in die Esoterik-Szene auf. Hero weist darauf hin, dass insgesamt die Vielfalt der Organisationsformen in Deutschland zunimmt wie auch die inhaltliche Ausdifferenzierung religiöser Inhalte und Ideen.
17 Im europäischen Spiritualitätsdiskurs steht „Spiritualität“ sowohl semantisch als auch strukturell neben „Religion“, während Spiritualität in außereuropäischen Diskursen meist als Teil der Religion verstanden wird (vgl. Knoblauch 2006, 93f).
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Charakteristisch für diese Gruppen sei die Art der Organisationsformen, die sich von den institutionalisierten Religionen unterscheide. Exklusive Formen der Zugehörigkeit, wie man sie in den christlichen Kirchen finde, würden hier von offenen Formen der Zugehörigkeit ersetzt (vgl. Hero 2008a, 167). Verbreitung finden die neuen religiöse Ideen und Inhalte über die neuen Medien wie Fernsehen, Radio und Internet. In den letzten Jahren nutzen viele religiöse Gruppen, so auch das Kabbalah Centre, insbesondere das Internet, um über Web-Auftritte zu werben, Kontakte zu Interessenten herzustellen und religiöse Inhalte zu verbreiten (vgl. Knoblauch 2009, 210ff.). Auch Dorethea Lüddeckens und Rafael Walthert weisen auf eine Transformation im religiösen Feld hin. Gegenwärtige religiöse Konstellationen subsumieren sie unter den Begriff „fluiden Religion“ (vgl. Lüddeckens und Walthert 2010a). Damit verweisen die beiden Autoren auf die hohe Beweglichkeit und Diffusion von Religion im gegenwärtigen religiösen Feld. Sie beziehen sich hierbei einerseits auf die soziale Form von Religion, die bislang unter Begriffen wie „alternativ“, „diffus“ oder „unsichtbar“ (vgl. Luckmann 1991) gefasst worden ist, andererseits auch auf die Religiosität der Akteure selbst. Ausgehend vom Befund, dass es auch im Bereich neuer religiöser Bewegungen zu einer Transformation in Hinblick auf die soziale Struktur gekommen sei, die sich in einer verstärkten Öffnung nach außen kennzeichne, vertreten die Autoren die These, „dass in Religionen im westeuropäischen Kontext dauerhafte und umfassende Zugehörigkeiten zunehmend durch unverbindliche, zeitlich beschränkte und spezifischere Beteiligungen abgelöst werden, zentrale Vorgaben und Hierarchien an umfassender Bedeutung verlieren und die Religiosität der Individuen durch eine Vielzahl sozialer Beziehungen und eine diesbezügliche Dynamik geprägt wird.“ (Lüddeckens und Walthert 2010b, 9f.)
Trotz oder gerade wegen des stetigen Transformationsprozesses, wird in dieser Arbeit die Tendenz religiöser Akteure aufgezeigt, sich mit ‚alten‘ und ‚authentischen‘ religiösen Lehren zu identifizieren. Alte religiöse Narrative werden ‚wiederbelebt‘ und dienen als Identifikationsmarker für die ‚neue Religiosität‘. Der spirituelle Wanderer Das Feld der Gegenwartsreligiosität in Deutschland weist in seiner Erforschung noch zahlreiche Lücken auf. Während der Fokus religionssoziologischer Studien, wie bereits beschrieben, meist bei der Erforschung von Ursache und Folgen des Bedeutungsverlustes der institutionalisierten Religionen liegt, konzentriert sich die interdisziplinäre und qualitative Studie mit dem Titel Die unsichtbare Religion
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in der sichtbaren Religion. Formen spiritueller Orientierung in der religiösen Gegenwartskultur (2009a) auf die Religiosität der einzelnen Akteure und „den Wandel subjektiver Frömmigkeitsmuster und Glaubensvorstellungen“ (Bochinger, Engelbrecht und Gebhardt 2005, 138). Die drei Autoren Christoph Bochinger, Martin Engelbrecht und Winfried Gebhardt beschreiben darin eine neu entstandene „Sozialform individualisierter, selbstermächtigter Spiritualität“18 (ebd. 133) innerhalb der evangelischen und katholischen Kirche, die unter dem Idealtypus19 des ‚spirituellen Wanderers‘ subsumiert wird. Trotz der weitverbreiteten These, dass Individualisierung nur außerhalb der Kirchen20 bzw. außerhalb institutionalisierter Religion stattfinde, sucht das Forschungsteam in seiner Studie nach religiösen Individualisierungsphänomenen innerhalb der Kirche und befragt Kirchenmitglieder dahingehend, welche Elemente sie aus dem Angebot der religiösen Gegenwartskultur rezipieren und in das eigene Glaubenskonzept integrieren. Die Autoren schlussfolgern aus ihren Untersuchungen, dass die Individualisierung über diese neue, hochgradig individualisierte Generation von Gläubigen – den spirituellen Wanderern – „die Kirchen selbst längst
18 Hier ist auf die theologischen Arbeiten von Zulehner und Jörns hinzuweisen, die sich bereits seit den 1970er Jahren mit Formen individualisierter Spiritualität beschäftigen (vgl. Zulehner 1982; Zulehner 1973; Jörns 1997). 19 Hier rezipieren die Autoren den von Max Weber in die Wissenschaftstheorie eingeführten Begriff des „Idealtypus“ (vgl. Weber 1988, 190). Dieser reine und abstrakte Typus wird durch die Hervorhebung bestimmter Eigenschaften konstruiert, die man empirisch nachweisen kann (vgl. Giddens 1999, 313, 639). 20 Aufgrund der durch die Rezeption des Luckmann’schen Religionsverständnisses und seiner These der „unsichtbaren Religion“ (Bochinger, Engelbrecht und Gebhardt 2009b, 13) hervorgerufenen Annahme, dass sich individualisierte Spiritualität jenseits von Kirche als unsichtbare Religion manifestiere, forschte man bislang in sozialwissenschaftlichen Studien nach diesen ‚Phänomenen‘ außerhalb der Kirchen. Hier kritisieren Bochinger, Engelbrecht und Gebhardt den oft wenig neutralen Zugang bei der Erforschung „alternativer religiöser Bewegungen“ (ebd. 17) von Wissenschaftlern (v. a. Theologen), die sich selbst als „‚Verbraucherschut[z]‘ oder ‚Konsumentenschut[z]‘“ (ebd.) des unmündigen Christen sehen, und plädieren für eine „unvoreingenommen[e]“ (ebd. 19) Religionsforschung (vgl. ebd. 13ff.). Dem entgegenzusetzen sind einige Studien aus theologischer Hand, die Formen von individualisierter Spiritualität innerhalb der Kirchen festgestellt und untersucht haben. Hier ist insbesondere auf die Arbeiten des deutschen Theologen Hans-Peter Jörns und des österreichischen Theologen und Religionssoziologen Paul Zulehner hinzuweisen (siehe Zulehner 1973; Zulehner 1982; Jörns 1997).
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schon erreicht, sie von innen her unterwandert und unter der Hand transformiert“ (ebd. 134) habe. Der spirituelle Wanderer teste die religiöse Kultur auf der ständigen Suche nach Religiosität, während er aber gleichzeitig nicht aus seiner Herkunftskirche auszutreten beabsichtige. Er sei neugierig und offen für Alternativen, möchte alles ausprobieren, sich aber nicht festlegen oder gar religiöse Verpflichtungen eingehen (vgl. ebd. 143ff.). Insgesamt steht die ‚Selbstautonomie‘ der Akteure, die die Autoren als „Selbstermächtigung des religiösen Subjekts“ (ebd. 151) bezeichnen, im Fokus der Studie. Interessant hierbei ist, dass die Wanderer sowohl christliche als auch nicht-christliche Ideen und Praktiken in ihre religiöse Praxis integrieren. Hier knüpft auch die vorliegende Forschungsarbeit an, die im deutschsprachigen Kabbalah Centre nach Formen von gegenwärtiger Religiosität und Spiritualität fragt. Auch die Akteure des Kabbalah Centre adaptieren, wie im Zuge des Buches aufgezeigt wird, verschieden religiöse Elemente in die religiöse Praxis und identifizieren sich in unterschiedlichster Weise damit. Je nachdem ob sie sich auf der Durchreise befinden und das Kabbalah Centre testen oder einen längeren Aufenthalt als aktiver Teilnehmer oder Volontär planen, werden verschiedene Narrative integriert. Gleichzeitig werden, wie deutlich wird, trotz der vermeintlichen Selbstermächtigung der Akteure, Autoritätsstrukturen und Hierarchien akzeptiert. Die Erforschung des Kabbalah Centre und der damit in Beziehung stehenden Akteure stellen einen weiteren Beitrag zur Erforschung der religiösen Gegenwartslandschaft in Deutschland dar. Anknüpfend an die oben zitierte Studie von Bochinger, Engelbrecht und Gebhardt (2005; 2009a) setzt auch diese Forschungsarbeit bei den religiösen Akteuren an, untersucht deren (religiöse) Identitätskonstruktionen sowie deren Intentionen und Motivationen. In einem weiteren Schritt geht es darum festzustellen, inwiefern sich die religiösen Akteure mit den unterschiedlichen religiösen Praktiken und Vorstellungen identifizieren und diese in ihren Alltag integrieren. Besonderes Augenmerk liegt auf den religiösen Inszenierungen und kollektiven Praktiken und deren Umsetzung sowie Wirkung auf die religiösen Akteure. Da das Kabbalah Centre in der Wissenschaft bisher kaum Berücksichtigung fand, liegt ein weiterer Schwerpunkt dieser Forschungsarbeit zudem auf der Deskription und Analyse der Strukturen und Dynamiken des Kabbalah Centre, seiner Präsentation nach außen und seiner Organisation im deutschsprachigen Raum.
Theoretische Betrachtungen
E RKENNTNISTHEORETISCHER R AHMEN Diskurstheoretische Annäherung: Die diskursive Konstruktion von Kabbala In dieser Arbeit wird eine Analyse von Identitätskonstruktionen religiöser Akteure vorgenommen, die die Frage nach Wirklichkeits- und Wahrheitskonstruktionen impliziert. Zudem werden hier Konstruktionsprozesse kollektiver Identität (imagined community) (vgl. Anderson 1983) untersucht. Dabei sind die Konstruktion von Geschichte und Geschichten und die Erfindung von Traditionen hervorzuheben, die eine bedeutende Rolle bei der Bildung und Aufrechterhaltung der kollektiven Identität einnehmen. Diese Arbeit forciert des Weiteren ein diskursives Verständnis von Kabbala. Kabbala wird dementsprechend als eine Diskurskategorie betrachtet (vgl. Huss 2008, 2f.), „deren genaue Bedeutung und Implikationen kontinuierlich im Zuge sozialer Interaktionen ausgehandelt werden“ (vgl. Greil 2009, 148). Dieser Aussage liegt die Annahme zugrunde, dass es keine objektive Wahrheit gibt, dass diese stattdessen in den jeweiligen Kontexten immer neu ausgehandelt wird. Auf erkenntnistheoretischer Ebene bewegt sich diese Arbeit somit innerhalb des Kontextes des (Sozial-)Konstruktivismus,1 in dessen Zentrum die Annahme steht, dass Wirklichkeit nur in und durch die Handelnden existiert, also eine Konstruktion ist.
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Der Sozialkonstruktivismus geht auf das Buch The Social Construction of Reality: A Treatise in the Sociology of Knowledge (1966) von Peter L. Berger und Thomas Luckmann zurück: Die beiden Autoren schließen in ihrem theoretischen Entwurf an die Arbeiten von Alfred Schütz an und verknüpfen darin dessen phänomenologischen Ansatz mit der klassischen Soziologie (Max Weber, Emile Durkheim) sowie neueren Ansätzen
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Eine umfassende Theorie, die klassische Ansätze der Wissenssoziologie mit dem sozialphänomenologischen Modell von Alfred Schütz verbindet, entwickeln Peter L. Berger und Thomas Luckmann in ihrem Buch Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (1980 [1969]). Sie postulieren u. a., „dass Wirklichkeit gesellschaftlich konstruiert ist und dass die Wissenssoziologie die Prozesse zu untersuchen hat, in denen diese geschieht“ (Berger und Luckmann 1980, 1). Ihrem Modell liegt ein Verständnis von Wissen zugrunde, das jenes als „alles, was in irgendeiner Weise als ‚wirklich‘ gedacht wird“ (Keller 2005, 50), versteht – wie beispielsweise Sprache, Ideen oder auch Glaubenssysteme (vgl. ebd.). Da diese Arbeit ‚Glaubenssysteme‘ untersucht und nach damit verbundenen religiösen Identitätskonstruktionen fragt, muss sowohl die Art und Weise, wie Akteure Wirklichkeit produzieren, als auch der Forschungsprozess an sich, der diese Mechanismen analysiert, einer eingehenden Reflexion unterzogen werden. Bergers und Luckmanns Hauptinteresse in Hinblick auf Wissen gilt der „Wirklichkeit der Alltagswelt“ (Berger und Luckmann 1980, 21) bzw. den „Grundlagen des Wissens in der Alltagswelt“ (ebd.): „Die Alltagswelt breitet sich vor uns aus als Wirklichkeit, die von Menschen begriffen und gedeutet wird und ihnen subjektiv sinnhaft erscheint. […] Die Alltagswelt wird ja nicht nur als wirklicher Hintergrund subjektiv sinnhafter Lebensführung von jedermann hingenommen, sondern sie verdankt jedermanns Gedanken und Taten ihr Vorhandensein und ihren Bestand.“ (Ebd. 21f.)
In weiterer Folge dieser Überlegungen diskutieren sie „Gesellschaft als objektive Wirklichkeit“ (ebd. 49), indem sie aufzeigen, wie Deutungs- und Handlungswissen durch Prozesse der Institutionalisierung (vgl. ebd. 56ff.) sozial segmentiert und somit wiederum zur Grundlage von „symbolischen Sinnwelten“ werden (vgl. ebd. 49ff.), welche sich der einzelne Akteur im Zuge seiner ‚Sozialisation‘ in einem von Berger und Luckmann als „Internalisierung der Wirklichkeit“ (ebd. 139) bezeichneten Prozess einverleibt: „Dasselbe Wissen wird als objektiv gültige Wahrheit wiederum während der Sozialisation internalisiert. Wissen über die Gesellschaft ist demnach Verwirklichung im doppelten Sinne des Wortes: Erfassen der objektivierten gesellschaftlichen Wirklichkeit und das ständige Produzieren eben dieser Wirklichkeit in einem.“ (Ebd. 71)
der pragmatischen amerikanischen Soziologie und liefern einen für die Wissenssoziologie neuen und in den folgenden Jahrzehnten dominierenden Ansatz (vgl. dazu Knoblauch 2005, 157ff.).
T HEORETISCHE B ETRACHTUNGEN
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Die ‚Konstruktion der Wirklichkeit‘ ist ihrer Argumentation folgend an die Akteure gebunden und deshalb auch nicht beliebig. Somit ist es die subjektive Erfahrung, innerhalb derer sich die Wirklichkeit konstituiert. Das wesentliche Fazit dieser Argumentation ist also die Annahme, dass „unser Wissen von der Welt einen eminent subjektiven Charakter“ (Knoblauch 1999, 111) hat. Ausgehend von diesem Ansatz, der in der deutschsprachigen Wissenschaft in einem „handlungstheoretisch-lebensweltlichen Rahmen“ (Keller 2005, 52) in diversen Studien umgesetzt wurde, entwickelt sich die sogenannte hermeneutische Wissenssoziologie (vgl. Hitzler, Reichertz und Schröer 1999). Deren Hauptinteresse stellen die Akteursebene und die Frage nach dem Handlungswissen bzw. Deutungswissen der Akteure dar (vgl. Keller 2005, 52). Hinter dieser neuen Forschungstradition verbirgt sich ein Hermeneutik-Verständnis, welches im Kontrast zu einer sozialwissenschaftlichen Herangehensweise steht, die mittels Dateninterpretation einen ‚wahren Sinn‘ feststellen zu können meint (vgl. ebd. 59). Die sozialwissenschaftliche Hermeneutik zielt hingegen darauf ab, Interpretationen „für sich selbst und für andere durchsichtig zu machen, wie er [der Forscher] das versteht, was er zu verstehen glaubt, und wie er das weiß, was er zu wissen meint. […] Die Ansätze sozialwissenschaftlicher Hermeneutik bauen dezidiert Zweifel in den Prozess des Verstehens ein: Zweifel an den Vorurteilen des Interpreten, Zweifel an subsumptiven Gewissheiten in Alltag und Wissenschaft und Zweifel schließlich auch an reduktionistischen Erklärungen. […] Alle Sozialwissenschaftliche Hermeneutik […] problematisiert grundsätzlich die Annahme, man wisse, wie etwas ‚wirklich‘ sei […].“ (Hitzler und Honer 1997, 23ff.)
Die hermeneutische Wissenssoziologie setzt den Fokus auf Prozesse der Kommunikation zur Wirklichkeitskonstruktion bzw. auf die kommunikative Aushandlung von Wirklichkeit auf der Ebene der Akteure und deren Alltagswelt, wobei forschungsmethodisch vor allem die qualitative Sozialforschung zum Einsatz kommt (vgl. Keller 2005, 60f.). Die Betonung der sozialen und historischen Bedingtheit von Wissen, der die Annahme vorausgeht, dass der „Wirklichkeitshorizont der Handelnden [– innerhalb dessen diese immer sinnorientiert agieren –] durch gesellschaftliche Wissensvorräte und institutionelle Gefüge historisch vorstrukturiert ist“ (ebd. 61), bietet einen Anknüpfungspunkt für diskursanalytische Überlegungen, die Reiner Keller in seinem Programm der wissenssoziologischen Diskursanalyse umfassend darstellt (vgl. Keller 2011).
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Keller bezieht sich in seinem Ansatz auf den Diskursbegriff von Michel Foucault (1996)2. Das Hauptaugenmerk von Foucaults Ansatz liegt auf dem Verhältnis zwischen Diskursen und Macht sowie auf diskursiven Aushandlungen von Subjekten und Wissenskonstruktionen. Trotz der zentralen Rolle des Diskursbegriffes in Foucaults Werken wurde dieser nie durch ein Theoriekonzept vollständig ausgearbeitet (vgl. Keller 2005, 53). Man kann sich an den Diskursbegriff Foucaults jedoch als „die Gesamtheit der Aussagen, die das Subjekt der Diskurse (ihr eigenes Subjekt) zum ‚Objekt‘ gewählt haben“ (Foucault 1981, 46), annähern. Da Diskurse Wirklichkeit und damit auch Wahrheit formieren, stehen sie immer in einem aktiven Verhältnis zur ‚Wahrheit‘. Diese „diskursive Konstruktion von Wirklichkeit“ (vgl. Keller u. a. 2005)3 geschieht immer im Rahmen einer gesellschaftlichen „Ordnung der Diskurse“ (vgl. Foucault 1991). Im Zentrum von Foucaults Arbeiten stehen also auch die Wechselwirkungen zwischen einer Gesellschaft bzw. Institution und den Diskurspraktiken unter dem Faktor der Macht. Mit diesem Ansatz erklärt Foucault weiter, dass Macht, als ein der gesamten Gesellschaft inhärenter Faktor, zum einen den Prozess des Wissenserwerbs dominiert und zum anderen darüber entscheidet, was legitimiertes Wissen – also Wahrheit – ist: „Die Wahrheit ist von dieser Welt; sie wird in ihr dank vielfältiger Zwänge hervorgebracht. […] Jede Gesellschaft hat ihre Wahrheitsordnung, ihre allgemeine Politik der Wahrheit: das heißt Diskursarten, die sie annimmt und als wahr fungieren lässt; die Mechanismen und die Instanzen, die es gestatten, zwischen wahren und falschen Aussagen zu unterscheiden; die Art und Weise, wie man die einen und die anderen sanktioniert; die Techniken und die Verfahren, die wegen des Erreichens der Wahrheit aufgewertet werden; die rechtliche Stellung derjenigen, denen es zu sagen obliegt, was als wahr fungiert.“ (Foucault 2003, 149)
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Michel Foucault, 1926 in Poitiers geboren, studierte zwischen 1946 und 1952 Philosophie, Psychologie und Psychopathologie in Paris und war zuletzt Professor am Lehrstuhl für Geschichte der Ideen und Denksysteme am Collège de France in Paris. Seine Arbeiten sind von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung verschiedener Theorien, die man unter dem Terminus „Diskurstheorie“ zusammenfassen kann (vgl. Mills 2007).
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Reiner Keller verbindet in seinen wissenssoziologischen Diskursanalysen die wissenssoziologischen Konzepte von Peter L. Berger und Thomas Luckmann mit dem Ansatz von Michel Foucault (vgl. Keller 2005, 13). Schwerpunkt seiner Arbeit ist die „Analyse institutioneller Regulierungen von Aussagepraktiken und deren performativer, wirklichkeitskonstituierenden Macht“ (Keller 2004, 8).
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Anknüpfend an die Überlegungen von Berger, Luckmann und Foucault entwickelt Keller einen Diskursbegriff, der einen „Komplex von Aussageereignissen und darin eingelassene[n] Praktiken, die über einen rekonstruierbaren Strukturzusammenhang miteinander verbunden sind und spezifische Wissensordnungen der Realität prozessieren“, (Keller 2011, 235) umschließt. In der Verbindung des wissenssoziologischen Ansatzes von Berger und Luckmann mit diskursanalytischen Überlegungen schließt Keller an ein Diskursverständnis an, das „Diskurse nicht als zeitloses semiotisches System oder entsprechende Differenz-Struktur […] analysier[t], sondern als soziale Praxis. [...] Diskurse lassen sich als Anstrengungen verstehen, Bedeutungen bzw. allgemeiner: mehr oder weniger weit ausgreifende symbolische Ordnungen zu erzeugen, zu stabilisieren und dadurch einen verbindlichen Sinnzusammenhang, eine Wissensordnung in sozialen Kollektiven zu institutionalisieren.“ (Ebd. 49)
Auf der Ebene der Akteure, die im Fokus dieser Arbeit steht, betont Keller in Anlehnung an die sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie die soziale und historische Bedingtheit von Wissen, die „der Wirklichkeitskonstitution im Bewusstsein einzelner Akteure zugrunde liegt“, (ebd. 65) und verweist auf das „kreative Potential“ (ebd.) der Akteure in der Auseinandersetzung mit diesen Wissensstrukturen (vgl. ebd.). Das Verhältnis von Akteuren und Diskursen äußert sich – Kellers Argumentation folgend – auf drei Ebenen: • Sprecherposition: Damit sind „Orte des legitimen Sprechens innerhalb von Dis-
kursen [gemeint], die von sozialen Akteuren unter bestimmten Bedingungen als Rollenspieler eingenommen werden können“ (ebd.). • Subjektposition/Identitätsangebote: Damit sind „Positionierungsprozesse und ‚Muster der Subjektivierung‘ [gemeint], die in Diskursen erzeugt werden“ (ebd.). • Soziale Akteure: Mit dieser Bezeichnung sind sowohl Individuen als auch Kollektive gemeint, „die sich auf die erwähnten Sprecher- oder Subjektpositionen beziehen und diese handlungspraktisch realisieren“ (ebd.). Dieser Ansatz lässt sich besonders gewinnbringend zur Analyse gegenwärtiger religiöser Konstellationen und Identitätsbildungsprozesse umsetzen – wie es am Beispiel des Kabbalah Centre aufgezeigt wird. Geht man davon aus, dass in dessen Kontext ein eigener ‚Kabbalah-Centre-Diskurs‘ existiert, der natürlich in Auseinandersetzung mit anderen Diskursen wie dem rezenten Spiritualitätsdiskurs
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steht, so lassen sich die von Keller konstatierten Ebenen auf diesen übertragen. Sowohl die Kabbalah-Centre-Lehrer als auch die Autoren der Kabbalah-CentrePublikationen nehmen ‚Sprecherpositionen‘ ein, welche innerhalb des KabbalahCentre-Diskurses einen „Ort des legitimen Sprechens“ (ebd.) darstellen, innerhalb welchem wiederum bestimmte Subjektpositionen und Identitätsangebote generiert werden. Die religiösen Akteure, die das Angebot des Kabbalah Centre konsumieren, konsumieren gleichzeitig dessen Identitätsangebote, und „realisieren“ diese wiederum „handlungspraktisch“ (ebd.). Dementsprechend folgt diese Arbeit einem für die religionswissenschaftliche Forschung relevanten Verständnis von ‚Diskurs‘, welches unter besonderer Berücksichtigung des Faktors „Macht“ kommunikative Aushandlungsprozesse zwischen religiösen Akteuren, Wissenschaftlern und Medien sowie die jeweiligen historischen, sozialen, politischen und ökonomischen Bedingungen, innerhalb denen sich diese bewegen, beschreibt. Ein diskursives Verständnis von Kabbala bedeutet, dass Festschreibungen oder Essentialisierungen, die diesem Begriff zugeschrieben werden – z.B. Kabbala als ‚universelle Weisheit‘ oder Kabbala als ‚Erfahrung des Transzendenten‘ – ausschließlich als Zuschreibungsprozesse von sozialen Akteuren verstanden und entsprechend untersucht werden. Diskursive Religionswissenschaft Darauf aufbauend wird in dieser Arbeit ein diskursives Verständnis von Religion vertreten. Religion wird als soziales und kulturelles Konstrukt betrachtet, dessen Bedeutung innerhalb unterschiedlicher zeitlicher Rahmen variabel und abhängig von unterschiedlichen sozialen, politischen, historischen und ökonomischen Faktoren ist (vgl. Beckford 2003, 11ff.). Einen diskursiven Ansatz in der Religionswissenschaft macht bereits 1983 Hans G. Kippenberg in seinem Aufsatz Diskursive Religionswissenschaft. Gedanken zu einer Religionswissenschaft, die weder auf einer allgemeingültigen Definition von Religion noch auf einer Überlegenheit von Wissenschaft basiert stark. Kippenberg kritisiert darin, dass die Religionswissenschaft, „wie andere wissenschaftliche Disziplinen […] auch […] ein Vorfeld [hat]“ (Kippenberg 1983, 9), dass innerhalb der Religionswissenschaft „sowohl in der Beschreibung des Gegenstandes wie der Wahl der Begriffe […] diese Vorfelder jedoch nicht systematisch thematisiert“ (ebd.) wurden. Dabei spielt die nicht vollständige Ablösung der Religionswissenschaft von phänomenologischen Zugängen eine entscheidende Rolle. Die Religionsphänomenologie wurde von Gerardus van der Leeuw (18901950) in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als eigenständige Methode in der Religionswissenschaft etabliert, geriet aber aufgrund des implizierten Theologieverdachts unter Kritik (vgl. ebd. 9f.).
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Innerhalb der gegenwärtigen Religionswissenschaft dominiert ein diskursives Verständnis von ‚Religion‘. Bei der Begriffsbestimmung (von Religion) werden die jeweiligen Intentionen und Interessen der Akteure und deren Standorte berücksichtigt (vgl. Stolz 1988, 36ff.). Einen diskursiven Ansatz in der Religionswissenschaft vertreten u. a. Kippenberg und Stuckrad, die darauf hinweisen, dass „jede religionswissenschaftliche Theorie ihrerseits in diese Prozesse eingreift, es mithin keine neutrale oder ‚unschuldige‘ Theorie geben kann“ (Kippenberg und Stuckrad 2003, 14). Insofern könne man von einem Diskurs innerhalb der Religionswissenschaft sprechen, „der mehr ist als das Austauschen von Meinungen“ (ebd.). Ein Diskurs befinde sich wiederum innerhalb eines spezifischen Diskursfeldes, innerhalb dessen Identitäten konstituiert und Grenzen gezogen würden (vgl. ebd.). Stuckrad zeigt am Beispiel der europäischen Religionsgeschichte auf, wie religiöse Identitäten durch kommunikative Prozesse innerhalb eines Diskursfeldes ausgehandelt werden, und spricht in diesem Zusammenhang von einem „esoterischen Diskursfeld“ (Stuckrad 2004, 15ff). Bezogen auf die Diskussion um den Religionsbegriff argumentiert er in seinem Ansatz gegen essentialistische Religionsdefinitionen, die Religion als ein ‚Objekt‘ beschreiben, das außerhalb der Wissenschaft existiert (vgl. Stuckrad 2010, 156). Er betont, dass sowohl Definitionen als auch Annäherungen an den Religionsbegriff bedingt seien durch das Wissen und den Diskurs der jeweiligen Zeit, der schlussendlich auch die Parameter der Wissenschaft konstituiere und somit religionswissenschaftliche Theoriebildung begrenze und beeinflusse (vgl. ebd. 158). In weiterer Folge könnten somit religionswissenschaftliche Theorien aufgrund der Vielfalt der Perspektiven nie den Status der Allgemeingültigkeit erlangen und die Vorläufigkeit von wissenschaftlichen Erkenntnissen müsse akzeptiert werden (vgl. Kippenberg und Stuckrad 2003, 92f.). Bezogen auf die Diskussion um die Authentizität von Kabbala würde ein diskursives Verständnis von Kabbala eine Erweiterung des Begriffes bedeuten, durch die die Stimmen zu Wort kämen, die bisher von der Forschung vernachlässigt wurden. Einer allgemeingültigen Definition von Kabbala wird in dieser Arbeit deshalb ein diskursives Verständnis von Kabbala entgegengesetzt, das eine essentialistische Definition von Kabbala ablehnt. Ein weiteres Argument, dass für eine diskursive Herangehensweise in der Erforschung von Kabbala spricht, ist die Tatsache, dass dadurch auch Gruppen, Inhalte und Praktiken in den Forschungsgegenstand der Kabbala-Forschung mit aufgenommen werden können, die bisher von der Erforschung ausgeschlossen wurden, weil sie als ‚unauthentische‘ Kabbala galten. Analog zu einem diskursiven Verständnis von ‚Religion‘ innerhalb der Religionswissenschaft, das die Bedeutung des Begriffes von dem jeweiligen Standort
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und den Erkenntnisinteressen des Benutzers abhängig macht, wird in dieser Arbeit ein diskursiver Kabbala-Begriff verwendet werden. Poststrukturalistische Annäherung an Kabbala Als Erweiterung des sozialkonstruktivistischen Ansatzes von Peter L. Berger und Thomas Luckmann sowie dem diskursiven Modell von Hans G. Kippenberg und Kocku von Stuckrad in der Religionswissenschaft wird hier das Augenmerk auf Sprache bzw. den Sprachgebrauch gelegt. Poststrukturalistische Ansätze eröffnen die Möglichkeit Essentialisierungen von Begriffen zu überwinden. Um dies am Beispiel Kabbala deutlich zu machen, wird im Folgenden ein Ansatz aufgezeigt, der eine mögliche Herangehensweise in einer kulturwissenschaftlich orientierten Religionswissenschaft darstellt. Ausgangspunkt für dieses poststrukturalistische Modell ist die strukturale Linguistik von Ferdinand de Saussure (1857–1913), die den kulturwissenschaftlichen wie den linguistischen Strukturalismus maßgeblich geprägt hat (vgl. Moebius und Reckwitz 2008, 10f.). Im Zentrum der sprachwissenschaftlichen Betrachtungen von Saussure steht die Annahme, dass sich Sinn und Bedeutung von Zeichen durch die differenziellen Beziehungen zu anderen Zeichen ergeben (vgl. ebd. 11). Im Gegensatz zur Sprachwissenschaft des 18. und 19. Jahrhunderts, in deren Zentrum die historische Entwicklung von den sogenannten Sprachfamilien steht, sowie im Gegensatz zur Fokussierung auf eine „genetische Sprachbetrachtung“ (ebd.) liegt Saussures Fokus auf „eine[r] synchrone[n] Analyse der Sprache als System, das heißt auf eine[r] Rekonstruktion immanenter sprachlicher Strukturen“4 (ebd.). Er setzt also nicht den individuellen Sprechakt bzw. die Kommunikation in den Vordergrund, sondern die „Sprache […] als codierte[s] und geregelte[s] System von Zeichen“ (ebd.). Für Saussure ist ein Zeichen „die Verbindung der Vorstellung mit dem Lautbild“ (Saussure 1967, 78). Insofern besteht ein Zeichen aus dem Lautbild, dem Signifikanten – dem Bezeichnenden – und der Vorstellung bzw. dem Signifikat – dem Bezeichneten. Die Bedeutungen und Sinnzusammenhänge konstituieren sich bei Saussure wiederum durch die Differenzen bzw. Relationen der Signifikanten und „ergeben sich […] nicht aus dem Signifikat“ (Moebius und Reckwitz 2008, 11) und somit auch nicht aus einer vorsprachlichen Wirklichkeit (vgl. ebd. 10f.). Kritik erfährt dieser Ansatz vor allem von Jacques Derrida, der die Idee eines Sig-
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Stephan Moebius und Andreas Reckwitz beziehen sich hier auf den Originaltext von Ferdinand de Saussure (1957) Die Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft.
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nifikats als transzendenten Referenzpunkt als metaphysische Spekulation betrachtet. Darüber hinaus kritisiert Derrida an der Theorie von Saussure, dass diese Differentialität durch ein sprachliches System begrenzt und strukturiert sei (vgl. Saussure 1967, 136), was die Annahme einer außerhalb liegenden sprachlichen Grenze impliziere. Seine Forderung, die Idee eines transzendenten Signifikats und einer Grenze des sprachlichen Systems aufzugeben, führt in weiterer Konsequenz dazu, dass „das Feld und das Spiel des Bezeichnens ins Unendliche“ (Derrida 1972, 424) weitergeführt wird, da die Bedeutung der sprachlichen Zeichen aufgrund der Differentialität des Verweisens kein Zentrum und somit keinen Orientierungspunkt besitzen. Da die Bedeutungsfixierung bei Saussure nur aufgrund bzw. innerhalb des sprachlichen Systems gewährleistet ist, wirft die Kritik von Derrida nun die Frage auf, inwiefern Bestimmtheiten ausgedrückt werden können, da auch die Differentialität sich an Bestimmtheiten orientieren muss. Weiterführende Überlegungen dazu haben Ernesto Laclau und Chantal Mouffe in ihrem 1985 erschienen Buch Hegemonie und radikale Demokratie angestellt, in welchem sie eine anti-essentialistische Hegemonietheorie entworfen haben, die die Konstruktion sozialer Identitäten als politischen Kampf diskursanalytisch zu erklären versucht (vgl. Nehring 2006, 817). Relevant für eine kulturwissenschaftliche Analyse ist die Weiterentwicklung dieses Ansatzes der Konstruktion sozialer Identitäten von Laclau, der unter Bezugnahme auf poststrukturalistische Denker (wie beispielsweise Jacques Derrida, Michel Foucault und Jacques Lacan) das Konzept des leeren Signifikanten ins Zentrum seiner Theorie stellt (vgl. Laclau 1994). Mit diesem Konzept versucht Laclau darzustellen, wie Bedeutungsfixierungen innerhalb eines Diskurses, der wiederum seinerseits immer unabschließbar bleibt (vgl. ebd. 157f.), vorgenommen werden. Ausgehend von Saussures linguistischer These, nimmt auch Laclau an, dass Signifikanten aus der Differenz, die sie innerhalb des Sprachsystems zueinander haben, ausgehandelt werden. Somit sind Begriffe immer relational. Laclau betont weiter, dass Begriffe sich zusammenschließen, indem sie sich von anderen abgrenzen. Daraus folgt, dass die Bedeutungsbestimmung eines Begriffes bzw. Signifikanten immer davon abhängig ist, wie er innerhalb eines spezifischen Diskursfeldes ausgehandelt wird und in welcher Weise er von anderen Begriffen unterschieden wird (vgl. Nehring 2006, 817f.). „Die Unmöglichkeit einer endgültigen Fixiertheit von Bedeutung impliziert, dass es partielle Fixierungen geben muss – ansonsten wäre das Fließen der Differenzen selbst unmöglich. Gerade um sich zu unterscheiden, um Bedeutungen zu untergraben, muss es eine Be-
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Bedeutungen von Begriffen werden immer innerhalb eines spezifischen Diskursfeldes ausgehandelt. „Zur Fixierung eines Diskurses fallen […] positive und negative Äquivalenzketten zusammen und bilden eine beständige Opposition“ (Bergunder 2011, 33). Die ‚Bedeutungsproduktionen‘ erfolgen sodann über „oppositionserzeugende Inklusions- und Exklusionsmechanismen“ (Nehring 2006, 820). Diese Äquivalenzketten werden durch „Signifikanten, die ihrer Differentialität entleert worden sind und deshalb als leere Signifikanten bezeichnet werden [Hervorh. im Original]“ (Bergunder 2011, 32), zusammengehalten. Ein leerer Signifikant ist demzufolge ein „Signifikant ohne Signifikat“ (Laclau 1994, 157). Zentral für dieses Modell ist die Tatsache, dass „jede essentialistische Fundierung der Grenzen eines Diskurses“ (Bergunder 2011, 33) zurückzuweisen ist. Dennoch sind die Bedeutungsfixierungen nicht beliebig und auch nicht durch ein transzendentales Signifikat zu rechtfertigen. Für die Umsetzung dieses Modells in der Kulturwissenschaft bedeutet das, dass Sinnzusammenhänge nicht als Abbildungen und Repräsentationen einer vorsprachlichen Wirklichkeit gedacht werden, sondern durch Differenz und Relation konstruiert werden. Es wird somit also erstens einer Annahme von essentialistischen Attributen vorgebeugt und es werden zweitens Aussagen wie „es gibt eine wahre Religion oder eine wahre Kabbala, die es zu erkennen gilt“ entkräftet. Andererseits muss berücksichtigt werden, dass Begriffe innerhalb eines bestimmten Diskurses durch Differenz und Relation ausgehandelt werden. Diese Arbeit schließt an den hier ausgeführten Ansatz an und betont die Bedeutung dieses theoretischen Ansatzes für die religionswissenschaftliche Forschung. Denn zum einen werden essentialistische Aussagen dekonstruiert, zum anderen „jede Bedeutungsfixierung als Teil konfliktiver gesellschaftlicher Kontextualisierung“ (Bergunder 2011, 34) wahrgenommen. In diesem Sinne ist auch „Kabbala“ ein ‚leerer Signifikant‘, der innerhalb bestimmter Diskursfelder – z.B. religiöser, jüdischer oder esoterischer Diskursfelder – ausgehandelt und reproduziert wird. Zum einen wird dadurch deutlich, dass essentialistische Herangehensweisen an Kabbala zurückzuweisen und damit auch rezente kabbalistische Gruppierungen von der Wissenschaft im Kontext von Kabbala zu erforschen sind. Am Beispiel der Erforschung des Kabbalah Centre wird dies hier aufgezeigt.
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N EUE R ELIGIÖSE
Da das Kabbalah Centre in der Forschung immer wieder im Kontext ‚Neue Religiöse Bewegung‘ (NRB) bzw. ‚New Religious Movement‘ (NRM) erforscht wird (vgl. Christianson 2004, 114f.; Myers 2007b, 42f.; Myers 2008, 409f.),5 wird im folgenden Kapitel diskutiert, wie (1) die Kategorie ‚Neue Religiöse Bewegung‘ innerhalb der religionssoziologischen Forschung ausgehandelt wird, (2) welcher Stellenwert dieser Kategorie in der deutschsprachigen Forschung zukommt und in welchem Kontext sie erörtert wird (Jugendsekten-Debatte). Darüber hinaus wird (3) diskutiert, ob sich eine theoretische Verortung des Kabbalah Centre im Kontext von ‚NRB‘ sinnvoll gestaltet. Dazu wird aufgezeigt, wie dieser äußerst kontroverse Begriff in der Forschung verortet wird und welche Debatten in der
5
An anderen Stellen wird das Kabbalah Centre nicht als Neue Religiöse Bewegung gedeutet: „There is no central organisation and it cannot be called an NRM. However, the Kabbalah-Centre, based in LA with many branches worldwide including London, has been widely described as ‚cultic’ and accused of various abuses and financial misdemeanours by some rabbis and journalists. […] However, the Centre is unrepresentative of Kabbalah, and its success has triggered further popular interests in the teachings“ (Puttick 2006, 293). Jody Myers (2007b) widmet in ihrem Buch Kabbalah and the Spiritual Quest ein ganzes Kapitel diesem Thema. Zur Verortung des Kabbalah Centre als NRM bezieht sie sich auf John Gordon Melton: Melton listet bestimmte Charakteristika von Neuen Religiösen Bewegungen auf, die er von der etablierten Religion unterscheidet, schlussfolgert aber nach Jahren der Forschung, dass das einzige gemeinsame Merkmal dieser Folgendes sei „only their nonconformity to generally accepted standards of religious rectitude“ (Myers 2007b, 45). Melton unterscheidet u. a. zwischen etablierten Religionen, die meistens „churches“ genannt werden; „sects“: Gruppen, die mit einer etablierten Religion gebrochen haben, aufgrund von Uneinigkeiten in Bezug auf die Doktrinen, Rituale oder die Organisation, sie bewegen sich jedoch weitgehend noch innerhalb gesellschaftlich akzeptierter Bereiche; „cults“: diese bewegen sich jenseits gesellschaftlich akzeptierter Bereiche, haben aber meist auch einen Bezug zu existierenden, etablierten Religionen. Myers argumentiert, dass das Kabbalah Centre zwar noch einen eindeutigen Bezug zum Judentum aufweist, sich allerdings dennoch in einem gesellschaftlich nicht mehr anerkannten Bereich bewegt, da es mit grundlegenden Glaubensüberzeugungen und Praktiken gebrochen habe. Sie vertritt deshalb die These, dass das Kabbalah Centre sowohl als jüdische Sekte als auch als Neue Religiöse Bewegung zu analysieren sei.
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deutschsprachigen Forschung dazu geführt werden (vgl. Baumann 1995; Flasche 1988; Pollack 2000). Neue Religiöse Bewegungen als Gegenstand in der Forschung in Deutschland Seit Ende der 1960er Jahre kann in Deutschland neben dem Rückgang kirchlicher Religiosität „eine verstärkte Pluralisierung des religiösen Angebots“ (Murken 2009, 29) konstatiert werden. „Die aktuelle Religionsvielfalt in Deutschland bestimmt sich außer durch christliche und islamische Traditionen durch zahlreiche weitere alte und neue, mitgliederbezogen in die zehntausende oder lediglich in hunderte gehende Religionen und religiöse Gemeinschaften. Judentum, neue Religionen wie Baha’i, Vereinigungskirche, Scientology, Christengemeinschaft (Anthroposophie), durch Zuwanderung nach Deutschland gekommene religiöse Traditionen wie die der Yezidi oder Sikh sowie – erneut vereinheitlichend – Buddhismus und Hinduismus bilden je eigene Facetten der religionspluralen Situation Deutschlands.“ (Baumann 2005, 123)6
Zahlreiche dieser neu-religiösen Gruppen, die inhaltlich meist buddhistische, esoterische oder auch christliche Elemente adaptieren oder Elemente aus unterschiedlichen religiösen Lehren miteinander verknüpfen7, treten in den Fokus der Öffentlichkeit, da sie aktiv um neue Anhänger werben, um ihre Lehren zu verbreiten (vgl. Murken 2009, 29).
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Martin Baumann bezieht sich bei dieser Aussage auf die Ergebnisse der REMID-Studien Religionen in Deutschland. Mitgliederzahlen (Stand: 2004; aktueller Titel: Religionen & Weltanschauungsgemeinschaften in Deutschland: Mitgliederzahlen) (vgl. Religionswissenschaftlicher Medien- und Informationsdienst e.V. (REMID)) und Religionen feiern. Feste und Feiertage religiöser Gemeinschaften in Deutschland (vgl. Religionswissenschaftlicher Medien- und Informationsdienst e.V. (REMID) 1997).
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Martin Baumann unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen der hier angesprochenen ‚Patchwork-Religiosität‘, die er als das zentrale Charakteristikum der rezenten Religiosität infolge von Säkularisierungsprozessen und damit einhergehenden Individualisierungsprozessen auf religiöser Ebene sieht, und der ‚hybriden Religiosität‘, welche sich diverser Elemente innerhalb der eigenen Religionstradition bediene (vgl. Baumann und Behloul 2005, 9f.).
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Verstärkt durch negative Berichte zuerst aus den Vereinigten Staaten, die sich auf punktuelle Ereignisse bezogen – allen voran die Morde durch die Manson Family 1969 und den Massen(selbst)mord der People-Temple-Anhänger in Jonestown 1978 – stand die Gehirnwäsche-Kontroverse im Vordergrund der öffentlichen Diskussion um die sogenannten Sekten. Diese verstärkte sich in den 1990er Jahren durch weitere Ereignisse, wie den kollektiven Suizid der Anhängern der Heavens-Gate-Gruppe in Santa Fe, die Ereignisse um die Branch Davidians im texanischen Waco 1993 sowie den Suizid respektive Mord in der Westschweiz im Zusammenhang mit der ‚Sonnentempler-Gemeinschaft‘ im Oktober 1994. Jede neue religiöse Gruppierung wurde daher als potentiell gefährlich dargestellt (vgl. Bromley 2004, 143f.). Der öffentliche Diskurs um diese „cultic groups“ (ebd. 147) ist von stereotypen Annahmen durchdrungen, wie der, dass die NRB immer im Zusammenhang mit Missbrauch, Gewalt, Manipulation und Gehirnwäsche stünden8. Diese würden einerseits von den Medien, andererseits aber auch von diversen Gegengruppen, die ihre Vormachtstellung bedroht sähen bzw. potentielle Konkurrenz reduzieren wollten, (oppositional groups) initiiert (vgl. ebd.). In Deutschland wird die Debatte über die NRB einseitig geführt. Erstmals wurden diese Gruppen 1979 in einer Veröffentlichung des Pfarrers Friedrich-Wilhelm Haack Die neuen Jugendreligionen dargestellt. Dieser warnte in seiner Publikation vor diesen Gruppen (vgl. Murken 2009, 29). In den nachfolgenden Jahren wurden zahlreiche Publikationen zu diesem Thema veröffentlicht, in denen meist pejorative Aspekte dieser Gruppierungen hervorgehoben wurden (vgl. ebd.). Eine besonders wichtige Rolle für das Verständnis dieser Debatte spielen verschiedene kirchliche Stellen, wie die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW)9, die sich der Erforschung von „religiösen und weltanschaulichen Strömungen der Gegenwart“ (EZW 2016) und der Informationsverbreitung über jene angenommen hat und diese vor allem in Hinblick auf Glaubenslehre, Praktiken und die Seriosität der Gründer kritisiert (vgl. Baumann 1995, 117ff.). Eine objektive (Außen-)Perspektive, ist in Deutschland zwischen 1970 und 1995 kaum vorhanden (vgl. Murken 2009, 29). Weder in der Religionswissenschaft noch in der
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Für eine Übersicht über die europäische Debatte und eine umfangreiche Darstellung der Gehirnwäsche-Debatte siehe Richardson und Introvigne 2001; Introvigne und Melton 2000.
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Hier soll auf die Arbeit von Silja Joneleit-Oesch verwiesen werden, die einen ausführlich historischen Überblick über die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen ausgearbeitet und den theologischen Apologetik-Diskurs im Kontext der EZW diskutiert hat (vgl. Joneleit-Oesch 2003).
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Soziologie oder Psychologie wurde das Thema „Neue Religiöse Bewegungen“ – bis auf wenige Ausnahmen – ausreichend erforscht, um der einseitigen, meist apologetisch motivierten Darstellung entgegenzuwirken. Zu den wenigen Ausnahmen gehört Rainer Flasche, der bereits 1988 den öffentlichen und wissenschaftlichen Umgang mit diesem Thema folgendermaßen kritisiert: „Die sogenannten ‚Jugendreligionen‘ scheinen in der gesamten westlichen Hemisphäre trotz ihrer zahlenmäßig sich ausweisenden Bedeutungslosigkeit zu einem Problem sui generis geworden zu sein, wie die vielschichtige Auseinandersetzung mit diesen Gruppen belegt. Sie werden einerseits benutzt zur Erstellung von teils (ergötzlichen) der Selbstbestätigung dienenden, teilweise sogar liebevoll gepflegten Feindbildern, andererseits dienen sie nicht selten dem Profilierungsstreben von nachgeordneten Kultus- und Sozialpolitikern, als Abschreckungssyndrom innerhalb des bunt schillernden Illustrierten- und Regenbogenpressewaldes, aber auch als Aufhänger für die Fantasien von Schnellschreibern, Gruselkabinettisten und ‚journalistischen Profiteuren‘, oft aber auch einfach als Zeilenfüller und zu ‚Sensationsberichten‘ aufgemachten Titelgeschichten der sogenannten ‚Saure-Gurken-Zeit‘.“ (Flasche 1988, 44)
Eine weitere Ausnahme in der Erforschung neuer Religionen vor 1995 stellt die Anthologie von Günter Kehrer (1981) Das Entstehen einer Religion. Das Beispiel der Vereinigungskirche dar. Dieser verweist in seinem Vorwort darauf, dass er ein Thema behandle, „das bisher fast ausschließlich Gegenstand religiöser und publizistischer Polemik gewesen“ sei (Kehrer 1981, 7) und gibt an einer anderen Stelle explizit an, dass seine Publikation „keine Auftragsarbeit der Vereinigungskirche“ (ebd.) und er „von niemanden finanziell unterstützt worden“ (ebd.) sei. Darüber hinaus verdeutlicht er, dass der Begriff „Neue Religion“ stark negativ konnotiert sei: „In dem Begriff [Neue Religion] schwingt der Verdacht mit, es handle sich um etwas Synthetisches – religionsgeschichtlich spricht man eher von Synkretismen – oder um absichtsvoll hergestellte Produkte, die nicht den Anspruch auf religiöse Authentizität erheben können. Die religiösen Erfahrungen der Stifter erregen Verdacht; die uralte Kombination von Religion und Geld – jede Ware hat ihren Preis, auch die religiöse Ware – ist noch nicht in die Zone langgewohnter Finanzierungsusancen gerückt. So erscheinen die neuen Religionen eher als Gegenstand staatsanwaltlicher Interessen, denn religionswissenschaftlicher.“ (Ebd. 8)
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Martin Baumann zeigt in seinem bereits zitierten Aufsatz aus dem Jahr 1995 ‚Merkwürdige Bundesgenossen‘ und ‚naive Sympathisanten‘ umfangreich die Debatte um neue Religionen bzw. Neue Religiöse Bewegungen in Deutschland auf. In Bezug auf die im öffentlichen Diskurs bekannt gewordene Jugendsekten-Debatte weist er vor allem auf den „stigmatisierenden Grundtenor“ (Baumann 1995, 115) hin, der in der Forschung dazu führe, „weitere Materialien über die vorausgesetzte Dysfunktionalität der Gruppen zu sammeln“, (ebd.) ohne die vorangehenden Grundannahmen einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Dies führe in weiterer Folge dazu, dass sich das Negativbild um Neue Religiöse Bewegungen bestätige, welches die öffentliche Debatte seit Mitte der 1970er Jahren dominiere (vgl. ebd.). Religionsforscher, die die stigmatisierenden Grundannahmen einer kritischen Prüfung unterziehen und im Sinne von Wissenschaftlichkeit ihre Forschungen unter dem Duktus einer objektiven und werturteilsfreien Methode stellen und deshalb zu „weit weniger dramatischen Ergebnissen“ (ebd.) kommen, würden von den Gegnern Neuer Religiöser Bewegungen öffentlich diskreditiert und somit ihr Mitspracherecht in der öffentlichen Debatte verlieren (vgl. ebd.). Anders als in den USA oder in Großbritannien konnten religionswissenschaftliche Forschungen in Deutschland kaum Einfluss auf den Verlauf der öffentlichen Diskussion um Neue Religiöse Bewegungen bzw. neue Religionen nehmen. Es kann im Gegenteil konstatiert werden, dass „Studien, die zur Versachlichung dieses Sachverhalts aufriefen, aus dem gesellschaftlichen Diskurs ausgegrenzt und stigmatisiert“ (ebd. 111) wurden. Gesellschaftliche Stigmatisierungsprozesse führten dazu, dass die wenigen Forscher, die sich mit diesem Thema beschäftigten, in Zusammenhang mit den von ihnen untersuchten Gruppierungen gebracht wurden. Eine möglichst neutrale Beschreibung wurde als Befürwortung der Gruppe interpretiert. Baumann sieht die Gründe dieses Stigmatisierungsprozesses zum einen in der „Monopolstellung kirchlicher Informationsvermittlung über nicht-christliche Religionen“ (ebd. 113) begründet, zum anderen zeigt er auf, dass diese einseitige Darstellung auf ein Defizit religionswissenschaftlicher bzw. religionssoziologischer Forschung und deren öffentlicher Repräsentanz zurückzuführen sei. Während die Abnahme kirchlicher Religiosität im Kontext der Säkularisierungsthese im Fokus der Religionssoziologie stehe, beschäftige sich die Religionswissenschaft aufgrund der philologischen Ausrichtung des Faches meist mit außereuropäischen bzw. zeitlich weit zurückliegenden Religionen.10
10 An dieser Stelle muss das Konzept der „Europäischen Religionsgeschichte“ von Burkhard Gladigow (1995) angeführt werden, der zur Forschungslage in Europa Folgendes konstatiert: Obwohl Europa „die Region der Erde mit der höchsten Religionsdichte“ (Gladigow 1995, 22) sei, hat sich die Religionswissenschaft aus mehreren Gründen
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Aus diesem Grund gaben innerhalb der Debatte um Neue Religiöse Bewegungen vor allem kirchliche Vertreter den Ton an und forcierten ein Negativbild von neuen Religionen, in dessen Zentrum die Betonung der Gefährdung der Jugend, Methoden der Gehirnwäsche sowie andere „unlautere Rekrutierungstechniken“ (ebd. 114) und der deviante Charakter dieser religiösen Gruppierungen stand. Religionswissenschaftliche Stimmen, die mittels Forschungsergebnissen und Studien zur Versachlichung des Themas beitragen wollten, fanden entweder kein Gehör oder wurden selbst aufgrund der meist nicht erwünschten neutralen Darstellung diskreditiert (vgl. ebd.). An dieser Stelle ist außerdem festzuhalten, dass „die Ausgrenzung und Diskreditierung sozial- und religionswissenschaftlicher Forschungsergebnisse […] fast ausnahmslos von den am stärksten in der ‚Anti-Sekten-Kampagne‘ engagierten, den landeskirchlichen Beauftragten für Sekten und Weltanschauungsfragen“11 (ebd. 117f.), erfolgte. Mögliche Konkurrenten, hier die, die über religiöse Gruppen informieren, wurden diskreditiert und von einer Mitsprache in der Debatte ausgegrenzt (vgl. ebd. 125). Ähnliche Entwicklungen sind auch in den USA zu beobachten. Allerdings beherrschten den Informationsmarkt dort nicht die Kirchen, sondern die aus der Elterninitiative hervorgegangene Anti-Kultbewegung. Seit den 1970er Jahren gibt es jedoch auch kleine Gruppen von Religionswissenschaftlern, Soziologen und Psychologen, die das Phänomen aus der Perspektive ihrer jeweiligen Disziplin untersuchen. Zur Vermeidung der negativ aufgeladenen Begriffe „cult“ oder „sect“ führten sie den Metabegriff „New Religious Movement“ ein (vgl. Dawson 1998, 13ff.). Insgesamt kann also konstatiert werden, dass es von religionswissenschaftlicher Seite noch an Forschungen und Studien bedarf, die zur Versachlichung der
„diesem Gebiet in seiner Gesamtheit nur unter Vorbehalten zugewandt“ (ebd.). Zum einen wurde „Europa für die Phase nach seiner Christianisierung gänzlich in die Obhut des Kirchenhistorikers“ (ebd.) gestellt, zum anderen zögerten Religionshistoriker lange Zeit, sich dem Christentum bzw. dem Judentum auf europäischem Boden zuzuwenden. Aus diesem Grund sei das „Gesamtspektrum an religiösen Orientierungen in Europa […] nie wirklich zum Gegenstand der Religionswissenschaft geworden“ (ebd.). 11 Der Begriff „Anti-Sekten-Kampagne“ etablierte sich vor allem in der Auseinandersetzung mit und durch die Kritik an der einseitigen Darstellung bzw. Stigmatisierung von neuen Religionen (vgl. Baumann 1995).
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Debatte um Neue Religiöse Bewegungen bzw. neue Religionen beitragen können.12 Es sind sowohl distanzierte und objektive Herangehensweisen an die Thematik notwendig als auch eine langfristige, kritische Überprüfung der unterschiedlichen Termini in Hinblick auf ihre Tauglichkeit für eine objektive sowie wertneutrale Analyse und in Bezug auf den empirischen Tatbestand. Auch der als neutral konzipierte Begriff „Neue Religiöse Bewegung“ trägt implizit „zu einem inhaltlich vorstrukturierten Bild bei“ (Baumann 1995, 134), das oft vom empirischen Sachverhalt divergiert.13 Im Anschluss soll nun der Begriff „Neue Religiöse Bewegung“ erläutert und sein Einsatz als analytische Kategorie in Hinblick auf das Kabbalah Centre diskutiert werden. Neue Religiöse Bewegung als analytische Kategorie in der Religionswissenschaft Die Kategorien „Neue Religiöse Bewegungen“ und „neue Religionen“ ersetzen in der Forschung seit Ende der 1970er Jahre den stark negativ konnotierten SektenBegriff,14 um auf wertneutrale Weise religiöse Gruppierungen zu umschreiben, die seit den 1960er und 1970er Jahren entstanden sind (vgl. Dawson 1998, 14ff.; Lüddeckens und Walthert 2010c, 20f.). Der Begriff etablierte sich in Anlehnung an die japanischen Begriffe „shin shukyo“ und „shin shukyo undo“ (vgl. Lüddeckens und Walthert 2010c, 20). Dorothea Lüddeckens schlussfolgert, dass der Be-
12 Elisabeth Arweck stellt 2010 fest: Es gibt kaum Veröffentlichungen in Deutschland zum Thema Neue Religiöse Bewegungen. Vor allem in der rezenten Forschung wurde dieses Thema innerhalb der Religionswissenschaft nach 1986 kaum mehr berücksichtigt (vgl. Arweck 2010, 69ff.). 13 Martin Baumann weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der „instabil[e] und fragil[e]“ (Baumann 1995, 134) Charakter, welcher „Bewegung[en]“ (ebd.) auszeichnet, für einige als solche bezeichneten religiösen Gruppierungen nicht wirklich zutrifft, da diese – beispielsweise „die Vereinigungskirche, ISKCON oder die Zeugen Jehovas“ (ebd.) – sehr wohl „feste, dauerhafte Institutionen mit bürokratischer Strukturierung“ (ebd.) seien, weshalb das theoretische Framing „Bewegung“ als unzulässige analytische Kategorie überdacht werden sollte (vgl. ebd.). 14 An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass der englische Begriff „cult“ dem SektenBegriff im deutschen Sprachgebrauch nahekommt, der in ähnlicher Weise negativ konnotiert ist. Aus diesem Grunde wird der Begriff „Sekte“ als Analysekriterium in der deutschsprachigen religionswissenschaftlichen Forschung als kritisch erachtet.
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griff „Neue Religiöse Bewegung“ der Anforderung nie gerecht werden kann „religiöse Bewegungen, Gruppierungen oder Gemeinschaften in ihrer Spezifität zu charakterisieren“ (ebd. 21). Sie schlägt daher die Verwendung des Begriffes im Plural vor, um damit der Tatsache, es handle sich bei diesem ‚Phänomen‘ um „die Wahrnehmung einer Strömung […] und weniger um die Identifikation von Einzelfällen über bestimmte vorgeschriebene Merkmale“ (ebd.), Ausdruck zu verleihen. Diese Arbeit stimmt diesem Verständnis von Neuen Religiösen Bewegungen zu. Im Anschluss soll dennoch – um das aufgezeigte Bild zu vervollständigen – kurz umrissen werden, wie komplex und wenig ausdifferenziert der Umgang mit diesem Begriff in der Forschung ist. Dabei soll zudem die Schwierigkeit hervorgehoben werden, rezente religiöse Phänomene zu typologisieren, ohne Gefahr zu laufen, durch vorgefertigte analytische Kategorien der empirischen Realität nicht mehr gerecht werden zu können. Am Beispiel des Kabbalah Centre wird in dieser Arbeit des Weiteren verdeutlicht, dass ‚herkömmliche‘ analytische Kategorien für das rezente religiöse Feld nicht länger vertretbar sind und vor allem religionssoziologische Herangehensweisen, die meist die Organisations- bzw. Mesoebene in den Vordergrund rücken, oft den fluiden und kreativen Charakter rezenter religiöser Aktivitäten außer Acht lassen. Auch wenn einzelne Forscher den Begriff unterschiedlich definieren, so herrscht gemeinhin Konsens darüber, dass es sich bei Neuen Religiösen Bewegungen um Gruppen handelt, die nach dem zweiten Weltkrieg entstanden sind und die vor allem seit den 1960er Jahren in den Fokus der Öffentlichkeit rückten. Manche Forscher bezeichnen auch solche religiösen Gruppierungen als Neue Religiöse Bewegungen, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden sind: „‚Neue Religionen‘ dient als Bezeichnung für alle religiösen Bewegungen, die in der Neuzeit [etwa seit Mitte des 19. Jahrhunderts] entstanden sind. Sie wurden von ihren Herkunftsreligionen entweder als Häresie oder ‚Sekten‘ ausgestoßen und gewannen dann eigene historische Gestalt, oder sie nahmen aufgrund ‚neuer Erkenntnis‘ oder ‚neuer Offenbarung‘ eine Gegenposition zu ihren Herkunftsreligionen ein, versuchten das traditionelle Religionssystem zu übertreffen, oder sie verbanden verschiedenartige religiöse und/oder kulturell bestimmte Überlieferungsstränge zu einem neuen Religionssystem.“ (Flasche 1996, 282)
Die meisten Definitionen beziehen sich auf die oben aufgezeigte Entstehungszeit als Definitionsmerkmal anstatt auf die Charakteristika der Organisationsstruktur, der Inhalte oder Praktiken. In einzelnen Fällen kann der Zeitpunkt der Gründung schon vor dieser Zeitperiode liegen, entscheidend ist jedoch, dass die Zeit der Entwicklung dominanter religiöser Inhalte, das Rekrutieren von Mitgliedern etc. und
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die damit einhergehende öffentliche Repräsentanz in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg liegt (vgl. Arweck 1997). Werden den Neuen Religiösen Bewegungen bestimmte Charakteristika zugeschrieben, beziehen sich diese meist auf die soziale Organisationsstruktur. So seien sie in der Regel gemeinschaftlich ausgerichtet und es würden meist klare Grenzen nach außen gezogen. Zudem wird die Entwicklung von hierarchischen Strukturen sowie eines eindeutigen Korpus an Lehren und Inhalten, die von dem Gründer formuliert wurden, hervorgehoben (vgl. Arweck 2010, 55f.; Lüddeckens und Walthert 2010c, 19f.).15 Ein weiteres signifikantes Merkmal Neuer Religiöser Bewegungen sei der ‚synkretistische‘ Charakter: Die Lehren seien insgesamt von synkretistischer Natur, Inhalte aus unterschiedlichen Traditionen und Glaubenssystemen würden vermischt oder Inhalte aus traditionellen Religionen weiterentwickelt. Zu den ‚klassischen‘ Vertretern dieser Neuen Religiösen Bewegungen zählen u. a. die Vereinigungskirche, die Moonis, die Hare-Krishna-Bewegung (ISKCON), die Rajneesh-Bewegung (auch bekannt geworden unter Bhagwan Rajneesh/Osho) und Scientology (vgl. Pollack 2000, 20). Den hybriden und synkretistischen Charakter Neuer Religiöser Bewegungen betont auch Jody Myers, der zufolge, Neue Religiöse Bewegungen als „hybrid constructs, combining elements from a number of religious traditions“ (Myers 2007b, 46) beschrieben werden können. Des Weiteren schreibt Myers, dass diese Gruppierungen sich selbst üblicherweise nicht als Kirche, Sekte oder cult16 wahrnähmen (vgl. Myers 2007b, 46). Ähnlich wie Meyers sieht die Religionssoziologin Eileen Barker (2004) den Unterschied zwischen Neuen Religiösen Bewegungen und etablierten Kirchen in der Tatsache, dass die Anhänger der Erstgenannten sich aus Konvertiten rekrutieren, während die Mitglieder der etablierten Religionen in der Regel in die Religion hineingeboren seien. Bezüglich des Lebensstils der Akteure konstatiert Barker, dass sich diese neuen Konvertiten viel enthusiastischer und engagierter zeigen würden als Menschen, die in eine Religion hineingeboren wurden. Insofern stehe auch die vielfach im öffentlichen Diskurs stigmatisierte Mitgliederwerbung im Vordergrund der Aktivitäten der Gruppenmitglieder (vgl. Barker 2004, 93ff.). Ein weiteres Charakteristikum von Neuen Religiösen Bewegungen sieht sie in der charismatischen Autorität der Gründer, die auch Lehren und Praktiken festsetzten (vgl. ebd. 96).
15 Im Namen vieler Gründer Neuer Religiöser Bewegungen wurden Unmengen an Büchern vermarktet (z.B. im Falle von Osho/Bhagwan, Ron Hubbard, Philip Berg etc.). 16 Myers bezieht sich in Ihren Ausführungen dabei auf den US-amerikanischen Religionswissenschaftler John Gordon Melton (siehe Melton und Moore 1982).
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In Hinblick auf Wurzeln, Lehre, Praktiken und Organisationsstruktur könnten zwischen den einzelnen Bewegungen große Unterschiede festgestellt werden, weshalb eine Typisierung nur unter Vorbehalt möglich sei (vgl. ebd. 99f). Dennoch haben sich einige Forscher darin versucht, unterschiedliche Metatypen herauszuarbeiten und die einzelnen Bewegungen darunter zu subsumieren, um den Gegenstandsbereich überschaubarer zu gestalten. Beispielsweise unterscheidet Sebastian Murken (2009) folgende Gruppen: • • • •
Gruppen mit christlichem Hintergrund Gruppen mit asiatischem Hintergrund Gruppen auf dem Hintergrund der Selbstoptimierung (‚Psychokulte‘) Gruppen im Bereich Esoterik/New Age/Ufologie (Murken 2009, 22)
Auf der Grundlage einer Studie, die im Rahmen der Enquete-Kommission Sogenannte Sekten und Psychogruppen des Deutschen Bundestages (1996–1998) im Jahr 1997 durchgeführt wurde, wurde folgende Typologie erstellt: • Radikale christliche Gruppen der ersten Generation (evangelikale, heilungsori-
entierte Gemeinden) • Gruppen mit christlich-fundamentalistischer Prägung (evangelikale und charismatische Gemeinden) • Fernöstliche Gruppierungen und Milieus (Hare Krishna, Vereinigungskirche, Neo-Sannyas-Bewegung, Ananda Marga, Brahma Kumaris, Transzendentale Meditation) • Esoterische Milieus und sogenannte Psychokulte (Ayahuasca, Bruno-GröningKreis, Hannes Scholl, Kontext etc.) (Pollack 2000, 17) Auch diese Einteilung konzentriert sich in erster Linie auf den internen Organisationsgrad der unterschiedlichen Gruppen und unterscheidet zwischen nach außen stark geschlossenen Gruppen und solchen mit einer eher offenen Partizipationsstruktur (vgl. ebd. 18). Eine auf den internen Organisationsgrad bezogene und sehr häufig angewandte Typologisierung Neuer Religiöser Bewegungen stammt von Rodney Stark und William Sims Bainbridge (1985). Diese unterscheiden zwischen dem „cult movement“, den „clients cults“ und den „audience cults“ (vgl. Stark und Bainbridge 1985, 26ff.). Der erste Typ weise eine sehr rigide Struktur im Sinne einer geschlossenen Organisationsstruktur mit dauerhaften Bindungen auf, während sich die beiden anderen Typen eher offener Partizipationsstrukturen bedienten (vgl. ebd.).
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Auch wenn das Kabbalah Centre in der Forschung immer wieder mit der Kategorie „Neue Religiöse Bewegung“ in Zusammenhang gebracht wird, möchte diese Arbeit besonders verdeutlichen, dass diese als analytische Kategorie zur Beschreibung des Kabbalah Centre dem empirischen Sachverhalt nicht ausreichend gerecht werden kann. Der religionssoziologische Fokus auf die Struktur und Organisation kann zwar zur Klärung auf institutioneller Ebene beitragen, kann aber keine umfassende Klärung und Analyse des gegenwärtigen religiösen Feldes gewährleisten. Das Kabbalah Centre kann vielmehr als imagined community (vgl. Anderson 1983) verstanden werden, deren Gemeinschaftscharakter auf soziale Konstruktionsleistungen der Akteure zurückzuführen ist, die sich selbst als Teil der Gruppe wahrnehmen. Das Kabbalah Centre als fluide religiöse Bewegung Das Kabbalah Centre wird in der Forschung bisher innerhalb der Kategorie „Neue Religiöse Bewegung“ analysiert, da es sich trotz des eindeutigen Bezug zum Judentum in einem gesellschaftlich nicht mehr anerkannten Bereich bewegt (indem es mit grundlegenden Glaubensüberzeugungen und Praktiken des Judentums bricht) (vgl. Melton 2004; Myers 2007b; Myers 2008).17 Jody Myers verdeutlicht diese Diskrepanz zwischen Nähe und Distanz zum Judentum in einer Darstellung des Kabbalah Centre in konzentrisch angeordneten Kreisen. Der innere Kreis ähnele einer jüdischen Sekte, da das Einhalten jüdischer Rituale und ein Leben gemäß der 613 Mizwot18 im Vordergrund der religiösen Aktivitäten stünden. Hingegen sei die Beteiligung an den Ritualen in den äußeren Kreisen von weniger großer Bedeutung. Der innere Kreis rekrutiere sich dabei meist aus jüdischen Anhängern, wohingegen die religiöse Provenienzen der meist weniger an das Kabbalah Centre gebundenen Akteure des äußeren Kreises äußerst heterogen seien (vgl. Myers 2008, 409ff.).
17 Aus der Innenperspektive des orthodoxen Judentums bricht das Kabbalah Centre mit der jüdischen Tradition, da es Kabbala zuerst für Frauen und in seiner weiteren Entwicklung für Nicht-Juden zugänglich gemacht hat. Auch die Einbindung von NichtJuden in die jüdischen Rituale (z. B. Anfassen der Tora-Rolle durch einen Nicht-Juden während einer Shabbat-Veranstaltung) kann als strenger Verstoß gegen die jüdische Tradition gedeutet werden (Myers 2007b; Myers 2008). 18 Die 613 Mizwot stellen als die Gebote und Verbote des Judentums die Eckpfeiler der jüdischen Religionsausübung dar. Sie teilen sich in 365 Verbote und 248 Gebote auf (vgl. Spiegel 2004, 34f.).
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Ein Neuansatz in der Erforschung religiöser Bewegungen findet sich in dem Sammelband Fluide Religion. Neue religiöse Bewegungen im Wandel. Theoretische und empirische Systematisierungen (2010a) herausgegeben von den Religionswissenschaftlern Dorothea Lüddeckens und Rafael Walthert. Im Zentrum ihres Ansatzes steht die These, dass „die Formen von neuen religiösen Bewegungen als exklusive Gemeinschaften […] unverbindlichere[n] und niederschwelligere[n] Formen der Partizipation, die durch selektive Teilnahme und schwache Gruppengrenzen geprägt sind, Platz gemacht“ (Lüddeckens und Walthert 2010c, 19) haben. Darüber stellen sie fest, dass „religiöse Ideen und Praktiken, die zunächst in der Form von Gemeinschaften Teil einer zunehmenden religiösen Diversität im Westen geworden sind, […] in eine breitere gesellschaftliche Verfügbarkeit diffundiert“ (ebd. 20) sind.19 Dieser These liegt die Annahme zugrunde, dass „in Religionen im westeuropäischen Kontext dauerhafte und umfassende Zugehörigkeiten zunehmend durch unverbindliche, zeitlich beschränkte und spezifischere Beteiligungen abgelöst werden“ (Lüddeckens und Walthert 2010b, 9f.). Während in Hinblick auf zentrale Hierarchien ein Bedeutungsverlust zu beobachten sei, könne in Bezug auf Religiosität eine „wachsend[e] Mobilität auf […] individuelle[r] Ebene“ (ebd. 9) festgestellt werden sowie eine „Vielzahl sozialer Beziehungen“ (ebd.), welche die Religiosität der Akteure charakterisiere. Hinsichtlich der Struktur und Organisation Neuer Religiöser Bewegungen kann sowohl ein Rückgang der Mitgliederzahlen in den letzten Jahren als auch die Tatsache, dass sich einige dieser Gemeinschaften in den letzten Jahren entweder aufgelöst oder andere, offenere Formen der Struktur und Organisation angenommen haben, festgestellt werden (vgl. ebd. 9ff.). Ganz im Sinne des Verständnisses von ‚fluide Religion‘, in dessen Fokus sowohl der „hohe Grad von Beweglichkeit“ (ebd. 9) sowie die „Diffusion von Religion in einen weiteren sozialen Kontext“ (ebd.) liege.20
19 Dieser Wandel wird u. a. in einer ausführlichen Arbeit von Hubert Knoblauch systematisch dargestellt (vgl. Knoblauch 2009; Knoblauch 2010). 20 Mit der Aussage „Diffusion von Religion“ zeigen Lüddeckens und Walthert auf, dass sich die Grenzen zwischen ‚alternativer Szene‘ und ‚institutionalisierter Religion‘ langsam auflösen. Sowohl Formen als auch Inhalte von New Age und Esoterik sind längst „in das Bewusstsein der Gesamtgesellschaft hinein diffundiert“ (Knoblauch 2009, 118). Diese Diffusion geht über die Grenzen der Religion hinaus und verwendet nicht-religiöse Institutionen und Medien als Transportmedium. Ganz im Sinne des Ansatzes von Hubert Knoblauch (vgl. u.a. Knoblauch 2009; Knoblauch 2010) ersetzt der Begriff „Spiritualität“ den New-Age-Begriff und wird zum Teil der ‚profanen Kultur‘. Zentrale Charakteristika dieser Transformation sieht Knoblauch in der besonderen Bedeutung
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Das Kabbalah Centre kann auf der Ebene der Organisationsstruktur als fluide religiöse Gruppe kategorisiert werden. Aufgrund des steten Wandels und der unablässigen Anpassung an die Außenwelt, ist es analytisch nur schwer fassbar. Organisationsstrukturen und Hierarchien sind einem ständigen Wandel unterworfen und divergieren je nach dem jeweiligen lokalen Kontext. In Deutschland ist eine Beschreibung als eine nach außen geschlossene Organisation nicht möglich. Vielmehr treten Kabbalah-Centre-Lehrer als ‚Spezialanbieter‘21 auf. Auch Kleinstgruppen, die sich meist temporär – z.B. während eines bestimmten Kurses – um diese Spezialanbieter bilden, sind äußerst fluide und ständigen Transformationsprozessen unterworfen. Fluidität lässt sich zudem in Hinblick auf die Religiosität der Akteure konstatieren, die sich, wie in dieser Arbeit noch aufgezeigt wird, durch heterogene und temporär wechselhafte Zugehörigkeiten auszeichnet. Die folgende Darstellung (Abbildung 2) soll, bezugnehmend auf das o. g. Modell von Myers, die inneren Dynamiken und Strukturen des Kabbalah Centre verdeutlichen und den fluiden Charakter hervorheben. Die Zentrierung der Familie Berg drückt hier den Charakter einer imagined community (vgl. Anderson 1983; Anderson 2005) aus, da die Familie Berg im Alltag der Kabbalah-Centre-Mitglieder zwar nicht physisch präsent ist, jedoch sowohl für die kollektive als auch für die individuelle Identität der religiösen Akteure von besonderer Bedeutung ist. Die Familie Berg spielt in der Selbstdarstellung des Kabbalah Centre eine wichtige Rolle, wenngleich meist kein Face-to-Face-Kontakt zu den Familienmitgliedern besteht (vgl. Anderson 2005, 16). Wenn man diesen Ansatz weiterdenkt, ist auch das Kabbalah Centre in seiner Gesamtheit eine ‚vorgestellte Gemeinschaft‘, da „alle Gemeinschaften, die größer sind als die dörfliche mit ihren Face-to-FaceKontakten, vorgestellte Gemeinschaften sind“ (ebd.). Anknüpfend an eine Dekonstruktion essentialistischer Vorstellungen von religiösen Gemeinschaften lässt sich am Beispiel des Kabbalah Centre aufzeigen, wie die Gemeinschaft von den religiösen Akteuren konstruiert wird und wie diese konstruierte, kollektive Identität in das eigene Selbstbild übernommen wird.
der subjektiven Erfahrungsdimension und der Fokussierung auf das Individuum (vgl. Knoblauch 2009, 121ff.; Knoblauch 2010, 149ff.). 21 Zur Kategorie „Spezialanbieter“ vgl. Rademacher 2010.
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Abbildung 2: Aufbau des Kabbalah Centre. Quelle: Nicole M. Bauer
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Diese Arbeit knüpft an das Konzept von Dorothea Lüddeckens und Rafael Walthert an und richtet den Fokus auf den fluiden Charakter sowohl gegenwärtiger religiöser Gruppen als auch einzelner Akteure in Hinblick auf ihre Religiosität.
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ZUR
K ONSTRUKTION
In diesem Kapitel wird ein sozialpsychologischer Ansatz aus der Identitätsforschung vorgestellt, der zur Analyse religiöser Akteure in spätmodernen Kontexten beiträgt. Im Zentrum dieses Ansatzes wird der konstruierte und prozessuale Charakter postmoderner Identitätsbildung betont. In der Analyse der religiösen Akteure und deren Identitätsbildungsprozesse wird dabei der Fokus auf die Rolle des religiösen Netzwerkes und die innerhalb dieses Kontextes konstruierte kollektive Identität gelegt. Am Fallbeispiel Kabbalah Centre wird in dieser Arbeit aufgezeigt, wie kollektive Identität innerhalb eines religiösen Netzwerkes ausgehandelt bzw. konstruiert wird, wie diese wiederum auf die persönliche oder individuelle22 Identitätskonstruktion rückwirkt und welche Wechselwirkungen zwischen kollektiver und individueller Identitätskonstruktion konstatiert werden können. Diese Fragen werden anlehnend an die Überlegungen zur Dekonstruktion essentialistischer Modelle kollektiver Identitäten (vgl. Anderson 2005) erläutert. Anknüpfend an die theoretischen Überlegungen zur Identitätskonstruktion wird in dieser Arbeit des Weiteren aufgezeigt, welche Rolle Geschichte und Geschichtskonstruktion bei der Aushandlung sowohl der kollektiven als auch der individuellen Identität zukommt (vgl. Hobsbawm und Ranger 1992). Zur Dekonstruktion moderner Identitätsvorstellungen Während man sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch essentialistischer Konzeptionen von Identität bediente, „die seit der Aufklärung den Kern oder das
22 Die Terminologie erfolgt hier in Anlehnung an Henri Tajfel 1979 und Tajfel (1982) in Güttler 2000, 161f.: Gemäß Tajfel wird das Selbstkonzept in zwei Unterbereiche eingeteilt – die persönliche (individuelle) und die soziale (kollektive) Identität. Die soziale Identität ist ein Teil des Selbstkonzeptes eines Individuums, das „sich aus seinem Wissen um seine Mitgliedschaft in sozialen Gruppen und aus dem Wert und der emotionalen Bedeutung ableitet, mit der diese Mitgliedschaft besetzt ist“ (Tajfel 1982, 102).
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Wesen unseres Seins zu definieren und zu begründen“ (Hall 1994, 181) versuchten, so werden in neueren Ansätzen, die mit der „Dekonstruktion grundlegender Koordinaten modernen Selbstverständnisses [einhergehen, vor allem] Vorstellungen von Einheit, Kontinuität, Entwicklungslogik oder Fortschritt in Frage gestellt“ (Keupp 2008, 30). Den modernen psychologischen Identitätsbegriff prägt der Entwicklungspsychologe Erik Erikson, der, einem essentialistischen Identitätsmodell folgend, davon ausging, dass das Subjekt im Laufe seiner Jugend einen stabilen Wesenskern – ein „innere[s] Kapital“ – ausbilde, welcher eine mehr oder minder erfolgreiche Lebensbewältigung ab der Adoleszenz sichere (vgl. Erikson 1973, 107f.). Erikson, der seine Arbeiten als Post-Freudianer ganz im Dienste der Freud’schen Psychoanalyse verstand, konzipierte seine Identitätstheorie innerhalb eines Entwicklungsmodells, in dessen Kontext Identität einen Teilaspekt der Persönlichkeit und somit die letzte Entwicklungsstufe der Ich-Entwicklung23 darstellt (vgl. Noack 2010, 45). Gesellschaftliche Veränderungsprozesse, die in der sozialwissenschaftlichen Forschung meist unter dem mehr oder minder unscharfen Buzzword „Spätmoderne“ subsumiert werden, führten zu einem Perspektivenwechsel in der Identitätsforschung. Während den klassischen, modernen Identitätsmodellen der moderne Kontext insofern abhandengekommen ist, als dass die seit den 1960er Jahren konstatierten Prozesse der Differenzierung, Individualisierung und Pluralisierung traditionelle Vergemeinschaftungsformen als „identitätsverbürgende […] Lebensformen“ (Eickelpasch und Rademacher 2004, 6) auflösen, steht in spätmodernen Identitätsansätzen die aktive Aufgabe des einzelnen Akteurs, dem die „Verarbeitung der verschiedenen Rollen, Lebensformen und Sinnelemente zu einem Sinnganzen als permanente Eigenleistung und Konstruktionsaufgabe zugemutet“ (ebd. 7) wird, im Fokus der Forschung. Eriksons Konzept wird vor allem aufgrund der Tatsache kritisiert, dass er von dem „Ideal einer gelingenden Integration von Subjekt und Gesellschaft ausgeht, statt die Unmöglichkeit einer solchen Synchronisation in einer kapitalistischen Gesellschaft aufzuzeigen“ (Keupp 2008, 29).24 In neueren Ansätzen werden hingegen sowohl die Chancen als auch die mit
23 Die Identitätsentwicklung stellt im Entwicklungsmodell von Erik Erikson die dritte Stufe der Entwicklung dar: „Sie schließt alle bedeutsamen Identifizierungen in sich, aber sie verändert sich auch, um ein einzigartiges und entsprechend zusammenhängendes Ganzes aus ihnen zu machen“ (Erikson 1980, 156). 24 Folgendes Zitat von Erik Erikson zur Identitätsbildung soll dieses Argument verdeutlichen: „Nun ein Gefühl der Identität zu haben, heißt, sich mit sich selbst – so wie man wächst und sich entwickelt – eins fühlen; und es heißt ferner, mit dem Gefühl einer
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den veränderten gesellschaftlichen Kontexten einhergehenden Risiken der spätmodernen Identitätsarbeit betont. Die klassischen Identitätskonzeptionen, die „Identität als ein einheitliches, eindeutiges, lebenslang gültiges Selbstbild, einen inneren Besitzstand verstehen [Hervorh. im Original]“ (ebd. 15), können den spätmodernen Bedingungen nicht länger standhalten und müssen auch in der Theoriebildung einer Revision unterzogen werden. Angesichts der Kritik an der Vorstellung einer essentiellen Identität, wird innerhalb der Forschung vermehrt der konstruierte Charakter von Identität betont. Anlehnend an die Arbeiten des US-amerikanischen Philosophen Georg Herbert Mead25 (1973) und die Rezeption seiner Arbeiten durch den amerikanischen symbolischen Interaktionismus der 1950er und 1960er Jahre wird in der jüngeren deutschen Forschung auf diesen konstruierten Charakter von Identität Bezug genommen. Besonders die Forschergruppe um Heiner Keupp (Keupp und Hohl 2006) stellt den Konstruktionscharakter in das Zentrum ihrer Theoriebildung um Identität (vgl. Laack 2011, 28). Von den genannten Forschern wird das moderne Identitätsverständnis insofern kritisiert, als es von einer „bruchlosen Integrationen des Subjekts in das jeweilige soziokulturelle Umfeld“ (Keupp 2008, 16) ausgeht und die „Vorstellung einer binnenpsychologischen Vollintegration der Persönlichkeit“ (ebd.) forciert. Keupp vertritt die These, dass die „moderne Identität aufgrund der veränderten Lebensbedingungen in einer globalisierten und kapitalistischen Sozialwelt dekonstruiert werden muss“ (ebd.). Mit Bezug auf Theodor Adornos „Ende des Identitätszwanges“ (Adorno 1966, 175), welcher das „befreite Ich [, das] nicht länger eingesperrt in seine Identität [und auch] nicht länger zu Rollen verdammt“ (ebd. 273) sei, betont Keupp die Chancen, die sich aus der „Überwindung von rigiden und auf Einheit der Person zielenden Normalitätsmodellen“ (Keupp 2008, 17) ergeben. In diesem Zusammenhang sei das kreative Potential hervorzuheben, dass sich für den Einzelnen in seiner Selbstorganisation und Identitätsbildung unter den spätmodernen Bedingungen ergibt (vgl. ebd. 28). Ausgehend von einer „zersplitterten Sozialwelt“ (ebd. 11) wird in spätmodernen Ansätzen die Annahme vertreten, dass „Sinngebung und Identitätsbildung […] zu einer privaten Angelegenheit jedes Einzelnen“ (ebd.) geworden seien.
Gemeinschaft, die mit ihrer Zukunft wie mit ihrer Geschichte (oder Mythologie) im reinen ist, im Einklang zu sein“ (Erikson 1975, 29). 25 Das von Georg Herbert Mead entwickelte Identitätskonzept beschreibt Identität durch das „Verhältnis von personaler Identität und (internalisierten externen) sozialen Erwartungen“ (Laack 2011, 34). Diesem Konzept zufolge entsteht personale Identität erst „in der Interaktion und Kommunikation mit anderen Subjekten“ (ebd.).
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Darauf aufbauend knüpft diese Arbeit an einem relativ neuen Verständnis von Identität an, das den aktiven und kreativen Prozess der Identitätsarbeit in den Vordergrund stellt und die Eigenleistung des Subjektes als „Baumeister des eigenen Lebensgehäuses“ (Keupp 2008, 55) oder als „Sinnbastler“ (vgl. Hitzler und Honer 1994; Honer, Meuser und Pfadenhauer 2010) betont, sowie den Konstruktionscharakter der spätmodernen Patchwork- bzw. Bastelidentitäten in den Fokus der Forschung rückt. Personale Identität wird demzufolge immer in der Interaktion mit anderen Akteuren in einem Prozess des bewussten sowie unbewussten Patchworkings unterschiedlicher Identitätsaspekte erzeugt (vgl. Keupp und Hohl 2006, 67f. und 83f.). Keupp zeigt des Weiteren auf, „dass Identität sinnvollerweise als ein subjektiver Konstruktionsprozess zu begreifen ist, in dem Individuen eine Passung von innerer und äußerer Welt suchen“ (Keupp 2008, 7), und stellt somit die Frage nach der „alltäglichen Identitätsarbeit“ (ebd.) in den Fokus seiner Forschungen. In sozialwissenschaftlichen Studien konstatieren Gegenwartsdiagnostiker eine zunehmende Diskrepanz zwischen Individualisierung und Vergemeinschaftung (vgl. Lüddeckens und Walthert 2010b), die sich in weiterer Folge auch auf die Frage der religiösen Identität der Akteure auswirkt. Der fortschreitende Prozess der „Individualisierung“ (vgl. Beck 1986) führt diesen sozialwissenschaftlichen Thesen zufolge zwangsläufig zu einem Bedeutungsverlust traditioneller Gemeinschaften. Dies führe zu einer „Freisetzung“ (Prisching 2010, 179) des Individuums im Sinne eines „Abstreifens der Zwänge“ (ebd.) und gleichzeitig zu einem „Herausschleudern“ (ebd.) des Individuums aus den „Sicherheiten der Herkunftsmilieus und den Sinnwelten“ (ebd). Der Mensch ist einerseits dazu gezwungen, seine eigene Lebenswelt zu konstruieren, andererseits möchte er den Verlust an traditionellen Bindungen und Sinndeutungsmustern durch „temporäre“ (ebd.) und „posttraditionale Vergemeinschaftungen“ (ebd.) kompensieren.26 Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive hat das starke Auswirkungen auf die Identitätsbildung der Akteure im Allgemeinen und auf deren religiöse Identität im Besonderen. Neben dem Konzept der ‚Patchworkidentität‘ bezieht sich das Konzept der „Bastelexistenz“ (vgl. Hitzler und Honer 1994) explizit auf Fragen der religiösen Identitätsbildung in der Spätmoderne. Ronald Hitzler und Anne Honer sehen den religiösen Akteur als einen ‚Sinnbastler‘, der seine Existenz „aus heterogenen symbolischen Äußerungsformen“ (ebd. 311) frei und individuell gestaltet. Das Sinnbasteln als „kreative[r] Prozess der Selbstorganisation“ (Eickelpasch und Rademacher 2004, 22) bedeutet, dass die Akteure, die einen Verlust an traditionellen Orientierungen
26 Manfred Prisching bezieht sich hier auf die These des „Existenzbastlers“ von Ronald Hitzler.
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und Sinnbildern erfahren haben, mit unzähligen neuen „Identitätsangeboten“ (ebd.) konfrontiert sind, woraus sie ihre Existenz basteln müssen (vgl. Hitzler und Honer 1994). Der Identitätsbegriff Der Begriff „Identität“ wird vom mittellateinischen Wort „idem“ abgeleitet, was so viel bedeutet wie „dasselbe“. Erst in der frühen Neuzeit wurde der Begriff von den europäischen Sprachen adaptiert (vgl. Niethammer 2000, 40). „Als Kunstprodukt einer philosophischen Begriffssprache“ (ebd. 41f) weist der Begriff darauf hin, „dass etwas mit etwas anderem in allen Aspekten gleich und von anderen unterschieden sein müsse“ (ebd.). In der deutschen Sprache ist der Begriff Identität erst ab dem 18. Jahrhundert als Fachterminus nachweisbar (vgl. ebd. 40f.). Der Diskurs um ‚Identität‘ wird „in Alltag und Wissenschaft zum Dauerthema“ (Eickelpasch und Rademacher 2004, 5): „Der politische Diskurs hat uns das Thema einer nationalen Identität und einer deutschen Leitkultur beschert, Firmen pflegen ihre Corporate Identity, die Ratgeberliteratur empfiehlt uns Identity Styling, in esoterischen Zirkeln begibt man sich auf die Reise zum wahren Selbst [Hervorh. im Original].“ (Ebd.)
Dieses Zitat verdeutlicht die unterschiedlichen Ebenen, auf denen dieser Diskurs mit divergierenden Intentionen geführt wird. Die Frage der (individuellen/personalen) Identität ist aus unterschiedlichen Perspektiven innerhalb der Forschung bearbeitet worden. Aus psychologischer Sicht liegt der Schwerpunkt bei der Untersuchung von Identität auf der Analyse von (kognitiven) Selbstbildern (vgl. Zirfas 2010, 9), aus pädagogischer Sicht stehen die Entwicklungsmöglichkeiten des Selbst im Fokus der Betrachtungen (vgl. ebd.), während aus sozialwissenschaftlicher Sicht „die sozialen Voraussetzungen für Identitätskonzepte rekonstruiert“ (ebd.) werden. Aus den unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven heraus betrachtet kann Identität „als [kognitives] Selbstbild, als habituelle Prägung, als soziale Rolle oder Zuschreibung, als performative Leistung, als konstruierte Erzählung“ (ebd.) verstanden werden. Eng mit dem Terminus „Identität“ sind auch Begriffe wie „Selbst“, „Individuum“ und „Subjekt“ verbunden. Vor allem in kulturwissenschaftlichen Ansätzen werden Subjekttheorien forciert, die die diskursive Bedingtheit des Subjektes betonen (vgl. Reckwitz 2010). Der kulturwissenschaftlichen Subjektanalyse liegt ein Subjektverständnis zugrunde, demzufolge Subjekte „die spezifische kulturelle Form [bezeichnen,] welche die Einzelnen in einem bestimmten historischen und
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sozialen Kontext annehmen, um zu einem vollwertigen, kompetenten, vorbildlichen Wesen zu werden“ (Reckwitz 2010, 9f.). Dieser „Prozess der Subjektivierung oder Subjektivation“ (ebd. 10) betont die soziale und kulturelle Bedingtheit von Subjekten. Demzufolge fokussieren kulturwissenschaftliche Subjektanalysen Diskurse, innerhalb derer Subjekte ausgehandelt werden. Zum anderen betont Andreas Reckwitz die besondere Bedeutung sozialer Praktiken, die in Form von einfachen Verhaltensweisen, Körperbewegungen oder auch in der Art der Kommunikation Formen der Subjektivierung aufzeigen können und daher im Fokus der kulturwissenschaftlichen Subjektanalyse stehen (vgl. ebd.). Andreas Reckwitz wendet sich in seinem Ansatz gegen klassische Subjektvorstellungen, die die Autonomie des Subjektes betonen. Diesen klassischen Ansätzen liegt eine essentialistische Konzeption des Subjekts zugrunde, die vor allem in subjektphilosophischen Ansätzen postuliert wurde und davon ausgeht, dass es eine „irreduzible Instanz der Reflexion“ (ebd. 12) gebe, die jedem Menschen innewohne und unabhängig von den äußeren Bedingungen existiere. Dieser immanente menschliche Wesenskern, unter welchem vor allem in romantischen Kontexten ein „expressiver Kern der Selbstverwirklichung“ (ebd.) verstanden wird, stelle die Grundlage allen autonomen Handelns von Akteuren dar. Reckwitz Kritik an dieser Vorstellung knüpft an poststrukturalistische Annahmen an, die von einer „Dezentrierung des Subjekts“ (ebd. 13) im postmodernen Kontext ausgehen: „Das Subjekt wird ‚dezentriert‘, indem es seinen Ort als Null- und Fixpunkt des philosophischen und humanwissenschaftlichen Vokabulars verliert, es erweist sich selber in seiner Form als abhängig von gesellschaftlich-kulturellen Strukturen, die ihm nicht äußerlich sind und in deren Rahmen es seine Gestalt jeweils wechselt […].“ (Ebd. 13)
Konsequenterweise führt diese Dezentrierung des Subjektes zum Verlust seines transzendenten und essentiellen Status: das Subjekt ist weder a priori vorhanden noch besitzt es eine „universale Struktur“ (ebd.). Stattdessen rücken die spezifischen historischen, kulturellen und sozialen Bedingungen in den Fokus der Forschung. Diese sind Teil des Subjektivierungsprozesses und machen das Subjekt sozusagen erst zu einem solchen. Neuere Ansätze legen somit einen Schwerpunkt auf die kulturellen Formen, die das Individuum in einem bestimmten historischen Kontext erhält. Nicht die Frage nach sozialen Erwartungen – wie sie das Modell des homo sociologicus vorsieht – ist von Bedeutung, sondern „wie sich dieses ‚Individuum‘ in seinen scheinbar gegebenen, gewissermaßen vorkulturellen körperlichen oder psychischen Eigenschaften, die ihm vermeintlich Autonomie sichern, aus hochspezifischen kulturellen Schemata zusammensetzt“ (ebd. 15). Im Gegen-
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satz zu modernen Subjektvorstellungen, die die Fähigkeit der Reflexivität im Subjekt (a priori) verankert sehen, betrachten neuere kulturwissenschaftliche Subjektanalysen Selbstreflexivität als „Produkt hochspezifischer Subjektivierungsweisen“ (ebd. 16). Sie fragen sowohl nach den spezifischen Diskursen als auch nach „sozialen Praktiken und Technologien des Selbst“ (ebd.), die diesen „reflexiven Habitus“ (ebd.) konstituieren.27 Während die Identität eines Subjektes häufig mit dem übereinstimmt, was als „Selbst“ bezeichnet wird, geht der Subjekt-Begriff in der Forschung über jenen der Identität bzw. des Selbst hinaus und umfasst die „gesamte kulturelle Form […], in welcher der Einzelne als körperlich-geistig-affektive Instanz in bestimmten Praktiken und Diskursen zu einem gesellschaftlichen Wesen wird“ (Reckwitz 2010, 17). In diesem Verständnis ist Identität ein „spezifischer Aspekt dieser Subjektform: die Art und Weise, in der in diese kulturelle Form ein bestimmtes Selbstverstehen, eine Selbstinterpretation eingebaut ist, wobei diese Identität immer direkt oder indirekt auch mit einer Markierung von Differenzen zu einem kulturellen Anderen verknüpft ist.“ (Ebd.)
An diesem Verständnis von Identität anknüpfend steht in dieser Arbeit die Frage nach den Konstruktionsleistungen der Akteure im Vordergrund. Dabei wird der Frage nachgegangen, welchen Stellenwert religiöse Themen in der Selbstdarstellung der Akteure einnehmen, wie die Identitätsarbeit mit dem Mittel der „Selbstnarration“ (Keupp 2008, 207) umgesetzt wird und wie die „Selbsterzählungen“ (ebd. 209) von den Akteuren unter dem Fokus von Religiosität gestaltet werden. Da diese Arbeit nicht den Anspruch hat, Identitätskonstruktionen in ihrer Gesamtheit zu erfassen, sondern gezielt den Aspekt der Religiosität und deren Anteil an der Konstruktion individueller Identität erfassen möchte, wird hier der Begriff „religiöse Identität“ verwendet. An Reckwitz Ansatz kritisch zu betrachten ist das stark deterministische Verständnis vom Subjekt, dessen Handlungsmacht und Selbstreflexivität diskursiv erzeugt werde. Reckwitz schließt an eine sozialphilosophische Fragestellung an, die bereits auf vielfachen Ebenen in den Sozialwissenschaften diskutiert wurde (vgl. Hollis 1995). In diesem Kontext wurde die Frage nach dem ‚Zusammenspiel‘ von Gesellschaft und Individuum, Holismus und Individualismus bzw. agency und structure aufgeworfen. In den Sozialwissenschaften wurde lange Zeit eine „funktionalistische Erklärung [starkgemacht, die] individuelle Handlungen als Reaktionen
27 Siehe auch Beck 1986 und Giddens 1991.
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auf die funktionalen Anforderungen des Systems“ (ebd. 216) betrachtet. Das daraus abgeleitete Verständnis des Menschen als „homo sociologicus“, das den Menschen in einem System normativer Erwartungen determiniert sieht, ist sehr kritisch zu betrachten, da es dem Akteur jegliche agency zugunsten der structure abspricht.28 Das hier dargestellte Subjektverständnis schließt an dieses Verständnis an, indem das Subjekt als „gesamte kulturelle Form, in welcher der Einzelne als körperlich-geistig-affektive Instanz in bestimmten Praktiken und Diskursen zu einem gesellschaftlichen Wesen wird“ (Reckwitz 2010, 17), stark deterministisch dargestellt wird. Der wissenschaftliche Diskurs, der hier angesprochen wird, soll aufzeigen, in welchen sozialwissenschaftlichen Kontexten die Frage nach „religiöser Identität“ zu sehen ist. Denn gerade am Fallbespiel des Kabbalah Centre wird deutlich, dass sich Akteure trotz vorherrschender ‚religiöser‘ Diskurse gerade im Bereich ihrer religiösen Dispositionen, Konstruktionen und Konstellationen sehr individuell verhalten. Identitätskonstruktion und Patchwork-Identität Heiner Keupp, der den konstruierten und prozessiven Charakter von Identität betont, wendet sich gegen ein essentialistisches Identitätsmodell, das dem modernen Identitätsbegriff zugrunde liegt und vor allem von Erik Erikson geprägt wurde. Wie bereits aufgezeigt, geht Erikson davon aus, dass sich während der Jugend ein Wesenskern ausbildet und dieser die Identität des Erwachsenen prägt – er vertritt also ein sehr starres Bild von Identität. Keupp hingegen bezeichnet mit Identität „das individuelle Rahmenkonzept einer Person, innerhalb dessen sie ihre Erfahrungen interpretiert und das ihr als Basis für alltägliche Identitätsarbeit dient“ (ebd. 60). Identitätsarbeit stellt für ihn den Versuch des Akteurs dar, „situativ stimmige Passungen zwischen inneren und äußeren Erfahrungen zu schaffen und unterschiedliche Teilidentitäten zu verknüpfen“ (ebd.). Dieser Prozess ist Keupps Argumentation nach nie abgeschlossen und besteht in einer „permanenten Verknüpfungsarbeit, die dem Subjekt hilft, sich im Strom der eigenen Erfahrungen selbst zu begreifen“ (ebd. 190). Diese „identitätsbezogen[e] Verarbeitung von Selbsterfahrungen“ (ebd. 196) führe weder zu einer „einheitlichen Selbstthematisierung“ (ebd.) noch zu einem „spannungsfreien Gleichgewicht“ (ebd.). Keupp
28 Auf der Ebene des sozialen Handelns löst der Sozialphilosoph Martin Hollis dieses Problem mit der Verbindung von holistischen und individualistischen Ansätzen aus der Sozialphilosophie (vgl. Hollis 1995: 320ff.).
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sieht Identitätsarbeit als Konfliktaushandlung, in der ein konfliktorientierter Spannungszustand einem Zustand des Ausgleiches vorgezogen wird (vgl. ebd. 196f.). Dabei müsse das „jeweils gefundene Passungsverhältnis [als] subjektiv stimmig“ (ebd. 197) empfunden werden. Identitätsarbeit sei wiederum ressourcenabhängig (vgl. ebd. 198f.). Anlehnend an die Kapitalsorten-Theorie von Pierre Bourdieu wird aufgezeigt, wie „materielles Kapital“ (ebd. 202), „kulturelles Kapital“ (ebd.) und „soziales Kapital“ (ebd.) den „Optionsraum“ (ebd.), die „subjektive Relevanzstruktur“ (ebd.) und die „Bewältigungsressourcen“ (ebd.) beeinflussen, welche wiederum auf die Identitätsentwicklung rückwirken. Allerdings führe ein großer Vorrat an Ressourcen nicht notwendigerweise zu einer gelingenden Identitätsentwicklung, genauso wie ein geringer Vorrat an Ressourcen oder gar das Fehlen nicht zu einer misslungenen Identitätsentwicklung führe (vgl. ebd. 198). Auch seien für die „alltägliche Identitätsarbeit“ (ebd.) nicht die „objektiv vorhandenen Ressourcen“ (ebd.) ausschlaggebend, sondern jene, welche ‚subjektiv‘ vom Akteur wahrgenommen werden (vgl. ebd.). Dieser Prozess der Identitätsbildung, der zusammenfassend als sehr ambivalent, konfliktreich, fluide und niemals abgeschlossen zu verstehen ist, wird in der Praxis der (Selbst-)Narration sichtbar. Somit ist Identitätskonstruktion auch Narrationsarbeit (vgl. ebd. 207). „Identitätsbildung [wird] wesentlich mit dem Mittel der Selbstnarration erreicht […]. Im Erzählen organisiert das Subjekt die Vielgestaltigkeit seines Erlebens in einem Verweisungszusammenhang.“ (Ebd. 207f.)
Die zur Identitätsbildung verwendeten narrativen Strukturen werden dabei wiederum durch den sozialen Kontext beeinflusst und beschränkt (vgl. ebd. 208). Innerhalb dieser Rahmung konstruieren die Akteure ihre eigene personale Identität. Es handelt sich in erster Linie nicht um faktisch Erlebtes oder tatsächliche Ereignisse, sondern um „meaning making“ (ebd. 210). Anknüpfend an diesen Ansatz wird im Auswertungsteil dieser Arbeit anhand von ausgewählten narrativen Interviews nach der religiösen Identität der Akteure gefragt und es wird aufgezeigt, wie Akteure diese in der Selbstnarration konstruieren. Eine „gezielte Umsetzung dieser Identitätstheorien und Modelle […] in der Religionswissenschaft“ (Laack 2011, 28) steht noch aus. Diese Leerstelle soll durch diese Arbeit geschlossen werden. Ausgehend von einem dynamischen Identitätskonzept, welches den subjektiven Konstruktionscharakter von Identität fokussiert, werden so sowohl Fragen der kollektiven religiösen Identität als auch der individuellen (personalen) religiösen Identität und ihr Verhältnis zueinander diskutiert. Der Begriff „Patchwork-Identität“ betont dabei den fluiden Charakter
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spätmoderner Identitätskonstruktionen sowie den ‚zusammengebastelten‘ Charakter spätmoderner Identität(en).
T HEORETISCHE B ETRACHTUNGEN ZUR K ONSTRUKTION KOLLEKTIVER RELIGIÖSER I DENTITÄT Geschichtskonstruktion und die Konstruktion von kollektiver religiöser Identität Nachdem in den vorhergehenden Kapiteln ein heuristisches Modell von Identitäten in der Spätmoderne aufgezeigt wurde, soll im Anschluss die Frage diskutiert werden, in welcher Weise dieses um den Faktor der kollektiven Identität ergänzt werden kann. Da diese Arbeit eine religiöse Gruppierung zum Forschungsgegenstand hat und die Frage im Fokus der Arbeit liegt, wie sich religiöse Akteure innerhalb dieser Gruppe positionieren bzw. ihr Selbstbild im Kontext dieser Gruppe konzipieren, soll auch das Thema kollektiver Identitäten und die Aushandlung von kollektiver Identität thematisiert werden. Dabei knüpft diese Arbeit an einen kultur- und religionswissenschaftlichen Ansatz an, der von „dem Versuch geprägt ist, reifizierende Modelle kollektiver Identitäten zu überwinden, welche diese als ‚natürliche Gegebenheit‘ konzipierten. Stattdessen gelten kollektive Identitäten heute als Konstruktionen, die von Akteuren mit bestimmten Interessen in einem Beziehungsfeld von Machtstrukturen geschaffen werden und die auf Ab- und Ausgrenzungsstrategien in permanenten Aushandlungssituationen beruhen.“ (Laack 2011, 30)
Während sich personale Identität immer auf einen spezifischen Akteur „mit seinen Eckdaten von Geburt und Tod, auf die Leibhaftigkeit des Daseins“ (Assmann 2007, 132) bzw. diverse Rollenzuschreibungen, „Eigenschaften und Kompetenzen“ (ebd.) eines Individuums beziehen, versteht man „unter einer kollektiven oder Wir-Identität […] das Bild, das eine Gruppe von sich aufbaut und mit dem sich deren Mitglieder identifizieren. Kollektive Identität ist eine Frage der Identifikation seitens der beteiligten Individuen. Es gibt sie nicht ‚an sich‘, sondern immer nur in dem Maße, wie sich bestimmte Individuen zu ihr bekennen. Sie ist so stark oder so schwach, wie sie im Bewusstsein der Gruppenmitglieder lebendig ist und deren Denken und Handeln zu motivieren vermag.“ (Ebd.)
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Zu den machtvollsten kollektiven Identitäten der Moderne zählen beispielsweise Nationen sowie Klasse, Gender, Rasse oder Religionen (vgl. Hall 1999, 87; Eickelpasch und Rademacher 2004, 68). Auch kollektive Identitäten haben im spätmodernen Kontext ihre umfassende Stabilisierungskraft verloren, da sie „von gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen unterminiert worden“ (Hall 1999, 87) sind. Mit dem bereits konstatierten Auflösen traditioneller Bindungen und Vergemeinschaftungsformen im Zuge der Modernisierungsprozesse haben auch die oben genannten kollektiven Identitätsbezüge an Wirkkraft verloren (vgl. Giesen 1999, 11; Hall 1999, 87f.). Im postmodernen Kontext kommt es somit zu einer „De-zentrierung [und] Relativierung der großen stabilen Identitäten“ (Hall 1999, 90). Auch wenn diese Arbeit nicht in allen Punkten dieser Argumentation zustimmt, da diese makrosoziologischen Überlegungen ein äußerst homogenes und stabiles Bild der Vergangenheit generieren, das durchaus kritisch zu betrachten ist,29 knüpft sie an das hier vorgestellte heterogenen und pluralistischen Bild der Gegenwart an, innerhalb dessen Identitäten generiert werden. Wie bereits eingangs aufgezeigt, können vor allem innerhalb der religiösen Gegenwartslandschaft zahlreiche neue, meist fluide Vergemeinschaftungsformen konstatiert werden (vgl. Lüddeckens und Walthert 2010c). Diese fluiden Gemeinschaften konstruieren ihre kollektive Identität mithilfe unterschiedlicher Strategien, von denen zwei in dieser Arbeit näher betrachtet werden: die Abgrenzung von einem „Anderen“ und die Konstruktion von Geschichte und Tradition. Die Strategie der kollektiven Identitätskonstruktion über die Abgrenzung von den ‚Anderen‘ basiert auf einem konstruktivistischen Verständnis von Identitäten und Gemeinschaften. „Gemeinschaften entstehen […] als geteilte Illusion über Abstammung und Vergangenheit, Blutsverwandtschaft und geschichtliche Mission. Solche gemeinsamen Illusionen entstehen nicht zufällig: Sie werden inszeniert und gern geglaubt, sie begünstigen Interessen und geben unklaren Lebenslagen eine klare Kontur, aber sie sind eben nicht natürlich und selbstverständlich gegeben, sondern sozial konstruiert.“ (Giesen 1999, 12)
Obwohl man also davon ausgehen kann, dass alle Gemeinschaften, die über einen direkten Kontakt der einzelnen Akteure miteinander hinausgehen, imaginierte Ge-
29 Stuart Hall spricht in diesem Zusammenhang von einer „Hackordnung des Universums“, in der der einzelne Akteur seiner Position in der Welt und somit seiner Identität immer gewiss war (vgl. Hall 1999, 88).
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meinschaften sind (vgl. Anderson 2005, 16), spielen sie für die Akteure eine bedeutsame Rolle. Benedict Andersons (1983) Ansatz kann insofern auf den religiösen Bereich übertragen werden, als auch religiöse Gemeinschaften „vorgestellte Gemeinschaften“ (Anderson 2005, 15) sind, weil „die Mitglieder […] die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert“ (ebd.). In diesem Sinne wird innerhalb religiöser Gemeinschaften ein „fiktives imaginiertes Wir“ (Eickelpasch und Rademacher 2004, 68) konstruiert, welches über die faktischen Unterschiede der einzelnen Akteure hinwegtäuscht und in weiterer Folge eine Abgrenzung nach außen – von den „Anderen“ (Hall 1999, 93) – schafft (vgl. Eickelpasch und Rademacher 2004, 68). Die Abgrenzung nach außen, von den „Anderen“ bzw. den fingierten „Fremden“ ist inhärenter Bestandteil der kollektiven Identität. Stuart Hall verweist in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung der Konstruktion des „Anderen“ für die eigene Identität und zeigt auf, dass „die Entdeckung dieses Faktums […] auf die Entdeckung und Offenlegung der gesamten gewaltigen Geschichte des Nationalismus und des Rassismus“ (Hall 1999, 93) hinausläuft. Für ihn bedeutet Rassismus „eine Struktur des Diskurses und der Repräsentation, die den Anderen symbolisch zu vertreiben sucht“ (ebd.). Identität als eine „Erzählung (narrative) vom Selbst“ (ebd. 94) wird innerhalb eines Diskurses durch die „Konstruktion der Differenz“ (ebd.) erschaffen und befindet sich in einem fortlaufenden Prozess (vgl. ebd.). Gerade für die Bildung von kollektiver Identität ist die Konstruktion der „Anderen“ zur Stabilisierung der eigenen Identität von enormer Wichtigkeit – wie die empirischen Befunde dieser Arbeit im zweiten Teil deutlich machen. Im Falle des Kabbalah Centre ist es die Abgrenzung vom Judentum bzw. der jüdischen Orthodoxie, die augenscheinlich von identitätsstiftender Bedeutung für die Gemeinschaft ist. Darüber hinaus wendet sich die Arbeit der Frage nach der Geschichte und Geschichtskonstruktion zu, die eine wesentliche Rolle für die Aushandlung individueller wie auch kollektiver Identitäten spielen. Es wird einerseits nach den subjektiven Wahrnehmungen und Deutungsweisen von Geschichte gefragt, andererseits soll auch aufgezeigt werden, welche Rolle Geschichtskonstruktion und das „Erfinden von Tradition“ (vgl. Hobsbawm und Ranger 1992) in der Selbstdarstellung des Kabbalah Centre einnehmen. Dies wird methodisch mittels qualitativer Inhaltsanalysen von Publikationen30 und Analysen der offiziellen Homepage des Kabbalah Centre umgesetzt. Im Anschluss daran wird auf der Ebene der Akteure
30 Darunter fallen Publikationen des Kabbalah Centre, welche maßgeblich zur Verbreitung der Lehren beitragen, wie zum Bespiel Bücher von den Autoren Philip Berg, Yehuda Berg, Michael Berg oder Karen Berg.
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durch Auswertung der narrativen bzw. problemzentrierten Interviews aufgezeigt, wie diese ‚Geschichten‘ in das eigene Selbstbild integriert werden. Ausgangspunkt dieser Überlegungen stellen die Arbeiten der britischen Historiker Eric Hobsbawm und Terence Ranger dar, die in ihrem Werk The Invention of Tradition (1992) aufzeigen, dass Traditionen, die den Schein erwecken alt zu sein, sehr oft relativ jung sind und gezielt konstruiert wurden, um eine historische Kontinuität zu fingieren (vgl. Hobsbawm 1998, 97ff.). Um diese fingierten Bezüge zu einer historischen Vergangenheit zu stärken, werde auf bereits vorhandene Bräuche zurückgegriffen oder würden neue Rituale geschaffen (vgl. Hobsbawm 2005, 1f.). Wenn tatsächliche Bezüge zur Vergangenheit vorhanden sind, würden diese wiederum mittels Konstruktion einer fiktiven Kontinuität verstärkt werden (vgl. Hobsbawm 1998, 97f.). Hobsbawm sieht im Erfinden von Tradition einen wesentlichen Motor für die Konstruktion einer kollektiven Identität und für die Generierung von Zusammenhalt innerhalb einer Gruppe bzw. die Stärkung eines ‚Wir-Gefühls‘ (vgl. Hobsbawm 2005, 9). Auf dem Gebiet der Religionsforschung wurde dieser Ansatz bereits 2007 von James Lewis und Olav Hammer herangezogen, um aufzuzeigen, wie (konstruierte) Vergangenheitsbezüge innerhalb religiöser Gruppen eingesetzt werden, um die Authentizität religiöser Texte und somit die Identität der Gruppe zu legitimieren. „In the domain of religion, we find an analogous situation, where historically verifiable traditions coexist with recent innovations whose origins are spuriously projected back into time. In fact, the trend of inventing ancient historical lineages seems particularly prevalent in the world of religion. Observers of the contemporary New Age scene, for instance, can be struck by the habit of many books and websites to attribute hundreds if not thousands of years of history to practices and ideas that the usual standards of secular historiography date no further back than the 1970s and 1980s.“ (Hammer und Lewis 2007, 1f.)
Dieser Ansatz trägt in dieser Arbeit als theoretischer Bezugsrahmen dazu bei, unterschiedliche Formen von (konstruierten) Vergangenheitsbezügen im Zusammenhang mit kollektiver Identitätskonstruktion im Kabbalah Centre zu analysieren. Zur Generierung von kollektiven Identitäten können zusammenfassend verschiedene Strategien aufgezeigt werden, die auch auf den religiösen Bereich übertragbar sind. Eine wesentliche Strategie ist „die Herstellung einer gemeinsamen Vergangenheit“ (Eickelpasch und Rademacher 2004, 69) und die Konstruktion derselben, die die einzelnen Akteure zu einer „Schicksalsgemeinschaft zusammenschweißt“ (ebd.). Neben der „Erfindung der Vergangenheit“ (vgl. Hobsbawm 1994), die der jeweiligen Gemeinschaft den „Heiligenschein der Legitimität“
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(ebd. 49) verleiht, spielen Traditionen bzw. die Erfindung derselben (vgl. Hobsbawm und Ranger 1992) eine hervorzuhebende Rolle zur Stärkung und Konstruktion von kollektiver Identität. Diese ‚erfundenen Traditionen‘ konstruieren einerseits eine fingierte historische Kontinuität, andererseits tragen Traditionen in Form von rituellen Handlungen zur Konstruktion von Gemeinschaftlichkeit bei (vgl. Giesen 1999, 14f.). Am Fallbeispiel des Kabbalah Centre kann der Einsatz dieser Strategien zur Konstruktion von kollektiver Identität besonders deutlich gemacht werden. Geschichtskonstruktionen lassen sich im Kabbalah Centre sowohl in Form eines „Gründungsmythos“ (Eickelpasch und Rademacher 2004, 70) als auch in Form unterschiedlicher „Ursprungsmythen“ (ebd. 71) feststellen, welche gezielt zur Konstruktion und Stärkung der kollektiven Identität eingesetzt werden, um die besondere Stellung des Kabbalah Centre zu legitimieren. Im Folgenden wird darauf aufbauend die These aufgestellt, dass sich das Maß, in dem sich Akteure zu einer (imaginierten) Gruppe zugehörig fühlen, sowohl auf der Ebene der sozialen Interaktion zeigt als auch auf der kognitiven und affektiven Ebene. In diesem Sinn stellt die Erforschung kollektiver religiöser Identitäten und der Art und Weise, wie diese konstruiert werden und wie diese auf die religiösen Akteure rückwirken, eine besondere Herausforderung für die religionswissenschaftliche Analyse rezenter religiöser Konstellationen dar und wird deshalb in dieser Arbeit besondere Berücksichtigung finden. Exkurs: Zur Konstruktion von jüdischer Identität in Deutschland Da der Gegenstand dieser Arbeit eine religiöse Gruppe jüdischer Provenienz ist, stellt die Analyse jüdischer Identität und die Bedeutung derselben für die individuelle Identitätsarbeit der Akteure einen wichtigen Bestandteil dieser Forschung dar. Von besonderem Interesse ist die Frage, ob und welche Bedeutung die Konstruktion einer jüdischen Identität für die nicht-jüdischen Akteure des Kabbalah Centre hat und inwiefern sich dies in ihrer Selbstdarstellung zeigt. Der Diskurs um jüdische Identität ist sowohl im innerjüdischen Diskurs, als auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung eines der am kontrovers diskutiertesten Themen. Diese „modische Debatte um jüdisches Selbstverständnis“ (Dachs 2009, 7), wie es in dem 2009 herausgegebenen jüdischen Almanach des Leo Baeck Institute zum Thema Identitäten heißt, kann aus einer „Fülle ganz unterschiedlicher Standortbestimmungen“ gesehen werden: „persönliche[r], kollektive[r], säkulare[r] und religiöse[r]“ (ebd.).
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„Juden in aller Welt suchen auch heute – vielleicht mehr denn je – Antworten darauf, was es eigentlich heißt jüdisch zu sein. Denn: Einfach war es nie – doch es gab wohl noch nie so vielfache Arten und Weisen, jüdisch zu sein, wie in diesen Zeiten.“ (Ebd.)
Dennoch ist an dieser Stelle festzustellen, dass sich in Deutschland nur wenige Wissenschaftler Aspekten jüdischer Identität und jüdischen Lebens nach 1945 angenommen haben.31 Erst in den letzten Jahren richten vor allem junge Forscher und Forscherinnen wie die Soziologin und Kulturanthropologin Julia Bernstein oder die Sozialpädagogin Doron Kiesel ihre Aufmerksamkeit auf gegenwärtige Identitätsfragen im Judentum (vgl. Kiesel 2009; Bernstein 2010). Hierbei findet zum einen die Rolle von Migration und deren psychosozialen Folgen besondere Berücksichtigung. Zum anderen wird die Situation der aus Osteuropa emigrierten Juden und deren sozio-kultureller Hintergrund besonders berücksichtig. Beispielsweise untersucht Bernstein in einer ethnographischen Studie die Rolle der Esskultur für die Konstruktion von jüdischer Identität bei russischsprachigen Juden (vgl. Bernstein 2010). Daneben gibt es eine große Anzahl an autobiographischer Literatur32 „über die jüdische Befindlichkeit in Deutschland“ (Bodemann 1996, 10). Gleichzeitig geriet die Publikation des israelischen Historikers Shlomo Sand (*1946) Die Erfindung des Jüdischen Volkes. Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand (2010) in den Fokus der Öffentlichkeit und führte zu weitgehenden Diskussionen und Kontroversen (vgl. Putz 2010). Anlehnend an die theoretischen Überlegungen zur Dekonstruktion von Nationalstaaten bei Benedict Anderson und Ernest Gellner, kritisiert Sand gegenwärtige jüdische Identitätskonstruktionen (vgl. ebd. 46). Er kritisiert dabei die Festlegung, dass derjenige Jude sei, der „ein Abkömmling des vor 2000 Jahren exilierten Volkes sei“ (ebd.). Zur gängigen jüdischen Geschichtsschreibung entwirft er eine „Gegengeschichte“ (ebd. 52), die sowohl die Wurzeln der jüdischen Identität als auch die historische Interpretation der Vergangenheit dekonstruiert. Seinem Buch liegt die These zugrunde, „dass die Juden seit jeher an den verschiedensten Orten
31 Hier ist die von Micha Brumlik et al. (1986) herausgegebene Anthologie Jüdisches Leben in Deutschland seit 1945 hervorzuheben, die neben historischen Entwicklungen der jüdischen Gemeinden auch die Frage nach jüdischer Identität fokussiert (vgl. u.a. Brumlik 1986). 32 Hier überwiegen vor allem Titel, die das ambivalente Verhältnis von jüdischen Deutschen zum Leben in diesem Land nach den Ereignissen des Nationalsozialismus bzw. aufgrund antisemitischer Erfahrungen betonen (z.B. Fremd im eigenen Land (Broder und Lang 1987) oder Wir wissen nicht, was morgen wird, wir wissen wohl, was gestern war (Sichrovsky 1985)) (vgl. dazu auch Bodemann 1996, 10).
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Fuß fassten und bedeutende Gemeinden bildeten, aber keine ‚Ethnie‘ mit einem gemeinsamen Ursprung sind, die in endloser Verbannung durch die Welt irrte“ (ebd. 51). Konstruktivistische Überlegungen zur jüdischen Identität in Deutschland stellt auch die israelische Historikerin Shulamit Volkov (*1942) in einem Aufsatz von 1991 an. Ähnlich wie Eric Hobsbawm und Terence Ranger (1992) stellt sie am Beispiel des deutschen Judentums dar, dass religiöse Traditionen danach bestrebt sind, „die Vergangenheit zu bestimmten Zwecken zu rekonstruieren, die für die Gegenwart von Bedeutung sind“ (Volkov 1991, 605), und weist darauf hin, dass diese „trotz ihres Anspruchs auf Authentizität“ (ebd.) keine historischen Tatsachen wiedergeben. In einer umfassenden historischen Darstellung zeigt Volkov den konstruierten Charakter jüdischer Traditionen in Deutschland als Erfindung der Moderne auf (vgl. ebd. 606). Da diese Arbeit – wie bereits im vorhergehenden Kapitel ausführlich dargestellt wurde – einem Verständnis von Identität folgt, das den konstruierten Charakter in den Vordergrund stellt, knüpft auch das hier vertretene Verständnis von jüdischer Identität bzw. Identitäten an dieser Studie an. Diese sind im weiteren Sinn als Zuschreibungen zu verstehen, die immer kontext- und standortabhängig sind und selbst innerhalb eines lokalen Kontextes (Deutschland) nicht eindeutig bestimmbar sind. Die Debatte um jüdische Identität(en) verdeutlicht, dass essentialistische Perspektiven in der Identitätsforschung, die von einer starren, festgeschriebenen Identität ausgehen, noch immer weit verbreitet sind. Die Arbeiten von Sand und Volkov machen jedoch deutlich, dass ein solches Verständnis jüdischer Identitäten nicht mehr haltbar ist und auch jüdische Identitäten einen fluiden Charakter haben. Als solche sind sie somit auch immer von den Zuschreibungen der Akteure, die ihr „jüdisch sein“ konstruieren, abhängig. „Eine ‚einfache‘ Antwort auf die Frage, was ein ‚Jude‘ oder was ‚jüdische Identität‘ ist oder ob diese Terminologie überhaupt Sinn macht, ist schwer zu geben.“ (Heinze 2009, 228)
Um im empirischen Teil aufzeigen zu können, in welchen Kontexten die Zuschreibung „jüdisch“ von den Akteuren des Kabbalah Centre erfolgt, wird im Folgenden dargelegt, wie „jüdisch sein“ bzw. „jüdische Identität(en)“ in Deutschland gegenwärtig ausgehandelt wird bzw. werden. Diese Darstellung verdeutlicht in weiterer Folge die Komplexität und Diversität dieses Themenkomplexes, dessen Aushandlung und Aufarbeitung in einer umfassenden Weise aus religionswissenschaftlicher Perspektive in Deutschland bisher noch aussteht. In Deutschland ist der Diskurs um jüdische Identität untrennbar mit der nationalsozialistischen Vergangenheit des Landes verbunden. In seiner umfangreichen
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Doktorarbeit zeigt Carsten Heinze (2009) anhand von jüdischen autobiographischen Lebenskonstruktionen die Bedeutung der Vergangenheitsbearbeitung am Ende des letzten Jahrhunderts für die jüdische Identitätskonstruktion auf (vgl. Heinze 2009). „Jüdische autobiographische Lebenskonstruktionen im 20. Jahrhundert werden zwangsläufig unter dem Gesichtspunkt der Auseinandersetzung mit Judentum und der jüdischen Identität oder Herkunft entwickelt, was besonders für Autobiographien nach 1945 gilt, jedoch auch schon vor 1933 ein Merkmal autobiographischer Auseinandersetzungen zwischen dem Einzelnem und der Gesellschaft ist […]. Im Mittelpunkt stehen dabei die direkt oder indirekt erlebten bzw. vermittelten Verfolgungserfahrungen während des Nationalsozialismus und Auschwitz als singuläres Ereignis des 20. Jahrhunderts.“ (Ebd. 224)
Konstitutiv für die jüdische Identität seien damit einhergehende Erfahrungen von Ausgrenzung und Antisemitismus, die gerade in autobiographischen Schriften sehr deutlich würden (vgl. ebd.).33 „Geschändete jüdische Friedhöfe, beschmierte Denkmale, Hakenkreuze an Synagogen, anonyme Briefe an prominente Juden, feindselige Artikel in der rechtsradikalen Presse sind Demonstrationen der Ausgrenzung und Ablehnung, begangen durch wenige Einzelne, die aber mit Beifall für ihr Tun rechnen und ihn auch in größerem Maße finden, als öffentlich wird. Darin liegt das Problem des alltäglichen Antisemitismus nicht nur in Deutschland.“ (Benz 2002, 22f.)
Diese sowohl antijüdischen als auch antisemitischen Ressentiments (vgl. Heinze 2009, 229) führen immer wieder zu „erheblichen psychosozialen Problemen“ (ebd.) bei den Betroffenen, wirken sich auf das Verhältnis zwischen „Juden und Deutschen“ (ebd.) aus und konstituieren in weiterer Folge die jüdische Identität. Das deutsch-jüdische Verhältnis, das die deutsche Soziologin Elisabeth BeckGernsheim (*1946) als konstitutiv für die Ausbildung des jüdischen Selbstverständnisses in Deutschland nach 1946 erachtet, kumuliert, ihrer Argumentation folgend, in einer „Sonderstellung der Juden in Deutschland“ (Beck-Gernsheim 1999, 189). Diese ist darauf zurückzuführen, dass aufgrund der historischen Vergangenheit Deutschlands „Normalität auch von ihrer Seite nicht möglich“ (ebd. 190) sei, da sich „die meisten der Deutschen […] im Umgang mit Juden befangen“
33 Vgl. dazu auch den Beitrag Zwischen Antisemitismus und Philosemitismus (2002) von Wolfgang Benz in dem Sammelband Ich bin geblieben – warum? Juden in Deutschland heute.
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(ebd.) fühlten. „Ein immer noch verkrampftes Verhältnis“ (vgl. Blumenthal 1998) konstatiert auch der Autor Michael Blumenthal (*1926) in einem Artikel im Tagesspiegel vom 5. Juni 1998 (vgl. Beck-Gernsheim 1999, 1991): „Jedes Mal, wenn ich nach Deutschland komme, lande ich als Amerikaner und fliege als Jude wieder ab“ (Blumenthal 1998). Aus dieser formalen Kategorisierung „Juden versus Deutsche“ ergibt sich ein weiterer kontrovers diskutierter Aspekt zur Frage nach jüdischer Identität. Wie bereits Heinze feststellt, drückt sich „in der Differenzierung ‚Juden und Deutsche‘ […] eine problematische kategoriale Trennung von Juden und Nichtjuden aus, die […] [als] Resultat überkommener Stereotype von der ‚Andersartigkeit‘ und Nichtzugehörigkeit der Juden zur (deutschen) Gesellschaft“ (Heinze 2009, 226) sehr kritisch zu sehen sei. Auch auf politischer Ebene wird die Frage nach einer semantischen Definition des „Jüdisch-Seins“ in Deutschland auf sehr unterschiedlichen Ebenen geführt (Schneider 2001, 37), indem zum Beispiel diskutiert wird, ob nun von „jüdischen Deutschen“ oder „Juden mit Wohnsitz in Deutschland“ etc. zu sprechen sei (vgl. Schneider 2001, 37; Heinze 2009, 226 [Fußnote 310]).34 Wie aus diesen Überlegungen hervorgeht, dominieren sowohl innerhalb des jüdischen Selbstverständnisses als auch in der Fremdwahrnehmung ethnische Aspekte, die auf eine innerjüdische Vorstellung zurückgehen, dass nur der Jude sei, der von einer jüdischen Mutter geboren wurde: „Nach jüdischem Gesetz ist ein Kind Jude, wenn die Mutter Jüdin ist. Ein Kind wird als nichtjüdisch angesehen, wenn seine Mutter keine Jüdin ist. Die Regel, daß hierbei der Vater keine Rolle spielt, wurde getroffen, weil man sicher weiß, wer das Kind geboren hat, während die Vaterschaft gelegentlich fraglich ist.“ (Kolatch 2000, 21)
Aus einer innerjüdischen Perspektive ist also derjenige, dessen Vater allein Jude ist, selbst kein Jude. Inzwischen gibt es jedoch innerhalb liberalerer Strömungen des Judentums Gruppen, die auch jene Kinder, die ‚nur‘ einen jüdischen Vater haben, als jüdisch akzeptieren (vgl. Spiegel 2004, 19ff.). Religiöse Aspekte der jüdischen Identität kommen dann zum Tragen, wenn man den Faktor „Konversion“ berücksichtigt. Eine Konversion zum Judentum ist
34 An dieser Stelle darf angemerkt werden, dass sich die größte in Deutschland formierte Vereinigung von Menschen jüdischen Glaubens „Zentralrat der Juden in Deutschland“ nennt. Einer seiner bekanntesten Vorsitzenden Ignatz Bubis (1927-1999), der von 1997 bis 1999 im Amt war, bezeichnete sich wiederum selbst als „deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ (Bubis 1996, 13f.).
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ein sehr komplexes und für den Einzelnen aufwendiges Verfahren, das großes persönliches Engagement erfordert.35 Der Übertritt an sich besteht für die Frau aus einem rituellen Tauchbad, wobei verschiedene Reinigungsrituale durchgeführt werden. Bei Männern ist der Akt an sich ähnlich, jedoch müssen diese sich, als ‚Zeichen des Bundes‘ zwischen Abraham und dessen Nachkommen, beschneiden lassen. Doch selbst eine Konversion gilt nicht zwangsläufig als jüdischer Identitätsmarker, der innerhalb eines breiteren jüdischen Kontextes akzeptiert wird. Problematiken ergeben sich aus innerjüdischen Uneinigkeiten in Hinblick auf die Auslegung der jüdischen Gesetze (Halacha). In Bezug auf eine Konversion kann dies dazu führen, dass Juden, die bei einem liberalen Rabbiner konvertiert sind, von dem orthodoxen Rabbinat nicht als Juden anerkannt werden (Rosenthal und Homolka 2006; Spiegel 2004, 19f.; De Vries 2005, 192ff.). Dieses Beispiel verdeutlicht, dass jüdische Identität selbst innerhalb des Judentums unterschiedlich ausgehandelt wird. Wirft man einen Blick auf die unterschiedlichen Strömungen des Judentums – die selbst innerhalb eines lokal begrenzten Kontextes wie Deutschland zu unterschiedlichen Ausformungen jüdischer Riten und Praktiken führen –, wird außerdem deutlich, dass man nicht von ‚der‘ jüdischen Identität sprechen kann. Wie der Titel Das Judentum hat viele Gesichter (vgl. Rosenthal und Homolka 2006) bereits andeutet, lässt sich das Judentum in seiner Gesamtheit nur schwer auf ‚eine‘ jüdische Identität reduzieren. In dieser Arbeit stellen Hilbert S. Rosenthal und Walter Homolka (2006) die religiösen Strömungen des Judentums in der Gegenwart sehr ausführlich dar, um aufzuzeigen, dass es schwer ist von ‚dem‘ Judentum zu sprechen. Die Autoren unterscheiden dabei zwischen unterschiedlichen Hauptströmungen des Judentums: liberales Judentum bzw. Reformjudentum, konservatives Judentum, orthodoxes Judentum, rekonstruktionistisches Judentum (vgl. ebd.). Der Historiker Julius Schoeps differenziert in seinem Werk Neues Lexikon des Judentums wiederum zwischen folgenden vier Hauptrichtungen: die Orthodoxie, das konservative Judentum, das liberale Judentum und das progressive Judentum (vgl. Schoeps 1992). Im Gegensatz zu der eben aufgezeigten Unterteilung unterscheidet Schoeps zwischen dem liberalen und dem progressiven Judentum, das wiederum aus zahlreiche Gruppierungen mit unter-
35 Im traditionellen Sinne erfolgt eine Konversion nur mit der Zustimmung eines Rabbiners. Der Rabbiner muss die Kandidaten den jüdischen Gesetzen zufolge zunächst einmal abweisen, um sie auf ihre religiöse Bereitschaft hin zu prüfen. Eine Konversion kann mitunter mehrere Jahre in Anspruch nehmen und erfordert das Lernen des Hebräischen und das Aneignen von jüdischen Bräuchen und Riten (vgl. Spiegel 2004, 19f.; De Vries 2005, 192ff.).
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schiedlichen Traditionen und Lehransichten bestehe (vgl. ebd. 430). Da das Judentum weltweit keiner zentralen Organisation unterliegt, unter der die einzelnen Strömungen zu subsumieren sind, sind auch die Unterteilungen, die in den unterschiedlichen Abhandlungen vorgenommen werden, sehr vielfältig. Differenzen ergeben sich aus den Perspektiven der jeweiligen Autoren und deren eigenen Positionierungen innerhalb der jüdischen Ausrichtungen. In Hinblick auf Glaubensvorstellungen und religiöse Praktiken sind die Ausrichtungen des Judentums vollkommen unterschiedlich konzipiert. Diese Unterschiede lassen sich bis auf die Ebene der einzelnen jüdischen Gemeinden feststellen, die von den lokalen Gepflogenheiten und deren Rabbinern beeinflusst sind. Auch wenn diese innerjüdischen Differenzierungen wichtig sind um die individuellen Positionierungen der Akteure innerhalb eines relativ klar strukturierten Rahmens jüdischen Religionsverständnisses zu verorten, so kann diese Unterteilung der Komplexität jüdischer Identitäten in der Gegenwartskultur in Deutschland kaum Rechnung tragen. Eine weitere Bestimmung jüdischer Identität(en), die dem Ansatz dieser Arbeit in Hinblick auf eine lokalgeschichtliche Kontextualisierung von religiösen Identitäten am ehesten folgt (vgl. Kippenberg und Luchesi 1995), findet sich in der Arbeit von Elisabeth Beck-Gernsheim (1999) Juden, Deutsche und andere Erinnerungslandschaften. Die Autorin unterscheidet die Identität der in Deutschland lebenden jüdischen Akteure neben der religiösen Positionierung nach „Herkunft, Sozialisation“ sowie der „Aufenthaltsdauer in Deutschland“ (vgl. Beck-Gernsheim 1999, 187). Sie differenziert in Deutschland zwischen den „deutschen Juden“, den „osteuropäischen Juden“ und den „russischen Juden“ (vgl. ebd. 187ff.). Die erste Kategorie meint jene Menschen, die vor dem Nationalsozialismus in Deutschland gelebt haben oder deren Nachkommen. Die zweite Gruppe bezieht sich hingegen auf jene Menschen jüdischen Glaubens osteuropäischer Herkunft, die nach dem Nationalsozialismus als sogenannte displaced persons meist unfreiwillig in Deutschland geblieben sind, sowie deren Nachkommen. Während sich die „deutschen Juden“ weitgehend an das nicht-jüdische Umfeld angepasst hätten und die jüdische Gemeinschaft nur noch von randständiger Bedeutung für das Leben des Einzelnen sei, zeichneten sich die osteuropäischen Juden gerade durch ihre starke Bindung an die jüdische Tradition aus. Sie setzten sich sowohl durch die Sprache des Jiddischen von ihrem nicht-jüdischen Umfeld ab als auch durch ihre Kleidung, der streng religiösen (halachischen) Erziehung ihrer Kinder und dem strengen Einhalten der jüdischen Religionsgesetze (ebd. 233ff.). Beck-Gernsheim konstatiert hier, dass sich zwischen diesen beiden ‚Gruppen‘, die die ersten jüdischen Gemeinden nach 1945 gründeten und somit das jüdische Selbstver-
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ständnis im Nachkriegsdeutschland besonders prägten, bereits deutliche Diskrepanzen in Hinblick auf ihre kulturelle Prägung und ihre Traditionen beobachten ließen (vgl. ebd. 188). Besonders maßgeblich für die Frage nach jüdischer Identität in Deutschland ist nach Beck-Gernsheim die dritte Gruppe der „russischen Juden“. Diese Menschen, die in mehreren Einwanderungswellen seit den 1980er Jahren nach Deutschland emigrierten, prägten das rezente jüdische Leben in Deutschland deutlich, da sie inzwischen oft die Mehrheit der Gemeindemitglieder der jüdischen Gemeinden in Deutschland bildeten. Bezeichnend für die russischen Zuwanderer sei die Tatsache, dass aufgrund ihrer Sozialisation in einem ehemals kommunistischen Land kaum noch Anknüpfungspunkte an ein jüdisch-religiöses Leben bestünden. Ihre ‚jüdische Identität‘ konstituiere sich aus dem Umstand, dass ihnen eine „jüdische Herkunft“ zugeschrieben werde. Aus der Perspektive der hier ansässigen Juden seien „diese russischen Juden von Religion und Tradition weit entfernt, deshalb mehr russisch als jüdisch“ (ebd.). Aufgrund dessen komme es innerhalb der Gemeinden immer wieder zu Spannungen, da sich „die alten Gemeindemitglieder […] überrollt fühlten, während die anderen, die neuen, sich oft zurückgesetzt oder gar ausgegrenzt fühlen“ (ebd.). Das jüdische Selbstverständnis in Deutschland wird sowohl von innerjüdischer als auch von nicht-jüdischer Seite immer neu ausgehandelt und befindet sich aufgrund der Mobilität der Akteure im ständigen Wandel. Diese Darstellung verdeutlicht zudem, dass das jüdische Leben in Deutschland und die Bestimmung einer homogenen ‚jüdischen Identität‘ schwer möglich ist. Judentum in Deutschland zeichnet sich vielmehr durch eine zunehmende Heterogenität und somit auch Fluidität in Hinblick auf die Identitätskonstruktion aus und ist abhängig von den lokalen Kontexten, innerhalb derer diese sich konstituieren. Sie sind somit aufgrund der zunehmenden Migration und Mobilität der Akteure einem ständigen Wandel unterworfen. Eine weitere Perspektive auf die Jüdische Identität in der Moderne (vgl. Meyer 1992) zeigt Michael A. Meyer (*1937), Professor für jüdische Geschichte, auf. Er versteht jüdische Identität als eine Mischung aus religiösen und ethnischen Aspekten (vgl. ebd. 10). In einer umfassenden Darstellung, die ihren Fokus insbesondere auf den religionshistorischen Kontext in Deutschland richtet, stellt er bereits einleitend fest, dass Identität im Allgemeinen und jüdische Identität im Besonderen ein „Konzept [sei,] das sich nicht in einfache Kategorien zwängen lässt“ (Meyer 1992). Anknüpfend an Erik Eriksons Überlegungen, „Identität als die Gesamtheit der Eigenschaften [zu] verstehen, die Individuen als zu ihrem Selbst gehörend betrachten“ (ebd.) und sich im Zuge des Identifikationsprozesses des Kin-
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des mit den Werten, Traditionen und Verhaltensweisen der primären Bezugspersonen ausbilden, hebt Meyer besonders drei Faktoren hervor, die jüdische Identität in der Moderne bedingen. Dem jüdischen Selbstverständnis in der Moderne lägen demnach die Aufklärung, der Antisemitismus und der Zionismus bzw. die Konstituierung des Staates Israels zugrunde. Die Einflüsse der Aufklärung auf das jüdisch religiöse Leben stellt Meyer folgendermaßen dar: Geprägt von den aufklärerischen Vorstellungen von Rationalität und Toleranz (vgl. ebd. 8), die die Integration und Assimilation von jüdischen Menschen nach sich zogen, sähen sich diese mit einer „Absage an ihr Selbstverständnis als ein besonderes Volk [Hervorh. im Original]“ (Solomon 1999, 19)36 konfrontiert. Des Weiteren zeigt Meyer auf, dass der stetig wachsende Antisemitismus Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer Distanzierung von der Identifikation mit dem Judentum führte. Die antisemitischen Vorurteile hätten zur Folge, dass das Judentum nicht mehr nach außen gezeigt oder gar ganz aufgegeben werde (vgl. Meyer 1992, 8f.; Solomon 1999, 20f.). „Sie ändern ihre Namen, ihr Äußeres oder ihre Gewohnheiten, um sich ihrer Umwelt soweit wie möglich anzupassen.“ (Solomon 1999, 21) Während Meyer den Zionismus als ein eher osteuropäisches Charakteristikum begreift, erachtet er die Aufklärung und den Antisemitismus als maßgeblich für die Frage nach jüdischer Identität in Deutschland. „Die deutschen Juden, die als erste ein jüdisches Leben in der Moderne schufen, waren auch die ersten Opfer einer beispiellosen Barbarei, die wider alle Hoffnung und Erwartungen in jenem Land, das sie als ihr Vaterland ansahen, die Macht erlangte.“ (Meyer 1992, 9)
Gerade dieses Zitat macht deutlich, dass nach Meyer der Holocaust und die Erinnerung daran in Deutschland untrennbar mit der Frage nach jüdischer Identität sowohl im jüdischen Selbstverständnis als auch in der Fremdwahrnehmung verflochten sind. Micha Brumlik spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer „Post-Shoah-Identität“ (Brumlik 1986, 176) und stellt die These auf, dass jene jüdischen Menschen, die vor oder während des Nationalsozialismus emigrierten und in Folge dessen nicht in direktem Kontakt mit der Shoah standen, sich dennoch aufgrund des Kontaktes mit Shoah-Überlebenden oder der Auseinandersetzung mit diesem Thema in weiterer Folge damit identifizieren (vgl. ebd.). Antise-
36 Das Adjektiv „besonders“ bezieht sich an dieser Stelle auf das Narrativ des „auserwählten Volkes“, welches einen besonderen Stellenwert innerhalb des jüdischen Religionsverständnisses innehat (vgl. Spiegel 2004, 158ff.).
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mitische Implikationen, die meist auf generalisierende und homogenisierende Zuschreibungen zurückzuführen seien und mittels medialer Verbreitung unüberwindbare Fremdbilder konstruierten, prägten auch gegenwärtige Debatten (vgl. Benz 2002, 10). Die US-amerikanische Geisteswissenschaftlerin Judith Butler zeigt am Beispiel des aktuellen Israel-Konfliktes auf, wie ‚Juden‘ mittels Selbstverortungen bzw. Fremdwahrnehmungen im Kontext dieser politischen Debatte konstruiert werden, und weist auf die Konsequenzen in Hinblick auf antisemitisches Ressentiment hin, die generalisierende Zuschreibungen und problematische Schlussfolgerungen nach sich ziehen können (vgl. Butler 2004). Neben dem innerjüdischen Diskurs um das jüdische Selbstverständnis in Deutschland und die Bedeutung des Holocaust sowie des Antisemitismus für die Aushandlung von jüdischer Identität wird die Debatte über diese auch von anderen Faktoren determiniert. Bereits 1996 wies der Soziologe Yark Michal Bodemann darauf hin, dass die „Tendenz zur Rückkehr der deutsch-jüdischen Tradition [...] durch ein erstaunliches Phänomen unterstützt“ (Bodemann 1996, 51) werde und bezeichnete dasselbe als „judaisierendes Milieu“ (ebd. 48). Bodemann zeigt in seinem Buch Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung auf, wie der „jüdische Ethnos“ (ebd. 13) sowohl von innerjüdischer als auch nicht-jüdischer Seite konstruiert wird, und verdeutlicht mit dieser Bezeichnung ein Milieu, das – seinem Wortlaut folgend – aus „Proselyten zum Judentum, aus den deutschen Mitgliedern jüdisch-deutscher oder deutsch-israelischer Institutionen und Vereine und aus zahlreichen ‚Berufs-fast-Juden‘ außerhalb und selbst innerhalb dieser verschiedenen Institutionen“ (ebd. 51) besteht. Wenngleich diese wenig neutrale Formulierung die Position des Autors stark verdeutlicht, zeigt sie doch einen Trend auf, der bereits von anderen Wissenschaftlern beobachtet wurde. Allen voran zeichnet dieses ‚Phänomen‘ der deutsche Historiker Wolfgang Benz (*1941) folgendermaßen nach: „Die jüdische Minderheit hat Konjunktur als Objekt der Literatur und sonstigen Sparten öffentlicher Kultur. Klezmer-Musik und jiddische Lieder sind von der nichtjüdischen Mehrheit zu Markenzeichen inflationären Folklorekonsums erhoben worden. Jüdische Kochbücher gehören ebenso dazu wie die Beschwörung untergegangenen jüdischen Lebens in Odessa und Czernowitz, in Prag und Krakau durch seinen Kulturtourismus, der längst zum Trend geworden ist.“ (Benz 2002, 8)
Gewissermaßen ist das Judentum in Deutschland populär geworden und bewegt sich im Spannungsfeld von „Antisemitismus und Philosemitismus“ (Benz 2002). In Deutschland gibt es gegenwärtig rund siebzig Einrichtungen, die sich dem christlich-jüdischen Dialog widmen (vgl. ebd. 8).
80 | K ABBALA UND RELIGIÖSE I DENTITÄT „[…] die Identitätsprobleme der jüdischen Minderheit erregen intellektuelle Neugier in der nichtjüdischen Mehrheit, sind Tagungsthemen bei Literaturwissenschaftlern oder bei Kultursoziologen, und sie sind Gegenstand einer eigenen Literaturgattung, der Selbstreflexion der ‚zweiten Generation‘, die Konjunktur in den Medien und beim Publikum hat.“ (Ebd.)
In diesem Kontext kann auch das Interesse und die Teilnahme nicht-jüdischer Akteure an den Aktivitäten und Angeboten des Kabbalah Centre gedeutet werden, das seine eigenen Adaptionen jüdischer Vorstellungen und Praktiken einem breiten Publikum zugänglich macht. Nicht-jüdische und jüdische, religiöse und nichtreligiöse Interessenten sind dort eingeladen den Shabbat gemeinsam zu halten, die jüdischen Feste und Bräuche gemeinsam zu feiern, koscher zu speisen und so ‚Jüdisches‘ in zahlreichen Facetten kennenzulernen. Hier soll deutlich gemacht werden, dass die Frage nach jüdischer Identität standort- und kontextabhängig ist. Es kann weder von ‚den‘ Juden noch von ‚der‘ jüdischen Identität gesprochen werden. Im Kontext einer kulturwissenschaftlich orientierten Religionsforschung verlieren essentialistische Zuschreibungen, die etwas über das ‚Wesen des Judentums‘ aussagen wollen, ihre Gültigkeit. Innerhalb dieser Sichtweise können nur die Zuschreibungen, die sowohl jüdische als auch nicht-jüdische Akteure als Teilnehmer eines bestimmten Diskurses leisten, untersucht werden.
R ELIGIONSÖKONOMIE Die Relevanz ökonomischer Fragestellungen wurde in der Religionswissenschaft bisher marginal behandelt. Ein Grund dafür ist, dass Religion lange Zeit als ein Bereich betrachtet wurde, der für eine ökonomische Analyse irrelevant erschien (vgl. Höhener und Schaltegger 2012: 387). Umgekehrt wurden lange Zeit ökonomische Aspekte bei der Untersuchung von Religionen und religiösen Praktiken ausgeklammert. Der Zusammenhang von Religion und Wirtschaft wird erst in jüngster Zeit innerhalb der Religionswissenschaft thematisiert (vgl. Hock 2008, 154). Hier stehen insbesondere Fragen nach der „ökonomischen Logik religiöser Institutionen“ (ebd.). im Vordergrund. Einen ersten systematischen Entwurf einer Religionsökonomie als Teilbereich der kulturwissenschaftlich orientierten Religionswissenschaft entwickelte in Deutschland die Religionswissenschaftlerin Anne Koch. Diese sieht in der Etablierung religionsökonomischer Ansätze in der Religionswissenschaft die Möglichkeit „religiöses und wirtschaftliches Handeln im Kontext kultureller Handlungs-
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muster und Institutionen“ (ebd. 21) mit Hilfe ökonomischer Theorien zu erforschen. Eine weitere Möglichkeit sieht die Autorin in der ideologiekritischen Analyse von Wirtschaftsformen und ökonomischen Theorien (vgl. ebd.). Diese beiden Aspekte, „Religionsökonomie aufgrund ökonomischer Modelle“ (ebd. 22) und „Religionsökonomie als ideologiekritische Analyse“ (ebd.), stellen die Grundpfeiler ihrer Systematik der Religionsökonomie dar. In der ersten Möglichkeit spiegelt sich die hervorgehobene Rolle des Kulturbegriffs „als dem umfänglichsten Bezugspunkt der Rekonstruktion von Gesellschaft“ (ebd. 21) wider, woraus Koch folgert, dass Kultur der „Denkrahmen im ersten Potential der Religionsökonomie“ werden müsse. Die zweite Möglichkeit leitet Koch von der Tendenz in der Wissenschaft ab, „die Historizität der eigenen Erzeugnisse“ (ebd.) zu reflektieren und diese „einer kritischen Bewertung [zu unterziehen]“ (ebd.). Die Weber-These Die Untersuchung der Wechselwirkung zwischen Religion und Ökonomie oblag spätestens mit der Etablierung der Disziplin „Religionsssoziologie“ in Deutschland durch Max Weber (1864–1920) derselben. Lange Zeit dominierte die so genannte „Weber-These“ (vgl. Weber 1995), welche die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen von Religion in Augenschein nahm, religionssoziologische Betrachtungsweisen (vgl. Höhener und Schaltegger 2012: 396). In seiner berühmten Abhandlung „Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ (1905) stellte Weber die These auf, dass im Protestantismus eine Geisteshaltung gefördert werde, die die Entstehung von kapitalistischen Werthaltungen forciere. Diese sah er wiederum als Ursache für das wirtschaftliche Wachstum, welches zur so genannten „industriellen Revolution“ beigetragen haben (vgl. Höhener und Schaltegger 2012: 396ff). Aufgrund der Dominanz dieser These und der damit einhergehenden Forschungsperspektive, die die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen von Religion und individueller Religiosität betont, wurden lange Zeit religionsökonomische Zusammenhänge, die sich auf die Bedingtheit von Religiosität durch ökonomische Faktoren und die Frage nach der ökonomischen Ausrichtung von religiösen Gemeinschaften und Institutionen bezogen, in der religionswissenschaftlichen Forschung vernachlässigt (vgl. Hock 2006: 154). Erst durch eine allmähliche Abgrenzung von der Weber-These und der damit einhergehenden religionssoziologischen Perspektive, die den Zusammenhang von Religion und Ökonomie vor allem auf Makroebene analysiert, „scheinen sich ganz zart die Konturen einer neuen religionswissenschaftlichen Unterdisziplin abzuzeichnen: der Religionsökonomik“ (Hock 2006: 154). Wenngleich eine klare Grenzziehung zur Religionssoziologie und Ökonomie nicht möglich ist, zeichne sich diese durch
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eine gezielte Fragestellung in Hinblick auf die ökonomischen Bedingungen von Religion und individueller Religiosität aus (vgl. ebd. 155). Darüber hinaus fragt die Religionsökonomie ebenfalls nach den ökonomischen Konsequenzen von Religion, sowohl auf Mikroebene, auf der Ebene der religiösen Akteure, als auch auf Makroebene, der „gesamtwirtschaftlichen Ebene“ (vgl. Höhener und Schaltegger 2012: 387-388). Die Theorie der rationalen Entscheidung Theoretisch grenzt sich die Religionsökonomie von Webers Ansatz ab und knüpft an grundlegende Ansätze der Nationalökonomie an, wie sie bereits im 18. Jahrhundert von Adam Smith (1723–1790) dargestellt wurden, der in seinen beiden Publikationen „The Theory of Moral Sentiments“ und „The Wealth of Nations“ den Zusammenhang von Wettbewerb, Marktkräften und religiöse Institutionen, die in seiner Argumentation derselben Marktlogik folgen wie andere wirtschaftliche Unternehmen, aufzeigt (vgl. Hock 2006: 155; Höhener und Schaltegger 2012: 387). Im Gegensatz zu anderen religionswissenschaftlichen Ansätzen gehen religionsökonomischen Fragestellungen von einem „Rational-Choice“ Ansatz aus. Dieser „Theorie der rationalen Entscheidung“, die diverse Theorien der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften zu rationalem Handeln von Akteuren subsumiert, liegt die Annahme zu Grunde, dass „religiöses Verhalten als rationales Verhalten zu qualifizieren“ (Hock 2006: 155) sei. Ziel dieser Theorie sei es „über die ökonomischen Determinanten religiösen Handelns Aufschluss zu erhalten“ (ebd. 155). Im deutschsprachigen Bereich hat erstmals Dieter Schmidtchen (2000) in der „Zeitschrift für Religionswissenschaft (ZfR)“ den Forschungsstand zur Religionsökonomik umfangreich dargestellt. Ausgehend von der „Annahme des Rationalverhaltens sowohl der Gläubigen wie der Anbieter von religiösen Programmen“ (Schmidtchen 2000, 11) verbindet dieser ökonomische Ansätze mit religionswissenschaftlichen Fragestellungen wie die ökonomischen Bedingungen von diversen religiösen Organisationen, sowie deren Position und Konstitution auf dem ‚religiösen Markt‘.
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Der ‚Markt der Religionen‘? Eng verbunden mit diesem Ansatz ist die Rhetorik vom religiösen Markt, die auf die Adaption der ökonomischen Perspektiven auf religionswissenschaftliche Fragestellungen zurückzuführen ist. Den ‚Markt der Religionen‘37 untersucht Hartmut Zinser bereits 1997 in Deutschland umfangreich, indem er die Vermarktung von ‚Religion(en)‘ und deren Marketing- und Werbestrategien untersucht (vgl. Zinser 1997). Gegenwärtig finden sich diese Modelle vorrangig in soziologischen Studien38, die rezente religiöse Konstellationen untersuchen: Hubert Knoblauch (2009) weist beispielsweise auf die Etablierung der Markt-Metapher innerhalb des religiösen Feldes hin: „Selbst die Kirchen in Deutschland reden mittlerweile unverblümt von einem Markt der Religionen, lassen sich von Betriebswirtschaflern beraten und ziehen Marketing-Experten heran, die ihre Kampagnen gestalten.“ (Knoblauch 2009, 227)
Bereits 1997 spricht Knoblauch von der Formierung einer religiösen Infrastruktur, die er in einer Wechselwirkung mit Ansprüchen der Selbstermächtigung auf Ebene der religiösen Akteure sah (vgl. Knoblauch 1997, 179). Auch neuere Studien knüpfen an die These an, dass die „Selbstermächtigung des religiösen Subjekts“ (vgl. Bochinger, Engelbrecht und Gebhardt 2005) neue religiöse Interessen konstituiert, welche „solche(n) institutionellen Formen entgegen [kommen,] in denen sich eine passagere und an die persönlichen Augenblicksbedürfnisse angepasste Religiosität ausleben lässt, gefragt ist zudem eine freiwillige, temporäre und jederzeit kündbare Mitgliedschaft“ (Hero 2008a, 174f.). Markus Hero zeigt in seiner Studie zur Religiöse(n) Vielfalt in Nordrhein-Westfalen
37 In der US-amerikanischen Forschung wird das Marktmodell bereits 1985 von Rodney Stark und William Sims Bainbridge eingeführt, um das steigende und fallende Interesse an religiösen Ideen und Praktiken in den USA zu erklären (vgl. Stark und Bainbridge 1985). 38 In den Sozialwissenschaften entwickelte sich die Vorstellung eines religiösen Marktmodells durch die Arbeiten von Peter L. Berger und Thomas Luckmann. Berger konstatiert – was er u. a. am Bespiel der Vereinigten Staaten aufzeigt –, dass sich Gemeindemitglieder und Kirchen wie Nachfrager und Anbieter verhielten. Während die religiösen Akteure immer ‚rationalere‘ Entscheidungen im Sinne eines zunehmenden Kosten-Nutzen-Kalküls in Hinblick auf ihre ‚religiösen‘ Entscheidungen träfen, unterwürfen sich die großen Denominationen den Dynamiken eines Wettbewerbes und konstituierten somit einen religiösen Markt (vgl. Berger 1965, 62).
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explizit am Fallbeispiel „Esoterik“ und „Neue Religiosität“ auf, wie sich auf Akteursebene durch dezidierte Nachfrage ein religiöser Markt ausbildet, der durch eine „Vielzahl von religiösen Organisationen und Einzelanbietern“ (ebd. 175) gekennzeichnet ist, die „ihre Sinnstiftungsofferten in Form von diskreten [eingegrenzten] Marktbeziehungen […] vermitteln“ (ebd.). Ein neues Paradigma, das sich von dem vorherrschenden soziologischen Erklärungsmodell abgrenzt, welches Veränderungen des religiösen Marktes mit der Säkularisierungsthese39 erklärt, stellen die Arbeiten von Roger Finke und Laurence R. Iannaccone (1993) dar.40 Die beiden Autoren brechen mit der vorherrschenden These, dass sich das Angebot im religiösen Bereich der Nachfrage anpasst. Ihrer Argumentation folgend führte nicht „some sudden shift in the material or psychological state of the populace“ (Finke und Iannaccone 1993, 28) zu einer Veränderung des religiösen Angebotes, sondern die De-Regulierung des Marktes durch den Staat. Erst aufgrund des Wegfalls bestimmter staatlicher Regulierungen des Marktes hätten neue religiöse Anbieter überhaupt die Möglichkeit sich auf einem (religiösen) Markt durchzusetzen. Diese „Supply-Side Explanation for Religious Change“ (ebd.) zeigen die Autoren anhand von drei Beispielen auf, nämlich den beiden sogenannten Great Awakenings (1730–1760 und 1800–1830), der Etablierung fundamentalistischer, evangelikaler Fernsehprogramme seit den 1960er Jahren und der wachsenden Präsenz asiatischer Religionen in den USA. Anhand dieser Beispiele verdeutlichen sie, wie soziopolitische Faktoren, die sich im Wegfall staatlicher Restriktionen und Regulierungen manifestieren, zu vermehrten religiösen Angeboten auf dem Markt führen: „Colonial revivalists, Asian cult leaders, and contemporary televangelists all prospered when regulatory changes gave them free access to America’s religious marketplace.“ (Ebd. 28)
Im Ansatz der „supply-side religion“, wie ihn Finke und Iannaccone darstellen, wird Religion als Produkt verstanden, das auf einem Markt angeboten wird. Mit
39 Mara Einstein knüpft hier an ein klassisches Modell an, welches unter Säkularisierung die fortschreitende Abnahme von Religiosität in der Gesellschaft beschreibt: Während dieses Prozesses, der mit dem Fortschreiten der Industrialisierung einer Gesellschaft einhergehe, würden Weltdeutungsmuster von (natur-)wissenschaftlichen Deutungsmustern abgelöst, weshalb ‚Religion‘ zunehmend an Bedeutung verliere (vgl. Einstein 2008, 17f.). 40 Hierbei ist anzumerken, dass die beiden Autoren dabei die US-amerikanischen Entwicklungen in den Blick ihrer Forschungen nahmen.
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dem Wegfall staatlicher Marktregulierungen komme es zu einem vermehrten Angebot der ‚Ware‘ Religion. Diesen Ansatz vertritt auch Einstein, die ebenfalls davon ausgeht, dass „as regulations were enacted or eliminated, the types of religious products offered increased allowing for more religious practice than the secularization theory would have suggested“ (Einstein 2008, 19). Analog zur Metapher des ‚religiösen Marktes‘ spricht man in der Forschung auch zunehmend vom „spirituellen Markt“ oder „spiritual marketplace“ (vgl. Roof 2001), um das vermehrt wahrgenommene Angebot von ‚esoterischen‘ oder ‚spirituellen‘ Ideen und Techniken, die zunehmend in größeren Städten in institutionalisierter Form – z. B. Esoterik-Messen – auftauchen, zu beschreiben (vgl. Bochinger, Engelbrecht und Gebhardt 2009a; Hero 2008a; Höllinger und Tripold 2012; Huss 2007a; Roof 2001). Wade Clark Roof stellt fest, dass sich verschiedene Aspekte von Religion, die bisher eher ‚unterschwellig‘ vorherrschten – wie persönliches Glück oder spiritual well-being – im gegenwärtigen religiösen Feld manifestieren und neben der Adaption von Marktideologie in den religiösen Bereich zur Ausbildung eines spiritual marketplace beitragen (vgl. Roof 2001, 78): „An open, competitive religious economy makes possible an expanded spiritual marketplace which, like any marketplace, must be understood in terms both ‚demand‘ and ‚supply‘. In a time of cultural and religious dislocations, new suppliers offer a range of goods and services designed to meet the spiritual concerns; and, in so doing respond to and help to clarify those concerns.“ (Ebd.)
Aus religionswissenschaftlicher Perspektive ist die Reduzierung des Religionsbegriffes auf ökonomische Parameter kritisch zu betrachten, da andere Herangehensweisen an Religion, die sich nicht auf ökonomische Aspekte beziehen, damit ausgeklammert werden würden. Einen weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf die Nähe zu funktionalistischen Ansätzen, die lange Zeit in religionssoziologischen Arbeiten vorherrschend waren. Diese fragen in erster Linie nach der Funktion von Religion.41 Ihnen liegt die Annahme zugrunde, dass „Religion auf allgemeine und grundlegende menschliche Bedürfnisse reagiert“ (Hock 2008, 16). Aufgrund der kulturspezifischen Unterschiede und der damit verbundenen Vieldeutigkeit der Betrachtungsweise, ist die funktionalistische Herangehensweise in die Kritik geraten (vgl. ebd.) und von einem diskursiven Religionsverständnis abgelöst worden. Ähnlich wie funktionalistische Herangehensweisen an den Religionsbegriff,
41 Dem funktionalem Religionsverständnis ist ein substanzialistisches Religionsverständnis gegenüberzustellen, welches darauf ausgerichtet ist, zu klären was Religion oder ‚das Wesen‘ von Religion ist (vgl. Hock 2008, 15f.).
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weist auch eine ökonomische Reduzierung von Religion zahlreiche Unzulänglichkeiten auf, die der Tragweite des Begriffes und der umfassenden Bedeutung von Religion schwer Rechnung tragen. Dementsprechend ist die Annahme eines Marktes der Religionen, auf dem religiöse Anbieter Angebote für religiöse Akteure als Kunden anbieten, sehr kritisch zu betrachten (vgl. Knoblauch 1999, 210). Das Modell ist bereits in der US-amerikanischen Religionswissenschaft in die Kritik geraten, da es nicht erklären kann, weshalb religiöse Monopole für ihre Mitglieder attraktiv bleiben, ohne sich an die Marktstandards anzupassen, die dem Marktmodell zugrunde liegen. Auch ist es fraglich, ob dieses Modell auf Deutschland übertragen werden kann, da „trotz der formalen Trennung von Staat und Kirche […] noch immer eine enge Verflechtung zwischen wenigen großen religiösen Organisationen, dem Staat und anderen gesellschaftlichen Institutionen, wie etwa den Massenmedien, den politischen Parteien, den Gewerkschaften“ (ebd. 211), besteht. Wenngleich die Annahme eines religiösen Marktes kritisch zu sehen ist, so stellt die Analyse von Religionen mit Hilfe ökonomischer Modelle42 eine sinnvolle Erweiterung der religionswissenschaftlichen Forschung dar. In den folgenden Unterkapiteln werden einige Ansätze diskutiert, die für die Erforschung religiöser Identitätsbildung relevant sind. Kommodifikation des Selbst und postmoderne Spiritualität In Hinblick auf gegenwärtige Spiritualität, die in der Forschung unter dem Buzzword „postmoderne Spiritualität“ (vgl. u.a. Carrette 2004; Heelas 1999) subsumiert wird, wird der Einfluss der kapitalistischen Marktökonomie und der „Konsumgesellschaft“ (vgl. Bauman 2009) auf die individuelle Spiritualität betont. Einen Zusammenhang zwischen der „neuen Spiritualität“und der ‚postmodernen‘ Konsumgesellschaft konstatieren auch die Grazer Soziologen Franz Höllinger und Thomas Tripold in ihrer aktuellen Studie Ganzheitliches Leben (vgl. Höllinger und Tripold 2012). In Anlehnung an den englischsprachigen Begriff des holistic milieu oder der holistic spirituality, den Paul Heelas und Linda Woodhead gebrauchen, bezeichnen sie mit „holistisches Milieu“ „die Gesamtheit der alternativen therapeutischen und spirituellen Aktivitäten und die sozialen Kreise, in denen diese ausgeübt werden“ (Höllinger und Tripold 2012, 12). In ihrer Studie zeigen sie die sozialen und kulturellen Ursachen und Wurzeln dieser Bewegung sowie
42 Einen Überblick über unterschiedliche ökonomische Theorien, die für die religionsökonomische Forschung relevant sind, hat Anne Koch in ihrem bereits w.o. genannten Einführungswerk zur Religionsökonomie vorgestellt (vgl. Koch 2014, 60ff.).
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die Wechselwirkungen zwischen psychologischen Ansätzen und Themen der Spiritualität und Religion auf. Am Beispiel der Entwicklung des holistischen Milieus in Österreich zeigen die Autoren, dass dieses sowohl als „eine neue Form von Religiosität“ (ebd. 15) zu sehen ist als auch „als Ausdruck des postmodernen Lebensstils“ (ebd. 17). In der postmodernen Konsumgesellschaft – so die Argumentation – ginge es „immer mehr darum, das Wohlbefinden […] auch durch therapeutische, freizeitpädagogische, kulturelle und sportliche Angebote zu steigern“ (ebd. 87). Höllinger und Tripold beziehen sich dabei auf den britischen Soziologen und Philosophen Zygmunt Bauman, der ebenfalls einen Zusammenhang zwischen der postmodernen Konsumgesellschaft und der „postmodernen Suche, nach (quasi-) religiösen Grenzerfahrungen“ (ebd. 88) gezogen habe. Nach Bauman würden aufgrund der Veränderung der Lebensbedingungen im postmodernen Kontext – traditionelle Lebensformen und Vorgaben lösen sich auf, was zu einer Unsicherheit in Bezug auf die individuelle Identitätsbildung führt – immer häufiger „Identitäts-Experten“ herangezogen, die Orientierungsmuster für die eigene Identitätskonstruktion anbieten (vgl. Bauman 1998, 70; Höllinger und Tripold 2012, 88). Die „Identitäts-Experten“, die ganz im Sinne der Konsumgesellschaft agieren, wenden gezielt Werbe- und Marketingstrategien an, um Kunden zu werben, weswegen Bauman diese „Selbstverbesserungsbewegung“ von Religion abgrenzt (vgl. Bauman 1998). In seinem später erschienenen Werk Leben als Konsum (2009) beschreibt Bauman weiter den Wandel der Gesellschaft, der sich seines Erachtens nach von einer Gesellschaft der Produzenten zu einer Gesellschaft der Konsumenten vollzieht (vgl. Bauman 2009, 19ff.). Ursachen dafür sieht er in einer durch die „Deregulierung und Privatisierung“ (ebd. 19) hervorgerufenen „Verlagerung der Aufgabe der Rekommodifizierung von Arbeit auf dem Markt“ (ebd.). Er betrachtet den Arbeitsmarkt als Warenmarkt, auf dem einerseits Arbeit als „Ware“ angeboten und von den Käufern konsumiert wird, auf dem aber andererseits auch das Subjekt selbst zur Ware wird: „In der Konsumgesellschaft kann niemand ein Subjekt werden, ohne sich zuerst in eine Ware zu verwandeln, und niemand kann sich seines Subjektseins sicher sein, ohne ständig jene Fähigkeiten zu regenerieren, wiederzubeleben und aufzufrischen, die von einer käuflichen Ware erwartet oder eingefordert werden. Die ‚Subjektivität‘ des Subjekts und der Großteil dessen, was diese Subjektivität dem Subjekt zu erreichen ermöglicht, ist fokussiert auf das nicht enden wollende Bemühen, selbst eine verkäufliche Ware zu werden und zu bleiben.“ (Bauman 2009, 21)
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Subjektivität, so Bauman, konstituiere sich durch „das Kaufen und Verkaufen von symbolischen Zeichen zur Konstruktion von Identität“ (ebd. 24). Identität bzw. Subjektivität werde also durch mehr oder weniger bewusste Kaufentscheidungen konstruiert. Sehr kritisch bemerkt er: „Was wir für die Materialisierung der inneren Wahrheit des Selbst halten, ist in Wahrheit eine Idealisierung der materiellen – verdinglichten – Spuren von Konsumentscheidungen“ (ebd.). In dieser gesellschaftlichen Verschiebung von Produktion zur Konsumtion sieht Bauman auch eine Transformation in Hinblick auf Aspekte der Identitätsbildung von Akteuren. Der Akteur wird selbst zur Ware und muss sich auf dem Markt verkaufen und anbieten. Gleichzeitig treten Akteure auch als Konsumenten auf und basteln sich quasi mittels gezielter Konsumentscheidungen ihre eigenen Identitäten. Wie diese Identitätskonstruktion über Konsumentscheidungen bezogen auf religiöse Identität funktioniert, beschreibt Mara Einstein mit ihrem Konzept der faith brands (vgl. Einstein 2008). Kommodifikation von Religion Die Autoren Jeremy Carrette und Richard King (2007) betonen in ihrer Analyse des gegenwärtigen religiösen Feldes ebenfalls die Bedeutung der Marktideologie (offenen Marktwirtschaft und freier Wettbewerb) im gegenwärtigen Kontext. Sie zeigen in ihrem Buch Selling Spirituality den Zusammenhang von Ökonomie und Spiritualität auf, weisen auf die Verstrickung von sozialen, politischen und ökonomischen Faktoren hin, die den religiösen Bereich beeinflussen, und folgern, dass eine Trennung von „religiös“, „spirituell“ und „weltlich“ nicht möglich sei (vgl. Carrette und King 2007, 1ff.). „From feng shui to holistic medicine, from aromatherapy candles to yoga weekends, from Christian mystics to New Age gurus, spirituality is big business“ (ebd. 1). Die vermeintliche Trennung zwischen Spiritualität und Ökonomie bzw. Politik sehen Carrette und King als Konsequenz der Aufklärung bzw. Säkularisierung und der damit einhergehenden Verschiebung des religiösen Lebens in die Privatsphäre (vgl. ebd. 13). Im Prozess der „individualisation of religion [Hervorh. im Original]“ (ebd. 14), „religion has been formally separated from the business of statecraft in contemporary Northern European societies“ (ebd.). Diese kulturelle Veränderung, so die Autoren, habe zu einem erhöhten Grad an religiöser Freiheit und religiösen Alternativen geführt, die in die New-Age-Bewegung der 1960er Jahre mündeten (vgl. ebd.), welche wiederum als Grundlage für die „commodification of religion as spirituality“ (ebd. 15) zu sehen sei. Unter der Kommodifikation von Religion verstehen die Autoren „the selling-off of religious buildings, ideas and claims to authenticity in service to individual/corporate profit and the promotion of a particular worldview and mode of life, namely corporate capitalism“ (ebd.). Sie kritisieren die Vermarktung von
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religiösen Ideen und Inhalten, die aus ihrem kulturellen Kontext losgelöst, neu aufbereitet und auf einem „marketplace of ideas“ (ebd. 16) angeboten werden. Ausgehend von der These der Kommodifikation von Religion im gegenwärtigen Kontext entwickeln Carrette und King drei Idealtypen, die das Verhältnis von Spiritualität und Kapitalismus darstellen sollen: • Revolutionary or Anti-Capitalist Spiritualities:
Dieser Typ zeichne sich durch die Zurückweisung von kapitalistischen Ideologien aus. Spirituelle, ethische und religiöse Dimensionen des Lebens würden hier nicht mit kapitalistischen Werten in Verbindung gebracht (vgl. ebd. 17). • Business-Ethics/Reformist Spiritualities: Diese stellten den Versuch dar, eine Synthese zwischen traditionellem, religiösem Verständnis und den Werten von Business und Konsumgesellschaft zu schaffen (vgl. ebd. 18f.). • Individualist/Consumerist Spiritualities: Dieser Trend, der meist auch unter dem Begriff „Prosperity Religion“ (ebd. 19) subsumiert werde, stelle die Verbindung von Profitstreben und religiösen Praktiken dar, die im US-Tele-Evangelismus besonders deutlich zum Ausdruck komme (vgl. ebd.). Die „Consumerist Spirituality“ (ebd.) habe sich in den 1960er Jahren im Zuge der New-Age-Bewegung und der mit dieser einhergehenden Betonung von persönlicher Erfahrung und Selbsthilfeangeboten entwickelt (vgl. ebd.). Neben diesen idealtypischen Darstellungen führen die Autoren den Begriff „Capitalist Spiritualities“ als Orientierungspunkt zur Beschreibung rezenter Formen von Spiritualität ein (vgl. ebd. 20). Dieser Typ zeichne sich durch die „Unterordnung und Ausnutzung von religiösen Themen und Motiven zur Förderung einer individualistischen und unternehmensorientierten Verfolgung von Profit für sich selbst aus [Übersetzung N.B.]“ (ebd.). In diesem Sinne habe sich ‚kapitalistische Spiritualität‘ als Folge auf die Verbreitung des globalen Finanzkapitalismus entwickelt. Sie verbinde traditionelle Religionen mit kapitalistischen Werten und fördere eine sehr eklektische, gelöste und de-traditionalisierte Form von Spiritualität (vgl. ebd. 19). Manche Bewegungen, die aus diesem Kontext heraus entstanden seien, stünden einer bestimmten religiösen Tradition besonders nahe. Im Fokus ihrer Ideen und Lehren stünden jedoch die exklusive Betonung des Selbst und der persönlichen Entwicklung. Selbstverwirklichungsthemen und -techniken würden hier in einem Konglomerat von religiösen Ideen und Praktiken angeboten.
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Der Zusammenhang von Spiritualität und Kapitalismus lässt neue Glaubensausformungen, wie sie im Kontext postmoderner, spiritueller Konstellationen vorzufinden sind, immer wieder in Misskredit geraten (vgl. Zinser 1997, 7). Die Kritik richtet sich häufig gegen die Kommodifikation und das Marketing von spirituellen Inhalten und Praktiken. Im medialen Diskurs um das Kabbalah Centre werden diese Vorwürfe sehr deutlich (vgl. Kühn 2003). Beispielhaft für die Integration und Bestärkung kapitalistischer Werte im religiös-spirituellen Kontext sind die Selbstdarstellung und das Angebot des Kabbalah Centre. Neben dem Auftreten der Kabbalah-Centre-Mitarbeiter, die modisch ganz im Stil des Neo-Kapitalismus auftreten und von professionellen Geschäftsleuten weder in ihrem äußeren Erscheinungsbild noch in ihrem Habitus zu unterscheiden sind, ist auch das Angebot des Kabbalah Centre durchdrungen von diesem Zeitgeist. Seminare zu Kabbalah und Business oder der Bedeutung des Geldes werden zusätzlich zu astrologischen und naturwissenschaftlichen Inhalten gleichermaßen vermarktet. Kabbala und Kabbalah Centre werden zum faith brand, das innerhalb unterschiedlichster weltanschaulicher Agenden vermarktet wird (vgl. Einstein 2008, 147ff.). Spiritualität und Selbst Auch andere Autoren betonen die Konvergenz von Kapitalismus, Religion und Selbst (vgl. Carrette and King 2007; Heelas 1996; Heelas 1999). Paul Heelas betont bereits in den 1990er Jahren den besonderen Stellenwert von Themen des ‚Selbst‘ und der ‚Selbstverwirklichung‘, die sich im Zuge der New-Age-Bewegung mit religiösen Ideen und Praktiken mischen. Diese Vermischungen subsumiert er unter dem Terminus „self-religion“ bzw. „self-spirituality“ (vgl. Heelas 1999) und konstatiert für diese eine enge Verbindung mit der Entwicklung psychotherapeutischer Ansätze und Methoden43 sowie eine Verbreitung mit Schwerpunkt in den USA und Europa (vgl. Rindfleish 2005, 344). Vor allem in den Sozialwissenschaften stellen zahlreiche Autoren einen Zusammenhang zwischen der Abnahme am Interesse an traditionellen Glaubensformen in den westlichen Ländern und dem wachsenden Interesse an Themen, die sich um das ‚Selbst‘ und die Erfahrung einer ‚inneren Spiritualität‘ drehen, fest (vgl. Höllinger and Tripold 2012, 93f.; Rindfleish 2005): „Seit den 1970er Jahren, als alternativ spirituelle und esoterische Selbstfindungs-Praktiken immer populärer wurden und viele anerkannte Psychotherapeuten selbst solche Methoden
43 Diese entwickelten sich vor allem im Kontext der humanistischen Psychologie.
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ausüben und ihren Klienten weiterempfehlen, werden auch holistische Techniken wie etwa Meditation, Yoga oder das chinesische Orakel-Buch I-Ging […] eingesetzt.“ (Höllinger und Tripold 2012, 91)
Jennifer Rindfleish stellt die Entwicklung, die zu der „commodified production of self-actualisation in consumer society“ (Rindfleish 2005, 243) geführt hat, dar und zeigt dabei den Zusammenhang zwischen Themen des „Selbst“, der „Spiritualität“ und der „Konsumgesellschaft“ auf. Anhand der Analyse einzelner „New Age spiritual thinkers“ (ebd. 349) – wie Deepak Chopra, Ken Wilber, Gary Zukav und Shakti Gawain – stellt die Autorin Parallelen „between the concept of technologies of the self and the discourse and practices of the four New Age spiritual thinkers“ (ebd. 357) fest. Sie beschreibt, wie das Selbst von ebendiesen Autoren zur Ware gemacht werde. Das Selbst wird kommodifiziert, indem religiöse Traditionen mit Theorien und Praktiken aus Psychologie und Psychotherapie zu einer eigenen ‚Metatheorie‘ verschmelzen und vermarktet werden (vgl. ebd. 345). In Anlehnung an Michel Foucault, Anthony Giddens und Zygmunt Bauman zeigt Rindfleish auf, dass sich im Kontext der Konsumgesellschaft große Unsicherheiten in Hinblick auf die eigene Identität entwickeln, die ein Bedürfnis schaffen, welches von NewAge-Autoren erfüllt wird (vgl. ebd.). Diese Autoren träten als „identity experts“ (nach Bauman 1997, 178; vgl. Rindfleish 2005, 348) auf, die genau diese Bedürfnisse ihrer ‚Konsumenten‘ nach einem bestimmten Weg der Selbsterfahrung erfüllten (vgl. Rindfleish 2005, 346). Das ‚Selbst‘ werde sozusagen zur Ware gemacht und unterliege damit den Marktprozessen (vgl. ebd.).44 Der Faktor des sogenannten therapeutischen Diskurses45 (vgl. Illouz 2009; Madsen 2014) bzw. des psy discourse (vgl. Rose 1996, 10ff.), der die Betonung des ‚Selbst‘ durch die Verbreitung von Techniken der Selbstoptimierung und Selbsterkenntnis forciere, wird von einigen Autoren hervorgehoben. Von einem „regime of the self“ (ebd. 2) in der gegenwärtigen westlichen Welt spricht dabei
44 Jennifer Rindfleish kritisiert diese Prozesse und weist darauf hin, dass das Herauslösen einzelner Teile aus komplexen religiösen Traditionen zu einer bruchstückhaften und oberflächlichen Behandlung dieser Theorien und Glaubenssysteme führe und somit Bedeutungen reduziert und dekontextualisiert werden (vgl. Rindfleish 2005, 345f.). 45 Mit dem Ausdruck „therapeutischer Diskurs“ meint Eva Illouz sowohl „ein formales Wissenssystem, das durch klare disziplinäre Grenzen und Regeln der Textproduktion gekennzeichnet ist, von offiziellen Institutionen hervorgebracht und von professionellen Netzwerken […] getragen wird, als auch ein informelles, amorphes und diffuses kulturelles System, das sich in den alltäglichen kulturellen Praktiken und Selbstverständnissen der Menschen niederschlägt“ (Illouz 2009, 25).
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Nikolas Rose, der die historischen Entwicklungen der „invention of the self“ (ebd. 3) in Hinblick auf die Bedeutung von Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie analysiert und dabei die historische und soziale Bedingtheit betont, die das moderne ‚Selbst‘ konstituiert (vgl. ebd. 9). Einen kulturwissenschaftlichen Zugang zu diesem Thema wählt die israelische Soziologin Eva Illouz in ihrem Werk Die Errettung der modernen Seele (2009), in dem sie die historische Entwicklung aufzeigt, „in der der therapeutische Diskurs die Sprache des Selbst immer stärker prägte“ (Illouz 2009, 23). Illouz betont die Bedeutung der Sprache zur Konstitution des Selbst (vgl. ebd. 24). Aufgrund der Entwicklung psychotherapeutischer und psychologischer Methoden seit den 1960er Jahren, wurden Themen des ‚Selbst‘ und der Selbstverwirklichung auch im religiösen Bereich forciert, so Andrew Dawson (vgl. Dawson 2011, 309f.). In diesem Zusammenhang erfährt auch der Körper und die physische Welt im religiösen Bereich eine Aufwertung, da er den Ort der ‚spirituellen Selbsterfüllung‘ darstellt (vgl. ebd.). Ganz im Weber’schen Sinne, wie es in der protestantischen Ethik zum Ausdruck gebracht wird (vgl. Weber 1993 [1904/1905]), erfährt materieller Erfolg als Zeichen des ‚spirituellen‘ Erfolges eine neue Bedeutung. Weltliche Dinge – wie physisches Wohlbefinden und finanzieller Erfolg – stellen somit quasi einen Indikator für die spirituelle Entwicklung dar (vgl. Dawson 2011, 314f.).46 Kritik an der Kommodifizierung von Religion Die Verbindung von Konsumorientierung, therapeutischen und spirituellen Themen hat sowohl im öffentlichen Diskurs47 als auch innerhalb kultur- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen Kritik hervorgerufen. Insbesondere Sozialwissenschaftler sehen in dem oben dargestellten Anspruch der religiösen Akteure ihr ‚Selbst‘ zu entwickeln oder zu verwirklichen einen „Bluff“, den Therapeuten und auch religiöse Ratgeber ausnutzen, um sich selbst zu vermarkten (vgl. Prisching
46 Die Aufwertung von materiellen Themen wie finanzieller und beruflicher Erfolg sowie körperlicher und psychischer Gesundheit wird auch in der Selbstdarstellung des Kabbalah Centre hervorgehoben, wie am Bespiel diverser Vortragstitel wie Die Macht des Geldes oder Die DNS des Erfolges deutlich wird. 47 Der Hauptkritikpunkt am Kabbalah Centre, der in den Medien am deutlichsten zum Ausdruck kommt, ist der Vorwurf der „Geldmacherei“. Kabbala und Euros lautet der Titel eines reißerischen Artikels, der 2003 im Spiegel erschienen ist (vgl. Kühn 2003). Auch in der taz wird die vermeintlich konsumorientierte Haltung des Kabbalah Centre kritisiert, welches seinen Konsumenten eine „McSpirituality“ näher bringe (vgl. Hyams 2004).
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2009, 142). Anknüpfend an die Kritik am „therapeutischen Weltbild“ (Illouz 2009, 11), wie sie von Autoren wie Christopher Lasch (1980) und Michel Foucault (1976)48 vorgebracht wurde, spricht der Grazer Soziologe Manfred Prisching von der Täuschung, die dem Erlernen der Selbstfindungstechniken zugrunde liege (vgl. Prisching 2009, 142). Diese diene letztendlich nur der Formung und Produktion „marktgängiger Selbste“ (ebd.): „Identität und Individualität sind nur durch Typisierung und Stilisierung fassbare Verfahren, die den Originalitätsgehalt individualisierter Personen beträchtlich reduzieren. Die Flickschusterei an der Bastelexistenz richtet sich nach den Beipackzetteln und ihren Montageanleitungen. [...] Die Inszenierung der eigenen Person erfordert eine strikte Einhaltung von Mustern und Regeln, mithilfe derer Individualität gebastelt und dargestellt werden kann.“ (Prisching 2010, 142)
Damit ist ein „genereller Konsumismusvorwurf“ (Höllinger and Tripold 2012, 98) verbunden, der sich auf der Ebene der Anbieter direkt gegen die vermeintliche Profitgier richtet, die diesen Anbietern unterstellt wird (vgl. ebd. und Rindfleish 2005, 345). Auf der Ebene der ‚Konsumenten‘ richtet sich der Vorwurf auf die vermeintliche Naivität der Akteure, denen die Annahme unterstellt wird, dass sie sich ihre ‚Spiritualität‘ bzw. ‚Selbstverwirklichung‘ relativ einfach kaufen können (vgl. Carrette und King 2007; Höllinger und Tripold 2012, 98f.). Dementsprechend stellen Franz Höllinger und Thomas Tripold fest, dass mit dem Konsumismusvorwurf meist die Assoziation der „Passivität des Konsumenten“ (Höllinger und Tripold 2012, 98) verbunden sei: „So wird beispielsweise oft der aktive Buchleser dem passiven Fernsehkonsumenten gegenübergestellt“ (ebd.). Neben dem Kritikpunkt der ‚Vortäuschung‘ von individueller Selbstentfaltung zugunsten einer Manipulation des Einzelnen an die Bedürfnisse des Marktes, kritisieren andere Autoren den vermeintlich narzisstischen Charakter der ‚Selbst-Bewegung‘, die die Bedürfnisse des Einzelnen ins Zentrum rücke und gesellschaftliche, gesellschaftspolitische und gemeinschaftliche Belange diesen untergeordnet sehe (vgl. Bellah 2008; Höllinger und Tripold 2012; Lasch 1980). So entwickeln
48 In seinem berühmten Werk Überwachen und Strafen zeigt Michel Foucault mithilfe der Historisierung des therapeutischen Diskurses auf, wie durch die Psychoanalyse, die als ‚das‘ Kulturprojekt der Selbstbefreiung dargestellt wird, Akteure einem Machtsystem unterworfen werden (vgl. Illouz 2009, 12f.; Foucault 1976).
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Robert Bellah et al. in ihrer Studie mit dem Titel Habits of the Heart den polemischen Ausdruck „Sheilaismus“49, um die quasi-narzisstische Form von Religiosität zu umschreiben, die sich durch den hervorgehobenen Stellenwert von psychotherapeutischen Themen in den USA entwickelt habe und der zufolge es zu einer besonderen Betonung der Autonomie des Einzelnen auf Kosten sozialer Verpflichtungen und Erwartungen komme (vgl. Bellah 2008, 130f.; Höllinger und Tripold 2012, 94). Abgesehen von dem Narzismusvorwurf werden außerdem „die Leichtigkeit und Leichtfertigkeit, mit der sich die spirituellen Sucher“ (Höllinger und Tripold 2012, 96) sehr beliebig das herauspicken, was sie gerade brauchen, kritisiert (vgl. Höllinger und Tripold 2012, 96). Diese Kritiken spiegeln auch den medialen Diskurs über das Kabbalah Centre wieder. Hier wird auf Akteurs-Ebene oft Leichtfertigkeit, Beliebigkeit und Oberflächlichkeit unterstellt (vgl. Finke 2005; Huss 2004). Zur religionswissenschaftlichen Umsetzung eines ökonomischen Modells Faith Brand und Identität im Kabbalah Centre Die US-amerikanische Medienwissenschaftlerin und Marketingexpertin Mara Einstein zeigt in ihrer Studie Brands of Faith (2008) explizit auf, wie Religion in einem kommerziellen Zeitalter vermarktet wird und analysiert die Beziehung zwischen Religion und Marketing. Sie geht dabei von der Annahme eines ‚religiösen Marktes‘ aus, den sie als Teil des Freizeitmarktes sieht50 (vgl. Einstein 2008, 36; Koch 2014, 149). In Bezug auf Fragen nach der Rolle von Marketing im religiösen Bereich und nach Konsequenzen einer möglichen ‚Massenvermarktung‘ von Religion, stellt Einstein die These auf, dass religiöse Produkte zu faith brands würden. Brand, das ins Deutsche mit dem Begriff ‚Marke‘ übersetzt werden kann, definiert sie folgendermaßen: „Brands are commodity products that have been given a name, an identifying icon or logo, and usually a tagline as a means to differentiate them from other products in their category“ (ebd. 12). Säkulare und religiöse Konsumenten (Anhänger von Marken und Anhänger von religiösen Organisationen) wiesen, so Einstein, ähnliche Verhaltensmuster (ritueller Vollzug) und Vergemeinschaftungsformen auf (vgl. Koch 2014, 159). Zudem könnten
49 Der Begriff „Sheilaismus“ wurde in Anlehnung an ein Interview mit einer Frau namens „Sheila“ entwickelt, die in Bezug auf ihren Glauben ihre persönliche Autorität in Glaubensfragen betonte (vgl. Höllinger/Tripold 2012: 94). 50 Ihre Analysen beziehen sich dabei ausschließlich auf den US-amerikanischen Bereich.
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Ähnlichkeiten in Bezug auf die Identifikation mit dem sogenannten faith brand und die Integration einzelner Elemente des brand in das Selbstbild festgestellt werden.51 Einstein geht von der Annahme aus, dass Religion ein Produkt52 wie jedes andere sei und Religionen in Folge dessen wie andere Produkte vermarktet würden. Ihrer Argumentation folgend werde Religion in der Gegenwart beworben und vermarktet wie – historisch betrachtet – noch nie zuvor.53 Kirchen würden beispielsweise auf Plakatwänden sowie mittels Printmedien werben und auch die neuen Medien wie Radio, Fernsehen und Internet kämen dabei gezielt zum Einsatz (vgl. Einstein 2008, 5). Als Folge des Transformationsprozesses, welcher durch die Nutzung neuer Medien im religiösen Bereich in Gang gesetzt worden sei, stellen laut Einstein traditionelle religiöse Institutionen nicht mehr die einzige Quelle für ein religiöses und spirituelles Angebot dar (vgl. ebd.). Infolge dessen konstatiert auch diese Autorin eine Veränderung des religiösen Feldes: „religion as practiced in the United States is an autonomous, self-orientated religion“ (ebd. 6). In weiterer Folge komme es zu einer Veränderung der Bedürfnisse der Konsumenten im religiös-spirituellen Bereich. Religion sei durch den Einsatz von neuen Medien nicht mehr unbedingt an Zeit und Raum gebunden, dennoch stelle die ‚Erfahrungsdimension‘ – z.B. ein Kirchenbesuch – weiterhin einen bedeutsamen Faktor für die religiöse Praxis dar (vgl. ebd. 8). In diesem Kontext werde die Ebene der Unterhaltung aufgewertet: „traditional and nontraditional institutions have to compete with more entertaining forms of religious practice“ (ebd.). Auf die Erwartungshaltung der religiösen Akteure nach Unterhaltung antworteten die ‚religiösen Produzenten‘ mit dem Einsatz musikalischer Elemente, dramatischer Präsentationen sowie dem Versprechen einer persönlichen Verbindung mit
51 Auf Seite der religiösen Anbieter stehe wiederum das „Markieren von Produkten“ (Koch 2014, 148) im Vordergrund. 52 Hier ist anzumerken, dass Einstein Religion als ein „Allerweltsprodukt“ (commodity product) bezeichnet. Sog. commodities zeichnen sich dadurch aus, dass sie inhaltlich nur schwer voneinander unterscheidbar sind und deshalb eine besondere Herausforderung für die Vermarktung darstellen. Beispiele wären Zucker, Mehl, Strom, Benzin, usw. 53 Mara Einstein weist dennoch explizit darauf hin, dass das ‚Marketing‘ von Religion religionsgeschichtlich betrachtet nichts Neues ist, da dies seit der Erfindung des Buchdruckes in der ein oder anderen Weise geschieht. Neu ist jedoch die Art und Weise, wie Religion vermarktet wird; mit dem Einsatz neuer Technologien wie Internet, Fernsehen und anderen neuen Medien (vgl. Einstein 2008, 1ff.)
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Gott (vgl. ebd.). Innerhalb dieser Entwicklungen müssten sich religiöse Anbieter als ‚wertvolle Ware‘ präsentieren und produzieren, um konsumiert zu werden (vgl. ebd. 9). Vor diesem Hintergrund zeigt Einstein auf, wie religiöse Organisationen faith brands entwickeln, indem sie ihre eigenen Logos, Namen, Persönlichkeiten und Slogans produzieren (vgl. ebd. xi): „Faith brands, like their secular counterparts, exist to aid consumers in making and maintaining a personal connection to a commodity product“ (ebd.). Das Kabbalah Centre als Faith Brand Faith brands, wie Kabbalah Centre und Kabbala (vgl. ebd. 147), sind demzufolge ebenso Produkte, die sich deutlich von ähnlichen Produkten durch den Namen, ein spezifisches Logo und bestimmte stories, die um das Produkt herum konstruiert werden, unterscheiden (vgl. ebd. 12f.). Persönlichkeiten, wie beispielsweise die Popsängerin Madonna, werden als humanizing icon (vgl. ebd. 165) inszeniert, um damit ein bestimmtes Publikum anzuziehen, welches sich wiederum mit diesem brand identifiziert. In weiterer Folge haben brands somit Einfluss auf die Konstruktion der personalen Identität (vgl. ebd. 13). Einstein spricht in diesem Zusammenhang von „brands as badges“ (ebd.) und betont, dass immer genau jene brands konsumiert würden, welche in das eigene Identitätsmodell passen. Gleichzeitig konstruieren Konsumenten gezielt ihre personale Identität mit dem Konsum des stimmigen religiösen Produktes. Auf der Ebene der religiösen Organisationen wird mittels branding Identität konstruiert. Brands können in diesem Sinne also als Identitätsmarker gesehen werden. James Twitchell, der sich in seinem Werk Branded Nation. The Marketing of Megachurch, College Inc., and Museumworld (2005) ebenfalls ausführlich mit dem Prozess des branding befasst hat, beschreibt dieses als einen „commercial process of storytelling“ (Twitchell 2005, 2). Der wesentliche Aspekt von branding ist also das Erzählen von Geschichten zu einem bestimmten Produkt, um es von anderen, ähnlichen Produkten, abzugrenzen: „In the modern world there is often little difference between products and services in the same category. The only thing that differs is the story. Branding […] is the application of a story to a product or a service and […] is utilized whenever there is a surplus of interchangeable goods.“ (Ebd. 4)
Der Prozess des ‚Geschichtenerzählens‘ ist für das Marketing eines Produktes von besonderer Bedeutung. Folgt man Twitchells Argumentation, so werden Produkte nicht um ihrer selbst willen konsumiert, sondern wegen der Geschichte, die sie
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erzählen, dem brand (vgl. ebd. 10). In weiterer Folge – so der Autor – wird mit dem Konsum eines brand eine Erfahrung vermittelt (vgl. ebd. 11) und das brand wird selbst zur Erfahrung: „the brand became more than a promise of experience; it became the experience itself“ (ebd. 18). Die Entscheidung, welche ‚Erfahrungen‘ von den Akteuren konsumiert werden, führt Twitchell auf deren Lifestyle zurück (ebd. 26). Konsumenten entscheiden sich demnach immer für ein bestimmtes brand, das mit ihrem eigenen Selbstbild übereinstimmt. Menschen kaufen also immer Produkte, deren ‚Geschichte‘ mit der eigenen Geschichte vereinbar ist (vgl. ebd. 25f.). Auf der anderen Seite – so Twitchell – treten Menschen mit dem Konsum eines brand in eine Gemeinschaft ein, stärken somit das Zugehörigkeitsgefühl zu dieser. Diese „brand community“ (ebd. 21) entstehe sozusagen um bestimmte brands herum, indem sich Akteure, die einen ähnlichen Lifestyle teilen, mit dem brand identifizieren. Brands konstruieren und stärken also das ‚Zugehörigkeitsgefühl‘ zu einer bestimmten Gruppe, welches durch den regelmäßigen ‚Konsum‘ des brand und die Auseinandersetzung damit verstärkt wird (vgl. ebd. 21). Welche stories um das Kabbalah Centre gebildet werden, um es zu einem international erfolgreichen Marktunternehmen zu machen, diskutiert Einstein bereits punktuell in ihrer Arbeit. Sie zeigt den Prozess des faith brandings explizit am Beispiel der Vermarktung des Kabbalah Centre in den USA auf und diskutiert die Frage, wie eine alte jüdische Tradition zur Ware gemacht wurde: „Through classes, products, and a cultivated relationship with Hollywood, the Kabbalah Centre has turned ‚Kabbalah‘ into a household name – a brand. The Centre has repackaged and simplified this practice to be sold to the masses, Jew and non-Jew alike.“ (Einstein 2008, 147)
In dieser Arbeit wird daran anknüpfend der Frage nachgegangen, wie das deutschsprachige Kabbalah Centre Germany als faith brand konstruiert wird und welche Strategien des Marketings und der Werbung dazu eingesetzt werden. Des Weiteren wird in dieser Arbeit die Frage diskutiert, welcher Zusammenhang zwischen branding und Identität besteht. Es wird dabei aufgezeigt werden, wie das Kabbalah Centre Germany zu einem brand wird, welche Geschichten dazu konstruiert und inszeniert werden und welchen Einfluss der Konsum dieses brand auf die religiöse Identitätskonstruktion der Akteure hat, die es konsumieren. Folgende Thesen wurden dazu entwickelt: • These 1: Branding als ‚storytelling‘ (vgl. Einstein 2008; Twitchell 2005) ist eine
Form der narrativen Identitätskonstruktion (vgl. Keupp 2008).
98 | K ABBALA UND RELIGIÖSE I DENTITÄT • These 2: Bestimmte brands werden konsumiert, um ein kohärentes Selbstbild
zu erzeugen. • These 3: Brands fungieren als Identitätsmarker, um die sich Gruppen bilden
können, die einen ähnlichen Lifestyle pflegen, und stärken das Zugehörigkeitsgefühl zu dieser Gruppe. Die Umsetzung dieses ökonomischen Ansatzes auf Fragen nach religiöser Identitätskonstruktion trägt in dieser Arbeit dazu bei, die Frage nach Religion, Religiosität und Spiritualität um eine religionsökonomische Perspektive zu erweitern. Die Analyse von Kommodifizierungsprozessen von Religion wurden bisher marginal erforscht (vgl. Twitchell 2005, 4). Daher ist die Integration religionsökonomischer Modelle in der religionswissenschaftlichen Forschung von besonderer Wichtigkeit. Die Notwendigkeit der Erweiterung religionswissenschaftlicher Theorien mittels (religions-)ökonomische Modelle wird am Fallbeispiel Kabbalah Centre deutlich: Neben dem Einsatz von Werbung und Marketingstrategien macht das Kabbalah Centre mit öffentlichen Auftritten, die oft in Verbindung mit berühmten Persönlichkeiten wie Madonna, Britney Spears, Ashton Kutcher u. a. stehen, auf sich aufmerksam. Das Kabbalah Centre kann in diesem Kontext also als Produkt54 gesehen werden, welches sich deutlich von ähnlichen religiösen Produkten durch seinen Namen, sein Logo, bestimmte stories und Persönlichkeiten als humanizing icon abgrenzt. Damit zieht es gezielt ein bestimmtes Publikum an, welches sich wiederum mit eben dieser Marke identifizieren kann. Somit übt das brand Einfluss auf die Konstruktion der personalen Identität aus. Hier wird nun diskutiert, wie das Kabbalah Centre vermarktet wird, welche Strategien der Selbstdarstellung dabei verfolgt wird, um dadurch ein bestimmtes brand, also ein bestimmtes Markenzeichen, zu produzieren. Es wird hier die These vertreten, dass mit gezielten Werbe- und Marketingstrategien eine kollektive Identität geschaffen wird, die in Form eines faith brand wiederum von den religiösen Akteuren konsumiert wird und auf diese Weise zur eigenen personalen Identitätskonstruktion der Akteure beiträgt. Die Analyse von faith brands, die hier umgesetzt wird, kann zu einer umfassenden Darstellung religiöser Identitätsbildungsprozesse sowohl auf kollektiver als auch auf personaler Ebene beitragen. Die Analyse von Marketingstrategien und Vermarktungsprozessen lassen daher Rückschlüsse auf zeitgenössische Spiritualität, Religiosität und Positionierungsprozesse auf Organisations- und Akteursebene zu.
54 Es darf aber keinesfalls auf ein Produkt reduziert werden. Ökonomische Ansätze stellen hierbei eine Erweiterung/Ergänzung religionswissenschaftlicher Theorien dar.
Methodischer Zugang
M ULTIMETHODISCHE ANSÄTZE IN DER E RFORSCHUNG VON G EGENWARTSRELIGIOSITÄT In den letzten Jahrzehnten vollzieht sich in einer überwiegend religionshistorisch und philologisch orientierten Religionswissenschaft eine Neubewertung transdisziplinärer Forschungsmethoden (vgl. Murken 2009, 12). Während man sich in der Religionswissenschaft lange Zeit vorrangig mit historischen Quellen und den sogenannten Buchreligionen beschäftigte, verändert sich in den letzten Jahren der Fokus in Hinblick auf die Erforschung „gelebte[r] Religion[en]“ (Knoblauch 2003, 25). Diese Verschiebung des Forschungsfokus erfordert auch ein methodisches Umdenken bezüglich der Integration qualitativer Methoden. Insbesondere diese erfahren durch die Adaption sozialwissenschaftlicher1 und ethnologischer Ansätze in den letzten Jahren eine Aufwertung (vgl. ebd. 25ff.). Ethnographische Methoden, die hauptsächlich in der US-amerikanischen Sozialforschung entwickelt wurden, blieben im deutschsprachigen Raum lange Zeit ein Desiderat (vgl. ebd. 22). Während die ‚multikulturelle‘ Situation in den USA den Einsatz ethnographischer Methoden zum umfangreichen „Verstehen des An-
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Ethnologische Forschungsmethoden wie die Ethnographie etablierten sich erst in den 1930er Jahren in der sozialwissenschaftlichen Forschung und wurden erst danach in den Methodenkanon der Sozialwissenschaften aufgenommen. Einen besonderen Stellenwert kommt hierbei der Methode der ‚teilnehmenden Beobachtung‘ zu. Die teilnehmende Beobachtung hat sich seit der Untersuchung William Foote Whytes über eine Gruppe italienischer Zuwanderer in einem Stadtteil in Boston, die erstmals 1943 mit dem Titel Street Corner Society veröffentlicht wurde, zu einer zentralen sozialwissenschaftlichen Methode entwickelte.
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deren“ (ebd.) in der eigenen Gesellschaft erforderte, etablierten sich diese Methoden im deutschsprachigen Raum erst seit den 1970er Jahren in der Sozialforschung aufgrund der zunehmenden „Pluralisierung der Lebenswelten“ (ebd. 23): „Diese neu entstehenden Wirklichkeiten lassen sich nicht mit standardisierten Methoden erfassen, da eben jene dazu erforderlichen ‚Standards‘ der Lebensführung nicht verfügbar sind. Es bedarf vielmehr einer qualitativen Sozialforschung, die offen für die Erfassung der Andersheit und Neuheit dieser Formen ist.“ (Ebd.)
Auch in der Religionswissenschaft stehen die Forscher vor der Aufgabe, die immer komplexer werdenden, religiösen Lebenswelten zu erforschen. Ähnlich wie in den Sozialwissenschaften lag jedoch der Fokus auch hier bisher auf der Bearbeitung von Textmaterial, das entweder in Form von religiösen Textquellen oder Interviewdaten vorlag, und meist hermeneutisch interpretiert wurde (vgl. ebd. 28). In Hinblick auf rezente religiöse Konstellationen besteht die Möglichkeit „gegenwärtig existierende Formen religiösen Lebens in Augenschein zu nehmen, am eigenen Leib zu erfahren und von innen heraus zu beschreiben“ (ebd. 29). Gerade bei der Analyse und Erforschung von ‚gelebter‘ Religion, die die Möglichkeit des Kontaktes zwischen Forscher und Forschungsgegenstand bietet, stellt dieser Feldkontakt eine erweiterte Möglichkeit dar die Lebenswelt der Akteure von „innen heraus“ (Flick, Kardorff und Steinke 2005a, 14) zu verstehen und zu beschreiben: „Qualitative Forschung hat den Anspruch, Lebenswelten ‚von innen heraus‘ aus der Sicht der handelnden Menschen zu beschreiben. Damit will sie zu einem besseren Verständnis sozialer Wirklichkeit(en) beitragen und auf Abläufe, Deutungsmuster und Strukturmerkmale aufmerksam machen. Diese bleiben Nichtmitgliedern verschlossen, sind aber auch den in der Selbstverständlichkeit des Alltags befangenen Akteuren selbst in der Regel nicht bewusst. Mit ihren genauen und ‚dichten‘ Beschreibungen bildet qualitative Forschung weder Wirklichkeit einfach ab, noch pflegt sie einen Exotismus um seiner selbst willen.“ (Ebd.)
Mittels einer „dichten Beschreibung“ (vgl. Geertz 2009) kann die Perspektive der Akteure so detailliert und umfangreich wie möglich (deshalb „dicht“) beschrieben werden (vgl. Knoblauch 2003, 30). Im Gegensatz zu standardisierten, quantitativen Forschungsmethoden zeichnen sich qualitative Methoden durch den offenen Zugang zum Feld aus, der es erlaubt, flexibel auf unerwartete Forschungsfragestellungen oder Probleme zu reagieren, da je nach Fokus der Forschung ein bestimmtes Vorwissen nicht notwendig oder einer möglichst wertneutralen Forschung sogar im Wege stünde.
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Vor dem Hintergrund einer komplexer werdenden religiösen Gegenwartslandschaft (vgl. Baumann und Behloul 2005; Hero 2008b; Kippenberg und Stuckrad 2003, 126ff.) erlauben gerade qualitative Methoden einen flexiblen und sensiblen Zugang zum jeweiligen religiösen Feld. Durch die Anwendung von ethnographischen Methoden, wie der Feldforschung (vgl. Girtler 2001) oder der teilnehmenden Beobachtung (vgl. Lamnek 2005), wird die Betonung des eigenen Erlebens des Forschers durch persönliche Anteilnahme zudem neu bewertet (vgl. Murken 2009, 22; Prohl 2006, 55). So ist der Forscher während der teilnehmenden Beobachtung aktiv in das Geschehen involviert und kann somit auch die Sinneseindrücke, die durch die religiösen Praktiken hervorgerufen werden, im Sinne eines religionsästhetischen Zuganges methodisch reflektieren und zum Objekt seiner Forschung machen (vgl. Prohl 2006, 55ff.).2 Am Fallbespiel der Erforschung des Kabbalah Centre wird in dieser Arbeit ein multimethodischer Ansatz angewandt, der ethnographische Methoden mit Methoden der Textanalyse kombiniert. Mittels leitfadengestützter Interviews werden die aus der Feldforschung gezogenen Erkenntnisse überprüft und vertieft sowie durch die Analyse des generierten Textmaterials, das aus audiovisuellen Aufzeichnungen, Feldforschungsprotokollen, Publikationen, Schriftverkehr und Werbematerial besteht, in einen weiteren Kontext eingeordnet, um ein tieferes Verständnis der Intentionen und Motivationen der religiösen Akteure zu gewinnen. Der Rückgriff auf einen multimethodischen Zugang zur Generierung des empirischen Materials, das in Hinblick auf eine „dichte Beschreibung“ (vgl. Geertz 2009) des Forschungsgegenstandes von wissenschaftlichem Interesse ist, ist durch den Mangel vorhandener Daten gerechtfertigt. Das Kabbalah Centre wurde bislang kaum von der akademischen Forschung wahrgenommen, weshalb in einem
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An dieser Stelle muss betont werden, dass eine solche Herangehensweise mit besonderer Vorsicht und ständiger Reflexion verbunden sein muss. Methoden, die vom Forschenden quasi das Nachvollziehen religiöser Intentionen oder gar Gefühle fordern, sind innerhalb der Religionswissenschaft sehr kritisch zu betrachten bzw. insofern abzulehnen, da phänomenologische Methoden – wie sie u. a. von Rudolf Otto (1997 [1917]) oder Gerardus van der Leeuw (1933; 1961) starkgemacht wurden – religiöse Implikationen und metaphysische Spekulationen transportieren können, die wissenschaftlich nicht tragbar sind (vgl. Hock 2008, 56ff.; Stolz 1988, 221ff.). Dass Methoden, die das Erleben des Forschers in die wissenschaftliche Reflexion miteinbeziehen, eine Neubewertung innerhalb der deutschsprachigen Religionswissenschaft erfuhren, verdankt sich u. a. dem um die Arbeiten von David Howes entstandenen Diskurs der „Anthropologie der Sinne“ (vgl. Howes 1991; vgl. dazu auch Lanwerd 2002; Münster 2001; Prohl 2006, 56).
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ersten Forschungsschritt Daten zum Kabbalah Centre erhoben wurden. Diese bestehen in erster Linie aus Medienberichten, einem Artikel der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (vgl. Finke 2005), vereinzelten wissenschaftlichen Aufsätzen sowie den sehr spärlich vorhandenen Publikationen zu dem Thema. Da diese Arbeit einen Fokus auf die Akteursebene legt und sich für die religiösen Identitätskonstruktionen der Akteure interessiert, wurde in einem weiteren Schritt, mittels qualitativer Interviews, Material erhoben. In einem dritten Schritt wurden Materialen des Kabbalah Centre gesammelt und ausgewertet. Publikationen, offizielle Internetauftritte, die Social-Media-Präsenz, Werbematerialien, Flyer, Werbemails sowie E-Mail-Schriftverkehr wurden für die Analyse der Selbstdarstellung des Kabbalah Centre genutzt. Die zweijährige Phase der Feldforschung, die von unterschiedlichen Phasen der intensiven Partizipation im Feld gekennzeichnet war, diente einerseits der Gewinnung eines ‚Überblicks‘ über den Forschungsgegenstand wie auch erster Eindrücke über die Organisation, Struktur und Dynamiken des Kabbalah Centre. Zudem bot diese Phase die Möglichkeit der Herstellung von Kontakten zu Interviewpartnern, der Konkretisierung der Forschungsfragestellungen, der Entwicklung eines umfangreichen Fragenkataloges und der Bildung der Forschungshypothesen.
E THNOGRAPHISCHE M ETHODEN IN DER R ELIGIONSWISSENSCHAFT Da die Fragestellung in einem bisher noch wenig erschlossenen Forschungsfeld3 angesiedelt ist, wurden qualitative Methoden (Diekmann 2000; Flick, Kardorff und Steinke 2005b; Knoblauch 2003; Mikos und Wegener 2005) zum Einsatz gebracht, die sich für die explorative Erschließung von neuen Forschungsfeldern besonders eignen, weil sie, wie bereits angedeutet, die nötige Offenheit gegenüber dem Gegenstand gewährleisten (vgl. Mayring 2002). Aus der Vielfalt von Datenerhebungs- und Datenauswertungsmethoden, welche unter dem Dach der qualita-
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Neben der Tatsache, dass das Kabbalah Centre aus den bereits genannten Gründen kaum von der Forschung wahrgenommen wurde, wenngleich es ein beachtliches Unternehmen darstellt, soll auch darauf hingewiesen werden, dass gegenwärtige Religionen trotz der enormen öffentlichen Debatten kaum Beachtung in der Religionsforschung finden.
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tiven Forschungsmethoden versammelt sind, wurde insbesondere die offene teilnehmende Beobachtung als zentrales Werkzeug ethnographischen Arbeitens eingesetzt. Wie bereits beschrieben, wurden ethnographisch orientierte Forschungsmethoden vor allem im deutschsprachigen Raum lange Zeit sehr marginal betrachtet und nur von wenigen Autoren angewandt und erforscht. Einer dieser Autoren war der österreichische Soziologe und Kulturanthropologe Roland Girtler (1980). Dieser ‚Pionier‘ der qualitativen Sozialforschung entwarf ein umfangreiches Konzept der teilnehmenden Beobachtung, welches sich durch die Einführung der sogenannten „ero-epischen Gespräche“4 (Girtler 2001, 147ff.) von anderen Ansätzen unterscheidet. Diese in der akademischen Forschung nicht ganz unumstrittene Methode (vgl. Laack 2011, 59f.) ermöglicht es, die im Zuge des Feldkontaktes beiläufig entstandenen Gespräche in den Forschungsprozess miteinzubeziehen (vgl. Girtler 2001, 147ff.). In der deutschsprachigen Religionswissenschaft etablierten sich ethnographische Forschungsmethoden erst in den letzten Jahren. Allen voran ist hier Hubert Knoblauch zu nennen, der die besondere Dringlichkeit ethnographischer Forschungsmethoden in der Religionsforschung betont (vgl. Knoblauch 2003), welche die persönliche Partizipation des Forschenden fordern (vgl. ebd. 28). Knoblauch weist darauf hin, dass „die besonderen Möglichkeiten bei der Erforschung der lebendigen Gegenwartsreligion“ (ebd.) bisher ungenutzt blieben.5 Da qualitative Methoden eine besondere Nähe zum Forschungsgegenstand erfordern, ist hier eine hohe Reflexionsfähigkeit gefragt, um nicht eigene Wertungen oder gar ‚apologetische‘ Intentionen in den Forschungsprozess miteinzubeziehen. Auch wenn das Prinzip der ‚Werturteilsfreiheit‘ – wie es von Max Weber (1988) postuliert wurde – in dem Sinne, dass „sich die Wissenschaft der Werturteile ihres Gegenstandsbereiches enthalten sollte“ (Knoblauch 2003, 40) tatsächlich nur
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Girtler entwickelte den Begriff „ero-episches Gespräch“ in Anlehnung an Homers Methode der kunstvollen Verschmelzung von Fragen und Erzählungen (vgl. Girtler 2001, 151), in der sowohl der Forscher als auch der Gesprächspartner nach dem „Prinzip der Gleichheit“ (ebd. 147) die Rolle des Erzählens aber auch des Fragens einnehmen können ( vgl. ebd.). Er leitet den Begriff ero-episch von den griechischen Begriffen erotema (Frage) und epos (Erzählung) ab. Ziel der Methode ist es eine lockere und persönliche Gesprächssituation, in der der/die GesprächspartnerIn angeregt wird von sich selbst zu erzählen, herzustellen (vgl. Girtler 2001, 147ff.).
5 Hubert Knoblauch weist hier drauf hin, dass in der qualitativen Religionsforschung Daten hauptsächlichen mittels Interviews generiert werden und Feldkontakt meist bewusst vermieden wird (vgl. Knoblauch 2003, 28).
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schwer einhaltbar ist, so sollte dies doch als Leitprinzip über jeder wissenschaftlichen Arbeit stehen (vgl. ebd. 40f.). In der religionswissenschaftlichen Forschung wird daher von einigen Autoren (vgl. u.a. Berger 1973; Knoblauch 1999; Knoblauch 2003) ein „methodologischer Agnostizismus“6 gefordert, der jedem wissenschaftlichen Forschungsprozess vorausgehen sollte. Dieser Begriff betont in Anlehnung an Peter L. Bergers Begriff des „methodologischen Atheismus“ (Berger 1973, 98 und 170) vor allem, dass Wissenschaftler Aussagen über höhere bzw. göttliche Mächte weder bestätigen noch widerlegen können, sondern einklammern müssen. Der methodologische Agnostizismus fordert also ein, dass „wir [Forscher] von der Existenz der Glaubensvorstellungen ausgehen können, ohne die Wirklichkeit dessen, was geglaubt wird, anerkennen zu müssen, zu sollen – und zu dürfen“ (Knoblauch 2003, 41). Da es während der teilnehmenden Beobachtung unumgänglich ist, dass der Forscher aktiv an den angebotenen Aktivitäten – z. B. Meditation, Formen des Gebetes, rituelle Handlungen etc. – teilnimmt, etabliert die Religionswissenschaftlerin Inken Prohl den Begriff der „distanzierten Teilhabe“ (vgl. Prohl 2006, 56f.). Dieser weist darauf hin, dass „der Forscher aktiv an Aktivitäten teilnimmt und zugleich versucht, sich als distanzierter Beobachter ein Bild von ihrer [der zu untersuchenden Gruppe] sozialen Realität zu machen“ (ebd. 56). Der Vorteil der Analyse von Gegenwartsreligion liegt also vor allem darin, dass Anhänger nach ihren Ansichten und Intentionen direkt befragt werden können (vgl. ebd. 54). In den letzten Jahren wurde außerdem der Fokus auf die „materielle Ausstattung religiöser Praxis“ (ebd.) gerichtet, um beispielsweise Erkenntnisse über die Funktion von Gewändern oder anderer religiöser Objekte zu erlangen (vgl. ebd.). Besonders zur Umsetzung dieser religionsästhetischen Fragestellungen bieten sich qualitative Forschungsmethoden an. Diese Arbeit möchte die Wichtigkeit qualitativer Forschungsmethoden – wie der Feldforschung bzw. teilnehmenden Beobachtung – in der Religionswissenschaft betonen, deren Einsatz vor allem auf dem Gebiet der Gegenwartsreligiosität unverzichtbar ist. Mittels qualitativer Methoden können sowohl nahezu unerforschte religiöse Gruppierungen ethnographisch erkundet als auch religiöse Identitätskonstruktionen der Akteure beleuchtet werden. Zudem ist es dem Forschenden möglich, aktiv an den Aktivitäten der zu untersuchenden Gruppierung teilzunehmen und sich als „distanzierter Beobachter“ (ebd. 56) ein Bild von deren Vorstellungen, Strukturen und Dynamiken zu machen.
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Vgl. auch „methodologischer Atheismus“ (Berger 1973, 98 und 170). Robert Bellah (1970) führt u. a. dafür den Begriff des „symbolischen Realismus“ ein.
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Z UR U MSETZUNG DER QUALITATIVEN F ORSCHUNGSMETHODEN Um Identitätsbildungsprozesse im Kontext des Kabbalah Centre zu analysieren, wurden mehrere Forschungsmethoden angewandt. Zuerst wurden Informationen über die Geschichte und Entwicklung des Kabbalah Centre gesammelt und analysiert (vgl. Altglas 2011b; Finke 2005; Huss 2004; Myers 2007b; Myers 2008), Informationen zum Gründer Philip Berg erhoben (vgl. Yehuda Berg 2003a; Myers 2007a) und Material über das Kabbalah Centre und dessen Angebot gesammelt. Um über letzteres einen vollständigen Überblick zu erhalten, wurden zahlreiche Publikationen des Kabbalah Centre, schriftliches Werbematerial, E-Mail-Werbematerial und die offiziellen Webauftritte des Kabbalah Centre7 einer qualitativen Inhaltsanalyse (vgl. Mayring 2005) unterzogen. In diesem ersten Schritt wurden Aussagen über die Selbstdarstellung und die Konstruktion einer ‚KabbalahCentre-Identität‘ abgeleitet, die die Vergleichsbasis zur Analyse der religiösen Identitätskonstruktion der Akteure darstellt. In einem zweiten Schritt wurden mittels teilnehmender Beobachtung und qualitativer Interviews die Akteure in ihrer ‚Religionsausübung‘ beobachtet und diese mithilfe der Interviews nach ihren religiösen Einstellungen, Motiven und Intentionen befragt. Die daraus entstandenen Aufzeichnungen, die während der teilnehmenden Beobachtung in Form von Feldforschungsprotokollen und Aufzeichnungen der „ero-epischen Gespräche“ (vgl. Girtler 2001, 147) entstanden, wie auch die Transkriptionen der Interviews, wurden ebenfalls mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet. Die teilnehmende Beobachtung Die teilnehmende Beobachtung8 bot sich als Methode für die Erforschung des Kabbalah Centre an, um einen ersten Einblick und Überblick über die Struktur und den Aufbau der Organisation zu erlangen, da bislang kaum Material darüber existierte. Darüber hinaus konnten mithilfe der teilnehmenden Beobachtung auch tiefere Einblicke in die religiösen Vorstellungen und Ideen des Kabbalah Centre
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Sowohl die Website des Kabbalah Centre Germany (vgl. Kabbalah Centre Germany 2014a) als auch die Website des Kabbalah Centre International (vgl. The Kabbalah Centre 2015) wurden einer umfassenden Inhaltsanalyse unterzogen.
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In der Forschung werden synonym dafür auch Begriffe wie „Feldforschung“ (vgl. Girtler 2001) oder „Ethnographie“ (vgl. Honer 2005; Knoblauch 2003) verwendet.
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sowie in die Präsentation und Vermarktung dieser Vorstellungen und Ideen gewonnen werden. Dynamiken und Hierarchien konnten beobachtet und analysiert und zahlreiche Kontakte zu potentiellen Interviewpartnern hergestellt werden. Der Einstieg ins Feld erfolgte im Januar 2010. Telefonisch (über die Kontaktdaten der offiziellen Webseite des deutschen Kabbalah Centre) wurden die hauptverantwortliche Ansprechpersonen für das Kabbalah Centre Germany kontaktiert, um in einem Schritt der „Annäherung“ (vgl. Girtler 2001, 89) erste Erkundungen einzuholen und das Forschungsvorhaben anzukündigen. Nach einem offenen Telefongespräch konnte der erste aktive Feldkontakt festgelegt werden, nämlich der Besuch einer Veranstaltung von Zelt Jakobs, eine kabbalistische Bildungseinrichtung in Frankfurt am Main, wo auch aktive „Mitglieder“9 des Kabbalah Centre teilnehmen würden und in dessen Rahmen einige vom Kabbalah Centre organisierte Vorträge und Kurse stattfinden sollten. Bereits bei diesem ersten Feldkontakt konnten Eindrücke über die Selbstdarstellung des Kabbalah Centre und deren Mitglieder gewonnen werden. Zudem konnten wichtige Kontakte geknüpft werden, die für den weiteren Prozess einer gelingenden Feldforschung unumgänglich waren. Darüber hinaus diente die Webseite des Kabbalah Centre als Informationsquelle. Das Kabbalah Centre bietet beispielsweise Online-Kurse oder Vorträge an, die über die Webseite beworben werden. Des Weiteren wird dort eine kostenlose Telefonverbindung angeboten, um mit den Kabbala-Lehrern Texte oder persönliche Fragen zu besprechen. Im Anschluss an die „erste Kontaktnahme“ (Girtler 2001, 93) besuchte die Forscherin verschiedene Vorträge, Zohar-Lesungen und Workshops, die in Frankfurt am Main und in der Region Mannheim/Heidelberg stattfanden. In diesem „Stadium des Zurechtfindens“ (ebd. 106) wurden erste konkrete Forschungsfragestellungen entwickelt und der Leitfaden für die im Anschluss durchgeführten qualitativen Interviews entwickelt. Die regelmäßige Teilnahme an den Angeboten des Kabbalah Centre führte zu einer intensiven Einbindung in das Forschungsfeld als „Mitglied im Schweben“ (ebd. 127). Mittels „distanzierter Teilhabe“ (vgl. Prohl 2006, 55ff.) war es der Forscherin möglich, aktiv an der ‚religiösen‘ Praxis des Kabbalah Centre teilzunehmen und dennoch die Rolle einer „professionellen Fremden“ (vgl. Barker 1981) beizubehalten. Die aktive Teilnahme der Forscherin an den Aktivitäten trug vor allem dazu bei, den Abstand zu den religiösen Akteuren zu verringern und aufgrund der eigenen Reflexion der Erfahrungen mit den
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Der Begriff „Mitglieder“ wird in dieser Arbeit deshalb in Anführungsstriche gesetzt, weil es keine offizielle Form der Mitgliedschaft gibt. Da sich aber viele der Akteure als „zum Kabbalah Centre gehörig“ bezeichnen, soll der Begriff „Mitglieder“ in Anführungsstrichen gesetzt die Akteursperspektive umschreiben.
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Akteuren besser ins Gespräch zu kommen. So konnte eine weit tiefere Ebene der religiösen Intentionen und Transformationsprozesse erforscht werden als mit bloßer Beobachtung oder nur durch Interviews und Befragung, was für die Erforschung und Analyse von religiösen Identitätskonstruktionen erforderlich ist. Im Zuge der Feldforschung wurden auch mehrere Forschungsreisen nach Tel Aviv, London10 und Berlin durchgeführt, um die Kabbalah-Centre-Standorte vor Ort zu erforschen. So konnte ein ‚ganzheitlicheres‘ Bild über die Struktur und Organisation des internationalen Kabbalah Centre gewonnen werden, das im engen Kontakt und Austausch mit der ‚Gruppe‘ in Deutschland steht. Durch diese Methoden konnten tiefreichende Erkenntnisse über die Abläufe, die Organisation, aber auch die Hierarchien und Dynamiken des Kabbalah Centre gewonnen werden. Zudem konnten die religiösen Akteure bei der Ausübung ihrer religiösen Praxis ‚offen‘11 beobachtet und zu den Beobachtungen befragt werden. Dazu wurden auch ergänzend zu den qualitativen leitfadengestützten Interviews die bereits erwähnten ero-epischen Gespräche in den Forschungsprozess integriert, um Gespräche, die im Zuge der Feldforschung entstanden sind, in den Forschungsprozess miteinzubeziehen.12 Zeitlicher Überblick über die Etappen der Feldforschung • Januar 2010: Die erste Kontaktaufnahme/Anruf beim Kabbalah Centre und An-
kündigung des Forschungsvorhabens • März 2010: Teilnahme am Vortrag Einführung in die Kabbalah (Zelt Jakobs) • April 2010: Teilnahme an einer Zohar-Klasse in Mannheim (privat organisier-
tes Treffen)
10 Diese beiden Zentren wurden deshalb ausgewählt, weil sich zum einen die Lehrer des Kabbalah Centre dort befanden bzw. befinden und zum anderen die „Mitglieder“ gut miteinander vernetzt sind. 11 Der Terminus ‚offen‘ bezieht sich an dieser Stelle auf die Methode der „offenen Beobachtung“ (vgl. Lamnek 2005, 560f.). Während der Beobachtung legt der Forscher das Forschungsvorhaben offen, dass heißt, der Beobachter tritt klar in seiner Rolle als Forschender auf. Im Gegensatz dazu steht die ‚verdeckte Beobachtung‘, während der der Forscher seine Identität verdeckt hält (vgl. ebd.). 12 Wenngleich sich dieses Forschungsvorhaben methodisch am Ansatz von Roland Girtler orientiert, wird nicht in allen Punkten seinem Ansatz zugestimmt. Während Girtler den Einsatz von strukturierten Interviews problematisiert (vgl. Girtler 2001, 149), stellen diese dennoch den Schwerpunkt der Analyse dieser Arbeit dar.
108 | K ABBALA UND RELIGIÖSE I DENTITÄT • Juni 2010: Teilnahme an der Eröffnungsveranstaltung des Zelt Jakobs in Frank-
furt am Main • Juni/Juli 2010: Teilnahme am Kurs Die Macht der Kabbalah 1 (3 Kurseinheiten
in Frankfurt am Main) • September 2010: Besuch des Kabbalah Centre in Tel Aviv (Teilnahme am Kab-
• •
• •
balah-Centre-Shabbat13, Teilnahme an mehreren Aktivitäten und Ritualen, Teilnahme am ‚kabbalistischen‘ Ritual am Grab von Yehuda Ashlag und am „Grab der Patriarchen“ in Hebron) Oktober 2010: Vortrag Kabbalah. Das bestgehütetste Geheimnis in Mannheim (kostenloser Vortrag) Februar 2011: Teilnahme an der Eröffnungsveranstaltung des Kabbalah-Centre Büros in Berlin und Teilnahme an den Shabbat-Veranstaltungen (kostenpflichtige Veranstaltung) Februar/März 2011: Feldforschung in London (Besuch des Kabbalah Centre London, Teilnahme an mehreren Shabbat-Veranstaltungen) August 2011: Feldforschung in Tel Aviv (Besuch des Kabbalah Centre Tel Aviv, Teilnahme an mehreren Shabbat-Veranstaltungen)
Neben diesen ‚großen Etappen‘ fand zwischen 2010 und 2012 ein intensiver Kontakt zwischen der Forscherin und mehreren „Mitgliedern“ des Kabbalah Centre statt. Im Zuge dessen ergaben sich zahlreiche Gespräche über Kabbala und das Kabbalah Centre, die als ero-epische Gespräche in der Analyse des Forschungsmaterials berücksichtigt werden. Diese Kontakte und Gespräche förderten ein offenes Gesprächsklima und schufen gegenseitiges Vertrauen, das die Grundlage für jeden Feldforschungsprozess darstellt (vgl. Girtler 2001, 108) und bei der Durchführung der Interviews von großer Bedeutung ist. Der Rückzug aus dem Feld ging mit dem Ende der letzten längeren Feldforschungsphase in Israel im September 2011 einher. Vereinzelt wurden dennoch auch nach dieser Phase Interviews durchgeführt.
13 Der Ausdruck „Kabbalah-Centre-Shabbat“ bezeichnet in dieser Arbeit alle ShabbatFeierlichkeiten, die vom Kabbalah Centre veranstaltet werden. Diese orientieren sich am traditionellen jüdischen Shabbat, integrieren jedoch kabbalistische Ideen und Elemente. Im Fokus dieser ‚Kabbalah-Centre-Shabbate stehen Aspekte der Heilung und die Vorstellung einer „besonderen Energie“, die durch die „bewusste“ Ausführung der jüdischen Rituale auf die Akteure wirke (vgl. The Kabbalah Centre International Inc. 2011).
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Während der Phasen der intensiven Feldforschung war die Auslotung des Spannungsfeldes zwischen „Nähe und Distanz, Involviertheit und Indifferenz“ (Prohl 2006, 56) wichtig für den Forschungsprozess. Qualitative Interviews in der Erforschung von Gegenwartsreligiosität Um der methodischen Flexibilität gerecht zu werden, die der nahezu unerschlossene Forschungsgegenstand „Kabbalah Centre“ abverlangt, wurden für diese Studie „problemzentrierte Interviews“ (vgl. Hopf 1995, 177ff.; Lamnek 2005, 363ff.; Witzel 1982, 66ff.) mit Akteuren des Kabbalah Centre sowie einige Expertengespräche und Experteninterviews durchgeführt. Problemzentrierte Interviews bezeichnen „eine Interview-Variante, die eine sehr lockere Bindung an einen knappen, der thematischen Orientierung dienenden Leitfaden mit dem Versuch verbindet, den Befragten sehr weitgehende Artikulationschancen einzuräumen und sie zu freien Erzählungen anzuregen“ (Hopf 1995, 178). Diese sind im Vergleich zu narrativen Interviews nicht vollkommen frei und unstrukturiert, sondern stützen sich auf einen Leitfaden, der es ermöglicht, das Interview zwar offen zu halten, aber gleichzeitig eine Richtung vorzugeben (vgl. Lamnek 2005, 362f.). In dieser Hinsicht stellen problemzentrierte Interviews eine Verknüpfung von leitfadengestützten und narrativen Interviews14 dar (vgl. ebd.). Sie ermöglichen durch sehr offen gestellte Fragen, den vordefinierten Problembereich abzufragen und dennoch eine narrative Erzählstruktur zu erzeugen. So werden die theoretischen Konzepte im Laufe der Interviewphase modifiziert und generiert, dennoch können wichtige Themenbereiche durch den Einsatz eines Interviewleitfadens von vornherein abgefragt werden (vgl. ebd. 364ff.). Der Interviewleitfaden für diese Studie wurde biographisch angelegt, beginnend mit einer Frage zum ‚religiösen bzw. spirituellen Lebensweg‘, sodass sich die Befragten angehalten sahen, frei über die ‚religiösen Erfahrungen‘ und Entwicklungen, die sie in ihrem Leben gemacht haben, zu erzählen. Dabei hat sich die Interviewerin selbst zurückgenommen, um den Erzählfluss nicht zu blockieren. Bei Bedarf wurden Zwischenfragen oder Verständnisfragen gestellt. Am
14 „Narrative Interviews“ (vgl. Schütze 1978) stellen eine Unterform der qualitativen Interviews dar, die im Gegensatz zu Leitfaden-Interviews ohne ein wissenschaftlich ausgearbeitetes Konzept durchgeführt werden. Die zu Befragenden werden dazu angehalten, möglichst frei zu einem bestimmten Thema zu erzählen (vgl. ebd.; Lamnek 2005, 357ff.).
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Ende der Interviews wurden Ergänzungsfragen gestellt und nicht ausreichend thematisierte Problembereiche erfragt. Diese Vorgehensweise ermöglichte einen tiefen Einblick in die Intentionen und Motivationen der religiösen Akteure sowie in deren religiöse Identitätskonstruktionen. Insgesamt wurden 16 Interviews von einer Dauer von je 30–90 Minuten durchgeführt. Zwei Akteure haben ein mündliches Interview abgelehnt, dafür aber einer schriftlichen Befragung zugestimmt, die sich auf den Leitfaden der problemzentrierten Interviews stützte. Die Auswahl der Interviewpartner stellt ein breites Spektrum an gegenüber dem Kabbalah Centre sehr unterschiedlich eingestellten Akteuren dar. Hierbei wurde berücksichtigt, Akteure zu befragen, die dem Kabbalah Centre sehr nahestehen, und solche, die es im idealtypischen Sinne des „spirituellen Wanderers“ (vgl. Bochinger, Engelbrecht und Gebhardt 2009b, 31) ‚getestet‘ haben. Außerdem wurden sowohl jüdische als auch nicht-jüdische Akteure befragt. Experteninterviews mit zwei Rabbinern trugen dazu bei, den ‚innerjüdischen‘ Diskurs zu beleuchten und im Forschungsprozess auftauchende Fragen in Bezug auf Judentum und Kabbala/Kabbalah Centre zu diskutieren. Darüber hinaus wurden Lehrer und Organisatoren des Kabbalah Centre interviewt, um Einblicke in deren Motivation und Ziele sowie in die diskursive Selbstdarstellung des Kabbalah Centre zu erlangen. Daneben wurden auch Expertengespräche mit Wissenschaftlern geführt, die sich bereits mit dem Kabbalah Centre beschäftigt oder aufgrund ihres akademischen Schwerpunktes Kenntnisse darüber haben. Die Interviews wurden persönlich von der Forscherin durchgeführt. Vor jedem Interview wurde den Befragten kurz das Forschungsvorhaben vorgestellt und die Vorgehensweise erklärt. Der Großteil der im Rahmen dieser Forschung durchgeführten Interviews wurde mit Tonband aufgezeichnet und anschließend transkribiert. In einem knappen Postskript (vgl. Lamnek 2005, 367) wurden die Rahmenbedingungen des jeweiligen Interviews festgehalten. Überlegungen zum Interviewleitfaden Ein wesentliches Hilfsmittel bei der Durchführung problemzentrierter Interviews stellt der Leitfaden dar, der die Funktion einer Gedächtnisstütze übernimmt. Dieser setzt sich aus den Themen- bzw. Problembereichen, die in den Interviews erfragt werden sollen, und dazu vorformulierten Fragestellungen zusammen. Die Fragen werden in der Regel nicht punktuell abgefragt, sondern dienen dem Interviewer als Orientierungsrahmen, um den Überblick darüber beizubehalten, welche Themen und Fragen durch den Befragten bereits beantwortet wurden. Ähnlich wie bei narrativen Interviews werden offene Fragen gestellt, die die Befragten dazu
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anregen sollen, frei zu erzählen (vgl. ebd. 357ff.). Aus diesen Erzählungen, die quasi eine „retrospektive Interpretation“ (ebd. 361) sind, können „Orientierungsmuster des Handelns“ (ebd.) abgelesen und individuelle Identitätskonstruktionen erfragt werden. Anhand folgender Themenbereiche wurde der Interviewleitfaden für diese Forschung entwickelt: ‚Religiöser Lebenslauf‘ In einem ersten Schritt werden die Befragten aufgefordert, etwas über ihren religiösen Lebensweg zu erzählen und religiöse Erfahrungen, die sie im Laufe ihres Lebens gemacht haben, zu schildern. Hier geht es hauptsächlich darum zu erfragen, welchen Zugang die Akteure zum Thema „Religion“ haben und wie dieser narrativ konstruiert wird. Ziel dieses Themenblockes ist es, religiöse Identitätskonstruktionen zu erfragen und Einblick zu erhalten, wie diese retrospektiv von den Akteuren interpretiert und konstruiert werden. Insbesondere bei den jüdischen Akteuren steht die Annahme im Vordergrund, dass diese in den Ideen und Praktiken des Kabbalah Centre eine dem Judentum sehr nahe und dennoch innovative und „spirituelle“ Interpretation der jüdischen Traditionen suchen. Bei diesen Akteuren sind deshalb die jeweilige religiöse Vorgeschichte und die individuelle Interpretation von großem Interesse. Themen/Fragen: • • • • • • • • • • •
Beschreiben Sie Ihren persönlichen Zugang zum Thema „Religion“. Sind Sie jüdisch? Sind Sie religiös? Welche Konfession haben Sie? Sind Sie religiös erzogen worden? Synagogenbesuch/Kirchenbesuch Gebete Rituale Was bedeutet Religion/religiös sein für Sie? Welche Beziehung haben Sie zu Ihrer Religion? Bestand ein Kirchenaustritt oder eine Konversion?
Spiritualität Hier geht es darum, explizit nach dem Zugang zum Thema „Spiritualität“ zu fragen und welche Bedeutung diesem von den Akteuren zugeschrieben wird. Ausgehend von der Annahme, dass sich die religiöse Gegenwartskultur Deutschlands
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vor allem dadurch auszeichnet, dass sich viele Akteure auf einer „spirituellen Wanderschaft“ befinden und verschiedene Angebote, Lehren, Praktiken etc. „durchtesten“ (vgl. Bochinger, Engelbrecht und Gebhardt 2005; Bochinger, Engelbrecht und Gebhardt 2009a), wird auch nach Erfahrungen mit diversen Lehren und Praktiken gefragt, die unter das Spektrum „spirituelles Angebot“ fallen. Themen/Fragen: Wie ist Ihr Zugang zum Thema „Spiritualität“? Sind Sie spirituell? Was bedeutet spirituell für Sie? Haben Sie sich bereits mit spirituellen Themen beschäftigt? Haben Sie bereits an Kursen, Workshops etc. teilgenommen, die Sie als „spirituell“ bezeichnen würden? • Welche? Wie oft?
• • • • •
Interesse an Kabbala In einem weiteren Schritt wird nach dem Zugang zum Thema „Kabbala“ gefragt, um Intentionen und Motivationen, die für die Partizipation am Kabbalah Centre entscheidend sind, im Vorfeld abzufragen. Hier wird der Blickwinkel auf die Zuschreibungen, die an „Kabbala“ gemacht werden, gelegt, um festzustellen, wie der Begriff „Kabbala“ diskursiv ausgehandelt wird. Themen/Fragen: • • • • • •
Können Sie Ihren Zugang zum Thema „Kabbala“ beschreiben? Wie lange interessieren Sie sich bereits für Kabbala? Was hat Ihr Interesse an der Beschäftigung mit Kabbala geweckt? Was spricht Sie besonders an Kabbala an? Was bedeutet Kabbala für Sie? Welche Lektüren über Kabbala haben Sie bereits gelesen?
Beziehung zum Kabbalah Centre Dieser Themenbereich stellt den Hauptteil des Interviews dar, da religiöse Identitätskonstruktionen im Kontext des Kabbalah Centre im Fokus dieser Forschungsarbeit stehen. Hier wird einerseits der Frage nachgegangen, wie die religiösen Akteure auf das Kabbalah Centre aufmerksam wurden, welche ‚Zugangsgeschichten‘ konstruiert werden. Andererseits soll deutlich gemacht werden, inwiefern sich
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die Akteure mit den Ideen, Praktiken und Angeboten des Kabbalah Centre identifizieren und inwieweit kabbalistische Ideen und Praktiken in den Alltag integriert werden. Diesem Themenbereich liegt auch die Frage zugrunde, welcher Zusammenhang bzw. welches Wechselspiel zwischen der kollektiven Identität des Kabbalah Centre und der Identitätskonstruktion der Akteure besteht. Darüber hinaus soll hier festgestellt werden, wie intensiv die Anbindung an das Kabbalah Centre ist und wieviel Zeit und Kosten in ‚kabbalistische‘ Aktivitäten investiert werden. Weitere wichtige Punkte stellen die Untersuchung der Akzeptanz von vorgegebenen Hierarchien – z. B. Philip Berg als „der Rav“ – und die Frage nach der Konstruktion einer Kabbalah-Centre-Community dar. Ausgehend von der These, dass die Kabbalah-Centre-Community eine imaginierte Gemeinschaft (vgl. Anderson 2005) darstellt, die von den religiösen Akteuren konstruiert wird, soll die Bedeutung dieser ‚Community‘ im Kontext der religiösen Identitätskonstruktion untersucht werden. Themen/Fragen: • Können Sie etwas über ihren Zugang zum Kabbalah Centre erzählen? • Woher und wie lange kennen Sie das Kabbalah Centre? • Wie oft und an welchen Veranstaltungen haben Sie bereits teilgenommen
(Shabbat, jüdische Feiertage, Zohar-Lesungen, Vorträge, Kurse)? Besuch internationaler Kabbalah-Centre-Standorte (London, USA, Israel etc.) Welche kabbalistischen tools wenden Sie im Alltag an? Hat das Erlernen kabbalistischer Techniken Einfluss auf Ihren Lebensalltag? Warum besuchen Sie das Kabbalah Centre? Was finden Sie besonders interessant? • Wieviel Zeit investieren Sie (pro Monat/Woche/Tag) durchschnittlich für kabbalistische Tätigkeiten (z. B. Zohar-Sitzungen, Meditationen, Gebete, Lesen von Lektüre, Online-Vorträge, Treffen)? • Welche Bedeutung haben „der Rav“ (Philip Berg) und die Familie Berg für Sie? • Welche Bedeutung hat die Kabbalah-Centre-Community für Sie? Welchen Stellenwert nimmt diese in Ihrem Alltagsleben ein?
• • • •
Beziehung zum Judentum Da das Kabbalah Centre eine religiöse Organisation ist, deren Grundlagen sich sowohl aus jüdischen Ritualen und Traditionen als auch aus jüdisch-kabbalistischen Ideen und Praktiken konstituiert, soll in einem weiteren Punkt die Beziehung der Akteure zum Judentum untersucht werden. Wie bereits angesprochen, folgt diese Arbeit der These, dass sich gerade jüdische Akteure, die sich auf der
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‚spirituellen Wanderschaft‘ befinden, vom Kabbalah Centre aufgrund der Nähe zur ‚Herkunftsreligion‘ angezogen fühlen. Auf der anderen Seite soll mittels der Interviews analysiert werden, welche Faktoren für nicht-jüdische Akteure ausschlaggebend sind, um sich einer religiösen Organisation jüdischer Provenienz anzuschließen, die trotz der expliziten Abgrenzung vom Judentum (vgl. Altglas 2011b) eine intensive Auseinandersetzung mit jüdischen Traditionen, Ritualen und Vorstellungen, dem jüdischen Kalender, dem jüdischen Gesetz (Halacha) und dem Hebräischen abverlangt. Darüber hinaus soll erforscht werden, inwiefern jüdische Motive in die religiöse Identitätskonstruktion integriert werden. Themen/Fragen: • Was hat Ihr Interesse am Judentum geweckt? • Finden Sie es wichtig, das Judentum zu kennen, um Kabbala studieren zu kön-
nen? • Sprechen Sie Hebräisch oder können Sie die hebräischen Buchstaben lesen? • Besitzen Sie eine Zohar-Ausgabe des Kabbalah Centre? • Haben Sie bereits an einem vom Kabbalah Centre organisierten Shabbat teilge-
nommen? Warum? Wie oft? Eindrücke? • Gehen Sie auch außerhalb des Kabbalah Centre zum Shabbat?
Tabelle 1: Übersicht der Interviews/Befragungen Name15
Datum
Dauer
Pamina (Teilnehmerin, nicht-jüdisch)
03.06.10
34 Minuten
Mordechai (Teilnehmer/jüdisch)
20.06.10
53 Minuten
Danijel (Kabbalah-Centre-Lehrer/jüdisch)
04.07.10
62 Minuten
Thomas (Teilnehmer/nicht-jüdisch)
11.12.10
36 Minuten
Yehuda (Kabbalah-Centre-Lehrer/jüdisch)
24.02.11
37 Minuten
15 Alle Interviews wurden pseudonymisiert. Das heißt, dass alle Namen verändert wurden. In Hinblick darauf, dass es sich bei der untersuchten Gemeinschaft um eine relativ kleine und gut vernetzte Gruppe handelt, ist jedoch nicht auszuschließen, dass Bezüge zu einzelnen Personen dennoch abgeleitet werden können. Zudem handelt es sich bei den Kabbalah-Centre-Lehrern um ‚öffentliche‘ Personen, weshalb eine Pseudonymisierung nur über die Veränderung des Namens möglich ist. ‚Jüdische‘ Namen wurden durch einen ebenfalls ‚jüdisch-hebräischen‘ Namen ersetzt.
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Kathrin (Teilnehmerin/nicht-jüdisch)
27.03.11
55 Minuten
Sonja (Teilnehmerin/nicht-jüdisch)
01.06.11
schriftlich
Maria (Testerin/nicht-jüdisch)
05.05.12 06.06.13
Schriftlich 36 Minuten
Rabbiner S. F. (Experteninterview)
12.07.12
40 Minuten
Brigitte (Testerin/nicht-jüdisch)
11.09.12
45 Minuten
Nadine (Testerin/jüdisch)
27.09.12
45 Minuten
Rabbiner J. S. (Experteninterview)
27.11.12
71 Minuten
Carina (Teilnehmerin/nicht-jüdisch)
02.06.13
83 Minuten
Eliyahu (Teilnehmer/jüdisch)
06.06.13
59 Minuten
Myriam (Teilnehmerin/jüdisch)
11.06.13
32 Minuten
Nora (Teilnehmerin/nicht-jüdisch)
12.06.13
72 Minuten
Inhaltsanalytische Auswertung des empirischen Materials Übersicht über das empirische Material Qualitative Interviews Experteninterviews Feldforschungsprotokolle Schriftliche Befragungen Publikationen des Kabbalah Centre Werbematerial (700 Werbemails und Flyer) Bildmaterial (Fotos, die während der Feldforschung entstanden sind, Bilder von Homepages, Werbemails etc.) • Analyse der offiziellen Web-Präsentationen des Kabbalah Centre • Material ‚über‘ das Kabbalah Centre (Zeitungs- und Zeitschriftenartikel) • • • • • • •
Ausgangspunkt der analytischen Auswertung des empirischen Materials stellt eine inhaltsanalytische Auswertung des erhobenen Materials dar. Dazu wurden in Anlehnung an die qualitative Inhaltsanalyse (vgl. Mayring 2007) aus dem empirischen Material die zentralen Analysedimensionen und -kategorien abgeleitet und die Fragestellungen entwickelt, die an das Material gestellt werden. Daneben fanden diskursanalytische Zugänge – wie sie im Programm der wissenssoziologischen Diskursanalyse im theoretischen Teil dieser Arbeit vorgestellt
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wurden – für die Auswertung des Materials Berücksichtigung. Anlehnend an diesen Ansatz können hier Aussagen der religiösen Akteure als „einzelne Aussageereignisse [,als] textübergreifend[e] Verweisungszusammenhänge in Gestalt von diskursiven Strukturen der Aussageproduktion“ (Keller 2011, 275) reflektiert werden. Insbesondere wird hier der Frage nachgegangen, inwiefern sich diskursive Aushandlungen von Religiosität im Allgemeinen und Kabbala und Spiritualität im Einzelnen in den Narrationen der religiösen Akteure widerspiegeln. Bezüglich der Gesamtauswertung des Materials ist hervorzuheben, dass sowohl für die Datenerhebung als auch für die Datenauswertung nicht die ‚eine‘ Methode herangezogen wurde, sondern die Methoden vielmehr in Abwägung der jeweiligen Fragestellung und des theoretischen Rahmens den jeweiligen Erfordernissen der Analyse gewählt wurden. Zur Konzeptualisierung des Auswertungsteils dieser Arbeit wurden in einem ersten Schritt die Analysedimensionen entwickelt, die in den folgenden Kapiteln diskutiert werden. Analysedimensionen und Kategorien Tabelle 2: Dimensionen der Analyse Dimensionen der Analyse Dimensionen/Kategorien
Forschungsfragestellungen
Ankerbeispiele
Dimension 1: Kollektive religiöse Identitätskonstruktion Kategorie 1: Geschichtskonstruktion
Welche Geschichtskonstruktionen lassen sich im Kabbalah Centre finden?
Unterkategorie 1: Gründungsmythos
Wie wird die Geschichte des Kabbalah Centre erzählt?
Unterkategorie 2: Kabbala als ‚Metareligion‘ Unterkategorie 3: Kabbala als Wissenschaft
Welche Geschichten werden konstruiert, um die Lehren des Kabbalah Centre zu legitimieren? Welchen Stellenwert nimmt das Thema Wissenschaft im Kabbalah Centre ein?
„Der spirituelle Stammbaum“ „Kabbala als universelle Weisheitslehre“ „Kabbala als Technologie“
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Kategorie 2: Die Kabbala-CentreCommunity Kategorie 3: Selbstoptimierung und Heilung
Welche Rolle spielt die Kabbalah-CentreCommunity für die Akteure? Welchen Stellenwert nehmen Themen der Heilung und Selbstverwirklichung in der Selbstdarstellung des Kabbalah Centre ein?
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„Wir sind eine Familie“ „Kabbala als Weg zur Gestaltung eines besseren Lebens“
Dimension 2: Die religiöse und spirituelle Identität der Akteure
Kategorie 1: Die jüdische Identität
Wie integrieren die Akteure jüdische Elemente in ihre Identität?
Kategorie 2: Die spirituelle Identität
Wie positionieren sich die Akteure zum Thema Religion und Spiritualität?
Kategorie 3: Kabbala im Alltag
Wie werden kabbalistische Ideen und Praktiken in den Alltag integriert?
„Ich halte die jüdischen Traditionen aus einem spirituellen Grundverständnis ein.“ „Ich bin nicht religiös, ich bin spirituell.“ „Die 72 Namen Gottes hängen über meinem Bett.“
Dimension 3: Branding und Identität
Kategorie 1: Kabbalah Centre als faith brand
Wie wird das Kabbalah Centre zu einem faith brand? Welche Geschichten werden rund um das Produkt Kabbalah Centre erzählt?
„Die Enthüllung einer Geheimlehre“
Die Erfindung einer kabbalistischen Tradition – Religionsgeschichtliche Verortung von Kabbala
K ABBALA UND J UDENTUM Diese Arbeit schließt an ein kulturwissenschaftlich geprägtes Verständnis von Allgemeinbegriffen an, das aufzeigt, dass religionswissenschaftlich relevante Begriffe innerhalb der Religionsgeschichte unterschiedlich ausgehandelt werden. Im Folgenden wird aufgezeigt, wie Kabbala in der Religionsgeschichte diskursiv ausgehandelt wird und welche Positionierungsprozesse feststellbar sind. Unter dem Begriff Kabbala wurden im Laufe der Jahrhunderte unterschiedliche religiöse und philosophische Positionen subsumiert. Kabbala war für viele jüdische Gelehrte des Mittelalters ein zentrales Element jüdischer Spiritualität und als solches genuiner Aspekt der jüdischen Tradition. Gleichzeitig beanspruchten seit der Renaissance christliche Gelehrte Kabbala für sich und sahen darin die Bestätigung der christlichen Lehren, wie in den folgenden Kapiteln dargestellt wird. Okkultisten wie Alphonse-Louis Constant (1810-1875)1 schrieben den kabbalistischen Symbolen universelle magische Wirkungen zu. Theosophen wie Helena Petrovna Blavatsky (1831-1891) betrachteten kabbalistische Weisheiten als Quelle einer universalen Weisheitslehre oder als „hermetische Philosophie“ (vgl. Blavatsky 1998), während Kabbala ein Jahrhundert später als „Technologie der Seele“ (vgl. Yehuda Berg 2003b) oder Selbsthilfe-Werkzeug vermarktet wird. Kabbala wurde dementsprechend in unterschiedlichen sozialen, historischen, politischen und ökonomischen Kontexten ausgehandelt und mit unterschiedlichen Zuschreibungen belegt. 1
Diese erlangte unter dem Pseudonym Elivas Lévi Zahed als Wegbereiter des modernen Okkultismus Bekanntheit.
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In der ‚Esoterikforschung‘ wird Kabbala zum einen als wichtige Rezeptionslinie „jüdisch-muslimisch-christlicher Esoterik“ (Stuckrad 2004, 53) betrachtet, zum anderen als „zentraler Knotenpunkt der europäischen Religionsgeschichte, in der alternative religiöse Optionen mitunter polemisch gegeneinander in Stellung gebracht werden“ (ebd.). Um sich an den gegenwärtigen Diskurs über Kabbala anzunähern, werden im folgenden Kapitel die unterschiedlichen Positionen und die mitunter widersprüchlichen Bedeutungszuschreibungen dargestellt und erörtert. Schrift und Schriftauslegung im Judentum Um den religionshistorischen Kontext aufzuzeigen, in dem kabbalistische Schriften rezipiert wurden und sich kabbalistische Gruppen konstituiert haben, bedarf es einer einführenden Klärung des Stellenwertes der ‚Heiligen Schrift‘ im Judentum. Die ‚Heilige Schrift‘ (z.T. wird diese auch umgangssprachlich als jüdische ‚Bibel‘2 bezeichnet) meint im Judentum ausschließlich die hebräische Fassung der Bibel. Im Kanon des Christentums wird diese Fassung wiederum als das „Alte Testament“ bezeichnet. Sie besteht aus drei großen Teilen, die in der jüdischen Tradition auch als Tanach bezeichnet werden. Das Wort „Tanach“ ist ein Akronym, das sich aus den Bezeichnungen der drei Teile der Schrift zusammensetzt: Tora (Weisung), Neviim (Propheten) und Ketuvim (Schriften) (vgl. Liss 2011, 1). Als wichtigster Teil des Tanach gilt die Tora, die selbst wiederum in fünf Bücher unterteilt ist und als Offenbarung Gottes gilt. Neben der schriftlichen Tora spielt im Judentum auch die Vorstellung einer mündlichen Tora eine zentrale Rolle, die Gott Moses am Sinai offenbart haben soll und die mündlich an ausgewählte Personen weitergegeben wird (vgl. Goldschmidt 2013, 9 [Pirqe Avot 1,1]). Das Narrativ eines mündlichen Wissens göttlichen Ursprunges stellt die Basis für die Entstehung von Gruppen dar, die die Authentizität ihrer Ideen und Lehren über den Bezug zu diesem ‚geheimen‘ Wissen legitimierten. Schon seit dem ersten Auftauchen kabbalistischer Schriften im 12. Jahrhundert in Spanien und später in Frankreich formierten sich kleine Gruppen jüdischer Gelehrter, die meinten, im Besitz einer alten, verborgenen Wahrheit zu sein. Diese frühen Kabbalisten, die sich selbst als die Verstehenden oder Eingeweihten (Maskilim) oder als Grammatiker bzw. Sprachkenner (Naqdanin) bezeichneten, sahen sich als die Empfänger
2
Das Wort „Bibel“ geht auf den griechischen Begriff τὰ βιβλία (ta biblia) zurück und bedeutet „die Bücher“ (vgl. Liss 2011, 1). In dieser Arbeit wird das Wort Bibel nur in Bezug auf die christliche Bibel benutzt, für das jüdische Äquivalent der Bibel wird hier die Bezeichnung ‚Heilige Schrift‘ verwendet.
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(Mekubbalim) eines geheimen und verborgenen Wissens (vgl. Dan 2001, 725; Dan 2007, 13f.) – nämlich der Kabbala. Dem Talmudtraktat Avot (Sprüche der Väter) folgend, welches aus dem 2. Jahrhundert stammt, wird dieser Empfang der Tradition folgendermaßen dargestellt: „MOŠE empfing [ ]קבלdie Tora auf [dem Berge] Sinaj, überlieferte sie Jehošuả, Jehošuả den Ältesten […]“ (Goldschmidt 2013, 9 [Pirqe Avot 1,1]).3 Dieser erste Abschnitt des Traktates beschreibt zudem die Kette der mündlichen und geheimen Überlieferung von einer Generation zur nächsten und stellt somit einerseits die Legitimation der jüdischen Tradition im Allgemeinen und der kabbalistischen im Besonderen dar (vgl. Dan 2001, 725; Dan 2007, 12). Bereits im 2. Jahrhundert wurde rückwirkend eine Kontinuität mit der biblischen Vergangenheit mittels schriftlicher Festlegung einer „Invention of Tradition“ (vgl. Hobsbawm und Ranger 1992) konstruiert, die bis heute innerhalb orthodoxer Kreise des Judentums Gültigkeit besitzt. Die frühen Kabbalisten legitimierten ihre Lehren über den geheimen Aspekt des jüdischen Traditionstransfers, der sich auf die Vorstellung bezieht, dass der ‚Heiligen Schrift‘ bzw. dem Talmud eine verborgene Bedeutungsebene zugrunde liegt. Dieser geheime bzw. verborgene Aspekt der Tora lässt sich mittels diverser hermeneutischer Techniken aus dem Text generieren. Bereits in der klassischen jüdischen Interpretation der ‚Heiligen Schriften‘ geht man von einem vierteiligen Interpretationsschema aus, welches analog zum hebräischen Wort „pardes“ (Paradies) als „PaRDeS“ (Krochmalnik 2006, 10) bezeichnet wird. Dieses Akronym steht laut Daniel Krochmalnik für folgende Schritte der hermeneutischen Textauslegung: • Pschat: Damit ist die wörtliche Bedeutung bzw. der „einfache Sinn“ (ebd.) der
Schrift gemeint. • Remes: Das bezieht sich auf die allegorische Bedeutung bzw. den „angedeu-
tete[n] Sinn“ (ebd.) der Schrift. • Drasch: Hiermit ist die interpretative bzw. homiletische Bedeutung bzw. der
„belehrende Sinn“ (ebd.) der Schrift gemeint. • Sod: Dieser vierte und letzte Schritt der Textinterpretation steht für die verbor-
gene Bedeutung bzw. ist der „geheime Sinn“ (ebd.) der ‚Heiligen Schrift‘ (vgl. ebd. 10f.).
3
Hier wird das Wort „kbl“, die Wurzel für das Wort „Kabbala“, eingesetzt (im Zitat eingefügt von N.B.).
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Dieser Deutung geht die Vorstellung voraus, dass „Gott in der Bibel alles offenbart habe, was Weltgeschehen und Weltdeutung ausmache, der wörtliche Schriftsinn jedoch keineswegs auf alle Fragen eine eindeutige Antwort bietet“ (Stuckrad 2004, 54). Dem Instrument der allegorischen Schriftauslegung bedienten sich die Autoren, die zwischen dem zweiten und achten Jahrhundert zentrale Werke der jüdischen Tradition verfassten – wie die Mischnah (Wiederholung) oder die Midraschim4 (vgl. ebd.). Auf Basis dieser Auslegungstechnik fokussierten sich die kabbalistischen Autoren auf die Auslegung des geheimen Schriftsinnes (sod) und entwickelten unterschiedliche Techniken, um den verborgenen Gehalt der ‚Heiligen Schrift‘ zu enthüllen (vgl. ebd. 54ff.). Dazu zählen die Methoden Gematria, Temura und Notarikon.5 Mittels Gematria werden den hebräischen Buchstaben Zahlen zugeordnet, um Analogien zu anderen Textstellen abzuleiten (vgl. ebd.; Morlok 2011, 52). Notarikon steht für die Erweiterung von Buchstaben oder Worten, um zusätzliche Bedeutungsebenen zu erfassen, während Temura die Umstellung von Buchstaben in einzelnen Worten meint (vgl. Heinemann 1950). Der Aspekt der Geheimlehre Die Idee eines geheimen und ‚esoterischen‘ Wissen, setzt die Vorstellung voraus, dass hinter dem bereits enthüllten Wissen – wie der Tora – eine tiefere Ebene der Bedeutung liegt. Der ‚exoterischen‘ Tradition des Judentums wird eine esoterische Tradition gegenübergestellt, die die Idee einer ‚esoterischen‘ Weisheit (hokhma pnimit) bzw. verborgenen Weisheit (hokhma nistara) beinhaltet (vgl. Necker 2008, 11). Gleichzeitig war die Weitergabe dieses Wissens streng limitiert: nur auserwählten Personen wurden die kabbalistischen Erkenntnisse weitergegeben, weshalb in der Forschung z.T. von einem Prozess der Elitenbildungen gesprochen wird (vgl. Halbertal 2007, 1ff.). „Esoteric teachings form a body of knowledge whose dissemination is severely restricted. These restrictions are meant to carefully filter the listening public in the case of oral transmission, and to impose limits on copying and circulation, and later on printing, of the written word. As a result of these restrictions, complex strategies of encoding and double speech
4
Das hebräische Wort „Midraschim“ ist der Plural des Wortes „Midrasch“, das vom hebräischen Verb „darasch“ (fragen, suchen) abgeleitet wird und in diesem Kontext auch als „Auslegung“ oder „Lehre“ zu verstehen ist (vgl. Stemberger 2011).
5
Diese drei Techniken werden häufig unter dem Akronym GiNaT subsumiert (vgl. Heinemann 1950).
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and writing were developed, which enabled the transmission of secret information to the worthy elect, without preliminary filtering of the congregation of listeners or readers.“ (Ebd. 1)
Die Konstruktion von Kabbala als Wissen, das über Generationen hinweg geheim gehalten wird, spielt auch heute noch eine große Rolle in der Selbstdarstellung kabbalistischer Gruppen und Autoren, wie am Beispiel des Kabbalah Centre deutlich wird. Neben dem Aspekt der geheimen Tradierung innerhalb eines Kreises von Eingeweihten bezieht sich auch die inhaltliche Fokussierung kabbalistischer Texte auf die Grundfragen und Geheimnisse von Mensch und Gott. Ähnliche Narrative lassen sich in der jüdischen Tradition religionsgeschichtlich betrachtet bereits vor dem Auftreten erster kabbalistischer Schriften feststellen. Einem Talmud-Traktat aus dem ersten Jahrhundert zufolge ist sowohl das Studium als auch die öffentliche Auslegung zweier Abschnitte der ‚Heiligen Schrift‘ untersagt und als sehr gefährlich anzusehen (vgl. Dan 2007, 24, Verweis auf Mischnatraktat Chagiga 2,1): „Man legt über Unzuchtsfälle nicht vor Dreien aus, über das Schöpfungswerk nicht vor Zweien und über die Märkabah nicht vor Einem, es sei denn, er ist weise und versteht von selbst.“ (Traktat Chagiga 2,1 in Stuckrad 2004, 57)
Hier sind zwei Teile der Schrift angesprochen: Es handelt sich um das Schöpfungswerk (ma’ase bereschit) und um das Buch Ezechiel (ma’ase merkava oder Werk des Thronwagens). Das Werk der Schöpfung ist der erste Teil der Genesis, welcher die Erschaffung der Welt darstellt, während im Werk des Thronwagens die Visionen des Propheten Ezechiels und seine Beschreibung des göttlichen Thronwagens dargestellt werden (vgl. Dan 2007, 24). In zahlreichen Parabeln werden die Gefahren, die die Auseinandersetzung mit diesen Teilen der ‚Heiligen Schrift‘ nach sich zögen, erörtert. Dies führte dazu, dass sich kleinere Kreise „jüdischer Esoteriker, Spiritualisten und Mystiker“ (ebd. 26) mit diesen Schriften befassten, woraus sich ein eigenes Genre entwickelte, das in der Forschung als Hekhalot-Literatur6 oder Merkava-Literatur bekannt wurde (vgl. Dan 2007, 26f.; Schäfer 1991, 1ff.). Inhaltlich zeichnen sich diese Literaturgattungen dadurch aus, dass sie sich mit dem Akt der Schöpfung, der Beschaffenheit der ‚transempirischen Sphären‘ und des Einflusses Gottes auf die Welt beschäftigen. Außerdem kennzeichnen zahlreiche Texte über Magie, Zaubersprüche und Traktate über ma-
6
„Hekhalot“ bedeutet auf Deutsch „himmlische Paläste“ oder „Tempel“.
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gische Praktiken dieses Genre. Einen weiteren Schwerpunkt stellt die Auseinandersetzung mit der Visionen des Propheten Ezechiel dar, welche „detaillierte angelologische Listen enthalten, in denen die Namen von Engeln und ihre Funktionen, sowie Darstellungen der geheimen Namen Gottes und der Erzengel“ (Dan 2007, 27) aufgeführt sind. Jene Autoren, welche als die, die zum Thronwagen hinabsteigen,7 bezeichnet werden, beschreiben in ihren Schriften Praktiken, um in die göttlichen Welten zu reisen (vgl. Schäfer 1991, 1f.). Die Welten oder himmlischen Sphären, die in der antiken Kosmologie meist in konzentrischen Kreisen dargestellt werden, sind Kocku von Stuckrad zufolge außerdem eng mit astrologischen Vorstellungen verbunden, die in den späteren kabbalistischen Schriften immer wieder zum Ausdruck kommen und vor allem in zeitgenössischen kabbalistischen Gruppen wie dem Kabbalah Centre von Bedeutung sind (vgl. Stuckrad 2004, 57). Bedeutungsebenen von Kabbala im jüdischen Kontext Kabbala geht auf die hebräische Wurzel kbl [ ]קבלzurück, was „empfangen“ bedeutet. In der Lexikonreihe Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG) findet sich unter dem Begriff „Kabbala“ eine Dreiteilung in „1. Religionsphilosophisch“, „2. Jüdische Kabbala“ und „3. Christliche Kabbala“. Die von Andreas Kilcher, Professor für Literatur- und Kulturwissenschaft, religionsphilosophische Einführung bezeichnet Kabbala ( )קבלהals „Empfang bzw. Überlieferung [eines] mündlich überlieferten, esoterischen8 Wissens über die Geheimnisse der Schrift (rasin de oraita; sitre tora)“ (Kilcher 2001, 724). Kilcher weist auf die forschungsgeschichtlich relevanten Aspekte, in deren Kontext Kabbala erforscht wurde, hin:
7
In der hebräischen Literatur findet man die Selbstbezeichnungen „jorde ha-merkava“ oder „yored merkava“ für jene, die zum Thronwagen hinabsteigen. Der deutsche Judaist Karl Erich Grözinger weist auf den Widerspruch zum Narrativ des Aufsteigens in den Himmel hin (vgl. Grözinger 2004, 316 Fußnote 1010).
8
Der Begriff „esoterisch“ ist kritisch zu sehen, da er aufgrund der negativen Konnotationen in gegenwärtigen Diskursen nicht als analytische Kategorie einsetzbar ist. Da er jedoch im Rahmen der Kabbala-Forschung häufig als Analysekriterium kabbalistischer Texte herangezogen wird, wird er im Rahmen der kritischen Diskussion von Sekundärliteratur angeführt. Zur Gegenstandsbestimmung von „Esoterik“ in der Religionswissenschaft siehe Kapitel 4.2.1 „Esoterik als Gegenstandbereich in der Religionswissenschaft“.
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dies seien religionsphilosophische, religionsphänomenologische und religionshistorische Herangehensweisen (vgl. ebd.). In Hinblick auf den aktuellen Forschungsstand kann diese Kontextualisierung um eine kulturwissenschaftliche Perspektive erweitert werden – wie im folgenden Kapitel dargestellt wird. Bezugnehmend auf religionsphilosophische Betrachtungen stünden meist die Vorstellungen der Sefirot im Fokus der Überlegungen. Diese zehn göttlichen Emanationen werden erstmals im Buch des Strahlenglanzes (Sefer ha-Sohar)9 erwähnt, einem pseudepigraphischen Werk des 13. Jahrhunderts, das Shimon ben Jochai,10 einem Tannait11 der sogenannten dritten Generation aus dem 2. Jahrhundert, zugeschrieben wird (vgl. Necker 2008, 16). Kilcher verdeutlicht, dass Kabbala unterschiedlich gedeutet werden kann: formal betrachtet sei Kabbala als jüdische Auslegung der biblischen Literatur (Midrasch) zu bezeichnen (vgl. ebd. 725), könne aber als „Kosmologie“,12 „Mystik mit meditativen und ekstatischen Verfahren“, „anthropomorphe Theologie“, „Geschichte/Philosophie“, „Anthropologie“ sowie als „spekulative Sprachtheorie, Sprachmystik und Sprachmagie“ (ebd.) gelesen werden. Die Existenz unterschiedlicher kabbalistischer Deutungsmuster und Denkweisen machen deutlich, dass es nicht „die“ Kabbala gibt.13 Im RGG4 konstatiert Kilcher entsprechend, dass es
9
Aufgrund der Uneindeutigkeit der hebräischen Transliteration hat sich die Autorin der vorliegenden Arbeit für die Schreibweise Sefer ha-Sohar bzw. Sohar (in der Kurzform) entschieden. Da das Kabbalah Centre die im englischsprachigen Raum bevorzugte Schreibweise mit ‚Z’ verwendet, wird diese Schreibweise gewählt, wenn ein expliziter Bezug auf den Zohar des Kabbalah Centre vorliegt.
10 Alternative Schreibweisen, die auf unterschiedliche Transliterationen des Hebräischen zurückzuführen sind (wie z. B. Simon oder Schimon bar Yochai), sind ebenso möglich. 11 Die Tannaiten (abgeleitet vom hebräischen Verb „schana“, was so viel bedeutet wie „wiederholen“, „lehren“, „lernen“) waren jene Schriftgelehrten bzw. Rabbiner, welche das Studium der ‚Heiligen Schrift‘ nach der Zerstörung des Zweiten Tempels in Jerusalem 70 d. Z. als Alternative zum Tempeldienst ansahen und sich um eine Festlegung des biblischen Kanons bemühten (vgl. Stemberger 2009, 17). 12 Vgl. zum Begriff der Kosmologie den Eintrag Kosmogonie/Kosmologie von Gregor Ahn (1999a) im Metzler Lexikon Religion. 13 Zeitgenössische Formen von Kabbala werden innerhalb dieses Kontextes meist als „unechte“ Kabbala aus dem dominanten Diskurs ausgeschlossen, was sich daran zeigt, dass sie von der Forschung nicht oder nur peripher berücksichtigt werden (vgl. Huss 2007c).
126 | K ABBALA UND RELIGIÖSE I DENTITÄT „keine homogene Lehre der Kabbala gibt. Kabbala ist vielmehr von Anfang an Form und Name einer Vielzahl von Theologumena und Philosophemen im Grenzbereich zwischen mystischer Theologie, esoterischem Ritual und Religionsphilosophie“ (Ebd. 724).
Eine zusätzliche Bedeutungsebene erhielt der Begriff „Kabbala“ Joseph Dan zufolge im12. Jahrhundert, als eine Gruppe jüdischer Gelehrter in Spanien und der Provence behauptete, sie sei im Besitz einer geheimen Überlieferung über die Bedeutung der ‚Heiligen Schrift‘ (vgl. Dan 2007, 13f.).14 In diesem Kontext erhält Kabbala die Bedeutung „Tradition bzw. Überlieferung einer geheimen Lehre“ (ebd.). Ausgehend von Südfrankreich im 12. Jahrhundert entstanden kleine Gruppen von Schülern, die sich um Einzelpersonen bildeten. Charakteristisch für diese Gruppen ist der Geheimnischarakter; die Protagonisten sahen sich selbst als Adepten einer alten, ursprünglichen Tradition bzw. Wahrheit, was sich bereits im Namen „Kabbala“ widerspiegelt. Zentral ist, dass sich diese kabbalistischen Gruppen, im Gegensatz zu esoterischen Gruppen der Gegenwart, nicht als Gegenbewegung zum Judentum positionierten, sondern die kabbalistische Auseinandersetzung als eine Vertiefung ihres jüdischen Glaubens sahen (vgl. Bollag 2011, 109f.). Sefer Bahir Das älteste bekannte Werk aus dieser Zeit ist das Sefer Bahir (Buch des Glanzes)15. Formal handelt es sich dabei um eine Midrasch-Sammlung. Das Buch bezieht sich auf unterschiedliche Quellen, wie Aussagen aus Talmud und Midrasch, Hekhalotund Merkava-Literatur und beinhaltet Erläuterungen des antiken Werks Buch der
14 An dieser Stelle soll auf die Publikation von Elke Morlok Rabbi Joseph Gikatill’s Hermeneutics verwiesen werden. Diese zeigt die Rezeption spätantiker Schriften im Mittelalter auf, die maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung kabbalistischer Ideen nahm (vgl. Morlok 2011, 8). 15 Gershom Scholem folgend sah man lange in der Forschung in den Ideen des Sefer haBahir einen Beleg für einen Einfluss einer alten antiken ‚gnostischen’ Tradition. Beeinflusst von den Arbeiten von Hans Jonas, der in seinem Werk Gnosis und spätantiker Geist (1934) von gnostischem Gedankengut ausgeht – welches ihm zufolge die Quelle vieler Religionen darstellt – geht Scholem vom Vorhandensein einer jüdischen Gnosis aus, die sich seines Erachtens in den Ideen des Sefer ha-Bahir konstatieren lässt (vgl. Scholem 1965). Da neuere Forschungen die Existenz einer ‚gnostischen Lehre’ bestreiten und den konstruierten Charakter der Gnosis als eigenständiges, religiöses Lehrsystem aufzeigen, ist auch die These von der Existenz einer jüdischen Gnosis, wie sie von Scholem angenommen wurde, infrage zu stellen.
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Schöpfung (Sefer Jezira) (vgl. Dan 2007, 35f.). Eine zentrale Vorstellung, die in diesem Buch auftaucht, ist die, dass die Welt aus zehn göttlichen Kräften oder Äußerungen (ma’amarot) bestehe (vgl. ebd. 37). Diese Vorstellung wird in späteren Werken rezipiert und als die Idee der zehn Sefirot zu einem zentralen Element in kabbalistischen Schriften. Wenngleich die Wurzeln der Kabbala häufig auf die Spätantike zurückgeführt werden (vgl. Bollag 2011, 109), entwickelte sich Kabbala als „kohärente Lehre“16 (ebd.) erst im 12. Jahrhundert. Als „innovatives jüdisches Phänomen“ (Dan 2007, 40) findet Kabbala ihren Höhepunkt während des Mittelalters im bereits genannten Buch des Strahlenglanzes (Sefer ha-Sohar). Sefer ha-Sohar Das Sefer ha-Sohar ist auf Aramäisch verfasst und beinhaltet einen Kommentar zu den Wochenabschnitten der Tora in Form einer Erzählung. Inhaltlich befasst es sich vor allem mit der kabbalistischen Legitimation der jüdischen Gebote. Darüber hinaus finden die Vorstellung von Seele und Seelenwanderung Erwähnung. Zudem umfasst es eine Abhandlung über die Bedeutung der Gottesnamen, die die Autoren17 in Verbindung mit den zehn Sefirot bringen (vgl. Dan 2007, 45ff.). Die Idee der Sefirot stellt eine zentrale kabbalistische Idee dar, die zahlreich rezipiert und interpretiert wurde. Auch von gegenwärtigen kabbalistischen Akteuren wird sie rezipiert und transformiert, wie im Kontext des Kabbalah Centre deutlich wird. Das Wort „Sefirot“ (Singular: Sefira) sei mit dem griechischen Wort „sphaira“, was so viel wie „Sphäre“ bedeutet, in Verbindung gebracht worden (vgl. Stuckrad 2004, 62). Eine solche Verbindung lasse sich jedoch nicht nachweisen. So würden auch, im Unterschied zu den griechischen Sphären der Antike, mit der Bezeich-
16 Im Zuge der Religionsgeschichte entstanden und entstehen bis in die Gegenwart kabbalistische Abhandlungen. Diese zeichnen sich – wenngleich bestimmte Narrative häufig rezipiert werden – durch eine enorme Diversität aus, die durch den religionsgeschichtlichen, kulturellen und sozialen Kontext der Autoren bedingt ist. Daher ist in dieser Arbeit von der Annahme einer kohärenten Lehre abzusehen. Vielmehr soll auf die diskursiven Aushandlungsprozesse verwiesen werden, die das Entstehen unterschiedlicher Schriften und Ideen beeinflussen, wie am Bespiel der gegenwärtigen Kabbala deutlich wird. 17 Gemäß neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse wurde das Sefer ha-Sohar von mehreren Autoren und nicht – wie lange Zeit angenommen – allein von Mosche de Leon in Spanien verfasst. Dieser galt lange Zeit in der Forschung als Redakteur des Sefer haSohar (vgl. u.a. Giller 2001; Matt 1983).
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nung „Sefirot“ die „Wirkungsweisen der Gottheit [Herv. i. Orig.]“ (ebd.) bezeichnet. Der kabbalistischen Deutung zufolge liegen diese der Welt zugrunde und werden im System der Sefirot dargestellt (vgl. u.a. ebd. 61ff.; Dan 2007, 60ff.; Giller 2011, 42ff.; Necker 2008, 16f.). Die folgende Abbildung (Abb 4) verdeutlicht die Darstellung dieses komplexen Narratives, wie es im mittelalterlichen Werk Pforten des Lichts (Scha’arej ora) von Josef Ben Abraham Gikatilla (1248–1305) dargestellt wird. Abbildung 3: „Baum aus zehn Sefirot“
Quelle: Abbildung von Paul Riccius aus dem Buch Portae Lucis (Die Pforten des Lichts), lateinische Übersetzung des Werkes Scha’arej ora von Josef Ben Abraham Gikatilla (1248-1305) (vgl. Ǧîqaṭîlā 1516)
Eine der bedeutendsten Rezeptionen des Sefer ha-Sohar (vgl. Necker 2008, 12) im Judentum stellen die Lehren von Isaak Luria (1534–1572) dar, dem im Kontext der Verbreitung und ‚Popularisierung’ von Kabbala eine besondere Bedeutung zugeschrieben wird (vgl. ebd.). So sind Interpretationen seiner Ansätze bis heute in chassidischen Bewegungen und anderen Formen gegenwärtiger Kabbala wiederzufinden (vgl. Giller 2011, 5). In den kabbalistischen Lehren von Luria nehmen
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apokalyptische und messianische Erwartungen einen großen Stellenwert ein (vgl. u.a. Dan 2001, 727; Stuckrad 2004, 66f.), die – wie in dieser Arbeit aufgezeigt wird – auch in den Narrativen des Kabbalah Centre eine zentrale Rolle spielen. Im Zuge der jüdischen Aufklärung im 18. Jahrhundert, der Haskala, veränderte sich die Stellung von kabbalistischen Überlieferungen im Judentum grundlegend (vgl. Dan 2007, 133; Hoffman 2006, 33f.). Kabbalistische Elemente wurden als irrationale Aspekte des Judentums von Historikern und anderen Gelehrten, die meist aus dem Umfeld der deutschen „Wissenschaft des Judentums“ kamen, abgewertet und als „Ausdruck mittelalterlichen Unwissens und Aberglaubens“ (Dan 2007, 133) abgelehnt. Gleichzeitig wurden erste säkulare jüdische Einrichtungen gegründet18, die die sozialethischen und rationalen Aspekte des Judentums hervorhoben. Gershom Scholem konstatiert hierzu: „Denn als die Juden in Westeuropa um die Wende des 18. Jahrhunderts den Weg zur europäischen Kultur mit so viel Entschiedenheit einschlugen, war die Kabbala eines der ersten und wichtigsten Opfer, die auf diesem Wege fielen. Die Welt der jüdischen Mystik mit ihrer ganz nach innen versponnenen Symbolik wurde nun als fremd und störend empfunden und schnell vergessen.“ (Scholem 1996, 9f)
Während die deutsch-jüdische Kultur seit dem 18. Jahrhundert vom Aufklärungsdiskurs geprägt ist, bleiben kabbalistischen Themen sowohl für die osteuropäischen Chassidim19 als auch für die Mitnagedim20 weltanschaulich konstitutiv (vgl. Hoffman 2006, 31f.). Bis heute überwiegt eine aufgeklärte Haltung in den jüdischen Gemeinden Deutschlands. ‚Mystische‘ Spekulationen wird kaum Aufmerksamkeit geschenkt, das Studium kabbalistischer Texte oder die Anwendung kabbalistischer Praktiken bleibt einzelnen Sinnsuchern vorenthalten. Die öffentliche Präsenz kabbalistischer Gruppen zeugt, um den Rabbiner Jona Simon zu zitieren, von „einen Hunger nach
18 Die erste säkulare jüdische Schule entstand bereits 1781 in Berlin (vgl. Hoffman 2006, 31). 19 „Chassidisches Judentum“ oder „Chassidismus“ bezeichnet eine Strömung innerhalb des Judentums, die in der emischen Konstruktion auf den osteuropäischen Rabbiner Israel Ben Elieser (18. Jhd. d. Z.) oder Baal Schem Tov (Meister des guten Namens) zurückgeführt wird, sowie eine jüdische Bewegung, die erstmals in Osteuropa erstarkte und auch gegenwärtige auftritt. 20 Mittnagedim ist eine jüdisch-orthodoxe Bewegung, die die Gegner der chassidischen Bewegung darstellen (vgl. Hoffman 2006, 184).
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Spiritualität, nach etwas das über dem Pschat, der wörtlichen Bedeutung des Textes hinausgeht“ (Interview Rabbiner J. S., 27.11. 2012). Kabbala-Rezeption außerhalb des Judentums Kabbalistische Ideen und Praktiken wie solche, die bereits aufgezeigt wurden, nehmen ihren Ausgangspunkt innerhalb jüdischer Diskurse des Mittelalters. Die Tatsache, dass kabbalistische Elemente auch außerhalb eines jüdischen Kontextes verhandelt werden, ist religionsgeschichtlich betrachtet kein Sonderfall des gegenwärtigen religiösen Feldes. Wechselseitige Einflüsse unterschiedlicher religiöser Gruppen sind insbesondere im Kontext der europäischen Religionsgeschichte kein Einzelfall (vgl. Gladigow 1995, 21ff.). Der Einfluss kabbalistischen Gedankengutes auf christliche Denker ist ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in Europa schriftlich belegbar (vgl. Dan 2001; Schmidt-Biggemann 2003a). Wenngleich ein „diskursiver Transfer“ (Stuckrad 2004, 250) religiöser Traditionsbestände aufgrund des in Europa vorherrschenden religiösen Pluralismus schon vor dem 15. Jahrhundert anzunehmen sei21 (vgl. ebd. 19), kommt es erst während der Renaissance zur schriftlich nachweisbaren Adaption kabbalistischer Vorstellungen durch christliche Gelehrte. Die Rezeption kabbalistischer Schriften durch christliche Autoren wird in der Forschung als „christliche Kabbala“ bezeichnet (vgl. Dan 2001; Kilcher 2001, 725f.) Auch Moshe Idel konstatiert in diesem Zusammenhang, dass es spätestens seit der Renaissance einen intellektuellen Austausch zwischen Juden und Christen gegeben habe.22 Belegt ist, dass sich zahlreiche christliche Gelehrte wie beispielsweise Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494) oder Johannes Reuchlin
21 Burkhard Gladigow stellt in diesem Zusammenhang die These auf, dass „die Präsenz und Verfügbarkeit höchst unterschiedlicher ‚Religionen’“ (Gladigow 1995, 27) ein „Charakteristikum der Europäischen Religionsgeschichte“ (ebd.) darstellt. Wenngleich „Wahlmöglichkeiten zwischen Sinnsystemen“ (ebd.) seit der Renaissance anzunehmen sind, so kann man davon ausgehen, dass die diversen Kulturkontakte bereits seit dem 12. Jahrhundert auch Einfluss auf das religiöse Feld nahmen. Siehe dazu auch Rüpke et al [Hrsg.] 2009: Europäische Religionsgeschichte. Ein mehrfacher Pluralismus. 22 Da das Aufzeigen des historischen Kontextes, innerhalb dessen sich die christliche Kabbala entwickelt hat, den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, soll an dieser Stelle auf folgende Werke hingewiesen werden, die den historischen Kontext der Renaissancephilosophie und die Entwicklung dieser spezifischen Ausformung von kabbalistischen Gedankengut sehr gut veranschaulichen: Renaissance Philosophy von Brian P. Copenhaver und Charles B. Schmitt (1992), On European Cultural Rennaissance and Jewish
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(1455–1522) von jüdischen Gelehrten in hebräischer Sprache und jüdischem Schrifttum unterweisen ließen (vgl. Idel 1983, 186f.). Dieses „new meeting of Christians and Jews“ (ebd. 186) ist Moshe Idels Argumentation folgend „part of the Christians cultures search for ancient wisdom“ (ebd.), die das Denken in der Renaissance charakterisiert habe. Christliche Denker wähnten in der hebräischen Sprache die „heilige“, „göttliche“ bzw. „ursprüngliche“ Sprache (vgl. Kilcher 1998, 70; Stuckrad 2004, 114). Das Hebräische als „laschon ha-kodesch [heilige Sprache]“ (ebd. 70) hat als „Sprache Gottes und der Engel [, als] die erste aus Gott hervorgegangene und an Adam übergebene Sprache [, bzw. als] Sprache der Offenbarung“ (ebd. 71f.) einen besonderen Stellenwert in den Werken der christlichen Kabbalisten. Dieser Fokus steht im Gegensatz zu den Werken jüdischer Kabbalisten des Mittelalters, die sich vordergründig mit den „Geheimnissen der Schöpfung und der Entstehung des Systems der Sefirot aus der unendlichen Gottheit [Hervorh. im Original]“ (Dan 2007, 87) auseinandersetzten. Hier sind besonders drei Techniken hervorzuheben, die in diesem Kontext angewandt werden, um sich der Gottheit zu nähern, sie zu verstehen und zu decodieren (vgl. Schmidt-Biggemann 2003a, 45): die Technik der Gematria, des Notaricon und der Temura.23 Seit den Anfängen dieser Auseinandersetzung im 15. Jahrhundert durch Pico della Mirandola war das Interesse der christlichen Gelehrten weniger die Annäherung an das Judentum, als vielmehr dessen Abwertung (vgl. Stuckrad 2004, 114). Pico della Mirandola Giovanni Pico della Mirandola (1463-1494) wurde von Flavius Mithridates, einem getauften Juden, in die jüdische Kabbala eingeführt.24 Er integrierte 1486 in seinen bekannten 900 Thesen die Kabbala in die christliche Theologie. Er glaubt
Mysticism von Moshe Idel (2005) und Christliche Kabbala herausgegeben von Wilhelm Schmidt-Biggemann (2003b). 23 Diese drei Techniken versuchen, wie bereits erläutert, mittels der Umdeutung hebräischer Buchstaben in Zahlenwerte oder mittels diverser Kombinationen von Buchstaben und Worten verborgene Analogien herzuleiten und finden ihren Höhepunkt in den Arbeiten der christlichen Gelehrten seit der Renaissance (vgl. Schmidt-Biggemann 2003a, 46f.). 24 Er vertiefte sein Wissen in die jüdische Religion unter Anleitung eines gewissen „Dattilo“, eines jüdischen Kabbalisten, der bisher nicht sicher identifiziert werden kann. Einige vermuten hinter diesem Namen Jochanan Alemanno, eine zentrale Figur der jüdischen, humanistischen Renaissancephilosophie, was jedoch von Gershom Scholem bezweifelt wird (vgl. Scholem 1997 [1954], 18f.; Stuckrad 2004, 115f.).
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in der Kabbala die philosophia prisca, die älteste und ursprünglichste Form von Weisheit, gefunden zu haben, die die Wahrheit des Christentums zu beweisen und selbst die ‚christliche Trinitätslehre‘ zu legitimieren vermöge (vgl. Dan 2007, 84f.; Schmidt-Biggemann 2003a, 9). Als philosophia prisca wurde die Kabbala von christlichen Denkern der Renaissance universalisiert und gleichzeitig aus dem Judentum herausgelöst. Das Interesse am Judentum galt in vielfacher Hinsicht der Abgrenzung und Polemik. Die Adaption einer ‚genuin‘ jüdischen Lehre in den christlichen Kontext erwies sich als nützliches „Instrument der christlichen Missionierung von Juden“ (Stuckrad 2004, 114). Aus jüdischer Perspektive wurde die Adaption ihrer Lehren als Abwertung ihres kulturellen und religiösen Erbes wahrgenommen (vgl. ebd. 114f.). Johannes Reuchlin Anders als Pico della Mirandola entwarf sein Schüler, der deutsche Philosoph und Sprachwissenschaftler Johannes Reuchlin (1455–1522), bereits in seinem ersten Werk De verbo mirificio (Reuchlin 1996 [1494]), in dem er sich der christlichen Kabbala widmete, ein Konzept der ewigen Weisheit (philosophia perennis). Diese lässt er als Verbindung von antiker griechischer Philosophie und jüdischen Glaubensvorstellungen „im Christentum kumulieren“ (Schmidt-Biggemann 2003a, 10). Er überträgt den jüdischen Eigennamen Gottes JHVH, der auch als Tetragrammaton bezeichnet wird (vgl. ebd.), in einen christlichen Kontext, indem er den hebräischen Buchstaben Schin in die Mitte des Tetragrammatons setzt. Daraus ergibt sich der Name Jesus (JHSVH=Jeschuh) (vgl. ebd.; Stuckrad 2004, 116).25 Den Beweis, dass die ‚christliche Trinität‘ schon in den jüdischen Schriften zu finden sei, führt er auf drei Stellen in der ‚Heiligen Schrift‘ zurück: Exodus 3,1426; Jesaia 42,8; Deuteronomium 2,14 (vgl. ebd. 13): Diese Textstellen, so Reuchlin, weisen auf die Verwendung von drei unterschiedlichen Gottesnamen27 im Judentum hin. Diese Gottesnamen setzte er in Analogie zur christlichen Trinität und
25 Der Name des christlichen Messias ist im jüdischen Gottesnamen nur dann zu lesen, wenn man das erste H griechisch liest, das V im Sinne der hebräischen Leseart als U und das zweite H im Sinne des Hebräischen He und des lateinischen H als stumm (vgl. Schmidt-Biggemann 2003a, 22). 26 Wilhelm Schmidt-Biggemann verweist hier auf Exodus 3,34, die von Johannes Reuchlin zitierte Stelle findet sich aber sowohl in der Zunz-Übersetzung der ‚Heiligen Schrift‘ als auch in der Lutherbibel bei Exodus 3,14 (vgl. Schmidt-Biggemann 2003a, 13). 27 Den ersten Gottesnamen „Ejieh“ leitet Johannes Reuchlin aus der bekannten ExodusPassage 3,14 ab, in welcher sich der israelitische Gott Moses mit den Worten „Ich bin, der ich bin“ zu erkennen gibt („Ehjeh Ascher Ehje“). Den zweiten Gottesnamen „Hu“,
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legitimierte somit sein christliches Konzept (vgl. Krochmalnik 2010, 8ff.; Schmidt-Biggemann 2003a, 13). Ein wichtiges Werk der christlichen Kabbala stellt Johannes Reuchlins Werk De Arte Cabalistica (2010 [1517]) dar, welches Elemente der Ideenwelt der Pythagoreer mit naturwissenschaftlichen und magischen Narrativen kombinierte (vgl. Dan 2007, 86). In dieser „hermetisch esoterischen Interpretation der Kabbala“ (Kilcher 2001, 725), stehen ‚magische‘ Elemente im Vordergrund. Die ‚magischen‘ Aspekte dieser kabbalistischen Überlegungen gehen auf die Annahme einer „magischen Funktion der hebräischen Sprache“ (Kilcher 1998, 79) zurück, die sich in der Unübersetzbarkeit des Hebräischen begründe: „Die magische Sprache kann nur diejenige sein, gemäß deren Grammatik die Welt konstruiert ist, und nach deren semiotischen Gesetzen die Ordnung und Verhältnisse der Dinge reguliert sind – also die hebräische Sprache, ihre Buchstaben und vor allem die Namen.“ (Ebd. 79-80)28
Danach wird der hebräischen Sprache, im Besonderen hebräischen Namen bzw. Gottesnamen, aufgrund der Unübersetzbarkeit, eine magische Funktion zugeschrieben (vgl. Kilcher 1998, 80ff.; Reuchlin 1996 [1494], 198f.).29 In der Kabbala Denudata (1677–1684) von Christian Knorr von Rosenroth (1636–1689), die eine Sammlung kabbalistischer Ideen darstellt, werden wiederum Elemente der lurianischen Kabbala rezipiert (vgl. Dan 2007, 90; Kilcher 1998).
welcher das hebräische Personalpronomen für „er“ darstellt, leitet er aus Jesaia 42,8 ab und den dritten Gottesnamen „Esch“, der Gott als Feuer bezeichnet, wird aus einer Aussage aus Deut. 2,14 abgeleitet (vgl. Reuchlin 1996 [1494], 212f.). Die Argumentation für die trinitarische Konstruktion der hebräischen Gottesnamen lautet bei Reuchlin folgendermaßen: „Idem est ignis quemadmodum de visibilium rerum natura dicimus ‚substantia‘, ‚virtus‘, ‚operatio‘“ (ebd. 220). 28 Diese These knüpft an die neuplatonischen Vorstellungen von Origenes (2. Jahrhundert) (Contra Celsum) und Jamblichos (um 325) (De mysteriis aegyptiorum) an. 29 Magische Ideen tauchen beispielsweise in den Werken von Agrippa von Nettesheim (1486–1535) auf, der in seinem Werk De occulta philosophia (1533) neuplatonische Vorstellungen mit ‚Hermetismus’ und ‚arabischer Magie’ verknüpft (vgl. Béhar 2003, 102; Kilcher 1998, 82ff.).
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Kabbala im 18. und 19. Jahrhundert Zahlreiche Elemente aus dem Kontext der christlichen Kabbala, allen voran, die ‚sprachmagischen‘ Aspekten wurden innerhalb ‚alchemistischer, ‚rosenkreuzerischer‘ und ‚freimaurerischen‘ Literatur rezipiert und lassen sich bis ins 19. Jahrhundert belegen (vgl. Kilcher 1998, 86; Kilcher 2001, 725). Während kabbalistische Ideen und Inhalte aufgrund der irrationalen Spekulationen in Folge der jüdischen Aufklärung (Haskala) und der Bestrebungen der Wissenschaft des Judentums in Europa fast gänzlich aus „dem Denken der Mehrheit verbannt“ (Dan 2007, 133) wurden, wirkten sie, wie bereits Gershom Scholem feststellte, bis ins 18. und 19. Jahrhundert auf die christliche Theologie, Philosophie und Literatur in Europa ein (vgl. Stuckrad 2004, 130): „Seit die europäische Welt am Ausgang des Mittelalters mit der jüdischen Mystik und Theosophie, der Kabbala bekannt wurde, hat sie im Laufe der Jahrhunderte die mannigfachsten Vorstellungen mit diesem Komplex ‚Kabbala‘ verbunden. Der Name der geheimnisvollen Disziplin [...] wurde ein beliebtes Schlagwort in allen theosophisch und okkultisch interessierten Kreisen der Renaissancewelt und ihrer Nachfolger im Barock. Er wurde eine Art Flagge, unter der […] dem Publikum so ungefähr alles angeboten werden konnte: von wirklich Jüdischem über schwach judaisierende Meditationen tiefer christlicher Mystiker bis zu den letzten Jahrmarktsprodukten der Geomantie und Kartenwahrsagerei.“ (Scholem 1994, 7f)
Auch in den Werken von Autoren der Romantik, wie Friedrich Wilhelm Joseph Ritter von Schelling (1775–1854), Johann Gottfried von Herder (1744–1803) oder Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819), lassen sich kabbalistische Ideen feststellen (vgl. Goodman-Thau, Mattenklott und Schulte 1994; Stuckrad 2004, 128f.). Während Kabbala unter dem Einfluss der jüdischen Aufklärung an Bedeutung innerhalb vieler jüdischer Gemeinschaften verlor, gewannen kabbalistische Ideen und Praktiken während der Romantik im Zuge einer allgemeinen Faszination für den Orient, die östlichen Religionen und die „Mystik“ an Bedeutung (vgl. King 2006, 7ff.). Im 19. Jahrhundert wurden die Werke der christlichen Kabbala von verschiedenen Vertretern des Okkultismus und der Theosophie rezipiert. Beispielsweise adaptierten Eliphas Lévi, der Wegbereiter des modernen Okkultismus, Helena Blavatsky, die Mitbegründerin der Theosophischen Gesellschaft, Aleister Crowley (1875-1947), Mitglied des Hermetic Order of the Golden Dawn kabbalistische Ideen und Praktiken (vgl. Asprem 2007), um den entsprechenden Gruppen eine „Aura des Geheimnisses“ (Kilcher 2006, 349) zu verleihen. Insbesondere die ‚astrologischen‘, ‚numerologischen‘ und ‚alchemistischen‘ Elemente und Narrative,
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wurden im Kontext des 19. und frühen 20. Jahrhunderts von europäischen, meist nicht-jüdischen Autoren rezipiert (vgl. Dan 2007, 91f.).
K ABBALA UND E SOTERIK Esoterik in der Forschung Der Begriff „Esoterik“ selbst wird in Europa erst im 19. Jahrhundert vom ‚Okkultisten‘ Éliphas Lévi eingeführt und bezeichnet in Anlehnung an die griechische Bedeutung des Wortes „esóteros“, was so viel wie „weiter innen“ gelegen (vgl. Knoblauch 2009, 102) bedeutet, eine geheime Lehre.30 Die wissenschaftliche Auseinandersetzung auf diesem Gebiet begann erst in den 1960er Jahren durch die Arbeiten von Frances A. Yates (1899–1981). Zur Profilierung der Esoterik-Forschung führten erst die Arbeiten von Antoine Faivre, der in seinem für die Esoterik-Forschung wichtigen Werk L’Ésotérisme (1992) einen systematischen Entwurf der Esoterik auf der Grundlage der Erforschung der Religionsgeschichte der Renaissance und der Neuzeit entwickelte (vgl. Stuckrad 2004, 10). In den Arbeiten von Faivre bleiben entscheidende Bereiche der europäischen Religionsgeschichte, wie die Zeit der Antike, des Mittelalters und der Moderne sowie die jüdische und muslimische Esoterik, unberücksichtigt. Auch der Buddhismus, der gegenwärtige esoterische Diskurse beeinflusst, erfährt von Faivre keine Beachtung. Kocku von Stuckrad setzt hier deshalb mit der Intention das Gesamtbild zu vervollständigen an. In seinem Überblickswerk Was ist Esoterik? – Kleine Geschichte des geheimen Wissens. (2004) beschreibt er Esoterik, indem er darauf hinweist, dass esoterische Lehren keine klar definierten Lehren oder Traditionen innerhalb eines ‚Sinnsystems‘ darstellen, weshalb er den „diskursiven kulturellen Transfer“ ins Zentrum seiner Analyse rückt (vgl. ebd. 15ff.). Als Kennzeichen des esoterischen Diskurselements identifiziert Stuckrad Erkenntnisansprüche, die auf „das ‚eigentliche‘ oder das absolute Wissen abheben“ (ebd. 21). Auch die unterschiedlichen Arten dieses Wissen zu erwerben seien Eigentümlichkeiten dieses Diskurses. Dabei könne es sich um den individuellen Aufstieg des nach Wissen Suchenden handeln oder um Kommunikation mit transempirischen Wesen (vgl. ebd.). Was einen Diskurs esoterisch mache, sei „die Rhetorik einer verborgenen Wahrheit, die auf einem bestimmten Weg enthüllt werden kann und gegen andere Deutungen von Kosmos und Geschichte – nicht selten die der institutionalisierten
30 Im Vergleich zu den ‚exoterischen‘ Lehren, welche allen zugänglich seien, sei der Zugang zu ‚esoterische Lehren’ reglementiert (vgl. Faivre 1986; Halbertal 2007).
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Mehrheit – in Stellung gebracht wird“ (ebd.). Kabbalistische Traditionen stellen einen Teilaspekt des europäischen Esoterik-Diskurses dar31, denn auch hier lässt sich die „Dialektik von Verborgenem und Offenbartem“ (ebd.) identifizieren. Ein wiederkehrendes Motiv des Esoterik-Diskurses stelle die Konstruktion einer Kette von Eingeweihten dar. Die Konstruktion geheimer und limitierter ‚Rezeptionslinien‘ als Legitimationsstrategie religiöser Gruppen wurde bereits am Bespiel der mittelalterlichen Kabbala aufgezeigt. Ein weiterer Faktor der diskursiven Analyse besteht nach Stuckrad in der Ausgrenzung der Anderen, die entweder in der bewussten Hinwendung einer Minderheit zu alternativen Sinnkonstruktionen bestehen kann oder eben in der Ausgrenzung einer Minderheit durch die Mehrheit (vgl. ebd. 22). Der Aspekt der Ausgrenzung spielt auch eine wichtige Rolle bei der historischen Erforschung der Kabbala, da sich kabbalistische Strömungen meist von den religiösen Vorstellungen der Majorität abgrenzen.32 Moderne kabbalistische Gruppierungen rezipieren und adaptieren – wie im Anschluss am Beispiel des Kabbalah Centre aufgezeigt wird ebenfalls alte kabbalistische Motive, Ideen und Praktiken und verknüpfen sie mit esoterischen Elementen aus anderen religiösen oder weltanschaulichen Traditionen.
31 Hier muss auf die Komplexität des Begriffes „Kabbala“ und der damit einhergehenden Strömungen und Deutungsrahmen hingewiesen werden, die eine besondere Stellung innerhalb der jüdischen Religionsgeschichte haben und deshalb nicht davon abgelöst zu betrachten sind. Auf die damit einhergehende Problematik wird im Anschluss noch näher eingegangen. 32 Auch heute gibt es zahlreiche kabbalistische Gruppierungen, die sich von der dominanten Form des Judentums abheben. Dazu zählt allen voran die international tätige Chabad-Organisation. Zahlreiche kleine Gruppierungen findet man vor allem in Israel, die sich um die Lehren von Kabbalisten wie Rabbi Yehuda Ashlag oder Rabbi Abraham Yizchak Kook bilden. Beides sind jüdische Denker des 20. Jahrhunderts, die die Lehren und Inhalte des bedeutenden jüdischen Kabbalisten des 16. Jahrhunderts, Isaak Luria, rezipieren und adaptieren. Kabbalistische Überlieferungen insgesamt sind heute im orthodoxen Judentum besonders in bestimmten chassidischen Kreisen weit verbreitet (vgl. Dan 2007, 121ff. und 139ff.).
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Esoterik als Gegenstandsbereich in der Religionswissenschaft Die Esoterik-Forschung hat sich zwar in den letzten Jahren als akademische Disziplin etabliert,33 allerdingt herrscht kaum Einigkeit über die Gegenstandsbestimmung dieser Forschungsdisziplin. Zur wissenschaftlichen Akzeptanz der EsoterikForschung haben die Arbeiten von Antoine Faivre einen wesentlichen Beitrag geleistet. Er weist in L’Ésotérisme darauf hin, dass Esoterik kein eigenes Gebiet darstellt und der Begriff deshalb auf seine Funktion hin untersucht werden solle (vgl. Faivre 2001, 11). „Sie ist weit weniger ein spezifisches Genre als vielmehr eine Denkform, und will man diese genauer bestimmen, so muss man von den jeweiligen Strömungen ausgehen, in denen sie zutage tritt.“ (Ebd.)34
Auch weist er darauf hin, dass die Verwendung des Begriffes „Esoterik“ im Singular den Irrtum erzeugen könne, es gäbe eine einheitliche esoterische Lehre, weshalb er vorschlägt, das Substantiv in den Plural zu setzen oder das Adjektiv „esoterisch“ zu verwenden (vgl. ebd. 11f.; Stuckrad 2004). Kritisch zu betrachten sei an diesem Ansatz die Konstatierung einer „esoterischen Denkform“, die er innerhalb des „esoterischen Corpus“35 zu erkennen meint und durch folgende sechs Merkmale typologisiert: Die „Entsprechungen“, „die lebende Natur“, „Imagination und Meditation“, die „Erfahrung der Transmutation“, die „Konkordanzbildung oder Transmission“ (Faivre 2001, 24ff.). Dieser Ansatz, der eine Nähe zur Phänomenologie darstellt, wird in der kulturwissenschaftlichen Religionswissenschaft kritisch betrachtet, da die Gefahr besteht, religiöse Implikationen in die Forschung miteinzubeziehen (vgl. Bergunder 2008, 484f.). Ein weiterer Kritikpunkt seines Ansatzes liegt in der selektiven Auswahl der Schriften. Kocku von Stuckrad kritisiert, dass Faivre „seine Typologie aus einem ganz bestimmten Teil der neu-
33 Die institutionelle Etablierung erfolgt 1965 durch die Einrichtung eines Lehrstuhls für „Geschichte der christlichen Esoterik“ in Paris durch die maßgebliche Initiative von Henry Corbin sowie die Einrichtung eines weiteren Lehrstuhls für „Hermetische Philosophie“ 1999 in Amsterdam (vgl. Hanegraaff 2001, 22ff.). 34 Diese Übersetzung stellt eine überarbeitete und erweiterte Neufassung des 1992 unter dem oben genannten Titel erschienen Werkes dar. 35 Unter „esoterischer Corpus“ fasst Antoine Faivre die Hermeneutik, die okkulten Künste – wie Magie, Alchemie und Astrologie – die christliche Kabbala, den Paracelsismus, die christliche Theosophie und das Rosenkreuzertum zusammen (vgl. Faivre 2001).
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zeitlichen Religionsgeschichte extrapoliert“ (Stuckrad 2004: 14), bei diesen wiederum Ähnlichkeiten feststelle und anderes ausklammere (vgl. ebd.). Ein weiterer Kritikpunkt an Faivres Ansatz liegt in der Tatsache, „dass Esoterik als Forschungsgegenstand vorausgesetzt wird und selbst nicht hinterfragt werden kann und somit sogar die Gefahr besteht, dass sich bereits in der Gegenstandsbestimmung eine esoterische Agenda fortsetzt“ (Bergunder 2008, 486). Einen anderen Zugang der Gegenstandsbestimmung von Esoterik haben Stuckrad (2004) und Wouter Hanegraaff (2012) entwickelt. Stuckrad weist darauf hin, dass „Esoterik“ ein Konstrukt der Wissenschaft sei: „Esoterik existiert nur in den Köpfen von Wissenschaftlern, die Gegenstände in einer Weise ordnen, die ihnen sinnvoll erscheint, um Prozesse europäischer Kulturgeschichte zu analysieren.“ (Stuckrad 2004, 20)
Dieser Ansatz, in dem Esoterik als heuristisches Konstrukt verstanden wird, das Forscher erschaffen, um eine möglichst wertneutrale und objektive Perspektive zum Gegenstand einzunehmen, habe den Vorteil, dass religiöse Interessen ausgeklammert würden, um nicht Eingang in die religionswissenschaftliche Theoriebildung zu finden. Allerdings bleibt hierbei laut Michael Bergunder die Frage unbeantwortet, wie Wissenschaftler den Gegenstand „Esoterik“ konstruieren und wie sie diesen überhaupt legitimieren (vgl. Bergunder 2008, 478f.). Er merkt hierzu an, dass von einem Forschungsgegenstand „Esoterik“ innerhalb der Religionswissenschaft ausgegangen wird, ohne diesen anhand einer theoretischen Verortung oder inhaltlichen Reflexion zu begründen: „Der nominalistische Versuch, esoterische Selbstverständnisse streng von der wissenschaftlichen Bestimmung des Gegenstandes zu trennen, greift deshalb zu kurz und muss zumindest um eine umfassende Reflexion der esoterischen Bezüge der Esoterikforschung bei der Bestimmung ihres Forschungsgegenstandes erweitert werden.“ (Ebd. 479)
Deshalb schlägt Bergunder vor, dass zwischen der Gegenstandsbestimmung und den Intentionen der Forschenden unterschieden werden muss (vgl. ebd.). Schon die Etablierung der akademischen Esoterik-Forschung ist eng mit religiösen Implikationen und Interessen der Forschenden verknüpft. Bergunder schlägt daher eine „historisierende kulturwissenschaftliche Bestimmung von Esoterik als Gegenstand der Esoterikforschung [vor, indem] Esoterik […] als identifikatorischer Allgemeinbegriff in Form eines leeren Signifikanten verstanden“ (ebd. 506f.) wird. Diesem kulturwissenschaftlichen Ansatz folgt, wie bereits im Theorieteil aufgezeigt wurde, auch diese Arbeit.
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G EGENWÄRTIGE K ABBALA Innerhalb des Judentums wuchs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Interesse an Kabbala (vgl. Huss 2007a).36 Vor allem in Israel, aber auch in den USA entstanden verschiedenen jüdischen Gruppen, die kabbalistische Texte rezipierten und kabbalistische Praktiken adaptierten.37 In Jerusalem bildeten sich einzelne Gruppen um herausragende Persönlichkeiten38 (vgl. ebd. 108), die sich mit Kabbala beschäftigten.39 Folgt man Jonathan Garb, so lassen kabbalistische Ideen im gegenwärtigen Israel in vier Hauptströmungen verorten: im Chassidismus (z.B. die Gruppe Chabbad), im Ultra-Orthodoxen Judentum (z.B. litauische Juden), im orientalisch-sefardischen Judentum und in der religiös-zionistischen Welt (vgl. Garb 2009, 12ff.). Die Bedeutung und die gesellschaftliche Stellung von Kabbala hat sich in Israel insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewandelt: populäre Formen von Kabbala wurden „an integral part of the new Israeli spirituality“ (Garb 2009, 12). Unzählige Publikationen oder Kabbala-Kurse zeugen von der gegenwärtigen Präsenz kabbalistischer Themen im heutigen Israel. Als Teil der Populärkultur finden sich kabbalistische Themen außerdem in Literatur, Kunst, Fernsehen, Popmusik etc. (vgl. ebd. 12f.). Dieser Trend, der längst über Israel hinausgegangen ist, stellt seit der Adaption kabbalistischer Elemente im Zuge der NewAge-Bewegung ein „transnationales Phänomen dar“ (vgl. Altglas 2014, 54): „Originating in different sources, from Western esotericism to Jewish circles, Kabbalistic teachings are increasingly diversified. It is spread in an Orthodox fashion through Hasidism, and Jewish Renewal-influenced organizations, within proliferating traditional Kabbalistic
36 Eine ausführliche Darstellung über die Entwicklung und Verbreitung von Kabbala im 20. Jahrhundert siehe Garb 2009: The Chosen Will Become Herds. Studies in Twentieth-Century Kabbalah (Garb 2009) 37 Eine ausführliche Darstellung der Verbreitung von Kabbala in den USA siehe: Meir 2013: The Beginnings of Kabbalah in America: The Unpublished Manuscripts of R. Levi Isaac Krakovsky (Meir 2013) 38 Hier sind beispielsweise Yehuda Fataya aus Bagdad, Shlomo Eliashov aus Litauen oder Yehuda Ashlag aus Polen zu nennen (vgl. Huss 2007a, 108) 39 Bereits der erste aschkenasische Oberrabbiner für Palästina, Abraham Isaak Kook (1865-1935), integrierte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kabbalistische Elemente in seine Werke und verknüpfte sie mit der zionistischen Ideologie (vgl. Huss 2007a, 108).
140 | K ABBALA UND RELIGIÖSE I DENTITÄT yeshivot (religious schools) in Israel, and is now introduced in Jewish studies in universities and adult education programs in North America, Europe, and Israel.“ (Ebd.)
Das hier untersuchte Kabbalah Centre ist Ausdruck des wachsenden Interesses an Kabbala im jüdischen und nicht-jüdischen Kontext. Anhand der Entwicklung des Kabbalah Centre kann zum einen die Verbreitung kabbalistischer Ideen und Praktiken illustriert werden, zum anderen kann ein Prozess aufgezeigt werden, der für die gegenwärtige religiöse Landschaft charakteristisch ist: das Herauslösen einzelner Elemente aus der jeweiligen Herkunftsreligion – in diesem Fall werden kabbalistische Elemente aus dem Judentum herausgelöst – und die Kombination mit anderen religiösen und säkularen Elementen und therapeutischen Ansätzen (vgl. ebd. 55ff.). Kabbala und die ‚Esoterik-Szene‘? Um neue religiöse Vergemeinschaftungsformen hinreichend analysieren zu können, hat sich in den letzten Jahren der Szene-Begriff in den Sozialwissenschaften etabliert. In Anlehnung an die Terminologie von Ronald Hitzler (vgl. Hitzler und Pfadenhauer 2006; Hitzler 2010) stellt eine „Szene“ eine Vergemeinschaftungsform dar, die erstens nicht auf gemeinsame Lebenslagen oder Standesinteressen begründet ist und zweitens einen äußerst geringen Verbindlichkeitsgrad und Verpflichtungscharakter aufweist und deshalb nicht auf exklusive Teilhabe40 hin ausgerichtet ist (vgl. Hitzler und Pfadenhauer 2006, 2406f.). Charakteristisch für eine Szene ist die thematische Fokussierung, weshalb in dieser Arbeit die Begriffe „Esoterik-Szene“ oder „Kabbala-Szene“ vorgeschlagen werden. Mit „Esoterik-Szene“ wird in Anlehnung an den Szene-Begriff eine religiöse Szenerie beschrieben, die sich in ihrer Selbstbezeichnung als „esoterisch“ darstellt bzw. sich an Elementen des Esoterik-Diskurses bedient. Eigenschaften dieser ‚Szenegänger‘ sind Hitzler und Pfadenhauer zufolge eine Form der Spiritualität, die sich im „[Mischen von] spezifischen Transzendenz-Erwartungen und Erfahrungen mit szene-externen […] Deutungspartikeln“ (ebd. 2409) konstituiert. „Szene“ stellt demzufolge eine neue Sozialform von Religion in sogenannten „posttraditionalen Gesellschaften“ (ebd.) dar.41 Da sich diese Szene-Gemeinschaften nicht um bestimmte Zentren, die als „heilig“ verstanden werden, bilden, sondern um „Rituale und Symbole der Heiligung [Hervorh. im Orig.]“ (Hitzler und Pfadenhauer 2006, 2407), kann der einzelne religiöse Akteur innerhalb der Szene
40 Dies zeichnet sich vor allem in einer niedrigen Ein- und Austrittsschwelle aus. 41 Siehe auch Bochinger, Engelbrecht, und Gebhardt 2009a.
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seine eigene Spiritualität pflegen (vgl. ebd.). In der Forschung geht man davon aus, dass die als alternativ verstandenen religiösen Inhalte, Ideen und Formen, die das alternativ-religiöse Feld konstituieren, zum Teil auf das Angebot der Neuen Religiösen Bewegungen zurückgehen (vgl. Hero 2008a, 169). Kennzeichnend für das Feld in Deutschland sind den Neuen Religiösen Bewegungen zahlenmäßig weit überlegene Einzelunternehmen, die in ihren Zentren „Sinn und Sinntechniken“ (ebd. 170) meist in Form von Dienstleistungen von Coachings oder als Heiler und Therapeuten anbieten: „Der ‚Psychoboom‘ mit seinen verschiedenen religiös beladenen Therapieformen und Selbsterfahrungstechniken hat längst dazu beigetragen, ehemals exotische Namen und Wissensbestände über magische und religiöse Praktiken im Alltagsbewusstsein vieler Menschen zu verankern: ‚Feng Shui‘, ‚Reiki‘, ‚Enneagramm‘, ‚Tarot‘, ‚Bachblüten‘, ‚Channeling‘, ‚Rebirthing‘, ‚Aurareinigung‘, ‚Astrologie‘, ‚Geoästhesie‘, ‚Qui Yong‘, ‚Yoga‘, ‚Meditation‘ und ‚Hypnose‘ sind keine elitären, obskuren Praktiken mehr, sondern werden als ‚uralte Weisheiten‘ zunehmend Teil der Freizeitgestaltung breiter gesellschaftlicher Schichten. Im Mittelpunkt der einschlägigen Workshops, Seminare und Vorträge stehen Heil, Heilung sowie die Einweihung in heilsrelevante Kräfte und Wissensbestände – all dies zum Zweck, dem Kunden Lebenshilfe, Persönlichkeitsentwicklung und Sinnfindung in Aussicht zu stellen.“ (Ebd.)
Besonderen Einfluss haben auch sogenannte „Makler“ in der Esoterik-Szene (vgl. Rademacher 2010). „Makler“ stellen ‚neutrale‘42 Kommunikationsknoten zwischen Spezialanbietern und Rezipienten dar. Sie sind Zentrumsbetreiber, Verleger oder Buchladenbesitzer und verfügen über eine spezifische Form der Autorität, da sie aufgrund ihrer Zentralität innerhalb ihres Netzwerkes über institutionelle Macht verfügen (vgl. ebd. 119ff.). Sie bestimmen mit bei der Verbreitung von ‚esoterischen’ Lehren und Inhalten und spielen somit auch eine zentrale Rolle bei der Verbreitung von Kabbala. In vielen großen Buchläden lässt sich eine eigene Rubrik „Kabbala“ finden. Das Angebot reicht über Yehuda Bergs Klassiker Die Macht der Kabbala (2003a), über Kabbala als Yoga-Weg des Westens (vgl. Fortune 2014) bis hin zu „Quantum Kabbala“ (vgl. Laitman 2007). Kabbalistische
42 Der Terminus „neutral“ verweist darauf, dass sich Makler nach außen meist nicht zu einem bestimmten Lehrer, einem bestimmten Konzept positionieren, um eine möglichst große und vielfältige Kundschaft anzusprechen. Insofern begegnen Makler auch den Angeboten von Organisationen mit Exklusivitätsanspruch mit Vorsicht, da sich solche Angebote auf dem Markt der Religionen längst nicht mehr bewähren (vgl. Rademacher 2010, 119ff.).
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Themen und Inhalte werden darüber hinaus in unterschiedlichsten Formen und Ausgestaltungen über die ‚neuen‘ Medien verbreitet. Wie Boaz Huss bereits festgestellt hat, verschwimmen in gegenwärtigen Formen von Kabbala häufig die Grenzen zwischen Religion, Spiritualität, Wissenschaft und Alltagskultur (vgl. Huss 2005). Auf Webseiten von Einzelanbietern werden kabbalistische Lebensanalysen, Beziehungsanalysen oder Geburtsanalysen angeboten. Ideen und Inhalte aus den unterschiedlichsten religiösen Sinndeutungsangeboten werden dort miteinander kombiniert und mit Kabbala in Verbindung gebracht wie zum Beispiel Astrologie und Numerologie (vgl. Schweyer; Hippe; Häßle; A.; Tratberger). Um unterschiedlichste Einzelanbieter bilden sich Kleingruppen, die den Rezipienten kabbalistische Lehren näher bringen. Neben dem Kabbalah Centre, dessen Inhalte und Lehren über Spezialanbieter vermittelt werden (in der Regel Kabbalah Centre-Lehrer oder Kabbalah Centre-Schüler), die an den verschiedensten Orten in Deutschland Kleingruppen organisieren, gibt es weitere kabbalistische Organisationen wie das von Michael Laitman initiierte kabbalistische Bildungsund Forschungszentrum Bnei Baruch (vgl. Bnei Baruch Kabbalah Education and Research Institute 2017).
Das Kabbalah Centre
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UND
N EW A GE
New Age als Gegenstandsbereich in der Religionsforschung New Age soll hier als buzzword verstanden werden, das den öffentlichen Diskurs um alternative1 Formen der Religiosität auch im deutschsprachigen Raum seit den 1980er Jahren bestimmt und große Popularität erlangte.2 Diese Fremdzuschreibung einer alternativen religiösen Strömung wurde später auch von den Akteuren als Selbstbeschreibung übernommen und als Marketingstrategie erfolgreich eingesetzt. Erst durch die öffentliche Diskussion um die sogenannten Jugendsekten und die damit einhergehenden Debatten um Gehirnwäsche, Vorwürfe der Scharlatanerie und der finanziellen Ausbeutung durch New-Age-Aktivisten kam es zu einer Abwertung des Begriffes. Ein Paradigmenwechsel vollzog sich Anfang der 1990er Jahre, als die Begriffe „Esoterik“ und „Spiritualität“ den New-Age-Begriff, der hauptsächlich mit negativen Zuschreibungen belegt war, im öffentlichen Diskurs ersetzten. In der deutschsprachigen religionswissenschaftlichen Forschung zählt die Auseinandersetzung mit New Age nach wie vor zu einem marginalen Forschungsfeld. Eine umfangreiche und systematische Darstellung dieses Phänomens veröffentlichte Christoph Bochinger 1994 in seiner Dissertation New Age und moderne Religion. Wie Bochinger konstatiert, fehlt dem New Age ein institutioneller und somit auch dogmatischer Kern. Eine Einheitlichkeit dieses Phänomens meint er in einer „New Age Weltanschauung“ (vgl. Bochinger 1994) zu entdecken, deren 1
Mit der analytischen Kategorie ‚alternativ‘ wird hier die Abweichung vom religiösen
2
1986 konnten rund 40 deutschsprachige Zeitschriften zum Thema „New Age“ erfasst
Mainstream der jeweiligen Zeit bezeichnet. werden (vgl. Knoblauch 1989, 505f.; Knoblauch 2010).
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Wurzeln er in der Esoterik sieht. Die Arbeiten von Carl Gustav Jung (1875-1961), Franz Anton Mesmer (1734-1815) und Emanuel Swedenborg (1688-1772) haben nach Bochinger eine zentrale Bedeutung für die Konstituierung von New-Age-Inhalten, in deren Zentrum immer die Entwicklung des individuellen Selbst stehe (vgl. auch Knoblauch 2009, 108f.). Auch der „vertikale Transfer“ (Gladigow 1995, 31) zwischen Naturwissenschaften und religiösen Sinn- und Weltdeutungsmustern spielt eine tragende Rolle bei der Konstituierung von New-Age-Inhalten. Neue Erkenntnisse der Naturwissenschaften bieten die Möglichkeit, „das Materielle und das Immaterielle ebenso wie Religion und Wissenschaft zusammenzudenken“ (Hock 2008, 109), und stellen die Basis für ein holistisches Weltbild dar, das New-Age-Themen zu durchdringen scheint.3 Ältere Ansätze in der deutschsprachigen Forschung versuchen das Phänomen vor allem aus soziologischer Perspektive zu deuten. Hier standen die „SinnverlustThese“ von Horst Stenger (1989; 1990) und die These von der „Revolte gegen die Moderne“ von Joachim Raschke (1980) lange Zeit im Zentrum der Forschung. Abwertende Termini wie „vagabundierende Religiosität“ und „religiöse Anomie“ bestimmten den akademischen Diskurs um New Age (vgl. Münch 1991, 84; Küenzlen 1987, 187). Auch die ‚religiösen Qualitäten‘ des New Age wurden infrage gestellt (vgl. Mörth 1989). Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema „New Age“ stößt in der rezenten Wissenschaftswelt z. T. noch immer auf Ablehnung. Die Polemik gegen New Age und Esoterik dominiert auch den öffentlichen Diskurs um diese Themengebiete.4 Eine umfangreiche Auseinandersetzung mit dem Thema „New Age“ findet sich vor allem in den Arbeiten des Soziologen Hubert Knoblauch. Dieser umschreibt New Age „als ein Konglomerat verschiedener Segmente, wie etwa ‚Psychogruppen‘, moderne Magie, ‚Öko-Spiritualismus‘, die weder als ‚die‘ New-Age-Bewegung bezeichnet werden können noch in einem engeren Sinne religiös sind.“ (Knoblauch 1993, 250; vgl. auch Knoblauch 1989)
3
Dieser vertikale Transfer ist kein Kennzeichen des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Er prägt die europäische Religionsgeschichte spätestens seit der Entdeckung von Elektrizität und Magnetismus im 17. und 18. Jahrhundert (vgl. Gladigow 1995, 31ff.).
4
Das polemische Narrativ gegen esoterische bzw. New-Age-Inhalte im Sinne alternativer, heterodoxer Glaubensinhalte ist Hanegraaff zufolge in der europäische Religionsgeschichte seit Beginn des Christianisierungsprozesses vorherrschend (vgl. Hanegraaff 2012).
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In aktuellen Analysen der Gegenwartsreligiosität in Deutschland wird konstatiert, dass Inhalte und Praktiken, die innerhalb der New-Age-Bewegung rezipiert und praktiziert wurden, nun nicht mehr auf das Milieu der New-Age-Anhänger eingegrenzt bleiben, sondern Teil der populären Kultur geworden seien und somit auch einen wesentlichen Motor für die Transformation des Religiösen darstellten (vgl. Knoblauch 2010, 149ff.). Wohngemeinschaften und Kommunen der 1960er Jahre und der dadurch entfachte Diskurs über Sekten und Jugendreligionen5 führten zwangsläufig zu einer Veränderung der Organisationsstruktur dieser New-AgeGruppierungen im Sinne einer Weltzuwendung und Öffnung nach außen. Die Folge dieser Verlagerung von einer sogenannten Mitglieder- zu einer Publikumsreligion (vgl. Pollack 2000, 18) erfordert den Einsatz von Werbestrategien aus der Ökonomie sowie das Anbieten von Inhalten und Praktiken als Dienstleistungen. Dies führe, so Knoblauch, in weiterer Folge zur Ausbildung eines religiösen Marktes, in dem Sinne, dass sogenannte Heilsanbieter auf Nachfrage reagieren können (vgl. Knoblauch 2010, 61f.; Zinser 1997)6. Mit dem dienstleistungsartigen Anbieten religiöser Inhalte und Praktiken und dem Einsatz von Werbetechniken sei auch eine umfangreiche Verbreitung und Popularisierung der Inhalte und Praktiken verbunden.7 Diesen Prozess der Verbreitung von Inhalten und Praktiken in der Gesellschaft subsumiert Knoblauch (2009; 2010) unter dem Begriff „populäre Spiritualität“: „Die populäre Spiritualität zehrt keineswegs ausschließlich von der ‚New-Age-Bewegung‘, doch stellt diese Bewegung einen sehr bedeutenden Motor der Transformation der Religion, insbesondere im europäischen Raum dar.“ (Knoblauch 2010, 150)
Der zentrale Aspekt dieser Popularisierung bestehe darin, dass sich diese Formen der Spiritualität nicht mehr – wie lange Zeit in der Forschung angenommen8 – auf
5
Dieses Thema wird im Kapitel 2.2 detailliert behandelt.
6
Hubert Knoblauch bezieht sich hier auf Dissertation von Markus Hero, die 2010 unter dem Titel Die neuen Formen des religiösen Lebens. Eine institutionentheoretische Analyse neuer Religiosität veröffentlicht wurde (vgl. Hero 2010).
7
Dieser Prozess wird am Bespiel des Kabbalah Centre noch ausführlich dargestellt.
8
Hubert Knoblauch (2010) verweist hier auf die Arbeit von Linda Woodhead und Paul Heelas (2005), welche auf die Eingrenzung eines alternativ-spirituellen Milieus hinweisen, das sie vom kirchlichen Milieu unterscheiden. Neuere Forschungsergebnisse in Hinblick auf die Verbreitung alternativ-religiöser Semantiken und Praktiken innerhalb des kirchlichen Milieus finden sich in den bereits diskutierten Forschungsergebnissen der interdisziplinären Studie von Christoph Bochinger, Martin Engelbrecht und
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ein separates, alternatives Milieu beschränkten. So seien, wie bereits Ingo Mörth 1989 für Österreich konstatiert, „auch ohne Wissen um New-Age-Konzepte und aktives New-Age-Engagement Grundzüge des im New-Age verdichteten Weltbildes im Bewusstsein der Menschen verankert“ (Mörth 1989, 306f.). Wie sich die New-Age-Konzepte im Konkreten verbreiten, wird im folgenden Kapitel dargestellt. Das Motiv des ‚neuen Zeitalters‘ im New Age Aurea prima sata est aetas, quae vindice nullo, sponte sua, sine lege fidem rectumque colebat. poena metusque aberant, nec verba minantia fixo aere legebantur, nec supplex turba timebat iudicis ora sui, sed erant sine vindice tuti (OVIDIUS NASO 2014, 14)9
Mit diesem Zitat aus den berühmten Metamorphosen von Ovid, einem mythologischen Werk, das sich mit der Entstehung der Welt auseinandersetzt und das an dieser Stelle ein Zeitalter der Menschheitsgeschichte, das sogenannte goldene Zeitalter beschreibt, soll darauf hingewiesen werden, dass bereits seit der Antike Vorstellungen von epochalem Wandel schriftlich belegt sind. Der Begriff „New Age“ bezieht sich ebenso auf die Idee eines neuen Zeitalters. So sahen zahlreiche Autoren während der Phase der Bewegung der 1960er Jahre in den gesellschaftspolitischen Umwälzungsprozessen einen Hinweis auf die Geburt eines „Neuen Zeitalters“. Allen voran stehen die Werke von Fritjof Capra Das Tao der Physik (2006 [1977]) und Wendezeit (1999 [1983]) sowie Die sanfte Verschwörung (1984) von Marilyn Ferguson (vgl. Hanegraaff 1996, 104). Diese Bücher stellen, so die Soziologen Höllinger und Tripold, den Versuch dar, den Wandel, der mit der Phase der gegenkulturellen Bewegung der 1960er Jahre seinen
Winfried Gebhardt (vgl. Bochinger, Engelbrecht und Gebhardt 2005; Bochinger, Engelbrecht und Gebhardt 2009a). 9
„Ein goldenes Geschlecht wurde zuerst erschaffen, das ohne Beschützer aus eigenem Trieb und ohne Gesetz die Treue und Redlichkeit übte. Strafe und Furcht waren fern, man las noch keine drohenden Worte auf ehernen tafeln, und keine um Gnade flehende Menge bebte vor dem Angesicht des Richters: Ohne Richter waren sie sicher.“ (Ovidius Naso 2014, 15)
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Ausgang fand, als Paradigmenwechsel innerhalb ihrer jeweiligen Disziplin zu erklären (vgl. Höllinger und Tripold 2012, 55).10 Der Begriff „New Age“ selbst wird bereits in den 1960er Jahren im angloamerikanischen Raum populär, kommt jedoch im deutschsprachigen Raum erst in den 1980er Jahren auf. Die Vorstellung eines neuen Zeitalters ist allerdings nichts Neues und taucht in vielen Kulturen immer wieder auf. Die konkrete Vorstellung des Wassermannzeitalters, die den New-Age-Begriff hervorgebracht hat, geht auf astrologische Vorstellungen zurück, denen zufolge alle 2000 Jahre ein neues Zeitalter beginne (vgl. Knoblauch 2010, 150). Einflüsse dieser New-Age-Vorstellung finden sich auch in verschiedenen Publikationen, die sich auf das Jahr 2012 beziehen. Zahlreiche Publikationen aus den unterschiedlichsten Milieus prophezeien auf Grundlage eines Interpretationsversuches des Mayakalenders das Ende dieses Zeitalters (vgl. Nossack 2009; Fischinger 2010). Wie schon die New-Age-Kultautoren der 1970er und 1980er Jahre hegten auch zahlreiche ‚2012-Autoren‘11 die Erwartung, dass sich die Lebensbedingungen auf der Welt verbessern würden, sowohl in sozialer, ökologischer als auch in politischer Hinsicht (vgl. Höllinger und Tripold 2012, 56). Die New-Age-Bewegung Der Ausgangspunkt der New-Age-Bewegung liegt im angelsächsischen Raum. Neben den bereits aufgeführten Büchern, die die New-Age-Bewegung prägten, gelten vor allem das kalifornische Esalen Institute, welches 1962 gegründet wurde, und die ebenfalls 1962 gegründete Findhorn Community in Schottland zu wichtigen Vorreitern dieser Bewegung (vgl. Höllinger und Tripold 2012, 50ff.). Das Esalen Institute (vgl. Esalen Institute and Esalen Center for Theory & Research 2017) gilt als interdisziplinäre Einrichtung, in der Vertreter aus unterschiedlichsten Disziplinen gemeinsam über alternative philosophische, psychologische, spirituelle, therapeutische und künstlerische Themen diskutiert und neue Ansätze entwickelt haben (vgl. Kripal 2008). In diesem Zusammenhang ist die
10 Fritjof Capra sieht dementsprechend in der Entdeckung der Quantenphysik die Bestätigung der Authentizität der östlichen Philosophie und Spiritualität (vgl. Capra 2006). Marilyn Ferguson, die der Human Potential Movement sehr nahestand, bezieht sich in ihrer Argumentation auf populäre astrologische Lehren, denen zufolge alle 2000 Jahre ein neues Zeitalter beginne, das mit einem revolutionären Bewusstseinswandel einhergehe (vgl. Ferguson 1984). 11 Damit sind all jene Autoren gemeint, die dem Jahr 2012 eine besondere Bedeutung zuschreiben.
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Entwicklung der humanistischen Psychologie und des Human Potential Movement hervorzuheben, deren Konzepte die Selbstverwirklichung des Individuums ins Zentrum des therapeutischen Prozesses rücken. Die Geburt der integrativen Gestalttherapie durch Fritz Perls (1893-1970) sowie der klientenzentrierten Gesprächstherapie12 durch Carl Rogers (1902-1987) sind nicht zuletzt den Einflüssen des Esalen Institute zu verdanken (vgl. Höllinger und Tripold 2012, 54). Auch Virginia Satir (1916-1988), eine wichtige Vertreterin der Familientherapie, gehörte zu den Wegbereiterinnen des Esalen Intitute (vgl. Kripal 2008, 153). Die Wurzeln der New-Age-Bewegung, deren bedeutendste Ausformung man wohl in der Gegenbewegung der 1960er Jahre sehen kann, sieht Wouter Hanegraaff (2009) in der Auseinandersetzung mit dem ‚Ufophänomen‘, welches bereits nach dem zweiten Weltkrieg seinen Anfang fand. Unerklärte UFO-Sichtungen führten dazu, dass sich an zahlreichen Plätzen in Westeuropa und den USA Studiengruppen bildeten, um diese Phänomene zu untersuchen, die bereits nach kurzer Zeit Kultcharakter annahmen (vgl. Hanegraaff 2009, 339ff.). Viele dieser Anhänger seien davon ausgegangen, dass Wesen von anderen Planeten oder Dimensionen auf der Erde wären, um die Menschheit auf eine höhere Entwicklungsstufe zu bringen, damit diese in einem goldenen Zeitalter wieder im Einklang mit der kosmischen Ordnung leben kann (vgl. ebd. 340ff.).13 Ein zentrales Thema der New-Age-Bewegung war das Erreichen außeralltäglicher Erfahrungen durch die Verwendung psychodelischer Substanzen. Alan Watts (1915-1973), Aldous Huxley (1894-1963) und Timothy Leary (1920-1996) zählen zu den bekanntesten Vertretern dieser Generation (vgl. ebd. 353f.). Zentral ist hier, dass die persönliche Erfahrung und die Verwirklichung des Selbst im Zentrum der Spiritualität standen, was bis heute als wesentliches Charakteristikum der New-Age-Spiritualität gesehen wird (vgl. Heelas 1996). Charakteristisch für diese Zeit war außerdem die Bildung von alternativen Lebensformen und Arbeitsgemeinschaften. Die Gründung der Findhorn Community (vgl. Findhorn Foundation 2017) ist nur eine der bekanntesten Beispiele dafür. Auch die Gründung zahlreicher Neuer Religiöser Bewegungen wie etwa Bhagwan oder Transzendentale Meditation sind eng mit der Counterculture der 1960er und 1970er Jahre und der New-Age-Bewegung verbunden (vgl. Höllinger und Tripold 2012, 50ff.).
12 Diese therapeutischen Schulen sind in Österreich gesetzlich anerkannt. Die Ausbildung und Ausübung sind gesetzlich über das Psychotherapiegesetz seit 1991 geregelt. 13 Diese Vorstellungen wurden von Rudolf Steiners anthroposophischen Ansätzen beeinflusst sowie durch die Arbeiten der christlichen Theosophin Alice Bailey (Hanegraaff 2009, 341ff.).
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Insgesamt kann die New-Age-Bewegung als ein sehr diffuses Phänomen beschrieben werden, das weder einheitlich organisiert ist noch eine einheitliche Lehre verbindet. „Auch die Vermutung, das New Age sei eine halbwegs einheitliche soziale Bewegung (gewesen), führt in die Irre. Schon zu ihren Hochzeiten erschien sie eher als Sammelsurium unterschiedlicher Bewegungen. Sofern überhaupt von einer sozialen Struktur die Rede sein kann, ähnelt diese zumindest keiner der bekannten Formen religiöser Institutionen. Die New-Age-Bewegung basiert auf einer großen Zahl kleiner Gruppierungen und Organisationen, von denen einige (auch wenn sie sich selbst oftmals gar nicht ausdrücklich dem New Age zurechnen) darauf abzielen, ein sich selbst organisierendes ‚Netzwerk‘ auszubilden.“ (Knoblauch 2010, 151)
Zentral ist in diesem Zusammenhang, dass sich die New-Age-Bewegung weder als soziale Bewegung deutlich bestimmen lässt noch inhaltlich eindeutig definierbar ist. Hubert Knoblauch schlägt deshalb vor, New Age durch seine „Wissens- und Erfahrungsformen“ und seine Praktiken zu bestimmen (vgl. ebd. 152). „Auch wenn das New Age also keine Organisationsformen annimmt, wie sie häufig mit der Religion in Verbindung gebracht werden, so findet es doch mit seiner besonderen Wissensund Praxisform einen sichtbaren sozialen Ausdruck, also eine ‚soziale Form‘.“ (Ebd. 158)
Diese Wissens- und Praxisformen – so konstatiert Knoblauch – sind längst schon über einen kleinen Kreis an Interessierten hinausgegangen (vgl. ebd. 149) und sind ‚populär‘ geworden (vgl. Knoblauch 2009; Knoblauch 2010). Knoblauch zeigt auf, dass das in den Anfängen als Subkultur wahrgenommene New Age der 1960er Jahre Tendenzen der Etablierung in der Gesellschaft beinhalte und verweist in diesem Zusammenhang auf den von Frederick Lynch geprägten Begriff des „occult establishment“. „The Occult Establishment was so-named […] because it emerged as the vehicle for a ‚respectable‘ middle-class revival of interest in heretofore ‚deviant‘ or ‚far-out‘ occult and psychic literature, teachings, and practices.“ (Lynch 1979, 281)14
14 Frederick Lynch nimmt hier auf das Konzept des amerikanischen Theologen Martin Marty (1970) Bezug, der in der „Evolution von Glaubenssystemen, Organisationen und magischen Praktiken“ (Lynch 1979, 281) in den USA die Entwicklung eines occult establishment sieht (vgl. ebd.).
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Das Interesse gebildeter Mittelschichtangehöriger an dieser Bewegung führte in weiterer Folge dazu, dass die New-Age-Bewegung sich sozial etablierte, von breiteren Bevölkerungsschichten also anerkannt wurde, und sich Teile dieser Bewegung institutionalisierten (vgl. Knoblauch 2010, 159). In den letzten Jahren lässt sich also eine Transformation auf dem religiösen Feld konstatieren, für die die institutionalisierten Formen der New-Age-Bewegung15 als zentraler Motor fungiert haben (vgl. ebd. 149ff.). Zu den wichtigsten Wandlungsfaktoren „gehört das Hervortreten neuer, nicht-kirchlicher Ausdrucksformen des Religiösen, welche für ein immer bunter werdendes Bild von Religion in westlichen Gesellschaften sorgen“ (Hero 2008a, 165). Gegenwärtige Kabbala und die New-Age-Bewegung Ein Zusammenhang zwischen der New-Age-Bewegung und rezenter Kabbala lässt sich auf mehreren Ebenen konstatieren. Zum einen haben sich kabbalistische Gruppen wie das Kabbalah Centre im Kontext der New-Age-Bewegungen entwickelt: „The Kabbalah Centre movement has benefited from the rise of the mercantile New Age Movement, as well as the financial advantages of operating of the Jewish communal grid.“ (Giller 2011, 170)
Jody Myers (2007b) zeichnet in ihrem Buch Kabbalah and the Spiritual Quest die Entwicklung des Kabbalah Centre, die sich im Kontext der New-Age-Bewegung in den USA vollzogen hat, nach. Sie zeigt auf, wie das Kabbalah Centre, das sich ursprünglich als jüdisch-orthodoxe Gemeinschaft verstand, seine Zielgruppe seit Beginn der 1970er Jahre dahingehend änderte, dass neben Männern auch Frauen und neben religiösen Juden auch säkulare oder weniger religiöse Juden angesprochen wurden (vgl. Myers 2007a: 33). In diesem Zusammenhang ist der jüdische Kontext hervorzuheben, innerhalb dessen das Kabbalah Centre in den USA entstanden ist. Während noch in den 1940er und 1950er Jahren die jüdisch-religiöse Identität der Eltern und der Gemeinschaft die religiöse Identität der Kinder maßgeblich beeinflusst hat (vgl. ebd. 39), führten ökonomisch bedingte Migrationsbewegungen seit Mitte der 1950er Jahren laut Meyers dazu, dass viele Menschen ihre Gemeinden verließen. Das sich hauptsächlich in Vororten neu konstituierende jüdische Leben habe sich allerdings eher auf das soziale Miteinander als auf die
15 Markus Hero bezieht sich dabei auf Wohngemeinschaften, Kommunen und Kinderläden der 1960er Jahre (vgl. Knoblauch 2010, 161).
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Rückbesinnung auf jüdisch-religiöse Traditionen beschränkt (vgl. ebd. 40). Trotz der jüdisch-orthodoxen und chassidischen Einwanderungsbewegung aus Europa nach dem zweiten Weltkrieg und der Gründung und Errichtung von neuen Schulen und Synagogen, konnte insgesamt ein Schwinden des jüdisch-orthodoxen Lebens in Amerika konstatiert werden (vgl. ebd.; Sarna 2004, 318ff.). Myers schreibt hierzu: „Most of the Jews regarded it as a priority to integrate into American Society, and although they regarded religious affiliation as an element of Americanization, they felt that conspicuous Jewish religious practices were eccentric and isolating.“ (Myers 2007b, 40)
Myers argumentiert weiter, dass sich aufgrund des fehlenden Bezuges zur Herkunftsreligion mit dem Beginn der politischen Protestbewegungen in den 1960er Jahren vor allem viele junge jüdische Menschen zu den zu dieser Zeit boomenden alternativen Religionen bzw. Neuen Religiösen Bewegungen hingezogen fühlten (vgl. ebd. 41). Neben dem Interesse an fernöstlichen religiösen Ideen und Praktiken, die meist dem Buddhismus und Hinduismus entlehnt wurden, wuchs auch das Interesse an Mystik. Insgesamt wurde der jüdische Anteil an den Neuen Religionen auf neun Prozent bei der Church of Scientology, fünfzehn Prozent bei den Krishna-Bewegung, sechs Prozent bei der Vereinigungskirche und über zwanzig Prozent bei der Bhagwan-Bewegung geschätzt (vgl. Melton und Moore 1982). Dies ist hervorzuheben, da „Jews joined these groups at a proportion noticeably higher than their percentage in the large population“ (Myers 2007b, 42).16 Im Zuge dieser Veränderungen auf dem religiösen Feld, in dessen Zentrum das wachsende Interesse an alternativer Religiosität und Spiritualität stand und New-Age-Themen weite Verbreitung in der Bevölkerung fanden, entwickelte Philip Berg seine Kabbalah-Centre-Ideologie. In dieser kombinierte er inhaltliche Adaptionen aus früheren kabbalistischen Werken17 mit Ideen und Praktiken der New-Age-Bewegung und traditionellen jüdischen Vorstellungen und Praktiken. In der ersten Phase des Kabbalah Centre wollte er, so Myers, damit jungen jüdischen Menschen, die sich vom Judentum distanziert hatten, eine Alternative zum Judentum anbieten. Mit dieser Phase, die sich bis in die frühen 1980er Jahre erstreckte,
16 An dieser Stelle soll erwähnt werden, dass sich in den 1960er Jahren zwei bis drei Prozent der amerikanischen Bevölkerung als jüdisch identifizierten (Melton und Moore 1982, 30f.). 17 Philip Berg bezieht sich inhaltlich vor allem auf die Lehren von Yehuda Ashlag, welcher in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine neue Form der Kabbala entwickelte, um diese einer breiten jüdischen Bevölkerungsschicht in Palästina näher zu bringen.
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ging auch ein inhaltlicher Wandel einher, der sich in den Publikationen, aber auch in Aufbau und Inhalte der Kurse und Vorträge des Kabbalah Centre abzeichnete (vgl. Altglas 2011a, 241ff.; Myers 2007b, 54ff.). „Young Jewish spiritual seekers found in Berg’s writings an echo of their own dissatisfaction with American synagogue services and family religious practices that enshrined tradition, conformity, communal and familial unity, sentimentality, and membership in a group.“ (Myers 2007b, 55)
In einer zweiten Phase, die in den frühen 1980er Jahren beginnt, kann ein Prozess der Ablösung des Kabbalah Centre vom Judentum beobachtet werden.18 Seiner Kritik zufolge sei das normative Judentum zu dogmatisch und vernachlässige die spirituellen Aspekte des Judentums gänzlich, welche P. Berg mit seinem Konzept der Kabbala zu füllen meinte (vgl. Altglas 2011a, 241f.; Myers 2007b, 51).19
18 Dieser Bruch mit dem Judentum geht mit einer starken Ablehnung, die Philip Berg von Seiten jüdisch-orthodoxer Kreise bzw. jüdischer Gemeinden erfahren hat, einher. Das in den frühen 1980er Jahren gegründete Kabbalah Centre in Paris, das zu den größten Standorten Europas zählte und ein enormes Angebot an Kursen, Workshops, regelmäßigen Zohar-Klassen und Shabbat-Services umfasste, musste sich aufgrund des Drucks, der von Seiten der jüdischen Gemeinden auf Interessenten und Anhänger des Kabbalah Centre ausgeübt wurde, 2005 aus der Öffentlichkeit zurückziehen. Aktuell gibt es in Paris noch kleine Gruppen, die im privaten Kotext gemeinsam mit Kabbalah-CentreLehrern Kabbala praktizieren (vgl. Altglas 2011b, 29f.). 19 Vgl. dazu auch Philip Berg 1993: Berg nimmt an dieser Stelle eine sehr kritische Haltung gegenüber dem normativen Judentum ein und sieht in der dogmatischen Herangehensweise an die Religion, die die Gesetzestreue und Traditionspflege in den Vordergrund rückt, die Ursache für die religiöse Suche junger Menschen in anderen Religionen. Er macht den Mangel an spirituellen Aspekten für die „degeneration of Judaism into a marginal social activity, and the flight of young people away from Judaism to more mystically-inclined eastern religions“ (vgl. Berg 1993, 41) verantwortlich. Hier soll auch angemerkt werden, dass das Buch The Kabbalah for the Layman erstmals 1982 veröffentlicht wurde, insofern kann schon seit Beginn der 1980er Jahre eine verstärkte Kritik am Judentum in den Werken von P. Berg konstatiert werden.
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Die Vorgeschichte des Kabbalah Centre Im Kontext des Kabbala Centre ist der Kabbalist Yehuda Ashlag (1885–1955) hervorzuheben. Dessen Interpretation der lurianischen Kabbala, die er mit seinen kommunistischen Ideen kombinierte, ist in den Ideen und Lehren des Kabbalah Centre von großer Bedeutung. Gleichzeitig begreift sich Philip Berg als dessen Nachfolger und das Kabbalah Centre als eine auf Ashlag zurückgehende Organisation (vgl. Myers 2007b, 16ff.). Ashlag wuchs in einer chassidischen Familie in Polen auf und wurde bereits mit 19 Jahren zum Rabbiner ordiniert. Er entwickelte die Lehren von Isaak Luria, in kabbalistischen Kreisen bekannt als Ari ha-kodesch („der heilige Löwe“), weiter und verband diese mit der marxistischen Ideologie seiner Heimat und seinem chassidischen religiösen Background (vgl. ebd.).20 Ganz im Sinne seines chassidischen Verständnisses von Kabbala, war für ihn die Verbreitung kabbalistischen Wissens an eine breite Bevölkerungsschicht von großem Interesse (vgl. ebd. 20). Ashlags Organisation, die er in Jerusalem unter dem Namen „Beit Ulpana deRabbana ‚Itur Rabbanim‘“ („Haus für rabbinische Studien ‚Krone der Rabbiner‘“) als Verlag gründete, um seine eigenen Schriften zu publizieren, sieht Philip Berg als Grundstein für das spätere Kabbalah Centre. Ganz im Sinne der Idee der Verbreitung kabbalistischer Schriften, veröffentlichte Ashlag einen umfangreichen Kommentar der Schriften von Isaak Luria und eine Übersetzung des Sohar ins Neuhebräische mit einem ausführlichen Kommentar, der auch nicht kabbalistisch gebildeten jüdischen Lesern Einblick in den kabbalistischen Ideenreichtum dieses Werkes ermöglichen sollte (vgl. ebd.). Während P. Berg die Idee der Verbreitung kabbalistischer Ideen an alle Menschen, unabhängig von deren religiöser
20 Chassidische Kabbalisten brachen mit der elitären Tradition, die kabbalistische Schriften streng limitierte, um sie einem bestimmten Kreis von besonders gebildeten Schülern weiterzugeben. Während die mitnagedim („die Gegner“) an den Ideen und Vorstellungen der lurianischen Kabbala festhielten, wurden diese Vorstellungen von den chassidim meist mit messianischen Ideen und der Idee einer „mystischen Führerschaft“ verbunden (vgl. Dan 2007, 120ff.). „Mitnagedim“ ist die Selbstbezeichnung einer bis heute existierenden Gruppe orthodoxer bzw. ultraorthodoxer Juden, die sich, angeführt von Gaon von Wilna (1720–1797), gegen die chassidische Bewegung stellten, mit deren Auslegung bzw. Praxis der Kabbala sie nicht übereinstimmen (vgl. Dan 2007, 122).
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Herkunft, umsetzt, richtete sich der Gedanke der Verbreitung bei Ashlag jedoch an ein jüdisches Publikum mit jüdisch-religiösem Hintergrund (vgl. ebd.). Ein Beispiel für die Rezeption von Ashlags Ideen durch P. Berg, ist die Adaption der Idee des Tikkun, die ein zentrales Thema in den Kabbalah-Centre-Lehren darstellt. Hierbei handelt es sich um ein lurianisches Narrativ, das von Ashlag aufgegriffen wurde und in den Werken des Kabbalah Centre für die Erlösung oder die Reparatur der Seele durch selbstloses Handeln steht. Besonderes Augenmerk legte Ashlag auf das Aufzeigen der Kompatibilität von Kabbala und Wissenschaft. Entsprechend sah er wissenschaftliche Studien als Beweis für die Existenz eines intelligenten Schöpfers an (vgl. ebd. 20), eine Idee, die sich sowohl seine Schüler als auch die späteren Autoren des Kabbala Centre zu eigen machten (vgl. ebd. 26). Ganz im Gegensatz zum späteren Erfolg des Kabbalah Centre waren Ashlag Zeit seines Lebens weder materieller Erfolg noch eine große Anhängerschaft vergönnt (vgl. ebd. 22). Nach seinem Tod gelangten seine Schriften und Lehren über seine Schüler in die USA, wo sie in der Mitte des 20. Jahrhunderts auf ein religiöses Milieu trafen, in dem sich kabbalistische Inhalte und Praktiken über „new spiritual and occult metaphysical movements“ (ebd. 25) ausgebreitet hatten. Hier ist Rabbi Levi Krakovsky (1891–1966) hervorzuheben, der Ashlags Lehren in die USA brachte und diese dort weiter entwickelte (vgl. Meir 2013; Myers 2007b, 25)21. Krakovsky, dessen Werk einen großen Einfluss auf die späteren Schriften des Kabbalah Centre hatte,22 entwickelte Ashlags These des Zusammenhangs von Kabbala und Wissenschaft dahingehend weiter, dass er „Kabbalah as a scientific tool for material advancement“ (Myers 2007b, 26) darstellte. Dieses ‚Werkzeug‘, so Krakovsky, müsse allen Menschen zur Verfügung gestellt werden (vgl. ebd.). Den Anspruch der Wissenschaftlichkeit und der Verbreitung von Kabbala an alle Menschen, nicht nur Juden, übernahm P. Berg im Kabbalah Centre, wie hier noch aufgezeigt wird.
21 Eine detaillierte Darstellung des Einflusses von Krakovsky auf die Verbreitung kabbalistischer Schriften in Amerika finden sich bei Jonathan Meir: „The Beginnings of Kabbalah in America: The Unpublished Manuscripts of R. Levi Isaac Krakovsky“ (vgl. Meir 2013). 22 Für eine umfangreiche Darstellung des Zusammenhangs von Levi Isaac Krakovsky und Philip Berg siehe Myers 2007a, 23f.
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Das Kabbalah Centre Abbildung 4: Das Kabbalah Centre in Tel Aviv
Quelle: Nicole M. Bauer, 2010
Das Kabbalah Centre entstand nach dem Tod von Rabbi Levi Isaac Krakovsky. Philip Berg, der Gründer und Direktor des heutigen Kabbalah Centre (vgl. Myers 2007a, 417f.), erhielt dessen unveröffentlichte Manuskripte und integrierte diese in seine Kabbala-Lehre (vgl. Myers 2007b, 30f.). „[I]n Krakovsky Berg saw a model of a new type of Kabbalist: a devout, venerable Jewish sage, prompted by God`s desire to benefit humanity. Like Ashlag and Krakovsky before him, Berg emphasizes the universal relevance of Kabbalah, Kabbalah`s value as a source of science, and the social ills that will be solved through the spread of its teachings.“ (Myers 2007b, 31)
Die Lehren von Ashlag stellen, wie schon im vorhergehenden Kapitel erwähnt, die Grundlage der Werke von P. Berg dar. Ashlag erklärte, dass ein neues Zeitalter begonnen habe, welches es erlaube, die kabbalistischen Geheimnisse zu enthüllen und der weltlichen jüdischen Öffentlichkeit seiner Zeit näher zu bringen (vgl. Myers 2008, 410ff.; Myers 2007b, 16ff.). Berg übernahm diese Idee der Verbreitung und Enthüllung der Kabbala und verfasste eine vereinfachte Version von Ashlags Schriften, zunächst auf Englisch und Hebräisch und später in anderen
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Sprachen, zugeschnitten auf ein nicht-jüdisches Publikum. Berg gründete ein Verlagshaus, das National Institute for Research in Kabbalah, das er später das Research Center of Kabbalah nannte (vgl. Myers 2007b, 30ff.). „Die Studenten von Philip Berg waren in den Anfängen junge jüdische Menschen, die Alternativen zum normativen Judentum oder zu ihrem säkularen Umgang mit ihrem ‚jüdisch sein‘ suchten [Übersetzung N.B.].“ (Myers 2008, 411)
Berg zog mit seiner Frau Karen nach Israel, wo seine Hörerschaft hauptsächlich aus jungen säkularen Israelis bestand. Er sah zunächst seine Aufgabe darin, junge jüdische Menschen, die entfremdet von ihrer Religion lebten, wieder zurück zum Judentum zu führen (vgl. ebd.). „Berg believed that a Judaism infused with Ashlagian kabbalistic principles, presented in a contemporary idiom and with the New Age themes preferred by spiritual seekers, would allow young, alienated Jews to return to Judaism rather than turn to the new foreign religious movements offering mysticism, meditation, and other exotic and exciting options.“ (Ebd.)
Berg betont außerdem die Bedeutung der jüdischen Gebote und Verbote (Mizwot)23 und des jüdischen Religionsgesetzes (Halacha)24. Das Einhalten der jüdischen Gesetze wie das Praktizieren jüdischer Rituale sei ein Vehikel der Transformation, welches die Seele von einer unreifen Form in eine reife Form verwandle (vgl. ebd. 411f.). Durch das Einhalten der jüdischen Rituale sei – nach Berg – Erlösung möglich. Das Einhalten der jüdischen Rituale ohne das kabbalistische Wissen könne allerdings nicht zur Erlösung führen (vgl. ebd.). Obwohl laut Myers hunderte von Israelis an den Klassen und Programmen Bergs teilgenommen haben, folgten Berg über die Jahre nur wenige Anhänger in Israel (vgl. ebd. 412). In der Anfangsphase des Kabbalah Centre war es Bergs vorrangiges Ziel ein „kabbalistisches Judentum für Juden“ zu schaffen (vgl. ebd.). Bis Anfang der 1980er Jahre richtete er sich deshalb an eine wenngleich säkulare, dennoch jüdische Hörerschaft, welcher er das Einhalten der jüdischen Gebote und Verbote als Möglichkeit für ein spirituelles und erfülltes Leben anbot, um deren Interesse am Judentum zu wecken (vgl. Altglas 2011a, 241ff.). Die Expansion des Kabbalah
23 Es gibt insgesamt 613 jüdische Gebote und Verbote, die sogenannten Mizwot, die das religiöse Leben im Judentum regeln (vgl. Spiegel 2004, 34f.). 24 „Halacha“ ist die Bezeichnung für das jüdische Religionsgesetz (vgl. Spiegel 2004, 57ff.).
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Centre und die damit einhergehende Ablösung vom Judentum ist seit Anfang der 1980er Jahre zu beobachten (vgl. ebd. 242f.). In weiterer Folge wird das Kabbalah Centre auch für nicht-jüdische Hörer geöffnet. Es ändert sich die Rhetorik in den Publikationen, so werden die Bezüge auf jüdische Quelle in diesen reduziert (vgl. ebd. 242). Außerdem entwickelt Berg das Scannen, eine Methode für all jene Schüler, die kein Hebräisch verstehen (vgl. ebd. 342f.). Dabei überfliegt man die hebräischen Buchstaben des Textes mit den Augen analog zum Scannen eines Barcodes im Supermarkt. Eine positive Wirkung soll sich sodann unmittelbar einstellen. Dieser Methode liegt die Vorstellung zugrunde, dass die ‚Seele‘ die hebräische Sprache auch ohne das rationale Verständnis des Gelesenen verstehen könne und die Buchstaben direkten Einfluss auf den Rezipienten ausüben würden: „Bestimmte Buchstabensequenzen wirken wie eine Spülung, die unsere reaktiven Impulse löst und von unserem Wesen abwäscht. Die Buchstaben erfüllen uns mit innerer Stärke und Disziplin, sodass wir der Versuchung widerstehen und unsere reaktiven Impulse unterbinden.“ (Yehuda Berg 2003a, 194)
Seit den 1990er Jahren ist eine säkulare Rhetorik25 in den Publikationen des Kabbalah Centre feststellbar, die von Philip Bergs Söhnen Michael und Yehuda Berg bzw. dessen Frau Karen Berg verfasst wurden. Während in den ersten Jahrzehnten der Schwerpunkt beim Studium kabbalistischer Schriften lag, werden seit den 1990er Jahren vermehrt Workshops angeboten, die Persönlichkeitstraining und Techniken der ‚Selbstoptimierung‘ sowie therapeutische Ansätze mit kabbalistischen Elementen kombinieren und als Instrument zur Verbesserung des individuellen Lebens als Power of Kabbalah (Titel der Kurse) anbieten (vgl. Altglas 2011a, 234). Die französische Sozialwissenschaftlerin Véronique Altglas hat diesen Trend, den sie innerhalb der Entwicklung des Kabbalah Centre beobachtet hat, folgendermaßen umschrieben: „Moreover, this partial separation of Kabbalah from Judaism was accentuated in the 1990s by a teaching revision towards a greater professionalization and the increasingly pervading use of a secular vocabulary used in teaching and learning. The Centre offered courses, classes and workshops. The three cycles (Kabbalah One, Two and Three) have now become the
25 Beispielsweise wird der Begriff „Gott“ durch den Terminus „Licht“ ersetzt (vgl. Einstein 2008, 151).
158 | K ABBALA UND RELIGIÖSE I DENTITÄT core mode of teaching which, in the shape of adult education and professional training, combines personal growth and Ashlagian Kabbalah.“ (Ebd.)
Gegenwärtig existieren rund 30 größere Zentren weltweit (vgl. Einstein 2008, 150), die sich in Städten wie in New York, Los Angeles, London, Tel Aviv und Berlin befinden und rund 70 kleine Büros (vgl. ebd.), die von den jeweiligen Zentrum des Landes bzw. der Region organisiert werden.26 Diese Zentren stehen auf organisatorischer Ebene in enger Verbindung zueinander. Internationale Treffen finden an verschiedenen jüdischen Fest- und Feiertagen wie Pessach, Rosch Haschana, Jom Kippur oder Chanuka statt. Seit Februar 2011 gibt es einen offiziellen „Kabbalah-Centre-Standort“ in Berlin27. In entsprechenden Räumlichkeiten werden verschiedene Veranstaltungen angeboten. Auf der Homepage des deutschsprachigen Zentrums sind außerdem entsprechende Telefonkontakte (für Österreich, Deutschland und die Schweiz) angegeben (vgl. Kabbalah Centre Germany 2015). Die Eröffnungsfeier des offiziellen deutschen Kabbalah-Centre-Standorts fand im Februar 2011 statt. Bei der Veranstaltung war die Familie Berg anwesend. Aktuell werden in Deutschland regelmäßig Zohar-Lesungen, Vorträge und Seminare angeboten. In Berlin wird im Kabbalah Centre regelmäßig der Shabbat gehalten. Außerdem finden zu den jüdischen Fest- und Feiertagen Veranstaltungen statt. Diese werden auf der Homepage des Kabbalah Centre angekündigt (vgl. Kabbalah Centre Germany 2014a). Kabbalah Centre als Marktunternehmen Das Kabbalah Centre bietet als Marktunternehmen neben Workshops und religiösen Veranstaltungen auch Bücher, die häufig im Eigenverlag (Kabbalah Publishing) publiziert werden, Kabbala-Wasser, rote Wollfäden oder andere Produkte an (vgl. Einstein 2008, 153f.). Zur öffentlichen Präsenz und der Popularisierung des Kabbalah Centre trägt die Popsängerin Madonna bei, die mit ihrer Kabbala-Begeisterung das Interesse einer breiten internationalen Bevölkerungsschicht am Kabbalah Centre geweckt hat. Als „humanizing icon“ (ebd. 165) trägt sie dazu bei, das Kabbalah Centre als
26 Anderen Quellen zufolge gibt es mittlerweile sogar 50 Zentren weltweit (vgl. Altglas 2011a, 243; Finke 2005, 185). 27 Medienberichten folgend finden etwa seit 2003 Aktivitäten des Kabbalah Centre in Deutschland statt (vgl. Kühn 2003)
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„faith brand“ (ebd.) zu vermarkten. Das Kabbalah Centre wird selbst ein religiöses Produkt, das sich wie andere Produkte durch seinen Namen, sein Logo und die Assoziationen, die damit verbunden sind, unverwechselbar ins Bewusstsein der Konsumenten einprägt (vgl. ebd. 12): „Brands are commodity products that have been given a name, an identifying icon or logo, and usually a tagline as a means to differentiate them from other products in their category.“ (Ebd.)
Wie am Beispiel des Kabbalah Centre deutlich wird, haben die Konstruktion von Geschichten oder Mythen, die sich um das Produkt ranken, eine zentrale Bedeutung für die Vermarktung. Gerade durch den gezielten Einsatz von stories als Werbestrategien, erhalten die Produkte eine Position „in the mind of the consumer“ (ebd.) und spielen als brand auch eine Rolle bei den personalen Identitätskonstruktionen der Akteure (vgl. ebd. 13). Bei der Analyse des Kabbalah Centre wird der ökonomische Aspekt deutlich. Auf der einen Seite wird das Kabbalah Centre – ganz im Sinne von ‚selling spirituality‘ (vgl. Carrette und King 2007) – von den Akteuren, wie der Familie Berg und den Leitern der unterschiedlichsten Zentren, vermarktet und beworben. Auf der anderen Seite werden die einzelnen Produkte und Angebote, denen gleichsam eine „spirituelle Wirksamkeit“ zugeschrieben wird, von unterschiedlichen Akteuren konsumiert. Wie in den folgenden Kapiteln aufgezeigt wird, kann das „Kabbalah Centre“ als faith brand gesehen werden, das sich deutlich von ähnlichen religiösen Produkten durch den Namen, ein spezifisches Logo, bestimmte ‚stories‘ und Persönlichkeiten wie Madonna als „humanizing icon“ abgrenzt. Damit zieht es Akteure an, die sich mit dem faith brand identifizieren. Das Kabbalah Centre stellt selbst sowohl als faith brand als auch als „postmoderne spirituelle Bewegung [einen] Teil der kulturellen Logik des Spätkapitalismus“ (Huss 2004, 292) dar, und kapitalistische Werte zeigen sich auch im Angebot des Kabbalah Centre. Boaz Huss hat am Beispiel des Kabbalah Centre bereits aufgezeigt, dass ‚moderne Diskursrahmungen‘, die eine Trennung von „religiös“ und „weltlich“ vornehmen, hier nicht mehr haltbar sind und dass kapitalistische Werte „spirituell“ umgedeutet werden und umgekehrt (vgl. Huss 2004, 293).
Kollektive religiöse Identität im Kabbalah Centre
K ONSTRUKTION VON G ESCHICHTE
UND
T RADITION
Am Beispiel des Kabbalah Centre wird deutlich, wie kollektive religiöse Identität erzeugt wird. Durch den gezielten Einsatz von Geschichtskonstruktionen (vgl. Anderson 2005) und „erfundenen Traditionen“ (vgl. Hobsbawm und Ranger 1992; Hobsbawm 1998) wird kollektive religiöse Identität geschaffen. Diese wird von den religiösen Akteuren rezipiert und in das eigene Selbstbild integriert. So entsteht religiöse Identität auf personaler Ebene (vgl. Keupp 2008). Mittels der qualitativen Interviews wurden Identifikationsprozesse erforscht. Es wurde der Frage nachgegangen, wie sich Menschen mit den verschiedenen Praktiken und Weltdeutungskonzepten, die das Kabbalah Centre anbietet, identifizieren, wie sie diese rezipieren und in das eigene Selbstbild integrieren. Folgende Thesen konnten aus dem generierten Material und den theoretischen Vorüberlegungen entwickelt werden: Hauptthesen • Indem sich mehrere Akteure mit einem bestimmten religiösen Konzept identi-
fizieren, können religiöse Gemeinschaften entstehen, die meist vorgestellt sind, da sich die Akteure untereinander nicht kennen (vgl. Anderson 2005). Diese Gemeinschaften konstruieren eine kollektive religiöse Identität, die durch gemeinsame religiöse Vorstellungen, die gemeinsame Teilnahme an Veranstaltungen und die Akzeptanz von vorgestellten Hierarchien gestärkt wird. • Akteure integrieren in dem Maße, in dem sie sich einer Gruppe zugehörig fühlen, deren angebotenen Narrative und Rhetoriken in die eigene personale Identitätskonstruktion.
162 | K ABBALA UND RELIGIÖSE I DENTITÄT • ‚Geschichtskonstruktion‘ und ‚erfundene Traditionen‘ (vgl. ebd. und Hobs-
bawm und Ranger 1992) spielen eine tragende Rolle für die Konstruktion kollektiver religiöser Identität, die wiederum die Konstruktion der personalen religiösen Identität der Akteure beeinflusst. Im Zentrum dieser Arbeit steht dabei ein theoretisches Verständnis von Identität, welches sich gegen ein modernes, essentialistisches Verständnis von Identität richtet, das Identität als einen festen Wesenskern begreift, der sich bis zur Adoleszenz ausbildet (vgl. Erikson 1973). Stattdessen wird hier der fluide, prozessuale und konstruierte Charakter von Identität betont (vgl. Keupp 2008, 76ff.). Folgt man diesem theoretischen Ansatz, der auf das Verständnis von kollektiver Identität übertragbar ist, so gibt es nicht „die“ Kabbalah-Centre-Identität, „das“ Kabbalah Centre und „die“ Kabbalah-Centre-Lehre. Es sind hingegen unterschiedliche religiöse Akteure, die mithilfe verschiedener Strategien – wie des gezielten Einsatzes von Geschichtskonstruktionen und erfundenen Traditionsketten sowie der Konstruktion eines „Gründungsmythos“ (Eickelpasch und Rademacher 2004, 70) – das Gesamtbild bzw. die Identität des Kabbalah Centre bedingen. Aufgrund des Konstruktionscharakters von Identität kann diese auch niemals völlig starr und festgeschrieben sein, sondern befindet sich in einem fortwährenden Konstruktionsprozess, der von jenen Akteuren geformt wird, die sich als Sprecher des Kabbalah Centre präsentieren. Diese Sprecher sind zum einen die Autoren der Publikationen des Kabbalah Centre – wie Philip Berg, dessen Söhne Michael und Yehuda Berg und dessen Frau Karen Berg. Zum anderen nehmen diese Position ebenso die einzelnen Mitarbeiter des Kabbalah Centre, wie die Kabbalah-CentreLehrer und die ehrenamtlichen Mitarbeiter, die als Ansprechpartner für die Schüler des Kabbalah Centre fungieren, ein. Zudem tragen auch Personen, die in der Rolle von Marketingexperten die Gestaltung der offiziellen Webpräsenz, der Flyer oder der Werbemails übernehmen, zur Konstruktion der kollektiven Identität bei. Aus all diesen Einzelaussagen, die immer auch in Wechselwirkung mit dem öffentlichen Diskurs über das Kabbalah Centre stehen, konstituiert sich die fluide, diskursive Identität des Kabbalah Centre, die bestimmte Strategien und Kennzeichen aufweist, die im folgenden Teil diskutiert werden. Zum einen wiederholen sich bestimmte Narrative und Rhetoriken sowohl in den Publikationen und den öffentlichen Auftritten des Kabbalah Centre als auch in den Narrationen der Akteure – was aus den Interviews deutlich hervorgeht. Zum anderen können bestimmte Strategien konstatiert werden, die die religiöse Authentizität des Kabbalah Centre legitimieren. Dabei sind zwei Strategien besonders hervorzuheben: erstens der gezielte Einsatz des Rückbezuges auf historisch bedeutsame Quellen und/oder Ereignisse und
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die Konstruktion einer fingierten Kontinuität mit der Vergangenheit; zweitens der gezielte Einsatz von und die Kombinationen mit bestimmten populär-religiösen Rhetoriken1, (natur-)wissenschaftlichen Rhetoriken2 sowie jüdischen und kabbalistischen Rhetoriken und Narrativen. Insbesondere solche, die dem Zentrum eine besondere Wirksamkeit oder gesellschaftliche Position zuschreiben, sind sehr häufig feststellbar. Kabbala als universale Weisheitslehre: Der Aushandlungsprozess von Kabbala im Kabbalah Centre Inhaltlich zeichnen sich die Publikationen des Kabbalah Centre durch die Kombination jüdischer Narrative und (natur-)wissenschaftlicher Begriffe aus. Was die Aushandlung des Begriffes „Kabbala“ betrifft, sind verschiedene Argumentationsmuster feststellbar, die den Stellenwert des Kabbalah Centre betonen. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die Zuschreibung einer uralten und geheimen Weisheit oder Lehre (vgl. Yehuda Berg 2003a, 17f.). In der Selbstdarstellung des Kabbalah Centre ist diese Zuschreibung besonders deutlich, da immer wieder darauf verwiesen wird, dass Kabbala „eine verborgene Weisheit, die die spirituellen und physischen Gesetze des Lebens offenbart“ (ebd.), und die „authentische Quelle aller spirituellen Lehren auf unserem Planeten – lange vor den Religionen“ (ebd.) sei. Mit dieser Zuschreibung erhält Kabbala den Charakter einer universalen Wahrheit, einer prisca theologia (vgl. Stuckrad 2004, 124ff.), die sich in weiterer Konsequenz auch von jeder religiösen Tradition – so auch vom Judentum – abhebt. Mit dieser Strategie wird Kabbala im Kontext des Kabbalah Centre aus der jüdischen Tradition herausgelöst, de-traditionalisiert und universalisiert (vgl. Altglas 2011b), um für eine breite, nicht-jüdische Zuhörerschaft zugänglich zu sein.3 Dennoch spielen gerade jüdische Motive und Themen sowohl für die Aushandlung der personalen religiösen Identität als auch bei der Konstruktion der Kabbalah-Centre-Identität in zweifacher Hinsicht eine wichtige Rolle. Erstens
1
Zum Beispiel Licht und Energie (vgl. Yehude Berg 2003a, 60)
2
Zum Beispiel die „DNA der Seele“ (vgl. Yehuda Berg 2003a, 181)
3
Religionsgeschichtlich betrachtet wurde diese Strategie bereits im Kontext der sogenannten christlichen Kabbala verfolgt – wie sie u. a. von Giovanni Pico della Mirandola und Johannes Reuchlin vertreten wurde – die in den kabbalistischen Schriften des Judentums eine prisca philosophia vermuteten, mithilfe derer sie den christlichen Wahrheitsanspruch zu bestätigen versuchten (vgl. Béhar 2003; Dan 2001, 727; Dan 2007, 83ff.; Kilcher 2001, 725; Schmidt-Biggemann 2003a; Stuckrad 2004, 113ff.).
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spielt die Abgrenzung vom Judentum eine zentrale Rolle in der Selbstdarstellung des Zentrums. Dies wird auch in dem folgenden Auszug aus dem Interview mit einer Mitarbeiterin des Kabbalah Centre deutlich: „Die Juden haben das Wissen von der Kabbala für die ganze Menschheit bewahrt, weil die Menschheit nicht bereit war. Es war in Gefahr, dass dieses Wissen manipuliert oder zerstört wird oder so was, und es waren die Juden, die dieses Wissen bewahrten. Ja. Alle Regeln von dem, was man essen darf oder nicht, was den Shabbat betrifft und alle Mizwot […]. Und jetzt ist die Zeit, das loslassen in dem Sinn, dass alle das verstehen. Ja, weil das sind die kosmischen Sachen, das sind universelle Gesetze.“ (Interview Myriam, 11.6.2013, 4)4
Dennoch – so der zweite Aspekt – ist die Auseinandersetzung mit dem Judentum, dessen Traditionen, Lehren und Praktiken insofern für die Teilnahme an den Kabbalah-Centre-Veranstaltungen obligatorisch, als diese die Basis für dessen Angebote darstellen. So wird z. B. der Shabbat regelmäßig gefeiert und alle jüdischen Fest- und Feiertage sowie zahlreiche Events richten sich nach dem jüdischen Kalender. Zudem tragen Männer bei den religiösen Veranstaltungen eine Kippa und koschere Ernährung wird empfohlen. Diese Strategie, die Menschen jeglicher religiöser Provenienz den Zugang zum Kabbalah Centre offen halten soll, zeigt sich insbesondere in den Narrationen der religiösen Akteure, die diese Rhetorik rezipieren, um ihren persönlichen Zugang und ihr persönliches Interesse am Kabbalah Centre zu legitimieren. In den Interviews wird außerdem deutlich, dass meist bestimmte Rhetoriken und Narrative von den Akteuren aufgenommen werden, die die Sonderstellung des Kabbalah Centre betonen. Auszug aus Interview mit Carina, 2.6.2013: „[…] so wie ich es verstanden habe aus diesen kabbalistischen Richtungen, ist Kabbala wohl nicht unbedingt ans Judentum geknüpft, auch älter als Judentum, geht noch weiter zurück und ich würde jetzt sagen, man muss sich nicht zwangsläufig dem Judentum verbunden fühlen, um Zugang zu Kabbala zu kriegen. Das sind universelle Werte. Diese universellen Schöpfungsgesetze werden ja auch nicht umsonst als eine Quasiwissenschaft der Metaphysik oder der, weiß nicht wie man sagen kann, Wissenschaft der Metaphysik, so
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Die Interviewzitate, die in dieser Arbeit angeführt werden, wurden sprachlich ggf. angepasst, um den Lesefluss zu erhalten: es wurden z. B. Wortwiederholungen und lange Pausen entfernt. Dialektformen und unverständliche Ausdrucksweisen wurden soweit belassen, dass keine inhaltlichen Veränderungen der Aussagen entstanden.
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versteh ich es wieder, das ist meine Wortwahl, und es gab ja auch in der Geschichte viele Menschen, die sich damit beschäftigt haben, die nicht zwangsläufig jüdisch waren [...].“ (Interview Carina, 2.6.2013, 13)
Auszug aus dem Interview mit Pamina, 3.6.2010: „Ich denke mal, dass das [Kabbala] der Ursprung ist, wo alles sich daraus herableitet, alle anderen Lehren. Es gibt sehr viele interessante Lehren oder spirituelle Gesichtspunkte, die mit Sicherheit alle richtig sind. Aber warum soll ich mich mit irgendwelchen Kopien abgeben, wenn ich mich mit dem Original beschäftigen kann? Und es beeindruckt mich sehr, dass das schon so alt ist, dieses Wissen. Und was auch noch sehr interessant ist, ist, dass man da Werkzeuge bekommt, also diese aramäischen Buchstaben zum Beispiel und mit denen man arbeiten kann.“ (Interview Pamina, 3.6.2010, 8)
Yehuda ist selbst jüdisch und arbeitete zum Zeitpunkt des Interviews als Kabbalah-Centre-Lehrer. Auf die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Kabbala und Judentum antwortet er: „Kabbala ist die Grundlage für die gesamte Spiritualität, die du finden kannst in sämtlichen Religionen. Religion ist aufgebaut auf die Prinzipien der Kabbala. [...] der Punkt dabei ist, dass die Kabbala die Grundlage für die jüdische Religion ist, aber die jüdische Religion ist nicht Kabbala.“ (Interview Yehuda, 24.2.2011, 4)
Kabbala ist in der Selbstdarstellung des Kabbalah Centre demzufolge eine allgemeingültige, universale Lehre, die sich dadurch auszeichnet, dass sich auch andere Religionen darunter subsumieren lassen: „Der zweite Grund, weshalb sich so viele Menschen verschiedener Glaubensrichtungen der Kabbalah anschließen ist der, dass es eine Art zu leben ist, die das Ausüben von Religion verstärken kann. Christen, Hindus, Buddhisten, Moslems und Juden nutzen die Kabbalah zur Erweiterung ihrer spirituellen Erfahrung.“ (Kabbalah Centre Germany 2014b)
Als vor bzw. über allen Religionen stehend wird Kabbala auf den Status einer ‚Metareligion‘ erhoben und das Kabbalah Centre – als Enthüllungsinstanz derselben – sieht sich in der Aufgabe, „die Weisheit der Kabbala in der Welt zu verbreiten“ (Kabbalah Centre Germany 2014b).
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Das Kabbalah Centre als ‚Enthüllungsinstanz‘ einer Geheimlehre „Historisch gesehen ist die Kabbalah immer eine geheime Lehre gewesen, die nur von wenigen Auserwählten jeder Generation erlernt werden durfte. Was die Vermittlung dieser Weisheit betraf, so gab es darum stets heftige Kontroversen, besonders als die Kabbalisten dieses Wissen für andere Menschen öffnen wollten. Über Jahrtausende hinweg wurden Kabbalisten verfolgt, die es gewagt hatten, diese Geheimnisse an die Massen weiter zu verbreiten.“ (Kabbalah Centre Germany 2014b)
Wie bereits im historischen Teil dieser Arbeit dargestellt wurde, spielt der Aspekt der Geheimlehre seit dem ersten Erscheinen kabbalistischer Schriften im 12. Jahrhundert eine zentrale Rolle in der Selbstdarstellung dieser Autoren und Gruppierungen. Insofern knüpft das Kabbalah Centre an ein Narrativ an, das religionsgeschichtlich betrachtet keine Innovation des Kabbalah Centre darstellt. Dennoch ist die Zentralität dieses Enthüllungscharakters in der Selbstdarstellung des Kabbalah Centre besonders hervorzuheben. Philip Berg wird in diesem Enthüllungsprozess eine Sonderstellung zugesprochen, die von den religiösen Akteuren rezipiert wird. Die Rhetorik von einem Geheimnis ist in den Publikationen des Kabbalah Centre ersichtlich. So lautet der deutsche Untertitel eines wichtigen Werks von Yehuda Berg: Die Macht der Kabbalah. Von den Geheimnissen des Universums und der Bedeutung unseres Lebens (vgl. Yehuda Berg 2003a). Bereits der erste Satz des ersten Kapitels beginnt mit dem Hinweis auf eine „verborgene Weisheit“ (ebd. 17). Das zweite Kapitel trägt den Titel Das Geheimnis ist gelüftet (vgl. ebd. 18) und zeigt auf, wie Generationen von Kabbalisten unter widrigen Umständen das Geheimnis der Kabbala weitergetragen haben, bis es letztendlich von Philip Berg enthüllt worden sei. So wird die Sonderstellung P. Bergs in den KabbalahCentre-Publikationen immer wieder betont, dem als „authentischer Hüter des Wissens“ (ebd. 19) eine besonderer Rolle im Prozess der Verbreitung von Kabbala zugeschrieben wird. „Da nun Rav Berg [= Philip Berg] und seine Frau Karen die alten Schatzkammern der Kabbalah für die breite Masse öffneten, haben Menschen überall auf der Welt die Gelegenheit zu begreifen, warum wir hier auf Erden weilen […]. Das Geheimnis ist endlich gelüftet […].“ (Ebd. 248)
Es können bestimmte Legitimationsstrategien nachgewiesen werden, die den Wahrheitsanspruch dieser Aussagen bekräftigen sollen und von den religiösen
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Akteuren rezipiert werden. Vor allem der Einsatz von Geschichtskonstruktionen ist an dieser Stelle zu betonen. Mittels der Konstruktion von historischen Traditionsketten wird die Sonderstellung P. Bergs und die Authentizität seiner Lehre hervorgehoben: „Rav Berg, Rav Brandwein und Rav Ashlag sind die wahren Virtuosen der Kabbalah, die authentischen Hüter des Wissens. Ihre Linie geht zurück bis in die Ära von Abraham und folgt einer langen ehrbaren Tradition, die die Weisheit in ihrer Ursprünglichkeit, in ihrer unverfälschten Form bewahrt hat.“ (Ebd. 19)
Geschichtskonstruktionen und die Konstruktion von Traditionsketten spielen sowohl für die Legitimation des Kabbalah Centre als auch für die Legitimation von dessen Lehre als „die wahre und authentische“ Lehre eine hervorzuhebende Rolle. „Das Kabbalah Centre ist eine spirituelle und schulende Organisation, die sich der Aufgabe widmet, die Weisheit der Kabbalah in der Welt zu verbreiten. Das Center selbst gibt es bereits seit 80 Jahren, aber sein spiritueller Stammbaum lässt sich viel weiter zurückverfolgen – bis zu Rav Isaak Luria im 16. Jahrhundert und von Rav Luria zurück zu Rav Shimon Bar Yochai, der vor über 2000 Jahren den Haupttext der Kabbalah, den Zohar, enthüllte.“ (Kabbalah Centre Germany 2014b)
Insgesamt kann konstatiert werden, dass in der Selbstdarstellung des Kabbalah Centre oft rhetorische Strategien verfolgt werden, die durch gezielte Geschichtskonstruktionen die Lehren von P. Berg hervorheben, indem diese in eine Traditionslinie mit als alt und authentisch verstandenen Quellen gestellt werden, und die die Sonderstellung des Kabbalah Centre als Organisation betonen, indem dessen Wurzeln auf historisch bedeutsame Persönlichkeiten zurückgeführt werden. So wird selbst die Geschichte des Kabbalah Centre mystifiziert, indem sie mit historisch bedeutsamen Personen wie Yehuda Ashlag und Yehuda Brandwein in Verbindung gebracht wird. Dieser Gründungsmythos wird sowohl in den Publikationen des Kabbalah Centre (vgl. Yehuda Berg 2003a, 18ff., 246ff.) als auch auf der Homepage deutlich dargestellt: „Das Kabbalah Centre wurde 1922 in Jerusalem von Rav Yehuda Ashlag gegründet, einem der größten Kabbalisten des 20. Jahrhunderts. Als Rav Ashlag diese Welt verliess, übernahm Rav Yehuda T’zvi Brandwein die Leitung des Centre. Vor seinem Tod bestimmte Rav Brandwein Rav Berg als seinen Nachfolger in dieser kabbalistischen Linie und als Leiter des Kabbalah Centre. Seit 30 Jahren wird das Centre nun von Rav Berg und seiner Frau Karen geleitet.“ (Kabbalah Centre Germany 2014b)
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Wie aus diesen Beispielen deutlich wird, ist die Konstruktion historischer Bezüge und die Einordnung des Kabbalah Centre in einen großen und bedeutsamen historischen Rahmen – nämlich in eine 4000 Jahre alte, auf Abraham zurückgehende Traditionslinie – konstitutiv für die Selbstdarstellung des Kabbalah Centre und eine wesentliche Strategie zur Legitimation seiner religiösen Lehre und seines Selbstverständnisses. Wenngleich der Rückbezug auf alte Quellen religionsgeschichtlich betrachtet ebenfalls keine Innovation des Kabbalah Centre darstellt – man betrachte beispielsweise die Verbreitung und Legitimationsstrategien von Yoga-Lehren im Westen (vgl. Altglas 2011a) –, so ist doch die Intensität, mit der dieser vermarktet wird, und insbesondere der strategische Einsatz historischer Narrative und die Vermischung dieser Elemente mit (natur-)wissenschaftlichen, populärkulturellen, bzw. populär-religiösen Elemente (vgl. Knoblauch 2009) eine besondere Leistung des Kabbalah Centre – also jener Akteure, die dieses faith brand (vgl. Einstein 2008) produzieren und vermarkten.
R EZEPTION UND ADAPTION JÜDISCHER UND KABBALISTISCHER I DEEN UND P RAKTIKEN IM K ABBALAH C ENTRE Auch wenn sich das Kabbalah Centre seit den 1990er Jahren (vgl. Myers 2007b, 75f.) öffentlich vom Judentum distanziert und sich als „spirituelle, lehrende Organisation“ (Kabbalah Centre Germany 2014b) präsentiert, die mit der „zweitausendjährigen Tradition und dem religiösen Dogma“ (Yehuda Berg 2003a, 246) gebrochen hat, so sind zum einen die Quellen, die rezipiert und adaptiert werden, jüdische und kabbalistische Quellen und zum anderen die Praktiken und Rituale, die durchgeführt werden, jüdischer Provenienz. Zentral für die inhaltliche Darstellung kabbalistischer Themen im Kabbalah Centre ist, dass diese sehr einfach und klar verständlich gehalten sind, damit sie auch für Menschen zugänglich sind, die nicht jüdisch-religiös sozialisiert wurden (vgl. Myers 2007b, 75) oder kein adäquates Vorwissen mitbringen. Auch nehmen die Vorstellungen von Astrologie und Reinkarnation einen wichtigen Stellenwert in Philip Bergs Lehre ein (vgl. Myers 2008, 413). Mit der zweiten Phase der Popularisierung der Kabbala, die mit den frühen 1990er Jahren einsetzte, entwickelte P. Berg ein auf Yehuda Ashlag basierendes theologisches und kosmologisches Konzept, in dem er dem Kabbalah Centre eine
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wichtige Rolle zuschrieb: Die Aufgabe des Kabbalah Centre, Kabbala in der Welt zu verbreiten, stehe ganz im Sinne der Erfüllung der Lehren von Yehuda Ashlag (vgl. Myers 2007b, 75). Die Rezeption der Kosmologie von Isaak Luria und Yehuda Ashlag im Kabbalah Centre Yehuda Ashlag entwickelte in Anlehnung an Isaak Luria eine sehr komplexe und vielschichtige Lehre, die auf den Ideen des Sefer ha-Sohar – oder kurz: des Sohar (Buch des Glanzes) – beruht. Im Sohar stehen vor allem die „kabbalistische Begründung der Gebote, eine mystische Lehre von der Seele und ihren Wanderungen sowie die Bedeutung der Gottesnamen in Verbindung mit den zehn Sefirot“ (Necker 2008, 16) im Vordergrund. Neben der Rezeption dieser grundlegenden Elemente des Sohar adaptierte Luria die Vorstellung einer dämonischen5 Gegenwelt6 (sitra ahra7), die als „Nebenprodukt der Schöpfung“ (ebd. 18) bis zur erwarteten Ankunft des Messias die Welt des Bösen regiere. Weitere zentrale Vorstellungen und Ideen in den Schriften von Ashlag, die später von Philip Berg aufgegriffen wurden, sind die Vorstellung von der Erlösung der Seele mittels spezifischer kabbalistischer Rituale und Meditationstechniken. Ein zentrales Motiv ist die Vorstellung des Tikkun8, ein lurianisches Narrativ, das für die Erlösung der Seele aus der irdischen Existenz und die Rückkehr zu dem göttlichen Ursprung (en sof) steht. Die Erlösung der Seele könne vor allem durch selbstloses Handeln erreicht werden (vgl. Myers 2007b, 17ff.). Mit der individuellen Erlösung gehe die Erlösung der ganzen Welt einher (die „Reparatur“ der Welt, tikkun ha-olam). In Ashlags Narrativ wird bei diesem Prozess dem jüdischen Volk eine besondere Rolle zugeschrieben:
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Zu dem Begriff „Dämon/Dämonologie“ s. auch den gleichnamigen Artikel von Gregor
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Den Versuch einer Operationalisierung des Begriffes „Gegenwelt“ als analytische Ka-
Ahn im Metzler Lexikon Religion aus dem Jahr 1999 (vgl. Ahn 1999b). tegorie in der Religionswissenschaft unternimmt Fritz Stolz in seinem paradigmatischen Artikel Paradiese und Gegenwelten aus dem Jahre 1993 (vgl. Stolz 1993). 7
Der Begriff „sitra ahra“ bedeutet wörtlich übersetzt „linke Seite“ bzw. „andere Seite“ und meint die dämonischen Aspekte der Schöpfung, die durch die Emanation der linken Seite entstanden seien (vgl. Necker 2008, 17f.).
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„Tikkun“ bedeutet wörtlich „Wiederherstellung“ und bezeichnet damit den Prozess der Erlösung, der nach dem „Bruch der Gefäße“ das kosmische Ziel darstellt, um die göttliche Einheit wiederherzustellen (vgl. Necker 2008, 222).
170 | K ABBALA UND RELIGIÖSE I DENTITÄT „God in his loving beneficence designed Jewish religious precepts as vehicles of transformation. [...] Through Kabbalah, one learns how the precepts connect the devotee to divinity, and a person learns of God’s great love for humanity and the wisdom of his Tora.“ (Ebd. 19)
Wie bereits im religionsgeschichtlichen Teil dieser Arbeit aufgezeigt wurde, ist es insbesondere Rabbi Levi Isaac Krakovsky, der Ashlags Schriften rezipiert hat und dessen Werk einen großen Einfluss auf die späteren Schriften des Kabbalah Centre hat. Krakovsky entwickelte Ashlags These des Zusammenhangs bzw. der Harmonie von Kabbala und Wissenschaft (vgl. ebd. 26) dahingehend weiter, dass er Kabbala als ein „scientific tool for material advancement“ (ebd.) darstellte, das allen Menschen zur Verfügung gestellt werden müsse. Gerade diesen universalen Charakter von Kabbala – den Anspruch der Wissenschaftlichkeit bzw. die Betrachtung von Kabbala selbst als ein wissenschaftliches Werkzeug zur Verbesserung der Lebensumstände – greift später P. Berg auf, um damit ‚allen‘ Menschen den Zugang zum Kabbalah Centre zu ermöglichen. Eben diese kabbalistischen Narrative spielen in der Selbstdarstellung des Kabbalah Centre eine grundlegende Rolle, wie in den folgenden Unterkapiteln aufgezeigt werden wird. Philip Berg adaptierte und modifizierte das lurianische Schöpfungnarrativ bzw. die Auslegung des Narratives von Yehuda Ashlag. Ashlag versuchte, die Lehren von Isaak Luria zu verbreiten und zwar nicht nur innerhalb eines elitären Kreises von gebildeten Juden, sondern unter allen religiösen Juden9 (vgl. Myers 2007b, 18). Der Bruch der Gefäße bei Isaak Luria Der Annahme der Erlösung der Welt liegt eine kosmologische Vorstellung zugrunde, der zufolge die Erde nach dem sogenannten „Bruch der Gefäße“ (Schevirat ha-Kelim) jener dunkle Ort sei, an dem die Seelen solange gebunden sind, bis sie sich durch unzählige Reinkarnationen von ihren Klippot10 befreit und ihren Tikkun gemacht haben, um sich wieder mit den göttlichen Sphären verbinden zu können.
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Diese Aufgabe begründet Yehuda Ashlag damit – so Jody Myers – dass er die Seele des Isaak Luria in sich habe und somit dessen Lebenswerk vollenden und der Welt damit Erlösung bringen müsse (vgl. Myers 2007b, 18).
10 „Klippot“ ist eine Bezeichnung für die „Scherben“, die nach dem „Bruch der Gefäße“ in der materiellen Welt für das Böse verantwortlich sind (vgl. Necker 2008, 220).
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Gott, der als „unendliches Licht“ (en sof11) dargestellt wird, das alles ausfüllt, ziehe sich im ersten Akt der Schöpfung zusammen (vgl. Myers 2007b, 19): „Bevor irgendeine Emanation hervorkam, gab es nur das einfache, göttliche Licht, es erfüllte die ganze Wirklichkeit, kein Platz war frei, nirgendwo ein leerer Raum, sondern alles erfüllt von diesem einfachen Licht des En Sof. Es gab weder Anfang noch Ende, alles war vielmehr ein einziges undifferenziertes Licht. Dieses Licht hieß En Sof.“ (Sch’ar ha-Haqdamot in Necker 2008, 80)
Dieser Vorgang des Zusammenziehens bzw. der Kontraktion (vgl. Necker 2008, 223) wird in der lurianischen Kabbala als zimzum bezeichnet. Nachdem so Raum für die Schöpfung geschaffen wurde, der als „Leere“ (tehiru) bezeichnet wird (vgl. Dan 2007, 99), emanierte en sof die Gefäße (Kelim) und adam kadmon, ein „primordiales, anthropomorphes Wesen“ (Necker 2008, 211), das die Seelen aller späteren Menschen in sich geborgen habe. Diesem Motiv folgend zerbrachen die sieben unteren Gefäße, weil die Kraft des göttlichen Lichtes zu stark gewesen sei (vgl. ebd., Dan 2007, 98ff.; Myers 2007b, 17). In einem zweiten Schöpfungsakt, der darauf ausgerichtet gewesen sei, den „Bruch der Gefäße“ zu beheben, emanierte das göttliche Licht erneut und „formte das System der Sefirot“12 (Dan 2007, 102). Die Sefirot werden auf unterschiedliche Weise dargestellt; häufig findet man die Darstellung als eine Baumstruktur in kabbalistischen Schriften.
11 „En sof“ (wörtlich: „kein Ende“ oder „ohne Ende“) bezeichnet „die unendliche, verborgene, absolut transzendente Gottheit“ (vgl. Necker 2008, 213), die den „Motor“ für den kabbalistischen Schöpfungsprozess darstellt. 12 Der Begriff Sefirot (Singular: Sefira), wird in der Kabbala-Forschung als ein spezifisches Motiv verstanden, das insbesondere in diversen kabbalistische Schriften auftaucht und unterschiedlich ausgedeutet wird. Sefira bedeutet wörtlich Zählung (vgl. Necker 2008, 221). Es steht im Sefer Jezira (Buch der Schöpfung) für die „‚Grundzahlen‘ des dekadischen Systems [Hervorh. im Original]“ (ebd.) und „wird mit den zehn Ansprüchen assoziiert, mit denen Gott nach der rabbinischen Tradition laut Genesis I die Welt erschaffen hat“ (ebd.).
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Abbildung 5: Kabbalistischer Lebensbaum, Darstellung der zehn Sephirot und der 22 sie verbindenden Pfade aus: Fludd, Robert, De praeternaturali utriusque mundi historia, in sectiones tres divisa, Buch (Pars I. De Principiis Micrcosmi Archetypicis, Idealibus, seu primariis.)
Quelle: Deutsche Fotothek (http://www.deutschefoto thek.de/documents/obj/88966539). Lizenz: CC BYSA
4.0
(https://creativecommons.org/licenses/by-
sa/4.0/).
Die oben dargestellten zehn Sefirot (Abbildung 5) werden in dieser aus dem Jahr 1621 stammenden Abbildung mit diversen Gottesnamen in Verbindung gebracht. So wird beispielsweise die oberste Sefira, die als kether (Krone) bezeichnet wird, dem Gottesnamen ehje zugeordnet, während die unterste sefira malkut (irdisches Königreich) dem Gottesnamen adonai zugeordnet wird (vgl. Necker 2008, 234). Seit dem Beginn der irdischen Existenz – so Isaak Luria – sei es der Zweck des Menschen bzw. des jüdischen Volkes, die Erlösung herbeizuführen, indem der
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Schöpfungsprozess durch den Tikkun zur Vollkommenheit gebracht wird13 (vgl. ebd. 222; Dan 2007, 102). Die Seelen bräuchten meist unzählige Inkarnationen14, um sich aus der irdischen Existenz befreien zu können. Nur sehr wenigen, sehr frommen Menschen gelinge dieser Prozess in einem einzigen Erdenleben (vgl. Myers 2007b, 18). Neben den Reinkarnationsvorstellungen steht der Tikkun im Zentrum von Lurias Lehre. Dieser besteht in der „Hingabe und [dem] Aufgehen in der Beachtung der mizwot“ (Dan 2007, 103). Diesem Narrativ, das nicht mit der Schöpfungsgeschichte der Tora identisch ist, liegt die Vorstellung zugrunde, es gäbe eine geheime und verschlüsselte Botschaft, die hinter dem wörtlichen Sinn der Heiligen Schrift erst enthüllt werden müsse (vgl. Krochmalnik 2006; Myers 2007b, 77). In diesem Kontext wird die kabbalistische Schöpfungserzählung gesehen, findet in großen Teilen der chassidischen Welt als solche Anerkennung (vgl. Myers 2007b, 21) und wird von zahlreichen kabbalistischen Autoren rezipiert. Die Rezeption des Schöpfungsnarratives bei Yehuda Ashlag Yehuda Ashlag rezipiert und adaptiert die Ideen Isaak Lurias und verbindet sie mit den chassidischen Werten seiner Heimat und den kommunistischen Idealen seiner Zeit (vgl. Myers 2007b, 21). Während im Zentrum von Lurias Ideen die Vorstellung einer spirituellen Energie steht, die mit diversen Praktiken erhöht werden könne, wird bei Ashlag viel mehr der ethische Aspekt dieses Schöpfungsmotivs betont. Im Kontext seiner kommunistischen Ideologie stehen bei Ashlag das Gemeinwohl, altruistisches Handeln, politische Verantwortung und ökonomische Gerechtigkeit im Zentrum seines kabbalistischen Konzeptes (vgl. ebd. 19). Im Zentrum von Ashlags Schöpfungsmotiv stehen zwei Impulse: zum einen das Verlangen zu geben und zum anderen das Verlangen zu empfangen (vgl. ebd. 18). En sof, dem das Verlangen zu geben (desire to share) zugeschrieben wird,
13 Der Gedanke der „Unvollkommenheit“ der Schöpfung und des Schöpfers ist besonders innovativ und maßgeblich für das Werk Lurias, wie auch die Rolle des Einzelnen, der aktiv zu der Vervollkommnung des Schöpfungsprozesses beitragen kann und muss (vgl. Dan 2007, 102f.). 14 Die Vorstellung der Wiedergeburt im Sinne einer wiederholten Inkarnation einer Seele ist religionsgeschichtlich betrachtet keine Innovation der Ideenwelt Lurias. Bereits seit dem 12. Jahrhundert lassen sich Reinkarnationsvorstellungen in kabbalistischen Schriften nachweisen (vgl. Bergunder 2001b, 713). Der Fokus Lurias auf die individuelle Verantwortung, die der einzelne Mensch dabei trägt, scheint jedoch ein Charakteristikum der lurianischen Kabbala zu sein (vgl. Myers 2007b, 18).
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habe die Gefäße kreiert und sie mit dem Verlangen zu empfangen (desire to receive) ausgestattet. Auch in seiner Version gehen aus dem Schöpfungsakt die zehn Sefirot hervor (vgl. ebd. 16ff. und 79ff.). Dieses Schöpfungsnarrativ unterscheidet sich insofern von Lurias Narrativ, als der „Bruch der Gefäße“ von einem aktiven Widerstand der zehnten sefira malkut hervorgerufen worden sei (vgl. ebd. 18). Der Empfang des göttlichen Lichts habe die Scham, die in diesem Narrativ auch als „Brot der Schande“ bezeichnet wird, über die Sefirot gebracht. Aufgrund dieser Scham habe wiederum die zehnte sefira malkut den Empfang des Lichts gestoppt, was in weiterer Folge den „Bruch der Gefäße“ verursacht und die materielle Welt erschaffen habe (vgl. ebd.). Das Fazit dieses Schöpfungsaktes ist, dass der Mensch als Teil der Schöpfung ebenfalls mit dem Verlangen zu empfangen ausgestattet sei. Um wieder in den vollkommenen Urzustand zurückzukehren, müsse der Mensch dieses Verlangen transformieren, indem er dem Verlangen, nur für sich selbst zu empfangen, widerstehe und sein Handeln nach gemeinschaftlichen Werten, im Sinne des jüdischen Religionsgesetzes, richte (vgl. ebd. 20f.). Demzufolge stellen die jüdischen Gebote ein fundamentales Vehikel zur Transformation dar, weshalb dem jüdischen Volk eine Sonderstellung im Erlösungsprozess bei Ashlag zugeschrieben wird: „[Ashlag] believed that Jews had a pivotal role to play in the refinement of humanity’s Desire to Receive. Through their study of Torah and observance of the mizwot, motivated entirely by the desire to connect to God, the Jews would purify themselves and guide the rest of humanity.“ (Myers 2007b, 21)
Das Schöpfungsnarrativ in den Kabbalah-Centre-Publikationen Philip Berg knüpft an das Schöpfungsmotiv von Yehuda Ashlag an, um sein eigenes kabbalistisches Konzept zu legitimieren. Auch im Zentrum von Philipp und Yehuda Bergs Ideen steht Gott, dem in Form von Licht das unendliche Verlangen zu geben zugeschrieben wird (vgl. Yehuda Berg 2003a). Der „Bruch der Gefäße“, der in Y. Bergs Schöpfungsmotiv als „spirituelle Detonation“ (ebd. 69) mit dem Urknall in Verbindung gebracht wird, werde durch den Widerstand der Gefäße erzeugt, die sich dem Licht verweigerten, um dem „Brot der Schade“ (ebd. 68) entgegenzuwirken: „Das Gefäß besaß alles in der unendlichen Welt, außer ebendieser einen Fähigkeit, die eigene Erfüllung zu verdienen und damit zur Ursache zu werden! Es war also das ‚Brot der Schande‘, welches das Gefäß daran hinderte, absolutes Glück zu erfahren [Hervorh. im Original].“ (Ebd. 68)
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Das Licht, das sich Berg zufolge nach dem Widerstand der Gefäße in einen Punkt zurückzog, habe einen Lichtstrahl emaniert, durch den die verschiedenen Welten, die es dieser kabbalistischen Vorstellung nach gibt, entstanden seien (vgl. ebd. 70ff.): „In dem Moment, als sich das Gefäß dem LICHT widersetzte und sich nicht weiter befüllen ließ, zog sich das LICHT zurück und es entstand ein leerer Raum. Das LICHT zog sich zusammen und ließ einen einzigen Punkt der Finsternis in der unendlichen Welt zurück. Das Unendliche hatte das Endliche geboren [Hervorh. im Original].“ (Ebd. 69)
Da die Beseitigung des „Brotes der Schande“ in diesem Narrativ die Ursache für die Entstehung der materiellen Welt ist, steht die Idee des „Brotes der Schande“ auch im Zentrum von Y. Bergs kabbalistischem Konzept. Es bezeichnet ein negatives Gefühl, das – basierend auf diesem Schöpfungsmythos – durch „unverdientes Glück“ (ebd. 67) ausgelöst werde. Da der Wunsch zu empfangen, der in diesem Narrativ die Basis der menschlichen Existenz darstellt, „Brot der Schande“ erzeuge, müsse dieser Wunsch transformiert werden: „das einzige, was jemals ins Sein kam [...] war der Wunsch, all das zu empfangen, was das Licht zu geben hatte“ (ebd. 63). Dieser Wunsch könne Bergs Lehren zufolge transformiert werden, indem man das „Ego“ abbaue und proaktiv handle. Das bedeutet, „den Wunsch nur für das eigene Selbst zu empfangen, in den Wunsch zu teilen“ (Michael Berg 2005, 79) zu transformieren. Michael Berg bezeichnet diesen Prozess auch als die „Gottesformel“ (vgl. ebd. 70): „Durch einen Prozess, bei dem gleichzeitig das Ego ausgelöscht wird und transformatives Teilen geübt wird, erwecken wir die wahre Natur in uns. Wir werden wie Gott und erschaffen ein Leben voller Freude und Erfüllung.“ (Ebd. 70)
In der Terminologie der Bergs wird die physisch-materielle Welt als die „1-Prozent Realität“ (Yehuda Berg 2003a, 41) bezeichnet, die den Autoren zufolge eine unvollkommene Welt voller Chaos und Schmerz darstellt (vgl. ebd.) und der die 99-Prozent Realität der metaphysischen Welt des Lichts gegenübergestellt sei (vgl. ebd. 43). Um wieder den Zustand der Vollkommenheit zu erlangen, so Yehuda Berg, müsse man erst erkennen, dass „alles, was sich ein Mensch wirklich vom Leben wünscht, [ist] spirituelles LICHT [Hervorh. im Original]“ (ebd. 47) sei. Deshalb sei „der Kontakt zum 99-Prozent Reich [...] der Geheimschlüssel zur Erfüllung im Leben“ (ebd. 48), der nur mit kabbalistischen Methoden und Weisheiten wiederzuerlangen sei (vgl. ebd. 48f.).
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Der kabbalistische Lebensbaum Das Motiv der zehn Sefirot wie auch die Darstellung der zehn Sefirot als „Baum des Lebens“ finden sich häufig in den Schriften und der Selbstdarstellung des Kabbalah Centre wieder. Das System der zehn Sefirot ist ein sehr komplexes Motiv, das in unterschiedlichen kabbalistischen Texten auftaucht, jeweils unterschiedlich ausgedeutet und dargestellt und meist in Verbindung mit dem Schöpfungsnarrativ gebracht wird: „[T]he Creator governs the world through the Sephiroth and He pours out His light upon all His creatures through them, for that is the means by which He becomes known to creation.“ (Krakovsky 1970, 103)
Diese Vorstellung, die weite Verbreitung in kabbalistischen Kreisen gefunden hat (vgl. Giller 2011, 44), beinhaltet die Idee, dass sich die göttliche Kraft bzw. Energie „in der Welt über das Medium der Sefirot emaniert“ (ebd.). Sie wurde erstmals im spätantiken Werk Buch der Schöpfung (Sefer Jezira15) erwähnt, das zwischen dem 3. und 6. Jahrhundert d. Z. entstand (vgl. Dan 2007, 60ff.; Giller 2011, 44; Necker 2008, 221) und seither von zahlreichen Autoren rezipiert und adaptiert wurde. Die unterschiedlichen Darstellungen reichen von der Vorstellung der Sefirot als göttliche Eigenschaften (midot) oder „Äußerungen“ (ma’amorot), wie sie im Buch des hellen Glanzes (Sefer Bahir), einem im 12. Jahrhundert entstandenen Werk (vgl. Dan 2007, 37), Ausdruck finden (vgl. ebd. 61) bis zu Darstellungen der Sefirot als anthropomorphe Gestalt (vgl. ebd. 62). Die Darstellung der Sefirot als Lebensbaum ist das Logo des Kabbalah Centre und wird gezielt zur Konstruktion des faith brand (vgl. Einstein 2008) Kabbalah Centre eingesetzt. So erscheint bei offiziellen Webauftritten, sowie bei Info- und Werbematerial jeweils links neben dem Schriftzug „The Kabbalah Centre“ immer die Abbildung des „Baums des Lebens“ (vgl. Kabbalah Centre Germany 2014a). Neben dem Kabbalah-Centre-Logo erscheint die Darstellung des kabbalistischen Lebensbaums auch in den verschiedene Publikationen des Kabbalah Centre (vgl. Yehuda Berg 2003a, 81) und kann daher als zentraler Identitätsmarker betrachtet werden, der zur Konstruktion der Kabbalah-Centre-Identität beiträgt.
15 Diese Schreibweise wurde von Joseph Dan übernommen (vgl. Dan 2007: 61) und stellt die übliche Schreibweise in der deutschen Transliteration des hebräischen Originaltitels dar. Vor allem in der englischsprachigen Literatur sind auch alternative Schreibweisen üblich, wie beispielsweise „Sefer Yezirah“ (Giller 2011).
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Die Vorstellung des „Baums des Lebens“, der in einem komplexen Schöpfungsvorgang in Form der zehn Sefirot emaniert wurde und so die Grundlage der Schöpfung und somit auch des Menschen ist (vgl. Dan 2007, 60ff.), wurde auch von Philip Berg und seinen Söhnen übernommen, die dieses komplexe und vielschichtige System vereinfacht und anschaulich darstellten und in ihr Lehrkonzept integrierten: „Die Sefirot ließen sich sozusagen als spirituelle Transformatoren verstehen, die nach und nach die grenzenlose Strahlkraft des Schöpfers drosseln, bis sie uns in einer erträglichen Intensität in der Malkut erreicht [Hervorh. im Original].“ (Berg 2006a, 24)
P. Berg modifiziert diese Vorstellung und integriert sie in sein Selbstoptimierungsprogramm: „Allerdings wäre es falsch, uns die zehn Sefirot als eine Wirklichkeit außerhalb unserer selbst vorzustellen, denn paradoxerweise sind sie sowohl Stufen, die es zu erreichen gilt, als auch in uns selbst in potentieller Form vorhanden. Sie sind in uns angelegt, damit wir sie mittels unserer verwandelnden spirituellen Arbeit erwecken und beherrschen [Hervorh. im Original].“ (Ebd.)
Diese vereinfachte Darstellung eines sehr komplexen Narratives bildet die Basis für das gesamte Konzept, das die Bergs über die Jahre hinweg entwickelten, um ihr Verständnis und ihre Interpretation von Kabbala mit historischen Quellen und Bezügen zu untermauern. Yehuda Berg legitimiert die kabbalistische Vorstellung der zehn Sefirot wiederum dadurch, dass er sie mit naturwissenschaftlichen Ansätzen in Verbindung bringt. Er bezieht sich dabei auf den US-amerikanischen Wissenschaftler Brian Green, den er als „eine[n] der führenden Stringforscher“ (Yehuda Berg 2003a, 82) bezeichnet. Y. Berg verbindet dessen Aussagen in Bezug auf naturwissenschaftliche Modelle von Dimensionen mit dem kabbalistischen System der zehn Sefirot, um es wissenschaftlich zu untermauern und seinen Ideen Legitimität zu verleihen. Diese Beispiele lassen die Schlussfolgerung zu, dass sowohl historische Quellen und Bezüge als auch naturwissenschaftliche Belege eine wichtige Rolle in der Selbstdarstellung des Kabbalah Centre einnehmen. Mittels naturwissenschaftlicher Belege wird den historischen Quellen eine besondere Legitimation verliehen. Der Wahrheitsanspruch kabbalistischer Quellen wird damit von der Ebene des Glaubens auf die Ebene der Empirie erhoben und soll einen wissenschaftlichen Charakter erhalten.
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Der Einsatz wissenschaftlicher Termini als Legitimationsstrategie des Berg’schen Kabbala-Konzeptes16 wird auch daran deutlich, dass Konzepte, die innerhalb des Kabbalah Centre entwickelt wurden, als „Theorien“ bezeichnet werden – wie das folgende Beispiel verdeutlicht. So benutzt Y. Berg den Terminus „Reaktivitätstheorie“ (Yehuda Berg 2003a, 87), um das eben aufgezeigte kosmologische Narrativ mit alltäglichen Handlungsanweisungen zu verknüpfen und diesem Narrativ den Charakter eines wissenschaftlichen Ansatzes zu verleihen. Die „Reaktivitätstheorie“ im Kabbalah Centre Aufbauend auf dem oben aufgezeigten Schöpfungsnarrativ entwickelten Philip Berg und seine Söhne eine Handlungsanleitung, in der proaktives Handeln betont wird. Damit bezeichnet Yehuda Berg individuelle Handlungen, die zur „spirituellen Transformation“ (Yehuda Berg 2003a, 89) führen sollen. Im Schöpfungsnarrativ der Bergs ist der Mensch aufgrund der Attribute, die ihm durch die Schöpfung zuteilwurden, vom Wunsch zu empfangen geleitet. Gott, dem im Kontext des Kabbalah Centre die Eigenschaft des Teilens (desire to share) zugeschrieben wird, gebe weiterhin Licht in Form von „totaler Erfüllung, [...] grenzenlosen Wissens und der unendlichen Freude“ (ebd. 42) an die Menschen (Gefäße) weiter, es sei denn, „the emanation has been blocked by klippot, the evil forces activated by Desire to receive in a person’s life (or past lives)“ (Myers 2007b, 81). Die Verantwortung für negative Gefühle und Ereignisse im Leben trägt in diesem Narrativ, das Y. Berg als die „Reaktivitätstheorie“ (vgl. Yehuda Berg 2003a, 87ff.) bezeichnet, jeder einzelne Mensch selbst. Als Ursache wird von Berg selbstsüchtiges bzw. „reaktives“ Handeln angegeben: „Reaktives Verhalten basiert auf dem menschlichen Wunsch zu empfangen. Es handelt sich um den in der unendlichen Welt geweckten uranfänglichen Wunsch. Zu reaktivem Verhalten führen Gier, Selbstsucht, Maßlosigkeit, Egoismus usw. Reaktives Verhalten ist jede Form des Reagierens auf einen äußeren Umstand, zum Beispiel mit Zorn, Neid, Übermut, niedrigem Selbstwertgefühl, Rachsucht und Widerwillen.“ (Ebd. 88)
Damit unterscheidet sich dieser Ansatz von der jüdischen und christlichen Tradition, in der negative Ereignisse wie Schicksalsschläge als Strafe eines göttlichen Schöpfers dargestellt werden (vgl. Myers 2007b, 82).
16 Vgl. hierzu auch Kapitel 6.4.2 dieser Arbeit, in dem der Zusammenhang von Wissenschaft und Religion im Kontext des Kabbalah Centre noch eingehender behandelt wird.
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Auf der anderen Seite – so Y. Berg – stellen diese negativen Situationen oder Hindernisse im Leben jedoch auch eine Herausforderung dar, um den reaktiven Impulsen zu widerstehen: „Hindernisse sind unsere Chancen, uns mit dem LICHT zu verbinden. Je mehr Dinge sich uns in den Weg stellen, desto mehr Chancen haben wir, das LICHT ‚anzuschalten‘. Je größer die Zahl der Hindernisse, desto größer ist die Vielfalt der Mechanismen, um Reaktionen bei uns auszulösen, auf dass wir Widerstand leisten und die Hindernisse verwandeln können. […] Letztlich ist Transformation der Sinn unseres Lebens […] und nur durch ein Hindernis bekommen wir Gelegenheit dazu [Hervorh. im Original]!“ (Yehuda Berg 2003a, 142)
Neben diesem Ursache-Wirkungs-Prinzip (vgl. Myers 2007b, 81ff.) knüpfen die Bergs in ihren Schriften an die Vorstellung der Existenz böser, dämonischer Mächte an. In den Werken von Isaak Luria ist insbesondere das Bild einer dämonischen Gegenwelt präsent (vgl. Necker 2008, 17). Auch in den Werken der Bergs wird die Existenz einer dämonischen Kraft angenommen. Die Bergs bezeichnen diese Kraft als „Satan“ oder „Gegner“ (vgl. Yehuda Berg 2003a, 113f; Michael Berg 2005, 97f.) und beschreiben damit „eine dunkle Kraft, die unseren Körper von innen heraus bewegt, in unseren Köpfen denkt und ständig unser Handeln bestimmt“ (Michael Berg 2005, 97). Anders jedoch als bei Luria, der von der Existenz „dämonischer“ Entitäten ausgeht (vgl. Necker 2008, 17f.), die sich von der menschlichen Existenz unterscheiden, wird der „Gegner“ in den Narrationen des Kabbalah Centre als Synonym für das reaktive Verhalten des Menschen verstanden, das im Wunsch des Menschen nur für sich selbst zu empfangen (vgl. Michael Berg 2005, 123; Yehuda Berg 2003a, 112ff.) – also in den egoistischen menschlichen Bestrebungen – sichtbar wird. Ausgehend von dieser Vorstellung wurden im Kabbalah Centre zahlreiche Methoden und Praktiken entwickelt, die in der „emischen“ Rhetorik als tools (Werkzeuge) bezeichnet werden. Die tools dienen dem Kabbalah Centre zufolge dazu, sich dem „Ego“ (vgl. Michael Berg 2005, 97), der satanischen Kraft im Menschen, zu widersetzen, um eine „spirituelle Transformation“ (ebd.) zu erreichen.
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Reinkarnationsvorstellungen und Astrologie Exkurs: Religionsgeschichtliche Implikationen westlicher Reinkarnationskonzepte „§ 98 Warum sollte ich nicht so oft wiederkommen, als ich neue Kenntnisse, neue Fertigkeiten zu erlangen geschickt bin? Bringe ich auf einmal so viel weg, daß es der Mühe wiederzukommen etwa nicht lohnet?“ (Lessing 1987, 31)
Mit diesen Worten rückt Gotthold Ephraim Lessing in seinem erstmals 1780 veröffentlichten Werk Erziehung des Menschengeschlechts die Idee der Reinkarnation „aus dem Untergrund der europäischen Ideengeschichte ins Licht der aufklärerischen Öffentlichkeit“ (Zander 1999, 11). In seinen Überlegungen verknüpft er in einhundert Paragraphen Reinkarnationsmodelle mit der Idee von individueller und kollektiver Entwicklung (vgl. ebd. 11f.; Sachau 1997, 77f.). Dieser Kerngedanke, es gäbe eine stetige, individuelle und kollektive Entwicklung, der ein optimistisches positives Geschichtsverständnis impliziert, bildet die Basis für westliche Reinkarnationsmodelle seit dem 18. Jahrhundert (vgl. Sachau 1997, 80ff.). Religionsgeschichtlich betrachtet entwickelten sich alternativ zu den jüdischen, christlichen und islamischen Postmortalitätskonstruktionen17 in unterschiedlichen Epochen Reinkarnationskonzepte (vgl. Ahn 1998; Miczek 2011). Helmut Zander zeigt auf Grundlage zahlreicher Reinkarnationskonzepte der westlichen Religionsgeschichte in seinem 1999 veröffentlichten Werk Geschichte der Seelenwanderung in Europa auf, dass von der Antike bis in die Gegenwart unterschiedliche Konzepte existierten, jedoch kein durchgängiger Reinkarnationsdiskurs feststellbar ist. Der Topos der Reinkarnation oder der Wiedergeburt18, der als Diskurselement der Antike neben Platon auch auf die Orphiker und Pythagoreer zurückführen ist (vgl. Ahn 2001, 28), wird in philosophischen Abhandlungen bis in die Spätantike diskutiert. Während diese Themen im Frühmittelalter bis hin zur Neuzeit innerhalb christlicher Diskurse kaum feststellbar sind und seit der Neuzeit fast ausschließlich in Oberschichtendiskursen verhandelt werden (vgl. ebd. 23f.; Bergunder 2001b, 713), stellen Reinkarnationskonzepte seit dem 12. Jahrhundert zentrale Topoi in der Kabbala dar (vgl. Bergunder 2001b, 713; Giller 2011, 93).
17 Der Terminus „Postmortalität“ bezeichnet hier eine „heuristische Kategorie“, die in der komparatistischen Religionsforschung als eine mögliche Herangehensweise zur Erforschung kulturell bedingter Todeskonstruktionen dient (vgl. Ahn u. a. 2011, 25). 18 Häufig findet sich in der Literatur auch der griechische Begriff metempsychosis.
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Diese Konzepte entwickeln sich vor dem Hintergrund komplexer Postmortalitätsvorstellungen, die eine ambivalente Stellung im jüdischen Diskurs einnehmen.19 In der sogenannten rabbinisch-talmudischen Zeit, nach der Zerstörung des Zweiten Tempels (70 d. Z.), stand der Glaube an eine Auferstehung (tehiyat hametim) im Zentrum der religiösen Auseinandersetzung (vgl. Giller 2011, 86). In dieser Zeit wurden vor allem moralische Fragen verhandelt, wie die der Fortexistenz der Seelen der Sünder und der Gerechten.20 Während den Gerechten ein Weiterleben nach dem Tod im „Garten Eden“ zugestanden wird, wähnte man den Ort für die Sünder im Gehinnon, einem Ort der Strafe und der Läuterung (vgl. Schmitz 1992, 68). Die rabbinischen Quellen lassen über die Existenz der Idee der Seelenwanderung (gilgul ha-nefesch) im jüdischen Diskurs nur wenige Rückschlüsse zu. Erstmals trat diese Idee im mediterranen, jüdischen Raum im 12. Jahrhundert zutage21 und verbreitete sich vermutlich von dort aus innerhalb des europäischen Judentums.22 Im Zentrum dieses Konzepts steht die Vorstellung einer Läuterung der Seele vor ihrem „Aufstieg“ (ebd. 74). Neben dem Sefer Bahir, einem frühen
19 In der Tradition der Sadduzäer wurde beispielsweise der Glaube an ein Weiterleben nach dem Tod sowie die Vorstellung der Existenz einer Seele, die nach dem Tod weiterbestehe, abgelehnt. Dahingehend entwickelten die Pharisäer und die Rabbiner unterschiedliche Postmortalitätskonzeptionen. Diese bauen auf der Annahme eines ‚LeibSeele Dualismus’ auf, die auf den Einfluss der hellenistischen Anthropologie verweist (vgl. Giller 2011, 81f.). 20 An dieser Stelle sei anzumerken, dass bereits Platon mit der Idee der Wiederverkörperung moralische Implikationen verknüpfte, indem er diese als Möglichkeit des Ausgleiches für moralisch bedenkliches Handeln sah (vgl. Miczek 2011, 204). 21 Es ist zu vermuten, dass diese Entwicklungen sowohl von islamischen Ideen als auch von gnostischem Gedankengut beeinflusst wurden (vgl. Schmitz 1992, 74). Allerdings lässt sich kein Anknüpfungspunkt an antike Konzepte belegen. Außerdem ist hier festzuhalten, dass auch zeitgleich Reinkarnationskonzepte im Kontext der Katharer zu verorten sind, weshalb die Frage eines wechselseitigen Austausches zwischen dieser Bewegung und den ersten kabbalistischen Gruppen zu vermuten ist. 22 Es ist zwar anzunehmen, dass es einen wechselseitigen, kulturellen Austausch zwischen den unterschiedlichsten religiösen Gruppierungen des Mittelalters gegeben hat, jedoch gibt es keine Belege dafür, dass Reinkarnationsvorstellungen während dieser Zeit auch in weiten Teilen des christlichen Raumes Verbreitung fanden. Austauschprozesse lassen sich zwischen Juden und Muslimen relativ früh in der europäischen Religionsgeschichte – im spanischen Mittelalter – feststellen. Überschneidungen lassen sich im Bereich der „intellektuellen Subsysteme“ wie Kabbala oder Sufismus verorten und nachweisen (vgl. Wasserstrom 2000, 69).
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Werk der Kabbala, das Reinkarnationsvorstellungen explizit thematisiert, wird dieses Narrativ von unterschiedlichen jüdischen Autoren ausgehandelt. Gleichzeitig wird es zum zentralen Element religiöser Identität kabbalistischer Gruppen. Ausgehend von Moshe Cordovero (1522–1570) und dessen Schüler Isaak Luria (1534–1572),23 dessen Vorstellung der Seelenwanderung den Charakter einer „normativ kabbalistic doctrine“ (Giller 2011, 95) einnimmt, entwickelte sich ein vielschichtiges Reinkarnationskonzept, dessen Elemente auch Bausteine religiöser Identitätskonstruktion und Praxis gegenwärtiger kabbalistischer Gruppen – wie des Kabbalah Centre, der jüdisch-orthodoxen Gruppe Chabad (vgl. ChabadLubawitsch Media Center) oder der kabbalistischen Gruppe Bnei Baruch (vgl. Bnei Baruch Kabbalah Education and Research Institute) – darstellen. Während kabbalistische Reinkarnationsvorstellungen in bestimmten Kreisen des Judentums wie im osteuropäischen Chassidismus Verbreitung finden, werden sie außerhalb dieser Strömungen auch im jüdischen Diskurs kaum beachtet und stoßen wie andere kabbalistische Ideen eher auf Ablehnung. Seit dem 20. Jahrhundert finden Reinkarnationsvorstellungen auch in breiten Teilen der westlichen Welt Verbreitung. Die Basis hierfür stellen, religionsgeschichtlich betrachtet, die Phase der „Entzifferung fremder Sprachen und Schriften“ (Kippenberg 1997, 45) sowie die damit einhergehende „Entdeckung der Prähistorie“ (ebd. 51) dar. Sie ermöglichen es, die dominanten christlichen Denkmuster zu hinterfragen und alternative religiöse Deutungsmuster zu adaptieren. In diesem Kontext steigt das Interesse am Orient, der als „exotisch“ wahrgenommen
23 Während Moshe Cordovero Reinkarnationsvorstellungen als Buße für Sünder, als Strafe für das Nichteinhalten der jüdischen Gebote und Verbote (Mizwot) oder als Möglichkeit sieht, unerledigte Geschäfte fertigzustellen und die Anzahl der Reinkarnationen analog zur Vorstellung der zehn Sefirot auf zehn beschränkt, betont Isaak Luria den universalen Charakter von Reinkarnation, deren Anzahl er nicht beschränkt. Viele der früheren Autoren stehen einer Inkarnation in Tiere oder Pflanzen skeptisch gegenüber. Anders jedoch als diese schließt Luria diese Möglichkeit nicht aus. Daneben betont er, wie sein Lehrer Moshe Cordovero, die Bedeutung des ersten irdischen Lebens, das prägend für den Charakter der neshamah sei, jenen Seelenaspekt, der reinkarniere. Luria vertritt, Giller zufolge, darauf aufbauend die Idee von „soul roots“ (Giller 2011, 96f.), die auf die biblischen „Urväter“ und „Urmütter“ zurückzuführen seien. Jeder Mensch sei mittels bestimmter, von Luria entwickelter Meditationen, hypnotischen Trancezuständen, Gebeten etc. in der Lage, die „soul roots“ zu erkennen, um durch diese „past life regression“ (ebd.) Kenntnisse über sich selbst, seine Wünsche, Impulse oder Ängste zu erfahren (vgl. ebd.).
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wird und Raum für zahlreiche religiöse Spekulationen offen hält. Infolge des Kolonialismus gelangen religiöse Texte und Ideen aus buddhistischen und hinduistischen Traditionen nach Europa. Durch die Rezeption dieser Ideen in der Literatur, der Wissenschaft und durch religiöse Gruppierungen (z. B. die Theosophische Gesellschaft) finden diese Einzug in den westlichen Oberschichtendiskurs. Mit der Verbreitung von Charles Darwins Die Entstehung der Arten (1859) nimmt die Bedeutung evolutionistisch geprägter Ansätze zu, die auch in den religiösen Bereich übertragen werden und den Grundbaustein für ein westlich geprägtes Reinkarnationskonzept schaffen, das sich grundlegend von seinen asiatischen Vorbildern unterscheidet (vgl. ebd. 56; Miczek 2011, 205). Während die kollektive Komponente in asiatischen Religionen von besonderer Bedeutung ist, steht die individuelle Selbstverwirklichung im Zentrum der westlichen Reinkarnationsdiskurse. Reinkarnation wird in diesem Kontext zum Werkzeug der Selbstverbesserung. Die Vorstellung, es gäbe eine optimistische, teleologische Entwicklung, steht im Zentrum dieser Ideen. Durch die Verbreitung dieser Ideen im Zuge von New Age und im Kontext der Popularisierung religiöser Vorstellungen in der Gegenwartskultur stellen Reinkarnationsideen einen bedeutenden Baustein religiöser Identitätskonstruktion dar. Die Religionswissenschaftlerin Nadja Miczek konstatiert in ihrer 2013 veröffentlichten Doktorarbeit, dass Reinkarnationskonzepte „sowohl als Postmortalitätsmodell, als auch als strukturierendes Element in den biographischen Konstruktionen von zahlreichen Akteuren verwendet“ (Miczek 2013, 156) werden und den rezenten Diskurs reflektieren. Während die Autorin einen Zusammenhang zwischen Reinkarnationsvorstellungen und Karma-Konzepten in der biographischen Selbstdarstellung der Akteure feststellt (vgl. ebd.), werden innerhalb des Kabbalah Centre die kabbalistischen Tikkun-Vorstellungen integriert, die – ähnlich dem Karma-Konzept – von einer Determiniertheit des menschlichen Lebens aufgrund früherer Handlungen ausgehen. Reinkarnationsvorstellungen im Kabbalah Centre Diesem Erklärungsmodell folgend adaptierte Philip Berg alte kabbalistische Vorstellungen der Seelenwanderung24 in sein Konzept, um sowohl persönliches Leid als auch soziale und politische Missstände zu erklären. Während die Vorstellung
24 Seelenwanderung (Gilgul) spielt insbesondere in der Ideenwelt von Isaak Luria eine wichtige Rolle und erlangte mit der Popularisierung seiner Ideen und Vorstellungen in der jüdischen Welt, allem voran im osteuropäischen Chassidismus, vermehrt Bekanntheit. Hier dominierte die Vorstellung, dass die Seelenwanderung eine Möglichkeit der Buße für diverse Verfehlungen darstellt (vgl. Necker 2008, 214).
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der Seelenwanderung und die damit einhergehende Idee der Reinkarnation in jüdischen und kabbalistischen Schriften vor dem 16. Jahrhundert von marginaler Bedeutung waren,25 wird sie ins Zentrum der Kabbalah-Centre-Lehre gestellt: „I quickly realized that the topic of reincarnation is a central element of kabbalistic teachings“ (Philip S. Berg 2005, 1). P. Berg widmet dem Thema Seelenwanderung ein eigenes Werk: Wheels of a Soul. Reincarnation and Kabbalah (2005). In diesem verbindet er naturwissenschaftliche Erkenntnisse mit der kabbalistischen Reinkarnationslehre: „Reincarnation is not a question of faith or doctrine, but logic and reason“ (ebd. 49f.). Während Isaak Luria, auf den sich P. Berg hier bezieht,26 in der Vorstellung der Seelenwanderung die Möglichkeit der Wiedergutmachung vorheriger Verfehlungen sieht und diese damit begründet (vgl. Myers 2007b, 92), sieht P. Berg Reinkarnation als eine logische Konsequenz des menschlichen Verhaltens: „In the entire universe, there is no such thing as an accident. All misfortunes or ‚accidents‘ encountered in the present are merely the logical outgrowth of some action that was taken either in a past life or in the present one. Misfortune and illness are merely the effects of causative factors operating under the laws of tikune.“ (Philip S. Berg 2005, 109)
Aufbauend auf dieser Idee werden im Kabbalah Centre Seminare zum Thema „Reinkarnation und Kabbala“ angeboten. Im November 2010 wurde beispielsweise ein Reinkarnationsseminar in München gehalten (vgl. Werbemail: „Kabbalah Newsletter-Kurse und Events November 2010“, „Kabbalah Centre Europe“, 9.11.2010).
25 Für eine umfassende Darstellung zu Reinkarnationsvorstellungen im Judentum soll hier auf Helmut Obst verwiesen werden, der in seiner Publikation Reinkarnation. Weltgeschichte einer Idee (2009) die ideengeschichtliche Entwicklung dieser Vorstellung im Judentum nachzeichnet. Obst verweist darauf, dass, wenngleich diese Vorstellung nicht zum anerkannten Teil der offiziellen jüdischen Lehre gehörte, es dennoch vereinzelte Hinweise auf die Existenz dieser Idee seit der Antike gibt. Insbesondere ließen sich im ‚Neuen Testament‘ zahlreiche Hinweise ausfindig machen, die auf die Entwicklung der Idee der Wiedergeburt im palästinensischen und rabbinischen Judentum hinwiesen (vgl. Obst 2009, 64ff.). Obst zeigt zudem auf, dass sich vor allem in kabbalistischen Texten unterschiedliche Zugänge in Hinblick auf Reinkarnationsvorstellungen konstatieren lassen (vgl. ebd.). 26 Philip Berg weist in seinem Werk Wheels of a Soul auf einen Text hin, der als „The Gates of Reincarnation“ („Sha’ar ha-Gilgulim“) bekannt ist und welcher Isaak Luria zugeschrieben wird (vgl. Philip S. Berg 2005, 4).
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Anknüpfend an den Topos der Wiedergeburt adaptierte P. Berg auch astrologische Elemente in sein Kabbala-Konzept, wie im Folgenden dargestellt wird. Astrologie im Kabbalah Centre Das Kabbalah Centre wirbt darüber hinaus auf dessen Homepage für die „kabbalistischen Astrologen“ Ruth Nahmias (vgl. The Kabbalah Centre 2017a) und Chaim Cohen (vgl. The Kabbalah Centre 2017b). Diese bieten auch in Deutschland sogenannte Chart-Readings an. Deren Angebote reichen von Vorträgen bis hin zur Erstellung individueller „kabbalistischer Astrologie Charts“: „Die Kabbalistische Astrologie ist ein wichtiges Instrument bei der Entdeckung des wahren Sinn und Zweck Ihres Lebens. Sie persönlich wurden mit besonderen Gaben und besonderen Herausforderungen geboren, ganz individuell drückt sich dies in Ihrem Horoskop aus.“ (The Kabbalah Centre 2017a)
Im Konzept des Kabbalah Centre werden so kabbalistische Topoi wie die Vorstellung des Tikkun mit astrologischen Vorstellungen kombiniert, modifiziert und in Form von Selbstoptimierungstechniken angeboten: Mittels kabbalistisch-astrologischer Selbstanalyse kann so der individuelle Tikkun27 errechnet werden (vgl. Berg 2006b, 188ff.). Neben der Bedeutung des eigenen Geburtsdatums betont P. Berg den Einfluss der jeweiligen Planetenkonstellationen auf den Lebensalltag, der wiederum mittels kabbalistischer Techniken und Meditationen beeinflusst werden könne (vgl. ebd. 55ff.): „Kabbalah tells us that the stars and the planets are like filters that enable us to receive the Light safely. Each astrological configuration, each month and its corresponding sign blocks out most of the Light but allows a manageable portion to reach us in the physical world.“ (Berg 2006b, 50)
Darüber hinaus bietet das Kabbalah-Centre in seinen Zentren wöchentlich kabbalistisch-astrologische Kurse an, die unter dem Titel „Messsage from the Stars“ (vgl. Kabbalah Centre Germany 2014c) subsumiert werden. In diesem Kurs, der online auf Englisch gehalten wird, werden laut der Angaben der Webseite die astrologischen Aspekte mit dem jeweiligen Wochenabschnitt des Zohar verknüpft und vorgetragen (vgl. ebd.).
27 Mittels einer „Tikkun Reference Table“ (Berg 2006b, 188) bietet Philip Berg die Möglichkeit, den persönlichen Tikkun aufgrund des Geburtsdatums festzustellen (vgl. ebd. 188ff.).
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Auch in Deutschland bietet das Kabbalah Centre seit einiger Zeit sogenannte „Kabbalistische Astroanalysen“ an (vgl. Kabbalah Centre Germany 2014d). In diesem Kontext werden Reinkarnationsvorstellungen sowie die jüdisch-kabbalistischen Vorstellungen des Tikkun mit astrologischen Vorstellungen verknüpft. So wird dieses Angebot auf der deutschen Kabbalah-Centre-Homepage folgendermaßen beworben: „Anhand dieser ganz persönlichen Aufstellung können Sie [...] sich Einblicke verschaffen in Ihre bisherigen Reinkarnationen, Ihren Tikkun und in die spirituelle Aufgabe, die Sie in diesem Leben haben.“ (Ebd.)
Hier wird besonders deutlich, dass die Ideen und Vorstellungen, die vom Kabbalah Centre angeboten werden, ein Konglomerat aus unterschiedlichen religiösen, wissenschaftlichen und kabbalistischen Semantiken und Narrativen bilden. In Anbetracht der religiösen Gegenwartslandschaft Deutschlands und dem neueren Stand der Forschung lässt dies die Vermutung zu, dass die Angebote des Kabbalah Centre einen aktuellen Trend widerspiegeln, der sich seit einigen Jahren im religiösen Feld abzeichnet (vgl. Bochinger, Engelbrecht und Gebhardt 2009a; Hero, Krech und Zander 2008; Knoblauch 2009). Was das Kabbalah Centre auszeichnet, ist die Tatsache, dass innerhalb einer mehr oder weniger einheitlichen religiösen Community unterschiedliche Ideen und Praktiken miteinander verknüpft und diese vor dem Hintergrund einer Organisation jüdischer Provenienz zu einer innovativen und synkretistischen Lehre verwoben werden. Diese innovative Lehre befindet sich in einem fluiden Prozess der ständigen Neukonstruktion und ist immer im Kontext des aktuellen Religionsdiskurses zu betrachten. Der Zohar als ‚spiritual tool‘ Im Zentrum des Kabbalah-Centre-Angebotes steht ein Werk, das als „traditionelles, autoritatives Werk jüdischer Religiosität“ (Dan 2007, 50) in weiten Teilen der jüdisch-religiösen Welt Anerkennung fand: der Sohar. Der jüdische Religionshistoriker Gershom Scholem (1897–1982) betont in seiner umfangreichen Darstellung kabbalistischer Schriften, die als Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen (Scholem 1993) den Grundstein für die Erforschung dieses umfangreichen Themengebiets legte, ebenfalls die Wichtigkeit des Sohars im Judentum:
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„Während in den Jahren nach 1275 Abraham Abulafia seine Lehre der prophetischen Kabbala in Italien aufstellte, wurde irgendwo im Herzen Kastiliens ein Buch geschrieben, das dazu bestimmt war, alle anderen Dokumente der kabbalistischen Literatur an Erfolg und Ruhm, sowie an steigendem Einfluß zu überflügeln; das war das Sefer ha-Sohar. Oder ‚Das Buch des Glanzes‘. Sein Platz in der Geschichte der Kabbala kann daran gemessen werden, dass es in der nach-talmudischen Zeit rabbinischen Literatur ein kanonischer Text wurde, der während mehrerer Jahrhunderte sich neben der Bibel und dem Talmud behaupten konnte [Hervorh. im Original].“ (Scholem 1993, 171)
Das pseudepigraphische Werk wird zwar Shimon Bar Jochai, einem Talmudisten des 2. Jahrhunderts, zugeschrieben, wurde jedoch vermutlich von Mose ben Schemtow de Leon (1250–1305) Ende des 13. Jahrhunderts in Spanien (vgl. Dan 2007, 45ff.; Scholem 1993, 171ff.) verfasst und verbreitet (vgl. Müller 2005, 15). Das in einem künstlichen Aramäisch verfasste Werk, das sich durch seine exzentrische Sprache und Grammatik auszeichnet (vgl. Dan 2007, 49), stellt formal einen klassischen Tora-Kommentar (Midrasch) des Shimon Bar Jochai dar, der in eine „kunstvolle fiktive Rahmenerzählung“ eingebettet ist (vgl. ebd. 48). Inhaltlich stehen insbesondere die Ausdeutung der Genesis, der biblischen Schöpfungsgeschichte, die eng mit der Vorstellung der Entstehung der Sefirot einhergeht, und das Motiv des Merkava („göttlicher Thronwagen“) im Vordergrund (vgl. ebd. 50). Die traditionelle Ausgabe des Sohar wurde in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Mantua gedruckt (vgl. ebd. 48) und seither vielfach nachgedruckt. Im 20. Jahrhundert wurde der Sohar von Yehuda Ashlag (1884–1954) ins Hebräische übersetzt. In den 1930er Jahren wurden Teile des Sohar von Ernst Müller ins Deutsche übersetzt und am Ende des 20. Jahrhunderts ins Englische28 (vgl. ebd.). 2003 erschien eine 23-bändige Ausgabe des Sohar mit englischem Kommentar, die Michael Berg im Eigenverlag des Kabbalah Centre – Press of The Kabbalah Centre – herausgab und die als Grundlagenwerk jedem Kabbalah-CentreInteressierten für 415 Dollar (vgl. Einstein 2008, 158) angeboten wird. Diesem Werk, das für das „Studium“ der Kabbala im Kabbalah Centre nicht nur inhaltlich von großer Bedeutung ist, wird auch eine talismanische Wirkung zugeschrieben: „The Kabbalah Centre also suggests that simply having the books in your home will bring you positive energy.“ (Ebd. 158)
28 Siehe dazu Matt 1983; Liebes 1993; Tishby 1989.
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Die Kabbalah-Centre-Lehrer erklären diese „Kraft“, die vom Zohar ausgehe, mit der Macht der hebräischen Buchstaben. Ausgehend von dieser Idee der besonderen Wirkmacht der hebräischen Buchstaben entwickelte Yehuda Berg die Methode des Scannens – eine spezifische Meditationstechnik, mit der die hebräischen Buchstaben mit den Augen gescannt werden (vgl. Yehuda Berg 2003a; Myers 2007b; Einstein 2008), um damit eine entsprechende positive Wirkung zu erzeugen. Der Großteil der Kabbalah-Centre-Schüler, die im Rahmen dieser Arbeit befragt wurden, geben an, regelmäßig im Zohar zu scannen: Auszug aus dem Interview mit einer aktiven Teilnehmerin des Kabbalah Centre: „Pamina: Ich scanne den Zohar. Interviewerin: Können Sie kurz beschreiben, was das ist? Pamina: Scannen? Du gehst [...] mit den Fingern über die Zeilen und mit den Augen liest du die ganzen Buchstaben [...]. Man geht davon aus, dass die Seele des Menschen diese Schrift kennt und die Buchstaben eben aufsaugen oder aufnehmen kann. Dein bewusster Verstand muss es nicht unbedingt verstehen. Interviewerin: Aber wäre es nicht hilfreich, wenn man den Text trotzdem verstehen würde? Pamina: [...] den Zohar kannst du, auch wenn du Hebräisch kannst, nicht verstehen. (Interview Pamina, 3.6.2010, 11f)“
Der Zohar spielt auch im Programm des Kabbalah Centre eine zentrale Rolle. So wird wöchentlich die sogenannte Zohar-Klasse angeboten, die zum dauerhaften Angebot des Zentrums zählt. Hier liest ein Kabbalah-Centre-Lehrer einen Abschnitt aus dem Originaltext des Zohar vor und kommentiert diesen (vgl. Feldforschungsprotokoll, März 2010). Anschließend dürfen die Schüler Fragen stellen, die dann kurz diskutiert werden. Themen der Wochenabschnitte (Paraschot), die im September 2013 im Kabbalah Centre angeboten wurden, waren z. B. folgende: „YOM KIPPUR: Übernehmen Sie die Verantwortung für Ihre eigene Transformation und Veränderung und kreieren Sie damit einen Wandel in der Welt. SUKKOT: Erwecken Sie mehr Freude in Ihrem Leben und lassen Sie den Ärger ziehen [Hervorh. im Original].“ (Kabbalah Centre Germany 2013)
Die hier angeführten Wochenabschnitte beschäftigen sich mit dem im jüdischen Monat Tischri stattfindenden „Versöhnungstag“ „Jom Kippur“ und dem „Laubhüttenfest“ „Sukkot“, die wichtige Feste im jüdischen Kalender darstellen (vgl. Lau 2004, 158ff.; Solomon 1999, 65ff.).
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Der Zohar nimmt des Weiteren auch in der Selbstdarstellung des Kabbalah Centre eine zentrale Rolle als „the most powerful spiritual tool“ ein (vgl. The Kabbalah Centre 2014a). Auf der internationalen, englischsprachigen Webpräsenz des Kabbalah Centre befindet sich ein Link für eine eigens vom Kabbalah Centre eingerichtete Webseite (vgl. The Kabbalah Centre 2014b), auf der die Bedeutung des Zohar für das Centre und die Verknüpfung dieses historischen Werks mit spätmodernen Heilungsvorstellungen und Selbstoptimierungspraktiken (vgl. Albanese 2000; Höllinger und Tripold 2012; Rindfleish 2005) besonders deutlich wird: „To benefit from the spiritual Light of the Zohar, you can have it in your home or you can place it in areas where you want to attract blessings in your life. For even greater benefit, you can scan, read, study or share the Zohar. There are specific sections of the Zohar that can help us to attract certain blessings – for example, healing, miracles, prosperity, protection, and more. By perusing these special sections of the Zohar, you can awaken that particular gift in“ (The Kabbalah Centre 2014a)
Neben dem individuellen Konsum des Zohar zur Selbstverbesserung hat das Kabbalah Centre im Jahr 2007 ein Charity-Projekt ins Leben gerufen (vgl. The Kabbalah Centre 2014c), das das Ziel verfolgt, möglichst viele Ausgaben des Zohar29 zu verbreiten. Ausgehend von der Vorstellung, dass der alleinige Besitz des Zohar eine schützende und heilende Wirkung auf seinen Besitzer ausübe, werden diese „Pocket-Editionen“ von organisierten Volunteer-Teams vor allem in Krisen- und Kriegsgebieten in Israel bzw. Palästina, aber auch in anderen Teilen der Welt verteilt: „Since 2007, Zohar Project volunteers the world over have helped to disseminate hundreds of thousands of Zohars to people from all walks of life. Through a global network of volunteer teams, the Zohar Project shares the Zohar in areas of the world that are in need, such as war-torn countries, communities ridden with crime, or areas affected by natural disasters [Hervorh. im Original].“ (The Kabbalah Centre 2014c)
Strategien der Legitimation des Zohar als Schutz und Heil bringendes Werk lassen sich auch hier in Form von Geschichtskonstruktionen feststellen. So finden sich beispielsweise in der Einleitung dieser Pocket-Editionen zahlreiche Beispiele, die
29 Zu diesem Zweck hat das Kabbalah Centre eine „Special Pocket-Sized Edition“ des Zohar mit 131 Seiten herausgegeben, welche dem Träger dieses Buches insbesondere Schutz und Heilung verspricht (vgl. Berg 2000).
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die Wirkung, die dem Zohar zugeschrieben wird, bestätigen und legitimieren sollen: „During times of war, the Zohar provided extraordinary protection. Recent history demonstrated a remarkable phenomenon concerning Sephardic Jewry during the Holocaust.“ (Berg 2000, xiv)
In einer ausführlichen Darstellung werden hier historische Bezüge religiös gedeutet, indem berichtet wird, wie die marokkanischen und bulgarischen Juden mithilfe des Zohar und der regelmäßigen Rezitation von Zohar-Versen vor der Deportation durch die Nationalsozialisten verschont worden sein sollen (vgl. ebd. XIVff.). Neben den historischen Bezügen werden hier verschiedene Geschichten aufgezählt, die die Wirkung des Zohar beispielsweise auf die Gesundheit, das Wohlbefinden und die persönliche soziale und ökonomische Situation belegen sollen (vgl. ebd.). Meditation im Kabbalah Centre: Scannen, die 72 Namen Gottes und die hebräischen Buchstaben Die Vorstellung eines 72-buchstabigen Namen Gottes erscheint erstmals im Midrasch Bereschit Rabba im Abschnitt 44 – ein Midrasch30 zum Buch Genesis (Bereschit), das im 5. Jahrhundert d. Z. verfasst wurde. Die Erzählung handelt von der Flucht der Israeliten aus Ägypten und von der Teilung des Roten Meeres mithilfe des 72-buchstabigen Gottesnamens (vgl. Giller 2011, 159ff.). Die Tradition des mehrbuchstabigen Gottesnamen lässt sich bis zur Zeit des babylonischen Talmuds zurückverfolgen. Dort ist jedoch die Rede von 12 oder 24 Buchstaben des göttlichen Namens (vgl. ebd.). Im 11. Jahrhundert d. Z. ist in den Kommentaren zum babylonischen Talmud (Sukka 45b) des Rabbiners Shlomo Yitzhaki (1040–1105) – auch bekannt unter dem Akronym „Rashi“ – zum ersten Mal die Idee von den „72 Namen Gottes“ nachweisbar. Yitzhaki leitet die 72 Namen Gottes von der Stelle der ‚Heiligen Schrift‘ ab, die die Flucht der Israeliten vor den Ägyptern und die Teilung des Roten Meeres beschreibt (Exodus 14, 19–21) (vgl. Huss 2004, 280; Huss 2005, 612). Seitdem verbreitete sich diese Vorstellung innerhalb kabbalistischer Kreise
30 Allgemein betrachtet steht die Bezeichnung „Midrasch“ für ein literarisches Genre, das die Auslegung religiöser Quellen umfasst (vgl. Stemberger 2011, 258ff.).
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des Mittelalters und der frühen Neuzeit und fand große Beachtung in der Ideenwelt Isaak Lurias und seiner Schüler (vgl. Huss 2004, 281). Angewandt wurden diese 72 Gottesnamen vor allem in der Meditationspraxis des Abraham Abulafia (1240–1291), dessen kabbalistische Praxis als „prophetische“ oder „ekstatische Kabbala“ bezeichnet wird und in der gegenwärtigen Forschung verstärkte Aufmerksamkeit genießt (vgl. Idel 1994; Wolfson 2000, 200). Wenngleich diese Tradition in der heutigen jüdischen Kultur keine Bedeutung mehr hat (vgl. Huss 2004, 281), griff sie Philip Berg auf und entwickelte auf der Grundlage dieser alten Überlieferungen ein neues Konzept, das die Grundlage für die „kabbalistischen“ Praktiken – die „Werkzeuge“ („tools“) – im Kabbalah Centre darstellt. Tabelle 3: 72 Namen Gottes כהת
אכא
ללה
מהש
עלם
סיט
ילי
והו
הקם
הרי
מבה
יזל
ההע
לאו
אלד
הזי
חהו
מךה
ייי
נלך
פהל
לוו
כלי
לאו
ושר
לכב
אום
ריי
שאה
ירת
האא
נתה
ייז
רהע
חעם
אני
מנד
כוק
להח
יחו
מיה
עשל
ערי
סאל
ילה
וול
מיכ
ההה
פוי
מבה
נית
ננא
עמם
החש
דני
והו
מחי
ענו
יהה
ומב
מצר
הרח
ייל
נמם
מום
היי
יבמ
ראה
חבו
איע
מנק
דמב
Quelle: Nicole M. Bauer, basierend auf (Yehuda Berg 2003b, 195)
Die oben dargestellte Tafel zeigt die 72 Namen Gottes, die in der Kabbalah Centre Rezeption von den drei Versen Exodus 14, 19-21 abgeleitet werden: „According to Kabbalah, a tremendously powerful technology is encoded and concealed inside the biblical story of the Red Sea. [...] Three verses tell this story – 19, 20, and 21 – and each verse contains 72 letters.“ (Yehuda Berg 2003b, 10)
In der Darstellung des Kabbalah Centre wird jedem dieser Namen eine spezielle Kraft zugeschrieben und die Meditation über diese Namen wird als „an entire
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technolgy of healing, protection, and positive change“ (P. Berg in ebd. xii) dargestellt. In der Adaption des Kabbalah Centre handelt es sich bei den Namen um „72 Sequenzen, denen eine so außergewöhnliche Kraft innewohnt, dass sich mit ihrer Hilfe die Naturgesetze in allen Gestaltungen, einschließlich des menschlichen Wesens, überwinden lassen“ (Yehuda Berg 2003a, 196). Jedem einzelnen wird eine bestimmte Wirkkraft zugeschrieben. In dem 2003 erschienen Buch The 72 Names of God. Technology for the Soul präsentiert Yehuda Berg die 72 Namen und die jeweiligen Wirkweisen, die er ihnen zuschreibt. Diese reichen von Selbstvertrauen, Heilkräften, sexueller Anziehung bis hin zu finanziellem Erfolg. Damit bietet Y. Berg ein „Heilsystem“ an, das in allen schwierigen Lebenslagen anwendbar ist. Mittels einer kurzen Meditation über den jeweiligen Gottesnamen – im Kabbalah Centre auch als „Scannen“ bezeichnet – solle dem Hilfesuchenden eine sofortige Wirkung zuteilwerden (vgl. Yehuda Berg 2003b). Diese als „Meditation“ transformierte Technik besteht darin, dass man „mit fokussierter Aufmerksamkeit auf jedes einzelne Zeichen“ (ebd. 197) schaut, es sozusagen analog zum Strichcode im Supermarkt scannt (vgl. ebd. 192). Dabei wird die hebräische Leserichtung von rechts nach links eingehalten, die Kenntnis und das Verständnis der hebräischen Sprache selbst wird nicht vorausgesetzt (vgl. ebd. 197). Auch hier knüpft Y. Berg an einen alten Topos an, der im Kontext der christlichen Kabbala – wie bereits im historischen Teil dieser Arbeit dargestellt – einen hohen Stellenwert innehatte. Demzufolge wurde der hebräischen Sprache – als „universaler Sprache“ bzw. Sprache der „Offenbarung Gottes“ (ebd. 188) – eine spezielle Wirkkraft zugeschrieben. Gleichzeitig knüpft Y. Berg an die These der „Unübersetzbarkeit der hebräischen Sprache“ (Kilcher 1998, 69) an, die allen voran in der Kabbala Denudata (1677–1684) von Christian Knorr von Rosenroth, die die „Sprachmetaphysik der Kabbala“ (ebd.) in den Vordergrund stellt, zum Tragen kommt. Diese These baut erstens auf der Vorstellung einer „spezifisch[en] kabbalistischen Hermeneutik“ (ebd. 69) auf, der zufolge die Besonderheit der hebräischen Sprache auf ihre materielle Gestalt sowie auf die „gematrischen und kombinatorischen Relationen“ (ebd.) zurückzuführen sei. Zudem wird ihr eine „spezifisch kabbalistische Sprachmagie“ (ebd.) zugeschrieben, der zufolge die hebräischen Worte und Buchstaben eine Wirkkraft besitzen, die im Zuge einer Übersetzung verloren gehen würden (vgl. ebd. 69f.). Y. Berg knüpft an eben dieser Argumentation an und stellt die „universale Wirkkraft“ der hebräischen Buchstaben ins Zentrum seiner Methode:
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„Die Buchstaben des hebräischen Alphabetes gehen über Religion, Rasse, Geographie und den Begriff der Sprache selbst hinaus. Ihre Wirkung ist universell, ihre Reichweite allumfassend.“ (Yehuda Berg 2003a, 187)
Die Etablierung der Methode des Scannens als eine Praxis des Kabbalah Centre stellt somit eine Strategie dar, mit der gezielt auch jene Menschen angesprochen werden, die keine Hebräischkenntnisse besitzen: „If you’ve flipped through the pages ahead, I know what you’re thinking: ‚I can’t read Hebrew!‘ It doesn’t matter. Not the least. This book is not about foreign languages or unfamiliar alphabets. First of all, the 72 Names of God are not actual words. With a few exceptions, they are not pronounceable in any meaningful way. Their particular configurations are devoid of literal meaning. They are sacred sequences, activated visually.“ (Yehuda Berg 2003b, 38)
Die Methode des Scannens knüpft zudem an der Idee an, dass die Seele die Kraft der Buchstaben erkennt, ohne die sinngemäße Bedeutung erfassen zu müssen (vgl. ebd. 191). Wie während der Feldforschung an unterschiedlichen Kabbalah-CentreStandorten wie Tel Aviv, London oder Berlin festgestellt wurde, ist die Darstellung der 72 Gottesnamen in Form von Bildern allgegenwärtig. Die 72 Gottesnamen werden ebenso wie der Zohar vermarktet und stellen einen wesentlichen Identifikationsmarker und ein wesentliches Markenzeichen des Kabbalah Centre dar. Die Geschichten, die um diese Namen erzählt werden, sind Teil des brandingProzesses (vgl. Twitchell 2005; Einstein 2008), der wiederum die religiöse Identität des Kabbalah Centre konstituiert. Judentum im Kabbalah Centre: Die Universalisierung des Shabbats und der jüdische Kalender Anknüpfend an die im theoretischen Teil erörterten Überlegungen zu kollektiver religiöser Identität, die die Konstruktion eines „fiktiven imaginierten Wir“ (Eickelpasch und Rademacher 2004, 68) durch Abgrenzung nach außen – von den „Anderen“ (Hall 1999, 93) – betont, soll hier hauptsächlich der „Abgrenzungsprozess“ vom Judentum berücksichtigt werden, der in der Selbstdarstellung des Kabbalah Centre von grundlegender Bedeutung ist. Gerade für die Bildung und Stabilisierung von kollektiver (religiöser) Identität ist die Konstruktion des „Anderen“ von enormer Wichtigkeit (vgl. ebd.). Im Falle
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des Kabbalah Centre ist es die Abgrenzung vom Judentum, über die sich die Identität des Kabbalah Centre konstituiert. Diese Abgrenzung manifestiert sich vor allem in der w.o. bereits beschriebenen „zweite[n] Phase“ (vgl. Altglas 2011a, 242) der Entwicklung des internationalen Kabbalah Centre. Diese, so Altglas, „is characterized by a stronger criticism of orthodoxy, which is represented as dogmatic and not spiritual, as well as by an increasing dissociation of Kabbalah from Judaism“ (ebd.). Während die frühen Schriften der Bergs dezidiert Bezüge zum Judentum aufwiesen – z. B. Verweise auf Tora-Stellen oder andere explizit jüdische Quellen – und sich auch an ein jüdisches Publikum richteten (vgl. ebd. 243), kann seit den frühen 1990er Jahren eine Abgrenzung vom Judentum konstatiert werden: Das Vokabular in den neueren Kabbalah-Centre-Publikationen wird deutlich säkularer und die Bezüge zum Judentum werden weniger stark betont (vgl. ebd.). Stattdessen wird Kabbala universalisiert, indem sie aus dem Judentum enthoben und als „alte, universale Weisheit“ (vgl. Yehuda Berg 2003a, 17) dargestellt wird: „Kabbalah is an ancient paradigm for living. [...] Kabbalah teaches universal principles that apply to all peoples of all faiths and all religions, regardless of ethnicity or where you come from.“ (The Kabbalah Centre 2014d)
In ähnlicher Weise grenzt sich das Kabbalah Centre auch von „Religion“ im Allgemeinen und der „jüdischen Religion“ im Speziellen ab: „Kabbalistic wisdom is not based in blind faith, but practical application. Kabbalah will deepen your understanding of the universe and give you more information and tools to understand why things are happening to you, and how you can better connect to the Light of the Creator and receive the fulfillment you’re seeking.“ (Ebd.)
Die Abgrenzung von Religion ist in der Selbstdarstellung des Kabbalah Centre von großer Bedeutung. Der Begriff der Religion wird im Kontext des Kabbalah Centre meist pejorativ verwendet, während Kabbala als „Technologie“ (vgl. Philip S. Berg 2008; Yehuda Berg 2003b) dargestellt wird, die sich von Glauben oder der jüdischen Tradition dadurch unterscheidet, dass ihr eine unmittelbare Wirkung zugeschrieben wird: „Es gibt zwei Hauptgründe, die das große Interesse so vieler Menschen an der Kabbalah erklären können. Der erste Grund ist: Kabbalah funktioniert. Sobald die Menschen die Weisheit und die Werkzeuge der Kabbalah in ihrem Leben anwenden, erleben sie positive Wirkungen.“ (Kabbalah Centre Germany 2014b)
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Der Frage, inwiefern Kabbala eine jüdische Tradition darstellt, wird auch auf der offiziellen deutschen Homepage des Kabbalah Centre nachgegangen. Die Antwort darauf lautet: „Es ist durchaus verständlich, dass Kabbalah mit Judentum durcheinander gebracht werden könnte. Im Laufe der Geschichte waren viele Gelehrte der Kabbalah Juden. [...] Die überraschende Wahrheit ist jedoch die, dass die Kabbalah nie für eine bestimmte Sekte gedacht war. Sie war vielmehr zum Nutzen für die ganze Menschheit bestimmt, damit in der Welt Einheit herrsche.“ (Ebd.)
Dennoch ist das Kabbalah Centre eine religiöse Gemeinschaft jüdischer Provenienz, die ihre religiöse Identität – trotz ihrer starken Abgrenzung von der jüdischen Religion nach außen – über jüdische Quellen, Traditionen, Rituale und Narrative konstituiert. Um diese starke Ambivalenz aufzuheben, wurden gerade die jüdischen Elemente, die einen wesentlichen Bestandteil der Praxis des Kabbalah Centre darstellen, universalisiert. Véronique Altglas, die diesen Prozess der „Universalisierung“ von Religion am Beispiel des internationalen Kabbalah Centre aufzeigt, umschreibt ihn folgendermaßen: „Judaism has become ‚Kabbalized‘ in the teaching of the Kabbalah Centre“ (Altglas 2011a, 244). Tatsächlich beziehen sich die Veranstaltungen des Kabbalah Centre meist auf die jüdischen Feiertage, den Beginn des Monats Chodesch, der zu Neumond gefeiert wird, und den Shabbat, dem eine zentrale Stellung im jüdisch-religiösen Lebensalltag zukommt (vgl. Myers 2007b, 115). Der Shabbat, dem man als „königliche Hochzeit“ bereits in den frühen Schriften des Talmuds eine „zentrale kosmologische und anthropologische Funktion“ (Galley 2003, 43f.) zuschreibt, wird, wie während eines Feldforschungsaufenthalts festgestellt wurde, in den großen internationalen Standorten des Kabbalah Centre – wie in London oder Tel Aviv – im Beisein hunderter Anhänger des Kabbalah Centre gefeiert. Auch in Deutschland trifft sich wöchentlich eine kleine Gruppe in Berlin, die gemeinsam den Shabbat im Kreis der Anhänger des Kabbalah Centre begeht, wie aus dem folgenden Interviewabschnitt hervorgeht: „Nora: Der [Shabbat] findet jeden Samstag in Berlin statt. Im Centre. Das ist auch ohne Anmeldung, es sei denn, wir haben so wie an diesem jetzigen Wochenende einen großen Shabbat, weil der Kabbalah-Centre-Lehrer ja normalerweise in Tel Aviv lebt. Er kommt jetzt aber, eigentlich ziemlich regelmäßig, einmal im Monat nach Berlin und immer, wenn er mal da ist [...] feiern wir halt einen großen Shabbat und laden auch all die Leute ein, die nicht in Berlin leben. [...]. Interviewerin: Wie viele Leute kommen zu so einem großen Shabbat?
196 | K ABBALA UND RELIGIÖSE I DENTITÄT Nora: Naja, so vierzig. Interviewerin: Und an einem normalen Shabbat? Wie groß ist da die Gruppe? Nora: Also, ich sage mal zwischen zehn und zwanzig. [...] Also zehn sind eigentlich immer irgendwie Minimum. Meistens so jetzt grade so im Hochsommer, Ferienzeiten oder so um die Weihnachtsfeiertage, sage ich mal, wo wirklich dann eben die meisten eigentlich doch zuhause bleiben, aber da gibt es dann so einen harten Kern, der ist dann doch immer da.“ (Interview Nora, 12.6.2013, 20f.)
Im Gegensatz zum „religiösen“ Judentum, innerhalb dessen dem Shabbat aus religiösen oder traditionellen Gründen eine besondere Bedeutung zugeschrieben wird und ihm eine gemeinschaftsstiftende Rolle, die sich explizit an die jüdische Gemeinschaft richtet, zukommt (vgl. Galley 2003, 43), betont Yehuda Berg den universalen Charakter des Shabbats: „[...] unbeknownst to most people throughout history, the energy and light that is revealed on Saturday is not exclusive to the Israelites. It belongs to everyone.“ (Yehuda Berg 2008a, 217)
Die Betonung dieser „universal component of the Saturday Sabbath connection“ (ebd. 218) wird insbesondere im säkularen Vokabular des Kabbalah Centre deutlich. Die jüdischen Gebete werden als „Werkzeuge“ (tools) bezeichnet, deren Wirkung innerhalb eines (natur-)wissenschaftlichen Rahmens interpretiert wird (vgl. ebd. 13f.). Shabbat „as a gift to all humankind [Hervorh. im Original]“ (ebd. 15) wird als Technologie dargestellt und die jüdischen Gebete stellen die Werkzeuge dar, mit deren Hilfe die besondere Energie, die am Shabbat allen Menschen zur Verfügung stehe, mobilisiert werden könne „to transform our reality, to change everything at the atomic level“ (ebd. 15). Neben der Adaption des Shabbats als wesentliches Element der KabbalahCentre-Aktivitäten, werden auch andere bedeutsame Tage des jüdischen Kalenders integriert, transformiert und universalisiert (vgl. Michael Berg 2008). So wird im Kabbalah Centre ebenso dem Monatsanfang (Rosch Chodesch) wie den zentralen Feier- und Festtagen der jüdischen Religion eine besondere Wirkkraft zugeschrieben:
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„The special power of each month is strongest at its beginning, the time of the new moon, known as Rosh Chodesh. And holidays are unmatched as windows in time that make specific kinds of spiritual energy available to us.“31 (Ebd. 225)
Auch an diesen Tagen werden – wie am Shabbat – spezielle „Connections, Vorträge und Meditationen [Übersetzung N. B.]“ (Myers 2007b, 116) angeboten. Vor allem die großen Herbst- und Frühlingsfeste – wie Rosch Haschana, Jom Kippur, Sukkot, Chanuka, Purim und Pessach – werden im großen Stil inszeniert und ziehen jährlich zahlreiche Kabbalah-Centre-Anhänger weltweit zu den unterschiedlichsten Standorten an. Zu beachten ist jedoch, dass während all dieser jüdischen Feste und Rituale immer wieder betont wird: „‚it’s not about tradition, it’s not religion‘“ (Altglas 2011a, 244). Die Identität des Kabbalah Centre kann in diesem Sinne als eine meta-jüdische Identität verstanden werden, da sich das Kabbalah Centre zwar einerseits vom Judentum abgrenzt und sich davon distanziert, auf der anderen Seite aber ganz offensichtlich jüdische Elemente in seine Selbstdarstellung integriert, diese gleichzeitig aus ihrem jüdischen Kontext schält und sie universalisiert. Das Jüdische wird im Kabbalah Centre zu einer universalen Kategorie – einer „Metareligion“ erhoben – die allen Menschen zugänglich ist. Diese Ambivalenz des Kabbalah Centre zum Judentum, die gleichzeitig als Marketingstrategie eingesetzt wird, um eben für möglichst viele potentielle Konsumenten offenzustehen, spiegelt sich in den gesamten Publikationen, Vorträgen, Kursen und Events wider. Vom Einhalten der jüdischen Fest- und Feiertage, über das Tragen der Kippa – der traditionellen Kopfbedeckung – bei den religiösen Zeremonien, bis hin zur koscheren Ernährung, wird im Kabbalah Centre „Judentum“ vermittelt. Das Einhalten der jüdischen Gebote und Verbote (Mizwot) steht somit im Zentrum der Kabbalah-Centre-Lehren. „Jüdische Identität“ wird hier also gleichsam neu ausgehandelt und transformiert. Wie dies die einzelnen Akteure umsetzen, welchen Stellenwert dabei der Faktor „Judentum“ einnimmt und wie damit umgegangen wird, wird im nachfolgenden Auswertungsteil aufgezeigt.
31 Dieses Zitat bezieht sich auf die Ankündigung eines Buches von Michael Berg mit dem Titel Days of Connection. A Guide to Kabbalah’s Holidays and New Moons (Michael Berg 2008).
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H EILUNG UND S ELBSTOPTIMIERUNG ALS B AUSTEIN KOLLEKTIVER RELIGIÖSER I DENTITÄT IM K ABBALAH C ENTRE Die in den vorhergehenden Kapiteln dargestellten Ideen und Praktiken werden in der Darstellung des Kabbalah Centre als Techniken der Heilung interpretiert: „Kabbalah is an ancient wisdom that provides practical tools for creating joy and lasting fulfillment. It’s an incredible system of technology that will completely change the way you look at your world. We teach Kabbalah, not as a scholarly study but as a way of creating a better life and a better world.“ (The Kabbalah Centre 2013)
Kabbala wird demnach zum Instrument der Heilung – sowohl auf der Mikroebene – „creating a better life“ (ebd.) – als auch auf Makroebene – „creating a better world“ (ebd.). Religiöse Semantiken und Vorstellungen werden in diesem Kontext psychologisch umgedeutet und in ein säkulares Heilungskonzept integriert, in dessen Zentrum die Optimierung des Selbst steht. Themen des Selbst, der Selbstverwirklichung sowie der Selbstoptimierung stehen somit im Zentrum der kabbalistischen Praktiken – der tools – sowie der Vorstellungen und Ideen des Kabbalah Centre. Wie bereits aufgezeigt wurde, kann ein Zusammenhang zwischen der Bedeutung und Ausbreitung des Diskurses um das Selbst und Selbstoptimierungstechniken mit dem Anstieg der „Dominanz der Konsumgesellschaft“ (Rindfleish 2005, 3455) konstatiert werden. Östliche werden mit westlichen religiösen Traditionen und diese wiederum mit Theorien und Praktiken der humanistischen Psychologie und Psychotherapie verknüpft. In diesem Kontext rückt das Selbst im Sinne von „Selbstfindung“ und „Selbstoptimierung“ ins Zentrum religiöser Praktiken, Ideen und Diskurse (vgl. ebd.; Carrette 2004). Die „Heiligung des Selbst“ – so der Kabbala-Forscher Boaz Huss – zählt zu den signifikantesten Kennzeichen Neuer Religiöser Bewegungen und stellt auch einen wichtigen Aspekt rezenter kabbalistischer Ideen und Praktiken dar (vgl. Huss 2007a, 114). Innerhalb dieses Kontextes nehmen psychologische Themen und psychotherapeutische Modelle und Methoden einen großen Stellenwert ein (vgl. ebd.; Garb 2009, 111f.). In zahlreichen gegenwärtigen, kabbalistischen Publikationen werden psychologische Methoden und Themen adaptiert bzw. neue Techniken der Meditation entworfen, in deren Zentrum stets die Entwicklung der persönlichen Spiritualität steht. Auch innerhalb der Ideenwelt des Kabbalah Centre nehmen Vorstellungen der Entwicklung der Seele und der Heilung einen hohen Stellenwert ein. Die auf dem Scannen der hebräischen Buchstaben aufbauenden Meditationstechniken sind ein
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signifikanter Hinweis auf die Betonung der „Selbst-Spiritualität“ in den Lehren des Kabbalah Centre. Neben dem täglichen Scannen aus dem Zohar und des Ana Beco’ach stellt das Scannen der 72 Gottesnamen eine wichtige Methode dar, um die persönliche Entwicklung voranzutreiben und sowohl physische als auch psychische Heilung zu erhalten. Es werden den einzelnen Namen bestimmte Bedeutungen zugeschrieben, die „gezielt einen Großteil der alltäglichen Problemkreise und chaotischen Situationen“ ansprechen, „die den Durchschnittsmenschen heimsuchen können“ (Yehuda Berg 2003a, 202). Neben dem „Erwecken von Heilkräften“ (ebd. 202) oder dem „Zerstreuen von Todesenergie“ (ebd. 207) werden den Gottesnamen Wirkungen wie die „Zerstreuung zwanghafter oder wiederkehrender negativer Gedanken“ (ebd. 198) oder die „Kraft nach dem Fallen wieder aufzustehen“ (ebd. 210) zugesprochen. Auch dem Zohar wird im Kabbalah Centre eine spezifische Heilwirkung zugewiesen. Der Webpräsenz des Kabbalah Centre folgend wird dem Zohar auf mehrfacher Ebene eine Heilwirkung zugeschrieben: erstens durch das Scannen, zweitens durch das Lesen des Textes, drittens durch das intensive Studium des Zohar – hier wird ganz deutlich auf die Vorträge und Kurse der kostenpflichtigen „Kabbalah University“ (vgl. The Kabbalah Centre 2014e) verwiesen – und viertens durch das Verbreiten des Zohar im Zuge des „Zohar Projects“ (vgl. The Kabbalah Centre 2014f): „According to ancient kabbalists, the Zohar is the greatest gift possible to give or receive in this world. When you share the wisdom of the Zohar portion of Pinchas with friends and family, you help to bring and strengthen the energy of healing in your life and in the world as a whole.“ (The Kabbalah Centre 2014g)
Das Thema „Heilung“ wird auch in den gemeinschaftlichen Ritualen des Kabbalah Centre deutlich, wenn am Shabbat beispielsweise vor dem Gebet „Sh’ma Yisral“ („Höre Israel“) am Freitagabend darauf hingewiesen wird, dass man vor diesem Gebet verstärkt an die Nächstenliebe denken soll und dazu aufgefordert wird währenddessen „[to] meditate upon someone else who needs healing“ (The Kabbalah Centre International Inc. 2011, 33). So werden auch während des Shabbats die Namen jener Menschen laut aufgerufen, die Heilung bedürften, um gemeinschaftlich für diese zu meditieren (vgl. ebd.). Auf der offiziellen Webseite findet sich außerdem ein sogenannter Prayer Request, eine Liste, in die man sich eintragen kann, um offiziell für Heilung in die Gebete der Kabbalah-Centre-Community aufgenommen zu werden (vgl. The Kabbalah Centre 2014l).
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Insgesamt kann festgestellt werden, dass die Themen „Heilung“, „Selbstentwicklung“ und „Selbstverwirklichung“ sowie der Einsatz von Selbstoptimierungstechniken einen hohen Stellenwert im Konzept des Kabbalah Centre einnehmen.
N EW -A GE -R EZEPTION IM K ABBALAH C ENTRE : D IE E RFINDUNG EINER ‚ SPIRITUELLEN T RANSFORMATION ‘ Bezugnehmend auf die im Kapitel zu New Age angeführten Vorüberlegungen lassen sich sowohl strukturelle als auch inhaltliche Gemeinsamkeiten des Kabbalah Centre mit der sogenannten New-Age-Bewegung konstatieren. Das Kabbalah Centre in den USA entwickelte sich – wie im historischen Abriss zum Kabbalah Centre bereits dargestellt – im Kontext der New-Age-Bewegungen: „It was in this setting of general religious transformation – in which there was much searching for spiritual philosophies and behavioral guides outside of the established organized religions and a hunger for mystical encounter – that Philip Gruberger [= Berg] decided to exert himself.“ (Myers 2007b, 50)
Philip Berg entwickelte in den ersten Jahrzehnten seiner Tätigkeit als „Kabbalist“ ein religiöses Konzept, um „Young Jewish spiritual seekers“ (ebd. 55), die sich seiner Ansicht nach aufgrund des dogmatischen Charakters des Judentums von ihrer jüdischen Religion abgewandt hatten, wieder zum Judentum zurückzuführen. Diese fühlten sich von der „alternative Jewish spiritualiy“ (ebd.) angezogen, „in which the highest praise was reserved for those who worshiped out of love alone“ (ebd.). Mit einer Kombination von New-Age-Inhalten sowie jüdischen Elementen gelang es P. Berg in den 1960er Jahren eine neue – anfangs explizit jüdische – Gemeinschaft zu gründen, in deren Zentrum die Rückführung religiös entfremdeter jüdischer Menschen zu ihrer Religion (vgl. Myers 2008, 410ff.). In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig anzumerken, dass spätestens seit den 1970er Jahren kabbalistische Vorstellungen und Praktiken ein wesentlicher Bestandteil der New-Age-Bewegung sind (vgl. Dan 2007, 140): „Zahlreiche Werke aus den Reihen von Christen benutzen den Titel ‚Kabbala‘ und behaupten, im Besitz geheimen Wissens aus kabbalistischen Quellen zu sein. [...] Zumeist handelt es sich bei diesem Material [...] um Kombinationen aus apokalyptischen Spekulationen, Astrologie und Alchemie. Eine der zentralen Vorstellungen, die der Kabbala zugeschrieben wird, ist die der Seelenwanderung, eine andere jene der kosmischen Harmonie zwischen den mannigfaltigen Aspekten des Universums und in den göttlichen Sphären.“ (Ebd.)
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Gegenwärtige Kabbala wird aufgrund dessen, dass man sie mit New Age in Verbindung bringt, häufig in der Forschung kritisiert. Dieser angenommene Zusammenhang wird oftmals als Begründung herangezogen, um die Authentizität und den Wahrheitsgehalt zeitgenössischer kabbalistischer Ideen und Praktiken infrage zu stellen. Daher werden zeitgenössische kabbalistische Gruppierungen und Schriften in der rezenten Kabbala-Forschung kaum beachtet (vgl. Huss 2007a; Huss 2011). Boaz Huss zeigt in seinem Aufsatz The New Age of Kabbalah. Contemporary Kabbalah, The New Age and Postmodern Spirituality (2007a) sehr ausführlich den Zusammenhang zwischen Themen, die innerhalb der New-Age-Bewegung angesiedelt werden, und zeitgenössischen kabbalistischen Gruppierungen auf. Insbesondere – so Huss – lägen zeitgenössischen kabbalistischen Ideen die Annahme einer spirituellen, kosmischen Transformation sowie der Glaube an die Kompatibilität von Wissenschaft und Spiritualität zugrunde (vgl. Huss 2007a, 111). Darüber hinaus könne festgestellt werden, dass religiöse Vorstellungen und Praktiken – wie kabbalistische Techniken der Meditation – häufig psychologisch umgedeutet (vgl. ebd. 110ff.) und in ein „ganzheitliches Heilungskonzept“ integriert würden, in dessen Zentrum die Optimierung des Selbst stehe (vgl. ebd.; Heelas 1999). In der Kabbala-Forschung unterscheidet man jüdisch-orthodoxe oder chassidische Gruppierungen, die „traditionelle“ Formen von Kabbala pflegen, von sogenannten neo-kabbalistischen Gruppierungen, die explizit New-Age-Themen in ihren religiösen Konzeptionen adaptieren (vgl. Huss 2007a, 109ff.). Huss stellt jedoch entgegen dieser Unterscheidung in seinem Aufsatz heraus, dass Vorstellungen, die im Zuge der New-Age-Bewegung (vgl. Hanegraaff 1996; Hanegraaff 2009) in der westlichen Welt besondere Verbreitung fanden, nicht nur im Kontext der gegenwärtigen Kabbala aufgegriffen, sondern ebenso von jüdisch-orthodoxen kabbalistischen Gruppierungen rezipiert wurden (vgl. Huss 2007a, 111ff.). Das Age of Aquarius in der Kabbalah-Centre-Rezeption Im Zentrum der New-Age-Bewegung steht die Erwartung eines ‚epochalen Wandels‘. Das in diesem Kontext meist als „Age of Aquarius“ bezeichnete neue Zeitalter drückt sich in einer „primal experience of transformation“ (Melton, Clark und Kelly 1990, xiii) aus, in deren Zentrum die Suche nach einer „profound personal transformation from an old, unacceptable life to a new, exiting future“ (ebd.) steht. Diese Vorstellung einer Transformation ist religionsgeschichtlich betrachtet innerhalb des Judentums kein Sonderfall, da ‚eschatologische‘ Denkrichtungen die jüdische Religionsgeschichte deutlich mitbestimmt haben (vgl. Zielinski 2002,
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20ff.). Innerhalb des Judentums gab es mehrmals Bestrebungen, ein „Zeitalter der Erlösung“ (Dan 2007, 111) herbeizuführen. Im 17. Jahrhundert entwickelte sich die Vorstellung einer „mystisch-messianischen Leitfigur, einer göttlichen Gestalt, die einen Teil dieser Verantwortung [für das Schicksal Gottes, des jüdischen Volkes und der ganzen Welt] auf sich [...] nehmen und die Menschen zur Vollendung des ‚tikkun olam‘“ (ebd.) führen könne. Neben dem selbst ernannten Messias Shabbetai Zwi gab es im späten 17. und 18. Jahrhundert zahlreiche sabbatianische Gruppierungen, die auf das Ende des Exils und die Ankunft des Messias hofften (vgl. ebd. 118). Auch in zeitgenössischen chassidischen Strömungen treten messianische Tendenzen in den Vordergrund. Im Zentrum des chassidischen Messianismus steht die Vorstellung eines sogenannten Zaddik, einer Führerfigur mit der Aufgabe als Bindeglied zwischen Gott und den Menschen zu fungieren. Hier tritt von Zeit zu Zeit „ein Zaddik auf, der behauptet, der wahre Zaddik zu sein, ein Messias für alle Zeiten“ (ebd. 128). In gegenwärtigen kabbalistischen Bewegungen – wie beispielsweise der American-Jewish-Renewal-Bewegung – stehen vor allem persönliche Transformationsprozesse im Vordergrund. Messianische Vorstellungen werden dabei dahingehend adaptiert, dass im anbrechenden „pantheistischen Zeitalter“, das Göttliche in jeder Person entdeckt werden sollte (vgl. Huss 2007a, 112). Die Vorstellung einer spirituellen Transformation dominiert sowohl die Schriften von Michael Laitman, dem Leiter der kabbalistischen Gruppe Bnei Baruch, die auch in Deutschland vertreten ist (vgl. Laitman), sowie die Publikationen Yitzhak Ginsburgs, der traditionelle kabbalistische und chassidische Elemente mit messianischen und New-AgeThemen kombiniert (vgl. Gal Einai), als auch die vom Kabbalah Centre angebotenen Lehren (vgl. Huss 2007a, 112f). Hervorzuheben ist das Kabbalah Centre insofern, als in dessen Selbstdarstellung Gründer Philip Berg als „der Rav“ eine besondere Stellung im Erlösungsvorgang der Welt zugeschrieben und ihm gleichsam eine Stellung als Zaddik eingeräumt wird. Dies wird in den Inszenierungen, öffentlichen Auftritten und den Publikationen des Kabbalah Centre deutlich und spiegelt sich im Marketing wider. So wird „der Rav“ als der „authentische Hüter des Wissens“ (Yehuda Berg 2003a, 19), dessen Linie „bis in die Ära von Abraham“ (ebd.) zurückreicht und der einer alten Tradition folgt, „die die Weisheit in ihrer Ursprünglichkeit, in ihrer unverfälschten Form bewahrt hat“ (ebd.), dargestellt und inszeniert. P. Berg wird als Träger und Übermittler dieser „ancient wisdom that reveals how the universe and life work“ (The Kabbalah Centre 2014d) eine besondere Rolle im kabbalistischen Erlösungsprozess der Welt zugeschrieben, da er – den Publikationen des Kabbalah Centre zufolge – unter besonders mühevollen Umständen die Lehren der Kab-
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bala für alle Menschen zugänglich gemacht hat, um den Erlösungsprozess voranzutreiben (vgl. Yehuda Berg 2003a, 246f.). Wenn viele Menschen Kabbala praktizieren, so die Argumentation Yehuda Bergs, wird eines Tages „eine kritische Masse erreicht und das Chaos aus dem Leben gelöscht “ (ebd. 223). Insgesamt ist die Lehre des Kabbalah Centre von der Vorstellung durchzogen, eine „Wende“ oder „Transformation“ stehe der Menschheit in ihrer Gesamtheit bevor. Diese gehe mit Kriegen oder anderen globalen oder persönlichen Katastrophen einher, um die Menschheit wach zu rütteln (vgl. ebd. 216f.). „Diese verschiedenen globalen und persönlichen Tragödien bringen den Menschen zur Besinnung und lassen in ihm die Erkenntnis reifen, dass die durch das Ego verschafften Schätze nichts als Illusion und flüchtiger Tand sind und welch hoher Aufwand mit ihrer Hortung eigentlich verbunden ist.“ (Yehuda Berg 2003a, 217)
Das „Age of Aquarius“ sei, Berg zufolge, bereits eingeleitet und gehe mit der Verbreitung der kabbalistischen Weisheiten einher: „Now that we are living in the Age of Aquarius, the teachings of Kabbalah are availible to all who have a desire to learn“ (Philip S. Berg 2005, 27). „Learn, transform, connect“ (Kabbalah Centre Germany 2014a) lautet außerdem der Slogan des Kabbalah Centre, der die Vorstellung einer persönlichen Transformation suggeriert. Die Vorstellung einer Transformation steht somit auch im Zentrum der inhaltlichen Konzeptionen des Kabbalah Centre. Der Befolgung und Anwendung der „Werkzeuge“ wird ein Effekt zugeschrieben, der in weiterer Folge zur persönlichen Transformation führen soll. Y. Berg spricht in diesem Zusammenhang von der „Transformationsformel“ (vgl. Yehuda Berg 2003a, 97ff.). Damit ist in der Vorstellungswelt des Kabbalah Centre die Annahme verbunden, dass die Zeit der Transformation gegenwärtig begonnen habe und zwar sowohl auf individueller Ebene als auch auf kollektiver: „Aber jetzt hat sich eine unglaubliche Gelegenheit ergeben, eine aus geschichtlicher Sicht schicksalshafte Gelegenheit, eine Gelegenheit, die im DNA-Code unseres Universums geschrieben steht. Die Gefängnistür hat einen Riss bekommen und es fällt ein Sonnenstrahl hindurch.“ (Michael Berg 2005, 14)
Ein deutlicher Hinweis auf die Adaption von New-Age-Themen, insbesondere der Vorstellung einer spirituellen Transformation, in den Publikationen des Kabbalah Centre und ein deutlicher Hinweis auf die Rezeption der Vorstellung des „Wassermannzeitalters“ findet sich in der englischen Zohar-Übersetzung, die das Kabbalah Centre im Jahr 2003 herausgegeben hat:
204 | K ABBALA UND RELIGIÖSE I DENTITÄT „Today, we are witnessing the beginning of a new age of revelation. Today, more than at any other time in history, the Lightforce is demanding to be revealed. This is the secret of the Age of Aquarius […]. The awesome power of the Lightforce to which we are connected by the Zohar, is the ultimate connection. During the Age of Aquarius, humankind can again connect with the Lightforce.“ (Michael Berg 2003, lxi–lxvii)
Ein weiteres wichtiges Charakteristikum, das man in der Forschung mit Ideen im Bereich des New Age in Verbindung bringt, wird an dieser Stelle auch deutlich: nämlich die Analogie von „Licht“ und „Bewusstsein“, die an die Stelle eines allumfassenden Gottglaubens tritt. Für die kommende Zeit wird somit nicht die Ankunft eines „göttlichen“ Messias erwartet, sondern eine „Zeit des Lichts als das kommende Zeitalter“ (vgl. Hanegraaff 2009, 341ff.).
W ISSENSCHAFT
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Ausgehend von dem empirischen Befund, dass neuere wissenschaftliche Theorien und Erkenntnisse in den letzten Jahren immer häufiger von ‚religiösen‘ Autoren rezipiert und adaptiert wurden, um die eigenen ‚religiösen‘ Konzeptionen zu legitimieren (vgl. Hanegraaff 1996, 62ff.; Melton 2007; Lewis und Gordon 1992), kann dieser Trend auch im Kabbalah Centre konstatiert werden. In diesem Zusammenhang wird von den Forschenden die Tatsache betont, dass die sogenannten „New Age practitioners“ (Hanegraaff 1996, 62) wissenschaftliche Erkenntnisse dazu nutzen, um ihre eigene „spiritual worldview“ (ebd.) zu rechtfertigen. In diesem Kontext zählt Wouter Hanegraaff die Betonung von Wissenschaft in religiösen Schriften und Konzepten als „one of the notable characteristics of New Age thinking“ (ebd.) auf. Auch der US-amerikanische Religionswissenschaftler Benjamin Zeller weist darauf hin, dass „the notion or idea of science, quite aside from actual scientific enterprises, has achieved tremendous cultural power and prestige in modern society“ (Zeller 2011, 4). Er zeigt auf, dass vor allem im Kontext der sogenannten New Religious Movements wissenschaftliche Ideen herangezogen werden, um die religiösen Praktiken und Ideen zu belegen, und stellt dies in einer umfangreichen Monographie, die den Titel Prophets and Protons. New Religious Movements and Science in Late Twentieth-Century America (2010) trägt, dar. Ein Beispiel dafür ist die Vorstellung, dass der Geist oder das Bewusstsein die Materie beeinflusst bzw. dieselbe hervorbringt (vgl. Hanegraaff 1996, 229). „The belief that we create our own reality“ (ebd.) zählt mitunter zu den zentralen Narrativen (vgl. ebd.), die
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den rezenten New-Age-Diskurs dominieren und wird meist mit neueren naturwissenschaftlichen Erkenntnissen aus der Quantenphysik belegt (vgl. ebd.). In den Veröffentlichungen des Kabbalah Centre taucht diese Annahme in unterschiedlichsten Ausprägungen auf. Vor allem der Glaube an eine „Macht des Bewusstseins“ zählt hier zu den inhaltlichen Kerngedanken (vgl. Huss 2007a, 114). Das 2008 vom Kabbalah Centre publizierte Werk Nano. Technology of Mind over Matter nimmt, wie der Titel bereits verdeutlicht, diesen Ansatz zum Ausgangspunkt eines weitreichenden Konzeptes. Ausgehend von der Annahme, „Kabbalah is all about attaining control over the physical world, including our personal lives, at the most fundamental level of reality“ (Philip S. Berg 2008, 15), zieht der Autor Philip Berg hier eine Parallele zwischen neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und den Lehren der Kabbala. Er verbindet Erkenntnisse der Nanotechnologie mit kabbalistischen Ideen und will darlegen, dass diese Ansätze im Einklang miteinander stünden. So wird bereits im Klappentext darauf hingewiesen, dass diese „so-called ‚nanotechnology‘, the control and manipulation of matter on the atomic or molecular level, [...] something kabbalists have always understood is inevitable through spiritual connection and higher consciousness“ (Philip S. Berg 2008) sei. An einer anderen Stelle macht Y. Berg ebenso deutlich, dass „wissenschaftliche Theorien verblüffende Ähnlichkeiten mit den kosmologischen Thesen der frühen Kabbalisten“ (Yehuda Berg 2003a, 55) aufwiesen. Auch weist die im Kabbalah Centre verwendetet Rhetorik von den „spirituellen Gesetzen“ (vgl. Yehuda Berg 2008b), die in den Publikationen, den Audiotapes, Workshops und Interviews wiederholt auftaucht, auf die Nähe zu Gesetzen der klassischen Physik hin (vgl. ebd.).32 Neben der Funktion von Wissenschaft als Legitimation für die kollektive religiöse Identität des Kabbalah Centre wird ein weiterer Punkt deutlich, nämlich der Anspruch des Kabbalah Centre, selbst eine Wissenschaft betreibende Einrichtung zu sein, die Kabbala als „die Wissenschaft von der Seele sowie (die) Physik (und Metaphysik) der Erfüllung“ (Yehuda Berg 2003a, 23) ihren Schülern vermittelt. Darüber hinaus bietet das Kabbalah Centre zahlreiche Online-Kurse über eine kostenpflichtige Website an, die als „Kabbalah University“ bezeichnet wird: „UKabbalah is the premiere online destination for learning and applying the teachings of kabbalah in your daily life. Here you will find thousands of video lessons, practical tools, and a supportive global community to study, grow and transform.“ (The Kabbalah Centre 2014e)
32 Zum Verbindung von Wissenschaft und Religion in neuen Religiösen Bewegungen siehe Rothstein 2004.
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An einer anderen Stelle kann die Bezeichnung P. Bergs als „Dekan und Direktor“ (Yehuda Berg 2003a, 248) des Kabbalah Centre und die strikte Dichotomisierung zwischen Kabbala-Lehrer und Kabbala-Schüler als eine Analogie zu universitären Strukturen gedeutet werden. Insgesamt spielt der Einsatz von wissenschaftlichem Vokabular in der Rhetorik des Kabbalah Centre eine tragende Rolle in der Selbstdarstellung und der Repräsentation nach außen. Die Publikationen des Kabbalah Centre sind durchdrungen von wissenschaftlichen Belegen und Bezügen zu bekannten Naturwissenschaftlern wie Albert Einstein oder Isaac Newton, denen eine besondere Nähe zu kabbalistischen Ideen zugeschrieben wird (vgl. Yehuda Berg 2003a, 240ff.; Philip S. Berg 2008, 30ff.). Daneben ist „the desire to reconcile kabbalistic and scientific worldviews [...] central in the teachings of the Kabbalah Centre“ (Huss 2007a, 116) – wie Boaz Huss bereits in einem 2007 veröffentlichten Aufsatz konstatierte. In diesem Zusammenhang lässt sich an zahlreichen stellen eine Art ‚rhetorischer Synkretismus‘ konstatieren, der sich in einer Verknüpfung von naturwissenschaftlichem Vokabular mit kabbalistischen Vorstellungen zeigt: Neben einer kabbalistischen Umdeutung der ‚Urknallthese‘ (vgl. Karen Berg 2005, 29ff.; Philip S. Berg 2008, 30ff.; Yehuda Berg 2003a, 69ff.; Touval 2011, 21ff.) tauchen Begriffe wie die „spirituelle DNS der Wirklichkeit“ (Touval 2011, 22) oder die „DNA der Seele“ (Yehuda Berg 2003a, 181) und ähnliche Analogien in den Publikationen des Kabbalah Centre auf. Der Anspruch auf Nachweisbarkeit spielt zudem eine wichtige Rolle in der Selbstdarstellung der Kabbalah-Centre-Akteure, was auch – wie anschließend dargestellt wird – in den Interviews deutlich zum Ausdruck kommt. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das Kabbalah Centre von wissenschaftlichen Terminologien und Rhetoriken sowie wissenschaftlichen Bezügen und Belegen durchdrungen ist, die vordergründig als Legitimationsstrategie für die eigene Lehre eingesetzt werden. Der hier am Beispiel des Kabbalah Centre aufgezeigte rhetorische Anspruch religiöser Gruppierungen und Autoren ‚wissenschaftlich’ zu sein, reflektiert zudem den enormen Stellenwert, den der Bereich der Wissenschaft in der modernen Welt einnimmt. „The idea of science offers special power in the modern world, and [...] new religious movements engage science’s perceived legitimacy, prestige and power.“ (Zeller 2011, 5)
Hervorzuheben ist an dieser Stelle die Tatsache, dass im gegenwärtigen religiösen Feld religiöse Autorität nicht durch den alleinigen Bezug auf ‚höhere Mächte‘ (z. B. Gott, Götter oder transzendente Macht) legitimiert wird, sondern diese meist eines wissenschaftlichen Beleges bedürfen (vgl. Lewis und Hammer 2011; Zeller
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2010). Im Kontext der religiösen Gegenwartslandschaft sagt dies demzufolge mehr über die vorherrschenden Paradigmen aus als über die religiösen Anbieter selbst. Diese passen sich den Bedürfnissen der Akteure, die sie ansprechen wollen, an. ‚Glaube‘ wird durch empirische Belegbarkeit ersetzt und religiöse Praktiken werden zu ‚Technologien‘ erhoben, deren Wirksamkeit wiederum empirische Überprüfbarkeit zugeschrieben wird. Kabbala wird in diesem Sinne zur „Technology of Mind over Matter“ (Philip S. Berg 2008) erhoben, deren Wirksamkeit und somit auch Gültigkeit mittels neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse überprüfbar ist und deren Authentizität sich damit zusätzliche Legitimation verschafft. Während in der traditionellen jüdischen Kabbala die persönliche Frömmigkeit im Zentrum der kabbalistischen Auseinandersetzung stand, steht nun die empirisch nachweisbare Wirksamkeit und Nutzbarkeit kabbalistischer Techniken für den individuellen Akteur und dessen persönliche Erfüllung und Entwicklung im Vordergrund.
F AITH B RANDING UND DIE K ONSTRUKTION DER K ABBALAH -C ENTRE -C OMMUNITY „Während seiner 86 Jahre auf dieser Welt hat der Rav [= Philip Berg] einen Weg für Millionen von Menschen geebnet, Kabbalah zu lernen und zu leben. Der Rav hinterlässt uns ein unschätzbares Wissen durch Tausende von Lehrstunden, sowie ein lebendes Beispiel für unvergesslichen Mut und die Selbstverständlichkeit eines Kabbalah Centre, das wir ein Zuhause nennen dürfen. Kabbalah lehrt, dass der Körper lediglich ein Instrument ist, um die Arbeit der Seele hier auf der Erde zu verrichten. Wenn die Arbeit getan ist, wandert die Seele in die oberen Welten, um dort grenzenlos zu dienen. Wir glauben, dass der Rav heute damit begonnen hat, aus diesen oberen Welten mit uns zu teilen und wir werden alle freudig mit der Seele und der Vision des Ravs verbunden und inspiriert bleiben. Unsere Gedanken sind heute mit seiner Familie, besonders mit seiner Ehefrau Karen, seine ewige Seelenpartnerin und Führerin des Kabbalah Centre. Sie wird ihre gemeinsame Arbeit fortführen und die Vision des Centre weitertragen.“ (Kabbalah Centre Germany 2014e)
Mit diesen Worten gedenkt man auf der Kabbalah-Centre-Webseite Philip Berg – „dem Rav“ – Gründer und Direktor des internationalen Kabbalah Centre (vgl. Myers 2007a, 417), der am 16. September 2013 im Alter von 86 Jahren verstorben ist (vgl. Kabbalah Centre Germany 2014f.). Ausgehend von der These, dass das Kabbalah Centre als Community eine „vorgestellte Gemeinschaft“ (vgl. Anderson 2005) ist, in dessen Zentrum P. Berg – „der Rav“ – die Rolle des ‚spirituellen Führers‘ einnahm, wird hier aufgezeigt,
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wie sich diese Community konstituiert und wie mittels des Einsatzes von gezielten Marketingstrategien eine Gemeinschaft erzeugt wird, zu der sich auch in Deutschland zahlreiche Akteure zugehörig fühlen. In der Darstellung des Kabbalah Centre werden insbesondere rhetorische Strategien deutlich, die die Sonderstellung von P. Berg und dessen Familie betonen: „Rav Berg made the study of Kabbalah available to all by creating a foundational program to teach all its core concepts and help students formulate a greater cognitive awareness of the spiritual system of the universe.“ (The Kabbalah Centre 2014h)
Seine Rolle eines ‚spirituellen Führers‘, der im Zentrum der Kabbalah-CentreCommunity steht, wird auch von den meisten Schülern des Kabbalah Centre anerkannt (vgl. ebd.): Auszug aus dem Interview mit einer Kabbalah-Centre-Mitarbeiterin: „Berg hat sein Wissen von einem Kabbalisten bekommen, der es auch von einem Kabbalisten bekommen hat. Er gehört zu einer Kette von Kabbalisten, die bis zu Moses zurückgehen. Also wir lernen von der Quelle.“ (Interview Myriam, 11.6.2013, 9)
Auszug aus dem Interview mit einer Teilnehmerin des Kabbalah Centre: „[...] es gibt ein paar Schüler hier aus Berlin, von denen ich weiß, dass die eine ganz, große Nähe zum Rav spüren. Und ich habe sogar eine Freundin, die [...] ist letztes Jahr nach Los Angeles mitgekommen – die hat gesagt: ‚Ich will eigentlich nur den Rav sehen. Mir ist total egal, was Karen da macht, ich will eigentlich nur den Rav sehen.‘ Und dann kam der [Rav] auf die Bühne und setzte sich da eben ganz langsam hin und sprach. Dann fing sie an zu weinen. Und es gibt auch eine andere, die ich auch kenne [...], die sich wahnsinnig mit ihm verbunden fühlt, die hat auch ohne Ende geweint.“ (Interview Nora, 12.6.2013, 27f.)
In der Darstellung des Kabbalah Centre wird P. Berg die Rolle eines „primary exegete“ (Myers 2008, 417) zugeschrieben. Insgesamt wurden unter seiner Autorenschaft über zwanzig englischsprachige Publikationen herausgegeben (vgl. The Kabbalah Centre 2014i), die in den internationalen „Kabbalah-Centre-Bookstores“ an den jeweiligen Standorten oder online über die offizielle KabbalahCentre-Webpräsenz (vgl. The Kabbalah Centre 2014j) angeboten werden. Bei der Vermarktung seiner Bücher im Online-Kabbalah-Store wird die Konstruktion seiner Sonderstellung besonders deutlich, da nur P. Berg mit der Zuschreibung ‚Kab-
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balist‘ hervorgehoben wird (vgl. The Kabbalah Centre 2014i). Neben der rhetorischen Hervorhebung seines Namens durch den Titel ‚Kabbalist‘ wird sein Namen zusätzlich mittels gelber Schriftfarbe optisch betont (vgl. ebd.). Die Sonderstellung seiner Person drückt sich auch in der Bezeichnung „der Rav“ aus. „Rav“ steht für die hebräische Schreibweise des deutschen Begriffes „Rabbi“ und benennt in diesem Sinne einen „Schriftgelehrten einer jüdischen Gemeinde“ (Dietrich 2000, 759). Wörtlich übersetzt heißt es auch „mein Meister“ (ebd.), was den Stellenwert dieses Titels innerhalb des jüdischen Gemeindelebens besonders deutlich zum Ausdruck bringt. Philip Berg, der mit seiner Frau Karen nach seiner Emigration nach Israel seinen ursprünglichen Familiennamen Gruberger ablegte und sich Berg nannte, wurde während seiner Tätigkeit als KabbalaLehrer in Israel von seinen Schülern „Rav“ genannt (vgl. Myers 2007b, 51). Diese Bezeichnung etablierte sich in den kommenden Jahrzehnten und wurde im Zuge der ‚Kommerzialisierung‘ des Kabbalah Centre in den 1980er Jahren zunehmend Bestandteil von dessen Marketingstrategien und Selbstdarstellung. Der Rav selbst wird zum ‚Produkt‘ des Kabbalah Centre und sein Name und die Geschichten, die um ihn herum erzählt werden, sind wesentliche Komponenten der Marke „Kabbalah Centre“. Dieser „commercial process of storytelling“ (Twitchell 2005, 2), der einen Prozess des faith branding (vgl. ebd.; Einstein 2008, xi) darstellt, wird vor allem an den Vermarktungsstrategien deutlich, da gezielt Geschichten konstruiert werden, die das Kabbalah Centre von anderen, ähnlichen Organisationen abgrenzen sollen, um gezielt ein bestimmtes Publikum anzuziehen, welches sich wiederum mit diesen „stories“ (vgl. Einstein 2008, 12) identifizieren kann. Religiöse Organisationen wie das Kabbalah Centre entwickeln so ihre eigenen Logos, Namen, Persönlichkeiten und Slogans als Teil ihrer Marketingstrategie (vgl. ebd. xi). Innerhalb dieses Prozesses wird der Rav zum humanizing icon und ist somit Teil des brand „Kabbalah Centre“ (vgl.ebd.). Neben dem Rav gehören seine beiden Söhne Michael und Yehuda Berg und seine Frau Karen Berg zu den wichtigsten Autoren des Kabbalah Centre, die aufbauend auf P. Bergs ‚Basiswerken‘ – wie The Kabbalah for the Layman (1993) – ihre eigenen kabbalistischen Ideen und Konzepte vermarkten. Die privilegierte Stellung, die P. Berg in der Kabbalah-Centre-Hierarchie zugeschrieben wird, lässt sich ebenfalls aus dem Gründungsmythos des Kabbalah Centre ableiten. Demzufolge soll Rav Berg als Nachfolger von Yehuda Ashlag und somit als „letzter einer langen Linie kabbalistischer Meister“ (Yehuda Berg 2003a, 248) die Aufgabe verfolgt haben, Kabbala unter alle Menschen zu verbreiten, um der Menschheit insgesamt die Möglichkeit eines besseren Lebens zu eröffnen (vgl. ebd.). Auch an dieser Stelle wird eine Rhetorik deutlich, die seine Sonderstellung hervorhebt. Dieser Darstellung folgend wird dem Rav nicht nur
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eine Sonderstellung in der Hierarchie des Kabbalah Centre eingeräumt, ihm wird auch eine Art ‚messianische Rolle‘ im Erlösungsvorgang der Welt zugeschrieben, im „tikkun ha-olam“, der kabbalistischen Reparatur der Welt (vgl. Dan 2007, 80f., 102ff. und 114ff.). Gleichzeitigt verdeutlicht die Bezeichnung „Rav“ den religiösen Charakter des Kabbalah Centre und dessen jüdische Provenienz. Ausgehend vom Rav als zentraler Figur und der Familie Berg, die den „inner circle“ (Myers 2008, 417) nach außen repräsentiert, wird gezielt eine Hierarchie konstruiert, die wiederum Teil der Selbstpräsentation und Marketingstrategien des Kabbalah Centre darstellt. Neben den Bergs spielen insbesondere die Kabbalah-Centre-Lehrer und die sogenannten Hevre eine wichtige Rolle für die Konstruktion dieser Community. Hevre ist die hebräische Bezeichnung für eine Gruppe von Freunden (vgl. Myers 2007b, 62) und bezeichnet im religiösen Kontext auch eine Art der „spiritual fellowship“ (ebd.). So wird die Gruppe der Schüler, die sich um Shimon Bar Yochai versammelten, mit der aramäischen Bezeichnug „hevraia“ benannt, die mit dem hebräischen Terminus „Hevre“ verwandt ist (vgl. ebd.). Die religiöse Konnotation dieses Begriffes wird im Kabbalah Centre sehr deutlich, da die Bereitschaft für diese ‚Tätigkeit‘ die absolute Zustimmung zu den Lehren, Ideen und Zielen des Kabbalah Centre voraussetzt und mit ihr eine dauerhafte religiöse Mitgliedschaft einhergeht. Sowohl die Lehrer als auch die Hevre arbeiten meist ehrenamtlich bis zu sechs Tage pro Woche für das Kabbalah Centre, erhalten im Gegenzug eine Ausbildung in den Lehren sowie Unterkunft und Verpflegung (vgl. Myers 2008, 418). Diese Art der Mitgliedschaft, die die vollkommene Integration des persönlichen Lebens in den Kabbalah-Centre-Alltag erfordert, wird in der Selbstdarstellung des Kabbalah Centre als „Ehre“ beschrieben, die nur wenigen, sehr engagierten Anhängern zuteilwerde (vgl. ebd.). Nach aktuellen Forschungsergebnissen gibt es in Deutschland keine Hevre, aber zahlreiche ehrenamtliche Mitarbeiter (Volunteers). Folgt man Jody Myers bildhafter Darstellung der Hierarchie des Kabbalah Centre, die diese in konzentrischen Kreisen abbildet, zählen die Volunteers zum inneren Kreis (vgl. ebd. 417). Die Frage, inwiefern sich die Akteure mit eben diesen Geschichten, Personen und Slogans identifizieren, wird im Anschluss analysiert.
Die religiöse Identitätskonstruktion der Akteure
Z UR AUSWERTUNG DER QUALITATIVEN I NTERVIEWS Wie bereits im Methodenkapitel dargestellt, wurden für diese Studie qualitative Interviews durchgeführt, in denen mittels offener Fragestellungen nach den religiösen Identitätskonstruktionen der Akteure gefragt wurde. Dazu wurde aufgrund der theoretischen Vorüberlegungen ein Interviewleitfaden entwickelt, der der Forscherin größtmögliche Flexibilität in Bezug auf die konkrete Formulierung der Fragestellungen und die Reihenfolge der Fragekomplexe erlaubte (vgl. Mayring 2007, 48). In den Interviews wurde einleitend nach der ‚religiösen Vorgeschichte‘ der Akteure gefragt und wurden diese dazu angeregt, bisher gemachte Erfahrungen zu schildern. Daraufhin wurde nach der ‚Zugangsgeschichte‘ zum Kabbalah Centre gefragt. Um der Frage nachgehen zu können, inwiefern die kollektive religiöse Identität des Kabbalah Centre die personalen Identitätskonstruktionen konstituieren, wurden die Akteure nach der Integration kabbalistischer Praktiken und Motive im Alltagsleben befragt, welche Bedeutungen diesen von den Akteuren zugeschrieben werden und welches Selbstbild dadurch entwickelt wird. Um auf die Identifikation der Akteure mit der Kabbalah-Centre-Comunity einzugehen, wurde nach Kontakthäufigkeit zum Kabbalah Centre gefragt und welchen Stellenwert diese Kontakte im Lebensalltag einnehmen. Da diese Studie von der Ausgangsthese geleitet wird, dass nicht-jüdische Akteure über das Kabbalah Centre Zugang zum Judentum suchen, wurde auch explizit nach der persönlichen Beziehung zum Judentum gefragt und wie sich diese durch den Kontakt zum Kabbalah Centre verändert hat. Um Aussagen darüber zu erhalten, inwiefern die Akteure die im Kabbalah Centre ‚produzierten‘ Narrative in die eigene Selbstdarstellung integrieren, wurden die Akteure außerdem angeregt, etwas zu ihren persönlichen Zuschreibungen an Kabbala zu erzählen, um diese mit den im Kabbalah Centre ausgehandelten Zuschreibungen zu vergleichen.
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Als Materialgrundlage für diesen Teil der Studie standen fünfzehn qualitative Interviews zur Verfügung, die als Text in transkribierter Form vorliegen, und zwei zusätzliche schriftliche Antworten auf die vorgegebenen Leitfragen. Ausgehend von der bereits vorgestellten Hauptthese, dass Akteure in dem Maße, in dem sie sich einer Gruppe zugehörig fühlen, deren angebotene Narrative in die personale Identität integrieren, wurden folgende Fragestellungen an das nun vorliegende empirische Material gestellt: • Wie konstruieren die Akteure ihre religiöse oder spirituelle Identität? • Wie identifizieren sich Menschen mit den verschiedenen Praktiken und Welt-
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deutungskonzepten, die aus dem Angebot des Kabbalah Centre rezipiert werden? Welchen Stellenwert nehmen Themen wie „Heilung“ und „Selbstverwirklichung“ in der narrativen Identitätskonstruktion ein? Wie integrieren die Akteure jüdische und kabbalistische Motive in ihre Identitätskonstruktion? Suchen nicht-jüdische Menschen in Deutschland über das Kabbalah Centre nach Anknüpfungspunkten an das Judentum oder gibt es ein Bedürfnis nach ‚jüdischer Identitätskonstruktion‘? Wie wird Kabbala im Kabbalah Centre ausgehandelt und wie beeinflusst dies die Selbstdarstellung des Kabbalah Centre? Welche kollektive Identität wird damit konstruiert? Welche Rolle spielt „Gemeinschaft“ für die religiösen Akteure des Kabbalah Centre und wie wird diese konstruiert? Welche Selbstoptimierungstechniken werden vom Kabbalah Centre angeboten, wie fließen diese in deren kollektive Identitätskonstruktion ein und wie werden diese von den Akteuren in ihre personale Identitätskonstruktion integriert?
Aus dem empirischen Material, das sich aus den Interviewexzerpten1 zusammensetzt, wurden mittels „typisierenden Strukturierungen“ (Mayring 2007, 90) ‚Prototypen‘ aus dem Material extrahiert, die im Anschluss dargestellt werden. Außerdem wurde mithilfe der „inhaltlichen Strukturierung“ (ebd. 89) ein Kategoriensystem erstellt und die bereits aufgezeigten Themen und Problemstellungen aus dem Material herausgearbeitet und zusammengefasst.
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Insgesamt ergeben die Interviewexzerpte 248 Seiten Textmaterial.
D IE RELIGIÖSE I DENTITÄTSKONSTRUKTION
S PIRITUELLE I DENTITÄTSKONSTRUKTION IN DER NARRATIVEN S ELBSTDARSTELLUNG
DER
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AKTEURE
Der Prototyp – Der spirituelle Wanderer im Kabbalah Centre Bereits 2009 stellen Christoph Bochinger, Martin Engelbrecht und Winfried Gebhardt die Ergebnisse einer „systematischen, qualitativen Netzwerkanalyse“ (Bochinger, Engelbrecht und Gebhardt 2009b, 29) vor, auf deren Grundlage die Forscher einen „Idealtypus gegenwärtig zu beobachtender, subjektiver christlicher Religiosität“ (ebd. 32) entwickeln. Dieser Idealtypus,2 der von den Forschern als „spiritueller Wanderer“ (ebd. 33) bezeichnet wird, zeichnet sich insbesondere durch den „spezifischen Umgang mit den ‚spirituellen‘ Angeboten, die die globale Kultur der ‚Spätmoderne‘ zur Verfügung stellt“ (ebd.) aus. Ein Ziel der Studie ist die Untersuchung der religiösen Orientierungen von Anhängern der katholischen und evangelischen Kirche in Deutschland. Zudem wurde die Identifikation der Akteure mit diversen ‚spirituellen‘ Vorstellungen und Praktiken und deren Verhältnis zur jeweiligen Herkunftskirche untersucht (vgl. Bochinger, Engelbrecht und Gebhardt 2005; Bochinger, Engelbrecht und Gebhardt 2009a). Der im Zuge der Studie entworfene Idealtypus des ‚spirituellen Wanderers‘ zeichnet sich durch ein hohes Interesse an religiösen, spirituellen Erfahrungen aus, die er durch das ‚Durchtesten‘ diverser Angebote des ‚spirituellen Marktes‘ sammelt (vgl. Bochinger, Engelbrecht und Gebhardt 2005, 143). „Wanderer sind auf den ersten Blick nicht anhand bestimmter Glaubensinhalte, Praktiken oder gar bekenntnishafter Selbstzuordnungen zu identifizieren. Was sie charakterisiert, ist vielmehr ihr typischer Stil eines zwanglosen selektiven Zugriffs auf Inhalte und Praktiken aus den unterschiedlichsten Traditionen und/oder Institutionen.“ (Engelbrecht 2009, 37)
Anknüpfend an diese Ergebnisse konnten auch in der vorliegenden Arbeit, die ihren Fokus auf eine nicht-christliche religiöse Gruppierung richtet, Tendenzen dieses Idealtypus festgestellt werden. Allerdings lassen sich hier je nach ‚Identifikationsgrad‘ mit dem Kabbalah Centre signifikante Unterschiede zum Idealtypus
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Der Begriff „Idealtypus“ bezeichnet an dieser Stelle in Anlehnung an Max Weber ein „Gedankenbild“ (Weber 1973, 191 in Bochinger, Engelbrecht und Gebhardt 2009b, 32), das „durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluss einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen“ (ebd.), entsteht.
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des ‚spirituellen Wanderers‘ feststellen. Je nachdem wie stark sich der einzelne Akteur mit dem Kabbalah Centre identifiziert, werden auch vorgegebene, religiöse Narrative und Ideen übernommen und in das eigene Selbstbild integriert. Während die „Selbstermächtigung des religiösen Subjekts“ (vgl. Bochinger, Engelbrecht und Gebhardt 2005) als „Entschlossenheit, sich nicht in die eigene spirituelle und ethische Lebensgestaltung hineinreden zu lassen“ (Engelbrecht 2009, 78), die Haltung des ‚spirituellen Wanderers‘ charakterisiert, lassen sich im Kontext des Kabbalah Centre gegenläufige Tendenzen konstatieren. Insbesondere die kritische Haltung der Wanderer gegenüber religiösen Autoritäten und dem von diesen vermittelten religiösen Wissen nimmt im Kontext des Kabbalah Centre je nach Identifikationsgrad ab. Je mehr sich die religiösen Akteure mit den vorgegebenen religiösen Inhalten und Praktiken des Kabbalah Centre identifizieren, diese in ihren Lebensalltag integrieren und an den angebotenen Veranstaltungen partizipieren, um so eher wächst die Bereitschaft, religiöse Deutungshoheit an Autoritäten wie Lehrer und Autoren des Centers abzugeben. Interessant hierbei ist die Tatsache, dass alle befragten nicht-jüdischen Akteure christlich sozialisiert und bis auf eine Ausnahme nicht aus ihrer Herkunftskirche ausgetreten sind. Die ‚christlichen‘ Vorgeschichten der Akteure sind dennoch äußerst heterogen. Einige der Befragten gaben an, sich in ihrer Vergangenheit aktiv in einer christlichen Gemeinde engagiert zu haben. Wie schon erwähnt führte der Bruch mit der Kirche dennoch nicht zwangläufig zum Austritt aus der Kirche (vgl. Gebhardt 2009, 83ff.). Hier stellt sich also die Frage, ob es sich bei den religiösen Akteuren des Kabbalah Centre um ebendiese „spirituellen Wanderer“ handelt, die das Angebot des Kabbalah Centre auf ihrer ‚spirituellen Wanderschaft‘ lediglich testen oder ob das Kabbalah Centre nicht gar eine ‚Endstation‘ für die Suchenden darstellen könnte. Um diese Frage zu klären, wird zunächst exemplarisch auf die ‚religiöse Vorgeschichte‘3 der christlich-sozialisierten im Vergleich zu den jüdisch-sozialisierten Befragten Bezug genommen, um Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede aufzuzeigen. In einem weiteren Schritt wird hier dargelegt, wie die Akteure Topoi des rezenten Spiritualitätsdiskurses rezipieren, diese in ihre narrative Selbstdarstellung integrieren und wiederum mit ihrer ‚Kabbalah-Centre-Identität‘ verknüpfen, um ein kongruentes, stimmiges Selbstbild zu erzeugen.
3
Dieser hier eingeführte Terminus umfasst sowohl die ‚religiöse‘ Sozialisation der Akteure als auch die ‚religiösen bzw. spirituellen Erfahrungen‘, die bis zum ersten Kontakt mit dem Kabbalah Centre gemacht wurden.
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Die christlichen Wanderer im Kabbalah Centre Während das oben beschriebene, interdisziplinäre Forschungsprojekt unter dem Titel Die unsichtbare Religion in der sichtbaren Religion. Formen spiritueller Orientierung in der religiösen Gegenwartskultur (vgl. Bochinger, Engelbrecht und Gebhardt 2009a) „religiöse […] Individualisierungsphänomene“ (Bochinger, Engelbrecht und Gebhardt 2009b, 19) innerhalb der christlichen Kirchen erforscht, liegt der Fokus der vorliegenden Studie darauf, individuelle religiöse Konstellationen und die religiöse Selbstdarstellung der Akteure im Kontext einer nicht-christlichen religiösen Gruppierung zu erforschen. Was die religiöse Provenienz der Akteure betrifft, können innerhalb dieser Gruppierung hauptsächlich christlich-sozialisierte Akteure sowie Akteure mit jüdischem Hintergrund festgestellt werden. Sowohl bei den ‚christlichen‘ als auch bei den ‚jüdischen‘ Akteuren ließen sich Tendenzen des spirituellen Wanderers als (vgl. Bochinger, Engelbrecht und Gebhardt 2005, 143) feststellen. Vor allem das Motiv der spirituellen Suche scheint in den Interviews besonders evident. Der „ausprobierende und auswählende Suchmodus, der Wanderer unter Umständen quer durch das Angebotsspektrum der religiös-spirituellen Gegenwartslandschaft in seiner vollen Breite führen kann“ (Engelbrecht 2009, 35), wird in der narrativen Selbstdarstellung der Akteure reflektiert. Folgende Tabelle4 (Überblick über die Religiosität der Akteure) zeigt einen Überblick der religiösen Provenienz der Akteure, ihrer religiösen Vorgeschichten und ihre Verortung innerhalb des Kabbalah Centre zum Zeitpunkt des Interviews bzw. der schriftlichen Befragung.
4
Die Angaben in der Tabelle basieren auf Aussagen der Akteure in den Interviews.
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Tabelle 4: Überblick über die ‚Religiosität‘ der Akteure Spirituelle/ religiöse Vorerfahrungen Buddhismus/ Feng Shui/ Numerologie
Name
Herkunftsreligion
Pamina
christlich/ protestantisch
Mordechai
jüdisch/säkular
keine Angabe
Danijel
jüdisch/säkular
Suche nach Sinn des Lebens
Thomas
protestantisch/ ausgetreten
Hare Krishna
Yehuda
jüdisch/säkular
Kathrin
serbisch-orthodox/ Freikirche
Sonja
keine Angabe
keine Angabe
Maria
christlich/ katholisch
Brigitte
christlich
Nadiene
jüdisch/säkular
Carina
christlich/ protestantisch
Gespräche mit Gott/ Reiki u.a. Beschäftigung mit Religionen Keine Mediation/ Kabbala/ Judentum
Eliyahu
jüdisch/säkular
Myriam
jüdisch/säkular
Nora
christlich/ protestantisch
Lichtarbeit/ Meditationstechniken Bibel/ Smaragdtabelle/ Kabbala
Selbstverbesserungsseminare Engel/ Spiritualität/ Esoterik Esoterik/Engel/ Steine/ Schamanismus
Verortung im Kabbalah Centre aktive Teilnehmerin aktiver Teilnehmer KabbalahCentre-Lehrer aktiver Teilnehmer KabbalahCentre-Lehrer aktive Teilnehmerin/ Volunteer aktive Teilnehmerin Testerin Testerin Testerin aktive Teilnehmerin aktiver Teilnehmer/ Volunteer aktive Teilnehmerin Volunteer aktive Teilnehmerin/ Volunteer
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„Spirituell, aber nicht religiös“ – Fallbeispiel Carina Die dreißigjährige Carina gibt an, sich seit etwa einem Jahr intensiv mit Kabbala zu beschäftigten und im Zuge ihres individuell gestalteten Kabbala-Studiums das Kabbalah Centre kennengelernt zu haben. Seither nimmt sie sporadisch an Online-Kabbala-Kursen und Zohar-Lesungen im Kabbalah Centre teil und hat außerdem Kontakt zu einem Kabbalah-Centre-Lehrer. Sie gibt zudem an, dass sie regelmäßig eine Meditationstechnik durchführt, die sie während einer dreijährigen, „spirituellen“ Ausbildung erlernt hat. Dort kam sie auch erstmals in Kontakt mit kabbalistischen Ideen und Praktiken (vgl. Interview Carina, 2.6.2013). Im Interview wird deutlich, dass das Thema „Spiritualität“ einen großen Stellenwert in ihrer biographischen Selbstnarration einnimmt. „Interviewerin: Sind Sie religiös? Carina: Da gibt es ja so eine schöne Formulierung, die habe ich in einem Buch gelesen von Ken Wilber, die integrale Theorie – kurzgefasst, es gibt ein kurzes Buch, wo als Überschrift drüber steht: ‚Sind sie das: spirituell, aber nicht religiös?‘. Ich glaube, ich würde mich am ehesten so bezeichnen. Interviewerin: Spirituell, aber nicht religiös? Wie unterscheiden Sie das? Carina: Ich habe überhaupt kein Problem mit ‚religiös‘, aber für mich ist ‚religiös‘ eher geknüpft an eine bestimmte Form. Also, das ist so, wenn ich sage, ich bin religiös, dann im Sinne von ‚ich bin protestantisch‘ oder ‚ich bin jüdisch‘ oder ‚ich bin buddhistisch‘. Und dann geht das für mich stark einher mit einer bestimmten Tradition. Also es heißt für mich nicht, wenn du religiös bist, dass du nicht gleichzeitig spirituell sein kannst. Aber spirituell sein ist für mich weiter. Das ist einfach weniger geknüpft an eine bestimmte Tradition […].“ (Interview Carina, 2.6.2013)
In gegenwärtigen Studien wird häufig die Tendenz bei Akteuren wahrgenommen, die beiden Begriffe „religiös“ und „spirituell“ einander diametral entgegenzusetzen, wie dies in der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Studie Spiritualität in Deutschland und den USA konstatiert wird: „Das Projekt […] ist noch nicht beendet, doch ein bemerkenswerter Umstand steht bereits fest. ‚Ich bin eher spirituell als religiös‘ – dieser Satz findet die Zustimmung der Hälfte aller Befragten, unabhängig davon, ob sie selbst einer Religionsgemeinschaft angehören oder nicht.“ (Stegemann)
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Diese Tendenz ist auch häufig bei den Akteuren des Kabbalah Centre anzutreffen: „[…] als ich angefangen habe, vor ein paar Jahren das für mich zu entdecken – generell Spiritualität – habe ich gemerkt, dass ich doch auch als Kind eine bestimmte Form von Affinität dazu hatte, weil ich schon immer gebetet habe. […]. Ich weiß, dass ich eine ganze Weile vor dem Schlafen gehen, oft als Kind gebetet habe für meine Familie, für Schutz […]. Aber nicht in so einem christlichen Sinne […]. Ich habe durch die […] Schule gemerkt, […] da war ich zuerst im evangelischen Religionsunterricht, weil ich getauft war und da gabt es auch den freichristlichen Religionsunterricht und noch was Freies […]. Und ich habe auch beantragt […] in den freikirchlichen Religionsunterricht gehen zu können und da haben wir dann die Biographie von Yogi Yogananda auseinandergenommen. Das fand ich […] interessant, da ging es um Meditation […]und dann habe ich auch […] versucht mich hinzusetzen und zu meditieren […].“ (Interview Carina, 2.6.2013)
Was auch in diesem Interview deutlich wird, ist die Betonung der Erfahrungsebene, die ein wesentliches Charakteristikum des spirituellen Wanderers darstellt: „Wanderer ‚erfahren‘ das Göttliche weit eher als dass sie daran glauben“ (Stegemann). ‚Spirituelle Erfahrung‘ drückt sich hier gleichsam in einem alltäglichen Effekt aus, der Bezug zur Lebenspraxis wird besonders betont. „[…] ich habe angefangen Eckhart Tolle zu lesen. Und durch Eckhart Tolle habe ich gemerkt, dass das einen Effekt hat. Es war mir dann auch durchaus einleuchtend und ich habe angefangen im Internet […] zu lesen, das ist so ein Forum im Internet für Spiritualität. Auf diesem Portal habe ich dann […] entdeckt. Der hat sein erstes Buch herausgegeben und ist spiritueller Lehrer aus Österreich und war live in Berlin und ich dachte dann, ja eigentlich möchte ich nicht immer nur Bücher lesen, sondern ich möchte auch mal so jemanden erleben.“ (Interview Carina, 2.6.2013)
Feng Shui, Buddhismus und das Kabbalah Centre – Fallbeispiel Pamina Pamina kennt das Kabbalah Centre seit 2005. Seither hat sie an zahlreichen Veranstaltungen teilgenommen, besucht regelmäßig Vorträge und Kurse – sowohl online als auch vor Ort. Darüber hinaus engagiert sie sich ehrenamtlich für das Kabbalah Centre. Sie ist evangelisch getauft und hat sich mehrere Jahre innerhalb der katholischen Kirche engagiert. Auf die Frage, weshalb sie sich in der katholischen Kirche engagiert hat, antwortet sie, dass sie sich gut mit dem Pfarrer verstanden habe und es für sie keinen Unterschied mache, ob sie evangelisch oder katholisch
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sei (vgl. Interview Pamina, 3.6.2010). Auf die Frage, ob Sie aus der Kirche ausgetreten sei, antwortet sie: „Nein. Ich sah bisher keinen Grund dafür. Es bedeutet mir nichts“ (ebd.). Den „Bruch mit der Kirche“ stellt sie folgendermaßen dar: „Der Bruch kam dann, weil ich es einfach sehr unlogisch fand, dass sie nicht an die Reinkarnation glauben. Die Reinkarnation macht für mich unglaublich viel Sinn. Es ist sehr logisch für mich. Und ich habe da schwere Diskussionen gehabt mit dem damaligen katholischen Pfarrer, der einfach gesagt hat, das existiert nicht.“ (Ebd.)
Auf die Frage, woher sie Reinkarnationsvorstellungen kannte, antwortet sie, dass sie diese aus der Beschäftigung mit dem Buddhismus kenne (vgl. ebd.). Mit Kabbala kam sie bereits durch die Beschäftigung mit Feng-Shui in Berührung: „Interviewerin: Hatten Sie vor Ihrem Kabbalah-Centre-Kontakt schon einmal etwas von Kabbala gehört? Pamina: Von Feng Shui. Da haben wir einmal die Zahlen der Numerologie durchgenommen […] da bin ich drauf gekommen, dass Feng Shui sehr viel mit Kabbala zu tun hat.“ (Ebd.)
Am Beispiel von Pamina wird deutlich, dass heterogene religiöse Traditionsbestände wie Buddhismus und Kabbala neben populären spirituellen Praktiken wie Feng Shui in der narrativen Selbstdarstellung zu einem stimmigen Selbstbild verwoben werden. Auch hier spiegelt sich der „typische Stil eines zwanglosen selektiven Zugriffs auf Inhalte und Praktiken aus unterschiedlichen Traditionen und/oder Institutionen“ (Engelbrecht 2009, 37), der den spirituellen Wanderer charakterisiert, wider. Gleichzeitig drückt sich ihr negatives Kirchenbild, das sie in der narrativen Selbstdarstellung auf das Unverständnis des Pfarrers gegenüber alternativen Glaubensvorstellungen (Vorstellung der Reinkarnation) zurückführt, in der Gleichgültigkeit gegenüber der Kirche aus. In den meisten Interviews ist eine Art Rechtfertigungstendenz für die Abwendung von der Herkunftsreligion festzustellen. Sowohl die befragten christlichen als auch die befragten jüdischen Akteure entwerfen individuelle Rechtfertigungsstrategien, um die Abwendung von ihrer Herkunftsreligion, die meistens als „negativ“ und „eng“ dargestellt wird, und die Partizipation am Kabbalah Centre zu rechtfertigen. Über die Bibel und die Smaragdtafel zur Kabbala – Fallbeispiel Kathrin Kathrin, die sich seit zwei Jahren aktiv im Kabbalah Centre engagiert, gibt an, ohne Bekenntnis aufgewachsen zu sein und sich aus persönlichen Gründen getauft
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haben zu lassen. Nach ihrer Taufe hat sie sich bei einer freien evangelischen Gemeinde engagiert (vgl. Interview Kathrin, 27.3.2011). „Kathrin: Und da bin ich dann in eine evangelische Gemeinde, in eine freie evangelische Gemeinde gegangen. […] Fast zwei Jahre müsste ich sagen, war ich da sehr intensiv. […] da war ich sehr involviert. […] das Evangelische, was die dort praktiziert haben, war mir aber zu eingeschränkt. Es war zu eng für mich. Also dort wurde eben Jesus gepredigt. Jesus ist der einzige Weg zu Gott und etwas anders gibt es nicht und das war mir dann halt alles so ein bisschen zu eng. Es hat nicht gepasst. Interviewerin: Und hast du das jetzt im Kabbalah Centre gefunden oder in der Kabbala? Kathrin: Ja, […] das war genau der Punkt, das hab ich jetzt da gefunden. Dieses etwas größere Denken. Dieses nicht ausschließen von Irgendetwas. […] Also im Kabbalah Centre haben wir ja nun alles. Es sind jüdische, katholische, nicht-gläubige, evangelische [Menschen] […]. Es gibt keine Unterscheidung. Jeder Mensch, der Fragen stellt, jeder Mensch, der wissen will, dem steht alles offen.“ (Ebd.)
Ihren Weg zur Beschäftigung mit Kabbala beschreibt sie folgendermaßen: „Interviewerin: Woher kommt dein Interesse für Kabbala? Kathrin: […] Also über die Bibel und über die Smaragdtafel [von Atlantis]. Irgendwo stand dann da im Hintergrund etwas über Kabbala. Aber eigentlich wusste ich gar nicht, was das bedeutet. Ich […] habe mit ihm [dem Kabbala-Lehrer] halt dann sehr viel gelernt. Das Wissen, das ich vorher gesammelt habe, war ein totales Chaos von Wissen. Ich konnte das nie sortieren. Ich fand immer nur aus ganz vielen Dingen Informationsfetzen, die kein Gesamtbild ergaben. […] Ich wollte gerne mehr wissen, aber es war immer alles ein sehr zerpflücktes Wissen. Es ergab nie ein großes Bild. […] Und das war für mich der Ansatzpunkt zu sagen: ‚Ok, ich will aber irgendwo endlich mal ein System, wo ich Schritt für Schritt die Dinge richtig sortieren kann. […]‘ Irgendwo kam der Begriff ‚Kabbala‘ vor und da hab ich dann angefangen zu suchen. Dann hab ich mir […] Bücher bestellt […].“ (Ebd.)
Hier wird deutlich, dass die Akteurin bereits eine längere ‚spirituelle Wanderung‘ hinter sich hatte, die als diffus dargestellt wird. Ambivalent erscheint hier das Bedürfnis nach eigener religiöser Deutungshoheit, die dem Bedürfnis des spirituellen Wanderers nach Selbstermächtigung gleichkommt, und dem gleichzeitigen Wunsch der Akteurin nach ‚dem einen System‘, das alles erklärt. Interessant ist hierbei auch die Tatsache, dass das Kabbalah Centre, das, wie viele andere ‚religiöse‘ Gruppierungen oder Institutionen, religiöse ‚Dogmen‘ und unterschiedliche Praktiken und ‚Lebensrichtlinien‘ vorgibt, von den religiösen
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Akteuren als „offen und frei“ im Gegensatz zur als „eng“ konstruierten Herkunftsreligion dargestellt wird. Des Weiteren wird hier sowohl die Institutionenindifferenz, die am oben genannten Bespiel von Pamina besonders deutlich wird, wenn die Befragte die Nichtentscheidung zum Kirchenaustritt mit Gleichgültigkeit begründet, als auch das „stereotype, eindeutig negativ konnotierte Kirchenbild“ (Gebhardt 2009, 92), das die Haltung der ‚spirituellen Wanderer‘ zu ihrer Herkunftskirche charakterisiert, ersichtlich. „Meine letzte Religion waren die Gespräche mit Gott5“ – Fallbeispiel Maria Maria besucht seit 2009 sporadisch Veranstaltungen des Kabbalah Centre. Für die Akteurin, die katholisch aufgewachsen ist, steht der Glaube an Gott und die Erfahrung desselben im Zentrum ihrer Narration. In ihrer Darstellung überwiegt ein ambivalentes Kirchenbild, das sich in einer persönlichen Ablehnung von organisierten Strukturen und einer negativen Konnotierung der Kirche im Allgemeinen ausdrückt: „Ich bin kein Mensch, der sich gerne organisierten Strukturen anschließt. Ich habe mich […] mit allen Religionen, Weltanschauungen auseinandergesetzt. Ich bin zu dem Punkt gekommen, dass ich den direkten Bezug zu dem Gott haben möchte und ich denke, dass jeder Mensch auch direkt mit dem Gott sprechen kann und keine Vertreter dafür braucht. Das ist auch bis heute meine Einstellung. Die Erfahrungen wurden aber auch gemacht, dass ich einsehen musste, welche Bedeutungen die Kirchen haben, dass viele Menschen, die einsam sind, in Gruppen besser lernen können. […] Es muss noch einmal betont werden, dass ich nicht religiös bin, aber gläubig. In jeder Religion stecken viele gute Ansätze. Viele Erfahrungen, die Menschen gesucht und gefunden haben, da kann man auch schon einiges mitnehmen. Meine letzte Spiritualität, Religion sind die Gespräche mit Gott. Das ist in meinem Herz und steht mir am nächsten. Wo sich Gott gegen religiöse Strukturen ausspricht und er sich mir offener zeigt als durch alle Religionen.“ (Interview Maria, 6.6.2013).
Am Beispiel „Maria“ ist neben der ambivalenten Haltung gegenüber der institutionalisierten Kirche die Betonung der eigenen Erfahrung, die mit der „Selbstermächtigung des religiösen Subjekts“ (vgl. Bochinger, Engelbrecht und Gebhardt 2005) einhergeht, besonders evident. Interessant ist, dass die interviewte Akteurin
5
Gespräche mit Gott (1997-1999) ist eine Bestseller-Trilogie des US-amerikanischen Schriftstellers Neale Donald Walsch, um dessen Werke sich in den letzten Jahren u.a. im deutschsprachigen Raum diverse ‚Webcommunities‘ gebildet haben (vgl. Müller).
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mit der Bezeichnung „gläubig“ eine persönliche Erfahrungsdimension beschreibt, während sie die Bezeichnung „Religion“ analog mit dem Terminus „Spiritualität“ setzt und ersteren mit der „Institution Kirche“ verbindet. Die jüdischen Wanderer im Kabbalah Centre und ihr Verhältnis zum Judentum Da sich das Kabbalah Centre als „spirituelle Organisation“ (vgl. Kabbalah Centre Germany 2014f) darstellt, deren ideologischen Quellen, Ideen und Praktiken Bezug zum Judentum aufweisen, wurde in dieser Studie explizit nach den Intentionen der jüdischen Akteure für deren Partizipation am Kabbalah Centre gefragt. Hervorzuheben ist hierbei die Tatsache, dass alle der befragten jüdischen Akteure – im Gegensatz zu den christlichen Akteuren – ihre religiöse Vorgeschichte als „säkular“ oder als „moderat“ beschreiben: „Also bei mir zuhause wurden die Feiertage nur symbolisch gefeiert […]. Um Chanuka gab ein bisschen Kerzenanzünden […], an Pessach haben wir vielleicht Seder gemacht, aber alles super moderat. Es wurde weder auf Kaschrut geachtet noch auf Shabbat. Das einzige, das ich gemacht habe mit dreizehn, war die Bar Mitzwa und habe damals gelernt, wie man Tefilin anlegt und ein bisschen wie man Tora liest, aber das habe ich auch relativ schnell sein gelassen. […] Ich hatte keinen Zugang zur Religion, das war eher lästig.“ (Interview Yehuda, 24.2.2011) „Zu bestimmten Feiertagen, aber nicht mit der Familie, sondern mit Freunden bin ich zur Synagoge an Jom Kippur oder Rosch Haschana gegangen, aber das hat nichts mit Religion zu tun.“ (Interview Myriam, 11.6.2013)
Durch den Kontakt zum Kabbalah Centre wird eine Neubewertung des jüdischen Glaubens deutlich. Diese drückt sich in einer ‚Spiritualisierung‘ der jüdischen Traditionen und Praktiken aus, die im Rahmen des Kabbalah Centre rezipiert werden. „Interviewerin: Hat sich durch Kabbala ihr Verhältnis zum Judentum verändert? Yehuda: Absolut. Ja. […] Ich halte das [die jüdischen Traditionen] aus dem Grundverständnis ein, was dahinter steckt. Also was spirituell dahinter steckt. Wenn mir etwas nicht einleuchtet, mache ich das nicht. […]. Aber je mehr ich lerne, umso mehr sehe ich den Sinn an.“ (Interview Yehuda, 24.2.2011)
In Hinblick auf die Frage, wie sich das Verhältnis der jüdischen Akteure zu ihrer Herkunftsreligion durch den Kabbalah-Centre-Kontakt verändert hat, wird eine
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starke Ambivalenz deutlich. Alle der befragten jüdischen Akteure pflegen seit diesem häufig bis regelmäßig die jüdischen Rituale und Traditionen, halten regelmäßig den Shabbat und halten die jüdischen Gebote und Verbote (Mizwot) ein. Dennoch wird eine deutlich abwertende und ablehnende Haltung gegenüber Religion deutlich. Gleichzeitig wird dem Terminus „Religion“ dem der „Spiritualität“ gegenübergesetzt, welcher in den Narrationen der Akteure meist positiv bewertet wird: „[…] wenn ich Religion leben möchte, dann werde ich religiös, dann werde ich lange Schläfenlocken haben, schwarz angezogen sein und werde in Mea Shearim6 wohnen und werde nichts anderes machen als das. Ich werde nicht ins Kino gehen, ich werde nicht tanzen gehen […]. Das ist nur Religion. […] Religion kann man äußerlich begreifen, äußerlich nach Regeln, Gesetzen. Das macht man so, weil Gott es befohlen hat. Oder man kann es spirituell verstehen und die Spiritualität leben.“ (Ebd.)
Diese Darstellung der Gegenüberstellung von Religion und Spiritualität reflektiert den rezenten Spiritualitätsdiskurs, der im Kontext des Kabbalah Centre in einer Transformation jüdischer Vorstellungen und Praktiken sichtbar wird. Die ‚Spiritualisierung‘ des Judentums wird hier in der Umdeutung der Motive der Akteure für die Ausübung der jüdischen Praktiken deutlich. Jüdische Rituale, Praktiken und Traditionen werden auch in den Narrationen der jüdischen Befragten dekontextualisiert, indem sie ihrer ‚traditionellen‘ Bedeutungsebene enthoben werden und ihnen eine ‚spirituelle‘ Bedeutungsebene zugeschrieben wird: „Ich lebe Kabbala nicht vom religiösen Aspekt, sondern vom spirituellen Aspekt. Obwohl es diese Parallele gibt, was die Religiösen praktizieren, wie zum Beispiel den Shabbat halten, koscher essen. All diese Sachen mache ich genauso, aber ich mache das nicht, weil ich Angst habe, bestraft zu werden, oder weil das so sein soll […], sondern weil ich verstehe. Und ich habe auch nicht alles auf einmal begonnen, sondern Schritt für Schritt. Jeder Schritt, den ich verstanden habe, warum, was ist Shabbat, was passiert energetisch am Shabbat, was bedeutet das Kerzenanzünden am Shabbat. […]. Das ist der Prozess, der sich so langsam entwickelt durch das Verstehen, durch Begeisterung, was es bedeutet […] – das ist der spirituelle Aspekt.“ (Interview Myriam, 11.6.2013)
Während keiner der Befragten angibt, sich in der Vergangenheit aktiv am jüdischreligiösen Leben beteiligt zu haben, konnten allerdings Tendenzen einer ‚spirituellen Suche‘ bei den Akteuren konstatiert werden.
6
Mea Shearim ist ein ultra-orthodoxes Viertel in Jerusalem.
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„Meditation, Lichtarbeit, all diese Dinge“ – Fallbeispiel Yehuda Yehuda kennt das Kabbalah Centre seit vielen Jahren und ist selbst als KabbalahCentre-Lehrer tätig. Seine kabbalistischen Ansätze lässt dieser auch in seine beruflichen Tätigkeiten miteinfließen: „Aber ich habe bereits angefangen, vor Jahren in der Praxis mit kabbalistischen Methoden zu arbeiten mit den Menschen. […] Viele Leute haben das sehr positiv aufgenommen und waren super glücklich und haben auch einen unglaublichen Transformationsprozess gemacht.“ (Interview Yehuda, 24.2.2011)
Sein Verhältnis zu seiner jüdischen Herkunftsreligion beschreibt dieser als „super moderat“ (ebd.). Während er zur Religion keinen Zugang habe, betont er seinen Zugang zu ‚Spiritualität‘. Auch hier wird die bereits in anderen Studien festgestellte die Tendenz „spiritual, but not religious“ (vgl. Fuller 2001; Stegemann) deutlich, die sich im Narrativ der ‚spirituellen Suche‘ verdichtet und zum zentralen Identifikationsmerkmal in der narrativen Selbstdarstellung erhoben wird. „Those who see themselves as ‚spiritual, but not religious‘ reject traditional organized religion as the sole – or even the most valuable – means of furthering their spiritual growth. Many have had negative experiences with churches or church leaders.“ (Fuller 2001, 7)
Gerade am Beispiel von Yehuda wird die Tendenz der Abwertung von ‚Religion‘ als organisierter und traditioneller Rahmen deutlich, die mit der Aufwertung von ‚Spiritualität‘ als Ausdruck einer ‚inneren Religion‘ oder einer ‚Religion des Selbst‘ einhergeht (vgl. Dawson 2011; Heelas 1999; Rindfleish 2005). „Als ich angefangen habe, Kabbala zu lernen, ist mir wirklich der Groschen gefallen. Wo ich wirklich verstanden habe, da ist nirgendwo jemand auf der ganzen Erde, den du anzeigen kannst. […]. Und als ich es verstanden habe, war es wie ein Schlag ins Gesicht […]. Wenn das so ist, kannst du wirklich Verantwortung übernehmen. Dann kannst du wirklich dein Leben in die Hand nehmen und dich verändern. Und seitdem hat sich mein Leben total verändert.“ (Interview Yehuda, 24.2.2011)
Hier wird die Integration und Verknüpfung von Themen des Selbst und der Selbstoptimierung in religiösen Kontexten deutlich, welche ebenso den rezenten Spiritualitätsdiskurs reflektiert (vgl. Carrette 2004; Hazleden 2003; Heelas 1999; Rindfleish 2005). Interessant in den narrativen Selbstdarstellungen jener Akteure, die man dem inneren Kreis des Kabbalah Centre zuordnen kann (vgl. Myers 2008, 418), ist die
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Beobachtung, dass der Zugang zum Kabbalah Centre meist als biographischer Höhepunkt der spirituellen Suche dargestellt wird: „Also ich war immer an Spiritualität interessiert. Ich habe viel gemacht mit Meditationen, Lichtarbeit, all diese Dinge und ich habe immer nach Antworten gesucht, die mich sehr interessiert haben. Aber nirgendwo habe ich diese Antworten wirklich bekommen. Ich fand nicht wirklich zufriedenstellende Antworten. Entweder waren sie zum Teil zufriedenstellend oder sie haben mir einfach nicht erklärt, wie die Dinge funktionieren. Sie gaben mir punktuelle Antworten. Bis ich eines Nachts im Internet gesurft bin und da habe ich zufällig die Website vom Kabbalah Centre entdeckt und habe angefangen, zu lesen. Da gibt es unheimlich viel Material dort. […]. Und je mehr ich gelesen habe, habe ich nur gespürt: Wow, das ist es! Genau das ist es! Und das ist genau das, was mich so brennend interessiert und hier gibt es noch eine tiefe, tiefe Wahrheit, die ich noch gar nicht begreifen kann.“ (Interview Yehuda, 24.2.2011)
Spiritualität und Esoterik – Fallbeispiel Myriam Auch Myriam berichtet von ihrer ‚spirituellen Wanderschaft‘, die sie in ihrer Darstellung des ersten Kabbalah-Centre-Kontaktes als ‚biographischen Höhepunkt‘ präsentiert: „Ich habe keine Ahnung gehabt von Religion, von Spiritualität […]. Und ich habe dann gesehen, dass es so eine Sehnsucht bei mir gibt, etwas mehr als alles sonst im Leben. […] So hat das angefangen, ich habe mir viel über Spirituelles, esoterische Sachen [Gedanken] gemacht bis ich zur Kabbala gekommen bin. […] durch ein Buch. […] von Rav Berg, zufällig sozusagen. Dann habe ich dieses Buch gelesen und das nächste Buch und das nächste Buch und alle Bücher gelesen und Kontakt geknüpft mit dem Kabbalah Centre und dann habe ich auf einmal gespürt, ich bin wieder zu Hause sozusagen. […]. Ich habe Antworten bekommen, deshalb lebe ich Kabbala nicht vom religiösen Aspekt, sondern vom spirituellen Aspekt.“ (Interview Myriam, 11.6.2013)
‚Spirituelle Wanderer‘ lassen sich diesen Ergebnissen gemäß auch außerhalb eines christlichen Kontextes konstatieren. Während allerdings die christlichen Wanderer ihre ‚spirituellen Erfahrungen‘ sowohl außerhalb als auch innerhalb des Christentums machen und „‚westliche‘ wie ‚östliche‘ Elemente in gleicher Weise in Denken und Praxis [Hervorh. im Original]“ (Engelbrecht 2009, 47) integrieren, lassen sich im Kontext des Kabbalah Centre gegenläufige Tendenzen feststellen. Sowohl bei den befragten jüdischen als auch bei den befragten nicht-jüdischen Akteuren kann die Tendenz beobachtet werden, innerhalb des Kabbalah Centre
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produzierte Narrative in die religiöse Selbstdarstellung aufzunehmen, in das Selbstbild zu integrieren und ‚alternative‘ Glaubensmuster ‚auszusondern‘. Die hier dargestellten jüdischen Akteure unterscheiden sich insofern von den nicht-jüdischen Akteuren, als diese die Vorstellungen und Praktiken, die das Kabbalah Centre anbietet, nicht als exotisch wahrnehmen, sondern jene für sie eine Reflexion der eigenen religiösen Provenienz darstellt. In diesem Kontext kann beispielsweise auch die Aussage von Myriam gelesen werden, die ihre Beschäftigung mit Kabbala im Rahmen des Kabbalah Centre als Gefühl „wieder zu Hause [zu sein]“ (Interview Myriam, 11.6.2013) beschreibt. Das Kabbalah Centre bietet so explizit ‚jüdischen Wanderern‘ einen Rahmen, rezente Spiritualitätskonzepte in die jüdische Praxis zu integrieren. Die Frage, inwiefern und ob die Partizipation am Kabbalah Centre das Ausüben der jüdischen Religion nachhaltig beeinflusst, konnte im Rahmen dieser Studie nicht geklärt werden. Allerdings kann ein temporärer Einfluss der Partizipation am Kabbalah Centre auf das Ausüben von jüdischen Praktiken und Riten – z. B. regelmäßiges Halten des Shabbats, koschere Ernährung, Feiern der jüdischen Fest- und Feiertage – festgestellt werden. Dennoch spielt in der narrativen Selbstdarstellung der jüdischen Akteure die Abgrenzung von der (jüdischen) Religion eine bedeutende Rolle: „Ich bin jüdisch, aber nicht religiös. Ich trage jetzt die Kippa und halte den Shabbat, aber nicht weil ich religiös bin, sondern weil ich sehe, was es in meinem Leben bewirkt. Wenn ich den Shabbat halte, habe ich mehr Energie für die Woche. […]. Es ist etwas Universelles, nichts Religiöses.“ (Interview Danijel, 4.7.2010)
Diese Ambivalenz zwischen religiöser Praxis und den damit einhergehenden Zuschreibungen und Deutungen stellt ein wesentliches Element der Selbstdarstellung des Kabbalah Centre dar, das auch in den Narrationen der Akteure zum Ausdruck kommt. Wie bereits aufgezeigt, geht mit der Abgrenzung von Religion die Betonung von Spiritualitätstopoi einher, die konstitutiv für die Identität der hier untersuchten Akteure sind.
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EINER SPIRITUELLEN I DENTITÄT
Innerhalb des Kabbalah Centre werden Spiritualitätstopoi rezipiert, die den rezenten Diskurs widerspiegeln und so konstitutiv für die religiösen Identitätskonstruktionen der Akteure sind. Neben dem Topos der spirituellen Suche, der bereits im oben diskutierten Teil dargestellt wurde, nimmt die Vorstellung einer spirituellen
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Entwicklung oder Transformation einen zentralen Stellenwert in der Selbstdarstellung der Akteure ein. Diese Vorstellung ist eng verknüpft mit der Idee der Reinkarnation, die in den Kabbalah-Centre-Konzepten von Bedeutung ist, sowie mit dem Glauben an eine auf dem ‚Ursache-Wirkungsprinzip‘ gründende Determinierung des menschlichen Lebens. Topoi der spirituellen Heilung und Transformation Gerade im gegenwärtigen religiösen Feld lässt sich zunehmend eine Kombination aus den oben angeführten religiösen Vorstellungen, therapeutischen Elementen und Selbstverwirklichungstopoi konstatieren (vgl. Rakow 2015). Im Kontext gegenwärtiger Spiritualitätsdiskurse sind Konzeptionen des ‚Selbst‘ und der Selbstoptimierung als das Zentrum des Interesses der Akteure besonders deutlich. Neben der Zunahme von Selbsthilfe-Ratgebern weisen vor allem inhaltliche Aspekte deutlich auf die Zentriertheit auf das Selbst in gegenwärtiger Spiritualität hin (vgl. Hazleden 2003). Religiöse Ideen und Praktiken werden in diesem Kontext zum Mittel der Selbstverwirklichung instrumentalisiert (vgl. Dawson 2011, 310f.): „Such is the self-orientated nature of this pursuit that prevailing narratives and customary practices are evaluated relative to their perceived support for or hindrance of individual fulfillment.“ (Ebd. 311)
Auch für den ‚spirituellen Wanderer‘ stellt das Thema Heilung einen Hauptmotor für dessen spirituelle Suche dar (vgl. Engelbrecht 2009, 56). Wie bereits im aufgezeigt wurde, nehmen Themen der Heilung und der Selbstverbesserung auch einen zentralen Stellenwert in der Selbstdarstellung des Kabbalah Centre ein: dieses präsentiert sich „als […] Weg zur Gestaltung eines besseren Lebens“ (Kabbalah Centre Germany 2014f): „Durch das Kabbalah Center erhält jeder Mensch Zugang zu den praktischen Werkzeugen und spirituellen Lehren der Kabbalah, um persönliche Veränderung und Transformation zu bewirken.“ (Ebd.)
Die Themen „Heilung und Selbstverbesserung“ können ebenso als konstitutives Merkmal in den narrativen Selbstdarstellungen der Akteure festgestellt werden. In den Interviews mit den Kabbalah-Centre-Akteuren steht die Annahme einer ‚teleologisch-spirituellen‘ Entwicklung im Fokus der narrativen Selbstdarstellung. Neben Aussagen von einzelnen Akteuren wie „jetzt bin ich ja schon viel weiter“
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(Mail Sonja, 1.6.2011) lassen sich therapeutische Tendenzen, denen die Annahme einer potentiellen Selbstverbesserung zugrunde liegt, auch auf der Seite der Kabbalah-Centre-Lehrer beobachtet werden. Yehuda erzählt in diesem Zusammenhang von der „Weiterentwicklung der einzelnen Studenten“ (Interview Yehuda, 24.2.2011), die im Mittelpunkt seiner Tätigkeit beim Kabbalah Centre steht. Kabbalistische Ideen und Praktiken werden so im Kontext des Kabbalah Centre zum Mittel der Selbstverwirklichung. Insbesondere das Motiv der Selbstverbesserung, welches den dort rezipierten Vorstellungen und Praktiken zugeschrieben wird, nimmt einen zentralen Stellenwert in den Narrationen der Akteure ein. So berichtet Sonja vom Wunsch, sich verändern zu wollen, „zu einem besseren Ich aufzusteigen“ (Mail Sonja, 1.6.2011). Kabbala bedeutet für sie: „Freude. […]. Wie das elektrische Licht, das den dunklen Raum erhellt“ (ebd.). Im Gegensatz zum Idealtypus des spirituellen Wanderers, welcher sich gegen „als exklusiv empfundene Wahrheitsbegriffe richtet, die nur ‚einen Weg‘ oder ‚eine Wahrheit‘[Hervorh. im Original]“ (Engelbrecht 2009, 38) abgrenzen, ist bei den Akteuren des Kabbalah Centre die Tendenz zu beobachten, den Exklusivitätsanspruch der im Kontext des Kabbalah Centre konstruierten Wahrheiten zu adaptieren, demzufolge jenes als „der eine“ Weg zur Selbstverbesserung, Heilung oder ‚spirituellen Transformation‘ dargestellt wird. So bezeichnet sich Thomas in diesem Kontext als „Gefundener“ (Interview Thomas, 11.12.2010): „[…] Suchender war ich. Es gibt ja diese ewigen Sucher, die immer suchen und dann vom einen zum anderen springen, dann mal Buddhismus machen, dann sich wieder für Hare Krishna interessieren.“ (Ebd.)
Der Aspekt der Heilung und der Selbstoptimierung nimmt einen wesentlichen Stellenwert in den Selbstnarrationen der Befragten ein. So stellen vor allem jene, die sich sehr stark mit den Konzepten des Kabbalah Centre identifizieren, ihren Kontakt mit dem Zentrum als wirkungsvoll im Sinne einer positiven Selbsttransformation dar. In den Darstellungen der dem Kabbalah Centre nahestehenden Akteure lassen sich demgemäß „kabbalistische Erfolgsstories“ feststellen, in denen eine negative Ausgangssituation, die in der emischen Darstellung der Akteure vielfach auch als Motor für die ‚spirituelle Suche‘ fungiert, dem positiven Istzustand gegenübergestellt wird. Den Lehren und Praktiken des Kabbalah Centre wird in diesem Kontext eine Selbstverbesserungsfunktion zugeschrieben.
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Die kabbalistische Erfolgsstory – Fallbeispiel Thomas „Ich war völlig planlos, habe selber nicht gewusst, wo ich stehe. […]. Und seitdem ich Kabbala mache, kann ich mich zentrieren. Das heißt, ich weiß, was wichtig ist im Leben. Mein Leben hat sich eigentlich auch um 180 Grad verändert, seit ich das mache. Also es ist schon so eine kleine, ich sag jetzt mal […] eine Erfolgsstory, wobei ich da ja jetzt erst am Anfang bin. Also ich bin noch längst nicht fertig. […]. Das ganze Leben läuft jetzt in erfolgreichen Bahnen.“ (Interview Thomas, 11.12.2010)
Lebensbewältigung durch Kabbala – Fallbeispiel Myriam „Ich war innerlich nicht zufrieden. […] Und heute […], mein Leben ist vielleicht nicht so einfach, aber ich kann mich nicht beklagen. […]. Herausforderungen kommen und so weiter, aber ich bin glücklich. Ich weiß, warum es passiert. […] und nicht nur mein Leben hat sich verändert, sondern die ganze Familie. Meine Veränderungen beeinflussen meine Umgebung.“ (Interview Myriam, 11.6.2013)
In beiden Darstellungen lässt sich deutlich ein Argumentationsmuster erkennen, das auch repräsentativ für die weiteren Interviews ist. Der Kabbalah-Centre-Beitritt wird in den Narrationen als markantes biographisches Ereignis bzw. als Wendepunkt dargestellt, mit dem eine positive persönliche Veränderung einhergeht. Insbesondere die Hinwendung zu religiösen Gemeinschaften als ein Versuch der Lebensbewältigung wurde in religionspsychologischen Modellen, wie dem „Copingmodell“ (vgl. Murken und Namini 2004) umfassend diskutiert. Auch im Zuge der Arbeit der Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ (vgl. O A 1998) wurde das „Konzept der so genannten ‚Kult-Bedürfnis-Passung‘ entwickelt, das die Angebote religiöser Gruppierungen in Hinblick auf die unterschiedlichen Lebensfragen und Lebenskrisen deutet“ (Murken 2009, 190). Eine hinreichende religionspsychologische Erforschung der religiösen Akteure – ob z. B. der Kontakt bzw. die Mitgliedschaft in einer religiösen Gruppierung zu einer tatsächlichen Lebensverbesserung führt – steht bislang noch aus (vgl. ebd.). Die Ergebnisse der Erhebungen in dieser Arbeit stellen daher erste Versuche dar, die individuellen Auswirkungen des Beitritts zu einer religiösen Gruppe, wie dem Kabbalah Centre, in Hinblick auf die narrativen Selbstdarstellungen der Akteure aufzuzeigen.
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Auch auf der Anbieter-Seite wird die „Selbstoptimierungsorientierung“ des Kabbalah Centre deutlich: „Das Kabbalah Centre hilft den Leuten, Kabbala in ihre Leben zu bringen und zu praktizieren. Das bedeutet: ‚Verändere dich!‘ Das hat mit Motivation zu tun und ja, das ist nicht einfach, aber dafür sehen die Leute, die dabei bleiben, Wunder.“ (Interview Myriam, 11.6.2013)
Während auf der Ebene der befragten Akteure der Beitritt entweder mit einer akuten persönlichen Krisensituation oder aber der Suche nach Antworten auf Sinnfragen einhergeht, knüpfen religiöse Anbieter gezielt an die unsicheren sozialen oder psychischen Lebenssituationen der Akteure an und richten ihr Angebot nach den Bedürfnissen der Akteure nach Sicherheit oder aber nach „psychischer Stabilisierung“ (Murken 2009, 191) aus. In diesem Kontext verwundert es nicht, dass Selbstverwirklichungs- und Heilungsangebote im Fokus des Angebotes des Kabbalah Centre stehen. Narrative der Selbstverbesserung und ‚spirituellen Heilung‘ stellen dementsprechend einen wesentlichen Aspekt zur Konstruktion religiöser Identität im Kontext des Kabbalah Centre dar. „Es wirkt“ – Spiritualität als Praxis Neben der bereits diskutierten Abgrenzung von „Religion“ und „Glaube“, welche bestimmende Elemente der Identitätskonstruktion der Akteure sind, wird ein weiterer zentraler Aspekt deutlich, der die Spiritualität der Kabbalah-Centre-Akteure kennzeichnet: die Erfahrungsorientierung, die vielfach mit dem Topos einer spirituellen Transformation einhergeht. „Die wachsende Bedeutung der Ebene der Erfahrung“ (Engelbrecht 2009, 51) wurde im gegenwärtigen religiösen Feld mehrfach konstatiert und konnte auch in dieser Studie als wesentliches Element religiöser Identitätskonzepte festgestellt werden. Die Abgrenzung zu Religion und Religiosität drückt sich vor allem in der Konstruktion einer spirituellen Identität aus, die sich in Hinblick auf den Praxisbezug auszeichnet, wie Thomas darlegt: „Spirituell zu sein heißt jetzt nicht bloß was annehmen, sondern es heißt, sich selbst zu hinterfragen, seine Handlungsweisen […] den Umgang mit der Welt.“ (Interview Thomas, 11.12.2010)
An einer anderen Stelle beschreibt Thomas seine Erfahrung im Kabbalah Centre folgendermaßen:
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„Das war für mich eine Offenbarung. […] ich habe es wieder gespürt, die Wahrheit, die dahinter steckt, diese ganze Thematik, das Aktions-Reaktions-Prinzip. Das ist ja wirklich nur eine Wissenschaft. Das hat ja nichts mit Glauben zu tun oder mit Esoterik oder so was, sondern es ist eine ganz nachvollziehbare Wissenschaft. Und die kannst du nutzen. Und das ist mir da zum allerersten Mal klar geworden, dass diese ganzen Werkzeuge, die man nutzen kann, einen dann dahin bringen, wo man eigentlich hin will.“ (Ebd.)
Hier wird zudem die Rhetorik des Kabbalah Centre von den religiösen Praktiken als „Werkzeuge“ deutlich. Den jüdischen Gebeten, Praktiken und Ritualen sowie den hebräischen Buchstaben wird eine besondere ‚universale‘ Wirkkraft zugeschrieben, die sich in der Bezeichnung als „Werkzeuge“ verdichtet; auf die Frage, was sie am Kabbalah Centre besonders anziehend findet, antwortet Pamina, dass „man da Werkzeuge bekommt, also diese aramäischen Buchstaben zum Beispiel, und mit denen arbeiten kann“ (Interview Pamina, 3.6.2010). Die Wirkweise der kabbalistischen Werkzeuge beschreibt sie folgendermaßen: „Also, es [das Leben] ist ruhiger geworden, nicht mehr so impulsiv. Man fällt nicht mehr so leicht in die Opferrolle. Man übernimmt für vieles die Verantwortung, wo man früher die Verantwortung abgegeben hat an andere“ (ebd.). Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass traditionelle, jüdische Gebete wie das Ana Beco’ach (vgl. The Kabbalah Centre International Inc. 2011, 9f.), die in die Kabbalah-Centre-Praxis integriert werden, auch von den nicht-jüdischen Akteuren rezipiert und in die Alltagspraxis aufgenommen werden und dass ihnen eine besondere Wirkkraft zugeschrieben wird. So geben einige Akteure an, mehrere Stunden wöchentlich bis täglich in das Rezitieren oder Scannen dieser Gebete zu investieren. Zu betonen ist hierbei die Tatsache, dass keiner der interviewten nicht-jüdischen Akteure hebräische Sprachkenntnisse besitzt. Das heißt also, dass dem rationalen Verständnis des Textes eine marginale Bedeutung zugesprochen wird, während die ‚gefühlte‘ Wirksamkeit betont wird: „Wenn du mal in ein tiefes Loch reinfallen solltest oder es passiert irgendetwas, was dir sehr zu schaffen macht, du kommst viel, viel schneller da wieder raus. Was früher Wochen, Monate gedauert hat, kannst du jetzt in Stunden und Tagen wieder zu den Akten legen. Dinge, die im Außen passieren, ziehen dich nicht mehr so runter.“ (Interview Pamina, 3.6.2010)
Die These, dass religiöse Akteure je nach Nähe zum Kabbalah Centre und Häufigkeitsgrad der Partizipation kabbalistische Vorstellungen und Praktiken in ihre Selbstdarstellung integrieren, wurde im Zuge der Befragung bestätigt. Insbesondere bei jenen Akteuren, die auch in geographischer Nähe zu einem ‚Kabbalah-
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Centre-Standort‘ – in Deutschland ist das derzeit in Berlin – leben, kann eine tiefgreifende Integration kabbalistischer Praktiken und Vorstellungen konstatiert werden: „[…] ich fange den Tag jetzt erst mal mit den morning blessings an. Und ich mach das Ana Beco’ach und ich mach die 72 Namen. Ich wache morgens auf, und das ist bei mir schon so drin, sobald ich aufwache […] – es gibt so eine Morgenmeditation bevor du aufstehst, bevor du den Fuß aus dem Bett raus stellst. […] Es vergeht kein Morgen, an dem ich nicht die Augen aufmache und das allererste was ich denke ist [diese Meditation].“ (Interview Nora, 12.6.2013)
Im Falle von Nora wird die Integration kabbalistischer Praktiken in den Lebensalltag besonders offensichtlich. In der narrativen Selbstdarstellung werden die kabbalistischen tools zu einem grundlegenden Baustein ihrer spirituellen Identität verdichtet. Durch die Integration dieser Praktiken wird diesen gleichzeitig eine positive Wirkung auf das alltäglichen Wohlbefinden zugeschrieben. Während ‚Religion‘ als eine vom Alltag getrennte kognitive Auseinandersetzung mit verschiedenen Vorstellungen dargestellt wird‚ wird Spiritualität als Praxis dargestellt, der eine bedeutende und positive Wirkkraft auf das gesamte Leben zugesprochen wird. In diesem Zusammenhang wird die Verortung der Akteure im gegenwärtigen ‚Spiritualitätsdiskurs‘ besonders deutlich, in dessen Kontext gegenwärtige‚spirituelle‘ Identität ausgehandelt wird.
R EINKARNATIONSVORSTELLUNGEN IN DER D ARSTELLUNG DER AKTEURE Reinkarnation als Baustein religiöser Identität im Kabbalah Centre Reinkarnationsmodelle, die ein wesentliches Element der Kabbalah-Centre-Lehre darstellen, werden auch von den Akteuren rezipiert und in deren biographische Selbstdarstellung integriert. In den narrativen Selbstdarstellungen des Kabbalah Centre wird der Selbstoptimierungscharakter deutlich, der bezeichnend für die westliche Transformation dieser religiösen Traditionen ist: „Jede Seele ist auf diese Welt gekommen mit einer bestimmten Aufgabe, mit einer bestimmten Sache zu tun, zu korrigieren, zu verbessern. […] Kabbala lehrt über Reinkarnation – Kabbala sagt, wir sind nicht nur einmal in dieser Welt. Wir kommen, machen etwas, und
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kommen und kommen nochmal, weil wir wahrscheinlich etwas nicht geschafft haben, es richtig zu korrigieren. Es gibt so ein Wort, das Tikkun heißt, jeder Mensch hat seinen Tikkun. Das ist auch wie Karma, aber es ist viel mehr. Tikkun, das ist etwas, das jeder Mensch hat, um es zu korrigieren. Das kann sein: Angst, Neid, Kontrolle […] Jeder hat etwas, weshalb er hierhergekommen ist, um es zu korrigieren.“ (Interview Myriam, 11.6.2013)
In dieser Interviewpassage wird die von der Akteurin aufgezeigte Analogie von Karma- und Tikkun-Ideen deutlich. Vor dem Hintergrund der Vorstellung, es gäbe eine dem Menschen innewohnende Essenz, die als Persönlichkeit den Tod überdauert und wiederverkörpert wird, wird im Kontext westlicher Reinkarnationsmodelle das Karma-Konzept rezipiert und „weitgehend positiv umgedeutet als gleichsam ‚Lern- und Aufgabenpäckchen‘, das jeder auf dem Weg seiner individuellen Entwicklung durch verschiedene Leben hindurch zu tragen und dabei abzuarbeiten habe [Hervorh. Im Original]“ (Miczek 2011, 205). Im Kontext des Kabbalah Centre wird die in den Lehren von Isaak Luria zentrale und komplexe Idee des Tikkun transformiert, mit der asiatischen Karma-Idee verknüpft und im Rahmen des westlichen Reinkarnationskonzeptes ausgehandelt. Wenngleich diese Vorstellung auf ein kabbalistisches Konzept des 16. Jahrhunderts zurückzuführen ist, ist die Deutungszuschreibung des Kabbalah Centre auf einer Ebene angesiedelt, die den Antagonismus der Kabbalah-Centre-Lehrer zu diesen frühen kabbalistischen Ideen besonders deutlich werden lässt. In der lurianischen Kabbala betont das Konzept des Tikkun den kollektiven und spirituellen Aspekt der jüdischen Gemeinschaft, welche aktiv am Erlösungsprozess der Welt und an der „spirituellen Vervollkommnung von Schöpfer und Schöpfung, von innerlicher göttlicher Harmonie und Erhebung der Welt in ihre spirituelle Wirklichkeit“ (Necker 2008, 28) teilhat, während die Selbstoptimierung der einzelnen Akteure durch die Reparatur des Tikkuns im Zentrum der Kabbalah-Centre-Idee steht. Das Reinkarnationsmotiv, das sowohl auf kollektiver als auch auf personaler Ebene einen Baustein zur Konstruktion religiöser Identität im Kontext des Kabbalah Centre darstellt, ist auch für die Aushandlung der Frage von ‚jüdischer Identität‘ relevant. Da sich der Großteil der Anhänger des Kabbalah Centre aus nichtjüdischen Akteuren zusammensetzt, kommt dem Reinkarnationskonzept die Funktion eines Kompensationsmodus gleich. Das Reinkarnationsmodell wird in der Rhetorik des Kabbalah Centre im Allgemeinen herangezogen, um Fragen nach sozialer und ökonomischer Ungleichheit, physischen Gebrechen, Schicksalsschlägen etc. zu klären oder aber um die Frage nach jüdischer Identität auszuhandeln. Innerhalb eines Rahmens, in dem Reinkarnation als mögliches Erklärungsmodell diskutiert wird, wird auch die Frage nach jüdischer Identität neu ausgehandelt. In diesem Zusammenhang spielt die Rhetorik von der „jüdischen Seele“ eine
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zentrale Rolle in den Narrativen der Kabbalah-Centre-Akteure. Diesen Narrativen zufolge können nicht-jüdische Menschen eine „jüdische Seele“ besitzen und aufgrund verschiedener Ursachen in ihrem Vorleben in diesem Leben nicht-jüdisch sein. Ein Teilnehmer des Kabbalah Centre, der selbst jüdisch ist, erklärt dies im Interview folgendermaßen: „Vielleicht fühlt man sich jüdisch und die Seele ist jüdisch. Wenn man sich in seiner Seele jüdisch fühlt, sollte man auch zum Judentum konvertieren, aber man muss nicht konvertieren, um beim Kabbalah Centre zu sein“ (Interview Mordechai, 20.6. 2010). Kabbalistisches Seelen-Modell Die Vorstellung einer jüdischen Seele ist eng verbunden mit dem kabbalistischen Seelen-Konzept, demzufolge der Mensch aus drei Seelenaspekten bestehe (nefesch, ruah, neshamah). In Anlehnung an Platons Seelenkonzept entwickelte Sa’adiah Gaon (882-942), einer der ersten mittelalterlichen jüdischen Philosophen, die Vorstellung, dass nefesh jener Aspekt sei, der mit dem physischen Körper verbunden ist, wobei ruah den Aspekt der Emotionen und neshamah den göttlichen Aspekt des Menschen darstelle (vgl. Giller 2011, 89). Diese Vorstellung, die im Laufe der Jahrhunderte unterschiedlich ausgehandelt wurde, stellt ein wesentliches Element jüdisch-kabbalistischer Postmortalitätsvorstellungen dar. Im Postmortalitätskonzept des Zohar sei nefesh beispielsweise jener Aspekt der Seele, der als physischer Seelenaspekt am Grab des Verstorbenen gegenwärtig ist,7 während ruah nach dem Tod im Garten Eden verweile und neshamah als göttlicher Seelenaspekt zu seinem göttlichen Ursprung zurückkehre (vgl. ebd. 90).8 Insbesondere die Frage nach der Existenz des göttlichen Seelenaspektes (neshamah) bei Nicht-Juden wird in kabbalistischen Abhandlungen diskutiert. Zudem findet die Idee der „righteous gentiles“ (hasidei umot ha-olam) (ebd. 93) Verbrei-
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Die aus dieser Vorstellung entwickelte Praxis der Pilgerfahrten zu den Gräbern der „Gerechten“ (zaddikim), die als Portale zu Gott betrachtet wurden, stellt auch heute noch eine gängige Praxis in bestimmten jüdischen Strömungen dar und nimmt in den Praktiken des Kabbalah Centre einen zentralen Stellenwert ein. Im Zuge der Feldforschung in Israel hat die Forscherin u. a. an einer „Pilgerfahrt“ nach Hebron teilgenommen, wo am Grab der „Patriarchen“ (Isaak, Abraham, Jakob, Sarah) ein kabbalistisches Ritual durchgeführt wurde.
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In der jüdischen Praxis wird deshalb von den Angehörigen eines Verstorbenen täglich mindesten elf Monate das Heiligungsgebet (Kaddisch) rezitiert, dass der Seele des Verstorbenen (neshamah) den Aufstieg zu Gott erleichtern soll (vgl. Giller 2011, 89).
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tung, der zufolge nur gerechte ‚Heiden‘ eine Seele oder einen bestimmten Seelenaspekt (neshamah) besitzen (vgl. ebd.). Daran knüpft ebenso die Frage nach der Qualität der Seelen von Konvertiten an, die nach jüdischem Gesetz auch als Juden gelten. Eine neshamah erhalten Nicht-Juden der kabbalistischen Tradition zufolge erst während oder nach der Konversion (vgl. ebd. 92). Somit stelle sie einen ‚Identitätsmarker‘ jüdischer Identität dar. Umgekehrt könne, wie in der Interviewpassage oben deutlich wird, eine Person, die eine jüdische Seele besitzt, in diesem Leben auch nicht-jüdisch sein. Reinkarnation als Identitätsmarker Das große Interesse der Akteure an Reinkarnationskonzepten wird in einigen Interviews deutlich. Yehuda führt beispielsweise das Narrativ der Seelenwanderung als erstes Argument in seiner Darstellung über seine Motive bezüglich der Partizipation am Kabbalah Centre an: „Da habe ich zufällig die Website vom Kabbalah Centre entdeckt und habe angefangen, zu lesen. Da gibt es unheimlich viel Material dort. Über alles Mögliche: Seelenwanderung, über die Feiertage, über verschiedene kabbalistische Themen. Und je mehr ich gelesen habe, hab ich nur gespürt: Wow, das ist es!“ (Interview Yehuda, 24.2.2011)
Allgemein betrachtet stellt das Motiv der Seelenwanderung, das eng mit der Vorstellung einer ‚schicksalshaften‘ Determinierung des menschlichen Lebens, wie dies in den Tikkun-Vorstellungen zum Ausdruck kommt, und einer teleologischen Weltsicht9 einhergeht, den Rahmen dar, innerhalb dessen die Akteure des Kabbalah Centre ihre religiöse Identität konstruieren. Die Konstruktion von Vorleben wird in diesem Kontext zum zentralen Element religiöser Identität.
D IE JÜDISCHE I DENTITÄT DER AKTEURE : D IE I DENTIFIKATION MIT DEM J UDENTUM Da das Kabbalah Centre eine religiöse Gruppierung jüdischer Provenienz ist, in deren Zentrum jüdische Traditionen und Vorstellungen stehen, wird in dieser Studie explizit nach der Beziehung der religiösen Akteure zum Judentum gefragt.
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Eine teleologische Weltsicht wird beispielsweise in Aussagen wie „jeder kommt mit einer bestimmten Aufgabe auf die Welt“ (Interview Myriam, 11.6.2013, 5) oder „jetzt bin ich schon viel weiter“ (Mail Sigrid, 1.6.2011) deutlich.
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Dabei wird erstens berücksichtigt, inwiefern das Interesse am Judentum ein Motiv für die Teilnahme am Kabbalah Centre darstellt, und zum anderen, inwiefern sich das Verhältnis zum Judentum durch die Teilnahme verändert. Folgende Forschungsfragestellungen werden in dieser Arbeit reflektiert: • Wie integrieren die Akteure jüdische und kabbalistische Motive in ihre Identi-
tätskonstruktion und welchen Stellenwert haben diese für die Konstruktion der religiösen Identität? • Suchen nicht-jüdische Menschen in Deutschland über das Kabbalah Centre nach Anknüpfungspunkten an das Judentum? • Besuchen Akteure mit jüdischem Hintergrund das Kabbalah Centre, weil sie dort eine Verbindung zwischen Judentum und Spiritualität zu finden meinen? Insgesamt können zwei Tendenzen bei den Akteuren festgestellt werden: • Ambivalente Beziehung zum Judentum • Identifikation mit dem Judentum
In den narrativen Darstellungen überwiegt ein ambivalentes Verhältnis zum Judentum. Während bei all jenen Akteuren, die an den Aktivitäten des Kabbalah Centre teilnehmen, eine starke Integration jüdischer Vorstellungen und Praktiken zu konstatieren ist, ist gleichzeitig eine Tendenz der ‚Universalisierung‘ jener Vorstellungen und Praktiken feststellbar, die mit einer Ablösung von der (jüdischen) Religion einhergeht (vgl. Altglas 2011b). Folgende Kennzeichen für die Integration jüdischer Vorstellungen und Praktiken werden in den Interviews deutlich: • • • • • •
Teilnahme am Shabbat Teilnahme an den jüdischen Fest- und Feiertagen Koschere Ernährung Jüdische und kabbalistische Gebete und Meditationen Überlegungen zur Konversion zum Judentum Hebräische Sprache
Der Großteil der befragten nicht-jüdischen Akteure gibt im Interview an, mehrmals pro Jahr bis regelmäßig den Shabbat zu halten. Hier spielt wiederum die Nähe zum ‚Kabbalah-Centre-Standort‘, der sich in Berlin befindet, eine wesentliche Rolle. Die in Berlin lebenden Personen halten wöchentlich den Shabbat im Kontext der ‚Kabbalah-Centre-Community‘:
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„So nach und nach haben dann [...]10 auch irgendwann mal überlegt, ob sie die Leute, die wirklich großes Interesse daran haben, mal nach Hause zum Shabbat einzuladen. Also entweder Freitagabend oder Samstag“ (Interview Nora, 12.6.2013).
Alle der befragten Akteure, die regelmäßig an den Aktivitäten des Kabbalah Centre teilnehmen, erklären, mehrmals an internationalen Veranstaltungen, in deren Kontext die wichtigen jüdischen Fest- und Feiertage zelebriert werden, oder an Shabbat-Veranstaltungen – meist in London oder Tel Aviv – teilgenommen zu haben: „[…] und hab dann natürlich auch London ständig besucht [zum Shabbat], also ich war dann mehrfach in London […] drei, viermal im Jahr etwa. […] In Israel war ich einmal.“ (Interview Thomas, 11.12.2010)
Die Teilnahme an den internationalen Events hat neben der Integration der kabbalistischen Praktiken in den Alltag, der Teilnahme an Zohar-Lesungen und Kabbala-Kursen einen zentralen Stellenwert für die Kabbalah-Centre-Akteure: „Durch diesen Student-Support hat man mich eingeladen, zu einem Shabbat zu kommen […] in London. […]. Und danach bin ich nach Chicago geflogen zu Rosch Haschana […]. Und dann war ich […] Rosch Haschana in Tel Aviv. Und zwischendurch halt immer mal wieder in London zum Shabbat und zu Chanuka und Purim und Pessach.“ (Interview Pamina, 3.6.2010)
Interessant ist die Feststellung, dass die jüdischen Gebote – wie z. B. das Einhalten der jüdischen Speisevorschriften (Kaschrut) – in der narrativen Selbstdarstellung betont wird. So berichtet Kathrin, dass man „bei mir zuhause […] auch komplett schon koscher essen [kann]. Ich hab schon koscheres Besteck, koscheres Geschirr und einen koscheren Topf“ (Interview Kathrin, 27.3.2011). In Bezug auf das Einhalten der jüdischen Gebote wird die Abgrenzung vom ‚religiösen‘ Judentum und gleichzeitig auch der Einfluss rezenter Spiritualitätsdiskurse auf die religiöse Identitätskonstruktion der Akteure deutlich: „Ich lebe Kabbala nicht vom religiösen Aspekt, sondern vom spirituellen Aspekt. […]. Was alle religiösen Leute praktizieren, wie zum Beispiel den Shabbat halten, koscher essen. All diese Sachen mache ich genauso, aber ich mache das nicht, weil ich Angst habe, bestraft zu
10 An dieser Stelle wurde aufgrund der Gewährleistung der Anonymität der Personen die jeweiligen Namen durch […] ersetzt.
238 | K ABBALA UND RELIGIÖSE I DENTITÄT werden, oder weil das so sein soll und wir müssen, oder so religiöse Gründe, sondern weil ich es verstehe. […]. Das ist ein Prozess, der sich so langsam entwickelt durchs Verstehen, durch Begeisterung, was es bedeutet – das ist der spirituelle Aspekt. Und das ist für mich jetzt Kabbala in Verbindung zu Religion.“ (Interview Myriam, 11.6.2013)
Die ambivalente Beziehung der Akteure zum Judentum wird in der aktiven und regelmäßigen Teilnahme an den jüdischen Traditionen und am Ausüben der jüdischen Praktiken im Verhältnis zu den Zuschreibungen an diese Praktiken und Traditionen deutlich. Die jüdischen Praktiken und Traditionen werden von den Akteuren aus der jüdischen Tradition enthoben und ‚universalisiert‘ (vgl. Altglas 2011b). Neben der Betonung der Wirksamkeit der jüdischen Praktiken, die der Ausübung der Praktiken aus religiöser Überzeugung gegenübergestellt wird, betonen die Akteure meist die Darstellung der jüdischen und kabbalistischen Praktiken als „Werkzeuge“, die zur Selbstoptimierung und Heilung zum Einsatz gebracht werden: „Und der Zohar ist eben […] nur das Werkzeug. […] wie die ganzen [jüdischen] Feiertage, das sind auch Werkzeuge, wie die Tefilin […].“ (Interview Thomas, 11.12.2010)
Während im Kontext des Kabbalah Centre jüdische Vorstellungen und Praktiken ‚universalisiert‘ werden, wird Kabbala gleichzeitig zur ‚Meta-Religion‘ erhoben: „Im Prinzip ist die Kabbala die Religion oder die Weisheit, aus der sich sämtliche Religionen dann mehr oder weniger entwickelt haben“ (Interview Nora, 12.6.2013). In einem anderen Interview drückt sich die Befragte dazu folgendermaßen aus: „Kabbala [ist] wohl nicht unbedingt ans Judentum geknüpft, auch älter als das Judentum, geht noch weiter zurück und ich würde jetzt sagen, man muss sich nicht zwangsläufig dem Judentum verbunden fühlen, um Zugang zu Kabbala zu kriegen. Das sind universelle Werte.“ (Interview Carina, 2.6.2013)
Diese Universalisierung wird ebenso in der Bedeutungstransformation ‚heiligen‘ Texte, Gebete und Meditationen sichtbar. Den hebräisch-aramäischen Texten – wie z. B. den Texten des Zohar – wird eine bestimmte „Energie“ zugeschrieben, die jenseits des kognitiven Textverständnisses diesen Texten zugrunde liege. In einer ähnlichen Weise werden auch der jüdische Shabbat und die Rituale und Gebete während des Shabbats von den Akteuren transformiert. Die Rhetorik von „Energien“, die im Kontext des Kabbalah Centre deutlich wird, weist auch hier auf den Einfluss des rezenten Spiritualitätsdiskurses hin. Die
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Akteure konsumieren als „soziale Akteure“ (Keller 2005, 65) die „Identitätsangebote“ (ebd.) des Kabbalah Centre, welche als „Muster der Subjektivierung“ (ebd.) in Diskursen konstruiert werden, die sich „als Anstrengungen verstehen, Bedeutungen bzw. allgemeiner: mehr oder weniger weit ausgreifende symbolische Ordnungen zu erzeugen, zu stabilisieren und dadurch einen verbindlichen Sinnzusammenhang, eine Wissensordnung in sozialen Kollektiven zu institutionalisieren.“ (Ebd. 49)
Das Zusammenspiel unterschiedlicher (religiöser) Diskurse verdichtet sich auf der Ebene der Akteure zu einem kongruenten Gesamtbild, welches die religiöse Identität der Akteure reflektiert. Aus diesem Grund ist anzunehmen, dass selbst in nach außen relativ geschlossenen Gruppierungen wie dem Kabbalah Centre, das sich auf eine eigene Lehre bezieht, auch Elemente aus anderen rezenten (religiösen) Diskursen rezipiert werden, wie es hier am Bespiel der Integration der Rhetorik von „Energien“ besonders deutlich wird. „Der Shabbat wird nur dazu benutzt, um sich mit der Energie des Shabbats zu verbinden und es werden Meditationen gemacht. […] und auch die ganzen Meditationen, Gebete dienen nur einem Zweck, nämlich sich mit der Energie und dem Licht Gottes zu verbinden und das anschließende Essen dient eben dazu auch, das Ganze zu manifestieren. Und das wird mit einer ganz anderen Erkenntnis und Bewusstsein gemacht und ist nicht einfach nur so ein Ritual.“ (Interview Pamina, 03.06.2010)
Auch an dieser Stelle wird die Abgrenzung zur Religion und die Ablehnung dieser deutlich. Die Akteurin weist darauf hin, dass im Kabbalah Centre die Rituale „nicht einfach nur so“ (ebd.) durchgeführt werden, sondern mit „einer ganz anderen Erkenntnis und Bewusstsein“ (ebd). Trotz der ambivalenten Haltung der Akteure zum Judentum, die durch eine ablehnende Haltung gegenüber traditionellen Religionen und religiösen Institutionen bedingt ist, schließt der Großteil der nicht-jüdischen Befragten eine Konversion zum Judentum nicht aus oder steht dieser sehr zugeneigt gegenüber; einige der Akteure „würde(n) es nicht ausschließen, dass es […] passieren kann“ (Interview Thomas, 11.12.2010), und geben an, es sich grundsätzlich vorstellen zu können: „Ich kann mir das [eine Konversion zum Judentum] grundsätzlich schon vorstellen“ (Interview Carina, 2.6.2013). Die Ausgangsfrage, ob die Akteure des Kabbalah Centre durch jenes Nähe zum Judentum suchen, kann allerdings nur teilweise bestätigt werden. Der Großteil der befragten nicht-jüdischen Akteure gibt an, vor dem Kontakt zum Kabbalah
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Centre kein explizites Interesse am Judentum gehabt zu haben. Allerdings ist zu konstatieren, dass durch den Kontakt – sowohl für jüdische als auch für nichtjüdischen Akteure – „der Bezug zur jüdischen Religion stärker geworden“ (Interview Yehuda, 24.2.2011) ist. Ein anderer Befragter äußert sich im Interview dazu folgendermaßen: „Du beschäftigst dich automatisch damit [mit dem Judentum]. […] Du kommst ja ständig in Kontakt mit orthodoxen Juden, wie auch der Lebensart und den jüdischen Feiertagen. Nur, dass du die Sichtweise halt ein bisschen anders legst auf die Feiertage.“ (Interview Thomas, 11.12.2010)
Eine der befragten Akteurinnen betont explizit, dass sie „über Kabbala zur jüdischen Religion“ (Interview Carina, 2.6.2013) gefunden habe und sich auch unabhängig vom Kabbalah Centre für die jüdische Religion interessiere. So geht Carina beispielsweise am Shabbat in die Synagoge und gibt an, den Davidstern als Identifikationsmerkmal mit dem Judentum zu tragen (vgl. ebd.). Sie berichtet außerdem von einer „Affinität zum Judentum“ (ebd.) bereits vor ihrem Interesse an Kabbala, das sie in ihrer narrativen Darstellung auf eine intensive Auseinandersetzung und Aufarbeitung der deutsch-jüdischen Vergangenheit zurückführt (vgl. ebd.). Insgesamt kann also festgestellt werden, dass die Akteure des Kabbalah Centre nicht vordergründig eine Verbindung zur jüdischen Religion suchen, der Bezug und das Interesse am Judentum durch den Kontakt zum Kabbalah Centre jedoch gestärkt wird. Es ist also eine Korrelation zwischen dem Kabbalah-CentreKontakt und dem Interesse am Judentum feststellbar. Andererseits identifizieren sich die jüdischen Akteure insbesondere aufgrund der jüdischen Provenienz der Praktiken und Narrative des Kabbalah Centre mit dieser Gemeinschaft. Es kann insgesamt eine Intensivierung der Beschäftigung der jüdischen Akteure mit ihrer Herkunftsreligion aufgrund des Kabbalah-Centre-Kontaktes konstatiert werden.
D IE I DENTIFIKATION DER AKTEURE MIT DEM K ABBALAH C ENTRE Im folgenden Teil wird zusammenfassend dargestellt wie sich die Akteure mit den Praktiken und Narrativen des Kabbalah Centre identifizieren und welchen Einfluss die Partizipation auf die Konstruktion der religiösen Identität der Akteure ausübt.
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Aufgrund des Anspruches auf Exklusivität, der, wie bereits aufgezeigt wurde, konstitutiv für die Identität des Kabbalah Centre ist, können bei den Akteuren zwei Typen oder Tendenzen festgestellt werden, die sich in der Konstruktion der religiösen Identität widerspiegeln. Der erste Typ entspricht dem ‚Idealtypus‘ des „spirituellen Wanderers [, der in einem] ausprobierenden und auswählenden ‚Suchmodus‘ [Hervorh. Im Original]“ (Engelbrecht 2009, 35) der religiösen Akteure deutlich wird, in dem die ‚Selbstermächtigung‘ als „Entschlossenheit, sich nicht in die eigene spirituelle und ethische Lebensgestaltung hineinreden zu lassen“ (ebd. 78), im Vordergrund steht. Daneben kann die Tendenz beobachtet werden, dass jene, die sehr häufig an den Angeboten teilnehmen, ihre Beschäftigung mit Kabbala und dem Kabbalah Centre als Endstation ihrer spirituellen Suche darstellen. So beschreibt Sonja ihren Kontakt zum Kabbalah Centre folgendermaßen: „An diesen Punkt gelangt man, wenn man sich mit der Lehre der Kabbala beschäftigt und es ist der Moment[,] an dem ich erkannt habe, dass meine spirituelle Suche ein Ende hat, ich angekommen bin.“ (Mail Sonja, 1.6.2011)
Als „Gefundener“ (Interview Thomas, 11.12.2010) bezeichnet sich auch Thomas, dessen „Leben […] sich eigentlich auch um 180 Grad verändert [hat], seit [er] das macht“ (ebd.). Neben diesen narrativen Selbstzuschreibungen kann eine Identifizierung der Akteure mit dem Kabbalah Centre durch die Adaption und Rezeption der oben dargestellten Narrative und Topoi des Kabbalah Centre festgestellt werden. Dabei überwiegen in den Narrationen der Akteure vor allem Zuschreibungen an Kabbala, die die Rhetorik des Kabbalah Centre reflektieren und die Sonderstellung von Kabbala und dem Kabbalah Centre hervorheben. In den Interviews wird deutlich, dass sich bestimmte Narrationen besonders oft wiederfinden. Am häufigsten kann der Topos von Kabbala als „älteste Form spiritueller Weisheit“ (Kabbalah Centre Germany 2014g) und Universallehre festgestellt werden. Die Art und Weise der Rhetorik und Argumentationsstrategien in den Interviews spiegelt die Rhetorik des Kabbalah Centre wider, wie sie in den Publikationen und den öffentlichen Web-Präsentationen feststellbar sind. Auszug aus dem Interview mit Pamina, 3.6.2010: „Ich denke mal, dass das [Kabbala] der Ursprung ist, wo sich alles daraus ableitet, alle anderen Lehren. Es gibt sehr viele interessante Lehren oder spirituelle Gesichtspunkte, die mit Sicherheit alle richtig sind. Aber warum soll ich mich mit irgendwelchen Kopien abgeben,
242 | K ABBALA UND RELIGIÖSE I DENTITÄT wenn ich mich mit dem Original beschäftigen kann? Und […] es beeindruckt mich sehr, dass das schon so alt ist, dieses Wissen.“ (Interview Pamina, 3.6.2010)
Der Aspekt der Universallehre wird auch im Kontext der Aushandlung des Spiritualitätsbegriffes innerhalb des Kabbalah Centre deutlich, wenn der KabbalahCentre-Lehrer Yehuda „Kabbala als die Grundlage für die gesamte Spiritualität, die du in sämtlichen Religionen finden kannst“ (Interview Yehuda, 24.2.2013) bezeichnet. Des Weiteren erklärt dieser im Interview, dass „es keine andere Lebensweisheit oder […] spirituelles System [gibt], das die Werkzeuge und das Wissen – vor allem diese Vollkommenheit – bieten kann wie die Kabbala“ (ebd.). Neben der Konstruktion von Kabbala als Universallehre wird in den Interviews die Annahme der Wissenschaftlichkeit von Kabbala im Sinne von empirischer Nachprüfbarkeit der vom Kabbalah Centre angebotenen Techniken besonders betont: „Das [Kabbala] ist ja wirklich eine Wissenschaft. Das hat nichts mit Glaube zu tun oder mit Esoterik oder so was, sondern es ist eine nachvollziehbare Wissenschaft“ (Interview Thomas, 11.12.2010). Von der „Wissenschaft Kabbala“ (Interview Maria, 6.6.2013) spricht auch die Akteurin Maria, um Kabbala von der jüdischen Religion abzugrenzen: „Die Wissenschaft [Kabbala] an sich hat mich nicht abgestoßen. Ich habe jetzt nur meine eigene, moderne Einstellung dazu gefunden. Ich habe also die Wissenschaft [Kabbala] adaptiert, aber das Judentum und die Traditionsvermittlung abgelehnt“ (ebd.). Neben diesen Zuschreibungen an Kabbala, die das Selbstverständnis und die Selbstdarstellung des Kabbalah Centre widerspiegeln, integrieren die befragten Akteure ebenso die bereits aufgezeigten Geschichtskonstruktionen des Kabbalah Centre in ihre Narrationen: „Das ist mehr oder minder die Geheimlehre, die sie in die Öffentlichkeit gebracht haben, eben über Rav Ashlag, Brandwein und jetzt Rav Berg. Der ist auch in direkter Folge von diesen Kabbalisten“ (Interview Thomas, 11.12.2010). Neben der Identifikation der Akteure mit unterschiedlichen Kabbalah-CentreNarrativen wird in dieser Studie der Fokus auf die Integration kabbalistischer Praktiken in den Alltag und die narrative Darstellung der Akteure in Hinblick darauf gerichtet. Besonders die Akteure, die regelmäßig am Angebot des Kabbalah Centre teilnehmen, integrieren dessen Techniken und Praktiken in ihren Alltag. Dabei stellen die kabbalistischen Gebete einen Indikator für die Identifikation der Akteure mit dem Kabbalah Centre dar. Während jene Akteure, die nur gelegentlich an den Veranstaltungen des Kabbalah Centre teilnehmen, mehr Interesse an dessen inhaltlichem Angebot zeigen als an den Praktiken, integrieren jene, die sehr häufig an Veranstaltungen teilnehmen und zudem sehr deutlich in die deutsche Community integriert sind, auch kabbalistische Praktiken, die von den Akteuren
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als „tools“ bezeichnet werden, in ihren Alltag: „Ich bete jeden Morgen und jeden Abend das Ana Beco’ach, das sind zehn Minuten. […] Jeden Morgen, jeden Abend. […] Wenn ich es schaffe […] scanne ich noch im Zohar“ (Interview Kathrin, 27.03.2011). Ein anderer Befragter berichtet ebenfalls davon, regelmäßig die „Werkzeuge“ des Kabbalah Centre anzuwenden: „Früh morgens benutze ich auch ein paar Werkzeuge, zum Beispiel die 72 Namen Gottes. […]. Ich mach das konsequent jeden Tag“ (Interview Eliyahu, 06.06.2013). Auch Thomas gibt im Interview an, täglich seine Meditationen zu machen (vgl. Interview Thomas, 11.12.2010), denen er eine besondere Wirksamkeit zuschreibt: „Was man auch merkt, wenn man scannt und dann den Zustand vorher und nachher vergleicht, dann merkt man das auch häufig, dass man ein ganz anderes Bewusstsein hat oder dass man einfach lockerer drauf ist“ (ebd.). Daneben ist auch die aktive Beteiligung an religiösen Veranstaltungen, die an den jüdischen Fest- und Feiertagen sowie am Shabbat stattfinden, von zentraler Bedeutung für die Akteure und stellt ein weiteres Identifikationsmerkmal mit dem Kabbalah Centre dar. Die Teilnahme an den Veranstaltungen stärkt auf der anderen Seite auch das Zugehörigkeitsgefühl zur ‚Kabbalah-Centre-Community‘. Dort treffen sich regelmäßig Kabbalah-Centre-Lehrer, -Schüler und andere Interessierte und feiern gemeinsam die jüdischen Feste. Neben der Durchführung der jüdischen Riten, dem Rezitieren der Gebete und dem Gesang religiöser Lieder, die sich am ‚traditionellen‘ Judentum orientieren, wird den Mahlzeiten ein besonderer Stellenwert zugeschrieben: „Der Shabbat wird nur dazu benutzt, um sich mit der Energie des Shabbats zu verbinden […] und das anschließende Essen dient eben dazu auch, das Ganze zu manifestieren“ (Interview Pamina, 3.6.2010). Der gemeinschaftsbildende Faktor der unterschiedlichen Veranstaltungen, die vom Kabbalah Centre angeboten werden, wird in einigen Narrationen besonders deutlich: „Wenn ich jetzt ins Kabbalah Centre nach Israel fahre und ich komm da rein, das werde ich nie vergessen. […]. Also ich hab mich irgendwie gefühlt wie zuhause“ (Interview Thomas, 11.12.2010). In einer anderen Interviewpassage wird der Aspekt der Gemeinschaft in der Beschreibung des Kabbalah Centre als Familie besonders hervorgehoben: „Eine Sache habe ich für das Ende zurückgehalten. Das ist vielleicht das größte und schönste Werkzeug, welches die Kabbala gegeben hat. Und das ist das Kabbala Centre. […]. Wenn du über die Türschwelle vom Kabbala Centre gehst, bist du in einer anderen Welt und merkst das sofort. Sofort ist da eine andere Energie. Das Tolle ist, dass du da nicht nur die Werkzeuge erlernst, praktiziert, automatisch und viel bequemer, das ist die Community. Zusammen mit anderen Menschen. Der Austausch von Erfahrungen und den prak-
244 | K ABBALA UND RELIGIÖSE I DENTITÄT tischen Dingen. Man hilft sich gegenseitig. Das ist das Größte. Die Leute sind langsam zu einer Familie geworden. Eine riesengroße Familie.“ (Interview Yehuda, 06.06.2013)
Während von jenen, die sehr häufig an den Veranstaltungen teilnehmen und sich infolge dessen sehr stark mit dem Kabbalah Centre identifizieren, die Bedeutung und Besonderheit der Community betont wird, zeichnet sich eine negative Haltung gegenüber „Nicht-Mitgliedern“ ab. Thomas führt im Interview an, dass er seinen „kompletten alten Freundeskreis aufgegeben [habe] oder umgekehrt“ (Interview Thomas, 11.12.2010). Dies bestätigt die These, dass innerhalb religiöser Gemeinschaften von den einzelnen Akteuren ein „fiktives imaginiertes Wir“ (Eickelpasch und Rademacher 2004, 68) erzeugt wird, das erstens über die faktischen, bestehenden Unterschiede zwischen den einzelnen Akteure hinwegtäuscht und in weiterer Folge eine Abgrenzung nach außen – von den „Anderen“ konstruiert (vgl. Hall 1999, 93). Hier wird deutlich, dass Identitätstheorien, auch auf den religiösen Bereich übertragen werden können und dazu beitragen, Fragen nach explizit religiösen Identitätsbildungsprozessen zu analysieren. Die Abgrenzung nach außen, von den „Anderen“ ist demnach auch im Kontext religiöser Gruppierungen inhärenter Bestandteil der kollektiven wie der personalen religiösen Identitätskonstruktionen. Abbildung 6: Die Hierarchie des Kabbalah Centre in der Selbstdarstellung
Quelle: Nicole M. Bauer
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In der Darstellung des Kabbalah Centre spielt das ‚Volunteering‘ eine wichtige Rolle und wird in das religiöse Konzept integriert. Mit dem Slogan „Volunteer. Change your Life. Change The World“ (The Kabbalah Centre 2014k) verknüpft das Kabbalah Centre die strukturelle Ebene mit der inhaltlichen Ebene: „The Kabbalah Centre’s Volunteer Program is the foundation upon which The Kabbalah Centre is built. It provides a safe and organized framework for students to discover the fulfillment found in sharing and giving of themselves.“ (Ebd.)
Volunteering wird im Kabbalah Centre besonders betont und zählt neben dem Ausüben kabbalistischer Praktiken zu den sogenannten Werkzeugen, die den Interessenten im Zuge ihres ‚Selbstoptimierungsprogramms‘ bereitgestellt werden. Auszug aus dem Interview mit Nora, 12.6.2013: „Irgendwie hab ich immer versucht, ein bisschen mitzuhelfen, aber nicht von Anfang an. [...]. Irgendwann kam dann das Thema Volunteering eben auch als Werkzeug, als tool ins Verstehen. Und dann hab ich auch [...] bei den internationalen Events diese Workshops besucht oder die Vorträge, die Karen [Berg] da ganz oft hält zum Thema Volunteering [...].“ (Interview Nora, 12.6.2013)
Volunteering stellt in diesem Kontext eine Form des ‚Übertritts‘ dar, der die spirituellen Wanderer zu einer länger- oder gar langfristigen Bindung anhält. Während „Verbindlichkeit“ und „Zustimmung“ in den äußeren Kreisen (vgl. Myers 2008, 417) von geringer Relevanz sind, sind diese von immer zentralerer Wichtigkeit, je ‚tiefer‘ man sich in die Strukturen des Kabbalah Centre begibt. Wenngleich es keine offizielle Form der Mitgliedschaft gibt, stellt die Entscheidung, sich ehrenamtlich für das Zentrum zu engagieren, dennoch eine Art des Zugeständnisses zur Zugehörigkeit dar. Diese Hierarchien, denen sich all jene Akteure unterordnen, die ihre ‚spirituelle Wanderschaft‘ nicht fortsetzen, sondern sich für das Kabbalah Centre entscheiden, werden von den Akteuren des Kabbalah Centre konstruiert und spiegeln sich in dessen Selbstdarstellung wider. Diese Konstruktion der Hierarchien und die hier dargestellten Geschichtskonstruktionen, religiösen Ideen und Praktiken bilden die Basis für die Kabbalah-Centre-Community. Gemeinschaft wird neben der o.g. Abgrenzung von den „Anderen“ durch die Akzeptanz dieser Hierarchien und die vorgegebenen ‚Glaubensmuster‘ erzeugt sowie durch die Teilnahme an
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gemeinsamen Aktivitäten, wie den mehrmals pro Jahr veranstalteten internationalen Events, den unterschiedlichen Kursen und dem persönlichen Einsatz durch das ehrenamtliche Engagement.
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Durch das Aufzeigen der Konstruktion der Kabbalah-Centre-Community wird hier an einem kultur- und religionswissenschaftlichen Ansatz angeknüpft, der Gemeinschaften als natürliche Gegebenheiten dekonstruiert (vgl. Laack 2011, 30). Die Kabbalah-Centre-Community ist in diesem Kontext eine „vorgestellte Gemeinschaft“ im Sinne von Anderson (2005), da sich die meisten Akteure untereinander nicht kennen. Bei der Konstruktion von kollektiven Identitäten kann man verschiedene Strategien aufgezeigt werden. Eine wesentliche Strategie ist in diesem Zusammenhang „die Herstellung einer gemeinsamen Vergangenheit“ (Eickelpasch und Rademacher 2004, 69) bzw. die Konstruktion derselben, die die einzelnen Akteure zu einer „Schicksalsgemeinschaft zusammenschweißt“ (ebd.) – wenngleich in Form einer imagined community (vgl. Anderson 1983). Neben der „Erfindung der Vergangenheit“ (vgl. Hobsbawm 1994), die der jeweiligen Gemeinschaft den „Heiligenschein der Legitimität“ (ebd. 49) verleiht, spielen Traditionen eine wichtige Rolle zur Stärkung und Konstruktion der kollektiven Identität. Traditionen werden erfunden (vgl. Hobsbawm 1998) um beispielsweise historische Kontinuität vorzutäuschen (vgl. Giesen 1999, 14f.). Gerade am Fallbeispiel des Kabbalah Centre wird der Einsatz dieser Strategien zur Konstruktion von kollektiver Identität deutlich. Geschichtskonstruktionen lassen sich im Kabbalah Centre sowohl in Form eines „Gründungsmythos“ (Eickelpasch und Rademacher 2004, 70) als auch in Form unterschiedlicher „Ursprungsmythen“ (ebd. 71) feststellen, die gezielt zur Konstruktion und Stärkung der kollektiven Identität eingesetzt werden, um die besondere Stellung des Kabbalah Centre zu legitimieren. Aus religionsökonomischer Perspektive kann dieser Prozess der Identitätskonstruktion auch als Prozess des faith branding verstanden werden. Diese faith brands, wie das Kabbalah Centre, sind sozusagen Produkte, die sich von ähnlichen Produkten (z. B. Bnei Baruch), durch den Namen (The Kabbalah Centre), ein spezifisches Logo (der Baum des Lebens neben dem Schriftzug), bestimmte stories und Persönlichkeiten als humanizing icons (vgl. Einstein 2008, xi) abgrenzen. Der wesentliche Aspekt von branding ist das Erzählen von Geschichten zu einem bestimmten Produkt, um es von anderen, ihm ähnlichen, abzugrenzen. Auf diese Weise wird die spezifische kollektive Identität konstruiert, mit der sich die
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religiösen Akteure wiederum identifizieren. Damit ziehen sie auch ein bestimmtes Publikum an, das sich mit dem faith brand identifiziert. In weiterer Folge haben brands somit Einfluss auf die Konstruktion der personalen Identität. Die religiösen Akteure konsumieren bestimmte brands, die mit ihrem Selbstbild übereinstimmen. Menschen entscheiden sich demnach, so James B. Twitchell, immer für Produkte, deren stories in das eigene Selbstkonzept passen (vgl. Twitchell 2005, 25f). Auf der anderen Seite, so Twitchell weiter, treten Menschen mit dem Kauf eines brand auch in eine Gemeinschaft ein. Brands können somit das Zugehörigkeitsgefühl zu einer bestimmten Gruppe stärken (vgl. ebd. 21). Die Ansätze von Mara Einstein und James B. Twitchell lassen sich trotz des kritisch zu sehenden Religionsbegriffes auf das Kabbalah Centre gewinnbringend anwenden. Sie bieten eine Möglichkeit darzustellen, wie und aus welchem Grund faith brands konstruiert werden. Zudem wird hier die These vertreten, dass die Konstruktion dieser faith brands der Konstruktion der kollektiven Identität des Kabbalah Centre entspricht. Branding ist demzufolge eine Form der Identitätsarbeit. Das brand „Kabbalah Centre“ kann wiederum als Identitätsmarker gesehen werden, um den sich eine imagined community bildet. Akteure, die einen ähnlichen Lifestyle haben, konsumieren ähnliche faith brands. Die Umsetzung dieses Ansatzes auf den religiösen Bereich ermöglicht eine erweiterte Perspektive bei der Untersuchung religiöser Organisationen. Gerade bei der Erforschung des Kabbalah Centre wird die besondere Dringlichkeit religionsökonomischer Ansätze deutlich.
Schlussbetrachtungen und Ausblick
In dieser Arbeit wurde ein qualitativer Zugang in der Erforschung von Gegenwartsreligiosität angewandt. Im Zentrum der Arbeit steht die Untersuchung religiöser Akteure und deren Identitätskonstruktionen. Am Fallbeispiel des Kabbalah Centre konnte aufgezeigt werden, wie religiöse Identität im Kontext einer religiösen Gruppe ausgehandelt und konstruiert wird. Dabei kamen Identitätstheorien und Modelle zum Einsatz, die in der religionswissenschaftlichen Forschung bisher nur sehr selten umgesetzt wurden. Der Einsatz eines multimethodischen Ansatzes ermöglichte eine umfassende Analyse kollektiver und personaler Identitätskonstruktionen. Dieser Ansatz umfasst die Analyse und Beschreibung des Kabbalah Centre und des Diskurses, innerhalb dessen die Identität des Kabbalah Centre ausgehandelt wird, sowie die Analyse der religiösen Identitätskonstruktionen der Akteure. Theoretisch knüpft die Arbeit an einem sozialpsychologischen Identitätsmodell an, das den subjektiven Konstruktionscharakter von Identität ins Zentrum rückt. Dabei werden sowohl Fragen der kollektiven religiösen Identität als auch der personalen religiösen Identität und ihr Verhältnis zueinander analysiert und diskutiert. Als theoretischer Rahmen wurde das Modell der Patchwork-Identität gewählt, wie es Heiner Keupp entworfen hat (vgl. Keupp 2008). Dabei konnte explizit der Frage nachgegangen werden, welchen Anteil religiöse Elemente bei der Konstruktion personaler Identität haben und wie sich dieser Prozess konstituiert. Am Beispiel der Erforschung des Kabbalah Centre wurde ein Modell entworfen, das aufzeigt, wie personale Identitäten diskursiv ausgehandelt werden und wie spezifische Interaktionsprozesse mit einer religiösen Gruppe in der Identitätskonstruktion der einzelnen Akteure feststellbar sind. Dazu wurden spezifische religiöse und therapeutische Diskurse diskutiert, innerhalb derer die kollektive Identität des Kabbalah Centre ausgehandelt wird. Hierbei wurde auch auf die NewAge-/ Esoterik-Debatte Bezug genommen, die auf die Entwicklung des Kabbalah Centre und dessen Geschichtskonstruktionen besonderen Einfluss genommen hat
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und nimmt. Als weitere signifikante Entwicklung konnte die Vermischung von therapeutischen und psychologischen Elementen mit kabbalistischen Symbolen im Kabbalah Centre beobachtet werden. Eine „Entgrenzung des Religiösen“ (Knoblauch 2010, 166), die sich in der Vermengung von medizinischen, therapeutischen, religiösen und populärkulturellen Angeboten zeigt, wurde bereits von Sozialwissenschaftlern als Ausdruck spätmoderner Religiosität konstatiert. Somit kann das Kabbala Centre als spätmodernes, kulturelles ‚Phänomen‘ betrachtet werden, dessen kollektive Identität diskursiven Aushandlungsprozessen unterworfen ist.
T HEORIEBAUSTEINE RELIGIÖSER I DENTITÄTSKONSTRUKTION : I DENTITÄT
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FAITH BRAND
In Anlehnung an Mara Einstein und James Twitchell wurden am Fallbeispiel des Kabbalah Centre ökonomische Ansätze als Modelle der Religionsökonomie diskutiert. Es konnte exemplarisch aufgezeigt werden, wie eine religiöse Gruppe durch bestimmte Marketingstrategien und Werbung zu einem spezifischen Markenzeichen (faith brand) wird. Zudem wurde der Zusammenhang von Identität und branding-Prozessen im Kabbalah Centre deutlich gemacht. Die hier diskutierten Ergebnisse verdeutlichen die Notwendigkeit der Integration religionsökonomischer Modelle in die religionswissenschaftliche Forschung. Durch die Analyse von faith-branding-Prozessen konnten religiöse Identitätsbildungsprozesse auf kollektiver und personaler Ebene umfangreich dargestellt werden. Faith Brand und kollektive religiöse Identität Bei der Konstruktion von kollektiver Identität religiöser Gruppen wie dem Kabbalah Centre spielen insbesondere ökonomische Faktoren eine wichtige Rolle. Um sich finanziell erhalten zu können, ist das Zentrum als Wirtschaftsunternehmen von seiner Attraktivität auf die religiösen Akteure abhängig. Dabei greift es zunächst auf Werbe- und Marketingstrategien zurück. Wie in dieser Arbeit aufgezeigt werden konnte, sind das Design sowie der Inhalt der unterschiedlichen Werbungen Ausdruck eines branding-Prozesses, durch den das Zentrum selbst zu einem religiösen Markenzeichen wird. Durch ‚stories‘, die um das Zentrum herum von den unterschiedlichen Akteuren konstruiert werden, unterscheidet es sich von anderen, ähnlichen Marken (z. B. Bnei Baruch oder Chabad). Dieser Prozess konstituiert die kollektive religiöse Identität des Kabbalah Centre.
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Religiöse Gruppen sprechen mittels Werbung gezielt bestimmte Akteure an. Mara Einstein folgend kann auch im Kontext des Kabbalah Centre konstatiert werden, dass sich religiöse Akteure für religiöse Angebote, Gruppen etc. entscheiden, mit denen sie sich besonders gut identifizieren können. Das bedeutet, religiöse Angebote werden nur dann gewählt, wenn sie zur personalen Identität passen (vgl. Einstein 2008; Twitchell 2005, 25f.). Meine Untersuchung hat ergeben, dass mittels gezielter Werbestrategien ein bestimmtes Publikum angesprochen wird. Dieses zeichnet sich durch einen bestimmten Lifestyle aus. Bekannte Persönlichkeiten wie die Popsängerin Madonna, welche unterschiedliche Eigenschaften und Ideale verkörpern, werden zudem strategisch eingesetzt, um solche Akteure anzuziehen, die die jeweils verkörperten Eigenschaften und Ideale als erstrebenswert empfinden. Als humanizing icons (vgl. Einstein 2008, xi) tragen diese Persönlichkeiten so wesentlich zum Konstruktionsprozess religiöser Identität bei. Hier werden zusammenfassend die wichtigsten Identifikationsmarker des faith brand „Kabbalah Centre“ vorgestellt, die in dieser Arbeit herausgearbeitet wurden: • Neben dem bereits aufgezeigten Konstrukt des humanizing icon stellen die Kon-
struktion von Geschichte und Geschichten (‚stories‘) wesentliche Bausteine der religiösen Identität des Kabbalah Centre dar. o Historische Bezüge werden im Kabbalah Centre konstruiert, um den Lehren des Zentrums Autorität zu verleihen. Im Kabbalah Centre lassen sich deutliche Rückbezüge auf historische Quellen (z. B. Sohar) sowie auf historische Ereignisse oder Persönlichkeiten (z. B. Isaak Luria, Yehuda Ashlag) feststellen. o Insbesondere die Konstruktion der Kontinuität mit der Vergangenheit steht im Zentrum der Kabbalah-Centre-Identität. Fingierte Traditionsketten sowie die Konstruktion eines Gründungsmythos werden zudem eingesetzt, um die Sonderstellung bestimmter Kabbalah-Centre-Akteure hervorzuheben und deren religiöse Autorität zu bekräftigen. Dies bestätigt die These, dass Geschichtskonstruktion und erfundene Traditionen eine zentrale Rolle in der Konstruktion kollektiver religiöser Identität einnehmen. • Daneben lassen sich einige rhetorische Legitimationsstrategien feststellen, die die spezifische Kabbalah-Centre-Identität konstituieren. Diese Strategien, die das Kabbalah Centre von anderen, ähnlichen Gruppen bzw. vom Judentum im Allgemeinen abgrenzen, beinhalten verschiedene Narrative, wie beispielsweise o die Idee, dass das Kabbalah Centre ‚die‘ Enthüllungsinstanz der Kabbala sei.
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Zudem können spezifische Zuschreibungsprozesse an die Kategorie „Kabbala“ festgestellt werden, die Kabbala als das spezifische Produkt des Kabbalah Centre vermarkten. Das Kabbalah Centre selbst wird zu einem faith brand verwandelt. Der branding-Prozess wiederum wird zum Motor der Identitätsbildung. Kennzeichnend für branding-Prozesse im Kabbalah Centre sind unterschiedliche ‚stories‘, die sowohl in den Publikationen des Zentrums, dessen Web-Auftritt als auch in den Vorträgen und Kursen der Kabbalah-Centre-Lehrer zu identifizieren sind. Das ambivalente Verhältnis zum Judentum charakterisiert das Kabbalah Centre. Jüdische Traditionen werden im Kontext des Kabbalah Centre rezipiert, adaptiert und gleichzeitig transformiert. Die Kabbalah-Centre-Identität wird somit in einem Spannungsfeld von Tradition und Transformation ausgehandelt. o Jüdische und kabbalistische Quellen stellen trotzdem zentrale Elemente der Außenpräsentation des Zentrums dar und das Einhalten der jüdischen Gebote und Verbote (Mizwot) ist ein wesentlicher Aspekt der KabbalahCentre-Praktiken. Jüdische Elemente werden im Zentrum jedoch neu ausgehandelt und transformiert. o Durch die Abgrenzung vom Judentum als das „Andere“ (vgl. Hall 1999, 93) wird im Kontext des Kabbalah Centre ein „fiktives imaginiertes Wir“ (Eickelpasch und Rademacher 2004, 68) erzeugt, welches die KabbalahCentre-Identität durch die Abgrenzung nach außen stabilisiert. Jüdischen Elementen werden im Zuge dieses Prozesses andere Bedeutungsinhalte zugeschrieben. Besonders zentral ist die Rezeption und Adaption kabbalistischer Quellen in der Selbstdarstellung des Kabbalah Centre. Spezifische kabbalistische Narrative, Symbole und Praktiken werden hier adaptiert, transformiert und so zum zentralen Marker der kollektiven religiösen Identität. Auch hier sticht der Zusammenhang zwischen der Konstruktion kollektiver religiöser Identität und branding hervor. Kabbalistische Symbole wie z. B. der kabbalistische Lebensbaum werden im Kabbalah Centre vermarktet. Der kabbalistische Lebensbaum als Logo des Kabbalah Centre ist somit Teil der Marketingstrategien des Zentrums. Gleichzeitig identifizieren sich die Akteure mit eben diesem brand. Neben den jüdischen und kabbalistischen Elementen hat diese Arbeit Elemente des therapeutischen Diskurses als Bausteine kollektiver religiöser Identität ausgemacht. Psychologische und therapeutische Aspekte lassen sich in den unterschiedlichen Angeboten des Zentrums diagnostizieren. Inhaltlich werden hier häufig religiöse/kabbalistische Elemente mit Selbsthilfe- bzw- Selbstoptimierungsaspekten kombiniert. Auch in den unterschiedlichen Praktiken des
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Zentrums stehen meist Aspekte der physischen/psychischen Heilung im Vordergrund. Schlussfolgernd kann festgehalten werden, dass die kollektive religiöse Identität des Kabbalah Centre aus unterschiedlichen, variablen Elementen besteht. Das theoretische Identitätsmodell, das dieser Arbeit zugrunde liegt, kann demnach auch auf das ‚Kollektiv‘ Kabbalah Centre übertragen werden, denn auch auf der Ebene der kollektiven religiösen Identität überwiegt ein fluider, diskursiver und konstruierter Charakter (vgl. Keupp 2008, 76ff.). Folgendes Schaubild (Abb. 19) verdeutlicht die kollektive religiöse Identitätskonstruktion des Kabbalah Centre. Dabei soll noch einmal betont werden, dass die einzelnen Bausteine durchaus variabel sind und in ständiger Wechselwirkung mit verschiedenen Diskursen stehen. Das leere Feld „u. a.“ weist darauf hin, dass niemals alle Bausteine und Einflüsse vollkommen bekannt sein können, da diese einem fluiden Aushandlungsprozess unterworfen sind. Abbildung 7: Bausteine kollektiver religiöser Identität Spiritualitäts-, Esoterik-, New-Age-Diskurs
Medien
Praktiken
Ursprungsmythos hos
u.a. GeschichtsGe konstruktionen kons nstruktionen ns en Elemente des es Spiritualitäts-, Spir -, Esoterik-, Es New-Ag New-Age-Diskurses
stories
(e (erfundene) Traditionen Tr
Kabbala
u.a.
humanizing icon
Judentum
Elemente des therapeutischen Diskurses
Wissenschaft Wirtschaft
Quelle: Nicole M. Bauer
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P ERSONALE
RELIGIÖSE I DENTITÄTSKONSTRUKTION
Denselben Prozessen, denen die Konstruktion kollektiver religiöser Identität unterliegt, unterliegt auch die Aushandlung der personalen religiösen Identität der Akteure. Auf der Mikroebene der religiösen Akteure sind diese Aushandlungsprozesse von Identität ebenfalls diskursiv beeinflusst. Die diskursive Bedingtheit von Identitätskonstruktionen, wie sie in neueren kulturwissenschaftlichen Ansätzen starkgemacht wird, konnte daher in dieser Arbeit bestätigt werden. In Abgrenzung zu Ansätzen, die dem Subjekt als Produkt von Diskursen Autonomie weitestgehend absprechen (vgl. Reckwitz 2010, 12), wird am Beispiel dieser Arbeit deutlich, dass die religiösen Akteure – wenngleich sich diese immer innerhalb spezifischer Diskurse bewegen und innerhalb dieser deren religiöse Identität ausgehandelt wird – dennoch autonom wählen, indem sie sich für oder gegen bestimmte religiöse Angebote entscheiden. Es wurde zudem die These überprüft, inwiefern Akteure in dem Maße, in dem sie sich einer (imaginierten) Gruppe zugehörig fühlen, deren angebotene Narrative in die personale Identitätskonstruktion integrieren. Um diese These zu prüfen, wurden folgende Fragen an das empirische Material gestellt: • Wie konstruieren die Akteure ihre personale religiöse Identität? • Aus welchen Bausteinen setzt sich die personale religiöse Identität der Akteure
zusammen? • Welche Bausteine der Kabbalah-Centre-Identität finden sich auch in der Identitätskonstruktion der Akteure? Die These, dass religiöse Akteure je nach (geographischer) Nähe zum Kabbalah Centre und Häufigkeitsgrad der Partizipation kabbalistische Vorstellungen und Praktiken in ihre Identitätskonstruktion integrieren, wurde im Zuge der Befragung bestätigt. Aufgrund der Ergebnisse der Interviews können auf der Akteursebene zwei Typen klassifiziert werden, die sich nach dem Grad der Identifikation mit dem Kabbalah Centre unterscheiden: • Der spirituelle Wanderer im Kabbalah Centre • Der Angekommene (Kabbalah Centre als Endstation der spirituellen Wander-
schaft) Anknüpfend an das Modell des „spirituellen Wanderers“ (vgl. Bochinger, Engelbrecht und Gebhardt 2005; Bochinger, Engelbrecht und Gebhardt 2009a) konnten
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in dieser Studie, die ihren Fokus explizit auf eine religiöse Gruppe nicht-christlicher Provenienz richtet, Tendenzen dieses Idealtypus festgestellt werden. Hierbei muss ergänzend erwähnt werden, dass die befragten Akteure entweder aus einem christlichen oder einem jüdischen Umfeld stammen. In beiden Gruppen lassen sich Tendenzen des spirituellen Wanderers als auch des Angekommenen feststellen. Charakteristika, die unter dem Idealtypus des spirituellen Wanderers zu subsumieren sind, werden in unterschiedlichen Narrationsmustern der Interviews deutlich. Diesen liegt das Motiv einer spirituellen Suche zugrunde, die in den Selbstdarstellungen der Akteure sehr häufig auftaucht. Wie ein roter Faden zieht sich durch die Interviews als wesentliches Element die Selbstdarstellung der Akteure als „spirituell“. Der Begriff „Spiritualität“ wird in den Narrationen der Akteure häufig als Identitätsmarker in Abgrenzung zum Religionsbegriff, der häufig stark negativ konnotiert ist, verwendet. Die Konstruktion einer ‚spirituellen Identität‘ ist sowohl auf kollektiver Ebene als auch auf personaler Ebene zu erkennen. Hierbei lassen sich einige Motive ableiten, die auf beiden Ebenen Elemente dieser ‚spirituellen Identitätskonstruktion‘ präsentieren: Das Motiv der spirituellen Heilung und Transformation konnte identifiziert werden, das einen zentralen Bestandteil in der Selbstdarstellung des Kabbalah Centre einnimmt und daher auch ein wesentlicher Baustein der kollektiven religiösen Identität ist. Auf Ebene der Akteure werden diese Motive als persönliche Entwicklungsgeschichten ebenfalls in die Identitätskonstruktion integriert. Der Kontakt zum Kabbalah Centre wird dabei häufig als zentraler biographischer Wendepunkt dargestellt, dem entweder eine persönliche Krisenerfahrung1 oder aber eine länger andauernde spirituelle Suche vorausgegangen ist. In allen Interviews konnte die religiöse Vorgeschichte der Akteure, die der Partizipation am Kabbalah Centre vorausgeht, als ein wichtiges Element in deren Selbstdarstellungen diagnostiziert werden. Ein weiterer Baustein für die Konstruktion der spirituellen Identität der Kabbalah-Centre-Akteure ist die Ebene der Erfahrung. Die ‚Fühlbarkeit‘ der religiösen Praktiken nimmt einen zentralen Stellenwert in den Narrationen der Akteure ein und ersetzt den ‚Glauben‘. Auch hier konnte ein roter Faden in der Argumentationsstruktur der Akteure nachgewiesen werden: Die persönliche Erfahrbarkeit der Wirksamkeit der Praktiken verleiht den Argumentationen nach dem Kabbalah
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An dieser Stelle darf auf einige (religions-)psychologischen Studien verwiesen werden, die Konversionserfahrungen mit Krisenerfahrungen in Verbindung bringen; wie beispielsweise Lazarus und Folkman 1985; Murken und Namini 2004; Murken 2009; Pargament 1997.
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Centre wissenschaftlichen Charakter, während gleichzeitig „Glaube“ in den Narrationen der Akteure als irrationale Angelegenheit abgewertet wird. Die Kategorien „Erfahrung“, „Wissenschaftlichkeit“ und „Spiritualität“ bilden daher wesentliche Bausteine der religiösen Identitätskonstruktionen der Kabbalah-Centre-Akteure. Abbildung 8: Erfahrung und Spiritualität, Glaube und Religion
Erfahrung
Rational/ wissenschaftlich erklärbar
Spiritualität
Glaube
Nicht empirisch prüfbar/irrational
Religion
Quelle: Nicole M. Bauer
Eine weitere Komponente der Identität der Kabbalah-Centre-Akteure ist die Idee der Reinkarnation. Die Relevanz dieses Konzeptes, welches sich nicht zuletzt im Zuge der New-Age-Bewegung und im Kontext der Popularisierung von Religion im gegenwärtigen religiösen Feld als Identitätsmarker entwickelte, wurde bereits religionswissenschaftlich untersucht (vgl. Miczek 2013, 156). Insofern spiegelt der Stellenwert von Reinkarnationsmodellen als Baustein religiöser Identität im Kontext des Kabbalah Centre den gegenwärtigen religiösen Diskurs wider. Das Kabbalah Centre stellt ein Konglomerat aus kabbalistischen Ideen – wie z. B. der Vorstellung des Tikkun – und westlichen Reinkarnationsvorstellungen dar. Daneben wird die Konstruktion von Vorleben zu einem zentralen Element religiöser Identität. Das Aushandlungsspektrum religiöser Identität erweitert sich dabei um einen weiteren Faktor; wie am Beispiel der ‚jüdischen Seele‘ deutlich wird, eröffnen sich vor dem Hintergrund der Idee von Wiedergeburt und Seelenwanderung neue Optionen für die Selbstdarstellung und Identitätskonstruktion der Akteure. Folgende Abbildung veranschaulicht die möglichen Bausteine religiöser Identitätskonstruktionen auf personaler Ebene im Kabbalah Centre. Hierbei ist wichtig anzumerken, dass religiöse Identitätskonstruktionen auch auf personaler Ebene niemals abgeschlossen sind, sondern sich in einem fluiden und diskursiven Aushandlungsprozess befinden. Im Kontext des Kabbalah Centre lassen sich dennoch bestimmte Bausteine identifizieren, die den Identitätskonstruktionen der religiösen Akteure zugrunde liegen.
S CHLUSSBETRACHTUNGEN
UND
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Abbildung 9: Bausteine personaler religiöser Identität
Spiritualität (Erfahrung, Selbst, Heilung)
Judentum & Kabbala (Praktiken, Traditionen)
Reinkarnation
Religiöse Identität
Religiöser Kontext (Sozialisation, Diskurse etc.)
Quelle: Nicole M. Bauer
Während die Selbstbezeichnung „spirituell“ als wesentlicher Baustein der Identität aller Kabbalah-Centre-Akteure deutlich wird, sind zwischen den jüdischen und nicht-jüdischen Akteuren einige Unterschiede in Hinblick auf die Motivation bezüglich der Partizipation feststellbar. Die nicht-jüdischen Akteure begegnen auf ihrer spirituellen Wanderschaft eher zufällig dem Kabbalah Centre, wohingegen die jüdischen Akteure das Kabbalah Centre aufgrund der Nähe zu ihrer eigenen, jüdischen Provenienz aufsuchen. Die Ausgangsthese, dass Akteure über das Kabbalah Centre Zugang zum Judentum suchen, konnte daher nur teilweise bestätigt werden. Denn gerade die nicht-jüdischen Akteure geben an, häufig erst über das Kabbalah Centre ihr Interesse am Judentum entdeckt zu haben. Als Motivation für die Partizipation gaben andererseits die jüdischen Akteure häufig an, eine ‚spirituelle Version‘ des Judentums im Kabbalah Centre zu suchen. Wenngleich in den narrativen Darstellungen der Akteure ein ambivalentes Verhältnis zum Judentum überwiegt, kann insgesamt die Integration jüdischer Vorstellungen und Praktiken in den Lebensalltag der Akteure festgestellt werden. Ein Aspekt, der im Rahmen dieser Forschungsarbeit nicht untersucht werden konnte, ist die Frage der Konversion zum Judentum im und durch das Kabbalah Centre.2 Jüdische Elemente in Form unterschiedlicher jüdischer Rituale, Gebete und Praktiken sind zentrale Bausteine der religiösen Identität der Kabbalah-Centre-
2
Beobachtungen hierzu wurden im Rahmen dieser Arbeit zwar gemacht, es bedarf allerdings noch einer eingehenden Prüfung.
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Akteure. Auch hier kann die Beobachtung gemacht werden, dass mit der Identifikation mit dem Kabbalah Centre eine Identifikation der Akteure mit dem Judentum einhergeht. Am Fallbeispiel Kabbalah Centre konnten Prozesse der religiösen Identitätskonstruktion auf kollektiver und personaler Ebene aufgezeigt werden. Auf der Grundlage des empirischen Materials wurde ein Identitätsmodell entworfen, das den fluiden und diskursiven Charakter gegenwärtiger religiöser Identitätsmodelle betont. Unter besonderer Berücksichtigung von religionsökonomischen Aspekten wurde die Konstruktion kollektiver religiöser Identität in einer religiösen Gruppe aufgezeigt und deren Einfluss auf und die Wechselwirkung mit den jeweiligen Akteuren verdeutlicht. In dieser Arbeit konnte somit ein Modell entwickelt werden, um die Interaktion religiöser Akteure in einer religiösen Gruppe, deren Motivationen und Intentionen sowie Prozesse der Identitätskonstruktion zu erforschen. Insbesondere die Verknüpfung von religionsökonomischen und (sozial-/religions-)psychologischen Modellen in Hinblick auf die Erforschung religiöser Identitäten steht bisher in der religionswissenschaftlichen Forschung noch aus. Hier setzt diese Arbeit sowohl methodisch als auch theoretisch an und entwickelt einen Rahmen zur umfassenden Analyse religiöser Identitäten.
AUSBLICK Eine hinreichende religionspsychologische Erforschung der religiösen Akteure – ob z. B. der Kontakt bzw. die Mitgliedschaft in einer religiösen Gruppierung zu einer tatsächlichen Lebensverbesserung führt – steht bislang noch aus (vgl. Murken 2009, 190). Die Ergebnisse der Erhebungen in dieser Arbeit stellen daher erste Versuche dar, die individuellen Auswirkungen des Beitritts zu einer religiösen Gruppierung aufzuzeigen. Während auf der Ebene der (befragten) Akteure der Beitritt zum Kabbalah Centre entweder mit einer akuten persönlichen Krisensituation oder aber der Suche nach Antworten auf Sinnfragen einhergeht, knüpfen religiöse Anbieter gezielt an die unsicheren sozialen oder psychischen Lebenssituationen der Akteure an und richten ihr Angebot nach den Bedürfnissen der Akteure nach Sicherheit oder aber „psychischer Stabilisierung“ (ebd. 191) aus. In diesem Kontext verwundert es nicht, dass Selbstverwirklichungs- und Heilungsangebote im Zentrum des Angebotes des Kabbalah Centre stehen. Narrative und Topoi der Selbstverbesserung und ‚spirituellen Heilung‘ stellen einen wesentlichen Aspekt zur Konstruktion religiöser Identität im Kontext des Kabbalah Centre dar. Zukünftig bedarf der Zusammenhang zwischen therapeutischen und religiösen Elementen einer eingehenden Analyse. Gerade im Kontext des Kabbalah Centre wird
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UND
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hier eine Überlappung der beiden Bereiche deutlich, was interdisziplinär relevante Fragen aufwirft. Es stellt sich die Frage, welche Relevanz diese therapeutischen Elemente für die Entscheidung religiöser Akteure haben, sich eben dieser Gruppe anzuschließen. Auch die Untersuchung des Einflusses von persönlichen Krisensituationen oder dem Bedürfnis der Akteure nach sozialer oder psychischer Sicherheit steht bisher noch weitgehend aus (vgl. ebd.). Wie hier außerdem aufgezeigt werden konnte, stellen ökonomische Ansätze eine sinnvolle Ergänzung bei der Analyse gegenwärtiger religiöser Gruppen dar. Gerade im Forschungsfeld Gegenwartsreligiosität sollte die Integration religionsökonomischer Modelle in religionswissenschaftliche Analysen stärker forciert werden. Die Untersuchung von faith-branding-Prozessen stellt zudem ein neues Forschungsgebiet in der Religionswissenschaft dar, das in Hinblick auf religiöse Identitätsbildungsprozesse zu neuen Erkenntnissen führt. Durch die Erforschung von Marketingstrategien, Design und Werbung religiöser Gruppen lassen sich Rückschlüsse auf die diskursiv erzeugten Bedürfnisse religiöser Akteure ableiten. Entsprechend kann konstatiert werden, dass im Kabbalah Centre Kabbala vermarktet und mit therapeutischen und populärkulturellen Elementen kombiniert wird. Jüdische und kabbalistische Praktiken und Narrative werden transformiert und finden sich in vielen narrativen Selbstdarstellungen wieder. Das Kabbalah Centre wird durch die spezifische Aushandlung und Vermarktung dieser Narrative und Praktiken zu einer unverwechselbaren religiösen Marke (faith brand), mit der sich bestimmte Akteure identifizieren und diese konsumieren. Die erfolgreiche Publikation von Yehuda Berg Die Macht der Kabbalah. Von den Geheimnissen des Universums und der Bedeutung unseres Lebens kann deshalb auch als ‚die Macht der Diskurse‘ gelesen werden. Sie enthüllt viel mehr die Geheimnisse der Wechselwirkung zwischen religiösen, populärkulturellen und therapeutischen Diskursen und Akteuren und die Bedeutung dieser für das Leben und die personale Identität.
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