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German Pages 562 Year 2010
Schriften zur Rechtstheorie Heft 250
Jurisprudenz und Ethik Eine interdisziplinäre Studie zur Legitimation demokratischen Rechts
Von Florian Windisch
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
FLORIAN WINDISCH
Jurisprudenz und Ethik
Schriften zur Rechtstheorie Heft 250
Jurisprudenz und Ethik Eine interdisziplinäre Studie zur Legitimation demokratischen Rechts
Von Florian Windisch
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität St. Gallen, Hochschule für Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften (HSG) hat diese Arbeit im Jahre 2009 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2010 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-13198-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Im kleinen Kreis meinte Anne van Aaken einmal sinngemäß, interdisziplinär zu arbeiten, das sei so unbeschwert wie Tiefschneefahren – mal hin, mal her gleitend, und wo die Spur entlang führe, könne ohnehin niemand sagen. Als mein Freund Benedikt daraufhin entgegnete, bei aller Unbeschwertheit sei das Risiko, dabei hinzufallen, doch ungleich größer als auf festerem Grund, quittierte das Frau van Aaken wiederum mit der nicht weniger geistreichen Bemerkung, im Tiefschnee zu fallen, tue ja nicht so weh. Nach einiger eigener Erfahrung mit dem Interdisziplinären möchte ich inzwischen anfügen: Aber auch die Mühsal des Wieder-Aufstehens und des Wieder-Aufnehmens der zuvor gezogenen, so unfertigen und irgendwie gar nicht vorhandenen Spur machen das interdisziplinäre Dahingleiten zu einem doch insgesamt recht schwierigen Vergnügen. – Von den wirklich üblen Gefahren – da gibt es Steine, Spalten, ganze Abgründe – ganz zu schweigen. Doch ihre Risiken und ihre Mühen schien mir jedenfalls meine Fahrt zu jeder Zeit wert. Ich hatte dabei auch das Glück, von einigen wunderbaren Menschen begleitet worden zu sein. Dafür, dass ich die Fahrt vorerst heil überstanden habe, danke ich Prof. Dr. Philippe Mastronardi, meinem lieben Doktorvater, wie keinem anderen. Nicht nur, dass man sich, was die Zuverlässigkeit, Gewissenhaftigkeit und die Dienlichkeit seiner Begleitung angeht, schlechthin keinen besseren vorstellen kann. Er hat es gerade auch bei mir auf wundersame Weise verstanden, mit dem nötigen Feingefühl zu fordern und zu fördern. Seine Arbeit hat mich immer wieder inspiriert, und das Vertrauen, das er mir von Anfang an geschenkt hat, hat mich stets getragen. Bei Prof. Dr. Dieter Thomä bedanke ich mich herzlich für die bereitwillige und einwandfreie Übernahme des Korreferats. Von Dr. Dr. Ralph Christensen habe ich so viel Zuspruch, Unterstützung und Freundlichkeit erfahren, dass ich ihn abkürzend einfach meinen Doktoronkel nennen will, und ich hoffe auf noch viele Diskussionen in und um Ilvesheim – für mich das philosophische Zentrum Deutschlands. Ich hatte außerdem das vorzügliche Vergnügen, Prof. Dr. Friedrich Müller, die Ausnahmepersönlichkeit hinter den Texten, die mich bewegt haben wie keine anderen, kennen zu lernen. Dass er sich die Zeit genommen hat, meinen Text weitgehend zu lesen, danke ich ihm sehr, und dass er meinem Projekt (trotzdem) so wohlgesonnen ist, ermutigt mich. Der ganzen Heidelberger Gruppe der Rechtslinguistik danke ich dafür, dass sie mich meine Überlegungen zur Interdisziplinarität vortragen und mich (so kam es mir jedenfalls vor) mit ziemlich heiler Haut davonkommen lassen hat. Neben den bereits erwähnten Prof. Dr. Anne van Aaken und Benedikt van Spyk danke ich besonders Dr. Georg Kramer-McInnis, Dr. Roland Portmann, Dr. Ralph
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Vorwort
Weber und Rolf Rauschenbach für anspruchsvolle Diskussionen mit den gewünschten kritischen Effekten. Dr. Olaf Bach bin ich für die sorgfältige Lektüre einer frühen Fassung des gesamten Textes äußerst dankbar. Bei Prof. Dr. Hans Bernhard Schmid und Dr. Silja Vöneky bedanke ich mich für weitere Gelegenheiten, meine Gedanken zu präsentieren und ertragreich zur Diskussion zu stellen, im einen Fall im Sozialtheoretischen Kolloquium an der Universität St. Gallen, im anderen am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg. Meinem Bruder, Maurice Windisch, und Frank Lükewille danke ich für allerlei software- und hardware-technische Unterstützung. Dem Verlag Duncker & Humblot danke ich für die Aufnahme in die „Schriften zur Rechtstheorie“ und die zugleich professionelle und freundliche Zusammenarbeit – eine ja nicht häufig anzutreffende Koinzidenz. Der Universität St. Gallen danke ich für den mir aufgrund dieser Arbeit verliehenen Walther Hug-Preis für die beste juristische Dissertation im akademischen Jahr 2008 / 2009. Bleibt meine liebe Fabienne. Nicht nur mit ihrer finanziellen Unterstützung hat sie mir den kreativen Raum erkauft, in dem dieser Text erst entstehen konnte. Zudem hat sie ihn kurz vor der Einreichung hervorragend lektoriert. Viel mehr noch danke ich ihr aber für ihre kostbare Geduld, in deren Strapazierung ich mich so schamlos geübt habe. Dass sie mir dennoch nicht davongelaufen ist, kann ich mir nur mit ihrer unendlichen Liebe erklären, von der ich nur hoffen kann, genügend zurückzugeben. Widmen möchte ich diese Schrift schließlich meinen Lehrerinnen und Lehrern. Damit meine ich nicht einfach diejenigen, die üblicherweise genannt werden, wenn auf das Gedankengut der akademischen Schule, der man entwachsen ist, verwiesen wird (die natürlich auch). Ich meine alle diejenigen, die seit meinen allerersten Schuljahren als Lehrerinnen und Lehrer versucht haben, einen weiseren Menschen aus mir zu machen. Menschen zu belehren, ist ja eher wie Buckelpiste- als Tiefschneefahren: Unten angekommen, ächzen erst einmal die Knie, und die Leistung, die eigentlich erbracht worden ist, gerät schnell einmal in Vergessenheit. Aber auch Buckelpistenfahrer ziehen Spuren. Für die, die sie bei mir hinterlassen haben, danke ich ihnen von Herzen. St. Gallen, im September 2009
Florian Windisch
Inhaltsverzeichnis
Einleitung: Thema, Methode und Prozedere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Thema: Demokratisches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Methode: Ethisch-juristische Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Prozedere: Interdisziplinäre Feldarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Juristische Methodik: Strukturierende Rechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Lassen sich Gesetze applizieren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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a) Legalismus (Positivismus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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b) Probleme des Legalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Lässt sich Recht juristisch legitimieren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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a) Anti-Legalismus (Antipositivismus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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b) Strukturierende Rechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Ist Ethik ausgeschlossen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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a) Recht als autopoietisches System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
76
b) Probleme der Systemtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Moralphilosophie: Diskursethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Was heißt Moral? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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a) Das Gute (Teleologie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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b) Das Gerechte (Deontologie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 2. Wie lässt sich Moral begründen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 a) Gerechtigkeit als Fairness . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 b) Diskursethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 3. Lässt sich Moral applizieren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 a) Der Sinn für Angemessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 b) Probleme des moralischen Applikationismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
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Inhaltsverzeichnis
III. Jurisprudenz und Ethik: Zwischenüberlegungen zu einer interdisziplinären Theorie demokratischen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 1. Wie könnte eine ethisch-juristische Theorie aussehen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 a) Theorie der juristischen Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 b) Probleme des moralischen Dependenzialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 2. Wie sollte Interdisziplinarität praktiziert werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 a) Interdisziplinarität-Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 b) Kleine Soziologie der Interdisziplinarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 c) Ein konzeptioneller Entwurf: Diskursive Interdisziplinarität . . . . . . . . . . . . . . . . 202 3. Programm einer ethisch-juristischen Legitimationstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 a) Strukturierende Rechtslehre und Diskursethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 b) (Inter-)Disziplinäre Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 c) Weiteres Prozedere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 IV. Politische Philosophie: Deliberative Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 1. Demokratie-Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 a) Machtkontrolle freier Individuen (Liberalismus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 b) Selbstregierung gleicher Bürger (Republikanismus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 c) Partizipation an öffentlichen Verfahren (prozedurale Demokratie) . . . . . . . . . . 251 2. Kleine Soziologie moderner Demokratien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 a) Integrationsprobleme komplexer Gesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 b) Integration durch demokratische Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 c) Demokratischer Machtkreislauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 3. Deliberative Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 a) Funktionieren und Legitimieren in der politischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . 271 b) Vom moralischen Diskurs zur politischen Deliberation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 c) Prinzipien deliberativer Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 4. Moralischer Diskurs im Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 V. Verfassungstheorie: Demokratischer Rechtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 1. Verfassungstheoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 a) Das Öffentliche und das Private . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 b) Verfassung des Öffentlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 c) Public Governance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336
Inhaltsverzeichnis
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2. Kleine Soziologie der Public Governance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 a) Verfassung der Governance im politischen Zentrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 b) Verfassung der peripheren Gewalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 c) Peripher-zentrale Kopplungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 3. Demokratischer Rechtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 a) Funktionieren und Legitimieren in der Verfassungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 b) Demokratische Deliberation und juristische Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 c) Prinzipien des demokratischen Rechtsstaats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 4. Demokratischer Rechtsstaat im Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 VI. Urteilstheorie: Demokratische Judikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 1. Urteilstheoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 2. Kleine Soziologie der Public Judication . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 a) Judikation im politischen Zentrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 b) Periphere Rechtskonkretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 c) Peripher-zentrale Kopplungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 3. Demokratische Judikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 a) Funktionieren und Legitimieren in der Urteilstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 b) Judikation als Legislation zweiter Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 c) Prinzipien demokratischer Judikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 4. Juristische Methodik im Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 VII. Urteilsphilosophie: Deliberative Judikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 1. Judikationskonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 2. Kleine Soziologie der Judikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 a) Rechtsprobleme als kommunikative Krisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442 b) Judikation als semantischer Kampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 c) Kreislauf der Judikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 3. Deliberative Judikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 a) Funktionieren und Legitimieren in der Urteilsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 b) Judikation als Deliberation zweiter Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 c) Prinzipien deliberativer Judikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 4. Demokratisches Recht im Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481
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Inhaltsverzeichnis
Exkurs: Interdisziplinäre Rechtslegitimation und integrative Wirtschaftsethik . . . . 483 Schluss: Resümee und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508 1. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 2. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536
Abbildungsverzeichnis Abbildung 1:
Der Themenbereich der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Abbildung 2:
Der Methodenbereich der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
24
Abbildung 3:
Der disziplinäre Anspruchsbereich der Untersuchung im Überblick . . . .
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Abbildung 4:
Vorläufiges Prozedere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Abbildung 5:
Stand der Untersuchung (I.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Abbildung 6:
Ist Ethik ausgeschlossen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Abbildung 7:
Stand der Untersuchung (II.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
90
Abbildung 8:
Die Prinzipien der Diskursethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
Abbildung 9:
Stand der Untersuchung (III.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
Abbildung 10: Die Interdisziplinarität-Konzepte im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Abbildung 11: Beispiel eines thematisch und methodisch vertikal differenzierenden Disziplinenrasters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Abbildung 12: Die Prinzipien diskursiver Interdisziplinarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Abbildung 13: Ein integrativer Rechtsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Abbildung 14: Ein interdisziplinärer Kommunikationsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Abbildung 15: Ausgangslage für das weitere Prozedere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Abbildung 16: Weiteres Prozedere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Abbildung 17: Stand der Untersuchung (IV.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Abbildung 18: Die Demokratie-Konzepte im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Abbildung 19: Die Prinzipien der Diskursethik und der deliberativen Demokratie . . . . . 295 Abbildung 20: Moralischer Diskurs im Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 Abbildung 21: Stand der Untersuchung (V.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Abbildung 22: Die Prinzipien der deliberativen Demokratie und des demokratischen Rechtsstaats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 Abbildung 23: Demokratischer Rechtsstaat im Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 Abbildung 24: Stand der Untersuchung (VI.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385
12
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 25: Die Prinzipien des demokratischen Rechtsstaats und der demokratischen Judikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 Abbildung 26: Juristische Methodik im Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 Abbildung 27: Stand der Untersuchung (VII.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 Abbildung 28: Die Judikationskonzepte im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 Abbildung 29: Die Prinzipien der demokratischen Judikation und der deliberativen Judikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Abbildung 30: Demokratisches Recht im Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474 Abbildung 31: Die Prinzipien der disziplinären Konzeptionen im Überblick . . . . . . . . . . 479 Abbildung 32: Eine interdisziplinäre Theorie demokratischen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . 509
Abku¨rzungsverzeichnis a. A.
am Anfang
Abs.
Absatz
a. E.
am Ende
AJP
Aktuelle Juristische Praxis
allf.
allenfalls
ARSP
Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie
Art.
Artikel
Bd.
Band
Bde.
Bände
Bspw. / bspw.
Beispielsweise / beispielsweise
Bst.
Buchstabe
BV
Bundesverfassung der schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
Bzw. / bzw.
Beziehungsweise / beziehungsweise
ca.
circa (ungefähr)
ders.
derselbe
D. h. / d. h.
Das heißt / das heißt
D. i. / d. i.
Das ist / das ist
dies.
dieselbe, dieselben
Ebd. / ebd.
Ebenda / ebenda
EGMR
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
engl.
englisch
et al.
et alii, et aliae (und andere)
evtl.
eventuell
f.
und die folgende, und Folgejahr
ff.
und die folgenden
Fn.
Fußnote, Fußnoten
FS
Festschrift
GG
Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949
ggf.
gegebenenfalls
griech.
altgriechisch
H. n. O.
Hervorhebung nicht im Original
Hrsg.
Herausgeber, Herausgeberin, Herausgeberinnen
hrsg.
herausgegeben
14 i. a. S.
Abkürzungsverzeichnis im abstrakten Sinn
I. d. R. / i. d. R.
In der Regel / in der Regel
I. d. S. / i. d. S.
In diesem Sinn / in diesem Sinn
i. e. S.
im engen Sinn
I. g. S. / i. g. S.
Im gleichen Sinn / im gleichen Sinn
i. k. S.
im konkreten Sinn
im Ersch.
im Erscheinen
i. m. S.
im mittleren Sinn
Insb. / insb.
Insbesondere / insbesondere
I. S. / i. S.
Im Sinn / im Sinn
i. S. v.
im Sinn von
i. V. m.
in Verbindung mit
i. w. S.
im weiten Sinn
JZ
Juristen-Zeitung
Lat. / lat.
Lateinisch / lateinisch
M. a. W. / m. a. W.
Mit anderen Worten / mit anderen Worten
M. w. H. / m. w. H. Mit weiterem Hinweis, Mit weiteren Hinweisen / mit weiterem Hinweis, mit weiteren Hinweisen m. w. N.
mit weiterem Nachweis, mit weiteren Nachweisen
Ndr.
Neudruck
NJW
Neue Juristische Wochenschrift
o. Ä. / o. ä.
oder Ähnliches, oder Ähnlichem / oder ähnlich
Orig.
Original
Rn.
Randnummer, Randnummern
S.
Seite, Seiten
s.
siehe
s. a.
siehe auch
sc.
scilicet, scire licet (soll heißen)
sog.
so genannter, so genannte, so genanntes, so genannten
teilw.
teilweise
u. a.
unter anderem
u. Ä. / u. ä.
und Ähnliches, und Ähnlichem / und ähnlich
u. ö.
und öfter
usw.
und so weiter
V. a. / v. a.
Vor allem / vor allem
Vgl. / vgl.
Vergleiche / vergleiche
Z. B. / z. B.
Zum Beispiel / zum Beispiel
Zit. / zit.
Zitiert / zitiert
ZSR
Zeitschrift für Schweizerisches Recht
z. T.
zum Teil
Einleitung: Thema, Methode und Prozedere Im Folgenden soll eine Theorie legitimen demokratischen Rechts erarbeitet werden, die sowohl in juristischer als auch in ethischer Perspektive überzeugt. Die so verstandene interdisziplinäre Theorie demokratischen Rechts wird dabei einen Weg finden müssen, wie sich die disziplinären Sichtweisen beider, der Jurisprudenz und der Ethik, zu einer gemeinsam tragbaren Gesamtkonzeption integrieren lassen. Zwar lassen sich die Sichtweisen der Rechtswissenschaft und der Ethik nicht durcheinander ersetzen. Jede wird jeweils eine Sichtweise auf das geteilte Ganze bleiben. Die Zusammenarbeit soll aber ein geteiltes Ganzes ergeben, in das sich die beteiligten Sichten gemeinsam einfügen. Interdisziplinäre Integration ist allerdings mehr als ein Puzzle-Spiel, in dem bereits vorgefertigte Komplementäre bloß aneinander angefügt werden. Vielmehr müssen die bisher selbstgenügsam vor sich hin arbeitenden disziplinären Logiken ihre gegenseitigen Verbindungsstellen zuerst erschaffen. Das wird ihnen nur in der Kommunikation gelingen. Die am interdisziplinären Prozess Beteiligten müssen sich miteinander verständigen: wie sie überhaupt zueinander stehen, wie sie sinnvoll miteinander arbeiten können und natürlich in der gemeinsamen Arbeit als solcher. Das zwingt die verschiedenen Disziplinen zu einem Rollentausch. Es genügt nicht, die „gemeinsame“ Arbeit zu koordinieren. Ob koordinierte Arbeitsteilung zum Ziel führt, werden die Arbeitenden nämlich erst sehen können, wenn sie verstehen, welchen Beitrag die anderen Parteien tatsächlich leisten. Dieses Verstehen – darin liegt gewissermaßen die Ironie wissenschaftlicher Differenzierung – ist aber nur um den Preis der Aneignung der Arbeit der anderen zu haben. Und damit wird deren Arbeit auch zur eigenen. Eine interdisziplinäre Theorie wird erst dann Erfolg haben, wenn ihr die Beteiligten verschiedener disziplinärer Herkunft aus denselben guten Gründen zustimmen können. Die guten Gründe, die in einer juristisch wie ethisch überzeugenden Legitimationstheorie zum Tragen kommen, werden hier schwergewichtig in der normativen Struktur verortet, die den Rechtfertigungsprozess über seine verschiedenen disziplinären Bereiche hinweg durchzieht. Die diskursive oder deliberative These besagt, dass sich die Legitimität des demokratischen Rechts unabhängig von seinem spezifischen Kontext danach bemisst, in welchem Umfang es den Beteiligten die faire Chance belässt, die Macht des Rechts in Sprache zu falten und das Recht in zumutbaren Argumentationen herzustellen, in denen wiederum nur gute Gründe zählen: in öffentlichen Diskursen oder Deliberationen. „Unabhängig von seinem spezifischen Kontext“ heißt dabei nicht, dass die diskursive Struktur, die den Prozess
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Einleitung: Thema, Methode und Prozedere
des demokratischen Rechts im Ganzen durchziehen sollte, nicht kontext-, und d. h. insbesondere disziplinenspezifische Besonderheiten erforderlich machen würde. Interdisziplinarität wäre falsch verstanden, wenn gemeint wäre, die Theorie könne im Vorhinein von einer bestimmten Struktur beherrscht werden. Es ist gerade eine wichtige Aufgabe interdisziplinärer Theorie, disziplinenspezifische Besonderheiten herauszuarbeiten und ernstzunehmen. Diese Aufgabe wahrgenommen, lässt sich zeigen, wie das demokratische Recht aus den verschiedenen disziplinären Perspektiven auch im Zusammenhang als eine durchgehend diskursive Praxis rekonstruiert werden kann. Es fragt sich freilich, wie das vonstatten gehen soll. Wenn nachfolgend die Ansätze und Grundlinien dieser Untersuchung vorgezeichnet werden, versteht sich, dass es sich dabei lediglich um Skizzierungen dessen handeln kann, was erst noch zu erarbeiten ist. Wissenschaftliche Untersuchungen können nicht mehr vom Anfang zum Ende gehen und glauben, das zuvor Gesagte bliebe als deduktiver Anfangsgrund voraussetzungslos. In einem wissenschaftlichen Text werden auch Voraussetzungen ausgesetzt, und zwar nicht nur der Unzahl anderer Texte, deren gleiche, ähnliche oder anschlussfähige Ansprüche nach Kontextualisierung rufen, sondern auch den Nachsätzen derselben Untersuchung, die ihren unmittelbaren Kontext bilden. Zirkulären Strukturen kann dabei nicht ausgewichen werden. Der kritische Gehalt der Hermeneutik lehrt, dass das Verstehen in einem Zirkel von Vorverständnissen gefangen ist, aus dem es im Prinzip kein Entrinnen gibt. Möglich, aber auch notwendig ist dagegen, das (vermeintlich) Vorverstandene solange so analytisch, so kritisch und so hartnäckig zirkulieren zu lassen, bis es sich zu einem vorläufig fraglosen, gut begründeten Verständnis verdichtet. Anders ausgedrückt: Der Text muss sich in seinen Kontexten bewähren. Das gilt im Besonderen auch für das begriffliche Instrumentarium, in das hier vorläufig eingeführt wird. Hierbei geht es nicht darum, „die“ Bedeutung „festgeschriebener“ Signifikate „eindeutig“ zu definieren. Es geht darum, vorläufige Verstehensräume zu markieren, die eine Vorstellung vom Nachfolgenden vermitteln und auch kritisierbare Ansatzpunkte für die Kohärenz dieser Arbeit zur Verfügung stellen. Zunächst geht es darum, auf geeignete Weise in den hermeneutischen Zirkel hineinzukommen. Dazu sollen 1. Thema, 2. Methode und 3. Prozedere dieser Untersuchung etwas eingehender erläutert werden.1
1 Der Schwierigkeit, richtig in den hermeneutischen Zirkel einzuführen, wird hier dadurch begegnet, dass in den folgenden Ausführungen Thema, Methode und Prozedere vorerst nur so weit erläutert werden, wie es das Verständnis der nachfolgend ausgerollten Fäden erforderlich macht. Begründet werden die methodologischen Hintergründe der erläuterten Zusammenhänge in Kapitel III, insb. in III. 2. und III. 3., wo die Fäden im Rahmen einiger selbstvergewissernder Zwischenüberlegungen wieder zusammengeführt werden.
1. Thema: Demokratisches Recht
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1. Thema: Demokratisches Recht Das Forschungsproblem oder die Forschungsfrage dieser Arbeit kann zunächst hinsichtlich ihres Themas erläutert werden. Unter dem „Thema“ oder der „Thematik“ ist hier das zu verstehen, was sich die Arbeit zum Objekt, zu ihrem Gegenstand macht: das demokratische Recht. Nun gibt es wohl kaum einen schillernderen Begriff als den des Rechts. Sofort scheinen Kontexte auf, die auf Gerechtigkeit und Rechtfertigung, aber auch auf Ungerechtigkeit und Unrecht, auf Zwang, Gewalt und Macht verweisen. In thematischer Hinsicht wird das Problem des „Rechts“ hier als die normative Ordnung menschlichen Zusammenlebens analysiert, die immer auch von Macht, wenn auch nicht immer von Staatsmacht, begleitet ist. Wenn Menschen sich – oder auch anderen – eine normative Ordnung geben, heißt das nicht nur, dass sie im Sinn haben, dass nach oder im Rahmen dieser Rechte gewährenden und Pflichten auferlegenden Regelung zu leben ist. Sie meinen auch, dass Verstöße gegen eine solche Ordnung mit den angemessenen Mitteln, nötigenfalls mit Gewalt, zu sanktionieren sind. Eine Person, die im normativen Sinn das Recht auf ihrer Seite zu haben glaubt, meint, dass es ihre Vorstellungen vom geordneten Sozialen verdienen, mit Macht durchgesetzt zu werden. Die Macht ist aus dem Recht nicht wegzudenken. Das Recht wird hier außerdem als ein Prozess verstanden, als ein dynamischer Prozess praktischer Recht-fertigung, nicht als ein statisches Gebilde epistemisch vor-gegebener Normen oder als starr vorbestehender „Normenkomplex“. Recht „gibt“ es nicht im ontologischen Sinn, sondern es wird in der Praxis erzeugt. Und diese Praxis steht nicht still, sie bleibt mit jeder Varianz des Sozialen in produktiver Bewegung. Das Recht wird in laufender Erneuerung, in einem sich ständig in Bewegung befindenden Prozess der Recht-Fertigung reproduziert. Es ist daher auch angebracht, das hier infrage stehende Thema des Rechts als „Legitimationsprozess“ oder kurz als „Legitimation“ zu fassen. Das Recht als einen Prozess der Rechtfertigung zu begreifen, legt sich auch von seinem vorschreibenden Charakter her nahe: Eine rechtliche Ordnung oder ein rechtliches Urteil schließt immer auch mit ein, wie sich eine Person oder wie sich mehrere Personen verhalten sollen. Insofern den betreffenden Personen damit auferlegt wird, wie sie ihren näheren oder ferneren Lebensweg zu gestalten haben, ist ihnen eine Rechtfertigung geschuldet. Das Legitimationserfordernis besteht dabei umso dringender, wenn bedacht wird, dass die Vorschriften, die den Betroffenen zugemutet werden, mit einem virtuellen oder tatsächlichen Anspruch allfälliger Durchsetzungsmacht verbunden sind. Nun sind hier vorrangig solche Aspekte des Legitimationsprozesses von Interesse, die sich im Kontext des demokratischen Rechts bewegen. Das Thema „Recht“ wird auf die sozialen Ordnungszusammenhänge spezialisiert, die sich in modernen Demokratien abspielen. Die Konzentration auf das „demokratische Recht“ oder auf die „demokratische Legitimation“ bedeutet, dass hier unter konkreteren Gesichtspunkten nur solche Kontexte von Belang sein sollen, die in demokratischen
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Einleitung: Thema, Methode und Prozedere
politischen Ordnungen pluralistischer, komplex ausdifferenzierter Gesellschaften anzutreffen sind. In dieser Spezifizierung bezieht sich das Thema auf eine bestimmte, nämlich die demokratische politische Kultur, wie sie etwa in den politischen Ordnungen der sog. westlichen Demokratien Westeuropas und Nordamerikas beansprucht wird – was freilich nicht heißt, dass das Grundmodell moderner Demokratie nicht auch andernorts zu finden oder möglich wäre. Bei allen weiteren denkbaren Spezifizierungen, in die sich das demokratische Recht verzweigen mag, besteht die normative Grundlogik dieser Rechtskultur darin, dass sich die Ordnungsmacht rechtlicher Zusammenhänge prinzipiell auf die Zustimmung der von ihr Betroffenen berufen können soll.2 Wenn auch nicht für sämtliche rechtlichen Kulturen, so soll der hier erhobene Geltungsanspruch immerhin diesen Typ von Rechtsordnung erfassen. In Bezug auf die demokratische Legitimation soll die Untersuchung, jedenfalls auf der Abstraktionsebene des Politischen und soweit es in ihrem Rahmen möglich ist, allerdings umfassend ansetzen. Die angedeutete „Abstraktionsebene“, auf der die Idee der demokratische Legitimation erläutert worden ist, entspringt einem thematischen Anspruchsbereich mittlerer Abstraktion, in dem das Recht in einer „mesoskopischen“ Sicht rekonstruiert wird. Dieser Mesoskopus bezieht sich auf eine spezifische, jedoch beliebige rekonstruierbare Legitimationskultur, neben der auch andere stehen mögen – neben der hier relevanten demokratischen etwa die (hier nicht relevante) autokratische. Die mesoskopische Sicht bedeutet nicht nur eine Differenzierung verschiedener Rechtskulturen. Mit der Auswahl einer bestimmten Rechtskultur verbindet sich zugleich ein umfassender Bereichsanspruch zum Konkreten hin. Die ausgewählte Rechtskultur bezieht sämtliche zu ihr gehörenden situationellen Aspekte mit ein, im Kontext der Demokratie z. B. den Prozess der öffentlichen Gesetzgebung (Legislation) oder den der Rechtsbeurteilung im konkreten Fall (Judikation). Mesoskopisch gesehen, wird das Recht als ein rechtskulturell beliebiger, aber bestimmter, zusammenhängender normativer Prozess interpretiert, als eine in Raum und Zeit versetzte politische „Konstitution“. Von welcher bestimmten politischen Konstitution des demokratischen Typs dabei die Rede ist, ob es sich etwa um die schweizerische, die bundesrepublikanische oder die amerikanische Rechtsordnung handelt, bleibt hier unerheblich. Potenziell ist auch eine demokratische Weltkonstitution gemeint. Wird nur auch die Zeit und mit ihr die Geschichte mitberücksichtigt, so wäre auch sie eine bestimmte, in Raum und Zeit versetzte Rechtsordnung eines bestimmten rechtskulturellen Typs. Das Recht ist thematisch aber nicht auf der Mesoebene gefangen. So kann auch zu einer „mikroskopischen“ Perspektive gewechselt werden, in der der ausgewählte rechtskonstitutionelle Zusammenhang, hier der demokratische, wiederum in Bezug auf einen oder mehrere thematische Aspekte konkretisiert wird. In diesem situationellen Abstraktionsbereich wird der Blick innerhalb der demokratischen Rechtskultur auf bestimmte konkrete Entscheidungsprozesse gelenkt. Hervorzuheben 2
Vgl. Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 128, Rn. 402 / S. 184, Rn. 569.
1. Thema: Demokratisches Recht
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sind dabei v. a. die Prozesse der Legislation und der Judikation. Innerhalb des Prozesses demokratischer Legitimation bedeutet „Legislation“ den konkreten Prozess der politisch-rechtlichen Erarbeitung von in der jeweils maßgeblichen Rechtsordnung geltenden Gesetzestexten. Dieser Prozess ist nicht auf das in modernen Demokratien übliche Geschehen des parlamentarischen Verfahrens beschränkt, sondern beginnt schon früher, in den öffentlichen Interaktionen der Peripherie, des Intermediären und freilich auch, wenn nicht sogar meistens, im politischen Zentrum. An den Prozess der Legislation schließt sich der Prozess der konkreten rechtlichen Beurteilung, der normativen Entscheidungsfindung im konkreten Einzelfall an, der hier als „Judikation“ bezeichnet wird. Auch Judikation beschränkt sich nicht auf die Prozesse, die im politischen Zentrum der Demokratie situiert sind. Judikation ist nicht gleichbedeutend mit Jurisdiktion, der institutionell organisierten Funktionstätigkeit einer staatsrechtlich berufenen Entscheidungsträgerin (der Judikative oder der Exekutive). Judikation ist der Handlungsprozess, durch den und in dem, von legislativen Rechtstexten angeleitet, konkrete Rechts- und Entscheidungsnormen, konkrete Rechtsurteile erarbeitet werden. I. d. S. judizieren Judikative und Exekutive auch, zuweilen sogar die Legislative. Wie beim Prozess der Legislation sind die klassischen Organe des demokratischen Zentrums aber bei Weitem nicht die Einzigen, die judizieren. Mit dem Blickwechsel vom kulturellen Mesoskopus zum situationellen Mikroskopus, von der Konstitution zur Legislation und zur Judikation, ist die Perspektive aufs demokratische Recht konkreter geworden. Umgekehrt wird sie im Rückgang zur Ebene der gesamten demokratischen Rechtskultur wieder abstrakter. Die mesoskopische Sicht kann zudem ihrerseits noch zu einer „makroskopischen“ abstrahiert werden. So wird das (demokratische) Recht, thematisch gesehen, nicht mehr nur in Bezug auf eine bestimmte Kultur des Rechtfertigens und innerhalb derselben auf eine bestimmte prozessuale Situation bezogen, sondern in räumlicher und zeitlicher Hinsicht völlig entgrenzt. Auf der universellen Ebene wird der Prozess der Rechtfertigung nicht mehr auf eine bestimmte Rechtskultur und auf eine bestimmte Situation bezogen, sondern als Rechtfertigung schlechthin, als Recht überhaupt betrachtet. In dieser Sicht wird der Rechtsprozess hier „Justifikation“ genannt. Es kann auch gesagt werden, dass das Recht mit dem Blickwechsel vom Mesoskopus zum Makroskopus, mit dem Schritt von der Konstitution zur Justifikation, vom Politischen zum „Moralischen“, zum Problem des schlechthin Richtigen übergeht. Der Anspruch des Rechts setzt in diesem Bereich besonders hoch an. Die Rekonstruktion des Legitimationsprozesses beansprucht nicht mehr nur kulturell oder gar situationell spezifische, sondern universelle Gültigkeit. Wie im Verhältnis von der mesoskopischen Sicht zur mikroskopischen impliziert die kontextuelle Entgrenzung, die in makroskopischer Sicht ihr Äußerstes erreicht, einen prinzipiellen Einschluss sämtlicher konkreterer Aspekte, d. h. nicht nur der demokratischen, sondern prinzipiell sämtlicher rekonstruierbarer Rechtskulturen, von deren situationellen Konkretisierungen ganz zu schweigen. Dieser universelle Anspruch, den die abstrakte perspektivische Deutung des Rechts als Justifikation mit sich bringt, wird sich freilich auch konzeptionell nur sehr abstrakt einlösen lassen.
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Einleitung: Thema, Methode und Prozedere
Dennoch liefert auch die makroskopische Sicht auf das Recht einen wichtigen Aspekt. Nicht selten wird gerade in politischen Kontexten oder ganz konkreten rechtlichen Entscheidungssituationen die Gerechtigkeit oder die Moral angerufen, weil die Beteiligten oder einzelne von ihnen der Meinung sind, die konkreten Strukturen, Prozesse oder Ergebnisse eines rechtlichen Zusammenhangs widersprächen just jener Vorstellung vom schlechthin Richtigen. Wenn die Rede von „Recht und Gerechtigkeit“ nicht nur eitler Schein einer gutgemeinten Herrschaftspraxis sein soll, sondern tatsächlich einen rationalen Zusammenhang verbirgt, dann ist es das Moralische auch wert, auch in der Theorie berücksichtigt zu werden. Freilich darf sich die Reflexion des Rechts nicht im Abstrakten verlieren. So sind es umgekehrt oft „moralische“ Anrufungen, die die konkrete rechtliche Entscheidungsfindung herausfordern, ohne den demokratisch-institutionalisierten Rechtsprozessen Rechnung tragen zu wollen. Die mühsam angeeignete „Kleinkunst“ mikroskopischer Rechtsarbeit soll sich in einem für die wirklichen Probleme viel zu weiten Makrokosmos „der“ Moral auflösen. Auch das ist nicht der Weisheit letzter Schluss. Wie die makroskopische Sicht muss auch die mikroskopische zu ihrem Recht gelangen. Auch auf sie zu verzichten, würde die Gefahr erhöhen, dass die herrschenden Verhältnisse in einen Deckmantel ungerechtfertigter Rechtfertigung gehüllt werden. Soll der Makrokosmos an den Mikrokosmos aber Anschluss finden, soll das Universelle mit dem Situationellen im Zusammenhang gesehen werden, so wird das ohne eine vermittelnde Sichtweise nicht zu machen sein. Daher ist es auch wichtig, die vielleicht naheliegendste Sicht auf die demokratische Kultur nicht zu vergessen. Erst die hier als mesoskopische Perspektive bezeichnete Mittelebene der Konstitution bildet das perspektivische Verbindungsstück zwischen dem Rechten schlechthin und demselben Recht, das hier und jetzt wirksam werden soll. Für eine umsichtige Rechtsreflexion ist jeder der analysierten thematischen Abstraktionsbereiche von Bedeutung. Aus diesem Grund wird das Thema des demokratischen Rechts hier in allen drei Perspektiven angegangen. Die mikroskopische, die mesoskopische und die makroskopische Sicht bilden, vom Konkreten zum Abstrakten oder umgekehrt vom Abstrakten zum Konkreten, einen thematischen Gesamtzusammenhang, aus dem sich ohne Gewalt kein Bereich heraustrennen lässt. D. h. nicht, dass innerhalb der Abstraktionsstufen keine thematischen Schwerpunkte gesetzt werden könnten. Im Rahmen einer Untersuchung wie dieser ist eine gewisse thematische Beschränkung auch unerlässlich. Vom kontextuell entgrenzten Bereich der universellen Justifikation, der in Bezug auf sein Abstraktionsniveau bereits ausfüllend ist (es ist von einem raumzeitlichen Universum auszugehen), abgesehen, konzentriert sich die Problematik auf der kulturellen Ebene, wie gesagt, auf die demokratische Konstitution. Auf der situationellen Ebene, dort, wo konkrete Handlungsprozesse der Entscheidungsfindung infrage stehen, wird der Fokus auf die Judikation (und nicht etwa auf die Legislation) gelegt. Als spezifischer Handlungsprozess wird die Legislation lediglich in den (ebenso die Judikation erfassenden) Bereich der Konstitution miteingeschlossen, jedoch nicht eigens hervorgehoben. Immerhin kann gesagt werden, dass der Legislation auf der Ebene der Konstitution tendenziell
2. Methode: Ethisch-juristische Legitimation
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mehr Beachtung zu schenken ist. Das liegt nicht etwa daran, dass die Legislation in modernen Demokratien eine größere Rolle spielen würde als die Judikation, sondern daran, dass die herkömmliche auf der politischen Ebene arbeitende Wissenschaftspraxis dazu neigt, dem Prozess der Legislation eine bevorzugte Beachtung zu schenken und die Judikation zu vernachlässigen. Mit der Fokussierung der Judikation auf der Mikroebene wird dieser Tendenz hier ein Gegengewicht gegeben. So ergibt sich für das demokratische Recht in dieser Untersuchung ein Themenbereich, der sich, vom Abstrakten zum Konkreten, vom Recht als Justifikation über das Recht als demokratische Konstitution zum Recht als Judikation oder umgekehrt, vom Konkreten zum Abstrakten, von der Judikation über die Konstitution zur Justifikation erstreckt. Insgesamt definiert dieser Themenbereich einen integrativen Begriff demokratischen Rechts.
Abbildung 1: Der Themenbereich der Untersuchung
2. Methode: Ethisch-juristische Legitimation Wäre nun eingangs nicht bereits gesagt worden, dass hier die Legitimität des demokratischen Rechts infrage steht, ginge aus dem Vorstehenden ohne Weiteres nicht hervor, nach welcher Methode diese Untersuchung verfahren will. Unter „Methode“ oder „Methodik“ wird hier die spezifische Herangehensweise verstanden, mit der der ausgewählte Themenbereich angegangen wird. Es geht hierbei um die Frage, wie das (demokratische) Recht bei gegebener thematischer Spezifizierung außerdem noch betrachtet oder bearbeitet werden soll. Das (demokratische) Recht kann etwa daraufhin untersucht werden, wie die Prozesse des ordnenden menschlichen Zusammenlebens auf der Grundlage eines bestimmten Funktionsverständnisses sinnvoll ineinander greifen. Diese „funktiologische“ bzw. „soziologische“ Herangehensweise ist von großer Wichtigkeit. Denn nur wenn verstanden wird, wie die Prozesse demokratischer Rechtfertigung im Raum des Möglichen tatsächlich funktionieren, können auch weitere Fragen an das Recht seriös beantwortet werden. Unter diesen ist hier in erster Linie die Frage der „Legitimität“ des demokratischen Rechts von Interesse. Hier interessiert, unter welchen Bedingungen die Prozesse demokratischer Rechtfertigung ihrerseits gerechtfertigt sein können. Das ist mehr als ein bloßes Be-schreiben dessen, was de facto für Recht gehal-
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Einleitung: Thema, Methode und Prozedere
ten wird. Den methodischen Ansatz der Legitimation zu wählen, bedeutet de jure vor-zuschreiben, wie die sozialen Verhältnisse aussehen sollten. Sich ein Bild vom legitimen Recht machen zu wollen, heißt, die Bedingungen zu bestimmen, unter denen faktisch oder potenziell wirksame Rechts- und Machtverhältnisse zustimmungswürdig sind. Zustimmungswürdige Bedingungen legitimer Rechtfertigungsprozesse zu bestimmen, kann sich freilich nicht in der Angabe „einschlägiger“ Vorschriften erschöpfen. Auch ein soziologischer Ansatz muss mehr leisten, als lediglich zu beschreiben, wie die sozialen Verhältnisse „sind“. Für die Ausarbeitung eines soziologischen Funktionszusammenhangs liefert die eindimensionale Beschreibung von Oberflächenphänomenen lediglich einen Ansatzpunkt. Der Zusammenhang selbst muss jedoch erweitert und zu einem gut begründeten Argumentationsraum ausgebaut werden. Für die legitimatorische Methode gilt nichts anderes. Auch hier werden Gründe dafür angeführt werden müssen, weshalb die gemachten Vorschläge legitimer Ordnung Geltung beanspruchen können. Wie solche normativen Geltungsansprüche erfolgreich eingelöst werden können, kann nicht vorweggenommen werden. Auf nachmetaphysischem Begründungsniveau können sich gute Gründe nur noch im Diskurs bewähren. Die Güte der Gründe wird der Argumentation überantwortet. So gesehen, weist nicht nur die thematische Analyse, sondern auch die methodische in eine prozedurale Richtung. Nicht nur das Thema des demokratischen Rechts, auch die methodische Herangehensweise der Legitimation ist als Prozess zu verstehen. Die hier verfolgte „Legitimation“ des demokratischen Rechts ist seine Rechtfertigung durch Argumentation. „Legitimität“ kommt dagegen erst dem Produkt erfolgreicher Legitimationsarbeit zu. Der sich daraus ergebende doppelte Zug des Begriffs der Legitimation, der hier am Werk ist, ist unverkennbar. Legitimation ist einerseits als zum Thema gemachter Rechtfertigungsprozess und andererseits als methodisch gewendeter Rechtfertigungsansatz zu verstehen. Insofern wäre das Forschungsproblem zutreffend als Legitimation der (demokratischen) Legitimation bezeichnet. Um Thema und Methode klarer voneinander zu unterscheiden, wird das Forschungsproblem im Zusammenhang künftig jedoch Legitimation (Methode) des demokratischen Rechts (Thema) heißen. Die Untersuchung bleibt dabei freilich gleichwohl eine Theorie demokratischer Legitimation. Die disziplinären Räume, in denen sich die Argumente für die Legitimation des (demokratischen) Rechts hauptsächlich sammeln, sind die „Rechtswissenschaft“ („Jurisprudenz“) und die „Ethik“. Beide Disziplinen erheben den dezidierten Anspruch, Ordnungsmacht und normative Entscheidungsfindung in hinreichender Weise zu legitimieren, und bemühen sich dementsprechend mit besonderem Eifer darum, für diese Legitimation gute Gründe anzugeben. Dabei kann das Verhältnis der Art und Weise, wie die Jurisprudenz und die Ethik dies zu besorgen suchen, als eine Wechselbeziehung in der Abstraktion bzw. Konkretion der Legitimationsarbeit erläutert werden. Seinem Selbstverständnis nach liegt der juristische Legitimationsanspruch, jedenfalls in modernen Demokratien, in der Rechtfertigung durch
2. Methode: Ethisch-juristische Legitimation
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demokratisch-rechtsstaatlich erlassenes Gesetzesrecht. Im Verhältnis zur philosophischen Ethik mutet der Legitimationsansatz der Jurisprudenz daher relativ konkret an. Ihr ist daran gelegen, die legitimatorischen Vorschreibungen in dogmatischen und theoretischen Konzeptionen zu begründen, die am konkreten, positiven Gesetzesrecht orientiert bleiben und einen hohen Grad an sachlicher Differenzierung aufweisen. Bei diesem Geschäft haben sich die Juristinnen und Juristen über die Jahrhunderte hinweg eine beachtliche Kompetenz angeeignet. Wer in der Jurisprudenz nach guten Legitimationsgründen sucht, stößt auf ein ganzes „Bergwerk voll von Expertenwissen“3. Aber auch die philosophische Ethik verfügt über einen reichen Schatz an bewährtem Reflexionswissen, und auch sie drängt nach differenzierter Argumentation. Im Verhältnis zur juristischen bewegt sich diese jedoch auf einer abstrakteren Ebene, und die sachliche Durchdringung der fokussierten Probleme erfolgt aus einer zunehmenden perspektivischen Distanz. Ihrem Anspruch nach strebt die Ethik in ihrer Legitimationsarbeit nach abstrakten theoretischen und philosophischen Konzeptionen, die über das konkrete Gesetzesrecht hinausweisen. Im Zusammenhang gesehen, lassen sich die juristische und die ethische Legitimationsmethode mit zunehmender Abstraktion auf folgende Weise dreifach systematisieren. Als „rechtsdogmatisch“ oder kurz „dogmatisch“ kann die methodische Legitimationsperspektive verstanden werden, in der das menschliche Zusammenleben lege artis, nach den eingespielten Regeln der juristischen Kunst, am Maßstab des demokratischen Gesetzesrechts gerechtfertigt wird. Es handelt sich im Grunde um die alltägliche Tätigkeit von Juristinnen und Juristen, in der konkrete Entscheidungsprobleme, aber auch Probleme von abstrakterer politischer Relevanz juristisch richtig bewältigt werden. Diese Legitimationssicht wird um eine Stufe abstrakter, wenn die Rechtfertigung situationeller Entscheidungsprobleme und konstitutioneller Zusammenhänge mit dem demokratisch-rechtsstaatlich erlassenen Gesetzesrecht zwar noch in Berührung bleiben, die Perspektive aber darüber hinausreichen und das Gesetzesrecht als Maßstab auch selbst noch reflektiert werden soll. Dieser hier als „rechtstheoretisch“ oder kurz „theoretisch“ bezeichnete Legitimationsansatz bewegt sich in einem „juristisch-ethischen“ Zwischenbereich, der einerseits mit dem positiven Recht noch auf Tuchfühlung bleibt, andererseits aber auch Anleihen bei abstrakten philosophischen Konzepten machen muss. Auf der Stufe der „rechtsphilosophischen“ oder kurz „philosophischen“ Legitimationsmethode kommen die positivierten Gesetzesvorschriften als Maßstab schließlich gar nicht mehr in den Blick. Aus dieser Perspektive erfolgt die Legitimationsarbeit in Argumentationen, die sich in eine ganz allgemeine Sprache und in sehr abstrakte Konzepte und Konzeptionen zurückziehen. Auf dieser Abstraktionsebene schlägt das Herz der philosophischen Ethik. Wie bereits in thematischer Hinsicht, so wird hier nun auch in methodischer Hinsicht der Versuch unternommen, möglichst allen drei genannten Ebenen, nun der Rechtslegitimation, Rechnung zu tragen. Mit den angezeigten Bereichsdiffe3
Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 72.
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Einleitung: Thema, Methode und Prozedere
renzierungen soll eine integrierte Legitimation des demokratischen Rechts verfolgt werden, die sowohl den Ansprüchen der Jurisprudenz als auch denen der Ethik gerecht wird. Wenn diese beiden Protagonistinnen der Rechtslegitimation tatsächlich jeweils ernstzunehmende wissenschaftliche Rechtfertigungspraxen pflegen, dann sollte es doch angebracht sein, ihr Tun auch im Zusammenhang zu betrachten. Die Zusammenarbeit zwischen Jurisprudenz und Ethik eröffnet dann die Aussicht darauf, für das Ganze, aber auch für die jeweils Andere zu lernen. In methodischer Hinsicht zielt diese Untersuchung also auf eine i. d. S. verstandene „ethisch-juristische“ Legitimation demokratischen Rechts. Sie ist zu unterscheiden von der oben erläuterten rechtstheoretischen Perspektive des juristisch-ethischen Zwischenbereichs, die hier auch eingenommen werden soll. Interdisziplinäre Integration kann nicht lediglich auf einen Bereich reduziert werden, der sich zwischen die Kernkompetenzen der Disziplinen legt. Sie macht auch methodisch gesehen nicht nur die Erschließung von Grenzräumen nötig, sondern erfordert auch einen – oft schwierigen – echten Blickwechsel in die jeweils andere Disziplin. So kann in Ergänzung zum zuvor erläuterten Themenbereich dieser Untersuchung zusätzlich von einem Methodenbereich gesprochen werden, der einen integrativen ethischjuristischen Legitimationsansatz beschreibt. Vom Konkreten zum Abstrakten erstreckt er sich von der dogmatischen über die theoretische zur philosophischen und umgekehrt von der philosophischen über die theoretische zur dogmatischen Rechtslegitimation.
Abbildung 2: Der Methodenbereich der Untersuchung
Im Rahmen dieser Erläuterung der Methodik dieser Untersuchung sei außerdem noch angemerkt, dass der legitimatorische Ansatz, der hier durch die verschiedenen Anspruchsbereiche der Jurisprudenz und der Ethik repräsentiert wird, ohne die bereits erwähnte soziologische Sicht nicht auskommt. Die soziologische Perspektive, das Problem des Funktionierens, bildet das inhärente Gegenstück der legitimatorischen Sichtweise, des Problems des Legitimierens. Jede Konzeptionalisierung legitimer Sozialverhältnisse bedeutet, sich mindestens auch implizit darüber zu äußern, wie diese Beziehungen einen funktionierenden Zusammenhang abbilden. Zweidimensional betrachtet, bildet die soziologische Sicht bloß die Kehrseite derselben Medaille, auf deren Vorderseite eine legitimatorische Währung eingeprägt ist. Die beiden grundlegenden Methodenarten lassen sich auch nicht hierarchisieren.
3. Prozedere: Interdisziplina¨re Feldarbeit
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In einer methodologisch reflektierten sozialwissenschaftlichen Untersuchung greifen sie unweigerlich als gleichberechtigte ineinander. Dem widerspricht auch nicht, dass hier in erster Linie der (ethisch-juristische) Legitimationsanspruch hervorgehoben wird und die entsprechenden soziologischen Anspruchsbereiche (der Dogmatik, der Theorie und der Philosophie) sozusagen unsichtbar in den Hintergrund rücken. Dass Funktions- und Legitimationslehre ineinander greifen, bedeutet nicht, dass kein methodischer Akzent gesetzt werden könnte. Es ist aber darauf zu achten, dass die soziologische Rückseite des hiesigen Legitimationsprojekts immer berücksichtigt bleibt. Das wird hier dadurch geschehen, dass die verschiedenen disziplinären legitimatorischen Ansätze (sozusagen das „Normprogramm“) stets im Zusammenspiel mit entsprechenden soziologischen Ansätzen (sozusagen dem „Normbereich“) zu einer auch soziologisch tragfähigen Konzeption verdichtet werden. Das wird besonders in der zweiten Hälfte dieser Arbeit deutlich werden.
3. Prozedere: Interdisziplinäre Feldarbeit Die Erläuterungen zu Thema und Methode haben den Themen- und den Methodenbereich dieser Untersuchung angegeben. Im Weiteren fragt sich, mit welchem Prozedere diese Bereiche geeignet zu erschließen sind. Um das zu klären, ist es hilfreich, den Themenbereich und den Methodenbereich dieser Untersuchung übereinander querzulegen, um so einen Überblick über den disziplinären Anspruchsbereich der Untersuchung zu erhalten. Werden der zuvor dargelegte Themenbereich und der Methodenbereich als Achsen eines zweidimensionalen Disziplinenrasters eingerichtet, so lässt sich ein interdisziplinärer Kommunikationsraum bestimmen, in dem sich verschiedene, nach einem thematischen und einem methodischen Aspekt strukturierte Disziplinenfelder befinden. Jedem Themenbereich, also dem mikroskopischen der Judikation, dem mesoskopischen der Konstitution und dem makroskopischen der Justifikation, lässt sich dann jeweils ein methodischer Bereich, der dogmatische, der theoretische und der philosophische, zuordnen und umgekehrt. Das ergibt einen Raum neun potenzieller Disziplinenfelder. Den Raster so kalibriert, dass die beiden Achsen an ihrer konkretesten Ausrichtung zusammenführen, bezeichnet der Treffpunkt der Achsen den thematisch wie methodisch konkretesten Punkt des Anspruchsbereichs, während sich dieser mit zunehmender Distanz zu den Achsen zum Abstrakten hin öffnet. Danach lassen sich im Anspruchsbereich dieser Untersuchung die folgenden Disziplinenfelder ausmachen. Das konkreteste Feld („Südwest“), in dem sich das Thema der Judikation und die dogmatische Legitimationsmethode treffen, wird hier als die Disziplin der „Urteilsdogmatik“ bezeichnet. In dieser Disziplin sammeln sich all diejenigen Argumentationen, die die rechtliche Entscheidungsfindung im konkreten Einzelfall nach den Regeln der juristischen Kunst rechtfertigen wollen. In der „Urteilstheorie“ und der „Urteilsphilosophie“ wird dieser juristisch-dogmatische Legitimationsanspruch schrittweise über den juristisch-ethischen („Süd“) zum ethischen („Südost“) hin abstrahiert. Wird der Blick von der Ur-
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Einleitung: Thema, Methode und Prozedere
teilsdogmatik in thematischer Hinsicht um eine Anspruchsstufe abstrahiert („West“), so findet sich das Feld der „Verfassungsdogmatik“. Aus dogmatischer Sicht stehen dann nicht mehr (nur) Fragen der Judikation zur Debatte, sondern solche, die die politische Konstitution einer demokratischen Rechtsgemeinschaft im Ganzen betreffen. Mit einem weiteren Abstraktionsschritt in methodischer Hinsicht („Mitte“) wird die Verfassungsdogmatik im juristisch-ethischen Zwischenbereich zur „Verfassungstheorie“ und in ethischer Perspektive („Ost“) zur „politischen Philosophie“. Das Disziplinenfeld mit dem abstraktesten Anspruch („Nordost“) bildet die „Moralphilosophie“. Dort wird der thematische Bereich der Justifikation aus ethisch-philosophischer Sicht bearbeitet. Die beiden übrigen potenziellen Felder des Themenbereichs der Justifikation („Nord“ und „Nordwest“) bleiben hier unbesetzt. Einen besonderen Platz nimmt schließlich die Disziplin der „juristischen Methodik“ ein, der in zweifacher Hinsicht eine Mittelstellung zukommt. Sie ist einerseits im thematischen Grenzbereich zwischen der Judikation und der Konstitution und andererseits im methodischen Grenzbereich zwischen dem Dogmatischen und dem Theoretischen angesiedelt, so dass sie Urteils- und Verfassungsdogmatik und Urteils- und Verfassungstheorie zu je gleichen Teilen überlappt („Mitte – Südwest“).
¨ berblick Abbildung 3: Der disziplina¨re Anspruchsbereich der Untersuchung im U
Anhand der thematischen und methodischen Anspruchsbereiche, durch die sich mittels ihrer Kreuzung die verschiedenen an dieser Untersuchung beteiligten Dis-
3. Prozedere: Interdisziplina¨re Feldarbeit
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ziplinen bestimmen lassen, können die disziplinären Felder auch wieder zu Oberdisziplinen zusammengefasst werden. In thematischer Hinsicht entsprechen die Urteilsdogmatik, die Urteilstheorie und die Urteilsphilosophie („südliche Quere“) Unterdisziplinen einer Oberdisziplin mit dem Namen „Theorie der Judikation“. Die Verfassungsdogmatik, die Verfassungstheorie und die politische Philosophie („mittlere Quere“) lassen sich einer „Theorie der Konstitution“ zuordnen. Und die Moralphilosophie als einzige Disziplin des thematischen Anspruchsbereichs der Justifikation („nördliche Quere“) kann als die Musterdisziplin der „Justifikationstheorie“ gelten. Erst im Zusammenhang fügen sich diese drei Oberdisziplinen, die Judikations-, die Konstitutions- und die Justifikationstheorie, wiederum zu einer integrativen „Theorie der (demokratischen) Legitimation“ zusammen. Damit diese Legitimationstheorie auch ihrem juristischen wie ethischen Legitimationsansatz gerecht werden kann, muss sie sich auch in der entsprechenden methodischen Hinsicht ausweisen können. Dies geschieht über die Oberdisziplinen der „Rechtsdogmatik“, unter die hier die Urteils- und die Verfassungsdogmatik („westliche Länge“) fallen, der „Rechtstheorie“, der hier die Urteilstheorie und die Verfassungstheorie („mittlere Länge“) angehören, und die „Rechtsphilosophie“, die schließlich die hier genannten Felder der Urteilsphilosophie, der politischen Philosophie und der Moralphilosophie („östliche Länge“) unter sich vereinigt. Die juristisch ansetzende Rechtsdogmatik, die ethisch ansetzende Rechtsphilosophie und die hybrid dazwischen liegende Rechtstheorie lassen sich dann wiederum unter der Jurisprudenz und der Ethik zusammenfassen. Unter diesem Blickwinkel ist das Ziel dieser Untersuchung, eine die Jurisprudenz und die Ethik integrierende interdisziplinäre Theorie legitimen demokratischen Rechts, erreicht, wenn es gelungen ist, die disziplinären Ansprüche aller genannten Disziplinen gemeinsam einzulösen – oder wenn zumindest die wichtigsten Strukturlinien aufgezeigt werden können, durch die sich die disziplinären Felder des ethisch-juristischen Anspruchsraums zu einem konzeptionellen Ganzen zusammenfügen lassen. Es gilt also „interdisziplinäre Feldarbeit“ zu leisten. Gemeint ist damit, dass die verschiedenen Disziplinenfelder, die als prinzipiell gleichberechtigte zu betrachten sind, im systematischen Zusammenhang erschlossen werden müssen. Dafür wird es einerseits erforderlich sein, die Felder je für sich zu bearbeiten, andererseits werden die einzelnen disziplinären Konzeptionen aber auch zu einer kohärenten Gesamtkonzeption zusammenzuführen sein. Die Begriffe Konzeption, Gesamtkonzeption, Theorie und Konzept spielen für das strukturierte Vorgehen dieser Arbeit dabei eine wichtige Rolle: Geltungsansprüche eines höheren theoretischen Niveaus werden durch Konzeptionen eingelöst. Unter „Konzeption“ wird hier ein theoretisches Konstrukt verstanden, das eine Frage möglichst erschöpfend beantwortet. Eine Konzeption soll einen Theoriezusammenhang abbilden, der insbesondere die spezifische Fragestellung einer wissenschaftlichen Disziplin mit guten Gründen erfasst (lat. concipere: begreifen, erfassen). Sofern sich eine Konzeption interdisziplinär über mehrere Disziplinen hinweg erstreckt, wird hier von einer „(interdisziplinären) Gesamtkonzeption“ und
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Einleitung: Thema, Methode und Prozedere
in Bezug auf die konzeptionellen Bestandteile der beteiligten Disziplinen von „Teilkonzeptionen“ oder „Einzelkonzeptionen“ gesprochen. Für eine interdisziplinäre Gesamtkonzeption kann auch der Begriff der „Theorie“ verwendet werden. Zu beachten ist aber, dass sich der Begriff der Theorie auch für wissenschaftliche Disziplinen (z. B. Rechtstheorie) eingebürgert hat. Die unterschiedliche Verwendungsweise ist daher behutsam vorzunehmen und möglichst klar zu kontextualisieren. Das zum Begriff der Konzeption gehörige Adjektiv heißt hier „konzeptionell“. Demgegenüber ist hier von „Konzept“ und vom dazugehörigen Adjektiv „konzeptuell“ die Rede, wenn eine (z. B. disziplinäre) Frage, ein Begriff o. Ä. nicht in erschöpfender Weise geklärt, sondern nur eine mehr oder weniger präzise Vorstellung davon vermittelt werden soll.4 Der konzeptuelle Ansatz wird hier zuweilen dazu genutzt werden, einen geeigneten ersten Zugang zu einer neu fokussierten Disziplin zu finden. Auf der Grundlage dieser Vorüberlegungen lässt sich das Gesamtprozedere dieser Arbeit folgendermaßen vorzeichnen. Nachdem in den beiden ersten Kapiteln mit den Diskussionen in der juristischen Methodik und in der Moralphilosophie erste konzeptionelle Orientierungsmarken gesetzt sein werden (I. und II.), wird es im dritten Kapitel nötig sein, die beiden ausgerollten Fäden im Rahmen einiger Zwischenüberlegungen zu einer interdisziplinären Theorie demokratischer Legitimation zusammenzuziehen und die interdisziplinäre Methodologie dieser Untersuchung auch selbst zu reflektieren. Diese metatheoretischen Reflexionen werden es möglich machen, die Frage der Rechtslegitimation als interdisziplinäres Problem noch besser zu verstehen, und es erlauben, das Programm einer ethisch-juristischen Gesamttheorie aufzustellen (III.). Das weitere Prozedere, das sich aus dieser erweiterten Perspektive ergeben wird, wird dann nahelegen, im vierten Kapitel die politische Philosophie (IV.), im fünften Kapitel die Verfassungstheorie (V.) und in den Kapiteln sechs und sieben die Urteilstheorie (VI.) und die Urteilsphilosophie (VII.) zu bearbeiten. Aufgrund der von Beginn an verfolgten Einbindung der juristischen Methodik, die ihrer disziplinären Struktur nach auch eng mit den Disziplinen der Rechtsdogmatik verknüpft ist, werden sich die disziplinären Einzelkonzeptionen so zu einer interdisziplinären Theorie legitimen demokratischen Rechts zusammengefügt haben, die, jedenfalls in den wichtigsten konzeptionellen Grundlinien, den gesamten dargelegten ethisch-juristischen Kommunikationsraum durchzieht. Für die ersten Schritte im interdisziplinären Raum dieser Untersuchung empfiehlt sich eine vorläufige Komplexitätsreduktion. Der ethisch-juristische Kommunikationsraum soll zunächst einmal mittels der konzeptionellen Inarbeitnahme zweier repräsentativer Disziplinen in großen Schritten vermessen werden. Die Feinstruktur des Disziplinenrasters kann dabei solange ausgeblendet werden, bis die konzeptionelle Orientierung durch die beiden stellvertretenden Disziplinen 4 Die Unterscheidung zwischen Konzept und Konzeption entspringt Walter B. Gallies Idee der „essentially contested concepts“: Gallie, Essentially Contested Concepts (1956).
3. Prozedere: Interdisziplina¨re Feldarbeit
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einen sichereren Gang erlaubt. Für die ersten Schritte des Orientierungsgangs genügt es zu verstehen, dass die beiden Achsen der Thematik und der Methodik einen Anspruchsraum aufspannen, der die Sicht aufs legitime (demokratische) Recht umso konkreter werden lässt, je näher die Achsen beieinander liegen, und umso abstrakter wird, je größer die Distanz zu ihnen wird. Vereinfacht lässt sich der thematisch-methodische Raum dieser Untersuchung also als ein Anspruchsbereich definieren, der vom „legitimen (demokratischen) Recht im konkreten Sinn“ oder kurz vom „Recht i. k. S.“ (von „Südwest“) zum „legitimen (demokratischen) Recht im abstrakten Sinn“ oder kurz zum „Recht i. a. S.“ (nach „Nordost“) reicht und umgekehrt. Als die beiden Disziplinenfelder, die hier stellvertretend für die Jurisprudenz und die Ethik in den interdisziplinären Theoriezusammenhang einführen, werden die juristische Methodik und die Moralphilosophie herangezogen. Die juristische Methodik kann innerhalb der Jurisprudenz als die Spezialdisziplin gelten, in der sich die methodologische Kompetenz der Rechtswissenschaft konzentriert und in der das juristische Instrumentarium der Rechtfertigung demokratischen Rechts, insbesondere von Rechtsurteilen, am differenziertesten ausgebreitet wird. Der juristischen Methodik (auch „juristischen Methodenlehre“) geht es gerade darum zu zeigen, wie Rechtsurteile lege artis am Maßstab des demokratisch-rechtsstaatlich erlassenen Gesetzesrechts legitimiert werden können. Für eine erste Orientierung im interdisziplinären Kommunikationsraum auf sie als Stellvertreterin der Jurisprudenz zurückzugreifen, liegt daher nahe. Ihrer thematisch-methodischen Situierung nach befindet sie sich im Bereich des Rechts i. k. S. Auf der anderen Seite drängt sich die ethische Orientierung durch die Moralphilosophie nicht nur aus etymologischen Gründen (vgl. griech. ethos: gewohnter Ort, Sitte, Brauch, und lat. mos, moris: Sitte, Brauch) auf. Insofern die Moralphilosophie nämlich antritt, die ethischen Bedingungen des Richtigen schlechthin zu klären, gibt sie die geradezu ideale Repräsentantin der philosophischen Ethik ab. Im interdisziplinären Raum dieser Untersuchung befindet sie sich beim Recht i. a. S. Für das vorläufige Prozedere der Untersuchung soll mit der juristischen Methodik begonnen werden (I.). Ihr soll nicht deshalb der Vortritt gewährt werden, weil ihr im Verhältnis zur Moralphilosophie ein systematischer Vorrang zukäme, sondern weil sie für eine interdisziplinäre Theorie demokratischer Legitimation sozusagen tiefer im Problem steckt. Außerdem wird sich der Weg vom Konkreten zum Abstrakten vermutlich leichter gehen lassen als der umgekehrte. Von der juristischen Methodik wird auch die Moralphilosophie, der jedoch nicht weniger Beachtung geschenkt werden soll, lernen können. Sie wird im Anschluss an die juristische Methodik bearbeitet werden (II.). Ein Letztes gilt schließlich noch der formell-strukturellen Verquickung dieser Arbeit. Das interdisziplinäre Arbeiten bringt es mit sich, dass zwar zu allem etwas gesagt werden muss, zugleich aber nicht alles gesagt werden kann, was gesagt werden sollte. Die Frage ist daher weniger, ob die konzeptionelle Dichte dieser Untersuchung eine Einbuße erleiden muss, sondern mehr, wie sie mit dieser Notwendig-
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Einleitung: Thema, Methode und Prozedere
Abbildung 4: Vorla¨ufiges Prozedere
keit umgehen will. In Anbetracht des Forschungsproblems, eine juristisch wie ethisch solide interdisziplinäre Theorie demokratischer Legitimation zu konzipieren, wird hier darauf geachtet werden, dass v. a. die juristischen und ethischen Grundlagen, auf denen diese Untersuchung aufbaut („erster Teil“: I. bis III. 2.), mit hinreichender Sorgfalt aufgearbeitet werden. D. h., dass insbesondere in der Diskussion der juristischen Methodik und der Moralphilosophie, der beiden Mustervertreterinnen der Jurisprudenz und der Ethik, eine auch in disziplinärer Hinsicht mit wünschenswerter Genauigkeit angemessene Auseinandersetzung gewährleistet werden soll. Mit der zu Beginn der Argumentation verhältnismäßig sorgfältigen durchgeführten Auseinandersetzung mit der strukturierenden Rechtslehre (I.) verbindet sich außerdem die Hoffnung, dieser Konzeption endlich auch in der juristischen und ethischen Rechtsdebatte die Beachtung zukommen zu lassen, die ihr gebührt – verdient hätte sie das schon lange. Für die auf dem ersten Teil aufbauende weitere Argumentation („zweiter Teil“: III. 2. bis VII.) wird dann dafür in Anspruch genommen, den disziplinären Anforderungen zwar so gut es geht gerecht werden zu müssen, diese der interdisziplinären Zielführung der Untersuchung im Zweifel aber hintanstellen zu dürfen. Es wird dabei versucht, dem sachlichen Durchdringungsniveau der Argumentation keinen Abbruch zu tun. Die sich daraus ergebende, offengelegte Zweiteilung dieser Arbeit wird sich, formal gesehen, etwa in der unterschiedlichen Zitationsdichte der beiden Teile bemerkbar machen. Zum Ausdruck kommen soll sie außerdem in der Strukturierung. So soll die Fragestruktur des ersten Teils dessen Orientierungscharakter andeuten und sich die systematischere Struktur des zweiten Teils auf der vorherig erfolgreich
3. Prozedere: Interdisziplina¨re Feldarbeit
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durchgeführten Orientierung abstützen können. Die verstärkte Systematisierung des zweiten Teils soll zudem erkennen lassen, dass der Versuch, den disziplinären Ansprüchen auch im zweiten Teil gerecht zu werden, keine rhetorische Floskel ist, sondern ihm ein ernsthaftes Bemühen zugrunde liegt. Der lockereren Argumentationsform des zweiten Teils wird gewissermaßen eine strengere Argumentationsstruktur über Kreuz gelegt. Den Übergang vom orientierenden ersten zum integrierenden zweiten Teil dieser Untersuchung bilden die Zwischenüberlegungen des dritten Kapitels (III.). In der Formalstruktur wird das dadurch zum Ausdruck kommen, dass die Fragestruktur dort fließend in die Systemstruktur übergeht. Als das metamethodologische Scharnierstück kann dabei die entwurfsweise Konzeptionalisierung der interdisziplinären Praxis (III. 2.) gesehen werden. Der nochmaligen Erhöhung des Abstraktionsniveaus, der dieser Untersuchungsabschnitt unweigerlich ausgesetzt ist, wird dort mit einer bilderreicheren Sprache begegnet werden. Damit soll die Abstraktion der Metamethodologie nicht nur zum Ausdruck kommen, sie soll dadurch auch in den Griff bekommen werden.
I. Juristische Methodik: Strukturierende Rechtslehre Die interdisziplinäre Legitimation demokratischen Rechts beginnt naheliegenderweise in einer rechtswissenschaftlichen Perspektive. Die Jurisprudenz ist in ständiger Übung im Grunde um nichts anderes bemüht, als Rechtsurteile mit guten Gründen zu rechtfertigen und damit ihren Beitrag zur Legitimation des Rechts zu leisten. Der zentrale Ort, an dem die Jurisprudenz ihr Kernproblem, das rechtliche Urteilen, unter legitimatorischen Gesichtspunkten reflektiert, ist sodann die juristische Methodik.1 In der juristischen Methodik macht die Rechtswissenschaft ihre eigene Praxis, die im Wesentlichen in der Rechtfertigung juristischer Urteile besteht, zum theoretischen Problem. Das kann sie natürlich nicht, ohne auf Kontexte zurückzugreifen, mit denen sie die Maßstäbe ihrer Forderungen verknüpfen kann. Deshalb steht die juristische Methodik mit einer Anzahl weiterer juristischer Disziplinen in Kontakt. Sie nimmt in etwa eine mittlere Position zwischen Verfassungs- und Urteilsdogmatik, Verfassungstheorie und Urteilstheorie ein. Mit unterschiedlichen Nuancen haben all diese Disziplinen einen Bezug zum geltenden Recht des demokratischen Rechtsstaats gemeinsam, was sich daraus erklärt, dass Juristinnen und Juristen verpflichtet sind, ihre Begründungen den demokratischrechtsstaatlich erlassenen Rechtstexten zuzuschreiben. Diese Pflicht macht auch vor der legitimatorischen Reflexion ihrer eigenen Praxis nicht Halt. Im Verhältnis etwa zur Moralphilosophie liegt die juristische Methodik also in einem viel konkreteren Bereich. Während die Moralphilosophie das Recht nicht nur (thematisch) aus abstraktester Warte, sondern auch (methodisch) in abstrakt-philosophischer Manier legitimiert, bleibt der juristisch-methodische Anspruch infolge seiner Fokussierung aufs Rechtsurteil und der Verbundenheit mit dem geltenden Recht sehr viel konkreter. Die juristische Methodik ist gewissermaßen am äußeren konkreten Rand des interdisziplinären Kommunikationsraums situiert. Ihr geht es ums Recht i. k. S. 1 Aus der umfangreichen Literatur zur juristischen Methodik allen voran: Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), seit 2009 in zehnter Auflage; und dies., Juristische Methodik II (22007). Klassisch: Savigny, System des heutigen Römischen Rechts (1840); ders., Juristische Methodenlehre (1951). Etabliert: in Deutschland Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (61991); bzw. Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (31995); Pawlowski, Methodenlehre für Juristen (31999); bzw. ders., Einführung in die juristische Methodenlehre (22000); Zippelius, Juristische Methodenlehre (102006); in Österreich Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff (21991); bzw. ders., Grundzüge der juristischen Methodenlehre (2005); in der Schweiz Kramer, Juristische Methodenlehre (22005). Historisch synoptisch: Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung (1975 – 1977); Raisch, Juristische Methoden (1995). Zur Orientierung der systematische Überblick in Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 616 – 621.
I. Juristische Methodik: Strukturierende Rechtslehre
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Abbildung 5: Stand der Untersuchung (I.)
In der juristisch-methodischen Diskussion wird hier auf die strukturierende Rechtslehre abgestellt. Bei der „strukturierenden Rechtslehre“ handelt es sich um die elaborierteste Theorie juristischer Praxis, und d. h. v. a. juristischen Urteilens, die sich im deutschsprachigen Raum2 finden lässt.3 Das umfangreiche von Friedrich Müller4 in den 1960er Jahren ins Leben gerufene und nach wie vor lebendige Werk, das dieser Theorie zugeschrieben werden kann,5 bewegt sich nach eigenen 2 Darüber hinaus etwa französisch Müller, Discours de la méthode juridique (1996); brasilianisch-portugiesisch ders., Métodos de Trabalho do Direito Constitucional (32004). Zum Einfluss der strukturierenden Rechtslehre in der Türkei und in Südafrika etwa Sag˘ lam, Der Einfluss der Lehre von Friedrich Müller (2008); und du Plessis, The South African Constitution as Monument and Memorial (2008). 3 Namensgebend Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), erste Auflage 1984; aufbauend auf ders., Normstruktur und Normativität (1966). 4 Ein Lebenslauf und eine Bibliographie seiner rechtswissenschaftlichen Publikationen bis März 2007 findet sich in Christensen / Pieroth (Hrsg.), Rechtstheorie in rechtspraktischer Absicht (2008), S. 281 und S. 284 – 296. 5 Wenn im Folgenden die Bezeichnung „strukturierende Rechtslehre“ für sämtliche sich im näheren Umkreis dieser Theorie befindenden Beiträge verwendet wird, soll das die herausragende Rolle Müllers in diesem Theoriezusammenhang nicht mindern. Diese Verwendungsweise stützt sich vielmehr auf dessen eigenes Verständnis von wissenschaftlicher Kooperation: „[D]as work in progress, auch ohne den Autor, geht weiter.“: Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. V. Auch dass die hier verwendete Schreibweise ein kleines „s“ gebraucht statt wie in den Selbstbezeichnungen der „Strukturierenden Rechtslehre“ ein großes, soll keine Pejorisierung in der Sache indizieren. Sie soll in dieser Arbeit die interdisziplinäre
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I. Juristische Methodik: Strukturierende Rechtslehre
Angaben über die juristische Methodik hinaus in den Feldern einer als Rechtserzeugungsreflexion verstandenen Rechts(norm)theorie6, der Verfassungstheorie7 und der Rechtsdogmatik8.9 Zudem ist die Arbeit in diesen Feldern seit ihren Anfängen durch eine „mitarbeitende Reflexion“10 von Sprachtheorie11 und Philosophie12 begleitet. Diese interdisziplinäre Anlage entspricht in etwa auch dem hier vorgeschlagenen disziplinären Ort der juristischen Methodik. Ohne dabei eine disziplinäre Hierarchie zu unterstellen, kann zudem das Kerninteresse der strukturierenden Rechtslehre in der juristischen Methodik geortet werden.13 Ihr größtes Anliegen besteht darin, „die tatsächlichen Vorgänge zu untersuchen, in denen Rechtsnormen konkretisiert werden.“14 – Hinzuzufügen ist: „[ . . . ] bei der rechtsstaatlich korrekten und demokratisch pflichtgemäßen Rechtsarbeit“15. Wie es an dieser Stelle von Interesse ist, will die strukturierende Rechtslehre unter demokratischrechtsstaatlichen Prämissen eine zugleich realistische wie legitime Konzeption juristischen Urteilens entwerfen16. Gleichberechtigung der jeweils disziplinär erarbeiteten Konzeptionen verdeutlichen (strukturierende Rechtslehre, deliberative Demokratie, demokratischer Rechtsstaat usw.). 6 Hierzu insb. Müller, Normstruktur und Normativität (1966); bzw. ders., Strukturierende Rechtslehre (21994). 7 Hierzu insb. Müllers bisher acht, insgesamt ca. 1000 Seiten umfassenden Elemente einer Verfassungstheorie: Müller, Recht – Sprache – Gewalt (22008); ders., Juristische Methodik und Politisches System (1976); ders., Die Einheit der Verfassung (22007); ders., ,Richterrecht‘ (1986); ders., Fragment (über) Verfassunggebende Gewalt des Volkes (1995); ders., Wer ist das Volk? (1997); ders., Demokratie in der Defensive (2001); und ders., Demokratie zwischen Staatsrecht und Weltrecht (2003). 8 Einlässlich hierzu Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 381 – 439. 9 Zum Zusammenhang dieser Disziplinenfelder insb. Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 431 – 439. 10 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 238, Rn. 256. 11 Die strukturierende Rechtslehre betont die pragmatische Wende in der Sprachwissenschaft und operiert insb. mit analytischen und poststrukturalistischen Ansätzen. Arbeitsmethodisch wirkt sie längst in interdisziplinären Diskussionskontexten, insb. in der Heidelberger Gruppe der Rechtslinguistik. Hierzu etwa Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik (1989); Müller / Wimmer (Hrsg.), Neue Studien zur Rechtslinguistik (2001); sowie Müller / Burr (Hrsg.), Rechtssprache Europas (2004). 12 Abgesehen davon, dass die strukturierende Rechtslehre seit ihren Anfängen zu rechts-, norm- und wissenschaftsphilosophischen Fragen Stellung genommen hat, greift sie neben der Sprachphilosophie auch auf die Argumentationsphilosophie zurück. Von Bedeutung in diesem Zusammenhang v. a. die Arbeit Harald Wohlrapps. Dazu neuerdings Wohlrapp, Der Begriff des Arguments (2008). 13 Was sich etwa daraus entnehmen lässt, dass das Hauptwerk seit seiner letzten Auflage 1994 v. a. unter dem Titel „Juristische Methodik“ weiterentwickelt wird. Hier verwendet: Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004); und dies., Juristische Methodik II (22007). 14 Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 225. 15 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 7, H.n.O. 16 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 163, Überschrift. Von „Entwurf“ zu sprechen ist angesichts der Vielschichtigkeit und Dichte der Theorie freilich zu bescheiden.
1. Lassen sich Gesetze applizieren?
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Im Folgenden soll die strukturierende Rechtslehre in Auseinandersetzung mit den zwei nach der hier vertretenen Einschätzung schärfsten Gegenpositionen einer überzeugenden juristischen Theorie legitimer Judikation, dem Legalismus und dem Anti-Legalismus, aufgearbeitet werden. Es soll versucht werden, die strukturierende Rechtslehre im kritischen Spannungsfeld dieser Positionen in den wichtigsten Argumentationslinien zu entwickeln. Anhand einer Kritik des (erkenntnis-) positivistischen Legalismus wird dabei zunächst 1. die Frage, ob sich Gesetze erkenntnislogisch applizieren lassen, verneint. Daraufhin drängt sich 2. die Frage auf, ob sich Rechtsurteile überhaupt juristisch rechtfertigen lassen. Als konstruktive Antwort auf den ebenso fehlgehenden, zu skeptisch argumentierenden AntiLegalismus wird dann dargelegt, wie mit der strukturierenden Rechtslehre eine überzeugende Konzeption juristisch legitimer Rechtsurteile aussehen kann. So weit reicht der Anspruch der strukturierenden Rechtslehre. Sie konzipiert eine am Maßstab des demokratischen Rechtsstaats ausgerichtete Theorie juristischer Praxis. Mit Blick auf den in dieser Arbeit darüber hinausgehenden Anspruch einer sowohl juristischen als auch ethischen Legitimation soll die 3. daran anschließende Auseinandersetzung mit der Systemtheorie zudem zeigen, dass ein ethischer Anschluss an die strukturierende Rechtslehre nicht ausgeschlossen werden kann.
1. Lassen sich Gesetze applizieren? Anknüpfungspunkt einer juristischen Legitimation rechtlicher Urteile ist, jedenfalls im hier zur Debatte stehenden Kontext moderner Demokratien, das positive Recht. Diese Voraussetzung ist sämtlichen juristischen Methodenlehren gemeinsam, und auch die strukturierende Rechtslehre teilt sie: „Von Anfang an hat sich diese Methodik als eine des positiven Rechts verstanden, und zwar von dem demokratisch-rechtsstaatlichen Typus, für den auch das deutsche Grundgesetz einsteht.“17 Eine solche Voraussetzung impliziert einen Rechtspositivismus, der nicht zwingend auf die Alternative „Naturrecht oder Rechtspositivismus?“18 hinauslaufen muss, sondern zunächst dem juristischen Selbstverständnis entspricht. JuristinMüller / Christensen, Juristische Methodik II (22007), S. 7. Vgl. auch dies., Juristische Methodik I (92004), S. 531, Rn. 562. Die Betonung des deutschen Grundgesetzes hängt mit eben dieser rechtspositivistischen Haltung zusammen, die auch mit der Pflicht einhergeht, die methodischen Anforderungen an die Rechtsarbeit positiv-rechtlich zu begründen. Im Aktionsrahmen der strukturierenden Rechtslehre ist das höchststufige positive Recht das deutsche Grundgesetz. Die strukturierende Rechtslehre und Methodik kann gleichwohl auch für andere Rechtsordnungen eingeholt werden, solange sie nur vom Typ des demokratischrechtsstaatlichen sind. Siehe aber auch dies., Juristische Methodik I (92004), S. 259, Rn. 289. 18 Zum Naturrecht statt Vieler Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit (41962); zum Rechtspositivismus statt Vieler Ott, Der Rechtspositivismus (21992). Zur ganzen Debatte von der Pfordten, Rechtsethik (2001), S. 99 – 112, m. w. H. Von der Pfordten ist insofern zuzustimmen, als die Dichotomie mutatis mutandis auch im hier verfolgten Projekt wenig fruchtbar ist; vgl. ebd., S. 99. Die betagte Dichotomie lässt die verschiedenen thematischen und methodischen Abstraktionsniveaus des Rechtsproblems zu undifferenziert. 17
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nen und Juristen sind nicht nur gewohnt, sondern auch verpflichtet, ihren Entscheidungen das geltende Recht zugrunde zu legen, und in der komplexen Situation des juristischen Urteilens tun sie auch gut daran, sich auf diesen Reflexionsbereich pragmatisch zu beschränken. Dieser juristische Pragmatismus19 oder „Arbeitspositivismus“20 muss sich allerdings ins Bewusstsein rufen, dass er einen Reflexionsstopp vornimmt.21 Die Hinnahme des positiven Rechts ist denn auch nur akzeptabel, wenn sich die rechtspositivistischen Implikationen nicht nur in der pragmatischen Situation, sondern auch dann noch bewähren, wenn der Reflexionsstopp aufgehoben wird.22 Die hier angestrebte juristische sowie ethische Theorie will eben dies überprüfen. In ihr rangiert die Verbindlichkeit des positiven (demokratischen) Rechts als (disziplinärer) Zwischenposten einer anspruchsvolleren (interdisziplinären) Theorie demokratischer Legitimation. Rechtfertigen lässt sich die juristische Beschränkung aufs positive Recht nicht nur durch (ihrerseits) positiv-rechtliche, insbesondere verfassungsrechtliche Vorgaben,23 sondern auch durch das verfassungstheoretische Prinzip der Gesetzesbindung, wonach öffentlich zu verantwortende Entscheidungen mit Rechtsverbindlichkeit nicht ohne die stufengerechte Rückbindung an den bisher geführten institutionalisierten Rechtsdiskurs gefällt werden dürfen. Verfassungstheoretisch ist die Gesetzesbindung der Preis für die Offenheit des Rechtsdiskurses, dessen materielle Ergebnisse erst im und durch ein legitimes öffentliches Verfahren herzustellen sind (Prinzip der Verfahrenslegitimation).24 Urteilstheoretisch konkretisiert sich das Gesetzesbindungsprinzip als Gesetzmäßigkeit der Judikation und leistet dadurch zugleich einen Beitrag zur Einlösung der verfassungstheoretisch geforderten Symmetrie politischer Strukturen und Prozesse (Gewaltenteilung)25. Danach sind konkrete rechtliche Entscheidungen an das von der Legislative ordnungsgemäß erlassene geltende Gesetzesrecht zu binden, kurz: ist die Judikation an die Legislation anzuknüpfen.26 In den Worten der strukturierenden Rechtslehre: „Das Anstreben inhaltlicher Gerechtigkeit ist im Staat vom Typus des Grundgesetzes durch Gewaltenteilung gebrochen und arbeitsteilig differenziert.“27 „Der Normtext Ott, Der Rechtspositivismus (21992). Der Positivismus bezieht sich dabei nicht auf die Arbeit, sondern auf das geltende Recht, das in Arbeit genommen wird. 21 Vgl. Mastronardi, Juristisches Denken (22003), Rn. 339 – 341. 22 Vgl. Mastronardi, Juristisches Denken (22003), Rn. 342 / 393 – 395; vgl. ebd., Rn. 335: „Der Positivist muss begründen, warum er seinen Entscheid nur formal begründen will.“ 23 Etwa in der Schweiz Art. 5 Abs. 1 BV; in Deutschland Art. 20 Abs. 3 GG. 24 Zur Verfassungstheorie Kapitel V; hierzu insb. V. 3. c), Prinzipien 2a und 2b. 25 V. 3. c), Prinzip 3a. 26 Zur Urteilstheorie Kapitel VI; zur Gesetzmäßigkeit des Urteils insb. VI. 3. c), Prinzip 2b. 27 Müller, ,Richterrecht‘ (1986), S. 121. Die demokratisch-rechtsstaatlich geforderte Brechung aktueller Staatsgewalt erläutert die strukturierende Rechtslehre verfassungstheoretisch mit dem Konzept der Textstruktur: „Der demokratische Rechtsstaat [ . . . ] ,ist‘ eine Textstruktur.“: Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 211, Rn. 221. Zum Konzept im 19 20
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als Zurechnungsgröße teilt die rechtserzeugende Gewalt zwischen Gesetzgeber und Richter28.“29 „Die Grenzfunktion des Normtexts markiert eine letzte Auffanglinie für das zentrale rechtsstaatliche Postulat der Verfassungs- und Gesetzesbindung [ . . . ]. Jenseits dieser Grenze sollen Rechtsnormen nicht mehr durch von der Rechtsordnung bestellte Setzer von Entscheidungsnormen geändert werden können, sondern nur noch von dazu positivrechtlich ermächtigten Setzern von Rechtsnormen, von Gesetzgebungsinstanzen. Das ist der Kern der Auswirkung des Gewaltenteilungsprinzips auf die juristische Methodik im Rechtsstaat.“30 In der juristischen Methodik scheiden sich die Geister dann, wenn es darum geht zu erläutern, in welcher Weise Rechtsurteile legitim an legislative Erlasse zu binden sind. Eine konsequenzträchtige Weggabelung markiert dabei die Frage, ob das juristische Urteilen als erkenntnislogische Applikation ontisch vorgegebener Rechtsnormen verstanden werden kann oder nicht. Das Theoriegebäude einer juristischen Methodologie richtet sich je nachdem entscheidend aus, ob diese Frage bejaht oder verneint wird. Sofern es sich bei der juristischen Beurteilung von Rechtsfällen um eine erkenntnislogische Applikationen handelt, sind die weiteren Bedingungen juristischer Legitimation in einer mehr oder weniger empirischlogischen Analyse juristischer Erkenntnisgründe zu suchen. Sofern der juristische Applikationismus aber falsch liegt, ist die Ausgangslage von vornherein eine weit komplexere, und es bedarf einer Menge weiterer Überlegungen. Es stellt sich also die Frage, ob sich Gesetze applizieren lassen. Der Legalismus bejaht sie, dagegen wird sie von der strukturierenden Rechtslehre mit Nachdruck und mit guten Gründen verneint. a) Legalismus (Positivismus) Als solcher wird der „Legalismus“ oder „Gesetzespositivismus“, der von der strukturierenden Rechtslehre auch kurz „Positivismus“ genannt wird,31 nicht mehr vertreten32 und kann als juristisch-methodische Konzeption als überholt betrachtet werden. Die Entscheidung, seine Strukturen mit der strukturierenden Rechtslehre Ganzen: ebd., S. 210 – 214, Rn. 219 – 224, m. w. H.; Müller, Juristische Methodik und Politisches System (1976), S. 95 – 98. 28 Die Bezugnahme auf die Judikative kann in der strukturierenden Rechtslehre, sofern nicht besondere Probleme der richterlichen Praxis angesprochen werden, pars pro toto für die hier umfassend als Judikation bezeichnete Praxis genommen werden; vgl. z. B. Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 20, Fn. 6. 29 Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 306. Zum Verständnis der Gesetzesbindung in der strukturierenden Rechtslehre insgesamt ebd. 30 Müller, Juristische Methodik und Politisches System (1976), S. 79. Abstrakte, legislativ erlassene „Rechtsnormen“ bezeichnet die strukturierende Rechtslehre inzwischen konsequent als „Normtexte“. Dazu sogleich, I. 2. b). 31 Zugleich umfassend und prägnant die Erläuterungen des Positivismus aus der Sicht der strukturierenden Rechtslehre in Müller, Positivismus (1990). 32 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 102, Rn. 75.
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hier (in Kürze) dennoch zu analysieren, ist allerdings kein müßiger Tanz um einen längst vergangenen Mythos. Seine Strukturen sitzen nämlich tief. Auch wenn die Begriffe Legalismus und Gesetzespositivismus in der juristischen Methodik rundherum nur noch zur Brandmarkung unhaltbarer Naivismen gebraucht werden, sind sie in der juristischen Praxis und Theorie noch immer präsent.33 Das führt zu einer widersprüchlichen Situation in der Rechtswissenschaft, und eine treffende Analyse der legalistisch-positivistischen Methodik wird dadurch umso wichtiger: „[Die methodische Haltung des gesetzespositivistischen formallogischen Konstruktivismus] ist jedoch noch von keiner herkömmlichen methodologischen Gesamtkonzeption ersetzt worden34 und wirkt unausgesprochen mit zahlreichen ihrer Elemente in der weithin unreflektierten Praxis heutigen verfassungsrechtlichen Arbeitens fort. Das lässt eine knappe Darstellung der positivistischen Arbeitsweise und eine ebenso knappe Auseinandersetzung mit ihr notwendig erscheinen.“35 Charakteristisches Erkennungsmerkmal der legalistischen Theorie und Praxis ist die These, dass die Rechtsnorm dem Rechtsfall als ontische Normativgröße, als lex ante casum, bereits vorgegeben ist.36 Über dieses Thema lassen sich die verschiedenen gesetzespositivistischen Spielarten variieren. In der „einfachsten Variante“ des Legalismus fügen sich die Rechtsnormen in ein sinnhaft vorgefertigtes System von Rechtsbegriffen ein, durch das sie den zu entscheidenden Fällen in eindeutiger Weise zugewiesen werden können.37 Die Arbeitsbeschreibung rechtlichen Urteilens wird dadurch gänzlich durch einen subsumtionslogischen Justiz33 Vgl. Müller, ,Richterrecht‘ (1986), S. 124 f.: „Der Gesetzespositivismus ist von der herrschenden Schule nicht überwunden, gilt aber allgemein als unglaubwürdig.“ 34 Diese Tatsache veranlasst die strukturierende Rechtslehre, zum Legalismus neigende juristisch-methodische Konzeptionen insgesamt als „herkömmliche Lehren“ zu bezeichnen. Diesem Sprachgebrauch wird hier gefolgt. 35 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 102 f., Rn. 75. Im Verfassungsrecht stellt die strukturierende Rechtslehre den Legalismus am Beispiel Carl Friedrich von Gerbers und Paul Labands dar: ebd., S. 103 – 110, Rn. 76 – 86, m. w. H. Ferner Müller / Christensen, Juristische Methodik II (22007), S. 446 – 450, Rn. 612 – 619; weiter ansetzend die ausführliche rechtslinguistische Kritik des Gesetzespositivismus in Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), insb. S. 66 – 158; ders., Der Richter als Mund des sprechenden Textes (1989). 36 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 472 f., Rn. 471, u. ö.; bereits Müller, ,Richterrecht‘ (1986), S. 47. Zur Verdinglichung des Rechts Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 106, Rn. 83. Mit der These von der Vorgegebenheit der Norm unmittelbar verbunden ist die These der Identität von Normtext und Norm: „Der Kern des positivistischen Mißverständnisses liegt in der unausgesprochenen Voraussetzung, daß die Rechtsnorm mit ihrem Wortlaut identisch sei.“: ebd., S. 235, Rn. 249. 37 Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 70 f., m. w. H.; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 105, Rn. 81 f. Zur Begriffsjurisprudenz ferner Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie (72004), S. 116 – 118. Zum wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund des klassischen Gesetzespositivismus und der damit verbundenen Ausblendung des Wirklichkeitsbezugs rechtswissenschaftlicher Praxis Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 104 – 107, Rn. 79 – 84; und grundsätzlich Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994).
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syllogismus beherrscht, nach dem die urteilende Person nichts weiter tun muss, als den zu entscheidenden Rechtsfall unter den passenden gesetzlichen Obersatz zu stellen und die entsprechende Rechtsfolge logisch abzuleiten. Damit rückt das Handeln der urteilenden Person in den Hintergrund. „Das Recht ist in den Begriffen des Gesetzes eindeutig vorgegeben, ohne die Notwendigkeit von Wertungen kann es der Richter anwenden, wobei er die unpersönliche Einstellung eines Subsumtionsautomaten aufweist.“38 Dieser in der Tat der Vergangenheit angehörende „einfache Legalismus“ zeichnete sich dadurch aus, dass „die Rechtsnorm als hypothetischer Imperativ, als syllogistisch traktierbarer Obersatz nicht einmal konstitutives Handeln voraussetzte; vielmehr wurde sie als logisch Falle angesehen, die zuschnappte, sobald ein (als Untersatz) ,passender‘ Rechtsfall des Weges kam.“39 Diese einfache gesetzespositivistische Variante versagt freilich, sobald die Eindeutigkeit von Gesetzestexten fraglich wird. Bereits im einfachen Legalismus müssen deshalb Ausnahmen von der eindeutigen Zuordnungslogik zwischen Rechtsnorm und Fall eingeräumt werden,40 immer dann nämlich, wenn das Gesetz mit sog. „unbestimmten Rechtsbegriffen“, „Ermessensbegriffen“ oder „wertausfüllungsbedürftigen Begriffen“41 o. Ä. operiert.42 Solche Probleme in den Blick genommen, kann eine weitere Variante des Legalismus entwickelt werden, in der er der gesetzlichen Uneindeutigkeiten mit methodischen Mitteln Herr zu werden versucht.43 Sie könnte kurz „methodischer Legalismus“ genannt werden. Auf das legalistische Subsumtionsmodell folgt damit ein Auslegungsmodell.44 Die Vorstellung von der der Rechtsarbeit vorgegebenen Norm bleibt dabei bestehen: „Der ,Rechtsanwender‘ legt nur aus, was vorher im Text schon enthalten war. Die Bedeutungssubstanz steht unabhängig vom juristischen Handeln fest und muß höchstens noch etwas präzisiert oder ergänzt werden. Die Logik der Metapher [der Auslegung] setzt voraus, daß schon der vom Gesetzgeber verabschiedete Normtext als Textformular die Rechtsnorm als textuelle Bedeutung enthält. Zwischen Textformular und Textbedeutung, zwischen Zeichen und Bedeutung besteht eine einzige notwendige Verknüpfung, die der ,Rechtsanwender‘ heraus-finden oder eben aus-legen muß.“45 38 Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 71. Zur Idee des Richters als Subsumtionsautomat und zur Relativierung dieses absoluten Bildes in historischer Analyse Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat? (1986). 39 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 472, Rn. 471; vgl. ebd., S. 256, Rn. 282. 40 Im Grunde handelt es sich schon dabei um eine Erweiterung des einfachen Legalismus. 41 Dazu Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 109, Rn. 86. Zum Problem der Generalklauseln Müller, ,Richterrecht‘ (1986), S. 84 – 88. 42 Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 70 f. Kritische Hinweise zur weiteren Entwicklung des klassischen Legalismus durch die Interessenjurisprudenz und die Typus-Lehre ebd., S. 71 – 77. 43 Vgl. Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 86. 44 Vgl. Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 88 – 108. 45 Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 87.
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Juristische Methodenlehre wird dadurch zu einer Erkenntnislehre. Die Ansätze der juristischen Methodik sind in der Sicht des Legalismus als Instrumente zu taxieren, die die rechtsurteilende Person in die Lage versetzen, den (einzig) wahren Sinn des Gesetzes im bestimmten Fall zu erkennen. In Anschlag gebracht werden dafür die seit Carl Friedrich von Savigny als klassisch gehandelten Auslegungsweisen:46 die grammatische, die systematische, die historische und die teleologische Auslegung.47 Mithilfe der grammatischen Auslegung wird danach der Wortlaut des Gesetzestextes genauer untersucht und der Sinn des Gesetzes für den konkreten Fall daran anzuknüpfen versucht.48 Die systematische Auslegung setzt den Gesetzeswortlaut in eine systematische Beziehung zu den übrigen Teilen des Gesetzes, in dem er sich befindet, und zu den übrigen Regeln der geltenden Rechtsordnung.49 In der historischen Auslegung werden außerdem die Materialien des geschichtlichen Gesetzgebungsprozesses, die formellen und informellen Debatten im Vorfeld der amtlichen Verabschiedung des Gesetzestextes für die Beurteilung eines Falles sowie allenfalls auch früher geltendes Gesetzesrecht herangezogen.50 Und schließlich wird das Gesetz in der teleologischen Auslegung hinsichtlich seines Sinns und Zwecks, dem das Gesetz historisch oder geltungszeitlich, also hier und heute, dienen soll, in den Urteilsprozess miteinbezogen.51 Soweit juristische Methodenlehre als Erkenntnislehre, als Lehre davon, wie die wie auch immer vorgegebene lex ante casum aufgedeckt werden kann, verstanden wird, wird die Grundposition des Gesetzespositivismus nicht verändert. Der methodische Legalismus unterscheidet sich vom einfachen Legalismus lediglich dadurch, dass er sein Erkenntnisproblem differenziert und hinter einem komplizierteren methodischen Instrumentarium versteckt. An der Ontologie der vorgegebenen Rechtsnorm wird weiterhin festgehalten, die rechtsurteilende Person bleibt lediglich der „Mund des sprechenden Textes“52. Unterscheiden lässt sich die legalistisch-methodische Auslegungslehre dann noch danach, ob sie eher den (subjek46 Zum differenziert zu betrachtenden Ursprung der Methodenelemente bei Savigny Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 112 – 116, Rn. 90 – 94. 47 Bei Savigny das logische, grammatische, historische und systematische Auslegungselement: Savigny, Juristische Methodenlehre (1951), S. 18 / 19 / 32; ders., System des heutigen Römischen Rechts (1840), S. 212 ff. Die Referenz auf den Gesetzeszweck, das teleologische Element, wird (mit Zurückhaltung) erst in der Spätschrift befürwortet: ders., System des heutigen Römischen Rechts (1840), S. 220. Dazu Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 114 – 116, Rn. 92 – 94. Synoptisch zur gängigen Auslegungslehre Röhl, Allgemeine Rechtslehre (22001), S. 596 – 610; Rüthers, Rechtstheorie (32007), S. 412 – 452, Rn. 717 – 795. 48 Stellvertretend nur Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (61991), S. 320 – 324. 49 Stellvertretend nur Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (61991), S. 324 – 328. 50 Stellvertretend nur Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (61991), S. 328 – 333. 51 Stellvertretend Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (61991), S. 333 – 339. „Entgegen der traditionellen juristischen Auslegungslehre“ ist der Zweck bei Rüthers „das zentrale Ziel jeder Gesetzesauslegung“: Rüthers, Rechtstheorie (32007), S. 415, Rn. 725. 52 Christensen, Der Richter als Mund des sprechenden Textes (1989).
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tiven) Willen des Gesetzgebers oder den (objektiven) Willen des Gesetzes zum leitenden Erkenntnismotiv der Gesetzesauslegung kürt.53 Die „subjektive Variante“ des methodischen Legalismus54 will die Auslegung des Gesetzes am gesetzgeberischen Willen festmachen, den es demzufolge als historische Tatsache zu erkunden gilt, und weshalb einer genetischen Auslegung der Vorzug zu geben ist.55 Die „objektive Variante“56 hebt dagegen hervor, dass der Gesetzestext mit seiner Verabschiedung eine eigene Objektivität erhält, die sich durch den amtlichen Erlass vom gesetzgeberischen Willen distanziert, dadurch aber einen nicht minder vernünftigen Sinn als denjenigen erhält, den ihm der Gesetzgeber einst gab. Diesen Sinn gelte es, durch Auslegung zu ermitteln. Einen vorzugswürdigen Erkenntniszugang erlaubt nach der objektiven Lehre dabei v. a. die teleologische Auslegung.57 In letzter Konsequenz verweist der so vom tatsächlichen Willen des Gesetzgebers gelöste Zugang zum Gesetzessinn schließlich auf den objektiven Geist einer auktorial sublimierten Rechtsidee.58
53 Insofern indiziert die Stellungnahme für eine subjektive oder objektive Auslegungslehre eine legalistische Grundhaltung. Zum „seit Menschen- und Juristengedenken ohne sichtbaren Fortschritt in der Sache“ stattfindenden Kampf zwischen subjektiver und objektiver Auslegungslehre Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 458 – 460, Rn. 442 – 445, m. w. H.; sprachtheoretisch-kritisch Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 88 – 108; Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 28 – 35. Auch durch das (nominelle) Bekenntnis des deutschen Bundesverfassungsgerichts zur objektiven Lehre ist der Streit nicht entschieden – die gerichtliche Praxis ist in dieser Hinsicht keineswegs konsequent: Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 45 f., Rn. 27, m. w. H. 54 Prominente Vertreter der subjektiven Lehre sind u. a. Windscheid, Enneccerus, Heck und Nawiasky. Dazu die Nachweise in Engisch, Einführung in das juristische Denken (81983), S. 88 f. In jüngerer Zeit etwa Jürgen Rödig: Rödig, Die Theorie des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens (1973), S. 277 – 300. 55 Systematisch und m. w. H. eingehend zur subjektiven Lehre Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 89 – 100; prägnant Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 28 f. 56 Prominente Vertreter der objektiven Lehre sind u. a. Binding, Wach und Kohler. Dazu die Nachweise in Engisch, Einführung in das juristische Denken (81983), S. 89. Zur objektiven Lehre zählen lassen sich zudem Gustav Radbruch und, auch wenn sich selbst einer „Vereinigungstheorie“ zurechnend, Karl Larenz: Radbruch, Rechtsphilosophie (81973), S. 206: „Rechtswissenschaft ist Wissenschaft vom objektiven Sinn, nicht vom subjektiven Sinn des Rechts.“; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (61991), S. 204: „Das Verstehen sprachlicher Äußerungen geschieht nun entweder unreflektiert, durch das unmittelbare Innewerden des Sinns der Äußerung, oder in reflektierter Weise, durch Auslegen. [ . . . ] ,Auslegen‘ ist ein vermittelndes Tun durch das sich der Auslegende den Sinn eines Textes, der ihm problematisch geworden ist, zum Verständnis bringt.“ Der Hinweis auf die Vereinigungstheorie m.w.H. ebd., S. 318, Fn. 15. 57 Dazu Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 458, Rn. 442, insb. Fn. 856, m. w. H.; eingehend Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 100 – 105; Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 31 – 35. 58 In dieser Konsequenz etwa vertreten von Radbruch und Larenz: Radbruch, Rechtsphilosophie (81973), S. 212 – 214, insb. 213 f.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (61991), S. 333.
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I. Juristische Methodik: Strukturierende Rechtslehre
In diesen drei Stadien „einfacher Legalismus – methodischer Legalismus – subjektive und objektive Lehre“ lässt sich die positivistische Logik in unterschiedlichen Ansätzen im Grunde beliebig variieren.59 Was sich in den Stadien ändert, ist der theoretische Aufwand, der zur Aufrechterhaltung der gesetzespositivistischen Grundthese mithilfe sprach- und erkenntnistheoretischer Konstruktionen betrieben wird. Die Vorstellung einer der Rechtserkenntnis irgendwie vorgegebenen und aufzuspürenden Norm bleibt jedoch konstant. Abgerundet werden die drei Stadien der Rechtserkenntnis überdies durch eine – durch je unterschiedliche Grenzverläufe gekennzeichnete – Zwei-Welten-Doktrin60, die die Tätigkeit der urteilenden Personen in einen Auslegungsbereich und einen Bereich der Rechtsfortbildung spaltet: Solange sich die Auslegung unproblematisch im Rahmen legalistischer Rechtserkenntnis bewegt – im einfachen Legalismus ist dieser Rahmen enger, in den Varianten des methodischen Legalismus weiter –, kann die Judikation als Subsumtion oder durch Auslegung vermittelte Subsumtion betrachtet werden. Sofern dieser Rahmen jedoch gesprengt wird, in der legalistischen Sicht also immer dann, wenn die urteilende Person nicht mehr nur das Gesetzte nachvollzieht, sondern selbst schöpferisch agiert, handelt es sich um Rechtsfortbildung, um sog. „Richterrecht“61.62 So können schließlich auch die letzten verbleibenden Lücken des positiven Rechts63 geschlossen werden, in diesem Fall nicht mehr durchs Gesetz, denn dieses ist ja gerade lückenhaft, sondern im Wege der schöpferischen Tätigkeit der urteilenden Person.64 b) Probleme des Legalismus Eine alternative Darstellung könnte den Legalismus auch als Drei-Welten-Lehre beschreiben, die sich an den insgesamt drei gesetzespositivistischen Möglichkeiten juristischer Praxis orientiert. Danach findet sich ein Bereich völlig unproblema59 Die differenzierteste Darstellung findet sich wohl bei Ralph Christensen in Auseinandersetzung mit der Gesetzesbindungsproblematik: Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 66 – 181; ders., Der Richter als Mund des sprechenden Textes (1989), S. 48 – 72. 60 Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 251. 61 Eingehend kritisch dazu Müller, ,Richterrecht‘ (1986). 62 Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 250 f.; vgl. ders., Der Richter als Mund des sprechenden Textes (1989), S. 51 f. Weil sich die Zwei-Welten-Spaltung nicht nur auf das Problem der Rechtserkenntnis als solches, sondern daran anschließend auch auf den Gegenstand der Rechtsauslegung bezieht, spricht Christensen auch von einer „Verdopplung des Erkenntnisgegenstands“: ders., Die Paradoxie richterlicher Gesetzesbindung (2005), S. 5. 63 Stellvertretend Rüthers, Rechtstheorie (32007), S. 466 – 523, Rn. 822 – 935. 64 In aller Regel wird dann ein „zweiter Code hinter dem Gesetz“ zur Begründung herangezogen: Christensen, Die Paradoxie richterlicher Gesetzesbindung (2005), S. 5. Gängige Referenzgrößen bilden dabei etwa der Urteilenden als verfügbar unterstellte Rationalität, Wertvorstellungen oder die Rechtsidee. Dazu Müller, ,Richterrecht‘ (1986), S. 104 / 124 f., m. w. N. Etwa Gerechtigkeit, nötigenfalls „nach seinem eigenen Rechtsgefühl, seinen persönlichen Zweckmäßigkeitsvorstellungen oder auch in einem rechtsethischen Wagnis“ einfordernd Zippelius, Juristische Methodenlehre (102006), S. 82 – 84, Zitat auf S. 84.
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tischer Subsumtion, in dem die Anwendung von Rechtsnormen quasi von selbst vonstatten geht, ein Zwischenbereich der Auslegung, in dem der ein-gelegte Sinn von Rechtsnormen mit methodischen Mitteln erst aus-gelegt werden muss, und ein Bereich der Rechtsfortbildung, wo sich dem lückenhaften Gesetz für den anstehenden Fall überhaupt keine Lösung entnehmen lässt. Während eine Kritik des solcherart gezeichneten Gesetzespositivismus von Beginn an grundsätzlich ansetzen müsste, bietet die hier gewählte Darstellung des Legalismus als systematische Entwicklung von einer einfachen über eine methodische hin zu einer subjektiv und objektiv methodischen Variante eine differenziertere Möglichkeit der Kritik. Es bietet sich die Möglichkeit, die scheinbar fortgeschrittene Konzeption des Legalismus schrittweise wieder abzubauen und in dieser Dekonstruktion das sich durchziehende legalistische Grundproblem der anscheinend vorgegebenen Norm schließlich in Gänze zu desavouieren. Zu diesem Zweck wird der Legalismus in umgekehrter Reihenfolge aufgegriffen und zu seinem Kern hin kritisiert. Dabei muss auch die These richterlicher Rechtsfortbildung verabschiedet werden. Einen schweren Stand hat die subjektive Variante des methodischen Legalismus bereits innerhalb der gesetzespositivistischen Doktrin, weil die Feststellung des von ihr als maßgeblich hochgehaltenen gesetzgeberischen Willens angesichts der Uneinheitlichkeit und Kontrarität des legislativen Prozesses von vornherein recht aussichtslos anmutet.65 Entscheidend ist allerdings, dass der auktoriale Wille des Gesetzgebers in der subjektiven Lehre in eigentümlicher Weise eine Objektivierung66 erfährt, indem er zu einer „vorausdrücklichen“67 Entität in der Hand des Gesetzgebers stilisiert wird, der auch unverknüpft mit dem Gesetzestext Bestand hat. Der Gesetzestext fungiert dabei als bloßer Transporteur der gesetzgeberischen Absicht. Damit wird der auktoriale Wille von seiner sprachlichen Formulierung abgelöst und ins (sprachlose) forum internum des Autorsubjekts, also des Gesetzgebers, zurückgedrängt. Sprachtheoretisch68 ist diese Auffassung nicht überzeugend: „Eine Absicht ist immer etwas Bestimmtes, und eine bestimmte Absicht kann man nur im Rahmen einer bestimmten Sprache haben. Das heißt, dass die Absicht nicht vom Sprachsystem unabhängig ist, sondern sich in dieses einschreibt. Daher kann man nicht von einer vorausdrücklichen Intention auf die Be65 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (61991), S. 328 f. Dazu sowie zu den Gegenargumenten der subjektiven Lehre und schließlich zur prinzipiellen Möglichkeit eines genetischen Methodenelements Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 91 – 96, m. w. H. 66 Zur Umdeutung der Attribute „subjektiv“ und „objektiv“ in der subjektiven und objektiven Lehre Röhl, Allgemeine Rechtslehre (22001), S. 614; sich anschließend Rüthers, Rechtstheorie (32007), S. 452 f., Rn. 796 f. / S. 464, Rn. 820. 67 Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 29 u. ö. 68 Nach Christensen wird die subjektive (wie die objektive) Lehre entscheidend durch eine spekulative Bedeutungstheorie bestimmt, an die die juristische Methodentheorie lediglich angehängt wird. „Die bedeutungstheoretischen Spekulationen der juristischen Methodenlehre müssen deswegen im Zentrum der Analyse stehen.“ Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 89.
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deutung des Textes schließen, sondern nur umgekehrt von der Bedeutung eines Textes auf die Intention.“69 „Damit kommt die äußerliche sprachliche Form der vorgeblich reinen Innerlichkeit des Willens zuvor. [ . . . ] Als Ursprung seines Ausdrucks kommt der Wille immer zu spät.“70 Gerade diesen ur-sprünglichen, vorsprachlichen Willen setzt die subjektive Lehre aber voraus. Als „archimedischer Punkt außerhalb der Sprache“ kann der Wille des Gesetzgebers jedoch nicht herangezogen werden.71 Andererseits kann auch die objektive Lehre nicht überzeugen. Anstatt den Fixpunkt der Auslegung im von der Sprache gelösten Autorwillen festzusetzen, will sie ihn zunächst in die Sprache selbst verlegen. Die Aufgabe der Auslegung besteht danach darin, den in der Sprache („immer schon“) enthaltenen objektiven Sinn des Gesetzestextes zu erschließen. „Der gesetzgeberische Wille gleicht in diesem Modell einem Bahnreisenden, der, nachdem er seine Fahrkarte gelöst hat, unabhängig von seinem Zutun und ohne weitere Steuerungsmöglichkeiten an einen Ort befördert wird, welcher nach dem Fahrplan schon vorher feststand. Der Auslegende kann sich hier damit begnügen festzustellen, ob der Gesetzgeber X bei der sprachlichen Objektivierungsstelle ein Ticket gelöst hat, und sich danach auf das Studium der (sprachlichen) Fahrpläne beschränken.“72 Dieser „Studiermöglichkeit objektiver Sprachfahrpläne“ ist wegen ihres spekulativen Beigeschmacks mit Skepsis zu begegnen, und nicht zu Unrecht wird die Suche nach einem objektiv richtigen Weg als höchst subjektives Unterfangen stigmatisiert.73 Zur Präkarisierung dieses Objektivismus trägt die objektive Lehre dann noch bei, wenn sie sich gezwungen sieht, die erfolglose Suche „des“ Gesetzessinns in „der“ Sprache auf einer Metaebene, etwa nach „der“ Rechtsidee, zu perpetuieren74. Sprachtheoretisch gesehen, schenken sich subjektive und objektive Lehre so kaum etwas: „Damit reproduziert sich im Konzept der objektiven Lehre die Autorenfunktion in der Form eines hypostasierten Allgemeinen. Dort wo der allgemeine Sinnzusammenhang der Sprache über den beschränkten Horizont des Autors hinausführen sollte, erscheint Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 29 f. Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 30. 71 Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 30. Zum Ganzen ebd., S. 29 – 31, m. w. N. insb. bei Wittgenstein und Derrida; vgl. auch die Argumentation in Christensen, Der Richter als Mund des sprechenden Textes (1989), S. 55 – 59. Vgl. ferner die in Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), angeführte ansatzweise sprachtheoretische Kritik an der subjektiven Lehre durch Ernst Forsthoff und Radbruch: ebd., S. 29 / 30 f., m. w. N. 72 Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 101. 73 Hierzu wieder die auf Röhl zurückgehende Argumentation bei Rüthers: Fn. 66. 74 Radbruch, Rechtsphilosophie (81973), S. 213 f. Bei Larenz leisten im Rahmen der „objektiv-teleologischen Kriterien“ die „rechtsethischen Prinzipien, die hinter einer Regelung stehen, in denen der Sinnbezug einer solchen auf die Rechtsidee faßbar, aussprechbar wird“, Hilfestellung: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (61991), S. 333 – 339. Kritisch in diesem Kontext zu Radbruch Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 33 – 35; zu Larenz Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 167 – 173. 69 70
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der objektive Geist als verschwiegener Autor. Das zunächst verdrängte Subjekt kehrt in der Maske eines sich der Sprache bedienenden Metasubjekts zurück.“75 Weder die subjektive noch die objektive Variante des methodischen Legalismus kommt von der Vorstellung eines irgendwie Vorgegebenen und Aufzuspürenden los, und sämtliche Versuche, an dieser Vorstellung festzuhalten, sei es auf der subjektiven Seite dadurch, das freischwebende Willensmoment mithilfe einer kommunikationstheoretischen Semantik einzufangen,76 sei es auf der objektiven Seite durch eine gesteigerte Weiterentwicklung des sinntotalen Metacodes77 oder durch sonstige „hermeneutische“ Objektivismen78, laufen deshalb ins Leere. Da es sich beim „Willen des Gesetzgebers“ um eine Chimäre, und beim „Willen des Gesetzes“ um ein Phantom handelt,79 spricht die strukturierende Rechtslehre auch von der „Unbrauchbarkeit der ,subjektiven‘ und der ,objektiven‘ Theorie“.80 Der fruchtlose Kampf zwischen den beiden Lehren führt in eine „diskursive Endlosschleife“, in der die objektive Lehre die Sprachvergessenheit der subjektiven Lehre und die subjektive Lehre das überschießende Sprachvertrauen der objektiven Lehre kritisiert.81 Das Bemühen, die subjektive und die objektive Lehre in einer vermittelnden Position zu vereinigen,82 führt dabei nicht weiter, weil sie die Fehlgriffe der legalistischen Methodenlehren nur addiert und verteilt,83 anstatt den gemeinsamen blinden Fleck ins Blickfeld aufzunehmen: die sprachtheoretisch und hermeneutisch84 unzureichend reflektierte Voraussetzung einer der Auslegung irgendwie
Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 104 f. So etwa die Ansätze von Eberhard Baden, Rainer Hegenbarth und Ulrich Schroth sowie die Kritik an der strukturierenden Rechtslehre bei Ingeborg Maus: Baden, Gesetzgebung und Gesetzesanwendung im Kommunikationsprozess (1977); Hegenbarth, Juristische Hermeneutik und linguistische Pragmatik (1982); Maus, Zur Problematik des Rationalitäts- und Rechtsstaatspostulats (1981). In Erwiderung darauf Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 117 – 121 / 237 – 251; ders., Der Richter als Mund des sprechenden Textes (1989), S. 54 f.; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 199 – 203, Rn. 204 – 208; dies., Juristische Methodik II (22007), S. 446 – 450, Rn. 612 – 619. 77 Bei Larenz verweisen die rechtsethischen Prinzipien auf den Metacode eines „inneren Systems“ des Rechts: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (61991), S. 336 / 475 – 490. Vgl. ferner ders., Richtiges Recht (1979). Zu dieser Weiterentwicklung des Objektivismus schon der Hinweis zu Larenz in Fn. 74; Christensen, Der Richter als Mund des sprechenden Textes (1989), S. 59 – 64. 78 Dazu Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 108 – 117 / 144 – 152. 79 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 459, Rn. 443. 80 Bzw. der „Willens“-Doktrin im Ganzen: Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 243 f., Rn. 265 f. / S. 458 – 460, Rn. 442 – 444. 81 Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 35. 82 Zu den sog. Vereinigungstheorien Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 105 – 107, m. w. H.; ferner der Hinweis in Fn. 56. 83 Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 106 f. 84 „Hermeneutisch“ hier in einem subjektivismus- wie objektivismuskritischen Sinn. Vgl. Mastronardi, Juristisches Denken (22003), Rn. 79 – 169. Insofern stimmt die Verwendung des 75 76
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vorgegebenen Rechtsentität, die im Wege der Auslegung lediglich aufgefunden werden müsse.85 Diese Kritik an der subjektiven wie objektiven Variante des methodischen Legalismus führt zu einer Kritik des legalistischen Auslegungsmodells überhaupt, dessen methodisches Instrumentarium dazu dienen soll, die vorgebliche lex ante casum ausfindig zu machen. Solange juristische Methodenlehre als Erkenntnislehre, als methodischer Apparat zur Nach-vollziehung eines in der gesetzten gesetzgeberischen Absicht oder im Sprachsystem bereits Vor-vollzogenen86 verstanden wird, versteht sich die Jurisprudenz selbst nicht recht.87 Juristisches Urteilen ist eine schöpferische, eine produktive Tätigkeit. Das Urteil, das die Juristin oder der Jurist fällt, ist ein Produkt ihres oder seines eigenen Schaffens. Die Auslegungsmetapher gibt dafür nur ein verkürztes Bild ab. Mit gutem Grund stellt die strukturierende Rechtslehre dem Auslegungsmodell daher das Modell der (praktischen) Konkretisierung gegenüber, in dem die juristische Tätigkeit als ein konstruktives Herstellen einer Rechts- und Entscheidungsnorm durch die Inarbeitnahme des Gesetzestextes, durch „Arbeit mit Texten“88 zu verstehen ist.89 I. d. S. „geht es bei juristischer Fallösung um Normkonstruktion: die Rechtsnorm muß im Fall jeweils erst produziert werden.“90 Der Topos der Konkretion ist dabei völlig von der Vorstellung eines vorgefertigten Abstrakten zu lösen: „ ,Konkretisierung‘ [meint] auch nicht, eine vor dem Rechtsfall schon vorhandene Norm werde auf diesen hin individualisiert, ,konkreter‘ gemacht, in ihrem Umfang sozusagen verengt. [ . . . ] ,Konkreter‘ werden dabei von Stufe zu Stufe die Arbeitsinstrumente; und die Formulierung der erzeugten Rechtsnorm ist notwendig konkreter als der üblicherweise so genannte Gesetzeswortlaut.“91 Mit dieser Ersetzung des Auslegungsmodells durch ein Konkretisierungs-92 oder Rechtserzeugungsmodell93 wird das juristische Urteilen zu einem Prozess der Recht-Fertigung. Der Paradigmenwechsel zu einer nachpositivistischen RechtsBegriffs mit der der strukturierenden Rechtslehre überein: Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 33 – 36, Rn. 7 – 12 – zu beachten insb. der Verwendungshinweis auf S. 36, Rn. 12; vgl. auch Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 241 – 245. 85 Vgl. Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 107 f. 86 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 37, Rn. 14, u. ö. 87 Dabei soll die juristische Methodenlehre doch gerade diesem Zweck dienen: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (61991), S. 243 – 249. 88 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 35 f., Rn. 11. 89 Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 184 – 200 u. ö.; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 37, Rn. 14 / S. 250 – 259, Rn. 274 – 288, u. ö. 90 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 37, Rn. 14. 91 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 37, Rn. 14. 92 Nicht zu verwechseln mit dem von Christensen kritisierten inkonsequenten Konkretisierungsmodell, dessen Konkretisierungsbegriff noch immer einer vor-gefertigten Norm nachhängt: Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 127 – 158. 93 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 472 – 475, Rn. 470 – 472.
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lehre94 ist dabei nicht schon vollzogen, wenn die Werthaftigkeit des juristischen Tuns zur Kenntnis genommen und die Anstrengung unternommen wird, die Judikation von den Wertvorstellungen und Vorurteilen der Urteilenden nach Möglichkeit zu säubern.95 Einer „Wertgefahr“ ist sich die (methodische) legalistische Position durchaus bewusst. Ihre methodischen Bemühungen müssen angesichts der Unüberwundenheit der Vorstellung von der vorgegebenen Rechtsnorm nämlich so gedeutet werden, dass sie die Leitplanken bilden sollen, die zu einer wertfreien, für jede Person gleichermaßen nachvollziehbaren Rechtserkenntnis führen. Das Ziel der juristischen Methodik ist es danach, die subjektiven Hindernisse zwischen Urteilsperson und Rechtsnorm mit wissenschaftlichen Mitteln so weit freizuräumen, dass sich diese jener in ihrer vollen Objektivität offenbart.96 Damit überträgt der Legalismus den naturwissenschaftlichen Erkenntnisansatz auf die Rechtswissenschaft. Das „Wertproblem“ wird dadurch gewissermaßen lediglich als quantitatives aufgefasst – die subjektive Willkür der Urteilsperson ist auf ein Minimum zu reduzieren –, nicht aber als qualitatives Problem verstanden. In Wirklichkeit ist die Praxis der Juristinnen und Juristen jedoch nicht nur evaluativ, sondern als Praxis eben auch kreativ. M. a. W.: Das juristische Urteilen ist nicht nur ein Wert-, sondern auch ein Werk-Urteil. Mit der strukturierenden Rechtslehre lässt sich die legalistische Verleugnung dieser Produktivität des juristischen Urteilens als implizite Sprachtheorie mit einem simplizistischen regelplatonistischen97 Bedeutungsrepräsentationismus reformulieren:98 „[Sprachliche Bedeutung] ist, so besagt diese Theorie, im Text objektiv vorgegeben und wirkt damit als Brücke zwischen dem Normtext und der darin repräsentierten Rechtsnorm. [ . . . ] Dem Normtext ist objektiv eine Bedeutung zugeordnet, welche gleich einem Behälter die auf den Fall anzuwendende Rechtsnorm enthält.“99 Hinter dieser „Annahme einer stabilen Textbedeutung“ „als sicherer 94 Mit dem Hinweis insb. auf Somek / Forgó, Nachpositivistisches Rechtsdenken (1996), dazu die Klärung in Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 184 f., Fn. 72; ferner die weiteren Hinweise ebd., S. 480, Fn. 9. 95 Der größte Säuberungsversuch der rechtswissenschaftlichen Geschichte findet sich bekanntlich bei Hans Kelsen: Kelsen, Reine Rechtslehre (21983). 96 Diese Objektivismus- bzw. Ontologismus-Kritik an der legalistischen Position betrifft die subjektive und die objektive Lehre übrigens in gleicher Weise. Denn beide Lehren jagen dem vorgegebenen Objekt des Willens hinterher, sei es im sprachlosen Kopf des Autors, sei es in der Allheit des Textes. 97 Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 67 u. ö.; ders., Der Richter als Mund des sprechenden Textes (1989), S. 77, m. w. N. 98 Eingehend Christensen / Kudlich, Die Auslegungslehre als implizite Sprachtheorie (2002). Ferner Busse, Was ist die Bedeutung eines Gesetzestextes? (1989); umfassend ders., Juristische Semantik (1993); mit speziellem Blick auf die Rechtspraxis ders., Semantik der Praktiker (2001). 99 Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 131. Synoptisch und die entsprechenden Konsequenzen aufzeigend Müller et al., Rechtstext und Textarbeit (1997), S. 19 – 35.
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Ausgangspunkt für weitere Ableitungen und juristische Entscheidungen“ steht folgendes Sprachverständnis: „Sprache ist aus der Sicht der Juristen objektiv, atomistisch und normativ.“100 Sprache ist jedoch kein objektives, von den Sprechenden abgekoppeltes Phänomen, sondern wird, wenn auch keineswegs voll disponibel,101 in den sprachlichen (Inter-)Aktionen der Sprechenden reproduziert102. Das ist die wesentliche Erkenntnis der pragmatischen Wende in der Sprachwissenschaft103. Sprachbedeutung lässt sich auch nicht atomistisch von der Gesamtstruktur der Sprache absondern, sondern ist stets auf einen holistischen Kontext verwiesen.104 Schließlich geht auch die Auffassung von der Normativität der Sprache fehl.105 Zwar kann Normativität nur erst in Sprache produziert werden,106 sie lässt sich darin aber nicht einfach auffinden, sondern muss in der argumentativen Verknüpfung sprachlicher Kontexte zur Überzeugung gebracht werden.107 „Sprechen hat keine normative Substanz, sondern ein normatives Potential, das erst in einer sozialen Praxis verwirklicht werden muss.“108 Die gesetzespositivistische Auslegungslehre erweist sich hermeneutisch wie sprachtheoretisch als unhaltbar. Die berechtigte Kritik am methodischen Legalismus schlägt dabei direkt auf die legalistische Grundthese und somit auch auf die Variante des einfachen Legalismus durch: Die lex ante casum ist eine Illusion und das justizsyllogistische Modell deren erste wissenschaftstechnische Verschleierung. Als juristisch-methodische Konzeption versagt der Legalismus deshalb als ganzer. Aus dieser Sicht erscheinen sämtliche theoretischen Komplizierungen der legalistischen Methodentheorie als Versteigungen in denselben Aporien, als theoretische Garnitur eines faulen Kerns.109 Dazu zählt auch die These der richterlichen Rechtsfortbildung.110 In der legalistischen Auffassung bildet das „Richterrecht“ den Reservebereich juristischer Praxis, in dem das subsumtions- und auslegungslogische Erkenntnismodell nicht mehr greift, d. h. das vorgefertigte Gesetz Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 133. Christensen und Kudlich sprechen in diesem Kontext von einem „Phänomen der dritten Art“: Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 137 f., m. w. N. 102 Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 134 – 139, m. w. H. zur analytischen und poststrukturalistischen Sprachphilosophie. 103 Im vorliegenden Kontext dazu m. w. H. Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 374 – 380. 104 Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 139 – 147. 105 Eingehend Christensen / Sokolowski, Wie normativ ist Sprache? (2001). 106 Vgl. die These der strukturierenden Rechtslehre von der „Normativität als Vorgang“: Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 2 und durchgehend. 107 Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 133 / 147 – 151. 108 Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 151. 109 Als Vergleich zieht die strukturierende Rechtslehre hierzu die Epizykel-Theorie zum ptolemäischen Weltbild heran: Müller, ,Richterrecht‘ (1986), S. 119; Christensen, Der Richter als Mund des sprechenden Textes (1989), S. 73. 110 Müller, ,Richterrecht‘ (1986), S. 119. 100 101
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eine Lücke aufweist und deshalb die Eigenleistung der Urteilsperson gefragt ist. Tatsächlich aber greift das Modell überhaupt nicht. Das Gesetz „gibt“ nie eine lückenlose Antwort auf ein Rechtsproblem, und juristisches Urteilen ist immer eine produktive Eigenleistung. Insofern ist jede juristische Tätigkeit eine „Rechtsfortbildung“, jedes Urteil „Richterrecht“. Eine realistische Sicht auf das Phänomen des Richterrechts führt es durch diese Umkehrung des Regel-AusnahmeSchemas111 also ad absurdum – was in der legalistischen Sicht die Ausnahme ist, ist in der realistischen die Regel –, oder entlarvt es – wo die urteilende Person, statt ihr Urteil an das geltende Recht anzuknüpfen, selbst einen „Quasi-(oder Pseudo-) Normtext“112 setzt – als unzulässig.113 Beide Ansätze speisen sich dabei wiederum aus der hermeneutisch wie sprachtheoretisch unzulänglich reflektierten Voraussetzung der im Gesetz schon vorgegebenen Norm. Bemerkenswert an der implizit sprachtheoretisch gestützten Prämisse des Legalismus ist, dass sie zugleich eine Legitimationsfunktion übernimmt, indem sie die urteilende Person von ihrer Verantwortung für das „gefundene“ Urteil entlastet.114 Denn „[d]er Richter hat keine Entscheidung zu treffen, sondern nur eine Erkenntnis nachzuvollziehen.“115 „Die Rechtserkenntnislehre [ . . . ] begrenzt und verendlicht das, was ein Richter leisten muss, auf die einzige Aufgabe korrekter Erkenntnis.“116 Weil das Abschieben juristischer Verantwortung auf die vor-handene Norm, also in die Sprache oder auf einen durch Sprache unveränderlichen, gleichwohl sprachlosen Willen des Gesetzgebers nicht überzeugen kann, verschärft sich für die Jurisprudenz die Legitimationsproblematik. Der juristische Reflexionsstopp, der durch die Beschränkung auf das positive Recht als (pragmatischer) Rechtspositivismus zunächst plausibel ist, wird mit dem Legalismus um einen Erkenntnispositivismus ergänzt, sodass sich die Haltung des Legalismus insgesamt als „doppelter Positivismus“ charakterisieren lässt. In der Konsequenz bedeutet dies einen doppelten Legitimationsstopp: Innerhalb des schon beschränkten Legitimationsanspruchs wird von der juristischen Praxis auch noch das Legitimationserfordernis abgezogen. Während sich aber der rechtspositivistische Reflexionsstopp, wie gesehen, nicht nur wissenschafts- und praxisdisziplinär, sondern auch mit dem Verweis auf Gesetzesbindung und Gewaltenteilung rechtfertigen lässt, zieht die erkenntnispositivistische Vorstellung einer schon vor der Rechtsarbeit Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 70 f. / 241 – 246. Müller, ,Richterrecht‘ (1986), S. 80 und durchgehend. 113 Müller, ,Richterrecht‘ (1986), S. 110. Zur Haltung der strukturierenden Rechtslehre zur Problematik von „Lücke“ und „Richterrecht“ insgesamt ebd.; konzentriert, ebd., S. 119 – 126; Christensen, Richterrecht (1989). Einen realistischen Umgang mit der Lückenproblematik zeigt Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 357 – 362, Rn. 370 f. 114 Christensen, Die Paradoxie richterlicher Gesetzesbindung (2005), S. 6 f.; direkt an der impliziten juristischen Sprachtheorie ansetzend Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 131 – 133. 115 Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 131. 116 Christensen, Die Paradoxie richterlicher Gesetzesbindung (2005), S. 11. 111 112
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vorbestehenden Rechtsnorm die juristische Praxis in völlig ungerechtfertigter Weise aus ihrer Verantwortung. Zur Legitimation rechtlicher Urteile reicht „das Gesetz“ nicht hin. Juristisches Urteilen ist ein produktives und daher zu verantwortendes Handeln in der Hand der jeweils Urteilenden. Legitimität kann nicht aus einer objektiven, den Subjekten vorgeordneten Welt117 herbeigezaubert werden, sondern muss in der (fairen) Praxis der Betroffenen erst hergestellt werden. In der juristischen Methodentheorie verdecken die Subsumtions- und die Auslegungsmetapher die kreative Produktivität der Rechtsarbeiterin und des Rechtsarbeiters118 mit einem anscheinend maschinellen Mechanismus, dessen Funktionsfähigkeit lediglich von der fachgerechten Inbetriebnahme und allenfalls von der zuständigkeitsgerechten Autorität der Bedienenden abhängt. Das Gleiche kann vom Bild der „Anwendung“ gesagt werden. Die in der Rechtswissenschaft geläufige Deutung von Legislation und Judikation als „Rechtsetzung“ und „Rechtsanwendung“ (wie übrigens auch die von „Rechtsetzung“ und „-vollzug“) unterstellt die nunmehr nicht mehr tragbare Vorstellung, die vom Legislator gesetzte „Norm“ sei eben bereits gesetzt und müsse sozusagen nur noch per Knopfdruck für die diesem Vorherbestimmten passende Wirklichkeit in Betrieb gesetzt, angewendet werden. Judikation verkümmert dadurch zur bloßen Verwirklichung einer dem Gesetzestext schon inhärenten (normativen) Realität. Diese Realität – in der Hand der Juristinnen und Juristen ist sie machtgestützt – wird aber in der Tat durch die judizierenden Personen produziert. Gesetze lassen sich nicht applizieren.119
2. Lässt sich Recht juristisch legitimieren? Der legalistische Traum von der lex ante casum bleibt unerfüllt. Weil es nicht zutrifft, dass die Rechtsnorm bereits vorliegt, bevor die Rechtsarbeiterinnen und Rechtsarbeiter Hand an den zu beurteilenden Fall gelegt haben, und weil das Recht in der Beurteilung des Falls erst hergestellt wird, greifen die Vorstellungen von der Anwendung, der Auslegung oder vom Vollzug des Gesetzesrechts zu kurz. Sie bleiben hinter der Komplexität des konstruktiven Rechtserzeugungsprozesses zurück und schieben dabei die Verantwortung der Urteilenden in eine „Reserveontologie“ ab120. Da diese für die Legitimation von Rechtsurteilen aber nicht mehr herhalten kann, rückt die Frage nach der Legitimation der Judikation weiter in den 117 Kritik am allgemeinen Subjekt-Objekt-Dualismus in der strukturierenden Rechtslehre Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 49 f. 118 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 256 – 259, Rn. 282 – 288, insb. 286 – 288. Vgl. auch die Erläuterung von „Rechtsarbeit“ in Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 246 – 250. 119 Zum normentheoretischen Applikationismus auch nochmals Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 47 – 56. 120 Christensen, Die Paradoxie richterlicher Gesetzesbindung (2005), S. 7.
2. La¨sst sich Recht juristisch legitimieren?
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Vordergrund. Es fragt sich, auf welche Weise dem juristischen Rechtfertigungsproblem ansonsten beizukommen ist. Angesichts der – immer noch weiten – Verbreitung des legalistischen Methodendenkens ist sogar die Frage angebracht, ob sich Rechtsurteile (überhaupt) juristisch legitimieren lassen.121 Damit spitzt sich die Legitimationsproblematik in diesem Punkt zu. Sollte es aus juristischer Sicht nicht gelingen, Rechtsurteile zu rechtfertigen, so müsste das nicht nur die Rechtswissenschaft als wissenschaftliche Disziplin, sondern auch das demokratischrechtsstaatliche Ordnungsmodell insgesamt in eine tiefe Krise stürzen. Diesen Weg bereiten Positionen, die sich unter dem Namen Anti-Legalismus oder Antipositivismus zusammenfassen lassen und deren erschütternde Konsequenz erst die strukturierende Rechtslehre mit einer überzeugenden Gesamtkonzeption juristisch legitimer Rechtskonkretisierung abwenden kann.
a) Anti-Legalismus (Antipositivismus) Als „Anti-Legalismus“ oder „Antipositivismus“122 lässt sich eine dem Legalismus diametral entgegengesetzte Gruppe von juristisch-methodischen und -theoretischen Konzeptionen bezeichnen, die die Schwierigkeiten des legalistischen Rechtsanwendungsmodells zum Anlass nehmen, die Möglichkeit juristischer Legitimität in grundsätzlicher Weise infrage zu stellen und dementsprechend mit je unterschiedlichen, doch stets juristisch-skeptischen Rechtsauffassungen und -methodiken aufwarten.123 Was die anti-legalistischen Positionen zunächst eint, ist die Heftigkeit der Kritik am legalistischen Rechtsontologismus, dem sie in großem Stil, meist ideologiekritisch begegnen. Unterschiede zwischen den Anti-Legalismen lassen sich dann v. a. hinsichtlich der Konsequenzen analysieren, die sie aus ihrer Kritik am Gegenüber ziehen. Sie reichen von konstativer Resignation über entideologisierende Aufweichungen juristischer Dogmatik und Methodik bis hin zu einem harten dezisionistischen Gegenprogramm zur herkömmlichen juristischen Doktrin. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch der Anti-Legalismus nach drei Varianten unterscheiden, die dem legalistischen Legitimationsbemühen in der angegebenen Rei121 Diese Problemstellung fragt nach der Einlösbarkeit des spezifisch juristischen Legitimationsmaßstabs der Legalität. Innerhalb einer integrativ-interdisziplinären, d. h. juristisch und ethischen Legitimationskonzeption wie dieser sind Legalität und Legitimität integral miteinander verknüpft. Die aufgeworfene Frage könnte deshalb auch lauten: „Wie ist Legitimität durch Legalität möglich?“ Vgl. Habermas, Wie ist Legitimität durch Legalität möglich? (41994 [1987]), insb. S. 563 – 570. 122 Hierzu Müller, ,Richterrecht‘ (1986), S. 31 / 44 / 47; ders., Positivismus (1990), S. 20; Christensen, Was heißt Gesetzesbindung (1989), S. 248; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 250, Rn. 274, u. ö. 123 Zur Erläuterung und Auseinandersetzung mit den verschiedenen Antipositivismen durch die strukturierende Rechtslehre insb. Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 28 – 39 / 194 f.; Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 202 – 217; Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 93 – 126; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 182 f., Rn. 192 / S. 393, Rn. 192 / S. 395 – 398, Rn. 422 – 424.
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henfolge mit zunehmender Radikalität entgegentreten: eine resignative, eine weichere proaktive und eine harte proaktive Variante des Anti-Legalismus. Dabei kann der Rechtsrealismus als Vertreterin der ersten und die postmoderne Rechtslehre als Vertreterin der zweiten Variante betrachtet werden,124 ein harter proaktiver Anti-Legalismus findet sich v. a. in der dezisionistischen Rechtslehre Carl Schmitts125. Aus der Sicht der strukturierenden Rechtslehre schießen all diese Positionen am Ziel vorbei. Bevor diese Einschätzung aber stichhaltig dargetan werden kann, bedarf es zumindest einer knappen Darstellung des antipositivistischen Gedankenguts. Zunächst kann der v. a. in Skandinavien126 und in Amerika127 wirkungsvolle Rechtsrealismus128 als eine Form des „resignativen Anti-Legalismus“ vorgestellt werden.:Wie alle juristischen Antipositivismen nimmt der Rechtsrealismus seinen Ausgang bei der Infragestellung des legalistischen Legitimationsmodells. Beim Rechtsrealismus läuft die Infragestellung allerdings auf eine Fundamentalkritik des Glaubens an Normativität hinaus. Insofern normative Aussagen danach einem wahrheitsunfähigen, mithin wissenschaftlich nicht zugänglichen Bereich zuge124 Dazu könnten auch die juristische Topik und die juristische Rhetorik gezählt werden, insofern auch diese Konzeptionen zunächst an der methodischen (normativen) Entscheidbarkeit juristischen Urteilens zweifeln und eine teilweise vom Gesetzestext gelöste Gegenstrategie verfolgen. Stellvertretend für die Topik Theodor Viehweg, für die Rhetorik Fritjof Haft: Viehweg, Topik und Jurisprudenz (51974); Haft, Juristische Rhetorik (51995). Dazu Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 202 – 207. M. w. H. eingehend zur Topik Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 56 – 67. 125 Zu diskutieren wäre, ob die sog. juristische Freirechtsschule ebenfalls dem harten oder eher einem weicheren anti-legalistischen Proaktionismus zuzuordnen ist. In der Radikalität seines harten, (in der Konsequenz) geradezu anti-juristischen Dezisionismus bleibt Schmitt jedoch unerreicht. Zur Freirechtsschule etwa, je m. w. H., Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie (72004), S. 121 f.; Rüthers, Rechtstheorie (32007), S. 364 f., Rn. 610. Zur Freirechtsschule aus der Sicht Schmitts etwa Schmitt, Gesetz und Urteil (21969 [1912]), S. 15 – 21 / 40 – 44. 126 Dazu Vogel, Der skandinavische Rechtsrealismus (1972); von der Pfordten, Rechtsethik (2001), S. 115 – 119. 127 Reich, Sociological Jurisprudence und Legal Realism (1967); zu ausgewählten Autoren neuerlich Rea-Frauchiger, Der amerikanische Rechtsrealismus (2006). Hinzuweisen ist auf die v. a. in der angloamerikanischen Rechtswissenschaft uneinheitliche Verwendung von „Realismus“. Der hier dargestellte Rechtsrealismus deckt sich etwa nicht in jeder Hinsicht mit der amerikanischen Kontroverse zwischen Realisten und Anti-Realisten, die eher an die Gegenüberstellung von objektiver und subjektiver Lehre erinnert, z. T. aber auch anti-legalistische Züge trägt. Dazu Christensen, Wahres Recht? – Das Recht wahren (1999), insb. S. 96 – 103. 128 Dazu allgemein Mastronardi, Juristisches Denken (22003), Rn. 704 – 714. Aus der Sicht der strukturierenden Rechtslehre v. a. zur Ausprägung als Soziologismus Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 32 – 39, insb. 32 – 34; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 241, Rn. 260 / S. 395 – 398, Rn. 422 – 424; kritisch zum „legal realism“ Müller / Christensen, Juristische Methodik II (22007), S. 174 – 176, Rn. 221. Zur Systematisierung des Rechtsrealismus wird im Folgenden auf die Ausführungen Mastronardis zurückgegriffen.
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schrieben werden müssten,129 bleibt das Recht als bloße Tatsache zurück.130 Im wissenschaftskritischen Blick des Rechtsrealismus kann Recht nur noch als sozialpsychisches Naturphänomen von einer Außensicht her beurteilt werden: „Gesetze und Urteile sind für sie [sc. die Realisten] soziale Fakten, welche eine bestimmte Wahrscheinlichkeit schaffen, dass künftige Entscheidungen der zuständigen Behörden in bestimmter Richtung ausfallen werden. [ . . . ] Ob diese Wahrscheinlichkeit zutrifft, hängt von soziologisch und psychologisch analysierbaren Faktoren ab. Eine Norm gilt dann, wenn sie tatsächlich angewendet wird (soziologische Komponente) und der Richter das Gefühl hat, an die Norm gebunden zu sein (psychologische Komponente).“131 Der Rechtsrealismus folgt damit einem bestimmten, nämlich an die Naturwissenschaften angelehnten Wissenschaftsideal, das Normativität und Faktizität rigoros trennt und sämtlichen normativen Anmaßungen den wissenschaftlichen Zugang versagen will.132 „Wertungsprobleme werden als Interessenkonflikte wahrgenommen, die ebenfalls als Tatsachen erkennbar sind. Die festgestellten Wünsche und Interessen werden sodann in soziale Ziele übersetzt, denen die Rechtsnormen und Urteile in zweckrationaler Weise entsprechen sollen.“133 Als resignativ kann der Rechtsrealismus bezeichnet werden, weil er keine Möglichkeit sieht, der (normativen) Unentscheidbarkeit juristischer Entscheidungen eine (normative) Alternative entgegenzusetzen. Normativität ist für den Rechtsrealismus eine schlicht verfehlte Kategorie. Was deshalb bleibt, ist der Rückzug in die allein wissenschaftlich wahrheitsfähige Welt der Deskription. Aus der Distanz lässt sich das Recht in der wissenschaftlichen Betrachtung dadurch als Sozialtechnologie beschreiben,134 als Medium der machtgestützten Durchsetzung von Gruppen- und Einzelinteressen. Rechtliche Normen werden nur noch für „Tatbestände sozialer Steuerung“135 genommen. Kriterien für die Steuerung und Kontrolle sozialer Geschehnisse sind aus einer konsequenten rechtsrealistischen Sicht wiederum keine in Sicht, da diese wieder aus dem unwissenschaftlichen136 Bereich des Normativen importiert werden müssten. Die sozialtechnologische Betrachtungsweise bleibt damit eine konstative und im Verhältnis zur juristischen Hoffnung auf Legitimität resignativ. In seiner idealtypischen Form kann sich der Rechtsrealismus lediglich in der Lage sehen, die überzogenen normativen Unterstellungen der Rechtswissenschaft zu problematisieren und anzugreifen. Als positiv-produktiver Beitrag zur rechtswissenschaftlichen Debatte kann nur die von ihm vertretene wis129 130 131 132 133 134 135 136
Mastronardi, Juristisches Denken (22003), Rn. 706. Mastronardi, Juristisches Denken (22003), Rn. 704. Mastronardi, Juristisches Denken (22003), Rn. 704. Vgl. Mastronardi, Juristisches Denken (22003), Rn. 706 – 709. Mastronardi, Juristisches Denken (22003), Rn. 711, m. w. N. Mastronardi, Juristisches Denken (22003), Rn. 705 – 711. Mastronardi, Juristisches Denken (22003), Rn. 706, m. w. N. Vgl. Lundstedt, Die Unwissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft (1932 – 1936).
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senschaftskritische Aufklärung gewertet werden. Ansonsten bleibt der Rechtsrealismus gegenüber dem Legalismus eine negativ-kritisch eingestellte Gegenposition.137 Der Übergang zu einer proaktiven Variante des Anti-Legalismus lässt sich mit einer postmodernen Rechtslehre138 vollziehen, die v. a. auf den am französischen Poststrukturalismus ausgerichteten Differenzialismus139 sowie den Selbstreferenzialismus der neueren Systemtheorie140 zurückgreift. Wie der Rechtsrealismus beginnt auch die postmoderne Rechtslehre zunächst mit einer negativen Kritik am legalistischen Rechtsanwendungsmodell. Gegen den Gesetzespositivismus wird festgehalten, „daß das Recht [ . . . ] eine ,Kreativität‘ hat, die mit dem Interpretations- / Anwendungsparadigma nicht mehr zu verarbeiten ist.“141 Die „Kreativität des richterlichen Entscheidens“142 wird dabei als notwendige Folge einer „Dezentrierung des Subjekts in der Pluralität der Sprachspiele“143 gesehen, wonach die Sprache vor dem Hintergrund einer „nicht-hintergehbaren Differenz“ ihren „Charakter als Code, als Instrument der Vernunft“ eingebüßt hat144. Die „Krise des Subjekts“ führe auch zu einer „Krise des ,Gesetzes‘“: Zur Konvergierung divergenter Sprachspiele reiche das Gesetz als metasprachlicher Code nicht mehr hin.145 In der postmodernen Sicht fällt die vereinheitlichende Funktion des Rechts der unüberwindlichen Pluralität der Differenzen, dem Widerstreit146, zum Opfer. Von diesem 137 Schickt sich eine dezisionistisch-kritische Konzeption dagegen an, die unzulänglich entscheidbare Urteilssituation zur Erfüllung bestimmter Ziele sozialtechnologisch-strategisch selbst zu manipulieren, so verlässt sie den Boden eines konsequenten Realismus und rutscht zu einem proaktiven Anti-Legalismus durch. In diesem Kontext etwa zum amerikanischen Instrumentalismus Summers, Instrumentalism and American Legal Theory (1982); Abgrenzung zum Rechtsrealismus insb. ebd., S. 36 f. 138 Darunter v. a. Karl-Heinz Ladeur: insb. Ladeur, Postmoderne Rechtstheorie (1992); ders., Gesetzesinterpretation, „Richterrecht“ und Konventionsbildung (1991); früher schon ders., Vom Gesetzesvollzug zur strategischen Rechtsfortbildung (1979); ders., „Abwägung“ – Ein neues Paradigma (1984); konzentriert ders., „Abwägung“ – ein neues Rechtsparadigma? (1983). Zur postmodernen Sicht auf die Rechtswissenschaft Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 207 – 214; Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 93 – 126, m. w. H. zur postmodernen Rechtslehre auf den S. 105 f., Fn. 337, zu Ladeur und vgl. zum Folgenden insb. S. 105 – 112. Freilich ist die Terminologie auch zum Begriff der Postmoderne und zur postmodernen Rechtstheorie nicht einheitlich. Zur selbst so bezeichneten „postmodernen“ Rechtstheorie Dennis Pattersons etwa, die nicht unter die Kategorie des proaktiven Anti-Legalismus fällt, Christensen, Wahres Recht? – Das Recht wahren (1999), insb. S. 104. 139 Ladeur, Postmoderne Rechtstheorie (1992), S. 9 – 79, insb. S. 33 – 50. Allgemein zum Differenzialismus III. 2. a), (1). 140 Ladeur, Postmoderne Rechtstheorie (1992), S. 9 – 79, insb. S. 80 – 175. Allgemein zur Systemtheorie sogleich, I. 3. 141 Ladeur, Gesetzesinterpretation, „Richterrecht“ und Konventionsbildung (1991), S. 183 f. 142 Ladeur, Gesetzesinterpretation, „Richterrecht“ und Konventionsbildung (1991), S. 185. 143 Ladeur, Postmoderne Rechtstheorie (1992), S. 33 – 50. 144 Ladeur, Postmoderne Rechtstheorie (1992), S. 38, m. w. H. 145 Ladeur, „Abwägung“ – ein neues Rechtsparadigma? (1983), S. 466 – 468. 146 Lyotard, Der Widerstreit (1987 [1983]).
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Blickwinkel aus wird auch der Kritik der strukturierenden Rechtslehre am legalistischen Auslegungsparadigma vollumfänglich beigepflichtet.147 Anders als der Rechtsrealismus übt sich die postmoderne Rechtstheorie jedoch nicht in Resignation. Die Aporien des Legalismus werden nicht nur analysiert, sondern es wird auch nach Möglichkeiten gesucht, „das rechtliche Entscheiden unter Unentscheidbarkeitsbedingungen“148 einer adäquaten Selbstbeschreibung des Rechtssystems zuzuführen. Im postmodernen Spiel der Differenzen komme es dabei darauf an, „transsubjektiv eine ,agonale Komplexität’ der Vielheit der Sprachen und damit das Fortlaufen des Generierens von Kognitionen und ihrer Tests auf das ,Passen‘ von Entscheidungen zu erhalten.“149 M. a. W. gehe es um die „Kompatibilisierung heterogener Rechtsdiskurse und Rechtsstile“150. Als „weicher proaktiver Anti-Legalismus“ lässt sich die postmoderne Rechtstheorie deshalb bezeichnen, weil sie die Strukturen des demokratischen Rechtsprozesses zu diesem Zweck nicht vollends verwirft, sondern das Recht „nur“ zu einem flexiblen Netz von Anschlusspotenzialen abwertet, in das sich die heterogenen, partialisierten gesellschaftlichen Interessen situativ-strategisch151 einpassen lassen152. Mit Blick auf das rechtliche Urteilen wird die Rolle der tradierten juristischen Methodenlehre dabei skeptisch eingeschätzt.153 Stattdessen ist die Abwägung als eine zentrale Figur der Rechtskonkretisierung ins Spiel gebracht worden.154 In diesem Verständnis bedeutet Abwägung die Umstellung „auf das situative Arrangement von ,Werten‘“. Werte fungieren dabei als „offene Topoi, die [ . . . ] nicht mehr durch eine universelle Sprache auf eine universelle Ordnung verweisen, sondern systemische, zu optimierende Selektionskriterien für Anschlussmöglichkeiten neuer Problemlösungen an die bisherigen normativen und faktischen Systembestände bereithalten.“155 Juristisches Urteilen wird also zu einem Management komplexer Problemlösungserfordernisse, in dem das Recht mit seinen „Rechtsregeln als ,kognitive Dispositive‘“156 lediglich noch einen lockeren Anschlusszusammenhang bildet.157 147 Ladeur, Gesetzesinterpretation, „Richterrecht“ und Konventionsbildung (1991), S. 186 f. / 188; deutlich ders., Postmoderne Rechtstheorie (1992), S. 11. 148 Ladeur, Gesetzesinterpretation, „Richterrecht“ und Konventionsbildung (1991), S. 189. 149 Ladeur, Gesetzesinterpretation, „Richterrecht“ und Konventionsbildung (1991), S. 194. 150 Ladeur, „Abwägung“ – ein neues Rechtsparadigma? (1983), S. 479. 151 Vgl. auch Ladeur, Gesetzesinterpretation, „Richterrecht“ und Konventionsbildung (1991), S. 188. 152 Ladeur, „Abwägung“ – ein neues Rechtsparadigma? (1983), S. 472 f. u. ö.; vgl. auch ders., Die Regulierung der Selbstregulierung (2001), S. 76 f. 153 Ladeur, Gesetzesinterpretation, „Richterrecht“ und Konventionsbildung (1991), S. 188. 154 Ladeur, „Abwägung“ – ein neues Rechtsparadigma? (1983), insb. S. 471 – 475. 155 Ladeur, „Abwägung“ – ein neues Rechtsparadigma? (1983), S. 472. 156 Ladeur, Gesetzesinterpretation, „Richterrecht“ und Konventionsbildung (1991), S. 178 – 182. 157 Neuerlich stellt sich Ladeur auch kritisch zur Abwägung und scheint die Kompatibilisierung heterogener Sprachspiele eher in der Makroperspektive prozeduraler Strukturen
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Auch bei Carl Schmitt158 findet sich dann zunächst eine harsche Kritik an der legalistischen Auslegungslehre.159 Schon früh ist ihm klar: „[D]ie Rechtspraxis ist mit dem Verweis an das positive Gesetz nicht erklärt.“160 Seine Kritik am einfachen begriffslogischen Subsumtionsdenken161 führt ihn sogleich weiter zu einer Kritik der methodischen Willens-Doktrin162, zuerst des problematischen „Willens des Gesetzgebers“163. Schmitts kritische Analyse dieser Lehre bringt ihn schließlich zu der Einschätzung: „Die Widersprüche und Inkonsequenzen der Lehre vom Willen des Gesetzgebers hatten ihren Grund darin, daß man sich nicht darüber klar werden wollte, mit einer bloßen Fiktion zu operieren.“164 „[G]eradezu absurd“ sei es, „den ,Willen‘ einer gesetzgeberischen Versammlung“ ermitteln zu wollen.165 Aber auch die Lehre vom „Willen des Gesetzes“ wird verworfen:166 „Mit solchen Kunstmitteln lässt sich freilich alles aus dem Gesetze ,entnehmen‘, was man darin finden will [ . . . ].“167 Insgesamt ist es für Schmitt „wahrhaftig gleichgültig, ob man seinen Argumentationen das Siegel ,zweifelloser Wille des Gesetzgebers‘ oder das ,zweifelloser Wille des Gesetzes‘ aufdrückt, wenn die Konsequenz eines bewältigen zu wollen, wobei die „soziale Epistemologie“ vorrangig im Wege liberaler Rechtsinstitutionen erfolgen soll (Hayeks „Entdeckungsverfahren Wettbewerb“): Ladeur, Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik (2004), insb. S. 31 – 53, der Hinweis auf Hayek auf S. 32 u. ö. Zum Liberalismus hier IV. 1. a) und IV. 1. c). Vgl. zur Aufweichung des Abwägungsparadigmas durch Ladeur auch ders., Postmoderne Rechtstheorie (1992), S. 11. Soweit ersichtlich, hat Ladeur seine eigene Auffassung zur Abwägung jedoch nicht explizit infrage gestellt und setzt nach wie vor auf einen „(auch) richterliche[n] Experimentier- und Suchprozess“: ders., Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik (2004), S. 42; vgl. auch ebd., S. 40. 158 Die wichtigsten juristisch-methodischen Stellungnahmen Schmitts finden sich in Schmitt, Politische Theologie (21934); ders., Über die drei Arten rechtswissenschaftlichen Denkens (1934); und ders., Gesetz und Urteil (21969 [1912]), m. w. H. auf S. V; dessen Verfassungstheorie als Gesamtkonzeption in ders., Verfassungslehre (1928). Zum Dezisionismus Schmitts Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 29 f.; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 189 f., Rn. 192 / S. 241 – 243, Rn. 260 – 264 / S. 395 – 398, Rn. 422 – 424; Müller et al., Rechtstext und Textarbeit (1997), S. 28 / 112 f. / 128; Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 256 f., Fn. 19; eingebettet in eine Auseinandersetzung mit der (philosophischen) Postmoderne Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 98. Zu Schmitts Verfassungstheorie ferner Hofmann, Legitimität gegen Legalität (31995); Meier, Die Lehre Carl Schmitts (22004); als Überblick Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 52 f., Kasten; von der Pfordten, Rechtsethik (2001), S. 160 – 168. 159 Schmitt, Gesetz und Urteil (21969 [1912]), S. 1 – 45; vgl. auch ders., Über die drei Arten rechtswissenschaftlichen Denkens (1934), insb. S. 29 – 40. 160 Schmitt, Gesetz und Urteil (21969 [1912]), S. 18. 161 Schmitt, Gesetz und Urteil (21969 [1912]), S. 9 – 21. 162 Schmitt, Gesetz und Urteil (21969 [1912]), S. 22 – 45. 163 Dazu Schmitt, Gesetz und Urteil (21969 [1912]), S. 22 – 27 u. ö. 164 Schmitt, Gesetz und Urteil (21969 [1912]), S. 26. 165 Schmitt, Gesetz und Urteil (21969 [1912]), S. 27. 166 Dazu Schmitt, Gesetz und Urteil (21969 [1912]), S. 27 – 31 u. ö. 167 Schmitt, Gesetz und Urteil (21969 [1912]), S. 28.
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,Willens‘ überhaupt noch gar nicht klar ist.“168 Im Zuge seiner Kritik am Legalismus sieht Schmitt sogar, dass es sich auch bei der Ausnahmefigur der richterlichen Rechtsfortbildung lediglich um einen haltlosen Behelf zur Aufrechterhaltung von Aporien handelt.169 Schmitt ist sich auch im Klaren, dass das Scheitern des Legalismus an der Verleugnung des konstruktiven Charakters des Rechtsurteilens170 liegt. Er sieht, „daß das Gesetz erst durch die Untersuchung selbst seinen Inhalt gewinnt [ . . . ].“171 „Es ist“ für ihn „eine Tatsache, daß die Praxis Recht schaffen hilft.“172 Anstatt das Gesetzesbindungspostulat auf dieser Grundlage jedoch mit anderen Mitteln zu retten zu versuchen („Die Vorstellung von der ,Gesetzmäßigkeit‘ aller Entscheidungen kann heute als überwunden bezeichnet werden.“173), entscheidet sich Schmitt für die Flucht nach vorn. Als Protagonistin eines „harten proaktiven Anti-Legalismus“ lässt sich die Rechtslehre Schmitts deshalb anführen, weil sie das juristische Urteilen nicht nur vom Gedanken der Legalität entkoppelt – die Frage, ob eine Rechtsentscheidung juristisch richtig ist, löst sich von der Frage nach der Gesetzmäßigkeit vollkommen ab –174, sondern außerdem in einen geradezu ajuristischen neuen Rahmen versetzt. Dabei wird die Entscheidung selbst zur zentralen Größe. Die Dezision wird zur Grundlage der Normativität und das Verhältnis von Urteil und Begründung verkehrt: „Von dem Inhalt der zugrundeliegenden Norm aus betrachtet ist jenes konstitutive, spezifische Entscheidungsmoment etwas Neues und Fremdes. Die Entscheidung ist, normativ betrachtet, aus einem Nichts geboren. Die rechtliche Kraft der Dezision ist etwas anderes als das Resultat der Begründung. Es wird nicht mit Hilfe einer Norm zugerechnet, sondern umgekehrt; erst von einem Zurechnungspunkt aus bestimmt sich, was eine Norm und was normative Richtigkeit ist.“175 Mit dieser Umkehrung des Verhältnisses von Urteil und Begründung und der „Nichtsgeborenheit“ von Normativität wird dem Urteilsprozess jede Möglichkeit rationaler gesetzlicher Zurechnung genommen. Im Dezisionismus Schmitts wird das Juristische seines Wesens als gesetzliche Gebundenheit in toto entledigt.176 Schmitt, Gesetz und Urteil (21969 [1912]), S. 31. 169 Schmitt, Gesetz und Urteil (21969 [1912]), S. 39. 170 Schmitt, Gesetz und Urteil (21969 [1912]), S. 32 f. u. ö. 171 Schmitt, Gesetz und Urteil (21969 [1912]), S. 37. 172 Schmitt, Gesetz und Urteil (21969 [1912]), S. 44, Fn. 1. 173 Schmitt, Gesetz und Urteil (21969 [1912]), S. 11, m. w. H. 174 Deutlich wird diese Auffassung in der Kontextualisierung der Entscheidung im Ausnahmezustand: „Die Entscheidung macht sich frei von jeder normativen Gebundenheit und wird im eigentlichen Sinne absolut.“: Schmitt, Politische Theologie (21934), S. 19. 175 Schmitt, Politische Theologie (21934), S. 42 f. Diese „Normen“theorie wird auch auf die Rechtsordnung als ganze ausgeweitet: „Denn jede Ordnung beruht auf einer Entscheidung [ . . . ]. Auch die Rechtsordnung, wie jede Ordnung, beruht auf einer Entscheidung und nicht auf einer Norm.“: Schmitt, Politische Theologie (21934), S. 16. 176 In den Augen Schmitts liegen die Dinge freilich anders: „Der Richter soll nicht legibus solutus werden; aber es wird ein brauchbareres Kriterium gesucht als die ,Gesetzmäßigkeit‘.“: 168
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So bildet Schmitts Dezisionismus den Kulminationspunkt eines Theoriezusammenhangs, der die Möglichkeit juristischer Legitimität i. S. einer durch gesetzliche Bindung gebrochenen Ordnungsmacht in grundsätzlicher Weise infrage stellt. Wenn es nun nicht mehr Bindungen sind, die Rechtsurteile rationalisieren, sondern sich die Rationalität der Urteile erst aus der ungebundenen (bzw. ajuristisch konstituierten) Entscheidung ergibt, bedeutet das in der Tat den legitimatorischen Supergau der Rechtswissenschaft. Im Kontext betrachtet, würde dieser juristische Unfall auch das hier verfolgte Projekt im Ganzen infizieren. Der Versuch einer interdisziplinären, also auch juristischen Legitimation demokratischen Rechts wäre bereits in seinen Anfängen gescheitert. Zudem würde sich fragen, ob der Dezisionismus nicht auch auf legitimatorische Konzeptionen anderer Disziplinen durchschlagen und ihm mit der Rechtswissenschaft nicht auch die Ethik zum Opfer fallen müsste. Der Anti-Legalismus führt aber nicht nur den Dezisionismus ins Feld. Der Dezisionismus verdeutlicht lediglich die Brutalität, mit der die Konsequenzen uneinlösbarer Legalität zuschlagen können. In der hier vorgenommenen Auswahl führt der Anti-Legalismus seinen Angriff mit drei Spitzen, die gegenüber der juristischen Legitimität gerade im Zusammenspiel eine unheilvolle Allianz abgeben: Als Vorhut unterstellt der Deskriptivismus des Rechtsrealismus die Uneinlösbarkeit von Normativität schlechthin. Der Dezisionismus sichert diese Flanke doppelnd ab, um zugleich zum vernichtenden Schlag auszuholen. Dahinter lauert schließlich, in der Hand die wendigere Waffe Widerstreit, noch die Postmoderne mit der süßlichen Verlockung situativ-strategischer Flexibilität.
Schmitt, Gesetz und Urteil (21969 [1912]), S. 44. Das maßgebliche Kriterium findet er dann in der Formel „Eine richterliche Entscheidung ist heute dann richtig, wenn anzunehmen ist, daß ein anderer Richter ebenso entschieden hätte. ,Ein anderer Richter’ bedeutet hier den empirischen Typus des modernen rechtsgelehrten Juristen.“: ebd., S. 71. Was Schmitt in diesem Zusammenhang unter einem „modernen rechtsgelehrten Juristen“ versteht, zeichnet sich etwa ab in ders., Über die drei Arten rechtswissenschaftlichen Denkens (1934), S. 65: „Erst nach diesem kurz zusammenfassenden Überblick über die gegenwärtige Lage der deutschen Rechtswissenschaft kann die tiefe und entscheidende Bedeutung des neuen Begriffs vom Juristen erkannt werden, den die nationalsozialistische Bewegung in Deutschland eingeführt hat. [ . . . ] Dem neuen ständischen Gebilde der deutschen Juristen soll jeder deutsche Volksgenosse angehören, der sich in seiner beruflichen Arbeit mit der Anwendung oder Weiterbildung des deutschen Rechts im öffentlichen Leben, in Staat, Wirtschaft und Selbstverwaltung, befaßt und der auf solche Weise im deutschen Rechtsleben verwurzelt ist. Auf diesen neuen Begriffen von Recht, Jurist und Rechtsstand beruht soweit der Nationalsozialistische Deutsche Juristenbund, also der im besonderen Sinne mit dem deutschen Recht befaßte Teil der nationalsozialistischen Bewegung, wie auch die im Herbst 1933 gegründete Akademie für Deutsches Recht.“ Tatsächlich bedeutet das die Perversion des rechtlich gebundenen Demokratieprozesses zu einer rechtsgelösten, rassisch-ideologisch gleichgeschalteten Zwangsordnung.
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b) Strukturierende Rechtslehre Die Rechtswissenschaft muss sich dem Anti-Legalismus aber nicht unverrichteter Dinge geschlagen geben. Zunächst können den einzelnen Positionen einige ihrer Schwächen vor Augen geführt werden. Beispielsweise kann bei den proaktiven Varianten des Anti-Legalismus bereits eine gewisse Inkonsequenz analysiert werden, insofern sie einerseits an der Möglichkeit (juristischer) Legitimität zweifeln, dem „Recht“ (oder was dafür gehalten wird) aber andererseits dennoch eine gewisse Normierungskraft abfordern. Das gilt gleichermaßen für die postmoderne Rechtstheorie, die immerhin die Kompatibilisierung von Heterogenität verlangt,177 wie auch für Schmitt, der zusätzlich zu seiner dezisionistischen Grundhaltung ja doch auch vom Paradigma eines konkreten Ordnungs- und Gestaltungsdenkens178 ausgeht. Von dieser Warte aus erscheint die resignative Haltung des Rechtsrealismus konsequenter. Diesem lässt sich allerdings vorwerfen, dass er das Verhältnis von Faktizität und Normativität erstens als Trennungsverhältnis konzipiert und zweitens zulasten der Letzten in Schieflage bringt: „[G]erade weil die Sachund Problemstruktur auch des Einzelfalls zu den Elementen des rechtlichen Urteils gehört, ist die Norm nicht überflüssig, sondern notwendig als sachgeprägter, normativ stabilisierender Leitgedanke. Sonst wird die Rede vom ,Recht‘ zum nominalistischen Wortspiel.“179 Ebenso wenig wie sich der Wirklichkeitsgehalt des Rechts entleeren lässt,180 wird es auch als reine Wirklichkeit missverstanden.181 Eine Norm lässt sich erst als „sachbestimmtes Ordnungsmodell“182 adäquat beschreiben: Recht ist sachgeprägt erzeugte Normativität. Entscheidend an der Kritik an den einzelnen Positionen des Anti-Legalismus ist aber, dass sie auf deren gemeinsame problematische Struktur zu sprechen kommt. Wird deren Argumentationsstruktur im Zusammenhang betrachtet, so fällt auf, dass sämtliche Anti-Legalismen dem Legalismus zwar antithetisch entgegentreten, die positivistische Grundaporie, das angebliche Erfordernis einer vorgegebenen Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 109. Schmitt, Über die drei Arten rechtswissenschaftlichen Denkens (1934), S. 58 u. ö. – Was dann, wie in Fn. 176 angedeutet, in die Ideologie eines völkisch-einheitlichen Zwangszusammenhangs abgleitet. 179 Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 31; vgl. auch ebd., S. 33 und durchgehend. Im Übrigen überwindet auch Schmitt die Disparität von „Sein und Sollen“ nicht und optiert angesichts dieses Dualismus für eine fragwürdige existenzialistische Geschichtsphilosophie: Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 397, Rn. 423, m. w. H. auch zur Strukturähnlichkeit der Schwächen Kelsens und Schmitts; vgl. auch ebd., S. 189, Rn. 192. 180 Zum paradigmatischen Normlogismus Hans Kelsens aus Sicht der strukturierenden Rechtslehre Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 24 – 28 u. ö. Ferner Mastronardi, Juristisches Denken (22003), Rn. 697 – 703. 181 Zur Überwindung des Trennungsverhältnisses von „Sein und Sollen“, von natur- und geisteswissenschaftlichem Separatismus Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), insgesamt, insb. S. 9 – 222. 182 Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 168 – 174. 177 178
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Rechtsnorm, die lex ante casum, aber keineswegs hinter sich lassen.183 Für die Einlösung juristischer Legitimität erwarten sie weiterhin eine eindeutig nachvollziehbare Gesetzesnorm. Die folgende an der postmodernen Rechtstheorie geübte Kritik kann deshalb stellvertretend gegen den Anti-Legalismus insgesamt vorgebracht werden: Dass also die antipositivistische Rechtslehre nicht in der Lage ist, eine im argumentativen Rechtsprozess selbst liegende Rationalität zu explizieren (und damit eine aussichtsreiche Konzeption juristischer Legitimität zu formulieren), „liegt an den Mängeln und der Oberflächlichkeit ihrer Positivismuskritik. Die bloße Ideologiekritik lässt den Kern der positivistischen Rechtsnormtheorie als weiterwirkende Grundlage auch in dieser Theorie bestehen. Danach ist eine konkrete Entscheidung nur denkbar als aus dem Gesetzestext abgeleitet, in welchem sie substanziell schon enthalten war.“184 Mit ihrer Kritik am Legalismus kehrt die antipositivistische Theorie – so erklärt sich auch die Namensgebung durch die strukturierende Rechtslehre – lediglich die Vorzeichen um, ohne dem Kritisierten dabei auf den Grund zu gehen.185 „Aber mit dem positivistischen Rechtsnormmodell fällt für sie auch gleichzeitig jede Möglichkeit weg, das Problem der Gesetzesbindung noch einzulösen. An diese Stelle tritt eine Analyse des juristischen Diskurses, welche allerdings ihren Gegenstand dadurch verkürzt, dass sie gerade das an den Rechtsstaat gebundene machtkritische Moment ausblendet.“186 Nun mag der Anti-Legalismus in seiner oberflächlichen Kritik zwar gegen den Legalismus recht behalten, „aber nicht gegen das Recht. Da ist keine Norm als Obersatz, deren man sich logisch bedienen könnte. Aber da ist auch nicht Nichts.“187 Was bis hierher allerdings noch fehlt, ist eine überzeugende Gesamtkonzeption legitimen juristischen Urteilens, die die anti-legalistische Behauptung von der Unmöglichkeit juristischer Legitimität auf konstruktive Weise überwindet – ohne wieder der positivistischen Grundannahme zu erliegen. Erst eine solche konstruktive Konzeption könnte das skeptische Menetekel des Anti-Legalismus wirklich verstummen lassen. In dieser Absicht tritt nun die strukturierende Rechtslehre an. Sie nimmt sich der Aufgabe an, den Anti-Legalismus mit seinen gravieMüller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 251, Rn. 274, u. ö. 184 Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 109. 185 Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 110; vgl. auch ebd., S. 98. Die Umkehr der Vorzeichen bei gleichgelagerter Grundlage lässt sich auch in diesem Punkt sprachtheoretisch erläutern: Die implizite regelplatonistische Sprachtheorie des Legalismus wird zur impliziten regelskeptischen des Anti-Legalismus. „An die Stelle der positivistischen Behauptung einer vollständigen Bindung und Ablehnung einer schöpferischen Rolle des Richters tritt damit die Betonung seiner schöpferischen Rolle und die Ablehnung der Möglichkeit, sein Sprechen mittels des Gesetzes zu binden. Die positivistische Überschätzung der Rolle der Sprache im juristischen Entscheiden wird durch die dezisionistische Unterschätzung ihrer Rolle nur abstrakt negiert.“: Christensen, Was heißt Gesetzesbindung (1989), S. 276; zum Ganzen ebd., S. 214 – 217 / 276 f. 186 Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 110. 187 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 190, Rn. 192, zum Dezisionismus. 183
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renden Konsequenzen nicht nur punktuell zu kritisieren, sondern das fruchtlose Widerspiel zwischen Legalismus und Anti-Legalismus mit einer sowohl realistischen als auch normativ angemessenen188 nachpositivistischen189 Gesamtkonzeption190 im Ganzen zu überwinden.191 Vor diesem Hintergrund soll die Kritik am Anti-Legalismus (wie Legalismus) im Weiteren in die konstruktive Argumentation der strukturierenden Rechtslehre und ihrer strukturierenden Methodik überführen.192 Die antipositivistische Unmöglichkeitsthese (juristischer Legitimität) soll nicht weiter punktuell-kritisch, sondern im Wege des konstruktiven strukturierenden Gegenprogramms widerlegt werden. Das komplexe Theoriewerk der strukturierenden Rechtslehre kann dabei nicht umfassend dargelegt werden. Für die hier verfolgten Zwecke genügt es, ihre wichtigsten Grundlinien nachzuzeichnen. In Anbetracht der Unschärfen, die die positivistische wie antipositivistische Doktrin der Rechtsnormkonkretisierung in sich trägt, ist der strukturierenden Rechtslehre zunächst daran gelegen, endlich wissenschaftlich präzise zu analysieren, was im demokratisch-rechtsstaatlichen Prozess des juristischen Urteilens tatsächlich passiert. Juristische Methodologie erklärt danach zunächst, „was im juristischen Handeln, in verschiedene Richtungen reflektiert und begrifflich aufgeschlüsselt, tatsächlich vor sich geht.“ 193 Die strukturierende Rechtslehre setzt in ihrer Theorie also nicht etwa deduktiv aus einer übergeordneten Position, sondern „induktiv“ bei der Beobachtung und Analyse der juristischen Praxis an.194 Als Theorie der Praxis195 ist sie davon überzeugt, aus der „ reflektierte[n] Erfahrung“ lernen zu können196. Nichts liegt der strukturierenden Rechtslehre dabei ferner als 188 Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 438: Ziel der strukturierenden Rechtslehre ist es, „das real Erreichbare an Rationalität in Sprachdaten und Realdaten – herkömmlich ausgedrückt in ,Recht‘ und ,Wirklichkeit‘ – rechtsstaatlich zu operationalisieren.“ Zu den Begriffen „Sprach-“ und „Realdaten“ sogleich. 189 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 480, Rn. 483, m. w. H. / S. 492, Rn. 503, u. ö.; vgl. auch die Anmerkungen ebd., S. 184 f., insb. in Fn. 72. 190 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 33, Rn. 7. Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 234. 191 Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 438; vgl. auch Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 235, Rn. 249 / S. 266 – 269, Rn. 298 – 303. 192 Vgl. die doppelte Zielvorgabe der strukturierenden Rechtslehre in Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 236. 193 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 517, Rn. 537. 194 Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. V und i. d. S. durchgehend; Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 235 u. ö.; Müller et al., Rechtstext und Textarbeit (1997), S. 9. Entsprechend hoch ist im Werk der strukturierenden Rechtslehre auch der Stellenwert von Rechtsprechungsanalysen: Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 41 – 97, Rn. 23 – 67; Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 23 – 65; vgl. auch Müller, Fallanalysen zur juristischen Methodik (21989). 195 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 516, Rn. 536. 196 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 517 f., Rn. 537. Dieser Ansatz wird im Rahmen der strukturierenden Rechtslehre auch als Verringerung des Abstands zwischen Wissen (Knowing-that) und Können (Knowing-how), als (normatives) Explizit-
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autoritätsgläubiger Deskriptivismus. Nach ihrem Verständnis von Reflexion und Analyse bedeutet das Auf-den-Begriff-Bringen juristischer Praxis nicht die affirmative Wiedergabe selbstgefälligen Tuns und herrschender Meinungen, sondern die kritische, auch selbstkritische Aufschlüsselung des juristischen Urteilens.197 Die strukturierende Rechtslehre will den juristischen Rechtserzeugungsprozess auf realistische, aber verallgemeinerungsfähige Weise198 kontrollierbar und arbeitsfähig199 machen, kurz: ihn strukturieren200. Dadurch eröffnet sich der strukturierenden Rechtslehre die Möglichkeit, den IstZustand der gängigen Praxis am Soll-Zustand der geschuldeten Praxis zu messen und den Ersten dem Letzten anzunähern.201 Schon den Ansatzpunkt kritisch-analytischer Wissenschaftlichkeit stellt die strukturierende Rechtslehre in die Pflicht dessen, was juristische Maßstäblichkeit und juristisches Selbstverständnis prägen sollte: der Demokratie und des Rechtsstaats.202 Um zudem auch überzeugend sagen zu können, wie der Soll-Zustand der Rechtskonkretisierung, der legitime Prozess des rechtlichen Urteilens also, auszusehen hat, ist sie ferner gehalten, die normativen Vorgaben für die demokratisch und rechtsstaatlich korrekte Rechtskonkretisierung näher zu bestimmen. Die strukturierende Rechtslehre ist m. a. W. dazu aufgefordert, ihren hermeneutischen Vorgriff auf das kritische Moment ihrer strukturierenden Analyse wiederum an die Maßstäbe legitimer juristischer Praxis rückzubinden. Erst so kann sie eine im Ganzen juristisch legitime Konzeption rechtlichen Urteilens konstruieren. Vor dem Hintergrund dieser methodologischen Anlage der strukturierenden Rechtslehre soll im Folgenden zuerst (1) unter dem Titel der Normstruktur erläutert werden, wie der Rechtserzeugungsprozess in einem demokratischen Rechtsstaat tatsächlich vor sich geht und dabei das Verhältnis von Recht und Wirklichkeit angemessen begriffen werden kann. Diese Ausführungen können insbesondere als die konstruktive Antwort auf den Legalismus gelesen werden. Daraufhin soll (2) aufgezeigt werden, wie der so dargelegte Prozess der Rechtskonkretisierung jurismachen einer der Praxis impliziten Intelligibilität erläutert: Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 269 – 280, mit Hinweisen auf Gilbert Ryle und Robert Brandom. 197 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 516 – 518, Rn. 536 – 538. Zur Abgrenzung der strukturierenden Rechtslehre allerdings zum kritischen Rationalismus als wissenschaftstheoretischer Gesamtrahmen ebd., S. 533 – 540, Rn. 566 – 578. 198 Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 386 u. ö. 199 Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 313 u. ö. 200 Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 313 / 431 f.; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 523 – 527, Rn. 548 – 555, ebd., S. 523, Rn. 548, auch die Auszeichnung als „technische[r] Term“. Zum Struktur-Begriff der strukturierenden Rechtslehre allgemein Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 250. 201 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 517, Rn. 537; Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 235, m. w. H. 202 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 517 f., Rn. 538.
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tisch legitim rückgebunden werden muss und auch rückgebunden werden kann. Im Zusammenspiel mit dem Vorangehenden kann dies auch als konstruktive Antwort auf den Anti-Legalismus gelesen werden. Schließlich sollen (3) zumindest die wichtigsten Konkretisierungselemente juristischer Methodik auf der Grundlage des mit der strukturierenden Rechtslehre vollzogenen Perspektivenwechsels kurz ausgeführt werden. (1) Um die juristische Praxis legitim fassen zu können, bedarf es also zunächst eines genauen Blicks in diese Praxis, dort hinein, wo Rechtsnormen nicht einfach „erkannt“, sondern überhaupt erst produziert werden. „Rechtswissenschaft in diesem Sinn ist Rechtserzeugungsreflexion.“203 Seitens der strukturierenden Rechtslehre ist die Stellung der Rechtsnorm in der (mehrheitlich positivistischen bzw. antipositivistischen) Rechtswissenschaft mit der eines Tennisballs verglichen worden, wonach diese zwar in ständiger Bewegung hin und her gespielt, vor lauter Konzentration auf die Spielregeln des Spiels selbst jedoch keiner oder nur unzureichender Reflexion gewürdigt wird.204 Mit Blick auf die Bedeutung, die der Rechtsnorm in der juristischen Praxis allerdings zukommt, stellt die strukturierende Rechtslehre dieses Verhältnis vom Kopf wieder auf die Füße und behandelt die „Rechts(norm)theorie“205 als innersten Kern juristischer (Selbst-)Reflexion. Dem analytisch-strukturierenden Ansatz der strukturierenden Rechtslehre entsprechend, erhält diese Rechtsnormtheorie den Charakter einer Theorie der Normstruktur206 und wird zur Grundlage reflektierten Sprechens über die Praxis rechtlichen Entscheidens: „Die Theorie der Normstruktur spielt die Rolle einer rechts(norm)theoretischen Basis für methodisch reguläre Rechtsarbeit.“ 207 Bevor das Spiel mit der Norm also in Angriff genommen wird, ist eine eingehende Auseinandersetzung mit ihrer Bauweise und den Bedingungen ihres Zustandekommens, d. h. ihrer (auch dynamischen) Struktur angebracht. Die Analyse der Struktur der Rechtsnorm liefert dann den maßgeblichen Gesichtspunkt für die konstruktive Widerlegung der sich immer wieder wiederholenden Vorstellung von der lex ante casum: Die strukturierende Rechtslehre modelliert das abstrakte Verhältnis von Recht und Wirklichkeit, von Normativität und Faktizität, anhand des konkreten Erzeugungsprozesses von Rechtsnormen als eine Relation wechselseitig aufeinander angewiesener Aspekte noch herzustellender Normativität.208 Die Umschreibung einer Rechtsnorm als sachbestimmtes Ord203 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 250, Rn. 274; vgl. auch S. 207 f., Rn. 214. 204 Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 226 / 274. 205 Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 158 u. ö. Zum Hintergrund der Schreibweise von „Rechts(norm)theorie“ ebd., S. 274. 206 Müller, Juristische Methodik und Politisches System (1976), S. 94; ders., Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 17 / 230 – 234 / 250 – 256 u.ö. 207 Was „abkürzend“ und in einem „durchgängig nicht-ontologischen Sinn“ gemeint ist: Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 238. 208 Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 77 – 93 / 168 – 174.
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nungsmodell209 kann mit der Differenzierung ihrer Bestandteile nach Normprogramm und Normbereich konkreter erläutert werden: Eine Rechtsnorm ist nicht reines „Sollen“. Erst durch den „Normbereich“210 lässt sich der Rechtsnorm der sachliche Gehalt zuschreiben, den sie normativ steuern soll. Eine Rechtsnorm ist aber auch nicht reines „Sein“. Ausgewählt wird der Normbereich nämlich anhand des „Normprogramms“211, des sprachlich, nach den Regeln der Kunst interpretativ aufbereiteten Wortlauts des einschlägigen Gesetzestexts. Das Normprogramm tritt jedoch neben den Normbereich, das die Rechtsnorm ebenso wie jenes mitprägt. Diese scheinbar einfach daherkommende Analyse ist allerdings folgenreich. Denn „[i]st der Normbereich theoretisch ein Bestandteil der Norm, dann kann diese nicht mit ihrem Normtext gleichgesetzt werden.“212 Die Strukturierung der Rechtsnorm auf der Achse Normtext / Wirklichkeit213 führt also auch zu einer differenzierten Strukturierung der Achse Normtext / Fall214. Die Herstellung einer Rechtsnorm ist auf eine konstruktive Konkretisierungstätigkeit215 angewiesen. Normtext216 und Norm217 sind also zu unterscheiden,218 und mit dem Dahinfallen der Identität von Normtext und Norm ist auch die Vorstellung von einer dem Rechtsurteil bereits vor-findlichen Rechtsnorm aufzugeben. Was die Rechtsarbeiterinnen und Rechtsarbeiter aus den Händen der Legislative erhalten, sind nicht fixfertige Normen, sondern Gesetzestexte bzw. Normtexte.219 Aus der Grundanalyse der Normstruktur wird auch die „Textstruktur“ des (demokratischen) Rechtsstaats220 erkennbar. In dessen Rahmen ist Gesetzesbindung nicht als eine Fn. 182. Hierzu Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 184 – 200 / 238 f. / 251 f. / 323 – 362, insb. 332 – 349, u. ö.; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 37, Rn. 16 / S. 217 – 228, Rn. 230 – 238, insb. S. 222 – 228, Rn. 235 – 238. 211 Hierzu Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 184 – 200 / 236 f. / 251 u. ö; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 37, Rn. 16, u.ö. 212 Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 147. 213 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 525, Rn. 550. Zu den beiden Strukturachsen der Rechtsnorm auch Müller et al., Rechtstext und Textarbeit (1997), S. 166, mit den Hinweisen schon auf Müller, ,Richterrecht‘ (1986). 214 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 524, Rn. 549. 215 Zum Konkretisierungsbegriff bereits die Hinweise in Fn. 89. 216 Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 147 – 167; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 37, Rn. 15, u.ö. 217 Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 147 – 174. 218 Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 147 und durchgehend, insb. S. 147 – 174 / 234 – 240; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 36, Rn. 13, und durchgehend. 219 Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 264 / 270; Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 237 – 240. 220 Hierzu Müller, Juristische Methodik und Politisches System (1976), S. 95 – 98; Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 237 – 251; Müller et al., Rechtstext und Text209 210
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Bindung an wie auch immer durch den Gesetzgeber vor-gegebene Normen zu verstehen, sondern als eine Bindung an die von diesem gesetzten Gesetzestexte.221 In der (demokratisch-)rechtsstaatlich legitimen Rechtsarbeit geht es daher um die methodisch korrekte Zurechnung von Rechtsurteilen zu diesen Texten.222 Das Prinzip der Gewaltenteilung erscheint dadurch als eine Teilung von Texten,223 unter der die verschiedenen Funktionstragenden dazu ermächtigt und verpflichtet sind, einerseits abstrakt anordnende und rechtfertigende (Legislation), andererseits konkret anordnende und rechtfertigende Texte (Judikation) zu verfassen224. Juristische Methodik wird so zu einer demokratisch-rechtsstaatlich gebundenen „Zurechnungstechnik“ 225 von Rechtsurteilen zu Normtexten. Juristische Arbeit wird in der strukturierenden Rechtslehre folgerichtig als Textarbeit226 und als institutionell eingebettete „Arbeit mit Texten“227 bezeichnet. Den legislativ erlassenen Normtexten kommt dabei nicht schon Bedeutung, auch nicht Normativität zu. Was sie auszeichnet, ist vorerst nur ihre Bedeutsamkeit, für die rechtskonkretisierenden Personen sind sie von Bedeutung.228 Sofern sie in demokratisch-rechtsstaatlich korrektem Verfahren in Kraft gesetzt worden sind, „gelten“ diese Texte,229 bilden in ihrer Gesamtheit die Menge des jeweils „geltenden Rechts“230. Normativität231 wird in der strukturierenden Rechtslehre dagegen nicht als vorhandene Eigenschaft, sondern konsequent als Vorgang begrif-
arbeit (1997), S. 99 – 171, insb. ab S. 116; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 210 – 214, Rn. 219 – 224. Ebd., S. 211, Rn. 221: „Der demokratische Rechtsstaat ,hat‘ nicht, er ,ist‘ eine Textstruktur.“ 221 Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), insb. S. 290 f. 222 Müller et al., Rechtstext und Textarbeit (1997), S. 166 f. 223 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 212, Rn. 222. 224 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 210 f., Rn. 219 – 221. Zur demokratisch-rechtsstaatlichen Brechung aktueller Gewalt in sprachliche bzw. symbolische Müller et al., Rechtstext und Textarbeit (1997), S. 59 – 68, m. w. H.; und insb. Müller, Recht – Sprache – Gewalt (22008). 225 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 31, Rn. 4. 226 Müller et al., Rechtstext und Textarbeit (1997), S. 37 – 97. 227 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 34 – 37, Rn. 7 – 13, insb. S. 35 f., Rn. 11, m. w. H., in Abgrenzung zu „Verstehen“ und „Interpretieren“. 228 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 184 – 187, Rn. 185 – 190. 229 Hierzu Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), insb. S. 258; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 38 f., Rn. 17 f. / S. 471, Rn. 469. 230 Zu verstehen als Zugeständnis an den verbreiteten Sprachgebrauch, verstanden aber als die Menge der in Geltung stehenden Normtexte: Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 38, Rn. 17 / S. 281, Fn. 237 / S. 471, Rn. 469. 231 Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), insb. S. 17 / 256 – 263. Hinzuweisen ist auch auf die Unterscheidung der strukturierende Rechtslehre zwischen Normativität und Präskriptivität: Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 520, Rn. 541. Dieser wird hier nicht gefolgt. Insofern die Unterscheidung aber nicht die dynamische Struktur der Größen berührt, ist dies im hier interessierenden Problembereich unerheblich.
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fen,232 und zwar in dem Sinn, dass sie im Konkretisierungsprozess erst zu erarbeiten ist. Gleichermaßen erhält der einschlägige Normtext auch erst durch die Konkretisierungsarbeit eine Bedeutung. Die Rechtsarbeiterinnen und Rechtsarbeiter schreiben sie ihm in einem komplexen Semantisierungsvorgang233 erst zu, weshalb sich die juristische Tätigkeit mit der strukturierenden Rechtslehre auch zutreffend als semantische Praxis234 beschreiben lässt. In dieser Praxis legen jedoch die jeweils Urteilenden selbst Hand an die Texte. Was die lex in casu bedeutet, wie die Rechtsnorm im jeweiligen Fall lautet, lässt sich nicht mehr auf eine scheinbar vorgegebene Bedeutung oder Normativität abschieben, sondern steht in der Verantwortung derjenigen, die sie kreieren. All diese Aspekte in Betracht gezogen, lässt sich die Normstruktur auch detailliert als dynamisches Rechtserzeugungs- oder Konkretisierungsmodell, als Ablaufmodell der Rechtsnormkonkretisierung235 nachvollziehen, das „vereinfachend gesprochen, fünf Textstufen“ durchläuft236: den Normtext, den Text des bereits angesprochenen Normprogramms und des Normbereichs sowie den Text der Rechtsnorm und der Entscheidungsnorm. Die Eingangsdaten der Rechtsarbeit237 bilden zum einen der Sachverhalt238 und zum andern die in Geltung stehenden Normtexte. Vom Sachverhalt angeregt und durch Ausbildung und Übung geschult, wählt die juristisch urteilende Person zunächst diejenigen Normtexte des geltenden Rechts aus, die ihr für den vorliegenden Fall als einschlägig erscheinen, sie stellt „Normtexthypothesen“239 auf. Die dadurch vage vorveranschlagten Rechtsnormen verweisen sodann auf den „Sachbereich“240, also den noch relativ weiten Ausschnitt der Wirklichkeit, der durch diesen Vorentwurf präsumtiv betroffen ist. Be232 Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 17 und durchgehend; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 214 – 217, Rn. 225 – 229 / S. 253, Rn. 278, und durchgehend. 233 Müller et al., Rechtstext und Textarbeit (1997), S. 166, Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 208, Rn. 214 / S. 494, Rn. 506. 234 Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 233; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 147 f., Rn. 141, und durchgehend. 235 Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 264 – 266, mit Beispiel / 432 f., Abbildung auf S. 434; in eingehender Begriffserläuterung ebd., S. 250 – 274 im Ganzen; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 37 f., Rn. 15 f. / S. 253 – 259, Rn. 278 – 288, Abbildung auf S. 258 / S. 524 – 526, Rn. 549 – 552. Vereinfacht mit Abbildung etwa in Mastronardi, Juristisches Denken (22003), Rn. 584 – 586. Fürs Folgende überall dort. 236 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 524, Rn. 549. 237 Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 264; vgl. auch Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 37, Rn. 15 / S. 253 f., Rn. 278, u. ö. 238 Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 254 f.; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 37, Rn. 15 / S. 524, Rn. 549. 239 Hierzu Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 264 f.; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 253 f., Rn. 278 / S. 255, Rn. 281, u. ö. 240 Hierzu Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 238 f. / 251 / 332 u. ö.; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 37, Rn. 16, u. ö.
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sonders dann, wenn lediglich die Beurteilung eines bestimmten Falls ansteht, wird dieser Sachbereich ferner auf einen am Sachverhalt orientierten engeren „Fallbereich“241 eingegrenzt. Auf der anderen Seite werden die einschlägigen Normtexte unter Zuhilfenahme der juristischen Konkretisierungselemente zum Normprogramm242 verarbeitet. Aus dem Sach- bzw. Fallbereich sind dann diejenigen Wirklichkeitsaspekte zu bestimmten, die sowohl für das zuvor erarbeitete Normprogramm relevant als auch vereinbar mit ihm sind. Das ergibt den Normbereich243. Erst Normprogramm und Normbereich zusammen ergeben so die „Rechtsnorm“244, die im letzten Schritt noch zur individuell-konkreten „Entscheidungsnorm“245, zum Urteil im konkreten Fall, zu individualisieren ist. Für das Rechtsurteil werden also nicht nur primär sprachliche Daten, „Sprachdaten“246, herangezogen. Darunter sind all die Texte zu verstehen, die ihrer Herkunft nach von vornherein als sprachlich vertextete Elemente in den Konkretisierungsprozess einfließen, neben den Normtexten also v. a. die begleitenden Texte des legislativen Prozesses sowie früher geltende Normtexte, aber auch dogmatische, theoretische und weitere Texte. Als „Summe der (jeweils) normativ relevanten Sprachdaten“ ist dann das Normprogramm zu betrachten.247 Daneben fließen in den Konkretisierungsprozess auch „Realdaten“ 248 ein, Daten also, die in der juristischen Textarbeit zwar sprachlich geformt und vermittelt sind,249 ihrer Herkunft nach jedoch der natürlichen und sozialen Wirklichkeit entstammen. Sie sind nichtprimäre bzw. sekundär-sprachliche Elemente, deren jeweils am Normprogramm gemessene normativ relevante Summe den Normbereich konstituiert250. Diese 241 Hierzu Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 254 – 256; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 37, Rn. 16, u. ö., insb. S. 483, Rn. 488. 242 Fn. 211. 243 Fn. 210. Zur Differenzierung von rechtserzeugtem und nicht-rechtserzeugtem Normbereich Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 239; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 219 f., Rn. 232 f. 244 Hierzu Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), insb. S. 263 – 274; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 37, Rn. 17, u. ö. Danach hat der Wortlaut der Rechtsnorm folgende Struktur: „In einem Fall wie diesem gilt. . .“ 245 Hierzu Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), insb. S. 264 – 267; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 37 f., Rn. 16 / S. 220 f., Rn. 233, u. ö. Der Wortlaut der Entscheidungsnorm, des Tenors, lautet in Anschluss an den der Rechtsnorm dann: „Weil ein eben solcher Fall vorliegt, ergeht dieses Urteil: . . .“ 246 Hierzu Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 238 u. ö.; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 36, Rn. 13 / S. 431 – 433, Rn. 485 – 488, u. ö. Fürs Folgende überall dort. 247 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 482, Rn. 486. 248 Hierzu Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 238 u. ö.; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 36 f., Rn. 13 / S. 431 – 433, Rn. 485 – 488, u. ö. Fürs Folgende überall dort. 249 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 481 f., Rn. 485, u. ö. 250 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 482, Rn. 486.
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normstrukturelle Analyse macht eine weit präzisere Aussage über das Verhältnis von Recht und Wirklichkeit bzw. Faktizität und Normativität als etwa das in der Jurisprudenz zum geflügelten Wort avancierte „Hin- und Herwandern des Blickes zwischen Obersatz und Lebenssachverhalt“251.252 Fakt und Norm, Faktizität und Normativität, stehen sich in der juristischen Arbeit nicht disparat gegenüber, lassen sich nicht durch hin- und herblicken miteinander „vermitteln“. Mit der strukturierenden Rechtslehre lässt sich vielmehr zeigen, wie, ausgehend vom geltenden Recht, d. h. von demokratisch-rechtsstaatlich korrekt in Geltung gesetzten Texten, durch methodisch-systematisches Heranziehen von sowohl Sprach- als auch Realdaten Normativität und letztlich Rechts- und Entscheidungsnormen erst geschaffen werden.253 (2) Im nächsten Schritt ist zu fragen, wie der so aufgeschlüsselte Prozess der Rechtsnormkonkretisierung seinerseits normativ rückgebunden werden kann.254 Diese Frage bricht erst mit der präziseren Analyse der Normstruktur richtig auf, denn in der Norm- und Sprachtheorie der herkömmlichen Methodenlehre ist die Frage der Legitimation bereits in die legislativ vorgegebene „Norm“ vorverlegt. Mit der Frage nach der Geltung und der Bedeutung fällt dort auch die nach der Legitimation in eins.255 Mit dem differenzierenden Blick der strukturierenden Rechtslehre ist die Rechtsarbeit jedoch nicht schon quasi „von selbst“ legitim strukturiert, sondern sie ist ihrerseits dazu verpflichtet, im Rahmen des verfassungsrechtlich Gebotenen, also juristisch legitim, durchgeführt zu werden. Das juristische Urteilen ist danach durch die methodenerheblichen bzw. methodenbezogenen Vorgaben des Verfassungs- und Unterverfassungsrechts der jeweils geltenden Rechtsordnung zu rechtfertigen.256 Über die Gebote von Demokratie und Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung (31963), S. 15. 252 Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 335, m. w. H. 253 Diese normstrukturelle Analyse entspricht schließlich auch der neueren pragmatischen Sprachtheorie und -philosophie. Zu Parallelen der strukturierenden Rechtslehre zur pragmatischen Wende etwa Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 374 – 380, m. w. H.; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 203 – 210, Rn. 209 – 218, ebenso m. w. H. 254 In Anschluss an die Normstruktur und die Textstruktur wird diese Problematik in der strukturierenden Rechtslehre auch unter dem Titel der Legitimationsstruktur behandelt: Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 227 – 237 i. V. m. 218 – 227; im Kontext des Europarechts Müller / Christensen, Juristische Methodik II (22007), S. 206 – 219, Rn. 268 – 287. Die Legitimationsstruktur kann auch im Rahmen der „doppelte[n] Faltung der Gewalt“ durch die (demokratisch-)rechtsstaatlichen Textstruktur begriffen werden: Müller et al., Rechtstext und Textarbeit (1997), S. 166 – 171, insb. S. 170. Zu beachten allerdings der differenzierte Gebrauch dieser Legitimationsstruktur im Verhältnis zur Geltungsstruktur und Legitimierungsstruktur: zur Geltungsstruktur schon Müller, Juristische Methodik und Politisches System (1976), S. 98 – 102; zur Legitimierungsstruktur Müller, Notiz zur Strukturierenden Rechtslehre (1990), S. 128 – 130; und Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 264, Rn. 294. 255 Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 227. 256 Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 66 / 71 / 95 f. u. ö.; Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 218 – 227; Müller / Christensen, Juristische Methodik I 251
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Rechtsstaat lassen sich im Geltungsbereich demokratisch-rechtsstaatlicher Rechtsordnungen257 neben den Prinzipien der Gewaltenteilung und der Gesetzesbindung dafür etwa die aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör ableitbare Begründungspflicht sowie die Gebote der Methodenklarheit und der Methodenehrlichkeit, der Kontrollierbarkeit und Nachvollziehbarkeit, insgesamt also ein Gebot größtmöglicher Rationalität bestimmen. Dieser Ansatz juristischer Selbstbindung ist mit dreierlei Kritik konfrontiert worden,258 wobei sich die kritische Einschätzung der Bindung juristischer Praxis gar nicht auf die Sache, sondern lediglich auf die verfassungsrechtliche Begründung richtet. So ist etwa angemerkt worden, eine juristische Methodik könne ihre Bindungspostulate nicht von dem Gegenstand her beziehen, den sie gerade methodisch erfassen will.259 Das Argument lautet also, der normative Rückgriff auf rechtliche Maßstäbe manövriere die juristische Methodik in einen Zirkel. Diese Kritik bezieht sich direkt auf den Vorschlag, die juristische Praxis durch Rechtsvorgaben selbst zu binden. Säumen lässt es sich von zwei Extrempositionen, die indirekter ansetzen, indem sie einerseits bereits die Möglichkeit und andererseits bereits die Notwendigkeit verfassungsrechtlicher Bindungen infrage stellen. Die Kritik der einen Seite lässt sich dabei in Erinnerung an die anti-legalistische Skepsis formulieren, wonach die Möglichkeit normativer Bindungen durch vorgegebene (Sprach-)Regeln erneut prinzipiell in Zweifel gezogen wird.260 Die antipositivistisch-dezisionistische Regelskepsis wird so auf der Metaebene als Infragestellung der Bindungen der Praxis im Ganzen repetiert. Die andere Seite stört sich demgegenüber an den Bindungspostulaten selber zwar nicht, bestreitet aber, dass verfassungsrechtliche Vorgaben für eine rationale juristische Praxis überhaupt nötig sind, da Rationalitätsgebote bereits aus einer wissenschaftstheoretischen Perspektive, in diesem Fall des kritischen Rationalismus, bestehen.261 (92004), S. 33, Rn. 6, und durchgehend, insb. S. 532 f., Rn. 564 f.; ausführlich im Kontext ebd., S. 516 – 527, Rn. 536 – 555; eingehend mit besonderem Blick auf die Begründungspflicht Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 280 – 359. Fürs Folgende überall dort. 257 Zu den methodenbezogenen Vorgaben im Europarecht Müller / Christensen, Juristische Methodik II (22007), S. 211 – 214, Rn. 276 – 278, m. w. H. 258 Ein vierter Kritikpunkt könnte von einer objektiven Hermeneutik im Stil Gadamers vorgebracht werden. Angesichts der bereits ausführlicheren Kritik am Objektivismus des Legalismus bleibt dieser Punkt nun außen vor. Dafür Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 281 – 283; Müller / Christensen, Juristische Methodik II (22007), S. 214 f., Rn. 279 – 281. 259 Schlink, Bemerkungen zum Stand der Methodendiskussion (1980), S. 96 f.; Harenburg, Die Rechtsdogmatik zwischen Wissenschaft und Praxis (1986), S. 267. In Erwiderung dazu Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 221 – 227; Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 281; Müller / Christensen, Juristische Methodik II (22007), S. 216 f., Rn. 281 – 283. 260 Dazu Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 283 – 285; vgl. auch Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 218 f.; Müller / Christensen, Juristische Methodik II (22007), S. 453 f., Rn. 623 – 625.
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All diese Einwände sind jedoch nicht stichhaltig. Dem Zirkelargument kann entgegnet werden, dass es die zwangsläufige Zirkelstruktur jeder Argumentation262 verleugnet, die erst dann problematisch wird, wenn sie den Zeitfaktor unbeachtet lässt263 und damit in einen logischen Zirkel führt. Die reflexive Referenz auf die normativen Vorgaben der Verfassung durch die strukturierende Rechtslehre beschreibt jedoch einen hermeneutischen.264 Sodann ist der erneut vorgebrachten Regelskepsis zwar wieder Recht zu geben, insoweit das auffindende Erkennen vorgegebener Gebote eine Illusion bleiben muss. Dies ist in der Frage der verfassungsrechtlichen Rückbindung juristischer Praxis jedoch nicht angestrebt. Die normativen Vorgaben des demokratischen Rechtsstaats wollen von den rechtsurteilenden Personen (und von der Sprache) nicht mehr verlangen, als diese in der Lage sind zu leisten, sondern ihnen „ein offenes Orientierungsprogramm“265 bereitstellen, mit allerdings nachvollziehbarer und kontrollierbarer Bindungskraft. Unter diesen Voraussetzungen können die beanspruchten normativen Vorgaben legitimer Rechtsarbeit durchaus „als ein kodifizierter Sonderfall kommunikativer Ethik“266 betrachtet werden. Solche rechtlich-normativen Bindungen werden durch eine bestimmte Wissenschaftstheorie allerdings nicht hinfällig. Wissenschaftstheorie und andere metajuristische Disziplinen mögen zur Erweiterung des Plausibilitätsraums einer juristischen Legitimationskonzeption zwar einen Beitrag leisten können, ersetzen können sie diese jedoch nicht.267 Statt die Überflüssigkeit sprachspielimmanenter 268 Vorgaben zu behaupten, wäre auch außerjuristischen Perspektiven besser gedient, wenn sie sich um eine integrative Verknüpfung mit einer überzeugenden innerjuristischen Rationalität bemühen würden.269 261 Schlink, Bemerkungen zum Stand der Methodendiskussion (1980), S. 97; Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung (1987), S. 79 f.; vgl. auch Schlink, Juristische Methodik (1976), S. 101 f. In Erwiderung dazu Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 223 f.; Müller / Christensen, Juristische Methodik II (22007), S. 217 f., Rn. 284 – 286; vgl. auch ebd., S. 533 – 540, Rn. 566 – 578; zur Kritik Schlinks von 1976 bereits Müller, Rechtsstaatliche Methodik und politische Rechtstheorie (1977). 262 Vgl. Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 362, Rn. 372 / S. 531 f., Rn. 563. 263 Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 281. 264 Auch unter Hinweis auf die Unterscheidung von Objekt- und Metasprache Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 221 – 223; Müller / Christensen, Juristische Methodik II (22007), S. 216 f., Rn. 283. 265 Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 285. 266 Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 219; Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 284; vgl. auch Müller / Christensen, Juristische Methodik II (22007), S. 473, Rn. 624; sowie Müller, Notizen zur Strukturierenden Rechtslehre (1990), S. 131: „Das Rechtsstaatsprinzip [ . . . ] tritt als eine Art positivrechtlich gefaßter Ethik der rechtlichen, Staatsgewalt vermittelnden Kommunikation auf.“ 267 Vgl. Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 223 f. vgl. auch Müller / Christensen, Juristische Methodik II (22007), S. 217 f., Rn. 284 – 286. 268 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 533, Rn. 565.
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Um eine solche integrative Verknüpfung bemüht sich dagegen die strukturierende Rechtslehre, wenn sie auf die philosophische Argumentationslehre zurückgreift mit dem Ziel, die juristische Argumentation in einem erweiterten Kontext verstehen zu können.270 Die Argumentationsphilosophie soll dabei nicht in übergeordneter Stellung hierarchisch höherwertige Maßstäbe liefern, sondern den juristischen Argumentationsprozess aus philosophischer Sicht mitdenken: „Statt Rationalität von oben überzustülpen, hat sie von innen her im prinzipiell unabgeschlossenen Prozess der Argumentation mitzuarbeiten. Die Philosophie wird damit als Argumentationstheorie zur reflexiven Aufstufung der Praxis.“271 Im Rahmen der strukturierenden Rechtslehre operiert die Argumentationstheorie also nicht „vom Feldherrnhügel der Philosophie aus“, sondern besitzt den Status einer intern „mitarbeitende Reflexion“.272 Aus dieser Sicht wird die juristische Praxis als eine in die demokratisch-rechtsstaatliche Textstruktur eingebundene Argumentationskultur verständlich: „Das integrale Modell der Strukturierenden Rechtslehre kann [ . . . ] die juristische Argumentation innerhalb des Gesetzes und der von Art. 97 Abs. 1 GG statuierten Gesetzesbindung273 begreifen. Durch die Unterscheidung von verschiedenen Textstufen wie Normtext, Normprogramm, Normbereich, Rechtsnorm und Entscheidungsnorm kann sie die juristische Argumentation auch von rechtsstaatlichen Anforderungen her strukturieren, kontrollierbar machen. An die Stelle einer abstrakten philosophischen Rationalitätsanforderung tritt damit die relative, aber juristisch konkrete Rationalität eines gewaltenteiligen und demokratischen Rechtsstaats.“274 (3) Innerhalb dieser prinzipiell offenen juristischen Argumentationskultur nehmen die traditionell anerkannten Konkretisierungselemente einen wichtigen Platz ein, indem sie die (derzeit) methodisch maßgeblichen argumentativen Instrumente, den state of the art juristisch legitimer Rechtserzeugung definieren.275 Ihre Leistungsfähigkeit muss dabei nicht nur im Einzelnen, sondern auch insgesamt zutreffend eingeschätzt werden. Die traditionellen Konkretisierungselemente bilden kein Förderband zur einen richtigen Entscheidung. Sie bieten vielmehr argumentative Formen an, derer sich die Beteiligten in der semantischen Praxis des Konkretisierungsprozesses bedienen, um das ihrer Ansicht nach rechtmäßige Urteil durch269 Ob allerdings gerade „der“ kritische Rationalismus dazu in der Lage ist, müsste erst noch dargetan werden. Der hiesige Vorschlag geht dahin, dies mit der hier vertretenen Konzeption der Diskursethik zu versuchen. 270 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 237 – 240, Rn. 256 f.; sowie ausführlich Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 230 – 267; vgl. auch Christensen / Sokolowski, Die Krise der Kommunikation (2005), S. 215 – 242. Aus dem Referenzwerk Wohlrapps neuerdings Wohlrapp, Der Begriff des Arguments (2008). 271 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 238, Rn. 256. 272 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 238, Rn. 256. 273 In der Schweiz etwa Art. 5 Abs. 1 BV. 274 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 239 f., Rn. 257. 275 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 238, Rn. 256 / S. 242, Rn. 262.
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zusetzen. Ihrer Funktion im Semantisierungsvorgang, in Bezug auf die Funktion also, dem Normtext eine im jeweiligen Fall normativ zu rechtfertigende Bedeutung zu geben, lassen sie sich als „Kontextlieferanten“ beschreiben: Mit ihnen lassen sich Kontexte erschließen, durch deren Verknüpfung mit dem Normtext das Urteil gefällt und begründet werden soll.276 Unter diesen Konkretisierungselementen sollen hier schließlich nur die bereits in der Darstellung des Legalismus vorgestellten Elemente der Grammatik, Systematik, Genese und Historie und das teleologische Element nun in der reflektierten Sicht der strukturierenden Rechtslehre kurz erläutert werden.277 Das „grammatische Element“278 nimmt in der Konkretisierung von Rechts- und Entscheidungsnormen insofern eine Sonderstellung279 ein, als sämtliche juristische Entscheidungen letztlich dem Normtext zugerechnet werden müssen. Dementsprechend ist es sinnvoll, die Interpretation zunächst beim Wortlaut des Normtexts anzusetzen. Die grammatische Auslegung dient dazu, den Kontext des Normtexts unter Berücksichtigung des subjektiven, allgemeinen und Fachsprachgebrauchs zu erschließen,280 wozu etwa die unterschiedlichen Lexikographien Hilfe leisten können. Es wäre jedoch zu optimistisch zu meinen, der Rückgriff auf Lexika könnte das jeweilige Rechtsproblem bereits entscheiden. Die lexikographisch aufgelisteten „Wortbedeutungen“ bilden lediglich Beispiele für in unterschiedlichen Kontexten übliche Verwendungsweisen. Eine normative Bindungskraft entfalten sie jedoch nicht, Wörterbücher sind keine „Sprachgesetzbücher“281.282 Die zu verantwortende Entscheidung müssen die Rechtsarbeiterinnen und Rechtsarbeiter selber trefChristensen, Die Paradoxie richterlicher Gesetzesbindung (2005), S. 12. Sie zählen zu den methodologischen Elementen i. e. S.: Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 296, Rn. 350. Hinzu treten (etwa bei der Verfassungskonkretisierung) dogmatische, lösungstechnische, rechtspolitische und Theorie-Elemente: ebd., S. 382 – 401, Rn. 400 – 427. (Zur Bedeutung bereichsspezifischer Methodiken unter dem Stichwort „Methodik und Methodiken“: ebd., S. 30 f., Rn. 3 / S. 491 – 493, Rn. 499 – 504.) Zur wichtigen, neben die Interpretation der Sprachdaten tretenden Normbereichsanalyse Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 239; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 478 – 487, Rn. 481 – 492; dies., Juristische Methodik II (22007), S. 345 – 383, Rn. 467 – 513. Zur Frage der Rangfolge der Konkretisierungselemente Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 450 – 465, Rn. 429 – 457; dies., Juristische Methodik II (22007), S. 482 – 507, Rn. 671 – 709; Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 375 – 377. 278 Zum Ganzen Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 297 – 336, Rn. 351a – 359a; Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 363 – 365; Christensen, Die Paradoxie richterlicher Gesetzesbindung (2005), S. 12 – 21; im Europarecht Müller / Christensen, Juristische Methodik II (22007), S. 239 – 264, Rn. 315 – 346. 279 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 269 – 272, Rn. 304 – 307 / S. 297, Rn. 351. 280 Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 363 f.; vgl. auch Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 318 f., Rn. 351 f. 281 Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 364. 282 Eingehend zur Verwendung des Wörterbuchs im Rahmen des grammatischen Auslegung Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 300 – 307, Rn. 351d. 276 277
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fen.283 Statt eine bestimmte Bedeutung nahezulegen, führt die grammatische Kontextualisierung i. d. R. vielmehr zu einer Vervielfältigung der Bedeutungsmöglichkeiten,284 aufgrund derer die urteilenden Personen dann angehalten sind, mit (weiteren) guten Gründen darzutun, weshalb gerade ihrer Interpretation zu folgen sei.285 „Recht lässt sich nur im Kontext bestimmen.“286 Diese Einsicht wird beim „systematischen Element“287 besonders deutlich, das darauf abzielt, den fraglichen Normtext im Zusammenhang mit anderen Normtexten und letztlich im Kontext der gesamten Rechtsordnung zu erschließen288. Verfehlt wäre der Ansatz der systematischen Auslegung allerdings, wenn damit wieder versucht würde, das Rechtsganze als objektive Sinntotalität zu rehabilitieren. Da das Ganze des Rechts als vorgegebenes Objekt nicht verfügbar ist,289 muss der Zusammenhang an den einzelnen in Geltung stehenden Normtexten selbst festgemacht werden.290 Die Verknüpfung mit anderen Normtexten kann dabei bedeutungsreduzierend oder bedeutungserweiternd wirken,291 d. h., das mit grammatischen oder anderen Mitteln erarbeitete Normprogramm kann im Wege dieser Kontextualisierung weiter eingegrenzt oder aber erweitert werden. Wichtig zu sehen ist, dass das systematische Element nur in den seltensten Fällen durch den alleinigen Akt der Kontextualisierung, sozusagen „von sich aus“ bereits argumentative Wirkung entfaltet. In aller Regel sind die zusätzlich herbeigezogenen Normtexte ihrerseits wieder mit Konkretisierungselementen zu interpretieren.292 Als Systematik zweiter Ordnung kann Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 306, Rn. 351d. Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 365. 285 Zusätzlich zu dieser Erweiterung des Bedeutungsspielraums erfüllt der Wortlaut auch eine begrenzende Funktion. Präzise ist die Grenze juristischer Auslegungstätigkeit aber nicht durch eine Wortlaut-, sondern eine Normprogrammgrenze (in der die Eingrenzung durch den Wortlaut allein einen Grenzfall bildet) definiert. Zum Wortlaut als Grenze der Normkonkretisierung Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 269 – 295, Rn. 304 – 347; Christensen / Kudlich, Wortlautgrenze: Spekulativ oder pragmatisch? (2007). 286 Müller / Christensen, Juristische Methodik II (22007), S. 265, Rn. 349. 287 Zum Ganzen Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 349 – 363, Rn. 364 – 373; Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 365 – 368; Christensen, Die Paradoxie richterlicher Gesetzesbindung (2005), S. 21 – 31; im Europarecht Müller / Christensen, Juristische Methodik II (22007), S. 264 – 310, Rn. 347 – 415. 288 Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 365. 289 Grundsätzlich zum Problem der Einheit der Rechtsordnung Müller, Die Einheit der Verfassung (22007); Christensen / Lerch, Dass das Ganze das Wahre ist (2007); Christensen / Fischer-Lescano, Das Ganze des Rechts (2007), S. 23 – 147; Christensen / Kudlich, Gesetzesbindung (2008), S. 52 – 124. 290 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 351 – 353, Rn. 365. Hinzu tritt außerdem die systematische Verknüpfung der „sachlichen Strukturen der normativ relevanten Ausschnitte der Regelungsbereiche“, also der Normbereiche: ebd., S. 350 f., Rn. 365. 291 Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 366 – 368, mit Beispielen. 292 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 356, Rn. 367; Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 365 f. 283 284
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ferner die Kontextualisierung von Normtexten in bereits zu einem früheren Zeitpunkt ergangenen Entscheidungen der Rechtsarbeitenden („Präjudizien“) angeführt werden.293 Im Unterschied zur Systematik erster Ordnung handelt es sich bei diesen hinzugezogenen Referenztexten jedoch nicht um unmittelbar geltende Rechtstexte, weshalb ihnen (jedenfalls in Kodifikationssystemen) von vornherein ein entsprechender normativer Status abgeht.294 In ähnlicher Hinsicht können auch das „genetische“ und das „historische Konkretisierungselement“295 als Unterfälle der systematischen Auslegung betrachtet werden.296 Zur Kontextualisierung wird dabei auf Texte zurückgegriffen, die entweder als früher, inzwischen aber nicht mehr geltende Normtexte denselben oder teilweise gleichen Sachbereich betreffen wie der aktuell infrage stehende geltende Normtext (historisches Element) oder die Entstehungsgeschichte des aktuellen Normtexts mit Gesetzesmaterialien, also mit Regierungsbotschaften, Ausschussberichten, Parlamentsdebatten o. Ä. dokumentieren (genetisches Element).297 Wiederum können historische und genetische Argumente bedeutungserweiternd oder -reduzierend verwendet werden.298 Dabei muss auch deren Leistungsfähigkeit wieder realistisch eingeschätzt werden. So ist etwa zu bedenken, dass auch der Verweis auf historische Gesetzestexte die Problematik der Bedeutungskonstruktion des aktuellen Normtexts nicht nur bereichern kann, sondern sie zunächst einmal verdoppelt: Auch der historische Gesetzestext muss wieder ausgelegt werden. Sodann muss beim genetischen Element ein Rückfall in die Willensmetaphorik vermieden und v. a. die Heterogenität des gesetzgeberischen Gremiums299 und die konfliktreiche Situation des gesamten Gesetzgebungsprozesses300 berücksichtigt werden. Auch das im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses relative Gewicht der jeweils aufgegriffenen Texte ist in die Interpretation miteinzubeziehen. 301 Von ihrer prinzipiellen Interpretationsbedürftigkeit können sich auch die Texte der Gesetzesmaterialien und frühere Normtexte nicht ablösen. Auch sie sind Texte und deshalb selbst wieder auf die anderen Konkretisierungselemente angewiesen.302 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 349 f. / Rn. 364 / 353 – 355, Rn. 365; Müller / Christensen, Juristische Methodik II (22007), S. 264 – 292, Rn. 348 – 386. 294 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 355, Rn. 365. 295 Zum Ganzen Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 336 – 349, Rn. 360 – 363; Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 368 – 372; Christensen, Die Paradoxie richterlicher Gesetzesbindung (2005), S. 31 – 43; im Europarecht Müller / Christensen, Juristische Methodik II (22007), S. 310 – 320, Rn. 416 – 431. 296 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 356, Rn. 369. 297 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 336, Rn. 360. 298 Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 369 – 372, mit Beispielen. 299 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 344, Rn. 361e. 300 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 346, Rn. 361f. 301 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 341 – 347, Rn. 361d f., insb. S. 345 f., Rn. 361 f. 293
2. La¨sst sich Recht juristisch legitimieren?
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Mit Vorsicht zu genießen ist zuletzt das „teleologische Element“303, das traditionellerweise auf „Sinn und Zweck“ einer Regelung abstellen soll: „Die teleologische Interpretation ist kein selbständiges Element der Konkretisierung, da Gesichtspunkte von ,Sinn und Zweck‘ der zu deutenden Vorschrift nur insoweit heranzuziehen sind, als sie mit Hilfe der anderen Elemente belegt werden können. ,Sinn und Zweck‘ ist, anders gesagt, keine Methode, sondern bereits ein Ergebnis. Das Unterstellen einer Ratio, die unter keinem anderen Konkretisierungsgesichtspunkt nachweisbar ist, disqualifiziert sich als normgelöste subjektive ,Wertung‘ oder ,Abwägung‘. Die Frage nach ,Sinn und Zweck‘ der zu konkretisierenden Norm bildet jedoch eine unterscheidbare und damit selbständige Fragestellung bei jeder Arbeit mit grammatischen, historischen, genetischen und systematischen sowie mit den über die canones hinaus entwickelten Elementen der Konkretisierung. In deren Rahmen und durch sie kontrolliert kann das Argument aus dem ,Telos‘ der (in der Regel noch nicht abschließend erarbeiteten) Vorschrift brauchbare zusätzliche Hilfsgesichtspunkte bieten.“304 Nach alledem ist die Frage der juristischen Legitimationsfähigkeit rechtlichen Urteilens positiv zu beantworten. Recht, aus der rechtswissenschaftlichen Sicht als im konkreten Fall zu fällende Normen und Urteile, lässt sich im Rahmen der demokratisch-rechtsstaatlichen Ordnungsstruktur durchaus juristisch legitimieren. Der strukturierenden Rechtslehre gelingt es nicht nur, die punktuellen Schwächen des anti-legalistischen Skeptizismus, sondern auch dessen mit seinem legalistischen Gegenspieler geteiltes Grundproblem aufzudecken: das nicht länger haltbare angebliche Erfordernis einer bereits vorhandenen Rechtsnorm. Entscheidend aber ist, dass es mit der strukturierenden Rechtslehre möglich ist, eine auf nachpositivistischem Begründungsniveau überzeugende juristische Konzeption legitimer Rechtsurteile zu vertreten. Die strukturierende Rechtslehre erlaubt es nicht nur, den Herstellungsprozess juristischer Legitimität (bzw. Normativität) sachlich präzise darzustellen, sondern ihn im berechtigten disziplinären Selbstverständnis der Rechtswissenschaft, jedenfalls für moderne demokratische Rechtsstaaten, zureichend zu legitimieren. Im Wege dieser kritischen Analyse der juristischen Judikationspraxis wird es auch möglich, die traditionellen (und weiteren) juristischen Arbeitsmittel als Argumentationsformen einzuholen, mit deren Hilfe die juristische Rechtsarbeit nachvollziehbar und am Maßstab einer demokratisch-rechtsstaatlichen Verfassung kontrollierbar gemessen werden kann.
Vgl. Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 347, Rn. 362. 303 Zum Ganzen Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 349, Rn. 364; Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 372 – 374; Christensen, Die Paradoxie richterlicher Gesetzesbindung (2005), S. 43 – 46; im Europarecht Müller / Christensen, Juristische Methodik II (22007), S. 320 – 345, Rn. 432 – 466. 304 Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 349, Rn. 364, m. w. H. 302
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3. Ist Ethik ausgeschlossen? Der strukturierenden Rechtslehre gelingt die juristische Legitimation von Rechtsurteilen. Sie bringt es fertig, eine juristische Methodik zu begründen, die einen konstruktiven Kontrapunkt gegen die destruktiven Versuchungen des AntiLegalismus setzt, ohne dabei die erkenntnispositivistischen Fehler des Legalismus zu wiederholen. Damit ist ein wichtiger Schritt zu einer rechtswissenschaftlichen, d. h. innerhalb des Rahmens des geltenden demokratisch-rechtsstaatlichen Rechts liegenden Legitimationskonzeption vollzogen. Mit Blick auf das Vorhaben dieser Untersuchung, eine ethisch-juristische Gesamtkonzeption zu erarbeiten, lässt die vorerst stellvertretend für die Jurisprudenz geführte Diskussion in der juristischen Methodik eine juristische Legitimation des demokratischen Rechts als durchaus aussichtsreich erscheinen. Die juristisch-methodische Legitimationskonzeption der strukturierenden Rechtslehre wartet nun gewissermaßen auf ein entsprechendes konzeptionelles Zeichen seitens der Ethik. Es stellt sich aber die Frage, ob die juristische Legitimationssicht eine ethische überhaupt gestattet oder ob dieses Vorhaben einer juristisch und ethischen Legitimationstheorie nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Vom Standpunkt der Rechtswissenschaft aus gesehen, wäre die Verknüpfung von Jurisprudenz und Ethik dann ausgeschlossen, wenn die Jurisprudenz als systemisch gerahmte Logik für andere Disziplinen taub, d. h. nach außen hin abgeschottet bleiben müsste und sich lediglich in ihrem Innern selbst reproduzieren könnte. Das hieße, dass die Jurisprudenz lediglich ein Eigenleben, ein selbstbezogenes Innenleben führen und sich nach außen gegen die Ethik verschließen müsste. Kurz gefasst, lässt sich das Problem damit auf die Frage zuspitzen: Ist Ethik ausgeschlossen? Bevor vonseiten der Ethik weitere Schritte unternommen werden, soll zunächst diese Frage beantwortet werden.
a) Recht als autopoietisches System Dass das Recht nicht weiter beansprucht werden kann, als die systemischen Grenzen der juristischen Logik reichen, lässt sich aus der Systemtheorie ablesen, für die hier maßgeblich das Werk Niklas Luhmanns stehen soll. Die „Systemtheorie“ luhmannscher Prägung ist ein komplexes, begrifflich spezialisiertes und umfangreiches Gesamtkonstrukt,305 von dem die systemtheoretische Rechtslehre306 nur einen Teil kennzeichnet. Mit ihrer Grundthese, dass soziale Systeme als operativ 305 Aus den immer wieder neu aufgelegten Hauptschriften des umfangreichen Werkes Luhmanns insb. das Basiswerk Luhmann, Soziale Systeme (1984); Zusammenstellung der 1988 – 2002 erschienen Arbeiten zu einzelnen Funktionssystemen in ders., Theorie der Gesellschaft (2002); zahlreiche wichtige Aufsätze ferner in den ebenfalls laufend neu aufgelegten sechs Sammelbänden ders., Soziologische Aufklärung (1970 – 1995). 306 Luhmann, Rechtssoziologie (31987); ders., Ausdifferenzierung des Rechts (1981); und ders., Das Recht der Gesellschaft (1993); sowie das in mehreren Sprachen erschienene Standardwerk Gunther Teubners Teubner, Recht als autopoietisches System (1989).
3. Ist Ethik ausgeschlossen?
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Abbildung 6: Ist Ethik ausgeschlossen?
geschlossene und selbstreproduzierende Gebilde zu betrachten sind, will die Systemtheorie auf eine paradoxe Zirkularität aufmerksam machen, die gesellschaftlichen Realitäten inhärent seien. Die Systemtheorie betrachtet solche Zirkularitäten sodann nicht als auszumerzende Denkfehler, sondern als theoretisch hinzunehmende Gegebenheiten.307 Wäre der Systemtheorie zuzustimmen und müssten die systemischen Eigengesetzlichkeiten gesellschaftlicher Systeme hingenommen werden, insbesondere die des sozialen Systems Recht, dann wäre eine über die juristische Methodik hinausgehende ethische Legitimation (dann wohl genauer: „Codierung“) des Rechts wohl tatsächlich aussichtslos. Dieser Behauptung soll (1) kurz hinsichtlich ihrer wissenschaftstheoretischen Grundüberzeugung, dann (2) mit Blick auf ihre gesellschaftstheoretischen Grundannahmen und (3) mit speziellem Bezug auf ihre Auffassung vom Rechtssystem nachgegangen werden. (1) Die methodische Stoßrichtung der Systemtheorie ist eine soziologische Betrachtung. Diese Feststellung führt zugleich sowohl auf das wesentliche Thema als auch auf den methodischen Standpunkt des systemtheoretischen Ansatzes. Das Thema, das die soziologische Stoßrichtung impliziert, ist die soziale Welt, die Gesellschaft, in einem zunächst unspezifischen Sinn.308 Wenn die Systemtheorie im Speziellen das Recht ins Auge fasst, so vor diesem Hintergrund als eine Erschei307 Für das Rechtssystem deutlich Teubner, Recht als autopoietisches System (1989), S. 15 f. 308 Zum Zusammenhang von Soziologie und Systemtheorie etwa Luhmann, Einführung in die Systemtheorie (22004), S. 11 – 40.
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nung in gesellschaftlichen Kontexten. Insofern stimmt dies mit dem Ansatz dieser Untersuchung überein. Der methodologische Standpunkt der Systemtheorie, von dem aus die soziale Welt bzw. das Recht untersucht werden soll und den es für das Weitere vor Augen zu halten gilt, ist dabei allerdings allein der Standpunkt der Beobachtung.309 Wird außerdem in Betracht gezogen, dass einer beobachtenden Theorie v. a. daran gelegen sein wird, das Beobachtete zu beschreiben, so lässt sich über das Kerngeschäft der Systemtheorie sagen, es sei deren Grundabsicht, eine angemessene Beschreibung der beobachteten sozialen Welt und des Rechts zu liefern.310 (2) Die Grundeinheit der zu beobachtenden sozialen Welt ist nach der Systemtheorie nun die Operation Kommunikation.311 Danach ist die Gesellschaft nicht etwa als ein gemeinschaftliches Konglomerat von Menschen, sondern als ein System zu sehen, das durchwegs aus Kommunikationsoperationen besteht.312 Während die Gesellschaft selbst als „umfassendes [Kommunikations-]System“313 betrachtet wird, in dem sich sämtliche Kommunikationen ereignen, lasse sich in der modernen Welt eine Vielzahl davon ausdifferenzierter Subsysteme ausmachen, die durch spezifische Sonderkommunikationen charakterisiert sind.314 Die Sonderkommunikationen verfolgten systemeigene, von anderen Subsystemen abgegrenzte Funktionen.315 So gewendet, stellt sich die systemische Ausdifferenzierung unterschiedlicher Kommunikationstypen als eine funktionelle dar. Funktionelle Ausdifferenzierung bedient nach Ansicht der Systemtheorie das Bedürfnis der komplexen316 modernen Gesellschaft317 nach Reduktion von Komplexität.318 Als solche gesellschaftliche Funktions- oder Subsysteme gelten in der Systemtheorie etwa 309 Luhmann erläutert das systemtheoretische Beobachten z. B. in Luhmann, Einführung in die Systemtheorie (22004), S. 141 – 166. 310 Dies ist nicht nur zur Klärung der wissenschaftstheoretischen Ortung der Systemtheorie, sondern auch insofern von Bedeutung, als das Recht doch als auch normatives Gebilde (sachgeprägtes Ordnungsmodell) daherkommt und intuitiv eher mit Vor-schriften als mit Beschreiben in Verbindung gebracht wird. Darauf wird zurückzukommen sein. 311 Für Luhmann ist Kommunikation „die einzige soziale Operation“: Luhmann, Einführung in die Theorie der Gesellschaft (2005), S. 87. 312 Eingehende Erläuterung des Gesellschaftsbegriffs in Luhmann, Gesellschaft (72005 [1970]). 313 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft (1997), S. 78 – 91. 314 Vgl. z. B. Luhmann, Soziale Systeme (1984), S. 37 ff. 315 Zu Luhmanns näherer Bestimmung des Zusammenhangs von System und Funktion Luhmann, Soziale Systeme (1984), S. 30 – 91. 316 Zum Komplexitätsbegriff Luhmann, Komplexität (52005 [1975]); ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft (1997), S. 134 – 144; ders., Einführung in die Systemtheorie (22004), S. 167 – 182. 317 Vgl. Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts (1981), S. 80. 318 Schuldt, Systemtheorie (22006), S. 21. Zur wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung der Formel von der Reduktion von Komplexität Luhmann, Einführung in die Systemtheorie (22004), S. 168 f.
3. Ist Ethik ausgeschlossen?
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die Politik, die Wirtschaft, die Kunst, die Religion oder auch das Recht.319 Die jeweilige Logik der ausdifferenzierten Funktionssysteme bringe sodann ein systemeigener Code, eine binäre Leitunterscheidung nach einem positiven und einem negativen Wert, zum Ausdruck. Für das Recht bestehe diese Differenz etwa in der Unterscheidung Recht / Unrecht.320 Das entscheidende Merkmal ausdifferenzierter Sonderkommunikationssysteme sei schließlich ihre Autopoiesis. In Anschluss an die kognitionsbiologischen Arbeiten von Humberto Maturana und Francisco Varela321 und in Übereinstimmung mit einer Reihe weiterer Wissenschaftszweige322 holt die Systemtheorie damit das als Realphänomen verstandene Problem der zirkulären Paradoxität ein. Mit dem Begriff der Autopoiesis323, der seinen etymologischen Ursprung im Nomen poiesis (griech.: Herstellen, Hervorbringen) und dem Reflexivum autós (griech.: selbst) entsprechend als Selbstproduktion bezeichnet werden kann, hebt die Systemtheorie in ihrer Beschreibung der sozialen Welt die operative Geschlossenheit gesellschaftlicher Systeme hervor. Autopoietische Systeme besitzen die Fähigkeit, sich selbst zu reproduzieren. Dementsprechend erzeugen die ausdifferenzierten gesellschaftlichen Subsysteme ihre Systemkomponenten aus eignen Systemkomponenten selbst. Die reflexive Selbstreproduktion bestimmt sich allein nach innersystemischen Wirkungsweisen. Aus der Sicht jedes dieser Subsysteme stellen alle Kommunikationen, die nicht zur spezialisierten Sonderkommunikation des eigenen Systems zählen, seine Umwelt dar.324 Das als Umwelt definierte Komplementär stehe zum jeweils betrachteten System zwar über sog. strukturelle Kopplungen zwischen bestimmten Systemen in kommunikativer Verbindung,325 doch entscheide immer nur ein System selbst, welche Operationen als Operationen des Systems produziert werden. (3) Getreu dem systemtheoretischen Analyseschema wird auch das Recht als ein Subsystem der Gesellschaft neben anderen gesellschaftlichen Subsystemen wie Politik, Wirtschaft, Wissenschaft oder Kunst mit einem spezifischen Systemcode Recht / Unrecht gedeutet. Aus der rechtssoziologischen Perspektive der SystemZu den gesellschaftlichen Subsystemen im Einzelnen der Hinweis in Fn. 305. Allgemeine Ausführungen zum systemischen Code finden sich etwa in Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (1993), S. 174 – 187. Zum spezifischen Rechtscode z. B. ebd., S. 60; Teubner, Recht als autopoietisches System (1989), S. 88. 321 Z. B. Maturana / Varela, Autopoiesis and Cognition (1980). 322 Einen kurzen Überblick über die Anwendung der autopoietischen Theorie in den Sozialwissenschaften vermittelt Teubner, Recht als autopoietisches System (1989), S. 16 f., m. w. H. 323 Dazu und vgl. zum Folgenden Luhmann, Einführung in die Systemtheorie (22004), S. 109 – 118. 324 Erst in der Unterscheidung System / Umwelt lässt sich überhaupt der zentrale Begriff des Systems aus Sicht der Systemtheorie erklären: Das System sei eben nicht seine Umwelt. Umwelt seien alle Operationen, die nicht zum System gehören. 325 Dazu Luhmann, Einführung in die Systemtheorie (22004), S. 118 – 141. 319 320
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theorie interessieren dabei zunächst die Prozesse, die es bewirken, dass bestimmte Operationen dem Systemcode entsprechend Recht oder Unrecht zugeordnet werden. Darunter sind die kommunikativen Operationen der Gesetzgebung in Verbindung mit den dogmatischen und methodischen Prozessen der juristischen Urteilskonstruktion, im Grunde also der gesamte Bereich der juristischen Arbeit bis zum konkreten Urteil zu verstehen. Diese Arten von Zuordnungsprozessen werden in der Systemtheorie Instaurationsmodi bzw. -mechanismen oder Rechtsproduktionsoperationen genannt. Auch die Systemtheorie erkennt in ihrer beobachtenden Sicht den dynamischen, produktiven Charakter des Rechts. Wie hier ist auch in der Systemtheorie die Rede vom Recht-Fertigungsprozess des Rechts.326 Die Systemtheorie hat sodann ein besonderes Interesse, in ihrer Beobachtung festzustellen, dass die Systemelemente des Rechts aus eigenen Systemelementen reproduziert werden. Die kommunikativen Operationen müssen, um das autopoietische Grundmuster der Systemtheorie zu bestätigen, als systemimmanente Rechtsoperationen charakterisiert werden können. Daher gelte es, für die Rechtsnormen weitere, sekundäre Normen auszumachen, die die primären Normen konstituierten. So wird es zur Aufgabe der systemtheoretischen Rechtsbeobachtung, spezifische, ihrerseits wieder an den Rechtsprozess rückkopplungsfähige Rechtsetzungsregeln, secondary rules,327 die als Erkenntnisregeln, als rules of recognition,328 bestimmte Rechte als primary rules instaurieren,329 zu beobachten. „Von einem autopoietischen Recht kann also erst dann gesprochen werden, wenn die Selbstbeschreibung des Rechts sekundäre Normen entwickelt, Rechtsnormen auf Rechtshandlungen verweisen und damit Systemkomponenten durch Systemkomponenten produziert werden. [ . . . ] Das bedeutet, dass die Generierung [eines] Rechtssatzes [ . . . ] nur möglich ist, wenn ein [sc. entsprechendes] Rechtsetzungsrecht existiert, das normiert, wie Normen normiert werden.“330 Das Vorhandensein solcher selbstreproduzierender Rechtsoperationen sieht die Systemtheorie in den modernen Rechtssystemen gegeben. Die modernen Rechtsordnungen würden durch Methodik und Dogmatik verfeinerte Rechtsregeln und -verfahren zur Verfügung stellen, die ihrerseits Rechtsregeln produzieren. Die Systemtheorie beschreibt das Recht also als selbstbezüglich und rein systemfunktionell: Recht gelte, weil es rechtlich (juristisch) gelte. Über den Geltungsbegriff verwirft sie damit sämtliche Versuche einer extrajuristischen Perspektive auf das Problem von Recht und Gerechtigkeit: „[ . . . ] [A]ll das Kratzen an der semantischen Oberfläche des Rechtsbegriffs und den Porösitäten der Rechtssätze greif[t] nicht durch auf die letzte Selbstreferenz des Rechts: Das Recht bestimmt, Fischer-Lescano, Globalverfassung (2005), passim, z. B. S. 119. Fischer-Lescano, Globalverfassung (2005), z. B. S. 120 / 130. 328 Fischer-Lescano, Globalverfassung (2005), passim. 329 Damit rekurriert die Systemtheorie auf die rule-Lehre H. L. A. Harts; vgl. Hart, Der Begriff des Rechts (1973 [1961]), z. B. S. 134 – 141. 330 Fischer-Lescano, Globalverfassung (2005), S. 119 f. 326 327
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was das Recht ist. Nur das Recht stellt Rechtsgeltung her.“331 Mit solchen Aussagen schottet die Systemtheorie das Recht nach außen hin ab. Sie mag zwar nicht behaupten, dass das Recht als gesellschaftliches Subsystem in gar keiner Beziehung zu anderen Subsystemen steht – solche strukturellen Kopplungen bestünden –, dennoch würden alle außersystemischen Einspeisungen in das Recht durch das Rechtssystem und den Rechtscode der Eigenlogik des Systems operativ einverleibt. Die Kommunikation über Recht könne prinzipiell also immer nur aus der Sicht des Rechtssystems selbst erfolgen, wobei immerhin die sog. Beobachtung zweiter Ordnung, gewissermaßen die Beobachtung der Selbstbeobachtung des Rechtsprozesses, es erlaube, diese Selbstbeobachtung theoretisch zu analysieren. Ein anderer Zugang zum Recht, ein über die Grenzen des Rechts hinausreichender ethischer etwa, sei jedoch nicht in Sicht.
b) Probleme der Systemtheorie Die Einpferchung des Rechts durch die Systemtheorie scheint einer ethischen Legitimation, die weiter geht, als der Einflussbereich des juristischen Rechtscodes reicht, das Anschlusspotenzial zu entreißen. Aus der Sicht der Systemtheorie fällt es auf den ersten Blick sogar schwer, die Vorstellung von Legitimität in Rechtsangelegenheiten überhaupt zu erfassen. In einer rein beobachtenden Systemsoziologie haben normative Aussagen eigentlich gar keinen Platz, was sie in diesem Punkt etwa dem Rechtsrealismus332 annähert. Mit einiger Anstrengung kann eine juristisch-immanente Methodik aber wohl mit der Systemtheorie vereinbart werden, sodass sich diese vom rigorosen Normenskeptizismus des Rechtsrealismus unterscheidet. Die Systemtheorie kann die normative juristische Methodik zum eigenlogischen Spiel des rechtlichen Systems erklären. Darin kursiert die Methodik, ebenso wie die juristische Dogmatik usw., zwar als normatives Sprachspiel, das sich am Rechtscode Recht / Unrecht orientierte, dieses normative Spiel bleibt jedoch stets operativ geschlossen und damit selbstreferenziell. Die Normativität des juristischen Sprachspiels hätte, so gesehen, nur innerhalb des Rechtssystems Bestand. Von außen betrachtet, würde sich die juristische Normativität in faktisch beobachtbare Rechtsoperationen auflösen. Die systemische Ausdifferenziertheit des Rechtssystems würde jedoch dazu führen, dass außersystemische, insbesondere normative Aneignungsversuche nur in einer passiven systemischen Einverleibung enden könnten. Die normative Ausrichtung der strukturierenden Rechtslehre an der positivrechtlichen Verfassung des demokratischen Rechtsstaats könnte diesen systemtheoretischen Befund sogar untermauern. Dass sich die juristische Methodik des positiven Rechts ihrerseits nur wieder auf das positive Recht stützen soll, kann 331 Fischer-Lescano, Globalverfassung (2005), S. 58. Andreas Fischer-Lescano stützt sich dabei auf Teubner, Recht als autopoietisches System (1989), S. 8, und Ausführungen Luhmanns, z. B. in Luhmann, Die Geltung des Rechts (1991). 332 I. 2. a).
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durchaus systemisch verstanden werden. Die Systemtheorie behauptet aber, dass die systemisch-selbstreferenzielle Deutung des Rechts die allein mögliche ist. Kritik gegen die Systemtheorie macht sich allerdings keineswegs rar.333 Häufige Kritikpunkte, die gegen sie erhoben werden, sind etwa ihre Inhumanität334, d. h. die theoretische Vernachlässigung der Bedeutung des Menschen in der Gesellschaft (die Systemtheorie Luhmanns kennt nur sog. psychische Systeme), oder etwa die Problematik der Übertragung der Autopoiesis-Theorie von der Kognitionsbiologie auf die soziale Welt335. Die Häufigkeit und Heftigkeit der anti-systemischen Kritik mag auch damit zusammenhängen, dass der ausgewiesene „Universalitätsanspruch“336 der „Supertheorie“ Systemtheorie337 möglicherweise universeller genommen wird, als er gemeint ist, also als theorieimperialistischer Absolutheitsanspruch gedeutet wird.338 Wenn seitens der Systemtheorie allerdings beansprucht wird, „den gesamten Bereich der [sc. sozialen] Wirklichkeit abzudecken“,339 so ist es jedoch zulässig, die systemische Deutung daraufhin zu überprüfen, ob sie eine adäquate Gesamterfassung der gesellschaftlichen Wirklichkeit und insbesondere des Rechts zu liefern imstande ist. Hier muss jedenfalls der These von der abgeschotteten Systemlogik des Rechts widersprochen werden.340 Auch wenn die Systemtheorie auf wichtige Merkmale moderner ausdifferenzierter Gesellschaften hinweist, darf sie dennoch nicht mit einem derart orthodoxen System-Soziologismus auftreten, wie sie es für sich in Anspruch nimmt. Die Systemtheorie des Rechts behauptet nicht nur, dass das Recht als System betrachtet werden kann, sondern sogar, dass es durchweg als ein operativ geschlossenes System betrachtet werden muss. M. a. W. geht sie davon aus, dass keine Chance darauf und damit auch kein Bedarf daran besteht, das Recht von einem über die systemische Rechtsimmanenz hinausgehenden Standpunkt aus 333 Dazu nur etwa Krawietz / Welker (Hrsg.), Kritik der Theorie sozialer Systeme (1992); sowie die Überblicke in Kiss, Grundzüge und Entwicklung der Luhmannschen Systemtheorie (21990), S. 103 – 113; und Schuldt, Systemtheorie (22006), S. 53 – 58. Von dekonstruktiver Seite etwa Stäheli, Sinnzusammenbrüche (2000); vgl. in diesem Zusammenhang auch Binczek, Im Medium der Schrift (2000); und Wirth, Performative Rahmung, parergonale Indexikalität (2002). 334 Dazu Dziewas, Der Mensch – ein Konglomerat autopoietischer Systeme? (1992), m.w.H.; Schuldt, Systemtheorie (22006), S. 57; vgl. auch Kiss, Grundzüge und Entwicklung der Luhmannschen Systemtheorie (21990), S. 108 – 111. 335 Dazu z. B. Kiss, Grundzüge und Entwicklung der Luhmannschen Systemtheorie (21990), S. 111 – 113, m.w.H. 336 Luhmann, Soziale Systeme (1984), S. 33. 337 Luhmann, Soziale Systeme (1984), S. 19. 338 Dazu eingehend Luhmann, Systemtheoretische Argumentationen (1971), S. 378 – 398; vgl. dagegen ders., Archimedes und wir (1987), S. 165 f. Dazu auch Schuldt, Systemtheorie (22006), S. 6 – 8. 339 Luhmann, Archimedes und wir (1987), S. 163. 340 Vgl., auch zum Folgenden, Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 86 – 89, Rn. 381 – 389; ders., Juristisches Denken (22003), Rn. 373 – 420.
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legitimatorisch zu erfassen. Diese These beinhaltet auch (1) wissenschafts- und (2) gesellschaftstheoretisch kritikwürdige Ansätze. Dem Problem des Rechts wird sie (3) letztlich aber nicht gerecht. (1) Die Kritik gegen die Grundlage der Systemtheorie, die soziale Welt systemisch zu fassen, speist sich zu einem Gutteil aus der speziell definierten beobachtenden Perspektive der Systemtheorie, die sich als Teil des Systems Wissenschaft (und damit dessen und nur dessen Code wahr / unwahr folgend) normativer Vorschreibungen enthalten will.341 Ob sich diese Einstellung mit der sozialen Welt tatsächlich ins Benehmen setzen lässt, ist auf einer sozialtheoretischen Ebene zu untersuchen.342 Auch wenn der luhmannschen Systemtheorie zuzugeben ist, dass sie ihren Beobachtungsstandpunkt wie wohl kaum eine andere Theorie reflektiert,343 drängen sich jedoch bereits aus erkenntnis- bzw. wissenschaftstheoretischer Sicht Zweifel auf, sofern die Beobachtungsperspektive die einzige ist, die die Systemtheorie einzunehmen gewillt ist. Nach den kritischen Aufklärungen der Hermeneutik ist es inzwischen kaum mehr zu bestreiten, dass der Teilnahmestandpunkt (gegenüber dem Beobachtungsstandpunkt) nicht schlichtweg aufgegeben werden kann. Wenn der Teilnahmestandpunkt aber nicht aufzugeben ist, so mag die Perspektive von diesem Standpunkt aus zwar zeitweise ausgeblendet und zu einer beobachtenden gewechselt werden können. Prinzipiell jedoch kann sie nicht über Bord geworfen werden. Wer „mitten drin“ steht und dies auch eingesteht,344 muss auch den daraus erwachsenden Implikationen ins Auge sehen und die entsprechenden Konsequenzen ziehen. In keinem Fall darf die Möglichkeit der teilnehmenden Perspektive aber verleugnet werden, nur weil aus wissenschaftsmethodischem Interesse die beobachtende Perspektive vorgezogen wird. Die Systemtheorie will dem Beobachtungsparadoxon damit begegnen, dass sie sich selbst noch einmal beobachtet. Beobachtung zweiter Ordnung nennt sie diesen erkenntnistheoretischen Kniff. Dem Teilnahmestandpunkt kann aber nicht dadurch ausgewichen werden, dass auf eine höherstufige Beobachtungsposition gewechselt wird. Denn die Teilnahme klettert sozusagen immer mit. Und mit dem Teilnahmestandpunkt ist auch die Frage nach normativer Orientierung unausweichlich. Die Systemtheorie, auch als beobachtende Soziologie, kommt deshalb nicht darum herum, von der Orthodoxie ihrer These abzurücken, die Beobachtung sei als alleinige Methode der wissenschaftlichen Erfassung der sozialen Welt anzusehen. Ansonsten müsste sie zeigen, wie der archimedische Punkt zu erreichen ist, den sie zwar selbst als utopisch ausweist, gegenüber dem Teilnahmestandpunkt aber dennoch einzunehmen versucht. Auch aus diesem Grund ist übrigens auch ein rein systemiVgl. Luhmann, Einführung in die Theorie der Gesellschaft (2005), S. 16. Dazu sogleich, (2). 343 Luhmann selbst weist darauf hin, dass der Beobachter „nicht über den Dingen“ fliegt, sondern „mittendrin“ steht: Luhmann, Einführung in die Systemtheorie (22004), S. 142. Zur Beobachtung aus Sicht der Systemtheorie Fn. 309. 344 Fn. 343. 341 342
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sches „beobachtendes“ Verständnis mit der strukturierenden Rechtslehre nicht vereinbar. „Beobachtung zweiter Ordnung“ heißt bei ihr nämlich dezidiert teilnehmend und d. h. normorientiert zu verfahren: „Die Notwendigkeit von der Beobachtung erster Ordnung zu der zweiter Ordnung überzugehen, ergibt sich daraus, dass das Objekt juristischer Erkenntnis nur in Sprache existiert. Sprache lässt sich aber nicht als Gegenstand von außen beobachten, sondern nur als teilnehmende Praxis.“345 (2) Die Überbetonung der Beobachterperspektive, die in wissenschaftstheoretischer Sicht für die Systemtheorie konstatiert werden muss, muss auf einer gesellschaftstheoretischen Ebene wiederholt werden. Der Einwand lautet, dass sie das Verhältnis von Lebenswelt und System einseitig zugunsten der Systemlogik missdeutet.346 Nach Luhmann ist die Gesellschaft in Gänze systemisch ausdifferenziert. Sämtliche Lebensbereiche seien den jeweils eigenlogischen Systemimperativen unterworfen. Je nach Codierung gehorchten die einzelnen Bereiche der Gesellschaft dem Imperativ der Macht (Politik), des Geldes (Wirtschaft), der Wahrheit (Wissenschaft) oder eben dem Recht usw. Ein der Systemlogik entzogener Lebensbereich sei demgegenüber ein vormodernes Phänomen oder nicht vorhanden. Diese Form eines systemischen Holismus verkennt, dass sich die spezialisierten gesellschaftlichen Systeme wie Wirtschaft und Politik nicht aus einem systemischen Nichts reproduziert, sondern aus der gesellschaftlichen Lebenswelt ausdifferenziert haben. Die „Lebenswelt“347 bildet gewissermaßen die Basissubstanz an traditionellen, kulturellen und persönlichen Überzeugungen einer Gesellschaft. Sie verschafft dem gesellschaftlichen Funktionieren normative Orientierung. Diese Orientierung ereignet sich indessen nicht im Wege einer funktionellen Codierung, sondern durch verständigungsorientiertes kommunikatives Handeln. Die Lebenswelt ist nicht beherrscht von systemischen Zwängen, sondern zunächst von kulturellen Selbstverständlichkeiten und Gewissheiten. Die illokutionären Geltungsansprüche bleiben hier in aller Regel unproblematisch. Sofern sie problematisiert werden, können sie allerdings nicht einfach durch Systemimperative selegiert, sondern müssen letztlich im Diskurs eingelöst werden. Das Verhältnis von lebensweltlicher und systemischer Struktur moderner Gesellschaften muss danach differenzierter beschrieben werden, als es die Systemtheorie tut. Der Lebenswelt ist ein wichtiger Platz einzuräumen. Andererseits darf eine moderne Gesellschaftstheorie das Konzept der Lebenswelt auch nicht seinerseits verabsolutieren. Die systemische Beschreibung einzelner Gesellschaftsbereiche Müller / Christensen, Juristische Methodik II (22007), S. 193, Rn. 246. 346 Vgl. Mastronardi, Juristisches Denken (22003), Rn. 405 – 410. 347 Eingehend mit der entsprechenden Kritik an der Systemsoziologie dazu Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 2 (41987), S. 173 – 293: kritische Erläuterung des Lebenswelt-Konzepts ebd., S. 182 – 228; Kritik am Systemfunktionalismus ebd., S. 229 – 293. Ferner bereits ders., Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? (1971); ders., Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus (1973); ders., Der philosophische Diskurs der Moderne (1983), S. 426 – 445. 345
3. Ist Ethik ausgeschlossen?
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leistet einen durchaus wertvollen Beitrag zur Komplexitätsreduktion lebensweltlicher Orientierungslasten. Mithilfe der systemtheoretischen Analyse können manche Gesellschaftsbereiche, die wie etwa das Wirtschaftssystem tatsächlich so gut wie selbstorganisiert sind, einigermaßen zutreffend beschrieben werden. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass die systemische Beobachtung und Beschreibung allein nicht dazu in der Lage ist, der gesellschaftlichen Realität Sinn, normative Orientierung oder Legitimität zu vermitteln. Dies ist erst unter Rückgriff auf die in der Lebenswelt verankerten kommunikativen Handlungsformen möglich. Die systemische Ausdifferenzierung von Lebensbereichen, die im Zuge der immer komplexer werdenden modernen Gesellschaft zu beobachten ist, ist in der Tat beobachtbar. Die Kolonisierung der Lebenswelt findet allerdings dort eine Grenze, wo die funktionalen Prozesse des Systems der Orientierung und der Legitimation bedürfen. Wird das übersehen, d. h. werden normative Bindungen in allein beobachtbare Abläufe umgedeutet, so liegt die Gefahr nahe, die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse unbesehen als legitim hinzunehmen, und es kann ideologiekritisch angemerkt werden, der Systemtheorie sei eine „uneingestandene Verpflichtung [ . . . ] auf herrschaftskonforme Fragestellungen, auf die Apologie des Bestehenden um seiner Bestandserhaltung willen“ inhärent.348 Die Behauptung, zumindest die orthodox betriebene Systemtheorie stehe einer „Sozialtechnologie“ nahe,349 ist jedenfalls nicht ganz von der Hand zu weisen. (3) Im Besonderen gilt es, der systemtheoretischen These des rein funktionalen und selbstreferenziellen Rechts entgegenzutreten. In der Tat ist nicht abzustreiten, dass das moderne Recht einen teilweise rückbezüglichen Charakter aufweist. Das juristisch definierte Rechtssystem regelt seine Produktion zu einem Gutteil durch sekundäre Rechtsregeln selbst. Daraus kann aber nicht der Schluss gezogen werden, das Recht sei ein autopoietischer, operativ geschlossener Isolationsbereich. Gerade das Recht ist demgegenüber als ein Vermittler zwischen Lebenswelt und System zu sehen.350 Gerade in der Sprache und in den Prozessen des Rechts ist es möglich, einerseits den normativen Anliegen der Lebenswelt Gehör zu schenken und sie den kolonisierenden Tendenzen von Systemimperativen entgegenzusetzen. In dieser Rolle nimmt das Recht die Anliegen der Lebenswelt auf und schützt sie gegen systemische Angriffe, etwa des Wirtschaftssystems. Andersherum kann das Recht auch für die systemischen Imperative als Instrument herangezogen werden. In dieser Rolle nimmt das Recht die eigengesetzlichen Kommunikationen und Prozesse von Systemen auf und macht sie in der Sprache des Rechts für die Lebens348 Habermas, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? (1971), S. 170. Dazu Kiss, Grundzüge und Entwicklung der luhmannschen Systemtheorie (21990), insb. S. 103 – 105, m. w. H. 349 Dazu die Kontroverse zwischen Habermas und Luhmann in Habermas / Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? (1971). Zu dieser Diskussion etwa Maciejewski (Hrsg.), Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? (1973 f.); Schuldt, Systemtheorie (22006), S. 53 – 55. 350 Vgl. Mastronardi, Juristisches Denken (22003), Rn. 411 – 420.
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I. Juristische Methodik: Strukturierende Rechtslehre
welt behandelbar. Dies bedeutet allerdings keine einfache Instrumentalisierung des Rechts im Namen selbstreferenzieller Systeme in dem Sinn, dass das Recht den jeweiligen Systemen einverleibt würde. In dieser Übersetzung systemischer „Anliegen“ in rechtliche Positionen werden die Systemzwänge ihrerseits in ein lebensweltlich verständliches und damit diskursiv-normatives, d. h. letztlich verständigungsorientiertes Gewand gekleidet. Das Recht kann als beides betrachtet werden, als System und als lebensweltlich zu verstehender Diskurs.351 Als Rechtssystem sorgt es durch Reduktion von Komplexität für Ordnung im gesellschaftlichen Zusammenleben. Zugleich findet diese scheinbare Selbstordnung des Rechtssystems allerdings in Prozessen statt, in denen über die Rechtmäßigkeit und Unrechtmäßigkeit sozialer Normierungen auf diskursive, d. h. divergierende Systemrahmungen reziprok mit Gründen aufeinander beziehende Weise zu befinden ist. Das Recht muss Probleme lösen, die eine rein systemische Perspektive nicht einmal formulieren kann. In rein systemtheoretischer Sicht präsentieren sich Legitimationsfragen als eine prozessimmanente Problematik, die sich in der Selbstproduktivität der Systemprozesse auflöst. Befriedigend beantwortet werden die Fragen damit aber nicht. Zurück bleibt eben die Frage, wie die beobachteten Rechtsprozesse gerechtfertigt werden können, und so ist das Recht wieder auf den Diskurs verwiesen. Entscheidend dabei ist, dass sich das Recht nicht aussuchen kann, ob es diese Frage beantwortet oder nicht: Soll es nicht zu einer mechanischen Form des Spiels irgendwelcher Kommunikationen verkommen, sondern legitim über Recht und Unrecht entscheiden können, dann muss es in dieser Hinsicht über seinen Schatten springen. Als autopoietisches System ist es dazu nicht in der Lage. So muss die Hoffnung auf eine interdisziplinäre, und d. h. auch ethische Legitimation des (demokratischen) Rechts nicht begraben werden. Die Jurisprudenz kann das Recht nicht exklusiv für sich beanspruchen, der juristische Arbeitsradius zieht keinen undurchdringlichen Kreis. In der Relativierung des systemtheoretischen Ansatzes erscheint die juristisch-methodische Praxis, wie sie mit der strukturierenden Rechtslehre aufgeschlüsselt werden kann, als eine disziplinäre Selbstbeschränkung. Der systemtheoretische Abschottungsversuch meint, die unüberwindliche Selbständigkeit der juristischen Rechtspraxis an rückbezüglichen Strukturen festmachen und diese als das Ganze ausweisen zu können. Dabei greifen bereits die Mittel zur Bestimmung des Ganzen merkwürdig kurz: Allein die soziologische Perspektive, und diese zudem in einer bestimmten, nämlich sich einer selbstreferenziellen Funktionsbeschreibung verschreibenden Sicht, soll die Fragen der Gesellschaft und des Rechts umfassend beantworten können. Ein solcher Ansatz, sofern er als einziger gedacht wird, nimmt sämtlichen zusätzlichen Perspektiven, darunter auch der der Ethik, von vornherein die Chance auf eine faire Mitsprache. Dass sich das Recht mit selbstbezüglichen Strukturen auch als System darstellen lässt, mag sein. Wie sich dieses System im Ganzen konstituiert, muss 351
Mastronardi, Juristisches Denken (22003), Rn. 397 – 420.
4. Zusammenfassung
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sich jedoch im (interdisziplinären) Diskurs erweisen. Dass an diesem Diskurs nicht auch andere Disziplinen als die Jurisprudenz, insbesondere die Ethik, mitwirken können, ist nicht überzeugend. Ethik, um die zuvor kurz gefasste Frage ebenso kurz zu beantworten, ist deshalb nicht ausgeschlossen.
4. Zusammenfassung Zu Beginn dieser Untersuchung stellt sich die Frage, wie das demokratische Recht aus der konkreten Sicht der Rechtswissenschaft gerechtfertigt werden kann. Der zentrale disziplinäre Reflexionsort, an dem diese Frage zu beantworten ist, ist die juristische Methodik. Dort sammelt sich insbesondere das juristische Wissen darüber, wie konkrete Rechtsfälle im Einzelfall zu beurteilen sind. Ausgehend von der Gesetzesbindung juristischen Handelns gilt es zunächst zu klären, ob sich Gesetze applizieren lassen. Es zeigt sich aber, dass die legalistische oder gesetzespositivistische Vorstellung von der erkenntnislogischen „Anwendung“ einer im Gesetzestext bereits vorgegebenen lex ante casum nicht aufrecht erhalten werden kann. In einer hermeneutisch wie sprachtheoretisch reflektierten Sicht erscheint die legalistische Zufluchtnahme beim Anwendungsmodell als eine Flucht aus der Verantwortung für das juristische Urteilshandeln. Das „Auslegungs“modell und das Konzept des Richterrechts erscheinen dabei als bloße Kompensationsstrategien der unhaltbaren legalistischen Grundüberzeugung. Tatsächlich ist das Rechtsurteilen im konkreten Fall, die Judikation, als eine schöpferische und von der Rechtsarbeiterin oder dem Rechtsarbeiter zu verantwortende Konkretisierungspraxis von Gesetzestexten zu verstehen. Gesetze lassen sich also nicht applizieren. Daraufhin fragt sich, ob sich das Recht aus juristischer Sicht überhaupt legitimieren lässt. Die verschiedenen Ausprägungen des Anti-Legalismus oder Antipositivismus nehmen die berechtigte Kritik am Legalismus zum Anlass, dies prinzipiell oder mit nur wenigen Zugeständnissen zu bezweifeln, und meinen dagegen, das Recht entweder als überhaupt nicht mehr legitimationsfähig oder nur noch als lockeres Anschlussangebot fürs Rechtshandeln sehen zu können. Der Dezisionismus glaubt letztlich sogar, die Legitimation des Rechts bestünde in einer aus dem Nichts geborenen Willkürentscheidung der zum Urteil berufenen Person. Dem Anti-Legalismus ist aber v. a. vorzuwerfen, dass er die Kritik des Legalismus nicht gründlich genug durchführt und als Legitimationskriterium weiterhin die identitäre Übereinstimmung von „Gesetzesnorm“ und Urteilsspruch einfordert. Die strukturierende Rechtslehre hält dem eine realistischere juristische Konzeption entgegen, die die Aufgabe der juristischen Rechtsarbeit vielmehr in der verallgemeinerbaren Pflichterfüllung einer juristisch verantworteten Urteilskonkretisierung sieht. Die juristische Konkretisierungsarbeit als einen wiederum ans geltende Gesetzesrecht gebundenen Handlungsprozess begriffen, erläutert sie zutreffend, was bei der korrekten Judikation tatsächlich passiert, und gibt zugleich auf überzeugende Weise die normativen Bedingungen an, die im demokratischen Rechtsstaat dafür zu fordern sind.
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I. Juristische Methodik: Strukturierende Rechtslehre
Die juristische Legitimation der Rechtspraxis verschließt sich dadurch aber nicht gegen einen ethischen Legitimationsanschluss, wie ein systemtheoretischer Ansatz nahelegen will. In einer rein beobachtenden Einstellung interpretiert die Systemtheorie gesellschaftliche Handlungszusammenhänge allein als in ausdifferenzierten Sozialsystemen eingefangene Operationen, die nichts anderem folgen als dem in diesem System vorherrschenden Leitcode. Die Sozialsysteme gelten als operativ geschlossene, sich autopoietisch reproduzierende Funktionseinheiten. Dementsprechend wird auch der Rechtsprozess als ein autopoietisches System verstanden, in dem die juristische Praxis nichts anderes tut, als, nur den selbstreproduktiven Regeln ihrer eigenen Kunst unterworfen, der systemisch codierten Leitdifferenz Recht / Unrecht zu folgen. Zu kritisieren ist daran zunächst die rein beobachtende Einstellung der systemtheoretischen Sichtweise. Sie übersieht, dass sie bei den Beobachtungen, mit denen sie die soziale Wirklichkeit allein zu erfassen glaubt, an dieser Wirklichkeit zugleich immer auch teilnimmt. Auf der gesellschaftstheoretischen Ebene zeigt sich dies in der Eingebundenheit der Sozialsysteme in einen lebensweltlichen Hintergrund, der die systemische Soziallogik als eine lediglich komlexitätsreduzierende, insofern aber auch unterkomplexe Vereinfachung der sozialen Prozesse erscheinen lässt. Um das Konzept der Lebenswelt erweitert, erscheinen die gesellschaftlichen Systeme, darunter auch das Rechtssystem, als prinzipiell offen. Gerade dem Recht kommt dabei die Aufgabe zu, zwischen ausdifferenzierter Systemlogik und lebensweltlichen Anliegen zu übersetzen, und eine ethische Perspektive aufs Recht darf prinzipiell nicht als ausgeschlossen gelten.
II. Moralphilosophie: Diskursethik Der erste Schritt dieser Untersuchung im Anspruchsbereich der stellvertretend für die Jurisprudenz herangezogenen juristischen Methodik hat ergeben, dass das demokratische Recht in juristischer Perspektive durchaus gerechtfertigt werden kann. Zudem hat sich gezeigt, dass die Rechtswissenschaft gegen ethische Verknüpfungen nicht isoliert werden kann. Unter diesen für eine ethisch-juristische Gesamtkonzeption verheißungsvollen Vorzeichen soll nun ein Perspektivenwechsel zur die Ethik vertretenden Moralphilosophie vollzogen werden. Dabei soll sich zeigen, dass auch die moralphilosophische Debatte zu einer disziplinär überzeugenden Konzeption gelangt, dass die Moralphilosophie aber auch an Grenzen stößt, durch die wichtige Kontexte der Legitimationsproblematik unerschlossen bleiben und diese – so die Folgerung dieser Arbeit – erst in einer interdisziplinären Sicht erfasst werden können. Nach der hier vertretenen Auffassung setzt die Moralphilosophie auf sehr allgemeine, im Gegensatz zur juristischen Methodik gewissermaßen in diametral entgegengesetzter Weise an. Ihre Stellung zur Legitimationsproblematik und damit zum (demokratischen) Recht lässt sich sowohl in thematischer als auch in methodischer Hinsicht als äußerst abstrakt beschreiben. Als Ordnung des Zusammenlebens wird das Recht in ganz unspezifischer Weise thematisiert, zur Debatte steht die Ordnung des menschlichen Zusammenlebens schlechthin. Zudem wird die abstrakte Thematik auch in einer sehr abstrakten Herangehensweise verarbeitet. Die Ordnung des Zusammenlebens wird in allgemeiner, philosophischer Betrachtung, in allgemeinen Kategorien und mit allgemeinen Argumenten zu rechtfertigen versucht, und nicht etwa unter Bezugnahme aufs positivrechtliche Gesetzesrecht. Im interdisziplinären Kommunikationsraum der Legitimation demokratischen Rechts rangiert die Moralphilosophie gewissermaßen im äußersten Bereich thematisch-methodischer Abstraktion. Ihre Argumentationen lassen sich im Bereich des Rechts i. a. S. verorten. In der folgenden moralphilosophischen Diskussion wird für eine Lesart der Diskursethik Stellung bezogen, die schwergewichtig auf die moralphilosophische Konzeption von Jürgen Habermas abstellt. Habermas’ bekanntes diskurstheoretisches Legitimationsprojekt stellt ein sowohl nach Form als auch nach Inhalt unwahrscheinlich reichhaltiges Gesamtwerk1 dar, das sich nicht auf Ausführungen zur Moralphilosophie beschränkt, sondern eine Vielzahl weiterer disziplinärer Kon1 Eine Gesamtdarstellung muss hier außen vor bleiben. Als Kurzüberblick zu Habermas’ Leben und Werk nur etwa Wiggershaus, Jürgen Habermas (2004); Horster, Jürgen Habermas zur Einführung (1999); und Reese-Schäfer, Jürgen Habermas (21994).
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II. Moralphilosophie: Diskursethik
Abbildung 7: Stand der Untersuchung (II.)
texte ergreift2 und diese ebenso nachhaltig prägt. Dennoch steht an dieser Stelle in erster Linie die moralphilosophische Argumentation im Vordergrund, d. h. diejenigen konzeptionellen Teile der Diskurstheorie, die sich als Diskursethik thematisch wie methodisch sehr abstrakt auf die Legitimationsproblematik beziehen3.4 Auch diese Teile lassen sich allerdings nicht von weiteren, etwa argumentations-, 2 Im hier interessierenden Gesamtkontext v. a. die Schriften zur politischen Philosophie und zur Rechtstheorie, insb. Habermas, Faktizität und Geltung (41994); ders., Die Einbeziehung des Anderen (1996); sowie die sog. kleinen politischen Schriften, zuletzt ders., Ach, Europa (2008); als Wegmarke die zuerst 1962 publizierte Habilitationsschrift ders., Strukturwandel der Öffentlichkeit (21990). 3 Vorrangig Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln (1983); darin insb. ders., Diskursethik (1983); sodann sämtliche Beiträge in ders., Erläuterungen zur Diskursethik (1991), Teile in ders., Faktizität und Geltung (41994); sowie in ders., Die Einbeziehung des Anderen (1996); insb. ders., Eine genealogische Betrachtung (1996); ferner insb. ders., Richtigkeit versus Wahrheit (1999). 4 Von „(der) Diskursethik“ ist hier die Rede, wenn auf die hier (mit Habermas) entwickelte Konzeption der Moralphilosophie verwiesen werden soll. „(Die) Diskurstheorie“ soll dagegen den gesamten, von Habermas geprägten Theoriezusammenhang andeuten, der sich über eine Vielzahl disziplinärer Kontexte hinweg erstreckt und somit auch die Diskursethik einschließt. Vgl. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik (1991), S. 7; ders., Vom Pragmatischen, Ethischen und Moralischen (1991 [1988]), S. 101. Habermas’ problematische Unterscheidung vom moralischen und ethischen (sowie pragmatischen) Gebrauch der praktischen Vernunft ist in diesem Zusammenhang noch nicht von Relevanz; dazu erst später, IV. 4.
II. Moralphilosophie: Diskursethik
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sprach- oder kommunikationstheoretischen Ansätzen5 abtrennen, die klassische moralphilosophische Vorstellungen übersteigen. Soweit solche Ansätze bereits für eine überzeugende (intradisziplinäre) moralphilosophische Konzeption von Bedeutung sind, soll auch darauf zurückgegriffen werden. Für diese Notwendigkeit ist freilich auch der Umstand mitverantwortlich, dass die Diskurstheorie und mit ihr die Diskursethik auch in der habermasschen Ausprägung keineswegs unbestritten ist.6 Das zwingt zu einer Verteidigung auf oft weiteren Feldern und jedenfalls zu perspektivischen Erweiterungen. In der hier vertretenen Auffassung ist der diskurstheoretische Zusammenhang aber gut dafür gewappnet, und zwar gerade im Anspruchsbereich der Moralphilosophie. Wie sich im Verlauf dieser Arbeit noch zeigen soll, ist in erster Linie nicht die diskursethische Argumentation von Schwächen befallen, sondern sind es v. a. die überzogenen Erwartungen, die die Kritik an sie zu stellen pflegt.7 Vorerst gilt es, das disziplinäre Feld der Moralphilosophie zu bearbeiten. Natürlich steht die Diskursethik auch in diesem Rahmen nicht allein, sodass der Diskurs bereits dort beginnt. Im Folgenden soll die Diskursethik anhand der für die Anlage dieser Untersuchung wichtigsten moralphilosophischen Fragen kritisch erarbeitet werden. Die hier vertretene moralphilosophische Konzeption bildet die habermassche Diskursethik also nicht einfach ab, sondern reflektiert sie kritisch. Unter den Vorzeichen der interdisziplinären Ausrichtung des Gesamtprojekts muss diese Diskussion allerdings beschränkt bleiben, und wenn immer möglich, wird Habermas’ (ihrerseits kritischer) Argumentation deshalb gefolgt. Nicht nur aus Gründen, die sich aus der Anlage dieser Arbeit ergeben, ist es in der moralphilosophischen Diskussion dabei zunächst angebracht, 1. die Frage zu klären, wie von Moral überhaupt angemessen zu sprechen ist. In der Architektur dieser Untersuchung ist die Beantwortung dieser Frage von Bedeutung, um die in ihr enthaltene These, die moralphilosophische Rechtfertigung zwischenmenschlicher Normierungen könne wichtige Stücke einer überzeugenden integrativen Legitimationskonzeption nicht begreifen, in eine solide Ausgangslage zu versetzen. Im Weiteren sind dann 2. die Gründe dafür zu liefern, die der hier deontologisch verstandene Moralbegriff konzeptionell einfordert. An dieser Stelle muss die Diskursethik zeigen, dass sie in der moralphilosophischen Auseinandersetzung in der Lage ist, ihre anspruchsvollen Vorgaben gegenüber konzeptuellen und konzeptionellen Alternativen einzulösen. 5 V. a. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987); ders., Theorie des kommunikativen Handelns 2 (41987); sowie ders., Vorstudien und Ergänzungen (31989); ferner insb. die Beiträge in ders., Nachmetaphysisches Denken (1988); und die Aufsätze in ders., Wahrheit und Rechtfertigung (1999). 6 Aus der ausufernden Kommentarliteratur nur McCarthy, Kritik der Verständigungsverhältnisse (1989 [1978]); Honneth et al. (Hrsg.), Zwischenbetrachtungen (1989); Wingert et al. (Hrsg.), Die Öffentlichkeit der Vernunft (2001); Honneth / Joas (Hrsg.), Kommunikatives Handeln (2002). 7 Was z. T. allerdings auch am übereilten Vorpreschen derjenigen liegt, die sich die Diskursethik ihrerseits mit falschen Erwartungen zunutze machen. Dazu sogleich, II. 3., und im späteren Verlauf der Untersuchung, insb. in III. 1. sowie Kapitel IV.
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II. Moralphilosophie: Diskursethik
Von dieser Position aus kann schließlich 3. der Versuch unternommen werden, die Diskursethik auch im konkreten situationellen Kontext zu erproben. Spätestens dort wird sich herausstellen, dass die Moralphilosophie an ihre (disziplinären) Grenzen stößt. 1. Was heißt Moral? Der Bereich des Moralischen wird hier mit dem Ziel untersucht, der demokratischen Legitimation auch eine ethische Perspektive zu geben. Die Moralphilosophie wird dabei als das disziplinäre Feld betrachtet, das sich seinem Abstraktionsniveau entsprechend am äußeren oberen Rand des interdisziplinären Kommunikationsraums demokratischer Legitimation bewegt. Die Moralphilosophie äußert sich zur Legitimationsproblematik aus größter Distanz und in abstraktester Sprache. Sie fragt nach den Rechtfertigungsbedingungen der Ordnung menschlichen Zusammenlebens überhaupt, unabhängig vom bestimmten Raum und von der bestimmten Zeit, in denen mögliche soziale Praxen situiert sind. Was Moral danach heißt, ist damit aber noch nicht beantwortet, sondern muss in einer eigens geführten Diskussion geklärt werden. Klar ist, dass die Moral auf nachmetaphysischem Begründungsniveau8 weder einer göttlichen Instanz noch sonstigen metaphysischen Erklärungsmodellen überantwortet werden kann. Mit dem Verblassen der Überzeugungskraft der Metaphysik wird die Moral, soll sie mit der Metaphysik nicht auch selbst geopfert werden, sozusagen auf die Menschen zurückgeworfen. Sie werden (moralisch) auto-nom, selbst-gesetzgebend. Als moralphilosophische Konzepte, die sich auch auf nachmetaphysischem Begründungsniveau um die adäquate Klärung des Moralbegriffs bemühen, können v. a. die Teleologie und die Deontologie genannt werden.9 Als deontologische Konzeption muss sich die Diskursethik deshalb zunächst mit dem teleologischen Konzept auseinandersetzen, wobei zumindest eine knappe Darstellung der Teleologie den Weg bereiten soll. Die leitende Frage dabei ist, worin der moral point of view, der moralische Stand- oder Gesichtspunktpunkt sinnvollerweise besteht. Was heißt Moral?
8 Dazu Habermas, Nachmetaphysisches Denken (1988); darin insb. der Beitrag ders., Motive nachmetaphysischen Denkens (1988). 9 Die Unterscheidung zwischen Teleologie und Deontologie wurde aufgebracht von Charlie D. Broad in Broad, Five Types of Ethical Theory (1930), insb. S. 278, und markiert seither eine grundlegende Weggabelung in der moralphilosophischen Argumentation. Dazu etwa Kutschera, Grundlagen der Ethik (21999), S. 71 – 86; Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik (2003), S. 113 – 127, wo die Gegenüberstellung von Deontologie und Teleologie zugunsten der von Deontologie und Konsequenzialismus zuerst infrage gestellt, dann auf S. 119 aber wieder rehabilitiert wird. Vgl. vonseiten der christlichen Sozialethik auch Furger, Was Ethik begründet (1984), insb. S. 7 – 34.
1. Was heißt Moral?
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a) Das Gute (Teleologie) Unter der „teleologischen Moralauffassung“ oder unter „Teleologie“10 sind Konzeptionen zu verstehen, die das moralisch Richtige danach bestimmen, ob ein bestimmtes angestrebtes Ziel oder ein bestimmter vorausgesetzter Zweck (griech. télos: Ziel, Zweck) möglichst optimal erreicht wird. In der teleologischen Auffassung sollen Normen und Handlungen also zu etwas, nämlich zur Erreichung dieses oder jenes Ziels gut sein. Ausdruck der teleologischen Zielorientierung ist damit das (in der jeweiligen konzeptionellen Ausprägung besonders bestimmte) Gute, und Normen und Handlungen sind moralisch danach zu beurteilen, ob und inwieweit sie dem bestimmten Guten dienen. Den teleologischen Konzeptionen ist damit auch eine Zweckrationalität oder genauer: Instrumentalvernunft gemeinsam, insofern Moralität nicht als selbständiger Topos konstruiert und zu verwirklichen versucht wird, sondern relational mit dem Guten verknüpft wird. Indem das Moralische durch das Gute parametrisiert wird, wird die Moral in Abhängigkeit zur Erfüllung des Guten gestellt („Wenn dieses oder jenes Gute erreicht wird, wird das Moralische befördert.“). Das Gute wird damit zur Bedingung des Moralischen bzw. wird das Moralische, wenn es mit dem (bestimmten) Guten identifiziert wird, selbst bedingt. Auch mit dieser allgemeinen Charakterisierung der Teleologie ist der genauere Begriff von Moral noch nicht gegeben. Vielmehr eröffnet er eine Vielzahl von Möglichkeiten, das maßgebliche Gute zu definieren und allenfalls weitere Kriterien zu bestimmen, die festlegen, unter welchen Bedingungen dieses Gute erreicht werden soll. Festgelegt ist vorerst nur, dass das Moralische in einer wie auch immer gewendeten Ausprägung eines Ziels bzw. in der Idee des Guten einzulösen ist. (1) Insofern die teleologische Haltung als moralisches Konzept überzeugen soll, kann das Gute jedoch nicht in beliebiger Weise fixiert werden. Unter den denkbaren teleologischen Konzeptionen des Guten fällt etwa eine erste Variante von vornherein außer Betracht, die auf völlig beliebige Ziele oder Zwecke und damit auf ein beliebiges Gutes gerichtet ist, sodass „Moralität“ auf die möglichst effektive, mit den besten zur Verfügung stehenden Mitteln erfolgende Verwirklichung (beliebiger Ziele) reduziert würde („Ob der Zweck vernünftig und gut sei, davon ist hier nicht die Frage, sondern nur, was man tun müsse, um ihn zu erreichen.“11). Diese undifferenzierte Variante einer Konzeption des Guten, die sich als „einfache Zweckrationalität“ bezeichnen ließe und die Immanuel Kant auf der ersten Stufe der hypothetischen Imperative als Imperativ bzw. Regeln der Geschicklichkeit präsentiert,12 disqualifiziert sich dabei vorderhand nicht wegen ihrer Zweck-Mittel10 Hierzu auch Kutschera, Grundlagen der Ethik (21999), S. 72 – 80; Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik (2003), S. 173 – 278, differenziert nach konsequenzialistischer Ethik, ebd., S. 173 – 240, und Theorien des nicht-moralisch Guten, ebd., S. 241 – 278. 11 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1968 [1785 / 21786]), S. 44. 12 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1968 [1785 / 21786]), S. 43 – 47, insb. S. 44.
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II. Moralphilosophie: Diskursethik
Relation, sondern wegen ihrer unspezifischen Teleologie. Eine Handlung, die ungeachtet ihres Ziels als moralisch legitim ausgezeichnet würde, nur weil sie einem Imperativ der Geschicklichkeit gehorcht, scheint in hohem Maße kontraintuitiv: „Die Vorschriften für den Arzt, seinen Mann auf gründliche Art gesund zu machen, und für einen Giftmischer, um ihn sicher zu töten, sind in sofern von gleichem Wert, als eine jede dazu dient, ihre Absicht vollkommen zu bewirken.“13 Moralisch zu handeln, kann kaum heißen, einfach geschickt, also in einem unspezifischen Sinn erfolgreich zu sein. „Für irgend etwas gut“ zu sein, genügt offensichtlich nicht, um den Begriff des Moralischen angemessen bestimmen zu können. Doch im Kontext des Moralischen bleibt die Gut-Relation auch dann noch unzureichend, wenn die unspezifische Bezugnahme zwar spezifiziert wird, aber als bloßer Sachbezug bestehen bleibt. Erst wenn die Relation einen personellen Bezug erhält, hat sie überhaupt Aussicht auf moralphilosophische Erheblichkeit: Das „Für-etwas-Gute“ muss zum „Für-jemanden-Guten“ werden. Selbst dabei scheitern teleologische „Moral“-Konzeptionen aber wohl von vornherein dann, wenn sie den Horizont einer einzelnen Person nicht überschreiten. Auch die von Kant auf der zweiten Stufe der hypothetischen Imperative sog. Imperative bzw. Ratschläge der Klugheit bleiben, sofern sie im Singular verharren („Geschicklichkeit in der Wahl der Mittel zu seinem eigenen größten Wohlsein“14), als „egoistische Rationalität“ oder kurz: als „Egoismus“ für die Moralbestimmung kontraintuitiv. Wäre die Perspektive einer einzelnen Person für die Moralität von Normen und Handlungen maßgeblich, so wäre dem Giftmischer moralisch nichts vorzuwerfen, solange sein Giftnord nur seinen individuellen Zielen zugute käme. Die entgegenstehenden Ziele des Giftopfers könnten den Zielen des Giftmörders mangels weiterer Kriterien nichts Vernünftiges entgegenhalten. Dem könnte entgegnet werden, dass nicht die Perspektive des Giftmischers, sondern die des Opfers maßgeblich sein sollte. Aus dieser Sicht sei der Giftmord doch moralisch verwerflich und das singulär-personelle Kriterium zutreffend. Aber auch diese Argumentation ist problematisch. Denn mit der schlichten Festlegung des moralischen Standpunkts auf eine singulär-personelle Perspektive ist noch nicht bestimmt, die Perspektive welcher Person maßgeblich sein soll. Dazu bedarf es weiterer Kriterien, die keineswegs offenkundig sind und zuerst noch ausgemacht werden müssten. Probleme blieben aber selbst dann bestehen, wenn das angegebene Beispiel zum Anlass genommen würde, das Moralische statt am Egoismus, an einer rein „altruistischen Rationalität“ oder kurz: an einem reinen „Altruismus“15 in dem Sinn festzumachen, dass in einer moralisch fraglichen Situation nicht die eigene, sondern stets die Perspektive der anderen Person von Bedeutung sein soll: Beim Opfer des Giftattentats könnte es sich auch um einen skrupellosen 13 14 15
Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1968 [1785 / 21786]), S. 44. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1968 [1785 / 21786]), S. 45. Systematisch zum Altruismus Kutschera, Grundlagen der Ethik (21999), S. 178 – 182.
1. Was heißt Moral?
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Tyrannen handeln, dessen üblen Machenschaften nicht anders als mit einer ausgeklügelten Giftattacke ein Ende gesetzt werden kann. Seine Perspektive würde sich dann kaum als die allein entscheidende aufdrängen, und aus der Sicht des Giftmischers wäre der Altruismus zugunsten des Tyrannen moralisch geradezu absurd. Wird das „Für-mich-Gute“ lediglich durch das „Für-dich-Gute“ ausgetauscht, so bleibt der Moralbegriff offenbar weiterhin unterbestimmt. Personellperspektivisch muss der moralische Standpunkt einen singulären Blickwinkel übersteigen. Diese Überlegungen bringen auch die teleologische Moral auf das Niveau einer Sozialmoral. Um ein überzeugendes Konzept des Moralischen liefern zu können, muss es der Teleologie gelingen, normative Kriterien bereitzustellen, die sich aus einer überindividuellen Perspektive speisen. Es genügt nicht, den undifferenzierten oder spezifizierten sachlichen Zweckrationalismus in einen egoistischen oder altruistischen Individualismus zu überführen. Auch aus teleologischer Sicht muss das „Für-eine-Person-Gute“ zum „Für-alle-Guten“ weitergeführt werden: Die Perspektive muss in den Plural wechseln. Als ernstzunehmende teleologische Versuche, das Gute aus einer überindividuellen Perspektive für die Moral zu gewinnen, können der Utilitarismus und der Kommunitarismus aufgefasst werden.16 Beide Konzeptionen können insofern als teleologische verstanden werden, als sie auf eine je bestimmte Vorstellung eines zu erreichenden Guten, in der überindividuellen Sicht in der Form des Gemeinwohls, abzielen. Dabei setzen sie unterschiedliche Akzente. Während der Utilitarismus innerhalb der Gemeinwohl-Teleologie wiederum eine eher individualistische Stoßrichtung vornimmt, setzt der Kommunitarismus auch innerhalb des Gemeinwohl-Ansatzes auf einen konsequenten Kollektivismus. Beide Konzeptionen sollen hier nur im Ansatz so weit dargestellt werden, dass die teleologische Moralauffassung in Abgrenzung zur deontologischen hinreichend differenzierte Konturen erhält. 16 Der Terminus „Teleologie“ wird hier als Sammelbegriff für alle ziel- oder zweckorientierten Moralkonzeptionen verwendet. Er bezieht sich auf sämtliche Konzeptionen, die in irgendeiner Weise das Gute zum Vorbild haben und der Deontologie als Konzept des Gerechten gegenübergestellt werden können. Demgegenüber wird der Teleologie-Begriff in der moralphilosophischen Diskussion häufig enggeführt und einseitig insb. entweder auf den Utilitarismus oder den Kommunitarismus beschränkt. Als Gegenüberstellung von Utilitarismus und Deontologie – begründet durch den spezifischen Blickwinkel der Rechtswissenschaft – vgl. Mastronardi (Hrsg.), Das Recht im Spannungsfeld (2004); ders., Juristisches Denken (22003), Rn. 948 – 962. Auf der anderen Seite neigt Habermas – begründet wohl durch die starke Präsenz des Kommunitarismus in der politischen Philosophie – dazu, die Auseinandersetzung mit dem Utilitarismus zu vernachlässigen; vgl. aber z. B. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik (1991), S. 152 f.; und freilich die eingehende Kritik des erfolgsorientierten Handelns und des Funktionalismus in ders., Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987); und ders., Theorie des kommunikativen Handelns 2 (41987). Dennoch werden „Utilitarismus“ und „Kommunitarismus“ hier, wie erläutert, als Spielarten teleologischen Moraldenkens begriffen; ebenso den Utilitarismus der Teleologie zuordnend Rawls, Geschichte der Moralphilosophie (2002 [2000]), S. 296; ders., Politischer Liberalismus (1998 [1993]), S. 410, Fn. 10; ders., Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 154); sowie etwa Höffe, Einleitung (32003), S. 43.
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(2) Der „Utilitarismus“17 ist (immer noch) als eine der einflussreichsten zeitgenössischen Moralkonzeptionen zu betrachten.18 Er propagiert eine Nützlichkeitsethik (lat. utilitas: Nutzen) mit einer starken individualistischen Komponente. Auch wenn der Utilitarismus seit seiner klassischen Formulierung inzwischen eine ausgesprochen ausdifferenzierte Form angenommen hat, lässt sich mit Otfried Höffe doch ein utilitaristisches Muster mit vier charakteristischen Prinzipien erkennen:19 dem Konsequenzenprinzip, dem Nutzenprinzip, dem hedonistischen und dem Universalisierungsprinzip. Nach dem Konsequenzenprinzip bemisst sich die moralische Qualität einer Handlung oder Norm20 nach ihren Folgen. Moralisch maßgeblich ist damit, was eine Handlung oder die Befolgung einer Norm bewirkt. Das Nutzenprinzip21 beantwortet die Frage, unter welchem Blickwinkel diese Folgen in moralischer Hinsicht zu betrachten sind, mit dem Nutzen. Da es aber ohne Weiteres nicht selbstverständlich ist, welche Folgen nützlich sind, führt der Utilitarismus zudem das hedonistische Prinzip ein. Danach wird der Nutzen durch Lust und Unlust22 definiert. Moralisches Tun zielt demnach darauf, ein möglichst großes Maß an Lust zu bewirken und ein möglichst großes Maß an Unlust zu verringern oder zu vermeiden. Den Übergang zur Sozialmoral markiert dann erst das Universalisierungsprinzip. Die Moralität von Normen und Handlungen soll sich nämlich nicht etwa nach der Lustbilanz einer einzelnen Person, sondern nach dem Wohlergehen der Allgemeinheit richten.23 17 Klassische Vertreter des Utilitarismus sind Jeremy Bentham, John S. Mill und Henry Sidgwick: Bentham, Eine Einführung in die Prinzipien der Moral und der Gesetzgebung (32003 [21823]); Mill, Utilitarismus (32003 [1863]); Sidgwick, Die Methoden der Ethik (32003 [71907]). Mit weiteren Texten und systematischer Bibliographie zum Utilitarismus auf den S. 250 – 265: Höffe (Hrsg.), Einführung in die utilitaristische Ethik (32003). Zum Utilitarismus insgesamt Höffe, Einleitung (32003). Ferner Kutschera, Grundlagen der Ethik (21999), S. 173 – 178 / 200 – 212; Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik (2003), insb. S. 217 – 240. Zu Benthams klassischer Konzeption jetzt Kramer-McInnis, „Der Gesetzgeber der Welt“ (2008), insb. S. 55 – 95. 18 Nicht zuletzt steht der Utilitarismus in einem engen Zusammenhang zur zeitgenössischen Mainstream-Ökonomie; vgl. etwa Bohnen, Die utilitaristische Ethik als Grundlage (1964). Sein konzeptioneller Vater, Bentham, war allerdings Jurist. Zu Benthams Leben, Tod und Wirkung Kramer-McInnis, „Der Gesetzgeber der Welt“ (2008), S. 39 – 54, m. w. H. Zur Wirtschaftsethik der Exkurs am Ende der Untersuchung. 19 Höffe, Einleitung (32003), S. 9 – 11. Zum Folgenden ebd., S. 10 f. 20 Im Laufe der Zeit hat sich der Utilitarismus in einen Handlungs- und einen Regelutilitarismus differenziert. Dazu Höffe, Einleitung (32003), S. 28 – 41, m. w. H.; Kutschera, Grundlagen der Ethik (21999), S. 200 – 212; vgl. auch Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik (2003), S. 211 – 217. Da diese Differenzierung für die konzeptuelle Diskussion aber nicht entscheidend ist, sollen hier stets beide utilitaristischen Varianten erfasst werden. 21 Namensgebende Prägung dieses Prinzips in Bentham, Einführung in die Prinzipien der Moral (32003 [21823]), S. 55 – 61. 22 Bei Bentham heißen die beiden „souveräne[n] Gebieter“ der Menschen „Leid und Freude“: Bentham, Einführung in die Prinzipien der Moral (32003 [21823]), S. 55. 23 Nach Höffe lassen sich die vier Prinzipien zu einem einzigen utilitaristischen Prinzip zusammenfassen: „Diejenige Handlung bzw. Handlungsregel ist moralisch richtig, deren Fol-
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Damit überwindet der Utilitarismus in der Tat den Status eines naiven teleologischen Ansatzes, ohne dabei die teleologische Logik preiszugeben. Indem er der Beliebigkeit der Ziele das bestimmte Ziel der Nützlichkeit entgegenstellt und diese durch Lustbilanzen definiert, sticht er den einfachen Zweckrationalismus zweifellos aus und wechselt zugleich in eine personelle Perspektive. Das „Für-irgendetwas-Gute“ wird zum „Für-jemanden-Guten“, wobei der Utilitarismus mit dem Universalisierungsprinzip auch über das „Für-mich-“, „-dich-“, „-sie-“ oder „-ihnGute“ hinausgeht und das „Für-alle-Gute“ einfordert und somit die nötige Kollektivsicht aktiviert. Von entscheidender Bedeutung ist freilich, wie das „Für-alleGute“ fernerhin definiert wird. Um die verschiedenen Einzelpräferenzen der moralischen Subjekte ernstzunehmen, müssen zunächst sämtliche Nutzenfunktionen (und nicht etwa nur die des Giftmischers – aber auch nicht nur die des Opfers) in das Nutzen- oder hedonistische Kalkül miteinbezogen werden. Es werden alle Präferenzen aggregiert. In dieser Hinsicht besitzt der Utilitarismus einen egalitären Zug. Aus der Überzeugung aber, es nicht allen recht machen zu können, sieht sich die utilitaristische Denkweise im weiteren Schritt dazu gezwungen, die Erhebungsgleichheit in Asymmetrie zur Ergebnisgleichheit zu setzen, insofern die Bestimmung des normativen Resultats unter eine quantitative Optimalbedingung gestellt wird, die als Maximalbedingung zu lesen ist: Anzustreben ist danach „das größte Glück der größten Zahl“24, das Ergebnis also, bei dem unter Einbeziehung sämtlicher relevanter Faktoren der größtmögliche Nettonutzen der Betroffenen zu erwarten ist. Nach diesem kurzen Überblick über den Utilitarismus lassen sich einige Vorzüge seines konzeptionellen Ansatzes festhalten. Zunächst ist dem Utilitarismus zugute zu halten, dass er mit dem Fokus auf die Handlungsfolgen den engen Rahmen einer Gesinnungsethik25 aufbricht. In der Tat müssen die Konsequenzen von Handlungen bzw. Normbefolgungen von moralischer Relevanz sein, andernfalls macht auch das Erfordernis des Sozialbezugs moralischer Kriterien gar keinen Sinn. Sodann trifft die utilitaristische Teleologie in der Rede vom Guten einen wichtigen Punkt: Das hedonistisch gedeutete Nutzenprinzip entspricht einer tiefen menschlichen Intuition, der wohl jede Person folgen kann: Gut ist, was gut tut bzw. unerfüllte Präferenzen befriedigt. Das ist auch der Grund, weshalb Kant den Imperativ der Klugheit oder der Glückseligkeit als einen besonderen unter den hypothegen für das Wohlergehen aller Betroffenen optimal ist.“, bzw. in Abwandlung des kategorischen Imperativs: „Handle so, daß die Folgen deiner Handlung bzw. Handlungsregel für das Wohlergehen aller Betroffenen optimal ist.“: Höffe, Einleitung (32003), S. 11. 24 Die berühmte Wendung hat ihren Ursprung in Bentham, A Fragment on Government (1977 [1776]), S. 393: „It is the greatest happiness of the greatest number that is the measure of right and wrong.“; vgl. auch ders., Principles of the Civil Code (1838 f. [1802]), S. 301 f. (zit. nach Kramer-McInnis, „Der Gesetzgeber der Welt“ (2008), S. 195): „The sole object of government ought to be the greatest happiness of the greatest possible number of the community. [ . . . ].“ 25 Zur Gesinnungsethik Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik (2003), S. 306 – 312.
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tischen Imperativen hervorhebt.26 Zudem bedient der Utilitarismus auch die weitere Evidenz der Individualität von Präferenzen: Glück ist eine in höchstem Maße persönliche Angelegenheit, was der Utilitarismus insofern berücksichtigt, als er die Art und Weise des Lustempfindens zunächst indeterminiert lässt. Maßgeblich für das Nutzenkalkül sind die Präferenzdeckungen als solche, also in rein formaler Hinsicht, und nicht deren inhaltliche Ausprägung. Schließlich nimmt der Utilitarismus in Angriff, was Kant auf der entsprechenden Stufe gar nicht in den Blick nimmt: Mit dem utilitaristischen Verallgemeinerungsgrundsatz wird der Imperativ der Klugheit im Plural weiterentwickelt. Das Ziel des persönlichen Glücks soll über die verschiedenen Betroffenen hinweg aggregiert werden.27 Die Rückbindung des moralischen Gemeinwohls an die einzelnen, im Verhältnis zu den erwarteten Folgen je bestimmbaren Nutzenfunktionen soll dabei dem Anspruch an wissenschaftliche Exaktheit Genüge tun.28 (3) Als gleichwohl im Rahmen der Teleologie verbleibender Gegenspieler des Utilitarismus kann der Kommunitarismus vorgebracht werden.29 Als moralphilosophische Konzeption ist auch dem „Kommunitarismus“30 (lat. communitas: Ge26 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1968 [1785 / 21786]), S. 44 f.: „Es ist gleichwohl ein Zweck, den man bei allen vernünftigen Wesen [ . . . ] wirklich voraussetzen kann, und also eine Absicht, [ . . . ] von der man sicher voraussetzen kann, daß sie solche insgesamt nach einer Naturnotwendigkeit haben, und das ist die Absicht auf Glückseligkeit.“ Vgl. auch ebd., S. 20. 27 Frei nach Kant könnte von einem Imperativ der Summierung von Klugheitsimperativen gesprochen werden. Nach Höffe handelt es sich beim Utilitarismus um eine Form der „Sozialpragmatik“ (Höffe, Einleitung (32003), S. 11), was mit dem kantischen Pragmatik-Begriff in eben diesem Sinn interpretiert werden kann: Für Kant ist das Pragmatische das der Wohlfahrt Dienliche: Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1968 [1785 / 21786]), S. 46, insb. die Fn. Sozialpragmatik wäre dann das der kollektiven Wohlfahrt, dem Gemeinwohl Dienliche. Aus Abgrenzungsgründen zur linguistischen Pragmatik wird dieser Sprachgebrauch hier jedoch nicht aufgegriffen. 28 Vgl. Höffe, Einleitung (32003), S. 11 f. 29 Als Gegenspieler zum Liberalismus wurde der Kommunitarismus mit politisch-philosophischem Anspruch geboren. Dass er hier das Gewand einer moralphilosophischen Konzeption erhält, ist jedoch kein Gewaltakt, weil das politisch-philosophische Konzept durchaus moralphilosophische Implikationen beherbergt. Diese stehen an dieser Stelle zur Diskussion, und in dieser Hinsicht wird im Folgenden auch die Literatur zum Kommunitarismus herangezogen. (In der politischen Philosophie, später in Kapitel IV, wird zur Abgrenzung ein anderer Begriff, der des Republikanismus, aufgegriffen. Zur Beziehung zwischen Kommunitarismus und Republikanismus dann dort.) Vgl. zur moralphilosophischen Verwendung des Kommunitarismus-Begriffs nur Habermas, Vom Pragmatischen, Ethischen und Moralischen (1991), S. 100. Habermas spricht im gleichen Zusammenhang auch häufiger von Aristotelismus oder Neoaristotelismus. Vgl. dazu auch Schnädelbach, Was ist Neoaristotelismus? (1986). Weil das weiteren Differenzierungsbedarf nach sich zieht, wird hier nur der Kommunitarismus-Begriff verwendet (und damit die Differenzierungslast in dieser Hinsicht auf Habermas zurückgeschoben). 30 Zu den prominentesten Vertreterinnen und Vertretern des Kommunitarismus zählen Hannah Arendt, Michael J. Sandel, Charles Taylor, Alasdair MacIntyre und Michael Walzer: so etwa Arendt, Vita activa (62007); Sandel, Liberalism and the Limits of Justice (1982);
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meinschaft) an einer sozialmoralischen Perspektive gelegen. Im Verhältnis zum Utilitarismus wird der Begriff des Moralischen jedoch an viel ausgeprägtere kollektivistische Gesichtspunkte geknüpft. Anstatt das Gemeinwohl an der Aggregation individueller Einzelpräferenzen festzumachen, bekommt es im Kommunitarismus eine originär überindividuelle Wendung: Moralisch richtig ist in erster Linie, was für alle als Gemeinschaft gut ist. Der wesentliche Unterschied zum Utilitarismus lässt sich dadurch kennzeichnen, dass das „Für-alle-Gute“ nicht in den aufsummierten Nutzenkalkülen der jeweils ersten Person Singular, also als „Jeweilsfür-mich-Gutes“, sondern direkt in der ersten Person Plural formuliert wird: Der Kommunitarismus fordert das „Für-uns-Gute“. Kants individualistischer Imperativ der Klugheit bzw. Glückseligkeit wird damit um eine weitere Stufe kollektiviert. Nicht nur kommen sämtliche Glück suchende Individuen gemeinsam in den Blick, auch das (moralisch relevante) Glück selbst erhält eine gemeinschaftliche Bedeutung.31 So gesehen, vertritt der Kommunitarismus den stärksten möglichen Sinn einer Sozialmoral. Demnach steht der Kommunitarismus für eine konsequente gemeinschaftsorientierte Wertperspektive ein, und moralisch richtig ist danach diejenige Handlung oder Normierung, die dem gemeinsamen Wertekontext der Moralgemeinschaft entspricht.32 Das angestrebte Gute offenbart sich somit in den grundlegenden Überzeugungen, die für das moralische Kollektiv geradezu Ausdruck seiner Identität sind. Die moralischen Grundwerte müssen im Wege einer politisch-klinischen Selbstvergewisserung aufgedeckt werden, im historisch-hermeneutischen Aufspüren der eigenen traditionellen Verwurzelung, die zur Erkenntnis bringt, wer wir als moralische Gemeinschaft sind und wer wir als solche sein wollen.33 Die vom Kommunitarismus in Anspruch genommene Rationalität fordert die SelbstvergewisTaylor, Negative Freiheit? (1988); und ders., Quellen des Selbst (1996 [1989]); MacIntyre, Der Verlust der Tugend (1987 ([1981]); und ders., Whose Justice? Which Rationality? (1988); Walzer, Sphären der Gerechtigkeit (1992 [1983]); und ders., Zweifel und Einmischung (1991 [1988]). Zum Kommunitarismus folgende, meist in der Liberalismus-KommunitarismusDebatte situierten Sammelbände Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus (1993); Brumlik / Brunkhorst (Hrsg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit (1993); Seelmann (Hrsg.), Kommunitarismus versus Liberalismus (2000); sowie die Einzelbeiträge Honneth, Einleitung (1993); Forst, Kommunitarismus und Liberalismus (1993); ders., Kontexte der Gerechtigkeit (1994), einführend S. 12 – 19; Reese-Schäfer, Was ist Kommunitarismus? (1994). 31 Frei nach Kant könnte nun von einem Imperativ kollektiver Glückseligkeit gesprochen werden. Vgl. Fn. 27. 32 Je nachdem, wie konstant die moralischen Werte sind und als wie maßgeblich die Werteverwirklichung für die Erhaltung und Reproduktion der Wertegemeinschaft selbst eingeschätzt wird, lässt sich der Kommunitarismus auch tugendethisch akzentuieren. Weil dieser Gedanke aber erst ein aus der kommunitaristischen Grundidee abgeleiteter ist, bleibt er in der hier vorgenommenen kurzen Darstellung außen vor. In diesem Kontext etwa MacIntyre, Der Verlust der Tugend (1987 ([1981]). Zur Tugendethik Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik (2003), S. 295 – 312. 33 Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 198 f., i. V. m. ders., Vom Pragmatischen, Ethischen und Moralischen (1991), insb. S. 103 – 105.
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serung unserer unhintergehbaren Geschichte und Traditionen. Mit dem Rückgriff auf die historisch-kulturelle Verwurzelung der moralischen Gemeinschaft transzendiert der Kommunitarismus auch eine nur spontane Wertgebundenheit. In seiner Sicht steht das Gute der Gemeinschaft keineswegs zur beliebigen Disposition, sondern es gilt, es in gemeinschaftlicher Verständigung in der eigenen Kultur zu identifizieren. Es mag wohl sein, dass gewisse kulturelle Werte von der Gemeinschaft mit der Zeit als revisionsbedürftig angesehen werden. Dennoch lassen sich die vorhandenen Gemeinschaftspositionen nicht ohne Weiteres abstreifen. Sie bilden einen wichtigen Teil der kollektiven Identität und sind daher erst dann revidierbar, wenn sie dem hermeneutischen Selbstverständnis der Moralgemeinschaft nachhaltig verlorengehen. In der Tat macht auch der Kommunitarismus in einiger Hinsicht einen guten Punkt. Zunächst macht er darauf aufmerksam, dass die überindividuelle Perspektive, wie sie vom Utilitarismus ausbuchstabiert wird, noch starke individualistische Züge trägt. Von der Warte des Kommunitarismus aus erscheint die utilitaristische Glückssumme zwar in einem überindividuellen Aggregatzustand, ansonsten bleiben die subjektiven Präferenzfunktionen aber völlig beziehungslos nebeneinander stehen. Im kommunitaristischen Schema erhält das Gute dagegen einen authentisch sozialmoralischen Sinn. Der Kommunitarismus lässt deutlich werden, dass das gemeinschaftliche Moment des Moralischen nicht erst als formalistische Rechenoperation ins Spiel kommen darf, sondern bereits bei der Genese moralischer Normen eine Rolle spielen muss. Zudem bringt die kommunitaristische Ethik zu Bewusstsein, dass die Kontexte, in denen sich die betroffenen Personen bewegen, für den Herstellungsprozess moralischer Regeln von Bedeutung sind und insofern nicht leichtfertig über sie hinweg verfügt werden kann. Insoweit die utilitaristische Ethik nicht zwingend auf spontane Lust- und Unlustempfindungen rekurriert und durchaus auch mit individuellen Nutzenkalkülen und Präferenzfunktionen operiert, findet sich zwar auch dort eine gewisse Kontextrelevanz vor, sie bleibt jedoch streng auf den subjektiven Horizont der Einzelpersonen beschränkt. In kommunitaristischer Sicht bekommt die Kontextrelevanz ein deutlich stärkeres Gewicht, indem sich die Kontexte dort auch aufs Gemeinschaftliche erstrecken. Für das Moralische schreibt der Kommunitarismus dem gemeinschaftlichen Kontext freilich eine privilegierte Rolle zu.
b) Das Gerechte (Deontologie) Es fragt sich allerdings ob die kommunitaristische Teleologie über diese Ansätze hinaus in der Lage ist, den moralischen Standpunkt zutreffend zu explizieren.34 Die Probleme beginnen damit, dass in modernen Demokratien eine Vielzahl divergenter Lebensweisen anzutreffen ist, auf die der kommunitaristische Zentrismus 34 Zur Kritik am moralischen Kommunitarismus (als (Neo-)Aristotelismus) und zum Folgenden Habermas, Lawrence Kohlberg und der Neoaristotelismus (1991), insb. S. 87 – 92.
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nicht recht passen will.35 Mit seiner kollektivistischen Stoßrichtung entfaltet der Kommunitarismus eine konservative Wirkung zugunsten der traditionell dominanten Werte,36 wodurch die vielfältigen Lebensweisen einer Hierarchie unterworfen werden. Dabei wohnt dem kommunitaristischen Kollektivismus auch eine exkludierende Tendenz inne. Denn wer wir sind und wer wir sein wollen, können prinzipiell nur diejenigen beantworten, die zur jeweiligen (wiederum meist traditional definierten) Wir-Gemeinschaft zählen. Der moderne Pluralismus ist aber nicht einfach ein Faktum, sondern ein moralisch gerechtfertigtes37, dessen konstruktive Bewältigung Toleranz erfordert38. „Wenn wir den modernen Pluralismus ernst nehmen, müssen wir auf den Anspruch der klassischen Philosophie verzichten, eine bestimmte Lebensweise [ . . . ] als den allgemeinen Heilsweg auszuzeichnen.“39 Dies zuzugeben, ist die kommunitaristische Ethik aber unfähig, weil sie an die Provinzialität einer einheitlichen Lebensform gebunden bleibt und daher auch die Ungerechtigkeiten, die in so einer Lebensform vorherrschen können, mittragen muss40. Diesem Strukturproblem des Kommunitarismus wäre nur beizukommen, wenn der Rückgriff auf universelle Güter („hypergoods“41) offen stünde, die für jede Lebensform Gültigkeit beanspruchen können. Weil dieser Weg aber nur mit kosmologischen oder religiösen Mitteln erschlossen werden kann,42 lässt sich mit Habermas resümieren, dass der moralphilosophische Kommunitarismus trotz aller Bemühungen einem metaphysischen Denken verhaftet bleibt43. Auf der anderen Seite drängt sich auch eine kritische Einschätzung des Utilitarismus auf.44 Zunächst mag die utilitaristische Absicht, dem Anspruch an wissenHabermas, Lawrence Kohlberg und der Neoaristotelismus (1991), S. 88 f. Habermas, Lawrence Kohlberg und der Neoaristotelismus (1991), S. 91; mit Verweis auf Schnädelbach, Was ist Neoaristotelismus? (1986), S. 53 f. 37 Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik (1991), S. 184; vgl. auch Rawls’ „Faktum eines vernünftigen Pluralismus“: Rawls, Politischer Liberalismus (1998 [1993]), S. 106 f. u.ö.; Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 22 u. ö. Anzumerken ist, dass Rawls „vernünftig“ nicht direkt auf die Situation des Pluralismus bezieht, sondern zuerst auf die verschiedenen globalen Weltbilder, die diesen Pluralismus konstituieren. Natürlich ist aber auch Rawls der Meinung, es handle sich dabei um eine vernünftige, gerechtfertigte Situation: insb. Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 22 f. 38 Habermas, Lawrence Kohlberg und der Neoaristotelismus (1991), S. 88. Zur Toleranz umfassend Forst, Toleranz im Konflikt (2003). 39 Habermas, Lawrence Kohlberg und der Neoaristotelismus (1991), S. 89. 40 Habermas, Lawrence Kohlberg und der Neoaristotelismus (1991), S. 90 f. 41 Zit. nach Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik (1991), S. 179. 42 Habermas, Lawrence Kohlberg und der Neoaristotelismus (1991), S. 91. Eingehend zu Taylors speziellem Versuch einer nachmetaphysischen Güterethik ders., Erläuterungen zur Diskursethik (1991), S. 176 – 185. Habermas bezieht sich dabei auf Taylor, Quellen des Selbst (1996); und ders., Die Motive einer Verfahrensethik (1986). 43 Habermas, Lawrence Kohlberg und der Neoaristotelismus (1991), S. 87. 44 Aus der Kritik am Utilitarismus etwa Lyons, Forms and Limits of Utilitarianism (1965); Beiträge in Sen / Williams, Utilitarianism and Beyond (1982); Ulrich, Integrative Wirtschafts35 36
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schaftliche Exaktheit mit quantitativen Mitteln gerecht zu werden, begrüßenswert erscheinen. In ihrer Rigidität verfehlt sie aber das Ziel, weil selbst persönliche Entscheidungen in aller Regel, und v. a. in erster Linie, nicht nach quantitativen Kriterien vonstatten gehen: „Deshalb enthält die Rede von Nutzenkalkulation etwas von Augenwischerei; sie unterstellt, daß wir genaue Daten haben und sie in bezug auf das Wohlergehen der Betroffenen annähernd verlässlich verrechnen können.“45 Der Quantifizierungsansatz bringt außerdem das Folgeproblem mit sich, dass sich die moralische Relevanz auf leicht quantifizierbare Positionen („Fragen des Billiger, Schneller, Größer usw.“) konzentriert, während Positionen, deren quantitative Erfassung schwieriger ist, vernachlässigt werden.46 Als besonders problematisch erweist sich das utilitaristische Zahlenspiel dann, wenn es darum gehen soll, verschiedene Glücksposten intra- und sogar interpersonell zu vergleichen.47 Denn die Unterstellung solcher Vergleichbarkeiten zwingt subjektive Empfindungen bestenfalls in Durchschnittsschemen und bleibt in jedem Fall unterkomplex. Sie zur Grundlage moralischer Normierungen zu machen, mutet jedoch vermessen an. Augenscheinlich wird die Unzulänglichkeit der utilitaristischen Ethik schließlich, wo sie fundamentalen moralischen Intuitionen widerspricht, bei Distributionsproblemen etwa, wo das globale Nutzenkalkül für die situativen Anspruchslagen der Betroffen zu unsensibel bleibt,48 oder dort, wo das Leid der Einen mit der Freude der Anderen verrechnet wird49. So schwingt sich der aggregierte Individualegoismus des Utilitarismus zu „eine[r] Art von Kollektivegoismus“ auf, „dem eine Unterdrückung oder Benachteiligung von Minderheiten, selbst eine Verletzung unveräußerlicher Menschenrechte erlaubt ist – sofern sie sich mit einer größeren Besserstellung der Mehrheit verbindet und die kollektive Glücksbilanz verbessert.“50 Werden der Utilitarismus und der Kommunitarismus einander gegenübergestellt, so ergibt sich ein diskursiver Patt: Den Vorwurf kollektivistisch-metaphysischer Hintergrundannahmen, den der Utilitarismus dem Kommunitarismus machen kann, kann dieser mit dem Vorwurf eines individualistischen Messungsobjektivismus parieren. Während der Kommunitarismus im Dienste der Kollektivität die ethik (42008), S. 187 – 195; und Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik (2003), S. 229 – 240. Zum Folgenden v. a. Höffe, Einleitung (32003), S. 41 – 51. 45 Höffe, Einleitung (32003), S. 41 f., Zitat auf S. 42. 46 Höffe, Einleitung (32003), S. 42. 47 Höffe, Einleitung (32003), S. 42 f. Tatsächlich arbeitet der Utilitarismus eifrig an diesem Problem. Ein bekanntes Beispiel ist etwa die Grenznutzentheorie, wonach der Konsum jeder zusätzlichen Einheit eines Gutes in Beziehung zum bereits erfolgten Güterkonsum gebracht wird, was i. d. R. nicht-lineare Nutzenfunktionen zur Folge hat; vgl. etwa Höffe, Einleitung (32003), S. 45 f. Dennoch ist Höffe Recht zu geben, wenn er meint, dass die Probleme des Nutzenvergleichs „bis heute befriedigend noch nicht gelöst sind.“: ebd., S. 43. 48 Höffe, Einleitung (32003), S. 44 f. 49 Höffe, Einleitung (32003), S. 46. 50 Höffe, Einleitung (32003), S. 45.
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Metaphysik bemühen muss, huldigt der Utilitarismus einem Quantifizismus im Dienste der individuellen Nutzenmaximierung. Beide konzeptionellen Ansätze laufen dabei Gefahr, das Ziel, den Begriff des Moralischen angemessen zu bestimmen, zu unterlaufen, indem sie Konsequenzen in Kauf nehmen, die fundamentalen Gerechtigkeitsvorstellungen und damit fundamentalen moralischen Intuitionen im Wege stehen. Das Grundproblem des Utilitarismus und des Kommunitarismus kann darin gesehen werden, dass sie als teleologische Konzeptionen von vornherein zu tief ansetzen. Im teleologischen Konzept wird das Moralische vom Guten insofern konsumiert, als es zu dessen maßgeblicher Bedingung gemacht wird: Moralisch ist, was gut ist. Diese Grundvorstellung ist beim Utilitarismus besonders deutlich, weil das Gute dort plausiblerweise aus dem individuell Nützlichen generiert wird, sie ist aber auch beim Kommunitarismus präsent, insofern sich das Moralische dort aus kollektiven Werten speist. Die Schwierigkeiten der teleologischen Ansätze zeigen aber, dass das Gute den Sinn des Moralischen – jedenfalls selbständig – nicht hinreichend ausfüllen kann. Es kann das Moralische allenfalls in umgekehrter Abhängigkeit als „Für-alle-Gutes“ explizieren. Dann wird das Gute aber zu einer Ableitung aus einem anderen, angemesseneren Begriff: des Gerechten. Konzeptionen, die das Moralische in erster Linie durchs Gerechte statt durchs Gute definieren, stehen in der Tradition der „Deontologie“51. Sie vertreten sozusagen den „Vorrang des deontologisch verstandenen Gerechten vor dem Guten“52. In der deontologischen Ethik spielt die Frage, wozu eine Handlung oder Normierung gut ist bzw. weshalb es gut sein soll, moralischen Normen zu folgen, zunächst keine Rolle.53 Normen und Handlungen sind nicht aus dem Grund moralisch, weil sie zu etwas oder für jemanden – und sei es auch für das im Großformat gedachte Kollektiv – dienlich, nützlich oder wertvoll sind, sondern schlichtweg deswegen, weil sie moralisch geboten sind. Im Konzept der Deontologie sind die Subjekte verpflichtet (griech. déon: Pflicht), moralisch zu handeln. Die Beantwortung der Frage, ob sie dazu gewillt sind oder ob sie kurz- oder mittelfristig einen Nutzen 51 Prominentester Klassiker der Deontologie ist Immanuel Kant: Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1968 [1785 / 21786]); ders., Kritik der praktischen Vernunft (1968 [1788]); ders., Die Metaphysik der Sitten (1968 [1797 / 21798]). Aus der unfassbaren KantLiteratur nur Höffe, Immanuel Kant (52000), m. w. H. insb. in der systematischen Bibliographie, S. 304 – 321. Neben Habermas und John Rawls in kantischer Tradition etwa Karl-Otto Apel, Otfried Höffe und die Erlanger Schule, im angloamerikanischen Raum etwa Richard Hare, Marcus G. Singer und Ronald Dworkin; vgl. zur Rezeption Kants Höffe, Immanuel Kant (52000), S. 281 – 302, insb. S. 299 – 302. Zum deontologischen Denken allgemein Kutschera, Grundlagen der Ethik (21999), S. 80 – 85; Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik (2003), S. 113 – 172. 52 Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik (1991), S. 7; vgl. Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 134 / 218 f., m. w. N.; ders., Politischer Liberalismus (1998 [1993]), S. 266 – 311, Nachweis des kantischen Ursprungs unter dem Titel „Das Vernünftige und das Rationale“ ebd., S. 120, Fn. 1. 53 Habermas, Lawrence Kohlberg und der Neoaristotelismus (1991), S. 87 / 94.
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daraus ziehen, entzieht sich vorderhand den Aufgaben der Moralphilosophie.54 Das moralische Handeln liegt erst einmal in der Verantwortung der Moralsubjekte selbst. Natürlich findet das Gute auch im deontologischen Konzept einen Platz, und es muss sich insbesondere noch zeigen, in welches Verhältnis das pflichtgemäße Gerechte zum durchaus plausiblen sozialmoralischen Sinn des „Für-alleGuten“ gesetzt werden kann. Allerdings wird das Gute im Begriff des Gerechten als des schlechthin oder unbedingten Guten vorerst vollständig sublimiert. Es nähert sich dem Begriff der Moral zunächst konsequent über den abstrakten Sollgehalt normativer Geltungsansprüche. I. d. S. setzt Kant sämtlichen hypothetischen Imperativen den kategorischen Imperativ entgegen. Mit dem kategorischen Imperativ55 will Kant die Bedeutung des ohne Einschränkung Guten56 in die richtige Beziehung zum autonomen Willen57 vernunftbegabter Wesen bringen. In Abgrenzung zu den nur hypothetischen Imperativen heißt das: „Der kategorische Imperativ würde der sein, welcher eine Handlung als für sich selbst, ohne Beziehung auf einen anderen Zweck, als objektiv-notwendig vorstellte.“ Moralische Handlungen sollen also nicht „bloß wozu anderes als Mittel“, sondern „an sich gut“ sein.58 Kant zieht daraus den Schluss, dass der kategorische Imperativ „nicht die Materie der Handlung und das, was aus ihr erfolgen soll, sondern die Form und das Prinzip, woraus sie selbst folgt, [betrifft], und das WesentlichGute derselben besteht in der Gesinnung, der Erfolg mag sein, welcher er wolle.“59 Erst so könne dem verpflichtenden Charakter des moralischen Handelns60 Genüge getan werden. Unter diesen Bedingungen kommt für Kant nur ein einziger Imperativ als kategorischer infrage, der lautet: [H]andle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“61 Das ohne Einschränkung oder eben: kategorisch Gute und damit das Gerechte und Gesollte läuft bei Kant also auf eine bedingungslose „Verallgemeinerbarkeit“ oder „Verallgemeinerungswürdigkeit“62 fraglicher Handlungsregeln hinaus. TatHabermas, Lawrence Kohlberg und der Neoaristotelismus (1991), S. 94. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1968 [1785 / 21786]), insb. S. 43 / 45 f. / 49 – 74. Dazu nur Höffe, Immanuel Kant (52000), S. 181 – 196. 56 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1968 [1785 / 21786]), schon S. 18 u. ö. 57 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1968 [1785 / 21786]), insb. S. 66 / 74 f. / 81 – 102. Dazu nur Höffe, Immanuel Kant (52000), S. 196 – 202. 58 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1968 [1785 / 21786]), S. 43. 59 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1968 [1785 / 21786]), S. 45. 60 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1968 [1785 / 21786]), insb. S. 22 – 27 u. ö. 61 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1968 [1785 / 21786]), S. 51. Weitere Fassungen des kategorischen Imperativs ebd. (Naturgesetzformel); ebd., S. 61 (Zweck-Formel); und ebd., S. 66 f. (Reich-der-Zwecke-Formel). 62 Das Verallgemeinerungsprinzip wurde in der Ethik verschiedentlich aufgenommen. Prominent etwa von Richard M. Hare, Kurt Baier und Bernard Gert sowie von Singer: Hare, Die Sprache der Moral (1972 [1952]); Baier, Der Standpunkt Moral (1974 [1958]); Gert, Die moralischen Regeln (1983 [1976]); Singer, Verallgemeinerung in der Ethik (1975 54 55
1. Was heißt Moral?
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sächlich ist es inzwischen diese Universalisierbarkeit, die das ethische Denken statt als teleologisches als deontologisches ausweist, und nicht etwa mehr, dass die fraglichen Normen „an sich“ gute Handlungen decken sollen. Kant glaubte noch, den moralischen Standpunkt im Wege einer apriorischen Semantik aus vorempirischen Begriffen ablesen zu können, ohne dabei den weitläufigen kontextuellen Problemen wirklicher Handlungen und Handlungstypen Sorge tragen zu müssen.63 Das führte ihn nicht nur in eine nach heutiger Erkenntnis unhaltbare Metaphysik64, sondern verschafft seiner Ethik auch das Anrüchige einer reinen Gesinnungsethik, die, wie gesehen, von den Folgen moralisch problematischer Handlungen nichts wissen will.65 Auf nachmetaphysischem Begründungsniveau kann die Bedeutung der Verallgemeinerbarkeit aber weder einfach aus Begriffen deduziert werden, noch kann der Verallgemeinerungstest selbst als begriffsanalytisches Selbstgespräch ohne (auch handlungsexterne)66 Folgenerwägungen67 vollzogen werden. Der nachmetaphysische Gehalt des Universalisierungsprinzips eröffnet sich erst unter Abzug solcher Prämissen im Rahmen einer Verantwortungsethik68. Moralisch richtig sind dann die Normen und Handlungen, denen alle Betroffenen – und zwar durchaus unter Berücksichtigung der Handlungsfolgen – zustimmen können.69 Aus dieser Sicht lässt sich für das Gerechte auch das Gute wieder einholen. Gerecht und somit moralisch richtig ist, was „für alle (gleichermaßen70) gut“ ist.71 Die moralische Intuition des Gerechten, die mit der Idee der Verallgemeinerungswürdigkeit zum Ausdruck gebracht wird, kann auch mit der Idee der „Unparteilichkeit“72 beschrieben werden. Die Gerechtigkeit zum moralischen Leit[1961]). Dazu Habermas, Diskursethik (1983), S. 74 f. Zur ethischen Verallgemeinerung ausführlich Wimmer, Universalisierung in der Ethik (1980). 63 Ausgedrückt in der Rede vom kategorischen Imperativ als „synthetisch-praktischer Satz a priori“: Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1968 [1785 / 21786]), S. 50 und durchgehend. 64 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1968 [1785 / 21786]), S. 40 u. ö. Die Schwierigkeit der metaphysischen Begründung offenbart sich besonders ebd., S. 81 – 102. Vgl. Habermas, Treffen Hegels Einwände zu? (1991 [1986]), S. 25. 65 Habermas, Treffen Hegels Einwände zu? (1991 [1986]), S. 23. 66 Vgl. Höffe, Einleitung (32003), S. 43 f. 67 So aber jedenfalls die Vorführung der beiden ersten Beispiele in Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1968 [1785 / 21786]), S. 52 f. 68 Habermas, Treffen Hegels Einwände zu? (1991 [1986]), S. 23. 69 Habermas, Treffen Hegels Einwände zu? (1991 [1986]), S. 11 f. 70 Habermas, Lawrence Kohlberg und der Neoaristotelismus (1991), S. 90. 71 Das ist kein Widerspruch zur Aussage, der moralische Standpunkt könne mit dem Guten allein nicht hinreichend bestimmt werden. Denn die Gut-Relation dient hier zur Explikation des Verallgemeinerungsgrundsatzes, der das Gerechte repräsentiert. Dass das Gerechte für die Explikation des Moralischen nicht auch auf das Gute angewiesen wäre, ist indessen nicht behauptet, sondern mit der „gut-für-alle“-Formel von Anfang an dargelegt worden. 72 Hierzu Habermas, Diskursethik (1983), S. 74 f. u. ö.; ders., Treffen Hegels Einwände zu? (1991 [1986]), S. 13 f.; ders., Gerechtigkeit und Solidarität (1991 [1986]), S. 54 u. ö.;
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II. Moralphilosophie: Diskursethik
gedanken zu erheben, bedeutet, die Begrenzungen provinzieller Horizonte zu überschreiten und moralische Bewertungen in konsequenter Wertneutralität, also im Spannungsfeld eines radikal enthierarchisierten Güterpluralismus73 vorzunehmen. Eine unparteiliche Moral kann sich nicht auf eine bestimmte hergebrachte Wertehierarchie berufen, sondern muss einen Weg finden, wie die Pluralität problematischer Lebensweisen dezentral normiert werden kann. Dieser Aspekt der Unparteilichkeit, der die pluralistische Dezentriertheit moderner Demokratien auch in normativer Hinsicht ernst nimmt, wendet sich gegen den Wertezentrismus des Kommunitarismus. In seiner Konsequenz richtet sich der Gedanke der Unparteilichkeit aber auch gegen eine utilitaristische Ethik, die Minderheitenpräferenzen und erhebungskritische Nutzenaspekte systematisch ins Hintertreffen geraten lässt. Aus einer konsequenten unparteiischen Sicht muss nämlich nicht nur von der Privilegierung bestimmter Stimmen abgesehen, sondern auch zugesehen werden, dass unterprivilegierte Stimmen zu gleichberechtigten Chancen gelangen. Damit steht die Unparteilichkeit moralischer Bewertung auch in einem direkten Zusammenhang zu einer substanziellen und wirksamen Gleichberechtigung aller Beteiligten, die den gleichen Respekt und die gleiche Achtung füreinander einfordern dürfen. So schlägt die Unparteilichkeit wieder die Brücke zur Verallgemeinerbarkeit. Dabei ist die deontologische Universalisierbarkeit ungleich anspruchsvoller als das „Universalisierungsprinzip“ des Utilitarismus, das lediglich individuelle Einzelnutzen aufsummiert und sich mit einem mathematischen Mehrheitsergebnis zufrieden gibt. Sie übersteigt auch das „verallgemeinerte“ Gute einer kollektivistisch definierten Wertegemeinschaft, indem sie nicht an kulturellen Zugehörigkeiten und geschichtlichen Wir-Identitäten Halt macht, sondern den Einbezug sämtlicher betroffener Sichtweisen fordert. Normen und Handlungen sind nicht deshalb als moralisch vorzugswürdig zu erachten, weil sie ein bestimmtes, kontingentes WerteSet bedienen, sondern weil sie vom moral point of view aus als gerecht gelten können. Die deontologische Moral besticht durch eine Formalität, die die materiale ders., Vom Pragmatischen, Ethischen und Moralischen (1991), S. 105; ders., Erläuterungen zur Diskursethik (1991), S. 138 / 152; ders. Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch (1996 [1995]), S. 66 u. ö.; ders., „Vernünftig“ versus „Wahr“ (1996), S. 102 u. ö. Das trifft auch auf Rawls zu, obwohl er seine Gerechtigkeitskonzeption mit einer explizit vom Gedanken der Unparteilichkeit unterschiedenen Reziprozität geknüpft sieht. Zwar definiert Rawls die Unparteilichkeit nämlich unzutreffenderweise als Altruismus: Rawls, Politischer Liberalismus (1998 [1993]), S. 122 / 127. In der Konstruktion des Urzustands wird mit dem Schleier des Nichtwissens der Gedanke der Reziprozität aber gleichwohl als Unparteilichkeit promoviert: Habermas, Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch (1996 [1995]), S. 67. Zum rawlsschen Urzustand sogleich, II. 2. a). Vgl. zur Unparteilichkeit auch Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1968 [1785 / 21786]), S. 18. 73 Vgl. die (auf Prinzipien ausgerichtete) pluralistische Grundsätzlichkeit bei Philippe Mastronardi: insb. Mastronardi, Juristisches Denken (22003), Rn. 1008 – 1022; ders. Verfassungslehre (2007), S. 92 f., Rn. 305 – 307 / S. 321 – 323, Rn. 981 – 986; und neuerdings ders., Angewandte Rechtstheorie (2009), S. 42 f., Rn. 104 – 109 / S. 238 – 262, Rn. 567 – 628. Ferner Birnbachers Ausführungen zum Prinzipienpluralismus: Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik (2003), S. 158 – 172.
2. Wie la¨sst sich Moral begru¨nden?
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Kontingenz des Kommunitarismus aus Gerechtigkeitsüberlegungen übersteigt, ohne sich aber in der mathematischen Indifferenz des Utilitarismus zu versteigen. Im Ergebnis ist der deontologische Moralbegriff dem teleologischen Begriff des Moralischen, wofür die utilitaristische und die kommunitaristische Sichtweise hier stellvertretend herangezogen worden sind, überlegen. Was Moral heißt lässt sich mit dem Gerechten darlegen: Die Gerechtigkeit erhebt den Anspruch, dass nur die problematischen Normen und Handlungen zulässig sind, die die Zustimmung aller möglicherweise Betroffenen verdienen.74
2. Wie lässt sich Moral begründen? Erst mit der Deontologie kann der Moralbegriff angemessen expliziert werden. Nicht was aus der Perspektive irgendwelcher Personen oder irgendeiner Personengruppe für gut befunden wird, lässt sich als moralisch richtig bezeichnen, sondern was in dem Sinn Gerechtigkeit beanspruchen kann, dass es aus der Sicht aller Betroffenen gleichermaßen gut ist. Dieser deontologische Moralansatz erhebt freilich einen äußerst hohen Anspruch – tatsächlich bezeichnet die deontologische Gerechtigkeitsmoral ja den denkbar anspruchsvollsten Sinn menschlichen Verpflichtetseins, des Gebotenen, des Sollens –, und dementsprechend anspruchsvoll nehmen sich auch die Anforderungen aus, die an die Begründung dieses Moralverständnisses zu stellen sind. Denn mit der adäquaten Explikation des Moralbegriffs, die sich bisher v. a. noch auf starke moralische Intuitionen stützt, ist zum Ziel einer überzeugenden moralphilosophischen Konzeption vorerst nur der halbe Weg beschritten. Im Folgenden muss sich noch herausstellen, dass sich das deontologische Moralkonzept auf nachmetaphysischem Begründungsniveau außerdem hinreichend begründen lässt. Gelänge das nicht, dann wäre das Ausstechen der Teleologie wohl lediglich ein Pyrrhussieg. Der hohe deontologische Anspruch müsste rückwirkend wieder aufgegeben und allenfalls eine teleologische oder noch weniger anspruchsvolle Moralkonzeption in Arbeit genommen werden. Dass dies nicht der Fall ist, soll die anstehende Aufbereitung der Diskursethik zeigen. Um auch dieses Vorhaben von vornherein auf einer kritischen Grundlage durchzuführen, wird das in Gegenüberstellung zu John Rawls’ Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness geschehen, die zwar ebenso deontologisch motiviert ist, was die Konsequenz des deontologischen Standpunkts betrifft, aber hinter der diskursethischen Argumentation zurückbleibt. Um dies zeigen zu können, ist Rawls’ Konzeption zunächst zumindest kurz vorzustellen. Die durch das Anstehende führende Leitfrage lautet dabei: Wie lässt sich Moral begründen?
74
Habermas, Diskursethik (1983), S. 73 f. / 75 / 76.
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a) Gerechtigkeit als Fairness Rawls’ Konzeption der „Gerechtigkeit als Fairness“75 zählt zu den einflussreichsten moralphilosophischen Theoriewerken der Gegenwart, die zugleich ein anspruchsvolles deontologisches Gerechtigkeitskonzept vertreten76. Im Besonderen ist Rawls’ Gerechtigkeitstheorie als Versuch einer konzeptionellen Alternative zum Utilitarismus77 zu sehen, sie bildet aber ebenso eine geradezu paradigmatische Alternative zum konzeptionellen Ansatz des Kommunitarismus78. Von ihrer einflussreichen Stellung in der moralphilosophischen Diskussion abgesehen, bietet sich die Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness hinsichtlich ihres Ansatzes ferner v. a. aus zwei Gründen an. Zum einen geht Rawls’ Anliegen dahin, den modernen Pluralismus divergierender Lebensentwürfe und Lebensweisen ernstzunehmen und ihm auch in der abstrakten Gerechtigkeitsdebatte einen Platz einzuräumen. Es ist Rawls’ Verdienst, die inzwischen verbreitete Rede vom Faktum des vernünftigen Pluralismus79 geprägt zu haben. Zum andern bemüht sich Rawls darum, den moralischen Standpunkt in eine durchgehend ohne metaphysische Anleihen arbeitende Gesamtkonzeption einzubetten.80 Methodologisch operiert Rawls deshalb zu einem Gutteil mit explikativen81 und kohärentistischen Elementen82. Die ausgefeilte83, aber in den groben Zügen recht bekannte Theoriearchitektur der Fairness-Konzeption kann hier nicht in Gänze aufbereitet werden. Hier sollen nur die wichtigsten Grundideen dargelegt werden, die ausreichen, um der Konzeption eine Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]); ders., Politischer Liberalismus (1998 [1993]); ders., A Theory of Justice (21999); ders., Collected Papers (1999). Rawls hat seine Theorie im Laufe der Zeit nicht unerheblich modifiziert, was hier nicht nachgezeichnet werden kann. Die Darstellung und Auseinandersetzung bleibt auf den mit den vorstehend aufgeführten Schriften markierten letzten Stand beschränkt. Wegmarkierend initiierend für Rawls’ Gerechtigkeitstheorie ders., A Theory of Justice (1971); anlässlich der deutschen Übersetzung modifiziert als ders., Eine Theorie der Gerechtigkeit (1975). Zur generischen Entwicklung des Theoriezusammenhangs etwa die vorausschickenden Ausführungen von Erin Kelly in Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 9 – 12. Aus der ausufernden Rawls-Kommentarliteratur nur Kersting, John Rawls zur Einführung (22001); Höffe (Hrsg.), John Rawls (1998); Pogge, John Rawls (1994); und Kley, Vertragstheorien der Gerechtigkeit (1989); sowie ders., John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit (1983). 76 Vgl. Habermas, Lawrence Kohlberg und der Neoaristotelismus (1991), S. 80. 77 Deutlich etwa Rawls, Gerechtigkeit als Fairness (22003 [22001]), S. 170 – 172. 78 Gerade an Rawls’ liberalem Denken hat der Kommunitarismus Anstoß genommen: Honneth, Einleitung (1993), S. 7. 79 Dazu sogleich. 80 Deutlich gemacht in Rawls, Gerechtigkeit politisch und nicht metaphysisch (1992 [1985]); bestätigend Habermas, Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch (1996 [1995]), S. 86. 81 Rawls, Gerechtigkeit als Fairness (22003 [22001]), z. B. S. 56 / 65. 82 Ersichtlich etwa in Rawls, Gerechtigkeit als Fairness (22003 [22001]), S. 53 – 55. 83 Vgl. Habermas’ entsprechenden Hinweis auf „den nicht leicht überschaubaren Argumentationshaushalt einer hoch komplexen und wohldurchdachten Theorie“: Habermas, Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch (1996 [1995]), S. 67. 75
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faire Chance zur Einlösung des deontologischen Ansatzes zu ermöglichen und zugleich die Differenzen zur Diskursethik deutlich werden zu lassen.84 Vor der moralphilosophischen Auseinandersetzung mit der Fairness-Konzeption der Gerechtigkeit ist allerdings noch zu klären, weshalb dies seit Rawls’ Bekenntnis zu einer politischen Gerechtigkeitskonzeption85 noch ein sinnvolles Unterfangen ist. Rawls will seine Gerechtigkeitskonzeption „nämlich nicht als Teil einer umfassenden moralischen Theorie“ aufgefasst wissen, „sondern als politische Konzeption“.86 Diese Klärung ist insofern von Bedeutung, als an dieser Stelle aus der disziplinierten Sicht der Moralphilosophie argumentiert werden soll. Würde Rawls’ Gerechtigkeitskonzeption zur moralphilosophischen Debatte gar keinen Beitrag leisten, dann handelte es sich beim Folgenden gewissermaßen um einen Kampf gegen Windmühlen. Rawls’ politische Gerechtigkeitskonzeption widerspricht jedoch nicht den Ansprüchen, die eine moralphilosophische Konzeption nach dem hier vertretenen Verständnis erhebt: Zwar entwickelt Rawls seine Gerechtigkeitskonzeption im Kontext einer (allerdings beliebigen) demokratischen Gesellschaft,87 doch insofern Rawls an einer abstrakten Gerechtigkeitskonzeption gelegen ist,88 trägt der darin erhobene Anspruch immer noch deutliche universelle Züge89. Wenn Rawls dann im Rahmen seiner Begründung an demokratischen Strukturen festhält, verlässt seine Konzeption damit nicht das moralphilosophische Feld.90 Auch liefern Rawls’ verschiedene Verwendungsweisen von 84 Fürs Folgende v. a. Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 19 – 72. Dass zunächst Rawls’ Konzeption vorgestellt wird und er in der anschließenden Kritik nicht mehr zu Wort kommt, ist nur der Darstellungssystematik geschuldet und nicht unfair. Es wird versucht, Rawls’ etwaige Gegenargumente von Anfang an in die Darstellung einzubauen. Nachvollziehen lässt sich das insb. dadurch, dass der zur Darstellung verwendete Neuentwurf von „Gerechtigkeit als Fairness“ erst nach der Auseinandersetzung mit Habermas (vgl. sogleich die Hinweise in Fn. 153) publiziert worden ist. 85 Rawls, Gerechtigkeit politisch und nicht metaphysisch (1992 [1985]); ausführlich ausgearbeitet dann in ders., Politischer Liberalismus (1998 [1993]), insb. ebd., S. 76 – 81. 86 Rawls, Gerechtigkeit als Fairness (22003 [22001]), S. 15 und i. d. S. durchgehend. 87 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 37 f. u. ö. Die Ausweitung der Konzeption auf eine internationale Ebene in Rawls, Das Recht der Völker (2002 [1999]), nimmt dabei eher eine weitere Kontextualisierung (nämlich in Bezug auf eine internationale Gemeinschaft) als eine weitere Stufe der Kontextentschränkung vor: „[Die Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness] gilt zunächst für die Grundstruktur, während jene anderen Fragen der lokalen Gerechtigkeit ebenso wie auch Fragen der globalen Gerechtigkeit (in meiner Terminologie: des Völkerrechts) so gesehen werden, daß sie eine Betrachtung ihrer Besonderheiten verlangen.“: Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 33, H. n. O. Diese Erweiterung kann hier nicht berücksichtigt werden. Zu Rawls’ Fairness-Konzeption unter Einbezug dieses Teils Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 110 – 115, Rn. 354 – 369. 88 „[P]raktikables Ziel der Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness“ sei es, „eine akzeptable philosophische und moralische Basis für demokratische Institutionen zu liefern [ . . . ].“: Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 24, H. n. O. 89 Vgl. Habermas, Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch (1996 [1995]), S. 65 / 78 f. 90 Freilich ist zu fragen, ob eine solche Begründung dem erhobenen Anspruch gerecht werden kann.
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„politisch“91 keine Ausschlusskriterien für eine moralphilosophische Inarbeitnahme seiner Konzeption. Denn weder stehen mit der Konzentration auf die Grundstruktur einer wohlgeordneten Gesellschaft bereits konkrete politische Institutionen zur Diskussion,92 noch schließt Rawls’ in der Gegenüberstellung zu „metaphysisch“ entwickelter Begriff von „politisch“93 eine moralphilosophische Debatte aus. Metaphysisch soll die fragliche Gerechtigkeitskonzeption auch aus der hier vertretenen Sicht nicht sein. Für die moralphilosophische Diskussion ist Rawls’ Gerechtigkeitskonzeption also durchaus geeignet. Strukturell gesehen, nimmt die Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness ihren Ausgang bei der Idealvorstellung eines fairen Kooperationssystems,94 Die Gesellschaft als faires System der Kooperation95 zu begreifen, bedeutet v. a., dass das menschliche Zusammenleben unter Bedingungen verlaufen soll, die die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft als fair anerkennen. Rawls bringt das mit der „Idee der fairen Modalitäten der Zusammenarbeit“ zum Ausdruck. „Dabei handelt es sich um Modalitäten, die jeder Beteiligte vernünftigerweise akzeptieren kann [ . . . ]. Faire Modalitäten der Kooperation bestimmen eine Idee der Reziprozität oder der Gegenseitigkeit: Alle, die gemäß den Forderungen der anerkannten Regeln ihren Beitrag leisten, sollen einem öffentlichen und übereinstimmend bejahten Maßstab entsprechend ihren Nutzen genießen.“96 Aus dieser Grundüberlegung der Reziprozität und der allgemeinen Akzeptabilität lässt sich unschwer der deontologische Standpunkt ablesen. Die einzelnen am kooperativen Geschehen Beteiligten sollen durchaus „ihren Nutzen genießen“, d. h. das jeweils für sie Gute in Anspruch nehmen können, aber nur so weit, wie dieser Genuss den Ansprüchen eines öffentlich gerechtfertigten97, d. h. für alle akzeptierbaren Maßstabs genügt. Das Gute soll sich am Maßstab des Gerechten messen lassen. Was Rawls mit der Grundüberlegung der Gesellschaft als faires Kooperationssystem also vorschwebt, ist nichts anderes als eine im deontologischen Sinn gerechte Ordnung des Zusammenlebens. 91 Dazu Habermas, Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch (1996 [1995]), S. 90 f.; ders., „Vernünftig“ versus „Wahr“ (1996), S. 95 f. 92 Die Konzentration auf die Grundstruktur zielt ja gerade auf die (abstrakte) „Binnengerechtigkeit“ und nicht auf die (konkrete) „lokale Gerechtigkeit“: Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 33 f. Vgl. auch Fn. 88. Zur Grundstruktur sogleich. 93 Fn. 85. Dazu Habermas, „Vernünftig“ versus „Wahr“ (1996), S. 97 f. u. ö. 94 Für Rawls die „fundamentalste“ oder „zentrale Idee“ im Fairness-Konzept. Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 25 u.ö. 95 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 24 – 29. 96 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 26. 97 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 55 – 59. Ebd., S. 56: „Unsere politischen Urteile gegenüber anderen öffentlich rechtfertigen heißt, diese anderen durch öffentlichen Vernunftgebrauch überzeugen [ . . . ]. Öffentliche Rechtfertigung geht von einem Konsens aus; von Prämissen, bei denen man vernünftigerweise erwarten kann, daß sie von allen am Meinungsstreit beteiligten [ . . . ] freien, gleichen und ganz denkfähigen Parteien angemessen und aus ganz freien Stücken gebilligt werden.“ Zur Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs ebd., S. 144 – 152.
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Im Weiteren arbeitet Rawls die Vorstellung vom fairen Kooperationssystem mit zwei Hauptelementen weiter aus: mit der Idee der freien und gleichen Personen und mit der Idee der wohlgeordneten Gesellschaft.98 In Rawls fairer Kooperationsordnung werden sämtliche Mitglieder der Gesellschaft als freie und gleiche Personen99 aufgefasst, die in der Lage sind, die Anforderungen an eine gerechte Gesellschaftsordnung zu verstehen und auch umzusetzen („die Anlage zum Gerechtigkeitssinn“), sowie die Fähigkeit besitzen, einen je eigenen glücklichen Lebensentwurf zu konzipieren und auch diesem entsprechend zu handeln („die Fähigkeit, sich eine Vorstellung vom Guten zu machen“)100. Zudem will Rawls seine ideale Gesellschaftsordnung als wohlgeordnet verstehen. Als wohlgeordnete Gesellschaft101 betrachtet Rawls eine „Gesellschaft, die von einer öffentlichen Gerechtigkeitskonzeption wirksam reguliert wird.“102 Das soll heißen, dass die Personen, die Teil dieser Gesellschaft sind, exakt dieselbe Gerechtigkeitskonzeption und damit exakt dieselben Gerechtigkeitsprinzipien anerkennen und außerdem wissen, dass das so ist, sodass die Gerechtigkeitskonzeption tatsächlich Steuerungskraft entfaltet.103 Es lässt sich also sagen, dass es in der Idealvorstellung der wohlgeordneten Gesellschaft die Gerechtigkeit ist, die die Ordnung des Zusammenlebens „effektiv reguliert“104. Rawls’ Vorstellung vom fairen Kooperationssystem als wohlgeordnete Gesellschaft ist (in dieser Hinsicht) eine Herrschaft des Rechts. An diesem Vorbild einer gerechten Gesellschaftsordnung interessiert Rawls nun die Grundstruktur. In der Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness sei sie der kapitale Gegenstand der Gerechtigkeitsfrage.105 Unter der Grundstruktur106 versteht Rawls „die Art und Weise, in der sich die wichtigsten politischen und sozialen Institutionen der Gesellschaft in ein System der sozialen Kooperation einfügen, sowie die Art und Weise, in der sie die grundlegenden Rechte und Pflichten zuordnen und die Aufteilung der im Laufe der Zeit aus der sozialen Zusammenarbeit hervorgehenden Vorteile regeln.“107 Die Grundstruktur bezieht sich also nicht schon auf die politischen und sozialen Institutionen selbst, sondern bildet vorerst nur den strukturellen Rahmen, in den sich solche konkreteren gerechtigkeitsreleRawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 25. 99 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), insb. S. 44 – 55. 100 Zusammengenommen versteht Rawls darunter „die beiden moralischen Vermögen“: Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 44. 101 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 29 – 31. 102 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 29. Vgl. auch ebd., S. 55 / 62 u. ö. 103 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 29 f. 104 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 56. „Faires Kooperationssystem“ und „wohlgeordnete Gesellschaft“ sind also nicht synonym zu verstehen. Während das Erste die deontologische Grundidee ausdrücken soll, hat die Wohlgeordnetheit, wie ausgeführt, einen spezifischen (zusätzlichen) Wirkungsaspekt. 105 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 32. 106 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 31 – 35. 107 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 31 f., m. w. H. 98
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vanten Gegenstände einfügen. „Eine gerechte Grundstruktur gewährleistet, wie man vielleicht sagen darf, die Hintergrundgerechtigkeit.“108 Dieser an anderer Stelle auch „Binnengerechtigkeit“ genannte Problembezug soll sich von den konkreten Problemen der „lokalen Gerechtigkeit“109 nicht ablösen, sie soll gerade eine normative Grundlage schaffen, von der aus konkretere normative Probleme beurteilt werden können. Für die Entwicklung der (im rawlsschen Sinn) politischen Gerechtigkeitskonzeption sollen diese Probleme jedoch noch nicht in den Blick kommen.110 Die bisherigen Elemente der Fairness-Konzeption zusammengefasst, geht es Rawls also um die Grundstruktur eines fairen Systems sozialer Kooperation als wohlgeordnete Gesellschaft freier und gleicher Personen. Die Frage, wie denn nun eine solche Grundstruktur aussehen soll,111 welcher grundlegenden Struktur die fairen Modalitäten einer wohlgeordneten Gesellschaft freier und gleicher Personen also folgen sollte, beantwortet Rawls mit den beiden Gerechtigkeitsprinzipien der Fairness-Konzeption112. Das erste Prinzip lautet: „Jede Person hat den gleichen unabdingbaren Anspruch auf ein völlig adäquates System gleicher Grundfreiheiten, die mit demselben System von Freiheiten für alle vereinbar sind.“ Das zweite Prinzip enthält zwei Teilprinzipien, die zusammengenommen folgendermaßen lauten: „Soziale und ökonomische Ungleichheiten müssen zwei Bedingungen erfüllen: erstens müssen sie mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die unter Bedingungen fairer Chancengleichheit allen offenstehen; und zweitens müssen sie den am wenigsten begünstigten Angehörigen der Gesellschaft den größten Vorteil bringen (Differenzprinzip).“ Unter den beiden Prinzipien und innerhalb des zweiten Prinzips gilt dabei eine Vorrangregel, die besagt, dass das erste Prinzip der gleichen Freiheiten Vorrang vor dem zweiten Prinzip der gerechtfertigten Ungleichheiten genießt und das Chancengleichheitsprinzip Vorrang vor dem Differenzprinzip hat.113 Dieser Vorrang ist so zu verstehen, dass ein niederrangigeres Prinzip erst dann zum Zuge kommen darf, wenn das höherrangige Prinzip erfüllt ist.114 Soziale und ökonomische Ungleichheiten sind also überhaupt nur zulässig, wenn jeder einzelnen Person auch wirklich die gleichen Grundfreiheiten zukommen. Bedingung der Ungleichheiten ist dann die Chancengleichheit. Wenn diese gegeben ist und sich dennoch Ungleichheiten einstellen, kommt schließlich dass Differenzprinzip zum Zug. 108 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 32. Ebd. spricht Rawls auch von „gerechten Hintergrundinstitutionen“. 109 Rawls schließt sich in diesem Punkt Jon Elster an: Elster, Local Justice (1992). 110 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 33 – 35. Dies verdeutlicht nochmals den moralphilosophischen Charakter von Rawls’ „politischer“ Gerechtigkeit. Die Differenzierung zwischen Binnengerechtigkeit und lokaler (sowie globaler) Gerechtigkeit ebd., S. 33 f. 111 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 73. 112 Ausführlich Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 73 – 131, insb. 77 – 88. Die folgenden Zitate der Gerechtigkeitsprinzipien finden sich ebd., S. 78. 113 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 78. 114 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 78.
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Es versteht sich, dass all die bisher genannten Elemente und Prinzipien der Fairness-Konzeption in hohem Maße normativ geprägt sind. In Rawls’ Konzeption haben weder die Grundstruktur des fairen Kooperationssystems noch die Teilelemente der freien und gleichen Personen115 oder die wohlgeordnete Gesellschaft116 noch die Gerechtigkeitsprinzipien einen faktischen Status. Als kontrafaktische Ideale bilden sie gemeinsam eine „realistische Utopie“117. Nun wird dieses Idealbild mit einer recht widerspenstigen Realität konfrontiert. Rawls sieht zutreffend, dass es sich bei modernen Kooperationssystemen nicht mehr um ideell vereinheitlichte Gemeinschaften handeln kann, sondern nur noch um Gesellschaften, in denen sich eine Vielzahl von miteinander konkurrierenden, z. T. aber fundamental verschiedenen und unvereinbaren Welt- und Lebensweisen vorfindet.118 Solche konzeptionellen Lebensentwürfe, die die Vorstellung der Menschen vom Guten und Gerechten in je umfassender Weise erklären („nach religiöser, philosophischer und moralischer Wahrheit [ . . . ] streben“119), bezeichnet Rawls als (metaphysische120) „religiöse, philosophische oder moralische Globallehre[n]“121. Diesen mit je eigenen Vernunft- und Legitimationsvorstellungen ausgestatteten122 Globallehren spricht Rawls eine Vernünftigkeit123 zu, die er vom Standpunkt seiner (zurückhaltenden, i. d. S. politischen) Gerechtigkeitskonzeption aus nicht weiter zu beurteilen können glaubt und auch nicht beurteilen will124. So konstatiert Rawls das Faktum eines vernünftigen Pluralismus125, einen Pluralismus je vernünftiger Weltbilder, der in modernen Gesellschaften zudem als dauerhafte Erscheinung gelten kann126. Von 115 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 52: „Betonen möchte ich, daß die Konzeption der Person als eines freien und gleichen Wesens eine normative Konzeption ist [ . . . ].“ Vgl. auch ebd., S. 29. 116 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 30: „Die Idee der wohlgeordneten Gesellschaft ist offensichtlich eine weitgehende Idealisierung.“ 117 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 23. 118 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 22 u. ö. 119 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 58 f. 120 Vgl. Fn. 85 und 93. 121 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 58. An anderen Stellen ist auch die Rede von „Globalvorstellungen“, „Globaltheorien“ u. ä.: ebd., S. 22 / 54 / 64 f. u. ö. Ausführlich ders., Politischer Liberalismus (1998 [1993]), S. 132 – 141. Nach Rawls muss nicht jedes Mitglied einer modernen Gesellschaft auch tatsächlich über eine „gut artikulierte Globallehre“ verfügen. Womöglich besäßen sogar die meisten nur ein lose zusammenhängendes Arsenal an Werten. Der pluralistischen Deutung der modernen Gesellschaft und der Konsistenz der rawlsschen Konzeption tut dies jedoch keinen Abbruch: ders., Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 65. 122 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 17. 123 Er spricht von „vernünftigen Globallehren“: Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 22, H. n. O. Vgl. auch ebd., S. 66 u. ö. 124 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 71. 125 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 17 / 22 und durchgehend, insb. S. 66. 126 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 66.
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diesem realistischen Faktum des vernünftigen Pluralismus wird das normative Idealbild einer von allen akzeptierten Gerechtigkeitsordnung stark herausgefordert. Rawls ist natürlich davon überzeugt, dass seine Konzeption eines fairen Gesellschaftssystems Freier und Gleicher, in dem die beiden genannten Gerechtigkeitsprinzipien wirksam sind, auch vor dem Hintergrund dieser sperrigen Realität für alle akzeptabel ist. Weil Rawls das Faktum des vernünftigen Pluralismus so versteht, dass es prinzipiell keinen Standpunkt gibt, von dem aus die diversen, an sich vernünftigen Weltbilder kritisiert werden können, braucht er eine Doppellösung, die sowohl die Vernünftigkeit der Globallehren für sich bestehen lässt als auch eine für alle akzeptierbare Gerechtigkeitskonzeption ermöglicht. Das führt ihn zur Idee eines übergreifenden Konsenses. Unter einem (vernünftigen) übergreifenden Konsens127 über eine Gerechtigkeitskonzeption stellt sich Rawls vor, „daß die politische Konzeption von den vernünftigen, wiewohl entgegengesetzten religiösen, philosophischen und moralischen Lehren getragenen wird.“128 Die Mitglieder der fairen Gesellschaft bejahen die Gerechtigkeitskonzeption also, jedenfalls zur Gänze, nicht aus denselben Gründen, sondern aus jeweils eigenen Gründen, die der jeweiligen Globallehre, der sie anhängen, entsprechen. „Das ist“, so Rawls, „die vernünftigste Grundlage der politischen und sozialen Einheit, die den Bürgern einer demokratischen Gesellschaft zu Gebote steht.“129 Damit meint Rawls, die Anforderungen an die allgemeine Akzeptabilität einer Gerechtigkeitskonzeption und somit auch die Idee der öffentlichen Rechtfertigung130 auf ein realistisches Niveau gehoben zu haben.131 Die Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness, soll also als gültig zu betrachten sein, wenn sie einem übergreifenden Konsens divergierender Meinungen entspricht. Die Fairness-Konzeption der Gerechtigkeit wäre aber falsch verstanden, wenn der übergreifende Konsens lediglich als die garantierte132 Schnittmenge der faktisch in einer Gesellschaft vorzufindenden Gerechtigkeitsauffassungen gesehen würde. „Wir halten uns nicht an die faktisch existierenden Globallehren, um anschließend eine politische Konzeption zu entwerfen, die zwischen ihnen ein Gleichgewicht herstellt, das speziell dem Zweck dienen soll, die loyale Gefolgschaft ihrer Anhänger zu gewinnen.“133 Der Konsens bleibt weiterhin ein anzustrebendes Ideal, das, „sofern man Glück und genügend Zeit hat“ auf „eine ausreichende Zahl von Anhängern“ hoffen darf.134 Wie kann die allgemeine Akzeptabalität (und somit die öffentliche Legitimität) der Fairness-Konzeption als 127 128 129 130 131 132 133 134
Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 63 – 72. Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 64. Ebd. auch das Folgende. Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 64. Vgl. Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 58 f. Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 63. Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 70. Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 71. Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 70 – 72, Zitate auf S. 71.
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übergreifender Konsens aber gezeigt oder zumindest plausibel gemacht werden? Zur Klärung dieser Frage bringt Rawls einen weiteren Gesichtspunkt ins Spiel: die Idee des Überlegungsgleichgewichts135: „Die vernünftigste politische Konzeption ist für uns diejenige, die nach einigem Nachdenken am besten zu allen unseren wohlerwogenen Überzeugungen paßt und diese zu einer kohärenten Auffassung ordnet. [ . . . ] Denn für das praktische Ziel einer vernünftigen Einigung über Angelegenheiten der politischen Gerechtigkeit ist nichts weiter erforderlich als Kohärenz der wohlerwogenen Überlegungen [ . . . ].“136 Rawls ist der Auffassung, dass die Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness allgemeine Gültigkeit beanspruchen darf, weil sie in der reiflichen, wohlerwogenen Überlegung jeder vernünftigen Person als überzeugend hingenommen werden kann. Rawls differenziert verschiedene Stufen des Überlegungsgleichgewichts:137 Im sog. engen Überlegungsgleichgewicht ordnet eine Person ihre eigenen, bereits vorhandenen und argumentativ noch nicht gewichteten Vorstellungen zu einer widerspruchsfreien (Gerechtigkeits-)Konzeption.138 Dieser Gleichgewichtszustand lässt sich als eine lediglich nach innen gerichtete reflexive Ordnung verschiedener konzeptioneller Elemente beschreiben. Um die allgemeine Akzeptabilität einer Konzeption ausweisen zu können, reicht dieser Zustand freilich nicht hin. Deshalb geht Rawls über zu einem sog. weiten Überlegungsgleichgewicht. Bei diesem kommen auch alternative Konzeptionen, im fraglichen Kontext heißt das: „die wichtigsten politischen Gerechtigkeitskonzeptionen, die in unserer philosophischen Tradition zu finden sind“, in den Blick, und die Kraft der verschiedenen Argumente sei zu gewichten.139 Erst dieses weite Überlegungsgleichgewicht hält Rawls für maßgeblich.140 Wenn nun, so Rawls’ Auffassung, jede vernünftige Person versucht, ein weites Überlegungsgleichgewicht zu erreichen, besteht auch die Chance auf ein sog. generelles (und zugleich volles) Überlegungsgleichgewicht: „[E]in und dieselbe Konzeption wird von den wohlerwogenen Urteilen aller bejaht.“141 Damit wäre Rawls’ Bedingung eines übergreifenden Konsenses und somit seine Anforderungen an die öffentliche Rechtfertigung erfüllt. Dass die Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness als Ergebnis eines generellen Überlegungsgleichgewichts geeignet ist, sieht er dabei durch Dreierlei begünstigt:142 Erstens beschränke sich die Konzeption auf die Grundstruktur eines gesellschaftlichen Kooperationssystems, zweitens beanspruche die Gerechtigkeitskonzeption als politische in dem Sinn keine umfassende Geltung, dass sie mit den verschiedenen metaphysischen 135 136 137 138 139 140 141 142
Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 59 – 63. Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 63. Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 61 f. Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 61 f. Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 62. Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 62. Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 62. Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 65, vgl. auch S. 55 f.
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Globallehren konkurrieren müsste, und drittens handle es sich bei den Grundideen der Fairness-Konzeption ja um vertraute Elemente der öffentlichen politischen Kultur. Die Verallgemeinerungswürdigkeit der Fairness-Konzeption soll schließlich auf folgende Weise illustriert werden. Mit der Idee des Urzustands143 konstruiert Rawls ein Gedankenexperiment, in das sämtliche Theoreme seiner Konzeption so eingefasst sein sollen, dass jede vernünftige Person dieses Experiment durchspielen und, sofern sie es tatsächlich durchspielt, die Fairness-Konzeption auch akzeptieren kann. In diesem Gedankenexperiment stellt Rawls die Gerechtigkeitsprinzipien eines idealen Kooperationssystems als Ergebnis eines Vertrags zwischen freien und gleichen Personen dar.144 Um dorthin zu gelangen, versieht Rawls die Ausgangslage des Vertragsschlusses, den Urzustand, den er als hypothetisch und nicht-historisch verstanden wissen will,145 mit einem spezifischen normativen Design.146 Die vertragschließenden Personen werden darin hinter einem Schleier des Nichtwissens situiert, der sie einiger sonst offener Kenntnisse beraubt: „Im Urzustand dürfen die Beteiligten weder die soziale Stellung noch die besonderen Globaltheorien der von ihnen repräsentierten Personen kennen. Ebenso wenig kennen sie die rassische und ethnische Gruppenzugehörigkeit der Personen, ihr Geschlecht oder ihre diversen angeborenen Fähigkeiten wie Stärke und Intelligenz [ . . . ].“147 Für das Aushandeln der gerechten gesellschaftlichen Grundstruktur hat diese Informationsbeschränkung eine argumentationsbeschränkende Wirkung, da sich die kontrahierenden Personen nicht mehr auf bestimmte gesellschaftliche Stellungen berufen können.148 Außerdem die Bedingung hinzugenommen, dass die Personen den Vertrag unter symmetrischen Bedingungen schließen, soll der Urzustand „als Modell für das dienen [ . . . ], was wir bei gebührendem Nachdenken für die vernünftigen Überlegungen zur Fundierung der Prinzipien einer politischen Gerechtigkeitskonzeption erachten.“149 Das hypothetische Urzustand-Experiment soll also nicht, was Ronald Dworkin kritisiert,150 schon selbst die Gültigkeit der Gerechtigkeitsprinzipien verbürgen, Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 38 – 44. 144 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 38 f. Rawls schließt sich damit an Vertragstheorien wie die von Thomas Hobbes, John Locke oder Jean-Jacques Rousseau an. In jüngerer Zeit mit Vertragselementen argumentierend etwa Robert Nozick, James Buchanan und Otfried Höffe. Zum ethischen Kontraktualismus Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags (1994); insb. zu Rawls, Nozick und Buchanan Kley, Vertragstheorien der Gerechtigkeit (1989), insb. zu Höffe Kersting (Hrsg.), Gerechtigkeit als Tausch? (1997). 145 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 41. 146 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 39 f. 147 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 40. 148 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 42 / 43. Ebd. auch die folgend genannte Bedingung. 149 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 43. 150 Dworkin, Gerechtigkeit und Rechte (1984 [1973]), insb. S. 253 – 257. 143
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sondern eine akzeptable Modellabbildung der in der Fairness-Konzeption enthaltenen Elemente liefern, die es den einzelnen Mitgliedern einer Gesellschaft erlaubt, die rawlsschen Gerechtigkeitsprinzipien auf ihre allgemeine Akzeptabilität hin zu testen: „Also wenn der Urzustand [ . . . ] ein geeignetes Modell abgibt, werden wir vermuten, daß die von den Parteien im Einigungsprozeß anerkannten Gerechtigkeitsprinzipien [ . . . ] eben jene Kooperationsbedingungen bestimmen würden, die wir – hier und jetzt – als fair und von den triftigen Gründen als gestützt ansähen.“151 So übernimmt das Gedankenexperiment eine Art Katalysatorfunktion für einen öffentlich gerechtfertigten übergreifenden Konsens. Die Idee des Urzustands miteinbezogen, ergibt sich für die in deontologischer Absicht konstruierte Fairness-Konzeption also folgendes Gesamtbild: Rawls sucht eine Gerechtigkeitskonzeption, die angesichts des Faktums des vernünftigen Pluralismus als realistische Utopie kein Idealbild bleiben soll, sondern auch wirklich die Zustimmung jeder vernünftigen Person finden kann, sofern sie die alternativen Gerechtigkeitskonzeptionen in einer wohlerwogenen Überlegung prüft. Dementsprechend hält er eine durch Gerechtigkeitsprinzipien spezifizierte Konzeption für öffentlich legitimierbar, die auch vom Standpunkt sämtlicher vernünftigen Globallehren aus i. S. eines übergreifenden Konsenses akzeptabel ist. Als eine solche betrachtet er die Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness, deren beide Prinzipien der gleichen Grundfreiheiten und der fairen Chancengleichheit einschließlich des Differenzprinzips die faire Grundstruktur eines wohlgeordneten Kooperationssystems freier und gleicher Personen konstituieren sollen. Das Gedankenexperiment des Urzustands soll dabei als Darstellungsmodell dienen, das zeigt, wie die konzeptionellen Voraussetzungen der Gerechtigkeitskonzeption im Wege einer von jeder Person durchführbaren reiflichen Überlegung zu exakt denselben Gerechtigkeitsprinzipien führen. b) Diskursethik Unter den ethischen Konzeptionen, die in der Absicht antreten, den moralischen Standpunkt überzeugend zu begründen, setzt Rawls’ Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness, die hier nur in den wichtigsten Grundzügen dargestellt werden konnte, eine Marke. Es fragt sich allerdings, ob Rawls den Ansprüchen an eine deontologische Gerechtigkeitskonzeption tatsächlich Genüge tut. I. S. eines deontologischen Familienstreits152 wird dies von Habermas mit schlagkräftigen Argumenten infrage gestellt.153 Mit Habermas lässt sich erörtern, dass Rawls den moralischen GeRawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 42. 152 Habermas, Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch (1996 [1995]), S. 65 f. 153 Habermas, Diskursethik (1983), S. 76 – 78 / 89; ders., Gerechtigkeit und Solidarität (1991 [1986]), S. 54 – 56; ders., Erläuterungen zur Diskursethik (1991), S. 125 – 131 / 204 – 208; ders., Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch (1996 [1995]). Entgegnung durch Rawls in Rawls, Erwiderung auf Habermas (1997); Erwiderung auf die Erwiderung durch Habermas in Habermas, „Vernünftig“ versus „Wahr“ (1996). Zur Debatte zwischen Rawls und Habermas Forst, Das Recht auf Rechtfertigung (2007), S. 127 – 186. 151
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sichtspunkt nicht mit der Konsequenz verteidigt, die seine universalistische Begründungsbedürftigkeit nötig hätte. Im Folgenden sollen deshalb (1) mit Habermas einige besonders kritische Punkte der Fairness-Konzeption aufgegriffen werden, in denen Rawls hinter einer mit guten Gründen vertretbaren Gerechtigkeitskonzeption zurückbleibt, z. T. aber auch darüber hinausgeht. Die Rawls-Kritik soll dann (2) in die konstruktive Argumentation der habermasschen Diskursethik überführen, wo die bei Rawls diagnostizierten Schwächen vermieden werden sollen. Weil freilich auch die von Habermas vertretene diskursethische Moralkonzeption nicht unangefochten dasteht, bedarf es (3) einer Auseinandersetzung mit jedenfalls einigen schwerwiegenden Einwänden gegen die Diskursethik, was, was die Diskursethik betrifft, auch zur einen und anderen Klarstellung oder Interpretation führen wird. Aufgrund der Beschränkungen, die die interdisziplinäre Untersuchung der moralphilosophischen Diskussion auferlegt, konzentrieren sich auch all diese Ausführungen nur aufs Wesentliche. (1) Aus einer kritischen Perspektive auf Rawls’ Gerechtigkeitskonzeption fällt zunächst auf, dass die moralischen Akteure im Gedankenexperiment des Urzustands154 die Gerechtigkeitsprinzipien vertraglich, d. h. auf der Grundlage egoistischer Vorteilserwägungen aushandeln.155 Die als frei und gleich unterstellten Personen werden im Urzustand sozusagen auf das „moralische“ Vermögen, sich eine Vorstellung vom Guten zu machen, reduziert, und der Sinn für Gerechtigkeit wird ausgeblendet. Aus deontologischer Sicht bedeutet der Rekurs auf die Vertragstheorie allerdings „einen Rückgriff hinter Kant“156, der die entsprechende Konzeption eher ins teleologische Licht des Utilitarismus rückt. Nun konstruiert Rawls den Urzustand aber als „Zusammenspiel des rationalen Egoismus mit den normativ gehaltvollen Bedingungen“157. Der Kniff des Gedankenexperiments besteht darin, dass der Vertrag zwischen den wechselseitig desinteressierten Egoisten unter Bedingungen stattfinden soll, unter denen das aufgeklärte Selbstinteresse der Parteien zu einem gerechten Ergebnis führt.158 Es stellt sich aber die Frage, was die auf den Sinn fürs Gute zurückgestutzen Personen überhaupt dazu bewegen kann, die normativen Bedingungen des Gedankenexperiments zu akzeptieren, ja, es fragt sich, wie sie überhaupt ein Gedankenexperiment in Angriff nehmen können, das nur zu dem Zweck eingerichtet ist, die maßgeblichen Prinzipien der Gerechtigkeit 154 Kritisch dazu Habermas, Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch (1996 [1995]), S. 67 – 77, m. w. H.; sowie bereits ders., Gerechtigkeit und Solidarität (1991 [1986]), S. 54 – 56. 155 Habermas, Gerechtigkeit und Solidarität (1991 [1986]), S. 56; ders., Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch (1996 [1995]), S. 67 f. 156 Habermas, Gerechtigkeit und Solidarität (1991 [1986]), S. 54. 157 Habermas, Gerechtigkeit und Solidarität (1991 [1986]), S. 55. 158 Mit dieser „Arbeitsteilung zwischen subjektiver Wahlrationalität und geeigneten objektiven Beschränkungen“ vollzieht Rawls nach Habermas eine Zergliederung der politischen Autonomie: Habermas, Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch (1996 [1995]), S. 67 i. V. m. 70; vgl. ebd., S. 89.
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zu eruieren.159 Dafür fehlt ihnen offensichtlich der ansonsten zugesprochene Gerechtigkeitssinn. Wenn es aber dieser sein soll, der die besagte Inkonsistenz überbrückt, verliert das egoistisch-rationale Entscheidungsverfahren seinen Witz:160 Warum sollten den kognitiven Gehalt moralischer Urteile verstehende Subjekte diesen noch im Wege eines utilitaristischen Entscheidungsspiels einfangen wollen? Mit teleologischen Mitteln lässt sich die deontologisch verstandene Moral nicht begründen.161 Außerdem ist zweifelhaft, ob das Urzustand-Modell überhaupt geeignet ist, die Unparteilichkeit seines Ergebnisses zu verbürgen.162 Indem er nämlich der durch den Schleier des Nichtwissens charakterisierten Situation auferlegt, für die Unparteilichkeit der Ergebnisse zu bürgen, handelt sich Rawls das Problem ein, genau die (materiellen) Gesichtspunkte treffen zu müssen, unter deren Ausschluss normative Entscheidungen – und zwar über das gesamte problematische Substrat eines gesellschaftlichen Kooperationssystems hinweg – als fair beurteilt werden können.163 Die Lösung dieses Problems verlangt nicht nur geradezu hellseherische Fähigkeiten, sondern zwingt Rawls auch dazu, als Moralphilosoph Partei zu ergreifen. „Mit anderen Worten: auf den Theoretiker selbst fällt die Last der Informationsverarbeitung zurück, die er den Parteien im Urzustand abnimmt! Die Unparteilichkeit des Urteils würde im Urzustand nur dann garantiert sein, wenn die für dessen Konstruktion verwendeten normativen Grundbegriffe [ . . . ] revisionsfest wären gegenüber künftigen Erfahrungen und Lernprozessen.“164 Damit mutet sich Rawls zu viel zu. Unparteilichkeit kann nicht dadurch gesichert werden, dass die problematischen Situationen ihrer Kontexte beraubt werden. Die Art von „Dekontextualisierung“, die den Begriff der Unparteilichkeit auf adäquate Weise wiedergibt, bedeutet vielmehr, dass die hergebrachten Kontexte einem (interkontextuellen) Verallgemeinerungstest unterzogen werden. Das zu sehen, ist Rawls nicht in der Lage, weil er sein Gedankenexperiment als monologisches Verfahren versteht165. Erst wenn den Betroffenen konsequenterweise zugemutet wird, das Für-alle-gleichermaßen-Gute im kritischen Dialog selbst zu bestimmen, verlieren die jeweiligen kontextuellen Situierungen ihr konzeptionelles Störpoten159 Habermas, Gerechtigkeit und Solidarität (1991 [1986]), S. 56, m. w. H.; ders., Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch (1996 [1995]), S. 69 f. 160 Habermas, Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch (1996 [1995]), S. 70. 161 Darüber hinaus zeigt Habermas, dass auch die Herabstufung von Rechten zu Gütern als „Verhandlungsgegenstand“ des Urvertrags Schwierigkeiten mit sich bringt, die Rawls nur mit Zusatzbedingungen retten kann, die das teleologisch angelegte Gedankenexperiment ein weiteres Mal unterlaufen: Habermas, Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch (1996 [1995]), S. 71 – 74, m. w. H. 162 Habermas, Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch (1996 [1995]), S. 74 – 77. 163 Habermas, Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch (1996 [1995]), S. 76. 164 Habermas, Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch (1996 [1995]), S. 76 f. Zitat auf S. 77. 165 Kritisch dazu schon Habermas, Diskursethik (1983), S. 76.
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zial.166 Statt jedoch die fairen Bedingungen eines kontextsensiblen Dialogs zu untersuchen, setzt Rawls im Urzustand auf einen dekontextualisierten Monolog. Nun fungiert die Idee des Urzustands allerdings nur (noch) als Darstellungsmodell der Fairness-Konzeption. Wenn es als solches aber ernstgenommen werden soll, ist die darin ausgedrückte Grundhaltung der Gesamtkonzeption durchaus kritisierbar. Aber auch auf der Ebene der Begründung, wo nun „die Bürger aus Fleisch und Blut“ die Gerechtigkeitskonzeption rekursiv auf ihre Akzeptabilität hin überprüfen sollen,167 werden Probleme sichtbar, die die Begründung eines konsequenten deontologischen Standpunkts verfehlen. So lässt sich etwa feststellen, dass die Monologik dem Verallgemeinerungstest auch dann noch eingeschrieben bleibt, wenn es darum geht, die Fairness-Konzeption durch einen übergreifenden Konsens öffentlich zu rechtfertigen. Denn auch die Figur des weiten Überlegungsgleichgewichts, nach der die kritischen Gesellschaftsmitglieder die fragliche Gerechtigkeitskonzeption auch im Vergleich mit alternativen Konzeptionen auf Herz und Nieren prüfen sollen, hängt einem methodischen Individualismus nach: „Der übergreifende Konsens ergibt aus der von allen gleichzeitig, aber von jedem einzeln und je für sich vorgenommenen Kontrolle, ob die vorgeschlagene Konzeption in sein eigenes Weltbild paßt.“168 Der Vorwurf fehlender Dialogik, der bereits für den Urzustand erhoben werden musste, gilt deshalb auch auf dieser Begründungsebene: „Wie den Kategorischen Imperativ, so muß auch jeder das Rawlssche Prüfmodell für sich allein – ,in der Vorstellung‘ – anwenden können.“169 Auf diese Weise bleibt es den Betroffenen verwehrt, ihre triftigen Gründe gegenseitig auszutauschen. „Es fehlt, wie wir sagen können, der ,moralische Gesichtspunkt‘, unter dem die Bürger in gemeinsamer öffentlicher Beratung eine politische Konzeption entwickeln und rechtfertigen könnten.“170 Die Übergewichtung der individualistischen Komponente, die hinter dem rawlsschen Monologismus steht, zieht sich bis zur Vorstellung der öffentlichen Rechtfertigung bzw. der Verallgemeinerungswürdigkeit selbst hindurch und infiziert die Fairness-Konzeption somit im Ganzen.171 Rawls ist nämlich der irrigen Auffassung, seine Gerechtigkeitskonzeption als zwar anzustrebende, aber bloße Schnittmenge an sich vernünftiger Globallehren konstruieren zu können.172 Von der Widersprüchlichkeit173 und der fragwürdigen Einlösbarkeit174 dieses Ansatzes abVgl. Habermas, Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch (1996 [1995]), S. 75 f. Habermas, Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch (1996 [1995]), S. 80, Zitat ebd.; ders., „Vernünftig“ versus „Wahr“ (1996), S. 96 f. / 112 – 114. 168 Habermas, „Vernünftig“ versus „Wahr“ (1996), S. 114, H. n. O. 169 Habermas, Gerechtigkeit und Solidarität (1991 [1986]), S. 55. 170 Habermas, „Vernünftig“ versus „Wahr“ (1996), S. 106. 171 Fürs Folgende Habermas, Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch (1996 [1995]), S. 77 – 87; ders., „Vernünftig“ versus „Wahr“ (1996). 172 Habermas, „Vernünftig“ versus „Wahr“ (1996), S. 114 / 116. 173 Zum einen meint Rawls, den starken Vernunftbegriff für die „politische“ Gerechtigkeitskonzeption fallen lassen zu können, zum andern nimmt er aber genau diesen in An166 167
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gesehen, nimmt Rawls damit die „Umrüstung einer universalistisch angelegten Theorie der Gerechtigkeit auf Fragestellungen der politischen Stabilität“ vor.175 Die Personen überzeugen sich nicht mehr von der „hinreichend neutrale[n] Gerechtigkeitskonzeption“176, sondern der übergreifende Konsens stellt sich „aus der glücklichen Konvergenz vernünftiger Weltbilder“177 lediglich ein.178 Die moralischen Personen müssen der Gerechtigkeitskonzeption eben nicht aus denselben Gründen zustimmen können, sondern es genügt, wenn sie aus der Beobachtungsperspektive die Vereinbarkeit ihrer jeweiligen „metaphysischen“ Weltbilder mit der „politischen“ Gerechtigkeitskonzeption feststellen.179 Damit wiederholt sich, was im Urzustand bereits in anderer Form diagnostiziert worden ist: eine öffentliche Rechtfertigung aus je privaten Gründen180. Doch „[d]aß eine öffentliche Konzeption der Gerechtigkeit ihre moralische Autorität letztlich aus nicht-öffentlichen Gründen beziehen sollte, ist kontraintuitiv. Alles, was gültig ist, sollte öffentlich gerechtfertigt werden können. Gültige Aussagen verdienen aus denselben Gründen allgemeine Anerkennung.“181 Die i. d. S. falsch verstandene Neutralität der Gerechtigkeit182 versperrt Rawls den Blick darauf, dass eine deontologische Gerechtigkeitskonzeption den vorhandenen Weltbildern ihre Akzeptabilität (mit guten Gründen) abringen müsste.183 Deshalb verfehlt es auch Rawls’ „öffentlicher Vernunftgebrauch“, das verallgemeinerungswürdige Gute auf den Begriff zu bringen. Was Rawls für eine konsequente deontologische Begründung in dieser Hinsicht vermissen lässt, lädt er seiner Konzeption an anderer Stelle aber als zu große Zumutung wieder auf. Rawls beschränkt sich nämlich nicht darauf, die (formalen) Bedingungen zu begründen, unter denen die Mitglieder eines Kooperationssystems spruch, um die scheinbare nicht kritisierbare Vernünftigkeit der („metaphysischen“) Globallehren begründen zu können. Vgl. Habermas, „Vernünftig“ versus „Wahr“ (1996), S. 118. 174 Habermas, „Vernünftig“ versus „Wahr“ (1996), S. 114 f., m. w. N. 175 Habermas, Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch (1996 [1995]), S. 87. 176 Habermas, „Vernünftig“ versus „Wahr“ (1996), S. 99. 177 Habermas, „Vernünftig“ versus „Wahr“ (1996), S. 104; vgl. auch ebd., S. 98 / 105 / 106. 178 Habermas, „Vernünftig“ versus „Wahr“ (1996), insb. S. 105 – 108 / 113 f.; vgl. ders., Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch (1996 [1995]), S. 81 f. 179 Hierzu Habermas, „Vernünftig“ versus „Wahr“ (1996), S. 105 f.; vgl. ebd., S. 105 / 108. 180 Habermas, „Vernünftig“ versus „Wahr“ (1996), S. 105 f. / 107 f. 181 Habermas, „Vernünftig“ versus „Wahr“ (1996), S. 108; vgl. auch das ebd., S. 109, m. w. N., von Lutz Wingert aufgegriffene Argument: „Die Gewohnheit, über moralische Fragen mit Gründen zu streiten, würde zusammenbrechen, wenn die Teilnehmer davon ausgehen müßten, daß moralische Urteile wesentlich von persönlichen Glaubensüberzeugungen abhängen und nicht mehr auf die Akzeptanz derer rechnen dürfen, die diesen Glauben nicht teilen.“ 182 Habermas, „Vernünftig“ versus „Wahr“ (1996), S. 125: „Ein Verfahren, das den moralischen Gesichtspunkt unparteilicher Willensbildung zum Zuge kommen lässt, ist neutral gegenüber beliebigen Weltkonstellationen, aber nicht gegenüber der praktischen Vernunft selber.“ 183 Habermas, „Vernünftig“ versus „Wahr“ (1996), S. 117 f. / 124 f.
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ihr Zusammenleben fair organisieren können, sondern er gibt mit den beiden Gerechtigkeitsprinzipien bereits die fundamentalen (materialen) Normen selbst an, die ein solches Kooperationssystem strukturieren sollen. Den moralischen Personen wird die selbständige Entscheidung über ihr Zusammenleben damit nicht nur im Gedankenexperiment des Urzustands, sondern auch auf der Begründungsebene der „öffentlichen Rechtfertigung“ abgenommen. „Rawls’ Bürger finden sich nämlich, je weiter sich der Schleier des Nichtwissens hebt und je mehr sie selbst eine reale Gestalt aus Fleisch und Blut annehmen, umso tiefer verstrickt in die Hierarchie einer über ihre Köpfe hinweg schrittweise bereits institutionalisierten Ordnung. So nimmt die Theorie den Bürgern zu viele von jenen Einsichten ab, die sie sich doch in jeder Generation von neuem zu eigen machen müßten.“184 Die Aufgabenteilung zwischen der Moralphilosophie und den moralischen Subjekten stellt sich als recht klare Hierarchie zugunsten der philosophischen Expertise dar.185 Auf nachmetaphysischem Begründungsniveau kann die Philosophie diese Rolle aber nicht mehr für sich in Anspruch nehmen. Sie muss sich „auf die Klärung des moralischen Gesichtspunkts und des demokratischen Verfahrens, auf die Analyse der Bedingungen für rationale Diskurse und Verhandlungen beschränken.“186 Dabei genügt es, wenn sie rekonstruktiv verfährt.187 „Rekonstruktiv“ bedeutet freilich nicht jene unkritische Nachbildung, die die herrschenden Verhältnisse nur affirmativ reproduziert. Die Rekonstruktion muss sich als rationale bewähren, d. h. sich als allgemein akzeptabel erweisen. Auch in diesem Punkt, der sich an die materielle Zumutung der Fairness-Konzeption anfügt, muss schließlich auf eine weitere Schwäche bei Rawls hingewiesen werden. Rawls meint einen Vorzug seiner Konzeption darin sehen zu können, dass die fundamentalen Ideen, die er zu deren Konstruktion heranzieht, so etwa die Idee der vernünftigen Weltbilder im Einzelnen, die Idee des vernünftigen Pluralismus im Ganzen188 oder die Idee der freien und gleichen Personen, den Intuitionen der moralisch-politischen Kultur entnommen sind, die jede vernünftige Person teilt. Das Problem daran ist aber, dass er bei „der“ moralischen Kultur von einer bestimmten, nämlich der liberalen westlichen Kultur nordamerikanischer Prägung ausgeht.189 Das zeigt sich insbesondere in Rawls’ latenter Bevorzugung liberaler Rechte bzw. der privaten Autonomie vor der öffentlichen190 oder darin, dass offenbar doch nur bestimmte umfassende Lehren als vernünftig betrachtet werden können: „Zu diesen Globalanschauungen gehören religiöse Lehren, die Gewissensfreiheit befürHabermas, Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch (1996 [1995]), S. 89. Vgl. Habermas, Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch (1996 [1995]), S. 93. 186 Habermas, Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch (1996 [1995]), S. 93. 187 Habermas, Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch (1996 [1995]), S. 93. 188 Vgl. Habermas, „Vernünftig“ versus „Wahr“ (1996), S. 117. 189 Vgl. Habermas, „Vernünftig“ versus „Wahr“ (1996), S. 96. 190 Eingehend Habermas, Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch (1996 [1995]), S. 87 – 94. 184 185
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worten und die verfassungsmäßigen Grundfreiheiten unterstützen, sowie diverse liberal orientierte philosophische Theorien wie die von Kant und Mill, bei denen es sich ebenso verhält.“191 Die „Fundierungsfeindlichkeit“, die Rawls für seine Konzeption in Anspruch nimmt,192 steht in Tat und Wahrheit also auf dem festen Grund befreundeter liberaler Überzeugungen. Auch wenn vom Standpunkt einer liberalen politischen Kultur gegen die von Rawls genannten normativen Elemente im Einzelnen nichts einzuwenden ist, so lässt sich damit aus universalistischer, deontologischer Sicht doch eine konservativ193-liberale Schlagseite konstatieren, deren kulturell enggeführte Tendenz fraglich macht, ob eine darauf aufbauende Gerechtigkeitskonzeption auf allgemeine Akzeptabilität hoffen darf. Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass Rawls’ Fairness-Konzeption der Gerechtigkeit nicht ganz zu überzeugen vermag, weil sie noch zu tiefe Restspuren eines monologisch-utilitaristischen Denkens einerseits und eines kulturgebundenen liberalen Autoritarismus andererseits aufweist. So bleibt Rawls auf der einen Seite hinter dem universalistischen Anspruch des deontologischen Moralkonzepts zurück, auf der anderen Seite schießt er aufgrund seiner materiellen Eingriffe über das hinaus, was eine auf nachmetaphysischem Begründungsniveau operierende Moralphilosophie zu leisten imstande ist. Die Moralphilosophie sollte jedoch weder der einen noch der anderen Seite verfallen. Sie sollte die moralischen Praxen der Menschen ernstnehmen und auf diese aufbauen, ohne aber ihre (auch selbst-)kritische Aufgabe aus den Augen zu verlieren: „Eine Philosophie die nur noch hermeneutisch erläuterte, was ohnehin besteht, hätte ihre kritische Kraft eingebüßt. An faktisch eingespielte Überzeugungen darf sich die Philosophie nicht nur anschließen, sie muß diese auch nach Maßstäben einer vernünftigen Gerechtigkeitskonzeption beurteilen können. Andererseits darf sie eine solche Konzeption nicht freihändig konstruieren und einer entmündigten Gesellschaft als Norm entgegenhalten. Sie muß die unkritische Verdoppelung der Realität ebenso vermeiden wie das Abgleiten in eine paternalistische Rolle. Sie darf weder die eingewöhnten Traditionen einfach aufnehmen noch ein Design für die wohlgeordnete Gesellschaft inhaltlich ausmalen“.194 Lernen lässt sich aus der Diskussion der Fairness-Konzeption, dass der moralische Gesichtspunkt, das Für-alle-gleichermaßen-Gute, eine konsequentere dialogische Struktur erhalten und sich dabei auf die fairen Bedingungen des Verfahrens der Normgenese zurückziehen muss. Die moralphilosophische Debatte ist als Diskursethik moralischer Rechtfertigungsbedingungen weiterzuführen. Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 65. 192 Dazu Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 63. 193 Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 115, Rn. 368, m. w. N. Rawls scheint Hegel damit in der falschen Weise wörtlich zu nehmen: „Wenn man die Welt vernünftig betrachte, schaue sie vernünftig zurück. Er [sc. Hegel] strebt danach, daß wir zur Versöhnung gelangen, d. h. wir sollen unsere soziale Welt akzeptieren und uns nicht nur mit ihr abfinden, sondern sie in positiver Form bejahen.“: Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß (22003 [22001]), S. 22. 194 Habermas, „Vernünftig“ versus „Wahr“ (1996), S. 122; vgl. auch ders., Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch (1996 [1995]), S. 94. 191
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(2) Aber wie verfährt eine solche Diskursethik, die sich zwar an der Praxis orientieren muss, sich aber nicht mehr unkritisch auf die normative Praxis einer bestimmten moralisch-politischen Kultur berufen kann? Für seine „Diskursethik“195 schlägt Habermas eine „Arbeitsteilung zwischen Moral- und Handlungstheorie“ vor, mit der sich auch „ein ganzes Netzwerk handlungstheoretischer Grundbegriffe für normengeregelte Interaktionen“ aufdrängt, das zusätzlich zur Klärung moralischer Kategorien einer Analyse zu unterziehen ist. „Wenn wir dann dem Begriff der praktischen Vernunft die prozeduralistische Fassung geben, die Rawls selbst mit seinem Konzept des öffentlichen Vernunftgebrauchs andeutet, können wir sagen, daß genau die Prinzipien gültig sind, die unter Diskursbedingungen eine ungezwungene intersubjektive Anerkennung finden können.“196 Auch Habermas schwebt dabei vor, die in der Praxis wirksamen moralischen Intuitionen auf den Begriff zu bringen.197 Anders als Rawls will er sich dabei aber nicht von der normativen Praxis einer bestimmten moralisch-politischen Kultur bremsen lassen, sondern, in einer handlungstheoretischen Perspektive auch soziologisch informiert, auf die Bedingungen gerechtfertigter normativer Interaktion überhaupt durchgreifen.198 Das führt ihn dazu, das Augenmerk zunächst auf die basalen Interaktionsmodi zwischenmenschlicher Kommunikation zu richten. Denn schließlich bilden die kommunikativen Prozesse den zentralen Ort, an dem sich die moralischen Subjekte über ihre normativen Beziehungen verständigen. So lässt sich mit Habermas auch in der Moralphilosophie wieder die als (Handlungs-)Praxis begriffenen Sprache199 aufgreifen. Die grundlegenden Probleme kommunikativer Interaktion entwickelt Habermas in seiner Theorie des kommunikativen Handelns200. „Kommunikatives“ oder „verständigungsorientiertes Handeln“ 201 bedeutet, dass die an einer sozialen Interaktion beteiligten Agierenden ihre Handlungspläne durch Verständigung koordinieren.202 195 Fn. 3 und ergänzungsweise Fn. 2. Als Kurzdarstellung etwa Habermas, Treffen Hegels Einwände zu? (1991 [1986]), S. 11 – 14. 196 Habermas, Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch (1996 [1995]), S. 88. 197 Habermas, Treffen Hegels Einwände zu? (1991 [1986]), S. 26. 198 Zur Methodologie der rationalen Rekonstruktion etwa Habermas, Was heißt Universalpragmatik? (31989 [1976]), insb. S. 363 – 385; ders., Die Philosophie als Platzhalter und Interpret (1983); ders., Rekonstruktive vs. verstehende Sozialwissenschaft (1983). 199 Zur sprachpragmatischen Wende aus der Sicht Habermas’ insb. die Beiträge im zweiten Kapitel von Habermas, Nachmetaphysisches Denken (1988), S. 61 – 149 („Pragmatische Wende“); sowie ders., Wahrheit und Rechtfertigung (1999). 200 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987); ders., Theorie des kommunikativen Handelns 2 (41987). Vgl. auch insb. ders., Vorstudien und Ergänzungen (31989); v. a. ders., Was heißt Universalpragmatik? (31989 [1976]), S. 385 – 440; die in Fn. 199 genannten Hinweise zu ders., Nachmetaphysisches Denken (1988); sowie ders., Rationalität der Verständigung (1999). Als Kurzübersicht ders., Diskursethik (1983), S. 68 f. 201 Hierzu Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 128 / 141 – 151 / 385 / 397 f. 202 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 385.
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Unter „Verständigung“ ist dabei ein Einigungsprozess zu verstehen, in dem die Beteiligten jeweils demselben (propositional differenzierten) Inhalt einer Äußerung203 ihr rational motiviertes Einverständnis, ihre rational motivierte Zustimmung geben.204 Die Einigung, der Konsens, in den eine solche Verständigung idealiter mündet, besteht also nicht in einer bloß faktischen Übereinstimmung, sondern geht auf die gemeinsamen Überzeugungen, d. h. auf dieselben Gründe der Agierenden zurück. Der fragliche Äußerungsinhalt wird von allen Beteiligten205 als gültig akzeptiert. Dieser Typ des kommunikativen Handelns unterscheidet sich vom „erfolgsorientierten“ oder „zweckrationalen Handeln“206, dem Handlungstyp, in dem mindestens eine Person207 ihr Handeln unter Berücksichtigung absehbarer Folgen und Nebenfolgen an einem bestimmten von ihr angestrebten Erfolg ausrichtet.208 Sofern auch dieser Handlungstyp in sozialen Interaktionen auftritt, wird die Verständigungsorientierung durch die Erfolgsorientierung verdrängt. Im Vordergrund steht nicht das rational motivierte Einverständnis, sondern der aus der Sicht von Einzelagierenden beabsichtigte Eintritt eines Erfolgs. Nun stellt Habermas die These auf, dass es sich beim kommunikativen Handeln um den „Originalmodus“ sprachlicher Interaktion handelt, zu dem sich der erfolgsorientierte Sprachgebrauch nur parasitär verhält und insofern als indirekt bezeichnen lässt209.210 Um diese These formalpragmatisch zu belegen, greift Habermas auf die sprechakttheoretischen Überlegungen von John L. Austin211 zurück, mit denen zwischen den „lokutionären“, „illokutionären“ und „perlokutionären“ Aspekten von sprachlichen Äußerungen unterschieden werden kann. Charakterisieren lassen sich diese Aspekte mit folgenden Stichworten: „[lokutionär] etwas sagen; [illokutionär] handeln, indem man etwas sagt; [perlokutionär] etwas bewirken, dadurch, daß man handelt, indem man etwas sagt.“212 Es ist ersichtlich, dass eine sprachliche Interaktion die Qualität einer erfolgsorientierten Handlung erhält, wenn sie einen perlokutionären Effekt zeitigt. Habermas zeigt aber, dass perlokutionäre Effekte gelungene Sprachhandlungen instrumentell vorausset203 In Anschluss an die sprachtheoretischen Implikationen der juristisch-methodischen Debatte in Kapitel I wird der „Inhalt“ einer Äußerung hier nicht etwa als platonisch freischwebendes Signifikat, sondern als ihr Text interpretiert. 204 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 386 f. Ebd. das Folgende. 205 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 395 / 396 / 397 f. 206 Hierzu Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 384 f. Habermas verwendet die beiden Handlungstypen an dieser Stelle synonym. 207 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 396. 208 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 384 f., Abbildung auf S. 384. Vgl. auch ebd., S. 150 f. 209 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 388. Vgl. ebd., S. 151. 210 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 388 – 397. 211 Austin, Zur Theorie der Sprechakte (1972 [1962]). 212 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 388, Zitat auf S. 389.
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zen:213 Der perlokutionäre Effekt, den die Sprecherin bei der Hörerin bewirken will, soll dadurch zum Tragen kommen, dass sich die Agierenden über den lokutionären Gehalt der (auch) sprachlichen Interaktion verständigen. Sprachhandlungen als solche können jedoch bereits als gelungen (und aus formalpragmatischer Sicht somit als selbstsubstitutiv) betrachtet werden, wenn den illokutionären Bindungseffekten214, denen die Verständigungsorientierung eingeschrieben ist, Genüge getan wird. Perlokutionen, die durch Sprache bewirkt werden sollen, setzen Verständigungsorientierung also voraus, Illokutionen hingegen, die nach einer Verständigung in Sprache verlangen, sind nicht auf eine erfolgsorientierte Einstellung angewiesen.215 Diese Argumentation verlangt allerdings eine differenziertere Ausarbeitung des illokutionären Aspekts von Sprechhandlungen. In welcher Weise verweisen die „illokutionären Bindungseffekte“ auf Verständigung?216 Indem die Sprechenden den Hörenden gegenüber etwas äußern, erheben sie „Geltungsansprüche“217. D. h., sie erheben den Anspruch, dass der lokutionäre (propositionale) Gehalt, den sie in ihrer Rede zum Ausdruck bringen (das, was sie sagen), in den verschiedenen möglichen Weltbezügen, in Bezug auf die „objektive“, die „soziale“ und die „subjektive Welt“ (die Gesamtheit der objektiv existierenden Tatsachen, die Gesamtheit der interpersonalen Beziehungen und die Gesamtheit der jeweils subjektiven Erlebnisse),218 gültig ist, also allgemein akzeptiert werden kann. Diesen verschiedenen Weltbezügen entsprechend erheben die Sprechenden „Wahrheits-“, „Richtigkeits-“ und „Wahrhaftigkeitsansprüche“:219 Sie beanspruchen, dass die geäußerten 213 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 393 – 397. Das Folgende ebd. 214 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 395 u. ö. 215 Anzumerken ist, dass Habermas den fundamentalen teleologischen Sinn von Sprechakten, in dem die Sprechenden durchs Sprechen ihre jeweils eigenen Handlungsziele (verständigungsorientiert) verfolgen, keineswegs ausblendet: „Um Mißverständnissen vorzubeugen, möchte ich wiederholen, daß das kommunikative Handlungsmodell Handeln nicht mit Kommunikation gleichsetzt. Sprache ist ein Kommunikationsmedium, das der Verständigung dient, während Aktoren, indem sie sich miteinander verständigen, um ihre Handlungen zu koordinieren, jeweils bestimmte Ziele verfolgen. Insofern ist die teleologische Struktur für alle Handlungsbegriffe fundamental.“: ebd., S. 150 f., m. w. N. Darin steckt kein Widerspruch: Die Unterscheidung zwischen erfolgs- und verständigungsorientiertem Handeln setzt erst bei der Frage an, wie die Akteure ihre jeweiligen Handlungsziele koordinieren. 216 Vgl. zum folgenden Problem der Geltungsansprüche insgesamt auch Habermas, Wahrheitstheorien (31989 [1973]), S. 137 – 149. 217 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 26 f. und durchgehend, insb. S. 65 f. / 410 – 415. 218 Hierzu Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 84 / 149. 219 Hierzu Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), insb. S. 65 – 67 / 149 / 411 – 415; ders., Was heißt Universalpragmatik? (31989 [1976]), z. B. S. 389 / 440. Zum Geltungsanspruchssystem der Theorie kommunikativen Handelns zählt auch der Anspruch auf Verständlichkeit: Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 65 – 67 / 71. Weil Habermas diesen in der weiteren Analyse aber voraussetzt, wird auch hier nicht näher darauf eingegangen.
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Tatsachen wahr und die als legitim unterstellten Sozialbeziehungen richtig sind und dass das jeweils zum Ausdruck gebrachte subjektive Empfinden dem Erlebten tatsächlich entspricht, i. d. S. wahrhaftig ist.220 Mit diesen auf allgemeine Akzeptabilität ausgerichteten Geltungsansprüchen ist das interaktive Sprechen also von vornherein auf Verständigung eingestellt. Der illokutionäre Bindungseffekt der sprachlichen Interaktion ergibt sich ferner daraus, dass die Hörenden durch die zugleich kritisierbaren Geltungsansprüche aufgefordert sind, mit Ja oder Nein Stellung zu nehmen (oder sich einer Stellungnahme zu enthalten221).222 Verneinen sie das Sprechaktangebot, so sind die Sprechenden gehalten, das Geäußerte zu begründen, um die Hörenden zu einem rational, durch gute Gründe motivierten Einverständnis bzw. zur Einsicht zu bewegen. Bejahen die Hörenden aber das Sprechaktangebot, so übernehmen auch sie ihrerseits die Gewähr dafür, die Konsenswürdigkeit des Geäußerten nötigenfalls begründen zu können. Im Alltag verläuft ein Großteil der Kommunikationen über zumeist stille Einverständnisse. Die Agierenden koordinieren ihre Handlungsziele i. d. R. ungestört vor dem Hintergrund einer intuitiv geteilten Lebenswelt223. Die durch Begründungsgewähr verbürgte Rationalität des kommunikativen Handelns224 schlummert in den sich stillschweigend vollziehenden Verständigungen sozusagen vor sich hin. Aktuell wird diese Rationalität jedoch, wenn eine lebensweltlich eingespielte Überzeugung mit einer Nein-Stellungnahme konfrontiert wird. Wenn der Dissens dann „nicht durch den unvermittelten oder den strategischen Einsatz von Gewalt entschieden werden soll“, muss das kommunikative Handeln „mit anderen Mitteln“225, nämlich im Wege einer Gründe austauschenden Argumentationspraxis226 fortgeführt werden. Das Medium, in dem die inhärente Rationalität des kommunikativen Handelns im Dissensfall dann reflexiv reproduziert werden kann, ist der „Diskurs“227.228 Dort können die kritisierten Geltungsansprüche auf der Grundlage 220 Habermas betont, dass jede Äußerung unter jedem der genannten Geltungsansprüche betrachtet werden kann: Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 411 f. / 414 / 417 f. Gleichwohl können die Sprechenden in ihrer Rede einen bestimmten Geltungsanspruch hervorheben, sodass sich je nach Weltbezug (objektive, soziale, subjektive Welt) bestimmte Grundformen von Sprechakten charakterisieren lassen: konstative, regulative und expressive: ebd., S. 414 f. In kritischer Auseinandersetzung eingehend zur Klassifikation von Sprechakten ebd., S. 427 – 439, Abbildung auf S. 439. 221 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 65. 222 Vgl., auch zum Folgenden, Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 65 / 148 / 376 / 397 – 410, insb. S. 405 f. 223 Zum Lebenswelt-Konzept bereits zuvor, I. 3. b). 224 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 37 f. 225 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 38. Ebd. auch das vorstehende Zitat. 226 Zum Begriff der Argumentation und des Arguments Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 38. Eingehend zur Argumentationstheorie ebd., S. 44 – 71. 227 Hierzu Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 39 f. / 70 f. 228 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 37 – 40 / 71.
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fairer Bedingungen durch das Geben und Nehmen von Gründen einer rationalen Überprüfung zugänglich gemacht werden, die, „wenn die Argumentation nur offen genug geführt und lange genug fortgesetzt werden könnte“229, wieder auf einen Konsens hoffen darf. Diskursergebnisse haben jedenfalls die Vermutung für sich, rational zu sein. Je nachdem, ob ein Wahrheits- oder ein Richtigkeitsanspruch bestritten wird, kann von einem „theoretischen“230 oder einem „praktischen Diskurs“231 gesprochen werden.232 Kritisierte Wahrhaftigkeitsansprüche lassen sich dagegen nicht im Diskurs, sondern nur dadurch einlösen, dass demonstriert wird, dass das behauptete Empfinden mit dem tatsächlich Erlebten übereinstimmt.233 In der hier geführten moralphilosophischen Diskussion ist v. a. der praktische Diskurs von Bedeutung. Insofern es dort Richtigkeitsansprüche, also Behauptungen sind, mit denen die normative Legitimität interpersonaler Beziehungen, mit einem Wort: Gerechtigkeit beansprucht wird,234 kann auch vom „moralischen Diskurs“ gesprochen werden. Mit der These der Diskursfähigkeit von Richtigkeitsfragen spricht Habermas moralischen Problemen wahrheitsanalogen Status zu235. D. h., dass moralische Fragen wie empirische Fragen objektiv-rational entschieden werden können, und das rationale Verfahren, in dem über die Legitimität von Sozialbeziehungen befunden werden kann, ist der moralisch-praktische Diskurs. Anders ausgedrückt, müssen Normen und Handlungen im Diskurs, im Prozess einer fairen argumentativen Auseinandersetzung legitimiert werden. Damit ist nun genau der Anknüpfungspunkt erreicht, mit dem es möglich wird, den ethischen Universalisierungsgrundsatz mit den Voraussetzungen zu verbinden, die die rawlssche Gerechtigkeitskonzeption vermissen lassen hat: mit dem theoretischen Rückzug auf die Bedingungen des Prozesses der Normbegründung und dem Erfordernis der Dialogik dieses Prozesses. Die entsprechende Diskursethik, die sich an die handlungstheoretische Konzeption des kommunikativen Handelns anschließt, lässt sich nämlich auf den folgenden Grundsatz bringen: „Der Diskursethik zufolge darf eine Norm nur dann Geltung beanspruchen, wenn alle von ihr möglicherweise Betrof229 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 71; ders., Diskursethik (1983), S. 115. 230 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 39. 231 Hierzu Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 39 f. 232 Darüber hinaus ist von einem „explikativen Diskurs“ die Rede, wenn bereits die Verständlichkeit des Geäußerten infrage steht: hierzu Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 43 f., m. w. H. Vgl. dazu die Anmerkung in Fn. 219. 233 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 69; vgl. auch ebd., S. 71. Das reflexive Interaktionsmedium, in dem sich eine Person ihrer selbst und einer anderen gegenüber vergewissert, bezeichnet Habermas als therapeutische Kritik: ebd., S. 42 f. / 69 f., dort auch zur Unterscheidung von Diskurs und Kritik. Illustrative Zusammenstellung sämtlicher Argumentationstypen ebd., S. 45. 234 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 66. 235 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 39 / 435; ders., Diskursethik (1983), S. 66 f. / 78 – 86; vgl. auch ders., Erläuterungen zur Diskursethik (1991), S.125 – 131. Eingehend ders., Richtigkeit versus Wahrheit (1999).
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fenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses Einverständnis darüber erzielen (bzw. erzielen würden), daß diese Norm gilt.“236 Von entscheidender Bedeutung ist freilich, was es heißen soll, einen praktischen Diskurs zu führen, unter welchen Bedingungen also von einer diskursiven Situation ausgegangen werden kann. Habermas’ Idealbild des Diskurses ist eine herrschaftsfreie Situation, in der kein Zwang „außer dem des besseren Arguments“237 wirksam ist.238 In Anschluss an Vorarbeiten von Robert Alexy239 nennt Habermas danach folgende nach Produktions-, Prozedur- und Prozessaspekten geordnete240 Regeln, die ein Argumentationsprozess erfüllen muss, um als praktischer Diskurs gelten zu können:241 Zu den Diskursbedingungen unter dem Aspekt der Produktion zählt Habermas solche Regeln, die auf einer logisch-semantischen Ebene liegen und ethisch nicht gehaltvoll seien: „(1.1) Kein Sprecher darf sich widersprechen. (1.2) Jeder Sprecher, der ein Prädikat F auf einen Gegenstand a anwendet, muß bereit sein, F auf jeden anderen Gegenstand, der F in allen relevanten Hinsichten gleicht, anzuwenden. (1.3) Verschiedene Sprecher dürfen den gleichen Ausdruck nicht mit verschiedenen Bedeutungen benutzen.“242 Unter den prozeduralen, teilweise ethisch gehaltvollen Regeln sollen folgende als Beispiele dienen: „(2.1) Jeder Sprecher darf nur das behaupten, was er selbst glaubt. (2.2) Wer eine Aussage oder Norm, die nicht Gegenstand der Diskussion ist, angreift, muß hierfür einen Grund angeben.“243 Und unter Prozess-Aspekten führt Habermas schließlich diese, sämtlich ethischen Gehalt aufweisenden Regeln an: „(3.1) Jedes sprach- und handlungsfähige Subjekt darf an Diskursen teilnehmen. (3.2) a. Jeder darf jede Behauptung problematisieren. b. Jeder darf jede Behauptung in den Diskurs einführen. c. Jeder darf seine Einstellungen, Wünsche und Bedürfnisse äußern. (3.3) Kein Sprecher darf durch innerhalb oder außerhalb des Diskurses herrschenden Zwang daran gehindert werden, seine in (3.1) und (3.2) festgelegten Rechte wahrzunehmen.“244 Wie Rawls steht allerdings auch Habermas in der Pflicht, seine moralphilosophische Konzeption zu begründen. Auch für diese fragt sich, mit welchen Argumenten sie den Anspruch an universelle Gültigkeit einlösen kann. Um Habermas’ ArguHabermas, Diskursethik (1983), S. 76; gleichermaßen ebd., S. 103. Habermas, Diskursethik (1983), S. 99. Vgl. „den eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Argumentes“ in ders., Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 47 u. ö. 238 Dies wurde von Habermas bekanntlich zuerst als „ideale Sprechsituation“ bezeichnet: Habermas, Wahrheitstheorien (31989 [1973]), S. 174 – 183. Dazu ders., Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 47 f.; ders. Diskursethik (1983), S. 98 f. 239 Alexy, Eine Theorie des praktischen Diskurses (1978). Vgl. freilich bereits Habermas, Wahrheitstheorien (31989 [1973]), S. 177 f. 240 Dazu Habermas, Diskursethik (1983), S. 97; vgl. ausführlicher ders., Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 47 – 50. 241 Habermas, Diskursethik (1983), S. 97 – 99. 242 Habermas, Diskursethik (1983), S. 97. 243 Habermas, Diskursethik (1983), S. 97 f., Zitat auf S. 98. 244 Habermas, Diskursethik (1983), S. 98 f., m. w. H., Zitat auf S. 99. 236 237
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mentation nachzuvollziehen, ist es hilfreich, sich zunächst das Argumentationsmodell der Theorie von Stephen Toulmin245 vor Augen zu führen.246 In diesem Modell wird eine Behauptung C (engl. conclusion: Schlussfolgerung) durch eine Erklärung oder Begründung D (engl. data: Datengrundlage, Begründungsmaterial) gestützt. Die Beziehung zwischen C und D wird sodann mithilfe einer allgemeinen Schlussregel W (engl. warrant: Garantie, Gewährleistung) gesichert. W bezieht seine Stichhaltigkeit wiederum aus einer soliden Evidenz B (engl. backing: Stütze, Absicherung) wie Einzelbeobachtungen, grundlegenden Erfahrungen und Bedürfnissen u. Ä.247 Problematisch in einem solchen Argumentationszusammenhang ist v. a. die Beziehung zwischen B und W, die die Frage aufwirft, wie aus Einzelerfahrungen eine allgemeine Schlussregel gebildet werden kann. Dies beantwortet Habermas folgendermaßen: „Im theoretischen Diskurs wird nun die Kluft zwischen singulären Beobachtungen und allgemeinen Hypothesen durch verschiedenartige Kanons der Induktion überbrückt. Im praktischen Diskurs bedarf es eines entsprechenden Brückenprinzips. [ . . . ] Interessanterweise stoßen Autoren verschiedener philosophischer Herkunft bei dem Versuch, ein solches Moralprinzip anzugeben, immer wieder auf Grundsätze, denen dieselbe Idee zugrundeliegt. Alle kognitivistischen Ethiken knüpfen nämlich an eine Intuition an, die Kant im Kategorischen Imperativ ausgedrückt hat. [ . . . ] Das Moralprinzip wird so gefaßt, daß es die Normen als ungültig ausschließt, die nicht die qualifizierte Zustimmung aller möglicherweise Betroffenen finden könnten. Das konsensermöglichende Brückenprinzip soll also sicherstellen, daß nur die Normen als gültig akzeptiert werden, die einen allgemeinen Willen ausdrücken: sie müssen sich, wie Kant immer wieder sagt, zum ,allgemeinen Gesetz‘ eignen.“248 Habermas qualifiziert das Universalisierungsprinzip also als argumentationstheoretisches Brückenprinzip, das als Grundlage für die Bildung allgemeingültiger Normen dient. In Anbetracht der hier durchgeführten Vorüberlegungen zur deontologischen Ethik kann diese These durchaus hingenommen werden. Offen bleibt jedoch noch, auf welche Weise sich der Universalisierungsgrundsatz selbst begründen lässt. Zudem ist noch ungeklärt, wie das Universalisierungsprinzip mit dem diskursethischen Prinzip verbunden werden kann und wie sich die entsprechenden Diskursbedingungen rechtfertigen lassen. Habermas weiß natürlich, dass er das Universalisierungsprinzip rein formallogisch nicht begründen kann. Das müsste ihn entweder in einen unendlichen Regress, zum dogmatischen Begründungsabbruch oder in einen logischen Zirkel führen.249 Deshalb verlegt er seine Toulmin, Der Gebrauch von Argumenten (1975 [41974]). 246 Habermas greift darauf zurück in Habermas, Wahrheitstheorien (31989 [1973]), S. 160 – 162, mit Anwendung auf den theoretischen und den praktischen Diskurs und Abbildungen; ders., Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), insb. S. 48 f. Zu Toulmins Argumentationstheorie insgesamt ders., Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 56 – 64. 247 Vgl. Habermas, Wahrheitstheorien (31989 [1973]), S. 163. 248 Habermas, Diskursethik (1983), S. 73. 249 Habermas, Diskursethik (1983), S. 89 f. 245
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Argumentation von der semantischen auf die pragmatische Ebene250 und führt Folgendes an: Jede Person, die in eine Argumentation eintritt, muss explizit oder implizit die genannten, jedenfalls ethisch gehaltvollen oder ähnliche Diskursbedingungen anerkennen.251 Damit können alle drei noch offenen Probleme bewältigt werden. Denn mit der pragmatischen Unausweichlichkeit oder Unhintergehbarkeit der Diskursbedingungen252 kann Habermas nicht nur für diese Diskursbedingungen gute Gründe angeben, sondern auch das Universalisierungsprinzip einholen. Sofern eine Person nämlich die Diskursbedingungen akzeptiert und ferner eine auch nur schwache (nicht-präjudizierende) Vorstellung von der Rechtfertigung von Normen hat253, kann ihr auch die Anerkennung des Universalisierungsgrundsatzes unterstellt werden.254 Und so kann schließlich auch das diskursethische Grundprinzip aufgestellt werden.255 So elegant das Präsuppositionsargument den Universalisierungsgrundsatz einholen und diesen für die Diskursethik gewinnen kann, so schwer wiegt allerdings auch die Begründungslast, die ihm aufgeladen wird. Seine Stütze ist die universelle Gültigkeit der Diskursbedingungen. Das Argument lautet, dass jede handlungsund sprachbegabte Person in ihrer Argumentation Bedingungen akzeptieren muss, die den normativ gehaltvollen Diskursbedingungen gleichkommen. Dieses Argument stützt Habermas wiederum mit der Begründungsfigur des performativen Widerspruchs.256 Der performative Widerspruch besagt, dass eine Person, dem, was sie sagt, widerspricht, indem sie sagt, was sie sagt. Der performative Widerspruch ist also keine contradictio in adiecto im formallogischen Sinn, sondern wiederum auf der sprachpragmatischen Ebene angesiedelt. Im Fall der Diskursbedingungen kommt das Argument so zum Tragen, dass jede Person, die die Allgemeingültigkeit der Diskursbedingungen bestreitet, allein dadurch, dass sie dies tut, sich selbst widerspricht.257 Denn mit ihrem Bestreiten erhebt sie zugleich den impliziten Anspruch, dass die Allgemeingültigkeit der Diskursbedingungen in einem rationalen Diskurs widerlegt werden kann. Eben damit setzt sie aber diskursethische Rahmenbedingungen voraus. Sobald sich eine Person also auf eine argumentative Auseinandersetzung einlässt, fehlen ihr offenbar die Mittel, die AkHabermas, Diskursethik (1983), S. 90. Habermas, Diskursethik (1983), S. 93 – 102, insb. ab S. 96; vgl. auch ders., Wahrheitstheorien (31989 [1973]), S. 180 f. 252 Habermas, Diskursethik (1983), S. 99 f. u. ö. 253 Habermas, Diskursethik (1983), S. 102 f. / 103. Zu beachten dabei die Präzisierung des nicht-präjudizierenden Begriffs von Normenbegründung in ders., Erläuterungen zur Diskursethik (1991), S. 133 f., und der Hinweis ebd., S. 134, Fn. 17. 254 Habermas, Diskursethik (1983), S. 102 f.; ders., Erläuterungen zur Diskursethik (1991), S. 133 f. 255 Habermas, Diskursethik (1983), S. 103. Dieser Grundsatz D darf freilich nicht mit dem Universalisierungsgrundsatz U verwechselt werden. D bringt die Diskursethik insgesamt auf den Begriff: ebd.; vgl. auch ebd., S. 76. 256 Zu dieser Argumentationsfigur Habermas, Diskursethik (1983), insb. S. 88 – 102. 257 Habermas, Diskursethik (1983), insb. S. 100 f. 250 251
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zeptanz der Diskursbedingungen abzustreiten. Allerdings ist auch die allfällige „Argumentations“strategie mit Schwierigkeiten behaftet, die Argumentation überhaupt zu verweigern und sozusagen in stummer Verweigerung den seinerseits performativen Gegenbeweis zu erbringen, dass auf die Akzeptanz von Diskursbedingungen verzichtet werden kann.258 Abgesehen davon, dass dann eben nicht mehr argumentiert würde, würde sich eine solche Strategie nämlich – und so schließt sich auch der Kreis zur Theorie des kommunikativen Handelns – gegen jenen verständigungsorientierten Handlungstyp stellen, der der menschlichen Lebensform als sprachlicher Grundmodus innewohnt259 und dessen Aufgabe, on the long run, auch die persönliche Identität bedrohen müsste260. (3) Diese Begründung der Diskursethik hat auch Kritik hervorgerufen. Hier sollen immerhin die kritischen Punkte aufgegriffen werden, die für die Stellung der Diskursethik in einer interdisziplinären Theorie einer besonderen Würdigung bedürfen.261 Dabei zeigt sich, dass die Probleme weniger in der Diskursethik, sondern mehr in den überhöhten Erwartungen der Kritiken zu suchen sind. Als Beispiel dafür kann die Diskussion um den Letztbegründungsanspruch der Diskursethik angeführt werden. Mit der Begründungsfigur des performativen Widerspruchs macht Habermas Anleihen bei der Transzendentalpragmatik Karl-Otto Apels262,263 die die Diskursethik nach dem Vorbild der kantischen Transzendentalphilosophie, aber mit sprachpragmatischen Mitteln, auf einen letzten, unverrückbaren Grund stellen will. Gegen eine solche Transzendentalpragmatik hat Habermas jedoch seit jeher Vorbehalte angebracht.264 Mit dem Argument des perforHabermas, Diskursethik (1983), insb. S. 109 – 112. Habermas, Diskursethik (1983), insb. S. 109 f. / 112. Differenziert zur Funktion des verständigungsorientierten Handelns für die symbolische Reproduktion der Lebenswelt ders., Theorie des kommunikativen Handelns 2 (41987), S. 212 – 217. 260 Habermas, Diskursethik (1983), insb. S. 110 / 112. Dazu, dass sämtliche kommunikativen Reproduktionsprozesse auch auf die (lebensweltliche Strukturkomponente der) Persönlichkeit einwirken, ebenso der weitere Hinweis in Fn. 259. 261 Nicht direkt aufgegriffen wird z. B. die Grundsatzskepsis des ethischen Nonkognitivismus, gegen den das diskursethische Begründungsprogramm im Grunde insgesamt antritt: Habermas, Diskursethik (1983). Zu strategisch-rationalen (utilitaristischen) Gegenkonzeptionen die Utilitarismuskritik zuvor in II. 1. b). Zu Hegels an Kant geübter (und zum Kommunitarismus neigenden) Formalismus-Kritik Habermas, Diskursethik (1983), S. 112 – 119; ders., Treffen Hegels Einwände zu? (1991 [1986]) sowie zuvor II. 1. b). Weitere Entgegnungen von Habermas auf Einwände: ders. Erläuterungen zur Diskursethik (1991), S. 119 – 226; im weiteren Zusammenhang ders., Faktizität und Geltung (41994), S. 661 – 680; ders., Replik auf Beiträge (1996); zur Theorie des kommunikativen Handelns insb. ders., Replik auf Einwände (31989 [1980]). 262 Apel, Transformation der Philosophie 2 (1973); ders., Diskurs und Verantwortung (1988); sowie die verschiedenen Aufsätze in ders., Erprobung des transzendentalen Ansatzes (1998). 263 Habermas, Diskursethik (1983), S. 87 u. ö. 264 So schon Habermas, Wahrheitstheorien (31989 [1973]), S. 181 f.; ders., Was heißt Universalpragmatik? (31989 [1976]), S. 379 – 385; ders., Diskursethik (1983), S. 93 – 96 / 104 – 258 259
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mativen Widerspruchs wird die Allgemeingültigkeit von Diskursvoraussetzungen nicht im strengen Sinn bewiesen. Es besagt lediglich, dass eine Person, indem sie solche Voraussetzungen bestreitet, diese zugleich in Anspruch nimmt.265 Sie kann also nicht überzeugend dartun, dass sie selbst nicht mindestens implizit Diskursbedingungen akzeptiert. Eine für alle Zeiten feststehende Letztbegründung kann damit aber kaum behauptet werden. Für Habermas entsteht durch das Absehen vom Letztbegründungsanspruch aber „gar kein Schaden“. Denn erstens ist die Philosophie dazu gar nicht aufgefordert, und zweitens eröffnet sich der Diskursethik so erst die Möglichkeit „einer indirekten Überprüfung“, im Verhältnis zu konkurrierenden Ethiken, aber auch zu anderen Disziplinen.266 Dessen eingedenk scheint die von Armin Engländer vorgetragene Kritik an der Begründungsfigur des performativen Widerspruchs267, jedenfalls soweit sie die Diskursethik als moralphilosophische Konzeption betrifft,268 fehl am Platz. Engländer meint: „Das Argument vom performativen Widerspruch ist allerdings nicht geeignet, die angestrebte Begründung zu erreichen. [ . . . ] Will man feststellen, ob das Bestreiten einer Diskursregel einen performativen Widerspruch darstellt, muß man vorher wissen, ob diese Diskursregel eine unausweichliche Voraussetzung ist. Gerade deshalb kann aber der Nachweis, daß sie wirklich eine solche notwendige Argumentationsvoraussetzung darstellt, nicht mit dem Auftreten eines performativen Widerspruchs erbracht werden. Das Argument vom performativen Widerspruch setzt die erst noch zu beweisenden Prämissen bereits voraus.“ So kommt er zu dem Schluss: „Streben die Diskurstheoretiker mit dem Argument vom performativen Widerspruch die Begründung der von ihr behaupteten Argumentationsvoraussetzungen an, ist ihre Argumenttation daher logisch zirkulär.“ 269 Offenbar erwartet Engländer von „den“ Diskurstheoretikern eine zwingende Begründung nach dem Muster logischer Deduktion. Das greift nicht nur vor dem Hintergrund des 108; ders., Erläuterungen zur Diskursethik (1991), S. 185 – 199; ders., Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 198. 265 Habermas, Diskursethik (1983), S. 105. 266 Habermas, Diskursethik (1983), S. 107 f., in umgekehrter Reihenfolge der Argumente. 267 Engländers kritische Analyse der Diskurstheorie wäre insgesamt einer umfangreicheren Antwort würdig, als sie hier im Einzelnen gegeben werden kann, im hier relevanten Zusammenhang insb. Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 41 – 87. Nur zu dessen Kritik an der Rekonstruktion impliziten Wissens (ebd., S. 59 – 61) unter Aufnahme der aktuellen analytischen Philosophie grundsätzlich Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 269 – 280. Ansonsten kann die vorliegende interdisziplinäre Theorie im Ganzen als konstruktiver Gegenvorschlag zu Engländers eigener „Rechtsbegründung durch aufgeklärtes Eigeninteresse“ betrachtet werden: Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 157 – 175. 268 Zu einem Gutteil richtet sie sich auch auf Robert Alexys Übergriff auf die Rechtswissenschaft: Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 43 – 47. Dieser Anspruch steht hier nicht zur Debatte. Zu Alexys Theorie der juristischen Argumentation später, III. 1. 269 Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 43 f., m. w. N. und m. w. H. I. g. S. ders., Zur begrifflichen Möglichkeit des Rechtspositivismus (1997), S. 448.
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fallen gelassenen Letztbegründungsanspruch ins Leere, sondern wird dem Argument des performativen Widerspruchs auch selbst nicht gerecht, weil der auf die pragmatische Ebene vollzogene Wechsel unbeachtet bleibt und ein noch immer rein semantischer Maßstab angelegt wird. Gegen den Zirkelvorwurf kann deshalb wiederholt werden, was bereits in der Diskussion der juristischen Methodik im ganz ähnlich gelagerten Problem270 entgegnet worden ist: „In diesem Vorgehen liegt kein logischer, sondern höchstens ein hermeneutischer Zirkel.“271 Angesichts des Universalitätsanspruchs, den die Diskursethik als deontologische Konzeption unweigerlich erheben muss, fragt sich allerdings, welche Rolle dem Argument des performativen Widerspruchs dabei zukommt. Realistisch eingeschätzt, handelt es sich beim Argument des performativen Widerspruchs um einen guten Grund, mit dem Opponierende von der allgemeinen Annehmbarkeit von Diskursbedingungen überzeugt werden sollen.272 Auch universalistisch angelegte Konzeptionen kommen nämlich nicht umhin, ihr universales Auditorium273 mit 270 I. 2. b), (2), wo die strukturierende Rechtslehre gegen den Vorwurf verteidigt wird, für die Normierung einer juristischen Methodik auf verfassungsrechtliche Vorgaben zurückzugreifen, sei zirkulär. 271 Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 222. Die von Friedrich Müller und Ralph Christensen in jenem Fall gegen moralphilosophische Kritik angebrachte Argumention lässt sich daher auch umgekehrt lesen: „Und der uralte Verdacht wirklicher oder scheinbar zirkulärer Strukturen der Argumentation ist kein Einwand, der nur die sich demokratisch und rechtsstaatlich bindende Rechtsmethodik träfe [ . . . ]. Auch philosophische Texte sind Sprache, sind Schrift; und sonst gar nichts. Auch sie sind umstreitbar, umstritten und begründungsbedürftig. Auch sie führen zu Regreß oder Axiom, wenn man nur lange genug nachfragt. Auch sie müssen in jenem Stadium interpretiert werden (und mit welcher Methode? – neue Axiome, neue Regresse auf dem Feld der Texte über Methoden der Philosophie); ebenso wie die Texte, auf die sie sich zu ihrer Begründung beziehen wollen. Archimedische Punkte liegen nicht auf der Straße.“: Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 532, Rn. 563. Sofern auf infinite Regresse und Dogmatismus verzichtet werden soll, lassen sich Zirkel also kaum vermeiden. Die hier wie dort vorgenommene Bezugnahme auf eine argumentative Praxis entzieht sich allerdings dem Vorwurf eines logischen. Dass Christensen und Kudlich Engländers Zirkelvorwurf gegen die Diskursethik übrigens (zwar kommentarlos) aufgreifen, ist freilich nicht dieser anzulasten: Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 69 f., vgl. dagegen S. 281. 272 In die falsche Richtung geht dagegen Alexys möglicherweise von Rawls’ veränderter Interpretation des Urzustand-Modells inspirierte Lesart des performativen Widerspruchs als Darstellungsmittel für die Allgemeingültigkeit der Diskursbedingungen: Alexy, Diskurstheorie und Menschenrechte (1995), S. 135 f., Fn. 27. Zu Recht wird herausgestellt, dass das Begründungsproblem damit nur verschoben wird: Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 44 f.; Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 70. Der performative Widerspruch ist kein Darstellungsmittel, sondern ein wirkliches Argument, aber eben (nur) ein Argument. Wenn Alexy glaubt, den universell gültigen Status von Diskursbedingungen zeigen zu können, hat er den notwendigen Wechsel von der Semantik zur Pragmatik selbst nicht konsequent genug vollzogen. Zur unterschiedlichen Begründung der Diskursbedingungen bei Habermas und Alexy Gril, Alexys Version einer transzendentalpragmatischen Begründung (1997). 273 Dazu Perelman / Olbrechts-Tyteca, The New Rhetoric (2008). Von Habermas aufgenommen in Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 49 f.
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Gründen zu überzeugen. Erst dann erfolgt die angestrebte Zustimmung aus Einsicht und nicht aus Zwang. Eben dies ist ja gerade der rationale Impetus des kommunikativen Handlungstyps. Für die Annahme der Diskursbedingungen eine (auch nur schwache) transzendentale Nötigung274 in Anspruch zu nehmen, geht über diesen Sinn eines Begründungsangebots275 hinaus. „Wenn man mehr tut und sie [sc. die Ideale herrschaftsfreien Sprechens] für ,unhintergehbar‘ erklärt, zerstört man sie gerade.“276 Solange den Diskursbedingungen jedoch der Status eines fallibel nachkonstruierten, aber einen universellen Anspruch erhebenden Ideals277 zugesprochen wird, wird dieser Fehler vermieden. Und in Verbindung mit dem kohärenten kommunikativen Handlungs- und Gesellschaftsmodell278, das Habermas ebenso anbietet, ist der performative Widerspruch für eine universelle Moralkonzeption durchaus aussichtsreich. Der von Habermas so sehr betonte Konsens ist daher weniger gewaltsam, als die vielleicht missverständliche Rede vom „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“279 nahelegt. Denn dabei soll es sich lediglich um jenes gewaltsame Moment handeln, das der Sprache als Sprache innewohnt und dem sich jede Person auch widersetzen kann und widersetzen können soll. Die Macht des Diskurses soll sich auf jene Gewalt zurückziehen, mit der die Argumentation als Kompensationsmedium friedlicher Handlungskoordination in die Lücke springt: auf das Geben und Nehmen von Gründen. Aus diesem Grund wird Habermas auch nicht müde zu betonen, dass die Argumentation ihre handlungsmotivierende Kraft eingebüßt hat.280 Natürlich kann auch Einsicht nicht erzwungen werden. Wenn ein Diskurs aber zu einsichtigem Einverständnis führt, kann gesagt werden, dieses sei rational motiviert. Genauso wie der Fluchtpunkt des Konsenses hervorzuheben ist, ist es allerdings auch angebracht, die Möglichkeit, sogar die normative Notwendigkeit des Dissenses zu betonen. Um dies plausibel zu machen, muss noch gar nicht – wie Rawls es tut – auf den gerechtfertigten Pluralismus einer bestimmten Lebensform rekurriert werden. In einer moralphilosophischen Konzeption kommt dieser nur so weit zum Tragen, wie sich die normativen Strukturen seiner kontingenten Lebensform universell zur Geltung bringen. Doch auch in diesem Anspruchsbereich kommt die Idee der Einheit ohne die Idee der Differenz nicht aus. Die Macht ungerechtfertigter Geltungsansprüche kann nämlich nur gebrochen werden, indem ihnen widersprochen wird. Die Rationalität des kommunikativen Handelns liegt auch in der Kritisierbarkeit von Geltungsansprüchen. Die eigene Meinung ist daher in einen nicht minder idealen Stand zu heben wie der Konsens. Einheit und Diffe274 275 276 277 278 279 280
Habermas, Diskursethik (1983), S. 96 i. V. m. 106. Vgl. Nanninga, Zur Kritik der konstruktiven Ethik (1979), S. 277. Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 82. Habermas, Diskursethik (1983), S. 107. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 2 (41987), insb. S. 445 – 593. Fn. 237. Als Beispiel nur Habermas, Diskursethik (1983), S. 119.
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renz, Konsens und Dissens, bilden gemeinsam die beiden gleichberechtigten Fluchtpunkte legitimer Aus-ein-ander-setzung. Freiheit und Verantwortung, um es mit stärker normativ geprägten Kategorien zu sagen, gehen Hand in Hand. Von diesem Standpunkt aus ist es auch möglich, den Bedingungen des moralischen Diskurses eine angemessenere Fassung zu geben. Die bisherige Form der Diskursvoraussetzungen leidet nämlich an Schwächen, die hier zwar im Einzelnen nicht diskutiert werden können, in den groben Zügen aber immerhin angesprochen werden sollen. Sie hängen insgesamt einem immer noch zu starken semantischen Regularismus nach. So scheint fraglich, ob es tatsächlich „die“ logisch-semantischen Regeln der ersten Regelgruppe (1.1 bis 1.3) sind, die unter dem Aspekt der Produktion als Diskursbedingungen vorausgesetzt werden müssen. In pragmatischer Sicht werden die semantischen Regeln nämlich kontingent. Sicher werden sich nur schwerlich Gegenbeispiele dafür anbringen lassen, dass die aufgezählten oder zumindest ähnliche Logik-Regeln nicht unterstellt werden. Sie selbst verdanken sich jedoch wieder einer eingespielten, durchaus normativ gehaltvollen Argumentationspraxis, in der sich auch eine andere Logik entwickeln könnte. In der zweiten, unter Prozedur-Aspekten aufgeführten Regelgruppe lässt die Forderung nach Wahrhaftigkeit (2.1) zudem bewusstseinsphilosophische Restspuren erahnen, auf die verzichtet werden kann, wenn die normativen Vorgaben, denen die im Grunde richtige Intuition dieser Regel entspringt, nur adäquater rekonstruiert würden. Zudem kann z. B. nachgefragt werden, wie die Regeln, jede Behauptung in den Diskurs einführen zu dürfen (3.2.b), und jede „Aussage oder Norm, die nicht Gegenstand der Diskussion ist“ (Was ist „Gegenstand der Diskussion“? Wer bestimmt das?) rechtfertigen zu müssen (2.2), zueinander stehen. Und wieso gehören sie unterschiedlichen Regel-Gruppen an (der Prozess-Gruppe einerseits, der Prozedur-Gruppe andererseits)? Und wie kann es sein, dass nur einige der Regeln unter Prozedur-Aspekten ethischen Gehalt aufweisen281? Welche hätten „nichtethischen“ Gehalt? In Anschluss an die von Habermas dargestellten Diskursregeln hat Philippe Mastronardi den Diskursbedingungen eine plausiblere Fassung gegeben. Sie stellen sich dabei als durchwegs normative Kriterien dar, die eher den Charakter konkretisierbarer Prinzipien als den starrer Regeln282 besitzen283:284 „(1) Die Selbstbindung der Gesprächsteilnehmer an die Geltungsansprüche, die sie gegenüber ihren Partnern erheben: Die Teilnehmer verpflichten sich zur Gewähr für Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit ihrer Äusserungen[.] (2) Die Begründungspflicht Habermas, Diskursethik (1983), S. 98. Es versteht sich freilich, dass auch Regeln „konkretisierbar“ sind. Aufgrund des weiteren Normbereichs lassen Prinzipien jedoch mehr Konkretisierungsmöglichkeiten zu. 283 Insofern liegen sie den ursprünglich in den „Wahrheitstheorien“ entwickelten Bedingungen näher, als die in den „Notizen“ von Alexy angeregten Regeln: vgl. Habermas, Wahrheitstheorien (31989 [1973]), S. 177 f. 284 Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 128 f., Rn. 402; vgl. auch die Abbildung auf S. 178. 281 282
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zu bestrittenen Äusserungen: die Teilnehmer verpflichten sich, ihre Geltungsansprüche zu begründen[.] (3) Die wechselseitige Anerkennung der Gesprächsteilnehmer: Diese anerkennen einander auf Gegenseitigkeit als ebenbürtige Partner der Kommunikation und billigen einander damit in dieser Beziehung formale Gleichheit zu[.] (4) Die symmetrischen Beziehungen im Diskurs: Die Beteiligten gewährleisten einander Chancengleichheit in Bezug auf Teilnahme am Gespräch, Beteiligung an der Argumentation, Einbringen von Anliegen und gegenseitige Verhaltensansprüche[.] (5) Die Einigung unter den Teilnehmern (Konsensprinzip): Das Gespräch ist so zu führen, dass es die zwanglose Einigung aller Betroffenen erzielen kann.“285 Diese diskursethischen Anforderungen286 lassen sich nun, noch etwas stärker strukturiert, zu einem Set von Prinzipien ergänzen, das wieder Anschluss an den Kanon von Prozess-, Produktions- und Prozedur-Aspekten findet, wobei hier vom strukturellen (Prozess), materiellen (Produktion) und formellen Aspekt (Prozedur) die Rede sein wird287. Werden diese „Prinzipien der Diskursethik“ dann im für die philosophische Ethik maßgeblichen kategorialen Spannungsfeld von Freiheit und Verantwortung verortet, ergibt sich folgendes Bild: Handlungsnormen können als gerechtfertigt gelten, wenn ihnen alle möglicherweise Betroffenen tatsächlich zustimmen, d. h. wenn sie sich über die fragliche Norm in einem realen Diskurs288 konsensuell einigen (Prinzip der „Einigung“ oder „Konsens“-Prinzip: „1a“). Dieser Konsens steht allerdings unter dem Vorbehalt, dass der moralische Diskurs, in dem er zustande kommen soll, allen Teilnehmenden die substanziell gleichen, reziprok geltenden Rechte gewährt (Prinzip der „Reziprozität“ oder „Gegenseitigkeit“: „1b“). Erst unter dieser Bedingung kann von der Verallgemeinerungs- oder Konsenswürdigkeit moralischer Normen gesprochen werden. Das gilt in struktureller Hinsicht, d. h. für die grundlegende Struktur des moralischen Diskurses. Unter dem materiellen Aspekt, unter dem der inhaltlichen Generierung, gilt einerseits das Prinzip der „Diskurs-Offenheit“ („2a“), wonach der moralische Diskurs gegen prinzipiell kein Problem verschlossen werden darf. Wie die moralischen Normen inhaltlich aussehen, darf im Vorhinein nicht bestimmt sein, sondern bleibt ganz in der Freiheit der Diskutierenden. Andererseits stehen die Diskursbeteiligten in der Verantwortung, zu einmal als verbindlich eingesetzten Normen im Diskurs Stellung zu nehmen und mögliche neue Normierungen daran zu messen (Prinzip der „Diskurs-Gebundenheit“: „2b“). In formeller Hinsicht gilt sodann das Prinzip der „diskursiven Chancengleichheit“ („3a“). Hierunter fallen all die Rechte und Pflichten, die den Teilnehmenden in verfahrensmäßiger Hinsicht einen fairen WettMastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 129, Rn. 402. Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 178, Abbildungsbeschriftung. 287 Diese Verschiebung in der Nomenklatur ist in gewisser Weise arbiträr. In einer interdisziplinären Theorie, die auch juristisch verfährt, hat sie jedoch den Vorteil, dass sie die Terminologie der aristotelischen Kanonik einer auch Juristinnen und Juristen vertrauten Sprache zugänglich macht. – Übersetzungsfehler gehen freilich zulasten des Verfassers. 288 Habermas, Diskursethik (1983), S. 77. 285 286
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bewerb ums bessere Argument289 sichern. Diese Verfahrensrechte erhalten die Diskursbeteiligten allerdings für den Preis der „Begründungspflicht“ („3b“). Sämtliche Geltungsansprüche, die sie aufgrund ihrer chancengleichen Stellung im Diskurs erheben können, müssen sie, sofern sie denn infrage gestellt werden, auch begründen.
Prinzipien der Diskursethik
3a
Freiheit
2a
Einigung (Konsens)
Reziprozität (Gegenseitigkeit)
Diskurs-Offenheit
Diskurs-Gebundenheit
Diskursive Chancengleichheit
Begründungspflicht
Verantwortung
1a
1b 2b 3b
Abbildung 8: Die Prinzipien der Diskursethik
Die Diskursprinzipien, deren Ausgestaltung hier nur angedeutet worden ist, sind also so zu lesen, dass jedem einzelnen von ihnen ein anderes gegenübersteht, das ebenso nach Berücksichtigung verlangt. Entscheidend ist, dass jeweils beide Prinzipien gleichermaßen zur Geltung kommen. Sie streben, wenn an dieser Stelle eine juristische Idee importiert werden darf, nach „praktischer Konkordanz“290. Erst dann ist gewährleistet, dass die berechtigte Freiheit zugunsten der Verantwortung nicht unterdrückt wird und die geschuldete Verantwortung nicht einer verantwortungslosen Freiheit zum Opfer fällt. Durch die strukturellen, materiellen und formellen Aspekte werden Freiheit und Verantwortung dabei in mehrerer Hinsicht verschränkt. Wenn in struktureller Hinsicht mit dem Konsensprinzip zunächst die Freiheit in den Vordergrund rückt, bringt das zu Bewusstsein, dass es sich beim Konsens um eine Kollektivgröße selbstgewählter Zustimmungen handelt. Aus dieser Sicht besteht die darin liegende Gefahr weniger im Zwang, einer Norm zustimmen zu müssen, sondern mehr in der Freiheit, ihr – mit den entsprechenden Konsequenzen ihrer Ingeltungsetzung – zustimmen zu können. Deshalb stellt das Reziprozitätsprinzip den Konsens unter einen Verantwortungsvorbehalt. Er soll die Willkürlichkeit des kollektiven Konsenses an die gleichberechtigte Möglichkeit individueller Dissense binden. Diese Verwebung von kollektiven und individuellen Elementen kehrt sich auf der formellen Ebene sozusagen um. Mit dem Prinzip der diskursiven Chancengleichheit ist es dort die jeweils individuelle Freiheit, chancengleich am Verfahren zu partizipieren, die zu schützen ist. Dagegen soll die Begründungspflicht, indem sie sie der Kritik der Diskursgemeinschaft überantwortet, Vgl. Habermas, Diskursethik (1983), S. 98. Hierzu Bäumlin. Staat, Recht und Geschichte (1961), z. B. S. 30 / 34. Richard Bäumlins Idee wurde v. a. von Konrad Hesse aufgenommen: Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland (161988), z. B. S. 26 f. / 134 f. / 138 f. Dazu Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 373 f., Rn. 392. 289 290
3. La¨sst sich Moral applizieren?
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dafür sorgen, dass diese Freiheit nicht missbraucht wird. Auf der dazwischen liegenden materiellen Ebene ziehen sich Freiheit und Verantwortung prozedural auf den personell sublimierten Inhalt zurück und treffen Individuum und Kollektiv in jeweils gleicher Weise. Moral, so kann die zentrale Frage der moralphilosophischen Diskussion auch im Anschluss an diese kritischen Interpretationen beantwortet werden, lässt sich diskursethisch begründen. Der anspruchsvolle deontologische Grundsatz der Verallgemeinerungswürdigkeit ist einer Begründung zugänglich, die ihn in einem konsequent dialogischen Sinn expliziert, und zwar auf einem Weg, der die universelle Rationalität moralischer Interaktionen rekonstruktiv auf den Begriff bringt. Dabei zieht sich der moralphilosophische Anspruch selbst auf die Bestimmung von Diskursbedingungen zurück, unter deren Einhaltung die Normen sowie die ihnen entsprechenden Handlungen, die im moralischen Diskurs hergestellt werden, die Vermutung für sich haben, rational und damit gerechtfertigt zu sein. Nun stellen die diskursethischen Prinzipien zweifellos hohe Anforderungen. Nicht weniger hoch ist aber auch der Anspruch, den sie einlösen sollen: die allgemeine Gültigkeit moralischer Normen. Die Anschlussfrage, die sich eine deontologische Moralkonzeption gefallen lassen muss, ist freilich, wie sich das Ideal, „die freundliche Utopie“291 des moralischen Diskurses dann mit einer (politischen) Realität ins Benehmen setzen lässt, deren (jedenfalls in modernen Demokratien) heterogene Pluralität und teilweise systemisch reduzierte Rationalität alles andere erwarten lassen als einen tatsächlichen zwanglosen Konsens. An dieser Stelle melden sich die lokalen Rationalitäten292 konkreter Lebensformen zu Wort. Für dieses Problem kann die Moralphilosophie aber nicht auf direktem Weg zur Verantwortung gezogen werden, es verweist vielmehr auf eine interdisziplinäre Theorie legitimer (demokratischer) Legitimation. Sicherlich muss sich darin auch zeigen, ob und wie sich der abstrakte Universalanspruch der Moralphilosophie mit Konzeptionen konkreter operierender Disziplinen überzeugend verknüpfen lässt. Sollte sich die moralphilosophisch ansetzende Diskursethik aber im interdisziplinären Diskurs bewähren, so käme ihr das wiederum auch als disziplinäre Konzeption zugute.
3. Lässt sich Moral applizieren? Bevor jedoch eine interdisziplinäre Perspektive eingenommen wird, soll noch gezeigt werden, in welche Probleme sich eine Konzeption verstrickt, die versucht, die normative Legitimation noch innerhalb der Moralphilosophie weiterzutreiben. Dafür bietet es sich an zu versuchen, das soeben entwickelte diskursethische Ideal direkt auf die Situation konkreter Urteile anzuwenden. Der bisher erarbeitete moralische Gesichtspunkt bleibt nämlich reichlich abstrakt und scheint sich über die 291 292
Christensen / Sokolowski, Die Krise der Kommunikation (2005), S. 119. Vgl. Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 80 – 82.
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II. Moralphilosophie: Diskursethik
konkrete politische Konstitution und die noch konkretere Urteilssituation, die hier Judikation genannt wird, noch auszuschweigen. Aus der hier vertretenen Sicht ist das kein Zufall. Denn der moralphilosophische Anspruch bezieht sich in thematischer Hinsicht auf den Bereich, der sich der Rechtfertigungsbedingungen überhaupt, in der hiesigen Terminologie: der Justifikation, annimmt. Die Intuition, die nun den „moralischen Applikationismus“ leitet, besteht darin, dass eine universelle moralphilosophische Konzeption auch für die konkrete Beurteilung bestimmter Fälle gewonnen werden muss. Wäre das zutreffend, dann würde die „moralische Judikation“ jeder juristischen den Platz streitig machen, zumindest müsste gefragt werden, wie die beiden „Judikationen“ zueinander stehen. Weil der moralische Applikationismus jedoch nicht überzeugt, kann dieses Problem dahingestellt bleiben und die Frage, wie die abstrakte Moral ihren Weg ins Konkrete findet, der interdisziplinären Diskussion überlassen werden. Das soll anhand des moralphilosophischen Teils der Konzeption des Sinns für Angemessenheit von Klaus Günther, der zu diesem Zweck kurz dargestellt wird, ebenso kurz erläutert werden. Die leitende Frage dabei lautet: Lässt sich Moral applizieren?
a) Der Sinn für Angemessenheit Mit seiner Unterscheidung von Begründungs- und Anwendungsdiskursen, die auch von Habermas aufgenommen worden ist,293 hat sich Klaus Günther der Aufgabe verschrieben, der Abstraktheit der diskursmoralischen Legitimationskonzeption ein konkreteres Gesicht zu geben.294 Günther ist der Auffassung, dass sich die Diskursethik auch im Kontext konkreter Urteilssituationen bewähren muss. Er geht sogar so weit zu behaupten, „daß das gesamte Projekt einer kognitivistischen Ethik davon abhängt, daß sie nicht nur ein Verfahren guter Gründe für allgemeinverbindliche Normen vorschlagen kann, sondern auch etwas zur Anwendung solcher Normen in konkreten Situationen zu sagen weiß.“295 Das hat auf den ersten Blick durchaus etwas an sich. Bereits mit dem doppelten disziplinären Einstieg in die Moralphilosophie einerseits und die juristische Methodik andererseits soll hier ja der Annahme Rechnung getragen werden, dass ein überzeugendes Verständnis legitimen Rechts erst aus einer Gesamtsicht sowohl aufs Abstrakte als auch aufs Konkrete gewonnen werden kann. Günthers Konzeption nun im Anschluss an die abstrakten Überlegungen zur Moralbegründung aufzunehmen, ist zudem deshalb angebracht, weil auch er eine diskursive kognitivistische Ethik vertritt296 und dabei 293 Z. B. Habermas, Treffen Hegels Einwände zu? (1991 [1986]), S. 24; ders., Vom Pragmatischen, Ethischen und Moralischen (1991), S. 113 f.; ders., Erläuterungen zur Diskursethik (1991), S. 137 – 142; ders., Faktizität und Geltung (41994), S. 265 – 269 u. ö. 294 V. a. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988); ferner ders., Ein normativer Begriff der Kohärenz (1989); ders., Universalistische Normbegründung und Normanwendung (1992); ders., Warum es Anwendungsdiskurse gibt (1993); ders., Kopf oder Füße? (2005). 295 Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 22. 296 Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 21 f.
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– ebenso wie in dieser Untersuchung der Fall – rekonstruktiv verfährt297. Was also hat es mit dem „Sinn für Angemessenheit“ auf sich?298 In seiner Reflexion des Rechtfertigungsproblems fällt Günther die wichtige Rolle auf, die dabei der angemessenen Einschätzung der konkreten Situation zukommt. Er hält sie für derart entscheidend, dass er ihr, gemessen an den Realitäten normativen Legitimierens, eine privilegierte Relevanz zusprechen will. Günther meint nämlich, die beiden anderen kritischen Punkte normativer Handlungssituationen, die Wahrheit der betroffenen Tatsachen sowie die Gültigkeit der einschlägigen Handlungsnormen sei in den meisten Fällen klar. Der „Akt der Auswahl relevanter Situationsmerkmale“ sei dagegen um Vieles problematischer. Deshalb gehe es v. a. um die richtige, d. h. im Lichte der wahren Tatsachen und gültigen Normen angemessene Situationsdeutung. Würde das übersehen, so resultiere leicht „eine mangelnde Sorgfalt bei der Berücksichtigung relevanter Tatsachen, eine fehlende Sensibilität für die besonderen Umstände und ein unzureichendes Gespür für die angesichts der besonderen Lage angemessene Handlungsweise.“299 Damit konkrete normative Entscheidungen als legitim gelten können, bedürfe es jedoch „sensible[r] Anwendungen“300 oder eben dessen, was mit der Rede vom „Sinn für Angemessenheit“301 zum Ausdruck kommt. Diesen seiner Auffassung nach blinden Fleck universalistischer Ethiken,302 der infolge der Veränderungsgeschwindigkeit und Kontingenzerfahrungen der Moderne noch zusätzlich verdeckt werde,303 will Günther ans Licht bringen, und als ethischer Kognitivist und Deontologe ist er davon überzeugt, dass das Problem der sensiblen Anwendung weder vom vermeintlich unvermeidlichen Kontingenzdruck moderner Systeme absorbiert304 noch der kontingenten Urteilskraft der Einzelnen Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 11 f. / 87 – 90. Zum Folgenden Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988). Günther entwickelt seine These des Anwendungsdiskurses nicht nur „in der Moral“, sondern auch „im Recht“: ebd., Untertitel. Entsprechend dem hier relevanten disziplinären Interesse wird fürs Folgende lediglich der moralphilosophische Teil seiner Argumentation herangezogen, der sich auf die „unparteilich[e] Anwendung von gültigen Normen überhaupt“ bezieht: ebd., S. 313. Zu den „Angemessenheitsargumentationen im Recht“ ebd., S. 309 – 353. 299 Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 14. 300 Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 59. 301 Günther entnimmt diesen Ausdruck einer Argumentation Dworkins, der gegen Hart vorbringt, in dem von ihm problematisierten Rechtsfall erlange die einschlägige Rechtsnorm ihre Gültigkeit nicht aufgrund ihres institutionellen Erlasses, sondern sie entspringe dem „Sinn für Angemessenheit, der sich im juristischen Berufsstand und in der Öffentlichkeit über Zeiten hinweg entwickelt hat.“: Dworkin, Das Regelmodell I (1984 [1978]), S. 82. 302 Sie neigten nämlich dazu, sich auf die Frage der Begründung bzw. Gültigkeit zu versteifen: „Eine universalistische Ethik erscheint dann als ein abstrakter, tatsachenblinder und verbohrter Rigorismus, der sich schnell unmoralischen Absichten dienstbar macht.“: Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 17. Zum Ganzen ebd., insb. S. 16 – 19. 303 Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 18 f. 304 Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), insb. S. 19 – 21. 297 298
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überlassen werden darf305. Günther will „dartun, daß eine rationale Lösung des Anwendungsproblems wenigstens bis zu einem gewissen Grad möglich ist [ . . . ].“306 Als diskursethischer Deontologe, der er außerdem ist, sieht er diese Lösung naheliegenderweise in einem Anwendungsdiskurs307, der in Ergänzung zum Begründungsdiskurs stehen soll. Nachdem im Begründungsdiskurs also unter möglichst idealen Bedingungen über die Gültigkeit von Normen befunden worden ist, sei es dann im Anwendungsdiskurs daran, die Situationsgerechtheit oder eben Angemessenheit308 der im Begründungsdiskurs als gültig ausgewiesenen Normen zu bestimmen. Erst im Zusammenspiel von Begründungs- und Anwendungsdiskurs werde der volle Sinn von Unparteilichkeit (im „universell-reziproken Sinn“ einerseits und im „applikativen Sinn“ andererseits) ausgeschöpft.309 Damit diese Konstruktion gelingen kann, muss natürlich vorausgesetzt werden, „daß eine Unterscheidung zwischen der Begründung und der Anwendung moralischer Normen möglich und sinnvoll ist.“310 Trennbarkeit und Trennungsbedürftigkeit von Begründung und Anwendung, kurz: die „Trennung von Begründung und Anwendung“311 wird damit zur Zentralthese von Günthers Angemessenheitskonzeption. Für Günther drängt sie sich bereits in wenigen Vorüberlegungen zur moralischen Rechtfertigung auf. Er hält nämlich dafür, „daß es zwei verschiedene Tätigkeiten sind, eine Norm zu rechtfertigen, indem man zeigt, daß es Gründe welcher Art auch immer dafür gibt, sie anzunehmen, oder eine Norm auf eine Situation zu beziehen, indem man fragt, ob und wie sie auf die Situation paßt [ . . . ].“312 „Für die Begründung ist nur die Norm selbst, unabhängig von ihrer Anwendung in einer einzelnen Situation, relevant. [ . . . ] Ob eine Norm das gemeinsame Interesse aller verkörpert, hängt nicht von ihrer Anwendung selbst, sondern von den Gründen ab, die wir dafür vorbringen können, daß die Norm von allen als eine Regel befolgt werden sollte.“313 Günther ist sich also sicher, die Begründung einer Norm von ihrem Kontext isolieren zu können, sogar zu müssen. Das ergibt sich aus seiner Überzeugung, „daß mit der Begründung einer moralischen Norm der Anspruch auf Universalität verbunden ist und daß moralische Normen nur unter Absehen besonderer Umstände des Einzelfalls universalisierbar sind.“314 Mit der Anwendung verhalte es sich aber gerade umgekehrt: „Für die Anwendung ist demgegenüber die einzelne Situation relevant, unabhängig davon, ob auch eine allge305 306 307 308 309 310 311 312 313 314
Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), insb. S. 15 f. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 21. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 12 / 58 / 60 – 64. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 56. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 55 f., Zitate auf S. 56. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 21. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 16. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 25. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 55. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 16.
3. La¨sst sich Moral applizieren?
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meine Befolgung im Interesse aller liegt. [ . . . ] Das Thema ist nicht die Geltung der Norm für jeden einzelnen und seine Interessen, sondern die Angemessenheit im Verhältnis zu allen Merkmalen einer einzelnen Situation.“315 „Beide Schritte“, so Günther, „lassen sich keineswegs in einen zusammenziehen.“ 316 Das ist die Intuition, die ihn leitet. Auf Anhieb ruft die These von der Trennung von Begründung und Anwendung jedoch gegenteilige Intuitionen hervor. Wie können Normen unter Absehen ihrer Kontexte begründet werden? Und wie können Normen in konkreten Situationen gerechtfertigt sein, wenn die Rechtfertigung nicht auch auf die Gültigkeit dieser Normen durchgreift? Dieser gegenläufigen Intuitionen ist sich Günther durchaus bewusst, weshalb er sich der Begründung seiner Trennungsthese recht eingehend widmet.317 Die Antwort auf den kontraintuitiven Reflex, meint er, hänge davon ab, „welche Rolle der semantische Gehalt einer moralischen Norm bei einer Prüfung durch (U)“, also den ethischen Universalisierungsgrundsatz, „spielt.“318 Freilich weiß Günther sogleich: „Für die Universalisierung einer Norm ist der Bedeutungsumfang der in ihr verwendeten Termini irrelevant.“319 Doch führen ihn die beiden ersten Schritte seines Verteidigungsplädoyers, eine semantische Analyse des Wortes Sollen320 und eine erste Untersuchung des Universalisierungsprinzips321, eher zur Bestätigung der Skepsis gegenüber der Trennungsthese, als dass sie diese Skepsis ausräumen würden. Gerade die Forderung von U, die Folgen und Nebenfolgen kritischer Handlungen und Handlungsnormen in den Verallgemeinerungstest miteinzubeziehen, scheint einen direkten Kontextbezug nahezulegen: „Ob die Konsequenzen einer Normanwendung meine Interessen und meine eigenen (rechtfertigungsbedürftigen) normativen Orientierungen berühren, weiß ich erst, wenn ich mir vorstelle, in welchen Situationen eine Anwendung des Normvorschlags welche Art von Folgen zeitigen wird.“322 Günther weist aber darauf hin, dass es sich bei den Folgen und Nebenwirkungen, die in den Legitimationsprozess einzubeziehen sind, lediglich um prospektive Situationsbezüge handelt, deren Relevanzhorizont außerdem zeitlichen Veränderungen unterworfen ist.323 Er betont den idealisierenden Zug dieses Aspekts des Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 55 f. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 57. 317 Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 21 f. Ganze Argumentation ebd., S. 25 – 99. 318 Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 29. 319 Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 29. 320 Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 28 – 36. Günther bezieht sich dabei auf Hares analytisch-semantische Normenuntersuchungen, insb. auf Hare, Die Sprache der Moral (1972 [1952]); ders., Freiheit und Vernunft (1973 [1963]); sowie ders., Moralisches Denken (1992 [1981]). 321 Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 37 – 44. 322 Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 43. 323 Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 43 f. 315 316
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Universalisierungsgrundsatzes und sieht dessen eigentliche Funktion dadurch gefährdet. Es sei nämlich „offensichtlich der Fall, daß wir niemals über ein solches [sc. alle Anwendungssituationen umfassendes] Wissen verfügen. Damit bricht die Funktion des Universalisierungsgrundsatzes als eines Unparteilichkeitsprinzips, das sich auf die Anwendung einer Norm in jeder einzelnen Situation bezieht, zusammen.“324 Günther meint also, die unparteiliche Legitimation gelinge erst, wenn sie die Folgen und Nebenwirkungen einer allgemeinen Normbefolgung tatsächlich einschließt.325 An diesem Punkt der Argumentation findet die Trennungsthese nun ihren Platz: Weil eine vollständig unparteiliche Legitimation niemals mit vollständigem Kontextwissen rechnen kann, müsse U und müssten mit diesem gültige Normen überhaupt mit einem Zeit- und Wissensindex versehen werden, der die Unvorhersehbarkeit von Folgen und Nebenwirkung berücksichtigt.326 So ziehe sich die Legitimation aber zunächst auf eine dekontextualisierte Begründungs- oder Geltungsfrage zurück, die einer Ergänzung durch die Anwendungsfrage bedürfe. Folgerichtig unterscheidet Günther ein starkes, Begründung und Anwendung gleichermaßen umfassendes, und ein schwaches, auf die Begründung bzw. Geltung reduziertes Universalisierungsprinzip, das als Begründungsprinzip327 auf die Ergänzung durch ein Anwendungsprinzip angewiesen ist.328 Die starke Fassung des Universalisierungsprinzips entspricht im Grunde der bekannten Verallgemeinerungsforderung, dass Normen nur gerechtfertigt sind, wenn sie unter Berücksichtigung von Folgen und Nebenfolgen für alle Betroffenen akzeptabel sind.329 Das durch die Zeit- und Wissensindexierung auf Begründungsfragen spezialisierte Universalisierungsprinzip lautet dagegen: „Eine Norm ist gültig, wenn die Folgen und Nebenwirkungen einer Normbefolgung unter gleichbleibenden Umständen für die Interessen eines jeden einzelnen von allen akzeptiert werden können.“330 Weil Begründung (Gültigkeit) und Anwendung (Angemessenheit) nach Günther „nicht uno actu thematisiert werden kann“,331 wird U also mit einer ceteris paribus-Klausel332 ausgestattet, mit der zunächst die Begründetheit von Normen sichergestellt werden soll. Das verbleibende Angemessenheitsproblem soll sodann mit dem ergänzenden Anwendungsprinzip erreicht werden: „Entscheiden, ob es richtig ist, eine Norm in dieser Situation anzuwenden, können wir nur, wenn wir alle Merkmale der Situation berücksichtigen und daraufhin prüfen, ob sie der Situation angemessen ist.“333 324 325 326 327 328 329 330 331 332 333
Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 51. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 62. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 52 f. / 62. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 44 u. ö. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 27 / 45 – 59. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 50. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 53, H. n. O. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 55. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 266. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 55.
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Es läuft auf die „Forderung“ hinaus, „in einer einzelnen Situation alle Merkmale zu berücksichtigen“,334 wobei unter „Situationsmerkmale“ in einem neutralen Sinn sowohl faktische wie normative Gesichtspunkte verstanden werden335. Während das schwache U fortan also nur noch klären soll, „ob die Norm als eine Regel in unserem gemeinsamen Interesse liegt“,336 ist die Frage, ob eine gültige Regel in einer bestimmten Situation angemessen ist, unter dem Anwendungsprinzip zu prüfen. Dementsprechend „geht es“ im Anwendungsdiskurs „nicht schon um die Verallgemeinerungsfähigkeit betroffener Interessen, sondern zunächst nur um ihre Entdeckung und Situationsrelevanz.“337 Es geht um die Berücksichtigung aller relevanten Situationsmerkmale. 338 Die Differenzierung zwischen Begründung und Anwendung sowie zwischen Begründungs- und Anwendungsdiskurs unterlegt Günther zudem mit einer normtypischen Unterscheidung. So spricht er in Bezug auf Begründungsdiskurse von prima facie-Normen, d. h. von „Verpflichtung ,unter gleichbleibenden Umständen‘ (things being equal)“, und in Bezug auf Anwendungssituationen von definitiven Normen als Verpflichtungen „ ,unter Berücksichtigung aller Umstände‘ (all things considered)“339.340 Nun macht Günther mit diesen Weichenstellungen zwar deutlich, dass bei der Anwendung von Normen andere Gründe spielen sollen als bei ihrer Begründung,341 doch wie genau eine „Logik der Angemessenheitsargumentation“342 auszusehen hat, steht immer noch aus. Dabei macht sich Günther keine Illusionen: „Der Mikrokosmos einer jeden einzelnen Situation ist ebenso unendlich wie der Makrokosmos aller Situationen, auf die eine Norm anwendbar ist.“343 Seine verschiedenen Auseinandersetzungen mit anderen Vorschlägen zur Differenzierung von Normstufen und Anwendungsverfahren344 führen ihn dabei zum vorläufigen Ergebnis, dass „sich die Rationalität der Anwendung an der sukzessive erweiterten Berücksichtigung von Situationsmerkmalen Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 56. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 47. 336 Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 54 f. 337 Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 58. 338 Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 12 / 63. 339 Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 258. 340 Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 261 – 276. Günther greift dabei eine Idee John R. Searls auf: vgl. Searle, Prima Facie Obligations (1978). Dazu insb. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 263 f. 341 Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 12 / 257. 342 Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 287 – 307. Ganze Argumentation ebd., S. 255 – 307. 343 Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 58, m. w. H. 344 Günther setzt sich in diesem Zusammenhang mit Kurt Baier und Robert Alexy, erneut mit Richard M. Hare und mit Ernst Tugendhat auseinander. Zu Baiers normativen Ebenen Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 261 – 263; zu Alexys Unterscheidung von Regel und Prinzip ebd., S. 268 – 276; zu Hares Zwei-Stufen-Konzeption ebd., S. 278 – 283; und zu Tugendhats moralischem Lernmodell ebd., S. 283 – 286. 334 335
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und der dadurch systematisch produzierten Kollision verschiedener anwendbarer Normen bemißt“.345 Der Angemessenheitsdiskurs dreht sich für Günther damit um die Stützung der Relevanzbehauptung eines Situationsmerkmals, die er durch dreierlei Argumentationsansätze systematisiert sieht:346 Sie beziehen sich erstens auf die Wahrheit der Situationsmerkmale, zweitens auf das Deckungsverhältnis von Norm und Situation und drittens auf den Einbezug von Situationsmerkmalen, die für die Einschlägigkeit weiterer Normen relevant sind.347 Argumente des ersten Ansatzes müssten sich dabei im theoretischen Diskurs bewähren.348 Das Zweite erinnert unweigerlich an die Probleme der juristischen Methodik, die auch Günther für seine moralphilosophischen Überlegungen zu Rate zieht.349 Er kommt dabei zu dem wenig überraschenden Schluss, „daß die Bedeutung einer Norm oder das, was mit den ,gleichbleibenden Umständen’ gemeint ist, keineswegs festliegt. Oft muß die Bedeutung erst durch eine Wortgebrauchsregel festgelegt werden, die ihrerseits zu begründen ist.“350 Dafür bemüht Günther erneut Engischs in der Rechtswissenschaft so bekanntes Hin- und Herwandern des Blicks und fordert, „daß alle Bedeutungsvarianten auf alle Merkmale der Situationsbeschreibung bezogen werden.“351 Es seien „die in der Situation möglichen Bedeutungsvarianten durchzuspielen“,352 wobei er die Vollständigkeit der Situationsbeschreibung betont.353 Schließlich rechnet Günther auch den dritten Argumentationsansatz, den Einbezug von Situationsmerkmalen, die auf die Einschlägigkeit anderer als der bisher herbeigezogenen Normen abzielen, dem Problem der vollständigen Situationsbeschreibung zu. Dabei gehe es um die Kollision der verschiedenen möglicherweise zum Zug kommenden prima facie-Normen, die jeweils als Kandidatinnen für die ausschließliche Anwendung auf die bestimmte Situation bereitstehen.354 „Mit diesem Argumentationszug“, so Günther, „reicht die Angemessenheitsargumentation in praktische Vernunft hinein [ . . . ].“355 Es ist darum auch dieses an die Relevanz von Situationsmerkmalen geknüpfte Kollisions- oder Abwägungsproblem, dem sich Günther am Ende seiner moralphilosophischen Überlegungen mit besonderer Sorgfalt widmet, und auch dafür benötigt er wiederum ein stichhaltiges Kriterium. Klar zu sein scheint, dass nur 345 346 347 348 349 350 351 352 353 354 355
Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 287. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 287 – 299. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 287; Beispiel ebd., S. 288 f. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 289 f. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 290 – 296. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 295. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 293, m. w. N. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 294. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 294 f. / 295 f. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 296 f. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 297.
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„ein formales Kriterium“ infrage kommt:356 „Der Maßstab, nach dem wir uns bei der Abwägung kollidierender Normen richten, darf nicht seinerseits eine materiale Vorgabe enthalten, die bestimmte normative Gesichtspunkte vor anderen auszeichnet.“357 Für Günther ist dieser geltungsunabhängige358 und nur in Anwendungs-, nicht aber in Begründungsdiskursen spielende359 Maßstab die „Kohärenz der Normen“.360 So lässt sich nach Günther „eine Norm genau dann unter Berücksichtigung aller Umstände anwenden, wenn sie mit der Anwendung aller anderen Normen in einer Situation und allen in einer Situation möglichen Bedeutungsvarianten vereinbar ist. Das formale Kriterium für die Angemessenheit kann daher nur die Kohärenz der Normen mit der in der Situation anwendbaren Normen und Bedeutungsvarianten sein.“361 Dieses Kohärenzkriterium operationalisiert Günther zunächst auf folgende Weise: „(1) Eine Norm Nx ist angemessen in der Situation Sx, wenn sie mit allen anderen in Sx anwendbaren Bedeutungsvarianten NBn und Normen Nn vereinbar ist und wenn die Gültigkeit jeder Bedeutungsvariante und jeder einzelnen Norm in einem Begründungsdiskurs gerechtfertigt werden könnte.“ Daran ist freilich problematisch, dass die „unendliche normative Einbildungskraft“, die für das Bescheidwissen über die Gültigkeit von Normen erforderlich wäre, nicht verfügbar ist.362 Die legitimatorische Zwischenstufe, die sich Günther mit dem Begründungsdiskurs bzw. den prima facie gültigen Normen für den Übergang zum Anwendungsdiskurs geschaffen hat, entpuppt sich an dieser Stelle als Problem. Diesem Problem kommt Günther bei, indem er die prima facie gültigen Normen, die er für den applikativen Kohärenztest voraussetzen muss, erneut mit einem Index, diesmal mit einem „Lebensform-Index“363 versieht. In Modifikation von (1) stellt er somit folgendes zweites Kohärenzkriterium auf: „(2) Eine Norm Nx ist angemessen anwendbar in Sx, wenn sie mit allen anderen in Sx anwendbaren Normen Nl vereinbar ist, die zu einer Lebensform Lx gehören und in einem Begründungsdiskurs gerechtfertigt werden können. (Entsprechendes gilt für alle Bedeutungsvarianten.)“364 Allerdings ist die nähere Ausgestaltung des Kohärenzpostulats, wie Günther bekennt, auch damit noch nicht ganz ausbuchstabiert.365 Für die verbleibenden Unklarheiten verweist er deshalb zum Schluss seiner Argumentation noch auf innerhalb einer bestimmten Lebensform wirksame „Paradigmen“ oder „Schemata“, durch die die Kohärenztests mittels einer transitiven Ordnung vorstruk356 357 358 359 360 361 362 363 364 365
Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 303. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 301. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 307. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 306, m. w. H. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 299 – 307. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 303 f. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 304. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 304 f. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 304 f. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 307.
148
II. Moralphilosophie: Diskursethik
turiert werden können. „Zu einer solchen, jederzeit durch Begründungs- und Anwendungsdiskurse änderbaren, transitiven Ordnung gehören mit der jeweils gegebenen Menge gültiger Normen eine bestimmte Schematisierung möglicher Anwendungssituationen, strukturierte Situationsbeschreibungen und Kombinationen von Situationsmerkmalen.“ 366
b) Probleme des moralischen Applikationismus Gegen diesen moralischen Applikationismus ist einiges einzuwenden.367 Zunächst dürfte nach der in der juristischen Methodik eingehend ausgeführten Positivismuskritik, die hier nicht wiederholt werden soll,368 bereits deutlich geworden sein, dass sich Günther seine Begründungs-Anwendungs-Dichotomie mit einem mindestens teilweisen ontologischen Normverständnis erkauft. Das zeigt sich nicht nur in der oberflächlichen Rezeption der juristischen Methodenlehre, soweit sie für das Deckungsverhältnis von „Norm“ und „Situation“ eingeholt wird – mit der Forderung nach einer vollständigen Situationsbeschreibung ist es wohl kaum getan –, sondern auch darin, dass mit der Trennungsthese (prima facie-)„Normen“ schon vorausgesetzt werden müssen, bevor ein Fall entschieden ist: „Die schwächere Fassung von (U) knüpft an einen schon ausgewählten Normvorschlag an [ . . . ].“369 Angemessen urteilen bedeutet für Günther nichts anderes als „das Richtige treffen“.370 Damit operiert er in der Moralphilosophie mit derselben lex ante casum, die in der juristischen Methodentheorie und -praxis zwar immer noch umgeht, theoretisch aber als überwunden gelten darf. Sicherlich will Günther mit dem Anwendungsdiskurs gerade ein Verfahren anbieten, mit dem die Aporien einer durch und durch semantisch festgelegten Norm aufgelöst werden sollen. Dennoch tut Günther aber so, als müssten sämtliche Situationsmerkmale vom semantischen Gehalt einer „Norm“ bereits von vornherein erfasst sein. Die „semantische Unvollständigkeit“ einer begründeten „Norm“ wird als Mangel angesehen, der durch eine Anwendungstheorie zu beheben ist. Was Günther mit der Trennung von Begründung und Anwendung im Grunde im Sinn hat, wird erkennbar, wenn er behauptet, es genüge, die Beobachtungsperspektive erst am Ende des Legitimationsprozesses, und damit ist der AnwendungsdisGünther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 307. Kritisch zu Günthers Konzeption bereits innerhalb der Diskurstheorie Alexy, Normbegründung und Normanwendung (1995 [1993]). Den einzelnen Argumentationsschritten Günthers kann hier nicht Rechnung getragen werden. Die folgende Kritik beschränkt sich auf die hier relevanten Hauptprobleme seiner Konzeption. Vgl. zum Folgenden auch Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 85 – 89; dies., Gesetzesbindung oder die Entskandalisierung des Paradoxes? (2007), S. 137 – 147; ferner Somek / Forgó, Nachpositivistisches Rechtsdenken (1996), insb. S. 336 – 346. 368 Kapitel I, insb. I. 1. b) bis I. 2. b). 369 Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 58. 370 Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 14. 366 367
3. La¨sst sich Moral applizieren?
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kurs gemeint, einbeziehen zu können.371 Nun ist die grundsätzliche, aus ihrem Kontext ersichtliche Stoßrichtung dieser Aussage ja begrüßenswert, insofern sie sich gegen die skeptische systemtheoretische Auffassung wendet, auf die Teilnahmeperspektive überhaupt verzichten zu müssen und nur die Beobachtungssicht einnehmen zu können.372 Günther scheint aber z. T. in umgekehrter Weise zu glauben, dass der Begründungsdiskurs allein mit der Teilnahmeperspektive auskommen kann, und diese erst im Anwendungsdiskurs durch die Beobachtungssicht ergänzt oder gar getauscht werden muss. Diese Vermutung bestätigt sich in Günthers abstrakter Gegenüberstellung von „Norm“ und „Situation“373, wobei er außerdem dazu neigt, der „Situation“ einen eindimensionalen Wahrheitsbezug, der „Norm“ hingegen einen ebenso eindimensionalen Richtigkeitsbezug zu unterstellen374. Das ist nicht haltbar. Normativität und Faktizität sind, wie insbesondere die normstrukturellen Überlegungen in der juristischen Methodik gezeigt haben, aber auch eine konsequente diskursethische Interpretation des Moralprinzips ergibt, von Anfang an reziprok kontaminiert. Ebenso wenig wie (auch nur streckenweise) die Teilnahme nicht abgestreift werden kann, lassen sich Beobachtungen aus der Erzeugung von Normen eliminieren. Anders ausgedrückt: Normprogramm und Normbereich können zwar in der Analyse, nicht aber in der Sache voneinander isoliert werden. Nun wäre das alles wenig problematisch, wenn sich solche normentheoretischen Grundannahmen nicht legitimatorisch auswirken würden. Genau das aber passiert mit der gewaltsam angelegten Trennung von Begründung und Anwendung. Werden nämlich faktische Elemente aus dem Begründungsdiskurs ausgesondert und wird die Rechtfertigung von „Normen“ ganz auf ein normativistisches „Geltungs“problem reduziert, dann verliert diese Rechtfertigung nicht nur an sich ihre Plausibilität, sondern sie leistet auch dem Einwand normativistischer Faktenblindheit Vorschub, den Günther mit seiner Idee des Angemessenheitsdiskurses gerade beseitigen will. Mit diesem, auf die Begründung von „Normen“ bezogenen Teil seiner Argumentation setzt Günther die Diskursethik noch weiter unter formalistischen Rigorismusverdacht, als sie ihn ohnehin schon auf ihrer Seite hat. Leider macht der Wechsel in den Anwendungsdiskurs die Sache auch nicht besser. Denn, entlastet durch die uneinlösbar einseitigen Unterstellungen des Begründungsdiskurses, kehren sich die Vorzeichen im Anwendungsdiskurs dort lediglich um: Weil die einschlägigen bzw. prima facie kandidierenden „Normen“ bereits „gültig“ sind, soll sich der Situationsbezug nun in voller Breite entfalten können. Die Wahrheit von Tatsachen, die Übereinstimmung von „Norm“ und Fall („Situation“) sowie die Kohärenz des normativen Ganzen375 kann jetzt abgekoppelt von legitimatorisch probGünther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 21. Zu diesem Problem der Systemlogik bereits zuvor, I. 3. b), insb. (1). 373 Dazu Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 12 / 19. 374 Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 12. 375 Speziell zu dieser simplizistischen Vorstellung eines normativen Ganzen Christensen / Kudlich, Gesetzesbindung oder die Entskandalisierung des Paradoxes? (2007), S. 140 f., m. w. H. 371 372
150
II. Moralphilosophie: Diskursethik
lematischen Fragestellungen und letztlich im vorgegebenen Rahmen lebensformspezifischer Schematisierungen376 geklärt werden. So lässt sich auch der Eindruck nicht ganz zerstreuen, dass es sich beim Anwendungsdiskurs um gar keinen Diskurs im anspruchsvollen Sinn der Diskursethik handelt. Es fragt sich z. B., inwieweit die Bestimmung einer „oft“ nötigen „Wortgebrauchsregel“ noch auf den Dialog angewiesen ist, wenn die verschiedenen Bedeutungsvarianten doch „durchzuspielen“ sind. Und wenn für die Kohärenzprüfung nun in letzter Instanz nicht mehr die normativ anspruchsvollen Diskursbedingungen entscheidend sein sollen, sondern vorgegebene Paradigmen und Schemata greifen, rückt die Diskursidee, auch wenn das nicht in Günthers Absicht stehen mag,377 in den Hintergrund. Damit leitet die normstrukturelle Kritik an Günthers moralischem Applikationismus bereits zu einer diskurstheoretischen Binnenkritik über. Günthers Hauptargument gegen die (alleinige) starke Lesart des Universalisierungsprinzips und für die These von der Trennung von Begründung und Anwendung war ja, dass U mit seinem Anspruch an Universalität von sämtlichen Kontexten absehen muss. Der reziprok-universalistische Sinn normativer Rechtfertigung ergebe sich erst auf der Grundlage einer völligen Dekontextualisierung. Und diese könne nur in einem von konkreten Kontextbezügen befreiten Begründungsdiskurs verwirklicht werden. Günther versteht die „Dekontextualisierung“, die den Sinn von Universalisierungswürdigkeit zum Ausdruck bringt, also wörtlich.378 Allerdings bereitet er damit ein unter diskurstheoretischen Aspekten unheilvolles Missverständnis vor. Die „Tilgung von Raum und Zeit“379, die in den Anspruch an Universalisierbarkeit oder Unparteilichkeit eingebaut ist, bedeutet entgegen Günther nämlich nicht die Loslösung von Kontexten. Die Prüfung auf Verallgemeinerung erfolgt vielmehr durch die Einbindung sämtlicher (verfügbaren) Kontexte. Der Witz der Diskursethik liegt, so gesehen, in der Dekontextualisierung durch Kontextualisierung. Gerade dadurch behalten sich Diskursergebnisse jenes fallible, jenes Moment der Offenheit zurück, das universelle Legitimität überhaupt erst ermöglicht. Auch nur einen Aspekt des Legitimationsverfahrens von Kontexten auf direkte Weise lösen zu wollen, würde den Sinn universeller Unparteilichkeit dagegen unterlaufen. Natürlich hält Günther genau diesen Weg für nicht gangbar, weil er vor den entsprechenden Idealisierungen des „starken“ Universalisierungsgrundsatzes zurückschreckt. Günther erkennt zutreffend, dass es sich nicht nur bei der allgemeinen Zustimmungswürdigkeit, also der Anmaßung von U in normativer Hinsicht, son376 Es soll nicht vergessen gehen, dass Günther die lebensformspezifischen Paradigmen und Schemata wiederum unter den jederzeitigen Vorbehalt von Begründungs- und Anwendungsdiskursen stellt: Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 307. Angesichts der Probleme, die soeben für genau diese Diskurse genannt worden sind, scheint ein solcher Vorbehalt allerdings ziemlich zahnlos. 377 Vgl. Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 63. 378 Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 16 f. 379 Hierzu Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne (1983), S. 375.
3. La¨sst sich Moral applizieren?
151
dern auch beim universellen Kontextbezug, also bei der Anmaßung von U in faktischer Hinsicht, um eine ideale Projektion handelt. Anders als die allgemeine Konsenswürdigkeit hält er die Anmaßung in faktischer Hinsicht aber offenbar für ein Problem. Dass die unendlichen möglichen Situationsbezüge unter den Bedingungen beschränkten Wissens und ändernder Verhältnisse nicht tatsächlich eingelöst werden können, betrachtet er als ein Manko, das durch Angemessenheitskonstruktionen auszugleichen ist. Abgesehen aber davon, dass erstaunt, weshalb Günther dieselbe Sorge nicht auch in Bezug auf den nicht weniger unwahrscheinlichen Konsens aller Betroffenen umtreibt, fragt sich, ob die Diskursethik nicht gerade von der Kontrafaktizität bzw. nur potenziellen Faktizität ihrer Unterstellungen lebt. Das bringt im Grunde auch Günther zum Ausdruck, wenn er gegen die Systemtheorie vorbringt, es sei „sinnvoll, ein Stück weit mit der Unterstellung zu arbeiten, es lasse sich unendliches Wissen in unendlicher Zeit erreichen.“380 Allerdings ist der Diskursethik mit einer nur „stückweiten“ Idealisierung nicht gedient. Denn durch – auch nur partielle – Zugeständnisse in ihrer Eigenschaft als Ideale verlieren Ideale eben ihren Sinn. Durch die Halbierung von U belässt Günther den Begründungsdiskurs zwar im Idealen, den Anwendungsdiskurs trennt er aus der Idealität aber heraus. Damit geht ein wesentlicher Bestandteil der Diskursidee verloren. Diesen Argumenten wird Günther wiederum einen ethischen Rigorismus vorhalten, der Gefahr läuft, bei der Verwirklichung seiner idealen Ziele ins Unmoralische abzugleiten. Der Gegeneinwand des Rigorismus ist aber nur dann gerechtfertigt, wenn sich nicht zeigen lässt, dass das universalistische Ideal der Diskursethik aufrecht erhalten bleiben und zugleich eine überzeugende realisierbare Konkretisierung dieser Idee erarbeitet werden kann. Darauf wird in einer interdisziplinären Perspektive zurückzukommen sein. Was Günther jedoch unternimmt, ist der Versuch, die ideale Moral bereits in ihrer Idealität herabzustufen. Dabei vermischt Günther die abstrakte moralphilosophische Rekonstruktion der Diskursethik mit Elementen, die direkt einem konkreten (und zudem unzulänglich rekonstruierten) juristischen Normerzeugungsprozess entspringen. Es wundert daher auch nicht, dass die Idee des „Sinns für Angemessenheit“ einem juristischen Fallbeispiel entliehen ist, und zwar im Kontext einer konkreten Rechtsordnung, die mit dem (lebensformspezifischen) Anspruch demokratischer Rechtsstaatlichkeit auftritt381. Der Legitimationsprozess einer bestimmten Rechtsordnung oder eines bestimmten Rechtsordnungstyps lässt sich in einer universellen moralphilosophischen Konzeption aber nur so weit abbilden, wie dessen Strukturen auch wirklich universalisierungsfähig sind. Der Rest kann, muss aber auch einer philosophischen Reflexion überlassen werden, die sich mit der Judikationsproblematik einer bestimmten Ordnungsform bescheidet. Das Problem an Günthers Konzeption ist dabei nicht, dass er den Prozess der Judikation überhaupt untersucht, sondern dass er meint, das Judikationsproblem bereits innerhalb der Moralphilosophie universell lösen zu kön380 381
Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 21. Fn. 301.
152
II. Moralphilosophie: Diskursethik
nen. Die Gewalt, die er dabei dem in Wirklichkeit nicht universalisierbaren Judikationsprozess antut, schlägt dann bis zur Moral selbst hindurch: Als auf „Begründungs“fragen reduzierte Halbmoral wird sie ins normative Abseits gedrängt. Tatsächlich aber ist die „Anwendung“ (recte: Konkretisierung) in der diskursethischen Rekonstruktion der Moral bereits enthalten. Moral noch einmal „applizieren“ zu wollen, muss deshalb unweigerlich auf Kosten der universellen Idealität gehen, der die Moral ihre berechtigte Stellung verdankt. Moral, so lässt sich resümieren, lässt sich nicht applizieren. Aus der Sicht einer interdisziplinären Legitimationstheorie, die „Moral und Recht“, universelle Justifikation und lebensformspezifische Judikation gleichermaßen umfasst, können die Probleme von Günthers moralischem Applikationismus folgendermaßen nachvollzogen werden. Mit seiner Konzeption des Sinns für Angemessenheit spricht Günther nicht als Moralphilosoph, sondern als Urteilsphilosoph: Das Ziel seines „moralphilosophischen“ Teils („Anwendungsargumentationen in der Moral“) besteht „in der Konstruktion einer Theorie der unparteilichen Anwendung von gültigen Normen überhaupt“.382 Von der (erst nach einer sorgfältigeren normstrukturellen Analyse erkennbaren) unglücklichen Verwendung von „Anwendung“ (recte: Konkretisierung) und „gültigen Normen“ (recte: geltenden Normtexten) einmal abgesehen, entspricht das mehr oder weniger dem Anspruchsbereich, dem hier der Name Urteilsphilosophie gegeben wird383. Günthers Konzeption kann so gelesen werden, dass sie die philosophischen Bedingungen normativer Judikation untersucht. Aus Furcht vor den scheinbar allzu starken Idealisierungen des moralischen Gesichtspunkts (die ihren Schrecken mit einer kohärent eingefügten konstitutionstheoretischen, von Günther aber ausgesparten Konzeption384 verlieren würden) sieht sich Günther allerdings genötigt, seine judikationsphilosophischen Überlegungen in die Moralphilosophie zu importieren. Weil dieser Direktimport aber einem Bereich entstammt, der sich an eine bestimmte, unvermittelt nicht universalisierbare Lebensform anlehnt, wird der Moral dadurch der Teilgehalt amputiert, der auch in der Moralphilosophie, aber aufs Universelle beschränkt, das Problem der Judikation umfasst. Die Konsequenz daraus ist eine halbierte universelle Moral und eine gewaltsam universalisierte Judikationsphilosophie, deren pseudo-universelle Rationalität mit einem „Lebensform-Index“ gesichert werden muss. Das alles heißt allerdings nicht, dass die Philosophie oder die philosophische Ethik zum Problem der Judikation nicht auch etwas zu sagen hätte. Wenn die Rationalität konkreter normativer Urteile nicht auch im Rahmen einer Urteils- oder Judikationsphilosophie rekonstruiert werden könnte, würde einer Legitimationstheorie mit weiterreichendem Anspruch in der Tat eine wichtige Reflexionsstufe fehlen. Die Reflexion, die die Philosophie in diesem Zusammenhang zu leisten 382 383 384
Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 313. Dazu Kapitel VII im Anschluss an Kapitel VI. Später, Kapitel IV und V.
4. Zusammenfassung
153
hat, muss jedoch von zwei Seiten her sorgsam angegangen werden. Zum einen muss sie die in ihrem Anspruchsbereich durchaus überzeugenden Ideale der Moralphilosophie ernstnehmen und einen Weg finden, wie die universale Moral mit den berechtigen Ansprüchen einer bestimmten Lebensform ins Benehmen gesetzt werden kann. Dafür ist es aber ratsam, den Schritt vom Universum zur Lebensform, von der (moralischen) Justifikation zur (politischen) Konstitution, zunächst als ganzen zu vollziehen. Dann wird es leichter sein, von einer auf eine bestimmte Lebensform bezogenen Konzeption des Politischen aus auch den weiteren Schritt zur Judikation zu gehen. Zum andern muss auch die Judikationsphilosophie viel enger mit der Praxis juristischen Urteilens verknüpft werden, als es bei Günthers moralischer Anwendungstheorie der Fall ist. Die normativen Strukturen dieser Praxis (die „Logik des Anwendungsdiskurses“), lassen sich nämlich am besten an den institutionellen Rahmenbedingungen ablesen, mit denen die Rechtswissenschaft hantiert. Die ethische „Logik der Judikation“ könnte dann besser als philosophische Reflexion juristischer Konkretisierungsarbeit, und zwar innerhalb einer bestimmten Lebensform, verstanden werden. Dafür ist die Moralphilosophie aber gezwungen, die Perspektive zu wechseln und sich, wie hier versucht wird, in hinreichender Verständigungsbereitschaft auch in der Rechtswissenschaft zu orientieren. Eine überzeugende Philosophie der Judikation und mit ihr eine sowohl im Abstrakten als auch im Konkreten überzeugende Gesamtkonzeption legitimen Rechts wird sich erst in einer interdisziplinären Sicht erarbeiten lassen.
4. Zusammenfassung Die moralphilosophische Aufgabe besteht darin, das Recht in seinem thematisch-methodisch abstraktesten Sinn, als Rechtfertigungspraxis überhaupt und philosophisch, zu legitimieren. Dafür drängt sich zunächst die Frage auf, was Moral überhaupt heißt bzw. worin der moral point of view sinnvollerweise besteht. Die teleologische Antwort darauf lautet, das Moralische bringe die Vorstellung vom Guten zum Ausdruck. Die utilitaristische Variante der teleologischen Ethik beruft sich dabei auf ein Legitimationskonzept, das sich am Nutzen der Betroffenen orientiert und diejenigen Normen und Handlungen als gerechtfertigt auszeichnet, die die größtmöglichen Nutzensummen erwarten lassen. Der Kommunitarismus als andere Variante der teleologischen Ethik hält demgegenüber die Befolgung von einer historisch-kulturellen Gemeinschaft eingeschriebenen Werten für moralisch maßgeblich. Abgesehen jedoch davon, dass sowohl der Utilitarismus als auch der Kommunitarismus bereits bei den Umsetzungsmöglichkeiten der jeweiligen Forderungen auf Probleme stößt, bleiben beide Ansätze und das teleologische Moralverständnis insgesamt hinter dem moralisch geforderten Anspruch an Gerechtigkeit zurück. Erst das deontologische Moralkonzept, das das Gute als „Für-alle-gleichermaßen-Gutes“ und damit als das Gerechte interpretiert, expliziert den moralischen Standpunkt auf angemessene Weise. Zum Ausdruck kommt diese Gerechtigkeitsmoral etwa in der Idee der Unparteilichkeit, v. a. aber im Prinzip der Verallgemei-
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II. Moralphilosophie: Diskursethik
nerbarkeit, das fordert, dass die Normen und Handlungen, für die moralische Legitimität oder Gerechtigkeit beansprucht wird, für alle Betroffenen zustimmungswürdig sind. Es fragt sich aber, wie dieses anspruchsvolle Moralverständnis auf nachmetaphysischem Begründungsniveau überzeugend konzeptionalisiert werden kann. Als eine der einflussreichsten deontologischen Gerechtigkeitskonzeptionen kann die Theorie der Gerechtigkeit als Fairness von John Rawls betrachtet werden. Rawls postuliert eine gerechte gesellschaftliche Grundstruktur, die auf den Grundprinzipien gleicher Freiheiten, der Chancengleichheit und einem Differenzprinzip beruht, das sämtliche Chancenungleichheiten nur unter der Bedingung als zulässig erachtet, dass sie den am schlechtesten Gestellten einer Gesellschaft zugute kommen. Er ist der Auffassung, dass diese Gerechtigkeitskonzeption von jeder Person angenommen werden kann, wenn sie diese zu allen alternativen Gerechtigkeitskonzeptionen in reiflicher Überlegung nur lange genug in Beziehung setzt. Das Problem von Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit besteht aber darin, dass der letzte Maßstab des Gerechten letztlich im forum internum von Einzelpersonen verbleibt. Außerdem ist Rawls vorzuwerfen, dass er seine Gerechtigkeitskonzeption bereits mit inhaltlichen Vorgaben versieht, die zudem einer bestimmten, nämlich liberalen westlichen Rechtskultur entnommen sind. Überzeugender ist dagegen die auch handlungs- und sprachtheoretisch besser rekonstruierte Moralkonzeption der Diskursethik, die es den moralischen Subjekten letztlich selbst überlässt, welche Normen und Handlungen im Konkreten als zustimmungswürdig gelten dürfen. Was als gerecht und was als ungerecht beurteilt werden kann, muss sich in einem praktischen Diskurs erweisen, dessen Verfahrensstruktur die Vermutung legitimer Ergebnisse aufzustellen erlaubt. Auch die Diskursethik bleibt dabei einem Begründungsdiskurs ausgesetzt, gegen den sie sich nicht mit Letztbegründungsargumenten verschließen kann. Auch ihr bleibt auf nachmetaphysischem Begründungsniveau nichts anderes übrig, als sich in der Argumentation zu bewähren. Das disziplinäre Anspruchsniveau der Diskursethik richtig eingeschätzt, lässt sich darüber hinaus die Frage der moralischen Judikation im Einzelfall auch nicht ohne Weiteres als moralphilosophische klären. Mit seiner moralischen Applikationskonzeption des Sinns für Angemessenheit meint Klaus Günther, die Diskursethik müsse das „Anwendungs“problem moralischer Normen bereits im moralphilosophischen Feld klären können, und schlägt dafür vor, den diskursethischen Rechtfertigungsprozess in einen Begründungs- und einen Anwendungsdiskurs aufzuspalten. Danach gelte es, im Begründungsdiskurs universalisierbare „Normen“ zu generieren, die dann im Anwendungsdiskurs unter der Berücksichtigung sämtlicher relevanten Situationsmerkmale nur noch situationsgerecht „anzuwenden“ sind. Dieser Ansatz verkennt allerdings, dass auch das „Anwendungs“problem einen produktiven und damit zu verantwortenden und zu begründenden Normerzeugungsprozess darstellt, der sich von einem „Begründungsdiskurs“ über moralische Normen nicht abtrennen lässt. Umgekehrt kann die wie auch immer abstrakte Begründung moralischer Normen nicht von den Kontexten, auf die sie sich
4. Zusammenfassung
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beziehen, abgelöst werden. I. d. S. lässt sich Moral nicht applizieren. „Begründung“ und „Anwendung“ bleiben auf jeder Abstraktionsstufe der Normerzeugung miteinander verbunden. Aus philosophischer Sicht lässt sich über das Problem legitimer Judikation im Einzelfall erst dann mehr sagen, wenn die rechtskulturellen Kontexte, in denen sie angetroffen werden, besser erfasst sind.
III. Jurisprudenz und Ethik: Zwischenüberlegungen zu einer interdisziplinären Theorie demokratischen Rechts In Anschluss an die vorangegangenen Diskussionen lässt sich Folgendes festhalten. Mit der strukturierenden Rechtslehre und der Diskursethik sind Konzeptionen erarbeitet worden, die einerseits eine juristische und andererseits eine ethische Rechtslegitimation erlauben. Die rechtswissenschaftliche, am spezifischen Maßstab demokratischen Gesetzesrechts ausgerichtete Konzeption der strukturierenden Rechtslehre fokussiert dabei v. a. die Legitimation konkreter rechtlicher Urteile (der Judikation) unter Bedingungen einer demokratisch-rechtsstaatlichen Rechtskultur. Die Diskursethik richtet sich dagegen auf die Rechtfertigung normativer Legitimation überhaupt (der Justifikation), gelöst von einem spezifischen rechtskulturellen Anspruch, und bleibt auch dementsprechend abstrakt. Obwohl nun sowohl die strukturierende Rechtslehre als auch die Diskursethik als Stellvertreterinnen der Jurisprudenz und der Ethik in ihren je angestammten Bereichen überzeugen können, greifen beide für eine thematisch-methodisch oder auch nur thematisch oder methodisch umfassende Gesamtkonzeption (demokratischen) Rechts jedoch zu kurz: Die juristisch-methodische Konzeption der strukturierenden Rechtslehre bleibt auf eine im Rahmen eines demokratischen Rechtsstaats verbleibende Mikrosicht (Recht i. k. S.), die moralphilosophische Konzeption der Diskursethik auf eine universelle Makrosicht (Recht i. a. S.) beschränkt. Allerdings ist in den Diskussionen beider Konzeptionen auch bereits der Blick über die disziplinären Grenzen hinaus angedeutet worden. So wurde etwa gezeigt, dass die nicht selten vorgenommene Abschottungspraxis der Rechtswissenschaft gegenüber anderen Disziplinen und insbesondere gegenüber der Ethik nicht gerechtfertigt werden kann. Auf der anderen Seite hat sich gezeigt, dass die Moralphilosophie an ihre disziplinären Grenzen stößt, wenn sie dazu aufgefordert wird, ihre abstrakten, aus einer universellen Sprachpraxis gewonnenen Forderungen etwa im Bereich konkreter Rechtsurteile zu kontextualisieren. Für eine weiterreichende, das Konkrete und das Abstrakte, Judikation und Justifikation, das Juristische und das Ethische gleichermaßen umfassende Theorie legitimen Rechts können und müssen sich Jurisprudenz und Ethik – so die hier vertretene These – auf eine interdisziplinäre Theorie einlassen. Die große Frage ist nun, wie eine solche interdisziplinäre Theorie demokratischer Legitimation aussehen sollte. Im Folgenden soll ihr in Form einiger vorbereitender und aufgrund ihrer methodologischen Tragweite z. T. etwas ausgreifenderer Zwischenüberlegungen nachgegangen werden. Die Zwischenüberlegungen sollen
III. Jurisprudenz und Ethik: Zwischenu¨berlegungen
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Abbildung 9: Stand der Untersuchung (III.)
zumindest prinzipiell klären, auf welche Weise eine Konzeption der Rechtslegitimation i. k. S. mit einer Konzeption der Rechtslegitimation i. a. S. verknüpft werden kann. Dazu soll zunächst 1. ein anderer Versuch aufgegriffen werden, der, wenn auch nicht unbedingt explizit, eine interdisziplinäre Verknüpfung zwischen Jurisprudenz und Ethik zu bewerkstelligen sucht. Diese erste Zwischenüberlegung kann relativ kurz gehalten werden, weil sich auf Grundlage der bereits geführten Diskussionen recht schnell zeigen wird, dass sich der ausgewählte Verknüpfungsversuch in Probleme verstrickt, die nur in einer besser reflektierten interdisziplinären Sicht behoben werden können. An diesem Punkt wird es dann nötig sein, 2. die hier so oft angesprochene Frage der Interdisziplinarität einmal selbst anzugehen. Obwohl das Problem der Interdisziplinarität als solches hier nur in beschränktem Rahmen bearbeitet werden kann, muss dafür etwas ausgeholt werden, da eine Theorie, die die Notwendigkeit und die Möglichkeit einer echten integrativen Rechtslegitimation unter interdisziplinären Prämissen postuliert, erst dann glaubwürdig ist, wenn sie mindestens eine ansatzweise Vorstellung davon geben kann, was unter einer interdisziplinären Theorie zu verstehen ist und wie sie konzipiert sein sollte. Nachdem dann zumindest ein plausibler Entwurf einer legitimen Interdisziplinarität-Konzeption erarbeitet worden ist, wird schließlich 3. das dazu passende Programm einer ethisch-juristischen Gesamtkonzeption legitimen demokratischen Rechts zu entwickeln sein.
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III. Jurisprudenz und Ethik: Zwischenu¨berlegungen
1. Wie könnte eine ethisch-juristische Theorie aussehen? Zunächst soll die Verbindung von Jurisprudenz und Ethik also anhand eines anderen Verknüpfungsversuchs nachvollzogen werden. Das gebietet sich schon deshalb, weil die schwierige Beziehung zwischen „Moral und Recht“ keine Neuheit ist, sondern in der rechtstheoretischen und rechtsphilosophischen Debatte seit jeher einen festen Platz einnimmt. Dabei sind auch übergreifende Konzeptionen entstanden, die sowohl einen Blick aufs Juristische als auch aufs Ethische werfen. Auch wenn ethisch-juristische Verknüpfungstheorien i. d. R. nicht explizit als interdisziplinäre Theorien auftreten, lässt sich auch aus dem impliziten interdisziplinären Gehalt solcher theoretischer Konstrukte lernen. Von der Überzeugungskraft der Diskursethik im Bereich der Moralphilosophie ausgehend, interessieren hier v. a. Konstruktionen, die ebenso von der diskursethischen Argumentation überzeugt sind. Darunter sticht die Theorie der juristischen Argumentation von Robert Alexy hervor.1 Unter den entsprechenden Modellen argumentationstheoretischen Einschlags wird sie als „das gegenwärtig komplexeste und am weitesten ausgearbeitete“ gehandelt.2 Allerdings wird sich gerade bei Alexy lernen lassen, wie eine interdisziplinäre Theorie nicht aussehen sollte. Gerade bei Alexy wird nämlich eine methodologische Grundhaltung erkennbar, die ein umsichtiges und faires interdisziplinäres Ineinandergreifen von Jurisprudenz und Ethik vermissen lässt. Anhand der folgenden kurzen Darstellung soll dieser Behauptung zuerst Anschauungsmaterial gegeben werden. Die Frage, unter deren Leitung Alexys Theorie dabei von Interesse sein soll, lautet: Wie könnte eine ethisch-juristische Theorie aussehen? Vorab sei noch darauf hingewiesen, dass auch Günthers Angemessenheitskonzeption3 nicht nur im Kontext von „Angemessenheitsargumentationen in der Moral“4, sondern auch im Kontext von „Angemessenheitsargumentationen im Recht“5 verortet ist und letztere im Zusammenhang mit der Gesamtkonzeption Günthers durchaus als ethisch-juristischer Verknüpfungsversuch betrachtet werden kann. Allerdings ziehen sich die in der Gesamt- und Moralkonzeption festgestellten Probleme6 bis dorthin weiter. Auch im Kontext der Konkretisierung positivrecht1 Der ebenso frühe Versuch von Peter Schiffauer kann hier nur erwähnungsweise gewürdigt werden: Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis (1979). Nur erwähnt bleiben muss hier auch Delf Buchwalds in Anschluss an Alexys Theorie (weiter-)entwickelte Idee einer zweistufigen Legitimationstheorie: Buchwald, Der Begriff der rationalen juristischen Begründung (1990), zu dessen Idee einer Kern- und Mantelbegründung umfassenden „Zweistufenkonzeption rationaler juristischer Begründung“ insb. S. 277 – 311. Dazu Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 83 f. 2 Bäcker, Begründen und Entscheiden (2008), S. 5. 3 II. 3. a). 4 Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 255 – 307. 5 Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 309 – 353; ders., Ein normativer Begriff der Kohärenz (1989). 6 II. 3. b).
1. Wie ko¨nnte eine ethisch-juristische Theorie aussehen?
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licher Rechtstexte („im Recht“) will Günther Begründung und Anwendung nicht nur institutionell, sondern wiederum auch sachlich trennen.7 So spiegeln sich v. a. die bereits aufgezeigten normstrukturellen Schwierigkeiten, die die BegründungsAnwendungs-Dichotomie in sich trägt, auch in der Anwendungstheorie Ronald Dworkins8, die Günthers Applikationsmodell in rechtstheoretischer Hinsicht stützen soll: Die bereits vorgefertigten „Rechtsnormen“, so der von Günther mit Dworkin vermittelte Eindruck, bedürften im Grunde erst dann einer interpretativen, auf einen kohärenten normativen Argumentationszusammenhang ausgerichteten Praxis, wenn hard cases9 vorliegen, in denen dann der Sinn für Angemessenheit zum Zug kommen müsse.10 So fruchtbar der von Dworkin entliehene Kohärenz-Ansatz möglicherweise sein mag, so wenig lässt sich mit einer auf einen derart hartnäckigen Normenpositivismus abstellenden Gesamtkonzeption eine überzeugende interdisziplinäre Theorie demokratischer Legitimation konstruieren. Anzumerken ist freilich, dass damit lediglich unter interdisziplinären Vorzeichen wiederholt wird, was bereits in moralphilosophischer Hinsicht festgestellt worden ist. Aus interdisziplinärer Sicht lässt sich daraus aber bereits lernen, wie sich innerdisziplinäre Schwierigkeiten auch in anderen Disziplinen fortpflanzen können. a) Theorie der juristischen Argumentation Nun ist zuzugeben, dass Günthers Interesse in erster Linie der abstrakten Differenzierung des allgemeinen Rechtfertigungsprozesses gilt, und die Ausweitung seiner These von der Trennung zwischen Begründung und Anwendung „aufs Recht“ eher ein Nebenprodukt, möglicherweise auch das transdisziplinäre Anstoßmoment der Trennungsthese darstellt. Für den Nachvollzug einer interdisziplinären Theoriearchitektur wird sich deshalb daraus nicht viel mehr herausziehen lassen, als es bereits geschehen ist. Anders verhält es sich dagegen mit der „Theorie der juristischen Argumentation“ von Robert Alexy11. Mit dieser Theorie, die die „Explikation des Begriffs der vernünftigen juristischen Argumentation“12 leisten soll, will Alexy die maßgeblichen Kriterien für die Richtigkeit juristischer Entscheidungen Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 336 – 339 u. ö. Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen (1984 [1978]); darin insb. ders., Schwierige Fälle (1984 [1975]); und ders., Rechte ernstnehmen (1984 [1978]). Auf Dworkins Rechtstheorie und -philosophie kann hier nicht eingegangen werden. Dazu nur Bittner, Recht als interpretative Praxis (1988); und Ripstein (Hrsg.), Ronald Dworkin (2007). 9 Dworkin, Schwierige Fälle (1984 [1975]). 10 Günther, Der Sinn für Angemessenheit (1988), S. 345 f., m. w. N. 11 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991). Vgl. aus Alexys umfangreichen Werk insb. ders., Begriff und Geltung des Rechts (1992); die verschiedenen Beiträge in ders., Recht, Vernunft, Diskurs (1995); und ferner ders., Theorie der Grundrechte (21994). Zur „Alexyschen Diskurstheorie des Rechts“ neuerdings Bäcker, Begründen und Entscheiden (2008), Zitat im Untertitel. Fürs Folgende v. a. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991). 12 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 356. 7 8
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angeben.13 Mit Blick auf die „Ergebnisse der modernen Ethikdiskussion, der zeitgenössischen Sprachphilosophie sowie der sich in Entwicklung befindlichen Argumentationstheorie“ hält Alexy dabei fest: „Es ist das Ziel dieser Untersuchung, einige der in diesen Gebieten entwickelten Theorien über eine kritische Diskussion für die juristische Grundlagenforschung fruchtbar zu machen.“14 So lassen sich also handfeste interdisziplinäre Absichten konstatieren, die mit sprach- und argumentationstheoretischen Querverbindungen auf eine enge Zusammenarbeit zwischen Rechtswissenschaft und Ethik schließen lassen. Auch an ihrem Aufbau lässt sich der interdisziplinäre Ansatz von Alexys Theorie ablesen: Anhand verschiedener, schwergewichtig deontologisch ansetzender ethischer Konzeptionen15 wird zunächst eine allgemeine, zu einem detaillierten Regelwerk ausgearbeitete moralphilosophische Konzeption des allgemeinen praktischen Diskurses entworfen.16 Auf dieser Grundlage entwickelt Alexy dann eine in ein ebenso detailreiches Regelwerk mündende Konzeption der juristischen Argumentation.17 Inhaltlich gesehen, handelt es sich bei Alexys allgemeinem praktischen Diskurs um eine vom ethischen Verallgemeinerungsprinzip inspirierte18 Lesart des moralischen Diskurses nach dem Vorbild der Diskursethik Habermas’.19 Für Alexy sind Diskurse „Handlungszusammenhänge, in denen Aussagen auf ihre Wahrheit und Richtigkeit hin überprüft werden. Diskurse, in denen es um die Richtigkeit normativer Aussagen geht, sind praktische Diskurse.“20 Und der materiellen Zurückhaltung der Diskursethik getreu folgt auch Alexy einem entsprechenden Ansatz: „Die Regeln des rationalen praktischen Diskurses können als Normen für die Begründung von Normen aufgefaßt werden.“21 Auch nach Alexy sollen also die DisAlexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 357. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 31 f., m. w. H. Vgl. auch ebd., S. 48 f., 15 Alexy setzt sich außer mit Charles L. Stevensons (freilich nicht deontologischem) Emotivismus (Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 60 – 69) mit Richard M. Hares moralischer Sprach- und Argumentationstheorie (ebd., S. 82 – 107), Stephen Toulmins Argumentationstheorie (ebd., S. 108 – 123), der Moralkonzeption Kurt Baiers (ebd., S. 124 – 132), Habermas’ Konsenstheorie (ebd., S. 134 – 177), dem moralischen Konstruktivismus der Erlanger Schule (ebd., S. 178 – 196) und der Argumentationstheorie Chaim Perelmans (ebd., S. 197 – 218) auseinander. 16 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 219 – 257; Zusammenstellung der „Regeln und Formen des allgemeinen praktischen Diskurses“ ebd., S. 361 – 364. Vgl. auch ders., Eine Theorie des praktischen Diskurses (1978). 17 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 259 – 359; Zusammenstellung der „Regeln und Formen des juristischen Diskurses“ ebd., S. 364 – 367. 18 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), insb. S. 250 – 252 u. ö. 19 Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 281 f. 20 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 224. Zur Entwicklung der Diskursidee anhand von Habermas’ Kommunikations- und Moralkonzeption ebd., insb. S. 138 – 161. Alexys kritische Einschätzung dazu ebd., S. 161 – 177. 21 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 225. 13 14
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kursteilnehmenden selbst über die konkrete Normierung ihrer Verhältnisse entscheiden.22 Im praktischen Diskurs werden die Diskutierenden einem differenzierten Regelwerk unterworfen, das nach Alexys Auffassung den Grundstein für ein „Gesetzbuch der praktischen Vernunft“23 legen soll. So unterscheidet Alexy Grundregeln, Vernunftregeln, Argumentationslastregeln, eine Reihe von Argumentformen sowie Begründungsregeln und Übergangsregeln für den Übergang zu anderen Diskursformen als der des praktischen Diskurses.24 Auf die äußerst dünne Begründung dieser Diskursregeln, in der Alexy am ehesten Habermas’ Universalpragmatik zuneigt,25 soll hier nicht näher eingegangen werden. Aus interdisziplinärer Sicht ist von vorrangigem Interesse, wie sich die Konzipierung des moralischen Diskurses auf die Konstruktion des juristischen Diskurses auswirkt. Auch den juristischen Diskurs sieht Alexy nun in vielfältiger und ganz ähnlicher Weise wie den moralischen Diskurs reglementiert. Zunächst sollen die Regeln der internen Rechtfertigung, die „unter dem Stichwort ,juristischer Syllogismus‘“26 v. a. mit formallogischen Mitteln abgehandelt wird,27 als „Regeln und Formen der formalen Gerechtigkeit“ schwerpunktmäßig die Universalisierbarkeit der juristischen Begründung sichern.28 Damit sollen in Alexys Auffassung diejenigen Aspekte der juristischen Rechtsarbeit einer rationalen Überprüfung zugeführt werden, die bereits dem „Gesetz entnommen werden können“.29 Das Regelwerk, das sich auf die interne Rechtfertigung bezieht, wird dabei aus einer Anzahl formallogischer Schlussformen sowie aus einigen weiteren Regeln errichtet, die eine möglichst präzise Zuordnung von Rechtsurteilen zu den zu ihrer Begründung herangezogenen Rechtssätzen sicherstellen sollen.30 Von besonderem Interesse ist für Alexy aber die externe Rechtfertigung,31 in der die in der internen Rechtfertigung zwangsläufig unterstellten Prämissen legitimiert 22 Ebenso Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 304, m. w. H. Zu beachten jedoch die Einschränkungen „diskursiver Unmöglichkeit“ bzw. „diskursiver Notwendigkeit“: ebd., S. 256, m. w. H. 23 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 35 / 234. 24 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 234 – 255. Zur Zusammenstellung der Hinweis in Fn. 16. 25 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 225 – 233, insb. S. 230 – 232 und S. 232 f.; nachbessernd ebd., S. 417 – 426. Zum aktuellen Stand des Begründungsansatzes Alexys im Überblick Bäcker, Begründen und Entscheiden (2008), S. 50 – 57. 26 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 273. 27 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 273 – 283. 28 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 280 / 352. 29 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 281. Alexy ist an dieser Stelle zwar um die Betonung „des schöpferischen Teils der Rechtsfindung“ bemüht, der auf die externe Rechtfertigung verweise. Seine Vorstellung von der internen Rechtfertigung muss aber so verstanden werden, dass es sich dabei um den „nicht-schöpferischen“ Teil der Rechtsfindung handeln soll. 30 Zusammenfassend Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 364 f. 31 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 283 – 348.
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werden sollen32. Sie erstreckt sich auf sechs Regelgruppen: „(1) Regeln und Formen der Auslegung, (2) der dogmatischen Argumentation, (3) der Präjudizienverwertung, (4) der allgemeinen praktischen und (5) der empirischen Argumentation sowie (6) die sog. speziellen juristischen Argumentformen.“33 In den Regelgruppen (1) bis (3) sowie (5) und (6), also in den Gruppen, die widerspiegeln, was in der juristischen Praxis eines demokratischen Rechtsstaats üblicherweise zum Tragen kommt, stellt Alexy sodann Regeln auf, unter denen die juristische Praxis seiner zuvor ausgearbeiteten Vorstellung vom allgemeinen praktischen Diskurs genügt.34 Die Rationalität des juristischen Diskurses bestimmt sich für Alexy somit nach Maßgabe des moralischen Diskurses. Deutlich wird die Maßgeblichkeit des moralischen Diskurses auch in der Rolle, die allgemeinen praktischen Argumenten im juristischen Diskurs zukommen soll. Sie müssen nach Alexy immer dann in die Lücke springen, wenn die anderen Argumente oder Argumentformen des juristischen Diskurses eine klare Entscheidung vermissen lassen, so etwa bei der Verwendung von Auslegungselementen, dogmatischen Argumenten oder Präjudizien.35 Am Ende der Darstellung der juristischen Argumentation bringt es Alexy dann auf den Punkt: „Damit bildet die allgemeine praktische Argumentation die Grundlage der juristischen Argumentation.“36 Dieser Hinweis deutet in Bezug auf die interdisziplinäre Methodologie der Theorie Alexys bereits in eine bestimmte Richtung. Er bedarf jedoch weiterer Erläuterung. Wie in einer sowohl ethisch als auch juristisch operierenden Argumentationstheorie nicht anders zu erwarten, verwendet Alexy auch tatsächlich einen nicht unerheblichen Teil seiner weiteren Argumentation darauf, das Verhältnis zwischen dem allgemeinen praktischen Diskurs und dem juristischen Diskurs, d. h. zwischen den unterschiedlichen disziplinären Teilen seiner Gesamtkonzeption, zu klären.37 Diese Klärung behandelt Alexy unter dem Titel der Sonderfallthese,38 die er insofern als „Integrationsthese“ versteht, als „die Verwendung spezifisch juristischer Argumente auf allen Stufen mit der allgemeiner praktischer Argumente zu verbinden ist.“39 Analytisch betrachtet, geht die juristische Argumentation im Verhältnis zur allgemeinen praktischen zugleich mit einer Gemeinsamkeit und einer Besonderheit einher. Das Gemeinsame des juristischen und des allgemeinen prakAlexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 283 / 284. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 285. 34 Zusammenfassend Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 365 – 367. 35 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 347 f., m. w. H. 36 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 348. 37 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 261 – 272; und ebd., S. 349 – 359. Vgl. auch ebd., S. 262: „Die Frage, was juristische Argumentation im Unterschied zur allgemeinen praktischen Argumentation ist, ist eine der zentralen Fragen der Theorie des juristischen Diskurses.“ 38 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 32 / 33 f. / 224 u. ö., insb. S. 263 – 272. Ausführlich dazu Bäcker, Begründen und Entscheiden (2008), S. 190 – 268. 39 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 38. 32 33
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tischen Diskurses sieht Alexy v. a. im Anspruch auf Richtigkeit:40 „Es ist in juristischen Diskursen ebenso wie in allgemeinen praktischen Diskursen nicht zulässig, etwas zu behaupten und dann ohne Angabe von Gründen eine Begründung zu verweigern. Mit juristischen Aussagen wird deshalb wie mit allgemeinen normativen Aussagen ein – freilich auf andere Weise einzulösender – Anspruch auf Richtigkeit erhoben.“41 Die Besonderheit des juristischen Diskurses im Verhältnis zum allgemeinen praktischen oder moralischen Diskurs liege demgegenüber in den Spezialbedingungen des positiven Rechts, denen dieser Diskurs zusätzlich verpflichtet sei: „Bei dem juristischen Diskurs handelt es sich um einen Sonderfall, weil die juristische Argumentation unter einer Reihe von einschränkenden Bedingungen stattfindet. Hier sind insbesondere die Bindung an das Gesetz, die gebotene Berücksichtigung der Präjudizien, die Einbindung in die von der institutionell betriebenen Rechtswissenschaft erarbeitete Dogmatik sowie [ . . . ] die Beschränkungen durch die Regeln der Prozeßordnungen zu nennen.“42 Unter Berücksichtigung dieser Besonderheiten untermauert die Sonderfallthese die bereits gemachte Feststellung, dass der moralische Diskurs dem juristischen Diskurs als Maßstab zugrunde liegt. Alexy bestätigt dies ein weiteres Mal in der Art und Weise, wie er am Schluss seiner ganzen Untersuchung nochmals die „Verklammerung des juristischen mit dem allgemeinen praktischen Diskurs“43 erläutert.44 Zunächst betont Alexy allerdings, dass auch der allgemeine praktische Diskurs auf den juristischen Diskurs angewiesen ist. Die im Vorhinein unbestimmten und häufig divergierenden normativen Überzeugungen der Diskursparteien, die Unvorhersehbarkeit des Argumentationsverlaufs und die z. T. unerreichbare Idealität der Diskursregeln eröffneten einen „Raum des diskursiv Möglichen“ oder einen „Unsicherheitsraum“, den der juristische Diskurs „auf möglichst rationale Weise einschränken“ müsse.45 Dass die juristische Argumentation dennoch „durchgängig von allgemeinen praktischen Argumenten abhängig“ bleibt,46 soll sich aber etwa in der partiellen, nämlich unter der Bedingung des positiven Rechts beschränkten Übereinstimmung des Richtigkeitsanspruchs47 oder in der strukturellen Übereinstimmung der Regelwerke des juristischen und des allgemeinen praktischen Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 33 f. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 265, m. w. H. I. g. S. ebd., S. 263 u. ö., sowie S. 428 f. 42 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 34. Vgl. auch ebd., S. 37 / 224 / 263 u. ö. 43 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 349. 44 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 349 – 359. 45 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 349 – 351, Zitate auf S. 350. Vgl. auch die Rede von „Offenheitslücken“ in ders., Rechtssystem und praktische Vernunft (1995 [1987]), S. 221. 46 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 351. I. g. S. ebd., S. 355 / 356 u. ö. 47 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 351. 40 41
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Diskurses zeigen48. Am deutlichsten tritt die Abhängigkeit des juristischen vom moralischen Diskurs jedoch im bereits erwähnten „Erfordernis allgemeiner praktischer Argumente im Rahmen der juristischen Argumentation“ hervor.49 V. a. darin scheine wieder auf, „daß die juristische Argumentation durchgängig von allgemeiner praktischer Argumentation abhängig ist und daß deshalb davon gesprochen werden kann, daß die allgemeine praktische die Grundlage der juristischen Argumentation bildet.“50 Die anfangs von Alexy als Integrationsthese bezeichnete Lesart der Sonderfallthese lässt sich somit als eine Abhängigkeitsthese deuten.
b) Probleme des moralischen Dependenzialismus Gegen Alexys Theorie der juristischen Argumentation muss zunächst eingewendet werden,51 dass auch sie noch in einem erkenntnispositivistischen Regeldenken gefangen bleibt. Das wird bereits im Ansatz der Theorie deutlich, wenn Alexy meint, die Ethik zuhilfe nehmen zu müssen, weil die Jurisprudenz gewisse „Unsicherheits-“ oder „Offenheitslücken“ nicht in eigener Kompetenz zu schließen vermag. Wie in der herkömmlichen juristischen Methodenlehre wird das „Erkenntnisproblem“ des Rechts quantitativ aufgefasst und nicht konsequent genug verstanden, dass die Befolgung von Regeln nicht einfach durch noch mehr Regeln „gesichert“ werden kann. Die Rechtskonkretisierung muss stattdessen durch und durch als legitimer Rechtserzeugungsprozess normiert werden. Da ist kein (Rest-)Bereich „interner Rechtfertigung“, in dem dem Gesetz etwas „entnommen“ werden könnte.52 Das zu sehen, kann auch Alexy unterstellt werden, wenn er sich auf den letzten Seiten seiner Untersuchung gegen die Gleichsetzung von Rationalität und Gewissheit ausspricht.53 Aufs Gesamte gesehen, erscheint diese Einsicht aber eher Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 352 – 354. 49 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 354 f. 50 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 354 f. 51 Bei Alexys Argumentationsmodell des Rechts handelt es sich nicht nur um das „gegenwärtig komplexeste und am weitesten ausgearbeitete“. Es „gehört“ in seinem Anspruchsbereich auch „zugleich zu den meistkritisierten rechtstheoretischen Angeboten“: Bäcker, Begründen und Entscheiden (2008), S. 5. Aus der zahlreichen Kritik an Alexys Theorie hier nur die verschiedenen Hinweise in Alexys eigener „Antwort auf einige Kritiker“: Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 399 – 435; ferner Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 281 – 285; sowie die zahlreichen Hinweise in Bäcker, Begründen und Entscheiden (2008). Außerdem hervorzuheben und vgl. auch zum Folgenden Christensen, Bindung an das Gesetzbuch der praktischen Vernunft (1988); ders., Was heißt Gesetzesbindung? (1989), insb. S. 183 – 187; Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 59 – 71. Um es an dieser Stelle aber nochmals deutlich zu machen: Eine umfassende Kritik der Theorie Alexys ist hier nicht zu erwarten. Die hiesige Kritik zielt vorrangig auf die interdisziplinäre Architektur der Theorie der juristischen Argumentation. 52 Dazu nochmals die eingehende Positivismuskritik des ersten Kapitels, insb. I. 1. b) bis I. 2. b). 53 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 356. 48
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als Zugeständnis einer Theorie, die nicht ganz aufgeht, als dass dieser Gedanke an anderer Stelle wirklich zum Tragen käme. In dieselbe Richtung weist zudem die von Alexy wiederum selbst erkannte „scheinbare“ Widersprüchlichkeit, die darin besteht, dass die Ethik mit ihrem „Gesetzbuch der praktischen Vernunft“54 der Jurisprudenz zur Schließung von Gewissheitslücken ja einerseits zuhilfe eilen soll, andererseits aber genau solche wieder aufreißt.55 Insofern ist zu vermuten, dass Alexy im Grunde nichts anderes tut, als sich aus den in der Jurisprudenz unzureichend gelösten Problemen zu flüchten, um sie in „interdisziplinärer“ Kombination mit der Moralphilosophie zu wiederholen.56 Ralph Christensen und Hans Kudlich beschreiben das so: „Ziel ist also nicht eine nachpositivistische Theorie (welche die alten Probleme vielleicht präzisieren könnte), sondern es geht um eine nichtpositivistische Theorie (in welcher die alten Probleme durch andere ersetzt werden).“57 Alexys interdisziplinäre Konstruktion steht also von vornherein unter ungünstigen Vorzeichen. So steht es um Alexys Theorie eigentlich nicht besser als um Günthers. Und die Lektion, dass sich disziplinäre Probleme gerne auch aufs Interdisziplinäre übertragen, lässt sich wohl auch mit Alexy lernen. Angesichts der starken interdisziplinären Ausrichtung der Theorie der juristischen Argumentation soll davon aber einmal abgesehen und der Blick mehr auf deren Probleme in interdisziplinärer Hinsicht gerichtet werden (die allerdings durchaus auch mit den bereits angesprochenen zusammenhängen mögen). In dieser Hinsicht nimmt Alexy unter dem Titel der Sonderfallthese eine Deutung des juristischen Urteilens im Lichte der Diskursethik vor. Er präsentiert den Herstellungsprozess konkreter Rechtsnormen als einen Diskurs über die Richtigkeit von Normen und Handlungen, die wie in der Moralphilosophie nur unter der Bedingung der Einhaltung bestimmter Diskursregeln die Vermutung der Vernünftigkeit für sich haben. So wird der juristische Diskurs als eine bestimmte Sonderform des moralischen Diskurses präsentiert. Festzuhalten ist dabei zum einen, dass dieser moralisch-juristische Diskurs zusätzlich unter der Bedingung des geltenden positiven Rechts stehen soll, und zum andern, dass der juristische Diskurs außerdem vom „echten“ moralischen Diskurs, den Alexy den allgemeinen praktischen nennt, abhängig bleiben soll. Die juristische Argumentation wird der moralischen damit unterworfen. Aus interdisziplinärer Sicht kann das Verhältnis von Rechtswissenschaft und Ethik danach als „moralischer Dependenzialismus“ zugunsten der Letzten bezeichnet werden. Erwartungsgemäß hat die Sonderfallthese daher v. a. im juristischen Lager recht heftige Kritik ausgelöst.58 Die Jurisprudenz fühlt sich in ihrer disziplinären Auto54 Diesen Gedanken in sprach- und rechtstheoretischer Sicht kritisch aufnehmend Christensen, Bindung an das Gesetzbuch der praktischen Vernunft (1988). Vgl. auch ders., Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 183 – 187. 55 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 355. 56 Vgl. Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 59 f. 57 Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 60.
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nomie verletzt. Eine beliebte Argumentationsstrategie gegen die Deutung des juristischen Diskurses als moralischen besteht dabei darin, gegen die idealisierenden Bedingungen des diskursiven Ansatzes die Forensik des juristischen Prozesses vorzubringen:59 Das diskursive Setting der juristischen Argumentation sei kaum mit den Bedingungen diskursiver Verständigung zu vereinbaren. Die juristische Argumentation, als Muster der Gerichtsstreit, sei geradezu das Paradebeispiel eines von Machtstrukturen geprägten strategischen Wettbewerbs, nicht aber mit den Vorstellungen einer verständigungsorientierten Konsenssuche zu versöhnen. Dementsprechend liege es auch fern, den juristischen Diskurs unter den Bedingungen des moralisch-praktischen Diskurses zu interpretieren und der juristischen Argumentation derart starke normative Unterstellungen aufzuzwingen. Dieser Einwand gegen die Sonderfallthese macht in der Tat einen entscheidenden Punkt. Denn, wie gesehen, speist sich die Überzeugungskraft der Diskursethik und somit wohl auch die weitere Verwendung diskurstheoretischer Argumente wesentlich aus (wenn auch impliziten, so doch) faktischen kommunikativen Verhältnissen. Würde das Setting des juristischen Diskurses schlicht als unmoralisch abgetan, so hieße das jedenfalls, dem Verhältnis von Normativität und Faktizität nicht ernsthaft Rechnung zu tragen. Dennoch lassen sich die moralischen Anmaßungen, die sich in Alexys Theorie finden, auch nicht einfach mit dem Argument beseitigen, die Wirklichkeit entspreche nicht der normativen Vorstellung, die sich Alexy vom juristischen Diskurs macht. Denn nur weil die Dinge nicht so sind, wie sie sein sollten, wird das, was sein sollte, nicht hinfällig. Es fragt sich aber, ob die Dinge nicht aus anderen Gründen nicht so sein sollten, wie Alexy meint. Tatsächlich liegt Alexys Fehler in der Art und Weise, wie er „Moral und Recht“, Moralphilosophie und juristische Methodik „interdisziplinär“ verschwistert. Geblendet von der Diskrepanz zwischen dem diskursethischen Idealbild und der juristischen Realität übersehen das die Kritiker gern. Indem Alexy die juristische Praxis einer direkten moralphilosophischen Kritik unterwirft, wird aber deutlich, dass die moralische Dependenz des juristischen Diskurses nicht das Ergebnis, sondern eine unhinterfragte theoretische Voraussetzung ist, die an keiner Stelle hinreichend reflektiert wird. Die Bedingungen sind von Anfang an geklärt: Die Ethik diktiert der Jurisprudenz den Tarif, und dieser bleibt nicht mehr, als jener zu folgen. Zur Diskussion steht damit lediglich die Rechtswissenschaft, die Moralphilosophie braucht ihr Diktat nicht zu rechtfertigen. Freilich vertuscht Alexy dies dadurch, dass er die juristische Gesetzesbindung ebenso wie die im demokrati58 Neben den zahlreichen Hinweisen in Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 426 – 435, je m. w. H. nur Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 63 – 65; Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 144 – 147. Außerdem die entsprechenden Hinweise bei Bäcker, Fn. 38. Vgl. auch Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 283. 59 Bspw. Hinweise und die Antwort Alexys darauf in Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 434 f.; Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? (2002), S. 144 – 147, m. w. H.
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schen Rechtsstaat übliche Rechtspraxis mit ins Boot zu holen versucht. Der juristische Diskurs sei eben ein moralischer Diskurs „mit Besonderheiten“, ein Sonderfall. Das hat allerdings eine wiederum seltsam widersprüchliche Konsequenz. Bei aller moralischen Kritik bekommen die „Besonderheiten“ des juristischen Diskurses ihren Platz nämlich äußerst unproblematisch zugesprochen. Allenfalls gelegentlich noch rechtsdogmatisch sekundiert,60 scheinen sie nicht einmal einer juristischen Legitimation bedürftig. Sie werden dem auch moralisch gerechtfertigten juristischen Diskurs kurzerhand einverleibt. Alexy konstruiert seine ethisch-juristische Synthese über einen disziplinären Kurzschluss. Die moralphilosophischen Kriterien werden unversehens in die Rechtswissenschaft eingepflanzt, und was auf Anhieb nicht passt, wird als rechtliche Besonderheit von seiner Legitimationspflicht entbunden. Wie schon in der Kritik an Günthers Applikationismus hervorgehoben,61 ist auch für Alexys Dependenzialismus zu vermerken, dass der Bereich des Moralischen, von seinem thematischen Anspruch her gesehen die Justifikation, nicht unverrichteter Dinge mit dem Bereich der Judikation „verklammert“ werden kann. Dazwischen liegt ein Zwischenbereich des Politischen, der Konstitution. Alexy kann indessen nicht angelastet werden, dass er diesen Zwischenbereich nicht zur Kenntnis nimmt: „[Die Theorie des rationalen juristischen Diskurses] weist [ . . . ] über den Bereich der Jurisprudenz hinaus. Die Juristen können zwar zur Realisierung von Vernunft und Gerechtigkeit beitragen, in dem von ihnen besetzten Teilgebiet vermögen sie sie jedoch nicht isoliert zu verwirklichen. Dies setzt eine vernünftige und gerechte Ordnung der Gesellschaft voraus.“62 Und in gleichem Sinne ist zu lesen: „Eine unbeschränkte Vernünftigkeit des juristischen Entscheidens würde die Vernünftigkeit der Gesetzgebung voraussetzen. Letztere hat zur Bedingung, daß in der betreffenden Gesellschaft praktische Fragen vernünftig gelöst werden. Um zu einer Theorie des juristischen Diskurses zu gelangen, die auch diese Bedingungen seiner Vernünftigkeit umfaßt, wäre die Theorie des allgemeinen praktischen Diskurses zu einer Theorie der Gesetzgebung und diese zu einer normativen Theorie der Gesellschaft zu erweitern, von der die Theorie des juristischen Diskurses ein Teilstück wäre.“63 Vorzuwerfen ist Alexy vielmehr, dass er meint, eine ethisch-juristische Theorie unter Absehung des Politischen ohne Weiteres errichten zu können. Mit einer deklaratorischen Anspruchsbeschränkung64 kann sich Alexy dabei nicht aus der Affäre ziehen. Denn mit der beiderseitigen Berücksichtigung sowohl des moralischen Diskurses als auch der juristisch-methodischen Praxis betritt die Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 34 / 265 et passim. II. 3. b). 62 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 358 f. 63 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 351 f. Auch Habermas legt den Finger auf dieses Desiderat: Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 286, Fn. 68. 64 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 352 / 359: Die Ziele seiner Untersuchung seien „begrenzter“ bzw. „beschränkter“. 60 61
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Argumentation einen Kommunikationsraum, in dem das Politische bereits enthalten ist. Was offenbar auch Alexy als wichtigen Bestandteil des theoretischen Gesamtkontexts anerkennt, in seiner Untersuchung jedoch außen vor bleibt, ist ein plausibilisierendes Brückenstück zwischen der Moralphilosophie und der juristischen Methodik. Die „vernünftige und gerechte Ordnung“, von der Alexy wohlwissend spricht, markiert einen unüberwindlichen Raum der Plausibilität, durch den Ethik und Jurisprudenz gleichermaßen Zugang zueinander finden. Konsequent argumentiert muss zwischen Justifikation und Judikation also die Konstitution einer legitimen politischen Ordnung eingeschaltet werden, die ihrem thematischen Niveau entsprechend im disziplinären Bereich der politischen Theorie oder der Theorie der Konstitution zu liegen kommt. Mit ihr muss aufgezeigt werden, wie die demokratisch-rechtsstaatlich verfasste Politik und mit ihr die positivrechtlichen Grundlagen der Judikation, die für die Rechtswissenschaft so bedeutsam sind, die sie allein aber nur teilweise legitimieren kann und die in der Abstraktion der Moralphilosophie so leicht verlorengehen, selbst gerechtfertigt werden können. Für eine interdisziplinäre Theorie (demokratischer) Legitimation, die sich anschickt, mit Jurisprudenz und Ethik einen echten Gesamtblick einzunehmen, bedeutet das, dass sie auch diese konstitutionstheoretische Sicht ernstnehmen und in ihre Gesamtkonzeption einarbeiten muss. Die Argumentation im Bereich des Politischen muss sozusagen als Bindeglied zwischen dem Standpunkt der Moral und dem juristischen Standpunkt fungieren, sodass sich ein konsistenter Begründungszusammenhang zwischen Justifikation, Konstitution und Judikation ergibt. Dieser Begründungszusammenhang darf freilich nicht als deduktive Argumentationskette „von oben nach unten“65 missverstanden werden. Der Argumentationskontext „Justifikation – Konstitution – Judikation“ (oder umgekehrt) soll ein Kontinuum guter Gründe liefern, die nicht hierarchisiert werden können. Alexy glaubt aber, der Ethik einen höheren Stellenwert einräumen zu können als der Jurisprudenz. Dafür gibt es keinen guten Grund. Über ihren jeweils angestammten Anspruchsbereich hinaus kann keine der beiden Disziplinen einen besseren Anspruch geltend machen als die andere, weshalb sie beide als prinzipiell gleichberechtigt einzustufen sind. Der moralische Dependenzialismus, den Alexys Theorie der „juristischen“ Argumentation an den Tag legt, muss aus der Sicht der Rechtswissenschaft als eine ungerechtfertigte Kolonisierung und aus der Sicht der Moralphilosophie als eine Überforderung des Anspruchsbereichs betrachtet werden. Das könnte Alexy möglicherweise klarer sehen, wenn er die interdisziplinäre Ausrichtung seines theoretischen Anspruchs besser reflektieren und insbesondere den Zwischenbereich des Politischen ernster nehmen würde. Ohne diesen bleiben die „Besonderheiten“ des Rechtsdiskurses eine unbesprochen einverleibte Chiffre. Die rechtspositivistische Kritik, die Alexy mit seiner Argumentationstheorie an der Rechtswissenschaft unterschwellig übt, fällt damit auf ihn zurück. Den Rechtspositivismus überschreiten zu wollen, und dennoch unkritisch am Maßstab des 65
Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 281.
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Gesetzes vorbeizugehen, heißt nämlich, selbst einer rechtspositivistischen Position anzuhängen. Dies ist dann umso schlimmer, wenn die Affirmation des Rechtspositivismus unter moralischer Flagge erfolgt. Am Rechtspositivismus ist dabei nichts auszusetzen, solange, wie z. B. bei der strukturierenden Rechtslehre, eine die Rechtswissenschaft überschreitende Perspektive außer Frage steht. Sobald jedoch, ob ausdrücklich oder nicht, der Anspruch der Rechtswissenschaft überschritten wird, wirkt eine positivistische Haltung geradezu ideologisch. So wie Alexy sie mit der Theorie der juristischen Argumentation konzipiert, kann eine ethisch-juristische Theorie jedenfalls nicht aussehen.
2. Wie sollte Interdisziplinarität praktiziert werden? Die Schwierigkeiten, die Alexy bei der Verknüpfung der ethischen mit der juristischen Sichtweise hat, lassen sich schwergewichtig auf eine unzulängliche Reflexion der interdisziplinären Theoriekonstruktion zurückführen. Obschon im Bewusstsein eines Disziplinen übergreifenden Anspruchs, bleibt die eigene interdisziplinäre Praxis im Grunde unberücksichtigt. Ein solches Vorgehen kann gut ausgehen. Es riskiert aber auch, dass die Praxis aus dem Ruder läuft und die Theorie mit ihr in die Irre geht. In Alexys Fall führt das laxe Wandeln zwischen den disziplinären Feldern zum Übergehen eines Plausibilitätsraums, der für eine integrative Sicht allerdings von Bedeutung wäre. In der Konsequenz entsteht eine disziplinäre Hierarchie, in der die Ethik die Jurisprudenz in ungerechtfertigter Weise programmiert. Das soll hier vermieden werden. Während Alexys soeben präsentierter ethisch-juristischer Verknüpfungsversuch, indem er auf eine interdisziplinaritätstheoretische Reflexion weitgehend verzichtet, jedenfalls ein gutes Stück seiner argumentativen Deckung preisgibt, soll nun der Versuch unternommen werden, die Implikationen der hier praktizierten Theorie offenzulegen und, nach Möglichkeit, mit guten Gründen zu versehen. Ein solcher Ansatz, der lediglich die eigene Praxis konzeptionell abstrahiert, kann sicherlich nur minimale Geltung beanspruchen. Was im Folgenden entwickelt wird, bleibt ein theoretischer Entwurf, für den es genügen soll, wenn er Plausibilität erreicht und sich nachvollziehbar in die Gesamtkonzeption dieser Untersuchung einordnen lässt. In Relation zu den alternativen Theorien des hier relevanten Anspruchsbereichs ist das immerhin ein Anfang. Gefragt ist also ein konzeptioneller Entwurf, der die Frage, wie Interdisziplinarität praktiziert werden sollte, hinreichend plausibel beantwortet. Nun spielt die Debatte um die Interdisziplinarität in illustren Kreisen, und die derzeit wieder omnipräsente Rede von Interdisziplinarität 66 geht mit einer schillernden, keineswegs 66 Wird davon ausgegangen, dass sich die Debatte um die Interdisziplinarität momentan im Auftrieb befindet, lässt sich nach einer anfänglichen Hochphase in den 1960er Jahren um die Gründungszeit des Zentrums für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld und einer „gewisse[n] Ernüchterung“ in den 1980er Jahren (Joas / Kippenberg, Interdisziplinarität als
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zu vereinheitlichenden Verwendung einher. Die Ansätze reichen von protokollarischen Forschungsberichten geringeren Abstraktionsgrades67 über historisch-systematische Kompilationen mittleren theoretischen Anspruchs68 bis hin zu wissenschaftsphilosophischen Reflexionen69. Nicht selten werden auch die organisatorisch-institutionellen Entwicklungen interdisziplinärer Wissenschaft problematisiert.70 Kennzeichnend für die Debatte scheint dabei zu sein, dass sie ihr Problem in seiner eigenen Form widerspiegelt: In der Diskussion um die Interdisziplinarität findet sich eine besonders große Vielzahl an Sammelbänden, die sich häufig interdisziplinären Kolloquien, Konferenzen und Projekten verdanken.71 Ein umfassendes, zusammenhängendes Gesamtbild bringt diese Arbeitsform allerdings selten hervor. Wenn es überhaupt probiert wird, verbleibt es meist in einer kaum erkennbaren Unschärfe. Angesichts dieser Ausgangslage soll die Problematik hier zunächst in groben Zügen durchschritten werden, um auf noch recht abstraktem Niveau ein Interdisziplinarität-Konzept zu entwickeln. Daraufhin soll das Konzept in einer soziologischen Sicht konkretisiert werden. Mithilfe dieser vorbereitenden Überlegungen sollen die Perspektiven dann zusammengefügt und die Frage, wie Interdisziplinarität praktiziert werden sollte, mit einem hinreichend plausiblen konzeptionellen Entwurf legitimer interdisziplinärer Praxis beantwortet werden.
a) Interdisziplinarität-Konzepte Interdisziplinarität ist in erster Linie als ein Problem der Wissenschaft, als ein Problem theoretischen Arbeitens zu verstehen. Zwar ist auch durchaus in der nichtwissenschaftlichen Praxis von interdisziplinären Problemen die Rede, und nicht Lernprozess (2005), S. 7; vgl. auch Kocka, Einleitung (1987), S. 8 f.) zumindest im deutschen Sprachraum eine ca. 20-jährige Zyklusdynamik rekonstruieren. Einen Überblick über „[i]nterdisziplinäre Einrichtungen und Veranstaltungen in der Bundesrepublik“ bis in die 1990er Jahre liefert Hübenthal, Interdisziplinäres Denken (1991), S. 169 – 173. 67 Etwa der zweite Abschnitt des Sammelbandes Kocka (Hrsg.), Interdisziplinarität (1987), S. 61 – 125: „Erfahrungen: Nach-Denken über interdisziplinäre Forschungsprojekte“. 68 Klein, Interdisciplinarity (1990); dies., Crossing Boundaries (1996); Hübenthal, Interdisziplinäres Denken (1991). 69 So die Beiträge zur Interdisziplinarität in Mittelstraß, Die Häuser des Wissens (1998); ders., Wissen und Grenzen (2001); oder Gräfrath et al., Einheit – Interdisziplinarität – Komplementarität (1991), aus derselben Schule stammend. Früh schon Holzhey (Hrsg.), Interdisziplinär (1974). 70 So in Deutschland v. a. das unter der Ägide Helmut Schelskys eingerichtete Zentrum für interdisziplinäre Forschung. Dazu die Beiträge des ersten Abschnitts in Kocka (Hrsg.), Interdisziplinarität (1987), S. 15 – 59: „Idee oder Institution: Schelskys Reformprojekt und was daraus wurde“. 71 Neben Kocka (Hrsg.), Interdisziplinarität (1987); und Joas / Kippenberg, Interdisziplinarität als Lernprozess (2005); etwa Umstätter / Wessel (Hrsg.), Interdisziplinarität (1999). Eindrücklich auch das umfangreiche Gemeinschaftsprojekt „Transdisciplinarity: Joint Problem Solving among Science, Technology, an Society“; dazu Klein et al. (Hrsg.), Transdisciplinarity (2001), m.w.H.
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selten werden gerade „praktische Probleme“ als Ursprünge oder Auslöser interdisziplinärer Reflexion bemüht. Für die (theoretische) Reflexion interdisziplinärer Probleme bleibt jedoch nicht viel mehr, als auf die wissenschaftliche Theorie zurückzukommen. Die Suche nach einem plausiblen Konzept von Interdisziplinarität beginnt deshalb am besten mit einem Blick in die wissenschaftliche Welt. Wie Interdisziplinarität funktioniert und wie sie zu praktizieren ist, lässt sich besser sagen, wenn eine Vorstellung davon besteht, was dort, wo sie ihren Platz hat, tatsächlich passiert. Mitten in die Welt der Wissenschaft hineinversetzt, lässt sich aber zunächst nur ein kakofones Geräusch vernehmen. Bei genauerer Beobachtung lässt sich dann erkennen, dass das Geräusch von einer Vielzahl sich überlagernder Stimmen verursacht wird. Die Konzentration auf einzelne dieser Stimmen gelenkt – das bedarf einiger Übung, denn manche sind sichtlich bemüht, die anderen zu übertönen –, lassen sich hier und da zusammenhängende Sinnmuster erkennen. Sobald die Aufmerksamkeit jedoch wieder einer anderen Stimme geschenkt oder der Versuch unternommen wird, einer Auswahl überlagerter Stimmen gleichzeitig zu lauschen, wiederholt sich häufig der Eindruck einer zusammenhanglosen Kakofonie. Als Ganzes präsentiert sich die moderne Wissenschaft als ziemlich unabgestimmtes Stimmengewirr. Was den wissenschaftlichen Diskurs zu einen scheint, ist zunächst v. a. seine Uneinheitlichkeit. Etwas distanzierter betrachtet, lässt sich erkennen, dass die verschiedenen Stimmen von bestimmten sich um den wissenschaftlichen Diskurs formierenden Einheiten ausgehen, die i. d. R. als Disziplinen, Fächer und Lehren oder Schulen bezeichnet werden.72 Bei diesen Einheiten handelt es sich um in unterschiedlichem Maße organisatorisch oder ideell diversifizierte Gebilde, denen über die ihnen angehörenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Produktion wissenschaftlicher Konzepte, Konzeptionen und Theorien, kurz: wissenschaftlicher „Konstrukte“, zugeschrieben wird. Der Unterschied zu anderen solchen Einheiten wird in erster Linie durch eine charakteristische Logik markiert. Zum Ausdruck kommt diese distinkte „Logik“ in einem spezifischen Sprachgebrauch, durch den und in dem die wissenschaftlichen Texte der Einheiten verfasst werden. Die Disziplinen bzw. deren Mitglieder teilen und pflegen bestimmte Ansätze, Verständnisse und Deutungsmuster, die in anderen Disziplinen so nicht vorkommen. Freilich erscheinen die disziplinären Einheiten bei genauem Hinsehen nach innen nicht als vollständig vereinheitlicht, und in manchen Fällen mag es auch sein, dass sie sich nach außen von anderen disziplinären Einheiten nur schwer abgrenzen lassen. In unterschiedlichen Graden lassen sich die genannten Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede dennoch in zahlreichen Fällen erkennen, selbst dann, wenn die Selbst- und Fremdbezeichnungen solcher Einheiten vordergründig nicht darauf hindeuten. Schon 72 Vgl. die neutrale Bezeichnung von Disziplinen und Fächern als Einheiten bei Jürgen Mittelstraß; Mittelstraß, Die transdisziplinäre Zukunft der Forschung (2001), S. 90 f. Disziplinen, Fächer, Lehren usw. werden hier vorläufig synonym „disziplinäre Einheiten“ oder einfach „Einheiten“ oder „Disziplinen“ genannt. Eine Spezifizierung des Disziplinenbegriffs folgt sogleich.
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eine Orientierung an Fachbezeichnungen indiziert eine Diversifizierung der Wissenschaft durch solche Einheiten in tausendfacher Höhe.73 Ein distanzierter Blick analysiert das wissenschaftliche Stimmengewirr also als eine Vielheit von Einheiten. Dieser Befund wird jedem Konzept von Interdisziplinarität zugrunde liegen müssen. Nicht selten wird der Vielheit der Einheiten reflexartig mit der Frage nach der Einheit der Vielheiten begegnet und Interdisziplinarität unverzüglich als eine Suche nach der Einheit der Wissenschaft installiert. Jedenfalls für die Zwecke dieser Untersuchung wäre das allerdings vorschnell. Interdisziplinarität oder interdisziplinäres Arbeiten theoretisch zu fassen, hat hier zum Ziel, die Vielheit wissenschaftlicher Einheiten so zu konzipieren, dass die Einheiten konstruktiv interagieren können. Ohne die Funktionsbedingungen von Disziplinen bereits vertiefen zu müssen, zeigt sich dabei, dass das Kernproblem der Interdisziplinarität in der Frage liegt, wie sich sprachlich konstituierende Einheiten prinzipiell gleichen Typs, aber differenter Ausprägung miteinander zurechtkommen können. Konzeptuell gesehen, d. h. aus einer noch recht abstrakten Perspektive, erweist sich Interdisziplinarität zunächst als ein Problem der Intersubjektivität oder Interaktivität. Entscheidend wird bei diesem Problem natürlich sein, wie das „konstruktive Interagieren“ oder das „Zurechtkommen“ differenter Artgenossen schließlich zu deuten ist. Immerhin kann vorweg schon gesagt werden, dass die Berücksichtigung anderer Einheiten nicht mehr infrage steht. Interdisziplinarität schließt die Bereitschaft zur Berücksichtigung der Anderen offenbar schon mit ein. Je nachdem aber, wie die Berücksichtigung der Anderen verstanden wird, erhält Interdisziplinarität ein unterschiedlich gestaltetes Gesicht. Für die Richtungsbestimmung eines plausiblen Interdisziplinarität-Konzepts bietet sich eine Modell-Diskussion an, die als Entscheidungsfaktoren die wesentlichen Bestimmungsmerkmale des Problems in den Blick nimmt. Hier wird dafür vorgeschlagen, das Problem der Interdisziplinarität als eine intersubjektive Interaktion zwischen zwei oder mehreren Einheiten bzw. Konstrukten mit differenten Logiken zu inszenieren, die trotz ihrer Differenz in der gemeinsamen Welt, in der sie agieren, miteinander zurechtkommen sollen. Als maßgebliche Bestimmungsfaktoren werden dafür die Teileinheiten selbst, das durch sie gebildete Ganze und die Möglichkeiten und Notwendigkeiten der gegenseitigen Interaktion anvisiert. Aus konzeptueller Sicht sind freilich Vereinfachungen nötig. So sieht die Inszenierung der Interdisziplinarität als intersubjektives Wechselverhältnis noch von vielen Besonderheiten wissenschaftlicher Disziplinen ab. Einer späteren konzeptionellen Konkretisierung steht das abstrakte Modellspiel jedoch nicht im Wege. Es wird auch nicht beansprucht, dass das Folgende bestimmte, in der Interdisziplinarität-Debatte vertretene Konzepte originalgetreu wiedergibt. Dafür steht der nötige Raum hier nicht zur Verfügung. Angestrebt ist ein konzeptueller Einstieg, der die theoretische Lage im Großformat vermisst. Es handelt sich um eine heuristische Einführung, 73 Mittelstraß, Die Stunde der Interdisziplinarität? (1987), S. 152; Heckhausen, „Interdisziplinäre Forschung“ (1987), S. 130.
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deren Überzeugungskraft auch im Nachhinein beurteilt werden kann und soll. Die leitende Frage lautet dabei, wie eine konstruktive Interaktion zwischen verschiedenen disziplinären Einheiten ablaufen soll. Darauf geben drei alternative Konzepte der Interdisziplinarität, (1) der Parallelismus, (2) der Assimilationismus und schließlich (3) die hier vertretene praktische Integration, verschiedene Antworten. (1) Der „Parallelismus“ steht einer konstruktiven Interaktion zwischen verschiedenen Einheiten skeptisch gegenüber. Er zieht grundsätzlich in Zweifel, dass die Logik einer Einheit der Logik einer anderen Einheit gerecht werden kann.74 Zurückgeführt wird das auf eine Beobachtung radikaler Differenz. Für den Parallelismus sind die Logiken der Disziplinen so eigenartig, dass sie nicht einmal mehr miteinander verglichen werden können. Sie sind „inkommensurabel“.75 Die disziplinären Einheiten werden als geschlossene Welten betrachtet, die für das Verständnis anderer Logiken taub bleiben. Das, was eine andere disziplinäre Einheit tut, ereignet sich aus der Sicht einer Einheit in einem Paralleluniversum, das nur durch die Aneignung deren genuiner Sprach- und Deutungsmuster zugänglich wird. Die Logik zu wechseln, bleibt zwar möglich, der Wechsel würde aber lediglich die alte Logik durch die neue ersetzen, und es wäre nichts dazugewonnen. An etwas Gemeinsamem zusammenarbeiten können die inkommensurablen Disziplinen nicht. Der Aspekt der Konkurrenz, der neben der radikalen Differenz für die Definition von Inkommensurabilität vorgebracht wird,76 lässt sich in einer starken Lesart des Begriffs besser als Alternativität beschreiben: Die „Konkurrenz“ beginnt nicht erst als Wettstreit um eine bessere Logik, sondern, weil die Aneignung einer Logik immer auch die Ausblendung aller anderen bedeutet, schon in der Situation, sich überhaupt für eine Logik entscheiden zu müssen. Genau genommen wird die Möglichkeit einer Konkurrenz um die bessere Logik sogar durchkreuzt, da die verschiedenen Theoreme wegen ihrer absoluten Theorieabhängigkeit77 gar nicht miteinander verglichen werden können. Der Blick in die Wissenschaftslandschaft zeigt auch, dass zwar einige Einheiten hoffnungslose kuhnsche Kriege (Richard Rorty)78 führen, zugleich gibt sich aber 74 Nochmals: Der Parallelismus ist als heuristische Modellkonstruktion der Interdisziplinarität zu lesen, die in der gezeichneten pointierten Form wohl nirgends zu finden sein wird. Anleihen macht sie am ehesten beim Archipelismus Jean-François Lyotards und bei einer zugespitzten Lesart der Systemtheorie Luhmanns; vgl. etwa Lyotard, Der Widerstreit (1987 [1983]); Luhmann, Soziale Systeme (1984). Zu Lyotard Welsch, Vernunft (1996), S. 303 – 354. Zu Luhmann I. 3. 75 M. w. H. zu den theoriegeschichtlichen Wurzeln bei Thomas Kuhn und Paul Feyerabend dazu eingehend Lueken, Inkommensurabilität als Problem rationalen Argumentierens (1992). Mit direktem Bezug zum Problem des Rechts und m. w. H. instruktiv: Christensen / Lerch, Dass das Ganze das Wahre ist (2007), S. 441 f.; Christensen / Sokolowski, Die Krise der Kommunikation (2005), S. 109 – 113. 76 Dazu Lueken, Inkommensurabilität als Problem rationalen Argumentierens (1992), S. 29 – 32. 77 Lueken, Inkommensurabilität als Problem rationalen Argumentierens (1992), S. 32 f. 78 Christensen / Lerch, Dass das Ganze das Wahre ist (2007), S. 442.
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eine mindestens ebenso große Anzahl mit der Koexistenz der anderen abgeklärt zufrieden. Zu einem großen Teil bleiben die differenten Disziplinen füreinander schlicht indifferent. So positionieren sich die einzelnen Disziplinen un-verbindlich nebeneinander. Ungeachtet ihrer Artgenossen hegen und pflegen die disziplinären Einheiten ihre Sichtweisen, Rahmungen und Codierungen und entwickeln ihre spezifischen Orientierungssysteme, Paradigmen und Sprachspiele entkoppelt voneinander fort. Das theoretische Nebeneinander-Her erscheint als notwendige Konsequenz logischer Disparität. Dass die disziplinäre Umwelt jeder Einheit ein unverständliches Geräusch bleibt, stört das Bild des Parallelismus dabei nicht. Das parallele Nebeneinander verschiedener Disziplinen ist für ihn gerade die Pointe der modernen Wissenschaft. Mit dem Paradigma unüberwindbarer Differenz geht der Parallelismus damit mit einem dezidierten Partikularismus einher. Die Wissenschaftslandschaft wird in molekulare Sinn-Clusters zergliedert, die in wechselseitiger Verständnislosigkeit ein paralleles Inseldasein79 fristen.80 Das Wirrwarr des wissenschaftlichen Diskurses, eigentlich ein partitioniertes Splitterfeld vereinsamter81 Diskurse, verfestigt sich für den Parallelismus zum unauflöslichen Durcheinander. Von einem parallelistischen Konzept der Interdisziplinarität wird deshalb nicht all zu viel zu erwarten sein, denn mit den Disziplinen selbst sind auch die Möglichkeiten der Interaktion stark begrenzt: „[Interdisziplinarität] vermag nicht, die verschiedenen Perspektiven ineinanderzuführen oder zu vereinigen. Insofern sind die Grenzen der Disziplinarität [ . . . ] nicht zu überwinden.“82 In einer Welt getrennter Welten miteinander zurechtzukommen, bedeutet deshalb zunächst einmal, dass sich jede Einheit aus den Angelegenheiten der anderen heraushält. Die namensgebende Parallelität des Konzepts wird so zum interdisziplinären Leitprinzip: Es gilt, das disparate Nebeneinander der Disziplinen vorsichtig zu wahren. Den Einzellogiken wird je das Recht eingeräumt, ungehindert durch Einmischungen von außen, an sich selbst zu arbeiten und die eigenen Ziele zu verfolgen. Da nur sie über die Einsicht in die eigene Logik verfügen, sollen sich die Disziplinen als souveräne Kompetenz-Einheiten selbst verwalten. Das Verhältnis zwischen den Disziplinen ist durch die absolute Respektierung des Aktionsfeldes der anderen zu organisieren, die im Gegenzug mit der Integrität des eigenen Terrains belohnt wird. Interdisziplinarität wird so zur Besinnung auf die eigene Disziplinarität, zur Selbsterkenntnis im Spiegel des Anderen. In der Auffassung des Parallelismus schützt diese Praxis sowohl die interdisziplinäre Interaktion als solche als auch die einzelnen Disziplinen vor überhöhten Ansprüchen („Interdisziplinaritäts-Hypertrophie“83). Einerseits werden Kommunikationen vermieden, die aufgrund unvereinbarer 79 80 81 82 83
Mittelstraß, Die transdisziplinäre Zukunft der Forschung (2001), S. 90. Vgl. Lyotard, Der Widerstreit (1987 [1983]), S. 217 – 219. Vgl. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit (21971), insb. S. 63 – 98. Heckhausen, „Interdisziplinäre Forschung“ (1987), S. 137. Heckhausen, „Interdisziplinäre Forschung“ (1987), S. 137.
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Eigenlogiken ohnehin zum Scheitern verurteilt sind, und andererseits werden den einzelnen Disziplinen Ausflüchte erspart, die von der gebotenen disziplinären Konzentration ablenken und letztlich die eigene Identität aufs Spiel setzen. Das parallele Interagieren der Disziplinen noch als Interdisziplinarität zu verstehen, ist deshalb schwierig. Ersatzweise lässt sich der Parallelismus aber noch für eine „multidisziplinäre“ Interaktion der Disziplinen84 gewinnen: „Das Problem wird“ danach „von verschiedenen Aspekten beleuchtet, aber jeder Aspekt bleibt für sich bestehen und lässt sich nicht in die anderen Ansichten überführen. Multidisziplinarität liefert also keine ,Gesamtschau‘ in der Durchdringung des Problems, sondern mehrere Teilansichten, die allerdings zueinander in bestimmten Zuordnungen oder Ergänzungen stehen.“85 Die verschiedenen Logiken sollen sich „facettenartig zusammensetzen, aber nicht irgendwie amalgamieren.“ 86 In der starken Lesart des Parallelismus wird multidisziplinäre Interaktion danach als eine Ringveranstaltung praktiziert, in der sich verschiedene disziplinäre Einheiten repräsentativ, aber unverbunden aneinander reihen. Durch die Aneinanderreihung kann dann immerhin in der Zeit eine Art kooperative Kommunikation konstruiert werden. Die Kooperation kann aber nur beschränkt theoretisch fruchtbar gemacht werden, da sich die Disziplinen ja nur wieder selbst verstehen. Die Gewinne durch die „Zuordnungen oder Ergänzungen“ können lediglich in den Einzeldisziplinen verbucht werden. Neben der Initiierung einer allenfalls ertragreichen Selbstreflexion kann der Sinn multidisziplinärer Kommunikation deshalb v. a. in einem sozialen Kompensationsmechanismus gesehen werden, der darin besteht, „die Sehnsucht nach einem insularen Nachbarn“87 zu lindern. Multidisziplinäre Veranstaltungen erlauben zwar nicht die Auseinandersetzung, immerhin aber eine Begegnung mit dem Anderen. Die Unmöglichkeit gemeinsamen Wissens wird wenigstens durch gegenseitige Informierung flankiert.88 (2) Der Parallelismus kann als reichlich pessimistisches Konzept der Interdisziplinarität beurteilt werden. Weil konstruktive Kommunikation zwischen verschiedenen Einheiten nicht möglich ist, muss sich Interdisziplinarität auf den Schutz der disziplinären Grenzen und einen ersatzweisen disziplinären Informationsaustausch beschränken. Darauf antwortet der „Assimilationismus“ mit einem optimistischen Gegenkonzept.89 Zwar nimmt auch der Assimilationismus das Stimmengewirr der Heckhausen, „Interdisziplinäre Forschung“ (1987), S. 130 / 138 f. Heckhausen, „Interdisziplinäre Forschung“ (1987), S. 138. 86 Heckhausen, „Interdisziplinäre Forschung“ (1987), S. 139. 87 Mittelstraß, Die transdisziplinäre Zukunft der Forschung (2001), S. 90. 88 Zum Verhältnis von Wissen und Information und zur Einbuße, die der Ersatz von Wissen durch Information mit sich bringt, vgl. Mittelstraß, Krise des Wissens? (2001), S. 41 – 45. 89 Auch der Assimilationismus ist als zu heuristischen Zwecken zugespitztes Konzept der Interdisziplinarität zu verstehen. Elemente des Assimilationismus finden sich etwa in den Einheitsphilosophien Leibniz’, Hegels, des Wiener Kreises oder jüngerer Physikalismen und Biologismen. M. w. H. dazu Mittelstraß, Schwere wissenschaftliche Träume (2001 [2000]); ders., Das Bedürfnis nach Einheit (1998 [1991]). 84 85
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Disziplinen zur Kenntnis. Anders als der Parallelismus sieht er sich dadurch jedoch nicht veranlasst, die Diversität der Einheiten als eine Implikation originärer Inkommensurabilität zu konzeptualisieren, sondern betrachtet das Auseinanderdriften der Logiken als Dysfunktion eines einst oder eigentlich ungeteilten Ganzen. Dem Partikularismus des Parallelismus setzt der Assimilationismus somit einen dezidierten Unitarismus entgegen. Er vertritt das Paradigma der Einheit. Anstatt wie der Parallelismus die Argumentation bei der unvereinbaren Differenz der Einheiten zu beginnen, setzt er bewusst bei einer Gesamtbetrachtung an. So wie sich der Parallelismus besonders in der Analyse der Einzelteile auszukennen glaubt, meint der Assimilationismus, besonders gut über das Ganze Bescheid zu wissen. Er weiß von der Einheit der Welt und folglich auch von der Einheit der Wissenschaft. Was in Wahrheit eine ungeteilte Einheit bildet, kann im richtigen Sprechen darüber, in den disziplinären Logiken, nicht auseinanderfallen. Für den Assimilationismus ist das disziplinäre Stimmengewirr gerade das Gegenbild eines Wissenschaftsideals, in dem sich jede Einheit mit jeder anderen zu einer harmonischen Gesamteinheit zusammenfügt. Die disziplinäre Zersplitterung der Wissenschaft liegt in seiner Auffassung nicht im Wesen der modernen Wissenschaft, vielmehr ist die in Bruchstücke zerfallende moderne Wissenschaft drauf und dran, ihr einheitliches Wesen zu verspielen. Das Paradigma der Einheit schlägt dann auch auf das Verständnis der einzelnen Einheiten durch. Wo der Parallelismus eine unüberwindliche Differenz analysiert, erkennt der Assimilationismus eine unhintergehbare Identität. Die Disparität der Einheiten taxiert er als bloße Oberflächenvariation. Eigentlich eint die verschiedenen Disziplinen eine tiefe, unauflösliche Verwandtschaft. Den verschiedenen Logiken, die sich mit dem ersten Eindruck so uneinheitlich zum dissonanten Geräusch verwirren, ist in Wahrheit eine tiefsitzende, alles umspannende Harmonie eingeschrieben. Zwar liegt die Identität der Einheiten nicht offen zutage, sie ist aber in allen Einheiten angelegt und kann mit feinem Gespür an die Oberfläche gefördert werden. Damit unterscheidet sich der Assimilationismus vom Parallelismus nicht nur in seiner Bewertung von Differenz und Identität, sondern auch in der Art, wie der jeweilige Aspekt zur Geltung kommen kann. Während die Differenz des Parallelismus schon in der Ausgangslage ins Auge sticht, ist die Identität der Disziplinen im Assimilationismus ein verlorengegangenes oder noch nicht verwirklichtes Ziel. Während der Parallelismus die Realität auf seiner Seite hat, operiert der Assimilationismus mit einem Ideal, das sich als „gesellschaftliches Bedürfnis“90 allerdings auf eine lange Tradition berufen kann: „Der Traum von einer Einheit der Wissenschaft ist so alt wie die Wissenschaft selbst.“91 Das Ideal der Einheit der Welt und der Einheit der Wissenschaft ist auch der Wahlspruch assimilativer Interdisziplinarität. Wenn die oberflächlich differenten Einheiten die Einheit des Ganzen in der Tiefe ihres Inneren bereits in sich tragen, 90 91
Mittelstraß, Das Bedürfnis nach Einheit (1998 [1991]), S. 49. Mittelstraß, Schwere wissenschaftliche Träume (2001 [2000]), S. 112.
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dann ist es auch angebracht, die Bestimmung der konstruktiven Interaktion bei diesem geteilten Gemeinsamen anzusetzen. Ziel des Assimilationismus ist es daher, die alles verbindende Einheit ans Licht zu bringen und die scheinbar voneinander verschiedenen Einheiten darin passend einzugliedern. Die leitende Vorstellung dabei ist, dass die Einheiten, wenn sie nach dem Vorbild des Sinn-Ganzen geordnet worden sind, ganz von selbst miteinander zurechtkommen. Zum praktischen Leitprinzip der Interdisziplinarität wird deshalb die Assimilation. In erster Linie sollen sich die disziplinären Einheiten an das einheitliche Ganze anpassen, andererseits zieht das auch eine Angleichung der einzelnen Einheiten untereinander nach sich. Dass sich die disziplinären Einheiten einander angleichen, heißt nicht etwa, dass sie nunmehr allesamt ineinander aufgingen, ihre Unterschiede verdanken sich aber nur noch den Einordnungen ins Gesamte und verblassen angesichts der alles überstrahlenden Gemeinsamkeiten. Unabdingbar für die Assimilation ist daher die Aufgabe ebenso konstitutiver wie unverfügbarer disziplinärer Grenzen. In einem vereinheitlichten Universum der Disziplinen degenerieren Grenzen zu Orientierungshilfen, die die Logik des Ganzen grob nachzeichnen, sie bilden aber keine Schutzräume wissenschaftlicher Eigenlogiken mehr. Im Assimilationismus sind die wissenschaftlichen Konstrukte und deren Logiken also einander so lange anzugleichen, bis die Wissenschaftswelt ein perfektes Bild der einheitlichen Welt abgibt. Wie der Blick in die tatsächliche Welt der Wissenschaft aber nahelegt, ist ein solches Ergebnis in absehbarer Zukunft nicht zu erwarten, jedenfalls nicht von selbst. Wie es scheint, arbeiten die meisten Einzeldisziplinen in völliger Selbstbezogenheit unbekümmert weiter an der Zersplitterung der wissenschaftlichen Einheit. Aus der Sicht des Assimilationismus bedarf es deshalb ersatzweise des Engagements einzelner Einheiten, die die Bürde auf sich nehmen, die Einheit der Welt stellvertretend zu besorgen. Ein solches Ersatzkonzept der Interdisziplinarität könnte „Unidisziplinarität“ genannt werden. Darin tun sich disziplinäre Einheiten als Leiteinheiten hervor, die bereit sind, ein einheitliches Ganzes auch für solche Einheiten zu präparieren, die selbst nicht dazu imstande oder gewillt sind. Gerechtfertigt durch das Unvermögen oder die Weigerung, den einheitlichen Sinn des Ganzen einzusehen, wird den dissidenten Partikularisten die Kompetenz zur selbständigen Arbeit an der Gemeinschaft des Wissens entzogen und in die Hände der Leitdisziplinen gelegt. Die sich durch einen privilegierten Zugang zum Ganzen auszeichnenden Leitdisziplinen besitzen dagegen nicht nur die Fähigkeit, die Sinnordnung der Einheit im Eigenen zu erkennen, sondern auch die, diese Erkenntnis auch für andere fruchtbar zu machen. Sie verfügen über ein außerordentliches Maß an unidisziplinärer Einsicht. (3) Auch das Ersatzkonzept, das der Assimilationismus bereithält und mit dem seine assimilative Grundhaltung besonders deutlich wird, hat allerdings mit Problemen zu kämpfen. Zunächst fragt sich, aus welchen Gründen bestimmte, sich als Leiteinheiten oder Leitdisziplinen gebärdende Einheiten von sich behaupten können, über einen privilegierten Zugang zum einheitlichen Ganzen zu verfügen. Das Problem der Einheit des Ganzen ist nämlich, dass sich das Ganze nicht allen Ein-
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heiten einheitlich erschließt. So liegt die Befürchtung nahe, dass sich verschiedene unitaristisch-assimilativ inspirierte Einheiten gegenseitig als Leitdisziplinen ausspielen, um die Uneinsichtigen zu unterjochen. Statt dem „Traum von einer Einheit der Wissenschaft“ wird dadurch den kuhnschen Kriegen Vorschub geleistet, die das unitaristische Ideal eigentlich überwinden wollte. Anstatt eine harmonische Einheit zu schaffen, wird die wirre Dissonanz nur verstärkt oder gar die Diktatur der Lautesten provoziert. Selbst wenn es nicht so weit kommen sollte, bleibt doch fraglich, wie die Einheit der Welt gemeinsam zu entdecken ist. Ohne Spekulation scheint eine Antwort darauf nicht zu geben zu sein und jedenfalls der theoretische Weg über die Vorstellung einer Einheit der Welt und der Einheit der Wissenschaft versperrt.92 Dem überschießenden Optimismus des Assimilationismus steht andererseits der hoffnungslose Pessimismus des Parallelismus gegenüber. Auch er kann seine Vorstellung von der völligen Differenz der Logiken nicht aufrecht erhalten. Denn insofern verschiedene Einheiten immerhin als verschieden beurteilt werden können, muss zumindest auch mit etwas operiert werden, mit dem diese Differenz konstatiert werden kann. Donald Davidson bemerkt: „Verschiedene Standpunkte haben zwar Sinn, aber nur, wenn es ein gemeinsames Koordinatensystem gibt, in dem man ihre Stelle abtragen kann; doch das Vorhandensein eines gemeinsamen Systems straft die These der überwältigenden Unvergleichbarkeit Lügen.“93 Mit Davidson lässt sich daher sagen: „Die Annahme vollständiger wechselseitiger Abgeschlossenheit verschiedener Orientierungssysteme ist absurd. Auch inkommensurable Orientierungssysteme müssen an irgendwelchen Stellen offen sein, irgendwelche Gemeinsamkeiten haben. Sonst wäre Inkommensurabilität überhaupt nicht feststellbar.“94 Auch wenn das noch nicht impliziert, wie oder ob etwas Gemeinsames überhaupt konstruiert werden kann, relativiert es die Absolutheit der Inkommensurabilitätsthese und lässt Hoffnung für ein anspruchsvolleres Konzept der Interdisziplinarität als das des Parallelismus schöpfen. Parallelismus und Assimilationismus bilden zwei auf die Spitze getriebene Modellversuche, die äußersten Enden interdisziplinärer Interaktion begreifbar zu machen. Gemeinsam stecken sie ein Theoriefeld der Interdisziplinarität ab, in dem sich ein überzeugendes Konzept erarbeiten lässt. Ansatzpunkte dafür können gerade bei den Schwierigkeiten des Parallelismus und des Assimilationismus gefunden werden. Dabei lassen sich bei aller Gegensätzlichkeit der Konzepte auch Gemeinsamkeiten erkennen: Sowohl der Parallelismus als auch der Assimilationismus 92 Mittelstraß, Schwere wissenschaftliche Träume (2001 [2000]), S. 116. Zur Spekulativität der Einheitsphilosophien insb. ebd., S. 108. Das unitaristische Ganzheitskonzept des Assimilationismus kann als starker Holismus bezeichnet werden. Die Schwächen des starken und den Übergang zu einem schwachen Holismus aufzeigend Christensen / Kudlich, Gesetzesbindung (2008), S. 67 – 79. 93 Davidson, Was ist eigentlich ein Begriffsschema? (1986 [1974]), S. 262. 94 Lueken, Inkommensurabilität als Problem rationalen Argumentierens (1992), S. 127 f. Zur ganzen Argumentation ebd., S. 124 – 127, m. w. H.
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legen ihrem Konzept statische Aspekte eines Weltbildes zugrunde, um diese daraufhin auf den Interaktionsmodus der Interdisziplinarität zu übertragen, der Parallelismus den Aspekt der (differenten) Teile, der Assimilationismus den Aspekt des (einheitlichen) Ganzen. Die interdisziplinäre Interaktion wird lediglich als Anhängsel deduziert – für das dann, weil es das Problem nicht zufriedenstellend lösen kann, ein Ersatzkonzept hervorgeholt werden muss (die Multi- und die Unidisziplinarität). Wenn Interdisziplinarität jedoch die Frage nach der konstruktiven Interaktion beantworten soll, scheint es aussichtsreicher, die Beantwortung direkt bei der Praxis anzusetzen. Interdisziplinarität ist besser als dynamisches, praktisches Problem zu begreifen, das zuallererst nach einer praktischen Lösung sucht.95 D. h. nicht, dass Interdisziplinarität theoretisch nicht mehr begriffen werden könnte. Auch ein praktischer Ansatz wird – mit den entsprechenden Akzentverschiebungen – Rückschlüsse auf die Teile und das Ganze zulassen. Es zeigt sich aber, dass die Theorie selbst zur Praxis werden muss und die Reflexion der Theorie zur Theorie der Praxis. Gelungene Interdisziplinarität muss daher direkt bei der konstruktiven Interaktion oder dem Miteinander-Zurechtkommen der Disziplinen ansetzen. Nicht die scheinbar vorgegebene Differenz oder Einheit der Logiken soll es sein, die die Möglichkeiten der Interdisziplinarität definiert, sondern die Definition erfolgreicher interdisziplinärer Interaktion soll die Notwendigkeiten disziplinärer Differenz und Einheit vorgeben. „Gelungen“ und „erfolgreich“ bedeutet dabei nicht eben die Übereinstimmung mit einem vorgefertigten Weltbild vom Ganzen und seiner Teile, sondern vielmehr die Fairness des interaktiven Prozesses. Interdisziplinäres Zurechtkommen wird zunächst zur Frage, wie verschiedene Logiken zu ihrem Recht kommen. Durch diesen Sichtwechsel allein ist das Problem freilich noch nicht erledigt. Im Gegenteil, er zeigt auf, dass interdisziplinäre Interaktion nicht einfach auf ein vorhandenes Weltgeschehen bezogen werden darf. Weil Interdisziplinarität produktives Hand-Anlegen an das Andere bedeutet, ist es verantwortlich zu rechtfertigen. Für die Beantwortung der Frage, wo die Bestimmung fairer interdisziplinärer Interaktion nun beginnen soll, ist wieder der Rückgriff auf die Diskussionen des Parallelismus und des Assimilationismus hilfreich. Die Auseinandersetzung mit dem Assimilationismus hat gezeigt, dass die Überdehnung des Einheitsideals leicht zu disziplinärer Bevormundung und Unterdrückung führen kann, was mit der Berufung auf eine interdisziplinäre Einheit aber gerade nicht gerechtfertigt werden kann. Einzeldisziplinen dürfen nicht einfach ihrer Eigenheiten beraubt werden. Weil keine der einzelnen Einheiten in der Ausgangslage für sich behaupten kann, über einen privilegierten Zugang zur einen Einheit des Ganzen zu verfügen, muss allen ein prinzipielles Recht auf Differenz zugestanden werden. Dagegen hat die 95 Vgl. Mittelstraß, Schwere wissenschaftliche Träume (2001 [2000]), S. 117 – 119. Vgl. in anderem, aber ähnlichem Kontext Christensen / Lerch, Dass das Ganze das Wahre ist (2007), S. 441.
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Überstrapazierung des Differenzgedankens im Konzept des Parallelismus zur Folge, dass die Einheiten gar nicht mehr oder höchstens kompensatorisch zur Linderung sozialer Sehnsucht miteinander kommunizieren. Statt interdisziplinäre Wechselbeziehungen zu pflegen, reden die Einheiten aneinander vorbei. Um in einer gemeinsamen Welt miteinander zurechtzukommen, wird es jedoch nicht genügen, sich auf gemeinsame Grenzen zu „verständigen“. Der Sinn des Eigenen im Gemeinsamen wird sich erst aus einer gemeinsamen Perspektive ergeben. Zwar erinnert das Scheitern des Assimilationismus an die Unverfügbarkeit einer vorgegebenen Einheit, das Scheitern des Parallelismus eröffnet aber auch die Chance auf Gemeinsamkeit. Die Chance darauf besteht aber nur, wenn ihm nicht als vorgegebene Einheit nachgeeifert, sondern wenn es als Aufgegebenes in Arbeit genommen wird. Diese Gedanken fasst die „praktische Integration“ zu einem InterdisziplinaritätKonzept zusammen.96 Anders als der Parallelismus, dessen Argumentation bei der unüberwindlichen Differenz der Teile beginnt und deswegen auch den Namen „Differenzialismus“ tragen könnte, und anders als der Assimilationismus, der seinen Ausgang bei der vorgegebenen Einheit des Ganzen nimmt und somit auch „Unitarismus“ heißen könnte, argumentiert das Konzept der praktischen Integration zunächst für einen nach wechselseitigem Respekt verlangenden gemeinsamen Interaktionsmodus. Die reziproke Integration, die ihn anleitet, ist weder als gegenseitiges Unberührtlassen noch als Eingliederung in eine vorbestehende Einheit zu verstehen. Das Paradigma der praktischen Integration steht für die gemeinsame Arbeit an einer geteilten Welt prinzipiell gleichberechtigter Einheiten. Insofern disziplinäre Einheiten einen Platz unter anderen beanspruchen, sollen sie sich nicht auf ihre Grenzen zurückziehen dürfen, wenn ihre Logik infrage gestellt wird. Sie müssen sich für das Unverständnis anderer öffnen und den Versuch unternehmen, ihre Eigenlogik verständlich zu machen. Umgekehrt sind die anderen Einheiten gehalten, die Eigenheiten aller anderen zu respektieren. Sie sollen anerkennen, dass es sich dabei um Ergebnisse kommunikativer Vorgeschichten handelt, in die erst ein interdisziplinärer Dialog einen angemessenen Einblick erlaubt. So wird interdisziplinäre Interaktion zur gleichberechtigten Arbeit an einer Verständigung zwischen den Disziplinen. Der interdisziplinäre Diskurs, in dem dies geschieht, wird die Einzellogiken dabei nicht unverändert lassen. Er ringt ihnen ab, sich in dem Maße zu entwickeln und zu verändern, wie es eine gelungene Kommunikation erfordert. 96 Der Integrationsbegriff ist hier nicht an einen starken Holismus, wie ihn etwa Rudolf Smend in der Verfassungstheorie verwendet, angelehnt. Dazu Christensen, Müllers „Einheit der Verfassung“ (2007), insb. S. VIII – XI, m. w. H. In Abgrenzung zum Assimilationismus, aber auch zum Parallelismus ist die praktische Integration von einem schwachen, praktischen Holismus inspiriert. Die Terminologie der Interdisziplinarität-Konzepte entspringt eher einer Analogie zur Migrationspolitik. Auch dort geht es um die Frage, wie „Fremdes“ mit dem „Eigenen“ zurechtkommen kann. Parallelität, Assimilation und Integration geben darauf drei unterschiedliche Antworten.
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Integration bedeutet damit die gegenseitige Öffnung und Entwicklung zum Zweck einer gemeinsam geteilten Perspektive. Und Interdisziplinarität wird damit zu einem gemeinsamen Projekt, zur gemeinsamen Aufgabe differenter Einheiten, durch die gleichberechtigte Inarbeitnahme der beteiligten Logiken ein in der je eigenen Perspektive nachvollziehbares Gesamtkonstrukt zu produzieren. Das integrierte Ganze bleibt dabei partikulär. Als solches ist das einheitliche Ganze nicht verfügbar, sondern kann nur in der jeweiligen Sicht konstruiert werden. Das Ganze ist nicht vorgegeben, sondern wird je konstruktiv durch das Spiel der Teile hergestellt. Andererseits lässt sich auch die Differenz der Teile nicht ohne die Kategorie eines einheitlichen Ganzen erfassen. Auch die Differenz der Einheiten ist als solche nicht gegeben, sondern bildet sich erst vor dem Hintergrund oder dem Horizont eines Ganzen. Dieses wechselseitige Angewiesensein – die Teile benötigen den Hintergrund des Ganzen, das Ganze dagegen die vordergründige Interaktion der Teile – zwingt die interdisziplinäre Interaktion auf eine prozedurale Dynamik zwischen Einheit und Differenz. Die horizontale Reziprozität gilt daher nicht nur für die Beziehung der differenten Teile untereinander, sondern auch zwischen den Teilen und dem Ganzen. Der Schlüssel zur erfolgreichen Integration in diesem Spannungsfeld zwischen Einheit und Differenz ist eine reziproke Interaktionspraxis.97 Interdisziplin.Konzept
Parallelismus (Differenzialismus)
Assimilationismus (Unitarismus)
Praktische Integration
Teile
Differenz
Identität
Mittels des Ganzen konstruierte Differenz
Ganzes
Partikularität
Einheit
Durch die Teile konstruierte Einheit
Interaktion
Indifferente Parallelität
Entdifferenzierende Assimilation
Reziproke Integration
Ersatzkonzept
Multidisziplinarität
Unidisziplinarität
–
¨ berblick Abbildung 10: Die Interdisziplinarita¨ t-Konzepte im U
b) Kleine Soziologie der Interdisziplinarität Nun bleiben die konzeptuellen Ausführungen zur Interdisziplinarität noch relativ abstrakt. Sie sollen einerseits einen tieferen Einstieg in das Problem vorbereiten 97 Vgl. Christensen / Lerch, Dass das Ganze das Wahre ist (2007), S. 441, wo der schwache Holismus als praktisch und horizontal bezeichnet wird; vgl. ausführlicher Christensen / Fischer-Lescano, Das Ganze des Rechts (2007), insb. S. 69 – 147; und Christensen / Kudlich, Gesetzesbindung (2008), insb. S. 67 – 79. Vgl. zum ganzen Konzept auch Mastronardi, Juristisches Denken (22003), Rn. 725 – 838.
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und andererseits einen wichtigen Teilbeitrag zu einer möglichst umfassenden Perspektive aufs Problem leisten. Darüber hinaus bietet die abstrakte Vorbereitung des Interdisziplinarität-Problems auch die Möglichkeit, die Überzeugungskraft des hier Entwickelten nicht nur im Abstrakten, sondern auch in Gegenüberstellung zu den folgenden Konkretisierungen auf die Probe zu stellen. In ihrer abstrakten Form kann die bisherige Diskussion der Interdisziplinarität mit unerheblichen Modifikationen auch als eine Konzeptualisierung von Intersubjektivität oder Interaktivität gelesen werden. Der Wirklichkeitsbereich der Interdisziplinarität bleibt noch unscharf. Vorerst handelt es sich lediglich um ein Wechselspiel differenter Einheiten gleichen Typs. In der Konkretisierung des entworfenen Konzepts der praktischen Integration zu einer Konzeption legitimen interdisziplinären Arbeitens soll die eingeführte Interaktion deshalb als Nächstes hinsichtlich ihrer Erscheinungs- und Funktionsweisen genauer beleuchtet werden, die sie tatsächlich als Interdisziplinarität charakterisieren. Das wird unter dem Titel einer soziologischen Betrachtung der Interdisziplinarität abgehandelt,98 wobei hier nur eine kurze Orientierung Platz greifen kann.99 Zu diesem Zweck sei zunächst geklärt, (1) was sinnvollerweise unter einer Disziplin zu verstehen ist, und (2) mit welchen Mitteln verschiedene Disziplinen in eine Beziehung zueinander gebracht werden können, um (3) ein dynamisches Ablaufmodell des interdisziplinären Prozesses anzudeuten. (1) Die Auseinandersetzung damit, was unter einer wissenschaftlichen Disziplin zu verstehen ist, ist eine verbreitete Herangehensweise an das Problem der Interdisziplinarität. 100 Auch wenn das konkretere Nachdenken über Disziplinen nicht notwendigerweise – das soll das Beispiel der konzeptuellen Vorüberlegungen gezeigt haben – den Einstieg in die Problematik bilden muss, scheint eine Auseinandersetzung mit Disziplinarität für ein differenziertes Sprechen über Interdisziplinarität tatsächlich unerlässlich. Je nachdem nämlich, wie der Begriff gefasst wird, wird auch der damit verknüpfte Begriff der Interdisziplinarität zu justieren sein. Und je komplexer Disziplinarität begriffen wird, desto anspruchsvoller ist auch die dazu passende Konzeption der Interdisziplinarität zu gestalten.101 Nun hat vermutlich jede wissenschaftlich arbeitende Person eine mehr oder weniger klare Vorstellung davon, in welcher Disziplin sie sich bewegt. Diese Selbstverständlichkeit steht jedoch in eigenartiger Gegensätzlichkeit zu der Schwierigkeit, allgemeine Kriterien anzugeben, anhand derer das eigene wissenschaftliche Tun von dem anderer 98 Als „Soziologie“ wird hier der Untersuchungsmodus verstanden, der ein soziales Problem hinsichtlich seiner Funktionsweisen und -bedingungen diskutiert. Die Titelgebung soll insb. deutlich machen, dass Interdisziplinarität hier als ein Problem des Sozialen gesehen wird. 99 Die soziologische Betrachtung bleibt eine kleine. 100 So nur schon in Kocka (Hrsg.), Interdisziplinarität (1987), die Beiträge Kocka, Einleitung (1987), S. 8; Krüger, Einheit der Welt – Vielheit der Wissenschaft (1987), S. 110 – 117; und Heckhausen, „Interdisziplinäre Forschung“ (1987), S. 129 – 133. 101 Als Bestandteil einer Konzeption von Interdisziplinarität wie dieser wird sich aber auch der Disziplinenbegriff nicht losgelöst von einem Begriff der Interdisziplinarität definieren lassen.
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Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sinnvoll abgegrenzt und – noch schwieriger – auch in eine sinnvolle Beziehung dazu gebracht werden kann. Der naheliegendste Ansatz für die Definition von Disziplinen ist nun ein organisatorisch-institutioneller, d. h. einer, der sich an Ordnungsmerkmalen orientiert, die sich in der Wissenschaftswelt in einer manifesten Fach-, Bereichs- und Fakultätsorganisation äußert, angefangen etwa bei einer organisatorischen Selbstbezeichnung. Eine solche Definition ließe sich etwa an einer „Einheit von Lehre, Forschung und professioneller Organisation“102 festmachen. Sie käme auch der Etymologie des Wortes Disziplin entgegen, wonach die Disziplin als disziplinäres Lernen (lat. discere: lernen) eng mit der von den Lehrenden vermittelten Doktrin (lat. docere: lehren)103 und damit mit der institutionellen Organisation der Wissensproduktion und Wissensvermittlung verbunden ist. Wer diesen Orientierungsversuch unternimmt, wird allerdings mit einer Flut institutionalisierter Einheiten konfrontiert. Bereits 1987 konstatiert Jürgen Mittelstraß: „In den Wissenschaften schreitet die Spezialisierung und mit ihr die Entstehung neuer, immer kleinerer Fächer zunehmend voran. Der Fächerkatalog des Hochschulverbandes zählt über 4000 Fächer. Auch wenn sich dabei manches vergängliche Forschungsthema zum Fach geadelt sieht und die Suche nach Synonyma nicht ohne Erfolg bleibt – eine beängstigende, für Unübersichtlichkeit im Wissenschafts- und Hochschulbereich sorgende Zahl. Die damit gegebene Atomisierung der Fächer setzt sich zudem auf der Ebene der Fachbereiche und der Fakultäten fort.“104 Die einst so überschaubare Dreiteilung nach Medizin, Theologie und Jurisprudenz, ergänzt noch durch die Philosophie,105 hat ihre Überschaubarkeit im Lauf der Wissenschaftsgeschichte eingebüßt. Wenn nicht in funktioneller, so hat immerhin in organisatorisch-institutioneller Hinsicht eine enorme Differenzierung der Wissenschaftslandschaft stattgefunden.106 Nun muss die Vielzahl organisierter Einheiten nicht davon abhalten, sie für Disziplinen zu nehmen. Zu fragen wäre allenfalls noch, auf welcher Abstraktionshöhe institutioneller Phänomene der Begriff der Disziplin anzusetzen und was dementsprechend als Ober- oder Unterdisziplin zu taxieren wäre. Solange sie nur die institutionellen Definitionsmerkmale erfüllten, würden Disziplinen bis in die untersten Abstraktionsniveaus verteilt sein. Im Prinzip könnte jeder Theoriezusammenhang, der sich entsprechend organisiert, als disziplinäre Einheit verstanden werden. Der Disziplinenstatus würde sich allein kontingenten Organisierungsvorgängen verdanHeilbron, Das Regime der Disziplinen (2005 [2004]), S. 33. Heilbron, Das Regime der Disziplinen (2005 [2004]), S. 28 f., m.w.H. 104 Mittelstraß, Die Stunde der Interdisziplinarität? (1987), S. 152. 105 Krüger, Einheit der Welt – Vielheit der Wissenschaft (1987), S. 114. Vgl. auch Goethes Faust: „Habe nun, ach! / Philosophie, Juristerei und Medizin, / Und leider auch die Theologie!“ (Der Tragödie erster Teil. Nacht). 106 Die Partikularisierung der Wissenschaft wird beinahe einhellig als Produkt eines Ausdifferenzierungsprozesses gehandelt: beispielhaft nur Kocka, Einleitung (1987), S. 7. Eine kritische, differenzierte Besprechung der Differenzierungsthese liefert Heilbron, Das Regime der Disziplinen (2005 [2004]), m. w. H. 102 103
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ken. Von der theoretischen Praxis wäre er jedoch völlig gelöst. Eine Konzeption der Interdisziplinarität, die einen solchen Disziplinenbegriff prägt, scheint vertretbar. Es ließe sich durchaus mit dem bisher erarbeiteten Interdisziplinarität-Konzept vereinbaren und würde insbesondere der Tatsache Rechnung tragen, dass die verschiedenen disziplinären Logiken nicht irgendwelchen vorgefertigten, idealen Sprachsystemen entspringen, sondern ganz bestimmten produktiven, in der Welt der Wissenschaft organisierten Einheiten zuzuschreiben sind. Aufgrund des hohen Differenzierungsgrades, der sich durch den Blick in die Wissenschaftslandschaft abzeichnet, ist Interdisziplinarität dann über kurz oder lang auch in konzeptioneller Hinsicht als Intersubjektivität bzw. Interaktivität zu verstehen, als eine Interaktion organisatorisch-institutionell zumindest relativ verselbständigter Wissenschaftssubjekte. Demgegenüber soll hier, jedenfalls für den Kontext der Interdisziplinarität, jedoch ein anspruchsvollerer Disziplinenbegriff verwendet werden, der folgende Schwierigkeiten eines rein organisatorisch-institutionellen Begriffs der Disziplin im Auge hat. Zunächst fragt sich, ob sich die prinzipiell zur freien (organisatorischen) Disposition stehende Konstitution der Disziplinen mit dem Sprachgebrauch verträgt. Ist jeder noch so partikuläre wissenschaftliche Theoriezusammenhang, allein aufgrund der Tatsache, dass er sich in Forschung, Lehre und Organisation professionell institutionalisiert, eine Disziplin? Ist die Diskursethik eine „Disziplin“, oder die strukturierende Rechtslehre? Oder würden sie es, wenn sie die geforderten Kriterien besser erfüllten? Leicht bejahen lässt sich die Frage jedenfalls nicht. Sie führt zur weiteren Frage, wie sich Disziplinarität denn noch von Interdisziplinarität unterscheiden lässt. Die Konzipierung der Interdisziplinarität als Intersubjektivität oder Interaktivität neigt dazu, sämtliche wissenschaftliche Auseinandersetzungen als interdisziplinär zu begreifen. Im Grunde kann jede Streitfrage zum interdisziplinären Problem werden, sofern sich die Streitparteien nur hinreichend institutionell organisieren. V. a. aber zeigt sich das Ungenügen eines rein organisatorisch-institutionellen Disziplinenbegriffs in einer Konzeption der Interdisziplinarität in der Schwierigkeit zu erklären, weshalb es theoretisch, also aus wissenschaftlichen Gründen, sinnvoll sein kann, dass verschiedene Disziplinen miteinander kommunizieren. Die miteinander kommunizierenden Einheiten können sich zwar möglicherweise auf ihren ehemals organisatorischen Zusammenhang berufen, wenn Interdisziplinarität jedoch mehr sein soll als die Rückabwicklung eines sich einer komplexer werdenden Wissenschaftswelt verdankenden Ausdifferenzierungsprozesses oder ein gesellschaftliche Bedürfnisse befriedigendes Klassentreffen, müsste sich auch sagen lassen, welche sachlichen Gründe sie zusammenführen. Der organisatorisch-institutionelle Disziplinenbegriff mag sich zwar gut für die Unterscheidung eignen, für die Relationierung zwischen Disziplinen ist er jedoch kaum geeignet,107 ein Aspekt, der für das Problem der Interdisziplinarität jedoch 107 Es verwundert daher nicht, dass Johan Heilbron, mit dessen institutionell-organisatorischem Disziplinenbegriff hier operiert worden ist, mit dem Blickwechsel zum Problem der Interdisziplinarität „eine Art von postdisziplinärer Ära“ prognostiziert: Heilbron, Das Regime der Disziplinen (2005 [2004]), S. 44 f.
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von Bedeutung ist. Besonders gut dafür geeignet ist dagegen ein betont ideeller Disziplinenbegriff. Ein solcher würde die disziplinäre Zugehörigkeit ganz an die theoretische Praxis binden. Welcher Disziplin wissenschaftliche Konstrukte angehören würden, stünde den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nicht zur (organisatorischen) Disposition. Zu den gängigsten Definitionsmerkmalen jenseits organisatorischer Aspekte gehören etwa der Gegenstand und die Methode oder das Interesse.108 In der ideellen Betonung handelt es sich dabei durchweg um Ordnungsdimensionen, die die Erfahrungs- und Behandlungsmöglichkeiten der Welt nach- und die Möglichkeiten wissenschaftlichen Arbeitens vorzeichnen. Die solcherart z. B. durch spezifische Kreuzungen aus Gegenstand und Methode bzw. Gegenstand und Interesse definierten Disziplinen erinnern dann an Abschnitte einer wissenschaftlichen Landkarte, durch die sich das institutionell organisierte wissenschaftliche Tun navigieren ließe.109 Die Längen- und Breitengrade dieser Kartografie wären auch die Verbindungslinien, anhand derer unterschiedliche Disziplinen in einen sachlichen Zusammenhang zueinander gebracht werden könnten. Verschiedene Disziplinen ließen sich etwa durch einen gemeinsamen Gegenstand, eine gemeinsame Methode oder ein gemeinsames Interesse oder durch bestimmte Fernverbindungen, die mithilfe einer solchen Landkarte auszumachen wären, zueinander in Beziehung setzen. Obwohl die Vorstellung einer Kartografie der wissenschaftlichen Welt für den Kontext der Interdisziplinarität eine fast unwiderstehliche Anziehungskraft ausstrahlt, krankt dieser Ansatz offensichtlich an seiner idealisierenden Ontologie. Die Idee fixer Ordnungslinien wissenschaftlicher Disziplinierung bedeutet einen Rückfall in den Traum von der wohlgeordneten Einheit der Welt. Sie vergisst, dass Landkarten immer nur die Produkte menschlicher Praxis sind. Anstatt den organisatorisch-praktischen Ansatz gänzlich über Bord zu werfen, ist es hilfreicher, der Notwendigkeit praktischer Gebundenheit ins Auge zu blicken und zu versuchen, das Verhältnis zwischen Praxis und Theorie in ein angemessenes Verhältnis zu setzen. Dabei genügt es, wenn Platz dafür gelassen wird, zumindest in der Interaktion zwischen Disziplinen einen verbindenden theoretischen Hintergrund zu rekonstruieren. Um einen sachlichen (interdisziplinären) Zusammenhang zwischen einander herstellen zu können, werden Disziplinen nicht darum herumkommen, auf eine in irgendeiner Weise systematische Kartografie zurückzugreifen. Diese Systematik ist ihnen jedoch nicht ontologisch vorgegeben, sondern sie sind gehalten, sie selber herzustellen. Ein adäquater Disziplinenbegriff kann dazu beitragen, diese Arbeit mit geeigneten Strukturierungsansätzen zu begünstigen. Nach der hier vertretenen Auffassung definiert sich eine „Disziplin“ durch einen bestimmten Geltungsanspruch oder kurz Anspruch. Ins Kontrafaktische weisend – ein Anspruch will eingelöst werden,110 wozu es aber mehr bedarf, als ihn Vgl. Krüger, Einheit der Welt – Vielheit der Wissenschaft (1987), S. 111 – 115. Kritisch zu diesem Bild in der Debatte um Interdisziplinarität Klein, Crossing Boundaries (1996), S. 3 f. 110 Vgl. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 406. 108 109
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nur zu erheben –, erteilt der Anspruch einerseits einem Ansatz eine Absage, nach dem sich Disziplinen durch nichts anderes als durch ihre differente (propositionale) Logik voneinander unterscheiden. Andererseits löst sich das Definitionsmerkmal auch nicht vollständig von den tatsächlichen Praxen ab, sondern bleibt mit ihnen insofern in Kontakt, als der Anspruch in die konkrete Sprachpraxis der wissenschaftlich Agierenden eingebunden ist. Ein geäußertes wissenschaftliches Konstrukt und dessen Logik ist jedoch nicht dasselbe wie ein Anspruch, sondern lediglich mehr oder weniger gut dazu geeignet, einen bestimmten Anspruch zu erfüllen. Der „Anspruch“ ist die illokutionäre Absicht oder Erwartung der wissenschaftlich Agierenden, dass das, was sie lokutionär sagen, in der bestimmten Hinsicht, wie sie es sagen, vernünftig ist, und soll durch die wissenschaftlichen Konstrukte eingelöst, erfüllt oder gedeckt werden.111 Darüber, welches Konstrukt einen bestimmten Anspruch erfüllt, kann jedoch gestritten werden, und ob das gelingt, hängt von der Überzeugungskraft des Konstrukts ab. So kann es durchaus vorkommen, dass Konstrukte mit ganz verschiedenen Logiken denselben oder einen ähnlichen Anspruch erheben. Diese Situation charakterisiert die „disziplinäre Auseinandersetzung“. Eine „interdisziplinäre Situation“ liegt dagegen dann vor, wenn Konstrukte mit unterschiedlichen Ansprüchen in eine Beziehung zueinander gebracht werden. Um den Begriff des disziplinären Anspruchs greifbarer zu machen, bedarf es einer weiteren Differenzierung. Weiter aufschlüsseln lässt er sich in einen thematischen und einen methodischen Aspekt. Mithilfe der Dimensionen Thematik und Methodik lassen sich zweidimensionale disziplinäre Felder definieren, die eine einerseits hinreichend operable Handhabung disziplinärer Ansprüche, andererseits aber auch ein übersichtliches Beziehungsnetz zwischen verschiedenen Disziplinen darzustellen erlauben. Ein „disziplinäres Feld“ 112 ist ein bestimmter, nach Thema und Methode definierter Anspruchsbereich. Die Dimension der „Thematik“ oder des „Themas“ stellt dabei den Objektbezug her. Das soll nicht die Hintertür zu einer Realontologie öffnen, sondern darauf verweisen, was in den jeweils vertretenen Konstrukten – sprachlich – zum Gegenstand der Arbeit (griech. théma: Gegebenes, Aufgestelltes) gemacht wird. Das Thema oder der Themenbereich soll das sein, worüber gesprochen wird oder gesprochen werden soll. Gegenüber dem Begriff des Gegenstands hat der des Themas den Vorzug, dass er die sprachliche Rückbindung des zum Objekt Gemachten jederzeit ins Bewusstsein ruft. Die Dimension „Methodik“ oder „Methode“ markiert dazu die Art und Weise, wie fernerhin über das Thema gesprochen wird bzw. gesprochen werden soll. Der schil111 Vgl. Habermas’ in Anschluss an John L. Austin entwickelte Deutung des illokutionären Gehalts von Äußerungen: Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1 (41987), S. 375 – 377, an die dann das Konzept des Geltungsanspruchs geknüpft wird: ebd., S. 405 – 427, insb. ab S. 410. Vgl. auch II. 2. b), (2). Die hier entwickelte Anspruchsterminologie lehnt sich an Habermas’ Geltungsanspruchsbegriff an, unternimmt aber im Rahmen der Interdisziplinarität-Diskussion eine weitere Differenzierung. 112 Zur Verwendung des Feldbegriffs in der Interdisziplinarität-Problematik Klein, Crossing Boundaries (1996), S. 5.
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lernde Methodenbegriff soll dabei von philosophischen und wissenschaftstheoretischen Spezialkonzepten möglichst unbefrachtet bleiben. Als Definitionsansatz eines disziplinären Feldes ist ihm zunächst nur daran gelegen, die in einem Konstrukt intendierte Verfahrensweise anzugeben. Thema und Methode bzw. Thematik und Methodik lassen sich nicht strikt voneinander trennen. Das, was gesagt wird, hängt immer davon ab, wie es gesagt wird, und die Art und Weise, wie etwas gesagt wird, äußert sich zugleich in dem, was gesagt wird. Es ist daher auch nicht unüblich, mit dem Thema oder auch mit der Methode nicht auf den einen oder den anderen Aspekt eines wissenschaftlichen Konstrukts bzw. seines disziplinären Anspruchs zu verweisen, sondern auf das Ganze („Was ist das Thema Ihrer Arbeit?“; „Nach welcher Methode verfährt Ihre Disziplin?“). Weil ein Thema ohne eine bestimmte Sprechweise gar nicht artikuliert und eine Methode ohne ein Thema nicht sinnvoll praktiziert werden kann, ist die Frage berechtigt, wie nützlich die Differenzierung des Disziplinenbegriffs nach Thematik und Methodik ist. Solange es aber möglich ist, einen thematischen Aspekt von einem methodischen zu unterscheiden, d. h. die Differenzierung als solche gelingt, ist damit ein Instrumentarium zur Hand, das einen präziseren Umgang mit disziplinären und interdisziplinären Problemen erlaubt als eine eindimensionale Operationalisierung. Sollten der thematische und der methodische Anspruch wieder unter einen Oberbegriff zusammengeführt werden, der einen disziplinären Anspruch als ganzen beschreibt, so eignen sich die Begriffe des „(Forschungs-)Problems“ oder der „(Forschungs-)Frage“ am besten („Wodurch zeichnet sich der Anspruch Ihres (Forschungs-)Problems in thematischer, wodurch in methodischer Hinsicht aus?“). (2) Dass dies der Fall ist und sich der Ansatz disziplinärer Anspruchsfelder auch für das Problem der Interdisziplinarität, sich also für die Inbeziehungsetzung und die Arbeit zwischen verschiedenen Disziplinen nützlich verwenden lässt, muss allerdings noch gezeigt werden. Die Idee des Ansatzes des Anspruchsfeldes ist es, mittels der Dimensionen Thema und Methode verschiedene wissenschaftliche Konzeptionen und Theorien in einem übersichtlichen Raster zu verorten, der auch die gegenseitigen Beziehungen markiert. Wichtig dabei zu sehen ist, dass es sich bei diesem Raster nicht wie bei den einheitsphilosophischen Landkarten-Ontologien um Nachzeichnungen einer sich findigen Geografen eröffnenden Wissenschaftswelt handelt, in die die Standorte von Konzeptionen und Theorien nachträglich einzutragen wären. Die Vermessung eines gemeinsamen Kommunikationsraums ist den wissenschaftlichen Akteuren vielmehr selber zuzumuten. Die Frage nach dem theoretischen Ort von Konzeptionen und Theorien soll in der Interaktion praktisch beantwortet werden. Die Lage eines disziplinären Anspruchs in der Beziehung zu anderen erhobenen Ansprüchen ist kommunikativ zu bestimmen. Die disziplinären Felder, die dabei entstehen, kennzeichnen keine vorgefertigte Wissenswelt, sondern sind systematisierte Rekonstruktionen tatsächlich erhobener Ansprüche. Die Dimensionen Thematik und Methodik bilden dabei lediglich Ansätze eines heuristischen Instrumentariums.
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Für die praktische Relationierung von Disziplinen bzw. die Relationierung verschiedener wissenschaftlicher Konstrukte in disziplinärer Hinsicht wird nun vorgeschlagen, die Dimensionen Thematik und Methodik horizontal und vertikal weiter zu differenzieren.113 Während die „vertikale Differenzierung“ verschiedene Abstraktions- bzw. Konkretionsniveaus in den Blick nimmt, zielt die „horizontale“ auf verschiedene Erscheinungsformen, Arten, Typen o. Ä. desselben Abstraktionsbzw. Konkretionsniveaus. Ausgehend von einem Abstraktionsniveau, sei es des Themas oder der Methode, können danach prinzipiell drei Richtungen gegangen werden: (vertikal) ins Abstraktere und ins Konkretere oder (horizontal), auf demselben Abstraktionsniveau, zu einem Vorkommnis oder möglichen Vorkommnis der gleichen Art. Die Bewegung ins Abstraktere ist eine „Abstrahierung“, die ins Konkretere eine „Konkretisierung“ und diejenige auf demselben Abstraktionsniveau könnte als „Alternierung“ bezeichnet werden. Wird nun noch berücksichtigt, dass auf jedem Abstraktionsniveau mehrere Vorkommnisse derselben Art möglich sind, so bedeutet Abstrahierung stets, nicht nur das Abstrahendum, sondern auch alle anderen (möglichen) Vorkommnisse des Ausgangsniveaus auf einem abstrakteren Niveau zusammenzufassen, m. a. W. bedeutet eine Abstrahierung auch eine „Generalisierung“. Andersherum verlangt eine Konkretisierung stets eine Entscheidung für ein bestimmtes (mögliches) Vorkommnis, d. h. eine „Spezifizierung“. Eine Alternierung wird außerdem auch eine „Diversifizierung“ implizieren müssen, weil die Bewegung zum Anderen des Gleichen nicht ohne eine Vorstellung dieses Gleichen auskommt, das durch die Alternierung somit diversifiziert wird. Bezogen auf die Dimension der Thematik bedeuten diese Differenzierungsmöglichkeiten nun Folgendes. Ein Thema horizontal und vertikal zu differenzieren, heißt, (vertikal) über verschiedene Abstraktionsniveaus hinweg (horizontal) seine möglichen Erscheinungsformen zu unterscheiden. Durch jedes Absenken des Abstraktionsniveaus um eine weitere Stufe eröffnet sich die Möglichkeit, das Thema durch die Angabe jeder weiteren Erscheinungsform dieses Niveaus zu diversifizieren und zu spezifizieren. Ferner bietet auch jede Spezifizierung einer weiteren Erscheinungsform auf einem bestimmten Abstraktionsniveau die Gelegenheit einer weiteren Konkretisierung usw. So kann im Zuge der vertikalen und horizontalen Differenzierung ein Raster rekonstruiert werden, der jedenfalls sämtliche herbei113 Dieser weitergehende Differenzierungsansatz wird in ähnlicher Weise auch in anderen komplexen Problembereichen verwendet, z. B. in der (Bundes-)Staatsrechtstheorie, verbreitet v. a. in der Rede von der horizontalen Gewaltenteilung zwischen Organen derselben Stufe und der vertikalen Gewaltenteilung zwischen verschiedenen Staatsstufen im Ganzen. Ähnliche Ansätze finden sich auch in der betriebswirtschaftlichen Management-Theorie, etwa des St. Galler Management-Konzepts: Bleicher, Das Konzept Integriertes Management (72004), S. 78 – 93, m. w. H. Geprägt wurde der Begriff der Differenzierung v. a. in der Gesellschaftstheorie. Dazu Schimank, Theorien gesellschaftlicher Differenzierung (1996), m. w. H; vgl. insb. ebd., S. 150 f. Anders als in den gängigen Differenzierungskonzepten wird die vertikale Differenzierung bzw. Integration hier allerdings nicht als Hierarchieverhältnis verstanden. Dazu sogleich.
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gezogenen Möglichkeiten, einen zum Thema gemachten Gegenstand „anzusprechen“ – die Definition möglicher disziplinärer Ansprüche kann durchaus i. d. S. verstanden werden –, in einen systematischen Zusammenhang bringt. Es ist hier nicht der Ort, die Themen der Welt nach diesem Muster horizontaler und vertikaler Differenzierung auszubreiten – ein solches Vorhaben114 würde ohnehin den relativen, kontextgebundenen Sinn des interdisziplinären Vorgehens missverstehen. Der vorgeschlagene Systematisierungsansatz soll lediglich ein Instrument an die Hand geben, ein Thema praktisch, soll heißen: im interdisziplinären Dialog, zu strukturieren. Im Beispiel einer interdisziplinären Arbeit im Kontext des Rechts könnte damit etwa so vorgegangen werden, dass unter den möglichen Formen des menschlichen Zusammenlebens, sozusagen das Oberthema des Rechts, z. B. eine autoritäre und eine demokratische unterschieden werden, und eine weitere Differenzierung könnte darin bestehen, das demokratische Recht in die Aspekte der Legislation und der Judikation zu unterteilen. So würde das menschliche Zusammenleben thematisch über zwei vertikale Abstraktionsstufen (die kulturelle und die situationelle) horizontal differenziert. Die hier beispielhaft präsentierte Differenzierung könnte freilich auch anders vorgenommen werden. Sie soll auch in Erinnerung rufen, dass differenzierende Strukturierung keineswegs eine detektivische Suche vorgefertigter Gegebenheiten, sondern eine in hohem Maße konstruktive, produktive Tätigkeit darstellt, die in wissenschaftlichen Konstrukten wohl zu begründen ist. Das gilt gleichermaßen für die horizontale wie vertikale Differenzierung in methodischer Hinsicht. Die Methodik horizontal und vertikal zu differenzieren hat nun nicht zum Ziel, die verschiedenen Erscheinungsmöglichkeiten, in denen das Thema angesprochen werden kann, sondern die verschiedenen Möglichkeiten des Ansprechens dieser Erscheinungsformen selbst zu unterscheiden. Weil es auch in diesem Punkt nicht das Ziel sein kann, eine allgemeine, umfassende Wissenschaftsmethodologie zu präsentieren, sollen dazu nur methodische Alternativen der Ansprüche aufgezeigt werden, die im näheren Umkreis dieser Arbeit von besonderer Relevanz sind. Besonders bedeutsam sind darunter die methodische Anspruchsart der Richtigkeit und der Wahrheit. Bei Habermas handelt es sich bei diesen Anspruchsarten neben dem Anspruch der Wahrhaftigkeit um die maßgeblichen Alternativen des (Geltungs-)Anspruchsbegriffs.115 Der methodische Ansatz der Richtigkeit wird dabei als die Frage nach der Gerechtigkeit, der Rechtsidee oder Legitimität verstanden und kann auch „legitimatorisch“ genannt werden. Der der Wahrheit wird als die Frage nach den tatsächlichen Verhältnissen verstanden und kann unter der Prämisse, dass die Frage nach der Wahrheit weniger danach, was „ist“, sondern besser danach, wie es funktioniert, beurteilt werden sollte,116 auch Vgl. – dem prinzipiellen Ansatz nach – Carnap, Der logische Aufbau der Welt (31966). Dazu bereits II. 2. b), (2). 116 Vgl. Müller / Christensen, Juristische Methodik II (22007), S. 182, Rn. 231; Christensen, Die Paradoxie richterlicher Gesetzesbindung (2005), S. 7. 114 115
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„funktiologisch“117 und in Kontexten sozialer Interaktion „soziologisch“ genannt werden. Beispielsweise das menschliche Zusammenleben oder einen thematisch differenzierten Aspekt davon soziologisch zu betrachten, heißt demnach, nach seinen Funktionsbedingungen zu fragen, ein Thema legitimatorisch anzugehen, dagegen, sich für dessen Legitimationsbedingungen zu interessieren. Das Verhältnis zwischen der Frage nach der Wahrheit und der nach der Richtigkeit – nun: das Verhältnis von Funktionieren und Legitimieren – ist in verschiedenen Feldern der Wissenschaft als die problematische Beziehung zwischen „Sein und Sollen“ bekannt.118 In der anspruchsdifferenzierenden Heuristik, die hier entwickelt wird, stellt sich das Verhältnis jedoch zunächst als relativ unproblematisch dar. Funktionieren und Legitimieren erscheinen darin als zwei praktisch-methodische Ansätze, ein Thema zu verarbeiten, einerseits mit dem Anspruch auf Funktionalität, andererseits mit dem Anspruch auf Legitimität. Sie entsprechen in etwa horizontal differenzierten Themenaspekten, die spezifische Erscheinungsformen desselben Oberthemas repräsentieren. Analog wäre es denkbar, Wahrheit und Gerechtigkeit auf einem höchsten (zumindest höheren) Abstraktionsniveau unter dem Begriff der Vernunft oder der Rationalität zusammenzufassen und als zwei Aspekte dieses umfassenderen methodischen Anspruchs zu verstehen, der sich durch sie differenzierter erheben lässt. Funktiologische und legitimatorische Konstrukte wären dann zwei Seiten derselben Medaille, die nicht miteinander in Widerspruch stehen, sondern miteinander vereinbar sind und zwecks Einlösung eines umfassenderen Rationalitätsanspruchs miteinander vereinbart werden sollten. Dazu kommt – das sei aufgrund des beschränkten Anspruchs dieser Untersuchung lediglich in Parenthese beigefügt –, dass der Dualismus zwischen „Sein und Sollen“ auch dann fragwürdig wird, wenn sich der wissenschaftliche Rationalitätsanspruch im Anspruch an Wahrheit und Gerechtigkeit noch nicht erschöpft hätte, die Medaille also mehr als nur zwei Seiten hätte. Berechtigt wäre es in diesem Zusammenhang, die Frage nach dem Glück119, der persönlichen, vielleicht auch sozialen Erfüllung zu stellen. Der teleologische Ansatz, der in der Moralphilosophie, d. h. in der abstrakten Debatte um das Problem der Gerechtigkeit, als kategorial verfehlt ausgeschieden werden muss,120 bringt gleichwohl eine wichtige (Rationalitäts-)Kategorie zur Sprache, die das Potenzial mitbringt, den Dualismus von Wahrheit und Gerechtigkeit aufzubrechen. Der Teleologie wird hier zwar vor117 Nicht zu verwechseln mit „funktionalistisch“ i. S. soziologischer Systemtheorien, die sich von vornherein einem anormativen Ansatz verschreiben wollen. Hier wird die normative Imprägnierung des Funktionierens betont, was besonders in sozialen Zusammenhängen Konsequenzen nach sich zieht. 118 Prekarisiert wurde das Verhältnis v. a. im Neukantianismus. Zum Sein-Sollens-Problem: Mastronardi, Juristisches Denken (22003), Rn. 310 – 346, m. w. H. auch zur Theoriehistorie; Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 328 – 332; Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 106 – 110, Rn. 84 – 86, ebenso m. w. H. 119 Dazu Thomä, Vom Glück in der Moderne (2003). 120 II. 1.
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geworfen, dass sie auf die Gerechtigkeitsfrage eine falsche Antwort gibt, nicht aber, dass die Anliegen und Kategorien, mit denen sie arbeitet, schlechthin unberechtigt wären. Die Frage nach dem Glück verlangt durchaus nach Antworten, die funktiologische und legitimatorische Diskussionen allein nicht zu geben imstande sind. So könnte sich, zumindest für Themen, die den Menschen betreffen, (mindestens) eine horizontale methodische Trias aus funktiologischen bzw. soziologischen, teleologischen und legitimatorischen Ansprüchen ergeben.121 Wie die vertikale Differenzierung der Thematik operiert sodann auch die vertikale Differenzierung der Methodik mit Abstraktions- bzw. Konkretionsstufen. Diese weitere Differenzierung trägt dem Umstand Rechnung, dass sich ein methodischer Anspruch, gleich, ob es sich um einen soziologischen oder um einen legitimatorischen handelt, noch unterschiedlich abstrakt bzw. unterschiedlich konkret erheben lässt, was sich in den Abstraktionsdifferenzen des wissenschaftlichen Sprechens äußert. Im Gegensatz zur Thematik wird in der vertikalen Differenzierung also nicht der zum Thema gemachte Gegenstand abstrakter und konkreter, sondern die Art und Weise, wie über ihn gesprochen wird, selbst ist es, die abstrakter und konkreter wird. In horizontaler Hinsicht kann die Art der Methodik dabei weiterhin beibehalten werden. So können etwa verschieden abstrakte und konkrete soziologische oder legitimatorische Sprechweisen geprägt werden. Gerade im Kontext des Rechts ist eine solche methodische Abstrahierung oder Konkretisierung nicht unüblich. Das rechtstheoretische Sprechen über ein Thema kann als eine Abstraktion des rechtsdogmatischen Sprechens über dasselbe Thema betrachtet werden, und die rechtsphilosophische Behandlung des Themas kann wiederum als eine Abstraktion des rechtstheoretischen verstanden werden.122 Unabhängig von der Thematik findet dort eine Erhöhung (oder umgekehrt eine Absenkung) des sprachlich-methodischen Reflexions- und damit Anspruchsniveaus statt. Eine bildliche Analogie kann möglicherweise helfen, die vier verschiedenen Ansätze thematischer und methodischer Differenzierung und die Zusammenhänge dazwischen plastischer zu machen. Angenommen, im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses stünde ein Apfel und die maßgebliche Methode seiner wissenschaftlichen Erfassung könnte auf eine Beobachtung reduziert werden, so ergeben sich nach dem Entwickelten folgende Möglichkeiten, den Apfel zu beobachten bzw. „anzusprechen“: In der Ausgangslage kann der Apfel als Ganzes durch eine bestimmte Brille betrachtet werden. Eine vertikale thematische Differenzierung würde dann bedeuten, den Apfel in Stücke zu schneiden und verschiedene Größenverhältnisse, z. B. den Apfel als Ganzes, die Apfelschnitze und womöglich noch das Kerngehäuse, zu unterscheiden. Eine horizontale thematische Differenzierung 121 Sie könnten möglicherweise in eine Beziehung zum konstativen, expressiven und regulativen Sprechhandeln bei Habermas gebracht werden. Eine These, die andernorts noch auszuführen wäre. 122 Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 431; vgl. auch Mastronardi, Juristische Methode und Rechtstheorie (2009); ders. Angewandte Rechtstheorie (2009).
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vorzunehmen, hieße dagegen, die verschiedenen einzelnen Apfelschnitze oder die einzelnen Kerne des Apfels voneinander abzugrenzen, also die Einzelteile pro Abstraktionsniveau. Im Gegensatz zur thematischen würde eine methodische vertikale Differenzierung durch die unterschiedliche Entfernung definiert, aus der der Apfel oder ein Schnitz oder ein Kern – das spielt keine Rolle – beobachtet wird. Dagegen würde eine horizontale methodische Differenzierung, die Alternierung der Art und Weise der wissenschaftlichen Bearbeitung, in diesem Fall nur die Beobachtung, bedeuten, die Brille zu wechseln. So ergibt sich je nach der Anzahl horizontaler und vertikaler Differenzierung eine Vielzahl von Möglichkeiten, einen disziplinären Anspruch zu definieren, wobei, was auch am dargestellten Beispiel nachvollzogen werden kann, jede Variierung eines bestimmten Anspruchsaspekts vorgenommen werden kann, ohne einen anderen verändern zu müssen – auch der zerteilte Apfel kann noch als ganzer, aus verschiedenen Entfernungen und durch verschiedene Brillen betrachtet werden. Zur praktischen Handhabung der sich durch die zweimal doppelte Differenzierung ergebenden Vierdimensionalität, z. B. zu Darstellungszwecken, kann das Instrument nun wieder auf zwei Dimension reduziert werden. Dadurch kann die Darstellungsform eines Koordinatensystems benutzt werden, dessen Punkte als disziplinäre Felder zu werten wären.123 Als Beispiel wird hier ein disziplinärer Raster entworfen, der nur noch die vertikalen Dimensionen der Thematik und der Methodik erfasst. Das bietet sich besonders dann an, wenn in der interdisziplinären Auseinandersetzung bereits eine einigermaßen hohe Übereinstimmung darüber besteht, welches spezifische Thema (z. B. das demokratische Recht) und welcher spezifische methodische Anspruch (z. B. die Legitimation) zur Debatte steht. In einem solchen auf vertikale Differenzierungen reduzierten Raster könnte nun pro Dimension mit drei Stufen operiert werden. Der hier angebrachte Vorschlag lautet, die Achse der Thematik in einen Makrobereich, einen Mikrobereich und dazwischen in einen Mesobereich zu unterteilen, sodass das zuvor ausgewählte Thema „mikro-“, „meso-“ und „makroskopisch“ behandelt werden kann. Je nachdem, von welchem Abstraktionsniveau aus das ausgewählte Thema fixiert wird, muss dann auf den verschiedenen Achsenabschnitten noch bestimmt werden, welcher spezifische (horizontale) Aspekt der jeweiligen Abstraktionsebene in Betracht fallen soll. Die Methodik-Achse könnte in die Abschnitte Dogmatik, Theorie und Philosophie unterteilt werden. So könnte ein thematischer Aspekt mittels der ausgewählten Methodenart, z. B. die Legitimation, über drei verschiedene Abstraktionsstufen hinweg reflektiert werden. „Dogmatisch“ soll dabei bedeuten, ein Thema recht konkret, nach den Regeln der Kunst (lege artis) des jeweiligen Methodenansatzes, zu bearbeiten. „Theoretisch“ ist dann in einem spezifischen Sinn wissenschaftstheoretischer, meta-dogmatischer Reflexion zu lesen, in der das Thema in einer die wissenschaftliche Dogmatik (auf mittlerem Niveau) übersteigenden 123 Die Zuflucht zu einem pragmatischen Kartesianismus hat dabei keinen direkten methodischen Hintergrund. Sie ergibt sich aus der Not, Kompliziertes einfach darzustellen.
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Weise behandelt werden soll. Ein Thema „philosophisch“ zu reflektieren soll schließlich die abstrakteste Weise methodischer Reflexion kennzeichnen, die die theoretische Reflexionsstufe noch um eine weitere transzendiert.
Abbildung 11: Beispiel eines thematisch und methodisch vertikal differenzierenden Disziplinenrasters
In diesem Beispiel ergeben sich neun identifizierbare Anspruchs-, d. h. Disziplinenfelder, je nachdem, welcher thematische Anspruch mit welchem methodischen in eine Beziehung gesetzt wird. Das konkreteste Feld wäre dasjenige, das das Thema mikroskopisch und dogmatisch angeht („Südwest“), das abstrakteste dasjenige, das es makroskopisch und philosophisch betrachtet („Nordost“). Eine mittlere Möglichkeit der Erfassung würde etwa die Disziplin erlauben, die sich durch die Erhebung eines mesoskopischen und theoretischen Anspruchs auszeichnet („Mitte“). Wissenschaftliche Akteure, die sich in interdisziplinärer Absicht zusammenfinden und prinzipiell denselben thematischen und prinzipiell denselben methodischen Anspruch erheben, könnten nun ihren Konzepten, Konzeptionen und Theorien anhand eines solchen oder ähnlichen Rasters im Dialog einen disziplinären Ort geben, der aufzeigt, wie sie sich gegenseitig situieren. Dabei wird vielleicht herauskommen, dass vermeintliche gemeinsame Ansprüche, differenzierter betrachtet, gar nicht direkt beieinander liegen, und es könnten Ansätze entwickelt werden, wie solche „Theorielücken“ geschlossen werden können. Vielleicht ergibt sich aber auch, dass manche Konstrukte, die aufgrund ihrer unterschiedlichen Logik gar nicht mit einer Anspruchsidentität gerechnet hätten, tatsächlich um die
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Besetzung eines bestimmten disziplinären Feldes streiten. Es kann auch sein, dass sich eine einzige Theorie über mehrere Anspruchsfelder hinweg erstreckt. Erkennt sie das, so wird sie gehalten sein, die verschiedenen Ansprüche, die sie gleichzeitig erhebt, jeweils angemessen zu erfüllen, und zugleich die Zusammenhänge, die zwischen ihnen bestehen, überzeugend darzustellen. An dieser Stelle seien noch zwei Funktionsbedingungen dieser Art der Inbeziehungsetzung disziplinärer Ansprüche hervorgehoben. Herauszustellen ist, dass eine Abstrahierung bzw. Konkretisierung nicht ohne Weiteres mit einer wertimplikativen Hierarchisierung zu verwechseln ist. Weder ein Thema noch eine Methode wird dadurch besser, wichtiger oder berechtigter, dass sie sich auf einem höheren Abstraktionsniveau bewegt. Sie ist lediglich abstrakter. Es ist ein verbreiteter Fehler, besonders theoretischer und philosophischer Konstrukte, v. a. ihre methodisch abstraktere Herangehensweise als einen Freipass zur Abmahnung konkreterer Wissenschaftspraxen zu missverstehen, ohne sich auf eine gleichberechtigte interdisziplinäre Auseinandersetzung mit ihnen einzulassen, in der auch ihre eigene Konkretionstauglichkeit auf die Probe gestellt würde. Um diesen verfehlten Eindruck von vornherein nicht aufkommen zu lassen, wird hier vorgeschlagen, die besonders für Hierarchisierungen anfällige vertikal differenzierte Methodik zu Darstellungszwecken in die Horizontale zu legen. Umgekehrt können die vorstehenden Überlegungen auch aufzeigen, dass wissenschaftsdogmatische Theorien sich nicht gegen theoretische und philosophische Ansätze verschließen dürfen, solange diese nur als unterschiedliche Ansprüche an dasselbe Problem gesehen werden können. Sollten ihre konkreten Logiken tatsächlich die Überzeugungskraft ausstrahlen können, die die Regeln ihrer Kunst versprechen, dann müsste es auch möglich sein, die konkrete Wissenschaftsdogmatik in einen abstrakteren oder auch in einen thematisch und methodisch (horizontal) variierten Kontext zu stellen. Die zweite Anmerkung betrifft schließlich das Problem perspektivischer Simultaneität. Die disziplinären Felder, die im Wege der thematischen und methodischen Differenzierung entstehen, zwingen zu einer punktuellen konzentrativen Isolierung. D. h., dass es zu einem Zeitpunkt nur möglich ist, einen disziplinären Anspruch, also eine Kreuzung vertikal wie horizontal differenzierter Anspruchsmöglichkeiten zu erheben. Die disziplinären Felder definieren thematisch-methodische Perspektiven, die zwar in beliebiger Weise gewechselt werden können und auch eine Tendenz zur Integration in sich tragen mögen. Zur gleichen Zeit ist es jedoch nicht möglich, mehr als eine thematisch und methodisch differenzierte Perspektive einzunehmen.124 Es ist gerade ein Zweck, aber auch die Krux der (thematischen wie methodischen) Unterscheidung, von der Komplexität des Gesamten zu entlas124 Vgl. Habermas’ Auffassung über die Hervorhebbarkeit einzelner Geltungsansprüche: Habermas, Notizen zur Entwicklung der Interaktionskompetenz (31989), S. 205; vgl. auch ders., Theorie des kommunikativen Handelns 1 (31987), S. 414; deutlicher noch in ders., Zur Kritik der Bedeutungstheorie (1988), S. 127: „Allerdings kann in expliziten Sprechhandlungen immer nur einer von drei Geltungsansprüchen thematisch hervorgehoben werden.“
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ten, und die Konzentration auf Einzelnes zu legen. Differenzierung blendet aus, um den Sinn des Eingeblendeten besser fassen zu können. Zweifellos – darauf zielt das Problem der Interdisziplinarität ja gerade ab – wird das Ganze erst dann angemessen konstruiert werden können, wenn das Differenzierte integriert wird. Die perspektivische Differenzierung als solche kann im Wege der Integration aber nicht rückgängig gemacht werden, jedenfalls nicht, ohne den Einzelperspektiven Unrecht anzutun. Wenn sich ein wissenschaftliches Problem also in der vorgeschlagenen Weise differenzieren lässt, müssen die verschiedenen perspektivischen Möglichkeiten jeweils ernstgenommen werden und können nicht einfach durcheinander ersetzt oder unvermittelt entdifferenziert werden. (3) Einem Prozessmodell der Interdisziplinarität, das all diese Funktionsbedingungen nun in sich aufnimmt, ist vorauszuschicken, dass es keineswegs ohne normative Implikationen auskommen wird. Wie bei allen soziologischen Konstruktionen ist es auch hier unvermeidlich, das (interdisziplinäre) Funktionieren unter legitimationsbedürftige Prämissen zu stellen. Wenn Peter Weingart „in großen Zügen, wenn auch nicht im Detail Bourdieu folgend,“ „Kategorien ökonomischen Handelns auch kritisch auf die Wissenschaftsentwicklung angewandt“ sehen will125 und mit diesen Mitteln eine Soziologie der „Interdisziplinarität als List der Institution“ entwirft126, legt er diese Unvermeidlichkeit redlicherweise offen, lässt jedoch auch offen, aus welchen Gründen seine „ökonomischen Kategorien“ für soziologische Funktionszusammenhänge und im Besonderen für das Problem der Interdisziplinarität angebracht sind. Insofern er dabei allein auf die suggestive Kraft seines ökonomischen Modells setzt, fragt sich allerdings, wie er am Schluss seiner Ausführungen dazu kommt, „die den Wissenschaften inhärenten, aber impliziten Wertsetzungen“ – ein ziemlich unökonomisches Moment – als „die bedeutsamste Funktion des interdisziplinären Diskurses herauszustellen, und Interdisziplinarität „paradoxerweise“ für den „offenbar allein erfolgreichen Weg“ hält, „um der“ zuvor ökonomisch konstruierten „opportunistischen Rationalität der Spezialisierung“ zu begegnen.127 Anstatt sein ökonomisches Erklärungsmodell sich selbst regulierender wissenschaftlicher „credibility cycles“128 zu stützen, belegt Weingart gerade deren Dysfunktionalität, letztlich mit einem nicht-ökonomischen, aber viel zu konturlosen Argument. Eine ökonomische Wettbewerbslogik, die wissenschaftliche Überzeugungskraft in entscheidender Weise von Anfangsausstattungen an „wissenschaftlichem Kapital“ abhängig macht und wissenschaftliche Glaubwürdigkeit durch institutionelle Ressourcen operationalisiert,129 reicht nicht dafür hin, das Funktionieren von Interdisziplinarität zu erklären. Insofern diese Logik offenbar einer disziplinären Spe125 126 127 128 129
Weingart, Interdisziplinarität als List der Institution (1987), S. 160. Weingart, Interdisziplinarität als List der Institution (1987). Weingart, Interdisziplinarität als List der Institution (1987), S. 165. Weingart, Interdisziplinarität als List der Institution (1987), S. 161 – 163. Weingart, Interdisziplinarität als List der Institution (1987), S. 161 f.
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zialisierung Vorschub leistet,130 fällt es ihr bereits schwer, selbständig zu erläutern, weshalb disziplinäre Konzeptionen überhaupt mit Konzeptionen anderer Disziplinen kommunizieren sollten. Mit dem Konzept der praktischen Integration hantiert der hier vertretene Interdisziplinarität-Ansatz dagegen mit einem Funktionsbegriff, der sich am dialogischen Zu-Recht-Kommen der prinzipiell gleichberechtigten Disziplinen, v. a. der sich in ihnen vertretenen Konstrukte und nicht zuletzt der diese konstruierenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler orientiert. Disziplinäres und interdisziplinäres wissenschaftliches Arbeiten soll funktionieren, wenn die diversifizierten, sich gegenseitig irritierenden Logiken die realistischen Chancen auf eine akzeptable Verständigung respektvoll wahrnehmen. Dieses konzeptuell entworfene Leitbild reziproker Integration kann nun konkreter in die soeben besprochenen Funktionsbedingungen der Disziplinarität bzw. Interdisziplinarität eingeflochten werden. Als Ergebnis präsentiert sich dann ein offener Kreisprozess, der durch seine Bewegung die Idee funktionierender interdisziplinärer Wissenschaft verwirklichen soll. Die Ausgangslage des interdisziplinären Prozesses kann bei einer Situation disziplinärer Auseinandersetzung, bei einem „disziplinären Diskurs“, genommen werden. In dieser Situation stehen sich Konzepte, Konzeptionen und Theorien gegenüber, die, angeregt durch gegenseitige disziplinäre Irritationen, um die richtige Erfüllung des disziplinären Anspruchs ringen. Wohlverstanden handelt es sich dabei nicht einfach nur um einen Kampf der Logiken um die Besetzung eines disziplinären Feldes, sondern um eine unvermeidliche argumentative Auseinandersetzung in gegenseitigem Respekt und in der letztlich solidarischen Absicht, auf diese Weise der Erfüllung des erhobenen Anspruchs näher zu kommen. Dieser disziplinäre Diskurs wird nun durch „transdisziplinäre Irritationen“ zusätzlich kompliziert. Solche transdisziplinären Irritationen können unterschiedliche Gründe haben. Sie können z. B. von Vertreterinnen und Vertretern anderer Disziplinen hervorgebracht werden, die sich ihrerseits durch Konstrukte des betrachteten Feldes irritiert sehen. Es kann aber auch sein, dass Vertreterinnen und Vertreter eines disziplinären Feldes, vielleicht weil ihnen der im Feld produzierte „Gesprächsstoff“ für ihren spezifischen Anspruch als ungenügend erscheint, die Irritation durch Theoreme anderer Disziplinen aus eigenen Stücken suchen. Eine solche transdisziplinäre Irritation betrifft zunächst das noch isoliert betrachtete disziplinäre Feld. Zugleich bringt sie jedoch interdisziplinäre Bewegungen in Gang, die ihr entgegenwirken. Aufgrund der transdisziplinären Herkunft der Irritation kann ihr nicht länger disziplinär begegnet werden. Die Auseinandersetzung, die sie evoziert, muss fortan über die Grenzen des Feldes hinweg, als „transdisziplinärer Diskurs“, geführt werden. Indem er die Notwenigkeit der Überschreitung disziplinärer Grenzen für die interdisziplinäre Arbeit als maßgeblich erachtet, weist insbesondere Mittelstraß Transdisziplinarität als das Paradigma richtig interpretierter Interdisziplinarität 130
Weingart, Interdisziplinarität als List der Institution (1987), S. 162 f. / 165.
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aus.131 Für Mittelstraß ist Transdisziplinarität ein praktisches Forschungs- und Wissenschaftsprinzip, das sich in erster Linie durch die Aufbrechung enggeführter fachlich-disziplinärer Problemdefinitionen und -bewältigungen auszeichnet.132 Er geht dabei so weit, Interdisziplinarität durch Transdisziplinarität ersetzen zu wollen: „Interdisziplinarität im recht verstandenen Sinne geht nicht zwischen den Fächern oder den Disziplinen hin und her [ . . . ]. Sie hebt vielmehr fachliche Engführungen, wo diese der Problementwicklung und einem entsprechenden Forschungshandeln im Wege stehen, wieder auf; sie ist in Wahrheit Transdisziplinarität.“ 133 Es stellt sich allerdings die Frage, was mit einer transdisziplinären Einstellung bereits gewonnen ist. In der hier vertretenen Auffassung ist Transdisziplinarität zweifellos eine wichtige Voraussetzung für das Funktionieren des interdisziplinären Prozesses. Damit ist es jedoch noch nicht getan. Die transdisziplinäre Haltung muss sich im interdisziplinären Prozess noch manifestieren. Ein Hin-und-Her-Gehen zwischen den Disziplinen kann dabei durchaus zur Notwendigkeit werden. M. a. W. muss Transdisziplinarität erst noch zu Interdisziplinarität werden. Im interdisziplinären Prozessmodell wird die interdisziplinäre Interaktion zunächst auf einer Vorstufe vorbereitet. In diesem vorbereitenden „interdisziplinären Anspruchs-“ oder „Orientierungsdiskurs“ werden vorerst nur die jeweils erhobenen Ansprüche der sich gegenseitig irritierenden Logiken in eine Beziehung zueinander gebracht. Dafür kann es hilfreich sein, die Ansprüche mithilfe des oben entwickelten heuristischen Instrumentariums thematisch und methodisch zu differenzieren und in einem Disziplinenraster zu verorten, um die gegenseitigen disziplinären Positionen zu markieren. Bereits diese Anspruchsbestimmung muss, um dem weiteren interdisziplinären Prozess erfolgreich den Weg bereiten zu können, dialogisch verlaufen. Die Definition der Disziplinen ist als Produkt der beteiligten wissenschaftlichen Akteure zu betrachten, das erst im Dialog entsteht. Dazu kommt, dass die Inbeziehungsetzung nur schon der disziplinären Ansprüche keineswegs unkontrovers, jedenfalls nicht unproblematisch sein wird. Es kann z. B. sein, dass bereits der einem Konstrukt unterstelle Anspruch bestritten wird. Oder es stellt sich in der näheren Auseinandersetzung heraus, dass der prima facie unterstellte Anspruch eines Konstrukts tatsächlich anders gelagert ist. All das lässt sich erst in einem gegenseitigen Orientierungsdiskurs verlässlich bestimmen. Als Vorbereitung einer materiellen interdisziplinären Auseinandersetzung ist der Anspruchsdiskurs unabdingbar. Er bildet die Voraussetzung für eine solide interdisziplinäre Interaktion. Im Ablaufmodell der Interdisziplinarität erfüllt er auch die wichtige Aufgabe, die sich um Interdisziplinarität bemühenden oder interdisziplinär bemühten Konstrukte übereinander zu informieren. Dadurch, dass der Orientie131 Mittelstraß, Interdisziplinarität oder Transdisziplinarität? (1998 [1993]); ders., Die transdisziplinäre Zukunft der Forschung (2001), insb. S. 93 – 97; ähnlich Klein, Crossing Boundaries (1996). 132 Mittelstraß, Die transdisziplinäre Zukunft der Forschung (2001), S. 93 – 95 / 106. 133 Mittelstraß, Die transdisziplinäre Zukunft der Forschung (2001), S. 92 f.
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rungsdiskurs auf die Bestimmung disziplinärer Ansprüche angelegt bleibt, entlastet er die Beteiligten dabei vorläufig noch von der Einlösung der erhobenen Ansprüche. Im Orientierungsdiskurs werden nur die jeweiligen Ansprüche gegenseitig verständlich zu machen versucht, und zwar so lange, bis sich die Beteiligten über deren disziplinären Lagen oder zumindest auf eine vorläufige Lagebestimmung geeinigt haben. So entsteht zunächst immerhin ein formal strukturierter Kommunikationsraum, in dem sich die bevorstehende materielle interdisziplinäre Auseinandersetzung abspielen kann. In der vorläufigen orientierenden Auseinandersetzung können so auch „disziplinäre Lücken“ geschlossen werden, disziplinäre Zwischenräume also, die durch keinen der erhobenen Ansprüche oder nur implizit durch sie erfasst sind, gleichwohl aber als Verständigungsbrücken zwischen bestimmten disziplinären Anspruchsfeldern konstruiert werden müssen.134 Die sich gegenseitig irritierenden disziplinär differenzierten Konstrukte sollen schließlich im zuvor geöffneten Kommunikationsraum im „interdisziplinären Diskurs“ integriert werden. Im Unterschied zum disziplinären Diskurs, wo verschiedene Konstrukte den gleichen Anspruch erheben, stehen sie in dieser Kernphase des interdisziplinären Prozesses vor dem Problem, die präsumtiven Differenzen unter Wahrung differenter Ansprüche zu integrieren. Gegenüber dem disziplinären Diskurs verschärft sich das Integrationsproblem also insofern, als sich das unüberwindlich Differente über die Subjektivität der vertretenen Konstrukte hinaus noch auf deren spezifische Ansprüche erstreckt. Es ist bereits angemerkt worden, dass differenzierte disziplinäre Ansprüche zu perspektivischer Isolation zwingen, d. h. zur gleichen Zeit nicht gleichermaßen erhoben werden können. Auf den interdisziplinären Prozess bezogen, impliziert das, dass die interdisziplinäre Integration nicht durch eine Art Gesamtschau vom archimedischen Punkt aus bewerkstelligt werden kann. Die disziplinären Einzelperspektiven sind darauf verwiesen, einen Weg zu gehen, auf dem den Einzelperspektiven als Einzelnen im Gesamten Rechnung getragen wird. Im Kernprozess wird Interdisziplinarität entgegen Mittelstraß daher doch zu einem disziplinären Wechselspiel. Der vielbeschworene Perspektivenwechsel ist nicht einfach irgendein Erkennungsmerkmal oder eine begrüßenswerte Konsequenz interdisziplinärer Interaktion. Interdisziplinarität bedeutet im Wesentlichen, zwischen verschiedenen Disziplinen, d. h. disziplinären Ansprüchen hin und her zu gehen. Nur durch ein „Hin- und Herwandern des Blicks“ haben die qualifiziert disziplinär differenten Konstrukte eine Chance, transdisziplinäre Irritationen zu beseitigen und schließlich miteinander zurechtzukommen. Natürlich kommt es dabei darauf an, wie das disziplinäre Wechselspiel genauer funktionieren soll. Mittelstraß’ Interdisziplinarität-Kritik kann nur dann als unberechtigt zurückgewiesen werden, wenn die konstruktive Funktionalität dieses Prozesses dargetan werden kann. 134 In der Bildsprache eines Disziplinenrasters wie des oben entworfenen wären das disziplinäre Anspruchsfelder, die sich zwischen zwei nicht unmittelbar nebeneinander liegenden Feldern desselben Rasters befinden, also z. B. zwischen „Südwest“ und „Nordost“.
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Es wird nun davon ausgegangen, dass zwar nicht zwei Perspektiven zugleich, wohl aber verschiedene Perspektiven zu verschiedenen Zeiten eingenommen werden können. Dadurch wird prinzipiell jede Wissenschaftlerin und jeder Wissenschaftler in die Lage versetzt, sequenziell verschoben, einen anderen als den Anspruch ihrer oder seiner Ausgangsdisziplin zu erheben. Zudem kann angenommen werden, dass auch jede wissenschaftlich tätige Person – mit mehr oder weniger großem Aufwand – in der Lage ist, Konstrukte zu entwickeln, die diesem veränderten Anspruch gerecht werden sollen. Es ist also möglich, das Metier zu wechseln und zu lernen. Diese Option bildet dann das Eingangstor für echte Interdisziplinarität. Weil die Vertreterinnen und Vertreter transdisziplinär irritierter Logiken nicht erwarten können, dass sich die transdisziplinäre Irritation vom eigenen Feld aus aussitzen lässt, müssen sie sich bewegen. Sie müssen ihr angestammtes Feld verlassen und sich im irritierenden Feld neu, d. h. mit dem entsprechenden disziplinären Anspruch positionieren. Dieser „disziplinäre (Feld-)Wechsel“ 135 ist die charakteristischste Phase des gesamten interdisziplinären Prozesses, und vermutlich auch die schwierigste. Denn das Zurechtfinden und Stellungbeziehen auf neuem disziplinären Terrain ist, wenngleich durch einen vorangegangenen Orientierungsdiskurs vorbereitet, ein mühsames Geschäft. Unverzichtbare Voraussetzung dafür ist die ernsthafte Auseinandersetzung mit den jeweils disziplinär beheimateten Logiken. Das ist die Hürde, die zu nehmen ist, um im neuen disziplinären Feld Fuß fassen zu können. Wird sie umgangen, läuft der ganze interdisziplinäre Prozess Gefahr, hinter einer rhetorischen Fassade zusammenzubrechen. Zu einem interdisziplinären Prozess wird der Vorgang selbst bei ernsthafter transdisziplinärer Einlassung allerdings erst, wenn die Bewegung wieder zur Ausgangsdisziplin zurückführt. Es genügt nicht, die Perspektive ein einziges Mal zu wechseln. Die im anderen disziplinären Diskurs gemachten Erfahrungen müssen wieder in den disziplinären Diskurs des Ausgangsfeldes zurückgetragen werden. Weil dies wieder nicht anders als durch einen disziplinären Wechsel möglich ist, ist an dieser Stelle die Nachfrage erlaubt, was mit dem Hin-und-Her-Wandern realistischerweise erreicht werden kann. Bleibt Interdisziplinarität nicht doch ein ertragsloses, im besten Fall selbstvergewisserndes Wechselspiel zwischen den Disziplinen? Die Antwort lautet nein. Auch wenn die qualifizierte disziplinäre Differenz eine simultane Auseinandersetzung zwischen Logiken unterschiedlicher disziplinärer Provenienz vereitelt, bleiben die disziplinären Wechsel nicht ohne Wirkung. Denn diskursive Erfahrungen schreiben sich nicht nur in einen bestimmten selektierten Anspruchsbereich einer Logik, sondern in diese Logik überhaupt ein.136 Die disziplinären Diskurse können die Sprach- und Deutungsstrukturen der wissenschaftlichen Akteure so verändern, dass sie die Spuren dieser Veränderung auch 135 In diesem, in den interdisziplinären Prozess integrierten Sinn ist Mittelstraß in Bezug auf die Bedeutung der Transdisziplinarität zuzustimmen. 136 Das ist eine wichtige These der Diskurs- bzw. Deliberationstheorie. Diskursive Erfahrungen besitzen das Potenzial, scheinbar vorgefertigte, invariable Präferenzen und Denkmuster in der Interaktion mit dem Anderen zu revidieren.
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dann noch in sich tragen, wenn sie einen Disziplinenwechsel praktizieren. Bezogen auf neue Disziplinen bleiben diese Spuren jedoch zunächst implizit und rufen allenfalls noch undefinierte transdisziplinäre Irritationen hervor. Im neuen Feld müssen sie mit modifiziertem Anspruch (produktiv) neu expliziert werden. Die Explizierung der Logik eines Feldes als Logik eines anderen Feldes kann am ehesten als „disziplinärer Transfer“ oder als „disziplinäre Translation“ rekonstruiert werden. Entsprechend den disziplinären Differenzierungsmöglichkeiten können Ansprüche thematisch und methodisch, je vertikal und horizontal, differieren. Es liegt nun nahe, dass sich diese disziplinären Differenzen auch in den Konstrukten, die die jeweiligen Ansprüche erfüllen sollen, niederschlagen. Ein disziplinärer Perspektivenwechsel kann danach anhand der entsprechenden Modifikationen in thematischer und methodischer Hinsicht nachvollzogen werden. Wird z. B. ein disziplinärer Wechsel in ein Disziplinenfeld vorgenommen, das sich von der Ausgangsdisziplin durch eine horizontale thematische Alternierung auszeichnet, so wird sich das Konstrukt vom Konstrukt des Ausgangsfeldes v. a. durch den geänderten Themenbereich unterscheiden. Wird ein disziplinärer Wechsel dagegen in ein Feld vorgenommen, das den Anspruch des Ausgangsfeldes methodisch vertikal konkretisiert, so wird das entsprechende Konstrukt v. a. eine konkretere methodische Logik erkennen lassen. Dabei ist ein weiteres Mal zu betonen, dass solche disziplinären Übersetzungen nicht als Umrechnung in eine kleinere, größere oder andere Münze missverstanden werden dürfen. Disziplinäre Translation ist ein wertender und produktiver Prozess, der durch die Transferierenden, sei es konstruktiv, sei es rekonstruktiv, in eigener Verantwortung verrichtet und dadurch kritisierbar wird. Zu erinnern ist auch daran, dass die Rekonstruktion der disziplinären Landschaft, an der sich diese Translation orientiert, ihrerseits nur ein (ebenso evaluativproduktiver) Versuch ist, tatsächlich produzierte Konstrukte zu systematisieren. Disziplinäre Konstrukte können also nicht einfach vor dem Hintergrund eines anderen Anspruchs auf ein anderes disziplinäres Feld transferiert werden, sondern müssen sich (auch) an den tatsächlich vertretenen Konzepten, Konzeptionen und Theorien messen, die denselben Anspruch erheben. Dennoch hängt die Beseitigung transdisziplinärer Irritationen aber auch davon ab, wie gut sich das Ergebnis der neuerlichen disziplinären Auseinandersetzung mit den bisherigen Spuren disziplinärer Diskurse verträgt. Der interdisziplinäre Prozess trägt somit das doppelte Risiko in sich, nicht nur die Beseitigung der jeweiligen disziplinären Irritationen, sondern auch der transdisziplinären Irritationen zu verfehlen. Die (deliberative) Hoffnung auf das integrative Potenzial wechselnder disziplinärer Diskurse mag dabei eine dünne Basis für das Funktionieren von Interdisziplinarität sein. Unter Berücksichtigung der Funktionsbedingungen wissenschaftlicher Disziplinen spiegelt sie das integrative Interdisziplinarität-Konzept aber angemessen wider und scheint angesichts der qualifizierten Differenz unterschiedlicher Disziplinen auch realistisch: Interdisziplinarität ist danach der Versuch, das Gemeinsame im wechselweisen Einlassen auf das Andere zu produzieren – zur Sprache gebracht werden kann es jedoch nur aus der jeweiligen disziplinären Sicht. Zudem soll nicht verges-
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sen gehen, dass der interdisziplinäre Kernprozess bereits auf der Basis eines Orientierungsdiskurses verläuft, der dem Wechselspiel immerhin einen gemeinsamen Horizont zur Verfügung stellt. Zwischen den disziplinären Diskursen sich gegenseitig irritierender Logiken ist so lange hin und her zu wechseln, bis sich die Spuren der jeweiligen transdisziplinären Erfahrungen von keiner Seite mehr als Irritationen bemerkbar machen, die negativen Rückkoppelungen zwischen den anspruchsdifferenten Logiken aufgrund der wechselnden disziplinären Diskurse also (vorläufig) ausbleiben. So führt der Prozess in einer Schleife wieder zur Ausgangslage der Situation disziplinärer Diskurse zurück. Dort sind es nicht mehr die zusätzlich komplizierenden transdisziplinären, sondern nur noch die disziplinären Irritationen, die den Wissenschaftsprozess antreiben. Allerdings können sich die disziplinären Diskurse in keinem Stadium gegen interdisziplinäre Herausforderungen verschließen. Transdisziplinäre Irritationen können lediglich mehr oder weniger erfolgreich bewältigt werden und jederzeit neu einsetzen. Die disziplinären Diskurse bleiben ihnen weiterhin offen ausgesetzt. Das Ausbleiben der Irritation ist auch gar nicht der Endpunkt des interdisziplinären Prozesses. Besser zu verstehen wäre es als der eine regulativ-ideelle Fluchtpunkt, der die offene Kreisbewegung zwischen Disziplinarität und Interdisziplinarität in der Spannung zur transdisziplinären Irritation am Laufen hält. Der interdisziplinäre Prozess präsentiert sich so als ein in den wissenschaftlichen Gesamtprozess integrierter Teilprozess oder Prozessabschnitt. Auch wenn er eigens beschrieben werden kann, bleibt er mit dem disziplinär differenzierten Wissenschaftsprozess als ganzem verbunden. Deshalb sind auch die Funktionsweisen der Interdisziplinarität und der Disziplinarität so eng miteinander verknüpft. Die wissenschaftlichen Prozesse können nur funktionieren, d. h., die in ihnen vertretenen Konstrukte können nur zu ihrem Recht kommen, wenn sie die Irritationen, die sie gegenseitig auslösen, ganz gleich, ob disziplinärer oder transdisziplinärer Herkunft, nicht dauerhaft ausblenden müssen, sondern integrativ bewältigen können. Entscheidend ist dabei, dass es der wissenschaftliche Prozess gleichzeitig schafft, die berechtigten Differenzen der verschiedenen Einheiten zu respektieren. D. h. auch, dass den unterschiedlichen Konstrukten die Irritation anderer Konstrukte nicht verwehrt wird. Wissenschaftlicher Fortschritt wäre falsch verstanden, wenn er in einer harmonisierten Supertheorie einer Superdisziplin münden müsste. Das wäre vielmehr ein Rückschritt zu einer undifferenzierten Einheit der Welt. Der Fortschritt besteht aber auch nicht in der parallelistischen Kultivierung dissonanter Differenzen. Differenzierung und Integration müssen sich gegenseitig in Gang halten. Es ist die ausgeglichene Dynamik zwischen Differenz und Identität, die den wissenschaftlichen Fortschritt ermöglicht.
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c) Ein konzeptioneller Entwurf: Diskursive Interdisziplinarität Die soeben angestellten Überlegungen zu den Funktionsbedingungen und Funktionsweisen von Disziplinarität und Interdisziplinarität haben den Wirklichkeitsbereich des Problems der Interdisziplinarität näher ausleuchten wollen. Sie konkretisieren das Konzept integrativer Interdisziplinarität aus der Beobachtungsperspektive, wobei betont worden ist, dass diese Beobachtung durchaus und nicht zuletzt aufgrund ihrer Verknüpfung mit dem integrativen Interdisziplinarität-Konzept normativ imprägniert ist. Wenn der Standpunkt zum Zweck der Erarbeitung einer Konzeption legitimer interdisziplinärer Praxis nun wieder in die Teilnahmeperspektive wechselt, wird die Diskussion damit nicht einfach wiederholt. Statt in soziologischer, soll sie nun in legitimatorischer Absicht geführt werden. In der Terminologie des zuvor Entwickelten wird der Anspruch an das Problem der Interdisziplinarität also methodisch horizontal zu integrieren versucht. Mit diesem Perspektivenwechsel, mit dieser Translation soll genau das praktiziert werden, was für die integrative Erfassung eines (interdisziplinären) Problems zuvor als maßgeblich bestimmt worden ist. Die Interdisziplinarität wird damit zum Prüfstein ihrer eigenen Bedingungen. Bestanden sein soll die Prüfung, wenn es gelingt, das integrative Interdisziplinarität-Konzept in Anschluss an die soziologischen Ausführungen zu einer plausiblen Gesamtkonzeption legitimer interdisziplinärer Praxis zusammenzuführen. Die legitimatorische Perspektive soll dabei in ein akzeptables Set von Prinzipien interdisziplinärer Theoriekonstruktion münden. Vorab sei noch(mals) plausibilisiert, weshalb eine Konzeption der Interdisziplinarität, oder mindestens plausible Ansätze einer solchen, hier als ein Legitimationsproblem betrachtet wird. Was hat Interdisziplinarität mit Gerechtigkeit zu tun? Die bisherigen Ausführungen haben bereits deutlich zu machen versucht, dass das Nebeneinander wissenschaftlicher Konstrukte bzw. der interdisziplinäre Prozess nur funktioniert, wenn die einzelnen Konstrukte und die sie produzierenden wissenschaftlichen Akteure Aussicht darauf haben, zu ihrem Recht zu kommen. Voraussetzung dafür ist, dass die Prozesse zwischen den Akteuren einen bestimmten Verlauf nehmen. Aus der Sicht einer legitimatorischen Konzeption werden diese Vorgänge nun so in den Vordergrund geholt, dass sie als verantwortliche Handlungen der wissenschaftlich Agierenden erkannt werden. Da sie mit ihren disziplinären und interdisziplinären Aktionen auf das Tun anderer Akteure, zumal in einer nicht-parallelistisch strukturierten Welt, mit mehr oder weniger großem Einfluss einwirken, kommen sie allerdings in die Lage, ihre Aktionen rechtfertigen zu müssen. Es war ja gerade die unzulängliche Berücksichtigung der Legitimationsbedürftigkeit interdisziplinärer Praxis (zwischen Jurisprudenz und Ethik), die die eingehende Diskussion der Interdisziplinarität notwendig werden lassen hat. Die Rechtfertigung interdisziplinärer Praxis kann allerdings nicht mit der lässigen Antwort erledigt werden, es sei doch gezeigt worden, dass Interdisziplinarität eben so funktioniert. Denn das interdisziplinäre Funktionieren antwortet nicht nur auf eine andere Frage, sondern steht seinerseits unter legitimationsbedürftigen Prämissen. Diese müssen in einer legitimatorischen Argumentation gerechtfertigt werden.
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Die Frage des Funktionierens wird somit zur Frage des Legitimierens. Vorstrukturiert ist die legitimatorische Argumentation bereits durch das eingangs entworfene Interdisziplinarität-Konzept, und der soeben soziologisch konkretisierte Wirklichkeitsbereich programmiert die Konzeption hinsichtlich ihres faktischen Gehalts. Die Fäden sind also so zusammenzuführen, dass sie eine Konzeption der Interdisziplinarität bilden, die für die interdisziplinäre Praxis ein faires Verfahren reziproker Interaktion fordert, in der zwar ein Disziplinen übergreifendes Gesamtkonstrukt anzustreben ist, die berechtigten disziplinären Differenzen aber nicht übersehen werden. Wie auch immer eine Konzeption legitimer interdisziplinärer Praxis schließlich aussehen wird – sie ist gehalten, die interdisziplinäre Integration unter Wahrung berechtigter disziplinärer Differenzen zu normieren. Interdisziplinarität hat nur dann eine Aussicht, wenn es den disziplinären Einzelsichten die Möglichkeit zugesteht, das interdisziplinäre Ganze in der je disziplinären Perspektive nachzuvollziehen. Das zwingt zu Perspektivenwechseln. Da die verschiedenen disziplinären Ansprüche nicht einfach simultan übereinander geschichtet und durchleuchtet werden können, sondern nur in wechselnder Perspektivität vereinnahmt werden können, muss das Unrecht, das den jeweils ausgeblendeten Disziplinen angetan wird, in einem kommunikativen Prozess bewältigt werden, dessen normative Struktur zumindest in der Prozedur als solcher die Chance auf disziplinäre Gleichberechtigung eröffnet. Für eine solche prozedurale Konzeption der Interdisziplinarität, die diese Bedingungen zu einer legitimen interdisziplinären Praxis zusammenfasst, kann möglicherweise die Diskurstheorie eingeholt werden.137 Eine solche Konzeption könnte den Namen „diskursive Interdisziplinarität“ tragen. Im Wesentlichen als Diskursethik in der Moralphilosophie beheimatet, bemüht sich auch die Diskurstheorie darum, divergente, an eine bestimmte Weltsicht gebundene, prinzipiell aber gleichberechtigte Logiken einander dialogisch auszusetzen, zu kritisieren und gegebenenfalls zu integrieren – richtig interpretiert: ohne dabei berechtigte Differenzen zur Harmonisierung zu zwingen.138 Der Witz der Diskursethik liegt v. a. darin, dass die kommunikative Integration nicht von einem bestimmten Punkt aus (sei es der archimedische oder sonst ein bestimmter) erfolgen soll, sondern durch den Diskurs zwischen gleichberechtigten Argumentationsparteien überhaupt erst herausgearbeitet wird. Wie beim Problem der Interdisziplinarität prallen also zunächst disparate Sicht- und Denkweisen aufeinander und werden unter Diskursbedingungen schließlich durch geltend gemachte Argumente, wo möglich, integriert. Die Chancen der Diskurstheorie, in einer Konzeption der Interdisziplinarität Anklang zu finden, stehen dabei nicht schlecht. Denn die Annahme von Diskursbedingungen erscheint im Bereich der Interdisziplinarität weniger problematisch als im Bereich der Moral. Insofern es sich nämlich bei interdisziplinären Debatten 137 Vgl., aber unter Beachtung der Unterschiede, Mastronardi, Kriterien interdisziplinärer Richtigkeit (2004); ders., Universality (2009). 138 Zur Diskursethik eingehend II. 2. b).
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vorrangig um wissenschaftliche Diskurse handelt, wird die Einhaltung der aus der Diskursethik bekannten Prinzipien ohnehin weitgehend beachtet. Die Einschlägigkeit der Diskursprinzipien für das interdisziplinäre Arbeiten kann aber auch gut begründet werden:139 Weil davon ausgegangen werden muss, dass im interdisziplinären Dialog im Vorhinein prinzipiell keine Disziplin einen Vorrang vor den anderen Disziplinen in Anspruch nehmen kann,140 besteht das Problem der Interdisziplinarität darin, wie differente, aber gleichberechtigte Logiken in einem konstruktiven Austausch miteinander zurechtkommen können. Für genau dieses Problem bietet die Diskursethik, jedenfalls in der Moralphilosophie einen überzeugenden Vorschlag an. Mit dieser Aussicht steht die Konzeption jedoch auch vor der Aufgabe, sich auf sich selbst anwenden zu müssen. Interdisziplinarität kann nämlich ihrerseits als eigenständige, durch einen bestimmten thematisch-methodischen Anspruch definierte Disziplin betrachtet werden. Insofern das Konzept der diskursiven Interdisziplinarität nun mit der in der Moralphilosophie heimischen Diskursethik liebäugelt, überschreitet es wohl die Grenzen dieser Disziplin. Will sie sich von ihren eigenen Anforderungen nicht ausnehmen, was ihre Überzeugungskraft empfindlich schwächen müsste, so darf sie sich dieser Aufgabe nicht entziehen. Im Grunde steht dieser Aufgabe nichts im Wege. Dass die Konzeption diskursiver Interdisziplinarität dabei um eine Zirkelbewegung nicht herumkäme, würde ihr keinen Abbruch tun, solange sie nur im Nachhinein erkennen lässt, dass sie gehalten hat, was sie verspricht.141 In einer ausgereiften Konzeption diskursiver Interdisziplinarität müsste als Nächstes daher wohl eine eingehende Auseinandersetzung stattfinden, in der zunächst die Ansprüche und Logiken der Diskursethik und der diskursiven Interdisziplinarität gegenseitig zueinander in eine Beziehung gebracht werden müssten (ein entsprechender Orientierungsdiskurs). Zwar hat sich bereits gezeigt, 139 Es versteht sich, dass die Tatsache, dass tatsächliche interdisziplinäre Dialoge z. T. die Eigenschaften von Diskurse i. S. der Diskursethik aufweisen, nicht als Begründung für eine Konzeption legitimer interdisziplinärer Praxis hinreicht. 140 Anders, als in Mastronardi, Universality (2009), gelesen werden kann, übrigens auch die Rechtswissenschaft und die Ethik nicht. Die Differenz zwischen der hiesigen und Mastronardis Konzeptionalisierung des interdisziplinären Diskurses gründet darin, dass der Disziplinenbegriff hier bei den Geltungsansprüchen, dort aber bei den Logiken angesetzt wird. Mit dem teilweisen Vorzug juristischer und ethischer Argumente gegenüber Argumenten anderer „Disziplinen“ gibt Mastronardi zu verstehen, dass „die Rechtswissenschaft“ und „die Ethik“ im fraglichen Anspruchsbereich, etwa in Bezug auf fundamentale normative Grundprinzipien, überzeugendere Logiken vertreten. Die sich daraus ergebende disziplinäre Hierarchie (zwischen den „Disziplinen“ der Jurisprudenz und der Ethik und anderen „Disziplinen“) wird hier jedoch nicht benötigt, weil sich Geltungsansprüche – und ergo Disziplinen – eben nicht hierarchisieren lassen. Worum es hier geht, ist ein (wohlgemerkt: fairer, argumentativer und in solidarischer Absicht geführter) Kampf um die Besetzung eines Disziplinenfelds, um einen Kampf der Logiken um die Einlösung eines Anspruchs. Die Logiken sind aber nicht selbst als die „Disziplinen“ zu betrachten, sondern als die sprachlichen Konstrukte von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die disziplinären Ansprüchen gerecht werden wollen. 141 Auch dieses Zirkelproblem lässt sich wiederum als hermeneutisches entskandalisieren.
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dass die Strukturen des moralischen und des interdisziplinären Diskurses auf den ersten Blick einige Gemeinsamkeiten aufweisen. Eine vertiefte Analyse der unterschiedlichen Ansprüche und darauf bezogenen Argumentationen könnte jedoch einige weitergehende Modifikationen erforderlich machen. Da hier lediglich ein Entwurf einer legitimen interdisziplinären Praxis erarbeitet werden kann, sollen zum Verhältnis von Diskursethik und Interdisziplinarität nur zwei Punkte angesprochen werden: Es ist zu beachten, dass im Problem der Interdisziplinarität die disziplinäre Rückbindung des interdisziplinären Diskurses in viel stärkerem Maße eine Rolle spielt, als in moralischen Diskursen die (wohl analoge) personelle Rückkoppelung von Bedeutung ist. Die Diskursparteien des moralischen Diskurses stehen nämlich nicht in der Pflicht, eine kohärente Konzeption ihrer personellen moralischen Verfassung parat zu haben. Im moralischen Diskurs genügt es, wenn die moralischen Einstellungen der Diskursparteien im Diskurs zur Geltung kommen und argumentativ verarbeitet werden. Was die Diskursparteien aus dem moralischen Diskurs für sich herausziehen, bleibt ihnen allein überlassen. Im moralischen Diskurs konsentierten Argumenten können sie außerhalb dieses Diskurses getrost den Rücken kehren, solange sie mit einem Widerspruch zwischen Sollen und Wollen leben (und die daraus resultierenden Konsequenzen tragen) können. Wissenschaftliche Disziplinen können sich dagegen nicht zufrieden geben, wenn der interdisziplinäre Diskurs zu Anpassungen im Disziplinären zwingt. Interdisziplinäre Inkohärenzen machen sich im disziplinären Diskurs als transdisziplinäre Irritationen bemerkbar, die unter wissenschaftlichem Rationalitätsanspruch nicht unbearbeitet bleiben können. Wiederum anders als im moralischen Diskurs können solche Irritationen allerdings auch nicht solistisch, quasi in der Arbeit an der (disziplinären) Persönlichkeit allein beseitigt werden. Sie können nur wieder im interdisziplinären Diskurs bewältigt werden. Ferner könnte die Diskurstheorie hier gerade deshalb als besonders geeignet gesehen werden, weil der zu entwickelnde Entwurf einer Konzeption von Interdisziplinarität gerade einer legitimatorischen Theorie dienen soll. Bei aller Interdisziplinarität steht ja die Legitimation demokratischen Rechts infrage. Da sich die Diskurstheorie besonders in der Ausprägung als Diskursethik verdient gemacht hat, könnte ihr für legitimatorisch ausgerichtete interdisziplinäre Theorien eine prioritäre Bedeutung zukommen. Diese Einschätzung der Rolle der Diskurstheorie gilt es ebenso abzuschwächen wie zu verstärken. Abzuschwächen ist die Einschätzung der Rolle der Diskurstheorie insofern, als nicht der Fehler begangen werden darf, sie als Supertheorie in legitimatorischen Fragen zu sehen, die sämtliche normativen Probleme von oben nach unten durchstrukturiert, sogar eine Konzeption interdisziplinärer Praxis. Ebenso wenig wie eine Konzeption von Interdisziplinarität kann auch die Diskursethik einen Vorrang vor Konstrukten anderer Disziplinen bzw. kann die Moralphilosophie als ganze einen disziplinären Vorrang vor anderen Disziplinen geltend machen. Auch die Diskursethik muss sich als gleichrangige disziplinäre Konzeption nicht nur dem argumentativen Diskurs anderer Konzeptionen ihrer Disziplin, sondern auch dem Diskurs mit Konzeptionen anderer Dis-
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ziplinen auf Augenhöhe stellen und womöglich auch Konsequenzen daraus ziehen. Dass die Diskursethik möglicherweise für eine Konzeption diskursiver Interdisziplinarität herangezogen werden kann, versetzt sie deshalb nicht bestätigend in eine übergeordnete wissenschaftstheoretische oder -philosophische Superrolle, sondern macht sie allenfalls zu einem integralen Bestandteil einer interdisziplinären Theorie. Die Einschätzung der Rolle der Diskurstheorie kann in anderer Hinsicht jedoch verstärkt werden. Eine Konzeption legitimer interdisziplinärer Praxis soll sich, sofern sie dazu in der Lage ist, auf sämtliche wie auch immer thematisch und methodisch gelagerten Disziplinen beziehen. Wenn nun Theoreme der Diskurstheorie für eine Konzeption von Interdisziplinarität eingeholt werden, so schränkt das die Ausrichtung der Interdisziplinaritätskonzeption nicht auf legitimatorische Ansprüche ein. Wie sich mit der Theorie kommunikativen Handelns herausarbeiten lässt, besitzt die Diskurstheorie jedenfalls das Potenzial, sowohl für Fragen des Legitimierens als auch für Fragen des Funktionierens Verwendung zu finden.142 Für eine überzeugende Integration in die jeweiligen Disziplinen müssen freilich eigene Debatten geführt werden. So verhält es sich auch in Bezug auf die Disziplin der Interdisziplinarität. Wenn es aber gelingt, die Diskurstheorie für die Interdisziplinarität zu gewinnen – und die aufgezeigten Anzeichen sollen für die Zwecke dieser Untersuchung hinreichen –, kann die angedeutete diskursive Interdisziplinaritätskonzeption, zunächst in legitimatorischer Absicht entworfen, auch allgemein, d. h. für sämtliche Disziplinen Geltung beanspruchen. Eine schwächere Lösung wäre einer allgemeinen Konzeption der Interdisziplinarität auch gar nicht angemessen. Für eine diskursive Konzeption der Interdisziplinarität, die für beliebige disziplinäre Ansprüche Geltung beanspruchen soll, ohne einer bestimmten Disziplin einen Vorrang einzuräumen, bietet sich der Leitgedanke der Kohärenz an: „Kohärenz ist auf der Ebene, auf der Theorien im Verhältnis der Ergänzung und der wechselseitigen Voraussetzung zueinander stehen, einziges Kriterium der Beurteilung [ . . . ]. Wenn wir fundamentalistische Ansprüche erst einmal preisgegeben haben, dürfen wir mit einer Hierarchie der Wissenschaften nicht mehr rechnen – die Theorien, ob sozialwissenschaftlicher oder philosophischer Herkunft, müssen zueinander passen [ . . . ].“143 Es versteht sich allerdings, dass das Kohärenzpostulat noch zu operationalisieren ist. Ob wissenschaftliche Konstrukte „zueinander passen“, kann ihnen nicht etwa angesehen werden, sondern muss im wissenschaftlichen Diskurs entschieden werden. „Praktische Kohärenz“144 ist durch den Diskurs überhaupt erst herzustellen. Im interdisziplinären Diskurs verdoppelt sich die Forderung nach Vgl. II. 2. b), (2). Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 2 (41987), S. 588. 144 In Anlehnung an den von Richard Bäumlin in der Rechtswissenschaft entwickelten Gedanken der praktischen Konkordanz. Dazu nochmals Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 373 f., Rn. 392; ansonsten die entsprechenden Hinweise bereits in II. 2. b), (3). 142 143
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Kohärenz zu einem interdisziplinären und einem disziplinären Aspekt. Ein Konstrukt, das einen Anspruch auf interdisziplinäre Kohärenz erhebt, kann sich nicht damit begnügen, dass es als interdisziplinär kohärent erscheint. Die interdisziplinäre Kohärenz muss sich auch in jedem einzelnen differenzierbaren disziplinären Anspruchsbereich bewähren können. Ganz analog wird im moralischen Diskurs für einen überzeugenden Begriff (moralischer) Legitimität eine je subjektive Konsenswürdigkeit gefordert.145 Erst wenn jede und jeder (einzelne) Betroffene einer Entscheidung zustimmen kann, kann auch der Anspruch auf Legitimität eingelöst werden. Die Legitimationsstruktur, die die Diskursethik dem moralischen Diskurs zur Erfüllung dieses Anspruchs auferlegt, situiert sie dabei in einem normativen Spannungsfeld zwischen Freiheit und Verantwortung. Die individuellen und kollektiven Bedürfnisse, Wünsche, Einschätzungen usw. sollen frei zur Geltung gebracht werden können, nicht aber ohne sie gegenüber den Anderen oder Einzelnen, sofern sie diese infrage stellen, rechtfertigen zu müssen. Im wissenschaftlichen Diskurs und im interdisziplinären Diskurs im Besonderen wandelt sich das normative Spannungsfeld zu einem Widerspiel zwischen „wissenschaftlicher Freiheit“ und „wissenschaftlicher Verantwortung“. Bezogen auf den interdisziplinären Diskurs legt es sich sozusagen quer über die doppelte Forderung nach Kohärenz. Die Herstellung interdisziplinärer und disziplinärer Kohärenz soll im freien Agieren der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erfolgen, immer aber unter der Voraussetzung einer reziproken, verantwortbaren Rückgebundenheit an die Freiheit der Anderen. Nach diesen Vorüberlegungen können in Anlehnung an die Prinzipien der Diskursethik im Zusammenhang schließlich folgende Prinzipien legitimer interdisziplinärer Praxis vorgeschlagen werden.
2a 3a
Interdisziplinäre Kohärenz
Disziplinäre Kohärenz
Theorie-Offenheit
Theorie-Gebundenheit
Disziplinäre Autonomie
Interdisziplinäre Verantwortlichkeit
Wissenschaftliche Verantwortung
1a
Wissenschaftliche Freiheit
Prinzipien diskursiver Interdisziplinarität 1b 2b 3b
Abbildung 12: Die Prinzipien diskursiver Interdisziplinarita¨ t
„1a“: Zunächst kann das Konsensprinzip der Diskursethik in struktureller Hinsicht als Prinzip „interdisziplinärer Kohärenz“ übertragen werden. Eine Theorie mit Disziplinen übergreifendem Anspruch steht in der Pflicht, den Zusammenhang zwischen den einzelnen Disziplinen so zu konstruieren, dass er von transdisziplinä145
Zu den folgenden Ausführungen zur Diskursethik II. 2. b), insb. (2) und (3).
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ren Irritationen befreit ist. Zwischen den einzelnen disziplinären Konzeptionen soll ein widerspruchsfreier Transfer möglich sein. Im Verhältnis zum Konsensprinzip des moralischen Diskurses werden im interdisziplinären Diskurs so die einzeldisziplinären Perspektiven subjektiviert und diesen die Forderung nach Kohärenz auferlegt. Dabei bleiben freilich die wissenschaftlich Agierenden die Entscheidungstragenden der Kohärenz. In der Theorie der Interdisziplinarität wird die Subjektivität jedoch um eine Stufe abstrahiert, sodass sich die Einigung der Subjekte als eine Kohärenz der disziplinären Teilsichten darstellt. Wie das Prinzip der Einigung im moralischen Diskurs ist das Prinzip der interdisziplinären Kohärenz zunächst Ausdruck einer freien Praxis, nun in der Form einer wissenschaftlichen Freiheit. Der freiheitliche Aspekt dieses Prinzips besteht darin, dass die interdisziplinäre Kohärenz einer Theorie zunächst allein davon abhängig gemacht wird, wie gut sich die einzelperspektivischen Anspruchserfüllungen ineinander fügen. Das Prinzip interdisziplinärer Kohärenz stellt es einer interdisziplinären Theorie zunächst frei, auf welche Weise sie die interdisziplinäre Kohärenz besorgt. Welche Gestalt sie dabei annimmt, ob sie mit hergebrachten Konventionen bricht oder ob sie solche affirmiert, bleibt dabei unerheblich. Das gilt sowohl für den engeren disziplinären Diskurs, in dem die verschiedenen disziplinären Ansprüche eingelöst werden müssen, als auch bereits für den vorgängigen anspruchsdefinierenden Orientierungsdiskurs. „1b“: Diese strukturelle interdisziplinäre Freiheit steht allerdings in einer Spannung zu einer strukturellen disziplinären Verantwortung. Für eine interdisziplinär operierende Theorie genügt es nicht, wenn sie eine Disziplinen übergreifende Kohärenz für sich beanspruchen kann. Die interdisziplinäre Kohärenz steht unter dem Vorbehalt einer disziplinären Kohärenz. Der diskursethische Gedanke gleichberechtigter Reziprozität, der im Prinzip der Wechselseitigkeit dem Konsensprinzip gegenüberzustellen ist, erhält in der Konzeption diskursiver Interdisziplinarität die Gestalt eines Prinzips „disziplinärer Kohärenz“. Dieses Prinzip soll, im Verhältnis zur Moralphilosophie wieder um eine Stufe abstrakter, die prinzipielle Gleichberechtigung der betroffenen Subjekte – nun der Disziplinen – sichern. Interdisziplinäre Kohärenz ist wenig wert, wenn sie die disziplinären Diskurse, die sie mit ihrem Anspruch überzieht, unbeachtet lässt oder – wohl häufiger der Fall – mindestens im Ergebnis asymmetrisch hierarchisiert. Die Kohärenz interdisziplinärer Konstrukte steht zugleich in der Verantwortung, Kohärenzwürdigkeit zu erlangen. Diese verdient sie erst, wenn sich die einzeldisziplinären Theorieteile gegenüber den in den jeweils herangezogenen Disziplinen vertretenen Konstrukten bewähren. Erst wenn eine interdisziplinäre Theorie diese jeweilige dísziplinäre Kohärenz für sich beanspruchen kann, ist sie als interdisziplinäre Theorie überzeugend. Umgekehrt bleibt die disziplinäre Kohärenz aber auch an die interdisziplinäre gebunden. In einer Spannung zwischen wissenschaftlicher Freiheit und wissenschaftlicher Verantwortung steht sie in der Pflicht, beides anzustreben. „2a“: Ein weiteres Prinzip, das die interdisziplinäre Theoriekonstruktion auf der Seite wissenschaftlicher Freiheit in materieller Hinsicht verortet, ist in Anleh-
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nung an das moralphilosophische Prinzip der Diskurs-Offenheit das Prinzip der „Theorie-Offenheit“. Damit die zugleich interdisziplinäre wie disziplinäre Kohärenz eines theoretischen Konstrukts möglich wird, muss in materieller Hinsicht eine prinzipielle Offenheit bestehen. Interdisziplinäre Theorien müssen bereit sein, auch ungewöhnliche oder für ihre Ausgangsdisziplin unkonventionelle Theoreme einzuflechten, solange sich dies nur kohärent bewerkstelligen lässt. Das stellt ihnen nicht nur selbst in Aussicht, dass auch ihre eigenen, für die anderen beteiligten Konstrukte möglicherweise unkonventionell erscheinenden Theoreme in den interdisziplinären Diskurs eingebracht und allenfalls angenommen werden können, sondern hat auch den wichtigen Hintergrund, dass die konzentrierte Teilsicht einer Einzeldisziplin bewusst einen weiteren Blick vernachlässigt. Wenn dieser Blick nun durch das interdisziplinäre Arbeiten, immerhin disziplinenweise, erweitert wird, ist es nur wahrscheinlich, dass dadurch auch theoretische Aspekte ins Blickfeld geraten, die bisher außen vor gelassen worden sind. Die Theorie-Offenheit fordert, sich gegen solche neuen oder unbekannten Ansätze nicht zu verschließen. Freiheitlich ist dieser Aspekt, weil interdisziplinäre Theorien in materieller Hinsicht prinzipiell schrankenlos agieren können sollen. „2b“: Auch dieses Offenheitsprinzip, das die materielle Freiheit interdisziplinärer Praxis bedeutet, wird allerdings durch ein Prinzip materieller wissenschaftlicher Verantwortung relativiert. So wie in der Moralphilosophie dem Prinzip der Diskurs-Offenheit das Prinzip der Diskurs-Gebundenheit gegenüberzustellen ist, ist dem Prinzip der Theorie-Offenheit das Prinzip der „Theorie-Gebundenheit“ gegenüberzustellen. Dieses Prinzip erinnert in der Konzeption diskursiver Interdisziplinarität daran, dass auch theoretische Konstrukte eine Geschichte haben. Es fordert, dass die materielle Öffnung neuer Theoreme, in welchem spezifischen Anspruchsbereich einer interdisziplinären Theorie auch immer, zugleich mit dem Rekurs auf das vorbestehende Material disziplinärer Diskurse zu verknüpfen ist. Die Konzepte, Konzeptionen und Theorien, die sich in den einzelnen Disziplinen finden lassen, sollen nicht schlicht zu Makulatur werden können. In einem Anspruchsbereich bisher unbekannte Theoreme sollen sich nur insofern ausbreiten dürfen, als es ihnen gelingt, etablierte Konstrukte aus interdisziplinärer wie disziplinärer Sicht mit Überzeugungskraft zu verdrängen. In jedem Fall sind die bisher geführten Diskussionen zu berücksichtigen. Diese Theorie-Gebundenheit stellt auch neuen Theoremen in Aussicht, ihrerseits zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgenommen zu werden. Damit wiederholt sich das Wechselspiel zwischen wissenschaftlicher Freiheit und wissenschaftlicher Verantwortung in diesen Prinzipien: Theorie-Gebundenheit ist nur gerechtfertigt, wenn eine Chance auf Öffnung besteht. Umgekehrt kann die Offenheit von Theorien erst ernstgenommen werden, wenn sie mit einer Pflicht zur Auseinandersetzung mit dem Etablierten verbunden ist. „3a“: Die beiden materiell ausgerichteten Prinzipien der Offenheit und der Gebundenheit lassen sich noch durch zwei Prinzipien erweitern, die sich dazu äußern, wie die prozedurale Form der interdisziplinären Praxis strukturiert sein sollte. Den freiheitlichen Sinn des interdisziplinären Prozesses bringt dabei das Prinzip der
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„disziplinären Autonomie“ zum Ausdruck, das sich an das moralphilosophische Prinzip der Chancengleichheit anlehnt. Das Prinzip verweist auf das Problem der Perspektivität und verlangt, dass die disziplinären Diskurse, an die der interdisziplinäre Diskurs ja letztlich gebunden bleibt, nicht durch die Bevormundung anderer disziplinärer Sichtweisen durchkreuzt werden. Steht ein spezifischer disziplinärer Anspruch zur Debatte, so ist er auch in genau dieser disziplinären Sicht einzulösen. D. h. v. a., dass sich Konstrukte, die einen anderen disziplinären Anspruch erheben, nicht leichtfertig von ihrem differenten Anspruchsbereich aus in die disziplinäre Auseinandersetzung einmischen dürfen. Disziplinäre Konstrukte sollen sich auf die Freiheit berufen können, von kritischen Stimmen zu fordern, dass sie die Kritik, die sie erheben, in der spezifischen Perspektive geltend machen, für die ihre Kritik gelten soll. Nach dem Prinzip der disziplinären Autonomie wird den Konstrukten gewissermaßen der Schutzraum ihres heimischen disziplinären Anspruchsbereichs zugestanden. „3b“: Allerdings sollen auch die disziplinären Theoriekonstruktionen nicht von einer interdisziplinären Verantwortung befreit sein. Das Prinzip der „interdisziplinären Verantwortlichkeit“ entlastet das autonome disziplinäre Agieren nicht davon, transdisziplinäre Irritationen, die im eigenen Anspruchsfeld evoziert werden, in Arbeit zu nehmen. Wenn Interdisziplinarität wirklich den Versuch darstellt, das Differenzierte zu integrieren, dann können die Disziplinen sich nicht selbstgenügsam auf ihre Grenzen zurückziehen. In der Moralphilosophie entspricht dieses Prinzip dem Begründungsprinzip, das als Preis für die Ausstattung mit einer substanziellen diskursiven Chancengleichheit gesehen werden kann. Auch mit ihrem spezifischen disziplinären Ansprüchen erheben wissenschaftliche Konstrukte Geltungsansprüche, die im Kontext eines interdisziplinären Diskurses eingelöst werden sollten. So stehen auch disziplinäre Konstrukte in der Pflicht, ihre disziplinären Sichtweisen interdisziplinär zu verantworten. Zwar kann dieser interdisziplinären Verantwortung wieder nur disziplinär nachgekommen werden, doch ohne die Wahrnehmung dieser Verantwortung läuft die disziplinäre Autonomie Gefahr, den Anschluss an das Wissen zu verlieren, an dem sie eigentlich schaffen will. Auch zwischen den Prinzipien der disziplinären Autonomie und der interdisziplinären Verantwortlichkeit spiegelt sich somit die dynamische Spannung zwischen wissenschaftlicher Freiheit und wissenschaftlicher Verantwortung wider.
3. Programm einer ethisch-juristischen Legitimationstheorie Die Überlegungen zur Interdisziplinarität haben die Möglichkeiten und Vorgaben reflektiert, die auch in einer ethisch wie juristisch ansetzenden Theorie demokratischen Rechts berücksichtigt werden sollten. In der Gegenüberstellung zu Alexys Verknüpfungsversuch machen sie insbesondere deutlich, dass die disziplinären Einzelsichten nicht hierarchisiert und von einer (etwa ethischen) Logik beherrscht werden dürfen. Interdisziplinäre Theoriekonstruktion darf sich über die
3. Programm einer ethisch-juristischen Legitimationstheorie
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disziplinären Differenzen, die sich durch unterschiedliche thematisch-methodische Ansprüche erfassen lassen, nicht einfach hinwegsetzen, sondern muss einen Weg gehen, auf dem die Beteiligten in integrativer Praxis je zu ihrem Recht kommen. Um den jeweiligen disziplinären Hintergründen gerecht werden zu können, muss dieser Weg zunächst in einen Kommunikationsraum führen, in dem sich die gegenseitigen Beziehungen nachvollziehen lassen. Die Konzipierung dieses Kommunikationsraums ist für alle weiteren Konstruktionen von entscheidender Bedeutung und muss deshalb ebenso rücksichtsvoll wie die interdisziplinäre Debatte selbst vorgenommen werden. Bereits die Vorbereitung der interdisziplinären Auseinandersetzung muss dialogisch, aus der jeweils gleichberechtigten Sicht der am Ganzen Beteiligten erfolgen. Um die ethisch-juristische Theorie demokratischer Legitimation in eine geeignete Ausgangslage zu versetzen, soll nun an dieser Stelle das Programm dieser interdisziplinären Legitimationstheorie aufgestellt werden, das die Ansprüche aller Beteiligten angemessen berücksichtigt. Das Programm soll die juristische Methodik aus dem Blickwindel der strukturierenden Rechtslehre und die Moralphilosophie aus dem Blickwinkel der Diskursethik in eine adäquate Beziehung zueinander setzen und die konkreten Möglichkeiten und Vorgaben angeben, denen eine entsprechende interdisziplinäre Theorie demokratischer Legitimation begegnet. Insofern sich die Erarbeitung dieser Programmatik von den zuvor angestellten interdisziplinaritätstheoretischen Überlegungen anleiten lässt, konkretisiert sie diese. Das Folgende kann als ein das Weitere vorstrukturierender Orientierungsdiskurs betrachtet werden, wie er in der Interdisziplinaritätsdebatte als notwendig erachtet worden ist. Aufgrund der bereits eingehenden juristisch-methodischen und moralphilosophischen Auseinandersetzungen146 soll sich die Orientierung nun darauf beschränken, die Verbindungsstücke zwischen Moralphilosophie und juristischer Methodik aus einer gemeinsamen Sicht zu rekonstruieren. Das anstehende Programm soll dafür zunächst nochmals die für die interdisziplinäre Theoriekonstruktion wichtigsten Theoreme der strukturierenden Rechtslehre und der Diskursethik disziplinengerecht zusammenfügen. Dieser vorgängige Diskurs zwischen den beiden Konzeptionen soll v. a. die Chancen der Zusammenarbeit zwischen den beiden Konzeptionen verdeutlichen und die bisher erarbeitete materielle Basis aufzeigen, auf der das interdisziplinäre Programm aufbauen kann. Sodann soll eine (inter-) disziplinäre Orientierung den Kommunikationsraum, in dem sich die Konzeptionen und die gesamte hier entwickelte Theorie bewegt, aufbereiten. Daran anschließend soll dann das weitere Prozedere aufgezeigt werden, durch das sich dieser Raum in geeigneter Weise erschließen lässt.
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Kapitel I und II.
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III. Jurisprudenz und Ethik: Zwischenu¨berlegungen
a) Strukturierende Rechtslehre und Diskursethik Ein Diskurs zwischen der strukturierenden Rechtslehre und der Diskursethik in gemeinsamer Absicht hat bisher noch nicht stattgefunden.147 Im Rahmen einer methodologischen Vorüberlegung könnte nun vorab gefragt werden, wie aussichtsreich ein solcher Diskurs an dieser Stelle sein kann, da er doch von einer (nämlich von dieser) Stelle aus geführt wird. Ein echter interdisziplinärer Diskurs müsste im Grunde von beiden Seiten, in persona sozusagen, geführt werden. Der diskursive Ansatz dieser Untersuchung verlangt eine Integration, die nicht von einer Konzeption oder Disziplin allein vorgenommen wird. Integration heißt hier, aus der jeweiligen Sicht beider zu einer für beide tragbaren Gesamtsicht zu gelangen. Das Problem der Perspektivität kann in der Tat nicht aus dem Weg geräumt werden. Es soll jedoch nicht davon abhalten, die Chancen eines solchen (stellvertretenden) Diskurses realistisch einzuschätzen. Immerhin ist hier für die infrage stehenden Konzeptionen ja bereits jeweils Stellung bezogen worden. Wenn im Folgenden also jeweils „aus der Sicht der strukturierenden Rechtslehre“ oder „aus der Sicht der Diskursethik“ gesprochen wird, so geschieht das in wechselnder, aber letztlich einer Perspektive. Das Vorliegende muss als Beitrag zu einem interdisziplinären Diskurs verstanden werden, der hier nicht entschieden, sondern eben aus einer (begründeten und kritisierbaren) Sicht geführt wird.148 Eine interdisziplinäre Auseinandersetzung zwischen der strukturierenden Rechtslehre und der Diskursethik kann nach drei Ansatzpunkten unterschieden werden. Die beiden Konzeptionen können (1) eine Auffassung teilen, oder sie können unterschiedliche Auffassungen vertreten, die sich (2) in einer disziplinengerechten Sicht 147 Seitens der Diskurstheorie fehlt es weitgehend sogar an einer Beachtung der strukturierenden Rechtslehre. Kurze Beachtung findet die strukturierende Rechtslehre immerhin im grundrechtstheoretischen Kontext bei Alexy: Alexy, Theorie der Grundrechte (21994), S. 63 – 70; ansonsten nur vereinzelte Hinweise in ders., Theorie der juristischen Argumentation (21991), z. B. S. 20, Fn. 13 / S. 23 / S. 38, Fn. 50, et passim; ders., Die logische Analyse juristischer Entscheidung (1995 [1980]), S. 14, Fn. 6 / S. 41, Fn. 75; eine diskurstheoretische Attacke gegen die juristische Methodik der strukturierenden Rechtslehre findet sich in Enderlein, Abwägungen in Recht und Moral (1992); Dagegen setzt sich die strukturierende Rechtslehre seit Langem und bis heute mit der Diskurstheorie auseinander, bisher allerdings – v. a. in Abwehr eines moralphilosophischen Paternalismus – in verteidigender bzw. gegenangriffiger Haltung: insb. Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 530 – 533, Rn. 561 – 565; Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 183 – 202; Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 58 – 92; Christensen / Sokolowski, Die Krise der Kommunikation (2005), S. 116 – 119; Christensen / Kudlich, Gesetzesbindung oder die Entskandalisierung des Paradoxes? (2007), S. 136 – 145; Christensen / Kudlich, Gesetzesbindung (2008), insb. S. 21 – 41. Obwohl noch reichlich vage, anregend außerdem der neuerliche Versuch von Bodo Pieroth: Pieroth, Diskurstheorie und juristische Methodik (2008). 148 Es handelt sich deshalb auch nicht um ein „Geistergespräch“, wie es etwa Manfred Frank zwischen Lyotard und Habermas inszeniert: Frank, Die Grenzen der Verständigung (1988), Untertitel. Wer Geister sprechen lässt, unterschlägt, dass die Geister der Inszenierung des Dramaturgen folgen. Tatsächlich ist das Geistergespräch ein (zu verantwortender) Beitrag des Dramaturgen, der mit den Argumenten seiner Geister hantiert.
3. Programm einer ethisch-juristischen Legitimationstheorie
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aber auflösen lassen oder (3) eine der beiden Konzeptionen zu Modifikationen veranlassen sollte. Sofern die Diskursethik und die strukturierende Rechtslehre in einem Punkt der gleichen Meinung sind, erschöpft sich der interdisziplinäre Diskurs in einer disziplinenspezifischen Darstellung der Übereinstimmung und einer Begründung, die angibt, weshalb der infrage stehende Punkt aus der Sicht beider Konzeptionen in der bestimmten Weise zu würdigen ist. Herrscht bezüglich eines bestimmten Punktes allerdings eine abweichende Meinung, soll nach dem Muster diskursiver Interdisziplinarität zunächst aus der Sicht der jeweiligen Disziplin heraus geklärt werden, was für das eine oder das andere spricht. Die jeweiligen Gründe der anderen Disziplin sind sodann argumentativ mit den Gründen der jeweils eigenen Disziplin gegeneinander abzugleichen. Der so in Gang kommende interdisziplinäre Diskurs erweitert dann die jeweiligen disziplinären Perspektiven um die Einblicke in die andere Disziplin. Die interdisziplinäre Verantwortlichkeit, die Verantwortung gegenüber den Argumenten der anderen Disziplin bzw. Konzeption, zwingt zu einer Erweiterung der Einzelsichtweise und führt schließlich und idealerweise zu einer gemeinsam geteilten Sicht, ohne den einzelnen Konzeptionen ihre Autonomie für ihren angestammten disziplinären Bereich zu nehmen. (1) Es ist nicht zu übersehen, dass die strukturierende Rechtslehre viel Einsatz darauf verwendet zu zeigen, dass sie nicht als ethisch-philosophische Konzeption missverstanden werden darf. Sie versteht sich durchweg als juristische Konzeption, die ethische Anmaßungen in ihrem angestammten Anspruchsbereich konsequent bekämpft. Die strukturierende Rechtslehre wehrt sich gegen eine Ethik, die vom „Feldherrnhügel“ aus in die Rechtswissenschaft eingreifen will. Insbesondere werden moralphilosophische – und dort gerade auch diskursethische – An- und Eingriffe abgewehrt. Das Argument gegen solche moralphilosophischen Kolonisierungsversuche kann so interpretiert werden, dass die Trennung von privaten Moralvorstellungen und öffentlich zu verantwortendem Recht als eine wichtige Errungenschaft einer modernen demokratischen Rechtsordnung einzuschätzen ist, die es gestattet, privatmoralische Anmaßungen zurückzuweisen. Moralische Überstülpungen des modernen Rechts sind nicht zulässig, weil sie die Möglichkeit einer privaten Moral und einer freiheitlichen Rechtsordnung gerade zerstören müssten. „Wenn man [die Autonomie des Rechts] zugunsten einer Moralisierung des Rechts aufhebt, macht man das zentrale und niemals endgültig zu lösende Gestaltungsproblem der Demokratie unsichtbar. Recht und Moral wären damit zwar zu einer Harmonie gebracht, aber der Demokratie wäre ihre Substanz entzogen. Eine erneute Moralisierung des Rechts wäre ein unzivilisierter Versuch, gegen die Entwicklungsrichtung der Gesellschaft die Überordnung der Moral über das Recht wieder herzustellen.“149 Diese Abwehrhaltung gegen eine Moralisierung des Rechts (in hierarchischer Manier) ähnelt allerdings in verblüffender Weise einer konsequenten diskurstheoretischen Einstellung zum Verhältnis von „Moral und Recht“. Auch aus diskursethischer Sicht kann einer Art „Autonomie des Rechts“ zugestimmt werden, die 149
Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 531, Rn. 561.
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III. Jurisprudenz und Ethik: Zwischenu¨berlegungen
sich aus einer gleichursprünglichen Ausdifferenzierung von Recht und Moral aus der vormodernen Sittlichkeit ergibt. Und auch mit der Diskursethik muss jedenfalls der Versuch, das Recht auf direktem Weg zu remoralisieren, skeptisch beurteilt werden. Freilich vertritt sie dabei keinen moralskeptischen Standpunkt. D. h., die Diskursethik verwirft das Moralkonzept nicht in Bausch und Bogen, sodass die Moral auf nachmetaphysischem Begründungsniveau allein zur Privatmoral degradiert würde. Nur, so die Diskursethik ebenso, steht es auch einer nachmetaphysisch begründeten Moral nicht zu, unverrichteter Dinge über das demokratische Recht zu urteilen. Die Moralkonzeption, wie sie die Diskursethik darstellt, ist nämlich nicht nur auf einen prozessstrukturellen Normierungsansatz beschränkt, sondern zudem an den (Anspruchs-)Bereich des Moralischen und d. h. des Rechts im abstraktesten, universellen Sinn gebunden, der mit jedem konkretisierenden Schritt und in jedem Fall mit dem Schritt zur rechtlichen Judikation verlassen wird. Was etwa als Applikationsträgheit der Moral bezeichnet werden kann, beschreibt auch in moralphilosophischer Sicht eine gewisse Zahnlosigkeit der Moral gegenüber dem (demokratisch konkretisierten) Recht. Die zugleich unverzichtbare und unaufhebbare Differenzierung zwischen universeller Moral und demokratischem Recht bedeutet aber nicht, dass Jurisprudenz und Ethik nicht zusammenarbeiten könnten. Die Zusammenarbeit ist jedoch erst dann aussichtsreich, wenn die Vorstellung von der Hierarchie zwischen den beiden Bereichen („Ebenen“150) aufgegeben wird. Die Philosophie müsste von ihrem Feldherrnhügel herabsteigen und sich auf (hierarchisch) gleiche Augenhöhe mit der Rechtswissenschaft begeben. Wohl in diesem Sinne verfährt die strukturierende Rechtslehre bereits im Bereich der Argumentationstheorie, wenn sie dort die Philosophie als „mitarbeitende Reflexion“ einholt. Nach eigenen Aussagen praktiziert sie dort eine „integrale“ Kooperation. Dass die Philosophie bzw. die Ethik von ihrer vermeintlich privilegierten Stellung abrücken muss, ist freilich nur die halbe Wahrheit. In einer interdisziplinären Absicht wäre auch die Rechtswissenschaft verpflichtet, die Tore ihrer traditionsreichen Bastion zu öffnen und auf die Ethik zuzugehen. Dazu, eine interdisziplinäre ethisch-juristische Gesamtsicht einzunehmen, kann die Jurisprudenz natürlich nicht gezwungen werden. Dass ethischphilosophische Anknüpfungen aus der Sicht der strukturierenden Rechtslehre nicht ausgeschlossen sind, stimmt aber optimistisch. Die strukturierende Rechtslehre „schließt“ nämlich „Zusammenarbeit mit anderen Konzepten nicht aus, solange nicht gewichtige Gründe dagegen sprechen.“151 In der Frage etwa, ob es möglich ist, einer Rechtslehre, die für sich bereits imstande ist, eine immanente Methodik bereitzustellen, eine Wissenschaftstheorie „aufzupfropfen“, heißt es immerhin: „Solche Versuche können und sollen gemacht werden“, freilich jedoch „fragt sich, ob sie überzeugen“.152 150 151 152
Vgl. Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 530, Rn. 561. Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 533, Rn. 566. Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 533, Rn. 566.
3. Programm einer ethisch-juristischen Legitimationstheorie
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An die durchaus miteinander vereinbaren Auffassungen zum Verhältnis von Moral und demokratischem Recht der strukturierende Rechtslehre und der Diskursethik schließt sich eine weitere Gemeinsamkeit an. Das Wechselverhältnis von Normativität und Faktizität ist in reflektierten juristischen Konzeptionen durchaus zum Leitspruch avanciert. Die strukturierende Rechtslehre aber greift das von Karl Engisch geprägte geflügelte Wort vom „Hin- und Herwandern des Blicks“ zwischen Sachverhalt und „Norm“ (recte: die methodisch korrekte Integration von Real- und Sprachdaten) so differenziert auf wie keine andere juristische Konzeption. Die Strukturierung entlang der Achse „Sachverhalt – Norm(text)“ kann (zusammen mit der Strukturierung entlang der Achse „Norm(text) – Fall“) für die strukturierende Rechtslehre geradezu als namensgebend betrachtet werden. Mit ihrem Ablaufmodell der Rechtserzeugung deckt die strukturierende Rechtslehre analytisch präzise auf, was bei der demokratisch-rechtsstaatlich legitimen Konkretisierung eines Rechtssatzes vor sich geht. Es ist ihr dabei ein fundamentales Anliegen zu zeigen, dass der Konkretisierungsvorgang erst als Wechselbeziehung zwischen den Realdaten und den Sprachdaten vollständig verstanden werden kann. Die Rechtsnorm und die daraus folgende Entscheidungsnorm, das juristische Urteil, ist nach Auffassung der strukturierenden Rechtslehre ein in hohem Maße verdichtetes Gebilde aus normativer Anleitung und faktischer Gegebenheit. Das Postulat, Normativität und Faktizität nicht getrennt, sondern integrativ zu betrachten, findet sich auch in der Diskursethik wieder. Das Bekenntnis zum Hinund Herwandern des Blicks kann dabei nicht nur am Titel von Habermas’ rechtstheoretisch-rechtsphilosophischem Hauptwerk153 und dessen Methodologie154 abgelesen werden. Während die strukturierende Rechtslehre v. a. darauf aufmerksam macht, dass Normativität ohne Faktizität illusorisch ist, so erinnert die Diskursethik besonders an die Kehrseite der gleichen Medaille. Die Diskursethik zehrt besonders davon, dass sie aufdeckt, dass die menschliche Handlungspraxis in Bindungen verwickelt ist, die gerne übersehen werden, aber nicht unberücksichtigt bleiben dürfen. Sie kann zeigen, dass die universelle Praxis menschlichen Sprechens eine starke Normativität in sich trägt. Mit ihrer Theorie des kommunikativen Handelns rekonstruiert sie gewissermaßen das kantische Faktum der Vernunft mit pragmatischen Mitteln, ohne einem naturalistischen Fehlschluss zu erliegen. Sowohl die Diskursethik als auch die strukturierende Rechtslehre nehmen ihr Bekenntnis zur Verschlungenheit von „Faktizität und Geltung“ auch methodologisch in Beschlag. In etwa so, wie die strukturierende Rechtslehre ihr normatives Potenzial letztlich aus der Praxis des Verfassungs- und sonstigen demokratischen Rechts zieht, zieht sie auch die Diskursethik letztlich aus der Praxis des kommuniHabermas, Faktizität und Geltung (41994). Auch wenn die Sichtweise etwa in Habermas, Faktizität und Geltung (41994), vornehmlich legitimatorisch bleibt, mischen sich auch gezielt soziologische Teile ein: ebd., insb. S. 383 – 398. Habermas bemängelt allerdings z. T. auch umgekehrt zu funktional ausgerichtete Konzeptionen (der Politik), die ohne hinreichend normative Reflexionen auszukommen glauben: insb. ebd., S. 383 – 390. 153 154
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kativen Handelns. Obwohl beide Konzeptionen Normativität so aus faktischen Prozessen (nämlich Sprachpraxen) herauslesen, machen sie sich keines logischen Zirkels schuldig. Sie ziehen lediglich die richtigen Konsequenzen aus der Unentrinnbarkeit des hermeneutischen. Diese Methodik des Herausfilterns impliziter normativer Rationalität aus faktischen Prozessen bezeichnet Habermas als rationale Rekonstruktion. Die strukturierende Rechtslehre beschreibt ihr ähnliches Vorgehen in ihrem Anspruchsbereich als kritische Analyse, Induktion oder Explikation von implizitem Know-that im praktischen Know-how. Sie geht davon aus, dass aus der bewährten juristischen Praxis eine Intelligenz herausgearbeitet werden kann, die größer ist, als deren Selbstverständnis es nach außen hin preisgibt. Diese wiederum verblüffende Ähnlichkeit, die sich einerseits in der diskurstheoretischen rationalen Rekonstruktion und andererseits in der Explikation impliziter Rationalität seitens der strukturierenden Rechtslehre erkennen lässt, lässt sich außerdem auch in der Rede von der reflexiven Aufstufung von Argumentations- bzw. Sozialpraxen155 ablesen. (2) Dass sowohl die strukturierende Rechtslehre als auch die Diskursethik der Sprachpraxis so großes Gewicht bemisst, verweist auf die sprachorientierte Ausrichtung, die beiden Konzeptionen außerdem gemeinsam ist. Diese Gemeinsamkeit reicht nicht bis ins Detail. Zwar bekennen sich die strukturierende Rechtslehre wie auch die Diskursethik zur pragmatischen Wende in der Sprachwissenschaft, d. h., beide vertreten eine pragmatisch ansetzende Position, doch setzen sie innerhalb dieser Tradition wohl andere Schwerpunkte. Während sich die strukturierende Rechtslehre eher in die Tradition des späten Wittgenstein einreiht und ihre sprachtheoretischen Überlegungen auch aus der Sicht des französischen Poststrukturalismus reflektiert, verbindet Habermas seine Überlegungen mit der Sprechakttheorie Austins oder den Überlegungen von Charles S. Peirce. Auch wenn hierin eine Differenz erkennbar ist und der einen oder anderen Konzeption eine gründlichere Reflexion bestimmter sprachphilosophischer Ansätze zuzugestehen ist, können die Differenzen jedoch mit den jeweiligen disziplinären Bedürfnissen erläutert werden, ohne dass sich dadurch ein unaufhebbarer Widerspruch zwischen den beiden sprachtheoretischen Konzepten ergeben muss. Die Unterschiede haben ihre Gründe in den unterschiedlichen und jeweils gleichermaßen begründeten Absichten in disziplinärer Hinsicht. Habermas geht es in seiner moralphilosophischen Konzeption darum, die normativen Bindungen des kommunikativen Handelns, die von anderer Seite übersehen oder verleugnet werden, aufzudecken. Der strukturierenden Rechtslehre geht es demgegenüber v. a. darum, angesichts der Hartnäckigkeit des positivistischen wie antipositivistischen Erkenntnismodells die normative Überhöhung der Sprache (nicht: des Sprechens) zu entlarven. Mit solcherart motivierten unterschiedlichen Akzentuierungen können sich beide bei einem sprachtheoretischen Konzept mit einer pragmatischen Aus155 Vgl. z. B. Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 238, Rn. 256, und Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 388.
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richtung finden, die in der Gesamtsicht durchaus ergänzungsfähige Bestandteile in sich vereint. Obwohl die sprachtheoretischen Unterschiede in einer differenzierten Sicht als berechtigte Akzentverschiebungen gedeutet werden können, wundert es allerdings nicht, wenn insbesondere die strukturierende Rechtslehre der Diskursethik gegenüber zunächst einmal skeptisch eingestellt ist. Eine auch sprachtheoretisch operierende Ethik, die normative Bindungen aufdecken will, wo andere sie nicht sehen, geht gerade in die umgekehrte Richtung wie die, die die strukturierende Rechtslehre einschlägt. Die strukturierende Rechtslehre warnt gerade davor, die normative Bindungskraft der Sprache zu überschätzen. Diese im juristischen Anspruchsbereich geborene Haltung muss aber nicht dazu führen, die Diskursethik als moralphilosophische Konzeption zu verwerfen. Zum einen beziehen sich die beiden Konzeptionen nämlich auf einen anderen Anspruchsbereich. So versucht die strukturierende Rechtslehre den legitimen Umgang mit dem geltenden Recht zu reflektieren, die Diskursethik versucht dagegen, den Umgang mit moralischer Normativität schlechthin zu ergründen. Während die strukturierende Rechtslehre also mit positivierten Rechtstexten, an die konkrete Rechtsurteile schließlich zu knüpfen sind, operiert, kann sich die Diskursethik als moralphilosophische Konzeption an keine „positiven Moraltexte“ halten, sondern ist gezwungen, ihre normativen Bindungen anderswo herauszuziehen. Dies tut sie mithilfe einer Reflexion der impliziten (illokutionären) normativen Bindungen menschlichen Sprechens überhaupt. Zum andern bringt dieser perspektivische Unterschied gar keine Differenz in der Gesamtsicht mit sich. Sowohl die (jedenfalls normentheoretisch reflektierte) Diskursethik als auch die strukturierende Rechtslehre sträuben sich gleichermaßen gegen erkenntnispositivistische Anmaßungen objektiv-materieller Art und befürworten eine sprachpragmatische Methodologie der Reflexion über das Vorliegen (oder eben Nichtvorliegen) sprach- bzw. sprechimmanenter Normativität.156 M. a. W. könnte auch die strukturierende Rechtslehre den kommunikationstheoretischen Ansatz der Diskurstheorie integrieren. Sie würde natürlich den – berechtigten – Vorbehalt anbringen, dass dies die demokratisch-rechtsstaatliche Geltungsgrundlage der juristischen Wissenschaft nicht unterminieren darf. Es wird sich noch zeigen, dass dieser Vorbehalt auch aus einer ethisch-juristischen Gesamtsicht geteilt werden kann. Der aus der Sicht der Rechtswissenschaft formulierte Vorbehalt ist deshalb in Wirklichkeit keine einseitige Bedingung für den Erfolg eines Projekts, das die strukturierende Rechtslehre mit der Diskursethik verknüpfen will. Aus der Sicht einer diskursiven Ethik muss sich auch das demokratisch-rechtsstaatliche Postulat als akzeptabel erweisen. Zugleich aber präzisiert der Vorbehalt der strukturierenden Rechtslehre die Bedingung für das Gelingen dieser Untersuchung: Damit die ethisch-juristische Legitimation demokratischen Rechts Erfolg hat, 156 Die objektivismuskritische Haltung der Diskursethik lässt sich disziplinenanalog etwa in ihrer formal-diskursiven Einstellung erkennen.
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III. Jurisprudenz und Ethik: Zwischenu¨berlegungen
muss sich zeigen lassen, dass auch eine – im Detail noch zu bestimmende – Anknüpfung an die Moralphilosophie eine akzeptable, das demokratisch-rechtsstaatliche Grundpostulat der Rechtswissenschaft respektierende Gesamtsicht herbeiführen kann. Mit Blick auf die trotz der disziplinären Differenz recht starken Gemeinsamkeiten stehen die Chancen dafür nicht schlecht. Wenn vorerst wenigstens arbeitshypothetisch von der Vereinbarkeit von strukturierender Rechtslehre und Diskursethik ausgegangen werden kann, so kann auch der strukturierenden Rechtslehre das kommunikationstheoretische Paradigma des kommunikativen Handelns angesonnen werden. Das als prozeduraler Analyseraster begreifbare Argumentationsschema Harald Wohlrapps157 muss dem nicht entgegenstehen.158 Beide Konzeptionen würden dann einen Begriff prozeduraler Normativität und Rationalität vertreten, wobei diese Begriffe trotz der prinzipiellen interdisziplinären Verwandtschaft disziplinär zu differenzieren wären. Die Diskursethik betrachtet Rationalität als das Ergebnis von Diskursen, die in einem strukturellen Setting akzeptabler Diskursprinzipien ablaufen. Normativität heißt für sie, aus der moralphilosophischen Perspektive entsprechend, die universelle Zustimmungswürdigkeit der Ergebnisse moralischer Diskurse. Die strukturierende Rechtslehre bezeichnet Normativität – und versteht Rationalität entsprechend – als Vorgang. Damit deutet sie wie die Diskursethik darauf hin, dass Normativität und Rationalität nicht materiell verordnet werden können. In der einen wie in der anderen Konzeption werden Normativität und Rationalität im Verfahren und durch das Verfahren erst hergestellt. Freilich versteht die strukturierende Rechtslehre sowohl Normativität als auch Rationalität nicht moralphilosophisch (universell), sondern methodisch-juristisch (kulturell). Das methodisch korrekte Vorgehen, das die strukturierende Rechtslehre für sich beansprucht, führt zu juristisch richtigen oder legitimen Urteilen. (3) Bei all diesen Gemeinsamkeiten bzw. differenzierten Gemeinsamkeiten, die sich aus einer jeweils disziplinären Teilsicht zu einer kohärenten Gesamtsicht zusammenfügen lassen, lassen sich auch Unterschiede zwischen der strukturierenden Rechtslehre und der Diskursethik erkennen, die sich nicht miteinander vereinbaren lassen. In erster Linie betrifft das die Dichotomie von Begründung und Anwendung, die hier zwar bereits kritisch beurteilt worden ist, in der etablierten Diskurstheorie jedoch noch immer hochgehalten wird.159 V. a. Günther und Habermas vertreten die Auffassung, dass das Erschaffen moralischer (oder rechtlicher) Normen in zwei Vorgänge einzuteilen ist, in einen Begründungsdiskurs und einen Anwendungsdiskurs. Im Begründungsdiskurs gelte es zunächst, die Geltung prima Dazu die entsprechenden Hinweise in I. 2. b), (2) a. E. Ein Versuch, die Argumentationstheorie Wohlrapps und Habermas’ Kommunikationstheorie so zu integrieren, dass beide Ansätze aufeinander zugehen, steht allerdings noch aus. In einer ersten – flüchtigen und noch zu begründenden – Einschätzung ließe sich wohl sagen, dass Wohlrapps Argumentationstheorie der eher strukturell ansetzenden Kommunikationstheorie Habermas’ eine zusätzliche prozedurale Perspektive hinzufügen könnte. 159 II. 3. 157 158
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facie legitimer „Normen“ zu begründen, um sie dann im Anwendungsdiskurs unter Berücksichtigung sämtlicher relevanter Situationsmerkmale angemessen anzuwenden. Die Vorstellung der Trennbarkeit von Begründung und Anwendung ist aber nur hinnehmbar, wenn sie in bewusster Vereinfachung erfolgt, so etwa, wie es in der Rechtswissenschaft passiert, wenn von „Rechtsetzung“ und „Rechtsanwendung“ die Rede ist (und selbst diese Vereinfachung ist vor Problemen nicht gefeit). Gerade auf der Grundlage der normentheoretischen Analysen der strukturierenden Rechtslehre wird deutlich, dass die Abgrenzung von Rechtsetzung und Rechtsanwendung (auch „in der Moral“) missverstanden wird, wenn impliziert sein soll, dass durch die Rechtsetzung die „Norm“ sozusagen schon auf die Welt gekommen ist und nur noch durch ihre Anwendung großgezogen werden müsste. Wenn Begründungs- und Anwendungsdiskurse jedoch so erklärt werden, dass zunächst eine abstrakte Begründung von „Normen“ erfolgen soll und erst dann unter Einbezug „der“ relevanten Situationsmerkmale eine Anwendung dieser „Norm“ durchzuführen ist, kann die Auffassung der etablierten Diskurstheorie genau i. d. S. verstanden werden. Die Trennung zwischen Begründung und Anwendung wird dann nicht als vereinfachende Darstellung eines komplexen Konkretisierungsprozesses, sondern als tatsächlich begriffen. In jedem Fall wird durch das Festhalten an der Begründungs-Anwendungs-Dichotomie der Annahme Vorschub geleistet, die anzuwendende Norm bestehe bereits ante casum und werde nur für den jeweiligen Fall situationsmerkmalgerecht „zurechtgestutzt“. Zwar sieht auch Habermas, dass es eines schöpferischen Konkretisierungsprozesses bedarf,160 das Verhältnis von Verfassung und Gesetz versteht er sogar als konkretisierendes.161 Allerdings meint er auch, dass „die Situation ihrerseits im Lichte der von der Norm vorgegebenen Bestimmungen beschrieben“ wird.162 Was damit und mit der Begründungs-Anwendungs-Doktrin letztlich gemeint ist, bleibt wohl unklar. Der etablierten Diskurstheorie in Fragen der Normkonkretisierung insgesamt Naivität zu attestieren, wäre jedoch nicht ganz gerechtfertigt. Immerhin ist Habermas der Auffassung, das Recht ließe sich nicht nur als „Komplex von Handlungsregulativen“, sondern auch „als ein Text von Normsätzen und -interpretationen“ begreifen.163 In Anbetracht der Probleme im Zusammenhang mit der These von der Trennung von Begründung und Anwendung, an der Habermas und Günther festhalten, gilt es allerdings, an dieser Stelle nochmals festzuhalten, dass die Begründungs-Anwendungs-Dichotomie allenfalls wie in der Rechtswissenschaft üblich als Vereinfachung eines komplexen Konkretisierungsvorgangs begriffen werden kann, aus normstrukturellen Überlegungen ansonsten jedoch abzulehnen ist. Dass die Rechtswissenschaft der rechtsstaatlich-demokratischen Trennung von Legislation und Judikation unvermittelt die Rede von „Recht160 161 162 163
Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik (1991), S. 140. Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 191. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik (1991), S. 140, H. n. O. Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 106.
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setzung“ und „Rechtsanwendung“ folgen lässt, soll nicht dazu verleiten, auch der strukturellen Schieflage dieses Bildes zu folgen. Die Institutionalisierung von abstrakteren und konkreteren Normtexten (z. B. „Prinzipien“ und „Regeln“) darf nicht verdecken, dass es sich bei der „Anwendung“ von „Normen“ immer um einen komplexen konkretisierenden Rechtserzeugungsprozess handelt, für den die konkretisierende Person und nicht die „höhere Norm“ verantwortlich ist. Dies wie keine andere Konzeption klargemacht zu haben, ist die anzuerkennende Leistung der strukturierenden Rechtslehre. Die strukturierende Rechtslehre nimmt die Gefahr, Normen als bereits in abstrakteren gegebenen Normsätzen innewohnende Objekte zu betrachten, zum Anlass, nur noch das als Norm zu bezeichnen, was am Ende des normativen Konkretisierungsprozesses herauskommt. Rechts- und Entscheidungsnormen (Urteile) sind in dieser Terminologie erst die aus Normprogramm und Normbereich verdichteten Endprodukte. Das ist eine durchaus konsequente Maßnahme, v. a. gegen die hartnäckig festsitzenden Irrtümer der herkömmlichen juristischen Methodik. Aus einer interdisziplinären Sicht betrachtet, scheint diese Maßnahme möglicherweise abschreckend. Die dezidierte, gegen das sich so zäh haltende Märchen von der lex ante casum gerichtete Wortverwendung der strukturierenden Rechtslehre hat nämlich zur Folge, dass auch die gewöhnlich-sprachliche Rede von Rechtsnormen i. S. v. geltenden Rechtssätzen nicht mehr zulässig ist. Um den Anschluss an den gewöhnlichen Sprachgebrauch dennoch wahren zu können und in der interdisziplinären Absicht, für Konzeptionen aus anderen Disziplinen möglichst große Anschlussmöglichkeiten offen zu halten, wird hier vorgeschlagen, auch den bisher (noch) üblichen Sprachgebrauch von „Rechtsnormen“, so etwa, wie die strukturierende Rechtslehre von anordnenden Texten spricht, vorläufig zu akzeptieren. Konzeptionen anderer Disziplinen sollen nicht deshalb aus dem interdisziplinären Diskurs ausgeschlossen werden, weil sie bisher noch nicht Gelegenheit hatten, sich von der Normentheorie der strukturierenden Rechtslehre zu überzeugen. Sie sollen die Möglichkeit erhalten, im interdisziplinären Diskurs zu lernen. Es sei aber klargestellt, dass mit diesem methodologischen Zugeständnis kein Zugeständnis in der Sache verbunden ist. Zwischen Rechtstext (demokratisch-rechtsstaatlich legitimiertes, amtlich erlassenes Gesetzesformular) und Rechtsnorm (aus Normprogramm und Normbereich synthetisiertes Konkretisierungsprodukt) bzw. Entscheidungsnorm (konkretes Rechtsurteil) ist nach wie vor zu unterscheiden. b) (Inter-)Disziplinäre Orientierung Der interdisziplinäre Diskurs zwischen der Diskursethik und der strukturierenden Rechtslehre hat darlegen können, dass eine integrative Zusammenarbeit zwischen den beiden Konzeptionen durchaus aussichtsreich ist. Die teilweisen Divergenzen, die die Konzeptionen auf den ersten Blick aufweisen mögen, rühren auf den zweiten Blick mehrheitlich von unterschiedlichen disziplinären Ansprüchen her. Die Anpassungen an der einen oder anderen Konzeption, die eine integrative
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Gesamtsicht im einen oder anderen Punkt erfordert, lassen sich dabei – jedenfalls für die Zwecke dieser ethisch-juristischen Untersuchung – relativ unproblematisch zugestehen. Von der zu unreflektierten Begründungs-Anwendungs-Dichotomie der Diskurstheorie abgesehen, handelt es sich eher um Interpretationsdifferenzen, die bei einer Erweiterung der Sichtweise auf eine interdisziplinäre Sicht von beiden Seiten angenommen werden können. Es wäre aber voreilig, das Vorhaben einer interdisziplinärer Rechtslegitimation mit dieser nur vororientierenden Auseinandersetzung zwischen der strukturierender Rechtslehre und der Diskursethik bereits als beendet zu betrachten. Wie insbesondere die Diskussion des ethisch-juristischen Verbindungsversuchs Alexys, aber auch die Auseinandersetzung zwischen der strukturierenden Rechtslehre und der Diskursethik nahe gelegt haben sollte, klafft zwischen der Disziplin der juristischen Methodik und der Moralphilosophie eine zu große kommunikative Lücke, als dass sie im Wege eines kursorischen Meinungsaustauschs zwischen diesen beiden Konzeptionen geschlossen werden könnte. Damit der interdisziplinäre Weg hier im Weiteren unter besseren Bedingungen beschritten werden kann, soll nun die Analyse des von dieser Untersuchung betroffenen Kommunikationsraums wieder aufgegriffen werden. Dieser Kommunikationsraum kann anhand des Disziplinenrasters erläutert werden, wie er in der Interdisziplinarität-Debatte entwickelt worden ist.164 In diesem Raster wird das demokratische Recht, genauer: das rechtlich geordnete Zusammenleben in modernen Demokratien, auf der Achse der Thematik abgetragen, und die Methodik-Achse wird durch einen Legitimationsanspruch fixiert. Diese Auswahl bedeutet sowohl in thematischer als auch in methodischer Hinsicht eine disziplinäre Konzentration in horizontaler Hinsicht. Das im Raster spezifizierte Forschungsproblem besteht folglich in der Legitimation demokratischen Rechts. Die beiden verbleibenden Anspruchsaspekte eröffnen dann die Möglichkeit, das Problem thematisch wie methodisch vertikal zu differenzieren, sodass sich der interdisziplinäre Kommunikationsraum v. a. durch unterschiedliche Abstraktionsoder Konkretionsstufen auszeichnet. In thematischer wie in methodischer Hinsicht wird dem zuvor entwickelten Vorschlag gefolgt, die jeweiligen Ansätze in je drei Stufen zu untergliedern. So lässt sich die Legitimation des demokratischen Rechts thematisch gesehen in aufsteigender Abstraktion aus einer mikroskopischen, einer mesoskopischen und einer makroskopischen Sicht betrachten, methodisch gesehen lässt sie sich mit zunehmender Abstraktion dogmatisch, in einem meta-dogmatischen Sinn theoretisch und schließlich philosophisch ausrichten. Auf der Achse der Thematik markiert die mikroskopische Sicht die Legitimation des Rechts im konkreten Fall. Im mittleren Bereich der Thematik wird die Legitimation des rechtlichen Zusammenlebens auf eine Sicht abstrahiert, in der sie im Gesamtzusammenhang einer demokratischen Rechtsordnung problematisch wird. In dieser Sicht wird nicht mehr die Herstellung eines konkreten Rechtsurteils, son164 Zuvor, III. 2. b), (2). Vgl. zum Folgenden auch die (nur) erläuternden Einführungen der Einleitung.
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dern die Konstitution der gesamten demokratischen Ordnung, die zu solchen Urteilen führen soll, problematisiert. Die Makroperspektive abstrahiert die Sicht auf eine bestimmte in Zeit und Raum versetzte Ordnung menschlichen Zusammenlebens noch um eine Stufe zur Ordnung des Sozialen überhaupt, zum Problem sozialer Rechtfertigung schlechthin, ungeachtet ihres spezifischen Kontexts. Durch diese Stufung gliedert die Achse der Thematik das Problem der legitimen Ordnung des Sozialen nach einem sehr engen, situationellen Verständnis („Recht i. e. S.“ als „Legislation“ oder „Judikation“), einem mittleren, kulturellen Verständnis („Recht i. m. S.“ als „Konstitution“) und einem sehr weiten, universellen Verständnis („Recht i. w. S.“ als „Justifikation“).165 Im Kontext gesehen, handelt es sich allerdings lediglich um verschieden abstrakte bzw. konkrete Perspektiven, die auf dasselbe verweisen: auf das Problem einer rechtlichen, nötigenfalls mit Macht durchzusetzenden Ordnung des menschlichen Zusammenlebens. Erst im Gesamtzusammenhang vermitteln diese verschiedenen Perspektiven auf das Recht aber einen integrativen Rechtsbegriff, der es ermöglicht, sowohl mit juristischen als auch mit ethischen Ansätzen zu arbeiten. Wenn die Begriffe Moral, Politik und Recht zueinander in eine Beziehung gebracht werden sollten, wäre zu überlegen, ob dieser Abstufung (nach Recht i. w. S., i. m. S. und i. e. S.) entsprechend „Moral“ nicht als die Frage des Rechts überhaupt, bezogen auf das räumlich und zeitlich entgrenzte Universum, „Politik“ als die Frage des Rechts bezogen auf eine bestimmte, aber im Gesamtzusammenhang betrachtete Kultur und „Recht“ als die Frage des Rechts bezogen auf eine bestimmte Handlungssituation bezeichnet werden könnte. Diese Nomenklatur weicht insbesondere von der Unterscheidung von Recht und Moral ab, die sich (positivistisch) an der Form institutioneller Ordnungsweisen orientiert und die Grenze zwischen Recht und Moral durch die (staatliche) politisch-institutionelle Organisation von Recht gezogen wissen will.166 Moral ist in dieser Vorstellung keine Abstraktion, sondern das komplementäre Aliud des Rechts. Moralische Regelungszusammenhänge werden zu (privatmoralischen) nicht-rechtlichen Regelungszusammenhängen.167 Statt thematisch vertikal werden Moral und Recht thematisch horizontal relationiert. Eine solche Begriffsbestimmung ist allenfalls in engen kontextuellen Grenzen vertretbar,168 plausibler als die zuvor erwogene Definition ist sie aller165 Mit der lateinischen Endung („-tion“) erlaubt die Verwendung der Fremdwörter Justifikation, Konstitution und Judikation dabei auch, auf den verschiedenen Abstraktionsstufen jeweils den praktischen, dynamischen Bezug des Rechts- oder eben Legitimationsprozesses hervorzuheben. 166 Z. B. von der Pfordten, Rechtsethik (2001), S. 75 – 78 i. V. m. S. 64 f.; Rüthers, Rechtstheorie (32007), S. 65 – 69, Rn. 99a-99c. 167 Die Moral wird dann freilich wieder in verschiedene Beziehungen zum Recht gebracht, die auch in Überschneidungen und Abhängigkeitsverhältnissen bestehen können: z. B. von der Pfordten, Rechtsethik (2001), S. 78 – 84; Rüthers, Rechtstheorie (32007), S. 249 – 252, Rn. 404 – 410. 168 Sie hat immerhin die Etymologie auf ihrer Seite (lat. mos, moris: Sitte, Brauch). Etymologische Argumente können Überzeugungskraft allerdings nur indizieren. Für die Plausi-
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dings nicht. Abgesehen davon, dass Moral dadurch in den Privatbereich von Sitte und Brauch gerückt und das öffentlich zu verantwortende Recht aus diesem Privatbereich in die kontingenten Grenzen des faktischen staatlichen Einflussbereichs zurückgedrängt wird,169 hat diese Definition in einer interdisziplinären Theorie, d. h. integrativen Sicht, auch das Problem, plausibel zu machen, wie die thematisch abstrakt operierende Moralphilosophie sinnvoll an den Rechtsbegriff angeschlossen werden kann.170 Das zuvor erläuterte Verhältnis von Moral und Recht legt dies über die Vermittlung eines Zwischenbereichs des Politischen unproblematisch dar. Die größere Schwierigkeit der erwogenen Relation zwischen Moral, Politik und Recht besteht in der Verdoppelung des Rechtsbegriffs durch einen integrativen Rechtsbegriff einerseits und einen engen, situationell verwendeten Rechtsbegriff andererseits. Für sich betrachtet, ist der enge Begriff von Recht dabei nicht unberechtigt, jedenfalls nicht, wenn das Rechtsproblem in einer interdisziplinären Perspektive auch die Jurisprudenz und mit ihr deren Hauptprobleme, insbesondere das Urteilen im konkreten Fall, miteinbezieht. Das juristische Urteilen betrifft das Problem des Rechts geradezu in seinem Kern. Sämtliche Theorien und Praxen, die um das Rechtsproblem kreisen, zielen letztlich darauf ab, wie im konkreten Fall geurteilt wird. Nicht zuletzt deshalb ist auch die Verwendung eines engen Begriffs von Rechtstheorie, etwa i. S. einer Rechts(norm)theorie, wie ihn die strukturierende Rechtslehre gebraucht, oder in einem etwas weiteren Sinn als Theorie des juristischen Urteilens, nicht unüblich. Nichtsdestotrotz soll hier das Problem einer unterschiedlichen Verwendung desselben Begriffs nach Möglichkeit vermieden werden. „Recht“ als situationelles Recht i. e. S. wird hier daher in Anführungszeichen gesetzt und nur noch dann verwendet, wenn es in der Relation „Moral – Politik – ,Recht‘“ in Erscheinung tritt. Ansonsten, das kommt auch dem integrativen Ansatz dieser Untersuchung zugute, soll „Recht“ stets auf den Kontext des Ganzen verweisen und, sofern bestimmte Abstraktionsstufen infrage stehen, von Judikation und Legislation (Recht i. e. S.), Konstitution (Recht i. m. S.) und Justifikation (Recht i. w. S.) die Rede sein. Zu jeder dieser Perspektiven auf die Ordnung des (demokratischen) Zusammenlebens lässt sich eine dogmatische, eine theoretische und eine philosophische Reflexion legitimatorisch-methodischen Anspruchs in Beziehung setzen. Die dogmatische Perspektive reflektiert die Legitimität des jeweiligen Themenbereichs aus einer juristisch-dogmatischen Sicht nach den Regeln dieser wissenschaftlichen bilität von Begriffen entscheidend ist demgegenüber der kontextbezogene praktische Spracherfolg. 169 Zum Verhältnis zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen, das diese Unterscheidung besser trifft, V. 1. a). 170 Einen solchen Anschluss erlauben dagegen Kurt Seelmann und Klaus F. Röhl, wenn sie mit dem Verweis auf die Doppelspurigkeit des Verhältnisses von Recht und Moral auch den vertikalen Aspekt hervorheben: Seelmann, Rechtsphilosophie (42007), S. 70 – 73; Röhl, Allgemeine Rechtslehre (22001), S. 270 f.
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III. Jurisprudenz und Ethik: Zwischenu¨berlegungen
Abbildung 13: Ein integrativer Rechtsbegriff
Kunst. Der Dogmatik-Begriff findet in der Jurisprudenz ohne Weiteres Anschluss, er ist dort in genau dem genannten Sinne etabliert.171 Im Verhältnis zu theoretischen und philosophischen Ansätzen handelt sich dabei um die konkreteste Form legitimatorischer Reflexion.172 Juristisch dogmatisch vorzugehen, heißt, das Recht in einer engen Beziehung zum geltenden Recht zu bearbeiten. In der theoretischen Reflexion wird der Rahmen des geltenden Rechts jedoch z. T. überstiegen. I. d. S. meta-dogmatischer Theorie bleibt der institutionell-gesetzliche Rahmen des geltenden Rechts zwar weiterhin im Blick, zugleich wird aber versucht, diesen Rahmen seinerseits in ein größeres, abstrakteres Theoriefeld zu setzen. Dieser Ansatz wird durch den philosophischen noch um eine weitere Stufe abstrahiert. Die Legitimationsmethodik entfernt sich in diesem Bereich sehr weit von den Texten des geltenden Rechts. Der Legitimationsansatz operiert dort mit abstraktesten philosophischen Kategorien. Dieser philosophische legitimatorische Anspruchsbereich kann als „ethisch“ bezeichnet werden, der dem „juristischen“ am anderen Ende der Methodik-Achse gegenübersteht. Der theoretische Anspruch kann als „juristisch-ethischer“ Zwischenbereich betrachtet werden.173 171 Zur Aufgabe und zum Interesse der juristischen Dogmatik Mastronardi, Juristisches Denken (22003), Rn. 743 und insb. Rn. 864 – 873. 172 D. h. nicht, dass hier behauptet wird, die juristische Sprache sei eine ausnehmend konkrete. Die landläufige Meinung zur Sprache der Rechtswissenschaft geht ja bekanntlich in die entgegensetzte Richtung. Im Vergleich zum Reflexionsniveau der Theorie und der Philosophie kann sie aber als konkreter bezeichnet werden. 173 Nochmals: Dieser Zwischenbereich ist nicht mit dem Anspruch dieser Untersuchung einer ethisch-juristischen Legitimation des demokratischen Rechts zu verwechseln. Der interdisziplinäre Anspruch dieser Arbeit zielt auf eine sowohl juristische als auch ethische Legitimation, während der juristisch-ethische Ansatz zwischen („reiner“) juristischer und („reiner“)
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Wie die thematischen Anspruchsbereiche stehen die methodischen Anspruchsbereiche in einem Abstraktions- bzw. Konkretionsverhältnis zueinander. Ralph Christensen und Hans Kudlich beschreiben die Beziehung zwischen Dogmatik, Theorie und Philosophie des Rechts so: „Das Tun der Gerichte wird normalerweise vom dogmatisch arbeitenden Teil der Rechtswissenschaft begleitet. [ . . . ] Bei ihrem Tun werden die Dogmatiker wiederum beobachtet von den Rechtstheoretikern. Und schließlich sollte man die (Rechts-)Philosophen nicht vernachlässigen, die wiederum den Beobachter bei der Beobachtung des Nichtbeobachtbaren beobachten oder knapp ausgedrückt, sie betrachten das Passieren des Gerechtigkeitsproblems im Rechtssystem. Diese verschiedenen Beobachter stehen in keinerlei hierarchischem Verhältnis und lassen sich natürlich auch nicht sinnvoll trennen. Deswegen macht eine Beobachtung von Gerichten nur Sinn, wenn sie alle drei Perspektiven miteinander kombiniert.“174 Dass sich Dogmatik, Theorie und Philosophie „nicht sinnvoll trennen lassen“, muss allerdings in dem Maße präzisiert werden, wie hier der Versuch unternommen wird, diese Anspruchsbereiche zum Zweck einer interdisziplinären Integration vertikal zu differenzieren. In jeder Hinsicht zu unterstreichen ist dagegen zum wiederholten Male, dass diese vertikale Differenzierung keine Hierarchie von der Philosophie zur Dogmatik bedeutet. Um das auch zu veranschaulichen, wird dem zuvor in der Interdisziplinarität-Debatte eingebrachten Vorschlag gefolgt, die Methodik-Achse von Anfang an in die Horizontale zu legen175. In der gegenseitigen Beziehung der Thematik-Achse und der Methodik-Achse ergeben sich so neun potenzielle Disziplinenfelder. Im sowohl aus thematischer wie aus methodischer Sicht abstraktesten Feld („Nordost“) lässt sich die „Moralphilosophie“ einordnen. Ihr Anspruch bezieht sich auf die zeitlich und räumlich entgrenzte Legitimation des Zwischenmenschlichen aus einer philosophischen Perspektive. Wird dieser Anspruch in thematischer Hinsicht um eine Stufe konkretisiert, sodass sich der philosophische Legitimationsanspruch nur noch auf eine in Raum und Zeit zu verortende Gemeinschaft bezieht („Ost“), so lässt sich dieses Feld als „politische Philosophie“ bezeichnen. Wird dasselbe Thema in einer methodisch konkreteren Perspektive angegangen („Mitte“), so führt das zum Anspruchsbereich der „Verfassungstheorie“, in dem philosophisch-ethische Kategorien zwar noch verwendet werden, zugleich aber versucht wird, diese mit konkreten Institutionen des geltenden Rechts zu verknüpfen. Wird dieser mesoskopische ethischer Legitimation gelegen ist. Die Umkehrung der Wortbestandteile soll diesen Unterschied markieren. 174 Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 431. Die Beobachtung muss dabei als Teilnahme verstanden werden. Christensen und Kudlich geht es um „[d]ie Frage, wann die Begründung einer Rechtsanwendung den an sie zu stellenden Anforderungen gerecht wird“: ebd., S. 19. Zur (nicht-hierarchischen) Reflexionskaskade von Rechtsdogmatik, -theorie und -philosophie auch Mastronardi, Juristische Methode und Rechtstheorie (2009); ders., Angewandte Rechtstheorie (2009). In Bezug aufs Verhältnis zwischen Rechtsdogmatik und Rechtstheorie Rüthers, Rechtstheorie (32007), S. 15, Rn. 23. 175 III. 2. b), (2).
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III. Jurisprudenz und Ethik: Zwischenu¨berlegungen
Blick auf das Recht methodisch noch um eine weitere Stufe konkretisiert („West“), so wird das Feld der „Verfassungsdogmatik“ erreicht. In der thematisch konkretesten Perspektive dieses Disziplinenrasters, die Judikation, also das rechtliche Urteilen im konkreten Fall ansprechend, befindet sich im dogmatischen Bereich („Südwest“) die „Urteilsdogmatik“, die auch „Prozessrechtsdogmatik“ heißen könnte. Eine schrittweise Abstraktion dieser Herangehensweise an die Judikation („Süd“ und „Südost“) führt sodann zum Feld der „Urteilstheorie“ und zum Feld der „Urteilsphilosophie“. Das Anspruchsfeld der juristischen Methodik nimmt schließlich eine Sonderstellung ein, es befindet sich sozusagen in der Mitte zwischen Verfassungsdogmatik, Verfassungstheorie, Urteilsdogmatik und Urteilstheorie und hat an all diesen Disziplinen teil („Mitte – Südwest“).
Abbildung 14: Ein interdisziplina¨rer Kommunikationsraum
Diese Ausfüllung des Disziplinenrasters bedarf in der einen und anderen Hinsicht noch der Vertiefung. Zunächst fällt auf, dass das dogmatische und das theoretische Feld in makroskopischer Perspektive („Nordwest“ und „Nord“) unbesetzt bleiben. Erklären lässt sich das mit der spezifischen Justierung der Makroperspektive: Diese soll sich auf die Justifikation als die Ordnung des menschlichen Zusammenlebens in einer zeitlich und räumlich entgrenzten, i. d. S. also völlig dekontextualisierten Sicht beziehen. Da der dogmatische Ansatz nun aber definitionsgemäß an den Kontext des geltenden Rechts gebunden ist und auch der theoreti-
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sche Ansatz zumindest teilweise mit der dogmatischen Sicht verknüpft bleibt, werden i. d. S. makroskopische dogmatische und theoretische Ansprüche auch nicht erhoben. Erst eine philosophische Herangehensweise, die sich vom dogmatischen Kontext maximal distanziert, nimmt das Thema im Rahmen der Moralphilosophie auf. Sodann handelt es sich insbesondere bei der Urteilstheorie und der Urteilsphilosophie (jedenfalls im Kontext rechtlicher Legitimation) nicht um etablierte Disziplinen. Sie sollen das rechtliche Urteilen im konkreten Fall, so wie es etwa eine weit verstandene Prozessrechtsdogmatik im dogmatischen Bereich praktiziert, in einer weiteren theoretischen und philosophischen Perspektive erfassen. In einer interdisziplinären Theorie demokratischer Legitimation spielen sie eine entscheidende Rolle, weil sie zwei wichtige, bisher zu wenig analysierte Verbindungsstücke zwischen Jurisprudenz und Ethik darstellen. Die Sonderstellung der juristischen Methodik lässt sich schließlich am besten mit ihrer operativen Stellung in der Rechtswissenschaft erklären. Die juristische Methodik ist der innerhalb der Rechtswissenschaft zentrale Reflexionsort, an dem die juristische Praxis im Kontext von Verfassungs- und Prozessrechtsdogmatik sowie Verfassungs- und Urteilstheorie reflexiv aufgestuft wird.176 Die eingesetzten Disziplinen lassen sich der doppelt vertikalen Differenzierung des Rasters entsprechend wieder unter zwei mal drei Oberdisziplinen zusammenfassen. So können die (potenziellen) Disziplinen, die das Recht in thematisch abstraktester Hinsicht als Justifikation ansprechen, also um die Rechtfertigungsbedingungen menschlicher Interaktion überhaupt bemüht sind („nördliche Quere“), der Oberdisziplin „Theorie der Justifikation“ oder „Justifikationstheorie“ zugeordnet werden. Aus den soeben dargelegten Gründen lässt sich darunter sinnvollerweise nur die Moralphilosophie fassen. Die Disziplinen, die auf einer mittleren Ebene das Recht als Konstitution in einem thematisch mittleren, politischen Sinn in den Blick nehmen, die Verfassungsdogmatik, die Verfassungstheorie und die politische Philosophie („mittlere Quere“), lassen sich unter einer Oberdisziplin mit dem Namen „Konstitutionstheorie“ oder „Theorie der Konstitution“ zusammenführen. Sie fasst all die Disziplinen zusammen, die die rechtliche Verfassung einer politischen Gemeinschaft im Ganzen behandeln.177 Die Urteilsdogmatik, die Urteilstheorie und die Urteilsphilosophie („südliche Quere“) gehören schließlich der Oberdisziplin „Judikationstheorie“ oder „Theorie der Judikation“ an, die sämtliche Disziplinen in sich vereinigt, die das Recht als Judikation in der konkreten 176 Vgl. die Darstellung des Zusammenhangs der „vier Arbeitsfelder der Strukturierenden Rechtslehre“, Rechts(norm)theorie, Dogmatik, Methodik und Verfassungslehre, in Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 431 – 439. 177 Der Theorie-Begriff der Theorie der Konstitution unterscheidet sich dabei vom spezifischen Theorie-Begriff der Verfassungstheorie, die die Verfassungsproblematik in einer meta-dogmatisch-theoretischen Perspektive angeht. Die Unterscheidung könnte auch mithilfe der Zusätze „i. w. S.“ (Konstitutionstheorie) und „i. e. S.“ (Verfassungstheorie) angegeben werden. Hier soll die Verwendung des Fremdworts in der Oberdisziplin den Unterschied markieren. Zum Begriff der Verfassung V. 1., insb. V. 1. b); ausführlich Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 137 – 189, Rn. 417 – 586, insb. S. 138 – 142, Rn. 421 – 435.
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III. Jurisprudenz und Ethik: Zwischenu¨berlegungen
Situation des rechtlichen Urteilens behandeln.178 All diese Oberdisziplinen179 lassen sich überdies nochmals in einer integrativen „Theorie der Legitimation“ vereinigen. Erst diese nimmt alle drei Abstraktionsstufen rechtlicher Legitimation gemeinsam in den Blick, und von diesem Sinn von integrativer (demokratischer) Legitimation ist hier die Rede, wenn gesagt wird, es werde eine interdisziplinäre Theorie demokratischer Legitimation angestrebt. Auch in methodischer Hinsicht lassen sich die verwendeten Disziplinen Oberdisziplinen zuordnen. Sie folgen der bereits erläuterten (Abstraktions-)Kaskade von Rechtsdogmatik, Rechtstheorie und Rechtsphilosophie, immer in Verwendung eines integrativen Rechtsbegriffs: Die Disziplinen, die einen dogmatischen Anspruch erheben, die Verfassungsdogmatik und die Urteilsdogmatik („westliche Länge“), können unter der Oberdisziplin der „Rechtsdogmatik“ zusammengeführt werden, die Verfassungstheorie und die Urteilstheorie können aufgrund ihres metadogmatischen, theoretischen Anspruchs („mittlere Länge“) der „Rechtstheorie“ zugeordnet werden,180 und die Moralphilosophie, die politische Philosophie sowie die Urteilsphilosophie („östliche Länge“) der „Rechtsphilosophie“. Diese Strukturierung kann auch als eine Stellungnahme zur verbreiteten Unklarheit über die Verwendung der Disziplinenbezeichnungen Rechtstheorie und Rechtsphilosophie gelesen werden.181 Um Rechtstheorie und Rechtsphilosophie überhaupt noch unterscheiden zu können,182 ohne der einen oder anderen aber schon eine bestimmte Logik (sondern nur erst einen anderen Anspruch) zu unterstellen,183 ist es hilfreich, die Differenzierung graduell beim Abstraktionsniveau der Reflexion anzusetzen. Vgl. mutatis mutandis das zur Theorie der Konstitution Gesagte: Fn. 177. Eine andere denkbare Nomenklatur dieser Oberdisziplinen könnte sich an den erwogenen Rechtsrelationsbegriffen Moral, Politik und „Recht“ ausrichten. Dementsprechend ließe sich vom Abstrakten zum Konkreten von „Moraltheorie“, „politischer Theorie“ und „Rechtstheorie“ sprechen. Angesichts der Schwierigkeiten, die diese Relationierung von Moral, Politik und „Recht“ insb. für den Rechtsbegriff mit sich bringt, wird hier jedoch am Rückgriff auf die etwas anders gelagerten thematischen Abstraktionsstufen Justifikation, Konstitution und Judikation festgehalten. 180 Diese Oberdisziplin könnte auch den Namen „allgemeine Rechtslehre“ tragen. Vgl. Rüthers, Rechtstheorie (32007), S. 14, Rn. 20; Röhl, Allgemeine Rechtslehre (22001), S. 3 f.; von der Pfordten, Rechtsethik (2001), S. 20. Ralf Dreier bevorzugt den Ausdruck „Allgemeine Rechtstheorie“: Dreier, Was ist und wozu Allgemeine Rechtstheorie? (1975), insb. S. 19 f. 181 Zu den Abgrenzungsschwierigkeiten der Rechtstheorie von der Rechtsphilosophie je m.w.H.: Kaufmann, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtsdogmatik (72004), S. 8 – 10; Dreier, Was ist und wozu Allgemeine Rechtstheorie? (1975), S. 23 – 32; von der Pfordten, Rechtsethik (2001), S. 18 – 21. Ferner der ganze Band Roellecke (Hrsg.), Rechtsphilosophie oder Rechtstheorie? (1988). 182 Bernd Rüthers z. B. hält nicht nur Rechtstheorie und allgemeine Rechtslehre, sondern auch Rechtstheorie und Rechtsphilosophie für „weitgehend austauschbar“: Rüthers, Rechtstheorie (32007), S. 14, Rn. 20. Zur Indifferenz neigend auch Kaufmann, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtsdogmatik (72004), S. 10. 183 Etwa einer analytischen oder realistischen. Dazu der rechtstheorie-historische Überblick samt Einleitung in Dreier, Was ist und wozu Allgemeine Rechtstheorie? (1975), S. 5 – 13, m. w. H. 178 179
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Die vorherrschende Alternative, die Trennlinie zwischen Rechtstheorie und Rechtsphilosophie mithilfe der tendenziellen Form-Bezogenheit und Ermittlung der Funktionsbedingungen der einen und der tendenziellen Materie-Bezogenheit und Ermittlung der Gerechtigkeitsbedingungen der anderen zu ziehen,184 hat den Nachteil, eine strikte Trennbarkeit von Form und Materie, Funktion und Legitimation zu suggerieren.185 Demgegenüber lässt die hier vorgeschlagene Anordnung von Rechtstheorie und Rechtsphilosophie von vornherein jeweils sowohl für legitimatorische als auch für funktiologische bzw. soziologische Ansätze Raum und eröffnet die Möglichkeit einer (nicht-hierarchischen) mehrstufigen Reflexion. Zudem kann diese mehrstufige Reflexionspraxis für sich in Anspruch nehmen, dass sie bereits erfolgreich praktiziert wird.186 Anhand dieser drei Oberdisziplinen lassen sich „Jurisprudenz“ und „Ethik“ auf einer noch weiteren Integrationsstufe als die Oberdisziplinen verstehen, die Rechtsdogmatik, Rechtstheorie und Rechtsphilosophie gemeinsam umfassen, wobei die Jurisprudenz zur Dogmatik und die Ethik zur Philosophie tendiert. Der hybride Zwischenbereich der Rechtstheorie ist, institutionell-organisatorisch gesehen, bisher in der Hand der Juristinnen und Juristen. An philosophischen Fakultäten wird sich die Verfassungstheorie oder gar etwas Ähnliches wie die (Rechts-)Urteilstheorie jedenfalls nur selten finden lassen, viel eher aber an juristischen und (zumindest in Bezug auf die Verfassungstheorie) politologischen. Während sich die (institutionell organisierte) philosophische Ethik gerne aufs Abstrakte beschränkt und auch in thematischer Hinsicht i. d. R. nicht konkreter als beim Feld der politischen Philosophie ansetzt, ist die rechtswissenschaftliche Praxis eher geneigt, über den Rahmen des geltenden Rechts hinaus zu blicken. Das mag daran liegen, dass die Reflexion des eigenen Tuns, in diesem Fall des juristischen, eher dazu anhält, das Abstraktionsniveau zu heben. Juristinnen und Juristen, die ihre eigene Praxis theoretisieren wollen, begeben sich daher i. d. R. auf ein mindestens rechtstheoretisches Niveau. Der Weg kann aber auch in die umgekehrte Richtung eingeschlagen werden, es kann durchaus auch versucht werden, das Abstrakte im Konkreteren zu erproben. Tatsächlich sind die abstrakten Konstrukte sogar nur dann gerechtfertigt, wenn diese Konkretisierungsprobe gelingt. Deshalb täten auch Philosophinnen und Philosophen gut daran, den Kontakt zu einem wenigstens mittleren Bereich theoretischer Reflexion zu suchen. Denn gerade dort findet der hybride Übergang zu den Praxen und Institutionen des Rechts statt, deren kritische philosophische Reflexion sie für sich in Anspruch nehmen. Die differenzierte Darstellung des Disziplinenrasters macht auch klar, weshalb eine Untersuchung, die den Anspruch erhebt, eine sowohl juristische als auch ethi184
Rüthers, Rechtstheorie (32007), S. 14 f., Rn. 21 f.; Seelmann, Rechtsphilosophie (42007),
S. 1 f. 185 Vgl. die kritischen Anmerkungen in Kaufmann, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtsdogmatik (72004), S. 10; ähnlich Röhl, Allgemeine Rechtslehre (22001), S. 4 f. 186 Fn. 174. Freilich soll auch der (kritisch zu würdigende) Erfolg dieser Untersuchung dieses Argument stützen.
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sche Legitimation demokratischen Rechts auszuarbeiten, zunächst also eine disziplinäre Integration in methodischer Hinsicht zum Ziel hat, auch in thematischer Hinsicht ausholen muss. Insofern die ethische Herangehensweise naheliegender-, jedenfalls traditionellerweise im äußerst abstrakten Feld der Moralphilosophie beginnt, der juristische Ansatz jedoch maßgeblich vom zentralen Feld juristischer Selbstreflexion, also der juristischen Methodik ausgehen sollte, ist der disziplinäre Aktionsraum methodisch wie thematisch bereits von Anfang an weit gesteckt. Zwischen der juristischen Methodik und der Moralphilosophie besteht nicht nur eine Kommunikationslücke in Bezug auf das Reflexionsniveau der Legitimationsmethodik, sondern auch in Bezug auf das Abstraktionsniveau ihres Themas. Um einen konstruktiven interdisziplinären Diskurs führen zu können, müssen Jurisprudenz und Ethik zwar einerseits entlang der Achse „Dogmatik – Theorie – Philosophie“ aufeinander zugehen, andererseits aber auch entlang der Achse, die das Problem des rechtlich geordneten Zusammenlebens bzw. der demokratischen Legitimation in der Vertikalen integriert. Das macht insbesondere eine Auseinandersetzung in einem mittleren disziplinären Themenbereich, der hier unter dem Titel der Konstitution eingeführt worden ist, nötig. Ein Fehler von Alexys ethisch-juristischem Verknüpfungsversuch liegt gerade darin, diesen Teil des Kommunikationsraums zwischen Jurisprudenz und Ethik zu übergehen. Wenn dieser Zwischenraum jedoch nicht erschlossen wird, bleibt die Kommunikation zwischen Jurisprudenz und Ethik unterbrochen. Schließlich ist noch auf eine Vereinfachung des dargelegten Disziplinenrasters hinzuweisen. Zum Zweck der besseren Übersicht beschränkt sich die zweidimensionale Darstellung in methodischer Hinsicht auf einen legitimatorischen Ansatz, d. h. auf eine Herangehensweise, die allein die Legitimation des Rechts im Auge hat. Allerdings ist inzwischen auch deutlich geworden, dass für die Legitimation einer Praxis auch von Bedeutung ist, wie diese Praxis funktioniert. M. a. W. kann die Legitimität von etwas nicht überzeugend begründet werden, wenn nicht auch der Wirklichkeitsbereich, für den die Legitimation in Anspruch genommen wird (der Normbereich), hinreichend aufbereitet worden ist. Neben der legitimatorischen Sicht sollte daher auch eine soziologische Sicht jedenfalls nicht außen vor gelassen werden. Eine solche soziologische Herangehensweise müsste dem Raster als dritte Dimension hinzugefügt werden. Diese Dimension soll der Übersichtlichkeit halber hier nur im Hintergrund bleiben. Zumal die maßgebliche Herangehensweise weiterhin in der Rechtfertigung demokratischer Legitimation besteht, soll es genügen, wenn im Weiteren in Erinnerung bleibt, dass jedem der differenzierten Felder, seinem jeweiligen thematischen wie methodischen Abstraktions- bzw. Konkretionsgrad entsprechend, noch eine soziologische Sicht hinzugefügt werden kann, die im jeweiligen Feld ebenso zum Zug kommen sollte.
3. Programm einer ethisch-juristischen Legitimationstheorie
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c) Weiteres Prozedere Es fragt sich nun, wie der weitere interdisziplinäre Weg im Einzelnen zu beschreiten ist. Die Ausgangslage ist dabei die folgende: Die Erarbeitung der interdisziplinären, d. h. ethischen wie juristischen Theorie demokratischer Legitimation hat mit einer juristisch-methodischen Diskussion begonnen. Diese Diskussion hat zutage gefördert, dass es mit der strukturierenden Rechtslehre zwar gelingt, das demokratische Recht in seiner situationellen Ausprägung, insbesondere als Judikation, juristisch zu legitimieren. Mithilfe der strukturierenden Rechtslehre allein gelingt es aber nicht, eine juristisch wie ethisch überzeugende Theorie demokratischer Legitimation zu konzipieren. Der Perspektivenwechsel zur Moralphilosophie hat das interdisziplinäre Spektrum von Jurisprudenz und Ethik dann gewissermaßen abgesteckt. Es hat sich gezeigt, dass die Diskursethik als moralphilosophische Konzeption zwar in der Lage ist, den moralischen Standpunkt, also die ethischen Bedingungen normativer Rechtsfertigung schlechthin, der Justifikation, auf nachmetaphysischem Begründungsniveau überzeugend zu explizieren. Gerade am konkreten Problem legitimer Judikation hat sich jedoch gezeigt, dass auch die Diskursethik, mit ihrem universellen Anspruch, allein nicht dazu in der Lage ist, die Legitimation demokratischen Rechts zu besorgen. Die strukturierende Rechtslehre und die Diskursethik füllen zwar immerhin die spezifischen disziplinären Felder, in denen sie sich bewegen, aus. Für die Zwecke dieser Untersuchung bilden die beiden Konzeptionen jedoch lediglich die (wichtigen) Ausgangsfelder eines größeren, noch zu erschließenden Kommunikationsraums, der Jurisprudenz und Ethik umfasst. Für die Kontextualisierung von Jurisprudenz und Ethik kommen prinzipiell sämtliche weiteren Disziplinen infrage, die in dem definierten Raum verortet werden können: die politische Philosophie und die Urteilsphilosophie, die Verfassungstheorie und die Urteilstheorie sowie die Verfassungsdogmatik und die Urteils- bzw. Prozessrechtsdogmatik. Im Raum zwischen der Moralphilosophie und der juristischen Methodik liegen dabei die politische Philosophie, die Verfassungstheorie, die Urteilstheorie und die Urteilsphilosophie. Für das weitere Prozedere wird nun vorgeschlagen, den Fokus auf den Zwischenraum zwischen den beiden Ausgangsdisziplinen zu setzen und das Projekt einer ethischen wie juristischen Legitimation auf diesen Teil des Gesamtraums zu beschränken. Diese Fokussierung lässt sich zum einen dadurch rechtfertigen, dass die größten Probleme der Integration des juristischen und des ethischen Legitimationsansatzes, das haben die bisherigen Diskussionen bereits hervorgebracht, genau in diesem Übergangsbereich einerseits von der Rechtstheorie zur Rechtsphilosophie und andererseits von der Justifikations- über die Konstitutions- zur Judikationstheorie (oder umgekehrt) liegen.187 Zum andern kann sich eine solche Konzentration, die ja in der Konsequenz in der Aussparung des rechtsdogmatischen Raums besteht, dank der 187 Zudem kann diese ins Abstraktere rückende Begegnung von Jurisprudenz und Ethik auch aus einer institutionell-organisatorischen Sicht gerechtfertigt werden, insofern der juristisch-ethische Hybridbereich der Rechtstheorie eher von Juristinnen und Juristen besetzt ist.
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III. Jurisprudenz und Ethik: Zwischenu¨berlegungen
Abbildung 15: Ausgangslage fu¨r das weitere Prozedere
strukturierenden Rechtslehre auf einen starken Bezug zur Rechtsdogmatik abstützen. Sofern es gelingt, die juristische Methodik in der Konzipierung der strukturierenden Rechtslehre mit der Rechtstheorie und der Rechtsphilosophie zu verknüpfen, bleibt auch die Kommunikation mit der Dogmatik zumindest implizit intakt. Für die Zwecke dieser Untersuchung soll es also genügen, wenn es gelingt, den Zwischenraum zwischen der juristischen Methodik und der Moralphilosophie auszufüllen. Ins Blickfeld des Folgenden rücken damit die Felder der politischen Philosophie und der Verfassungstheorie sowie die Urteilstheorie und die Urteilsphilosophie. Das weitere Problem besteht nun darin, zu klären, wie die interdisziplinäre Theorie am besten angegangen werden kann. Eine methodologische These für dieses Problem könnte lauten, dass sich Disziplinen bzw. disziplinäre Konzeptionen umso einfacher miteinander verknüpfen lassen, je näher sie beieinander liegen. So sind etwa die Chancen, dass eine Konzeption der politischen Philosophie und eine verfassungstheoretische Konzeption erfolgreich miteinander kommunizieren, größer als die einer direkten Kommunikation zwischen der Moralphilosophie und der juristischen Methodik. Die Verständigung zwischen Disziplinen mit derart differenten Ansprüchen, ist einem hohen Risiko ausgesetzt. Über eine interdisziplinäre Theorie werden sie sich erst dann richtig verständigen können, wenn der zwischen ihnen liegende Kommunikationsraum lückenlos erschlossen worden ist. Insbesondere Alexys Versuch, die Diskursethik unvermittelt an die juristische Methodik anzuschließen, ist gerade deshalb großen Schwierigkeiten ausgesetzt, weil er mindes-
3. Programm einer ethisch-juristischen Legitimationstheorie
233
tens ein solches kommunikatives Brückenstück vermissen lässt, das die Logik einer moralphilosophischen Konzeption für die Logik einer juristisch-methodischen Logik anschlussfähig machen könnte. Ohne solche Zwischenräume fehlt der Verständigung ein Plausibilitätsraum. Eine weitere These für ein gelungenes Vorgehen zur Konzipierung der interdisziplinären Theorie könnte ferner lauten, dass Konzeptionen, die, bezogen auf den hier verwendeten Disziplinenraster, in gerader Linie in disziplinärer Nachbarschaft zueinander stehen, leichter miteinander verknüpft werden können, als benachbarte Konzeptionen, die diese Voraussetzung nicht erfüllen. Der Grund dafür liegt im Problem der disziplinären Übersetzung: Der Disziplinenraster impliziert zwei mögliche Arten von Konkretisierungs- bzw. Abstrahierungsdimensionen, eine in Bezug auf die Thematik, das (demokratische) Recht, und eine in Bezug auf die Methodik, in erster Linie die Legitimation des Rechts. Eine disziplinäre Nachbarschaft in gerader Linie, z.B. (vertikal) zwischen der Moralphilosophie und der politischen Philosophie oder (horizontal) zwischen der politischen Philosophie und der Verfassungstheorie, verlangt nun immer nur einen eindimensionalen Konkretisierungs- bzw. Abstrahierungstransfer, während eine „schräge“ Nachbarschaft, etwa zwischen der Moralphilosophie und der Verfassungstheorie, eine doppelte Transferleistung nötig macht (sowohl vertikal, das Abstraktionsniveau des Themas betreffend, als auch horizontal, das Reflexionsniveau der Methode betreffend). Die „These der geraden Nachbarschaft“ soll freilich nicht behaupten, andere Vorgehensweisen seien hoffnungslos zum Scheitern verurteilt. Sie besagt lediglich, dass, wenn eine Alternative besteht, ein solcher Weg als aussichtsreicher erscheint und deshalb bevorzugt werden sollte. Die Einschränkung des Disziplinenraums auf die Rechtstheorie und die Rechtsphilosophie bringt auch mit sich, dass die juristische Methodik nicht mehr als ganze Disziplin in Erscheinung tritt, sondern nur noch im Kontext der Verfassungstheorie und insbesondere der Urteilstheorie vertreten ist. Die Aufgabe, die Moralphilosophie an die juristische Methodik anzuschließen, wird deshalb darin liegen, einen Weg zwischen der Moralphilosophie und der Urteilstheorie zu beschreiten und dabei auch die Verfassungstheorie zu passieren. Nun fragt sich, bei welcher Disziplin als Nächstes zu beginnen ist, bei der politischen Philosophie (im Anschluss an die Moralphilosophie), bei der Verfassungstheorie oder bei der Urteilstheorie (jeweils im Anschluss an die juristische Methodik). Insofern von prinzipiell gleichberechtigten Disziplinen auszugehen ist, dürfte diese Entscheidung eigentlich keine Rolle spielen. Eine der größten Aufgaben dieser Untersuchungen ist es jedoch, die abstrakte Moralphilosophie auf eine mittlere thematische Ebene der Konstitution zu bringen. Auf dieser Ebene hat die juristische Methodik in der Verfassungstheorie immerhin schon einige Spuren hinterlassen. Weil diese Konkretisierung der Moralphilosophie eine besonders große Aufgabe darstellt, wird die Untersuchung zunächst beim Feld der politischen Philosophie fortgesetzt. Ferner kann gefragt werden, welche Alternative, den weiteren Weg von der politischen Philosophie aus zu gehen, vorzuziehen ist, die direkte über die Verfas-
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III. Jurisprudenz und Ethik: Zwischenu¨berlegungen
sungstheorie („politische Philosophie – Verfassungstheorie – Urteilstheorie“) oder die über die Urteilsphilosophie („politische Philosophie – Urteilsphilosophie – Urteilstheorie“), an die der Gang zur Verfassungstheorie, so weit wie es nötig wäre, noch angeschlossen werden könnte. Da die verschiedenen Disziplinen letztlich ohnehin in ihrem Gesamtzusammenhang betrachtet werden müssen, scheint auch diese Wahl im Grunde arbiträr. Gewählt wird hier der direkte Weg über die Verfassungstheorie. Dieser hat zum einen den Vorteil für sich, den Wechsel von der Rechtsphilosophie zur Rechtstheorie möglichst bald zu vollziehen, sodass der Einwand einer philosophischen Übergewichtung rasch aus dem Weg geräumt werden kann. Zum andern hat der Blickwechsel zur Verfassungstheorie auch den Vorteil, sich der Rechtsdogmatik anzunähern. Die Stellung der Verfassungstheorie zwischen der politischen Philosophie und der Verfassungsdogmatik lässt es zu, dass eine verfassungstheoretische Konzeption auch von der Seite der Dogmatik her zumindest auf die Probe gestellt werden kann. Eine zumindest ansatzweise Überprüfung seitens der Verfassungsdogmatik kann den durchgängigen Kommunikationsraum vom positiven Recht zur politischen Philosophie und umgekehrt aufzeigen und der verfassungstheoretischen Konzeption so zusätzliche Überzeugungskraft verschaffen.188 Der Urteilsphilosophie hingegen, die entsprechende Disziplin des alternativen Prozedere, fehlt eine ähnliche Überprüfungsmöglichkeit. Der Weg über die Verfassungstheorie ist in diesem Stadium also vorteilhafter, weil aufgrund der Anknüpfungsmöglichkeiten, die dort bestehen, die interdisziplinäre Kohärenz besser überprüft werden kann, als es beim Weg über die Urteilsphilosophie der Fall wäre. Nach diesen Überlegungen ist die zusätzliche Frage angebracht, ob eine urteilsphilosophische Konzeption für das angestrebte Ziel überhaupt notwendig ist. Die disziplinäre Kontextualisierung „Moralphilosophie – politische Philosophie – Verfassungstheorie – Urteilstheorie“ hat bereits gute Aussichten darauf, eine lückenlose interdisziplinäre Theorie demokratischer Legitimation konzipieren zu können. Die Einbindung der Diskursethik als moralphilosophische Konzeption und die entsprechende politisch-philosophische Konzeption würden dabei dem angestrebten Ziel Genüge tun, die ethische Legitimation des Rechts zu erreichen, und die Integration einer verfassungstheoretischen und einer urteilstheoretischen Konzeption, die beide zudem den Anschluss an die juristische Methodik wahren würden, würde zugleich hinreichende juristische (bzw. juristisch-ethische) Ansatzpunkte der Rechtslegitimation bereitstellen. Würde die Urteilsphilosophie aus dem Spektrum der an dieser Untersuchung beteiligten Disziplinen aber herausfallen, würde ein entscheidender Teil der Gesamtkonzeption fehlen. Unter den beteiligten Disziplinen nimmt die Urteilsphilosophie in Bezug auf die Struktur der interdiszipli188 In V. 4. soll exemplifiziert werden, dass die hier vertretene verfassungstheoretische Konzeption, die innerhalb des fokussierten Zwischenbereichs entwickelt wird, auch an die Rechtsdogmatik angeschlossen werden kann. Diese zusätzliche Kontextualisierung zur Seite der Rechtsdogmatik hin entschärft auch die Problematik der Beschränkung der weiteren Untersuchung auf die Felder der Rechtstheorie und der Rechtsphilosophie.
3. Programm einer ethisch-juristischen Legitimationstheorie
235
nären Gesamtkonzeption sogar eine besondere Stellung ein, die vor dem Hintergrund der prinzipiellen Gleichberechtigung der Disziplinen als eine Stellung prima inter pares zu deuten ist. Der Urteilsphilosophie kann eine Kardinalstellung189 in der Untersuchung zugeschrieben werden. Im Hinblick auf die erläuterte Vorgehensweise bildet die urteilsphilosophische Konzeption eine Art Feuerprobe für das gesamte Projekt. Wenn es schließlich gelingen sollte, das noch unausgefüllte, zwischen der Urteilstheorie und der politischen Philosophie situierte urteilsphilosophische Feld kohärent zu erschließen, wird, unter der Voraussetzung, dass auch der bis dorthin beschrittene Weg überzeugend gegangen worden ist, auch die überzeugende Kohärenz der Gesamtkonzeption erreicht worden sein.190 Unter diesen Voraussetzungen bietet sich folgendes Vorgehen an. Als Nächstes soll der Weg vom zuletzt betretenen Feld der Moralphilosophie fortgesetzt werden. Das bedeutet, dass als Nächstes eine Konzeption der politischen Philosophie ansteht, die sich mit der Konzeption der Diskursethik kohärent verträgt und zugleich – über weitere Konzeptionen der Verfassungstheorie und der Urteilstheorie – an die Konzeption der strukturierenden Rechtslehre anschließen kann (IV.). Sodann soll von dort aus eine Konzeption der Verfassungstheorie entwickelt werden (V.). Die Perspektive wechselt mit diesem Schritt von der ethisch-philosophischen Sichtweise zu einer juristisch-ethischen. Thematisch gesehen wird sich diese Konzeption im gleichen Bereich wie die politische Philosophie, auf einer mittleren Ebene der Konstitution bewegen. Von der Verfassungstheorie aus wird dann die Urteilstheorie angegangen werden (VI.). Auch dort wird es wieder gelten, eine kohärent an das Vorangegangene (und noch Nachkommende) anschließende Konzeption zu schaffen. Das legitimatorische Reflexionsniveau dieser Konzeption ist wie das der verfassungstheoretischen ein juristisch-ethisches, die thematische Perspektive wandert von der Mesoperspektive der Konstitutionstheorie zur Mikroperspektive, d. h. zur judikationstheoretischen des rechtlichen Urteilens. Schließlich soll dieselbe Thematik aus der Sicht der Urteilsphilosophie nochmals ethisch-philosophisch aufgegriffen werden, um die interdisziplinäre Theorie abzurunden (VII.). Das Unternehmen, den einzelnen an einer interdisziplinären Theorie beteiligten Disziplinen durch die Einnahme der jeweiligen disziplinären Perspektive gerecht zu werden, verlangt eine interdisziplinäre Weitsicht, die zwangsläufig auf Kosten disziplinärer Dichte geht. Unter diesen Vorzeichen soll der hier zur Verfügung stehende Platz, nach dem Folgenden Muster genutzt werden, das sich bereits in der 189 Lat. cardo, cardinis: der Dreh-, Angelpunkt, Scharnierstelle. Vgl. die Deutung der platonischen Kardinaltugenden in Höffe, Gerechtigkeit (2001), S. 21. 190 Jedenfalls in Bezug auf den hier verwendeten Referenzraster. Für die Konzipierung dieser Theorie ist die Besetzung des urteilsphilosophischen Feldes außerdem interessant, weil der Disziplinenwechsel von der Urteilstheorie zur Urteilsphilosophie nicht – wie sonst – (thematisch oder methodisch) konkretisierend, sondern für einmal auch (methodisch) abstrahierend vor sich geht. Auch in dieser methodologischen Hinsicht kann die Besetzung der Urteilsphilosophie der ganzen Untersuchung zusätzliche Überzeugungskraft verschaffen.
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III. Jurisprudenz und Ethik: Zwischenu¨berlegungen
Abbildung 16: Weiteres Prozedere
Interdisziplinarität-Debatte bewährt hat191. Der Einstieg in jede Disziplin soll mittels einer abstrakten konzeptuellen Orientierung erfolgen, die die konkreteren konzeptionellen Ausführungen der weiteren Diskussion vorstrukturiert (1.). Im Bewusstsein, dass Legitimation, die hier ja insgesamt und innerhalb jeder einzelnen Disziplin infrage steht, nicht auskommen kann, ohne auch den Wirklichkeitsbereich dessen, was legitimiert werden soll, zu reflektieren (Normprogramm und Normbereich sollen gewissermaßen auch in der abstrakten Theoriekonstruktion zusammenspielen), soll in jede Konzeption auch eine dem thematischen und methodischen Niveau entsprechende (kleine) Soziologie eingeflochten werden, um die konzeptuellen Vorarbeiten zunächst in funktiologischer Hinsicht zu konkretisieren (2.). Daraufhin kann das Erarbeitete, jeweils disziplinär wie interdisziplinär sorgfältig vorbereitet, zu einer legitimatorischen Konzeption verdichtet werden, die je Disziplin in ein nachvollziehbar entwickeltes Set von Prinzipien münden soll (3.). Zur Verstärkung insbesondere der interdisziplinären Kohärenz der Theorie sollen die erarbeiten disziplinären Konzeptionen bzw. einzelne wichtige Aspekte davon am Schluss jedes Kapitels zusätzlich noch mit jeweils anderen Aspekten der Gesamtkonzeption kontextualisiert werden (4.).
191
III. 2.
4. Zusammenfassung
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4. Zusammenfassung Gefragt ist zunächst, wie eine interdisziplinäre Theorie aussehen könnte, die die Anliegen der Jurisprudenz und der Ethik gleichermaßen berücksichtigt. Dabei überzeugt Robert Alexys Vorschlag, Rechtswissenschaft und Ethik in einer Theorie der juristischen Argumentation zu verschwistern, nicht. Zuerst von der Rechtswissenschaft ausgehend, ist Alexy der Meinung, die juristische Disziplin sei auf ethische Unterstützung angewiesen, weil sie in ihrer Judikationsarbeit stets auf „Wertungslücken“ u. Ä. stoße, die sie aus eigener Kompetenz nicht schließen könne. Mit der sog. Sonderfallthese will Alexy den juristischen Diskurs deshalb an den allgemeinen praktischen oder moralischen Diskurs anbinden, wonach der juristische Diskurs lediglich mit der Besonderheit der juristischen Bindung ans positive Recht als moralischer zu betrachten sei. Das dadurch aktuell werdende Verhältnis zwischen dem juristischen und dem moralischen Diskurs deutet Alexy in der Konsequenz als ein Abhängigkeitsverhältnis, in dem der juristische Diskurs moralischen Vorgaben genügen müsse. Zur Folge hat das, dass die Ethik der Jurisprudenz hierarchisch diktiert, wie zu verfahren ist, und dementsprechend fordert Alexy, den juristischen Diskurs nach Maßgabe des moralischen Diskurses einzurichten. Dieser moralische Dependenzialismus wird von Alexy jedoch unterstellt, und er ist nicht in der Lage, einen guten Grund dafür anzugeben. Außerdem lässt sich dabei feststellen, dass Alexy – wohlwissend – den „interdisziplinären“ Weg von der moralphilosophischen Justifikation zur juristischen Judikation ohne den vermittelnden Zwischenschritt über die politische Konstitution zu gehen können glaubt, wodurch ein wichtiges Stück seines Argumentationszusammenhangs aber ausgespart bleibt. Auf diese Weise lässt sich eine überzeugende ethischjuristische Legitimationstheorie nicht konzipieren. Vor dem Hintergrund dieses unbefriedigenden „interdisziplinären“ Ansatzes ist die grundsätzliche Frage angebracht, wie Interdisziplinarität praktiziert werden sollte. In einer konzeptuellen Vororientierung wird die Frage vorerst allgemein mit dem Ansatz der praktischen Integration beantwortet. In Auseinandersetzung mit einem parallelistischen oder differenzialistischen und einem assimilationistischen oder unitaristischen Gegenkonzept lässt sich mit dem Konzept der praktischen Integration die Auffassung vertreten, dass das (interdisziplinäre) Ganze weder unerreichbar bleiben muss noch als vorgegebene Einheit hingenommen werden kann. Das Ganze wird in der praktischen Interaktion der (disziplinären) Teile vielmehr erst erzeugt. Damit das Ganze, das dabei entsteht, aber überzeugt, ist es notwendig, dass die Interaktion zwischen den Teilen fair verläuft. Bei der Konstruktion des Ganzen müssen alle Einzelteile je zu ihrem Recht kommen. In einer präzisierenden soziologischen Analyse interdisziplinärer Funktionsbedingungen ergibt sich sodann, dass der Disziplinenbegriff mit dem Problem der Interdisziplinarität erst dann gewinnbringend verbunden werden kann, wenn er vom Begriff des Geltungsanspruchs her erfasst wird. So geben sich Disziplinen als thematischmethodisch differenzierte Anspruchsfelder zu erkennen, die sich zueinander in Beziehung setzen lassen und mit jeweils disziplinengerechten Logiken erschlossen
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III. Jurisprudenz und Ethik: Zwischenu¨berlegungen
werden müssen. Das interdisziplinäre Problem besteht dann darin, die verschiedenen disziplinären Ansprüche nicht nur je für sich genommen, sondern auch im Zusammenhang einzulösen. Als prozessualer Gesamtzusammenhang stellt sich der interdisziplinäre Prozess dann als kreisförmiges Wechselverhältnis zwischen transdisziplinärer Irritation und interdisziplinärer Kohärenz, zwischen disziplinärer und interdisziplinärer Gültigkeit dar. Mit diesen Orientierungen über die Funktionsbedingungen des interdisziplinären Prozesses im Rücken lässt sich schließlich ein Entwurf einer Konzeption diskursiver Interdisziplinarität erarbeiten, die, unter Rückgriff auf die diskursethischen Anforderungen an einen fairen Legitimationsprozess, die interdisziplinäre Praxis als fairen interdisziplinären Diskurs rekonstruiert. Diese allgemeinen Überlegungen zur interdisziplinären Praxis können auch für ein interdisziplinäres Programm dieser Untersuchung gewonnen werden. Ein vorgängiger kursorischer Abgleich zwischen den Konzeptionen der strukturierenden Rechtslehre und der Diskursethik, der deren disziplinären Hintergründe zur Kenntnis nimmt, zeigt zunächst auf, dass der Versuch, die strukturierende Rechtslehre und die Diskursethik interdisziplinär zu integrieren, durchaus aussichtsreich ist. In einer tiefergehenden (inter-)disziplinären Orientierung werden die verschiedenen in dieser Untersuchung implizierten Geltungsansprüche dann genauer analysiert. Auf der Grundlage der zuvor allgemeinen interdisziplinaritätstheoretischen Gedanken wird ein ethisch-juristischer Kommunikationsraum entworfen, der das legitime demokratische Recht über drei thematische und drei methodische Abstraktionsperspektiven hinweg disziplinär strukturiert. Aus den drei thematischen Abstraktionsniveaus der universellen Justifikation, der kulturellen Konstitution und der situationellen Judikation sowie aus den drei methodischen Abstraktionsniveaus der Philosophie, der Theorie und der Dogmatik lassen sich für diese Untersuchung folgende Disziplinen rekonstruieren: neben der juristischen Methodik und der Moralphilosophie die Verfassungsdogmatik und die Urteilsdogmatik, die Verfassungstheorie und die Urteilstheorie sowie die politische Philosophie und die Urteilsphilosophie. Um das Ziel dieser Untersuchung, eine überzeugende ethischjuristische Legitimationstheorie zu konzipieren, erreichen zu können, gilt es im Anschluss an die juristisch-methodischen, die moralphilosophischen und die interdisziplinaritätstheoretischen Diskussionen, im Weiteren die Felder der politischen Philosophie, der Verfassungstheorie, der Urteilstheorie und der Urteilsphilosophie zu bearbeiten.
IV. Politische Philosophie: Deliberative Demokratie Die Zwischenüberlegungen zu einer interdisziplinären Theorie demokratischen Rechts haben dargelegt, dass die Integration von Jurisprudenz und Ethik im Wege mehrerer, sorgfältig miteinander zu verbindender disziplinärer Teilschritte vorzunehmen ist. Nachdem die Zwischenüberlegungen in einer (inter-)disziplinären Orientierung außerdem die Zusammenhänge der beteiligten Teildisziplinen ans Licht bringen konnten und ein entsprechend geeignetes Folgeprozedere ausgemacht worden ist, gilt es nach der juristisch-methodischen und der moralphilosophischen Perspektive nun, die Perspektive der politischen Philosophie einzunehmen. Die politische Philosophie oder politische Ethik stellt eine Teildisziplin der Rechtsphilosophie und damit der Ethik dar. In dieser Hinsicht teilt sie mit der Moralphilosophie den methodischen Anspruch, das Recht in allgemeinen, abstrakten Begriffen der Philosophie zu rechtfertigen. Sie unterscheidet sich von ihr allerdings dadurch, dass sie in thematischer Hinsicht nicht mehr nach der Ordnung menschlichen Zusammenlebens schlechthin, der universellen Justifikation, fragt, sondern das Recht als Sozialordnung einer bestimmten politisch-kulturellen Konstitution, hier der demokratischen, ins Auge fasst. Von der juristischen Methodik unterscheidet sich die politische Philosophie dagegen nicht nur dadurch, dass sie auf diesem immer noch recht allgemeinen thematischen Niveau der politischen Konstitution verbleibt und die Spezifika situationeller Handlungsentscheide noch undifferenziert lässt, sondern auch dadurch, dass ihr philosophisch-legitimatorischer Methodenansatz die juristische Perspektive und somit auch den Bezug zum geltenden demokratischen Gesetzesrecht noch weitgehend unberührt lässt. Für die Zwecke dieser Untersuchung muss es im Feld der politischen Philosophie gelingen, eine normative Konzeption politischer Prozesse zu entwickeln, die sich im Feld der Moralphilosophie mit der Diskursethik und (über weitere disziplinäre Schritte) im Feld der juristischen Methodik mit der strukturierenden Rechtslehre verbinden lässt. Wenn eine Politikkonzeption auf diese Weise überzeugen soll, muss sie in struktureller Hinsicht zweierlei bewerkstelligen. Zum einen muss sie eine disziplinäre Transferleistung erbringen, durch die die Logik der Diskursethik bzw. der anderen (z. T. noch zu erarbeitenden) Konzeptionen des hiesigen Kommunikationsraums auch in der politischen Philosophie zur Geltung kommt. Die zu entwickelnde politisch-philosophische Konzeption steht mit den anderen disziplinären Konzeptionen in der Pflicht interdisziplinärer Kohärenz. Zum andern darf sich die politisch-philosophische Konzeption auch nicht mit dieser interdisziplinären Kohärenzbedingung begnügen, sondern muss sich außerdem mit Erfolg ge-
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IV. Politische Philosophie: Deliberative Demokratie
gen widersprechende disziplinäre, d. h. andere politisch-philosophische Konzeptionen behaupten können. Dieses Erfordernis der disziplinären Kohärenz wird die Konzeption freilich auch dann umso besser erfüllen können, je überzeugender ihr das Anknüpfen an die anderen Disziplinen des interdisziplinären Kommunikationsraums, mit denen sie schließlich eine integrative Theorie bilden will, gelingt.
Abbildung 17: Stand der Untersuchung (IV.)
Die zu erarbeitende politisch-philosophische Konzeption muss sich nicht nur mit der Diskursethik, sondern auch mit der strukturierenden Rechtslehre ins Benehmen setzen lassen. D. h. insbesondere, dass sie legitime Strukturen einer demokratischen Politik bereitstellen muss. Diese Vorspurung ergibt sich auch aus der Anlage dieser Untersuchung, eine ethisch-juristische Theorie demokratischen Rechts erarbeiten zu wollen.1 Mit der strukturierenden Rechtslehre ist in der Diskussion der juristischen Methodik das demokratische (und rechtsstaatliche) Politikverständnis dann auch von Anfang an vorausgesetzt worden.2 Vom Feld der juristischen Methodik aus erscheint die demokratische Rechtskultur aber noch weitgehend als black box, aus der z. B. die Bindung an den Gesetzestext rechtspositivistisch (nicht: erkenntnispositivistisch) mehr oder weniger als invariable Konstante herausgenommen wird. Anders als in der juristischen Methodik (und 1 2
Einleitung 2. I. 1. a) a. A.
IV. Politische Philosophie: Deliberative Demokratie
241
in der Theorie Alexys) soll die demokratische Politikform hier jedoch nicht den Status einer Voraussetzung beibehalten, sondern ebenso einer kritischen Prüfung unterzogen und auf ihre Kohärenz mit den übrigen konzeptionellen Teilen einer juristisch und ethisch legitimen Rechtslegitimation überprüft werden. Die Konstante der Demokratie wird im Feld der politischen Philosophie, so gesehen, zu einer Variablen, die in einen überzeugenden Argumentationszusammenhang einzuarbeiten ist. Es geht darum, die (rechtspositivistische) black box demokratischer Politik auszuleuchten. Mit der Konzentration auf ein demokratisches Politikverständnis schränkt sich der Geltungsanspruch der nachfolgend zu entwickelnden Konzeption freilich auf eine bestimmte politische Kultur, nämlich die demokratische, ein. Anders als die moralphilosophische Konzeption der Diskursethik ist der normative Geltungsund Begründungsanspruch also nicht mehr universell, sondern nur noch kulturell. Moralphilosophische Konzeptionen, zumindest deontologisch ausgerichtete, müssen mit einer universellen Logik auftreten, andernfalls würden sie mit ihrem disziplinären Geltungsanspruch in Konflikt geraten. Dieser Geltungsanspruch bezieht sich jedoch zunächst nur auf den thematischen Bereich der Justifikation, des Moralischen. Wenn nun im Folgenden die Konstitution, das Politische, betrachtet werden wird, engt sich der Anspruchsbereich vom Universellen aufs Kulturelle und dort aufs Demokratische ein. In interdisziplinärer Hinsicht genügt es dann, wenn die nachfolgende Konzeption kohärent mit den universellen Postulaten der Diskursethik verknüpft werden kann. Nicht zur Debatte steht damit, ob die Demokratie als Rechtfertigungskonzept nicht nur kulturelle, sondern sogar universelle normative Gültigkeit beanspruchen kann, d. h. nicht mehr nur als Konstitutionsmodell, sondern sogar als Justifikationsmodell taugt. Das ist eine andere Frage, der nicht nur interdisziplinär, sondern auch interkulturell nachgegangen werden müsste und die keineswegs leichtfertig bejaht werden kann. Hier reicht es dagegen zunächst hin, wenn gezeigt werden kann, dass sich die Diskursethik auf die Ansprüche einer demokratischen Rechtskultur herunterbrechen lässt. Unter diesen Vorzeichen soll nun eine überzeugende Konzeption legitimer demokratischer Politik entwickelt werden. Dafür wird zunächst 1. ein konzeptueller Einstieg in die Disziplin der politischen Philosophie den Weg bereiten. Daran wird 2. eine anschlussfähige soziologische Analyse des modernen Demokratieprozesses angeknüpft werden, um dann 3. die Konzeption deliberativer Demokratie als Konzeption legitimer demokratischer Politik auszuarbeiten. Zum Schluss dieses Kapitels soll schließlich 4. noch in einer weiterreichenden Kontext-Reflexion das Verhältnis von Moral, Politik und „Recht“ auf der Grundlage des Erarbeiteten nochmals vertieft werden.
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IV. Politische Philosophie: Deliberative Demokratie
1. Demokratie-Konzepte Der Kern der „Idee der Demokratie“3 besteht darin, dass sich Herrschaft durch die Zustimmung der Betroffenen legitimiert.4 Die demokratische Kultur des Politischen kann diktatorischen und autokratischen Politikkulturen gegenübergestellt werden, bei denen sich die Herrschaft entweder gar nicht oder aus anderen Quellen als aus der der Zustimmung der Betroffenen rechtfertigen will. Das Vorverständnis von Demokratie besteht in der Herrschaft (griech. kratia) des Volkes (griech. démos). Diese äußert sich in den bekannten politischen Institutionen wie Abstimmung und Referendum, parlamentarischer Repräsentation und Gesetzgebung, gewaltenteiliger Machthemmung, freiheitlichen wie politischen Grundrechten usw. Das durch solche Intuitionen informierte Vorverständnis von Demokratie muss nun theoretisch reflektiert und der Ausrichtung dieser Untersuchung entsprechend normativ legitimiert werden. Die folgende Darlegung demokratischer Konzepte, des Liberalismus, des Republikanismus und schließlich des hier vertretenden prozeduralen Demokratie-Konzepts soll eine solche theoretische Reflexion konzeptuell vorbereiten.5 Die Darstellung der nachfolgenden Demokratie-Konzepte verfolgt mehrerlei Zwecke. Zum einen soll eine Grundlage für die zu entwickelnde normative Demokratiekonzeption geschaffen werden, indem mit der Darlegung wichtiger Grundkonzepte ein orientierender Argumentationsrahmen bereitgestellt wird,6 auf den im Weiteren zurückgegriffen werden kann. Unterschiedliche Vorstellungen von Demokratie bringen ein unterschiedliches Menschen- und Gesellschaftsbild, eine unterschiedliche Vorstellung vom Moralischen und unterschiedliche Vorstellungen davon, welchen Zielen das Zusammenleben bzw. die Ordnung des Zusammenlebens dienen soll, mit sich. Dementsprechend schließt sich jeweils auch eine unterschiedliche Vorstellung von den normativen Strukturen an, durch die die demokratische Politik verfasst werden sollte. An solchen differenten Theoremen, die sich innerhalb der konzeptuellen Typen finden lassen, kann eine eingehendere Diskussion ansetzen. Dabei wird sich zeigen, dass die Nachzeichnungen der Konzepte des Liberalismus und des Republikanismus ein Spektrum möglicher DemokratieKonzepte definieren. Ein anderer Zweck der folgenden Konzeptualisierung besteht darin, auch auf der Konzept-Ebene bereits eine legitimatorische Sondierung durchzuführen, die die Ausarbeitung der normativen Konzeption vorstrukturiert. Die Diskussion auf der konzeptuellen Ebene soll eine Eingrenzung der konzeptionellen Mastronardi, Der Zweck der Eidgenossenschaft als Demokratie (1998), S. 375. Vgl. Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 128, Rn. 402 / S. 184, Rn. 569. 5 Das Folgende lehnt sich an an Mastronardi, Demokratietheoretische Modelle – praktisch genutzt (1998). Vgl. auch ders., Der Zweck der Eidgenossenschaft als Demokratie (1998), S. 325 – 330; ders., Verfassungslehre (2007), S. 65 – 83, Rn. 202 – 276. Vgl. ferner Habermas, Drei normative Modelle der Demokratie (1996 [1992]); ders., Faktizität und Geltung (41994), S. 359 – 382. 6 Vgl. Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 266, Rn. 269. 3 4
1. Demokratie-Konzepte
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Möglichkeiten bewirken. Dabei versteht sich, dass die folgende konzeptuelle Diskussion in keiner Weise behaupten will, die dargestellten Konzepte ließen klare, einheitliche demokratietheoretische Konzeptionen unter sich vereinigen. Die vermeintlich holistische Darstellung „des“ Liberalismus wie „des“ Republikanismus kann nur ein Versuch sein, bestimmte theoretische Linien, die einander ähneln, der Übersichtlichkeit und Handhabbarkeit wegen vereinfachend zusammenzuführen. Damit erfüllt die folgende Gegenüberstellung auch einen heuristischen Zweck.
a) Machtkontrolle freier Individuen (Liberalismus) Ideengeschichtlich in der Emanzipation des Bürgertums vom absolutistischen Herrscher, der europäischen Aufklärung, in den großen Revolutionen des 18. Jahrhunderts, aber auch im Protestantismus verwurzelt, steht der „Liberalismus“ (lat. liber: frei) für freie Menschen und eine freiheitliche Ordnung. Theoriegeschichtlich stehen v.a. Thomas Hobbes, John Locke, John Stuart Mill, Max Weber und in neuerer Zeit Neoliberale wie Friedrich August von Hayek oder James Buchanan für den Liberalismus Pate. Als demokratietheoretisches Modell kann der Liberalismus als eines der einflussreichsten gesehen werden. In neuerer Zeit gewinnen einige besondere Ausprägungen des Liberalismus Profil. So kann etwa eine neoliberale und eine ordoliberale Ausrichtung des Liberalismus differenziert werden. Das Folgende sieht von den speziellen „Liberalismen“ 7, die mit je unterschiedlichen Schwerpunkten operieren, ab und führt einige Grundlinien des liberalen Demokratie-Konzepts zusammen. Der Liberalismus gründet auf einem Menschenbild, das Vernunft auf einen rationalen Egoismus zuspitzt. Der Mensch ist danach ein vorteilsbedachtes Lebewesen, dem einerseits die Definition dessen, was wahr und richtig ist, allein zusteht, und dem diese Definition andererseits auch nicht abgenommen werden kann, sie ist „in-dividuell“8. Seine Interessen richten sich auf das eigene Hab und Gut, auf die eigene Gesundheit und das eigene Leben. Allen Menschen gemeinsam dagegen ist die natur- oder gottgegebene Aufgabe, auf Grundlage des gegebenen Vernunftvermögens, der vorhandenen Talente und Güter, das eigene Glück durch Arbeit und Leistung zu maximieren. Der freie Mensch ist damit zugleich für sein Schicksal verantwortlich. Die Gesellschaft ist für den Liberalismus ein „Ort der Koexistenz autonomer Individuen“.9 Der Mensch steht seiner Gesellschaft gegenüber. Er sucht nicht etwa seine Integration in derselben, sondern versucht, die Verhältnisse, die in der Gesellschaft vorherrschen, für seine Zwecke mit Gewinn zu nutzen. Der liberale Mensch versucht, sich ein Leben nach seinen eigenen Vorstellungen zu konzipie7 8 9
Dazu Kersting, Der liberale Liberalismus (2006), S. 7 – 13. Dazu Mastronardi, Demokratietheoretische Modelle – praktisch genutzt (1998), S. 388. Mastronardi, Demokratietheoretische Modelle – praktisch genutzt (1998), S. 388.
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IV. Politische Philosophie: Deliberative Demokratie
ren.10 So herrscht in der Gesellschaft ein Pluralismus konvergierender und divergierender Lebensentwürfe unterschiedlicher Individuen, die im gegenseitigen Wettbewerb miteinander zurechtkommen müssen. Das Soziale bleibt für den Liberalismus jedoch stets eine zu bewältigende Nebenbedingung, nicht etwa eine wertvolle Zielsetzung. Die liberale Person steht vor der Aufgabe, in der Gesellschaft, in die sie hineingeworfen ist, zu bestehen und ihr Glück zu finden. Das Soziale ist der Ort, an dem sie ihre Vorstellungen von einem erfüllten Leben, das ganz auf sie selbst ausgerichtet ist, verwirklicht. Keinesfalls ist die Gesellschaft selbst die Quelle dieser Verwirklichung. Nach liberaler Auffassung definiert sich die Gesellschaft damit von vornherein als eine Wirtschaftsgesellschaft von selbstverantwortlichen Lebensunternehmerinnen und Lebensunternehmern. Allerdings ist der Ort sozialer Koexistenz von vornherein keine Stätte harmonischen Zusammenlebens. Die gleichen und unterschiedlichen Lebensentwürfe, die die Menschen in ihr entwickeln, kreuzen sich häufig in unvereinbarer Weise. Zusammen mit der Knappheit, die an lebensdienlichen Ressourcen besteht, ergibt sich daraus eine Situation der Konkurrenz und des Konflikts. In dem von Hobbes gezeichneten Naturzustand herrscht ein Krieg aller gegen alle, der Mensch ist dem Mensch ein Wolf, und das Leben ist einsam, brutal und kurz. Dieser Zustand absoluter Freiheit hat zur Folge, dass niemand mehr wirklich frei ist. Das Paradigma des Freien löst sich dadurch selber auf und wird unerreichbar. Indem im völlig ungebundenen Zustand jede Person nicht nur um ihr Hab und Gut, sondern sogar um ihre Gesundheit und ihr Leben als Voraussetzung für die Ausübung der Freiheit fürchten muss, wird die absolute Freiheit zur ständigen Gefahr und die Idee des Freien gebrochen. Es fragt sich daher, wie der Liberalismus auf das Problem der absoluten Freiheit antwortet, um immerhin das Ziel der größtmöglichen Freiheit verwirklichen zu können. Der Liberalismus muss eine Lösung bereitstellen, die die Situation der Konkurrenz und des Konflikts bewältigt. In der liberalen Tradition bieten sich zweierlei Quellen an, wie das freie Spiel der Kräfte auf eine sinnvolle Weise begrenzt und durch diese Begrenzung überhaupt gewährleistet werden kann. In der Fassung von Locke sind die Menschen mit unveräußerlichen natürlichen Rechten ausgestattet. Diese Rechte garantieren dem liberalen Menschen einen unantastbaren Raum individueller Freiheit, der ihm Kraft seines Menschseins zusteht und innerhalb dessen jeder Mensch sein individuell verstandenes Glück zu finden aufgerufen ist. Diese natürlichen Rechte garantieren dem Menschen einen unbestreitbaren Anspruch gegen das Eindringen anderer Menschen in den persönlichen Freiheitsraum. In diesem Punkt charakterisiert sich das moralische Konzept des Liberalismus zumindest für einen minimalen Freiheitskern als naturrechtlich-deontologisch. Vor dem Hintergrund des liberalen Menschenbildes ist die Konzeptionalisierung dieser liberalen Moralvorstellung im Übrigen jedoch teleologisch-utilita10 Mastronardi charakterisiert ihn darum als homo faber: Mastronardi, Demokratietheoretische Modelle – praktisch genutzt (1998), S. 388.
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ristisch. Das Eingehen von sozialen Bindungen ist nach dem Muster des Liberalismus immer ein Mittel zur Optimierung des eigenen Vorteils und der eigenen Freiheit. Das gestörte Bild von der absoluten Freiheit in der konkurrenz- und konfliktreichen Sozialsituation kann liberal nur dadurch korrigiert werden, dass i. S. der Vernunft als Eigennutzmaximierung so weit aufeinander eingegangen werden muss, wie es nötig ist, die permanente Angst um Eigentum, Leib und Leben zu reduzieren. Von der eigenen Position rückt der liberale Mensch dabei nur ab, um in eine bessere, d. h. v. a. freiere Position als die der Ausgangslage zu kommen. Zugeständnisse an die geltend gemachten Ansprüche Anderer ändern dabei nichts an der grundsätzlichen Ausrichtung des menschlichen Strebens, das weiterhin allein auf die Verwirklichung des Eigenwohls ausgerichtet bleibt. Sogar das von Locke geprägte naturrechtliche Bild von der bedingungslosen Ausstattung des Menschen mit unveräußerlichen Rechten kann mit Hobbes utilitaristisch interpretiert werden: Um der Angst um Eigentum, Leib und Leben entgegenzutreten, werden allen Menschen Rechte zugestanden, die ihnen diese Güter sichern. Aus der Sicht anderer Menschen werden diese Rechte als Pflichten zur Wahrung des gewährten Freiraums respektiert, um im Gegenzug wiederum das reziproke Recht auf Wahrung des eigenen unantastbaren Freiraums zu erhalten. Aus dem individualistischen Menschenbild, dem partikularisierten Gesellschaftsbild und dem utilitaristischen Moralkonzept ergibt sich für die Vorstellung einer Ordnung des gesellschaftlichen Zusammenlebens die Idee des Gesellschaftsvertrags. Sämtliche Strukturen sozialer Ordnung beruhen darauf, der Einzelperson einen möglichst großen Freiraum für die Erfüllung individuellen Glücks zu sichern. Eine solche Ordnung des sozialen Zusammenlebens lässt sich in einer breit angelegten gesellschaftlichen Kontraktsituation inszenieren, in dem jede Person für das Ziel ihrer größtmöglichen Freiheit in eine soziale Ordnung einwilligt, die diese Freiheiten auf Kosten anderer, weniger schützenswerter Freiheiten sicherstellt.11 Diese individualistische Interpretation der Herstellung sozialer Ordnung führt zu einem Politikverständnis, nach dem die politische Ordnung etwas ist, das dem freien Individuum gegenübersteht. Zwar sieht sich auch der liberale Mensch für seine persönliche Verwirklichung in die Gesellschaft eingebunden. Sie wird im Liberalismus jedoch als Arena der individuellen Entfaltung betrachtet, in der das eigene Ich als letzte Quelle des Glücks zurückbleibt. Dabei wird auch die Gesellschaft von der politischen Ordnung abgetrennt, die nur insofern Berechtigung hat, als sie das freie individuelle Entfalten in der Gesellschaft notwendig garantiert. Im Freiraum der Gesellschaft, d. h. innerhalb der für die individuelle Freiheit unbedingt notwendigen, politisch eingerichteten Leitplanken funktioniert nach liberaler Auffassung weiterhin das freie Spiel der Kräfte – als Wettbewerb nach dem Muster eines deregulierten Wettbewerbssystems. Die Freiheit des Individuums kann somit als „Recht zum Wettbewerb“12 bezeichnet werden. 11 Vgl. dazu bereits die entsprechenden Ausführungen und Hinweise zur Fairness-Konzeption Rawls’, II. 2. a). 12 Mastronardi, Demokratietheoretische Modelle – praktisch genutzt (1998), S. 387, Fn. 12.
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Auf diesen Grundlagen zeichnet der Liberalismus schließlich folgendes Bild demokratischer Politik. Das oberste Gebot politischer Ordnung besteht darin, die freie Ausübung individueller Lebenspläne zu gewährleisten. Politische Ordnung nimmt damit immer den Rang eines sekundären Sicherungsmechanismus primärer Entfaltungsbedürfnisse und Rechte ein. Für eine solche Ordnung ist maßgeblich, dass sie die ihr zugeschriebene Rolle nicht überstrapaziert oder missbraucht. Das Schwergewicht liberaler Ordnung liegt daher in der Begrenzung und Kontrolle kollektiv-politischer Macht. Die politische Ordnung, die um der individuellen Freiheit willen geschaffen wird, soll keine Macht usurpieren, die über ihre Minimalaufgabe hinausgeht. Mit Vertrauen in die Individualität der einzelnen Menschen bringt der Liberalismus auf der politischen Ebene auch eine Skepsis gegenüber dem entindividualisierten Kollektiv mit sich. Das liberale Schreckgespenst der Mehrheitsdiktatur besteht darin, dass eine gesellschaftliche Mehrheit auf eine über-individuelle Meinung abgleitet und diese der Minderheit auferlegen will. Nach der menschenbildlichen Grundüberlegung von der Unteilbarkeit menschlicher Lebenskonzeptionen muss der Liberalismus solchen Antiindividualismen entgegentreten. Der Liberalismus ist in der Konzipierung politischer Strukturen gehalten, die Eigendynamik kollektiver Massen in Form des Volks oder Teilen davon zu kontrollieren. Für die liberale Interpretation demokratischer Politik ergibt sich damit folgendes Bild. Die Idee der Volkssouveränität, als die Vorherrschaft des Volkes, bringt für den Liberalismus zweierlei zum Ausdruck. Zum einen soll die Volkssouveränität politische Macht an die Interessen derjenigen Individuen binden, deren Freiheit sie zu schützen berufen ist. In dieser Hinsicht ist Volkssouveränität Ausdruck des individuell-rationalen Ursprungs der politischen Macht und Ordnung. Zum andern erinnert sie an die letzte Quelle wahrer und richtiger Ansichten, das Individuum, und damit an die kollektive Unverfügbarkeit des Wahren und Richtigen. Die Entscheidungen, die das freie Spiel der Gesellschaft begrenzen dürfen, müssen sich ihrerseits in einem Wettbewerb der Meinungen mithilfe der Mehrheitsregel durchsetzen. Das Gesetz bildet für den Liberalismus die mediale Form, mit der die Entscheide der Mehrheit erfasst werden können, und ein Mittel der Bindung und Kontrolle der Ausübung politischer Macht an das von den Individuen Entschiedene. Die Grundrechte markieren dabei ein Bollwerk gegen Eingriffe in unantastbare individuelle Freiheitsräume und schaffen zugleich einen Schutz gegen die Tyrannei der Mehrheit. Die Skepsis gegen überindividuelle Kollektivismen findet ihre Ausprägung im Ruf nach professioneller Repräsentation in den demokratischen Organisationen. Aus einer ähnlichen Skepsis gegenüber dem Kollektiv und aus grundsätzlichen Überlegungen bestmöglicher Machtbeschränkungen greift der Liberalismus für die Organisation politischer Macht auch auf die Idee der Gewaltenteilung des CharlesLouis de Montesquieu zurück. Die politische Macht ist danach auf legislative, exekutive und judikative Organe zu verteilen, die sich gegenseitig kontrollieren und so ein Gleichgewicht der Mächte schaffen.
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b) Selbstregierung gleicher Bürger (Republikanismus) Der „Republikanismus“ verdankt sich ideengeschichtlich der Antike, etwa dem Gedankengut Aristoteles’, Theoretikern der italienischen Renaissance wie Niccolò Machiavelli oder Donato Giannotti, in der frühen Neuzeit dem Engländer James Harrington sowie den Amerikanern James Madison und Alexander Hamilton. Besonders herausragende Bedeutung für den Republikanismus kommt dem Denken des französischen Aufklärers Jean-Jacques Rousseau zu. Zeitgeschichtlich ist das republikanische Gedankengut eng mit der antiken und später italienischen PolisTradition und mit seit dem Mittelalter eingeprägten gesellschaftlichen Strukturen gemeinschaftlicher Verbundenheit verknüpft. In neuerer Zeit befürworten Denker wie Charles Taylor, Michael Walzer oder Alasdair MacIntyre unter dem Namen des (politischen) Kommunitarismus eine konzeptionelle Ausprägung des Republikanismus.13 Anders als der Liberalismus zeichnet der Republikanismus ein Bild vom Menschen, das nicht als einsames Individuum zur Verwirklichung seiner durch sich selbst zu konstruierenden Lebensziele aufgefordert ist, sondern betrachtet den Menschen als von vornherein mit seinem sozialen Zusammenhang verbunden. Der republikanische Mensch ist immer schon auf sein soziales Gegenüber angewiesen, ohne das er weder überleben kann noch ist, was er ist. Die liberale Vorstellung von der ungeteilten Person, der In-dividualität, die allen anderen Ideen voransteht, lehnt der Republikanismus ab. Für ihn ist das Ich ohne das Du überhaupt nicht vorstellbar. Der republikanische Mensch ist immer schon mit seiner Gemeinschaft verschwistert. Aus ihr kann er nicht ausbrechen, ohne ein konstituierendes Stück seines Selbst aufzugeben. Ohne die Gemeinschaft ist der republikanische Mensch nicht lebensfähig. Er ist auf Kooperation und Beistand angewiesen. Mensch und Gemeinschaft gehören untrennbar zusammen. Mit dieser engen Verbundenheit von Mensch und Gemeinschaft geht der für den Republikanismus zentrale Gesichtspunkt der Gleichheit einher. Insofern der Mensch als Teil seines sozialen Zusammenhangs gesehen wird und jeder andere Mensch ein Teil desselben sozialen Zusammenhangs, sind die Menschen von vornherein als gleiche Glieder derselben Gemeinschaft zu verstehen. Der Unterschied zum Gleichheitstopos des Liberalismus besteht darin, dass dem Menschen Gleichheit nicht zustehen muss, damit seine individuelle Verwirklichung gesichert ist, sondern sie zeichnet den Menschen bereits von vornherein als Gleichen unter den Anderen derselben Gemeinschaft 13 Die Terminologie zu Republikanismus und Kommunitarismus ist keineswegs einheitlich. Wie bereits in der moralphilosophischen Diskussion in II. 1. a), (3), ausführlich angemerkt, wird der Begriff des Kommunitarismus hier in erster Linie für eine moralphilosophische Teleologie-Konzeption verwendet. Der politisch-philosophische Kommunitarismus kann als eine bestimmte Konzeptionalisierung des politisch-philosophischen Konzepts des Republikanismus gesehen werden. Diese wird hier jedoch nicht weiter ausgeführt. Mit dem politischphilosophischen Konzept des Republikanismus wird dem politisch-philosophischen Demokratie-Konzept des Liberalismus ein konzeptueller Antitypus gegenübergestellt, in dem der politische Kommunitarismus enthalten ist.
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aus, bevor die Frage seiner Verwirklichung problematisiert wird. Während das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit beim Liberalismus als Abhängigkeitsverhältnis zugunsten der Freiheit betrachtet werden kann, ist die Lesart beim Republikanismus die umgekehrte. Hier definiert die Vorgabe der Gleichheit die Bedingungen der Freiheit. Die Gesellschaft ist für den Republikanismus daher nicht ein Gegenüber, in dem sich einsame Individuen ihr Glück suchen, sondern die Substanz, aus der das Ich besteht und mit der die Ziele des gemeinschaftlichen Lebens erst formiert werden und Profil gewinnen. Die Gesellschaft des Republikanismus ist geprägt von gemeinsamen Traditionen und Werten. Die Gleichheit der republikanischen Menschen spiegelt sich zu einem erheblichen Teil im Kollektiv wider. Auch wenn die republikanische Gesellschaft nicht notwendigerweise in einem homogenen Traditions- und Wertegeflecht aufgeht, so bildet doch ein starker Kern gemeinsam getragener Überzeugungen einen deutlichen fixen Fluchtpunkt. Die republikanische Gesellschaft ist eine Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft nährt sich aus einem Hintergrund einer gemeinsam geteilten Kultur und Geschichte, der Vorstellungen und Überzeugungen repräsentiert, mit denen sich die republikanischen Menschen identifizieren. Sie bilden eine Wertegemeinschaft. Noch wichtiger als ein gemeinsamer historisch-kultureller Ursprung ist, dass die Mitglieder der republikanischen Gemeinschaft – auch um ihrer eigenen Identität willen – dazu aufgerufen sind, diese Gemeinschaft gemeinsam zu gestalten. Wie der liberale Mensch strebt auch der republikanische nach Freiheit. Statt auf den einzelnen Menschen ist sie jedoch auf die Gemeinschaft zu gesamter Hand verlagert. Republikanische Freiheit wird nicht als ein hermetisch abgeschirmter Raum der ungehemmten Ermöglichung individueller Verwirklichung gesehen, sondern als kollektive Verwirklichung in der gemeinsamen sozialen Gemeinschaft Gleicher. Die Freiheit des republikanischen Menschen besteht darin, an der Gemeinschaft teilnehmen und an ihr teilhaben zu können. Erst in der Gemeinschaft wird er in einem positiven Sinne frei. Anders als beim Liberalismus versteht der Republikanismus Freiheit deshalb nicht in einem negativen Sinne, als Freiheit von Gesellschaft und Staat. In der republikanischen Gesellschaft hat der Mensch die Freiheit zu Teilnahme und Teilhabe an der Gemeinschaft. Entsprechend gemeinschaftsorientiert wie das Menschen- und Gesellschaftsbild fällt auch die republikanische Taxierung des Moralkonzepts aus. Das Moralkonzept des Republikanismus ist ein (moralisch) kommunitaristisches. Entscheidungen sind moralisch gerechtfertigt, wenn sie den der Gemeinschaft innewohnenden Werten und Traditionen entsprechen. Die Idee des Moralischen entstammt nicht individuellen Einzelinteressen, auch nicht einer aggregierten Summe davon, sondern einem originär kollektiven Gemeinschaftsideal. Auch wenn der gemeinsame normative Grund erst durch die Gestaltung der moralischen Gemeinschaft Konturen gewinnt und von ihr beeinflusst wird, sind die normativen Strukturen des Kollektivs in gewisser Weise objektiv in die Gemeinschaft eingeschrieben. Die Geschichte und die Kultur sind die Wege, auf denen sich die gemeinsamen Werte zu
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erkennen geben. Das normative Substrat der Gemeinschaft ist trotz seines objektiven Charakters für den Republikanismus zwar nicht fixiert, insofern die Mitglieder der Gemeinschaft im Wege ihrer Teilnahme an der Gestaltung der Gemeinschaft – und damit an sich selbst – mitwirken. Dennoch kann das Teilnehmen am Sozialen nicht ohne die Berücksichtigung überlieferter Werte vonstatten gehen. M. a. W. können sich republikanische Menschen ihre normativen Bindungen nicht beliebig schaffen, sondern sie sind auf die Weiterentwicklung bestimmter normativer Linien, die sie zu denen machen, die sie sind, verpflichtet. Dies äußerst sich in einer republikanischen Gemeinschaft in einem materialen Wertgefüge, das je nach kulturell-historischer Anlage der jeweiligen Gesellschaft unterschiedlich ausfallen kann. Invariant ist dabei neben dem Ziel der positiv interpretierten Freiheit lediglich der Wert der Gleichheit. Die Gleichheit gewinnt auf der Ebene des Moralkonzepts für den Republikanismus normativen Charakter. Sie ist nicht nur die faktische Verbindung zwischen den Menschen, die die republikanische Gemeinschaft von vornherein zur Schicksalsgemeinschaft zusammenschweißt, sondern auch das unabdingbare Gut, das es zu bewahren und voranzutreiben gilt, damit die Idee der kollektiven Selbstverwirklichung nicht unterminiert wird. Eine politische Ordnung zu schaffen, ist aus der Sicht des Republikanismus keine unangenehme Notwendigkeit zur Begrenzung und Ermöglichung des freien Spiels der Kräfte wie im Liberalismus, sondern die Bedingung der kollektiv verstandenen persönlichen Entfaltung. Das Mitwirken an der politischen Ordnung wird zur Teilnahme und Teilhabe an der gesellschaftlichen Gemeinschaft. Die republikanischen Menschen sind Bürger, und das Mitwirken an dieser politischen Ordnung ist eine Bürgertugend. Indem sie sich ihre politische Ordnung gemeinschaftlich schaffen, verwirklichen sie sich selbst. Die Menschen schaffen die politische Ordnung, und die politische Ordnung konstituiert die republikanischen Menschen. Nicht nur ist der republikanische Mensch ein politischer Mensch (homo politicus), sondern die politische Ordnung ist auch geradezu mit ihren Bürgern identisch. Die politische Ordnung ist eine Republik (lat. res publica: die öffentliche Sache; die Sache, die alle angeht). In ihr verwirklichen die Bürger ihre Freiheit als öffentliche Selbstgesetzgebung. Statt wie der Liberalismus Autonomie als rein private Angelegenheit zu nehmen, versteht der Republikanismus Autonomie öffentlich. Freiheit besteht nicht darin, sich sein Lebensglück im privaten Raum nach eigenen Gesetzen zu schustern, sondern darin, sich in der öffentlichen Ausübung des Politischen gemeinsam die Gesetze zur Erreichung des kollektiven Gemeinwohls zu geben. Mit der Ablösung der privaten Autonomie durch öffentliche Autonomie wandert der Ort der Verwirklichung der Freiheit vom privaten Individualbereich in die öffentliche Politik gleicher Bürgerinnen und Bürger. Wie die Gesellschaft ist die mit ihr verschmolzene politische Ordnung außerdem auf Konsens ausgerichtet. In der Gemeinschaft gleicher Bürgerinnen und Bürger geht es darum, gemeinsam das Gemeinwohl als das gemeinsame Gute zu bestimmen. Die politische Ordnung steht auch in der Pflicht, das Recht und die Tugend zur Teilnahme am politischen Geschehen zu begünstigen und zu schützen. Politische Ord-
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nung ist nach republikanischer Auffassung Selbstregierung. Das souveräne Volk gibt sich selbst die Gesetze, an die es sich selbst bindet und nach denen es regiert. Diese gleiche Selbstbindung aller Bürger macht sie zugleich frei. Nach Rousseau bildet der Volkswille eine kollektive Größe (volonté générale), die mehr ist als die Summe der Einzelwillen (volonté de tous). Dieser Gemeinwille des Volkes muss in der Gesamtheit gleicher Bürgerinnen und Bürger und nach Möglichkeit direkt entstehen. Aus diesem Grund setzt der Republikanismus der Skepsis des Liberalismus gegenüber gesamt-kollektiven Entscheidungen auch die Skepsis gegenüber der Repräsentation entgegen. Diese Voraussetzungen stellen die Demokratie in folgendes Licht. Volkssouveränität als öffentliche Selbstgesetzgebung ist nach Auffassung des Republikanismus Ausdruck der sich selbst regierenden Gemeinschaft. Das Gesetz bildet dabei das Einfallstor gleicher Teilhabe an der Genese des politischen Gemeinwillens. Ebenso wie alle gleichermaßen an dessen demokratischer Bestimmung teilnehmen dürfen und das Gesetz mit Inhalt versehen, befiehlt das Gesetz allen gleichermaßen, ihm zu gehorchen. Es sind dann vor allem die politischen Grundrechte, die für den Republikanismus hervorstechen. Sie sichern die gleichberechtigte Teilnahme an der Konstituierung des politischen Gemeinwillens als Bedingung der kollektiv-persönlichen positiven Freiheit. Die Grundrechte, vor allem auch die vom Liberalismus als negative Freiheitsrechte identifizierten, werden vom Republikanismus als Gleichheitsrechte interpretiert. Die Grundrechte sollen nicht einen unantastbaren Freiraum individueller Unverfügbarkeit sichern, sondern sind Ausdruck jener Gleichheit, die jeden Menschen zum gleichen Teil derselben republikanischen Gemeinschaft macht und auf der diese Gemeinschaft überhaupt gründet. Trotz der Betonung der direkten Bindung der politischen Entscheidungen ans Volk muss auch der Republikanismus die demokratische Ordnung v. a. mit wachsender Größe der Republik in institutionellen Organisationen implementieren. Und ebenso wie der Liberalismus hat auch er dabei das Problem der Machtusurpation zu bewältigen. Aus grundsätzlichen machttheoretischen Überlegungen kann daher auch der Republikanismus auf das gewaltenteilige Modell Montesquieus zurückgreifen. Aus republikanischer Sicht aber entscheidend ist, dass die angestrebte Machtteilung primär nicht etwa der Sicherung individueller Freiheitsräume, sondern der geringstmöglichen Verfälschung des Gemeinwillens dient. Der kollektiv gebildete Gemeinwille soll nicht durch das Werk einzelner seiner Legitimität beraubt werden. Das Hemm- und Kontrollwerk von Legislative, Exekutive und Judikative soll die größtmögliche Verwirklichung des Gemeinwillens fördern. Wo möglich, sollen direktdemokratische Elemente den Volkswillen unmittelbar zum Ausdruck bringen, um die Identität der politischen Ordnung mit seinen Bürgerinnen und Bürgern zu wahren.
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c) Partizipation an öffentlichen Verfahren (prozedurale Demokratie) Liberalismus und Republikanismus lassen sich als die beiden klassischen Pole der Demokratietheorie betrachten. In der Darstellung als Demokratie-Konzepte mit bestimmten Menschenbildern, Gesellschaftsbildern, Moralkonzepten, Vorstellungen von politischer Ordnung und den entsprechenden Interpretationen demokratischer Institutionen liefern beide voneinander distinkte und gegensätzliche Ansätze. Es fragt sich jedoch, wie sehr diese klassischen Konzepte der Demokratie unter den Bedingungen moderner demokratischer Gesellschaften überzeugen. Für die Erarbeitung eines angemessenen Demokratie-Konzepts, das die Ausgangslage für die Entwicklung einer normativen Konzeption moderner Demokratie darstellt, sollen die gegensätzlichen Logiken des Liberalismus und des Republikanismus nun im Zusammenhang diskutiert werden. Die Methodologie dieser Diskussion kann als eine Art Spiegelung des integrativen Ansatzes dieser Untersuchung im Kleinen gesehen werden, der hier v. a. in der Interdisziplinaritätstheorie unter dem Namen der praktischen Integration ausgearbeitet worden ist14. Weder der Liberalismus noch der Republikanismus, so lässt sich sagen, bilden für sich allein genommen das Konzept der Demokratie angemessen ab. Dennoch beinhalten beide Konzepte Elemente, die für ein Konzept legitimer Demokratie fruchtbar sind. Diese Elemente müssen mithilfe weiterer theoretischer Elemente, die direkt weder im einen noch im anderen Konzept enthalten sind und erst in der Auseinandersetzung zwischen den beiden Konzepten hervortreten, verknüpft werden.15 Das Ergebnis kann so wieder als integrativ bezeichnet werden. Dabei bleibt die Bestimmung des angemessenen Typus moderner Demokratietheorie im Folgenden noch auf der Konzept-Ebene. Anhand theoretischer Elemente des Liberalismus und des Republikanismus soll zunächst ein hinreichend begriffsscharfes integratives Konzept moderner Demokratie entwickelt werden. Sowohl dem Liberalismus als auch dem Republikanismus muss bereits konzeptuell mit einem soziologischen Argument begegnet werden. Beiden kann angelastet werden, dass sie ihre Überzeugungskraft mit einem gesellschaftlichen Wirklichkeitsbereich verbinden, von dem sich moderne demokratische Gesellschaften inzwischen entfernt haben. Während sich der klassische Liberalismus aus den sozialen Verhältnissen zur Zeit der Abnabelung des wirtschaftenden Bürgertums von der absolutistischen Herrschaftsform speist, in die sich seit der frühen Neuzeit ein überzeichnetes Bild subjektphilosophischen Individualismus mischt, hängt der Republikanismus tendenziell einem zwar wieder erstarkten, in seiner Ausprägung inzwischen aber gewandelten Paradigma sozialer Verbundenheit antiken und mittelalterlichen Ursprungs nach. Weder der klassische Liberalismus noch der klassische Republikanismus argumentieren so auf dem soziologischen Niveau moderner Demokratie-Gesellschaften. Moderne demokratische Gesellschaften zeichnen sich 14 15
III. 2. a), (3). Vgl. auch Habermas, Drei normative Modelle der Demokratie (1996 [1992]), S. 287.
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durch Arbeitsteilung und Funktionalismen aus, die weder der Republikanismus noch der klassische Liberalismus adäquat aufnehmen. Die mit der Industrialisierung einsetzende und derweil durch die Globalisierung multiplizierte gesellschaftlichen Ausdifferenzierungen und Komplexitätssteigerungen beeinflussen die Sozialstruktur in so markanter Weise, dass sie auch Einfluss auf die Strukturierung der Einzelnen nimmt. Mit der arbeitsteiligen Ausdifferenzierung geht eine Differenzierung und Diversifizierung von Aufgaben und Funktionen einher, die sich als ein Pluralismus z. T. gegensätzlicher und unvereinbarer Gruppen- und Einzelinteressen präsentiert. Mensch und Gesellschaft moderner Demokratien sehen sich einem kaum mehr überschaubaren Pluralismus interdependenter Funktionszwänge ausgesetzt. Der korrigierende Befund arbeitsteilig ausdifferenzierter Gesellschaftsstrukturen moderner Demokratien darf allerdings nicht mit einer insgesamt funktionalistischen Wendung des normativen Anspruchs, den sowohl der Liberalismus als auch der Republikanismus verfolgen, beantwortet werden. Das „realistische Demokratiemodell“ oder der „Realismus“ als ein weiteres Demokratie-Konzept,16 das gerade auf die funktionale Bedingtheit moderner ausdifferenzierter Demokratien aufmerksam macht, nimmt den Befund etwa zum Anlass, den normativen Anspruch des Demokratie-Konzepts insgesamt in einen funktionalen umzudeuten. Zu diesem Zweck und bekräftigt durch die Feststellung schwindenden politischen Sachinteresses in der Bevölkerung verlagert das realistische Demokratie-Konzept den Blickwinkel von der Willensbildung der Individuen zunächst auf die Ebene der politischen Prozesse und ersetzt zudem die Erörterung der Frage nach Legitimation kurzerhand durch eine funktionale Analyse. Demokratische Politik ist danach nicht mehr aus der Teilnahmesicht einzusehen, sondern ein fernerhin nur noch beobachtbares Widerspiel rivalisierender Interessengruppen und politischer Eliten, die um die ausgleichende Stabilität des wirtschaftlichen und politischen Systems ringen. Mit einer soziologischen Analyse ist für die Zwecke eines normativen Demokratie-Konzepts jedoch nur der halbe Weg beschritten. Wie sich im Anschluss an die konzeptuellen Überlegungen noch besser zeigen wird, ist diese Weghälfte für die Diskussion einer normativen Demokratiekonzeption durchaus hilfreich, sogar notwendig. Berechtigt ist sie z. B. im Hinblick darauf, dass es einer konzentrierteren analytischen Perspektive auf die Prozesse demokratischer Politik bedarf. Sie wird jedoch zur Gefahr, wenn sie (wie von systemtheoretischen Theorien) als die ganze Wegstrecke ausgezeichnet oder ihr (häufig von ökonomischen Theorien) ein ungenügendes normatives Konzept überstülpt wird. Den zweiten Fehler begeht das realistische Demokratie-Konzept, wenn es die demokratischen Prozesse etwa unter dem Blickwinkel ökonomistischer Rationalität analysiert und daraufhin als legitimiert ausweist. So werden z. B. das Wählerverhalten als Kosten-Nutzen-Rechnung 16
391.
Hierzu Mastronardi, Demokratietheoretische Modelle – praktisch genutzt (1998), S. 389 –
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oder der Pluralismus gegensätzlicher Interessengruppen als Wettbewerb im Markt um politische Macht inszeniert und mit der Frage der Legitimation kurzerhand kurzgeschlossen. Politisch vernünftig wären dann die Prozesse und Entscheidungen, die eine bestmögliche Kosten-Nutzen-Bilanz oder einen bestmöglichen Output im politischen Wettbewerb erzielten. Unter normativen Gesichtspunkten muss eine solche Überstrapazierung des funktionalen Anspruchs zurückgewiesen werden. Der „komplexe Typus von Demokratietheorie“, 17 für den sich v. a. Fritz Scharpf hervorgetan hat,18 knüpft an die realistische Kritik der klassischen Demokratie-Konzepte an, versucht aber, auf „die postmoderne Unübersichtlichkeit der Verhältnisse“19 mit einem angemesseneren normativen Ansatz zu antworten. Es anerkennt die Ausdifferenzierung der Gesellschaft und bemüht sich zugleich um eine adäquate normative Konzeptualisierung.20 Auch das komplexe Demokratie-Konzept umfasst eine ganze Reihe von Konzeptionen mit unterschiedlichen Ausprägungen, die nur schwer gemeinsam zu fassen sind. Ausgehend von den Demokratie-Konzepten des Liberalismus und des Republikanismus, lassen sich jedoch einige seiner Grundlinien zusammenführen, die eben darauf abzielen, die funktionalen Verhältnisse moderner demokratischer Gesellschaften auch legitimatorisch überzeugend zu verarbeiten. Hier wird das komplexe Demokratie-Konzept zu einem „prozeduralen Demokratie-Konzept“ zugespitzt. Noch besser als das komplexe Konzept rückt das prozedurale Konzept die normative Stoßrichtung richtig verstandener Demokratie in den Mittelpunkt: In normativer Hinsicht entscheidend ist danach, dass die demokratische Politik durch legitime Verfahren strukturiert wird, an denen die Mitglieder der jeweiligen politischen Ordnung gleichberechtigt partizipieren können.21 Das Menschenbild des komplexen bzw. prozeduralen Konzepts von Demokratie korrigiert die Bilder des Liberalismus und des Republikanismus etwa um die Bedingungen, die sich durch die realistische Analyse der sozialen Verhältnisse aufdrängen. Während der Liberalismus ein individuelles Menschen- und Gesellschaftsbild zeichnet, geht der Republikanismus von der Kollektivität von Mensch und Gesellschaft aus. Tatsächlich findet sich der moderne Mensch in seiner Gesellschaft weder allein als ungeteilte Einheit noch allein als Teil eines kollektiven Ganzen, das allein die Bedingung seiner Selbstentfaltung wäre, wieder. Gegen den 17 Hierzu m. w. H. und zum Folgenden v. a. Mastronardi, Demokratietheoretische Modelle – praktisch genutzt (1998), S. 391 f. 18 Zu dessen Arbeit Schmidt, Demokratietheorien (32000), S. 294 – 306. 19 Mastronardi, Demokratietheoretische Modelle – praktisch genutzt (1998), S. 386. 20 Nach Mastronardi verfolgt der komplexe Typus von Demokratietheorie genau dies: „die normativen Postulate der alten Demokratietheorien unter heutigen gesellschaftlichen Bedingungen zur Geltung zu bringen“: Mastronardi, Demokratietheoretische Modelle – praktisch genutzt (1998), S. 391. 21 Vgl. zum prozeduralen Demokratie-Konzept Habermas, Faktizität und Geltung (41994), insb. S. 361 – 366; ders., Drei normative Modelle der Demokratie (1996 [1992]), S. 287 – 292.
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Kollektivismus des Republikanismus kann angeführt werden, dass das kollektive Ganze als ungeteiltes Allgemeininteresse unverfügbar bleibt. In der modernen demokratischen Gesellschaft ist das Ganze in vielerlei Hinsicht fraktioniert. Die Gesellschaft ist vom Faktum des Pluralismus dominiert. In ihr tummeln sich unzählige partikuläre Interessen und Gruppen von Interessen, denen keine Einheitlichkeit unterstellt werden kann. Gegen den Individualismus des Liberalismus kann dagegen stark gemacht werden, dass das Schicksal der Fraktionierung, die die Gesellschaft durchzieht, auch das Individuum selbst ereilt. Durch seine vielfältigen Rollen und Funktionen, die der moderne Mensch in Familie, Beruf, Freizeit usw. wahrzunehmen hat, zerfällt er selbst in unterschiedliche, sich z. T. widersprechende Fraktionen. Die Splitter-Interessen und -Identitäten der Einzelnen bündeln sich erst auf einer Ebene, die den einzelnen Menschen übersteigt, etwa zu Interessengruppierungen. Entgegen dem Republikanismus strebt die Gesellschaft allerdings auch auf der Ebene der Interessengruppen keineswegs eine Einebnung an. Die Interessengruppen stehen sich vielfach in vorderhand unvereinbarer Weise gegenüber. Dennoch bilden die verschiedenen Aspekte des Menschen und der Gesellschaft nicht wie in der Ansicht des Realismus einfach Elemente einer funktionalen Analyse, die in einen systemischen Ausgleich zu bringen wären. Der Mensch rückt im komplexen und prozeduralen Demokratie-Konzept „wieder in die Mitte“.22 Allerdings wird er nicht allein als nutzenmaximierendes Individuum oder allein als Teil einer politischen Gemeinschaft verstanden, sondern als eine Entität, die in ihren zahlreichen Rollen unterschiedliche Identitäten und Zugehörigkeiten beherbergt, von denen die individuell-wirtschaftende und die kollektiv-gemeinschaftliche nur zum Teil, die eine z. B. in der Arbeitswelt, die andere etwa in der Familie, zum Tragen kommt: „[D]er Mensch ist nicht mehr unproblematische Basis der Demokratie, sondern selber komplex geworden. Weder das Bild des autonomen Individuums noch jenes des sozialen Wesens genügen mehr. Die Menschenbilder müssen ebenso differenziert werden, wie sich die Gesellschaft differenziert hat. Republikanische und liberale Interessen des Einzelnen bleiben zwar erhalten: Auf der einen Seite sind es die Ideen der Mitbestimmung, der Partizipation[ . . . ]; auf der anderen Seite jene der Selbstbestimmung, des Abbaus von Herrschaft, die Überwindung blosser Funktionalität. Zentral ist aber, dass diese Anliegen nicht mehr das Verhältnis des Einzelnen als solchem zu Gesellschaft und Staat als Ganzen betreffen, sondern das Verhältnis verschiedener Aspekte menschlicher Identität zu den entsprechenden sozialen Bezügen, in denen der Einzelne steht [ . . . ].“23 Der Mensch wird zu dem, was er ist, nicht allein durch sich selbst und auch nicht allein durch seine Gemeinschaft, sondern erst durch die reziproken Interaktionen zwischen ihm und seiner facettenreichen Sozialbezüge. Seine Subjektivität konstituiert sich durch intersubjektive wie interobjektive24 Wechselverhältnisse. 22 23
Mastronardi, Demokratietheoretische Modelle – praktisch genutzt (1998), S. 391. Mastronardi, Demokratietheoretische Modelle – praktisch genutzt (1998), S. 391.
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Einem Moralkonzept, das an die realistische Analyse der komplexen modernen Gesellschaft und das entsprechende Menschenbild anschließen kann, ist von Anfang an ein fixes Zentrum entzogen. Die kommunitaristische Moralvorstellung des Republikanismus wird von der Moderne insofern unterlaufen, als der gemeinsame objektive Bezugspunkt normativer Fragen nicht verfügbar ist. Der pluralistischen Gesellschaft fehlt ein normatives Ganzes. Der vielbeschworene Grundkonsens oder der überlappende Konsens als Grundbestand materieller Wertüberzeugungen mag sich – mit geringerem oder größerem Aufwand – zwar auch unter Bedingungen pluralistischer Unübersichtlichkeit ausmachen lassen. Dennoch verfügt er nicht über die normativ-sozialintegrative Kraft zur rationalen Verarbeitung gesellschaftlicher Interessenkollisionen, die der moralische Kommunitarismus für sich in Anspruch nimmt. Dazu ist er zu reduziert und zu fragil. Andererseits krankt die utilitaristische Moralvorstellung des Liberalismus unter den Bedingungen moderner Gesellschaften schon an der Fiktion des Individuums, das in der Lage wäre, ein widerspruchsfreies Portfolio fragmentierter Interessen zu verwalten. Mit jeder Maximierung partieller „Einzelnutzen“ fügt sich das vermeintliche In-dividuum einen Schaden an einem anderen Nutzenposten desselben Portfolios zu. Die sich an der Stelle der Maximierung von Einzelnutzen daraus ergebende Mission der Optimierung des Gesamtnutzenportfolios ist aufgrund der Komplexität der Bedürfnisse und Verhältnisse äußerst riskant. Aus normativer Sicht hinzu kommt die sowohl gegen den Utilitarismus als auch den Kommunitarismus gerichtete Fundamentalkritik, dass beide den moralischen Standpunkt unter modernen Bedingungen nicht hinreichend konsequent verfolgen.25 Als moralisch kann nur gelten, was dem deontologischen Anspruch universeller Unparteilichkeit als Explikation des Gerechten genügt. Unter modernen Bedingungen kann unparteiliche Gerechtigkeit nur noch im Wege fairer, partizipativer Verfahren erreicht werden, für deren Legitimation hier die Diskursethik eingeholt werden konnte.26 Vor dem Hintergrund der komplexen sozialen Verhältnisse, dem komplexen Menschenbild und dem diskursiven deontologischen Moralkonzept ergibt sich das Bild einer politischen Ordnung, die sich nicht wie der Republikanismus an einem objektiven Gesamtinteresse orientiert und auch nicht wie der Liberalismus ein Summenspiel atomistischer Einzelinteressen veranstaltet, sondern an einem fairen Verfahren der Auseinandersetzung zwischen pluralen Interessen interessiert ist. Z. B. können sich aus geteilten Teilinteressen Einzelner gleichgerichtete Interessen 24 Ansätze zu einem Konzept der Interobjektivität finden sich in Mastronardi, Juristisches Denken (22003), Rn. 344 – 346. Gemeint ist hier das interdependente Widerspiel zwischen subjektloser Umwelt und Ich. Es sind nicht nur andere Menschen, die die Konstituierung des Ich vollziehen, sondern ebenso subjektiv nicht greifbare Rollen, Aufgaben, Funktionen usw., die darauf einwirken. Bei Luhmann ufert dieser Gedanke allerdings zum vollständig subjektlosen „psychischen System Mensch“ aus; vgl. dazu die vorherigen Ausführungen zur luhmannschen Systemtheorie im ersten Kapitel, I. 3. b). 25 Dazu eingehend zuvor, II. 1. b). 26 II. 2. b).
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bilden und auf einer mittleren Ebene in Gruppen organisiert und vertreten werden. Solche Interessengruppen erlauben es den einzelnen Menschen, ihre partikulären Absichten, Anliegen und Wünsche zur Geltung zu bringen, ohne sich dabei selbst zu widersprechen. Die Auseinandersetzung zwischen antagonistisch gruppierten Interessen muss sodann legitim aufgelöst werden. Dabei geht es nicht darum, die pluralistischen Verhältnisse selbst aufzulösen. Insofern die Diversifizierung des gesellschaftlichen Wertehorizonts mit der modernen Demokratie verwoben ist und die arbeitsteilige Gesellschaft in gewisser Weise auf die pluralistische Differenzierung angewiesen bleibt27, kann von der Erhaltungswürdigkeit eines gerechtfertigten, i. d. S. vernünftigen Pluralismus gesprochen werden. Aus dem Blickwinkel des prozeduralen Demokratie-Konzepts von Bedeutung ist dabei, dass sich die Legitimität der politischen Ordnung aus fairen Verfahren ergibt. Für diesen prozeduralen Ansatz demokratischer Politik können sowohl Elemente des Liberalismus als auch des Republikanismus gewonnen werden. Private und öffentliche Autonomie gehen dann Hand in Hand und stellen erst gemeinsam die Fairness des politischen Prozesses sicher. Autonomie erhält damit insgesamt den Sinn verantworteter Freiheit. Der perspektivische Wechsel zur fairen Prozedur verlangt, dass die Auseinandersetzung politischer Interessen zur öffentlichen Angelegenheit gemacht wird. Die Bildung eines allgemeinen politischen Interesses tritt damit aus dem forum internum des Liberalismus heraus an die Öffentlichkeit. Öffentlich zu verantwortende „private“ Interessen müssen sich als öffentliche Interessen legitimieren lassen. Nicht das Privatsubjekt, sondern die Öffentlichkeit ist der Ort, an dem über das – situativ möglichst präzis definierte – Allgemeininteresse erst generiert werden soll. Dabei wird der politischen Willensbildung aber auch jenes Pathos abgesprochen, mit dem sie der Republikanismus zur allein personkonstituierenden kollektiven Selbstverwirklichungsstrategie erhebt. In modernen Demokratien kann die politische Betätigung kaum noch allein als Medium der Selbstverwirklichung qualifiziert werden. Selbst wenn Einzelne im Politischen Erfüllung finden mögen, so bleibt dies für diese Personen in aller Regel nur ein Bereich neben vielen. Das komplexe bzw. prozedurale Demokratie-Konzept antizipiert das wahrscheinlichere politische Desinteresse eines Großteils der Bevölkerung, das durch die Organisation partieller Gruppeninteressen auf höherer Ebene bewältigt wird. Durch die Fraktionierung und Reorganisation partieller Interessen auf einer mittleren kollektiven Ebene sowie durch die prozedurale Ausrichtung richtet sich der politische Blick v. a. auf die Prozeduren des Politischen. Gleichwohl verlangt das prozedurale Demokratie-Konzept aber auch nach Partizipation und Teilhabe am politischen Prozess, sofern eine Person ihre Anliegen zur Sprache bringen will. Die Ordnung der politischen Prozesse ist nicht von den einzelnen Menschen abgekoppelt. Ihr normativer Sinn liegt gerade darin, das Zusammenleben dieser Menschen legitim zu regeln. 27 Vgl. das Argument in Mastronardi, Demokratietheoretische Modelle – praktisch genutzt (1998), S. 386.
1. Demokratie-Konzepte
257
Nach alledem ergibt sich für das hier dargestellte komplexe bzw. prozedurale Demokratie-Konzept folgendes Bild demokratischer Institutionen. Die Volkssouveränität ist Ausdruck einer öffentlich veranstalteten Auseinandersetzung politischer Kräfte, die ihren Ausgang bei der Interessenformulierung der komplexen Einzelnen nimmt und an diese auch rückgebunden bleibt. Das Politische ist dabei nicht auf die herkömmlichen Institutionen des politischen Zentrums beschränkt, sondern potenziell mit allen Bereichen des menschlichen Lebens verbunden. In dieser Sicht bildet das Gesetz nur eine formale, aber mit besonderer Legitimationskraft versehene Zwischengröße eines breit verstandenen demokratischen Verfahrens, das über verschiedene Abstraktionsstufen und Beteiligungsebenen verteilt ist. Auch wenn sich die verbindlich wirkenden politischen Entscheidungen mehrheitlich in einem den einzelnen Personen tendenziell abgekoppelten Bereich institutionalisierter Politik abspielen, stehen den Bürgerinnen und Bürgern in Form politischer Rechte Partizipationsmöglichkeiten zu, mit deren Hilfe sie in erster Linie ihren privaten Anliegen in der Öffentlichkeit Gehör verschaffen können. Darüber hinaus ermöglichen ihnen die politischen Rechte, an der Bestimmung des öffentlichen Interesses mitzuwirken. Nach dem Konzept der komplexen bzw. prozeduralen Demokratietheorie als eine Art „Demokratie in allen Lebensbereichen“ sollen darüber hinaus die Kommunikationsrechte Demokratie auch in nicht-institutionalisierten Bereichen begünstigen. Neben den in einem weiten Sinn verstandenen politischen Rechten besitzen auch die übrigen, insbesondere die vom Liberalismus als Freiheitsrechte bezeichneten Grundrechte einen doppelten Charakter. Zunächst stehen sie tatsächlich für den Schutz einer Sphäre, in der die Einzelnen ihre sozusagen unpolitische Identitäten pflegen können. Diese verbürgte Sphäre soll sodann aber auch garantieren, dass eine Person ohne Druck von politischen Institutionen oder Interessengruppen an der politischen Willensbildung partizipieren kann, und bildet damit auch eine wichtige Voraussetzung für den legitimen Prozess politischer Interaktion. Anders als beim Liberalismus werden diese Freiräume nicht als absolute Schutzwälle eines privaten Spiels unverfügbarer Willkür erachtet, sondern als Bedingungsmöglichkeiten intersubjektiver und interobjektiver Entfaltung und politischer Mitsprache, die der öffentlichen Problematisierung nicht absolut entzogen werden können. Die gewaltenteilige Struktur der demokratischen Institutionen wird schließlich als ein gegenseitiges Hemm- und Kontrollspiel politischer Macht verstanden, das insgesamt dem Zweck eines fairen Verfahrens zur Bestimmung öffentlicher Interessen dient. Die Unparteilichkeit des Verfahrens soll dabei insbesondere durch Verantwortlichkeiten und Transparenzverpflichtungen diszipliniert werden.
258 DemokratieKonzept
IV. Politische Philosophie: Deliberative Demokratie
Liberalismus
Republikanismus
Prozedurale Demokratie (komplexe Demokratie)
Mensch
Ungeteiltes Selbst als Quelle der Freiheit
Gemeinschaftliche Gleichheit als Quelle des Selbst
Intersubjektives und interobjektives Ich
Gesellschaft
Kalkulationsparameter freier Individuen
Wertegemeinschaft gleicher Bürger
Lebenswelt und Funktionssystem
Moral
Utilitaristisch
Kommunitaristisch
Deontologischdiskursiv
Politische Ordnung
Sicherungsmedium Kultivierungsort individueller Interessen kollektiver Werte
Legitimationsraum zu verantwortender Freiheit
Demokratische Institutionen
Kontrollinstrumente gegen Machtanmaßung
Verfahrensstrukturen öffentlicher Partizipation
Ermöglichungsbedingungen der Selbstbestimmung
¨ berblick28 Abbildung 18: Die Demokratie-Konzepte im U
2. Kleine Soziologie moderner Demokratien Auf dem Weg zu einer legitimatorischen Konzeption demokratischer Politik erweist sich das prozedurale Demokratie-Konzept als aussichtsreich. Gegenüber dem Liberalismus und dem Republikanismus hat das prozedurale Konzept von Demokratie für sich, auf die sozialen Verhältnisse, in die moderne Demokratien eingebettet sind, angemessen reagieren zu können. Die prozedurale Lesart der Demokratie bietet eine Möglichkeit, die normativ einseitigen Überzeichnungen des Liberalismus und des Republikanismus unter den faktischen Bedingungen moderner Gesellschaften korrigierend zu integrieren. Deutlich geworden sein sollte auch, dass das prozedurale Konzept zudem eine ganze Reihe interdisziplinärer Anschlussmöglichkeiten für die weiteren Konzeptionen dieser Untersuchung aufweist. So ist etwa das intersubjektive Menschenbild ebenso ohne Weiteres mit dem Menschenbild der Diskursethik zu vereinbaren wie der prozedurale Ansatz überhaupt. Das Moralkonzept der Diskursethik zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es die Bedingungen der Gerechtigkeit prozeduralisiert. Und ebenso wie das prozedurale Demokratie-Konzept sieht auch die Diskursethik den Schlüssel für die Operationalisierung der Unparteilichkeit in der Dialogisierung eines Verfahrens, das die legitimatorische Verantwortung aus der monologischen Innerlichkeit an die Öffentlichkeit bringen will. Außerdem verträgt sich das prozedurale Demokratie-Konzept mit den bisherigen soziologischen Analysen, nach denen sich die moderne Gesell28 Vgl. Mastronardi, Verfassungslehre (2007), insb. S. 81 – 83, Rn. 269 – 276; und Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), insb. S. 321.
2. Kleine Soziologie moderner Demokratien
259
schaft zwar durch einen hohen Grad an funktionaler Differenzierung auszeichnet, aber dennoch an eine auch lebensweltliche Rationalität gebunden bleibt. Um das prozedurale Demokratie-Konzept nun zu einem theoretischen Konstrukt mit konzeptioneller Dichte auszuarbeiten, soll im weiteren aus der Beobachtungsperspektive nochmals ein tieferer Blick in die Funktionsverhältnisse moderner Demokratien geworfen werden. Die bisher herangezogenen soziologischen Analysen lassen erst einzelne Bruchstücke der modernen demokratischen Gesellschaft erkennen. Freilich kann hier eine umfassende Untersuchung der modernen demokratischen Gesellschaft auch gar nicht geliefert werden. Für eine normative Konzeption moderner Demokratie bedarf es jedoch zumindest einer hinreichend plausiblen Analyse derjenigen sozialen Umstände, die die funktiologische Angriffsfläche ihrer Normierungen bilden. Ein knapper Einblick in die Bedingungen und Eigenheiten moderner demokratischer Politik soll der Konkretisierung des prozeduralen Demokratie-Konzepts daher einen methodologisch festeren Rückhalt geben.
a) Integrationsprobleme komplexer Gesellschaften Moderne Demokratien gehen einher mit hochkomplexen, ausdifferenzierten Gesellschaftsstrukturen. „Ausdifferenziert“ heißt dabei nicht, wie die systemtheoretische Interpretation nahelegt,29 die umfassende Zergliederung der Gesellschaft in füreinander taube, weil vollständig spezialisierte und sich selbst reproduzierende soziale Subsysteme, sondern die Momentaufnahme einer zunehmenden Tendenz der Spezialisierung und Verselbständigung von Gesellschaftsbereichen aus der Lebenswelt. Die Gesellschaftsbereiche, die sich in der Moderne zu systemischen Gebilden mit einer Reihe von Eigengesetzlichkeiten wandeln, entspringen einem alle Lebensbereiche umspannenden lebensweltlichen Hintergrund kommunikativ organisierter, zumeist impliziter Überzeugungen und Wertorientierungen, der ursprünglich als vormoderne, naturwüchsige Sittlichkeit die Integration vormoderner Gesellschaften sicherstellen konnte. Mit fortschreitender Modernisierung und Umstellung auf Modelle kooperativer Arbeitsteilung steigt der Spezialisierungsdruck auf die jeweiligen Lebensbereiche. Die resultierende Spezialisierung kann dann einen Grad erreichen, der den direkten Anschluss an die hintergründige Lebenswelt situativ, für den Spezialbereich jedoch systematisch erschwert oder gar trennt. Der Grund dafür ist die Notwendigkeit der Komplexitätsreduktion, den eine Gesellschaftsform einfordert, in der sich die Komplexität mit der Vielzahl arbeitsteiliger Spezialisierungen multipliziert. Damit die unübersichtlich werdende Komplexität den Modernisierungsprozess nicht überfordert, verhelfen komplexitätsreduzierende Systemisierungen und Wertreduktionen zur Bewältigung der anspruchsvollen Komplexitätseffekte. Gesamtgesellschaftlich stellt sich dieser Prozess als eine Ausdifferenzierung des lebensweltlichen Zusammenhangs in distinkte Sozialbereiche mit speziellen Rationalitäten dar. 29
I. 3. a).
260
IV. Politische Philosophie: Deliberative Demokratie
Die komplexitätsreduzierende Ausdifferenzierung hat allerdings ihren Preis. Denn so sehr die gesellschaftliche Ausdifferenzierung den Erfordernissen hochkomplexer Gesellschaften Rechnung tragen mag, so sehr fördert die Spezialisierung komplexitätsreduzierender Gesellschaftsbereiche auch eine gesamtgesellschaftliche Fragmentierung. Die in den ausdifferenzierten Subsystemen angelegte Eigendynamik tendiert zusehends zu Formen endogener Selbstreproduktion, die die Systemtheorie mit dem Begriff der Autopoiesis für das moderne Strukturphänomen hält. Nach diesem Konzept verselbständigen sich die Gesellschaftsbereiche derart, dass sie sich vollständig aus sich selbst heraus reproduzieren und für direkte Kommunikationen mit anderen Systemen inkompatibel werden. Die Kommunikation eines Systems mit einem anderen kann zwar noch über strukturelle Kopplungen erfolgen, die das Eindringen von Kommunikationen anderer Systeme ermöglichen. Die codefremden Kommunikationen werden dem Eigencode des neuen Systems jedoch sofort unterworfen, sodass dieses operativ geschlossen bleibt. Im Ganzen gesehen, wäre die Gesellschaft schließlich zu einer Summe sie konstituierender Subsysteme ausdifferenziert. Eine handlungstheoretisch und soziologisch besser informierte Gesellschaftsanalyse verweist dagegen auf die noch intakten lebensweltlichen Anschlüsse der gesellschaftlichen Spezialbereiche und relativiert die Autopoiesis-Lehre entsprechend.30 Während für die Systemtheorie, die sich mit den Explikationen autopoietischer Funktionszusammenhänge gerne begnügt, das Phänomen der sozialen Fragmentierung in der unproblematischen Koexistenz eigenlogisch nebeneinander her kommunizierender Systeme aufgeht, kann eine Soziologie, die auch die Gefahr einer systemischen Kolonisierung der Lebenswelt erkennt, die soziale Ausdifferenzierung und Fragmentierung zudem als einen Prozess gesellschaftlicher Desintegration31 begreifen. Die durch Spezialisierung verursachte Fragmentierung komplexer Gesellschaften äußert sich in unzähligen Aufspaltungen und Verstrickungen eines vormals mehr oder weniger einheitlichen gesellschaftlichen Werte- und Überzeugungssyndroms. Mit der arbeitsteiligen Ausdifferenzierung und den Verstärkungseffekten der Globalisierung verwandelt sich die Gesellschaft in ein ungeordnetes Sammelsurium konvergierender und divergierender Kreuzungen von Lebenseinstellungen, Lebensplänen und Lebensweisen. Die Ausdifferenzierung der Gesellschaft präsentiert sich als ein gesamtgesellschaftlicher Pluralismus. Das Bild des modernen Pluralismus in einer globalisierten Welt wird noch um eine Dimension komplexer, wenn außerdem in Betracht gezogen wird, dass die einzelnen Mitglieder einer Gesellschaft nicht nur einer einzigen differenzierten Sphäre angehören, sondern zur gleichen Zeit und im zeitlichen Wechsel in eine ganze Menge unterschiedlicher I. 3. b). In dieser Untersuchung sind zwei verschiedene Integrationsbegriffe zu unterscheiden. Im Gegensatz zum insb. in III. 2. a), (3), entwickelten methodologischen Integrationsansatz, der den theorieintegrativen Charakter dieser Untersuchung kennzeichnen soll, bezieht sich der soziologische Integrationsbegriff auf die sozialintegrativen Funktionsweisen moderner Demokratien. 30 31
2. Kleine Soziologie moderner Demokratien
261
Lebensbereiche verstrickt sind. Diese simultanen und sequenziellen Zugehörigkeiten der Einzelnen ergeben ein keineswegs kohärentes Gesamtbild, sondern fragmentieren die einzelnen Gesellschaftsmitglieder bereits in ihrer „individuellen“ Identität. Die Komplexität der modernen Gesellschaft bringt es mit sich, dass die einzelnen Menschen zu einem gewissen Grad dazu genötigt sind, sich teilweise widersprechende Lebensweisen und Einstellungen zu pflegen. Den Blick sodann wieder auf die Gesellschaft gerichtet, ergibt sich so das Gesamtbild eines in hohem Maße dezentrierten Sozialzusammenhangs, in dem eine Vielzahl von Interessen und Lebensweisen desintegriert aneinander reiben. Die soziologische Diagnose gesamtgesellschaftlicher Desintegration speist sich aus den Beobachtungen eines Modernisierungswandels, d. h. dem beobachtbaren Fortschreiten einer zunehmend spezialisierten Lebenswelt, der ursprünglich eine integrierende Kraft zugeschrieben werden konnte. Damit dieser Befund auf der Beobachtungsebene tatsächlich als „Diagnose“ qualifiziert werden kann, bedarf es allerdings einer teilnehmenden Begründung. Andernfalls würde sich in die soziologische Analyse eine Ideologie einnisten, die die Kritik am überstrapazierten Funktionalismus der Systemtheorie Lügen strafen müsste. Der normative Zug, der hier im Begriff der gesellschaftlichen Integration enthalten ist, muss auch in soziologischer Sicht gerechtfertigt werden. Es bedarf einer funktiologischen Erklärung dafür, warum die Phänomene sozialer Fragmentierung und Desintegration einen Integrationsbedarf nach sich ziehen. Eine solche Erklärung kann geliefert werden, wenn der soziologischen Analyse der modernen Gesellschaft die Theorie kommunikativen Handelns zugrunde gelegt und das Konzept der Lebenswelt auf dieser Grundlage richtig gedeutet wird.32 Danach zehrt das soziale Zusammenleben von der integrierenden Kraft kommunikativer Verständigung, die sich ohne Integrationsverluste nicht entziehen lässt. Verständigungsreduzierende Eingriffe in die Lebenswelt bringen deshalb einen Kompensationsbedarf an kommunikativer Rationalität mit sich. Wird die integrierende Kraft lebensweltlicher Kommunikationsverhältnisse durch systemische Kolonisierungstendenzen also gemindert, so bedarf es kompensierender sozialer Integrationsmechanismen. Es könnte auch versucht werden, den Integrationsbedarf komplexer Gesellschaften in rein systemischer Sicht zu rekonstruieren. In dieser Sicht erschiene das Integrationsproblem freilich lediglich als ein Problem der Stabilität des sozialen Gesamtsystems. Die Fragmentierungen der Gesellschaft würden dann als Ursache sozialer Instabilitäten verstanden, denen das System mit bestimmten Kompensationsmechanismen entgegenwirkt. Aus einer reinen Beobachtungsperspektive ergäbe sich der „Bedarf“ an Stabilität dann erst im Nachhinein, wenn festgestellt worden ist, dass das soziale System auf Instabilitäten mit bestimmten Gegenmechanismen restabilisierend reagiert hat. Der als Stabilisierungsbedarf begriffene Integrations„bedarf“ erwiese sich dann als abduktiv rekonstruiertes Prädikat eines 32 Vgl. zum Ganzen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 2 (41987), insb. S. 171 – 293.
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sich selbststabilisierenden Systems. Der konstatierte Stabilitätsbedarf stellt in dieser Sicht keine normativ imprägnierte Erklärungsgröße, sondern lediglich eine Erklärung für kompensatorisch wirkende Ausgleichsmechanismen dar. An das Begründungsniveau einer auch lebensweltlich argumentierenden, sich auch zur Teilnahmeperspektive bekennenden Soziologie reicht eine solche Stabilisierungsbeobachtung freilich nicht heran.33
b) Integration durch demokratische Politik Aus der Sicht der Theorie kommunikativen Handelns bedeutet das Wirkungsmodell gesellschaftlicher Stabilität nur die halbe Wahrheit, weil es bestimmte in die Erfahrungswelt eingeschriebene und damit zur soziologischen Analyse dazugehörende normative Strukturen in seiner Erklärung vermissen lässt. Die beobachtete Stabilität ist, kommunikationstheoretisch besser reflektiert, demnach auch kein Garant einer „tatsächlichen“ (auch normativ interpretierten) Integration. Denn richtig verstandene soziale Integration verlangt nicht nur das faktische Ausbleiben sozialer Instabilitäten, sondern ebenso ein angemessenes Niveau eines rationalen Zusammenhalts: „Für die Rationalität einer Lösung ist mithin die beobachtbare Stabilisierung einer Ordnung kein hinreichender Indikator.“34 Die beobachtenden Beschreibungen der stabilisierenden Wirkungsweisen können zwar ein wichtiges Element für die Plausibilisierung eines soziologischen Demokratiemodells bilden. Erst die handlungs- und kommunikationstheoretische Reflexion der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung bringen jedoch die Defizite lebensweltlicher Verständigungsressourcen ans Licht, die als Ursache modern-gesellschaftlicher Desintegration zu werten sind. Dieses allgemeine Erklärungsmodell für den Integrationsbedarf moderner Gesellschaften kann als ein erster Schritt dieser (kleinen) Demokratie-Soziologie betrachtet werden. Im nächsten Schritt daran anzuschließen ist nun ein etwas weiter gehendes Erklärungsmodell, das noch differenziert erläutert, auf welche Weise der soziale Integrationsbedarf moderner Demokratie-Gesellschaften gedeckt werden kann. Die Suche nach den (Re-)Integrationsbedingungen moderner Demokratien trägt somit zur Vertiefung der soziologischen Analyse moderner Demokratien bei. Das beobachtete Bild demokratischer Gesellschaften wird dadurch noch schärfere Konturen gewinnen und die These des Integrationsbedarfs weiter stützen. Denn wenn überzeugend dargetan werden kann, wie die gesamtgesellschaftliche Integration komplexer Gesellschaften vonstatten geht, leistet dies auch der Annahme Vorschub, dass solche Mechanismen einem unabdingbaren Integrationsniveau ent33 Ein Beispiel dafür, dass die selbstgenügsame Haltung der Systemtheorie auch aus systemtheoretischer Innensicht Probleme aufwirft, liefert z. B. Willke, Ironie des Staates (1992). Rein systemtheoretisch kann das Integrationsproblem nicht gelöst werden. Dazu Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 416 – 426. 34 Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 388.
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springen. Nun haben es demokratische Gesellschaften i. d. R. an sich, trotz des Komplexitätsdrucks der Moderne über ein relativ hohes Niveau an Integration zu verfügen. Der Indikator der sozialen Stabilität lässt jedenfalls darauf schließen. Das lässt bereits vorab einen wirksamen Kompensationsmechanismus vermuten, der einem entsprechenden Bedarf an Integration gerecht wird. In einer kommunikationstheoretisch reflektierten Soziologie erscheint die Deckung des Bedarfs an gesellschaftlicher Integration allerdings nicht nur als zu erläuternder Funktionszusammenhang, sondern auch als zu bewältigende Aufgabe. Als die „(unspezifischen) sozialintegrativen Aufgaben“ der Moderne identifiziert Habermas etwa die Aufrechterhaltung von Ordnung, die Umverteilung, die soziale Sicherung oder den „Schutz kollektiver Identitäten und gemeinsamer kultureller Überlieferungen“.35 Es fragt sich jedoch, auf welche Weise solche und ähnliche Aufgaben gesamtgesellschaftlicher Integration auf einer soziologischen Ebene rekonstruiert werden können.36 Als die drei Hauptressourcen sozialer Integration können mit Habermas Geld, (administrative) Macht und Solidarität genannt werden, wobei die Integrationsressource Geld dem Wirtschaftssystem und die Ressource Macht dem (administrativen) politischen System zugerechnet wird. Solidarität nährt sich aus der rationalisierten Lebenswelt. Wird der gesellschaftliche Integrationsbedarf vor dem Hintergrund des schwindenden Einflusses direkter lebensweltlicher Anbindungen betrachtet, so sticht als knappe Ressource für die Bewältigung der Integrationsaufgabe besonders deren angestammte Ressource, die Solidarität, hervor. Dies hat zur Folge, dass die sozialintegrative Kompensation den Verlust lebensweltlicher Integration mittels der Solidaritätsressource auch wiederherstellen muss. Damit engt sich die Auswahl möglicher Kompensationsmechanismen ein. Insbesondere zeigt sich, dass das Funktionssystem Wirtschaft mit seiner Integrationsressource Geld nicht in der Lage ist, den gesamtgesellschaftlichen Integrationsbedarf hinreichend zu decken. Die kommunikative Rationalität, die durch die ökonomische Ausdifferenzierung der Lebenswelt verloren geht, kann durch die größtenteils instrumentelle Kosten-Nutzen-Rationalität des Wirtschaftssystems nicht ausgeglichen werden. Das Wirtschaftssystem, jedenfalls so verstanden als ökonomistisch-zweckrationale (Geld-)Maschine, ist allein nicht in der Lage, eine komplexe Gesellschaft zu integrieren. Dieses Ergebnis kann wohl auch mit Bernhard Peters’ Darstellung sozialer Integration nachvollzogen werden.37 Die kommunikationstheoretische Argumentation der Diskurstheorie aufgreifend, identifiziert Peters drei Integrationsformen moderHabermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 427. 36 Vgl. zur folgenden Darstellung der Bedeutung demokratischer Politik Habermas’ entsprechende Ausführungen in Habermas, Faktizität und Geltung (41994), etwa S. 166 – 187 / 383 – 398 u. ö. 37 Peters, Die Integration moderner Gesellschaften (1993). Dazu Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 386 – 390. 35
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IV. Politische Philosophie: Deliberative Demokratie
ner dezentrierter Gesellschaften: die funktionale Koordination, die teleologische Sicherung von Identitäten und Lebensformen und die moralische Regelung von Konflikten. Während die Integrationsform der funktionalen Koordination als Verallgemeinerung arbeitsteiliger Koordination die soziologische Variante technischer und ökonomischer Rationalität darstellt, finden die Sicherung von Identitäten und Lebensformen sowie die moralische Regelung von Konflikten ihr Pendant in den Rationalitäten der Teleologie und der (moralischen) Deontologie. Zusammen bilden diese soziologisch zu lesenden Rationalitäten als „komplexer Begriff“ soziologischer Rationalität einen „Satz von Kriterien für die Beurteilung des Erfolgs gesellschaftlicher Integration.“38 In dieser Sicht vermögen die Leistungen des Wirtschaftssystems schwergewichtig nur Integrationsleistungen auf der Ebene funktionaler Koordination (und in beschränktem Maße wohl auch im Bereich der Teleologie) zu erbringen. Für den allerdings gerade auch durch überbordende Funktionalismen aktualisierten Integrationsbedarf auf der Ebene (der Identitäts- und Lebensformsicherung sowie) der Regelung interpersonaler Konflikte, also im Bereich des Moralischen, reicht das ökonomische Rationalitätspotenzial aber nicht aus. Zur gesamtgesellschaftlichen Integration aufgerufen ist dagegen das als demokratische Politik verstandene Recht. Der Politik fällt die Aufgabe zu, die „Funktionslücken“ zu schließen, „die sich durch die Überlastung anderer gesellschaftlicher Integrationsmechanismen öffnen“.39 Mit ihrer ans administrative System angeschlossenen Integrationsressource Macht verfügt sie zunächst über einen wirksamen Steuerungshebel. Allerdings reicht eine rein faktisch verstandene (administrative) Macht ebenso wenig wie Geld dafür hin, die Rationalitätsverluste einer kolonisierten Lebenswelt zu kompensieren. Deshalb bedarf es eines Anschlusses an das Rationalitätsniveau kommunikativer Vernunft, ohne den das politische System zwar Steuerungsleistungen vornehmen, nicht aber den lebensweltlichen Rationalitäts- bzw. Integrationsverlust kompensieren kann. Damit soziale Integration (wieder) hergestellt werden kann, bedarf es einer komplexeren Kompensationsleistung als einer schlicht machtgestützten Stabilisierung. Zu diesem Zweck stehen der Politik in modernen Gesellschaften die Strukturen des demokratischen Prozesses zu Seite. Mit ihm übernimmt die Politik die Ausfallbürgschaft für den Verlust gesamtgesellschaftlicher Integration. Der demokratische Rechtsprozess übernimmt dabei die Funktion eines transformatorischen Mediums, indem er zwischen dem rein machtförmig konstituierten Politiksystem und der Lebenswelt vermittelt.40 In modernen Demokratien übernimmt damit die demokratische Politik die Aufgabe der Sozialintegration. Die in den Eigengesetzlichkeiten der verschiedenen Funktionssysteme verlorengegangene Rationalität verständigungsorientierter Kommunikation kann dadurch auf anderer Ebene wieder hergestellt werden. Komplexe Gesellschaften, die bis in ihre Mitglieder hinein funktional fragmentiert 38 39 40
Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 387 f. Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 386. Zur Vermittlungsfunktion des Rechts zwischen Lebenswelt und System bereits I. 3. b), (3).
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sind, werden durch den an die lebensweltliche Rationalität angeschlossenen Prozess demokratischer Politik zusammengehalten.
c) Demokratischer Machtkreislauf In der Aufgabe, die durch Arbeitsteilung und Globalisierung zusehends auseinanderdriftende Gesellschaft zu reintegrieren, kommt soziologisch der wahre Sinn der demokratischen Politik zum Vorschein. Von Interesse ist nun, wie die Prozesse demokratischer Politik im gesellschaftlichen Gefüge operieren bzw. in welchen Prozessen sich die Bewältigung gesellschaftlicher Integrationsprobleme realisieren kann.41 Die Frage des Funktionierens dieser Prozesse muss dann (später) auch mit einem geeigneten normativen Vokabular übersetzt werden können. Auf der Ebene soziologischer Beobachtung gilt es nun zunächst die Hauptelemente und Kommunikationsabläufe zu bestimmen, die für das Funktionieren demokratischer Politik tragend sind und von deren Qualität schließlich auch die Legitimität der Politik abhängen wird. Die verschiedenen integrationswirksamen Abläufe demokratischer Politik können dabei als Abschnitte eines umfassenden Generierungsprozesses politischer Macht erfasst werden. Um den demokratischen Machtgenerierungsprozess adäquat zur Darstellung bringen zu können, bedarf es vorab einer kurzen Erläuterung einiger elementarer Prozessabschnitte und -strukturen. Das traditionelle Hauptstück moderner demokratischer Politik bildet das demokratische „Verfahren der Gesetzgebung (Legislation)“.42 Aus soziologischer Sicht wird es hier als Verfahren verstanden, in dem die als politische Gemeinschaft operierende Gesellschaft ihre Verhältnisse im Wege einer Inkraftsetzung verbindlich geltender Gesetze ordnet und so ihre gesamtgesellschaftliche Integration besorgt. Das Gesetzgebungsverfahren wird herkömmlich als Kern eines gesellschaftsweiten Gefüges auf diesen Zweck ausgerichteter Verfahren betrachtet. Auch wenn klarzustellen ist, dass das Gesetzgebungsverfahren zwar einen wichtigen, nicht aber den einzigen Teil des gesamtgesellschaftlichen politischen Integrationsprozesses darstellt, ist seine nähere Betrachtung für die Analyse demokratischer Prozesse lohnenswert. Das demokratische Gesetzgebungsverfahren zeichnet sich auf den ersten Blick durch einen parlamentarisch eingerichteten Willensbildungsprozess aus, der über verschiedene Mechanismen (Wahlen, Abstimmungen, Referenden usw.) an eine nicht-parlamentarische Öffentlichkeit angeschlossen ist. Der parlamentarische Willensbildungsprozess (und seine Anschlüsse an die Öffentlichkeit) funktioniert nach dem Muster der Zustimmung, wobei das in der einen oder anderen Form praktizierte Mehrheitsprinzip den Zustimmungsmechanismus pragmatisch und handhabbar operationalisiert. Unter Bedingungen, die eine weitgehend Vgl. zum Folgenden insb. Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 415 – 435. 42 Die Legislation wird hier nicht für die demokratische Politik als ganze genommen. Diese traditionelle Vorstellung von Politik wird hier als Zugang zu einem umfassenderen Politikbegriff gewählt. Vgl. dazu bereits die einleitenden Ausführungen: Einleitung 1. 41
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freie und unverfälschte Meinungsbildung und -äußerung erlauben, streiten sich im demokratischen Willensbildungsprozess (in einem weiten Sinne verstandene) politische Parteien über die legitime Regelung ihres politischen Zusammenlebens und damit auch über ihre kollektive Identität und Lebensweise. Am Ende des legislativen Verfahrens steht schließlich die Konzipierung und Inkraftsetzung eines Gesetzestextes in generell-abstrakter Form, der das Ergebnis des politischen Parteienstreits anordnend formuliert. Das Gesetzgebungsverfahren und die demokratisch-institutionalisierte Politik insgesamt besticht durch die Reguliertheit ihrer Prozesse. Die Politik konzentriert sich in parlamentarischen Gremien, Regierungs- und Verwaltungsstellen und rechtsprechenden Einrichtungen, die in hohem Maße vorgeschriebenen Prozessvorschriften unterworfen sind. Diese charakteristische Verfahrensreguliertheit lässt den institutionalisierten politischen Prozess durchaus als „organisierte Öffentlichkeit“ erscheinen. Dieser organisierten Öffentlichkeit steht allerdings als „allgemeine Öffentlichkeit“ die Zivilgesellschaft gegenüber. Solange sie keinen Anschluss an den organisierten parlamentarischen Komplex sucht, ist sie als „wilder Komplex“ nicht durch vorgeformte Verfahrensregulierungen restringiert. In der allgemeinen Öffentlichkeit kursieren kommunikative Ströme in meist ungeordneter Form. Solche Kommunikationsströme können sich zu lärmenden Konglomeraten bündeln und über bestimmte Kanäle in Form einer „öffentlichen Meinung“ über den parlamentarischen Komplex ihren Weg zu den politischen Institutionen finden. Die kommunikativen Bewegungen von der unorganisierten zur organisierten Öffentlichkeit sind nicht zufällig. Denn die institutionalisierte Politik steht zur informellen öffentlichen Meinung in einer eigenartigen Abhängigkeit. Die institutionell organisierte demokratische Politik bietet zwar für die Verarbeitung von Kommunikationen eine Infrastruktur an, für die substanzielle Generierung neuer Kommunikationen ist sie jedoch nicht immer geeignet. Was sich so als eine Komplementierungsbedürftigkeit des demokratischen Prozesses darstellt, wird durch die Zufuhren öffentlicher Meinungen aus der allgemeinen Öffentlichkeit bedient. Der allgemeinen Öffentlichkeit fehlen zwar die kommunikationsverarbeitenden Infrastrukturmechanismen des organisierten Komplexes, sie verfügt dafür über die Fähigkeit, integrationsgefährdende Probleme sensibel aufzugreifen und ihnen eine vernehmbare Stimme zu geben. Die Ergänzungsbedürftigkeit des demokratischen Verfahrens erweitert die Perspektive auf die Politik über das parlamentarische bzw. über das institutionell organisierte politische Verfahren insgesamt hinaus um weitere Prozessaspekte. Das Gefüge des gesamten politischen Verfahrens demokratischer Gesellschaften lässt sich aus dieser Perspektive folgendermaßen strukturieren.43 Im Kern des demokratischen Verfahrens findet sich das „Zentrum“ des politischen Systems. Es besteht aus den politischen Institutionen der Legislative einschließlich der regierenden und administrativen Exekutive sowie der Judikative. Das politische Zentrum ist sodann 43
Fürs Folgende Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 429 – 431.
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von einer „Peripherie“ umgeben. Zur „inneren Peripherie“ zählen Einheiten, die zwar nicht mehr zum politischen Zentrum des demokratischen Verfahrens gezählt werden können, aber z. T. ähnliche hoheitliche Funktionen aufweisen wie die politische Administration i. e. S., an deren Rändern sie situiert sind. Dazu zu zählen sind „Universitäten, Versicherungssysteme, Standesvertretungen, Kammern, Wohlfahrtsverbände, Stiftungen usw.“44 Zur „äußeren Peripherie“ gehören zum einen Einrichtungen, deren komplex organisierte Schnittstellenverbindungen mit dem politischen Zentrum dazu dienen, Entscheidungen nach außen hin zu implementieren („Abnehmer“). Bei solchen „Verhandlungssystemen“ kann es sich z. B. um „private Organisationen“, „Spitzenverbände“ oder „Interessengruppen“ handeln. Daneben sorgen die „meinungsbildenden, auf Themen und Beiträge, allgemein auf öffentlichen Einfluß spezialisierten Vereinigungen“ für die Zufuhr von verarbeitungswürdigen Problemen gesellschaftlicher Integration („Zulieferer“). „Das Spektrum reicht von Verbänden, die klar definierte Gruppeninteressen vertreten, über Vereinigungen (mit erkennbar parteipolitischen Zielsetzungen) und kulturellen Einrichtungen (wie Akademien, Schriftstellerverbände, radical professionals usw.) bis zu ,public interest groups‘ (mit öffentlichen Anliegen wie Umweltschutz, Warentest, Tierschutz usw.) und Kirchen oder karitativen Verbänden.“45 Den „eigentlich peripheren Kontext“ bildet dann die zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit, der die organisierten Komplexe der inneren und äußeren Peripherie als „intermediäre Strukturen“ gegenübergestellt werden können.46 Die für die gesellschaftliche Integration wirksame Steuerung geht vom Zentrum des politischen Systems aus. Sie macht sich dort als von der Administration ausgeübte „administrative Macht“ bemerkbar. Die Art und Weise, in der diese administrative Macht generiert wird, wird schließlich über die Legitimität des politischen Prozesses entscheiden. In soziologischer Sicht hängt vom Rationalitätsgrad administrativer Machtproduktion die Integrationschance moderner Gesellschaften ab. Diese beiden (normativen) Fragen – von denen vorerst nur aus soziologischer Sicht die Integrationsfrage, nicht aber die Legitimationsfrage interessiert – sollen zuerst von einer Analyse möglicher Machterzeugungsflüsse vorbereitet werden, die dann zur Beurteilung der soziologischen bzw. legitimatorischen Rationalität herangezogen werden können. Freilich besteht auch die Möglichkeit, dass administrative Macht ohne weitere Anschlüsse einseitig von der Administration ausgeübt wird, der Machtausübung der Administration also kein anderer Machterzeugungsfluss vorausgeht. In demokratischen Gesellschaften entsteht offizielle administrative Macht typischerweise allerdings nicht derart originär, sondern in einem Abschnitt eines kreisförmigen Gesamtprozesses. Wie auch immer der ganze Weg der Generierung administrativer Macht verläuft – unterschiedliche Wege sind denkbar –, schließt die Ausübung administrativer Macht dabei stets direkt oder (über 44 45 46
Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 430. Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 430 f., m. w. H. Hierzu Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 431.
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Delegationen, die ihrerseits das Gesetzgebungsverfahren durchlaufen müssen) indirekt an den institutionalisierten Prozess der Gesetzgebung an. Vor dem Hintergrund dieser in Demokratien relativ stabilen Verknüpfung zwischen administrativer Machtausübung und Legislativverfahren bekommt die Frage, wie administrative Macht erzeugt wird, demnach eine ähnliche Bedeutung wie die Frage, auf welche Weise legislative Verfahren in Gang gesetzt werden. Obwohl administrative Macht in Demokratien in aller Regel unmittelbar an das legislative Verfahren angeschlossen ist, kann der Machtweg insgesamt ganz unterschiedlich verlaufen. Beispielsweise kann die Generierung administrativer Macht ihren Ausgang sogar am anderen Ende des politischen Systems, am äußersten Rand der Peripherie nehmen. Dort können integrationsgefährdende Probleme zunächst etwa in einzelnen unorganisierten Teilen der Zivilgesellschaft, bei einzelnen Mitgliedern, in einzelnen Familien o. ä. wahrgenommen werden. Die Probleme können dann auf kleinere Gruppierungen wie Quartiervereine, Kirchengemeinden oder kommunale Parteisektionen und immer weiter getragen werden, bis sie schließlich von intermediären Strukturen aufgenommen werden, die einen wirksamen Einfluss auf das politische Zentrum und den parlamentarischen Prozess nehmen können. Ist der Einfluss groß genug und kommt dadurch ein legislatives Verfahren in Gang, so wird die von den intermediären Strukturen ausgeübte „soziale Macht“ in administrative Macht transformiert. Über die Einrichtungen der Verwaltung, der inneren Peripherie und die Abnehmerseite der äußeren Peripherie gelangt diese administrative Macht steuerungswirksam wieder in die peripheren Gebiete der Zivilgesellschaft zurück, wo sie dann ihrerseits auf die ursprünglichen Problemherde der Machtbewegung sozialintegrierend zurückwirkt. Der geschilderte weitläufige Machtkreislauf stellt in modernen Demokratien kaum die Regel dar. Häufig dominiert ein verkürzter Machtkreislauf, bei dem die Verwaltung selbst Initiantin des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens ist und daraufhin administrative Macht in der Peripherie implementiert. Möglich ist auch, dass die politische Administration aus verschiedenen Gründen ihren Einfluss nicht direkt auf den parlamentarischen Prozess lenkt, sondern zunächst in die Peripherie leitet, um dann zusammen mit einer mobilisierten Öffentlichkeit den Transformationsprozess politischer Macht voranzutreiben. Vor dem Hintergrund des Integrationsbedarfs moderner Gesellschaften fragt sich aber, welcherart die Erzeugungsläufe sein müssen, damit die steuerungsorientierte administrative Macht sozialintegrative Kraft entfalten kann. Dabei entscheidend wird sein, dass sich die administrative Macht wesentlich aus der Solidaritätsressource der Lebenswelt nährt, aus der Ressource, an der in ausdifferenzierten Demokratien systematische Knappheit herrscht. Die administrative Macht kann ihre sozialintegrative Kraft erst entfalten, wenn sie mit lebensweltlicher Substanz verschwistert wird. Ansonsten bleibt sie zwar steuerungswirksame Macht, verfehlt aber ihre Integrationsaufgabe. Das bedeutet, dass die Generierung administrativer Macht letztlich in der zivilgesellschaftlichen Peripherie verankert sein muss. Ihre Ausfallbürgschaft kann die Politik letztlich erst einlösen, wenn sie ihren Ausgang
2. Kleine Soziologie moderner Demokratien
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in der Zivilgesellschaft nimmt. Idealtypisch entspricht der politische Prozess daher dem „outside initiative model“, nach dem die politische Initiative von der zunächst unorganisierten Peripherie ausgeht, sich über intermediäre Strukturen zu sozialer Macht entwickelt und so immer stärkeren politischen Einfluss geltend macht, dieser auf den parlamentarischen Komplex einwirkt und schließlich über das Gesetzgebungsverfahren administrative Macht erzeugt.47 Sofern die intermediären Strukturen als autonome Öffentlichkeiten hinreichend durchlässig an die Zivilgesellschaft angeschlossen und somit organisierter Ausdruck unorganisierter lebensweltlicher Anliegen sind,48 kann die Auslösung in sozialintegrativer Hinsicht auch von diesen intermediären Strukturen selbst ausgehen. Entscheidend ist sodann, dass die soziale Macht der intermediären Strukturen nicht auf direktem Wege administrative Macht erzeugt, sondern über das legislative Verfahren in „kommunikative Macht“ zurückverwandelt wird, bevor diese wiederum als administrative Macht in die Peripherie zurückfließt.49 Denn erst in der kommunikativen Macht kommt die „sozialintegrative Kraft der Solidarität“50 zum Tragen. Für die Transformation der am Eingang des parlamentarisch-demokratischen Prozesses stehenden sozialen Macht in kommunikative Macht stehen die rechtlich gefassten demokratischen Verfahrensregeln zur Verfügung. Sie strukturieren den Prozess der Machtgenerierung so, dass die administrative Macht als rationalisierte resultiert und damit ihre Integrationsaufgabe erfolgreich bewältigen kann. In diesem Zusammenhang können die Verfahrensregulierungen, die die Generierungsprozesse administrativer Macht einbetten, als Schleusen oder Filter des (kommunikativen) Machtflusses betrachtet werden.51 Moderne Demokratien disziplinieren die Machtflüsse, die auf den demokratisch-parlamentarischen Prozess zur Transformation in administrative Macht zuströmen, über demokratische Schleusen derart, dass soziale Macht zunächst zu kommunikativer Macht verflüssigt werden muss, bevor sie als administrative Macht in die Peripherie zurückströmt. Dieses Erklärungsmodell erfolgreicher Sozialintegration in komplexen demokratischen Gesellschaften wirft mindestens zwei Nachfragen auf. Die erste Frage betrifft die Tatsache, dass in modernen Demokratien der Anstoß zu politischen Prozessen tatsächlich nur selten von der zivilgesellschaftlichen Peripherie ausgeht, nicht einmal von den intermediären Strukturen oder autonomen Öffentlichkeiten. Häufig dominiert das „inside access model“ oder das „mobilization model“, nach denen die politischen Prozesse entweder von der offiziellen Administration aus47 Zu den drei Modellen des Verhältnisses zwischen Öffentlichkeit und politischem System Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 458 f., m. w. H. 48 Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 362 f.; Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 126, Rn. 395. 49 Hierzu Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 126, Rn. 396, m. w. H. 50 Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 363. 51 Peters, Die Integration moderner Gesellschaften (1993), S. 340 f. Dazu Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 431 f.
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geht und ohne weitere Anschlüsse an die periphere Öffentlichkeit innerhalb des Zentrums legiferiert oder die politischen Prozesse von der Administration angestoßen werden, diese zur Erfüllung formeller Voraussetzungen der Gesetzgebung oder zur späteren Implementierung von Gesetzesvorhaben jedoch die Öffentlichkeit einbezieht.52 Auch wenn wie im zweiten Fall die Öffentlichkeit in den Erzeugungsprozess administrativer Macht einbezogen wird und ihr im ersten Fall institutionell evtl. (über Referenden o. Ä.) die Möglichkeit zur Einflussnahme gegeben wird, so kann doch nicht gesagt werden, dass die Generierung neuer administrativer Macht von der Peripherie ausgeht. Das scheint dem integrationswirksamen Erfordernis komplexer Gesellschaften zu widersprechen. Die scheinbare Unvereinbarkeit kann jedoch mit einer präzisierenden Erklärung des demokratischen Machtkreislaufs aufgelöst werden. Für die Integration moderner Gesellschaften genügt es, wenn die Impulse der zivilgesellschaftlichen Peripherie in Krisenzeiten funktionieren. Für den peripheren Einfluss muss lediglich generell eine Möglichkeit zur Geltendmachung gewährleistet sein. Besonders dann, wenn ernsthafte Probleme an der Integration der Gesellschaft rütteln, muss sichergestellt sein, dass die über das feine Sensorium der Peripherie zuerst wahrgenommenen Konflikte, Identitätsfragen und Koordinationsprobleme an das politische Zentrum weitergetragen werden können. Unter diesen Bedingungen trägt das politische business as usual zu einer sozialintegrativ verkraftbaren Reduktion sozialer Komplexität bei.53 Eine zweite Frage drängt sich bei dem – für moderne Demokratien behauptungsweise typischen – gezeichneten Bild auf, wenn politische Systeme mit direktdemokratischen Elementen wie etwa die Schweiz mit in den Blick genommen werden. Das Integrationsmodell ist scheinbar auf parlamentarische Demokratien zugeschnitten, in denen die Zivilgesellschaft über den Weg intermediärer Strukturen Einfluss auf das politische Zentrum geltend macht, nicht aber etwa direkt darauf Einfluss nehmen kann. Auch diese scheinbare Unvereinbarkeit verblasst, wenn die direktdemokratischen Elemente im rechten Licht besehen werden.54 Die Wahrnehmung von Volksrechten mit direktdemokratischem Charakter bilden – wie etwa auch in der Schweiz – nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Sie können als Möglichkeiten verstanden werden, wie der business as usual-Prozess des Zentrums über Veto-Schleusen diszipliniert werden kann. Die Peripherie bleibt vom Zentrum weiterhin abgrenzbar. Allerdings bieten solche direkten Einflussmöglichkeiten der Öffentlichkeit Varianten an, wie die Peripherie auch an den Routineprozess des Zentrums angeschlossen werden kann. In den Fällen, in denen die zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit obligatorisch in den demokratischen Prozess einbezogen wird, in der Schweiz im Bereich der Verfassungsrevision und in kleinen Versammlungsdemokratien unterer Stufe, finden sich tatsächlich feste Verknüpfungen zwischen Zentrum und Peripherie, sodass die Abgrenzung schwieriger wird. Zu den 52 53 54
Fn. 47. Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 432 – 435 / 458 – 464, je m. w. H. Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 173 f., Rn. 537 f.
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Verfassungsrevisionen kann allerdings gesagt werden, dass auch diese die Ausnahme bilden. Versammlungsdemokratien, in kleineren Kommunen oder Gliedstaaten, bilden sodann sozusagen selbst die Ausnahme des modernen demokratischen Typus. Diese Ausnahme lässt sich aber wiederum damit erklären, dass in den kleinen Räumen, in denen solche Versammlungsdemokratien spielen, die Gesellschaft in Bezug auf die betreffende Kommune oder den betreffenden Gliedstaat nicht derart komplex differenziert ist wie auf anderen Ebenen. In der Tendenz jedenfalls lässt sich sagen, dass mit steigendem Komplexitätsgrad differenzierter Gesellschaften auch die Abgrenzung zwischen Zentrum und Peripherie schärfer wird. 3. Deliberative Demokratie Der soziologische Blick auf die Verhältnisse in modernen Demokratien hat den Integrationsbedarf beleuchtet, den ausdifferenzierte Gesellschaften zu decken gezwungen sind. Die Integrationsaufgabe können solche Gesellschaften nur bewältigen, wenn sie den Verlust der Ressource kompensieren, die durch die systemischen Eingriffe in die Lebenswelt verlustig geht: der als kommunikative Rationalität zu fassenden Solidarität. Hierfür bietet die demokratische Politik Handreiche. Im Wege demokratisch-rechtsstaatlicher Verfahren stellt die Politik eine Infrastruktur zur Verfügung, mit der die kommunikative Rationalität revitalisiert werden kann. Dies geschieht dadurch, dass die integrationsgefährdenden Probleme, mit der allgemeine Öffentlichkeit vernetzt, im demokratischen Verfahren verarbeitet werden. Die soziale Macht der intermediären Strukturen wird im demokratischen Prozess zu kommunikativer Macht verflüssigt. Die steuerungswirksame administrative Macht kann über die Gesetzgebung an diese kommunikative Macht anschließen und so integrierend in die Zivilgesellschaft zurückwirken. Auch wenn diese (kleine) Soziologie moderner Demokratie erkenntlich normative Züge trägt, beantwortet sie die Frage der Legitimation politischer Prozesse noch nicht. Von der Diskussion der Demokratie-Konzepte und der soziologischen Diskussion ausgehend, soll die Argumentation nun nachfolgend in eine legitimatorische politisch-philosophische Konzeption prozeduraler demokratischer Politik, in die Konzeption der deliberativen Demokratie münden. Dafür ist es ratsam, die Übersetzung der Problematik des Funktionierens in die Problematik des Legitimierens vorgängig sorgfältig vorzubereiten.
a) Funktionieren und Legitimieren in der politischen Philosophie Was die soziologische Analyse leisten kann, ist eine Erklärung des Integrationspotenzials demokratischer Politik. Dass diese Erklärung z. T. normative Züge trägt, ergibt sich aus dem Umstand, dass auch die Soziologie in diesem Zusammenhang ohne die Einnahme des Teilnahmestandpunktes nicht auskommt. Eine rein beobachtende Perspektive kann, wie etwa die Kritik der systemtheoretischen Analyse
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gezeigt hat,55 den soziologischen Sinn einer politischen Konstitution nicht zureichend erfassen. Dennoch ist die Legitimationsfrage damit noch nicht beantwortet. Bei dieser Frage geht es im Feld der politischen Philosophie nicht darum, (soziologisch) ein Erklärungsmodell des gesellschaftlich-demokratischen Integrationsprozesses zu liefern, sondern darum, wie politische Macht ethisch gerechtfertigt werden kann. Die soziologische Analyse kann dafür allerdings einige Anhaltspunkte bereitstellen. Die normativen Elemente, die dieser Analyse eingeschrieben sind, dürfen zwar nicht eins zu eins übernommen werden, ebenso wenig wie die faktischen dürfen sie für die Legitimationsfrage jedoch auch nicht übergangen werden. Wenn es – wie hier vertreten wird – zutrifft, dass es ein bereits in soziologischer Sicht erkennbares konstituierendes Merkmal demokratischer Gesellschaften ist, dass politische Machtgenerierung und -ausübung an einen kommunikativen Prozess gesetzlicher Vermachtung anzuschließen ist, so muss sich dies auch in einer legitimatorischen Konzeption niederschlagen. Eine legitimatorische Konzeption demokratischer Politik darf sich aber nicht in einer Umformulierung der soziologischen Analyse erschöpfen. Eine politische Konzeption in legitimatorischer Absicht muss (auch) eine eigene Leistung erbringen. Würde sie sich zu ihrer Konzipierung auf eine reine Umdeutung des kommunikationstheoretisch reflektierten Demokratie-Modells moderner Gesellschaften verlassen, so müsste sie sich vorwerfen lassen, ihre teilweise in der Teilnahmeperspektive erwogenen und ansonsten beobachteten Politikstrukturen und -prozesse lediglich ideologisch zu überformen. Die soziologisch-legitimatorische Übersetzungsleistung besteht richtig verstanden darin, die soziologische und die legitimatorische Konzeptionsteile insgesamt so zu gestalten, dass sich beide angemessen aneinander anschließen lassen. Für eine legitimatorische Konzeption, die den Anspruch erhebt, Teilnahme- und Beobachtungsperspektive zu integrieren,56 bedeutet das, dass die soziologische und die legitimatorische Sichtweise jeweils ineinander übersetzbar sein sollten. So gesehen und die Überzeugungskraft der vorherigen soziologischen Analyse unterstellt, muss es der perspektivische Wechsel von der Frage des Funktionierens zu der des Legitimierens bewerkstelligen, das politische Integrationsmodell moderner Demokratie legitimatorisch zu rekonstruieren. Die soziologische Analyse liefert dann gewissermaßen das wirklichkeitsbezogene Material, das die normative Politikkonzeption aus eigener Kraft legitimatorisch zu verarbeiten hat. Die vorrangige Aufgabe einer legitimatorischen Demokratiekonzeption besteht in der Rechtfertigung politischer Macht. Nachdem die soziologische Analyse ergeben hat, dass die politische Macht in Demokratien in einen Kreislaufprozess eingeI. 3. b). Freilich kann diese Übersetzungsleistung auch in umgekehrter Richtung vorgenommen, eine legitimatorische Sichtweise also auch in die soziologische Perspektive transferiert werden. So etwa der Ansatz bei Habermas: vgl. z. B. Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 383 – 398 / 432. 55 56
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bunden ist, in dem sie verschiedene Aggregatzustände durchläuft, lässt sich die Kernfrage einer soziologisch integrierten legitimatorischen Demokratiekonzeption darauf zuspitzen, wie die darin implizierten Transformationsprozesse der Macht legitimiert werden können. Beim perspektivischen Wechsel von der Funktions- zur Legitimationsfrage muss auf der legitimatorischen Seite v. a. klar werden, warum die Generierung administrativer Macht eine kommunikative Transformation durchlaufen muss. Es ist überzeugend darzulegen, wie die Bedingungen dieser politischen Machttransformation genauer aussehen sollten. Ferner muss geklärt werden, wie die Machtströme von der peripheren Öffentlichkeit zum politischen Zentrum in der Legitimationsperspektive zu lesen sind und unter welchen Bedingungen diese zu verlaufen haben. Es muss dann legitimiert werden, dass sich der politische Prozess auf die Institutionen des politischen Zentrums verteilt, und deutlich gemacht werden, wie mit der daraus resultierenden institutionellen Machtkonzentration umzugehen ist. Insgesamt muss ein Modell legitimer politischer Prozesse in modernen Demokratien bereitgestellt werden. Auch in legitimatorischer Hinsicht darf die politisch-philosophische Konzeption allerdings nicht aus der Luft gegriffen werden. In disziplinärer Hinsicht gilt es hierfür insbesondere, mithilfe der inzwischen vertieften soziologischen Ansätze an die bereits erarbeiteten Theoreme des prozeduralen Demokratie-Konzepts anzuschließen. Die Voraussetzungen dafür stehen gut. Denn zum einen hat sich gezeigt, dass sich die soziologische Analyse moderner Demokratien mit dem prozeduralen Demokratie-Konzept verträgt. Indem es die Bedingungen und Verhältnisse in komplexen demokratischen Gesellschaften ausbuchstabiert und erklärt, kann das Integrationsmodell als konzeptionelle Weiterführung der soziologischen Seite des prozeduralen Demokratie-Konzepts gelesen werden. Zum andern kommt das soziologische Modell dem normativen Konzept auch insofern entgegen, als es denselben prozeduralen Charakter aufweist. So wie im Integrationsmodell die Generierung und Implementierung politischer Macht nämlich als Prozesse dargestellt werden, fordert auch das prozedurale Demokratie-Konzept eine prozedurale Legitimation politische Macht. Die soziologische Aufbereitung, die das demokratische Integrationsmodell bereitstellt, ist somit auch mit dem Normierungsprogramm des PolitikKonzepts kompatibel.
b) Vom moralischen Diskurs zur politischen Deliberation Das prozedurale Demokratie-Konzept und das soziologische Demokratie-Modell bilden jedoch erst das disziplinäre Eingangstor zu einer auch in interdisziplinärer Verantwortung stehenden politisch-philosophischen Konzeption legitimer Demokratie. Zweifellos müssen beide disziplinär kohärent integriert werden können. Doch bereits dafür bedarf es weiterer Verknüpfungen. Nach den soziologischen Ausführungen, die als Ausbuchstabierung der faktischen Seite des prozeduralen Demokratie-Konzepts gesehen werden können, steht für das Folgende v. a.
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die Ausarbeitung der normativen Seite an. Inzwischen auch auf die Kohärenz mit dem soziologischen Demokratie-Modell verpflichtet, müssen nun fernerhin die legitimatorischen Theoreme des prozeduralen Konzepts weitergeführt werden. Für diese Weiterführung soll hier die Diskursethik herangezogen werden. Die Diskursethik kommt dafür nicht nur generell als überzeugende Konzeption der so eng mit der politischen Philosophie verknüpften Moralphilosophie infrage, sondern sie drängt sich unter den disziplinären Vorarbeiten auch aus ganz bestimmten Gründen auf. Wie gesehen, verlangt das prozedurale Demokratie-Konzept die Regelung von der politischen Verhältnisse in fairen Verfahren. Die Diskursethik tritt nun genau mit dem Anspruch an, die Fairness von normativen Verfahren (schlechthin) ethisch zu legitimieren. Auch wenn die Diskursethik hier zuvor in der Moralphilosophie konzeptionalisiert worden ist, ist eine disziplinengerechte Übertragung der Diskursethik auf politische Verfahren prinzipiell nicht ausgeschlossen. Dazu kommt, dass Demokratie hier als eine politische Herrschaftsform eingeführt worden ist, die sich durch die Zustimmung der Herrschaftsunterworfenen legitimieren will. Auch daran kann eine auch die Diskursethik einbeziehende interdisziplinäre Theorie ansetzen, insofern die Diskursethik als Verfahrensethik gesehen werden kann, die die Bedingungen normieren will, unter denen normative Zustimmung Gültigkeit beanspruchen können. Ähnlich wie die Übersetzung des soziologischen Demokratie-Modells in eine normative Konzeption darf aber auch die Diskursethik nicht eins zu eins von der Moralphilosophie in die politische Philosophie verpflanzt werden.57 Die Diskursethik rekonstruiert eine ideale Kommunikationssituation im Bereich des Moralischen, der Justifikation. Auch wenn sie damit den nachmetaphysisch verstandenen moralischen Gesichtspunkt in diesem Bereich überzeugend expliziert, können ihre diskursmoralischen Kriterien für die kulturelle Konkretisierung im Bereich der politischen Konstitution nicht einfach übernommen werden. Einer mit der moralphilosophischen Diskursethik kommunizierenden politisch-philosophischen Konzeption muss es jedoch gelingen, auch die normativen Forderungen der Diskursethik in der thematisch-methodischen Perspektive ihres disziplinären Feldes zu rekonstruieren. Für diesen Schritt können die Prinzipien der Diskursethik nicht einfach „bezogen“, aber auch nicht „logisch“ deduziert werden. Die diskursethischen Prinzipien können lediglich als transdisziplinäre interpretatorische Folie für die rationale Rekonstruktion des normativen Gehalts demokratischer Politik dienen. Methodologisch wiederholt sich damit die Bedingung, die es auch für die soziologisch-legitimatorische Translation von der politisch-philosophischen Soziologie in die entsprechende legitimatorische Sicht zu beachten gilt. Die einzelnen Ansprüche der verschiedenen disziplinären bzw. transdisziplinären Bereiche müssen so miteinander verbunden werden, dass sie insgesamt ein kohärentes Bild ergeben. Eine politischphilosophische Konzeption, die in Zusammenarbeit (auch) mit der Diskursethik die 57 Vgl. bereits die analoge Kritik an Alexy, der die Diskursethik direkt in die juristische Methodenlehre implantiert: III. 1. b).
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demokratische Transformationen politischer Macht legitimieren soll, muss es dann leisten, die Ideale der Diskursethik unter den Ansprüchen der demokratischen Politik angemessen auszuarbeiten. Der Schritt von der universellen Justifikation zur demokratisch-kulturellen Konstitution muss disziplinengerecht vollzogen werden. Als Versuch, die Anliegen der moralphilosophischen Diskursethik auch im Anspruchsbereich der politischen Philosophie fruchtbar zu machen, können die Ansätze der deliberativen Demokratie betrachtet werden. Das Konzept der „deliberativen Demokratie“ nimmt spätestens seit den 1990er Jahren einen festen Platz in der politisch-philosophischen Demokratietheorie ein und verzweigt sich seither in zahlreiche konzeptionelle Varianten. Geprägt worden ist die deliberative Demokratie etwa von Joshua Cohen58, James S. Fishkin59 und John S. Dryzek60.61 Besonderen Aufwind verdankt sie in letzter Zeit Jürgen Habermas,62 an dessen diskurstheoretische Variante der deliberativen Demokratie hier tendenziell angeknüpft wird. „Deliberation“ (lat. deliberare: abwägen, erwägen, überlegen, beratschlagen) kann als ein argumentativer Prozess öffentlicher Beratschlagung verstanden werden. Ein anstehendes politisches Problem soll zuerst zum Gegenstand einer öffentlichen Debatte gemacht werden, bevor verbindlich darüber entschieden wird. Jede Person, die betroffen ist, soll die Möglichkeit haben, unter gleichen Voraussetzungen als gleiche und freie Argumentationspartnerin ihre Argumente zum Problem vorzubringen. Nach diesem Konzept ergibt sich die Legitimität einer politischen Problemlösung nicht aus dem resultierenden Entscheidungsergebnis, sondern aus der Tatsache, dass über mögliche Problemlösungen chancengleich beraten worden ist. Die deliberative Demokratie betrachtet die Deliberation selbst als den legitimatorischen Kern politischer Entscheidungsfindung. 58 Z. B. Cohen, Deliberation and Democratic Legitimacy (1989); ders., Procedure and Substance in Deliberative Democracy (1996); vgl. auch bereits Cohen / Rogers, On Democracy (1983). 59 Z. B. Fishkin, Democracy and Deliberation (1991); ders., The Dialogue of Justice (1992); Fishkin / Ackerman, Deliberation Day (2004). 60 Z. B. Dryzek, Deliberative Democracy and Beyond (2000); ders., Deliberative Global Politics (2006). 61 Einen Überblick über das Konzept der deliberativen Demokratie verschaffen etwa Goodin, Innovating Democracy (2008); Gutmann / Thompson, Why Deliberative Democracy? (2004); Lösch, Deliberative Politik (2005). Unter den zahlreichen Sammelbänden ferner Elster (Hrsg.), Deliberative Democracy (1998); Fishkin / Laslett, Debating Deliberative Democracy (2003); Besson / Marti, Deliberative Democracy and its Discontents (2006); Aaken et al. (Hrsg.), Deliberation and Decision (2004). Als Pionier der Deliberationskonzeption darf wohl Joseph Bessette gelten: Bessette, Deliberative Democracy (1980). 62 V. a. Habermas, Faktizität und Geltung (41994), insb. S. 349 – 467; ders., Drei normative Modelle der Demokratie (1996 [1992]); ders., Rechtsstaat und Demokratie (1996 [1994]); ders., Replik auf Beiträge (1996). Dazu nur Schmalz-Bruns, Reflexive Demokratie (1995); Cohen, Habermas on Democracy (1999); Scheyli, Politische Öffentlichkeit und deliberative Demokratie (2000); Palazzo, Die Mitte der Demokratie (2002); Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 121 – 136, Rn. 380 – 416 / S. 170 – 189, Rn. 525 – 586; Bächtiger / Tschentscher, Deliberative Demokratie (2007).
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Die Idee der Deliberation besteht darin, dass es die verfahrensgerecht geführten Deliberationen sind, die politische Entscheidungen legitimieren. Anders als die primär output-orientierten Konzeptionen des Republikanismus und des Liberalismus legitimiert nicht ein materiales Gemeinwohl oder eine formale Mehrheit63 das politische Verfahren, sondern die strukturelle Qualität der Input-Einleitung und -Verarbeitung. Die Ergebnisse des politischen Prozesses sind unter diesen Bedingungen relativ unerheblich. Wie die Diskursethik im Bereich der Moralphilosophie enthält sich der prozedurale Ansatz der deliberativen Demokratie materieller Forderungen insofern, als er die Ergebnisse demokratischer Politik nicht vorentscheidet.64 Andererseits stellt die deliberative Demokratie für das Zustandekommen politischer Entscheidungen auch keinen Freibrief für Mehrheitsentscheide aus. Für die politische Legitimität entscheidend ist die auf bindende Entscheidungen ausgerichtete Deliberation. Bei demokratischen Entscheiden geht es danach darum, dass in einem kommunikativen Prozess unter bestimmten Verfahrensbedingungen Argumente für und wider bestimmte Vorschläge ausgetauscht werden. Die Einhaltung der Verfahrensbedingungen des argumentativen Verfahrens begründet dann die Vermutung der Vernünftigkeit der Entscheidungsergebnisse. Materielle Vorgaben, bestimmte Entscheidungsergebnisse, können in komplexen pluralistischen Gesellschaften nicht mehr für rationale bzw. legitime Verhältnisse garantieren. Dafür fehlt den dezentrierten Gesellschaften moderner Demokratien eine entsprechende Referenz-Einheit. Doch auch die formale Mehrheitsregel bürgt als solche nicht für legitime Politik. Für die deliberative Demokratie maßgeblich ist, wie solche Mehrheiten entstanden sind – und ob die Minderheiten unter den gleichen Voraussetzungen die Chance haben, ihrerseits zu Mehrheiten zu werden.65 Die Mehrheitsregel fungiert in diesem Konzept von Demokratie als eine legitime Möglichkeit, den politischen Prozess aus Gründen des Zeit- und Entscheidungsdrucks vorübergehend zu beenden.66 Es handelt sich dabei um eine technische Regel, mit deren Hilfe der status quo einer politischen Deliberation verbindlich in Geltung gesetzt werden kann. Die deliberative Demokratie setzt so zunächst einen Kontrapunkt gegen ökonomistisch ansetzende liberale Politiktheorien, die sich unter Rückgriff auf einen 63 Auch die Abstellung auf eine formale Mehrheit ist output-orientiert. Dass der Output anders als in der republikanischen Sicht dabei formalisiert ist, tut dieser Qualifikation keinen Abbruch. Die Unterscheidung „Input – Output“ ist eine andere als die Unterscheidung „materiell – formell“. Die erste betrifft die Eingabe und Ausgabe eines Prozesses, die zweite kann die Beschaffenheit der Eingabe oder der Ausgabe betreffen. 64 Allerdings können gewisse Ergebnisse – krasse Verletzungen fundamentaler Respektund Achtungsgebote – durch die Filterfunktion des normativ strukturierten Verfahrens wohl als unwahrscheinlich betrachtet werden. Analytisch ist die Strukturebene des Verfahrens von dessen materiellen Resultaten jedoch zu unterscheiden. 65 Vgl. Palazzo, Die Mitte der Demokratie (2002), S. 174. 66 Vgl. Palazzo, Die Mitte der Demokratie (2002). S. 173. Zur theoretischen Integration der Mehrheitsregel eingehender sogleich, (4).
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(mindestens) methodologischen Individualismus gezwungen sehen, den politischen Prozess als reinen Wettbewerb widerstreitender Interessen und politische Entscheide lediglich als Aggregationsresultate stabiler Individualpräferenzen zu betrachten.67 Das Konzept der Deliberation macht demgegenüber den politischen Meinungs- und Willensbildungsprozess als solchen stark, in dem normative Überzeugungen auch gebildet werden können. Individualistisch-präferentiell ausgerichtete Theorien schreiben dem politischen Prozess nur die Funktion einer Sortierung bestehender Interessen und Bedürfnisse zu. Präferenzen werden nach diesem Muster dann durch eine unsichtbare Hand des politischen Wettbewerbs, gewissermaßen die black box zwischen Interessen-Input und Entscheidungs-Output, zusammengeführt und geordnet. Bei näherer Betrachtung lässt sich die black box liberaler Konzeptionen dann als ein strategischer Handel charakterisieren. Die Präferenzen der Individuen werden als divergent, unvereinbar und invariant betrachtet, sodass sich der politische Prozess nur noch als ein macht- und sanktionsgesteuertes Strategieverfahren darstellt, das auf einen erfolgsorientierten Ausgleich lediglich präferierter Interessen hinausläuft. Die deliberative Demokratie zieht sowohl die Einseitigkeit als auch die Legitimationskraft dieses Modells in Zweifel. Denn auch wenn sich die Standpunkte im demokratischen Verfahren in der Tat und in aller Regel als nicht mehr konsens-, sondern nur noch kompromissfähig erweisen, heißt das nicht, dass die prinzipielle Verständigungsorientierung (die sich freilich neben eine prinzipielle Dissensmöglichkeit gesellt) des politischen Prozesses aufgegeben werden muss. Für die normative Konzipierung von Politik bedarf es einer dissensermöglichenden und konsenswürdigen Regulierung gerade dann, wenn die unausweichliche Preisgabe verallgemeinerbarer Interessen zu einer macht- und sanktionsgesteuerten Verselbständigung des politischen Prozesses zu führen droht. Während liberale Konzeptionen den politischen Prozess durchgängig als ein berechenbares Strategiespiel unvereinbarer Interessen deuten, sehen ihn republikanisch ausgerichtete Konzeptionen andererseits als eine auf Einheit ausgerichtete Kollektivprozedur. Im Republikanismus präsentiert sich der politische Prozess als ein Verfahren der Bestimmung eines allen gleich wertvollen Gemeinwohls, als eine durch und durch gemeinschaftliche Suche nach einem einheitlichen kollektiven Selbstverständnis, nach gemeinsamen Werten und einer entsprechenden gemeinsamen Lebensweise. Unter Rückgriff auf das Kooperationsmodell republikanischer Gesellschaften bringen republikanische Konzeptionen vor, dass der normative Sinn von Demokratien erst in der kollektiven Selbstorganisation der gemeinsamen Lebensverhältnisse zum Tragen kommt. Dem Konfliktmodell des Liberalismus kann der Republikanismus dabei entgegen halten, dass dem strategischen Interessenhandel ein hinreichendes Legitimationsniveau abgeht. Allerdings macht der Republikanismus dies aus einer all zu kollektivistischen Sichtweise geltend. Deswegen schätzt der deliberative Ansatz auch das republikanische Modell skeptisch ein. Unter modernen pluralistischen Gesellschaftsbedingungen hält er es 67
Vgl. Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 124, Rn. 391.
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für zu unspezifisch und für zu idealistisch. Mit ihrer komplexeren, prozeduralen Ausrichtung setzt die deliberative Demokratie so auch einen Kontrapunkt gegen republikanische Theorien. Die deliberative Demokratie stimmt mit dem Republikanismus zwar insoweit überein, als die unvermittelte Gleichsetzung von politischen Interaktionen mit strategischen Interessenkämpfen aus legitimatorischer Sicht für zu schwach befunden wird. Sie steht auch dafür ein, dass ein insgesamt höheres Niveau politischer Rationalität erreicht werden kann. Und wie der Republikanismus sieht die deliberative Demokratie eine starke normativen Stoßrichtung politischer Entscheidungen in der friedlichen, (auch) auf Konsens ausgerichteten Selbstorganisation der Gesellschaft.68 Dem kollektivistisch-unitarischen Grundmodell des Republikanismus kann jedoch nicht zugestimmt werden. Die hier ausgeführte Konzeption der deliberativen Demokratie anerkennt zwar, dass politische Deliberationen auch die Funktion kollektiver Selbstverständigung und -organisation einnehmen. Sie zweifelt aber daran, dass der politische Diskurs in einer Suche nach dem immer schon Gemeinsamen einer politischen Gemeinschaft besteht, und daran, dass die politische Deliberation in undifferenziert konsensuellen Verfahren verlaufen kann. Allerdings fordert eine diskurstheoretische Konzeption von der „deliberativen Demokratie“ nicht irgendeinen deliberativen Umgang mit politischen Problemen, sondern eine diskursiv strukturierte Deliberation. Die diskursive Strukturierung politischer Deliberationen führt dabei nicht zwingend zu Konsens. Auch in der politischen Philosophie würde ein zu konsenslastiges Bild diskursiver Verständigung dem politischen Willensbildungsprozess viel zu einseitige Normierungen aufzwingen.69 Für eine differenzierte Verwendung des diskurstheoretischen Ansatzes kommt in der politischen Philosophie außerdem hinzu, dass sich gerade auf der kulturellen Ebene moderner demokratischer Politik die komplex ausdifferenzierten Gesellschaftsstrukturen insgesamt recht offensichtlich gegen eine simplizistische Interpretation des Legitimationsdiskurses sperren. Soll die Diskurstheorie auch im Bereich demokratischer Politik überzeugen – und unter den interdisziplinären Vorgaben dieser Untersuchung wäre das nötig –, so muss sie sich auf solche kulturellen Bedingungen einlassen. M. a. W. muss sich die moralphilosophisch konzipierte Justifikation auch als politisch-philosophisch angesprochene Konstitution bewähren können.70 Im Folgenden wird dies im Wege kontextualisierter Theoriestücke bewerkstelligt werden, die sich als „politisch-ethische Konkretisierungen“ lesen lassen. Vgl. Habermas, Drei normative Modelle der Demokratie (1996 [1992]), S. 283. Zu einer anderen Relativierung der diskurstheoretischen Konsensorientierung bereits in der Moralphilosophie II. 2. b), (3). In erster Linie entscheidend ist danach nicht, dass sich ein Konsens einstellt, sondern dass der faire, offene Argumentationsprozess zwischen den beiden Fluchtpunkten der Verständigung und der eigenen Meinung in Gang bleibt. 70 Habermas benutzt dafür ein Modell reiner kommunikativer Vergesellschaftung als legitimatorische Folie des demokratischen Prozesses. Das Modell erhält damit den Status einer methodischen Fiktion: Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 391 – 395. Der hier vorgeschlagene interdisziplinäre Ansatz geht einen etwas anderen Weg. 68 69
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Von den kulturell spezifischen Bedingungen moderner Demokratien, die in der universellen Sicht der Moralphilosophie noch nicht in den Blick kommen, in der kulturellen Sicht als komplexe pluralistische Gesellschaftsstrukturen, mit denen moderne Demokratien einhergehen, jedoch in besonderem Maße nach Kontextualisierung verlangen, seien hier vier wichtige herausgegriffen: Anzuführen ist (1), dass die Probleme, die in politischen Deliberationen insgesamt bewältigt werden müssen, viel zu komplex sind, als dass sie (auch innerhalb einer politischen Konstitution) auf einem einzigen Abstraktionsniveau normiert werden könnten. Sodann scheinen (2) der Pluralismus und die Ausdifferenzierung demokratischer Gesellschaften einem direkten, umfassenden Konsens im Grunde überhaupt keine Chance mehr zu geben. In den meisten, wenn nicht in allen Problematiken sozialer Koordination sind die Interessen und Wertvorstellungen derart divers und gegenläufig, dass ein Konsens nicht erreicht werden kann. Außerdem kann (3) auch die Vorstellung der persönlichen Partizipation aller Betroffenen unter den Bedingungen moderner Großgesellschaften nicht in Reinform durchgehalten werden, zumal komplex organisierte Gesellschaften bei der Bewältigung ihrer Probleme unter erheblichem Entscheidungsdruck stehen. Schließlich zwingt (4) insbesondere dieser Entscheidungsdruck den politischen Verfahren auch eine Beendigung in nützlicher Frist auf. Politische Verfahren können nicht in alle Ewigkeit fortgesetzt werden, sondern müssen an einem sinnvollen Punkt abgebrochen und ihre Ergebnisse müssen mit verbindlicher Geltungskraft implementiert werden. (1) Der Diskurs, wie er mit der Konzeption der Diskursethik in der Moralphilosophie erläutert worden ist, stellt ein noch undifferenziertes, im Grunde einstufiges Verfahren dar.71 Innerhalb des moralischen Diskurses verteilt sich die Argumentation nicht in verschiedene Abstraktions- und Gliederungsstufen. In der universellen Sicht der Moralphilosophie werden die moralischen Argumente von allen Betroffenen prinzipiell in einer Arena diskutiert und allenfalls verbindlich konsentiert. Dieses Bild rührt da her, dass die moralphilosophische Konzipierung des moralischen Diskurses von sämtlichen Bedingungen konkreter in Raum und Zeit versetzter Lebensformen abstrahiert. Im Versuch aber, den moralischen Diskurs auf konkrete politische Verhältnisse zu übertragen, stößt diese Vorstellung von der Undifferenziertheit des Diskursverfahrens auf Widerstand. In komplexen Demokratien können politische Probleme nicht „einfach“ geregelt werden. Vielmehr taucht die gesellschaftliche Komplexität in den Problemen selbst wieder auf und verlangt nach ebenso komplexen Lösungen. Eine politische Gemeinschaft fehlbarer Menschen kann dieser Problem-Komplexität nur beikommen, wenn sie deren Bewältigung auf verschiedene Abstraktions- und Gliederungsstufen des Rechtfertigungsprozesses verteilt. Die politische Deliberation bzw. der politische Diskurs muss deshalb i. d. S. differenziert werden („Diskursdifferenzierung“). 71 Die unglückliche Aufspaltung in Begründungs- und Anwendungsdiskurse bei Günther und Habermas sei an dieser Stelle einmal dahingestellt. Dazu eingehend II. 3.
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Sämtliche moderne Demokratien verteilen die Normierung ihrer politischen Verhältnisse auf mehrere Abstraktionsniveaus und Gliederungsebenen. Sie zeigen sich etwa in den unterschiedlichen Normierungsstufen der Verfassungs-, Gesetzesund Verordnungsgebung oder in föderalistisch organisierten politischen Ordnungen in einer Differenzierung zwischen einer Stufe der Gesamtordnung (z. B. des Bundes) und einer Stufe der Gliederordnung (z. B. der Länder, Kantone u. ä.). Das ist eine unausweichliche Konsequenz moderner Komplexität. Weil aber die moralphilosophisch-diskursethische Konzipierung des moralischen Diskurses auf diese komplexe Differenzierung der Normierungsverhältnisse nicht spezifisch eingestellt ist, muss im Bereich der politisch-philosophischen Philosophie eine akzeptable Lösung dafür gefunden werden, wie in konkreten politischen Ordnungen damit umzugehen ist. Die Schwierigkeit besteht dabei darin, die Auffächerung der politischen Deliberation in verschiedene Stufen diskursiv zu rationalisieren. Ein diskursiv-rationaler Umgang mit diesem Problem muss dann einerseits die notwendige Statik einer Stufensystematik auffangen, andererseits aber auch die prozessuale Dynamik diskursiver Legitimation erhalten. Der legitimatorisch angemessene Umgang mit der Differenzierung der politischen Deliberation kann anhand eines Modells gegenläufiger Legitimations- und Selektionslogik dargestellt werden. In philosophischer Rekonstruktion der rechtswissenschaftlich gültigen Normenhierarchie verläuft die „Legitimationslogik“ der verschiedenen Differenzierungsstufen der politischen Deliberation vom Abstrakten zum Konkreten bzw. vom Ganzen zu den Teilen „von oben nach unten“. Dass abstrakte bzw. umfassendere Normierungs(text)stufen (z. B. die Stufe der Verfassungsgebung) innerhalb einer disziplinären Sichtweise gegenüber konkreteren Textstufen (z. B. der der Gesetzgebung) derselben disziplinären Perspektive legitimatorisch vorzugswürdig sind, sollte zumindest mit dem transdisziplinären Blick auf die juristische Theoriepraxis einleuchten. Anders als beim interdisziplinären Zusammenspiel zwischen verschiedenen Disziplinen, in dem z. B. die abstraktere Moralphilosophie keinen Vorrang gegenüber der politischen Philosophie oder der juristischen Methodik beanspruchen kann, ist die diskursive Ausfächerung innerhalb der politischen Deliberation von Anfang an in einem hierarchischen Zusammenhang entstanden. Die künstlich an die Abstraktionsebenen bzw. Größenverhältnisse angebundene Hierarchie vom Abstrakten zum Konkreten bzw. vom Ganzen zu den Teilen ist als ursprünglich eingerichtetes Ordnungsverhältnis zu verstehen, dass seine Rechtfertigung aus der angemessenen Bewältigung moderner Komplexität zieht. Die Legitimationslogik ordnet die notwendige Stufenfolge der politischen Deliberation auf statische Weise. Mit ihr kann dargelegt werden, in welchem normativen Verhältnis ein politisches Normierungsverfahren zu einem anderen steht. Noch nicht beantwortet ist damit jedoch die Frage, wie die Anliegen, Wünsche und Bedürfnisse der Mitglieder der politischen Gemeinschaft auf die verschiedenen Stufen der politischen Deliberation zu verteilen sind, d. h. wie aktuelle politische Probleme in Bezug auf die zur Verfügung stehenden Verfahrensstufen sortiert wer-
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den sollen. Da es nun in legitimatorischer Hinsicht aber entscheidend ist, auf welcher Verfahrensstufe mit welchen Anforderungen und welcher normativen Wirkungskraft etwas normiert wird, müssen verschiedene Probleme mittels einer bestimmten „Selektionslogik“ ihrer jeweils angemessenen Stufe zugeteilt werden. Wie aber werden politische Probleme ihrer passenden Verfahrensstufe zugeordnet? Das Problem stellt sich deshalb, weil es im Vorhinein keine Anhaltspunkte dafür gibt, welches Problem welches Verfahren der Legitimation benötigt. Ebenso wie potenziell jede Frage zur moralischen Frage werden kann, kann auch potenziell jede Frage im politischen Verfahren ein unterschiedliches Gewicht bekommen. In einer konsequent prozedural ausgerichteten Konzeption muss jedenfalls bezweifelt werden, dass es einer Fragestellung von vornherein „anzusehen“ ist, auf welche Verfahrensstufe sie gehört.72 Das denkbare lässige Abschieben des Problems auf die (innerhalb einer demokratischen Kultur kontingenten) juristischen Institutionen73 ist dabei nicht ganz befriedigend. Denn wenn die juristischen Institutionen (etwa in der Verfassungsdogmatik und der Verfassungstheorie) dazu dienen können, politischen Prozessen und Strukturen eine verbindliche Form zu geben, dann fragt sich, weshalb im Bereich der politischen Philosophie dafür keine entsprechende disziplinäre Übersetzungsmöglichkeit bestehen sollte. Ein wichtiges legitimatorisches Theoriestück ginge so verloren. Das Defizit kann behoben werden, wenn der dynamische, prozedurale Charakter diskursiver Verfahren nur deutlich genug herausgestellt und weiterverfolgt wird. Von einem dynamisch-prozeduralen Blickwinkel aus steht dann nicht „objektiv“ im Vorhinein fest, welche Fragestellung ein politisches Problem höherer und tieferer Stufe ist. Vielmehr „ergibt“ sich erst durch den Gang des Verfahrens, welche Probleme welchen Stufen zuzuordnen sind. Im Gegensatz zur Legitimationslogik verläuft die Selektionslogik für die unterschiedlichen Stufen der politischen Deliberation nun „von unten nach oben“. Das bedeutet, dass jede Person nicht nur in die politische Deliberation hineinbringen kann, was ihr wichtig ist, sie kann es prinzipiell auch auf derjenigen Stufe einbringen, auf der es ihr richtig erscheint. D. h. v. a., dass sie, wenn sie der Meinung ist, dass „ihr“ Problem auf einer zu tiefen Stufe behandelt wird, versuchen können soll, es auf eine höhere Stufe zu heben. Alles, was sie dafür tun muss, damit ihr Anliegen auf einer höheren Stufe diskutiert wird, ist die Eintrittsbedingungen der jeweiligen Verfahrensstufe zu erfüllen. Dabei werden die Voraussetzungen, ein Problem einer bestimmten Verfahrensstufe zuzuführen, mit zunehmender Abstraktionsbzw. Gliederungs- und damit Legitimationshöhe anspruchsvoller. „Von unten nach oben“ verläuft die Selektionslogik, weil höherstufige Normierungsverfahren erst dann zum Zug kommen sollen, wenn sie vonseiten der Betroffenen verfahrensgerecht dazu in Anspruch genommen werden. Um ein bestimmtes Problem auf Vgl. Habermas, Vom Pragmatischen, Ethischen und Moralischen (1991), S. 118. Vgl. Habermas, Vom Pragmatischen, Ethischen und Moralischen (1991), S. 118; vgl. auch ders., Replik auf Beiträge (1996), S. 372. 72 73
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einer höheren, d. h. legitimatorisch anspruchsvolleren und somit auch wirkungsträchtigeren Stufe diskutieren und normieren zu können, müssen sich die Betroffenen zu diesen jeweiligen Verfahrensniveaus „hocharbeiten“. Nur auf diese offene, dynamische Weise kann die relative Wichtigkeit der politischen Probleme diskursiv-rational bestimmt und können die Probleme dieser Wichtigkeit entsprechend behandelt werden. Dabei versteht sich, dass die Inanspruchnahme der verschiedenen Verfahrensstufen zwar mit zunehmender Verfahrenshöhe schwerer werden, für alle Mitglieder der politischen Gemeinschaft aber jeweils gleich schwer bleiben muss. (2) Die pluralistischen Verhältnisse demokratischer Gesellschaften fordern außerdem in qualifiziertem Maße einen legitimatorisch angemessenen Umgang mit Dissens.74 Das pluralistische Dissensrisiko hat dabei nicht den Anstrich eines auszumerzenden Übels. Was sich in der z. T. fundamentalen Unvereinbarkeit differenter Interessen und Weltbilder präsentiert, ist Ausdruck eines normativ gerechtfertigten Faktums intrakultureller Durchmischung75, gegen die im Vorhinein keine Vorbehalte angebracht werden können (d. i. die hier vorgenommene Lesart von Rawls’ vernünftigem Pluralismus). Was in der Moralphilosophie als kulturell spezifisches Argument gegen den Anspruch universeller Zustimmungswürdigkeit nicht direkt angeführt werden kann, erhält im Bereich der politischen Philosophie dafür besonderes Gewicht. Denn im Feld der politischen Philosophie genügt es (wie noch im Feld der Moralphilosophie) nicht mehr, die abstrakten sprechimplikativen Bedingungen zu explizieren, die für die Justifikationspraxis aller Menschen rekonstruiert werden können. In politisch-philosophischer Sicht müssen (auch) die konkreteren Spezifika der ausgewählten, hier der demokratischen, Konstitutionskultur berücksichtigt werden. Werden nun demokratische Gesellschaften fortschreitend mit sozialen Differenzierungen und globalen Migrationen konfrontiert, so sind (innerhalb dieser politischen Kultur) kulturelle Fraktionierung und die Bildung weiterer intrakultureller Subkulturen ein nicht aufzuhaltendes Ereignis legitimer zeitgenössischer Demokratiegeschichte. Mit dieser Entwicklung schwindet aber auch die Wahrscheinlichkeit eines starken gemeinsamen Bezugsrahmens, auf den in politischen Verständigungsprozessen als normative Konvergenzgröße abgestellt werden könnte, und die Wahrscheinlichkeit unüberbrückbarer Dissense steigt. So geht auch die Aussicht darauf verloren, dem Dissens in einfacher Weise konsensuell begegnen zu können. An diesem Punkt ist auf die Idee des Interessenausgleichs zurückzukommen. Wenn ein starker Konsens in der Sache keinerlei Chancen mehr hat, muss die Konsensforderung des diskursiven Verfahrens den gerechtfertigten Kontexten entsprechend spezifiziert bzw. konkretisiert werden. Im Falle von unausweichlichen Dissensen auf deren schlichte konsensuelle Auflösung zu beharren, hieße, die noch Vgl. dazu auch Palazzo, Die Mitte der Demokratie (2002), S. 159 – 202, m.w.H. Gemeint sind damit freilich die intrakulturellen Durchmischungen, die die demokratisch-politische Kultur in ihrem Innern mit sich bringt. 74 75
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unspezifische, abstrakte moralphilosophische Sicht auf die universelle Justifikation mit Gewalt (und damit auch insgesamt falsch verstanden) auf die konkretere Problematik der kulturellen Konstitution übertragen zu wollen. Anstelle von starken konsensuellen Einverständnissen in der Sache kommen in Fällen unauflöslicher Dissense deshalb nur noch „Kompromisse“ infrage. Wo ein Konsens nicht mehr zumutbar ist, ist ein Kompromiss zu suchen. Nun zielen zwar auch Kompromissverfahren auf eine allseitige Zustimmung. Nach Habermas unterscheiden sich Kompromissvereinbarungen vom Konsensideal aber dadurch, dass die Zustimmung nicht aus den gleichen, sondern aus je verschiedenen Gründen erfolgt.76 In der hier vertretenen, den moralphilosophischen Konsens konkretisierenden Sichtweise soll das bedeuten, dass die kompromissschließenden Parteien möglicherweise zwar nicht von der Sachentscheidung überzeugt sind,77 die Entscheidung vor dem Hintergrund der Respektierung der Meinung der Anderen aber insgesamt, d. h. auch die gesamte normative Verfahrensstruktur der Entscheidungsfindung miteinbezogen, zustimmungswürdig ist. M. a. W.: Die andere Person in der Sache zu überzeugen – der starke Konsens –, ist (neben dem der authentischen eigenen Meinung) zwar weiterhin der Fluchtpunkt legitimatorischer Interaktion. Wo die prinzipiell gerechtfertigten kulturell-gesellschaftlichen Verhältnisse sachlichen Konsens aber nicht mehr zulassen, genügt es, wenn sich der faktische Aspekt, der im Gebot der Zustimmung steckt, als fairer Kompromiss konkretisieren lässt. Auch wenn es in vielen, vielleicht in allen Fällen demokratischer politischer Auseinandersetzung zum Kompromissverfahren keine Alternative geben mag, darf die Herstellung von Kompromissen allerdings nicht dem freien Spiel der Beteiligten überlassen werden. So wie in der Sicht der Moralphilosophie muss auch das politisch-philosophisch konkretisierte Normerzeugungsverfahren eine diskursive Struktur aufweisen, sodass von einem fairen Kompromiss die Rede sein kann. Auch Habermas, der den Einsatz von Kompromissen als eine qualitative Umstellung von Diskursen auf macht- und sanktionsgestützte Verhandlungen betrachtet, meint: „Die diskursive Kette einer rationalen Willensbildung müßte freilich mit dem Glied eines solchen Kompromisses reißen, wenn das Diskursprinzip in Verhandlungen nicht auf indirekte Weise doch noch zur Geltung gebracht werden könnte.“78 Auch seiner Auffassung nach muss der Kompromiss, der den Konsens ersetze, deshalb fair sein.79 Für Habermas stellt sich dieses Problem in besonderer Weise, weil er die Notwendigkeit von Kompromissen unmittelbar mit der Umstellung auf strategische Verhandlungen verbunden sieht. Freilich zielt dann auch seine Lösung auf die Diskursivierung dieser Kompromissverhandlungen: „So etwa soll die nicht-neutralisierte Verhandlungsmacht durch eine Gleichverteilung zwischen 76 Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 205; ders., Drei normative Modelle der Demokratie (1996 [1992]), S. 284. 77 Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 206. 78 Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 205. 79 Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 205.
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Parteien immerhin diszipliniert werden. Soweit das Aushandeln von Kompromissen nach Verfahren abläuft, die allen Interessenten gleiche Chancen der Teilnahme an den Verhandlungen sichern und während der Verhandlungen gleiche Chancen gegenseitiger Einflußnahme aufeinander einräumen, damit auch generell gleiche Chancen für die Durchsetzung aller berührten Interessen schaffen, besteht die begründete Vermutung, daß die erzielten Vereinbarungen fair sind.“80 Obwohl politische Kompromissverfahren hier nicht unversehens als strategische Verhandlungen, sondern von vornherein als diskursive Prozesse verstanden werden,81 deckt sich diese Auffassung zunächst mit dem Ergebnis der hier vertretenen: Die unumgänglichen Kompromisse müssen Fairness verbürgen können, und ihre Fairness ergibt sich aus einer diskursiven Verfahrensstruktur. Anders aber als hier, wo der politische Kompromissdiskurs als Konkretisierung (und nicht als Umstellung) des moralischen Diskurses gedeutet wird, betrachtet Habermas das Kompromissverfahren (auch das faire, diskursivierte Kompromissverfahren) gegenüber dem moralischen Konsensdiskurs als normativ unterlegen. Zudem weiterhin in der Vorstellung einer unmittelbaren Verknüpfung von Kompromiss und Verhandlung gefangen, muss er deshalb auch darlegen, wie der normativ letztlich unzulängliche Kompromiss an einen „echten“ Konsens angebunden werden kann, und schlägt dafür Folgendes vor: Die Legitimation von Kompromissen, so kann Habermas verstanden werden, soll letztlich durch einen Konsens über die Verfahrensbedingungen der Kompromissverhandlung in einem Diskurs höherer Stufe erreicht werden.82 D. h., dass der normative Anspruch, der bei strategischen Verhandlungen aufgrund der Machtspiele und der Invarianz der Interessen der Verhandlungsparteien verloren geht, in vorgelagerten Konsensdiskursen über die Bedingungen des Verhandlungsverfahrens aufgefangen werden soll. Wenn die strategischen Kompromissverhandlungen selbst nicht zu konsentierten Ergebnissen führen können, so Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 205 f. Analytisch sind die Frage nach der Möglichkeit von Konsens und Kompromiss einerseits und die Frage nach der normativen Verfahrensstruktur (verständigungsorientierter Diskurs – strategische Verhandlung) von einander zu unterscheiden. Habermas’ Vorstellung, die Notwendigkeit von Kompromissen gehe quasi automatisch mit einer strategischen Verfahrensstruktur einher, kann hier nicht gefolgt werden. Dass Habermas das Kompromissverfahren zuerst als Verhandlung qualifiziert, dann aber wieder diskursiviert, indiziert bereits eine (wenig fruchtbare) Zusatzschlaufe. – Dass diskursive Verfahren als strategische missbraucht werden können, ist eine andere Frage, die sich in der Moralphilosophie allerdings nicht anders stellt als in der politischen Philosophie. Dem Problem damit zu begegnen, dass diskursive Verfahren unverrichteter Dinge als strategische gedeutet werden, ist allerdings keine überzeugende Lösung. Vielmehr muss die Gefahr des Missbrauchs im Wege einer disziplinengerechten Diskursnormierung gebannt werden. 82 Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 206: „Normativ betrachtet, steht aber eine faire Kompromißbildung nicht auf eigenen Beinen. Die Verfahrensbedingungen, unter denen faktisch erzielte Kompromisse auch die Vermutung der Fairness für sich haben, müssen nämlich in moralischen Diskursen gerechtfertigt werden.“ Dass hier daraus die Bedingung eines (moralischen) Konsenses herausgelesen wird, bereitet Habermas mit seiner engen Verknüpfung von Kompromiss und Verhandlung als Aliud zum (Konsens-)Diskurs vor. 80 81
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sollen immerhin die Verhandlungsverfahren, in denen sie stattfinden, in (moralischen) Konsensdiskursen normiert worden sein. Habermas will die Legitimität von Kompromissergebnissen also durch eine Anbindung an „echte“ Konsense auf höherer Stufe sichern. Das Problem ist aber, dass „echter“ Konsens in pluralistischen, differenzierten Demokratien nicht verordnet werden kann. Mit der Verlagerung des Konsenspostulats auf die Bedingungen des Verhandlungsverfahrens mag das Dissensrisiko gegenüber dem eigentlichen Verfahren vielleicht sinken, ausgeschlossen werden kann es dadurch aber kaum. M. a. W. können Kompromisse nicht dadurch gerechtfertigt werden, dass die Bedingungen ihres Zustandekommens in ein vorgelagertes Konsensverfahren gezwungen werden. Das müssen sie auch gar nicht. Wenn, wie hier, der faire Kompromiss nicht als zweitbeste Lösung,83 sondern als kulturelle Konkretisierung des Diskurskonsenses herausgearbeitet wird, genügt es, wenn die Verfahrensbedingungen von Kompromissprozeduren disziplinengerecht diskursiviert werden. Mit diesem Ansatz kann auch die von Habermas angesprochene Legitimationskaskade verarbeitet werden, jedoch nicht mehr als ein Wechsel strukturdifferenter Verfahrensweisen: Es genügt, wenn ein (faires) Kompromissverfahren im Prinzip auf einem relativ anspruchsvolleren diskursiven Legitimationsniveau legitimiert werden kann. D. h., dass die Verfahrensbedingungen von politischen Deliberationen prinzipiell auf einer höheren Legitimationsstufe gerechtfertigt sein müssen (z. B. in einem Verfahren mit qualifizierten Beteiligungsmöglichkeiten und Mehrheitserfordernissen). Die dafür erforderliche Infrastruktur einer Legitimationskaskade innerhalb der politischen Deliberation ist hier bereits mit der ersten politisch-ethischen Konkretisierung der Diskursdifferenzierung bereitgestellt worden. „Im Prinzip“ und „prinzipiell“ verweist dabei auf den nicht zu übersehenden Umstand, dass es in einer solchen Kaskade irgendwann eine letzte Stufe (z. B. die der Verfassungsgebung) geben muss. Auch auf dieser kann aber kein Konsens erzwungen werden. Auch für eine potenzielle Stufe höchster Legitimation genügt es jedoch, wenn sie diskursiven Strukturen folgt und diese im Gesamtzusammenhang der Verfahren der politischen Deliberation als die relativ anspruchsvollsten eingerichtet sind. (3) In komplexen Demokratien sollen die verschiedenen diskursiven Verfahren der politischen Deliberation sodann in aller Regel nicht unter direkter Teilnahme aller Betroffenen stattfinden.84 Denn in den seltensten Fällen sind alle betroffenen Personen etwa fähig, in persona an den Diskursen teilzunehmen (z. B. Kinder oder Kranke), oder es sind andere Gründe, die eine allgemeine direkte Diskursteilnahme unvernünftig erscheinen lassen. Gerade in arbeitsteilig ausdifferenzierten Gesellschaften scheint es angemessen, wenn die politische Selbstorganisation nicht unmittelbar und im Detail von jeder einzelnen Person erledigt wird. Eine solche Vgl. Palazzo, Die Mitte der Demokratie (2002). insb. S. 160 – 167, m. w. H. Vgl. hierzu auch Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 256 – 258, Rn. 784 – 790. Mastronardi bezeichnet die hier als Konkretisierungen verstandenen Spezifizierungen nicht ganz zutreffend als „Relativierungen“: ebd., S. 255, Rn. 779. 83 84
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Vorstellung mutet in modernen Großgesellschaften geradezu absurd an. Die politische Deliberation muss daher mit Mechanismen operieren, die auch dieses Problem disziplinengerecht bewältigen. In der politischen Theorie rangieren solche Mechanismen v. a. unter dem Stichwort der „Repräsentation“.85 Die Idee repräsentativer oder stellvertretender Verfahren besteht darin, das politische Verfahren so in kleinere Arenen (z. B. ins Parlament) zu verlegen, dass die Interessen derer, die sich nicht direkt bis ins Letzte an der Deliberation beteiligen können oder wollen, nicht unterlaufen werden. Repräsentationen sollen eine Chance in Aussicht stellen, die unauflösliche Spannung zwischen Betroffenheit und eingeschränkter Teilnahme in legitimer Weise zu lockern. Wie die Deutung der konsensuellen Einigung als Kompromiss bedeutet auch der Rückgriff auf die Repräsentation eine disziplinen- und d. h. an dieser Stelle kulturspezifische Konkretisierung des moralphilosophischen Diskursbildes, nun der umfassenden Beteiligungsmöglichkeit aller Betroffenen. Diese Konkretisierung ist wiederum in dem Maße angemessen, in dem sie unter Bedingungen moderner Demokratien gerechtfertigt werden kann. Auch in dieser Hinsicht wird, den komplexen gesellschaftlichen Verhältnissen entsprechend, keine „einfache“ Lösung Platz greifen. Von Bedeutung ist dabei, den Sinn und die Leistungsfähigkeit repräsentativer Verfahren richtig einzuschätzen. Die Idee der Repräsentation wäre falsch verstanden, wenn sie wörtlich für eine „Abbildung“ der nichtbeteiligten Betroffenen genommen würde. Eine mimetische Repräsentation gestaltet sich nämlich schwierig.86 Eine Person als diese vertreten zu wollen, würde ein unerreichbar hohes Maß an Einfühlung verlangen. Sicherlich erfordern diskursive Verfahren ohnehin das Einfühlungsvermögen der Teilnehmenden.87 Dieses Einfühlungsvermögen bewegt sich jedoch im Bereich des zumutbar Möglichen und bezieht sich außerdem auf die Interessen, Anliegen und Vorbringen derer, die anderer Meinung sind. Die andere Meinung soll zudem nicht anstelle der eigenen übernommen, sondern als gleichberechtigte Gegenmeinung ernstgenommen und in der Auseinandersetzung mit der eigenen auf ihre Überzeugungskraft geprüft werden. In der Auseinandersetzung mit dem Standpunkt Anderer im Vergleich zum eigenen wird allerdings dem unvermeidlichen Umstand Rechnung getragen, dass der eigene Standpunkt nicht verlassen werden kann. Die „Einfühlung“ besteht hier genau genommen in der Einlassung auf die Argumente der Diskurspartnerin. Ein mimetisch verstandenes Repräsentationsverfahren würde dagegen von den Repräsentierenden verlangen, ihren eigenen Standpunkt gegen den der Repräsentierten auszutauschen. Das würde ihnen eine unerfüllbare Aufgabe aufbürden. Zudem ist es auch unrealistisch, dass sich die Repräsentierenden einer solchen Aufgabe tatsächlich aufopferungsvoll hingeben würden, jedenfalls könnte eine solche „abbildende“ Vertretung nur schwer kontrolliert werden.88 Dazu Hofmann, Repräsentation (42003); Duso, Die moderne politische Repräsentation (2006). 86 Vgl. Ackerman, We the People 1 (1991), S. 181 f.; vgl. auch den Hinweis auf die Rede Edmond Burkes in Elster, Introduction (1998), S. 3. 87 Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 102, Rn. 336. 85
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Eine Übernahme von Persönlichkeiten kann nicht vollzogen werden. Stattdessen ist die Stellvertretung in Deliberationen richtig als die Einnahme eines Platzes oder eines Sitzes in einer Arena mit limitierten Teilnahmemöglichkeiten zu verstehen. Vertreterinnen und Vertreter vertreten nicht Personen, sondern Teilnahmerechte. Dabei ist die Einsetzung in einen Repräsentationsplatz gleichwohl eine vertrauensvolle Handlung, sodass die Übertragung von Teilnahmemandaten Kontrollmechanismen zu unterwerfen ist. Das berechtigte Vertrauen, das die Repräsentierten den Repräsentierenden geben, besteht jedoch nicht darin, dass die vermeintlichen Meinungen der Nichtbeteiligten vom Platz der Beteiligten aus treuhänderisch verwaltet werden, sondern darin, dass die Repräsentierenden ihren Platz als direkte Verfahrensbeteiligte mit ihrer eigenen Meinung nach bestem Wissen und Gewissen ausfüllen. Die Mandate von Repräsentierenden, die die beschränkten Teilnahmemöglichkeiten an diskursiven Verfahren kompensieren sollen, kann nur darin bestehen, anstelle der Standpunkte der nicht direkt Teilnahmeberechtigten den eigenen Standpunkte gewissenhaft zu vertreten. Bei den Auswahlverfahren der Repräsentationspersonen wird die Übereinstimmung des Standpunktes der sich anbietenden Vertretenden mit den Standpunkten der zu Vertretenen sicherlich eine wichtige Rolle spielen, und Versprechungen über die zu verfolgende „Linie“ begründen sicherlich ein Vertrauen, das auch gebrochen werden kann. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass in echten willens- und meinungsbildenden Deliberationen die resultierenden Meinungen weder prognostizierbar sind noch prognostiziert werden dürfen. Den Vertretenen steht es jedenfalls nicht zu, Vertreterinnen und Vertretern ihre Meinung aufzuzwingen. Das wäre nicht nur eine unmöglich zu erfüllende Forderung, sondern würde auch den schöpferischen, produktiven Sinn der politischen Deliberation unterlaufen, wonach die Meinungen in dieser erst gebildet werden sollen. Das Repräsentationsverfahren bleibt jedoch auch in einer korrigierten Sicht für Verzerrungen anfällig. M. a. W. müssen auch die Verfahren der Repräsentierung fair sein,89 was wiederum dadurch einzulösen ist, dass das Verfahren der Stellvertretung – wieder disziplinengerecht – diskursiven Ansprüchen genügt. Nach dem Blick auf die Notwendigkeit und Möglichkeit von Repräsentationen muss dafür Folgendes beachtet werden. Insbesondere muss jeder betroffenen Person das Recht gewährt werden, selbst einen Platz als Repräsentantin einnehmen zu können („aktives Repräsentationsrecht“ bzw. „passives Wahlrecht“)90. Als Gegenstück dazu 88 Denkbar wären vielleicht sachlich umgrenzte Mandate, deren Erfüllung über transparente Advokaturverfahren zu einem gewissen Grad im Nachhinein kontrolliert werden könnten. Aber auch Sachmandate verlieren ihre mimetische Repräsentationsleistung, sobald davon ausgegangen wird, dass Deliberationen meinungsbildend wirken sollen. Sie kommen allenfalls in strategischen Verfahren wie Verhandlungen infrage, bei denen von invarianten Interessen ausgegangen wird. 89 Von „fairen Repräsentationsverfahren“ zu sprechen scheint auf den ersten Blick möglicherweise ungewöhnlich. Wird jedoch in Betracht gezogen, dass es bei Repräsentationen in diskursiven Verfahren um die Vertretung von beschränkt verfügbaren Teilnahmerechten geht, ist die Forderung nach einem Verfahren, durch das diese Rechte fair verteilt werden, unumgänglich.
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muss jeder betroffenen Person das gleiche Recht eingeräumt werden, bei der Auswahl der Repräsentierenden maßgeblich mitzuwirken („passives Repräsentationsrecht“ bzw. „aktives Wahlrecht“). Obwohl sodann Repräsentierende in diskursiven Deliberationen nicht dazu berufen sein dürfen, in einem unflexiblen Sinn Sachmandate zu übernehmen, muss den Repräsentierten die Möglichkeit gegeben sein, das Teilnahmerecht, das sie den Repräsentierenden übertragen, auch wieder zu entziehen. Dieser Entzug oder die Wiedervergabe einer repräsentativen Teilnahmeberechtigung kann insofern als „Vertrauenssache“ betrachtet werden, als die Vertretenen in der Hoffnung, „ihre“ Repräsentationspersonen erfüllten ihre Aufgabe so, wie sie selbst es täten, enttäuscht oder bestätigt werden können. Da in meinungsbildenden Deliberationen der Ausgang des Verfahrens im Vorhinein weder fixiert werden kann noch fixiert werden soll, muss es möglich sein, die Teilnahmeberechtigungen periodisch neu zu verteilen. Um die Repräsentationsleistungen überhaupt beurteilen zu können, muss sodann gewährleistet sein, dass sich die Vertretenen über die politischen Aktionen der Vertretenden zuverlässig informieren können. Auch wenn repräsentative Verfahren bzw. eine Beschränkung direkter Teilnahmeberechtigungen unter den Bedingungen moderner Demokratien prinzipiell angemessen sind, dürfen solche repräsentativen Verfahren von den nicht direkt beteiligten Betroffenen nicht gänzlich entkoppelt werden. Die Idee der Repräsentation muss mit der Idee der Direktbeteiligung hinreichend in Kontakt bleiben. So ist den Vertretenen stets die Möglichkeit einzuräumen, ihre Anliegen, seien sie noch so partikulär, (z. B. über Petitionen o. Ä.) mit Einbeziehungsgewähr auch direkt an das repräsentative Verfahren einzubringen. Für den Fall, dass derartige „Wortmeldungen von außen“ nicht die gewünschte Wirkungskraft entfalten, müssen alle Betroffenen zudem die Möglichkeit haben, ihre Anliegen und Bedürfnisse auf (persönlich) indirekte Weise gleichwohl (sachlich) direkt ins Verfahren einzuführen. Für jede Person müssen z. B. über die Bildung von und das Wirken in Vereinen, Organisationen, Parteien usw. hinreichende Möglichkeiten bereitstehen, ihren Bedürfnissen und Anliegen die nötige Schwungkraft zu verleihen, mit der sie in den entscheidenden, aber nur repräsentativ zugänglichen Abschnitt des politischen Prozesses Eingang finden. M. a. W. muss in einem Verfahren, an dem nicht alle Betroffen direkt teilnehmen können, gesichert sein, dass auch partikuläre Anliegen immer eine Chance haben, wenn auch nur persönlich indirekt, entscheidungswirksam auf das repräsentative politische Verfahren Einfluss zu nehmen.91 Das Gegen90 Die Umkehrung von „aktiv“ und „passiv“ gegenüber dem üblichen Gebrauch der Attribute im Zusammenhang mit dem Wahlrecht ergibt sich daraus, dass in der Politologie (erklärt vermutlich durch einen häufig empirischen Zugang) vorrangig an den Vorgang der Wahl angeknüpft wird. Eine diskurstheoretisch ansetzende politische Konzeption interpretiert Wahlrechte jedoch vom Spiegelbild der Repräsentationsrechte her. Nicht die Teilnahme an politischen Deliberationen muss gerechtfertigt werden, sondern die Nichtteilnahme. 91 Diese Forderung kann als das entscheidende Theoriestück der legitimatorischen Übersetzung des soziologischen Zentrum-Peripherie-Modells betrachtet werden; dazu zuvor, IV. 2. c). So gesehen, erscheint das Zentrum-Peripherie-Problem legitimatorisch als ein Problem fairer Repräsentation.
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stück zu dieser input-Chance besteht wiederum darin, dass sich alle Betroffenen über die Abläufe und Outputs in den repräsentativen Verfahren zuverlässig und unverfälscht informieren können. Im Anschluss an diese generellen Überlegungen zur Repräsentationsproblematik seien noch zwei speziellere Probleme herausgegriffen. Es fragt sich z. B., wie die Repräsentation zu gestalten ist, wenn es um die Interessen Verfahrensunmündiger geht. „Verfahrensunmündige“ sind Betroffene, deren noch nicht, nicht oder nicht mehr vorhandene Fähigkeiten, für die sie jedoch nichts können („unverschuldete Unmündigkeit“), es nicht erlauben, als gleichberechtigte Verfahrensteilnehmende aufzutreten (z. B. Kinder und Kranke). Hierbei ist Folgendes zu berücksichtigen. Zunächst gilt, dass die (verbindliche) Feststellung der Unmündigkeit wiederum selbst einem diskursiven Verfahren unterliegen muss, an dem sich alle, d. h. v. a. auch die präsumtiv oder bisher Unmündigen im Rahmen ihrer Möglichkeiten beteiligen dürfen. Zudem muss zu einem früheren Zeitpunkt als unmündig eingestuften Personen die reale Chance eingeräumt werden, sich in angemessenen Zeitintervallen als mündige Teilnehmerinnen der politischen Deliberation zu rehabilitieren.92 Bei diskursiv festgestellter Unmündigkeit muss ferner dafür gesorgt werden, dass die Fähigkeit zur mündigen Verfahrensteilnahme nach bester Möglichkeit gefördert wird. Dazu ist ein pädagogischer Diskurs nötig.93 Schließlich gebieten die bei Unmündigen immerhin angelegten und in schwächeren Graden bereits oder noch vorhandenen Fähigkeiten zur Teilnahme an diskursiven Verfahren, kurz deren Dasein als vernunftbegabtes Menschenwesen, dass auch die Interessen und Anliegen Verfahrensunmündiger respektiert werden. Damit diese erfasst werden können, bedarf es einerseits mäeutischer Verfahren, in denen die unausgesprochenen Anliegen von Unmündigen nach Möglichkeit zur Sprache gebracht und dann advokatorisch-indirekt in die politische Deliberation eingebracht werden sollen. Andererseits muss auch den Unmündigen stets die Möglichkeit gegeben sein, sich im Rahmen ihrer Fähigkeiten direkt am politischen Verfahren zu beteiligen. Eine interessante Frage bleibt schließlich, wie Repräsentationsverfahren strukturiert sein sollten, wenn die eigentlich betroffenen Personen, selbst wenn ihre Teilnahme zulässig wäre, d. h. wenn Plätze für sie zur Verfügung stünden, so abwesend sind, dass es ihnen aus anderen als Mündigkeitsgründen unmöglich ist, persönlich an der politischen Deliberation zu partizipieren. In diesem Zusammenhang drängen sich v. a. Probleme der Generationenverschiebung auf.94 In den Fällen „diskursiver Absenz“, in denen eine Rückbindung an abwesende Betroffene tatsächlich ausgeschlossen ist (z. B. bei verstorbenen oder noch nicht geborenen Generatio92 Noch einmal: Aus diskurstheoretischer Sicht ist nicht die Berechtigung zur Teilnahme am Verfahren, sondern der Entzug der Teilnahme zu rechtfertigen. 93 Hier müsste eine Konzeption deliberativer Bildung i. S. einer Ausbildung angelegter Fähigkeiten zur mündigen politischen Diskursteilnahme ansetzen. 94 Dieses Problem hat momentan im Zusammenhang mit dem Umgang mit der natürlichen Umwelt besondere Brisanz.
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nen) kann in der Tat nur noch eine versuchsweise advokatorische Übernahme der Standpunkte der Abwesenden durch Einfühlung erfolgen („advokatorische Verfahren“)95. Bei aller Fallibilität, der der advokatorische Ansatz allerdings ausgesetzt ist, wäre dabei wohl v. a. darauf zu achten, dass alle möglicherweise Betroffenen einbezogen und diese gleichermaßen vertreten werden. Realistisch betrachtet, präsentiert sich dieses Vertretungsverfahren freilich als eine Diskussion unter (repräsentierenden und repräsentierten) Anwesenden, die über Probleme mit Weitwirkung debattieren. Die präsumtiven Interessen von Abwesenden müssen darin als eigene vorgebracht werden. (4) Auch wenn mit den Konkretisierungen der Diskursdifferenzierung, des Kompromisses und der Repräsentation bereits eine Reihe von Argumentationskontexten erschlossen werden konnte, über die die politische Deliberation an den moralischen Diskurs angemessen Anschluss findet, sind die Bedingungen, die sich in modernen komplexen Gesellschaften gegen einen einfachen Transfer des abstrakten moralphilosophischen Diskurses sperren, insgesamt noch nicht hinreichend erfasst worden. Zu klären ist jedenfalls noch, wie mit dem zeitlichen Entscheidungsdruck, der auf dem demokratischen Verfahren als ganzes lastet, disziplinengerecht umzugehen ist. Trotz der Konkretisierungen der Konsensbedingung als Bedingung eines fairen Kompromisses und der umfassenden Diskursbeteiligung als faire Repräsentation würden die politischen Deliberationen ohne Weiteres wohl weiterhin kein Ende finden. – Weder Konsens (bzw. fairer Kompromiss) noch Einsicht können ja erzwungen werden. Während sich die moralphilosophische Betrachtung des moralischen Diskurses nun noch auf die prinzipielle Normierung des Justifikationsprozesses zurückziehen und sich damit begnügen konnte, in abstracto lediglich einen „ausreichend lange“ geführten Diskurs zu fordern, muss aus politisch-philosophischer Sicht Stellung dafür bezogen werden, was dies in den Kontexten demokratischer Kultur konkret bedeuten soll bzw. wie die auf Endlichkeit angewiesenen Entscheidungsverfahren einer demokratischen Konstitution angemessen beendet werden können. Um verbindliche Steuerungswirksamkeit entfalten zu können, müssen politische Deliberationen in nützlicher Frist, zumindest vorläufig, zu einem Ende kommen. Insoweit die politische Deliberation ohne weitere Konkretisierung prinzipiell so lange andauern müsste, bis sich ein Konsens oder ein fairer Kompromiss einstellt, bedarf es eines vorzeitigen „Verfahrensabbruchs“.96 Um den interdisziplinären Anschluss an die Moralphilosophie wahren zu können, darf sich freilich auch diese Konkretisierung des moralischen Diskurses von der abstrakten Vorstellung des Diskursverfahrens nicht losreißen. So kommen für den Verfahrensabbruch selbst wieder nur normative Ansätze infrage, die die Beendigung des Diskurses erlauben, 95 Advokatorische Verfahren sollten von repräsentativen Verfahren unterschieden werden. Während bei jenen die vermeintliche Sicht abwesender Personen eingenommen wird, wird bei diesen lediglich deren Platz eingenommen. 96 Vgl. hierzu auch Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 255 f., Rn. 780 – 782.
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ohne die Diskursidee als solche zu untergraben. Aus dieser Sicht wäre etwa ein Verfahrensabbruch, der der Deliberation von außen, d. h. ohne Anbindung an die Partizipierenden, einfach auferlegt würde, unzulässig. Der Verfahrensabbruch muss vielmehr von innen her mit dem Verfahren selbst verbunden werden. Dafür bietet sich Folgendes an. Um den Stand der Diskussion zunächst diskursiv operationalisieren zu können, muss über die vorgebrachten und diskutierten Vorschläge abgestimmt werden („Abstimmung“). Abstimmungen zeichnen sich dadurch aus, dass die Stimmberechtigten bestimmte Vorlagen mit ihrer Zustimmung oder Ablehnung versehen (oder sich ihrer Stimme enthalten) können. So können die Ja / Nein-Stellungen, die zu Geltungsansprüchen vorgebracht werden können, für konkrete Sach- oder Personenentscheide (dann: „Wahlen“) dokumentiert werden. Für die Auswahl einer Vorlage oder mehrerer Vorlagen aufgrund von Abstimmungen kann dann die oder können dann diejenigen bestimmt werden, die ein bestimmtes im Vorhinein ebenso diskursiv festgelegtes Quorum (i. d. R. ein Mehrheitsquorum) der Stimmen auf sich vereinigt oder vereinigen („Quorenregel“ bzw. „Mehrheitsregel“). Abstimmung und Quorenregel stehen allerdings auch fernerhin unter normativen Bedingungen. Es wäre in deliberativer Perspektive widersinnig, die diskursiven Verfahren durch Abstimmungen und Quorenregeln ersetzen zu wollen. Dieser Ersatz müsste den diskursiven Charakter des deliberativen Verfahrens annullieren. Über die Funktion hinaus, das diskursive Verfahren aus Gründen des Entscheidungsdrucks zu einem bestimmten Punkt abzubrechen, darf diesen Mechanismen keine substanzielle Qualität zugesprochen werden. Allenfalls dient ihre Geltung noch der verfahrensinternen Disziplinierung, insofern die Teilnehmenden im Wissen um den Abbruch des Verfahrens zu konstruktiver Argumentation angehalten werden. Als Mechanismus der Operationalisierung leistet die Abstimmung allerdings nicht mehr, als den Stand einer Diskussion zu visualisieren. Die Quorenregel hat ihre entscheidungswirksame Berechtigung nur dann, wenn vorausgesetzt werden kann, dass das vorangegangene Verfahren unter diskursiven Bedingungen immerhin so lange stattgefunden hat, dass jede betroffene Person eine zumutbare Chance hatte, sich als Gleichberechtigte in das Verfahren einzubringen. Es kommt also nicht darauf an, was die Mehrheit bzw. das Quorum will, sondern darauf, dass die Mehrheits- bzw. Quorenentscheidung an ein echtes diskursives Verfahren anschließt. Nur unter dieser Bedingung bleibt die Vermutung bestehen, dass die Verfahrensresultate vernünftig sind. Dass ein Vorschlag das nötige Quorum für sich gewinnen konnte, soll darauf zurückzuführen sein, dass er unter diskursiven Bedingungen die besten Argumente auf seiner Seite hat. Die Quorenregel stellt nur ein technisches Instrument zum vorübergehenden Abschluss des Verfahrens dar. Die Entscheidung, die im Wege quorengeregelter Abstimmungen erreicht wird, bricht das politische Verfahren aus Gründen des in komplex organisierten Demokratie-Gesellschaften legitimen Entscheidungsdrucks vorzeitig ab. Auf diese Weise können verbindliche Entscheide fixiert und mit Geltungskraft implementiert werden. Das ändert jedoch nichts daran, dass die erzwungenen Entscheide in hohem
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IV. Politische Philosophie: Deliberative Demokratie
Maße (und zwar in noch höherem Maße, als es Diskursentscheidungen ohnehin sind) fallibel sind. Die Vermutung der Vernünftigkeit politischer Entscheidungen ist deshalb relativ schwach und kann nur für ein entsprechend kleines Zeitfenster Gültigkeit beanspruchen. Die periodisch abgeschlossenen Deliberationen müssen so zwar als verbindlich, aber als Abschnitte eines immer fortlaufenden Prozesses betrachtet werden. In einer dynamisch-prozeduralen Sicht bleibt der politische Prozess ein stets unabgeschlossenes Projekt. Die vorzeitigen Abbrüche erhalten dann die Funktion einer Generierung von mit Verbindlichkeit ausgestatteten Zwischenergebnissen in einem permanenten politischen Ordnungsvorgang. Zur Folge hat diese Einschätzung, dass keine Ergebnisse unwiderruflich festgelegt werden dürfen. Die Gründe dafür liegen nicht nur in der Fallibilität diskursiver Entscheide überhaupt und von Quorenentscheidungen im Besonderen, sondern auch in der Veränderlichkeit der sozialen und natürlichen Umstände. Ein wichtiger legitimatorischer Vorzug der diskurstheoretischen Betrachtungsweise liegt gerade darin, dass diskursive Entscheidungen immer nur vor dem Hintergrund eines hier und jetzt relevanten Kontextes Geltung beanspruchen können und wollen. Als Gegenstück zur Verbindlichkeit von (abschnittsweisen) Verfahrensergebnissen muss daher immer die Möglichkeit gewährleistet sein, die Ergebnisse unter den gleichen diskursiven Bedingungen und damit die Quoren- und Mehrheitsverhältnisse wieder zu ändern. Die unterlegenen Minderheiten müssen stets die Chance haben, unter diskursiven Bedingungen zur Mehrheit zu werden. Die rationale Diskursdifferenzierung, der faire Kompromiss, die faire Repräsentation und der legitime Verfahrensabbruch sind als politisch-ethische Konkretisierungen zu betrachten, mit deren Hilfe der moralische Diskurs, wie er in der Moralphilosophie in abstracto erarbeitet worden ist, in der politischen Philosophie als politische Deliberation rekonstruiert werden kann. Auch wenn für die vorstehenden Ausführungen nicht der Anspruch erhoben wird, dass diese den disziplinären Transfer von der Moralphilosophie zur politischen Philosophie abschließend vollziehen, so markieren sie doch immerhin die wichtigsten Verbindungsstellen, an denen sich die nötige interdisziplinäre Konkretisierung abarbeiten muss. Im rechten Licht betrachtet bedeutet diese interdisziplinäre Weiterführung des moralischen Diskurses in keinerlei Weise eine „Einbuße“ eines normativen Niveaus, die mit dem Blickwechsel von der Moral zur Politik „hingenommen“ werden müsste. Der moralische Diskurs ist nicht die normativ „höhere“ Idealgröße, der auf tieferen Abstraktionsniveaus „möglichst nahe“ gekommen werden soll. Solche Auffassungen hingen immer noch einem disziplinären Hierarchiedenken nach, wonach die Moralphilosophie diktieren solle, wie im Politischen zu verfahren sei. Tatsächlich ist der Weg vom moralischen Diskurs zur politischen Deliberation eine (interdisziplinäre) Konkretisierung. Eben das, was in der Moralphilosophie in thematischer Hinsicht aus einer universellen, also kulturunabhängigen (und damit auch die demokratische Rechtskultur einschließenden) Perspektive dargelegt worden ist, muss sich so auch unter einem (demokratisch-)kulturellem Blickwinkel bewähren. In einer interdisziplinären Sicht bedeutet das freilich auch einen Test für
3. Deliberative Demokratie
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die moralphilosophisch konzipierte Diskursethik – der dank der genannten Konkretisierungsschritte hier als bestanden gelten kann. Das normative Niveau der politisch-philosophischen Konzeption der deliberativen Demokratie wird dadurch aber nicht „tiefer“ oder gar „höher“. Die thematische Perspektive wird lediglich konkreter. Zum Ausdruck kommt das insbesondere dadurch, dass nunmehr nicht länger vom moralischen Diskurs, sondern, differenzierter, von der „politischen Deliberation“ oder vom „politischen Diskurs“ zu sprechen ist. Die politische Deliberation bzw. der politische Diskurs bleibt dabei, wohlverstanden, eine Konkretisierung des moralischen Diskurses. c) Prinzipien deliberativer Demokratie Wie in der Moralphilosophie die universelle Justifikation kann die soeben vorgenommene politisch-philosophische Konzipierung der demokratischen Konstitution aus zwei Blickwinkeln betrachtet werden: aus dem Blickwinkel der Freiheit und aus dem Blickwinkel der Verantwortung. Integriert werden diese Blickwinkel durch den Gesamtblick der politisch-ethischen Legitimation. Wie im Bereich der Moralphilosophie kann dieser Ansatz als ein Set zusammenhängender Prinzipien auf den Begriff gebracht werden. In interdisziplinärer Hinsicht ist dabei wieder Folgendes zu beachten. Dem interdisziplinären Anspruch dieser Untersuchung entsprechend müssen die Prinzipien der deliberativen Demokratie die Prinzipien der moralphilosophischen Diskursethik widerspiegeln. Allerdings darf diese Widerspiegelung nicht als „Ableitung“ in die eine oder andere Richtung missverstanden werden. Der Anspruch des hier verfolgten integrativen Ansatzes ist weiterhin, eine argumentative Gesamtkonzeption zu konstruieren, in der sich die herausgearbeiteten Theorieteile kohärent miteinander verbinden lassen. Wie bei den sich innerhalb des Feldes der politischen Philosophie befindlichen soziologischen Erklärungen und der legitimatorischen Normierung muss die eine Sichtweise wiederum so in die andere übersetzt werden, dass die einzelnen Teile vor dem Hintergrund des Ganzen überzeugen. Beim interdisziplinären Transfer von der Moralphilosophie zur politischen Philosophie muss es auch in Bezug auf die nachfolgend zu erarbeitenden Prinzipien gelingen, eine normative Struktur zu entwickeln, die einerseits dem Anspruch auf disziplinäre, andererseits aber auch dem Anspruch auf interdisziplinäre Kohärenz gerecht wird. Dabei geht es nicht darum, logisch „deduktiv“ bzw. „induktiv“ vorzugehen. Die nachfolgende Konkretisierung, die (ausgehend vom moralischen Diskurs) auch in Bezug auf die Prinzipien der politischen Deliberation geleistet werden muss, ist eine konstruktive, kritisierbare Leistung. Der doppelte Aspekt von Freiheit und Verantwortung erhält im Feld der politischen Philosophie eine schärfere, soll heißen konkretere Gestalt als noch im Feld der Moralphilosophie. Zunächst ist zu sagen, dass die Normierung im Bereich des Politischen von der Adresse des moralischen Diskurses zur Adresse der politischen Deliberation wandert, also die Strukturierung des demokratisch-politischen Pro-
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IV. Politische Philosophie: Deliberative Demokratie
zesses in den Blick nimmt. Unter Berücksichtigung der zuvor vorgenommenen Konkretisierung im Bereich der Diskursdifferenzierung, des Kompromisses, der Repräsentation und des Verfahrensabbruchs erlaubt diese Sicht, konkrete politische Verhältnisse in modernen Demokratien einer legitimatorischen Kritik zu unterziehen. Es ist dabei wichtig zu sehen, dass mit dem Themenwechsel zur politischen Deliberation die doppelte (ethische) Logik von Freiheit und Verantwortung nicht verlorengehen darf. In politisch-ethischen Konzeptionen, die in liberaler Tradition stehen, beziehen sich die Normierung politischer Ordnungen oder Institutionen i. d. R. schwergewichtig auf eine Machtbeschränkung, im Licht des hier vertretenen diskurstheoretischen Verständnisses also tendenziell auf den Aspekt der Verantwortung. Politische Prozesse sollen danach so strukturiert werden, dass sie sich gegenseitig in ihrer Machtausübung hemmen und kontrollieren. Gegenseitige Kontrollmechanismen, politische Verantwortlichkeiten und Gesetzesbindung stellen in dieser Sicht die Haupthebel politischer Machtzähmung dar. Das liegt freilich daran, dass in liberalen Konzeptionen zugleich ein prinzipielles Übergewicht des Freiheitsgedankens vorherrscht. Erst auf der Grundlage eines im strengsten Sinn freien politischen Spiels erhalten Mechanismen der Machtkontrolle – sozusagen notgedrungen – eine vorrangige normative Stellung. Aus der Sicht der deliberativen Demokratie beleuchtet dieses Verständnis politischer Legitimation jedoch nur einen Teil eines umfassenderen Verständnisses legitimer Politik, bei dem die Betonung auch einen umgekehrten Akzent erhält und insgesamt in einem doppelten Sinn zu lesen ist. Danach steht nicht die (hobbessche) Zähmung eines zuvor inszenierten Spiels der Mächte im Vordergrund, sondern die Frage, wie legitime politische Selbstorganisation überhaupt erst konstituiert werden kann. Dadurch rückt die Freiheit auch als positive Chance, am politischen Verfahren zu partizipieren, in den Blick, und die Frage, unter welchen Bedingungen diese Chance gesichert werden kann, bringt den Sinn der Verantwortung im Politischen ins Spiel. Hier geht es nicht in erster Linie wie in der liberalen Tradition darum, einem zunächst wildwüchsigen Spiel politischer Machtausübung im Namen der Verteidigung (und auch darin taucht die liberale Idee des zunächst gegebenen, ungezügelten freien Spiels der Kräfte wieder auf) unverbrüchlich vorgegebener individueller Freiheiten das Handwerk zu legen, sondern um die Herstellung stets verantworteter politischer Freiheit. Hervorzuheben ist, dass, ebenso wenig wie dies in der Moralphilosophie der Fall ist, Freiheit und Verantwortung nicht voneinander entkoppelt oder gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Auch in der politischen Philosophie gehen Freiheit und Verantwortung stets Hand in Hand. Aus dieser Warte lassen sich in Anschluss an die Prinzipien der Diskursethik die folgenden „Prinzipien der deliberativen Demokratie“ rekonstruieren.97
97 Vgl. zu den nachfolgenden Prinzipien auch Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 129 f., Rn. 403 – 405.
3. Deliberative Demokratie Prinzipien der Diskursethik
2b 3b
Zustimmung
Diskurs-Offenheit
Offenheit der Deliberation
Reziprozität (Gegenseitigkeit) Gleichberechtigung Diskurs-Gebundenheit
Gebundenheit der Deliberation
Begründungspflicht
Checks (Rechenschaftspflicht aller Macht)
Verantwortung
1b
Einigung (Konsens)
Diskursive Chancengleichheit Balances (politische Symmetrie) Verantwortung
3a
Prinzipien der deliberativen Demokratie
Freiheit
2a
Freiheit
1a
295
Abbildung 19: Die Prinzipien der Diskursethik und der deliberativen Demokratie
„1a“: Das diskursethische Konsensprinzip erscheint in der deliberativen Demokratie wieder als das politisch-philosophische Prinzip der „Zustimmung“. Es besagt, dass die Herrschaftsmacht einer politischen Ordnung letztlich an die Zustimmung aller von ihr betroffenen Personen zu binden ist. Politisch wirksame Entscheidungen sind erst dann demokratisch legitimiert, wenn sie die faktische Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger finden. Dieser grundlegende strukturelle Aspekt legitimer politischer Ordnungsmacht bringt die in der demokratischen Kultur tief verwurzelte Idee der politischen Selbstorganisation oder der Selbstregierung auf den Begriff. So stellt sich die Herrschaftsmacht den von der Herrschaft Betroffenen nicht als eine fremde Macht gegenüber, sondern sie stellt sich als die wirkungsvolle Konsequenz einer selbstgewählten Rechtsverpflichtung dar. Die bürgerliche Zustimmung ist damit der strukturelle Ausdruck politischer Freiheit. Was, wie und aus welchen Gründen bestimmte Politiken die Zustimmung der Mitglieder der politischen Gemeinschaft findet, bleibt zunächst noch nachrangig. Nach dem Prinzip der Zustimmung entscheidend ist, dass sich politische Entscheidungen letztlich auf die Zustimmung prinzipiell jeder einzelnen und jedes einzelnen Betroffenen berufen können. Wie in den verschiedenen Problembereichen der politisch-philosophischen Konkretisierung des moralischen Diskurses gesehen, ist das Prinzip der Zustimmung in modernen Demokratien dabei differenziert zu betrachten. Beispielsweise muss die faktische Zustimmung nicht zwingend in einem starken Konsens erfolgen, sie kann auch in einem Kompromiss bestehen. Sodann ist die „letztlich“ an die Zustimmung jeder einzelnen Person anzubindende Herrschaftsmacht in Demokratien auch im Wege der Repräsentation zu besorgen. Die Mitglieder der politischen Gemeinschaft müssen nicht jeweils in persona über die politischen Entscheidungen befinden. In komplex ausdifferenzierten Demokratie-Gesellschaften genügt es, wenn die Bürgerinnen und Bürger auf eine indirekte Weise mit den am politischen Prozess entscheidenden Repräsentationsforen in Kontakt bleiben. Auch ist es zulässig,
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IV. Politische Philosophie: Deliberative Demokratie
dass die deliberativen Verfahren, in denen die Zustimmung zu bestimmten vorgeschlagenen Entscheidungsvorlagen erwirkt werden soll, über Abstimmungs- und Quorenregelungen vorzeitig abgebrochen werden. In dieser konkretisiert-differenzierten Sicht bestimmt das Prinzip der Zustimmung den strukturellen Freiheitsaspekt der politischen Deliberation. „1b“: Die freie Zustimmung der Bürgerschaft darf ansonsten jedoch nicht mit beliebigen Mitteln erwirkt werden. D. h., die Zustimmung der Herrschaftsunterworfenen darf nicht unter asymmetrischen Machtstrukturen, sondern muss auf der Grundlage einer fundamentalen Gleichberechtigung zustande kommen. Das dem Prinzip der Zustimmung gegenüberstehende Prinzip der „Gleichberechtigung“, das in der politischen Philosophie das Spiegelbild des moralphilosophischen Prinzips der Reziprozität abgibt, verlangt „die politische Gleichberechtigung aller Bürger“98. Anders gewendet, müssen politische Entscheidungen zustimmungswürdig sein. Das äußert sich etwa darin, dass die einzelnen an der politischen Deliberation Partizipierenden mit legitimen diskursiven Strukturen rechnen dürfen. So müssen die Kompromisse und die Repräsentationen z. B. fair, und die Verfahrensabbrüche legitim eingerichtet sein. Insgesamt müssen den Betroffenen in jeder Hinsicht die nötigen gleichen Freiräume und die nötige gleiche Unterstützung und Partizipationsmöglichkeit gewährt werden, damit die Zustimmungen – oder auch Ablehnungen –, mit denen die politischen Vorlagen bedacht werden, als gerechtfertigt gelten können. Politische Freiheit ist ohne politische Gleichheit nicht zu haben.99 In den Grundkategorien von Freiheit und Verantwortung hält das Prinzip der Gleichberechtigung dem Prinzip der Zustimmung die Verantwortungsidee entgegen. Der Verantwortungscharakter des Prinzips der Gleichberechtigung ist darin zu sehen, dass die politische Gleichberechtigung gegenüber den einzelnen teilhabenden Individuen die Bedingung kollektiver Selbstbestimmung darstellt. Erst wenn die einzelnen von den politischen Entscheidungen Betroffenen mit den entsprechenden Rechten und Pflichten als Gleichberechtigte ernstgenommen werden, können die faktischen Zustimmungen Gültigkeit beanspruchen. Die wechselseitige Verschwisterung von Zustimmung und Gleichberechtigung zeigt sich dabei auch in der umgekehrten Leserichtung: Erst das Prinzip der Zustimmung gibt dem Prinzip der Gleichberechtigung seinen vollen legitimatorischen Sinn. Denn nicht nur, dass die Zustimmung dem tendenziell individuell ansetzenden Gleichberechtigungsaspekt das strukturelle kollektive Gegenstück bereitstellt, die politische Gleichberechtigung wäre auch gleichsam leer, wenn sie nicht dazu dienen könnte, die zustimmungswürdige Legitimation politischer Entscheidungen zu erwirken. Freiheit und Verantwortung gehören auch in dieser Sicht zusammen. Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 129, Rn. 403. Hieran könnte eine sinnverschiebende Lesart des revolutionären Aufklärungsmottos „Liberté, Égalité, Fraternité!“ ansetzen. Die Brüderlichkeit wäre dann nicht eine gleichrangige Kategorie, sondern würde die Beziehung zwischen Freiheit und Gleichheit kennzeichnen: die einer Verschwisterung (oder eben: Verbrüderung). 98 99
3. Deliberative Demokratie
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„2a“: In der politischen Deliberation gilt es sodann in materieller Hinsicht, das Prinzip der „Offenheit der Deliberation“ zu wahren. Was im Bereich der Moralphilosophie das Prinzip der Diskurs-Offenheit beschreibt, kehrt so auch in der politischen Philosophie als eine Forderung nach materieller Offenheit wieder. Wie in der Moralphilosophie ist das Prinzip der Offenheit Ausdruck des freiheitlichen Gedankens, dass prinzipiell keinem Problem seines Inhalts wegen der Eingang in die politische Deliberation verwehrt werden darf. Wie in der Konzeption der Diskursethik steht es prinzipiell jeder betroffenen Person zu, ihre Anliegen, Wünsche, Bedürfnisse usw. der Deliberation zuzuführen. Darüber hinaus darf auch nicht im Vorhinein fixiert sein, zu welchem Ergebnis die Deliberation in inhaltlicher Hinsicht schließlich führen soll. Das Prinzip der Offenheit soll damit die normative Gewähr dafür bieten, dass die Idee der Legitimation durchs Verfahren auch in der politischen Philosophie zum Tragen kommt. Jede betroffene Person soll die Chance erhalten, im argumentativen Austausch von Gründen für ihre Position einzustehen. Und erst die deliberative Argumentation soll schließlich zeigen, wie gut diese Argumente sind und ob sie sich in der Diskussion bewähren. Welche Inhalte dabei letztlich wie normiert werden, muss dabei prinzipiell offen bleiben. Zudem bezieht sich das Prinzip der Offenheit der Deliberation – differenzierter als das moralphilosophische Prinzip der Diskurs-Offenheit – auch auf die Gewichtung bzw. Einstufung eines Problems innerhalb der politischen Deliberation. Diese Konkretisierung des Prinzips der Offenheit der Deliberation im Verhältnis zum entsprechenden Prinzip der Diskursethik lässt sich dadurch begründen, dass in der politischen Philosophie die verschiedenen Verfahrensstufen überhaupt erst in den Blick kommen. In der Moralphilosophie bleibt das Diskursverfahren noch undifferenziert abstrakt. In der politischen Philosophie jedoch, dort, wo die Moral auf demokratisch-kulturellem Niveau sozusagen als Politik „in die Welt“ kommt, braucht es für die Ordnung komplexer politischer Verhältnisse unterschiedliche Abstraktions- und Gliederungsstufen. Wie gesehen, muss es den Teilnehmenden der politischen Deliberation dabei freigestellt bleiben, auf welcher Stufe sie welche Bedürfnisse, Wünsche, Anliegen usw. einbringen. Die Mitglieder der politischen Gemeinschaft müssen selbst entscheiden können, welche Probleme in welchem spezifischen Verfahren und damit mit welcher spezifischen legitimatorischen Wirkungskraft behandelt werden sollen. Solange die Verfahrensvoraussetzungen einer bestimmten Normierungsstufe nur erfüllt werden, kann prinzipiell jedes Problem auf dieser Stufe auch geregelt werden. In materieller Hinsicht ist das der freiheitliche Sinn der deliberativen Legitimations- und Selektionslogik. „2b“: Das Prinzip der Offenheit der Deliberation geht freilich Hand in Hand mit dem Prinzip der „Gebundenheit der Deliberation“. Was in der Diskursethik unter materiellen Aspekten als Prinzip der Diskurs-Gebundenheit das Gegenstück zur Diskurs-Offenheit erscheint, bildet in der deliberativen Demokratie den materiellen Verantwortungsaspekt gegenüber der freiheitlichen Forderung der deliberativen Offenheit. Das Gegenspiel der beiden Prinzipien ist dabei so zu lesen: In politischen Prozessen ist es der durch die politischen Berechtigten verantworteten (ge-
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IV. Politische Philosophie: Deliberative Demokratie
regelten) Kontingenz des Verfahrens überlassen, welche Probleme behandelt werden und auf welcher legitimatorischen Stufe sie sich schließlich einpendeln. Dieser, materiell gesehen, Offenheit verbürgende Mechanismus zieht allerdings Konsequenzen nach sich, die in der Zukunft beachtet werden müssen. Ist ein materielles Problem einmal auf einer bestimmten legitimatorischen Stufe verfahrensgerecht behandelt worden, so hat die daraus resultierende Normierung so lange Gültigkeit und damit Legitimationskraft „nach unten“, wie dasselbe Problem nicht auf der gleichen oder auf höherer Stufe – unter den entsprechenden geltenden Verfahrensbedingungen – revidiert wird. Durch diese Verbindlichkeitswirkung deliberativer Entscheidungen erhält die dynamisch-prozedural angelegte Legitimations- und Selektionslogik und die politische Deliberation insgesamt Bremsmaterial, das im weiteren Verlauf des Verfahrens verarbeitet werden muss. Die Einführung dieses Materials setzt die dynamische Geltungsstruktur der Deliberation aber nicht außer Kraft. Sie schreibt nur die verbindliche Geschichte, an die in der künftigen politischen Deliberation anzuschließen ist. Damit die offene Normierung des deliberativen Verfahrens überhaupt ernstgenommen werden kann, müssen ihre Entscheidungen verbindliche Geltungskraft entfalten. In jedem weiteren Verfahren wirkt sich das dadurch aus, dass die Deliberation im Umfang der zuvor verbindlich in Geltung gesetzten Normen (präzise: Normtexte) gebunden ist. So steht die freie Problem- und Stufenwahl unter dem Vorbehalt der entsprechenden vorgängigen Entscheidungen. Freilich können allerdings auch die jeweils verbindlichen Zuordnungen neuerlich – unter Beachtung der bisherigen Normierungen – jederzeit wieder umgeordnet werden. Für die legitime Strukturierung der politischen Deliberation gehören Freiheit und Verantwortung auch in materieller Hinsicht untrennbar zusammen. „3a“: Die einschlägigen Prinzipien der deliberativen Demokratie, die das politische Verfahren in formeller Hinsicht strukturieren, können schließlich am besten mit der Idee der checks and balances erläutert werden. In der traditionellen Auffassung dieser Wendung ist die gleichmäßige Verteilung von Kompetenzen und Befugnissen geradezu das Paradigma der „balances“. Insbesondere die machtsymmetrische Ausgestaltung politischer Institutionen, die ihre Ausprägung etwa im (verfassungstheoretischen) Prinzip der Gewaltenteilung findet, steht dafür Pate. Dieser Sinn von balances besteht in der Vorstellung eines Instruments der Machtbeschränkung. Nach diesem Verständnis wären die „balances“ hier als der Leitidee der Verantwortung zugehörig zu lesen. Nun gilt das Prinzip der „Balances“ allerdings auch als ein Prinzip der deliberativen Demokratie. Die Bedeutung der Balances, die diesem Prinzip eingeschrieben ist, setzt jedoch einen anderen Akzent als im klassischen Verständnis des Begriffs. Im Vordergrund des Prinzips der Balances steht nicht der Zweck der Machthemmung, sondern der, den Partizipierenden im Wege einer macht- oder einflusssymmetrischen Ausgestaltung politischer Strukturen und Prozesse gleichmäßige Chancen in der politischen Deliberation zu sichern („politische Symmetrie“). In seiner Ausprägung als Symmetriebedingung politischer Strukturen und Prozesse mag dann freilich auch dieses Prinzip machthem-
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mende Wirkung entfalten. In der Sicht einer diskurstheoretisch ansetzenden deliberativen Demokratie bildet die politische Symmetrie aber selbst einen wichtigen Aspekt politischer Rationalität. Dies wird auch deutlich, wenn das entsprechende Prinzip der moralphilosophischen Diskursethik nochmals vor Augen geführt wird. Dort ist es nämlich das Prinzip der diskursiven Chancengleichheit, durch den der moralische Diskurs in formeller Hinsicht strukturiert wird. Anders als in der politisch-theoretischen Tradition bringt das Prinzip der Balances deshalb den Leitgedanken diskursiver bzw. deliberativer Freiheit zum Ausdruck. „3b“: Die Forderung nach symmetrischen politischen Strukturen und Prozessen verschafft den an der politischen Deliberation Partizipierenden Freiräume der Mitwirkung und damit auch des Einflusses und der Macht. In der politischen Deliberation soll diese Macht in den entscheidenden Stellen des Verfahrens freilich als kommunikative Macht wirksam werden. Da die kommunikative Macht des politischen Prozesses und damit auch die politischen Entscheidungen aber so eng mit der Durchsetzungskraft administrativer Macht verbunden sind, stellt sich das Machtproblem in der politischen Philosophie, noch deutlicher als in der Moralphilosophie, als ein Problem zu verantwortender Freiheit dar. Dem Prinzip der Balances ist daher das Prinzip der „Checks“ gegenüberzustellen. Was in der Diskursethik als Begründungspflicht eingeführt worden ist, kehrt in der deliberativen Demokratie so als „Rechenschaftspflicht aller (politischen) Macht“ wieder. Während in der Moralphilosophie die diskursive Chancengleichheit mit der Pflicht bezahlt wird, sämtliche, jedenfalls kritisierten Geltungsansprüche zu begründen, stehen in der politischen Philosophie die symmetrisch durch Strukturen und Prozesse verteilten Chancen unter dem Vorbehalt einer allgemeinen Rechenschaftspflicht machtwirksamer, zumindest infrage gestellter Entscheidungen. Das so eingerichtete Widerspiel von Checks und Balances verdeutlicht auch nochmals den freiheitlichen Sinn des Prinzips der Balances gegenüber dem verantwortungsnahen Prinzip der Checks: Dank der machtsymmetrischen Verteilung politischer Strukturen und Prozessen sollen aus der Sicht der am politischen Prozess Beteiligten chancengleiche, d. h. gleichmäßige, je hinreichende Möglichkeiten freier und unabhängiger Beteiligung herrschen. Diese Freiheit zur hinreichend unabhängigen Beteiligung gilt jedoch nur unter der Bedingung ihrer Verantwortung. Die drei mal zwei genannten Prinzipien sollen die Grundgedanken einer Konzeption der deliberativen Demokratie in der Form eines Prinzipien-Sets auf den Punkt bringen. Die dem Prinzipien-Set der Moralphilosophie entsprechende grundlegende Zuordnung nach Freiheit und Verantwortung bietet dabei eine Leitstruktur an, anhand derer die Prinzipien der deliberativen Demokratie vor dem Hintergrund der Oberdisziplin Ethik, spezifischer noch: der Rechtsphilosophie, verstanden werden können. Das ist eine Möglichkeit, verschiedene Prinzipien verschiedener zusammenhängender Disziplinen (an dieser Stelle: der rechtsphilosophischen) sinnvoll zu ordnen, zu der es auch Alternativen geben mag. Wenn hier also wie bereits in der Moralphilosophie und auch im Weiteren (in Bezug auf die rechtsphilosophischen Disziplinen) an der Strukturierung nach Freiheit und Verantwor-
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IV. Politische Philosophie: Deliberative Demokratie
tung festgehalten wird, heißt das nicht, dass die Konzeption der deliberativen Demokratie nicht auch anders ansetzen könnte. Ebenso wie Konkretisierung und Abstrahierung ist auch Strukturierung eine wertende und schöpferische Tätigkeit, die sich begründen, aber auch kritisieren lässt. Um nur anzudeuten, wie eine alternative Strukturierung der politischen Deliberation aussehen könnte, kann etwa auf die Ideen der privaten und der öffentlichen Autonomie zurückgegriffen werden.100 Das verlangt allerdings auch Umstrukturierungen in der Binnenstruktur des Prinzipien-Sets der deliberativen Demokratie. Das Kategorienpaar „Freiheit – Verantwortung“ läuft mit dem Kategorienpaar „private Autonomie – öffentliche Autonomie“ nicht parallel, sondern liegt mit diesem in verschiedener Hinsicht über Kreuz.101 Als Forderung insbesondere nach kollektiver Selbstbestimmung bringt das Prinzip der Zustimmung etwa den strukturellen Aspekt der öffentlichen Autonomie zum Ausdruck. Hingegen definiert das Prinzip der Gleichberechtigung den strukturellen Aspekt der privaten Autonomie. In diesem Punkt verbindet sich die Idee der öffentlichen Autonomie also mit der Idee der Freiheit und die Idee der Verantwortung mit der Idee der privaten Autonomie. In formeller Hinsicht verhält es sich dagegen umgekehrt. Mit dem freiheitlichen Prinzip der Balances, der Forderung nach aus der Sicht Einzelner zu gleichen Chancen führenden politischen Symmetrie, verbindet sich dort eher die Idee der privaten Autonomie mit dem Gedanken der Freiheit, während sich das verantwortungsnahe Prinzip der Checks als Pflicht zur öffentlich zu rechtfertigenden Macht tendenziell dem Gedanken der öffentlichen Autonomie zuwendet. In materieller Hinsicht verteilen sich öffentliche und private Autonomie schließlich zu gleichen Teilen auf das freiheitliche Prinzip der Offenheit der Deliberation und das verantwortungsbezogene Prinzip der Gebundenheit der Deliberation. Aufgrund der prozeduralen Gesamtstruktur der deliberativen Ergebnisgenerierung schreiben sich öffentliche und private Autonomie sowohl in die Deliberationsoffenheit als auch in die Deliberationsgebundenheit ein. Auch unter dieser Perspektive zeigt sich jedoch wiederum die Notwendigkeit der Verschwisterung beider legitimatorischer Pole. Erst öffentliche und private Autonomie zusammen können die politische Deliberation unter dem jeweiligen Aspekt ausreichend legitimieren. So schließt sich gewissermaßen der Kreis zu den eingangs dieses Kapitels diskutierten Demokratie-Konzepten. Die Betonung der privaten Autonomie durch den Liberalismus wird dort von der Betonung der 100 Es kämen auch noch weitere ethische Grundkategorienpaare (mit entsprechend umzustrukturierenden Binnenprinzipien) infrage. Freiheit und Gleichheit könnten z. B. eine weitere Grundstruktur definieren. Statt der folgenden Strukturierung nach privater und öffentlicher Autonomie könnte der Raster ferner auch gänzlich auf die Idee der Verantwortung gemünzt werden, dann als Spannungsfeld von Selbstverantwortung und Mitverantwortung. Zum Verantwortungsprinzip als „Leitprinzip des Handelns im öffentlichen Raum“ Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 156 – 169, Rn. 478 – 524, Zitat auf S. 156, Rn. 478. 101 Vgl. auch die entsprechende Interpretation der Strukturierung der Prinzipien der Diskursethik im Hinblick auf die Aspekte des Individuellen und des Kollektiven, II. 2. b), (3) a. E.
4. Moralischer Diskurs im Kontext
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öffentlichen Autonomie durch den Republikanismus herausgefordert. Beide Konzepte überwinden jedoch nicht die Einseitigkeit ihrer Sichtweise. Erst der prozedurale Ansatz nimmt dann eine integrative Sichtweise ein. Das prozedurale Demokratie-Konzept nimmt sowohl die Bedeutung der privaten als auch die der öffentlichen Autonomie ernst, ohne jedoch der einen oder der anderen einen Vorrang zuzusprechen. Als integrativer Ansatz ist er nicht einer monopolaren, auch nicht einer naiven additiven Logik, sondern einer Argumentation verpflichtet, die aus den Argumenten aller Beteiligten, soweit sie eben überzeugen, ein aus guten Gründen zusammenführbares Gesamtbild konzipiert. Das prozedurale Konzept spielt daher weder die private gegen die öffentliche noch die öffentliche gegen die private Autonomie aus, sondern verbindet beide zu einem umfassenderen Gesamtkonzept. Dazu in der Lage ist es, weil es von einer grundsätzlich anderen Position ausgeht. Statt des statischen, monopolaren Vorgehens von Liberalismus und Republikanismus richtet es sein Augenmerk auf die Verfahrensstrukturen, die so angelegt sind, dass sie im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Verantwortung bzw. privater und öffentlicher Autonomie demokratisch – immerhin vermutungsweise – legitime Ergebnisse herzustellen erlauben. Als auch soziologisch informierte Konkretisierung des prozeduralen Ansatzes liefert die deliberative Demokratie dann einen Vorschlag, wie diese Idee, dem Anspruchsniveau der politischen Philosophie entsprechend, überzeugend konzeptionalisiert werden kann.
4. Moralischer Diskurs im Kontext Die hier herausgearbeitete Konzeption der deliberativen Demokratie versucht, die in der Moralphilosophie erarbeitete Konzeption der Diskursethik für die politische Philosophie einzuholen. Innerhalb der Oberdisziplin Ethik bzw. Rechtsphilosophie wird dadurch ein Blickwechsel von der thematischen Ebene der universellen Justifikation zur kulturellen Ebene der demokratischen Konstitution vollzogen. Dabei hat sich gezeigt, dass, dem konkreteren Themenbereich der demokratischen Konstitution entsprechend, einige Konkretisierungen notwendig sind, die den moralischen Diskurs spezifischer als eine politische Deliberation erscheinen lassen. Auch erhalten die Prinzipien der deliberativen Demokratie gegenüber denen der Diskursethik ein (thematisch) konkreteres Gesicht. In Anbetracht der immer wiederkehrenden Frage nach dem Verhältnis von Moral, Politik und „Recht“ und dem Umstand, dass diese Frage gerade im Zusammenhang mit der richtigen Interpretation der deliberativen Demokratie, v. a. auch in einer diskurstheoretischen Fassung, zu Klärungen Anlass gibt, soll an dieser Stelle noch einmal vertiefend auf das Verhältnis zwischen Justifikation, Konstitution und Judikation eingegangen werden.102 M. a. W. gilt es, den moralischen Diskurs über die verschiedenen thematischen Abstraktionsebenen hinweg zu kontextualisieren. Zur Kontextualisierung des moralischen Diskurses ist diese Stelle der Untersuchung besonders 102
Vgl. zum Folgenden auch die entsprechenden Ausführungen im dritten Kapitel, III. 3. b).
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IV. Politische Philosophie: Deliberative Demokratie
geeignet, weil sie sich – jedenfalls innerhalb der Rechtsphilosophie – gewissermaßen „mittendrin“ befindet. Das Feld der politischen Philosophie liegt zwischen der auf die Justifikation bezogenen Moralphilosophie und der auf die Judikation bezogenen Urteilsphilosophie. Die Kontextualisierung des moralischen Diskurses wird so nicht nur rückblickend das Zusammenspiel von Justifikation und Konstitution nochmals vertiefen, sondern auch den weiteren Weg für die Erfassung der Judikation vorzeichnen.
Abbildung 20: Moralischer Diskurs im Kontext
Dabei muss vorab deutlich gemacht werden, was von einer solchen Kontextualisierung des moralischen Diskurses (nur) erwartet werden kann. Moral (Justifikation), Politik (Konstitution) und „Recht“ (Judikation) werden in dieser Untersuchung als Themenbereiche einer soziologisch wie legitimatorisch strukturierbaren Wirklichkeit verwendet, deren Wahrnehmung bzw. Konzipierung immer auch von der speziellen Sichtweise und d. h. v. a. disziplinären Sichtweise abhängt. Wenn nun also die verschiedenen Kontexte des moralischen Diskurses und damit auch die gegenseitigen Verhältnisse von Moral, Politik und „Recht“ geklärt werden sollen, fragt sich zunächst, aus welcher disziplinären Sicht dies geschehen soll. Die Frage ist deshalb von Relevanz, weil im Folgenden unterschiedliche Themenbereiche infrage stehen, die je nach Disziplin eben eine andere Bedeutung bekommen. Da eine „Superdisziplin“ nicht zur Hand ist,103 bleibt wiederum nur der Ver103 Vgl. Habermas, Replik auf Beiträge (1996), S. 371; ders., Vom Pragmatischen, Ethischen und Moralischen (1991), S. 117 f.
4. Moralischer Diskurs im Kontext
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such einer interdisziplinären Integration. D. h., dass sich aus den verschiedenen disziplinären Einzelperspektiven ein kohärentes interdisziplinäres Gesamtbild ergeben muss. Der Weg dorthin wird (1) über Habermas’ Darstellung moralischer, ethisch-politischer, pragmatischer und juristischer Fragestellungen und Diskurse und dessen daran anschließenden angedeuteten Vorschlag, die politische Deliberation als pluridiskursives Verfahren zu verstehen, sowie (2) eine Interpretation der Pluridiskursivität der politischen Deliberation durch Mastronardi führen. Die hier vertretene angemessene Kontextualisierung des moralischen Diskurses soll dann schließlich (3) aus der an dies anschließenden Diskussion heraus erläutert werden.104 (1) Auf der Grundlage einer allgemeinen Differenzierung der praktischen Vernunft105 unterscheidet Habermas moralische, ethisch-politische und pragmatische Fragestellungen und Diskurstypen.106 Bei moralischen Fragen stehe zur Debatte, ob bestimmte Normen oder Handlungen als gerecht, d. h. von jeder Person als zustimmungswürdig angesehen werden können.107 „Bei moralischen Fragen tritt der teleologische Gesichtspunkt, unter dem wir Probleme durch zielgerichtete Kooperation bewältigen, ganz hinter dem normativen Gesichtspunkt zurück, unter dem wir prüfen, wie sich unser Zusammenleben im gleichmäßigen Interesse aller regeln lässt. Eine Norm ist nur dann gerecht, wenn alle wollen können, daß sie in vergleichbaren Situationen von jedermann befolgt wird.“108 Die Begründung moralischer Fragen soll sodann in moralischen Diskursen erfolgen.109 Dort sollen Gründe entscheiden, „die dafür sprechen, daß die in strittigen Normen verkörperten Interessen schlechthin verallgemeinerungsfähig sind. In moralischen Diskursen erweitert sich die ethnozentrische Perspektive eines bestimmten Kollektivs zur umfassenden Perspektive einer entschränkten Kommunikationsgemeinschaft, deren Mitglieder sich alle in die Situation und in das Welt- und Selbstverständnis eines jeden hineinversetzen und gemeinsam eine ideale Rollenübernahme (im Sinne von G. H. Mead) praktizieren.“ 110 Bei ethisch-politischen Fragen stehe demgegenüber eine Verständigung über die Lebensweise an, durch die sich eine bestimmte politische Gemeinschaft als poli104 Auch Carsten Bäckers neuerliche Rekonstruktion der „Alexyschen Diskurstheorie des Rechts“, insbesondere dessen „Drei-Ebenen-Modell des Diskurses“, würde an dieser Stelle eine eingehendere Auseinandersetzung verdienen, die hier nicht geleistet werden kann: Bäcker, Begründen und Entscheiden (2008), insb. S. 127 – 161, Zitate im Untertitel und auf S. 117 u. ö. Im Zusammenhang zu erwähnen auch Huang, Das Verhältnis von moralischem Diskurs und rechtlichem Diskurs (2007). 105 Habermas, Vom Pragmatischen, Ethischen und Moralischen (1991). 106 Habermas, Vom Pragmatischen, Ethischen und Moralischen (1991), S. 116 – 118; Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 197 – 207. 107 Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 200. 108 Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 200. 109 Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 200 / 202. 110 Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 200.
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tische Gemeinschaft identifiziert und identifizieren will:111 „Ethisch-politische Fragen stellen sich aus der Perspektive von Angehörigen, die sich in lebenswichtigen Fragen darüber klar werden wollen, welche Lebensform sie teilen, auf welche Ideale hin sie ihr gemeinsames Leben entwerfen sollten.“112 Zu begründen seien solche Fragen in ethisch-politischen Diskursen.113 „Darin geben Argumente den Ausschlag, die sich auf eine Explikation des Selbstverständnisses unserer historisch überlieferten Lebensform stützen und in diesem Kontext Wertentscheidungen an dem für uns absoluten Ziel einer authentischen Lebensführung bemessen.“114 Pragmatische Fragen ergeben sich für Habermas ferner „aus der Perspektive eines Handelnden, der bei gegebenen Zielen und Präferenzen geeignete Mittel für die Realisierung seiner Ziele sucht.“115 Sie bezögen sich also auf die bei gegebenen Zwecken richtige Zweck-Mittel-Relation. Die Relation kann sich für Habermas auch auf einem höheren Abstraktionsniveau abspielen, dann würden die Ziele selber zu Mitteln, die sich wiederum am Maßstab fester Werte als vorzugswürdig erweisen müssten.116 Im Verhältnis zu fixen Werten zu Mitteln gewordene Ziele nennt Habermas zwar weiterhin Ziele und nicht Mittel, aber „[d]er Wille des Aktors ist auch jetzt noch durch Interessen oder Wertorientierungen festgelegt und nur im Hinblick auf die Alternativen der Mittelwahl bzw. Zielsetzung für weitere Bestimmungen offen.“117 Geklärt werden soll die geeignete Mittel- bzw. Zielwahl dann in pragmatischen Diskursen, in denen v. a. empirische Argumente über die Ursache-Wirkungs-Verhältnisse möglicher alternativer Beziehungen zwischen Mittel und Zweck maßgeblich sein sollen.118 Auch wenn Habermas im aufgegriffenen Zusammenhang eine entsprechend gelagerte Definition juristischer Fragestellungen und juristischer Diskurse vermissen lässt, ist an anderer Stelle erkennbar, dass es sich bei juristischen Fragen schließlich um Fragen handeln soll, in denen die Kohärenz einer Norm in Bezug auf das Gesamtsystem des geltenden Rechts einer Rechtsordnung festgestellt werden soll. Es handelt sich dort also um Probleme juristischer Richtigkeit, wobei eine Norm dann juristisch richtig sei, wenn ihre widerspruchslose Vereinbarkeit im Zusammenhang mit den übrigen in Geltung gesetzten Rechtsregeln und -entscheidungen 111 Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 198 f. Habermas versteht den Begriff des Ethischen in diesem Zusammenhang als spezifischen Bezug zu einer klinisch-existenziellen (individuellen oder kollektiven) Selbstvergewisserung eines gelungenen (guten) Lebens: Habermas, Vom Pragmatischen, Ethischen und Moralischen (1991), S. 103 – 105. Dieser Bezug ist nicht mit der hiesigen – und auch sonst verbreiteten – Verwendung i. S. einer weiteren oder engeren philosophischen Legitimation zu verwechseln. 112 Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 198. 113 Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 199 / 201 f. 114 Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 199. 115 Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 197. 116 Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 197. 117 Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 197. 118 Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 198 f. / 201.
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bestätigt werden könne: „Eine juristische Einzelfallentscheidung kann nur dann richtig sein, wenn sie sich einem kohärenten Rechtssystem einfügt.“119 Juristische Diskurse sind demnach diskursiv regulierte Verfahren, in denen Normen unter dieser Kohärenzbedingung auf die Probe gestellt werden. Ihre Besonderheit liegt für Habermas aber weniger in einer bestimmten Diskurslogik als mehr in ihrer verbindlichen, institutionalisierten Form: „Das Spezifische liegt nicht im Diskurs, sondern in der Rechtsförmigkeit von [ . . . ] Normen, die politisch gesetzt, verbindlich interpretiert und unter Androhung staatlicher Sanktionen durchgesetzt werden.“120 Diese bei Habermas zu findende Darstellung verschiedener Fragestellungen und Diskurstypen ist zunächst analytischer Natur.121 Sie soll darlegen, wie normative Fragen in ihrer unterschiedlichen Bedeutung von Sollen begriffen und unterschiedlichen Diskursen zugeordnet werden können. In seiner Diskussion der (legislativen) politischen Willensbildung in Demokratien erhält diese analytische Differenzierung bei Habermas aber den Sinn, den demokratischen Gesetzgebungsprozess als „ein verzweigtes Netz von Diskursen und Verhandlungen“122 abzubilden, in dem „verschiedene Sorten von Gründen“123 zum Tragen kommen. So präsentiert Habermas die politische Deliberation als eine Mischung aus pragmatischen, ethisch-politischen, moralischen, juristischen und verhandlungsartigen Problemlösungsverfahren. Das Zusammenspiel der verschiedenen Fragestellungen und Diskurstypen zeigt er beispielhaft anhand eines „Prozeßmodells“ auf, „das von pragmatischen Fragestellungen ausgeht, über die Verzweigung in Kompromißbildung und ethische Diskurse zur Klärung moralischer Fragen fortschreitet und mit einer juristischen Normenkontrolle endet.“124 Die Beziehungen der verschiedenen Fragestellungen und Diskurse sollen dabei „nur ein Muster interdiskursiver Beziehungen neben vielen anderen möglichen Mustern“ abgeben.125 Für eine „vernünftige politische Willensbildung“, seien sie jedoch mindestens in der dargestellten Weise miteinander verknüpft.126 Nach diesem Modell verschiedener Fragen und Verfahrenstypen beginnt die legislative Entscheidungsfindung im „ersten Stadium“ bei gegebenen, noch unkontroversen Werteinstellungen mit einem pragmatischen Diskurs über sinnvolle politische Ziele und die in deren Abhängigkeit stehenden vorzuziehenden strategischen Mittel.127 Im „zweiten Stadium“ der politischen Meinungs- und Willensbildung Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 285. Ferner z. B. ebd., S. 207 / 290. 120 Habermas, Replik auf Beiträge (1996), S. 366 f. 121 Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 667, Fn. 3. Vgl. dazu auch Palazzo, Die Mitte der Demokratie (2002), S. 171 f. 122 Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 667 / 207. 123 Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 667. 124 Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 201. 125 Habermas, Replik auf Beiträge (1996), S. 372. 126 Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 207. 127 Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 203. 119
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verlören die zuvor fixen Werteinstellungen dann ihren unkontroversen Status, weshalb die Ebene des pragmatischen Diskurses verlassen werden müsse, da sich die Fragestellungen nun von ihrer rein zweckrationalen Struktur gelöst hätten.128 Als weitere Verfahrensarten bieten sich für Habermas in diesem Stadium dann drei Möglichkeiten an: der moralische Diskurs, der ethisch-politischer Diskurs und eine verfahrensregulierte Verhandlung.129 Idealerweise wäre für Habermas je nach materiellem Aspekt der Fragestellung zunächst der moralische oder der ethischpolitische Diskurs geboten.130 Weil aber auch Habermas sieht, dass sich komplexe Gesellschaften gegen starke, auf gleiche Gründe gestützte Konsense in aller Regel sperren,131 sei es für moralische oder ethisch-politische Diskurse, müsse, so seine Lösung, im Prozessmodell politischer Willensbildung häufig auf die Verfahrensform fairer Kompromissverhandlungen zurückgegriffen werden.132 Sowohl die Fairnessbedingungen von Verhandlungen als auch mögliche Ergebnisse ethischpolitischer Diskurse müssten sich allerdings innerhalb des zweiten Stadiums noch in einem moralischen Diskurs bewähren.133 „So bietet erst die Vereinbarkeit aller diskursiv erzielten oder ausgehandelten Programme mit dem, was auch moralisch gerechtfertigt werden kann, eine Garantie für die durchgängige Berücksichtigung des Diskursprinzips.“134 In einem dritten Stadium führe das Prozessmodell schließlich in einen juristischen Diskurs, in dem die Programme des politischen Gesetzgebers noch einer juristischen Kohärenzprüfung unterzogen würden.135 (2) Sowohl Habermas’ Analyse unterschiedlicher Fragestellungen und Diskurstypen als solche als auch sein Vorschlag, wie die Diskurs-Vielheit in die politische Willensbildung des demokratischen Prozesses ungefähr einzubauen ist, geben zu weiteren Fragen Anlass. Berechtigt ist insbesondere die Nachfrage, in welchem Verhältnis die verschiedenen Diskurstypen denn nun generell und in der politischen Deliberation im Speziellen zueinander stehen. Etwas überspitzt, aber in die richtige Richtung zielend, merkt Gunther Teubner an: „After the move to pluridiscoursivity, the success of Habermas’ theory depends on a plausible solution to the collision of discourses.“136 Aus dem angeführten Prozessmodell ist zwar ersichtlich, dass mindestens Kompromissverhandlungen und ethisch-politische Diskurse unter dem Vorbehalt moralischer Diskurse stehen sollen, sodass daraus eine Art Vorrang des moralischen Diskurses abgelesen werden kann. Außerdem sollen Kompromissverhandlungen „unter dem Vorbehalt stehen, die konsentierten Grund128 129 130 131 132 133 134 135 136
Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 203. Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 203 f. Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 203 f. Vgl. IV. 3. b), (2). Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 204 – 206. Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 206. Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 206 f. Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 207. Zit. in Habermas, Replik auf Beiträge (1996), S. 370.
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werte einer Kultur nicht verletzen zu dürfen.“137 Andererseits betont Habermas aber auch die „Prämisse der Gleichrangigkeit der verschiedenen Diskurse“.138 Wieder an anderer Stelle hält er fest, „daß das Gute gegenüber dem Zweckmäßigen und das Gerechte gegenüber dem Guten privilegiert wird. Im Kollisionsfall ,stechen‘ moralische Gründe ethische Gründe und ethische Gründe pragmatische [ . . . ].“ Nicht ganz klar ist schließlich die Stellung des juristischen Diskurses. An diese Fragen nach der Legitimationslogik bzw. des normativen Zusammenspiels der verschiedenen Verfahrensarten schließt sich die Frage nach der Selektionslogik, d. h. der Einordnungsbedingungen bestimmter Fragestellungen an. Wie kann überhaupt festgestellt werden, dass es sich bei einem bestimmten Problem um ein zweckrationales, verhandelbares, ethisch-politisches oder moralisches handelt, das dementsprechend im jeweils dafür vorgesehenen Verfahren behandelt werden muss? Auch Habermas sieht, dass es den Problemen kaum „anzusehen“ ist, welcherart sie tatsächlich sind.139 Wie aber kann „Sortierfehlern“140 dann entgegengewirkt werden? Habermas antwortet darauf zunächst mit einem Verweis auf die „Selbstselektivität von Fragestellungen“:141 Die verfahrensgerechte Zuordnung von Fragestellungen regle sich durch die „Logik der Fragestellungen“ gewissermaßen von selbst.142 Er gibt aber auch zu, dass die Selbstregelung gerade dort aufhört, wo die Zuordnung umstritten ist: „Diese ,Selbstselektivität‘ der Fragestellungen kann freilich nur funktionieren, solange die Selektion der Fragestellungen und die Wahl der Aspekte, unter denen eine strittige Materie überhaupt behandelt werden soll, nicht strittig sind.“ Weil die Zuordnungsproblematik aber genau an diesem Punkt erst interessant wird, scheint die These der Selbstselektivität noch nicht besonders aufschlussreich. Habermas verweist dann weiter auf „die rechtlich institutionalisierten Verfahren“.143 Sie böten offenbar die Möglichkeit, auch im Streitfall noch „die Selbstselektivität der Fragestellungen zum Zuge kommen“ zu lassen.144 Auch das bedarf einer Klärung. Für eine legitime demokratische Deliberation, die Habermas’ Idee einer Vielheit verschiedener Diskursverfahren aufnimmt, hat Philippe Mastronardi einen Interpretationsvorschlag vorgelegt.145 Mastronardi gibt der Diskurs-Vielheit innerhalb 137 Habermas, Drei normative Modelle der Demokratie (1996 [1992]), S. 284. Ebenso ders., Replik auf Beiträge (1996), S. 372. 138 Habermas, Replik auf Beiträge (1996), S. 374. 139 Dazu Habermas, Vom Pragmatischen, Ethischen und Moralischen (1991), S. 118. 140 Habermas, Replik auf Beiträge (1996), S. 373. 141 Habermas, Replik auf Beiträge (1996), S. 371. 142 Habermas, Replik auf Beiträge (1996), S. 371 – 373. 143 Habermas, Replik auf Beiträge (1996), S. 372; ders., Vom Pragmatischen, Ethischen und Moralischen (1991), S. 118. 144 Habermas, Replik auf Beiträge (1996), S. 373. 145 Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 124 – 126, Rn. 392 – 394 / S. 185 – 188, Rn. 573 – 584.
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des politischen Verfahrens eine klare normative Ordnung, indem er die einzelnen Diskurstypen über verschiedene Stufen hinweg hierarchisiert: „Zuoberst steht der moralische Diskurs, darunter folgen der ethische Diskurs, der juristische Diskurs, der zweckrationale Diskurs und schliesslich die faire Verhandlung.“146 Die Stellung des moralischen Diskurses an oberster Position sieht Mastronardi durch seine optimale Eignung für die normative Universalisierung begründet, und die Position von Verhandlungen am unteren Ende der Hierarchie durch den Umstand, die Forderung nach Grundsätzlichkeit aufgeben zu müssen.147 Die Zwischenstellung des juristischen Diskurses zwischen dem ethischen und dem zweckrationalen Diskurs wird mit der „Übersetzungsfunktion des Rechts“ zwischen (ethischer) Lebenswelt und (zweckrationalen) sozialen Systemen begründet.148 Von dieser Hierarchie ausgehend, inszeniert Mastronardi sodann eine kaskadische Legitimationslogik von höheren zu tieferen Verfahrensstufen: „Abstriche an den Forderungen des moralischen Diskurses müssen jeweils in einem höherstufigen Diskurs begründet werden können. Dass etwas als Verhandlung beraten wird, muss sich im ethischen Diskurs rechtfertigen lassen; dass etwas im ethischen Diskurs beraten wird, muss sich im moralischen Diskurs legitimieren. Diese Kaskade bildet den Kern einer deliberativen Institutionenlehre.“149 So präpariert Mastronardi einen fixen Raster für ein demokratisches Legitimationsverfahren, in dem Habermas’ Verfahrensarten und Diskurstypen jeweils einen Platz erhalten. Die Stufenordnung ist gegenüber Habermas’ Andeutungen auch deshalb klarer, weil Mastronardi stärker als Habermas deutlich macht, dass die Frage, welches Verfahren greifen soll, nicht nur ein Problem des richtigen Verhältnisses zwischen den verschiedenen Verfahrenstypen darstellt, sondern auch mit dem Problem einhergeht, unter welchen legitimatorischen Bedingungen bestimmte Verfahrenstypen durchzuführen sind.150 So wird etwa darauf hingewiesen, dass Gerechtigkeitsfragen erst unter besonders anspruchsvollen Verfahrensbedingungen behandelt werden dürfen: „Das wird durch besonders breite Repräsentation gefördert. Die Bürgergesellschaft muss breit einbezogen werden. Auch marginale Gruppen müssen ihren Anliegen Gehör verschaffen können. Letztlich muss jeder einzelne ein Entscheidungsverfahren auslösen können.“151 Für die Auflösung von Interessenkonflikten dagegen „genügt es“ z. B., „wenn alle direkt Betroffenen an der Vereinbarung beteiligt werden. Das kann auch ausserhalb der demokratischen Institutionen in Mitwirkungsverfahren zwischen einer Teilöffentlichkeit und der Verwaltung geschehen.“152 146 147 148 149 150 151 152
Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 185, Rn. 573. Ebenso ebd., S. 124 f., Rn. 392 f. Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 124 f., Rn. 392. Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 125 f., Rn. 394. Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 186 f., Rn. 579. Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 186, Rn. 575 – 578. Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 186, Rn. 576. Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 186, Rn. 578.
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Damit wird klarer, dass „Sortierfehler“, besonders dann, wenn Fragestellungen, die eigentlich auf einer höheren Diskursstufe behandelt werden sollten, Legitimationsdefizite nach sich ziehen, die sich aus zu wenig anspruchsvollen Verfahrensbedingungen ergeben. Entscheidend dafür, dass Fragestellung an ihrem richtigen Platz in der Legitimationshierarchie behandelt werden, ist nun aber, dass auch ein akzeptables Verfahren der Zuordnung von Fragestellungen auf „ihre“ jeweilige Verfahrensstufe vorhanden ist (Selektionslogik). Zwar scheint auch Mastronardi das Selektionsproblem prinzipiell als durch die Selbstselektionskraft der jeweiligen Materie erledigt zu sehen: „Die Abstufung der verschiedenen Diskursformen muss durch die Art der zu beratenden Gegenstände legitimiert werden.“ Zugleich macht er aber auch einen konkreteren Vorschlag, welche Rolle die rechtlichen Institutionen bei der Selektion bestimmter Fragestellungen spielen: „Aufgabe des Staatsrechts ist es, auf dieser Grundlage [der erläuterten Legitimationslogik] festzulegen, für welche Fragen welche Diskursart institutionalisiert werden soll und wie die Diskurse zu gestalten sind.“153 Mit diesem Vorschlag führt Mastronardi den Gedanken von Habermas weiter und gibt dessen These, dass es letztlich die rechtlich institutionalisierten Verfahren sind, die über die verfahrensgerechte Zuordnung bestimmter Fragestellungen entscheiden, ein Gesicht. Der (verfassungstheoretische) Vorschlag Mastronardis geht dahin, die Diskursstufen der habermasschen Konzeption der deliberativen Demokratie in eine Beziehung zu der Stufensystematik des modernen Rechts zu bringen, wobei die jeweiligen Verfahrensstufen der Politik je eine Entsprechung in einer angemessenen rechtlichen Verfahrensstufe finden sollen. „Diese Aufgabe löst der demokratische Rechtsstaat mit der Hierarchie der Erlassstufen und mit dem Geltungsvorrang der Verfassung.“154 Der moralische Diskurs soll so als Verfassungsdiskurs eingerichtet werden: „Fragen der Gerechtigkeit sollen auf Verfassungsstufe beantwortet werden. In erster Linie geht es dabei um die Frage der Machtverteilung im Staat.“ Der ethisch-politische Diskurs habe seinen institutionellen Platz im Bereich der Gesetzgebung im formellen Sinn: „Ethische Fragen sind im Verfahren der formellen Gesetzgebung zu beraten. Hier geht es insbesondere um die Staatsaufgaben und die Rechte und Pflichten der Menschen im Land.“155 „Interessenkonflikte“ schließlich „dürfen Gegenstand von Verhandlungen zwischen der Verwaltung und Privaten sein, wenn die Entscheidungsgrundlagen auf höherer Diskursstufe hinreichend bestimmt worden sind (Gesetzmässigkeitsprinzip). Oft sind aber Interessen und ethische Fragen miteinander vermischt. Dann sind sie dem Parlament vorbehalten. Diese Fragen machen daher den Grossteil der Parlamentsberatungen aus.“156 (3) Nach der hier vertretenen Auffassung weist der Import der Pluridiskursivität in die demokratische Deliberation insgesamt in eine falsche Richtung. Die Annah153 154 155 156
Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 187, Rn. 572. Ebenso ebd., S. 185 f., Rn. 574. Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 187, Rn. 581. Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 187, Rn. 583. Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 188, Rn. 584.
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me, die politische Deliberation verzweige sich als legitimatorischer Diskurs in moralische, ethisch-politische und pragmatische Diskurse und in Kompromissverhandlungen kann (a) jedenfalls in der dargestellten Weise nicht überzeugen und tut (b) für eine überzeugende Konzeption der deliberativen Demokratie auch gar nicht Not. Zudem kann sie dazu führen, dass (c) das Verhältnis von Justifikation, Konstitution und Judikation und damit auch das Verhältnis von moralischem, politischem und juristischem Diskurs in ein schiefes Licht gerät und die angemessene Kontextualisierung des moralischen Diskurses letztlich verfehlt wird. Die hier geübte Kritik an der Überzeugungskraft „deliberativer Pluridiskursivität“ macht v. a. geltend, dass eine solcherart gestaltete Konzeption deliberativer Politik, die doch gerade eine disziplinengerechte Rekonstruktion der Diskursethik leisten will, verlangt, was im Politischen weder verlangt werden kann noch verlangt werden soll. Mag die analytische Differenzierung der praktischen Vernunft im Allgemeinen teilweise nachvollziehbar sein, so verkennt sie doch mindestens den normativen Sinn demokratischer Politik. Das kann dann auch leicht dazu führen, dass sich in die Konzeption der deliberativen Demokratie und das Konzept des moralischen Diskurses Vorstellungen einnisten, die dazu tendieren, Realitäten zu idealisieren. M. a. W. wird hier moniert, dass die soeben dargestellten Vorschläge der Kontextualisierung des moralischen Diskurses mit dem politischen und dem juristischen Diskurs interdisziplinär verfehlt sind. Sie sind es, weil sie die jeweiligen disziplinären Anspruchsbereiche und Kontexte nicht sorgfältig genug zueinander in Beziehung setzen. Ganz entgegen ihrer beabsichtigten Stoßrichtung hat das allerdings wiederum zur Folge, dass der Kritik an einer prinzipiell begrüßenswerten diskurstheoretischen Rekonstruktion demokratischer Politik und des demokratischen Rechtsstaats Vorschub geleistet wird.157 (a) Es ist zunächst festzuhalten, dass die Pluridiskursivierung der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung sowohl bei Habermas als auch bei Mastronardi auf eine Differenzierung der politischen Deliberation in ihrem Innern hinausläuft. Zudem, das zeigt insbesondere Mastronardis Interpretation der verschiedenen Diskurstypen als eine normative Hierarchie zunehmend bzw. abnehmend anspruchsvoller Diskursstufen, aber auch das beispielsweise angeführte Prozessmodell bei Habermas, wird der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Diskurstypen, dem moralischen, dem ethisch-politischen und dem pragmatischen Diskurs sowie der Kompromissverhandlung, insgesamt als ein legitimatorischer betrachtet. Sowohl der moralische Diskurs als auch der ethisch-politische und der pragmatische sowie die Kompromissverhandlung werden als Stufen einer insgesamt legitimatorisch ausgerichteten politischen Willensbildung begriffen. Was in der Moralphilosophie also der moralische Diskurs sozusagen im Alleingang bewerkstelligt, soll in der politischen Philosophie nun durch ein erweitertes Arsenal an Diskurstypen und Verfahrensarten konzeptionalisiert werden. Damit wird neben dem moralischen Diskurs nicht nur die Kompromissverhandlung, sondern auch der 157
Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 196.
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pragmatische und der ethisch-politische Diskurs für einen legitimatorischen Geltungsanspruch einzuholen versucht. Aus der Sicht einer konsequenten deontologischen Legitimationstheorie ist das jedoch nicht haltbar. Das kann als Erstes am Verhältnis zwischen dem moralischen Diskurs und dem sog. ethisch-politischen Diskurs, wie Habermas ihn versteht, veranschaulicht werden. Wie gesehen, sollen ethisch-politische Fragen und soll dementsprechend der ethisch-politische Diskurs nach Habermas auf das Problem einer klinischpolitischen Selbstverständigung abzielen, auf die Frage also, als was sich eine politische Gemeinschaft im Ganzen identifiziert und verstanden sehen will. Genau genommen handelt es sich dabei um die klinisch-therapeutische Selbsterklärung eines politischen Kollektivs, das die für sich sinnvolle, Erfüllung bringende, kurz: teleologisch angemessene Lebensweise definieren möchte. Der ethisch-politische Diskurs ist damit das kollektive Gegenstück einer individuell-therapeutischen Kritik bzw. eines vergleichbaren Verfahrens der individuellen Selbstverständigung über das für sie oder ihn erfüllende, gelungene, oder gute Leben. Anders ausgedrückt, geht es bei den „ethischen“ Fragen, die Habermas damit anspricht, um die Frage des existenziellen (individuellen) bzw. politischen (kollektiven) Glücks. Nun wird hier keineswegs bestritten, dass die teleologische Frage von Bedeutung ist,158 auch nicht, dass sie in der politischen Deliberation von Relevanz oder (in Bezug auf die politische Gemeinschaft) gar durch die Deliberation zu klären ist. Infrage zu stellen ist nur, dass die teleologische Selbstverständigung als Diskurstyp bzw. als (hierarchisch untergeordnete) Diskursstufe einer legitimatorischen und damit deontologisch auszurichtenden (politischen) Rechtfertigungspraxis behandelt werden soll.159 Die demokratisch-konstitutionelle Legitimationspraxis kann durchaus auch als eine (kollektive) Selbstverständigung mit teleologischem Geltungsanspruch verstanden werden. Sofern sie aber, wie hier – und im aufgegriffenen Zusammenhang auch bei Habermas und Mastronardi –, mit einem legitimatorischen Geltungsanspruch bearbeitet wird, muss sie auch deontologisch geklärt werden. Wie hier mit dem Blickwechsel vom legitimatorischen zum soziologischen Geltungsanspruch immer wieder vorgeführt, können und sollen verschiedene Geltungsansprüche, die für dieselbe Sozialpraxis gleichzeitig erhoben werden, (interdisziplinär) integriert werden. Doch diese Integration verschiedener (disziplinärer) Ansprüche darf nicht synkretistisch innerhalb einer bestimmten, hier der legitimatorischen Anspruchsart vorgenommen werden. Sofern die politische Deliberation also als legitime Praxis politischer Entscheidungsproduktion strukturiert werden soll, kann und darf sie nicht gleichzeitig als ethisch-politische Selbstverständigung installiert werden.160 Den ethisch-politischen Diskurs dann (innerhalb Vgl. dazu die entsprechende Anmerkung im dritten Kapitel III. 2. b), (2). Die Einmischung von teleologischen Maßstäben in die deontologisch zu beantwortende Moralproblematik musste bereits im Bereich der Moralphilosophie zurückgewiesen werden: II. 1. b). 158 159
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der politischen Deliberation) dem moralischen Diskurs auch noch unterzuordnen, erweckt außerdem auch den weiter problematischen Anschein, dass eine ganze Geltungsanspruchsart, bei Habermas und Mastronardi die teleologische, einer anderen Geltungsanspruchsart, in diesem Fall der legitimatorischen, unterzuordnen sei. Als solche kann jedoch keine Anspruchsart einer anderen über- oder untergeordnet werden. Die verschiedenen differenzierbaren Anspruchsmöglichkeiten bilden gleichberechtigte Seiten derselben Medaille. Den ethisch-politischen Diskurs als (untergeordneten) legitimatorischen Bestandteil der politischen Deliberation zu deuten, ist daher nicht überzeugend. Aus anderen Gründen, aber ebenso wenig ist es außerdem angebracht, die politische Deliberation durch den sog. pragmatischen Diskurs anzureichern. Sofern stabile Ziele und Wertvorstellungen vorliegen und nur noch die Frage zu klären sein soll, wie diese Ziele oder Werte verwirklicht oder umgesetzt werden sollen, handelt es sich für Habermas und in Anschluss daran auch bei Mastronardi um „pragmatische“ (technische, instrumentelle oder zweckrationale) Fragen, die in „pragmatischen Diskursen“ zu klären seien. In ihnen soll es darum gehen, das Verhältnis von Mittel und Zweck bei gegebenem Zweck bestmöglich zu justieren. Nun ist es aber so, dass die „Umsetzung“ oder „Anwendung“ von Zielen und Werten oftmals nicht weniger umstritten ist, als es die Ziele und die Werte selbst sind. Das sieht auch Habermas.161 Er zieht daraus allerdings nicht die Konsequenz, dass damit die Grenze zwischen Mitteln und Zwecken verschwimmt. Jede Fixierung von Werten oder Zielen muss eine kontingente, künstliche und damit auch vorläufige bleiben. Ihr Sinn besteht darin, die in einem bestimmten Problemzusammenhang herrschende Komplexität einigermaßen in den Griff zu bekommen. Die Künstlichkeit des Zweck-Mittel-Verhältnisses hat aber zur Folge, dass die „Stabilität“ bestimmter Zwecke nicht für bare Münze genommen werden darf. Mit jeder „pragmatischen“ oder zweckrationalen Entscheidung erhält nämlich auch der scheinbar fixe Zweck erst eine fassbarere Kontur. Bei „pragmatischen Diskursen“ handelt es sich in Wirklichkeit um evaluative und kreative Konkretisierungen. Sehr wahrscheinlich kommen in der Konkretisierung sogar neue oder andere Zwecke ins Spiel, die zuvor gar nicht im Blickfeld lagen. Die Vorstellung vom „Pragmatischen“ verwischt jedenfalls die Tatsache, dass Mittel und Zweck stets in einem interdependenten Wechselverhältnis stehen. Die Annahme, es könnte rein „pragmatische“ Verfahren geben, die völlig losgelöste Entscheidungen über die „optimale“ „Umsetzung“ „gegebener“ Werte und Ziele befinden, muss deshalb zurückgewiesen werden. Sie fördert vielmehr die weitere Fehlvorstellung, dass Fragen über die geeigneten Mittel zur „Verwirklichung“ eines Zwecks als rein empirische Fragen schlicht „berechnet“ werden könnten.162 160 Dass die verschiedenen Geltungsansprüche zwar stets zugleich erhoben, zur gleichen Zeit aber immer nur einer von ihnen hervorgehoben worden kann, ist (mit Habermas) ebenso bereits erläutert worden: III. 2. b), (2). 161 So auch Habermas: Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 201.
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In „pragmatischen“ Entscheidungsverfahren erhalten dann, gewissermaßen aus einer Expertenstellung für das Zweckrationale heraus, ökonomische Gesichtspunkte Vorschusslorbeeren. Dabei wird aber verkannt, dass „pragmatische“ Probleme nie einfach ökonomische Probleme darstellen. Wie bei allen legitimatorischen Problemen meldet die Ökonomie auch in diesem Fall nur einen Gesichtspunkt neben anderen an. Normativ gesehen, ist auch beim „pragmatischen Diskurs“ schließlich das deontologische Diskursprinzip einschlägig, wonach prinzipiell alle Betroffenen gleichermaßen zur Teilnahme am Diskurs und zur verbindlichen Entscheidung berechtigt sind (und nicht nur die Ökonomen). Die Anreicherung der politischen Deliberation durch „pragmatische Diskurse“, in denen nur um die geeignete „Umsetzung“ von Zielen und Werten gerungen werden soll, ist deshalb legitimatorisch problematisch. Sie verleitet dazu zu meinen, „pragmatische“ Probleme seien gar keine legitimatorischen, zu rechtfertigenden Probleme, sondern beträfen nur noch die Frage, wie die „gegebenen“ Ziele und Werte ökonomisch-rational, also z. B. kostenminimal, „berechnet“ werden können. Die „pragmatische“ Problemlösung, so wird unterstellt, könne von den Ziel- und Wertdiskussionen getrennt werden.163 Tatsächlich lassen sich diese Fragestellungen aber nicht voneinander trennen. Sie bilden einen gegenseitig aufeinander angewiesenen, durchgängig legitimatorischen und zu verantwortenden Konkretisierungs- bzw. Abstrahierungskontext. Zudem scheint es auch nicht überzeugend, das kann an dieser Stelle nur wiederholt werden, wenn Habermas und Mastronardi die Kompromissverhandlung in Ergänzung eines ansonsten im starken Sinn konsensuellen (moralischen) Diskursverfahrens in die politische Deliberation einführen wollen.164 Auf der einen Seite ist daran nämlich die Anschlussfrage zu stellen, weshalb sogar in der Konkretisierung des moralischen Diskurses in modernen, komplex ausdifferenzierten Demokratien ein starker Konsens i. S. einer Zustimmung aus den gleichen Gründen als faktisch einzulösendes Erfordernis überhaupt noch aufrecht erhalten wird.165 Auf 162 Dem Irrtum, dass es sich bei „pragmatischen“ Fragen im Grunde um Probleme der Effizienz und in dieser Konsequenz gar um empirische Probleme handelt, sitzt z. B. auch Rolf Rauschenbach in seinem ansonsten beachtenswerten Versuch auf, Lawrence Kohlbergs moralische Kulturstufen in Anlehnung an Habermas zu vervollständigen: Rauschenbach, Mit direktdemokratischen Verfahren (im Ersch.), passim. 163 Strukturell betrifft die Zweck-Mittel-Dichotomie bzw. das Problem der „pragmatischen Diskurse“ dasselbe wie die scheinbar klare Unterscheidung zwischen Begründungs- und Anwendungsdiskursen. Auch dort wird verleugnet, dass das Verhältnis zwischen „Begründung“ und „Anwendung“ selbst in einem wertenden, schöpferischen Prozess konkretisierend bzw. abstrahierend erarbeitet werden muss. Vgl. dazu nochmals II. 3., insb. II. 3. b). 164 Vgl. hierzu bereits zuvor, IV. 3. b), (2). 165 Sicherlich bringt das weder Habermas noch Mastronardi derart pointiert zum Ausdruck, sie müssen sich diese Unterstellung aber selbst zuschreiben lassen. Sie unterlassen es nämlich beide zu klären, wie das Konsenspostulat in der politischen Deliberation insgesamt zu verstehen ist. Weil beide in der politischen Deliberation den Kompromiss nur in der Kompromissverhandlung, nicht aber z. B. im moralischen oder juristischen Diskurs kontextualisieren, ist der Schluss gerechtfertigt, dass für den moralischen oder den juristischen Diskurs weiterhin (starker) Konsens erforderlich sein soll.
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der anderen Seite ist allerdings zu fragen, weshalb mit der gleichwohl zugestandenen Notwendigkeit, den Konsens (scheinbar nur, aber immerhin teilweise) als Kompromiss zu deuten, der deliberative Prozess damit unverrichteter Dinge auf ein strategisches Verhandlungsverfahren umzustellen sein soll. Tatsächlich bleibt die legitimatorische Notwendigkeit diskursiver Verfahren auf den gesamten politischen Prozess erstreckt, auch wenn für keines dieser Verfahren ein starker Konsens gefordert werden kann. Weil in komplexen Demokratien für kein politisches Verfahren auszuschließen ist, dass unvereinbare Interessen aufeinanderstoßen, muss die faire Kompromissbildung als Rückgriffsmöglichkeit für prinzipiell alle demokratischen Verfahren vorbehalten bleiben. Deshalb kann auch für die Geltungsbedingungen von Kompromissen nicht verlangt werden, dass sie in einem Verfahren zustande gekommen sein müssen, das seinerseits auf (starkem, gleich begründetem) Konsens beruht. Wie bereits angemerkt, kann die Verlagerung des (starken) Konsenspostulats auf eine höhere Deliberationsstufe vielleicht auf ein tieferes Dissensrisiko hoffen, ausgeschlossen werden kann es jedoch auch dort nicht. Für die Legitimation politischer Deliberationen genügt es hingegen, wenn die politischen Probleme in diskursiv strukturierten Verfahren behandelt werden, die hinreichend sicherstellen, dass die resultierenden Kompromisse die Vermutung der Legitimität für sich haben. Strategisch angelegte Verhandlungsverfahren genügen diesen Ansprüchen freilich nicht. Die dort wirksamen Macht- und Sanktionspotenziale sind durchweg diskursiv zu neutralisieren. Ist dies geschehen, kann von Verhandlungsverfahren aber sinnvollerweise auch nicht mehr die Rede sein. (b) Die angeführte Kritik macht geltend, dass weder der politisch-ethische Diskurs noch der „pragmatische Diskurs“ in die politische Deliberation eingeführt werden kann. Auch die Vorstellung, die Verfahren der politischen Deliberation müssten durch strategische Verhandlungen ergänzt werden, ist abzulehnen, wohingegen die Deutung der diskursiv zu erzielenden Zustimmung als fairer Kompromiss für sämtliche Verfahren der politischen Deliberation als zulässig zu erachten ist. Was sich in dieser Gegenüberstellung zu den Vorschlägen von Habermas und Mastronardi bereits abzeichnet, ist der Vorschlag, die politische Deliberation insgesamt als eine Konkretisierung des moralischen Diskurses zu verstehen.166 Die Argumentation geht dabei dahin, die klare deontologische Ausrichtung des moralischen Diskurses auch auf der Ebene der demokratischen Konstitution, wo er als politischer Diskurs167 oder als politische Deliberation erscheint (und auch auf der 166 Dass das hier nicht auf die Art von moralischem „Sonderfall“ hinausläuft, wie Alexy ihn konzipiert, sollte spätestens seit der Auseinandersetzung mit dessen Theorie klar geworden sein: III. 1., insb. III. 1. b). Auch das Nachstehende wird zeigen, dass der ernsthafte integrative interdisziplinäre Versuch, den moralischen Diskurs als politischen und als juristischen Diskurs zu konkretisieren, einen anderen Weg geht. 167 Es versteht sich, dass mit „politischem Diskurs“ hier nicht Habermas’ ethisch-politischer Diskurs gemeint ist. Während dieser das von Habermas kreierte kollektiv-klinische Selbstverständigungsverfahren mit teleologischem Geltungsanspruch darstellt, bedeutet der politische Diskurs mit deontologisch-legitimatorischem Geltungsanspruch die Konkretisie-
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Ebene der Judikation, wo er als juristischer Diskurs oder als juristische Deliberation erscheint), beizubehalten, in dieser Ausrichtung jedoch jeweils disziplinengerecht, und d. h. im aktuellen Kontext in erster Linie dem thematischen Abstraktionsniveau entsprechend, zu konkretisieren. Wie dies in Bezug auf die politische Philosophie aussehen sollte und dass dies in der Tat auch ein gangbarer Weg ist, ist vorstehend bereits dargelegt worden.168 An dieser Stelle soll nun ferner dargetan werden, wie so auch die von der soeben vorgestellten Diskurstypen-Differenzierung angestoßenen Probleme bewältigt werden können, ohne den deontologischen Anspruch einer Legitimationstheorie zu durchkreuzen und ohne in ein verkürztes Zweck-Mittel-Denken zurückzufallen. Dafür lässt sich insbesondere die hier erarbeitete Konkretisierung der Diskursdifferenzierung innerhalb der politischen Deliberation nochmals aufgreifen und vorgreifend eine Kontextualisierung des moralischen Diskurses mit dem juristischen Argumentationsverfahren vornehmen. Auch in der hier herausgearbeiteten Konzeption der deliberativen Demokratie soll die politische Deliberation nicht als einstufiges Verfahren ablaufen. Aufgrund der komplexen Verhältnisse in modernen Demokratien ist der demokratische Selbstnormierungsprozess einer politischen Gemeinschaft über verschiedene Abstraktions- und Gliederungsstufen hinweg zu verteilen.169 Diese Differenzierung der politischen Deliberation kann (immerhin, aber nur) analytisch-strukturell als Entsprechung der habermasschen Diskurstypen-Differenzierung verstanden werden. Anders als bei Habermas wird damit allerdings nicht eine Vermischung von Verfahren verschiedener Geltungsansprüche propagiert, die dann in der politischen Deliberation hierarchisiert werden. Die politische Deliberation wird hier zunächst als ein legitimer bzw. Legitimität beanspruchender Prozesse der politischen Meinungs- und Willensbildung begriffen, der den moralischen Diskurs im kulturellen Anspruchsbereich der demokratischen Konstitution konkretisiert. Um anzuzeigen, dass diese politische Deliberation oder dieser politische Diskurs eine Vielzahl unterschiedlich gestufter Diskursverfahren und -beratungen umfasst, kann auch von politischen Deliberationen oder politischen Diskursen im Plural gesprochen werden. In ihrem Zusammenhang umfassen sie jedoch eine zusammenhängende politische Deliberation oder einen zusammenhängenden politischen Diskurs. Wie eine politische Gemeinschaft die Abstufung ihrer politischen Deliberation im Detail organisieren soll, kann hier offen bleiben. Wichtig ist lediglich, dass die Legitimations- und die Selektionslogiken rational eingerichtet werden. Die Legitimationslogik soll von „oben nach unten“ bzw. „vom Ganzen zu den Teilen“ und die gegenläufige Selektionslogik „von unten nach oben“ bzw. „von den Teilen zum Ganzen“ verlaufen. Im Gegensatz zur Diskurstypologie und -stufung bei Habermas und Mastronardi lässt die hier vorgeschlagene Lesart der Differenzierung der polirung des moralischen Diskurses auf der (thematischen) Abstraktionsebene des Politischen. Er ist das etwas weniger differenzierte Synonym zur politischen Deliberation. 168 Insb. IV. 3. b) und IV. 3. c). 169 Vgl. hierzu IV. 3. b), (1).
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tischen Deliberation auch eine unproblematische rationale Rekonstruktion der Normenhierarchie institutionalisierter Rechtsordnungen zu. Verfassungs-, Gesetz- und Verordnungsgebung, in föderalistisch organisierten Rechtsordnungen aber z. B. auch Bundes-, Länder- und Kommunenregelungen, können als Ergebnisse einer verbindlich differenzierten politischen Deliberation begriffen werden, in der die Verhältnisse einer politischen Gemeinschaft normiert werden. Über Verfassungs-, Gesetzgebungs- und Verordnungsverfahren vollzieht sich dann z. B. auf unterschiedlichen Abstraktionsniveaus ein insgesamt groß angelegter politischer Diskurs. Diese von einem abgestuften, insgesamt aber zusammenhängenden politischen Deliberationsverfahren ausgehende Interpretation muss auch nicht in Versuchung kommen, die unterschiedlichen Verfahren der Normenhierarchie mit bestimmten verschiedenen, legitimatorisch hierarchisierten „Diskurstypen“ in Verbindung zu bringen, die Verfassungsgebung z. B. mit Gerechtigkeitsdiskursen oder die formelle Gesetzgebung mit Diskursen zu Fragen des kulturellen Selbstverständnisses.170 Dieser Weg verschließt sich schon deshalb, weil politisch-ethische Diskurse i. d. S. nicht in die hier in legitimatorischer Hinsicht interessierende politische Deliberation importiert werden können. Die Zuordnung zu einer bestimmten, von der jeweiligen politischen Ordnung zuvor eingerichteten Legitimationshierarchie ergibt sich außerdem erst durch das selektionslogisch „von unten nach oben“ arbeitende Verfahren des demokratischen Prozesses. Die Bürgerinnen und Bürger selbst müssen bestimmen können, welche Probleme sie welchem Verfahren zuführen. Damit behauptet werden kann, die hier vorgeschlagene Konzeption der deliberativen Demokratie könne die Probleme, die die habermassche Pluridiskursivierung der politischen Deliberation aufwirft, insgesamt auffangen, muss zumindest auch plausibel gemacht werden können, dass auch der juristische Diskurs in dieses Bild passt. Tatsächlich bereitet die theoretische Eingliederung des juristischen Diskurses, der hier im thematischen Anspruchsbereich der Judikation noch differenzierter ausgearbeitet werden wird und keineswegs in einer juristischen Kohärenzprüfung aufgeht,171 keine Schwierigkeiten. Nach dem hier vertretenen Verständnis beziehen sich juristische Fragen auf konkrete Einzelfälle. Wie sich insbesondere in der weiteren (juristisch-ethischen bzw. rechtstheoretischen) Konkretisierung des moralischen Diskurses bzw. der politischen Deliberation noch zeigen wird, muss die juristische Entscheidungsfindung dabei an die legislative Entscheidungsfindung anknüpfen. Im „juristischen Diskurs“ oder in der „juristischen Deliberation“ werden also die im legislativen Diskurs verbindlich verabschiedeten Normtexte zu konkreten Urteilen (präzise: Urteilstexten) konkretisiert. Insofern der juristische Diskurs damit Teil der politischen Deliberation ist, wäre Habermas’ ArgumentaSo aber Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 187 f., Rn. 581 – 584. Außer dem Nachfolgenden eingehend noch die Kapitel VI und VII. Dass die Gleichsetzung des juristischen Diskurses mit einer juristischen Kohärenzprüfung daneben greift, sollte dagegen bereits in der juristisch-methodischen Diskussion deutlich geworden sein: Kapitel I. 170 171
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tion also zuzustimmen. Es fragt sich nur, auf welche Weise der juristische Diskurs als „Teil“ der Deliberation gelesen werden muss. Während Habermas stellenweise den Eindruck vermittelt, der juristische Diskurs sei innerhalb der politischen Deliberation (auch) ein Teilabschnitt des legislativen Diskurses,172 wird der juristische Diskurs hier aus dem legislativen Verfahren (damit aber nicht aus der politischen Deliberation insgesamt) ausgesondert. Das ist mit der Differenzierung zwischen Legislation und Judikation von Anfang an klargestellt worden.173 Gewiss ist das eine konsequenzträchtige begriffliche Weichenstellung. Sie lässt sich aber gut vertreten. Zunächst verträgt sich die Beschränkung des juristischen Diskurses auf den sozusagen post-legislativen Bereich der politischen Deliberation ohne Weiteres mit dem intuitiven und auch mit dem juristischen Zugang zum juristischen Diskurs, wonach darin in erster Linie konkrete, auf Einzelfälle bezogene Urteile zur Debatte stehen, die sich auf die im legislativen Diskurs geschaffenen Gesetzestexte stützen müssen.174 Dass auch der Gesetzgebungsprozess seinerseits rechtlich verfasst und zumindest aus juristischer Sicht schließlich in Gesetzesform zu bringen ist, legislative Entscheidungen im demokratischen Rechtsstaat also letztlich „in der Sprache des Rechts formuliert sein müssen“175, kann freilich nicht als Gegenargument gelten. Denn die Rechtsform allein bestimmt noch nicht darüber, ob es sich bei bestimmten Verfahren um legislative oder juristische handelt. Die Gesetzes- oder i. d. S. zu verstehende „Rechts“form ist nicht das Merkmal einer bestimmten Diskurs- oder Verfahrensart innerhalb des demokratischen Prozesses, sondern vielmehr das Strukturmerkmal eines legitimen demokratisch-rechtsstaatlichen Verfahrens überhaupt. Wie aus verfassungstheoretischer Sicht noch zu zeigen sein wird, ist der gesamte demokratische Prozess in die Form verbindlich verabschiedeter Rechtstexte zu gießen.176 Vom juristischen Diskurs oder von der juristischen Deliberation oder auch vom Verfahren der Judikation ist deshalb sinnvollerweise erst dann zu sprechen, wenn konkrete Fälle juristisch-situationell zu beurteilen sind. Ansonsten werden die mindestens verfassungstheoretisch zu unterscheidenden Entscheidungspraxen der Legislation und der Judikation – mit auch legitimatorisch problematischen Konsequenzen – unachtsam miteinander vermischt. Legislation und Judikation verbinden sich aber auf andere Weise zu „Bestandteilen“ der politischen Deliberation. Wenn korrekterweise gesehen wird, dass die politische Deliberation als kulturelle Konkretisierung des moralischen Diskurses die demokratische Konstitution als ganze, mit all ihren Prozessabschnitten und Verfahrensstufen auf einer (thematischen) Abstraktionsebene rekonstruiert, dann sollte nämlich auch deutlich werden, dass die darin enthaltenen spezifischen 172 173 174 175 176
Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 207. Einleitung 1. Dazu bereits eingehend Kapitel I. Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 207. Kapitel V, im Anschluss.
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Rechtfertigungsverfahren, wie etwa die Judikation, aber auch die Legislation, die politische Deliberation wiederum in spezifischer Weise konkretisieren. Der Entscheidungsprozess der Judikation und damit auch der juristische Diskurs oder die juristische Deliberation erscheinen dann neben dem legislativen Diskurs oder der legislativen Deliberation als situationelle, auf bestimmte, je spezifische Entscheidungssituationen (beim einen die Gesetzestextproduktion, beim andern die Rechtsnorm(text)produktion) bezogene Konkretisierungen dessen, was auf der Ebene der Konstitution mit der demokratischen Deliberation im Allgemeinen rekonstruiert wird. Anders als bei Habermas herauszulesen und bei Mastronardi klar als „Diskursstufe“ der Deliberation definiert, ist der juristische Diskurs deshalb nicht als prinzipiell anders zu typisierendes Glied und damit auch normativ prinzipiell anders zu strukturierendes Verfahren innerhalb des Prozesszusammenhangs der politischen Deliberation zu verstehen, sondern als ein Verfahren, das eben die normative Struktur in sich trägt, die die Sicht auf die demokratische Deliberation im Allgemeinen erkennbar werden lässt. Sicherlich bleibt der juristische Diskurs dabei ein Verfahrensabschnitt innerhalb der politischen Deliberation neben anderen (insbesondere neben der Legislation). Wie diese Verfahrensabschnitte innerhalb der politischen Deliberation im Konkreten zusammenspielen, wird dann aber v. a. aus einer soziologischen Perspektive deutlich, die freilich auch legitimatorisch zu deuten ist – nicht jedoch auf der Abstraktionsebene, auf der die normative Struktur der demokratischen Deliberation als ganze erfasst werden soll.177 (c) Auf der Grundlage dieser Auseinandersetzung der hier vertretenen Konzeption der deliberativen Demokratie mit der habermasschen Pluridiskursivierung der demokratisch-politischen Deliberation kann nun eine plausible Kontextualisierung des moralischen Diskurses über alle drei (thematischen) Abstraktionsebenen von Moral, Politik und „Recht“ oder Justifikation, Konstitution und Judikation vorgenommen werden. Dabei kann zunächst hervorgehoben werden, dass mit der Konzeptionalisierung der deliberativen Demokratie der hier von Beginn an vertretene Zusammenhang zwischen den drei thematischen Perspektiven der Mikro-, Meso- und Makroebene (situationelle Judikation, demokratisch-kulturelle Konstitution und universelle Justifikation)178 an keiner Stelle fragwürdig geworden ist, sondern vielmehr als bestätigt gelten kann. Es scheint nach wie vor angebracht, „Moral“ oder „Justifikation“ als die universelle, von jeder bestimmten Rechtskultur geteilte Legitimationspraxis, „Politik“ oder „Konstitution“ als eine bestimmte in Raum und Zeit versetzte, insofern aber nicht näher bestimmte kulturelle Rechtspraxis – hier selektionsweise die demokratische – und „Recht“ oder besser „Judikation“ als eine situationell-spezifische normative Entscheidungspraxis innerhalb der demokratischen Rechtskultur – nämlich die, konkrete Fälle rechts177 So wird in den nachfolgenden, weiter konkretisierenden disziplinären Sichtweisen dann insb. auch das Verhältnis von Legislation und Judikation, jeweils funktiologisch durch die (kleinen) Soziologien aufbereitet, legitimatorisch gedeutet werden. 178 Vgl. insb. die Einleitung und III. 3. b).
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verbindlich zu beurteilen – zu betrachten. Wie hier immer wieder betont, ergibt sich dann erst aus einer diese (thematisch vertikal) differenzierten Perspektiven umfassenden Sichtweise ein (thematisch) integrativer Rechtsbegriff. Wird an diese zugleich differenzierende wie integrierende Sichtweise nun auch die Idee des „moralischen Diskurses“ angeschlossen, so ergibt sich folgendes Bild. Zuerst das im Schritt von der Moralphilosophie zur politischen Philosophie aktuelle Verhältnis zwischen Justifikation und Konstitution, zwischen Moral und Politik, in den Blick genommen, stellt sich die politische Deliberation oder der politische Diskurs als demokratisch-kulturelle Konkretisierung des moralischen Diskurses dar. Eben die normativen Verfahrensstrukturen, die mit der Idee des moralischen Diskurses in Bezug auf alle räumlich und zeitlich situierten Rechtfertigungspraxen auf den Begriff gebracht werden – die begründete Explikation des moralischen Gesichtspunkts –, finden ihren demokratisch-kulturellen Niederschlag in der politischen Deliberation des demokratischen Prozesses. In der Sicht der politischen Philosophie erscheint der moralische Diskurs als demokratisch-politische Deliberation oder als demokratisch-politischer Diskurs. Trotz seiner kulturell spezifischen Konkretisierung behält der moralische Diskurs in modernen Demokratien damit durchweg seinen deontologisch-universellen Anspruch. Mit der kulturellen Konkretisierung einer universell gültigen Legitimationspraxis geht der universalistische Anspruch legitimer Ordnungsmacht nämlich nicht verloren. Denn jede Rechtskultur, auch die demokratische, erhebt, wenn auch implizit, so doch unweigerlich, den Anspruch, dass ihre Legitimationspraxis in den kulturellen Kontexten, in denen sie sich bewegt, universell gültig sind. M. a. W. erhebt jede Rechtskultur den Anspruch, dass ihre Rechtspraxis für jede andere Gesellschaft, die ihre spezifischen kulturellen Bedingungen und Kontexte teilt oder teilen würde (in modernen Demokratien z. B. eine komplex ausdifferenzierte, mindestens ökonomisch global vernetzte Gesellschaftsstruktur, aber auch die spezifischen Kontexte ihrer natürlichen Umwelt), universell gültig ist. Der universelle Anspruch einer spezifischen Rechtskultur, dass jede Gesellschaft an ihrer statt der von ihr eingerichteten Legitimationspraxis zustimmen könnte, kann auch anders formuliert werden. Er geht dann dahin, dass die spezifische, in den entsprechenden gesellschaftlichen Kontexten für sich in Anspruch genommene Legitimationspraxis auch aus der Sicht aller anderen Rechtskulturen, die sich in ihren spezifischen Kontexten bewegen, als legitim akzeptiert werden kann.179 So überträgt sich der universalistische Anspruch, der in einem deontologischen Rechtsverständnis – jedenfalls aus legitimatorischer Sicht – durchweg zu fordern 179 Das bringt dann endlich auch die Verhältnisse zwischen den verschiedenen Rechtskulturen ins Spiel. Spätestens an diesem Punkt müsste auch eine interkulturelle Legitimationstheorie ansetzen – was hier nicht geleistet werden kann. Es sollte aber deutlich geworden sein – und das war hier mit der soeben vollzogenen Relationierung von Universum und Kultur beabsichtigt –, dass auch eine spezifische Rechtskultur, wenn sie auch – oder gerade weil sie – eine universelle Rechtspraxis konkretisiert, für ihre Rechtskultur einen universellen Geltungsanspruch erhebt.
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ist,180 auch auf die demokratisch-kulturell konkretisierte politische Deliberation. Er bleibt auch auf der nächsten Konkretisierungsstufe der Judikation erhalten. In ganz ähnlicher Weise nämlich, wie die politische Deliberation den moralischen Diskurs konkretisiert, konkretisiert auch der juristische Diskurs den politischen Diskurs oder die politische Deliberation. Als spezifischer situationeller Aspekt der demokratisch-politischen Deliberation oder des demokratisch-politischen Diskurses lässt sich der juristische Diskurs als Konkretisierung dieser Deliberation oder dieses Diskurses und damit letztlich auch des moralischen Diskurses sehen. Auch die juristische Judikation ist eine Recht-Fertigungspraxis, auch mit ihr werden soziale Verhältnisse normativ und mit Macht reguliert, und auch mit ihr wird der Anspruch erhoben, dass die sozialen Verhältnisse, die sie regelt, legitim, gerechtfertigt, gerecht sind. Somit steckt in der situationellen Judikationspraxis nicht nur etwas vom kulturell spezifischen Rechtsanspruch des demokratischen Verfahrens, sondern letztlich auch etwas von der universellen Justifikation, die die Ordnung des menschlichen Zusammenlebens schlechthin beschreibt. So erheben auch juristische Urteile, die im konkreten Einzelfall ergehen, letztlich einen deontologischen, universellen Geltungs- oder Richtigkeitsanspruch.181 Richtig interpretiert, beanspruchen sie, dass die für den konkreten Fall erarbeitete Rechtsnorm unter Berücksichtigung aller normativ relevanten Kontexte des konkreten Falls für Jede und Jeden, die oder den sie auch nur betreffen könnte, gültig ist („In einem Fall wie diesem gilt (für jedermann) . . .“). Aus dieser Sicht erstreckt sich der moralische Diskurs über die verschiedenen Kontexte der Justifikation, der Konstitution und der Judikation als i. e. S. verstandener moralischer Diskurs, als politischer Diskurs oder als politische Deliberation und als juristischer Diskurs oder als juristische Deliberation. Dabei sind der politische und der juristische Diskurs keine (hierarchisch untergeordneten oder einseitig abhängigen) „Sonderfälle“ des moralischen Diskurses. Sie „sind“ der moralische Diskurs in seiner kulturell-demokratischen und seiner juristisch-situationellen Konkretisierung. In dieser thematisch-integrativen Sicht ist der moralische Diskurs 180 Noch einmal: Natürlich haben neben dem legitimatorischen Geltungsanspruch auch andere (methodisch horizontale) Geltungsanspruchsarten wie der soziologische und der teleologische ihre Berechtigung. Die verschiedenen Anspruchsarten dürfen aber nicht eklektisch vermischt, sondern müssen als gleichberechtigte methodologisch, d. h. interdisziplinär, sorgfältig integriert werden. Da an dieser Stelle nun vornehmlich die legitimatorische Kontextualisierung des moralischen Diskurses infrage steht, bedarf es eines durchgängig deontologischuniversalistischen Ansatzes. 181 Im Ergebnis ist Alexys entsprechender These des Richtigkeitsanspruchs juristischer Urteile deshalb durchaus zuzustimmen, wenn auch nicht seiner all zu formal ansetzenden pragmatischen Analysemethodologie: z. B. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (21991), S. 428 f. Vorzuwerfen ist Alexy dabei nicht, dass er überhaupt sprechakttheoretisch ansetzt. Nur erweckt er dabei den Anschein, Geltungsansprüche könnten, für alle unmittelbar einsichtig, objektiv abgelesen werden. Wie hier bereits in der Interdisziplinarität-Debatte unter dem Titel des Anspruchsdiskurses angemerkt worden ist, muss bereits die Bestimmung von Geltungsansprüchen im Dialog herausgearbeitet werden: vgl. insb. III. 2. b), (3). In diesem Dialog kann eine Sprechaktanalyse dann durchaus gute Argumente produzieren.
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als ein vertikal differenzierter Rechtsprozess zu lesen, der sich auf den verschiedenen Abstraktionsebenen mit je konkret spezifiziertem bzw. abstrakt generalisiertem, aber durchgängig strukturverwandtem Antlitz wieder zu erkennen gibt. Zu erinnern ist dabei daran, dass „vertikal differenziert“ nicht vertikal hierarchisiert bedeutet. Der moralische, der politische und der juristische Diskurs sind disziplinenspezifische Konzepte, die nicht gegeneinander ausgespielt werden können, sondern je disziplinengerecht zu einem interdisziplinären Gesamtzusammenhang integriert werden müssen. Die Konstruktionsrichtung, die für die Konzeptionalisierung der deliberativen Demokratie hier beispielsweise vom Universellen zum Kulturellen gegangen worden ist, kann ebenso gut auch umgekehrt vom Konkreten zum Abstrakten gegangen werden. So kann der moralische Diskurs auch auf der Grundlage der politischen Deliberation abstrahiert werden. In einer interdisziplinären Theorie, die von prinzipiell gleichberechtigten disziplinären Perspektiven ausgeht, stehen der moralische Diskurs und der politische Diskurs wie auch der juristische Diskurs nicht in einem hierarchischen, sondern in einem Abstraktions- bzw. Konkretionsverhältnis. Das wird allerdings erst dann richtig deutlich, wenn die Konzeption der deliberativen Demokratie, wie hier, als ein die Diskursethik konkretisierendes und den juristischen Diskurs abstrahierendes disziplinäres Mittelstück behandelt wird, das in seinem Innern durchweg deontologisch, also sozusagen durchweg moralisch, aber eben konkretisiert moralisch, strukturiert ist. Indem sie – zumindest in Bezug auf die politische Deliberation – den moralischen Diskurs nicht als einen konkretisierungswürdigen interdisziplinären Gesamtzusammenhang betrachten, sondern für ein universell verfügbares, womöglich noch auf bestimmte materielle Fragen konzentriertes Verfahren nehmen, das sich auf der gleichen Abstraktionsebene z. B. neben den juristischen Diskurs, aber auch neben den „pragmatischen“ Diskurs und Verhandlungsverfahren stellt, verfehlen Habermas und Mastronardi diesen durchgehend deontologischen Sinn der politischen Deliberation. Dass diese Konstruktion nicht nur in der interdisziplinären Sichtweise dieser Untersuchung Anschlussschwierigkeiten mit sich bringt, sondern auch einer immanenten Kritik nicht standhält, ist zuvor erläutert worden. Der Ansatz, den moralischen Diskurs über verschiedene thematische Ebenen hinweg zu konkretisieren bzw. zu abstrahieren, verleitet auch nicht dazu, ihn für ein „nie erreichbares Ideal“ zu halten, dem unter „realen Bedingungen“ „möglichst nahe“ gekommen werden müsste. Mastronardi meint z. B.: „Die Charakterisierung der Diskurstheorie als Utopie und Ideal ist zutreffend, darf aber nicht als Vorwurf gelten. [ . . . ] Das Diskursideal muss gar nie realisiert werden, es kann trotzdem als praktisch bedeutsamer Massstab für die Legitimation von konkreten Diskursen dienen.“182 Sogar die ansonsten so realistisch argumentierenden Vertreter der strukturierenden Rechtslehre stimmen in diesen Utopismus ein. Sie glauben, „dass es gerade die Leerstelle der Gerechtigkeit ist, welche die Begründung von Recht 182
Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 135, Kasten „Kritik der Diskurstheorie“.
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ermöglicht. Ihr Begriff rückt damit vom Grund in den Horizont. [ . . . ] Als Ziel sowohl unerreichbar als auch unverzichtbar, ermöglicht sie den Weg des Rechts.“183 Es fragt sich jedoch, wie sehr ein Ideal überzeugt, das gar nicht erreicht werden kann. Wenn Gerechtigkeit bzw. der moralische Diskurs als deren Ermöglichungsbedingung eine außer Reichweite liegende Größe bleibt, dann macht es auch keinen Sinn, ihr nachzustreben. Sollen, das ist gerade in der Diskussion der strukturierenden Rechtslehre klar geworden, setzt Können voraus. Der moralische Diskurs kann daher keine Utopie sein. Er muss als ein realisierbares, zumutbares Verfahren der Herstellung von Gerechtigkeit rekonstruiert werden.184 Deshalb ist es auch wenig hilfreich, das Verhältnis vom moralischen Diskurs zum politischen Diskurs oder auch zum juristischen Diskurs als ein Verhältnis vom „Idealen“ zum „Realen“ zu inszenieren. Die Rekonstruktion des moralischen Diskurses im Abstrakten, ist nicht „idealer“, als es die Rekonstruktion der politischen Deliberation oder des juristischen Diskurses ist. Sowohl die diskursethische Konzeptionalisierung der Justifikation als moralischer Diskurs als auch die deliberative Konzeptionalisierung der demokratischen Konstitution als politische Deliberation sowie – wie noch zu zeigen sein wird – die entsprechende urteilsphilosophische Konzeptionalisierung der Judikation als juristische Deliberation sind Idealisierungen. Diesen Idealisierungen steht die „Realität“ in zweierlei Hinsicht gegenüber. Zum einen ist sie als die Gesamtheit der wirklichen Möglichkeitsbedingungen zu sehen, über die auch eine idealistische, besser: legitimatorische Theorie nicht hinwegsehen darf (Sollen setzt Können voraus). Diesem Aspekt von Realität wird hier insbesondere mit dem Versuch, jeweils auch eine soziologische Perspektive zu integrieren, Rechnung getragen. Zum andern tritt die „Realität“ dem diskursiven Ideal aber auch als mit Legitimationsanspruch versehene Macht entgegen. Diese „Realität“ darf allerdings nicht einfach für eine Möglichkeitsbedingung gehalten werden, der verantwortungsfrei Zugeständnisse gemacht werden dürften. Geboten ist es vielmehr, die zumutbaren Machtverhältnisse mit guten Gründen zu rechtfertigen. D. i. jedoch nichts anderes als die Aufgabe einer Christensen / Sokolowski, Die Krise der Kommunikation (2005), S. 154. D. h. nicht, dass wiederum für die Rekonstruktion dieses Verfahrens die Zustimmung aus den gleichen Gründen (der starke Konsens), und die authentische eigene Meinung nicht als (gleichberechtigte) ideale Fluchtpunkte im Idealen verbleiben können. Es wurde bereits in der Moralphilosophie angemerkt, dass Gerechtigkeit auf dieses ideale Spannungsverhältnis angewiesen ist: II. 2. b), (3). Weder der ideale Konsens noch das Ideal der authentischen eigenen Meinung, auch nicht beides zusammen, können jedoch für die Gerechtigkeit genommen werden. Es ist der diskursiv strukturierte Prozess zwischen diesen Fluchtpunkten, der durch seinen Gang Gerechtigkeit erzeugen kann. Insofern könnte Mastronardi, Christensen und Sokolowski allf. zugestimmt werden. – Das ist im Übrigen auch kein Widerspruch zur hier vertretenen These, die moralphilosophische Konsensbedingung im moralischen Diskurs dürfe in der politischen Philosophie als Kompromisserfordernis konkretisiert werden. Bei dieser Forderung handelt es sich nicht um den nach wie vor notwendigen, nicht aber notwendigerweise realisierten Fluchtpunkt eines starken, auf gleichen Gründen stehenden Konsenses, sondern um ein (durchaus realisierbares und zu realisierendes) Diskurs- bzw. Deliberationsprinzip. 183 184
5. Zusammenfassung
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Legitimationstheorie überhaupt. Im interdisziplinären Kontext ist der moralische Diskurs deshalb geeigneterweise nicht als „zu realisierendes Ideal“, sondern zutreffender als universelle Abstrahierung sämtlicher legitimer Rechtskulturen und Entscheidungssituationen zu bezeichnen. Der moralische Diskurs ist das abstrakte Kondensat aller konkreten legitimen kulturellen und situationellen Rechtfertigungspraxen, das sich wiederum als politische Deliberation und als juristischer Diskurs konkretisieren lässt. 5. Zusammenfassung Aus politisch-philosophischer Sicht gilt es, eine legitimatorische Konzeption zu erarbeiten, die das demokratische Recht als beliebige, aber gesamthafte in Raum und Zeit versetzte demokratische Ordnung ethisch-philosophisch rekonstruiert. Zunächst noch konzeptuell angegangen, erweist sich das prozedurale DemokratieKonzept gegenüber den Konzepten des Liberalismus und des Republikanismus als überlegen und zeichnet sich insgesamt als angemessener Vorschlag aus, die komplexen Lebensverhältnisse moderner Demokratien legitimatorisch zu erfassen. Statt wie der Liberalismus die legitime Ordnung des Sozialen nur als zurückhaltend einzusetzendes Sicherungsmedium individueller Interessen und wie der Republikanismus als umfassenden Kultivierungsort gemeinschaftlicher Werte zu betrachten, versteht der prozedurale Ansatz die politische Ordnung als einen Legitimationsraum zu verantwortender Freiheit. In diesem Ansatz bilden die demokratischen Institutionen nicht einfach Kontrollmechanismen einer zu kontrollierenden politischen Macht und auch nicht die unabdingbaren Ermöglichungsbedingungen einer nur kollektiv zu erreichenden Selbstbestimmung. Im prozeduralen Demokratie-Konzept werden die demokratischen Institutionen als die Strukturen begriffen, durch die den am politischen Prozess Beteiligten eine faire Partizipation gewährleistet werden kann. Denn unter den Bedingungen moderner differenzierter Demokratie-Gesellschaften sind es allein die öffentlichen Verfahren, die für die Legitimität des Politischen garantieren können. Eine eingehendere soziologische Analyse des demokratischen Prozesses strukturiert diesen nach den Bereichen des politischen Zentrums, vornehmlich bestehend aus den staatlichen Organen des Parlaments, der Regierung und Verwaltung sowie den Gerichten, des Intermediären, in dem z. B. Parteien, Verbände, Medien und sonstige Interesseneinheiten als intermediäre Gewalten wirken, und der zivilgesellschaftlichen Peripherie. Die maßgebliche soziologische Fragestellung, wie sich moderne Demokratien trotz eines durch Differenzierung und Pluralismus erhöhten Risikos der Desintegration dennoch integrieren lassen, beantwortet dann ein Kreislaufmodell demokratischer Machtgenerierung und -implementierung, das über die folgenden funktionsfähigen Stadien verläuft. Die zivilgesellschaftliche Peripherie, für soziale Desintegrationsprobleme besonders sensibel, bildet den Ausgangspunkt der Generierung sozialer politischer Macht. Mithilfe der intermediären Gewalten verstärkt sich diese Macht und steuert mit zunehmender Wucht und Geschwindig-
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IV. Politische Philosophie: Deliberative Demokratie
keit aufs politische Zentrum zu. Dort muss die soziale Macht dann in kommunikative Macht transformiert werden, bevor sie schließlich als administrative Macht, z. T. wieder über intermediäre Gewalten, in die Peripherie zurückgespült wird und der Machtkreislauf wieder von Neuem beginnen kann. Auch wenn die Problemverarbeitung im demokratischen Prozess im business as usual dem politischen Zentrum überlassen bleiben kann, bedingt eine nachhaltige soziale Integration, dass die Zivilgesellschaft über die intermediären Gewalten stets an die zentralen Politikprozesse angeschlossen bleibt. Aus der Anlage dieser Untersuchung heraus gilt es, diese konzeptuellen und konzeptionellen Vorarbeiten interdisziplinär kohärent mit der moralphilosophischen Konzeption der Diskursethik zu verbinden. Dafür wird das Konzept der Deliberation eingeholt, das die politischen Auseinandersetzungen als Prozesse deutet, in denen die verschiedenen Präferenzen der Beteiligten nicht einfach nach Machtgewichten sortiert, sondern erst generiert werden. Die politische Deliberation ist der Ort, an dem sich die am demokratischen Prozess Beteiligten von den Argumenten der Anderen überzeugen sollen. Um dieses Konzept im interdisziplinären Anschluss an die Diskursethik als Konzeption der deliberativen Demokratie disziplinengerecht fruchtbar machen zu können, bedarf es einiger Konkretisierungen. So bedarf es beispielsweise einer rationalen Diskursdifferenzierung, durch die die verschiedenen komplexen politischen Probleme auf eine einigermaßen entsprechend komplexe Verfahrensstruktur der Deliberation verteilt werden. Diese zeichnet sich insbesondere durch verschiedene mit einer rationalen Legitimations- und Selektionslogik versehene Abstraktions- und Gliederungsstufen aus. Zudem ist das diskursethische Konsenserfordernis als Zustimmungserfordernis zu konkretisieren, das auch faire Kompromisse als zulässig erachtet, wobei sich die Fairness des Kompromisses wiederum aus einer diskursiven Verfahrensstruktur ergeben muss. In modernen ausdifferenzierten Großgesellschaften ist die Zustimmung außerdem im Wege fairer Repräsentationsverfahren einzurichten, und zudem bedarf es legitimer Verfahrensabbrüche in der Form von Abstimmungen und Quorenregelungen. Die Kontextualisierung des moralischen Diskurses über die verschiedenen thematischen Ebenen der Justifikation, der Konstitution und ansatzweise bereits der Judikation hinweg argumentiert abschließend insbesondere dafür, dass Habermas’ Aufspaltung der politischen Deliberation in moralische, ethisch-politische, „pragmatische“ und juristische Diskurse insgesamt in eine falsche Richtung geht. In einer konsequenten deontologischen Sicht darf die Legitimation des politischen Verfahrens nicht durch einen ethisch-politischen Anspruch an kultureller Selbstverständigung durchkreuzt werden. Der ethisch-politische Geltungsanspruch ist als solcher zwar berechtigt, nicht aber als legitimatorischer. Zudem ist die Idee des „pragmatischen“ Diskurses prinzipiell abzulehnen, da sie missachtet, dass sich Mittel und Zwecke nicht voneinander trennen lassen, und einer ökonomistischen Berechnung legitimatorischer Probleme Vorschub leistet. Im Gesamtzusammenhang betrach-tet, ist die politische Deliberation oder der politische (nicht: der politisch-ethische) Diskurs deshalb insgesamt als kulturell-politische Konkretisierung
5. Zusammenfassung
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des moralischen Diskurses zu betrachten, in dem nur legitimatorische Gründe zählen. Der juristische Diskurs oder die juristische Deliberation ist als weitere Konkretisierung des politischen Diskurses im spezifischen Kontext der Judikation im Einzelfall zu qualifizieren. So darf das diskursive Legitimationsprojekt auch nicht als Versuch missverstanden werden, ein an sich unerreichbares Diskursideal zu „realisieren“. Der moralische Diskurs ist als realisierbares Ideal zu begreifen, das es kontextgerecht zu konkretisieren gilt.
V. Verfassungstheorie: Demokratischer Rechtsstaat Die hier erarbeitete Konzeption der deliberativen Demokratie liefert im Bereich der politischen Philosophie einen Vorschlag dafür, wie die moderne demokratische Politik zugleich disziplinär wie – exemplifiziert am interdisziplinären Zusammenhang mit der moralphilosophischen Diskursethik – interdisziplinär legitimiert werden kann. Mit der deliberativen Demokratie konnte aufgezeigt werden, welche konkrete Gestalt die Konzeption der Diskursethik und deren Prinzipien annehmen müssen, wenn sie sich mit einer Einsiedelung ins Abstrakte der Moralphilosophie nicht begnügen und stattdessen einen überzeugenden Anschluss an die konkretere demokratisch-kulturelle Rechtfertigungspraxis finden will. Mit den Prinzipien der deliberativen Demokratie, die die disziplinär angemessenen Konkretisierungen der Diskursethik in der politischen Philosophie in eine übersichtliche und handhabbare Form bringen sollen, ist schließlich ein – durchaus seinerseits kritisierbares – Set an Kriterien bereitgestellt worden, mit dessen Hilfe die normativen Strukturen des demokratischen Prozesses, kurz: die demokratische Politik, auf ihre ethische Legitimation hin überprüft werden kann. Für eine überzeugende Gesamtkonzeption legitimen demokratischen Rechts ist damit ein wichtiger weiterer Schritt vollzogen. Als ethische Konzeptionalisierung der modernen demokratischen Politik lässt sich für die deliberative Demokratie sagen, dass sie das philosophische Konzept von Demokratie expliziert, das in der Rechtswissenschaft vorausgesetzt wird. Damit die ethisch wie juristische Legitimation des demokratischen Rechts schließlich gelingen kann, muss nun der weitere Schritt unternommen werden, die ethische Konzeption der deliberativen Demokratie in einer auch juristisch verständlichen Sprache zu rekonstruieren. Mit dem (methodischen) Blickwechsel vom Feld der politischen Philosophie zum Feld der Verfassungstheorie soll im Folgenden nun der ethische Anspruch, mit dem die Konzeption der deliberativen Demokratie oder zuvor auch die Diskursethik erarbeitet worden ist, in einen juristisch-ethischen Anspruchsbereich überführt werden. Die rechtsphilosophische Perspektive wechselt damit zur rechtstheoretischen. Damit stößt die Argumentation zwar noch nicht sozusagen ins Innere der Jurisprudenz vor, wohl aber in einen methodischen Zwischenbereich, der für die Jurisprudenz und die Ethik gleichermaßen zugänglich ist. Es wird dabei darum gehen, den allgemeinen ethisch-philosophischen Legitimationsanforderungen an die Demokratie einen Anschluss an die methodisch konkreter gefassten Institutionen der Rechtswissenschaft zu geben. Erst wenn dieser Schritt vollzogen ist, kann gesagt werden, das kulturell spezifizierte demokratische Recht sei sowohl ethisch als auch
V. Verfassungstheorie: Demokratischer Rechtsstaat
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juristisch legitimiert. Im Feld der Verfassungstheorie verbleibt der thematische Anspruch dabei auf der Abstraktionsebene der kulturellen Konstitution. Die interdisziplinäre Transferleistung, die die nachfolgend zu erarbeitende verfassungstheoretische Konzeption im Verhältnis zur deliberativen Demokratie erbringen muss, bleibt somit auf eine methodische Konkretisierung beschränkt.
Abbildung 21: Stand der Untersuchung (V.)
Die nachfolgende Erarbeitung der verfassungstheoretischen Konzeption des demokratischen Rechtsstaats erfolgt wiederum in drei Teilschritten und einer daran anschließenden zusätzlichen Kontextualisierung. Im ersten Schritt sollen 1. wieder einige grundlagentheoretische Vorüberlegungen den Einstieg ins Feld der Verfassungstheorie, insbesondere vom Ausgangspunkt der politischen Philosophie aus, konzeptuell erleichtern. Weil sodann auch eine verfassungstheoretisch ausgerichtete Legitimationskonzeption nicht überzeugen kann, wenn sich nicht mindestens ansatzweise auch darlegen lässt, dass und wie ihre legitimatorischen Forderungen unter Wirklichkeitsbedingungen funktionieren, soll im zweiten Schritt 2. wieder ein perspektivischer Wechsel in die soziologische Sicht vorgenommen werden, dann im entsprechenden thematisch-methodischen Anspruchsbereich der Verfassungstheorie. Im dritten Schritt werden 3. die beiden ersten Schritte dann unter dem Titel des demokratischen Rechtsstaats zu einer legitimatorischen verfassungstheoretischen Konzeption verdichtet werden, die wiederum sowohl für ihr disziplinäres Feld als auch im interdisziplinären Zusammenhang Gültigkeit beanspruchen
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V. Verfassungstheorie: Demokratischer Rechtsstaat
können soll. Um die Position der hier erarbeiteten Konzeption des demokratischen Rechtsstaats insbesondere im interdisziplinären Zusammenhang nochmals zu stärken, soll dann schließlich noch in einem vierten Schritt 4. gezeigt werden, dass der demokratische Rechtsstaat nicht nur als (methodische) Konkretisierung einer politisch-ethischen Konzeption verstanden werden kann, sondern sich auch im Wege einer Abstrahierung verfassungsdogmatischer Konstrukte kohärent in den Gesamtzusammenhang dieser Untersuchung einfügt.
1. Verfassungstheoretische Grundlagen Der Blickwechsel von der ethischen zur juristisch-ethischen Legitimation demokratischer Politik wird hier im Wege einer Konkretisierung des ethischen Anspruchs durch die juristische Sprache vollzogen. Diese methodische Anspruchskonkretisierung hin zur Sichtweise der Jurisprudenz kann als eine stärker werdende Bezugnahme des ethisch-philosophischen Legitimationsansatzes auf konkrete positiv-rechtlich geregelte und juristisch-dogmatisch interpretierte Institutionen gelesen werden, die den demokratischen Prozess in juristisch verbindlicher Weise strukturieren. In der Verfassungstheorie steht infrage, wie eine demokratische Konstitution in normative Strukturen eingebettet werden kann, die zwar immer noch über die streng am Gesetzesmaßstab orientierten juristisch-dogmatischen Konstruktionen hinausweisen, gleichwohl aber mit ihnen in Kontakt bleiben. Die konzeptuell ansetzende verfassungstheoretische Grundlagendiskussion soll dies noch deutlicher werden lassen, indem das Problem der Legitimation politischer Verhältnisse, das Problem legitimer Konstitution, zunächst im Allgemeinen als ein Problem der Verfassung des öffentlichen Raums zu verstehen ist. Ausgehend von dieser allgemeinen Betrachtungsweise wird dann der spezifisch juristisch-ethische Anspruch der verfassungstheoretischen Verfassung des Öffentlichen erläutert werden. Die verfassungstheoretische Verfassung der Politik äußert sich dann als die Verfassung des öffentlichen Raums durch juristische, aber auch ethisch konzeptionalisierbare normative Rechtsinstitutionen. In diesem Zusammenhang tritt traditionell auch der Begriff des Staates auf den Plan. Der Staat gilt weithin als die (auch) normative Institution, in der die Fäden der mindestens juristisch verbindlichen Normierungen einer politischen Konstitution zusammenlaufen. Unter modernen demokratischen Bedingungen erweist sich der Staat jedoch nicht mehr als die geeignetste Bezugsgröße juristisch-ethischer Institutionen. Öffentliche und staatliche Verpflichtung sind nicht mehr deckungsgleich. Zur Ergänzung bzw. Korrektur des Staatskonzepts ist deshalb das Konzept der Public Governance einzuführen.
1. Verfassungstheoretische Grundlagen
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a) Das Öffentliche und das Private Weder der „private“ noch der „öffentliche Raum“ ist als örtliche Größe aufzufassen.1 Beide beginnen und enden nicht an bestimmten lokal festzumachenden Grenzen, sondern sind als Bezugsgrößen zu verstehen, die ihre konkretere Bestimmung einer auf diese oder jene Weise vorgenommenen Zuschreibung verdanken. Den öffentlichen und den privaten Raum, „das Öffentliche“ und „das Private“, zudem als kontradiktorische und konträre Komplementäre begriffen, kann vor diesem Hintergrund zunächst folgendes Bild gezeichnet werden: Intuitiv ist das Private einfacher zu fassen als das Öffentliche. Darunter wird gewöhnlich der persönliche Bereich verstanden, der dem Zugriff durch Andere entzogen ist. Das Private ist nach diesem Verständnis der Bereich, in dem eine Person tun und lassen kann, was sie will. Im intimen Privatbereich kann sie gewissermaßen nach freier Willkür verfahren, ohne dass sie dafür von irgendjemandem, dem Staat z. B., zur Rechenschaft gezogen würde. Ausgehend von dieser Intuition des Privaten erscheint das entgegengesetzte Öffentliche als der Bereich, der für externe Zugriffsmöglichkeiten offen bleibt. Was öffentlich unternommen wird, wird von der Öffentlichkeit i. S. einer kritischen Allgemeinheit nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern ist auch der allgemeinen öffentlichen Kritik ausgesetzt. Während das Private offenbar Freiheit und Entfaltung garantiert, steht das Öffentliche unter einem stets latent vorhandenen, sich einmischenden und aufdrängenden Rechtfertigungszwang. Nicht selten ist es dann auch der zwangsbewehrte Staat, der im Namen des Öffentlichen, im öffentlichen Interesse, den freien Raum privater Willkür mit Machtmitteln begrenzt. Diese Darstellung des privaten und des öffentlichen Raums entstammt bei genauerem Hinsehen einer zwar geläufigen, aber recht einseitigen Beobachtungsperspektive. Die Unterscheidung zwischen „öffentlich“ und „privat“ wird nämlich nicht von beiden Seiten gleichzeitig oder gleichermaßen, sondern vorrangig aus der Sicht des Privaten entworfen. Bevor jedoch auf die Einseitigkeit des erläuterten Bildes eingegangen wird, ist bereits die sich scheinbar aufdrängende methodologische Festlegung auf den Beobachtungsstandpunkt einer genaueren Untersuchung wert. Aus der Beobachtungssicht werden der öffentliche und der private Raum als gegeben wahrgenommen und beschrieben. Dieser Standpunkt ist aber nicht zwingend und kann z. B. durch einen Teilnahmestandpunkt ausgetauscht werden. Aus einer Teilnahmeperspektive erscheinen das Öffentliche und das Private dann nicht als Zustands- oder Ereignisbereiche, sondern als Normierungsbereiche. Aus dieser Sicht ist das Private nicht der Bereich, in dem eine Person nach freier Willkür verfahren kann, sondern der Bereich, in dem sie nach Belieben verfahren können soll oder nach Belieben verfahren darf. Entsprechend soll eine Person im öffentlichen Bereich gegen externe Verantwortung nicht geschützt, sondern ihr ausgesetzt sein. Das Öffentliche und das Private stellen sich, so könnte auch gesagt werden, als 1 Das Folgende lehnt sich an die entsprechenden Ausführungen der Verfassungslehre Mastronardis an: vgl. insb. Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 2 – 22, Rn. 1 – 74.
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V. Verfassungstheorie: Demokratischer Rechtsstaat
Prinzipien dar.2 Erst diese Perspektive macht die Ideen des Öffentlichen und des Privaten aber für eine legitimatorische Konstitutionskonzeption anschlussfähig. Die Beobachtungssicht tritt dagegen nicht nur mit einem soziologischen Anspruch an, in ihrer alleinigen Verwendung tut sie auch so, als könne sie diesen Anspruch sozusagen teilnahmslos erledigen. In der Absicht, letztlich eine legitimatorische verfassungstheoretische Konzeption zu entwickeln, soll hier im Weiteren deshalb (wieder) der Teilnahmestandpunkt eingenommen werden – im Wissen darum freilich, dass auch die Teilnahme ohne die Beobachtung nicht auskommt. Die Beobachtungssicht soll aber nur so weit eingenommen werden, wie sie einer legitimatorischen Erfassung des Politischen dient. Im Weiteren geht es daher darum zu bestimmen, unter welchen Bedingungen etwas als öffentliche oder als private Angelegenheit zu betrachten ist und welche legitimatorischen Konsequenzen allenfalls damit verbunden sind. Dabei wäre es voreilig, das Öffentliche dem Privaten unterzuordnen und dem Privaten dabei Freiheit und Entfaltung, dem Öffentlichen dagegen Unfreiheit und Fremdbestimmung aufzuladen. Dieses Denken entspringt der liberalen Auffassung von Freiheit, nach der sich diese allein durch eine Abwesenheit von externer Einmischung, als negative „Freiheit von“ präsentiert.3 Unter umgekehrten Vorzeichen kann allerdings auch dem Öffentlichen Freiheit und dem Privaten Unfreiheit zugeschrieben werden. Sofern etwa der positive Freiheitsbegriff des Republikanismus als „Freiheit zu“ zugrunde gelegt wird,4 ergibt sich folgendes Bild. Das Private beschreibt danach den beschränkten Bereich individueller Isolation, in dem eine persönliche Entfaltung zu einem gewissen Grad zwar möglicherweise erreicht werden kann, die Beschränktheit der eigenen Kräfte diesem Ansinnen jedoch enge Grenzen steckt. Im öffentlichen Bereich dagegen wird gemeinschaftlich definiert, welche Ziele und Zwecke eine politische Gemeinschaft mit gemeinsamen Kräften verfolgen will. Die gemeinschaftliche Ausrichtung und Ordnung des öffentlichen Lebens ermöglicht es so überhaupt erst, bestimmte Ziele und Zwecke zu erreichen. I. d. S. verschafft erst das Öffentliche die Freiheit, etwas zu verwirklichen, was im Privaten nicht erreicht werden kann. Das Private erscheint dadurch im Hinblick auf die Freiheit als defizient (lat. privatus: beraubt)5. Danach wäre nicht das Private, sondern das Öffentliche vorzugswürdig. Je nachdem also, ob ein negativer oder ein positiver Freiheitsbegriff verwendet wird, ist das Private oder das Öffentliche übergeordnet und gilt es, das eine durch das andere zu begrenzen. Diese Sichten können noch um eine weitere Stufe radikaMastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 18 – 20, Rn. 56 – 66. Als Gegenbild nur Taylor, Der Irrtum der negativen Freiheit (1988 [1985]). Vgl. dazu bereits die politisch-philosophische Diskussion der Demokratie-Konzepte, insb. die Auseinandersetzung mit dem Liberalismus: IV. 1. 4 Vgl. das in Fn. 3 Gesagte mutatis mutandis für den Republikanismus. 5 Nicht zufällig hat die Unterscheidung „privat – publik“ ihre etymologischen Wurzeln im klassischen Altertum. Zur historischen Anbindung dieser republikanischen Interpretation des Öffentlichen Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 7, Rn. 18 – 20 / S. 9 f., Rn. 28 – 30. 2 3
1. Verfassungstheoretische Grundlagen
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lisiert und i.V. m. der Idee der Verantwortung noch klarer legitimatorisch ausgerichtet werden. Das Konzept der negativen Freiheit geht dann davon aus, dass es Bereiche geben muss, in denen eine Person nicht nur vor externer Einmischung, sondern prinzipiell vor äußerer Verpflichtung und Verantwortung zu schützen ist. Zwar gibt es im privaten Raum auch dann noch eine Art Verantwortung, diese besteht jedoch nur noch in einer Selbstverantwortung. Eine Person, die sich im Privaten bewegt, ist dann niemandem außer sich selbst verpflichtet. Diesen Bereich gelte es, als möglichst groß zu behalten und zu bewahren. Der Sinn des Öffentlichen besteht danach einzig noch darin, die privaten Räume gegen Ein- und Übergriffe anderer zu sichern. Demgegenüber würde das Konzept der positiven Freiheit das Schwergewicht nicht auf die Selbst-, sondern auf die Mitverantwortung legen. Der einzige Freiheitsbereich läge nicht in der privaten Abgeschiedenheit, sondern in der Gemeinschaft. Weil es dort jedoch keine hermetischen Schutzwälle gegen die Einflussnahme anderer geben kann, jedes Freiheit ermöglichende Handeln jedoch Einfluss auf Andere ausübt, müsse das Handeln dann durchweg öffentlich verantwortet werden. In einer hinreichend reflektierten Teilnahmeperspektive steht es allerdings nicht an, das Private oder das Öffentliche gegen das andere auszuspielen. Tatsächlich gehören beide Auffassungen von Freiheit und Verantwortung und damit das Private und das Öffentliche zusammen. Ein integrativer Ansatz ist dazu aufgerufen, beide Vorstellungen von „öffentlich“ und „privat“ in einem erweiterten Blickwinkel miteinander zu versöhnen. Denn weder sagt das Konzept der negativen Freiheit noch das der positiven Freiheit die ganze Wahrheit. Dass erst die positive Freiheit, etwas Bestimmtes zu tun, befriedigt, ist zwar prinzipiell überzeugend, doch leuchtet kaum die Annahme ein, dass es nicht auch einen privaten Freiraum der Intimität bedürfte, um einen vollständigen Sinn von Freiheit und persönlicher Entfaltung zu erfassen. Jeder Mensch braucht einen Bereich, in dem er sich ungestört und ohne einer anderen Person oder Institution Rechenschaft darüber ablegen zu müssen, bewegen kann. Und im umgekehrten Verhältnis gilt dasselbe. Die Frage ist nur, wie weit die Bereiche der positiven und der negativen Freiheit, des Öffentlichen und des Privaten, reichen sollen. An diesem Punkt geht der integrative Ansatz einen Weg, den der liberale und der republikanische Ansatz so nicht beschreiten. Während bei diesen die Reichweite des Öffentlichen und des Privaten, in der Betonung entweder des einen oder des anderen, als gegebene Zielgröße festgestellt wird, ist sie aus integrativer Sicht prozedural und ohne eine vorgängige Über- oder Unterordnung des einen oder des anderen, in der gleichberechtigten Berücksichtigung beider erst festzulegen. Was als privat und damit gegen äußere, z. B. staatliche Einmischung zu verwahren ist, bestimmt sich über öffentliche Verfahren. Diese wiederum müssen voraussetzen, dass den Individuen, die sich an der öffentlichen Auseinandersetzung über das Öffentliche und Private beteiligen, ein geschützter Freiraum privater Entfaltung bleibt. Denn nur auf dieser Grundlage können solche Prozeduren letztlich unter fairen Bedingungen verlaufen. Was sich hier im verwandten Kontext der privaten
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V. Verfassungstheorie: Demokratischer Rechtsstaat
und öffentlichen Autonomie bereits einmal gezeigt hat,6 taucht also auch bei der Bestimmung des öffentlichen und des privaten Raums wieder auf: eine sich gegenseitig voraussetzende Verschwisterung. Was nun tatsächlich dem öffentlichen oder dem privaten Raum zugeschrieben und damit etwa dem Grundsatz der Selbst- oder der Mitverantwortung unterstellt wird, mag aus einer beobachtenden Bestandsaufnahme abgerufen werden können. Aus der Teilnahmesicht können solche Beobachtungen jedoch weder unvermittelt als legitimerweise gültig hingenommen werden – Geltungsansprüche sind nicht dasselbe wie ihre gültige Einlösung –, noch können sie, selbst im Falle aktueller legitimatorischer Gültigkeit für die Zukunft als unveränderlich gelten. Das Öffentliche bzw. das Private lässt sich nicht einfach beobachten. Die Abgrenzung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten richtet sich eben danach, ob bestimmte Handlungen oder Handlungsbereiche öffentlich oder nur privat zu verantworten sind. Es ist deshalb der Grundsatz der öffentlichen Verantwortung oder der Mitverantwortung, der die Frage nach dem Öffentlichen normativ anleitet (und der Grundsatz der Freiheit oder Selbstverantwortung, der die Frage nach dem Privaten anleitet). Dabei ist insbesondere die liberale Vermutung zugunsten privater Freiheiten („in dubio pro libertate“, die ja auf ein „in dubio contra responsibilitatem“ hinausläuft) zu korrigieren. Was unter legitimen deliberativen bzw. demokratisch-rechtsstaatlichen Bedingungen als privat gilt, kann for the time being durchaus als dem privaten Bereich zugehörig angesehen werden. Denn wenn davon ausgegangen werden kann, dass das demokratische Verfahren unter hinreichend legitimen Bedingungen verlaufen ist, können sich die erzielten Verfahrensergebnisse auf das Prinzip der Gebundenheit (oder Verbindlichkeit) der Deliberation bzw. auf das Prinzip der Gesetzmäßigkeit berufen. Das gilt allerdings nur, solange nicht ein neues Verfahren dieses bisherige Private auf legitime Weise in den öffentlichen Raum überführt. Zudem folgt daraus nicht, dass neu aufkommende Legitimationsprobleme quasi „natürlich“ als „Privatsache“ zu qualifizieren wären. Die liberale Überbetonung des Privaten will nämlich vertuschen, dass jede private Freiheit im Wege eines legitimen politischen Verfahrens auch einer öffentlichen Verantwortung unterworfen werden kann. In einer konsequenten prozeduralen Sichtweise kann prinzipiell jedes Problem, auch wenn es bisher nach fester Überzeugung als privates gegolten hat, zu einem öffentlichen werden.7 Umgekehrt gilt freilich nichts anderes: Auch jedes öffentliche Problem kann prinzipiell, d. h. unter den erforderlichen legitimatorischen Verfahrensbedingungen, zu einem Privatproblem werden.
IV. 1. c) und insb. IV. 3. c) a. E. Vgl. dazu die entsprechende Auseinandersetzung mit dem liberalen Argument am Beispiel des Feminismus bei Habermas: Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 379 – 383. Vgl. auch ders., Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch (1996 [1995]), S. 91. 6 7
1. Verfassungstheoretische Grundlagen
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b) Verfassung des Öffentlichen Das Öffentliche bildet die Sphäre, in der Handlungen nicht der Eigenverantwortung überlassen, sondern einer öffentlichen Rechtfertigungspflicht unterstellt werden sollen. Die Idee, die dahinter steht, ist, dass die Macht der Interaktionen, die dem Bereich des Öffentlichen zugeschrieben werden, ein solch kritisches Maß erreicht, dass sie zu rechtfertigen ist. Oder anders gesagt: Im Öffentlichen muss Macht durch Recht „verfasst“ werden.8 Es versteht sich, dass mit dieser Kontextualisierung von Recht, Macht und Verfassung das Problem des Öffentlichen und des Privaten nicht gelöst wird. Worin das „kritische Maß“ an Macht besteht, wo die Scheidewand zwischen öffentlich und privat zu verantwortender Macht verläuft, bleibt weiterhin dem wechselseitigen Prozess zwischen Öffentlichem und Privatem überantwortet. Dass die Macht aber nur im öffentlichen Raum zu rechtfertigen ist, gibt dem Begriff der Verfassung einen weiteren Anhaltspunkt. Es ist das Öffentliche, verstanden eben als die Bereiche menschlicher Interaktion, die einer öffentlichen Rechtfertigungspflicht unterliegen sollen, das die Angriffsfläche der rechtlichen Verfassung bildet. Das Private soll gerade nicht (zumindest nicht im gleichen Sinn) verfasst werden. Daraus darf freilich nicht der liberale Fehlschluss gezogen werden, dass die private „Verfassungsfreiheit“ unantastbar wäre. Denn diese Freiheit besteht nur aus der privaten Binnensicht. Von einer aufs Öffentliche und Private gerichteten Gesamtsicht her sind auch die Grenzen des privaten Raums zu verfassen. Keine Macht, die auf Andere wirkt, soll sich in einen Schutzraum flüchten können, in dem sie absolut und dauerhaft dem Recht entzogen wäre. Es fragt sich nun, wie derjenige Sinn von Verfassung verstanden werden kann, der im Anspruchsbereich der juristisch-ethischen Verfassungstheorie von Bedeutung ist. Um das besser klären zu können, empfiehlt sich ein näherer Blick auf den allgemeinen Verfassungsbegriff. Den „Sinn der Verfassung“ beschreibt etwa Alois Riklin.9 In seiner historisch wie systematisch angelegten Untersuchung, in der er das anspruchsvolle Ziel verfolgt, „den Sinn der Verfassung der 2500jährigen Ideen- und Verfassungsgeschichte der westlichen Zivilisation ins Bewusstsein heraufzuholen“,10 erkennt Riklin zunächst die erniedrigenden Erfahrungen des Missbrauchs von Macht als die treibende Kraft der Verfassungsentwicklung. Bei den Aspekten der Verfassung, die er von diesem Ausgangspunkt aus kenntlich macht, spricht er sodann von „politischen Erfindungen“, von kreativen menschlichen Errungenschaften im Umgang mit zügelloser politischer Macht,11 und nennt mit den Stichworten „Machtbändigung“, „Machtbeteiligung“, „Machtteilung“, „Machtbeschränkung“ und „Machtausgleich“ die Gesetzesbindung, die DemokraVgl. hierzu Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 138 – 142, Rn. 420 – 435. Riklin, Vom Sinn der Verfassung (1998); vgl. auch ders., Machtteilung (2006). 10 Riklin, Vom Sinn der Verfassung (1998), S. 149. 11 Riklin, Vom Sinn der Verfassung (1998). S. 150. 8 9
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V. Verfassungstheorie: Demokratischer Rechtsstaat
tie, die Gewaltenteilung, die Grundrechte und die Idee des sozialen Ausgleichs als die wichtigsten Teilschritte der Verfassung dieser für Missbrauch so anfälligen Macht.12 Damit setzt Riklin die Idee der Verfassung im Grunde mit der hier zuvor entwickelten Idee gleich, dass es sich bei der Verfassung (des Öffentlichen) um eine Verrechtlichung von Macht handelt. Mit der Angabe von Gesetzesbindung, Demokratie, Gewaltenteilung, Grundrechten und Sozialausgleich bringt er zugleich auch bestimmte politische Ideen in den Kontext ein, die hier bisher am ehesten im Bereich der politischen Philosophie einen Platz gefunden haben. So gesehen, schlägt Riklins Beschreibung der Verfassung eine Brücke zwischen dem Problem des Öffentlichen, wie es soeben entfaltet worden ist, und dem Problem der Legitimation des (demokratischen) politischen Prozesses, wie es hier in der politischen Philosophie bearbeitet worden ist. So wird jedenfalls die Verbindung zwischen der Verfassungstheorie und der politischen Philosophie nochmals deutlich. Bei beiden disziplinären Sichtweisen besteht das Kernproblem in der Rechtfertigung politischer Macht. In der ethischphilosophischen (methodischen) Sprache der politischen Philosophie ist die politische Macht dabei gerechtfertigt, wenn sie in Verfahren eingebunden wird, die den Prinzipien der deliberativen Demokratie entsprechend normativ strukturiert sind. In verfassungstheoretischer Sicht erhält die Legitimation politischer Macht (oder auch die Verfassung des Öffentlichen) einen etwas spezifischeren methodischen Anspruch. Zur allgemeinen Bedeutung der Verfassung des politischen Prozesses tritt in der Verfassungstheorie der Aspekt einer institutionell konkretisierten Rechtsform hinzu, die der zu verfassenden Macht ihrerseits mit Macht entgegen tritt und die rechtlose Macht – im Verhältnis zur philosophischen Ethik – gleichsam fester in den Griff nimmt (stärker verfasst). Erster Ausdruck dieser institutionell konkretisierten Rechtsform ist dabei das verbindliche, mit Rechtsmacht bewehrte Gesetz.13 Die „verfassungstheoretische Verfassung“ des Öffentlichen ist daher als gesetzlich oder auch juristisch überformte Verfassung zu verstehen.14 So erweitert die verfassungstheoretische Perspektive die politisch-philosophische Verfassungsperspektive um einen wichtigen Aspekt eines integrativen Verfassungsverständnisses. Das Verfassungsproblem allein als allgemeine Frage der legitimen Strukturierung politischer Macht zu begreifen, würde nicht nur den disziplinären Schritt von der politischen Philosophie zur Verfassungstheorie unkenntlich Riklin, Vom Sinn der Verfassung (1998). S. 151 – 162. So kann freilich auch Riklin gelesen werden, wenn er als „erste Erfindung gegen den Machtmissbrauch und für den rechten Gebrauch der Macht“ die Bindung ans Gesetz markiert; Riklin, Vom Sinn der Verfassung (1998). S. 151 f., H. n. O. 14 Zu unterscheiden ist der verfassungstheoretische Verfassungsbegriff wiederum vom „juristisch-dogmatischen Verfassungsbegriff“, der sich auf die grundlegende Struktur, Form und Materie einer konkreten Rechtsordnung bezieht. Als „formeller“ konzentriert er sich dabei auf den im ordentlichen Verfassungsgebungsverfahren erlassenen Text der höchsten Legitimationsstufe, als „materieller“ auf die grundlegenden Strukturen, Formen und Materien in systematischer, nicht zwingend an die Verfassung im formellen Sinn gebundener Weise. 12 13
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werden lassen, sondern auch ein insgesamt zu undifferenziertes Bild des (demokratischen) Rechts zeichnen. Dabei erklärt sich die Erweiterung des Rechts- und Verfassungsbegriffs um den spezifischen Aspekt einer gesetzlich-institutionellen Überformung aus der Verknüpfung von Recht und Macht. Recht und Macht gehen Hand in Hand. Rechtliche Normierungen erheben zwar den Anspruch, menschliche Verhältnisse legitim zu ordnen. Zugleich jedoch erheben sie auch den Anspruch, dazu zu berechtigen, die Ordnungsstrukturen nötigenfalls auch mit Gewalt durchzusetzen, das Recht Wirklichkeit werden zu lassen. Erst dieses dem Recht inhärente Machtelement macht die rechtliche Verfassung rechtloser Macht zu einem wirksamen Instrument der Steuerung sozialer Verhältnisse. Insofern antwortet das Recht auf Macht mit Macht. Entscheidend daran ist jedoch, dass die Macht des Rechts nicht wiederum rechtlose, sondern ihrerseits und von vornherein rechtlich verantwortete Macht sein will. Verfassung von Macht bedeutet nicht einfach einen Schlagabtausch sich gegenüberstehender Mächte, sondern die legitime, aber auch zwangsbewehrte Verantwortlichmachung illegitimer Macht. Die Macht des Rechts ist gebundene Macht. Soziologisch gesehen, hat sie ihren Ursprung in der kommunikativen Macht eines legitimen politischen Prozesses. In legitimatorischer Hinsicht ist die Macht des Rechts gebunden an die gleichberechtigte Zustimmung all derer, die von dieser Macht betroffen sind. Die Verfassung des öffentlichen Raums beabsichtigt die legitime Strukturierung von Machtausübung durch Recht. Dabei ist die Macht des Rechts zwar unverzichtbar, aber sie ist nicht der Grund der Verfassung, sondern die Bedingung dafür, dass die legitimen Verhältnisse Wirklichkeit werden können. Bei näherer, verfassungstheoretischer Betrachtung erscheint die Verfassung der öffentlich zu verantwortenden Macht in der Gestalt juristischer Institutionen. Unter „Institutionen“ (lat. instituere: einrichten) sind hier zunächst allgemein die „politischen Erfindungen“ zu verstehen, die den zügellosen Lauf der Macht in die zumutbaren Bahnen eines öffentlichen Rechtfertigungsraums lenken sollen. Verfassungstheoretisch spezifiziert erscheinen diese Einrichtungen dann als gesetzlich überformte „juristisch-ethische“ oder eben kurz „juristische Institutionen“. Sie sind dann als verbindliche, zwangsbewehrte Strukturen eines seinerseits rechtfertigungsfähigen Legitimationsprozesses institutionalisiert. Im Gegensatz zu den „ethischen Institutionen“, etwa der deliberativen Demokratie oder auch der Diskursethik (und, wie sich später noch zeigen wird, auch der deliberativen Judikation), können ihre Nichtbeachtung oder Verstöße gegen sie in aller Regel (in einem noch rechtsdogmatisch unspezifischen Sinn) eingeklagt werden und korrektive Konsequenzen nach sich ziehen. Auf diesem Verständnis juristisch-ethischer Institutionen als die angemessenen normativen Strukturen der Verfassung des Öffentlichen muss die hier zu erarbeitende verfassungstheoretische Konzeption aufbauen.
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c) Public Governance Traditionell als die umfassendste und zugleich wirkungsmächtigste rechtliche Institution gilt der Staat.15 Für die (verfassungstheoretische) Verfassung des Öffentlichen oder der politischen Verhältnisse bietet er sich daher an erster Stelle an. Allerdings kann der Staat nicht unbesehen als zentrale Bezugsgröße der juristisch-ethischen Verfassung des öffentlichen Raums herangezogen werden. Die Staatstheorie bildet eine eigene, von der Verfassungstheorie zu unterscheidende (Sub-)Disziplin, in der sich gewiss eigene Denk- und Argumentationslinien herausgebildet haben, die möglicherweise aber nicht unmittelbar auf eine verfassungstheoretische Konzeption, wie sie hier erarbeitet werden soll, übertragen werden können. Bevor also die Idee der juristisch-institutionellen Verfassung des Öffentlichen mit der Idee des Staates verbunden werden kann, gilt es zu klären, was unter dem Staat, zumindest im konzeptuellen Ansatz, zu verstehen ist. Diese Klärungen müssen dann mit den bereits aufbereiteten Kontexten in Beziehung gesetzt und theoretisch integriert werden. Etwa seit Beginn des 20. Jahrhunderts wird der „Staat“ mit Georg Jellinek klassischerweise durch die Drei-Elemente-Lehre definiert: durch Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt.16 Danach bildet der Staat zunächst einen Territorialstaat. Die umfassende normative Institution bezieht sich zunächst auf ein räumlich horizontal abgegrenztes Gebiet mit äußeren Grenzen. Damit wird die staatliche Macht (territorial) gleichermaßen nach innen geöffnet und nach außen begrenzt. Innerhalb der territorialen Staatsgrenzen kann sie sich auf sämtliche Personen und deren Hab und Gut beziehen und endet prinzipiell erst dort, wo das Staatsgebiet und damit die Macht eines anderen Staats beginnt. Das Merkmal des Staatsvolks bietet einen weiteren Anknüpfungspunkt für das Staatsverständnis. Ein Staat verfügt über ein juristisch definiertes Volk von Staatsangehörigen und -zugehörigen, die der Hoheit des Staates unterworfen sind. In demokratischen Staaten bilden die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger das Staatsvolk, gegenüber denen sich der Staat in seiner Hoheitsmacht seinerseits zu verantworten hat. Als Zuschreibungsmerkmale sind Staatsgebiet und Staatsvolk dabei nicht deckungsgleich. Nicht jede Person, die sich innerhalb der Staatsgrenzen aufhält, zählt unmittelbar zum Volk dieses Staates, und umgekehrt definiert sich das Staatsvolk auch nicht unmittelbar durch seinen aktuellen räumlichen Aufenthaltsort in den Grenzen eines bestimmten Staates. Die Angehörigkeit oder Zugehörigkeit zum Staatsvolk erfolgt über wiederum durch den Staat juristisch-verbindlich definierte Kriterien. Das Merkmal der Staatsgewalt bringt schließlich die herrschaftliche Hoheitsmacht des Staates selbst zum Ausdruck, zu deren Ausübung auf seinem Gebiet und über sein Volk er berechtigt und verpflichtet ist. In dieser klassischen Sicht ist es in letzter Linie also 15 Vgl. zur folgenden Argumentation insgesamt Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 148 – 156, Rn. 454 – 477. 16 Jellinek, Allgemeine Staatslehre (1921 [31914]), S. 180 f. / 183 / 394 – 434. Vgl. dazu Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 41 – 44, Rn. 135 – 147.
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der Staat, dem die Ordnung des öffentlichen Raums oder der politischen Verhältnisse überantwortet ist. Seine Macht mag in seinem Innern horizontal (auf verschiedene Organe) oder vertikal (auf verschiedene Gliedstaaten) verteilt sein, in letzter Konsequenz und insgesamt liegt sie jedoch beim Staat. Die klassische Definition des Staates durch die Drei-Elemente-Lehre verdankt sich weitgehend einer beobachtenden Einstellung: Der Staat ist derjenige umfassende Regelungskomplex, der die höchste Gewalt über ein bestimmtes Gebiet und ein bestimmtes Volk innehat. Legitimatorisch gewendet, muss die (demokratische) staatliche Gewalt freilich – politisch-philosophisch gesehen – in die normativen Strukturen der deliberativen Demokratie eingebettet werden. Der beobachtende Blick erlaubt es allerdings, die faktischen Merkmale des Staates mit seinen legitimatorischen Anforderungen und soziologischen Funktionsbedingungen ins Verhältnis zu setzen. Im Wege dieser Relationierung kann dann die Frage gestellt werden, ob die Institution des Staates tatsächlich das leistet oder leisten kann, was sie zu leisten beansprucht: die umfassende legitime und zugleich steuerungswirksame Verfassung des öffentlichen Raums. Nur wenn diese Frage bejaht werden kann, kann dem Staat die Rolle des „Verfassers des Öffentlichen“ zugesprochen werden. Dabei melden sich jedoch Zweifel an. Aus einer durch die Beobachtung informierten teilnehmenden Sicht lässt sich etwa erkennen, dass der Staat (im klassischen Sinn) nicht sämtliche Bereiche erfasst, in denen Menschen über Menschen Macht ausüben, die über das kritische, zu rechtfertigende Maß hinausgeht. Umgekehrt werden sich auch Machtbereiche finden lassen, in denen der Staat in einem Maße wirkt, wie es ihm legitimerweise nicht zusteht, oder in die er überhaupt nicht eingreifen sollte. Anders gesagt, der Staat tut nicht immer, was er tun sollte. Mit dem klassischen, deskriptiv ansetzenden Staatsbegriff wird es jedenfalls schwierig, die juristisch-institutionelle Verfassung des Öffentlichen legitimatorisch treffend einzufangen. Dass sich der klassische Staatsbegriff vom modernen Verständnis der Verfassung des öffentlichen Raums entfernt hat, hängt freilich wieder damit zusammen, dass moderne Gesellschaften keine gemeinschaftlichen PolisGesellschaften (mehr) bilden, in denen die „Arbeit am Staat“, an der Gesellschaft als Staat den Inbegriff des Selbst- und Gemeinschaftsverständnisses definiert. Die Gesellschaft kann nicht länger nur als Staat im klassischen Sinn verstanden werden. In modernen Demokratien haben sich weitere Gesellschaftsbereiche ausdifferenziert, das Wirtschaftssystem z. B., oder das Religions- und das Erziehungssystem. Doch auch diese Gesellschaftssysteme bilden Ordnungsregimes, auch in ihnen wird Macht institutionell strukturiert – die vom klassischen Staatsbegriff aufgrund der auch begrifflichen Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften aber nicht erfasst werden kann. Sicherlich spielt auch der staatliche Einfluss in all diese „nicht-staatlichen“ Gesellschaftsregimes hinein. Zu denken ist dabei nur an die juristisch-institutionelle Verfassung des Wirtschaftssystems.17 Sogar in so „unstaatli17 In rechtsdogmatischer Sicht statt Aller Vallender et al., Wirtschaftsfreiheit und begrenzte Staatsverantwortung (42006).
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che“ Bereiche wie Erziehung oder Religion mischt sich der Staat mit gesetzlich verbindlicher Regelungsmacht ein. In all diesen Bereichen verbleiben den einzelnen Regimes jedoch zu einem Gutteil eigene, nicht unmittelbar vom Staat erfasste Ordnungsinstitutionen, in der Wirtschaft etwa der Markt, in der Erziehung die Familie und in der Religion die Kirche. Den Staat also als die geeignetste Bezugsgröße für die juristisch-ethische Verfassung des öffentlichen Raums zu betrachten, scheint demnach nicht ganz angebracht. Obwohl im Prinzip auch in die andere Richtung lesbar, hat die kurze gesellschaftstheoretische Analyse dabei gezeigt, dass sich das v. a. aus dem Umstand heraus aufdrängt, dass sich das Staatliche gegenüber dem Öffentlichen als zu wenig umfangreich erweist. Gegen diese Einschätzung tut sich wiederum v. a. ein liberales Argument hervor. Nach liberaler Auffassung verkennt sie, dass es gerade der Staat ist, der die Grenze zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten zieht.18 Was der Staat regele, sei eine öffentliche Angelegenheit, was er nicht regele, bleibe dem Privaten vorbehalten. Eine solche – tief normativ gefärbte – Grenzziehung würde den Bereich des Privaten allerdings außerordentlich weit, den Bereich des Öffentlichen und damit die Reichweite gesellschaftlicher Mitverantwortung dagegen außerordentlich eng stecken. So wäre insbesondere das Spiel der Wirtschaftsmächte jenseits des staatlichen Einflussbereichs als reine Privatangelegenheit zu betrachten und keinerlei Verantwortung verpflichtet. „Privatisierung“, „Deregulierung“ oder „Staatsabbau“, wie derzeit etwa im Bereich der Telekommunikation, der Post oder im im Energiewesen zu beobachten, wären ihrer Tendenz nach als Entlassungen in einen verantwortungsfreien Privatbereich zu sehen. Für eine Verfassungskonzeption, die davon ausgeht, dass Freiheit ohne Verantwortung nicht zu haben ist und letztlich alle Macht über Andere zumindest rechtfertigungsfähig sein muss, steht die Grenzziehung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten aber nicht zur Disposition. Die Grenze kann nicht einfach dort gezogen werden, wo die formale Einflussnahme des Staates kontingenterweise endet. Überall dort, wo Menschen auf Menschen Macht ausüben, auch im Privaten und jedenfalls auch im Nicht-Staatlichen, muss diese Macht letztlich öffentlich gerechtfertigt werden können. Bei der Verfassung von Macht im öffentlichen Raum übernimmt der Staat zweifellos wichtige Funktionen. Es bedarf aber eines flexibleren institutionellen Konzepts, um die Verfassung des Öffentlichen in ihrer ganzen Problemweite erreichen zu können. Erweist sich nun der Begriff des Öffentlichen gegenüber dem Staatlichen als umfangreicher, und würde das juristisch-ethische Verfassungskonzept nicht erweitert, so blieben im Grunde nur zwei Möglichkeiten: die Eingrenzung des Öffentlichen oder die Ausweitung des Staatlichen. Das verkürzte liberale Verständnis des öffentlichen Raums ist bereits zurückgewiesen worden. Ebenso wenig scheint es aber auch Anlass dafür zu geben, das klassische Staatsverständnis auszudehnen. Insbesondere vor dem Hintergrund eines modernen, ausdifferenzierten 18
Vgl. hierzu Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 5 – 7, Rn. 12 – 17.
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Gesellschaftsbildes bietet die klassische Staatsdefinition ein immer noch hinreichend plausibles Konzept für die deskriptive oder auch die allgemeine Erfassung höchster organisierter Rechtsmacht. Aus diesem Grund bedarf es einer (immer noch) konzeptuellen Ergänzung bzw. Konkretisierung. Für die Verfassung eines weitreichenden öffentlichen Raums, den das Staatskonzept nicht vollständig erreichen kann, kann das Konzept der „Public Governance“ herangezogen werden.19 Darunter ist das Netzwerk der verschiedenen staatlichen und nicht-staatlichen, aber dennoch wirksamen Ordnungsstrukturen zu verstehen, die den öffentlichen Raum im Ganzen verfassen. Die Institutionen und die sie konstruierenden Agierenden, die in dieses Netzwerk eingebunden sind, sind keineswegs nur staatliche. Auch solche, die nach herkömmlicher, meist liberaler Auffassung als „privat“ gelten, sind davon erfasst (Stichworte: Public Private Partnership, Regulierte Selbstregulierung usw.20). Die Public Governance steht für den gesamten institutionellen Zusammenhang der Verfassung des öffentlichen Raums. Mit dem Begriff der Governance ist ein Konzept zur Hand, mit dem die Verfassung des gesamten öffentlichen Raums erfasst werden kann, ohne dass der Staat aus diesem Konzept herausfallen müsste. Was freilich auch die Governance nicht ohne Weiteres leistet, ist die Beantwortung der Frage, wie die Verfassung des Öffentlichen in legitimatorischer Hinsicht (verfassungstheoretisch) konzeptionell auszugestalten ist. Darauf wird im Anschluss an eine noch etwas tiefer ansetzende soziologische Orientierung über die verfassungstheoretische Problematik unter dem Titel des demokratischen Rechtsstaats zurückgekommen werden.21 Vorab ist es angebracht, in Anbetracht der Einführung des Governance-Konzepts das Staatsverständnis noch besser zu klären. Denn nach wie vor kann der Staat immerhin als die höchstverbindliche juristische Hoheitsmacht einer politischen Konstitution gelten, und es fragt sich, wie diese Auffassung mit der beschränkten Reichweite des Staates innerhalb der gesamten Public Governance in Einklang gebracht werden kann. In diesem Zusammenhang kann das Verständnis des Staates als machtvollste Rechtsinstitution mit dem Begriff des „Gewährleistungsstaats“ präzisiert werden.22 Danach verbleibt dem Staat zwar die höchste Gewalt, er übt sie jedoch nur noch dann und so weit aus, wie es für die Verwirklichung der legitimen Normierungen nötig ist. Das ist so zu verstehen, dass der Staat für die Durchsetzung, Umsetzung, und Erfüllung, kurz: die Implementierung der legitimen Strukturen, Prozesse und Materien einer (demokratischen) politischen Gemeinschaft zwar weiterhin bereitsteht, solange und soweit die nicht-staatlichen Handlungseinheiten sie jedoch ohne dessen Hilfe erwirken können, sollen sie dies (in öffentlicher Verantwortung) auch tun.23 Hierzu bereits der Hinweis in Fn. 15. Dazu etwa Krasemann, Public Private Partnership (2008); Grimm et al., Regulierte Selbstregulierung als Steuerungskonzept (2001). 21 Sogleich V. 3. 22 Hierzu und zum Folgenden Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 151 – 153, Rn. 466 – 472. 19 20
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Die Gesamtverantwortung, die der Staat nach republikanischer Auffassung (d.h. auch im Polis-Denken einer vormodernen Gesellschaftsstruktur) trägt, reduziert sich damit auf eine Gewährleistungsverantwortung. Die Erfüllungsverantwortung kann und soll er auch nicht-staatlichen Institutionen-Netzwerken übertragen. Ferner trägt der Staat eine Auffangverantwortung, falls die nicht-staatlichen Handlungseinheiten und -komplexe die öffentlichen Struktur-, Prozess- und materiellen Anforderungen nicht in zureichendem Maße implementieren können. Diese Abschwächung des republikanischen Staatsverständnisses bleibt allerdings anspruchsvoller als die liberale Vorstellung vom „Nachtwächterstaat“. Denn die Hinwendung zum Gewährleistungsstaat bedeutet nicht die Abkehr von der Idee einer durch den Staat garantierten auch öffentlichen Autonomie hin zu einer staatlich allein garantierten Privatautonomie von Individuen, denen jede Verantwortung nur noch als Selbstverantwortung übertragen wäre. Als Träger der höchstverbindlichen Macht bleibt der Staat bei der Verwirklichung des Rechts als Letzter in der Verantwortung. Soweit sie jedoch dazu in der Lage sind, sollen die nicht-staatlichen Agierenden das Recht auch aus eigener Kraft Wirklichkeit werden lassen.24
2. Kleine Soziologie der Public Governance Handeln im öffentlichen Raum, Handeln also, das ein hinreichend kritisches Maß an Machtausübung auf Andere erreicht, ist zu verfassen. Dahinter steht die These von der untrennbaren Verbundenheit von Freiheit und Verantwortung, nach der sich keine Macht dem Recht entziehen können soll. Solange die Machtausübung allerdings im privaten Raum verbleibt, bedarf es nur der Rechtfertigung gegenüber sich selbst, der Selbstverantwortung. Sobald dieser Raum aber verlassen wird, nimmt das Recht die Macht als öffentlich zu verantwortende in den Griff. In verfassungstheoretischer Sicht wird dieser Griff im Verhältnis zur philosophischen Ethik, insbesondere zur politisch-philosophischen Ethik, enger. Er erhält 23 Diese Art von Implementierung oder Verwirklichung legitimen Rechts ist nicht mit dem Verhältnis von Recht und Wirklichkeit zu verwechseln, das in der Diskussion der juristischen Methodik anhand der Normstruktur-Achse „Normtext – Wirklichkeit“ eingehend erläutert worden ist und dieser Untersuchung durchweg zugrunde liegt: I. 2. b), (1). Das Konzept der Implementierung betrifft das Problem der Realisierung des legitimen Rechts als Ideal. Dazu auch bereits IV. 4., (3) (c) a. E. 24 Dieser Zusammenhang von Gewährleistung und Erfüllung kann auch mit dem Subsidiaritätsgedanken in Verbindung gebracht werden: vgl. Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 13 – 16, Rn. 44 – 49 / S. 300 f., Rn. 916 f. Dieser Subsidiaritätsgedanke wäre jedoch missverstanden, wenn er als eine Vermutung zugunsten des „Privaten“ oder der „privaten Aufgabenerfüllung“ gesehen würde. In diesem Kontext geht es vorrangig nicht um Privates und Öffentliches, sondern um die Frage, mit wessen Macht öffentlich gerechtfertigte Strukturen, Prozesse und Materien Wirklichkeit verschafft werden soll. Es handelt sich letztlich um ein Problem der Einsicht und der Willenskraft. In modernen Rechtsgesellschaften müssen nicht alle Mitglieder die – nochmals: öffentlich legitimierten – Normierungen einsehen oder „von selbst“ befolgen. Tun sie es aber nicht, dann müssen sie mit der Macht des Staates rechnen.
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dann etwas von der eisernen Form des juristischen Gesetzesrechts, das seinerseits die Macht, in letzter Konsequenz des Staates, auf seiner Seite hat. In der Perspektive der Verfassungstheorie ist die Verfassung des Öffentlichen nicht mehr ethisch, sondern juristisch-ethisch zu besorgen. Diese methodische Konkretisierungsschritt, der damit von der Rechtsphilosophie zur Rechtstheorie vollzogen wird, macht sich auch in soziologischer Hinsicht bemerkbar. Auch die Funktionsverhältnisse der politischen Konstitution können nun nicht länger in abstrakten philosophischen Begriffen erklärt werden, sondern müssen nunmehr eine spezifischere, gleichsam handfestere Gestalt annehmen. Im Folgenden kann das wiederum nur angedeutet werden. Der Notwendigkeit, die legitimatorische Konzeptionalisierung des demokratischen Rechts auch in der Verfassungstheorie hinreichend plausibel mit einer soziologischen Sicht zu verbinden, kann auch an dieser Stelle nur wieder als eine kleine Soziologie (juristisch-ethisch) verfasster Demokratie nachgekommen werden. Beim soziologischen Blick in die gesetzesrechtlich überformte ethische Verfassung der modernen Demokratie soll der zuvor konzeptuell ausgeführten Idee der Public Governance Rechnung getragen werden. Obschon ebenso von Bedeutung, ist darauf zu achten, dass die Perspektive nicht auf das politische Staatszentrum eingeengt bleibt. Wie das Konzept der Public Governance und im Übrigen auch schon die entsprechenden soziologischen Überlegungen zur deliberativen Demokratie gezeigt haben, darf die Verfassung des Öffentlichen nicht an den augenscheinlichen Grenzen der Normierungsprozesse des politischen bzw. staatlichen Zentrums Halt machen. Der gesamte öffentliche Raum bzw. der gesamte demokratische Prozess bedarf einer legitimen Verfassung. Diese aus legitimatorischer Sicht erhobene Forderung muss auch in der Soziologie eine Entsprechung finden. Das wird hier dadurch zu bewerkstelligen versucht, dass der Blick aufs politische Zentrum um einen Blick in die Peripherie und auf die peripher-zentralen Kopplungen des demokratischen Prozesse erweitert wird.
a) Verfassung der Governance im politischen Zentrum Gleichwohl finden sich die geläufigsten Institutionen und Organisationen des demokratischen Verfassungsprozesses im politischen Zentrum wieder. Seit CharlesLouis de Montesquieu sind die zentralen staatlichen Prozesse bekanntermaßen zu verteilen. In der verfassungstheoretischen Tradition hat sich aus diesem Gedanken eine schematische Dreiteilung staatlicher Funktionen nach Legislation, Exekution und Jurisdiktion ergeben, wobei die „Legislation“ den Prozess in der Gesetzgebung, die „Exekution“ in der Umsetzung und Ausführung des Gesetzesrechts und die „Jurisdiktion“ in der verbindlichen Entscheidung strittiger Fälle besteht. Machttheoretisch akzentuiert, werden die drei Funktionen dann als Gewalten wahrgenommen („Legislative“ oder „erste Gewalt“, „Exekutive“ oder „zweite Gewalt“ und „Judikative“ oder „dritte Gewalt“), die (im traditionellen Verständnis der Gewaltenteilung) so eingerichtet sind, dass keine Gewalt des politischen Zentrums
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V. Verfassungstheorie: Demokratischer Rechtsstaat
in eine übermächtige Stellung gelangen kann. Die funktionale Differenzierung zwischen Legislation, Exekution und Jurisdiktion geht idealtypisch mit einer organisatorischen und einer personellen Trennung einher. Während das „Parlament“ typischerweise damit betraut ist, die Gesetzgebung zu erledigen, sind „Regierung“ und „Verwaltung“ zuständig für die staatlich notwendige Umsetzung und Ausführung des Gesetzesrechts,25 und das „Gerichtswesen“ oder die „Gerichte“ sind in Fällen, in denen die Umsetzung und Ausführung des Gesetzesrechts, sei es durch die Organe des politischen Zentrums („Staatsorgane“) oder andere („Zivile“), auf qualifizierte Konflikte trifft, zur verbindlichen Rechtsprechung berufen. Nicht selten werden die zentralen Organe in der Verfassungstheorie auch mit den Gewalten gleichgesetzt. In dieser nicht ganz trennscharfen Praxis werden Parlament, Verwaltung und Gerichte dann synonym als Legislative, Exekutive und Judikative bezeichnet. Zusammengenommen können sie als institutionell berufene Staatsorgane und in Bezug auf ihre Tätigkeit als „Funktionsträgerinnen“ bezeichnet werden. Trotz der idealtypischen organisatorischen und personellen Trennung der Kernfunktionen des politischen Zentrums können die drei Funktionen in beider Hinsicht verflochten sein. So übernimmt das Parlament bisweilen Aufsichts- und Rechtsprechungs-, aber auch Exekutivfunktionen. Regierung und Verwaltung werden auf tieferen Legitimationsstufen sogar außerordentlich häufig gesetzgeberisch tätig und können auch Rechtsprechungsfunktionen übernehmen. Und auch Gerichte agieren z. T. gesetzgebend und verwaltend, in aller Regel allerdings nur in sehr beschränktem Maße. Auch personell kann es in modernen Demokratien, wenn auch eher zurückhaltend und mit zusätzlichen Kontrollmechanismen verbunden, Überschneidungen zwischen den drei typischen Organen geben. So kann es beispielsweise sein, dass die Regierungsmitglieder zugleich dem Parlament angehören. Ebenso vielfältig wie die Organe des politischen Zentrums intern in Bezug auf die politische Funktion und in personeller Hinsicht ausgestaltet sein können, können es auch die Beziehungen zwischen ihnen sein. Um nur anzudeuten, wie unterschiedlich das politische Zentrum auch in Bezug auf seine interorganisatorische Struktur juristisch-institutionell ausgestaltet sein kann, sollen hier einige der geläufigsten demokratischen Modelle des politischen Zentrums, die verkürzend gerne für das ganze „Regierungs-“ oder „politische Systeme“ genommen werden (tatsächlich beziehen sich diese Modelle i. d. R. jedoch nur aufs politische Zen25 Der insb. rechtsdogmatisch geprägte, organisatorische Begriff der „Regierung“ unterscheidet sich vom in der Rechtsphilosophie, v. a. in der politischen Philosophie verwendeten Regierungsbegriff, wonach das Regieren als Selbstregierung der demokratischen Gemeinschaft durch sämtliche am politischen Prozess Beteiligten zu verstehen ist. Dieser allgemeine Regierungsbegriff bleibt natürlich bestehen. Das durch die Verfassungsdogmatik (und vermutlich auch durch vormoderne Rechtsvorstellungen) auch in die Verfassungstheorie eingebrachten Regierungsverständnis bezieht sich aber zudem auf ein von der Verwaltung mehr oder weniger unterscheidbares, aber ebenso exekutiv tätiges Staatsorgan. Die Exekutive liegt demnach in der gemeinsamen Hand von Regierung und Verwaltung. Die spezifische Funktionsdifferenz zur Verwaltung besteht darin, dass die Regierung in ihrer Umsetzungs- und Ausführungsarbeit vermehrt leitende und planende Tätigkeiten übernimmt.
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trum), immerhin kurz erläutert werden.26 Die kurze Darstellung soll dabei auch dazu dienen, die soziologische Methodenlogik, wie sie hier in der Verfassungstheorie gebraucht wird, exemplarisch vorzuführen. Im „parlamentarischen System“ (z. B. in der Bundesrepublik oder in Großbritannien) ist die funktionale und die personelle Trennung zwischen Parlament und Verwaltung relativ schwach ausgeprägt. In diesem System ist das Parlament für die Wahl der Verwaltung zuständig, was zur Folge hat, dass die Verwaltung in aller Regel von der Mehrheit des Parlaments getragen wird. Die Regierung bildet sich dabei gewöhnlich aus einem Teil des Parlaments, d. h., dass die Mitglieder der Regierung zugleich Mitglieder des Parlaments sind. So ist auch die Regierungschefin oder der Regierungschef Mitglied des Parlaments, nicht jedoch zugleich Staatsoberhaupt27. Sodann verfügt die Regierung über das Recht, Gesetzesinitiativen ins Parlament einzubringen. Allerdings besitzt sie kein Recht, ein Veto gegen parlamentarische Erlasse einzulegen. Die gleichwohl starke Verknüpfung zwischen Regierung und Parlament hat zur Folge, dass das gewaltenteilige Moment zwischen der ersten und zweiten Gewalt ein Stück weit verlorengeht. Als Kontrollorgan der Regierung ist im parlamentarischen System daher weniger das Parlament als ganzes, sondern eher dessen oppositioneller Teil zu sehen. Dennoch kann es passieren, dass die Regierung innerhalb einer Legislaturperiode das Vertrauen der parlamentarischen Mehrheit verliert. Für diesen Fall besteht für das Parlament die Möglichkeit, die Regierung abzusetzen und sie durch eine neue zu ersetzen. Im Gegenzug kann die Regierung unter bestimmten Voraussetzungen, z. B. wenn ein parlamentarischer Misstrauensantrag gescheitert ist, auch das Parlament auflösen und seine Neuwahl ansetzen. Im „präsidentiellen System“ (z. B. in den USA) sind die erste und die zweite Gewalt strenger voneinander getrennt. Parlament und Regierung sind personell und auch weitgehend in funktioneller Hinsicht voneinander unabhängig und werden unabhängig voneinander gewählt. Dadurch ist dem Parlament als Gesamtorgan die Hauptkontrolle der Regierung aufgetragen. Diese Kontrolle beschränkt sich jedoch weitgehend auf die politisch-organisatorische Eigenständigkeit des Parlaments im legislativen Verfahren. Die Regierung, als deren Spitze eine Präsidentin oder ein Präsident, kann vom Parlament nur wegen strafrechtlichen Fehlverhaltens, nicht aber aus politischen Gründen abgesetzt werden. Diese starke Stellung der präsidentiellen Regierung ergibt sich aus der Tatsache, dass sie ihre Einsetzung einer Volkswahl verdankt, an der das Parlament nicht beteiligt ist. Die Präsidentin Zum Folgenden Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 49 f. In der Ausprägung als Präsidentin oder Präsident oder als Monarchin oder Monarch kann das „Staatsoberhaupt“ als ein Relikt aus vormodernen Regierungssystemen betrachtet werden. In der Einbindung in moderne Demokratien erhält das Organ des Staatsoberhaupts jedoch einen durchaus nicht nur symbolisch-repräsentativen funktionalen Sinn. Je nach Regierungssystem können dem Staatsoberhaupt auch erhebliche legislative, exekutive oder judikative Funktionen zufallen. Für das Funktionieren des modernen demokratischen Prozesses ist das Organ des Staatsoberhaupts aber nicht zwingend. 26 27
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V. Verfassungstheorie: Demokratischer Rechtsstaat
oder der Präsident ist in der Eigenschaft als Chefin oder Chef der Regierung zugleich auch Staatsoberhaupt. Die starke Stellung der Regierung wird dadurch etwas abgeschwächt, dass sie anders als etwa im parlamentarischen System nicht dazu befugt ist, Legislativinitiativen in den parlamentarischen Prozess einzubringen. Handkehrum verfügt die Präsidentin oder der Präsident über die Macht, parlamentarische Erlasse mit einem Veto zu belegen. Um die Vetoblockade zu durchbrechen, muss das Parlament dann ein qualifiziertes Abstimmungsquorum erreichen. Das „semi-präsidentielle System“ (z. B. in Frankreich) bildet eine institutionelle Zwischenform. Als Staatsoberhaupt steht in diesem System wiederum eine Präsidentin oder ein Präsident, die oder der durch Volkswahl bestimmt wird. Das Staatsoberhaupt steht anders als im präsidentiellen System aber nicht zugleich an der Spitze der Regierung. Die Regierungschefin oder der Regierungschef wird allerdings vom Staatsoberhaupt ernannt. Während das Staatspräsidium aber auf eine feste Amtszeit ohne Absetzungsmöglichkeiten feststeht, steht die Regierungsspitze in der Abhängigkeit des Parlaments, das die Möglichkeit hat, sie ihres Amtes zu entheben. Die Regierungschefin oder der Regierungschef ist dagegen nicht allein in der Lage, das Parlament aufzulösen, sondern nur in Übereinstimmung mit dem Staatsoberhaupt. Im Rahmen der „Direktorialverfassung“ oder des „direktorialen Systems“ (in der Schweiz) entspricht die funktionelle und personelle Aufteilung der Gewalten weitgehend der des präsidentiellen Systems. Regierung und Parlament sind personell streng von einander getrennt. Gewählt wird die Regierung gleichwohl wie im parlamentarischen System durch das Parlament. Ebenso wie im parlamentarischen System verfügt die Regierung auch über ein legislatives Initiativrecht, nicht aber über ein Vetorecht gegen parlamentarische Erlasse. Anders als dort kann die Regierung in der Direktorialverfassung allerdings nicht abgesetzt werden. Im Gegenzug dazu fehlt der Regierung auch die Macht, das Parlament aufzulösen. Zusammen bilden sie über eine feste Amtsdauer hinweg eine prinzipiell unauflösliche Schicksalsgemeinschaft. 28 Die Regierung besteht in einem auf Kollegialität verpflichteten Direktorium, das in seiner Eigenschaft als Regierung stets gemeinsam auftritt. Das Amt des Staatsoberhaupts wird über ein Rotationsverfahren jährlich einem anderen Regierungsmitglied übertragen. b) Verfassung der peripheren Gewalten Der verfassungstheoretisch-soziologische Blick in die Institutionen des politischen Zentrums hat eine ganze Anzahl von intra- und interorganisatorischen Varianten vor Augen geführt, nach denen die verschiedenen Funktionen und Gewalten des demokratischen Prozesses beispielsweise verfasst sein können. Die Spielarten der institutionellen Funktionsweisen des politischen Zentrums dürfen jedoch nicht 28 Unter ganz bestimmten Umständen kann auch innerhalb einer Legislaturperiode eine Neuwahl des Parlaments gefordert sein. In diesem Fall würde auch die Regierung neu gewählt.
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losgelöst von den institutionell-rechtlichen Funktionsweisen der Bereiche betrachtet werden, die über das eng gefasste politische Zentrum hinausgehen. Das Konzept der Public Governance verweist darauf, dass die Idee der Verfassung nicht an den engen Grenzen des harten staatlichen Kerns des politischen Prozesses Halt machen kann. Wird der Blick vom politischen Zentrum nun auf das andere Ende des demokratischen Prozesses gelenkt, so zeigt sich allerdings, dass die zivilgesellschaftlichen Strukturen in modernen Demokratien durch juristische Institutionen gerade nicht direkt zu fassen ist. Zwar nutzen zivilgesellschaftlich Agierende und Handlungseinheiten für ihre Einflussnahme auf das politische Zentrum juristisch verfasste Institutionen im intermediären Bereich, und auch der implementierende Rückfluss der administrativen Macht in die Peripherie verläuft über juristisch institutionalisierte Wege, die Zivilgesellschaft als äußerster Bereich der demokratischen Peripherie selbst bleibt jedoch zumindest in ihren Funktionen als Empfängerin administrativer Macht und Sensorin für soziale Desintegrationen ein spontanes und unorganisiertes Gebilde. Die Peripherie als soziologische Konstruktion der Zivilgesellschaft bleibt in dieser Hinsicht unverfasst. Aus diesem Grund bleibt sie auch in einem soziologischen Sinn „frei“ von öffentlich auferlegten Institutionen. Gerade das versetzt sie in die Lage, auf soziale Konflikte und auf die Rückkopplungen vom politischen Zentrum integrationssensibel zu reagieren. Es wäre allerdings verfehlt zu glauben, die konstitutionelle „Freiheit“ der Zivilgesellschaft bezöge sich auch nur in soziologischer Hinsicht gänzlich auf eine unverfasste, „privat“ organisierte Peripherie. Das Nicht-Verfasstsein der Peripherie bezieht sich lediglich auf ihre Eigenschaft als Zivilgesellschaft, d. h. als responsive Keimzelle für die spontane Kreierung öffentlicher Meinung. Wird die Zivilgesellschaft analytisch in ihre einzelnen Mitglieder aufgespalten, so erscheinen auch sie als öffentlich handelnde Subjekte, die durch eine ganze Reihe von juristisch-institutionellen Einbindungen in ihrem Handeln zur öffentlichen Verantwortung gezogen werden, also nicht in dem Maße „frei“ sind, wie es für das soziologische Konstrukt der integrationssensiblen Zivilgesellschaft als Ganzes angenommen wird. Diese Gegensätzlichkeit, die sich auf der einen Seite für das sensibel reagierende Kollektiv als Ungebundenheit, auf der anderen Seite für die agierenden Individuen als Gebundenheit präsentiert, ist nicht zufällig. Die „demokratische politische Kultur“, die an den Rändern des politischen Prozesses die sensible Reaktivität der Zivilgesellschaft überhaupt erst möglich macht,29 kommt nämlich keineswegs aus dem Nichts. Zwar nährt sie sich, ohne dass dies in toto beeinflusst werden könnte, zunächst aus der zivilgesellschaftlichen Lebenswelt, aus den vertrauten in Familie, Freundschaft und Gemeinschaft geteilten Hintergrundüberzeugungen. Dieser nahe, seinerseits keineswegs gewaltlose Ort des Vertrauten kann aber nicht hinreichend Gewähr dafür bieten, dass die spontane Bildung zivilgesellschaftlicher Bewegun29 Hier wird Mastronardis Begriff der demokratischen politischen Kultur Habermas’ Begriff der liberalen politischen Kultur vorgezogen, weil er besser vor einer einseitigen liberalen Engführung schützt. Zur demokratischen politischen Kultur Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 270 – 278, Rn. 817 – 842.
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gen ungehindert zustande kommt. Die demokratische politische Kultur an den Rändern des politischen Prozesses verdankt sich zu einem Gutteil auch juristischen Institutionen wie z. B. „Grundrechten“ oder einer wirksam ausgebauten „Privat-“ und „Strafrechtsordnung“.30 Sobald es sodann darum geht, dass die zivilgesellschaftlichen Anliegen in Richtung des politischen Zentrums transportiert werden, verfestigt sich die flüssige öffentliche Meinung auf intermediären Wegen. Mit zunehmender Nähe zum politischen Zentrum wird der Griff der juristisch-institutionellen Verfassung dann stetig fester. Anders als die periphere Zivilgesellschaft sind die intermediären Strukturen und Prozesse in jeder Hinsicht und von Anfang an, jedenfalls in zunehmendem Maße in Gesetzesform verfasst. Die Bildung der anfänglich noch diversifizierten öffentlichen Meinung in Vereinen, Verbänden, Interessengruppen, Parteien usw. erfolgt in gesetzlich geregelten Kanälen. Die relative Freiheit, auf die die Zivilgesellschaft für die Herausbildung ihrer öffentlichen Meinung zurückgreifen kann, bezahlt sie nämlich mit ihrer relativen Machtlosigkeit. Erst mit der Einleitung der Bewegung zum politischen Zentrum hin über intermediäre Strukturen und Prozesse gewinnen die zivilgesellschaftlichen Anliegen politische Schwungkraft. Durch die juristische Verfassung des intermediären Bereichs wird diese Schwungkraft, die sich in sozialer Macht äußert, dann gebremst, organisiert und für das Auftreffen auf das politische Zentrum normativ vorstrukturiert. Das bedeutet, dass der sich verstärkende Einfluss in die Richtung des Zentrums mit zunehmenden juristisch-rechtlichen Regulierungen überzogen wird. So erklärt sich etwa, dass die juristische Regulierung von Vereinen, die an den politisch noch harmlosen Rändern der zivilgesellschaftlichen Peripherie agieren, weniger stark sein können als beispielsweise die Regulierungen der politisch einflussreicheren politischen Parteien. So sind Parteien in einzelnen Rechtsordnungen etwa in ihrer Organisationsform, Registrierung, Finanzierung und Einflussnahme auf den zentralen politischen Prozess besonderen Regeln unterworfen. Eine besondere Rolle im intermediären Bereich spielen zudem die Medien, insbesondere die Massenmedien.31 In modernen Gesellschaften müssen die Kommunikationsflüsse medial vernetzt sein, damit lokal übergreifende Kommunikationen gelingen können. Dies gilt bereits für die Entstehung von öffentlicher Meinung in der äußersten zivilgesellschaftlichen Peripherie. Über sich überschneidende Familien-, Freundschafts- und Gemeinschaftskreise können gesellschaftliche Probleme zwar durchaus rasch einen weiten Verbreitungsgrad erreichen, doch hat die Breitenwirkung von Massenmedien wie Presse, Radio, Fernsehen und Internet ungleich größere Ausmaße und ist zudem aufgrund der mehrfach multiplizierten medialen 30 Rolf Rauschenbach argumentiert außerdem dafür, dass die liberale (demokratische) politische Kultur auf postkonventionellem Moralniveau durch direktdemokratische Lernmuster gefördert werden kann: Rauschenbach, Mit direktdemokratischen Verfahren (im Ersch.). 31 Vgl. dazu etwa mit besonderem Blick auf die „seriöse Presse“ neuerlich Habermas, Medien, Märkte und Konsumenten (2008), Zitat im Untertitel.
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Vernetzung sowie der auf die Informationsvermittlung spezialisierten Medienprofession von rasanter Geschwindigkeit. Dabei fließen die Medienströme nicht nur flächendeckend und unverzögert von der Sendungsseite an die Empfangenden, die professionellen Massenmedien sind auch in der Lage, auf ihrer Aufnahmeseite jederzeit und flächendeckend Informationen zu rezipieren. Diese symmetrische Medienstruktur stellt sich als ein potentes Netz dar, durch das prinzipiell jede Kommunikation mit jeder verknüpft werden kann. Die totale mediale Vernetzung entspricht jedoch nicht der Wirklichkeit. Sowohl die beschränkte Aufnahmekapazität der sich Informierenden als auch ihr beschränktes Interesse an umfassender Information veranlasst die Medien zur Selektion. Die mediale Selektion ist damit die Kehrseite der potenziell totalen medialen Vernetzung. Dadurch behalten die Medien ihre soziologische Rolle als Vermittler (und lösen sich nicht etwa als invisible Kommunikationskonnektoren im Nichts auf). Aufgrund dieser „medialen Macht“ wird von den Medien z. T. auch als der „vierten Gewalt“ gesprochen. Deshalb werden in Demokratien auch die Medien als einflussreiche Verarbeiter entscheidungswirksamer Informationen juristisch-institutionellen Regeln unterworfen. Die juristische „Medienverfassung“32 strukturiert die mediale Macht mit Gesetzesverbindlichkeit insbesondere so, dass die Medienströme einerseits zwischen den zivilgesellschaftlichen und intermediären Einheiten für die Generierung und andererseits zwischen Zentrum und Peripherie für den Transport und die Respondierung der öffentlichen Meinung mit hinreichender Informativität fließen können. c) Peripher-zentrale Kopplungen Das verfasste politische Zentrum, die zivilgesellschaftliche äußerste Peripherie und die intermediären Gewalten stehen in Demokratien nun nicht getrennt nebeneinander. Sie sind aber auch nicht naturwüchsig miteinander verschlungen. Die „peripher-zentralen Kopplungen“, die von der Peripherie zum Zentrum wie umgekehrt den politischen Machtkreislauf ermöglichen, sind ihrerseits juristisch-institutionell verfasst. Sowohl in der Bewegung von der Peripherie zum politischen Zentrum als auch in der Bewegung vom Zentrum zur Peripherie zeichnen sich Demokratien dadurch aus, dass die beidseitigen Machtflüsse ausgeglichen sind. D. h. insbesondere, dass der Wechsel von den Aktionseinheiten der Peripherie zu den staatlichen Gewalten der zentralen Politik nicht mit einem substanziellen Machtverlust der peripheren Kräfte einhergeht. Um dies zu gewährleisten, stehen juristische Institutionen zur Verfügung, die die Machtflüsse zwischen Zentrum und Peripherie nicht nur über den Gesamtkreislauf hinweg zulassen, sondern auch an den Nahtstellen von Zentrum und Peripherie auch direkte Rückkopplungsprozesse ermöglichen. M. a. W. wird die Machtübergabe an das politische Zentrum und die Implementierung administrativer Macht durch das politische Zentrum von gesetz32
Vgl. hierzu Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 277 f., Kasten.
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lich verbindlichen Institutionen begleitet, die einen ausgeglichenen Machtfluss etwa durch Rückbindungen in Form von Abwahlrechten, Verantwortlichkeitsregeln oder Referenden sicherstellen. Je nach Einrichtung des politischen Prozesses als ganzer können die institutionellen Kopplungen zwischen Peripherie und Zentrum wieder variieren. Als eine juristisch institutionalisierte Kopplung zwischen Zentrum und Peripherie kann z. B. die Konstituierung des Zentrums durch geregelte „Wahlen“ durch die Peripherie betrachtet werden. Die Kopplung wird zudem dadurch zur Rückkopplung, dass die politischen Wahlen periodisch wiederholt werden. Das politische Zentrum ist so nicht nur prinzipiell, sondern auch auf Dauer von den Wahlentscheidungen der Peripherie abhängig. Damit die Wählerinnen und Wähler, die ja nicht unmittelbar am zentralen Prozess des demokratischen Verfahrens teilhaben, sich ein Bild von der bisherigen Arbeitsweise und den Leistungen des Zentrums machen können, sorgen „Publizitätspflichten“ und „Informationsrechte“ für die Möglichkeit eines Einblicks in die zentralen Abläufe. Je nachdem, ob eine demokratische Ordnung streng als repräsentative Demokratie eingerichtet ist oder als Referendumsdemokratie mit direktdemokratischen Elementen operiert, kann es sogar sein, dass die Wahl des Zentrums durch ein „Abberufungsrecht“ doppelt an die politische Peripherie gekoppelt ist. In den meisten Demokratien sind Abberufungsrechte, wenn überhaupt vorhanden, allerdings in die innere Gewaltenteilung zwischen den drei zentralen Staatsgewalten eingebaut. Von den Wahlen und allfälligen Abberufungsrechten abgesehen, ist die Peripherie bei der Konstituierung des politischen Zentrums daran höchstens indirekt juristisch-institutionell angeschlossen, etwa über den Druck einer öffentlichen Meinung, der zu vorzeitigen Rücktritten im Zentrum führen kann. So werden die juristischen Verantwortlichkeitspflichten von Mitgliedern des Zentrums zwar möglicherweise über öffentlichen Druck aktualisiert, jedoch innerhalb der zentralen Institutionen erledigt. Neben der meistens nur periodischen, nämlich bei Wahlen, aktuellen Kopplung des Zentrums an die Peripherie in Bezug auf seine Konstituierung stehen auch während des normalen Geschäfts des Zentrums (mit Blick aufs Parlament: Legislaturperiode) gesetzlich eingerichtete Kopplungen zwischen Peripherie und Zentrum zur Verfügung. Neben schwächeren Einrichtungen wie „Petitionen“ und anderen weniger wirkungsmächtigen Mitwirkungsrechten ist die Peripherie stets indirekt über die intermediären Gewalten an das Zentrum angeschlossen. In repräsentativen Demokratien sind es in erster Linie die „Parteien“, die das peripher-zentrale Scharnier darstellen. Parteipolitische Bewegungen können entweder in die Parteien selbst oder über andere intermediäre Gewalten, wie den entsprechenden Parteien nahestehende Interessengruppen, initiiert werden. Diesem Umstand wird dann auch juristisch-institutionell dadurch Rechnung getragen, dass die Parteien nicht nur als intermediäre Strukturen, sondern auch als Teil des zentralen politischen Prozesses, etwa über die Fraktionenbildung, in die parlamentarische Geschäftsordnung eingebunden werden. Zudem kann die parteipolitische Einflussnahme auf das politische Zentrum seitens der Peripherie durch spezielle juristische Institutionen
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wie „Vernehmlassungen“33 oder andere dem legislativen Prozess vor- oder eingelagerte Prozesse ergänzt sein. Eine Besonderheit in Referendumsdemokratien oder halbdirekten Demokratien stellen zusätzliche, der direkten Demokratie entlehnte „Volksrechte“ dar, die als zusätzliche Kopplungsinstitutionen zwischen Peripherie und Zentrum betrachtet werden können. Das „Referendum“ etwa ist dort nicht i. S. einer Volksbefragung, sondern als eine Art Veto gegen parlamentarische Erlasse durchs Volk zu verstehen.34 Sofern bestimmte, meist anspruchsvolle Voraussetzungen erfüllt sind, sind parlamentarische Erlasse dann dem Volk zur Abstimmung zu unterbreiten. Zudem kann mithilfe von „Volksinitiativen“ ein Erlass oder ein Erlassentwurf unter bestimmten Bedingungen auch direkt aus dem Volk in den Gesetz- oder Verfassungsgebungsprozess eingebracht und wieder dem Volk vorgelegt werden müssen. Diese direktdemokratischen Elemente verschieben die primär auf personelle Fragen ausgerichteten Mitwirkungsrechte in repräsentativen Demokratien in Richtung von Mitwirkungsrechten in Sachfragen. Die institutionelle Grundstruktur bleibt dabei die einer repräsentativen Demokratie. Die zusätzlichen juristischen Kopplungen, die durch solche Volksrechte zwischen Zentrum und Peripherie entstehen, verstärken allerdings den Rechtfertigungsdruck auf das repräsentative Zentrum und zwingen es zu antizipierender Selbstdisziplinierung. Die Gewaltenteilung, die ansonsten hauptsächlich zwischen den Institutionen des politischen Zentrums spielt, wird so ein Stück weit mit der Peripherie verflochten.35 Von solchen Volksrechten abzugrenzen sind unverbindliche, vom Zentrum organisierte „Volksbefragungen“. Diese dienen i. d. R. nur der Bestätigung des zentralen politischen Kurses und stellen nur schwache juristische Kopplungsmechanismen zwischen Peripherie und Zentrum dar.36 Die bisher genannten peripher-zentralen Kopplungen betreffen die personelle Konstituierung des Zentrums und die Eingangsseite zum Zentrum des politischen Prozesses. Nun ist das Zentrum aber auch dort institutionell an die Peripherie gekoppelt, wo die kommunikative Macht als administrative Macht wieder in den peripheren Bereich abfließt. An dieser Stelle können wiederum intermediäre Organisationen, Verbände und Gruppen an den Verwaltungsapparat anschließen und für eine verästelte Implementierung der im Zentrum präparierten Steuerungselemente sorgen. Zudem steht die Verwaltung über zahlreiche Ämter, Stellen und Behörden in einem direkten Kontakt zur zivilgesellschaftlichen Peripherie. Juristisch verfasst sind diese direkten oder indirekten Kopplungen durch das öffentliche Verwaltungsrecht. Das „Verwaltungsverfahren“ strukturiert den Machtlauf vom Zentrum zur Etwa in der Schweiz Art. 147 BV. Etwa in der Schweiz Art. 140 / 141 BV. 35 Nicht zufällig geht die Referendumsdemokratie der Schweiz auch einher mit einer vergleichsweise largen Gewaltenteilung der Direktorialverfassung; vgl. das entsprechende Regierungsmodell in V. 2. a). 36 Vgl. Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 48, Rn. 161. 33 34
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Peripherie durch rechtliche Regeln, die im Falle qualifizierter Streitigkeit auch gerichtlich eingeklagt und verbindlich durchgesetzt werden können (das Verwaltungsverfahren wechselt dann zum Verwaltungsgerichtsverfahren). Juristisch-institutionelle Kontermechanismen zur Einleitung hoheitlicher administrativer Macht in die Peripherie können z. B. in der internen Struktur des Verwaltungsverfahrens, das meist hierarchisch organisiert ist, sowie in persönlichen Verantwortungsregeln für Verwaltungsmitglieder gesehen werden. Solche Sicherungselemente bleiben jedoch insgesamt zu einseitig, weil die Kontrollmechanismen nur in die (administrative) Horizontale, nicht aber vertikal zwischen Verwaltung und Bürgerschaft gestreut werden. Als stärkstes institutionelles Gegenstück zur administrativen Machtimplementierung an der Schnittstelle von Zentrum und Peripherie kann daher die „Verwaltungsrechtspflege“ (das „Verwaltungsgerichtsverfahren“) gedeutet werden. Die Verwaltungsrechtspflege erfüllt an der Ausgangsseite des politischen Zentrums in etwa die Funktion, die die Wahlen und gegebenenfalls auch die Volksrechte bei der Konstituierung und an der Eingangsseite des Zentrums erfüllen.
3. Demokratischer Rechtsstaat Die verfassungstheoretischen Einführungen haben gezeigt, dass es den öffentlichen Raum mit Rechtsmacht zu verfassen gilt. Machtausübung über andere, die die kritischen Grenzen des privaten Bereichs überschreitet, muss, wenn sie sich nicht selber binden will, durch gerechtfertigte juristische Institutionen gebunden werden können. So wird die Legitimation des demokratischen Rechts in der Verfassungstheorie in das eiserne Gewand der Gesetzesform gekleidet. Der mit höchster Rechtsmacht ausgestattete Staat bildet dafür die wirkungsvollste Einrichtung. Der Staat ist der demokratischen Gemeinschaft sich selbst regierender Bürgerinnen und Bürger jedoch weder isoliert gegenüberzustellen, noch ist er als der einzige institutionelle Hebel für die Verwirklichung von Recht zu betrachten. Er ist eine (wichtige) Größe im Netzwerk der Public Governance, der insgesamt die Verfassung des öffentlichen Raums obliegt. Die soziologische Analyse hat dann gezeigt, welche funktiologische Gestalt die juristisch-institutionelle Steuerung des öffentlichen Raums in modernen Demokratien näherhin annehmen kann, wobei insbesondere die Ausweitung des Blicks auf die politische Peripherie ein verästeltes Institutionengeflecht erkennbar werden lassen hat. Mit dem konzeptuellen Einstieg und der angedeuteten soziologischen Konkretisierung des Wirklichkeitsgehaltes der juristisch-ethischen Institutionen sollte der Boden für eine legitimatorische verfassungstheoretische Konzeption nun hinreichend aufbereitet sein, die hier unter dem Titel des demokratischen Rechtsstaats ausgearbeitet werden wird. Im Verhältnis zur Soziologie gilt es dabei, wieder den legitimatorischen Anspruch in den Vordergrund zu stellen und Argumente für eine legitime juristisch-ethische Strukturierung des Rechtfertigungsprozesses im öffentlichen Raum zu finden. Als transdisziplinäres Referenzfeld kann dazu jetzt die politische Philosophie dienen, in der zuvor bereits die Kon-
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zeption der deliberativen Demokratie herausgearbeitet worden ist. Die perspektivischen Wechsel von der soziologischen zur legitimatorischen Sichtweise einerseits und von der politischen-philosophischen deliberativen Demokratie zum demokratischen Rechtsstaat andererseits sollen wieder klar nachvollzogen werden können. Dafür soll zunächst das Verhältnis zwischen Funktionieren und Legitimieren, wie es in der Verfassungstheorie von Relevanz ist, noch besser geklärt werden, bevor dann der Perspektivenwechsel von der politischen Philosophie zur Verfassungstheorie sorgfältig vorgenommen werden wird. Ziel der legitimatorischen Konzeption des demokratischen Rechtsstaats soll es dann wieder sein, ein Set von Prinzipien bereitzustellen, auf dessen Grundlage real implementierte Institutionen des demokratischen Prozesses auf ihre juristisch-ethische Legitimität hin überprüft werden können.
a) Funktionieren und Legitimieren in der Verfassungstheorie Ebenso wie die Erarbeitung des demokratischen Rechtsstaats eine Übersetzungsleistung von der politischen Philosophie zur Verfassungstheorie erforderlich macht, bleibt es ihr auch in disziplinärer Hinsicht nicht erspart, erneut einen Perspektivenwechsel vorzunehmen. „In disziplinärer Hinsicht“ meint dabei das interne (interdisziplinäre) Verhältnis von soziologischer Analyse und legitimatorischer Konzeptionalisierung, mit der jede legitimatorische Konzeption bereits innerhalb ihres disziplinären Feldes zurechtkommen muss. Wie schon im Bereich der politischen Philosophie, wo es galt, den soziologischen Aspekt sozialer Integration für den Aspekt demokratischer Legitimation übersetzbar zu machen, ohne dabei kurzschlüssig zu verfahren, muss es auch im Bereich der Verfassungstheorie gelingen, die immerhin angedeuteten soziologischen Funktionsanalysen demokratischer Verfassung im richtigen Verhältnis in die legitimatorische Sichtweise zu integrieren. Die Legitimationskonzeption muss es dabei fertig bringen, an den funktiologischen Wirklichkeitsgehalt juristischer Rechtsinstitutionen anzuschließen, ohne dem Fehler zu erliegen, Faktisches einfach für normativ zu erklären. Die verfassungstheoretisch-soziologische Perspektive hat dazu dienen sollen, dass sich die normativen Vorgaben, die zu entwickeln sind, nicht im realitätsfernen Idealraum verlieren, sondern mit den tatsächlichen Funktionsbedingungen kommunizieren können. Der legitimatorische Gehalt darf allerdings nicht diesen funktiologischen Verhältnissen selbst entnommen werden, sondern muss sich aus legitimatorischen Argumentationen speisen, die die Funktionsbedingungen der Wirklichkeit mit in den Blick nehmen. Dem Gang der Untersuchung entsprechend werden sich die legitimatorischen Elemente der Verfassungstheorie insbesondere an die Konzeption der deliberativen Demokratie anschließen müssen, wobei dies hier nur beispielsweise für eine Theorie vorgeführt wird, die mit allen beteiligten Disziplinenfelder einen überzeugenden Gesamtzusammenhang ergeben muss. Der Wechsel von der soziologischen zur legitimatorischen Perspektive muss die soziologische Erklärungslogik juristisch-institutioneller Verfassungsinstitutionen in
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eine juristisch-ethische Rechtfertigungslogik transferieren. Der verfassungstheoretische soziologische Erklärungsanspruch besitzt dabei einen spezifischen disziplinären Charakter, der sich vom soziologischen Anspruch in der politischen Philosophie unterscheidet, auch wenn er sich wie dort auf demselben thematischen Niveau bewegt, dem der demokratischen Konstitution. In der politischen Philosophie hat sich die soziologische Erklärung v. a. an der Idee der gesellschaftlichen Integration abgearbeitet, dem in der legitimatorischen Wendung der deliberativen Demokratie dann der Orientierungsbegriff der Legitimation zur Seite gestellt worden ist. Was vor dem Horizont sozialer Integration erklärt werden konnte, wurde mit dem Ziel der Legitimation normiert. Die (kleinen) soziologischen Analysen in der Verfassungstheorie lassen freilich nicht die gleiche Erklärungstiefe erkennen wie die in der politischen Philosophie. Das liegt daran, dass sich politische Philosophie und Verfassungstheorie zwar auf denselben Themenbereich beziehen, nicht jedoch auf dasselbe methodische Niveau. Der Unterschied in der Erklärungstiefe erklärt sich daher nicht über einen differenten Themenbezug, beide (kleinen) Soziologien erläutern die Funktionsweise demokratischer Politik. In ihrer thematischen Bezugnahme arbeiten sie jedoch mit einem unterschiedlichen Fokus und setzen dabei z. T. auch unterschiedliche Schwerpunkte. Während die (politisch-)philosophische Soziologie so tendenziell die Tiefenstrukturen moderner Demokratien ins Auge fasst, beleuchten die (verfassungs-)theoretischen Analysen eher das Zusammenspiel juristisch-institutioneller Oberflächenphänomene. Zumal sich beide Analysen auf den gleichen Themenbereich beziehen und die hier angestrebte Gesamtkonzeption auch in soziologischer Hinsicht einen zusammenhängenden Kontext ergeben soll, sind auch die beiden Soziologien im Zusammenhang zu betrachten. So ließen sich die juristisch-institutionellen Oberflächenphänomene, wie etwa die möglichen Organisierungsmuster von Legislation, Exekution und Judikation sowie die peripheren Institutionenstrukturen und die peripher-zentralen Kopplungen durch die Mechanismen demokratisch-politischer Integration zu einem philosophisch-soziologischen und theoretisch-soziologischen Gesamtbild zusammenfügen. Aus dieser Sicht wird sich auch in der Verfassungstheorie der Wechsel von der soziologischen zur legitimatorischen Konstruktion prinzipiell von der Integrationsproblematik zur Legitimationsfrage vollziehen. Allerdings liegt der Schwerpunkt in der Verfassungstheorie weniger tief. In rechtstheoretischer Perspektive steht die Erläuterung und Rechtfertigung juristisch-institutioneller Verfassung zur Debatte, die Frage also, wie die Strukturen und Prozesse, die durch juristisch-ethische Institutionen in Demokratien diszipliniert werden, einerseits im Funktionszusammenhang zusammenspielen und andererseits legitimiert werden können. Das verfassungstheoretische Innenverhältnis zwischen Soziologie und legitimatorischer Konzeption betrifft die Frage des „Seins“ und des „Sollens“, besser: des Funktionierens und des Legitimierens juristischer Institutionen in modernen Demokratien. Mit den soziologischen Analysen in der politischen Philosophie haben die soziologischen Analysen in der Verfassungstheorie gemeinsam, dass sie, eben mit be-
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sonderem Fokus auf die juristisch verfassten Institutionen, zeigen, wie die demokratische Selbstorganisation der von einer politischen Ordnungsmacht Betroffenen in Zentrum und Peripherie funktioniert. So haben die peripher-zentralen Kopplungsinstitutionen etwa gezeigt, wie die Zivilbürgerschaft über rechtswirksame Wege sowohl Einfluss auf die entscheidungskräftigen Prozesse des politischen Zentrums nehmen kann, als auch, wie diese Prozesse juristisch-institutionell auf sie einwirken. Die Verfassungsanalyse der Peripherie hat ein Bild davon vermittelt, wie der Generierungsprozess der öffentlichen Meinung juristisch-institutionell verfasst wird, wenn er bis in die entscheidungswirksamen Prozesse des Zentrums Einfluss nehmen soll. Die Analysen der Verfassungsstrukturen des Zentrums haben schließlich unterschiedliche Möglichkeiten aufgezeigt, wie die zentralen politischen Normierungsprozesse in Demokratien zusammenspielen können. Insbesondere an diese soziologisch ausbuchstabierten Prozesse der Generierung und Implementierung machtgestützten Gesetzesrechts muss die legitimatorische Konzeption des demokratischen Rechtsstaats letztlich anknüpfen können.
b) Demokratische Deliberation und juristische Institutionen Dem Gang dieser Untersuchung entsprechend, ist die verfassungstheoretische Konzeption, die hier in legitimatorischer Absicht zu entwickeln ist, mit der politisch-philosophischen Konzeption der deliberativen Demokratie zu verknüpfen. Nun ist die verfassungstheoretische Frage, wie das Öffentliche in legitimer Weise durch geeignete juristische Institutionen zu verfassen ist, und die Frage der politischen Philosophie, wie demokratische Prozesse philosophisch legitimiert werden kann, nicht deckungsgleich. Der unterschiedliche Anspruch von politischer Philosophie und Verfassungstheorie richten sich gleichwohl auf ein gemeinsames Ziel: die Legitimation einer (beliebigen) modernen demokratischen Konstitution. Beide Disziplinen zielen darauf ab, den öffentlichen Raum mit geeigneten Institutionen als eine legitime demokratische Ordnung zu strukturieren. Politische Philosophie und Verfassungstheorie ergänzen sich darin. Während die politische Philosophie darum bemüht ist, die Legitimationsbedingungen des demokratischen Prozesses philosophisch-ethisch abstrakt, sozusagen also überhaupt zu analysieren, bietet die Verfassungstheorie mit der juristisch-ethischen Institutionalisierung und dem Konzept der Public Governance zusätzlich eine Form an, durch die die legitimatorische Struktur eine zugleich greifbarere und wirksamere Ausprägung erhält. Das interdisziplinäre Ergänzungsverhältnis von politischer Philosophie und Verfassungstheorie besteht aus der Sicht der politischen Philosophie darin, dass ihre ethischen Institutionen (etwa in Gestalt der Prinzipien der deliberativen Demokratie) durch die Verfassungstheorie eine juristisch-ethische Gestalt bekommen. Aus der Sicht der Verfassungstheorie liefert die politische Philosophie mit der deliberativen Demokratie den formalen Gefäßen der (freilich immer noch recht allgemein gefassten) juristischen Institutionen der Public Governance eine methodisch abstraktere ethische Konzeption.
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Vereinfacht ausgedrückt, stellt die Verfassungstheorie ein juristisch geformtes Gefäß bereit, das die politische Philosophie mit den allgemeinen ethischen Strukturen legitimer demokratischer Politik füllt. Oder, umgekehrt erklärt, stellt die politische Philosophie eine allgemeine ethische Konzeption demokratischer Politik zur Verfügung, und die Verfassungstheorie überzieht sie mit einer formalen Hülle, die sie für die Implementierung durch griffige, durchsetzbare Institutionen des Rechts benötigt. Politische Philosophie und Verfassungstheorie bewegen sich in thematischer Hinsicht auf gleichem Niveau. Eine verfassungstheoretische Konzeption demokratischer Politik ist dann als eine in juristische Institutionen gekleidete Konzeption demokratischer Politik zu betrachten bzw. ist eine politisch-philosophische Konzeption demokratischer Politik als eine (sozusagen nackte oder eben) abstrakte legitimatorische Konzeptionalisierung demokratischer Verfassung zu verstehen. Mit dieser Entsprechung in thematischer Hinsicht verbindet sich auch ein gleichgelagerter Anspruch. Der Anspruch einer legitimatorischen Verfassungskonzeption rückt von dem der politischen Philosophie prinzipiell nicht ab, geht aber auch nicht darüber hinaus. Die normative Konzeption des demokratischen Rechtsstaats, zu der sich die verfassungstheoretischen Überlegungen an dieser Stelle verdichten, erhebt – ebenso wie die Konzeption der deliberativen Demokratie – einen kulturellen Anspruch. Die Konzeption mit ihren noch zu entwickelnden Prinzipien soll für all jene juristisch-institutionellen Verfassungsstrukturen Gültigkeit haben, die eine konstitutionelle Ordnung legitimer demokratischer Politik implementieren wollen. Die Ähnlichkeit, die die deliberative Demokratie und die noch zu entwickelnde Verfassungskonzeption in thematischer Hinsicht aufweisen, soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass zwischen den beiden Konzeptionen und deren angestammten Disziplinen in interdisziplinärer Perspektive insgesamt nicht unerhebliche Unterschiede bestehen. Mit der juristisch-institutionellen Ausgestaltung der politischen Konzeption der deliberativen Demokratie findet in der Verfassungstheorie ein Anschluss an die Sprache der Rechtswissenschaft statt. So wie der Übergang von der Moralphilosophie zur politischen Philosophie, von der Justifikation zur Konstitution, (in thematischer Hinsicht) behutsam vorgenommen werden musste, ist daher auch beim (methodischen) Anschluss an die Disziplin der Rechtswissenschaft, insbesondere weil dadurch sogar ein Wechsel der Oberdisziplinen (von der Ethik zur Jurisprudenz) vollzogen wird, darauf zu achten, dass die Eigenheiten dieses Bereichs nicht unbesehen von der Ausgangsdisziplin eingeebnet werden. Im Bereich der Verfassungstheorie ist der Übergang zur Rechtswissenschaft allerdings nur teilweise vollzogen. Aufgrund ihres Angewiesenseins auf die Ethik nimmt die rechtstheoretische Verfassungstheorie eine Hybridstellung zwischen Rechtswissenschaft und Ethik ein. Eine verfassungstheoretische Konzeption kann gleichermaßen als Abstraktion rechtsdogmatischer Konstruktionen wie als Konkretisierung einer politisch-ethischen Konzeption verstanden werden. Deshalb muss eine normative Verfassungskonzeption für beide Disziplinen anschlussfähig bleiben und mit beiden Disziplinen kommunizieren können.
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In der politischen Ethik wie im Bereich der Ethik insgesamt sind bisher Freiheit und Verantwortung als legitimatorische Leitideen verwendet worden.37 Unter der Idee der „Freiheit“ sind dort all die Prinzipien zusammenfasst worden, die auf den Gedanken der ungehinderten, aber auch positiv akzentuierten Partizipation am moralischen bzw. politischen Diskurs zurückzuführen sind. Bei allen unterschiedlichen Aspekten, die die Prinzipien im Einzelnen aufweisen, dominiert die Auffassung, dass legitime moralische bzw. politische Entscheidungen in bestimmter Weise eine selbstverantwortliche und offene Teilnahme am Diskurs oder an der Deliberation anstreben, sei es – in struktureller Hinsicht – in Bezug auf die freiheitliche Zustimmung im Normierungsprozess, sei es – in materieller Hinsicht – in Bezug auf die Offenheit moralischer oder politischer Probleme und Regelungen oder sei es – in formeller Hinsicht – durch symmetrische Beteiligungsrechte. Unter dem Begriff der „Verantwortung“ haben sich dagegen diejenigen Prinzipien gefunden, mit denen die jeweiligen Freiheiten bedingungsweise verbunden sein müssen, damit eine legitime Gesamtstruktur des Normerzeugungsverfahrens entsteht. Darunter fallen in der Moralphilosophie das Gegenseitigkeitsprinzip, das Prinzip der Diskurs-Gebundenheit und das Begründungsprinzip bzw. in der politischen Philosophie das Prinzip der Gleichberechtigung, das Prinzip der Gebundenheit der Deliberation sowie das Prinzip der Checks. Im Bereich der Verfassungstheorie erhalten die Leitideen der Freiheit und der Verantwortung nun die Gestalt der Leitideen der Demokratie und des Rechtsstaats. Demokratie und Rechtsstaat sind somit als juristisch-ethische Konkretisierungen der philosophischen Ethik zu verstehen. Als Leitvorstellungen eines mittleren Bereichs im Übergang zwischen Rechtswissenschaft und Ethik gewährleisten sie einerseits einen Anschluss an das positive Recht und an handfeste juristische Institutionen. Andererseits bleiben Demokratie und Rechtsstaat auch für die ethischen Ideen von Freiheit und Verantwortung anschlussfähig, denen sie in methodischer Hinsicht eine konkretere Gestalt anzunehmen erlauben. „Demokratie“ als verfassungstheoretische Leitidee soll die juristisch-ethischen Institutionen auf den Begriff bringen, die für den freiheitlichen Aspekt einer demokratisch verfassten Prozessstruktur stehen. Darunter sind prinzipiell die Regeln zu verstehen, die in der Moralphilosophie und der politischen Philosophie (später auch in der Urteilsphilosophie) unter dem Begriff der Freiheit rangieren. Die Leitidee der Demokratie bringt dann etwa – in struktureller Hinsicht – zum Ausdruck, dass sich die normative Struktur der politischen Ordnung durch die Zustimmung ihrer Mitglieder bzw. durch die Zustimmung der von der politischen Herrschaft Unterworfenen legitimiert. Demokratie bedeutet die Selbstherrschaft einer politischen Gemeinschaft, die sich im Idealbild in der „Identität von Regierenden und Regierten“38 spiegelt. Das Volk gibt sich nach demokratischem Vorbild seine Gesetze selbst, und hoheitliche Entscheidungen sind nur in dem Maße legitim, wie sie 37 38
II. 2. b), (3). und IV. 3. c). Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 47, Rn. 157.
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auf die Zustimmung durch das Volk zurückzuführen sind. Der prozedurale diskurstheoretische Zug der demokratischen Leitidee kann ferner darin gesehen werden, dass die Verfassung politischer Herrschaft nicht etwa über vorgegebene materielle Regeln, sondern über eine Strukturverfassung der Spielregeln demokratischer Meinungs- und Willensbildung erfolgt. Wie die Forderung nach Freiheit in der Moralphilosophie und in der politischen Philosophie fordert das Demokratiepostulat die legitime Verfassung des Öffentlichen allein durch eine Disziplinierung des Normgenerierungs- und Normimplementierungsprozesses ein. Die verfassungstheoretische Verfassung der Demokratie bestimmen nicht im Vorhinein, durch welche materiellen Regeln eine demokratische Verfassung auszufüllen ist, sie beschränken sich darauf, die tragenden normativen Strukturen und Prozesse als Institutionen eines fairen politischen Verfahrens juristisch-ethisch zu definieren. Das Gleiche gilt für die verfassungstheoretische Leitidee des „Rechtsstaats“. Anders als die Demokratie stellt der Rechtsstaat den Verantwortungsaspekt einer demokratischen Ordnung in den Vordergrund. Mit der Idee der Rechtsgebundenheit und insgesamt der Bindung an bestimmte, im politischen Prozess garantierte Rechtspositionen erinnert der Rechtsstaat an das, was in der Moralphilosophie und in der politischen Philosophie als Verantwortungsidee deutlich machen soll, dass Freiheit ohne Verantwortung nicht zu haben ist. In gleicher Absicht mahnt der Rechtsstaat an die unaufgebbare Gebundenheit demokratischer Entscheidungen an zwingend zu beachtende Verantwortungsregeln. Der Rechtsstaat erinnert daran, dass Rechte immer auch Pflichten mit sich bringen, und markiert die Grenzen demokratischer Freiheit. Wie bei der Leitidee der Demokratie ist auch beim Rechtsstaatsprinzip der prozedurale diskurstheoretische Zug erkennbar. Rechtsstaatliche Verantwortungsregeln stellen nicht einfach – wie etwa in der Tradition des Liberalismus – dem Menschen unvermittelt vorgegebene (materielle) Minimal-Garantien dar, sondern bilden einen integrativen Teil der demokratisch-rechtsstaatlichen Rechtfertigungspraxis. Rechtsstaatliche Regeln disziplinieren das politische Verfahren unter dem Aspekt, dass die freie Willensbildung und die politische Selbstbestimmung nur dann Gültigkeit beanspruchen darf, wenn sie unter bestimmten (prozeduralen) Bedingungen erfolgen. Diese Bedingungen entstammen jedoch nicht einem liberalen Nirwana. Das Rechtsstaatsprinzip ist erst der Struktur eines Verfahrens eingeschrieben, das den politischen Rechtfertigungsprozess als kommunikative Auseinandersetzung rekonstruiert. Die Herkunft des Rechtsstaatsprinzip aus der kommunikativen Praxis verweist auch auf die enge Verflochtenheit von Rechtsstaat und Demokratie. Demokratie und Rechtsstaat gehören zusammen wie Freiheit und Verantwortung. Der freiheitliche Aspekt des Demokratieprinzips und der Verantwortungsaspekt des Rechtsstaatsprinzip deuten auf zwei Seiten desselben Verfahrens hin, das erst durch beide seine volle legitimatorische Kraft entfalten kann. Demokratie ohne Rechtsstaat ist zügellos, und Rechtsstaat ohne Demokratie ist ziellos, und beides Mal wird das Problem verfehlt: die vollständige Legitimationsfähigkeit des politischen Prozesses. Im einen Fall werden freiheitliche Ziele zwar verfolgt, sie können aber nicht
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unter den Bedingungen erreicht werden, unter denen sie eigentlich erreicht werden wollen. Im anderen Fall werden die verantwortungsrelevanten Bedingungen für die Erreichung der Ziele zwar erfüllt, die Ziele selbst aber können nicht einmal formuliert werden. Es ist das Demokratieprinzip, das die Bedingungen normiert, unter denen eine politische Ordnung ihre Organisation und Ziele freiheitlich bestimmen kann. Insofern ist es durchaus konkreterer Ausdruck eines Teils des diskurstheoretischen Prinzips, wonach nur die Handlungen und Normen Gültigkeit erlangen können, die die Zustimmung aller Betroffenen erlangen. Damit die konsentierten Handlungen und Normen Zustimmung aber auch verdienen, muss die demokratische Zustimmung ihrerseits Bedingungen genügen. In einer juristisch-institutionellen Sprache formuliert diese Bedingungen der Rechtsstaat. Die verfassungstheoretischen Leitideen oder Leitprinzipien der Demokratie und des Rechtsstaats fügen sich somit gemeinsam zum „demokratischen Rechtsstaat“ zusammen.39 Unter diesem Titel steht die legitimatorische Konzeption der Verfassung einer politischen Konstitution, die im Bereich der Verfassungstheorie die Entsprechung zur deliberativen Demokratie bildet. Der demokratische Rechtsstaat ist als die juristisch-institutionelle Verfassung der deliberativen Demokratie zu verstehen. Der Bezeichnung als „Staat“ („demokratischer Rechtsstaat“) soll dabei nicht der zuvor aufgestellten These widersprechen, dass der öffentliche Raum als ganzer durch die Public Governance und nicht einfach durch den Staat vorzunehmen ist. Der Begriff der Public Governance erklärt, dass nicht nur staatliche Macht, sondern der gesamte öffentliche Raum und damit alle Lebensbereiche, die nicht der privaten Selbstverantwortung überlassen werden dürfen, sich einer öffentlichen Rechtfertigung nicht entziehen können soll. Der Staat spielt in diesem Verfassungskonzept zwar eine wichtige, vielleicht die einflussreichste, nicht aber die alleinige Rolle. Dennoch bleibt es der Staat, der kraft seiner höchsten Verantwortung (Gewährleistungsverantwortung) und seines damit verbundenen legitimen Anspruchs auf die juristisch durchsetzbare Macht an erster Stelle den Ansatzpunkt für die Verfassung des öffentlichen Raums bildet. Um rechtlich wirksam zu werden, muss die Public Governance auf staatliche Macht zurückgreifen. Der demokratische Rechtsstaat ist derjenige „Verfasser“ des öffentlichen Raums, durch den die Wirksamkeit der Public Governance umfassend gewährleistet wird. In dieser Hinsicht ist die juristische Tradition, vom Rechtsstaat zu sprechen, durchaus gerechtfertigt. c) Prinzipien des demokratischen Rechtsstaats Wie bereits in der Moralphilosophie und in der politischen Philosophie soll nun auch im Bereich der Verfassungstheorie die normative Struktur des (demokratischen) Rechtfertigungsverfahrens in der Form eines übersichtlichen PrinzipienSets expliziert werden. Die Prinzipien, die nun unter den Leitideen von Demokratie und Rechtsstaat zusammengefasst werden, sollen wiederum als Kriterien für eine 39
Vgl. auch Habermas, Rechtsstaat und Demokratie (1996 [1994]).
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legitimatorische Beurteilung faktischer Verhältnisse taugen. Sind es im Bereich der politischen Philosophie die Strukturen und Prozesse der politischen Deliberation, an deren Adresse die Prinzipien der deliberativen Demokratie gegangen sind, so sind es in verfassungstheoretischer Sicht nun die (methodisch) konkreteren juristisch-ethisch strukturierten Institutionen der demokratischen Public Governance, die auf ihre Legitimität hin überprüft werden können sollen. Der demokratische Rechtsstaat stellt einen Raster normativer Strukturen zur Verfügung, an dem sich juristisch-institutionelle Verfassungen von Konstitutionen, die sich durch die demokratische Zustimmung ihrer Mitglieder rechtfertigen wollen, legitimatorisch messen können. Dem prozeduralen Verständnis der deliberativen Demokratie und des demokratischen Rechtsstaats gemäß zielen die Kriterien dabei weiterhin lediglich auf die Institutionen und nicht etwa auf bestimmte Ergebnisse des demokratischen Prozesses selbst. Der Transfer der Prinzipien der deliberativen Demokratie, der für die Prinzipien des demokratischen Rechtsstaats vorzunehmen ist, darf dabei nicht als deduktive Ableitung missverstanden werden. Was hier erneut ansteht, ist eine disziplinengerechte, d. h. der Verfassungstheorie entsprechende, kritisierbare Explikation von legitimatorischen Prinzipien, die in anderen Disziplinen eine unterschiedliche anspruchsspezifische Gestalt annehmen. Die unterschiedlichen Prinzipien der verschiedenen Disziplinen sollen, je für ihren disziplinären Bereich passend, kohärent in den einen oder anderen Bereich übersetzbar sein und insgesamt ein zusammenhängendes interdisziplinäres Gesamtbild ergeben.40
Prinzipien der deliberativen Demokratie
1b
3b
Volkssouveränität
Offenheit der Deliberation
Verfahrenslegitimation (Legalität I)
Balances (politische Symmetrie)
Institutionensymmetrie (Gewaltenteilung I)
Gleichberechtigung
Grundrechte
Gebundenheit der Deliberation
Gesetzesbindung (Legalität II)
Checks (Rechenschaftspflicht aller Macht)
Verantwortlichkeit (Gewaltenteilung II)
Rechtsstaat
2b
Verantwortung
3a
Zustimmung
Demokratie
2a
Freiheit
1a
Prinzipien des demokratischen Rechtsstaats
Abbildung 22: Die Prinzipien der deliberativen Demokratie und des demokratischen Rechtsstaats 40 Vgl. zu den folgenden Prinzipien Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 177 – 189, Rn. 547 – 586.
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„1a“: Das demokratische Prinzip in struktureller Hinsicht ist das Prinzip der „Volkssouveränität“.41 Die Volkssouveränität ist die juristisch-institutionelle Ausformung des politisch-philosophischen Prinzips der Zustimmung, das seinerseits die politisch-philosophische Ausprägung des diskursethischen Prinzips der Einigung darstellt. Im demokratischen Rechtsstaat sind machtgestützte Rechtsentscheidungen nicht nur staatlicher Einrichtungen, sondern der gesamten Public Governance nur dann legitim, wenn sie sich auf die zustimmende Ermächtigung letztlich sämtlicher Betroffenen stützen können. Die Betroffenen selbst sollen die legitime Quelle aller politischen und damit auch gesetzlich bewehrten Macht bilden. Kurz gefasst: Das Volk ist der Souverän. Die Souveränität des Volkes liegt in einem normativen Sinne darin, dass es – im Verhältnis zur jeweiligen juristischen Institution – über die Zustimmung der Betroffenen hinaus keine höhere Legitimationsquelle geben darf. I. d. S. gelangt hier der republikanische Gedanke sinngemäß zu Geltung, dass das Volk selbst den Staat (genauer: die Public Governance) konstituiert. Der „Wille des Volkes“ ist dabei freilich nur eine vereinfachende Formel.42 Die Diskussionen in der politischen Philosophie, insbesondere zur Problematik der Repräsentation, haben gelehrt, dass „Volkes Stimme“ in modernen Demokratien nicht mehr über die direkte Zustimmung jeder Einzelnen und jedes Einzelnen zu vernehmen ist. Das „Volk“ darf aber auch nicht als ein im Großformat agierendes Willenssubjekt missverstanden werden. In modernen Demokratien ist die souveräne Zustimmung zu gesetzlich gestützten Entscheidungen und rechtlicher Machtausübung nur noch im Wege von Kompromissen, Repräsentationen und Verfahrensabbrüchen zu erreichen.43 Damit die Volkssouveränität gewährleistet ist, muss der demokratische Rechtsstaat nicht nur für angemessene normative Strukturen im politischen Zentrum sorgen. Dort muss er durch verbindliche juristische Institutionen wie Wahlen, Mitwirkungsrechte, Transparenzregeln usw. wirksame Mittel bereitstellen, um durch legitimierende Kopplungsmechanismen den Anschluss der (peripheren) Bürgerschaft an den (zentralen) Staat zu ermöglichen. Die Perspektive ist aber über die engen Grenzen des Zentrums hinaus auch auf die Peripherie zu erweitern.44 Ein erweiterter Blick auf die Public Governance zeigt dabei auf, dass das demokratische Verfahren nicht erst an den Rändern des politischen Zentrums, z. B. bei Parteien und Spitzenverbänden, beginnt und auch nicht beginnen darf. Die öffentliche Meinung muss sich bereits am äußersten Rand des politischen Prozesses in der Zivilgesellschaft unorganisiert bilden und über intermediäre Gewalten weiterentwickeln können. Deshalb muss der demokratische Rechtsstaat auch dafür sorgen, dass sich die demokratische politische Kultur, die nur z. T. einer naturwüchsigen Lebenswelt Vgl. Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 184 f., Rn. 569 – 572. Vgl. hierzu auch Müller, Fragment (über) Verfassungsgebende Gewalt des Volkes (1995); ders., Wer ist das Volk? (1997). 43 IV. 3. b), insb. ab (2). 44 Vgl. Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 184, Rn. 571. 41 42
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entspringt, in juristisch-institutionellen Verfassungsstrukturen der Peripherie reproduzieren kann. Er muss mithilfe juristischer Institutionen auch sicherstellen, dass der Machtfluss von der Peripherie zum Zentrum und umgekehrt möglichst demokratisch, d. h. frei zirkulieren kann. Zu denken ist dabei etwa an die Bereitstellung von Rechtsinstitutionen wie Vereinen und Verbänden, aber auch an die juristische Verfassung der Mediengewalt. Insgesamt muss der demokratische Rechtsstaat eine dem demokratischen Prozess angemessene, verbindlich gesicherte kommunikative Infrastruktur bereitstellen. „1b“: Ohne die „Grundrechte“ ist die Volkssouveränität jedoch nur eine legitimatorische Halbwahrheit.45 In struktureller Hinsicht bilden die Grundrechte das juristisch-institutionelle Gegenstück des Rechtsstaats zum demokratischen Prinzip der Volkssouveränität. Sie formalisieren die Forderung der deliberativen Demokratie, dass die Zustimmung zu politischen Entscheidungen zustimmungswürdig sein, d. h. unter Gleichen und Freien zustande kommen muss. In der Diskursethik ist dies die Idee der Reziprozität und in der politischen Philosophie das Prinzip der Gleichberechtigung. Legitime Demokratie, so wie sie die deliberative Demokratie lehrt, braucht Verantwortung, damit die Freiheit, die sie ebenso benötigt, nicht zu einem Willkürentscheid der Mächtigen wird. Der demokratische Rechtsstaat ist danach dazu aufgerufen, die Bürgerinnen und Bürger, und d. h. alle von den Entscheidungen des politischen Prozesses Betroffenen, mit juristisch institutionalisierten Rechtspositionen auszustatten, die sie zu als Gleiche und gleich Freie anzuerkennenden Rechtsgenossinnen und Rechtsgenossen machen. Als juristische Institutionen müssen die Grundrechte einklagbar sein. Denn die Anerkennung der Bürgerinnen und Bürger als Gleichberechtigte muss, damit sie im demokratischen Prozess Wirksamkeit erlangt, nötigenfalls mit Rechtsmacht auch durchgesetzt werden können. Die Forderung nach einklagbaren Grundrechten impliziert außerdem nicht nur geschützte Rechtspositionen Einzelner gegenüber dem Staat, sondern auch wirksame Institutionen von Rechtspositionen gegenüber Übergriffen anderer Bürgerinnen und Bürger („direkte“ und „indirekte Drittwirkung von Grundrechten“).46 Die Verschwisterung von Volkssouveränität und Grundrechten zeigt sich darin, dass die Zustimmung der Betroffenen zu politischen Entscheiden und politischer Machtausübung nur dann legitim ist, wenn sich die zustimmenden Betroffenen aus Gleichen und (gleich) Freien konstituieren. Dementsprechend lassen sich die Grundrechte des demokratischen Rechtsstaats als Gleichheits- und (gleiche) Freiheitsrechte begreifen. Aus dieser Gegenüberstellung von Demokratie und Rechtsstaat stechen unter den Grundrechten v. a. die „politischen Rechte“ hervor. Sie können ohne Weiteres als Institutionen zur Gewährleistung gleicher Beteiligung berechtigter Bürgerinnen und Bürger am politischen Prozess erkannt werden. Indem sie z. T. auch gewährleisten, dass die politische Beteiligung ohne staatliche Vgl. Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 181 f., Rn. 558 – 561. Vgl. den ähnlichen Gedanken bei Mastronardi: Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 182, Kasten. 45 46
3. Demokratischer Rechtsstaat
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und andere unberechtigte Einflussnahme vonstatten geht (z. B. in Bezug auf die Wahrung des Wahlgeheimnisses), besitzen sie i. d. S. auch den Charakter von Freiheitsrechten. Einer diskurstheoretisch ausgerichteten Verfassungstheorie springen ferner besonders „Kommunikationsrechte“, die die Möglichkeit ungehinderter Meinungsbildung und -äußerung sicherstellen sollen, ins Auge. Auch sie können insgesamt sowohl als Freiheitsrechte und Garantien eines chancengleichen politischen Prozesses verstanden werden. Die „Rechtsgleichheit“ soll als allgemeiner angelegtes Rechtsinstitut in einem umfassenden Sinn die chancengleiche Teilnahme und Beteiligung an der politisch-rechtlichen Gemeinschaft garantieren. Einen weniger direkten Bezug zur chancengleichen Beteiligung am politischen Prozess weisen scheinbar die übrigen Freiheitsrechte auf, die nicht direkt eine chancengleiche (direkte) politische Gleichberechtigung bewirken. Es darf indessen nicht vergessen werden, dass Gleichheit und Freiheit Hand in Hand gehen. Um die Forderung nach Gleichheit einlösen zu können, müssen es die Grundrechte jeder Person gewährleisten, dass sie ihr Leben im Rahmen ihrer öffentlichen Verantwortung (privat-) autonom gestalten kann. Die klassischen „Freiheitsrechte“ sichern deshalb eine Sphäre, in der sich die Rechtsgenossinnen und Rechtsgenossen im Privaten als gleichberechtigte Freie verwirklichen und entfalten können sollen. Erst auf Grundlage dieser Möglichkeit einer freien Lebensgestaltung kann eine Person auch als politisch deliberierende Teilnehmerin frei und selbständig als Gleiche mitentscheiden.47 Darüber hinaus halten „soziale Grundrechte“ die Public Governance an, für die unverzichtbaren Leistungen einzustehen, die Einzelne aus bestimmten Gründen für sich selbst nicht erbringen können, die aber gerechtfertigterweise notwendig sind, damit sie als autonome Personen ihren Freiheitsraum überhaupt gestalten und ihre politischen Gleichheitsrechte überhaupt wahrnehmen können. Als eine bestimmte Art der Gleichheitsrechte sichern sie die minimale Chance, als Freie und Gleiche in der politischen Gemeinschaft akzeptiert zu werden und am demokratischen Prozess partizipieren zu können. „2a“: Als nächstes gibt das Prinzip der „Verfahrenslegitimation“ 48 der Konzeption der deliberativen Demokratie eine juristisch-institutionelle Gestalt.49 Die Verfahrenslegitimation stellt die juristisch-ethische Ausprägung des Materie-Prinzips der Offenheit der Deliberation der deliberativen Demokratie dar. Dort wird ver47 Vgl. die treffenden Analysen zur Volkssouveränität und zu den Menschenrechten in Habermas, Rechtsstaat und Demokratie (1996 [1994]), insb. S. 298 – 300. Vgl. auch Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 182, Rn. 560. 48 Nicht zu verwechseln mit „Verfahrensgerechtigkeit“. Diese ist als eine Kategorie der Moralphilosophie zu betrachten und bringt zum Ausdruck, dass Gerechtigkeit (auf nachmetaphysischem Begründungsniveau) nur prozedural expliziert werden kann (Gerechtigkeit durch Verfahren). Ein diskurstheoretischer Ansatz wie dieser hier vertritt freilich diese Auffassung. Zur Diskussion prozeduraler Gerechtigkeitstheorien: Tschentscher, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit (2000). Das Prinzip der Verfahrenslegitimation stellt jedoch nicht eine moralphilosophische Kategorie, sondern ein spezifisches verfassungstheoretisches, juristisch-ethisches Strukturprinzip dar. 49 Vgl. Mastronardi, Verfassungslehre (2007), jedoch nur S. 187, Rn. 580.
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langt, dass es erst die Verfahren des demokratischen Prozesses selbst sind, in denen über die Materie und deren Gewicht im politischen Entscheidungsverfahren bestimmt wird, im Vorhinein muss diese Bestimmung offen bleiben. Diese Forderung der politischen Philosophie ist mit dem moralphilosophischen Prinzip verwandt, dass jede Diskurspartei das Recht hat, Bedürfnisse, Wünsche und Anliegen, die ihr wichtig erscheinen, in den Diskurs einzubringen, und auch prinzipiell kein Problem oder Argument als materieller Beitrag zum moralischen Diskurs ausgeschlossen ist. Der verfassungstheoretische Grundsatz der Verfahrenslegitimation beschreibt so, was gerne übersehen wird, einen – demokratischen – Teilgehalt des „Legalitätsprinzips“, der sich (wohlgemerkt: innerhalb des materiellen Aspekts der gesamten demokratisch-rechtsstaatlichen Verfahrensstruktur) nicht als materielle, sondern als formelle Konformität präsentiert. In einem juristisch-ethischen Sinn legal, d. h. der juristisch-institutionell verankerten Rechtsordnung gemäß, sind Entscheidungen nicht nur deshalb, weil sie dem „Gehalt“ (präzise: Text) eines bestimmten Deliberationsergebnisses „entsprechen“ (zuschreiben lassen). Die Entscheidungen müssen in einem zweiten Sinn von Legalität auch verfahrenslegitim sein. In der politischen Philosophie kompliziert sich die diskursethische Forderung nach Diskurs-Offenheit, weil sich, sobald der abstrakte Bereich der Moralphilosophie verlassen wird, innerhalb der politischen Deliberation die Notwendigkeit einer mehrfachen Stufung und Gliederung aufdrängt (Diskursdifferenzierung).50 Die deliberative Demokratie strukturiert diese Differenzierung so, dass sie einer Legitimationslogik „von oben nach unten“ und einer Selektionslogik „von unten nach oben“ folgt. Auch diesen doppelten normativen Mechanismus der deliberativen Demokratie konkretisiert das Prinzip der Verfahrenslegitimation (methodisch). Die konkrete Einrichtung bestimmter Stufen und Gliederungsebenen der politischen Deliberation kann und darf die Verfassungstheorie einer demokratischen Gemeinschaft nicht vorschreiben. Ebenso wenig darf die Verfassungstheorie vorschreiben, auf welcher Ebene genau welche Fragen oder auch nur welche Arten von politischen Fragen zu beantworten sind.51 Dies würde nur aussageschwache Kriterien liefern und zudem in die konkrete Materie einer demokratischen Ordnung eingreifen, die sie sich doch gerade selbst aneignen sollte. Eine konsequent prozedural ausgerichtete Verfassungskonzeption muss es den demokratischen Verfassungsprozessen einer politischen Gemeinschaft selbst überlassen, welche Probleme sie mit welchem Gewicht welchem Legitimationsverfahren zuführt. Natürlich muss sie dann aber Strukturen bereitstellen und die Prozesse benennen, die einen legitimen Ablauf der differenzierten politischen Deliberation erlauben. Dafür steht in der politischen Philosophie die bereits erläuterte Legitimationsund Selektionslogik bereit. Die Verfassungstheorie ist nun dazu aufgerufen, die Vgl. IV. 3. b), (1). Anders Mastronardi, bei dem es heißt: „Aufgabe des Staatsrechts ist es, [ . . . ] festzulegen, für welche Frage, welche Diskursart institutionalisiert werden soll und wie die Diskurse zu gestalten sind.“: Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 187, Rn. 580. 50 51
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Verfahrenslogik der deliberativen Demokratie mit griffigeren juristisch-ethischen Institutionen zu verfassen.52 Das bedeutet, dass der politische Prozess in Demokratien so einzurichten ist, dass erstens politische Entscheidungen stets durch höherstufige Entscheidungen gerechtfertigt sein müssen und dass zweitens zugleich eine Durchlässigkeit von Problemen „von unten noch oben“ gewährleistet ist. „Durchlässigkeit ,von unten nach oben‘“ heißt dabei, dass die politisch Berechtigten die Probleme, die ihnen entsprechend wichtig sind, jederzeit einer höheren Legitimationsstufe zuführen können sollen, solange sie nur die entsprechend anspruchsvolleren Voraussetzungen der höheren Stufen erfüllen. Die genaue juristische Institutionalisierung der deliberativen Verfahrenslogik kann unterschiedliche Ausprägungen annehmen. Auf der obersten Legitimationsstufe steht in modernen Demokratien in aller Regel die „Verfassung“ (auch: Verfassungsgesetz, Grundgesetz usw.). Als juristische Institution bildet die Verfassung in diesem Kontext die höchstverbindliche Ordnungs(text)stufe einer demokratischen Gemeinschaft, auf die sich alle politischen Entscheidungen tieferer Stufe berufen können müssen. Für die Bestimmungen der Verfassung sind die relativ höchsten Legitimationsvoraussetzungen vorzusehen. Die Verfassung regelt insbesondere die organisatorische Ausgestaltung der Rechtsgemeinschaft mit ihren zentralen Strukturen und Prozessen, gewährleistet die Grundrechte, auch Staatsaufgaben und die Verfassung der Wirtschaft.53 Darunter findet sich i. d. R. die Stufe des „formellen Gesetzes“, auf der die Bestimmungen der Verfassung konkretisiert werden, und auf wieder tieferen Stufen können etwa „Verordnungen“, „Reglemente“ u. Ä. stehen. Die Stufen der politischen Deliberation können sich je nach Staatsorganisation weiter verästeln in weitere Stufen tieferer Organisationsgebilde (z. B. „Gliedstaaten“, „Kommunen“ usw.). Die mit zunehmender Konkretion insgesamt steigende Komplexität wird dazu führen, dass insbesondere die anspruchsvollen Teilnahmebedingungen legitimer Verfahren auf Verfassungsstufe nur noch in abgeschwächter Form verwirklicht werden können. Bei der juristischen Institutionalisierung der verschiedenen Stufen ist jedoch darauf zu achten, dass mit steigender Konkretion (und sinkender Legitimation) die Legitimationskette zur Verfassung geschlossen bleibt. „2b“: Das Gegenstück zur Verfahrenslegitimation bildet das Prinzip der „Gesetzesbindung“.54 Im Bereich der Verfassungstheorie postuliert das Gesetzesbindungsprinzip das, was im Bereich der Moralphilosophie in materieller Hinsicht die Diskurs-Gebundenheit und in der politischen Philosophie die Gebundenheit der Deliberation verkörpert. Mit dem Prinzip der Gesetzesbindung als Konterpart zur Verfahrenslegitimation macht der demokratische Rechtsstaat klar, dass die Freiheit, 52 Insofern ist Mastronardi wieder Recht zu geben, wenn er sagt: „Aufgabe des Staatsrechts ist es, diese Diskursstufen zu verfassen.“: Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 185, Rn. 574. 53 Vgl. Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 187, Rn. 582. 54 Vgl. Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 179, Rn. 549 – 552.
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V. Verfassungstheorie: Demokratischer Rechtsstaat
die in der Entscheidung über Materie (Text) und Gewicht von politischen Problemen herrschen soll, auch von Verantwortung begleitet ist. Einmal in der politischen Deliberation getroffene Entscheidungen, gleich welcher Abstraktions- und Gliederungsstufe, erwachsen nämlich in Verbindlichkeit. Das ist die Antwort des Rechtsstaats auf die demokratische Freiheit der verfahrens- und bedürfnisrelativen Einführung und Gewichtung politischer Normierungen. Die politischen Entscheidungen, die in einem bestimmten Verfahren einmal gefällt worden sind, bleiben solange auf dieser Stufe in Kraft, wie sie nicht durch eine gegensätzliche Entscheidung derselben oder einer höheren Stufe revidiert werden. Solange das nicht der Fall ist, ist der vorgängig erfolgten Entscheidung Rechnung zu tragen. Die Gesetzesbindung markiert das in der traditionellen Verfassungstheorie geradezu paradigmatische rechtsstaatliche Prinzip. Es bindet staatliche Macht an das „vom Volk“ verfahrensgerecht Entschiedene. In der diskurstheoretischen Lesart bedeutet die Gesetzesbindung v. a. eine materielle Selbstbindung der Rechtsgemeinschaft und der Rechtssubjekte im einzelnen. Staat und Public Governance sind in diesem Verständnis nicht fremde Größen, sondern Ausdruck des machtbewehrten „Willens“ der politischen Gemeinschaft selbst. Rechtliche Macht hat sich an den verfahrensgerecht zustande gekommenen Entscheidungsergebnissen (Texten) früherer Deliberationen zu messen. Das rechtsstaatliche Prinzip der Gesetzesbindung ist die juristisch institutionalisierte Form der verbindlichen und gebundenen Deliberation. Juristisch-methodisch reflektiert bedeutet das die Verbindlichkeit („Vorrang des Gesetzes“) und die Gebundenheit („Vorbehalt des Gesetzes“) an den verfahrensgemäß erlassenen Gesetzestext.55 I. d. S. sind Entscheidungen im demokratischen Rechtsstaat in Ergänzung zur formellen Bindung der Verfahrenslegitimation materiell zu binden. So umfasst das Prinzip der Gesetzes(text)bindung die Gesetzmäßigkeit allen öffentlichen Handelns. Darunter fällt nicht nur die Gesetzesbindung der Regierung und Verwaltung, sondern auch der Gerichte, sogar des Parlaments, insofern auch diese nicht nur in ihrer judizierenden Arbeit, sondern auch in ihrer gesetzgeberischen Tätigkeit höherstufige Erlasse konkretisieren. Über diese zentralen Institutionen des politischen Prozesses hinaus sind aber auch sämtliche peripheren Gewalten der Public Governance an das Gesetzesbindungsprinzip gebunden. Das Gesetzesbindungsprinzip ist somit Ausdruck des i. d. S. interpretierbaren materiellen Vertrauensschutzes durch den Rechtsstaat. „Der Rechtsstaat ist die Form, in welcher Vertrauen unter Fremden gewährleistet und Vertrauensmissbrauch sanktioniert wird. Er verwandelt deliberative Verbindlichkeit zu Rechtsverbindlichkeit.“56 Der Vertrauensschutz, den das Gesetzesbindungsprinzip gewährleistet, ist nicht nur darauf beschränkt, dass die Gewalten der Public Governance ihr Handeln überhaupt an gesetzestextliche Grundlagen rückbinden, sondern verpflichtet sämtliches Handeln im öffentlichen Raum darauf, dies mit der gleichen Vertrauenswürdigkeit auch um55 56
Eingehend dazu Kapitel I, insb. I. 2. b). Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 179, Rn. 550.
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zusetzen. Das führt auch zum Gedanken der Rechtssicherheit. In ihrem herkömmlichen Sinn als „materielle“ Rechtssicherheit ist auch sie Ausfluss des Prinzips der Bindung an den Gesetzestext, insofern sie öffentliche Machtausübung (als Eingriffe oder Leistungen) relativ voraussehbar macht. In dieser Hinsicht trägt der demokratische Rechtsstaat mit dem Gesetzesbindungsprinzip dazu bei, die unüberschaubare Komplexität, von der ausdifferenzierte Demokratien bestimmt sind, ein Stück weit berechenbar zu machen. Zusammen mit dem Prinzip der Verfahrenslegitimation bildet das Prinzip der Gesetzesbindung das ab, was im herkömmlichen Sinn undifferenziert als „Legalitätsprinzip“ bezeichnet wird. Insgesamt bringt das doppelseitig zu verstehende Legalitätsprinzip zum Ausdruck, dass die Erzeugungsprozesse verbindlicher öffentlicher Entscheidung unter materiellen Aspekten zugleich offen und gebunden ist. Die Herstellung verbindlicher Entscheidungen muss sowohl verfahrensgerecht als auch gesetzmäßig verlaufen. Die bereits materiell nur relative „Stabilität“ oder „Sicherheit“, die das Prinzip der Gesetzes(text)bindung fordert, wird vom Prinzip der Verfahrenslegitimation noch in dem Maße relativiert, wie dessen Offenheit durch die Forderung an die Bindung verfahrensgerecht erlassener Texte bedingt ist. Aber mit dem Legalitätsprinzip dürfen auch Rechtssicherheit und Vertrauensschutz nicht rein materiell gelesen werden. Der einseitige, nur in materieller Weise verstandene Sinn der herkömmlichen Auffassung von „Rechtssicherheit“ und „Vertrauensschutz“ ist hier zu erweitern. Wie die Konzeption des demokratischen Rechtsstaats insgesamt muss die Rechtssicherheit auch prozedural verstanden werden. Wie die bisherige juristisch-methodische Diskussion gezeigt hat, können Rechtstexte ohnehin keine „eindeutige“ Sicherheit garantieren. Rechtssicherheit und Vertrauen beziehen sich aber nicht nur auf die relative Verlässlichkeit, für die verbindlich erlassene Rechtstexte nur verbürgen können. Die Bindung an den Gesetzestext ist nur ein Prinzip neben einem anderen, auf das sich eine Person im demokratischen Rechtsstaat verlassen darf. Berechtigterweise darf sie auch darauf vertrauen, dass sich die Funktionsträgerinnen und Funktionsträger der Public Governance in legitimer Weise, d. h. dem Prinzip der Verfahrenslegitimation gemäß, an die verbindlich in Geltung gesetzten Rechtstexte binden. „3a“: Als letztes Prinzip des demokratischen Rechtsstaats, das primär dem Leitgedanken der Demokratie, nun in formeller Hinsicht, zuzuordnen ist, ist das Prinzip der „Institutionensymmetrie“ als der eine Teil eines wieder doppelseitig zu lesenden Prinzips der Gewaltenteilung zu nennen.57 Wie das Legalitätsprinzip wird das Prinzip der Gewaltenteilung in der herkömmlichen Verfassungstheorie gerne zur Gänze dem Rechtsstaat und nicht der Demokratie zugeordnet. Das mag auf die liberale Tradition zurückzuführen sein, nach der das Gewaltenteilungsprinzip allein als Instrument zur Zähmung staatlicher Machtanmaßung gedeutet wird. Gewaltenteilung würde dann ein System von checks and balances einfordern, das einzig zu dem Zweck einzurichten ist, die mächtigsten Gewalten im Staat so miteinander zu verweben, dass ihre jeweilige Machtausübung durch die Machtaus57
Vgl. Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 182 – 184, Rn. 562 – 568.
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V. Verfassungstheorie: Demokratischer Rechtsstaat
übung der anderen Institutionen im Zaum gehalten wird. Schon in der politischen Philosophie ist allerdings darauf hingewiesen worden, dass die symmetrische Einrichtung politischer Strukturen und Prozesse (Prinzip der Balances oder der politischen Symmetrie) diskurstheoretisch nicht primär als ein Verantwortungsprinzip, sondern zunächst als ein Freiheitspostulat aufzufassen ist. Statt wie nach liberalem Verständnis checks and balances insgesamt im Grunde als checks zu lesen, werden sie hier differenziert und einerseits dem Leitprinzip der Freiheit (Balances) und andererseits dem Leitprinzip der Verantwortung (Checks) zugeschlagen. Diese freiheitliche Charakterisierung der Balances und entsprechend auch der Institutionensymmetrie erklärt sich aus der Strukturverwandtschaft mit dem diskursethischen Prinzip diskursiver Chancengleichheit. In der Moralphilosophie scheint diesem Prinzip noch ein personaler Charakter anzuhaften, weil die Moralphilosophie in ihrer abstrakten Sichtweise die Perspektive auf die einzelnen Diskursbeteiligten noch undifferenziert lässt. Im Bereich der politischen Philosophie hat sich dann gezeigt, wie sich das abstrakte Prinzip in Bezug auf das institutionelle Spiel konstitutioneller Strukturen und Prozesse konkretisiert. So kommt es, dass die allgemeine formelle Symmetriebedingung der Diskursethik in der deliberativen Demokratie als politische Symmetrie und in der Verfassungstheorie als Prinzip der Institutionensymmetrie ihre Ausprägung findet. Was in diesem Zusammenhang so auch für den demokratischen Anteil der verfassungstheoretischen Gewaltenteilung deutlich wird, ist der Charakter einer gleichen formellen Chancenverteilung unter Prozessbeteiligten, die maßgeblich an der Entwicklung eines fortdauernden Rechtfertigungsprozesses mitwirken. Unter dem Leitprinzip der Demokratie soll das Prinzip der Institutionensymmetrie die juristisch-institutionellen Voraussetzungen für eine chancengleiche Deliberation im Netz der Public Governance ermöglichen. Es soll sicherstellen, dass die diversen Auffassungen und Bedürfnisse, die sich unter den Bedingungen moderner pluralistischer Gesellschaften einfinden, durch handfeste juristische Institutionen wirkungsvoll und mit dem notwendigen Schutz in den demokratisch-politischen Prozess eingebracht werden können. Dabei bildet die klassische, nur auf das politische Zentrum bezogene Vorstellung von Gewaltenteilung, nach der Legislative, Exekutive und Judikative im gegenseitigen Verhältnis mit gleich starker Beteiligungsmacht am (zentralen) politischen Verfahren ausgestattet werden, nur einen Aspekt. Nach dem Vorbild der deliberativen Demokratie macht auch die Public Governance bei der Verfassung, d. h. bei der juristisch-institutionellen Normierung des öffentlichen Raums nicht an den Grenzen des zentralen politischen Staatsapparats Halt. Auch die intermediären Gewalten, die sich an der Peripherie bilden und zum Zentrum hin mit immer stärkerer Macht weiterentwickeln sowie die Einrichtungen an den Kopplungsstellen zwischen Zentrum und Peripherie sind nach dem Prinzip der Institutionensymmetrie sowohl im internen als auch im gegenseitigen Verhältnis chancengleich einzurichten.58 58
Vgl. Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 275 f., Rn. 834 – 840.
3. Demokratischer Rechtsstaat
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„3b“: Das rechtsstaatliche Gegenstück zum demokratisch verstandenen Teil der Gewaltenteilung, der Institutionensymmetrie, ist das Prinzip der „Verantwortlichkeit“.59 Dieses Prinzip bildet den zweiten Teil der Gewaltenteilung und expliziert das Rechtsstaatsprinzip schließlich auch in formeller Hinsicht. In der verfassungstheoretischen Konzeption des demokratischen Rechtsstaats spiegelt es wider, was in der Diskursethik die Begründungspflicht und in der Konzeption der deliberativen Demokratie das Prinzip der Checks als die Rechenschaftspflicht aller Macht ausmacht. Während das Prinzip der Institutionensymmetrie die im politischen Prozess eingerichteten Institutionen und Organe mit chancengleichen Beteiligungsmöglichkeiten ausstattet, erinnert das Prinzip der Verantwortlichkeit wieder daran, dass kein Handeln im öffentlichen Raum, dort also, wo Macht über Andere nur unter öffentlichen Rechtfertigungsbedingungen ausgeübt werden darf, verantwortungsfrei bleiben kann. Die demokratische Macht, die den einzelnen demokratischen Institutionen und Gewalten einerseits legitimerweise zuzusprechen ist, ist deshalb andererseits an juristisch institutionalisierte Verantwortlichkeitsregeln rückzubinden, die sich wiederum auf den gesamten öffentlichen Raum erstrecken und somit auch für die nicht-staatlichen Gewalten der Public Governance wirksam sind. Die verfassungstheoretische Verantwortlichkeit kann wieder unterschiedliche Ausformungen annehmen. Eine Möglichkeit stellen gesetzliche „Verantwortungsregeln“ dar, die das Handeln einzelner Personen, die in öffentlichen Funktionen handeln, kontrollieren. Darüber hinaus können Gremien eingerichtet werden, die etwa die zentralen Strukturen und Prozesse des politischen Verfahrens auf Unregelmäßigkeiten hin überprüfen (z. B. „Geschäftsprüfungsorgane“). Ferner zählen zum Prinzip der Verantwortlichkeit „Begründungspflichten“ und das „Willkürverbot“. Zu beachten ist schließlich, dass Verantwortung stets auch geltend gemacht werden muss. Dafür ist es notwendig, dass juristisch wirksame Institutionen bereitgestellt werden, die die Handlungen der Governance-Amtsträger hinreichend transparent machen, und wirksame Verfahren für die Geltendmachung von überschrittenen Freiheiten zur Verfügung stehen. Schließlich gilt dann auch in der Gesamtsicht auf die formellen Aspekte der verfassungstheoretischen Strukturierung des demokratischen Prozesses wieder ein Wechselverhältnis von Demokratie und Rechtsstaat, von Freiheit und Verantwortung. Wie die Prinzipien der Volkssouveränität und der Grundrechte in struktureller Hinsicht, die Prinzipien der Verfahrenslegitimation und der Gesetzesbindung in materieller Hinsicht gehen auch die demokratische Institutionensymmetrie und die rechtsstaatliche Verantwortlichkeit unter formellen Aspekten als differenziertes Gewaltenteilungsprinzip Hand in Hand.
59
Vgl. Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 180 f., Rn. 553 – 557.
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V. Verfassungstheorie: Demokratischer Rechtsstaat
4. Demokratischer Rechtsstaat im Kontext Methodologisch ist die hier entwickelte Konzeption des demokratischen Rechtsstaats eine methodische Konkretisierung der Konzeption der deliberativen Demokratie, die ihrerseits eine thematische Konkretisierung der Diskursethik darstellt. Als verfassungstheoretische Konzeption bringt der demokratische Rechtsstaat den ethischen Anspruch der deliberativen Demokratie auf ein juristisch-ethisches Niveau oder auch in eine juristisch-institutionelle Form. Als Konzeption der Rechtstheorie besitzt er dabei einen juristisch-ethischen Hybridcharakter zwischen den Disziplinen der Jurisprudenz und der Ethik. Als methodische Konkretisierung der deliberativen Demokratie ist der demokratische Rechtsstaat einerseits eng mit der Disziplin der politischen Philosophie verknüpft, andererseits rückt er durch seine juristisch-institutionelle Gestalt in die Nähe der verfassungsjuristischen Dogmatik. Nun kann, wenn die interdisziplinären Ansätze dieser Untersuchung tragen, die mittlere Disziplin der Verfassungstheorie freilich auch von dieser, der juristischdogmatischen Seite her entwickelt werden. Ausgangspunkt ist dann nicht die methodisch abstraktere deliberative Demokratie, sondern die sich auf dem methodisch konkreteren Niveau bewegenden Konstruktionen der Verfassungsrechtsdogmatik. Die Konstruktionen der Verfassungsrechtsdogmatik können ihrerseits als Abstrahierungen der Normtexte positiven Verfassungsrechts verstanden werden. Diese Normtexte können so weit zusammengeführt und abstrahiert werden, bis sie ein Niveau erreichen, auf dem sie – aus juristisch-ethischer Sicht – irreduzibel sind. Werden sämtliche Verfassungsnormen auf diese Weise abstrahiert, dann besitzen die resultierenden Prinzipien die Eigenschaft, eine Verfassungsordnung normativ so zu konzentrieren, dass sie ein abstraktes, aber umfassendes (theoretisches) Bild dieser Verfassung zeichnen. Solche Prinzipien, in diesem Fall durch Abstraktion von Verfassungsnormtexten und dogmatischen Konstruktionen gewonnen, können dann als „Strukturprinzipien“ oder „staatsleitende Prinzipien“ bezeichnet werden.60 Durch die Abstraktion von verfassungsrechtlichen Normtexten und verfassungsdogmatischen Konstruktionen weisen Strukturprinzipien über den Anspruch einer bestimmten Verfassungsordnung hinaus. Ergibt eine Abstraktion von sämtlichen Verfassungsordnungen einer bestimmten Rechtskultur, nun eben der demokratischen, dann die gleichen staatsleitenden Prinzipien, so kann von Strukturprinzipien nicht nur einer bestimmten Rechtsordnung, sondern einer ganzen demokratischen Verfassungskultur gesprochen werden. Die Struktur- oder staatsleitenden Prinzipien haben dann dasselbe methodische Niveau und sprechen dieselbe disziplinäre Sprache wie die hier konkretisierend erarbeiteten (juristisch-ethischen) Prinzipien des demokratischen Rechtsstaats.61 Als „Prinzipien des demokratischen 60 Hierzu Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 229, Rn. 709 – 711; ders., Strukturprinzipien der Bundesverfassung? (1988), m. w. H. 61 Vgl. Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 226, Rn. 698 f. Mögliche Unterschiede im Sprachgebrauch, auf die Mastronardi aufmerksam macht, lassen sich durch eine methodologisch unterschiedliche Herkunft (vonseiten der politischen Philosophie oder vonseiten der
4. Demokratischer Rechtsstaat im Kontext
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Verfassungsstaats“ sind sie verfassungstheoretische Prinzipien im Hybridbereich von Jurisprudenz und Ethik. „Demokratischer Verfassungsstaat“ und „demokratischer Rechtsstaat“ sind dabei zu unterscheiden. Mit seinen verfassungskulturellen Strukturprinzipien bildet der demokratische Verfassungsstaat in juristisch-ethischer Sprache den gesamten Bereich moderner Demokratien normativ ab. Die Strukturprinzipien sind das legitimatorische Kondensat demokratischer Verfassungsordnungen im Ganzen. Der demokratische Rechtsstaat bezieht sich dagegen nicht auf den ganzen Bereich dessen, was in modernen Demokratien zu verfassen ist. Er fasst nur diejenigen Prinzipien und Regeln zusammen, die die „Legitimationsstruktur“ des demokratischen Verfassungsstaats betreffen. Darüber hinaus besitzt der demokratische Verfassungsstaat auch eine „Machtstruktur“ und eine „Wohlfahrtsstruktur“, unter denen sich die insgesamt sechs Strukturprinzipien der Demokratie und des Rechtsstaats (Legitimationsstruktur), der Staatseinheit und der Staatsgliederung (Machtstruktur) sowie des Sozialstaats und des Wirtschaftsstaats (Wohlfahrtsstruktur) zusammenführen lassen.62 Die drei Hauptstrukturachsen dürfen freilich nicht separatistisch verstanden werden, sondern beschreiben lediglich analytisch die wichtigsten Aspekte einer legitimen demokratischen Verfassungsordnung: Legitimation (struktureller Aspekt), Wohlfahrt (materieller Aspekt) und Macht (formeller Aspekt). Jede Strukturachse spielt dabei in die anderen hinein. Es lässt sich jedoch konstatieren, dass die zur Legitimationsstruktur des demokratischen Verfassungsstaats zusammengefassten Strukturprinzipien der Demokratie und des Rechtsstaats thematisch-methodisch genau den disziplinären Anspruch erheben wie der hier soeben herausgearbeitete demokratische Rechtsstaat. Mit der folgenden Kontextualisierung soll nun gezeigt werden, dass eben die Konzeption des demokratischen Rechtsstaats, die hier als Konkretisierung der politisch-philosophischen deliberativen Demokratie entwickelt worden ist, auch durch Abstrahierung von verfassungsdogmatischen Konstruktionen konzeptionalisiert werden kann. Dadurch kann einiges gewonnen werden. Wenn sich die Konzeption des demokratischen Rechtsstaats nicht nur auf die politisch-philosophische Konzeption der deliberativen Demokratie, sondern zugleich auch auf rechtsdogmatische Konstruktionen demokratischen Verfassungsrechts stützen kann, platziert sich der demokratische Rechtsstaat noch überzeugender inmitten eines durchgängigen Verfassungsdogmatik) erklären, nicht jedoch rechtfertigen. Die Verfassungstheorie bleibt auf dem thematischen Niveau der Konstitution die Schnittstelle zwischen Jurisprudenz und Ethik. Trotz unterschiedlicher methodologischer Zugangsmöglichkeiten sollte sie sich ihrem einheitlichen disziplinären Anspruch entsprechend auch um eine einheitliche disziplinäre Logik bemühen. 62 Vgl. Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 229 – 231, Rn. 712 – 719. Vgl. ausführlich ebd., S. 225 – 325, Rn. 697 – 991. Die Gliederung nach Legitimations-, Macht- und Wohlfahrtsstruktur, einschließlich der Deutung der Staatshoheit als Staatseinheit, des Föderalismus als Staatsgliederung und des Leistungsstaats als Sozialstaat, ist eine Interpretation der Verfassungslehre Mastronardis, die an anderer Stelle auszuführen wäre.
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interdisziplinären Kommunikationsraums vom positiven Verfassungsrecht bis hin zur politischen Philosophie. Außerdem wird dadurch auch die Überzeugungskraft der hier zugrunde gelegten interdisziplinaritätstheoretischen Überlegungen nochmals gestärkt werden. Die Stützung vonseiten der juristischen Dogmatik kann an dieser Stelle natürlich nur angedeutet werden. Insbesondere können die Abstraktionsleistungen, die die rechtsdogmatischen Konstruktionen ihrerseits auf Grundlage des positiven Verfassungsrechts vornehmen müssen, nicht im Einzelnen nachvollzogen werden. Deshalb soll es hier genügen, wenn eine verfassungstheoretische Konzeptionalisierung des demokratischen Rechtsstaats, die beansprucht, positives demokratisches Verfassungsrecht und Verfassungsdogmatik zu abstrahieren,63 mit der hier vertretenen Konzeption des demokratischen Rechtsstaats ins Verhältnis gesetzt wird. Dafür werden (1) das Demokratie- und das Rechtsstaatsprinzip in der Verfassungslehre Mastronardis (2) der zuvor erarbeiteten demokratischen Rechtsstaatskonzeption kritisch gegenübergestellt.
Abbildung 23: Demokratischer Rechtsstaat im Kontext
(1) „Das Demokratieprinzip fasst jene Verfassungsgrundsätze zusammen, welche die politische Willensbildung im Staat anleiten. Das Prinzip regelt die Mitwirkung der politischen Bürgerschaft und der von ihr bestimmten Behörden am staat63 Das trifft auf die Verfassungslehre Mastronardis zu: vgl. Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 225 f., Rn. 697 – 700, einschließlich Kästen.
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lichen Prozess.“64 Darunter vereinigt Mastronardi die zwei Teilgehalte65 der Volkssouveränität und der Verantwortlichkeit der Regierung.66 Unter dem Prinzip der Volkssouveränität67 versteht Mastronardi wiederum, wie weithin verbreitet und auch hier zutreffend, „[d]ass alle Macht vom Volk ausgehen soll [ . . . ]. [Politische Macht] soll immer auf die Zustimmung des Volkes zurückführbar sein. [ . . . ] Die Volkssouveränität entfaltet und schützt die kollektive Autonomie der Menschen. Sie gewährleistet jedem die Mitbestimmung über Fragen des Zusammenlebens im öffentlichen Raum [ . . . ].“ Nun sieht Mastronardi die Volkssouveränität aufgrund der Notwendigkeit von Repräsentation gebrochen68 und stellt ihr aus diesem Grund die Verantwortlichkeit der Regierung an die Seite69. Unter der Verantwortlichkeit der Regierung70 „werden die Staatsorgane“ dann „verpflichtet, Rechenschaft über ihre Repräsentationen abzulegen. Umgekehrt bleibt es Aufgabe der Bürgerinnen und Bürger, eine politische Kontrolle über die Behörden auszuüben.“71 Als Teilgehalte wiederum des Grundsatzes der verantwortlichen Regierung sollen sodann die Gewaltenteilung und die Verantwortlichkeit der Organe gelten. Mastronardis Konzeptionalisierung der Gewaltenteilung72 geht dabei von der klassischen Lehre (die ja dazu neigt, die Gewaltenteilung dem Rechtsstaatsprinzip zuzuschreiben) aus, öffnet sich aber auch für eine diskurstheoretisch-prozedurale Lesart73. Die Verantwortlichkeit der Organe74 besteht in der durch die Gewaltenteilung erst mögliche „Haftung für Verletzung der Verantwortung“,75 sei es als politische, strafrechtliche, disziplinarische oder vermögensrechtliche Verantwortlichkeit76. „Das Rechtsstaatsprinzip“ dagegen „bindet den Staat an eine rechtliche Verfassung.“77 Insbesondere Vertrauen und Rechtssicherheit seien Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips. „Der Rechtsstaat ist die Form, in welcher Vertrauen in die Machtordnung geschaffen wird.“78 Mastronardi unterscheidet dabei zwischen dem forMastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 252, Rn. 775. Mastronardi, Verfassunglehre (2007), S. 253, Rn. 777. 66 Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 252 – 278, Rn. 774 – 842. 67 Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 254 – 260, Rn. 778 – 790. 68 Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 256 f., Rn. 284. 69 Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 258, Kasten / S. 260, Rn. 791. 70 Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 260 – 267, Rn. 791 – 806. 71 Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 260, Rn. 793. 72 Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 261 – 265, Rn. 796 – 803. 73 Vgl. bereits Mastronardi, Kriterien der demokratischen Verwaltungskontrolle (1991), S. 82 f. / 508 f. 74 Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 266 f., Rn. 804 – 806. 75 Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 266, Rn. 804. 76 Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 266, Kasten. 77 Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 279, Rn. 844. Zum Ganzen ebd., S. 279 – 287, Rn. 843 – 871. 78 Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 279 f., Rn. 845, Zitat auf S. 280. 64 65
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mellen und dem materiellen Rechtsstaat. Der formelle Rechtsstaat verlange, staatliche Macht an Rechts-, soll heißen Gesetzesform zu binden und sie damit berechenbar (Rechtssicherheit) und anfechtbar (Rechtsschutz) zu machen.79 Darunter fasst Mastronardi das Prinzip der Gesetzmäßigkeit (Legalität), das die Verbindlichkeit (Vorrang des Gesetzes) und die Gebundenheit (Vorbehalt des Gesetzes) rechtlicher Entscheidungen statuiert,80 (erneut) die Gewaltenteilung, die „[i]n ihrem rechtsstaatlichen Gehalt“ „vor allem als Beschränkung der Exekutivgewalt im Dienste von Freiheit und Gleichheit“ zu betrachten sei,81 sowie die verfahrensgerechte und mit Rechtsschutzmöglichkeiten versehene Verpflichtung rechtlicher Machtausübung auf die ihnen zugeschriebenen förmlichen Verfahren.82 „Der materielle Rechtsstaat füllt diese formalen Garantien“ laut Mastronardi „mit Inhalten“.83 Als diese werden mit dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit selbst, dem öffentlichen Interesse, dem Subsidiaritätsprinzip, dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit und dem Prinzip von Treu und Glauben bestimmte materielle rechtsstaatliche Grundsätze genannt.84 Als „Kerngehalt des Rechtsstaatsprinzips“ hinzuzuzählen sind schließlich die Grundrechte, die als Freiheitsrechte und Rechtsgleichheit begriffen werden und dabei auch einen konstitutiven, Schutzpflichten hervorrufenden Gehalt aufweisen und zudem im horizontalen Verhältnis zwischen den Bürgerinnen und Bürgern (Drittwirkung) zum Tragen kommen können.85 Ferner stehen Demokratie und Rechtsstaat für Mastronardi „in einem Ergänzungs- und Spannungsverhältnis zueinander“:86 „Rechtsstaat und Demokratie bedingen einander. Aber sie sind selbständige Prinzipien der Staatsordnung.“87 Das Spannungsverhältnis bestehe darin, dass der Rechtsstaat einerseits die Demokratie beschränkt, die Demokratie aber auch den Rechtsstaat.88 Dieses gegenseitige Verhältnis wird in verschiedener Weise spezifiziert. Zum einen soll es sich auf das Verhältnis von Entscheidungsproduktion und Vertrauensschutz beziehen: „Das Resultat des demokratischen Diskurses ist ein Entscheid. Dieser Entscheid beansprucht Geltung; er soll Verlässlichkeit garantieren und Vertrauen schaffen. Dazu braucht die Demokratie den Rechtsstaat.“89 Zum andern sieht Mastronardi das Verhältnis von Demokratie und Rechtsstaat als ein Spiegelbild des VerhältnisMastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 280, Rn. 848 / S. 281 f., Rn. 851 – 855. Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 281, Rn. 851. 81 Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 281 f., Rn. 852 f., Zitat auf S. 282, Rn. 853. 82 Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 282, Rn. 854 f. 83 Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 280, Rn. 849. Zum Ganzen ebd., S. 282 – 287, Rn. 856 – 871. 84 Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 282 f., Rn. 856 f. 85 Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 283 – 287, Rn. 858 – 871. 86 Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 279, Kasten. Zum Ganzen ebd., S. 287 – 292, Rn. 872 – 886. 87 Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 287, Rn. 872. 88 Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 289, Rn. 877 f. 89 Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 279, Rn. 843. 79 80
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ses von öffentlicher und privater Autonomie: „Während die Demokratie die kollektive Form der Selbstbestimmung (öffentliche Autonomie) anstrebt, dient der Rechtsstaat der individuellen Form der Selbstbestimmung (private Autonomie).“90 Und schließlich zieht Mastronardi daraus auch den Schluss, dass Demokratie und Rechtsstaat auch das Verhältnis von Gemeinwohl und Gerechtigkeit, sozusagen vom Guten und Gerechten, widerspiegeln: „Die Demokratie ist die Form, in welcher am ehesten herausgefunden werden kann, was für die Gesamtheit gut ist (das Gemeinwohl); der Rechtsstaat ist die Form, in welcher am ehesten dafür gesorgt werden kann, dass dies einzelne Menschen oder Minderheiten nicht in unzumutbarer Weise belastet (Gerechtigkeit).“91 (2) Es ist nicht zu übersehen, dass diese Darstellung des Demokratie- und des Rechtsstaatsprinzips, bei genauem Hinsehen auch das Verhältnis zwischen ihnen, mit der hier erarbeiteten Konzeption des demokratischen Rechtsstaats nicht ganz deckungsgleich ist oder jedenfalls Erklärungsbedarf mit sich bringt, falls behauptet würde, die hiesige verfassungstheoretische Konkretisierung der deliberativen Demokratie wäre mit Mastronardis Abstrahierung demokratischen Verfassungsrechts und rechtsdogmatischer Konstruktionen identisch. Wenn es aber stimmen soll, dass sich (methodische) verfassungstheoretische Konkretisierung und (methodische) verfassungstheoretische Abstrahierung im juristisch-ethischen Feld der Verfassungstheorie treffen, dann muss gezeigt werden können, wie sich das hier Entwickelte mit dem Demokratie- und dem Rechtsstaatsprinzip Mastronardis ins Benehmen setzen lässt. Anders gewendet, bedarf es einer überzeugenden oder zumindest plausiblen Argumentation, weshalb die beiden Konzeptionalisierungen des demokratischen Rechtsstaats voneinander abweichen. Das soll hier mit einigen kritischen Hinweisen darauf geschehen, wie Mastronardis Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip und auch das Verhältnis der beiden zueinander in einer noch konsequenteren deontologischen, diskurstheoretischen und strukturierenden Lesart verbessert werden kann, die schließlich zum hier vorgelegten verfassungstheoretischen Vorschlag des demokratischen Rechtsstaats führt. Dabei ist vorwegzuschicken, dass Mastronardis abstrahierend-verfassungstheoretischen Rekonstruktionen im Grunde und im Gesamten gefolgt werden kann, insbesondere wenn berücksichtigt wird, dass die (keineswegs immer ganz klar strukturierten) Konstruktionen der juristische Dogmatik einen erheblichen Einfluss auf die Abstrahierungs- oder Generalisierungsarbeit ausüben. Aus einer interdisziplinären, auch die Ethik einbeziehenden Gesamtsicht bedürfen sie jedoch einiger korrigierender Ansätze. Begonnen werden kann etwa beim zuletzt dargestellten Verhältnis zwischen Demokratie und Rechtsstaat. Wie sich gezeigt hat, deutet sich bei Mastronardi bei diesem nämlich an, dass „das Gute“ und „das Gerechte“ bereits innerhalb des demokratischen Rechtsstaats analytisch differenziert werden: „Demokratie und Rechtsstaat vertreten die beiden grossen ethischen Ausrichtungen des demokra90 91
Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 289, Rn. 881. Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 252, Rn. 774.
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tischen Verfassungsstaats: das Gute und das Gerechte. Die Demokratie orientiert sich am Guten (dem Gemeinwohl oder dem öffentlichen Interesse). Der Rechtsstaat orientiert sich am Gerechten (an den Grundrechten, an fairen Verfahren am Rechtsschutz).“92 Etwas Ähnliches lässt sich auch für das Verhältnis zwischen formellem und materiellem Rechtsstaat feststellen, wo „formale Garantien“ und „Gerechtigkeit“ einander gegenübergestellt werden: „Der materielle Rechtsstaat füllt diese formalen Garantien [sc. des formellen Rechtsstaats] mit Inhalten. Der formelle Rechtsstaat schützt ja nicht vor ungerechten Gesetzen oder willkürlichen Anwendungsakten. Dazu braucht es materielle Grundsätze [ . . . ].“ Einer konsequenten deontologischen Verfassungslehre steht es in legitimatorischer Sicht, in der Erhebung eines legitimatorischen Geltungsanspruchs (Richtigkeitsanspruchs) aber nicht an, auch das Gute zum Maßstab des Gerechten zu machen. Kurz: Solange in einer Verfassungstheorie ein legitimatorischer Anspruch erhoben wird, geht es nur ums Gerechte. Natürlich muss der gerechte Staat, genauer: die gerechte Public Governance, in der Lage sein, das (erlaubte) Gute – das Gemeinwohl, das öffentliche Interesse – zu ermöglichen. Insofern kann das Gute als das „Für-allegleichermaßen-Gute“ als das Gerechte verstanden werden. Das „Für-alle-gleichermaßen-Gute“ muss ins Gerechte aber gewissermaßen eingebaut sein, und Freiheit und Verantwortung, Demokratie und Rechtsstaat erfüllen es als Gerechtigkeitsprinzipien gemeinsam. Das Gute, das Gemeinwohl wird in den normativen Strukturen sowohl der Demokratie als auch des Rechtsstaats erzeugt. Das ist hier mit der deontologischen Justierung des legitimatorischen Anspruchs, mit der Ausscheidung des teleologischen Anspruchs aus dem legitimatorischen und mit dem seither konsequenten doppelten Rückgriff auf beide Gerechtigkeitsaspekte von Freiheit und Verantwortung bzw. von Demokratie und Rechtsstaat von Anfang an deutlich gemacht worden.93 Gegenüber der Verfassungslehre Mastronardis hat das den Vorteil, Demokratie und Rechtsstaat noch besser als zwei Seiten derselben Medaille verstehen zu können und nicht in Verlegenheit kommen zu müssen, Demokratie und Rechtsstaat bereits jeweils schon als „selbständige“ Verfassungsprinzipien begreifen zu müssen. Wie sich noch zeigen wird, lässt das auch leichter zu, Teile des Rechtsstaatsprinzips, die Mastronardi dem Demokratieprinzip zuordnet, und Teile des Demokratieprinzips, die er dem Rechtsstaatsprinzip zuordnet, in einer konsequenteren diskurstheoretischen Sicht als Konkretisierungen des anderen zu verstehen. Die Auffassung jedenfalls, dass es sich bei Demokratie und Rechtsstaat um (auch) „selbständige Prinzipien der Staatsordnung“ handelt, ist noch zu undifferenziert. Wohl lassen sich Demokratie und Rechtsstaat und mit ihnen die ihnen entsprechenden Konkretisierungen analytisch differenzieren. Weder das Demokratie- noch das Rechtsstaatsprinzip kann jedoch für sich allein bestehen, ohne den jeweils gleichermaßen notwendigen Grundideen der Freiheit oder der VerantMastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 290, Rn. 882. I. g. S. das in Fn. 91 belegte Zitat. Insb. II. 1. b) und II. 2. b), (3). Vgl. auch bereits die Kritik an der Einmischung des ethisch-politischen Diskurses in die politische Deliberation in IV. 4., (3) (a). 92 93
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wortung Unrecht anzutun. Treffender formuliert es Mastronardi daher, wenn er präzisiert: „[Rechtsstaats- und Demokratieprinzip] bedingen sich von ihrem Grundanliegen her gegenseitig, stehen aber auch in einem Spannungsverhältnis zueinander und bedürfen des ständigen Ausgleichs.“ 94 Hinzu kommt, dass Demokratie und Rechtsstaat auch nicht einseitig der öffentlichen Autonomie (Demokratie) und der privaten Autonomie (Rechtsstaat) zugeordnet werden können. Das mag aus einer klassischen liberalen Sicht, der die juristische Dogmatik des demokratischen Rechtsstaats im Großen und Ganzen noch nachhängt, als zutreffend erscheinen. In einer differenzierteren, diskurstheoretisch gewendeten Interpretation von Freiheit und Verantwortung (die Mastronardi ja zumindest auch für sich in Anspruch nimmt) verschränken sich öffentliche und private Autonomie aber über die verschiedenen Aspekte der normativen Struktur des Rechtfertigungsprozesses hinweg in unterschiedlicher Weise.95 Diese Verschränkung bringt sich auch im demokratischen Rechtsstaat wieder zur Geltung: In struktureller Hinsicht ist es durchaus zutreffend, dass das Demokratieprinzip der öffentlichen Autonomie und das Rechtsstaatsprinzip der privaten Autonomie zugewandt ist. Das demokratische Prinzip der Volkssouveränität bringt zum Ausdruck, dass die demokratische Gemeinschaft die Ausübung von Rechtsmacht als selbstbestimmendes Kollektiv letztlich gegen sich selbst wenden will. Die rechtsstaatlichen Grundrechte erinnern dagegen insbesondere an die Autonomie privater Individuen, die der kollektiven Machtausübung nur aus eigenen, freien Stücken zustimmen sollen. In formeller Hinsicht dreht sich das Verhältnis von kollektiver und privater Autonomie im demokratischen Rechtsstaat jedoch um. Nun ist es das demokratische Prinzip der Institutionensymmetrie, das tendenziell die Freiheit Einzelner oder einzelner Einheiten ins Auge fasst, und es ist das rechtsstaatliche Prinzip der Verantwortlichkeit, das an die Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit erinnert. In materieller Hinsicht verschränken sich kollektive und private Autonomie dann wieder zu gleichen Teilen. Sowohl das Prinzip der Verfahrenslegitimation als auch das Prinzip der Gesetzesbindung berühren die beiden „Autonomien“ gleichermaßen. Der Grund dafür liegt in der prozeduralen Wendung des Normerzeugungsprozesses, der die materiellen Anliegen von Individuum und Kollektiv jeweils ganz dem Verfahren selbst überantwortet. Nun könnte Mastronardi freilich entgegnen, dass eben diese Lesart und eben diese Strukturierung von Demokratie und Rechtsstaat in die falsche Richtung steuert. Abgesehen aber davon, dass die hier vorgetragene Strukturierung des demokratisch-rechtsstaatlichen Prozesses über verschiedene Disziplinen hinweg kontextualisiert werden kann – ein interdisziplinäres Argument, das Mastronardi für seine Konzeption des demokratischen Rechtsstaats nicht in gleicher Weise vorzubringen vermag –, lassen sich aber Argumente formulieren, die eher dessen Alternativen infrage stellen. Zunächst lässt sich jedoch festhalten, dass die beiden Prinzipien 94 95
Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 290, Rn. 881. IV. 3. c) a. E.; vgl. auch bereits II. 2. b), (3) a. E.
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der Volkssouveränität und der Grundrechte im Verhältnis zur Konzeption Mastronardis keinerlei Schwierigkeiten bereiten. Hier wie dort wird die Volkssouveränität als ein zentraler (genauer: der strukturelle) Aspekt des Demokratieprinzips begriffen, und die Grundrechte werden mit etwa deckungsgleicher Ausgestaltung als der Kerngehalt (genauer: der strukturelle Aspekt) des Rechtsstaatsprinzip betrachtet. Die enge Verschwisterung zwischen Volkssouveränität (Zustimmung) und Grundrechten (Menschenwürde) zur Zustimmungswürdigkeit wird freilich erst in der strukturierten Perspektive der hier entfalteten Konzeption des demokratischen Rechtsstaats richtig deutlich. In Bezug auf Mastronardis Konzeptualisierung des Demokratieprinzips muss ferner kritisch angemerkt werden, dass dessen Teilgehalt der Volkssouveränität durch die Repräsentation nicht „gebrochen“ oder „relativiert“, sondern konkretisiert wird. Repräsentation bedeutet keine normative Einbuße, die aufgrund unverrückbarer „Möglichkeits“bedingungen hinzunehmen wäre, sondern die durch und durch zumutbare und gerechtfertigte Konkretisierung des ethischen Zustimmungsprinzips in modernen demokratischen Großgesellschaften. I. d. S. „ist“ die repräsentierte Zustimmung in modernen demokratischen Gesellschaften die ethisch legitime Zustimmung oder auch die juristisch-ethische Volkssouveränität, und nicht etwa ein im Zerfall begriffenes Bruchstück davon. So gesehen, bedarf es innerhalb des Demokratieprinzips auch keiner entsprechenden Ergänzung (etwa durch das Prinzip der Verantwortlichkeit der Regierung). Sicherlich – und in dieser Hinsicht ist Mastronardi Recht zu geben – bedarf es diesem Prinzip gegenüber überhaupt eines Gegen- oder Ergänzungsprinzips. Dieses ist aber nicht innerhalb des Leitgedankens der Demokratie, sondern innerhalb des Rechtsstaatsgedankens zu suchen und entspricht auch nicht direkt dem Prinzip der Verantwortlichkeit der Regierung (dem hier in etwa das rechtsstaatliche Prinzip der Verantwortlichkeit entspricht). Wie hier durchweg ausgeführt, muss sich die Zustimmungswürdigkeit repräsentativer Verfahren in erster Linie einer fairen Repräsentationsstruktur verdanken, die hier in der politischen Philosophie unter das verantwortungsnahe Prinzip der Gleichberechtigung und in der Verfassungstheorie entsprechend unter das rechtsstaatliche Prinzip der Grundrechte gefasst wird.96 Sicherlich sorgt dann auch das verfassungstheoretische Prinzip der Verantwortlichkeit in der Konsequenz für die Fairness von Repräsentationsverfahren. Analytisch präziser und systematisch strukturierter stellt es jedoch in formeller Hinsicht das rechtsstaatliche Gegenprinzip zum demokratischen Prinzip der Institutionensymmetrie dar – etwa so, wie das Prinzip der Checks in der politischen Philosophie das Gegenprinzip zum Prinzip der Balances darstellt. Interessant ist, dass das Gewaltenteilungsprinzip auch bei Mastronardi sowohl einen demokratischen als auch einen rechtsstaatlichen Anteil hat,97 zumal die Gründe dafür, weshalb das Gewaltenteilungsprinzip einerseits einen demokratischen und 96 97
Dazu bereits IV. 3. b), (3). Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 263 f., Rn. 800 – 803 / S. 288 f., Rn. 875 – 878.
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einen rechtsstaatlichen Charakter besitzt, mit den hier entsprechend vorgebrachten Gründen prinzipiell übereinstimmen: „Die Gewaltenteilung dient nicht nur der Machtbegrenzung im Dienste der individuellen Freiheit, sondern ebenso der Herstellung einer demokratisch begründeten Rationalität im Zusammenwirken unter den staatlichen Behörden. Die Gewalten sollen nicht nur getrennt, sondern auch zusammengeführt werden. Sie sollen im Hinblick auf die gemeinsame Aufgabe der Staatsleitung verantwortlich zusammenwirken.“ 98 Das (diskurstheoretische) Bekenntnis zur doppelten Verflochtenheit in Rechtsstaat und Demokratie (es ist ja gerade die Verbindung mit dem Demokratieprinzip, die die herkömmliche, liberal geprägte Lehre unterschlägt) wird allerdings dadurch wieder relativiert, dass die Gewaltenteilung innerhalb des Demokratieprinzips nur mit dem Gedanken der Verantwortlichkeit in Verbindung gebracht wird,99 der in der hiesigen Sicht rechtsstaatlich zu lesen ist. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Will Mastronardi die diskurstheoretische Lesart – zu Recht – nicht fallen lassen, ist er gezwungen, das Gewaltenteilungsprinzip zwischen Demokratie und Rechtsstaat oszillieren zu lassen. Weil ihm unter den Prinzipien des demokratischen Rechtsstaats das (demokratische) Prinzip der Institutionensymmetrie jedoch fehlt, bleibt ihm nichts anderes, als es auf der Seite der Demokratie dem (eigentlich rechtsstaatlichen) Prinzip der Verantwortlichkeit zuzuschlagen. Das wiederum bringt die merkwürdige Konsequenz mit sich, dass der diskurstheoretische Gedanke einer gleichberechtigten Mitwirkung am demokratischen Prozess wieder untergeht und mit der Verantwortlichkeit innerhalb des Demokratiegedankens ein Prinzip stehen bleibt, das besser dem Rechtsstaat zuzuordnen wäre. In der hier vertretenen Konzeptionalisierung der Gewaltenteilung ist weder das eine noch das andere nötig. Als Zwischenergebnis kann festgehalten werden, dass Mastronardis Vorstellung von der Volkssouveränität und von den Grundrechten mit der hier vertretenen Konzeption des demokratischen Rechtsstaats in struktureller Sicht übereinstimmt. Auch Mastronardis Prinzip der Verantwortlichkeit der Regierung kann in die hier vertretene Konzeption eingefügt werden. Erst in der Ergänzung des Verantwortlichkeitsprinzips um das bei Mastronardi fehlende demokratische Prinzip der Institutionensymmetrie wird allerdings dessen tatsächlich rechtsstaatlicher Charakter kenntlich. Demokratische Institutionensymmetrie und rechtsstaatliche Verantwortlichkeit bilden dann zusammen den formellen Aspekt der demokratisch-rechtsstaatlichen Rechtfertigungsstruktur. Um das besser sehen zu können, ist es jedoch 98 Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 263, Rn. 800, H. n. O. Anzumerken ist noch, dass die „Machtbegrenzung im Dienste der individuellen Freiheit“ hier, konsequenter prozedural, als Verantwortung gegenüber dem demokratischen Gesamtprozess und damit eher gegenüber der demokratischen Gemeinschaft begriffen wird. Außerdem ist (vervollständigend) darauf hinzuweisen, dass sich die Gewaltenteilung, in welcher Lesart auch immer, nicht nur auf die „staatlichen Behörden“ beziehen, sondern auf sämtliche Gewalten der Public Governance. Das muss mutatis mutandis auch für das Prinzip der Verantwortlichkeit der Regierung gelten: vgl. das in Fn. 71 belegte Zitat. 99 Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 253, Rn. 775 / 776 / 777.
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von Vorteil, wenn die Demokratie nicht als die Verkörperung „des Guten“ und der Rechtsstaat nicht als die Verkörperung „des Gerechten“ missverstanden, sondern zur Kenntnis genommen wird, dass Demokratie und Rechtsstaat (erst) zusammen (nur) das Gerechte ermöglichen. In dieser auch diskurstheoretisch konsequenten Justierung der deontologischen Sichtweise kann auch die liberale Altlast abgeworfen werden, die dazu nötigt, die Demokratie allein mit der kollektiven Autonomie und insbesondere den Rechtsstaat allein mit der privaten Autonomie verbunden zu sehen. Was nun noch bleibt, ist der materielle Aspekt des demokratischen Rechtsstaats, d. h. die Frage, auf welche Weise der Inhalt, besser: die Texte, auf die sich juristisch-rechtliche Entscheidung und Machtausübung beruft, im Verfassungsstaat produziert werden. Als die verbleibenden Teilgehalte des demokratischen Rechtsstaats stehen in Mastronardis Konzeption dafür auf der Seite des formellen Rechtsstaats noch das Gesetzmäßigkeitsprinzip und die Forderung nach fairen Verfahren und Rechtsschutz und auf der Seite des materiellen Rechtsstaats noch die spezifischen Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns zur Verfügung. Dabei spielen Vertrauensschutz und Rechtssicherheit eine große Rolle. Im Kontext von Vertrauensschutz und Rechtssicherheit ist zunächst dem allgemeinen Missverständnis entgegenzuwirken, Vertrauen und Sicherheit könnten allein materiell verstanden werden und wären zudem allein dem Rechtsstaat zuzuschreiben. Die materielle rechtsstaatliche „Sicherheit“, die das Recht zu verbürgen imstande ist, ist nämlich nur eine halbe Sicherheit, das halbe Vertrauen, das die Bürgerinnen und Bürger berechtigterweise in die gesetzlich gestützten Rechtsentscheide legen dürfen. Wie die sprachtheoretischen Reflexionen in der juristischen Methodik gezeigt haben, ist alles, was im demokratischen Rechtsstaat für Sicherheit und Vertrauen verbürgen kann, Text.100 Rechtstexte tragen „ihre“ Bedeutung aber nicht „in sich“. „Die“ Bedeutung muss ihnen für das konkrete infrage stehende Problem, für den infrage stehenden Fall in einem produktiven Semantisierungsprozess verantwortungsvoll abgerungen werden. Rechtstexte sind für den demokratisch-rechtsstaatlichen Prozess allerdings von Bedeutung. Die Bürgerinnen und Bürger dürfen im demokratischen Rechtsstaat darauf vertrauen, dass sie als Entscheidungsgrundlage herangezogen werden und dass alle weiteren Texte und letztlich auch die rohe Gewalt, die diesen Texten Wirklichkeit verschaffen soll, verfahrenslegitim an sie angeschlossen werden. Materielle und formelle Rechtssicherheit, materielles und formelles Vertrauen verbinden sich im demokratischen Rechtsstaat zu einer demokratisch-rechtsstaatlich korrekten Inarbeitnahme von Normtexten. Sie konstituieren durch das demokratische Prinzip der Verfahrenslegitimation und das rechtsstaatliche Prinzip der Gesetzes(text)bindung gemeinsam die doppelseitige Forderung nach Legalität. Nun deutet sich bei Mastronardi durchaus an, dass Rechtssicherheit mit dem formellen Rechtsstaat auch formell oder prozedural verstanden wird. Es fragt sich aber, ob es sich in diesem Zusammenhang noch um ein Element des Rechtsstaats 100
Kapitel I, insb. I. 2. b).
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und nicht vielmehr der Demokratie handelt. Wenn die sich hier durch sämtliche relevanten Disziplinen hindurchziehende These zutrifft, dass für jeden Aspekt der Legitimationsstruktur Freiheit immer Verantwortung, der Demokratie immer der Rechtsstaat und umgekehrt auch dem Rechtsstaat immer die Demokratie gegenübersteht, dann gilt das auch für den an dieser Stelle infrage stehenden Aspekt der Rechtssicherheit oder des Vertrauensschutzes, der den demokratisch-rechtsstaatlichen Prozess in materieller Hinsicht anspricht. „In materieller Hinsicht “ ist dabei noch keine Stellungnahme für einen materiellen Ansatz. Die hier für die Strukturierung der Diskurs- und Deliberationsprinzipien durchgehend gebrauchte Wendung markiert lediglich den Aspekt, unter dem Diskurs und Deliberation zu normieren sind. Im Zusammenhang von Rechtssicherheit und Vertrauensschutz ist das die Frage, unter welchen normativen Bedingungen der materielle Gehalt, genauer: der spezifische Text von Rechtsentscheidungen, erzeugt oder produziert werden soll. Auf diese Weise lässt sich möglicherweise auch Mastronardis formell-rechtsstaatliche Forderung nach fairen Verfahren für das Demokratieprinzip einholen. Neben dem verantwortungsnahen rechtsstaatlichen Prinzip der Gesetzes(text)bindung ist es das demokratische Prinzip der Verfahrenslegitimation, das den ebenso notwendigen freiheitlichen Gedanken offener Rechtsproduktion zum Ausdruck bringt. Auch das ist allerdings erst aus einer konsequenten (interdisziplinären) diskurstheoretischen Sicht verständlich. Anzumerken ist noch, dass der spezifische Gesichtspunkt des Rechtsschutzes, den Mastronardi mit der Forderung nach verfahrens- und formgerechten Prozessen in einem Atemzug nennt, mit dem Prinzip der Verfahrenslegitimation zwar durchaus verwandt ist, in einer strenger strukturierten Perspektive den materiellen Aspekt der Rechtsproduktion aber nicht direkt betrifft. Weil er vielmehr die formelle Frage betrifft, auf welche Weise der demokratische Rechtsstaat in seiner Verfahrensstruktur zu normieren ist und dabei das rechtsstaatliche Verantwortungsmoment berührt, fällt der Rechtsschutzgedanke dem rechtsstaatlichen Prinzip der Verantwortlichkeit zu, das dem demokratischen Prinzip der Institutionensymmetrie gegenübersteht. Der Rechtsschutz erscheint dann (diskurstheoretisch) deutlicher als die juristisch-institutionalisierte Rechenschafts- und Begründungspflicht die derjenigen gleiche Chancen ermöglichenden Verfahrensautonomie zur Seite zu stellen ist, die im demokratischen Rechtsstaat in der institutionensymmetrischen Ausgestaltung des Rechtsprozesses ihren Niederschlag findet. Das Gleiche, was für den Rechtsschutzgedanken gesagt worden ist, gilt freilich auch für diejenigen Gesichtspunkte des mastronardischen formellen Rechtsstaats, die für Rechtsverfahren eine anfechtbare Form verlangen. Diese Forderung läuft mit dem Rechtsschutzgedanken parallel und steht in formeller Hinsicht dem Prinzip der Institutionensymmetrie daher ebenso unter dem Prinzip der Verantwortlichkeit gegenüber. Somit wären sämtliche Prinzipien des hiesigen demokratischen Rechtsstaats verarbeitet. Was in Mastronardis Konzeption jedoch noch nicht aufgegriffen worden ist, sind die Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns. Dass die rechtsstaatlichen Grundsätze wie das Verhältnismäßigkeitsprinzip, das Prinzip des öffentlichen Inte-
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resses usw., die bei Mastronardi neben den Grundrechten einen wichtigen Teil des materiellen Rechtsstaats ausmachen, in der hier entwickelten Konzeption des demokratischen Rechtsstaats im Einzelnen nicht in Erscheinung treten, liegt aber nicht etwa daran, dass hier eine Übergewichtung des formellen Rechtsstaats vorherrschen würde. Es liegt vielmehr daran, dass die materiellen rechtsstaatlichen Grundsätze zwar durchaus als wichtige Bestandteile demokratisch-rechtsstaatlichen Verfassungsrechts zu betrachten sind, nicht jedoch das Abstraktionsniveau juristisch-ethischer Strukturprinzipien erreichen. In der hier vertretenen Perspektive besitzen sie den Status von juristisch-dogmatischen Verfassungsgrundsätzen, die sich noch auf juristisch-ethische Prinzipien des demokratischen Rechtsstaats zurückführen lassen. Auch wenn die Abstrahierung von rechtsdogmatischen Grundsätzen als rechtstheoretische Prinzipien nicht direkt in den Anspruchsbereich dieser Untersuchung fällt, soll immerhin ansatzweise dargetan werden, wie diese Abstrahierung aussehen könnte. Dabei muss der rechtsstaatliche Grundsatz „des Rechtsstaatsprinzips selbst“ nicht weiter in Arbeit genommen werden. Wie hier bereits mehrfach dargelegt, lässt es sich in struktureller, materieller und formeller Hinsicht als Prinzip der Grundrechte, als Prinzip der Gesetzesbindung und als Prinzip der Verantwortlichkeit konkretisieren. Das „öffentliche Interesse“ kann sodann als eine rechtsdogmatische Konkretisierung des demokratischen Prinzips der Volkssouveränität verstanden werden, insofern juristische Machtausübung nur in dem Maße gerechtfertigt ist, wie es den gesetzestextlich verbürgten Entscheidungen der demokratischen Gemeinschaft zugerechnet werden kann (deshalb wirkt das öffentliche Interesse – rechtsdogmatisch – den Grundrechten auch tendenziell entgegen). Demgegenüber lässt sich der Grundsatz der „Verhältnismäßigkeit“ als eine Konkretisierung (nota bene: des juristischethischen Prinzips) der Grundrechte begreifen, nach denen Zustimmung – und in der Konsequenz auch die mit Zustimmung belegte Machtausübung – immer erst dann Rechtsgültigkeit beanspruchen darf, wenn sie zustimmungswürdig ist. Die angemessene Gewichtung von Ziel (Zweck) und Heftigkeit (Mittel) der Machtausübung ist dabei von entscheidender Bedeutung (deshalb kommt die Verhältnismäßigkeit – rechtsdogmatisch – den Grundrechten auch tendenziell entgegen). Das „Subsidiaritätsprinzip“ lässt sich am ehesten mit dem rechtsdogmatischen Prinzip der Verhältnismäßigkeit und dem rechtstheoretischen Prinzip der Institutionensymmetrie verbinden. Es verlangt, staatliche Machtausübung in der Public Governance erst zum Zug kommen zu lassen, wenn die Bürgerinnen und Bürger der rechtmäßigen Implementierung des demokratischen Rechts nicht in zumutbarer Weise nachkommen. Damit ist zum einen das institutionell-organisatorische Gleichgewicht zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Governance-Gewalten angesprochen und zum andern die letztlich rechtsstaatlich-grundrechtliche Forderung, rechtliche Eingriffe stets nur unter der Bedingung der Zustimmungswürdigkeit gelten zu lassen. Der Grundsatz von „Treu und Glauben“ schließlich konkretisiert, wie bereits in der Diskussion von Rechtssicherheit und Vertrauensschutz klar geworden sein sollte, das demokratische Prinzip der Verfahrenslegitimation und das rechtsstaat-
4. Demokratischer Rechtsstaat im Kontext
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liche Prinzip der Gesetzesbindung zu gleichen Teilen. Die Bürgerinnen und Bürger dürfen sowohl darauf vertrauen, dass sämtliches Handeln im öffentlichen Raum auf gesetzesrechtlicher Textgrundlage beruht, als auch darauf, dass die Rückgriffe auf diese Texte und die Zugriffe auf die Verhältnisse der Wirklichkeit verfahrenslegitim verlaufen. Das Ziel dieser Kontextualisierung, die hier vertretene Konzeption des demokratischen Rechtsstaats über eine (methodisch) abstrahierend erarbeitete Verfassungskonzeption auch im Verhältnis zur juristischen Verfassungsdogmatik zu verteidigen oder zumindest plausibel zu machen, dass die hier (methodisch) konkretisierend erarbeitete Konzeption durchaus auch einen kohärenten interdisziplinären Anschluss an die Rechtsdogmatik finden kann, darf damit als erreicht gelten. Die verfassungstheoretische Konzeption des demokratischen Rechtsstaats ist sowohl als eine Abstrahierung juristischer Verfassungsdogmatik als auch als eine Konkretisierung einer ethischen Konzeption demokratischer Politik zu betrachten. Auch wenn Mastronardi seine soeben dargestellte methodisch abstrahierte oder generalisierte Konzeptionalisierung von Demokratie und Rechtsstaat von seiner konkretisierten Konzeption des demokratischen Verfassungsstaats – zumindest „sprachlich“ – unterschieden wissen will,101 lässt auch er erkennen, dass mit beiden „Versionen“ des demokratischen Verfassungsstaats bzw. des demokratischen Rechtsstaats im Prinzip dasselbe thematisch-methodische Anspruchsfeld erreicht wird.102 Explizit werden Verbindungslinien zur politischen Philosophie und zur Moralphilosophie v. a. im Kontext des (generalisiert-abstrahierten) Demokratieprinzips gezogen, wo die Volkssouveränität als eine Konkretisierung des Konsensprinzips und der demokratischen Legitimation durch Zustimmung identifiziert und die Verantwortlichkeit der Regierung der diskursethischen Begründungspflicht und dem deliberativen Prinzip der Rechenschaftspflicht aller Macht zugeordnet wird.103 Im Kontext des (generalisiert-abstrahierten) Rechtsstaatsprinzips sind bei Mastronardi dagegen keine ähnlich klaren Verbindungslinien zu finden. Die soeben vorgenommene Kontextualisierung wollte einige gute Gründe dafür liefern, wie sich Mastronardis im Grunde zutreffende Konzeptionalisierung von Demokratie und Rechtsstaat auch als Abstrahierungen positiven Verfassungsrechts und juristischer Verfassungsdogmatik, dem disziplinären Anspruch der Verfassungstheorie angemessen, in einen noch kohärenteren interdisziplinären Gesamtzusammenhang einfügen lassen.
Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 226, Rn. 698 – 700. Z. B. Mastronardi, Verfassungslehre (2007), S. 226, Rn. 698: „Die staatsleitenden Prinzipien tragen daher einen Doppelcharakter: Einerseits sind sie Konkretisierungen der theoretischen Konzepte, andererseits bilden sie Generalisierungen aus dem positiven Verfassungsrecht europäischer Staaten.“ Oder ebd., S. 226, Rn. 699: „Die staatsleitenden Prinzipien sind Anschlussstellen für die anderen Disziplinen. Sie formulieren Rechtsgrundsätze, die auch für die politische Theorie und die Ethik bedeutsam sind.“ 103 Mastronardi, Verfassungslehre (2007), insb. S. 253, Rn. 776. 101 102
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V. Verfassungstheorie: Demokratischer Rechtsstaat
5. Zusammenfassung Der verfassungstheoretische Gedankengang wird zunächst bei der Konzeptualisierung des Öffentlichen und des Privaten begonnen. Diese beiden komplementären Grundbegriffe des Politischen stellen normative Kategorien dar, an die sich bestimmte legitimatorische Konsequenzen anknüpfen. Während das Private als derjenige Handlungsbereich zu qualifizieren ist, in Bezug auf den die sozialen Interaktionen der Selbstverantwortung überlassen bleiben sollen, handelt es sich beim Öffentlichen um den Handlungsbereich, in dem die zwischenmenschlichen Interaktionen ein derart kritisches Maß an Macht überschreiten, dass sie dem Prinzip der Mitverantwortung bzw. einer öffentlichen Rechtfertigung zu unterstellen sind. Damit lässt sich das Problem der Verfassungstheorie zunächst als die Verfassung, d. h. die legitime institutionelle Strukturierung des öffentlichen Raums beschreiben. Insofern diese Verfassung des Öffentlichen auch in der Verfassungstheorie aufs Politische bezogen bleibt, läuft sie mit der politisch-philosophischen Problematik gleich. Im Unterschied zur politischen Philosophie ist der verfassungstheoretische Verfassungsbegriff allerdings stärker aufs machtgestützte Gesetzesrecht bezogen. Die juristischen Institutionen der Verfassungstheorie gewinnen eine griffigere, wirkungsmächtigere Gestalt. Als umfassendste juristische Institution reicht der Begriff des Staates allerdings v. a. deshalb nicht mehr hin, weil der Bereich des Öffentlichen die engen Grenzen staatlicher Institutionen oft überschreitet. Als Gewährleistungsstaat hat der Staat mit der höchsten legitimen Gewalt zwar weiterhin die Gewährleistungsverantwortung einer politischen Gemeinschaft inne, bildet aber nur ein Element im auf den gesamten öffentlichen Raum bezogenen Netzwerk der Public Governance. Im Feld der Verfassungstheorie verlagert sich der in der politischen Philosophie auf die Tiefenstrukturen des demokratischen Prozesses gerichtete soziologische Blick mehr auf die juristisch-institutionellen Oberflächenphänomene. So werden die maßgeblichen Prozesse des politischen Zentrums über die verschiedenen zentralen Organe hinweg als Legislation, Exekution und Jurisdiktion und die entsprechenden zentralen Gewalten als Legislative, Exekutive und Judikative gedeutet. Zudem wird an einigen Beispielen vorgeführt, wie unterschiedlich die zentralen Organe und Gewalten in ihrer intra- und interorganisationalen Struktur in modernen Demokratien ausgeprägt sein können. Das Gleiche gilt für die Organisationseinheiten der Peripherie. Dort müssen v. a. die intermediären Gewalten so verfasst sein, dass sie den Machtfluss vom peripheren Rand zum politischen Zentrum wirksam gewährleisten. Der juristisch-institutionellen Medienverfassung kommt in modernen Demokratien dabei eine besondere Bedeutung zu. Obwohl sich die Zivilgesellschaft als solche außerdem juristischen Verfassungsstrukturen entzieht, bleibt auch sie für die Erhaltung und Reproduktion ihrer demokratischen Kultur, z. B. mit einer entsprechend ausgebauten Straf- und Zivilrechtsordnung, auf wirksame juristische Institutionen angewiesen. Nicht zuletzt bedürfen auch die peripher-zentralen Kopplungen, die die offenen Verbindungsstellen zwischen dem staatlichen Zen-
5. Zusammenfassung
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trum und der nicht-staatlichen Peripherie abgeben, einer funktionsfähigen juristisch-institutionellen Verfassung. Für die Ausarbeitung einer legitimatorischen Konzeption der Verfassungstheorie im Anschluss an die politische Philosophie besteht die qualifizierte Schwierigkeit darin, den methodischen Perspektivenwechsel vom ethisch-philosophischen Anspruchsniveau zum Anspruchsniveau des Juristisch-Ethischen zu schaffen. Der methodologischen Anlage der Untersuchung gemäß gilt es an dieser Stelle, die Konzeption der deliberativen Demokratie auch in legitimatorischer Hinsicht angemessen zu übersetzen. Das verfassungstheoretische Konzept, das die zuvor angestellten Überlegungen disziplinengerecht zu einer legitimatorischen Konzeption zusammenführt, ist der demokratische Rechtsstaat. Mit dem Blickwechsel von der deliberativen Demokratie zum demokratischen Rechtsstaat wechselt auch das ethisch-philosophische Spannungsfeld zwischen Freiheit und Verantwortung, das den ethischen Disziplinen bisher zugrunde lag, zum Spannungsfeld zwischen Demokratie und Rechtsstaat. Dabei stellt das Leitprinzip der Demokratie die juristisch-ethische Konkretisierung des Freiheitsgedankens und das Leitprinzip des Rechtsstaats die Konkretisierung des Verantwortungsgedankens dar. Auf diese Weise lässt sich die deliberative Demokratie in den gebräuchlichen, nun aber neu interpretierten Kategorien der Volkssouveränität, der Grundrechte, der Legalität und der Gewaltenteilung rekonstruieren. In der abschließenden Kontextualisierung des demokratischen Rechtsstaats wird zudem noch gezeigt, dass die hier konkretisierend erarbeitete Konzeption des demokratischen Rechtsstaats auch für noch konkretere Disziplinen der Rechtsdogmatik anschlussfähig ist. M. a. W. wird zumindest plausibilisiert, dass dieselbe Konzeption auch auf dem Weg der Abstraktion herausgearbeitet werden kann. Dafür wird die hiesige Konzeption des demokratischen Rechtsstaats mit derjenigen Philippe Mastronardis ins Verhältnis gesetzt, die beansprucht, die Prinzipien der Demokratie und des Rechtsstaats aus einer Generalisierung positiven demokratischen Verfassungsrechts und verfassungsdogmatischer Konstruktionen gewonnen zu haben. Die Auseinandersetzung mit der Konzeption Mastronardis macht dann deutlich, dass die hier herausgearbeitete Konzeption durchaus in der Lage ist, die dort anders oder ergänzend konzeptionalisierten Elemente des demokratischen Rechtsstaats so zu einem kohärenten Ganzen zu verarbeiten und zu integrieren, dass auch Mastronardis Ansätze einer noch konsequenteren deontologischen und diskursiven Struktur zugeführt werden können. Als für die juristische Dogmatik hinreichend anschlussfähig darf die hiesige Konzeption des demokratischen Rechtsstaats jedenfalls gelten.
VI. Urteilstheorie: Demokratische Judikation Mit der verfassungstheoretischen Konzeption des demokratischen Rechtsstaats hat die ethisch-juristische Untersuchung den Anspruchsbereich der Jurisprudenz erreicht. Auch wenn der demokratische Rechtsstaat hier als methodische Konkretisierung der deliberativen Demokratie entwickelt – und nur als methodische Abstrahierung juristisch-dogmatischer Konstruktionen überprüft – worden ist, erhebt er einen juristisch-ethischen Legitimationsanspruch. Der methodische Perspektivenwechsel von der Rechtsphilosophie zum juristisch-ethischen Zwischenbereich der Rechtstheorie ist erst möglich geworden, nachdem der abstrakte thematische Bereich der universellen Justifikation verlassen worden ist und auf der kulturellen Ebene der demokratischen Konstitution mit der politisch-philosophischen Konzeption der deliberativen Demokratie ein Feld besetzt werden konnte, das einen sauberen Übergang zur juristisch-ethischen Verfassungstheorie erlaubte. Der eingangs formulierten Vorstellung, eine Legitimationstheorie dürfe für sich in Anspruch nehmen, sowohl in ethischer als auch in juristischer Perspektive zu überzeugen, wenn es ihr gelingt, den abstrakten und den konkreten Bereich des ethisch-juristischen Kommunikationsraums, insbesondere also die ethische Moralphilosophie und die juristische Methodik, in zustimmungswerter Weise miteinander zu verbinden, ist damit ein gutes Stück nähergekommen worden. Um den Gang von der Moralphilosophie zumindest zu den rechtstheoretischen Anteilen der juristischen Methodik zu Ende zu führen, bedarf es nun noch des weiteren Schritts von der Verfassungstheorie zur Urteilstheorie. Es könnte allerdings die Frage aufkommen, ob mit der Ausarbeitung der verfassungstheoretischen Prinzipien des demokratischen Rechtsstaats die interdisziplinäre Theorie nicht bereits zu ihrem Ende gekommen ist – oder gar gekommen sein sollte. Die prozedurale Ausrichtung dieser Untersuchung bringt es ja bekanntlich mit sich, dass sich die normative Strukturierung des demokratischen Rechtsprozesses weit genug zurücknehmen muss, damit den Bürgerinnen und Bürgern die konkrete Ausgestaltung ihrer Rechtfertigungsprozedur nicht väterlich aus der Hand genommen wird. So könnte angenommen werden, die Prinzipien des demokratischen Rechtsstaats normierten das juristische Urteilen bereits in genügender Weise: Solange im demokratischen Rechtsstaat die entwickelten Prinzipien als Kriterien nur eingehalten würden, könne und dürfe daran aus legitimatorischer Sicht nichts ausgesetzt werden. Bedeuten würde das, dass es dem jeweiligen demokratisch-rechtsstaatlichen Verfahren gänzlich überlassen bleiben müsse, die normative Ausgestaltung des rechtlichen Urteilsprozesses in geeigneter Weise zu konkretisieren.
VI. Urteilstheorie: Demokratische Judikation
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Abbildung 24: Stand der Untersuchung (VI.)
Einer solchen Auffassung kann aber nur im Grundsatz gefolgt werden. Zuzustimmen ist ihr insofern, als zu bekräftigen ist, dass es einer prozedural ausgerichteten Legitimationskonzeption nicht zusteht, materielle Normierungen an die demokratischen Subjekte einfach heranzutragen. Dafür sind die deontologischen Legitimationsanforderungen auf nachmetaphysischem Begründungsniveau zu formal und zu zurückhaltend-kritisch aufgestellt. Moderne Legitimationstheorie kann nur noch die Strukturen und Prozesse angeben, die vermutungsweise gerechtfertigte Ergebnisse zutage fördern. Und selbst in dieser Arbeit ist sie auf eine Rekonstruktion derjenigen Handlungsweisen angewiesen, die die alltäglichen Rechtfertigungspraxen rationalerweise bereits in sich tragen. Gleichwohl darf eine ethisch-juristische Theorie demokratischen Rechts bei einer allgemeinen verfassungstheoretischen Konzeption nicht stehen bleiben. Denn ebenso wenig, wie eine Konzeption der politischen Philosophie quasi „von selbst“ eine verfassungstheoretische Konzeption und eine moralphilosophische Konzeption bereits „von sich aus“ eine Konzeption der politischen Philosophie „ergibt“, reichen auch die Prinzipien des demokratischen Rechtsstaats unvermittelt hin, Rechtsurteile im Einzelfall einer überzeugenden Legitimationskritik unterziehen zu können. Eine überzeugende, insbesondere auch juristische Legitimationstheorie darf sich nicht damit begnügen, im Abstrakten zu verharren, sondern muss auch so weit ins Konkrete hineinreichen, wie sie dazu in der Lage ist. Das vom Standpunkt der Verfassungstheorie aus gesehene noch verbleibende „verfahrensrechtliche Vakuum“ darf daher
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VI. Urteilstheorie: Demokratische Judikation
nicht einfach dem „professionellen Können der Richter“ überlassen werden,1 sondern muss auch fernerhin so gut es geht normativ strukturiert werden. Um die Inarbeitnahme des urteilstheoretischen Feldes gibt es daher kein Herumkommen. Es geht dabei darum, von der kulturellen Ebene der Verfassungstheorie ausgehend, im juristisch-ethischen Anspruchsbereich der Rechtstheorie nun auch noch die thematisch konkreteste Ebene der Judikation, des rechtlichen Urteilens im Einzelfall, zu bearbeiten. Im Verhältnis zur soeben erarbeiteten Konzeption des demokratischen Rechtsstaats bedeutet das wiederum eine thematische Konkretisierung, wie sie bereits im Perspektivenwechsel von der Moralphilosophie zur politischen Philosophie erforderlich war. Mit der Urteilsphilosophie erreicht die Thematik das Situationelle. Anders als noch in den Anspruchsbereichen der politischen Philosophie und der Verfassungstheorie interessiert jetzt nicht mehr die konstitutionelle Perspektive auf eine demokratische Gemeinschaft als ganze, sondern innerhalb einer solchen demokratischen Konstitution interessiert im Folgenden der konkrete situationelle Handlungsprozess rechtlicher Entscheidungsfindung im Einzelfall. Nach den methodologischen Überlegungen zum Prozedere dieser Untersuchung bildet die anstehende urteilstheoretische Konzeption das vorerst letzte Versatzstück der Argumentationslinie von der Moralphilosophie zur juristischen Methodik. Mit ihm soll es gelingen, insgesamt einen durchgehenden, kohärenten interdisziplinären Argumentationszusammenhang von der moralphilosophischen Diskursethik über die politisch-philosophische deliberative Demokratie, den verfassungstheoretischen demokratischen Rechtsstaat und die noch zu erarbeitende urteilstheoretische Konzeption der demokratischen Judikation bis hin zu den juristisch-methodischen Reflexionen der strukturierenden Rechtslehre zu konstruieren. Wie gewohnt, beginnt auch dieses Kapitel dafür zunächst 1. wieder mit einer konzeptuellen Einstiegsorientierung, die an dieser Stelle relativ kurz gehalten werden kann. Wie schon in der Verfassungstheorie, die wie die Urteilstheorie der Rechtstheorie angehört, steht v. a. eine disziplinäre Einführung in die Begrifflichkeiten einer Disziplin an der Scheidewand von Rechtswissenschaft und Ethik, nun unter besonderer Berücksichtigung der Judikation, im Vordergrund. Auf die kurzen konzeptuellen urteilstheoretischen Vorüberlegungen folgt dann auch wieder 2. eine (kleine) vertiefende soziologische Betrachtung, dem disziplinären Anspruchsbereich der Urteilstheorie entsprechend diesmal als eine Betrachtung des rechtlichen Urteilens in Demokratien mit einem juristisch-institutionellen Schwerpunkt. Erst dann wieder, konzeptuell und soziologisch vorbereitet, sollen 3. die urteilstheoretischen Überlegungen zu einer legitimatorischen Konzeption mit dem Namen demokratische Judikation verdichtet werden, die erneut auf ein überschaubares Set normativer Prinzipien hinauslaufen wird. Als zusätzliche Kontextualisierung wird daran 4. noch einmal gesondert auf den Zusammenhang insbesondere zwischen der urteilstheoretischen Konzeption und der juristischen Methodenlehre 1 Vgl. den entsprechenden, unbegründeten Vertrauensvorschuss bei Habermas: Habermas, Faktizität und Geltung (41994), S. 291.
1. Urteilstheoretische Grundlagen
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eingegangen werden. Nicht zuletzt dadurch wird sich zeigen, dass sich die juristische Methodik, wie sie mit der strukturierenden Rechtslehre ausgearbeitet worden ist, kohärent in das Gesamtbild dieser Untersuchung einfügen lässt. Es wird sich ein theoretisches Gesamtbild ergeben, in dem der juristischen Methodik nicht einseitig eine fremde Normativität aufgepfropft wird, sondern in dem ihr Status als gleichberechtigte Disziplin in einem integrativen interdisziplinären Diskurs ernstgenommen wird und in dem sie auch selbst einen wichtigen, unverzichtbaren Beitrag leistet. 1. Urteilstheoretische Grundlagen In der etablierten Wissenschaftslandschaft wird das Feld der Urteilstheorie nicht als Disziplin mit eigenem Anspruchsbereich gesehen. Urteilstheoretische Diskussionen werden gewöhnlich eher unter dem Titel der juristischen Methodik, der Prozessrechtsdogmatik oder der Rechtstheorie geführt. Mit der hier rekonstruierten thematisch-methodischen Disziplinierung der Urteilstheorie wird jedoch dafür argumentiert, dass sich die entsprechenden Debatten gleichwohl in einem eigenen, differenzierbaren Anspruchsbereich bewegen und dass es ihrer Rationalität zuträglich wäre, wenn sie diesen Anspruchsbereich mit klarer strukturierendem Blick ins Auge fassen würden. Weil das Disziplinenfeld der Urteilstheorie bisher aber noch (zu) wenig zur Kenntnis genommen wird und weil sich dasselbe Problem auch für die Urteilsphilosophie2 wieder stellen wird, empfiehlt es sich zunächst, seine thematisch-methodische Struktur nochmals kurz in Erinnerung zu rufen: Im hier verwendeten Disziplinenraster, der dazu dienen soll, die wichtigsten Anspruchsbereiche der Jurisprudenz und der Ethik in einem gemeinsam zugänglichen Kommunikationsraum zu verorten, wird die Judikationstheorie als die Oberdisziplin der Disziplinen verstanden, die sich in thematischer Hinsicht mit dem rechtlichen Urteilen im Einzelfall, mit der Judikation als situationell konkretisierter Handlungsprozess innerhalb der demokratischen Rechtskultur, befassen. In der hier vorgenommenen Justierung der Methodik-Achse dieser Themenebene fallen darunter (neben der Urteilsdogmatik) sowohl die Urteilsphilosophie, die zugleich der Oberdisziplin der Rechtsphilosophie angehört, als auch die Urteilstheorie, die auch der Rechtstheorie angehört. Der Unterschied zwischen Urteilsphilosophie und Urteilstheorie gründet dabei darin, dass die Erste – wie etwa die politische Philosophie oder die Moralphilosophie – einem abstrakten ethisch-philosophischen Methodenbereich entstammt, während die Zweite eine etwas konkretere, dem juristischgesetzlichen Methodenanspruch zwar noch nicht zur Gänze, aber doch zu einem Gutteil zugewandt ist. Die Urteilstheorie erhebt innerhalb des thematischen Niveaus der Judikation einen hybriden juristisch-ethischen Legitimationsanspruch, der sich – gerade so wie in der Verfassungstheorie vorgeführt – zwar bereits auf handfeste juristische Institutionen bezieht, zur gleichen Zeit aber auch philosophisch darüber hinausweist. 2
Im Anschluss, Kapitel VII.
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VI. Urteilstheorie: Demokratische Judikation
Die nachfolgenden konzeptuellen Ausführungen zur Urteilstheorie können nun so betrachtet werden, dass sie einerseits die (kleinen) soziologischen und die legitimatorischen Konzeptionalisierungen in diesem Feld vorbereiten. Andererseits sollen sie aber auch das disziplinäre Anspruchs- und Sprachniveau der Urteilstheorie angemessen einstellen. Dieses soll sich dann insbesondere unterscheidbar von der noch nachfolgenden Urteilsphilosophie abgrenzen. Aufgrund der thematischen Konkretisierung des verfassungstheoretischen Anspruchs muss die Urteilstheorie mit denselben, nur konkreter gefassten Fragen zurechtkommen, die in der Verfassungstheorie von Relevanz sind. Das betrifft (1) das Verhältnis vom Privaten und vom Öffentlichen, nun mit Blick auf den Handlungsbereich der Judikation, (2) die urteilstheoretisch angemessene Verfassung der Judikation im öffentlichen Raum sowie (3) das Problem, mit welchem Institutionenkonzept die Judikation im öffentlichen Raum am besten in den Griff zu nehmen ist. (1) Das Problem der Urteilstheorie, so lässt sich über sie als eine die Verfassungstheorie konkretisierende Disziplin zunächst sagen, ist die Verfassung des Öffentlichen. Interessiert in der Verfassungstheorie nun der gesamte thematische Bereich des Öffentlichen – in der Verfassungstheorie ist der öffentliche Raum in Bezug auf alle situationellen Aspekte des demokratischen Prozesses relevant – so verengt sich der Fokus in der Urteilstheorie auf die Problembereiche des Öffentlichen, die in einer Beziehung zur spezifischen Situation des rechtlichen Urteilens im Einzelfall stehen.3 Eine Klärung des spezifischen Zusammenhangs von Judikation und dem Öffentlichen ist daher angebracht. Dazu ist zunächst zu sagen, dass nur das rechtliche Urteilen für die urteilstheoretische Verfassung des Öffentlichen relevant ist, das sich tatsächlich auch im Öffentlichen abspielt: die „Judikation in öffentlichen Raum“ oder kurz die „öffentliche Judikation“. Die „Judikation im privaten Raum“ oder kurz die „private Judikation“, das rechtliche Urteilen im Einzelfall also, das das kritische Maß zu rechtfertigender Macht unterbietet, fällt per definitionem aus der Reichweite des legitimatorischen Verfassungsanspruchs der Urteilstheorie. Wie schon die allgemeinen verfassungstheoretischen Überlegungen nahegelegt haben sollten,4 ist freilich im Vorhinein nicht einsichtig, wann es sich um öffentliches und wann es sich um privates Handeln, mithin auch um öffentliche oder private Judikation handeln soll. Wie bereits gesehen, ist die Unterscheidung zwischen Privatem und Öffentlichem keine empirische, sondern eine höchst normative. Die Frage, ob sich menschliches Handeln im Privaten oder im Öffentlichen bewegt, muss deshalb ihrerseits unter Bedingungen geklärt werden, die in legitimato3 Von Anfang an zu beachten ist, dass diese thematische Einengung des Anspruchs nichts mit der konzeptuellen und konzeptionellen Einengung des öffentlichen Raums zu tun hat, die das Öffentliche auf die engen Grenzen des Staates festlegen will und dem hier mit der Idee der Public Governance gerade entgegengewirkt wird. Wie sich sogleich noch zeigen wird, ist dieselbe Problematik auch innerhalb der Konkretisierung des Öffentlichen als öffentliche Judikation aktuell. 4 V. 1. a).
1. Urteilstheoretische Grundlagen
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rischer Hinsicht annehmbar sind. In der Verfassungstheorie wurde dazu in der Konsequenz wieder auf den demokratischen Prozess verwiesen, der in diesem Zusammenhang somit eine durchaus selbstreflexive Struktur erkennen lässt. Damit kommt allerdings die Frage ins Spiel, ob nicht auch die Judikation in den demokratischen Prozess verwickelt ist. Wäre das der Fall, dann würde das zwar nicht ohne Weiteres heißen, dass alles rechtliche Urteilen stets als ein Problem des Öffentlichen zu betrachten ist, wohl aber, dass das Öffentliche nicht ohne die Judikation auskommt und diese i. d. S. an der Verfassung des Öffentlichen teilhat. Unter diesen beiden Aspekten, einerseits unter dem, dass die Judikation Teil des Prozesses der Verfassung des öffentlichen Raums ist, und andererseits unter dem, dass sie Gegenstand des öffentlichen Raums ist, gilt es, den Fokus auf die Judikation im öffentlichen Raum noch enger zu stellen. Was ins Öffentliche und was ins Private fällt, ist im demokratischen Prozess zu klären. Sofern die Frage – wie in der Verfassungstheorie – auf der politisch-kulturellen Ebene der Konstitution herausgearbeitet wird, ist das Problem des Öffentlichen ein Makro- oder Mesoproblem, das von der spezifischen Perspektive auf bestimmte Handlungsbereiche noch absehen kann. In der alltäglichen Praxis bleibt es aber in aller Regel nicht bei einer solch abstrakten Sicht auf die Dinge. Selbst dann, wenn beispielsweise im Zuge eines annahmeweise legitim strukturierten demokratisch-rechtsstaatlichen Prozesses legislativ entschieden würde, dass ein bestimmter Handlungsbereich dem öffentlich zu Verantwortenden zufällt, löst das die Unklarheit nur so weit, wie die einhellige Meinung besteht, dass eine konkrete Handlung im Einzelfall tatsächlich oder tatsächlich nicht in diesen Bereich fällt. Spätestens dann aber, wenn die Zuordnung zum Öffentlichen oder zum Privaten strittig oder zumindest fraglich wird, ist rechtliche „Urteilskraft“ gefragt. Im konkreten, jedenfalls strittigen oder fraglichen konkreten Fall, bedarf es eines Rechtsurteils, bedarf es der Judikation. Es handelt sich nämlich um eine in Bezug auf den Einzelfall zu konkretisierende Bestimmung des Öffentlichen. Dem juristischethischen Anspruchsniveau der Urteilstheorie entsprechend formuliert, heißt das Folgendes: Zunächst verläuft die demokratische Erfassung des öffentlichen Raums als ein juristisch institutionalisierter Prozess der Gesetzgebung, der Legislation. Im Anschluss an dieses Wegstück verläuft die Konkretisierung jedoch als juristisch institutionalisierte Judikation. In concreto kann das Öffentliche deshalb nicht ohne juristische Urteilsarbeit vonstatten gehen. Wenn die Erfassung und schließlich auch die Verfassung des Öffentlichen als demokratisch-rechtsstaatlich strukturierter Prozess begriffen wird, dann hat auch die Judikation einen wichtigen Anteil daran. Die Judikation ist allerdings auch als Gegenstand der öffentlichen Verfassung von Bedeutung. Denn insoweit das juristische Urteilen als Teilprozess an der juristisch-institutionellen Verfassung des Öffentlichen beteiligt ist, steht es auch an oberer Stelle einer Liste öffentlich zu verantwortender Tätigkeiten. So wie sich der demokratische Prozess im Allgemeinen auf sich selbst anwenden muss, steht auch die Judikation im öffentlichen Raum in dieser Pflicht. In dem Maße, wie sie einer-
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VI. Urteilstheorie: Demokratische Judikation
seits an der Verfassung des Öffentlichen mitwirkt, muss sie sich andererseits auch selbst im öffentlichen demokratischen Prozess, und das kann in letzter Konsequenz auch heißen: durch sich selbst, rechtfertigen lassen können. Dieser selbstreflexive Zug ist kein systemtheoretisches Zauberstück, sondern die Konsequenz eines durch und durch demokratisch-rechtsstaatlichen Verfassungsprozesses, der sich auch an seinen eigenen Voraussetzungen messen lassen will. Freilich liegen auch nicht alle vorstellbaren Arten rechtlichen Urteilens im öffentlichen Raum. Private Judikation (nicht zu verwechseln mit der in aller Regel ins Öffentliche fallenden „Privat-“ oder „Selbstjustiz“) muss solange nicht öffentlich gerechtfertigt werden, wie sie im Bereich des nicht Mit-, sondern nur selbst zu Verantwortenden verbleibt. Wie das Private und das Öffentliche im Allgemeinen und wie die öffentliche Judikation im Besonderen kann natürlich auch die private Judikation wieder nicht losgelöst vom öffentlichen demokratisch-rechtsstaatlichen Entscheidungsprozess bestimmt werden, an dem wiederum auch die öffentliche Judikation teilhaben kann. (2) Sofern die Judikation über die Schwelle des Öffentlichen tritt, ist sie zu verfassen. Wie in der Verfassungstheorie bereits abgehandelt, kleidet sich die juristisch-ethische oder die juristisch-institutionelle Verfassung dabei in die verbindliche Form nötigenfalls durchsetzbaren Gesetzesrechts.5 Die Urteilstheorie als Disziplin der Rechtstheorie belässt es nicht – wie etwa die Urteilsphilosophie – bei einer ethischen Legitimation der Judikation in allgemeinen abstrakt-philosophischen Begriffen, sondern bemüht sich darum, ihre Legitimationsarbeit in abstrahierten juristischen oder konkretisierten ethischen Begriffen zu besorgen. D. h. zugleich, dass sie auf Institutionen einer juristisch durchsetzbaren Rechtsmacht zurückgreifen muss. Allerdings bedeutet das nicht, dass die empirisch wirkenden juristischen-ethischen Institutionen des Rechtssystems unversehens übernommen werden sollen, wie sie sind. Die Urteilstheorie wie jede der an dieser Untersuchung beteiligten Disziplinen verfolgt weiterhin einen kritischen Legitimationsanspruch. Ihrem methodischen Anspruchsbereich entsprechend, will sie diesen nur nicht in abstraktester Weise mithilfe ethischer Begriffe und Konzepte, sondern – wie die Verfassungstheorie – in etwas geringerer Distanz zum greifbareren juristischen Gesetzesrecht einlösen. Wie die verfassungstheoretische Konzeption des demokratischen Rechtsstaats wird eine urteilstheoretische Legitimationskonzeption dann aus ihrer hybriden Mittelstellung zwischen Jurisprudenz und Ethik, zwischen Rechtsdogmatik und Rechtsphilosophie, in der Lage sein, sowohl an (urteils)rechtsdogmatische als auch an (urteils)philosophische Konzeptionalisierungen anzuschließen. (3) Anders als urteilstheoretische Untersuchungen, die vorrangig die Judikationsprozesse im politischen Zentrum (und dabei i. d. R. nur die der Judikative) ins Auge fassen,6 wird hier mit einem weiteren Blickwinkel angetreten. Bereits die V. 1. b). So z. B. Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt (2006); Albuquerque, Funktionen und Struktur der Rechtsprechung (2001). 5 6
1. Urteilstheoretische Grundlagen
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verfassungstheoretische Grundlagendiskussion hat gezeigt, dass die Verfassung des öffentlichen Raums zu einäugig betrachtet wäre, wenn das Augenmerk lediglich auf die Strukturen und Prozesse des politischen Zentrums, auf den Staat, gerichtet würde.7 Ebenso wie die verfassungstheoretische ist nun auch die urteilstheoretische Verfassung des Öffentlichen bzw. der öffentlichen Judikation nicht nur eine „Staatsangelegenheit“, sondern sie erstreckt sich unter staatlicher, zivilgesellschaftlicher und intermediärer Beteiligung auf das viel umfassender angelegte Netzwerk der Public Governance. Der Begriff der Public Governance erweitert den verfassungstheoretischen Blick über die engen Grenzen des Staats als nur des Zentrums des politischen Prozesses hinaus auch auf die Organe und Gewalten der politischen Peripherie. In den öffentlichen Raum fallen nicht nur die so offensichtlich rechtsmächtigen Prozesse von Parlament, Regierung, Verwaltung und Gerichten, sondern der gesamte Bereich, in dem menschliche Macht öffentlich zu rechtfertigen ist, im staatlichen Zentrum, aber auch im nicht-staatlichen Bereich des Intermediären bis hin zu den zivilgesellschaftlichen Rändern der Peripherie. Die juristisch-institutionelle Verfassung des öffentlichen Raums bedeutet die Verfassung sämtlicher am demokratisch-politischen Prozess beteiligten Gewalten und somit die Verfassung der gesamten Public Governance. Das gilt es auch bei der urteilstheoretischen Konzeptionalisierung der Judikation zu berücksichtigen. So schlägt sich die Ausweitung der Perspektive auf den gesamten öffentlichen Prozess auch in der Betrachtung der Judikation nieder. Denn weder als Teil noch als Gegenstand der Public Governance spielt auch die Judikation nur im staatlichpolitischen Zentrum. Wie der politische Prozess insgesamt flicht sich auch das juristische Urteilen in alle Verfahrensbereiche des demokratischen Prozesses ein. Im Gegensatz zur herkömmlichen Judikationslehre heißt das insbesondere, dass auch den Verfahrensabschnitten in der Peripherie und den Verbindungsstellen zwischen der Peripherie und dem Zentrum Beachtung zu schenken ist. Dieser Ansatz lässt sich mit dem Konzept der „Public Judication“ auf den Begriff bringen. In konkretisierender Analogie zum Konzept der Public Governance kann die Public Judication als Versuch verstanden werden, der Vielfalt und Reichweite der Judikation im öffentlichen Raum Rechnung zu tragen. Als Bezugnahme auf sämtliche öffentlich zu verantwortende Prozesse juristischen Urteilens schließt die Public Judication alle Judikationsverfahren ein, mit denen, über den gesamten Bereich des demokratischen Prozesses hinweg, verfassungswürdige Rechtsmacht produziert wird. Die Public Judication kann dem Konzept der „Public Legislation“ beigeordnet werden, die sich mutatis mutandis auf die (konkreten situationellen) öffentlichen Entscheidungsprozesse des Gesetzgebungsverfahrens bezieht und der Public Judication verfahrensstrukturell (nicht aber hierarchisch) zugleich vorgeordnet ist. Public Legislation und Public Judication verbinden sich gemeinsam zum Konzept des „Public Decision-Making“. Dabei handelt es sich um die situationelle Spezifizierung des Konzepts der Public Governance, die sich in einer konstitutio7
V. 1 c).
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VI. Urteilstheorie: Demokratische Judikation
nellen Gesamtsicht auf den öffentlichen Raum als ganzen bezieht. Das Public Decision-Making hingegen fokussiert innerhalb der Public Governance und wieder ebenso in Bezug auf den gesamten öffentlichen Raum bestimmte situationelle Handlungsprozesse öffentlicher Entscheidungsfindung, v. a. die Legislation und die Judikation, die sich wiederum als Public Legislation und Public Judication differenzieren lassen. I. d. S. ist das Problem der Urteilstheorie die Verfassung der Public Judication. Im Vergleich zum Bemühen der Verfassungstheorie, sich der Verfassung der Public Governance insgesamt anzunehmen, sind die Anliegen in Bezug auf das Public Decision-Making und spezifisch auf die Public Judication thematisch konkreter, da aus den verschiedenen denkbaren Teilprozessen politisch-rechtlicher Entscheidungsfindung nun das Rechtsurteil im Einzelfall von selektivem Interesse ist. Dabei bezieht sich die Public Judication aber auf das gleiche, weite Akteursfeld des öffentlichen Raums wie das verfassungstheoretische Konzept der Public Governance. 2. Kleine Soziologie der Public Judication Die konzeptuellen Vorüberlegungen zur urteilstheoretisch angemessenen Verfassung der Public Judication haben auch den interdisziplinären Kontext der Urteilstheorie nochmals in Erinnerung gerufen, wonach die Urteilstheorie im interdisziplinären Raum dieser Untersuchung im thematischen Bereich der Judikation einen methodischen Zwischenbereich zwischen Jurisprudenz und Ethik einnimmt. Wie schon im Bereich der politischen Philosophie und in der Verfassungstheorie soll die interdisziplinäre Einstellung allerdings auch bereits innerhalb des urteilstheoretischen Feldes, sozusagen als interne Interdisziplinarität zum Zug kommen. Der interdisziplinäre Kontext der Urteilstheorie mit den anderen Disziplinenfeldern dieser Untersuchung bezieht sich ja gewissermaßen nur in zweidimensionaler Reflexion entlang den vertikal differenzierten Achsen der Thematik und der Methodik auf das Problem legitimen (demokratischen) Rechts. Insbesondere der horizontal differenzierbare soziologische Methodenanspruch rückt dabei immer nur in den Hintergrund. An dieser Stelle ist die soziologische Sicht nun auch im Feld der Urteilstheorie wieder als dritte Dimension in den Vordergrund zu holen, um der legitimatorischen Logik eine einigermaßen solide Verankerung in den Funktionsweisen der empirischen Wirklichkeit zu ermöglichen. Wie in den anderen Disziplinen gilt es im Folgenden also wieder, auf der Grundlage der konzeptuellen Vororientierungen mit einer zumindest Plausibilität verschaffenden soziologischen Analyse den disziplinär entsprechenden Wirklichkeitsbereich so weit aufzubereiten, dass die insgesamt legitimatorisch auszurichtende Konzeption der Judikation hinreichend überzeugend an den Wirklichkeitsgehalt anschließen kann, den sie normativ strukturieren will. Das Folgende kann demnach als eine kurze funktiologische Beleuchtung der Public Judication vor dem Hintergrund ihrer juristisch-institutionellen Verfassung betrachtet werden.
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a) Judikation im politischen Zentrum Unter der Verfassung der Judikation im Zentrum des demokratisch-politischen Prozesses ist soziologisch die strukturelle Einbindung der Judikation in den Staatsapparat zu verstehen. Im Laufe dieser Untersuchung ist die staatlich-zentrale Einbindung der Judikation bereits ansatzweise in der Verfassungstheorie problematisiert worden,8 allerdings aus der thematisch abstrakteren Perspektive auf die demokratische Konstitution als ganze und nur im prinzipiellen Zusammenhang mit anderen Funktions- und Organisationseinheiten des politischen Zentrums. Wie auch in der politischen Philosophie wurde der demokratische Prozess dem dortigen disziplinären Anspruchsbereich entsprechend in der perspektivischen Einstellung des demokratisch-politischen Gesamtprozesses angegangen. Mit der thematischen Konzentrierung auf die Judikation wird der Fokus nun enger und die Perspektive konkreter. Der Fokus wird enger, insofern nun nicht mehr der zentrale staatliche Prozess als ganzer (Makro- bzw. im Gesamtzusammenhang dieser Untersuchung: Mesoperspektive) zur Debatte steht, sondern nur noch diejenigen Teile des Prozesses betrachtet werden, die sich auf das juristische Urteilen beziehen (Mikroperspektive). Konkreter wird das Bild, weil die noch relativ abstrakten Analysen zur Funktionsweise des demokratischen Prozesses im politischen Zentrum vom urteilstheoretischen Feld aus auch differenzierter wird. Unter der Voraussetzung der Plausibilität der soziologischen Gesamtanalyse des verfassungstheoretischen Makrooder Mesobildes soll jetzt im Besonderen dargelegt werden, in welchen staatlich institutionalisierten Prozessabschnitten legislativ erlassenes Gesetzes(text)recht in Rechtsurteilen konkretisiert werden kann. Dabei wird folgendermaßen vorgegangen. Zunächst sollen (1) die verschiedenen, bereits in der Verfassungstheorie herausgearbeiteten Funktionsprozesse der Legislation, der Exekution und der Jurisdiktion vor der Folie der Judikation jeweils isoliert analysiert werden. Naheliegenderweise wird diese Analyse (a) beim Handlungsprozess der Jurisdiktion, der Rechtsprechung, beginnen, die mit ihrem paradigmatischen Bild vom Judikationsprozess eine Musterrolle übernehmen kann. Sodann wird sich aber auch (b) beim Prozess der Exekution zeigen, dass, zwar etwas weniger als regierendes Handeln und etwas mehr als Verwaltungshandeln, auch dieser Handlungsvorgang insgesamt als Judikation bezeichnet werden kann, sodass sich Jurisdiktion und Exekution als die beiden spezifischen Ausprägungen der Judikation zusammennehmen lassen. Außerdem wird sich (c) auch zeigen, dass sogar die Legislation, die ja als komplementärer Entscheidungsprozess der Judikation gilt, eine Strukturverwandtschaft mit dem rechtlichen Urteilen aufweist. Nach diesen isolierten Analysen der einzelnen Judikations- und judikationsähnlichen Prozesse sollen diese dann (2) wieder in einen Zusammenhang zueinander gebracht werden und (3) das Sonderproblem der Verfassungsgerichtsbarkeit zumindest noch kurz erläutert werden. 8
V. 2. a).
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(1) (a) Für die Durchleuchtung der Judikation im politischen Zentrum drängt sich zuallererst eine Analyse des Rechtsprechungsprozesses auf. Gemeinhin ist es die (gerichtlich organisierte) Rechtsprechung, die das Judizieren im Einzelfall im demokratischen Rechtsstaat geradezu paradigmatisch vorführt. Was bedeutet es aber genauer, von der Rechtsprechung zu sprechen? Verfassungstheoretisch gesehen, bezeichnet die „Rechtsprechung“ oder die „Jurisdiktion“ (lat. ius, iuris: Recht; dicere: sagen, sprechen) innerhalb des demokratischen-rechtsstaatlichen Prozesses die zentrale politische Funktion, Rechtsfälle von qualifizierter Strittigkeit mit verbindlicher, durchsetzbarer Ordnungsmacht zu entscheiden. Die Rechtsprechung oder Jurisdiktion ist damit die typische Funktion der Gerichtsorgane, die, machttheoretisch gewendet, auch als dritte Gewalt (Judikative) des zentralen Politik-Prozesses gelten. An Gerichte werden über juristisch-institutionalisierte Verfahrenswege stets Fälle herangetragen, über deren rechtliche Beurteilung die beteiligten Parteien qualifizierter unterschiedlicher Auffassung sind. Nimmt ein Gericht sich dann eines Rechtsfalls an, so steht es in der Pflicht, eine korrekte Beurteilung des fraglichen Falls vorzunehmen und ihn mit staatlich bewehrter Verbindlichkeit zu entscheiden. Mit der typischen Funktionsübernahme der Rechtsprechung als die verbindliche Entscheidung in qualifiziert strittigen Fällen wird auch deutlich, weshalb sich die Gerichte oder die Judikative in aller Regel erst zu einem verhältnismäßig späten Stadium des demokratischen Prozesses einschalten. Erst wenn alle anderen Bemühungen, das Gesetzesrecht in akzeptabler Weise Wirklichkeit werden zu lassen, fruchtlos bleiben, bedarf es der Jurisdiktion und damit des Rückgriffs auf die Judikative. Gerichtsfälle bilden gewissermaßen die Rückstände unaufgelöster Rechtskonkretisierungen. In soziologischer Perspektive bilden Rechtsprechungsprobleme sozusagen stets eine Art von „hard cases“. Seiner Funktion entsprechend, gerade qualifiziert strittige Rechtsfälle zu entscheiden, zeichnet sich das rechtsprechende juristische Urteilen im Vergleich zu anderen Rechtskonkretisierungsprozessen des politischen Zentrums durch eine erhöhte Komplexität aus. Zum einen ist bereits der Zugang zur Rechtsbeurteilung durch die staatlich organisierte Rechtsprechung höheren Anforderungen unterstellt als etwa solchen der Exekution. Ist beispielsweise ein verwaltungsrechtliches Rechtsproblem zu klären, so kann der gerichtliche Weg i. d. R. erst dann eingeschlagen werden, wenn zuvor der vollständige Weg über ein verwaltungsinternes Verfahren gegangen worden ist. Zum andern und insbesondere wird die erhöhte Komplexität des Rechtsprechungsverfahrens außerdem dadurch sichtbar, dass die Prozesse der Rechtsbeurteilung in vielfacher Hinsicht in Strukturen und Sonderprozesse eingebettet sind, die zur Folge haben, dass in den Urteilsablauf auf verschiedene Weise besondere Schranken, zugleich aber auch erweiterte Beteiligungsmöglichkeiten eingebaut sind. So knüpft das gerichtliche Prozessrecht z. B. die Möglichkeiten der parteilichen Einflussnahme an speziell vorgegebene Voraussetzungen (die teilweise eben strenger sind als etwa die im Verwaltungsverfahren), fördert z. B. aber auch die Möglichkeiten einer intensiveren Beteiligung am Prozess (etwa dadurch, dass anwaltlicher Beistand, Akteneinsicht usw. i. d. R. nicht
2. Kleine Soziologie der Public Judication
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ausgeschlossen werden kann). Zudem wird der Rechtsprechungsprozess in aller Regel durch einen gerichtlichen Instanzenzug kompliziert. Ein solcher Instanzenzug findet sich zwar auch in den Abläufen des Verwaltungsverfahrens, eine Sonderstellung erhält der judikative Instanzenzug aber insbesondere durch die Tatsache, dass er, mit nur wenigen Ausnahmen,9 zu keiner anderen Staatsgewalt mehr wechselt, andere als judikative Instanzenzüge meistens jedoch in den judikativen Instanzenzug übergehen. Traditionellerweise lässt sich das Gerichtswesen in drei spezifische Gruppen untergliedern: die Rechtsprechung in Zivilsachen (Zivilgerichtsbarkeit), die Rechtsprechung in öffentlich-rechtlichen bzw. Verwaltungsangelegenheiten (Verwaltungsgerichtsbarkeit) und die Rechtsprechung in Strafsachen (Strafgerichtsbarkeit). Die klassische Dreiteilung der Rechtsprechung verdankt sich zunächst den unterschiedlichen Funktionen, die durch die gerichtliche Beurteilung erfüllt werden sollen. Die verschiedenen Spezialfunktionen gehen aber auch mit unterschiedlichen Ausprägungen in den Verfahrensabläufen einher. Der „Zivilgerichtsprozess“ zielt darauf, Streitigkeiten zwischen Bürgerinnen und Bürgern zu beurteilen. Im Zivilverfahren werden also etwa vermögensrechtliche Probleme ebenso behandelt wie persönlichkeits-, familien- oder sachenrechtliche und dergleichen. Auch wenn die Abgrenzung nicht immer trennscharf verläuft, so liegt die Kernfunktion des Zivilprozesses darin, juristisch institutionalisierte Rechtsansprüche, die nicht-staatliche Agierende gegeneinander geltend machen, juristisch zu beurteilen. Das staatliche Interesse am Zivilverfahren ist nur insoweit indirekt involviert, wie es darauf zielt, den Streit überhaupt gerichtlich zu entscheiden. Von dieser richterlichen Stellung aber abgesehen, tritt der Staat im Zivilprozess nicht als Beteiligter mit partikulären Interessen auf (es sei denn als Verfahrensbeteiligter mit zivilem Rechtsanspruch). Im „Verwaltungsgerichtsprozess“ steht der Staat den Bürgerinnen und Bürgern wieder als unmittelbarer Verfahrensbeteiligter gegenüber. Die Stoßrichtung geht dabei in erster Linie nicht vom Staat aus, sondern die Zivilen machen primär einen Anspruch gegenüber dem Staat geltend. Bürgerinnen oder Bürger, die einen verwaltungsgerichtlichen Prozess anreißen, sind der Auffassung, dass die Ausübung administrativer Macht durch den Staat im Verwaltungsverfahren nicht rechtens vonstatten gegangen ist. Zuvor stand ihnen der Staat also bereits in einem nichtgerichtlichen Verwaltungsverfahren gegenüber. Nachdem dieses nach der Auffassung der rechtssuchenden Bürgerinnen und Bürger jedoch unrichtig verlaufen ist, beschreiten sie nach dem verwaltungsinternen den verwaltungsgerichtlichen Weg. In gegenständlicher Hinsicht betrifft der Verwaltungsgerichtsprozess Probleme, die nach der jeweiligen Rechtsordnung eine administrative Beteiligung des Staates vorsehen, sei es in Bau-, Umwelt-, Steuer- oder sonstigen verwaltungsrechtlichen Angelegenheiten. In all ihnen sind die Abläufe durch die Verwaltung – im Unterschied zu den Problemen, die den Zivilprozess betreffen – mehr oder weniger direkt geregelt und kontrolliert. Die Gründe, die die Bürgerinnen und Bürger in der 9
Wie Fälle von Amnestie durch die Regierung oder das Parlament.
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Verwaltungsgerichtsbarkeit geltend machen, sind dann solche, die infrage stellen, dass die administrative Regelung oder Kontrolle durch den Staat rechtmäßig verlaufen ist. Auch im „Strafprozess“ schließlich ist der Staat neben seiner Funktion als Richter auch als unmittelbar Verfahrensbeteiligter anzutreffen. Auf Grundlage der Strafgesetzgebung hat der Staat nämlich ein Interesse daran, strafrechtlich verbotene Handlungen (eingeschlossen Unterlassungen) gerichtlich anzuklagen und zu bestrafen. Aus dieser Sicht zielt der Strafprozess darauf, präsumtiv strafwürdiges Verhalten rechtlich zu ver-urteilen. Im Unterschied zum Zivil- und Verwaltungsgerichtsprozess ist der Strafprozess durch eine noch höhere Komplexität gekennzeichnet. Das hängt damit zusammen, dass in modernen Demokratien die staatliche Strafbefugnis in erhöhtem Maße demokratisch-rechtsstaatlichen Anforderungen unterstellt ist. Das Bestrafen von Zivilpersonen durch den Staat wird aufgrund seiner besonderen Eingriffswirkung als ultima ratio staatlicher Einflussnahme gesehen. Sofern für bestimmte Handlungen dann Strafen vorgesehen sind, wird mit äußerster Akribie verfahren, um möglichst sicher zu stellen, dass die verhängten Strafen auch wirklich gerechtfertigt sind. Zu den bekanntesten Ausprägungen dieses Verfahrens zählen in modernen Demokratien etwa die „Unschuldsvermutung“ („in dubio pro reo“) oder der für die Rechtsprechung restriktiv wirkende Gesetzesbindungsgrundsatz „nulla poena sine lege“. Sodann beginnt die staatliche Strafanklage auch direkt im gerichtlichen Prozess. Anders als Verwaltungsangelegenheiten werden staatliche Strafen vorab nicht „verwaltet“, sondern nur im gerichtlichen Prozess unter komplizierenden Bedingungen verhängt. Die drei aufgeführten Arten des Rechtsprechungsverfahrens können als je eine andere Art der Beziehung zwischen Bürgerschaft und Staat dargestellt werden. Im Zivilprozess stehen sich lediglich Bürgerinnen und Bürger gegenüber. Im Verwaltungsgerichtsprozess stehen Bürgerinnen und Bürger dem Staat gegenüber, dies allerdings in der Weise, dass die Zivilen dem Staat gegenüber Ansprüche geltend machen. Auch wenn der Staat den Bürgerinnen und Bürgern im Verwaltungsverfahren noch ein bestimmtes rechtskonformes Verhalten abverlangt, kehrt sich die „Anspruchsrichtung“ im Verwaltungsgerichtsverfahren um. Es sind dann die Bürgerinnen und Bürger, die dem Staat mit dem Pochen auf ein rechtskonformes Vorgehen entgegentreten. Deutlicher noch ist die „Klagerichtung“ im Strafprozess. Dort ist es von vornherein der Staat, der beschuldigt und anklagt, und es sind die angeklagten Bürgerinnen und Bürger, die sich verteidigen. So verfährt der Rechtsprechungsprozess mit seinen drei klassischen Ausprägungen einmal nach der Struktur „Zivile – Zivile“ (Zivilprozess), einmal nach der Struktur „Zivile – Staat“ (Verwaltungsgerichtsprozess) und einmal nach der Struktur „Staat – Zivile“ (Strafprozess). Der Vollständigkeit halber sei sodann noch die vierte Rechtsprechungsart erwähnt, die nach der Struktur „Staat – Staat“ verläuft. In diesem Fall stehen sich zwei staatliche Organe gegenüber („Organstreit“, „Klage“). Auch dann führen die (staatlichen) Verfahrensbeteiligten ein Rechtsprechungsverfahren durch, um einen qualifizierten Rechtsstreit verbindlich beurteilen zu lassen.
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Bei diesen Differenzierungen der rechtsprechenden Judikation (Jurisdiktion) ist nochmals festzuhalten, dass Rechtsprechungsfunktionen keineswegs immer nur von Gerichten ausgeübt werden. Mit Blick auf die Organe des politischen Zentrums in modernen Demokratien gilt es, Funktionen (Legislation, Exekution, Jurisdiktion) und Organe (Parlament, Regierung, Verwaltung und Gerichte) auseinander zu halten.10 Jurisdiktion, also rechtsprechende Judikation, kann ebenso gut, wenn auch nicht typischerweise, vom Parlament, von der Regierung oder auch von der Verwaltung vorgenommen werden. Entscheidend für die Charakterisierung als Jurisdiktion ist, dass das jeweilige Organ, dessen Funktionstätigkeit es zu bestimmen gilt, qualifizierte Streitigkeiten in einer der drei bzw. vier beschriebenen Rechtsprechungsarten rechtsverbindlich beurteilt. Dies ist z. B. auch dann der Fall, wenn das Parlament etwa über Zuständigkeitskonflikte entscheidet11 oder wenn eine Regierung über Beschwerden urteilt12. Durchaus als Rechtsprechung i. S. der hier vorgetragenen Charakterisierung könnte auch die Tätigkeit von Verwaltungsorganen gedeutet werden, die in höherer Instanz über die Rechtmäßigkeit von Entscheidungen niederer Verwaltungsinstanzen urteilen. Denn auch dann wird ein strittiges (verwaltungsrechtliches) Problem im Anschluss an einen Verwaltungsentscheid nach rechtlichen Kriterien überprüft.13 Rechtsprechungsfunktionen, so lässt sich jedenfalls resümieren, können ebenso von Organen ausgeübt werden, die in ihrer Haupttätigkeit nicht als Gerichte fungieren. (b) Im hier relevanten Kontext interessanter als die Frage aber, ob und wie rechtsprechende Funktionen auch von nicht-gerichtlichen Organen ausgeübt werden, ist die, in welchem Zusammenhang auch die anderen Funktionen des demokratischen politischen Zentrums (d. h. die Legislation und die Exekution) zum Prozess des juristischen Urteilens (zur Judikation) stehen. Auch wenn sich die Jurisdiktion geradezu als Musterprozess des juristischen Urteilens aufdrängt, ist damit noch nicht gesagt, dass sie als der einzige Handlungsprozess gelten kann, der als Judikation zu betrachten ist. Die Rechtsprechung, organisatorisch-typisch als richterlicher Gerichtsprozess vorgestellt, kann zweifellos als das Paradigma der Judikation betrachtet werden. Rechtsprechung, Richteramt und Gerichtswesen sind jedoch kei10 Zudem wird die Differenzierung zwischen Funktionen und Organen oft noch durch die Vermischung mit der Verwendung der Gewalten-Begriffe der Legislative, Exekutive und Judikative konfundiert, die sich hier im Zweifel auf die entsprechenden Organe beziehen. Vgl. bereits die Differenzierung in V. 2. a). 11 Z. B. in der Schweiz vorgesehen in Art. 173 Abs. 1 Bst. i BV. 12 Z. B. in der Schweiz vorgesehen in Art. 187 Abs. 1 Bst. d BV. 13 In der dogmatischen Rechtslehre wird das Verwaltungsverfahren jedoch vom Verwaltungsgerichtsverfahren v. a. nach organisatorischen Gesichtspunkten unterschieden. Danach beginnt das verwaltungsgerichtliche Verfahren erst nach Durchlaufen des gesamten verwaltungsinternen Instanzenzugs. Dem ist insofern zuzustimmen, als die Überprüfungsprozesse im verwaltungsinternen Verfahren noch nicht das qualifizierte Maß an Strittigkeit aufweisen wie im verwaltungsgerichtlichen Verfahren. Die Einrichtungen von verwaltungsinternen Instanzenzügen kann insofern auch als ein Mechanismus administrativer Selbstkontrolle verstanden werden.
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neswegs die einzigen Einrichtungen, die Rechtsurteile produzieren. Das gilt nicht nur hinsichtlich der Möglichkeit, dass sich auch juristische Laien fernab der zentralen politischen Prozesse im juristischen Urteilen versuchen können, sondern bereits innerhalb des politischen Zentrums, für die Prozesse der Exekution und im Ansatz auch für die Prozesse der Legislation. Das rechtliche Urteilen, die Judikation, darf schon im staatlich-politischen Zentrum keineswegs als Jurisdiktion enggeführt werden. Eine kurze Analyse auch der Exekution und der Legislation kann das erhellen. Obwohl die zentrale politische „Exekution“ weit herum bloß als ein „Ausführungs“prozess gehandelt wird, besteht eine recht große Einigkeit darüber, dass sie sich in einen leitenden und planenden (zusammen: regierenden) und einen verwaltenden Handlungsprozess aufspaltet. Mit dem leitenden und planenden Gehalt ist dabei die politische Funktion benannt, die Geschicke einer politischen Gemeinschaft in besonders dazu ermächtigter Stellung – meist als Regierungsorgan – vorausschauend zu lenken („Regieren“). „Verwaltungshandeln“ dagegen übernimmt, dem Verständnis von „Ausführung“ etwas näher, herkömmlicherweise die Funktion, das geltende Recht – meist als Verwaltungsorgan – „umzusetzen“ und „durchzusetzen“. Auch wenn nun die Leitungs- und Planungsprozesse einerseits und das Verwaltungshandeln andererseits in organisatorischer und sogar personeller Hinsicht oft eng miteinander verbunden sind – Regierung und Verwaltung sind organisatorisch und oft auch personell eng aneinander geknüpft –, lassen sich die beiden Handlungsprozesse doch analytisch voneinander unterscheiden. Nach der herkömmlichen begrifflichen Einspurung insbesondere des Verwaltungshandelns mutet dabei das Verwalten eher statisch und automatisch, die Leitungs- und Planungstätigkeit dagegen eher dynamisch und kreativ an. Es ist nun auch diese scheinbar starke Ungleichverteilung von Statik und Dynamik, mit der sich die Judikation zur Exekution ins Verhältnis setzt.. Dann rücken die Teilfunktionen der Exekution jedoch wieder näher zusammen. Das Leiten und Planen wird gebundener, statischer, und das Verwalten kreativer, dynamischer. Das kann allerdings erst in einer juristisch-methodisch besser informierten Sichtweise gesehen werden, die zu verstehen gibt, dass es sich sowohl beim Leiten und Planen als auch beim Verwalten, bei den Handlungsprozessen der Exekution also insgesamt, um produktive, rechtskonkretisierende Tätigkeiten handelt. In modernen Demokratien besteht die Exekution nicht in einem freien Schalten und Walten nach Gutdünken, sondern in einer durchgängig ans positive Gesetzesrecht gebundenen Konkretisierungsarbeit. Dies gilt zu einem Gutteil auch für das leitende und das planende, für das prospektive Regierungshandeln. Auch der Prozess des leitenden und planenden Regierens ist nämlich, zumindest zu einem gewissen Grad, juristisch normiert. Freilich wird das Regieren damit nicht zur Musterfunktion des Judizierens. Die gesetzesrechtlichen Vorgaben erscheinen aus der Innensicht als weitaus abstrakter als beispielsweise im Handlungsprozess der Jurisdiktion. Auch diese Spielräume, die sich aus der Innenperspektive als „Regierungsermessen“ darstellen mögen, bleiben jedoch ansonsten an sämtliches Gesetzesrecht gebunden, sie sind pflichtgemäß auszufüllen.
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Was in dieser Hinsicht der leitenden und planenden Regierungstätigkeit an Offenheit genommen wird, ist dem Verwaltungshandeln wieder hinzuzugeben. Ebenso wenig, wie der regierende Anteil der Exekution nämlich frei ist, stellt sich das Verwalten als ein spielraumfreier Automatismus dar. Denn wenn Verwalten darin besteht, das legislativ erlassene Gesetzesrecht in dem Sinn „auszuführen“, dass es über verschiedene Verwaltungsprozesse hinweg letztlich in den alltäglichen Problemfällen des politischen Lebens ankommen soll, ist es im Grunde nichts anderes als Judikation. Wenn dem aber so ist, muss alles, was bisher zum juristischen Urteilen gesagt worden ist,14 auch und gerade für das Verwaltungshandeln gesagt werden. So gesehen, wird das staatliche Verwalten, nicht nur was seinen implementierenden „Umsetzungs“anteil vom Text zur nicht-textlichen Wirklichkeit betrifft, sondern auch das juristische Verwalten als „Anwendung“ von Gesetzesrecht zu einer höchst verantwortungsvollen Tätigkeit. Juristische Verwaltungstätigkeit ist juristisches Urteilen, Administration ist Judikation. Ebenso wie Rechtsprechungsurteile sind Verwaltungsurteile als Produkte einer selbst zu verantwortenden Tätigkeit zu verstehen, bei dem sich das „ausführende“ Organ seiner Verantwortung mit einem einfachen Verweis aufs Gesetz nicht entziehen kann. (c) Dass Exekution bei näherer Betrachtung zu einem wesentlichen Teil als Judikation einzustufen ist, hängt damit zusammen, dass in modernen Demokratien der gesamte politische Prozess, durch und durch vom demokratischen Gesetzesrecht durchzogen, von ihm verfasst ist. Deshalb macht die juristisch-institutionelle Verfassung nicht einmal dort Halt, wo über sie selbst befunden wird. Nicht einmal der zentrale Prozess der „Legislation“, deren Funktion gerade darin liegt, Gesetzesrecht neu zu gestalten, bewegt sich im „rechtsfreien Raum“.15 Die gesetzliche Einbindung der gesetzgeberischen Tätigkeit kann insbesondere daran abgelesen werden, dass der staatliche Abschnitt des Gesetzgebungsprozesses in besonderem Maße institutionell strukturiert ist. Zu denken ist nur an die weitgehend komplexen Abläufe des Gesetzgebungsverfahrens nur schon innerhalb des Parlaments, dann im Zusammenspiel mit den anderen staatlichen Organen und schließlich auch mit der politischen Peripherie. Die gesetzesrechtliche Überformung und Einbindung des Legislationsprozesses zeigt aber noch zu wenig klar auf, in welcher Beziehung die Tätigkeit des Gesetzgebens zur Tätigkeit des rechtlichen Urteilens steht, wie sich Legislation und Judikation zueinander verhalten. Zunächst lässt sich lediglich sagen, dass juristisch über das Gesetzgebungsverfahren geurteilt werden kann. In einer anderen Hinsicht jedoch erscheint auch die gesetzgeberische Tätigkeit als solche als eine Art des juristischen Urteilens, als Judikation. Gesetze zu machen bedeutet nämlich nicht 14 Gemeint sind damit insbesondere die Ausführungen zur juristischen Methodik in Kapitel I. 15 Auch hier ist wieder zwischen Funktion und Organ zu unterscheiden. Unter Legislation fallen also etwa auch die Tätigkeiten von Regierung und Verwaltung, die gesetzgeberischer Natur sind. Tatsächlich stammt in modernen Demokratien ein Großteil des Gesetzesrechts aus der Feder dieser Organe.
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einfach, die Wege des Staates nach politischem Belieben in Gesetzesform zu gießen. Die Geltung des Gesetzesbindungsprinzips auch für die gesetzgeberisch tätigen Organe veranlasst auch sie dazu, in ihrer gesetzgeberischen Tätigkeit juristisch zu urteilen.16 Die Einstufung der gesetzgeberischen Tätigkeit als strukturverwandt mit dem juristisches Urteilen basiert v. a. auf zwei Überlegungen: Erstens bedeutet juristisches Urteilen (Judikation) normstrukturell stets eine Konkretisierung abstrakterer Rechtstexte zu konkreteren Rechtstexten. Und zweitens verläuft auch die Gesetzes(text)gebung (Legislation) über mehrere jeweils konkretisierende Textstufen, so z. B. über Verfassungstexte, Gesetzestexte und Verordnungstexte, allenfalls nochmals kompliziert durch eine föderale Gliederungsstruktur (z. B. nach Bund, Ländern und Kommunen). Diese erkennbare Strukturverwandtschaft ist jedoch keine Strukturidentität. Tatsächlich werden durch Legislation, anders als durch Jurisdiktion und Exekution, keine juristischen Urteile im konkreten Einzelfall produziert. Von der mehrstufigen Norm(text)architektur des modernen demokratischen Rechtsstaats ausgehend, kann jede tiefere Norm(text)stufe jedoch als Konkretisierung der höheren Norm(text)stufe betrachtet werden (Gesetzestexte sind z. B. Konkretisierungen von Verfassungstexten, Verordnungstexte Konkretisierungen von Gesetzestexten). Jedenfalls für die Ausarbeitung von Gesetzes- und Verordnungstexten – bei Weitem wohl die häufigsten Produkte des gesetzgeberischen Geschäfts – handelt es sich danach also um eine Konkretisierung von Verfassungs- und Gesetzesrecht. Gewiss unterscheidet sich die Legislation von der Judikation dadurch, dass keine konkreten Einzelfälle zu beurteilen und zu entscheiden sind. Konkrete Einzelfälle auf der Grundlage von Gesetzestexten zu entscheiden, bleibt das selbstsubstitutive Erkennungsmerkmal des Judikationsprozesses. Die Struktur der Herstellung von Rechtstexten (seien es Gesetzes- oder Urteilstexte) bleibt jedoch insofern die gleiche, als es in der Legislation wie in der Judikation um die Konkretisierung demokratisch-rechtsstaatlich vorgefertigter, in Geltung stehender Rechtstexte geht. Die strukturelle Verwandtschaft des gesetzgeberischen Handelns mit dem rechtsurteilenden Handeln zeigt sich darin, dass sich ebenso wie rechtliche Urteile auch rechtliche Gesetzeserlasse auf höherstufige, abstraktere Gesetzestexte zurückführen lassen müssen. Dabei sind die kontextuellen Anschlussmöglichkeiten bei der Herstellung von Gesetzesrecht freilich ungleich zahlreicher als bei der Produktion von Rechtsurteilen. Gesetzliche Erlasse bewegen sich auf einem vom Einzelfall noch distanzierten Abstraktionsniveau. Weil in der Gesetzgebung nicht ein bestimmter Einzelfall, sondern eher eine Bandbreite möglicher Fälle oder ein bestimmter Falltyp normiert werden sollen, die verschiedenen Fälle und Falltypen jedoch nur antizipiert werden können, bleiben gesetzliche Rechtstexte zwangsläufig unspezifischer als die konkretisierten Texte von Rechtsurteilen, die sich auf 16 Ein juristisch-methodisch reflektierter Ansatz einer „strukturierende[n] ,Gesetz‘gebungslehre“ findet sich bei Friedrich Müller: Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. 270 – 272, Zitat auf S. 272. Vgl. ferner Rhinow, Rechtsetzung und Methodik (1979).
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genau einen Fall beziehen. Es ist dann auch genau dieses unterschiedliche Abstraktionsniveau von Gesetzgebung und Rechtsbeurteilung, das es erlaubt und gebietet, gesetzgeberische und rechtsbeurteilende Tätigkeit, obwohl strukturverwandt, entsprechend spezifischen Anforderungen zu unterstellen. D. h. aber nicht, dass der gerne als „politische Argumentation“ bezeichnete Gesetzgebungsprozess gar keinen oder prinzipiell anderen Anforderungen zu unterstellen wäre als die „juristische Argumentation“. Insbesondere zu glauben, die Letzte wäre streng gebunden, die Erste aber völlig frei, ist ein Irrglaube. Gebunden sind beide Argumentationen, nur operieren sie auf unterschiedlichen Abstraktionsniveaus. Es drängt sich noch die Nachfrage auf, wie es sich mit der Erzeugung von Verfassungsrecht, auf der höchsten Abstraktions- und Legitimationsstufe demokratisch-rechtsstaatlichen Gesetzesrechts also, verhält. Es fragt sich, ob an dieser Stelle die These, dass es sich bei der Legislation stets um eine Konkretisierung höherstufiger Rechtstexte handelt, nicht versagt. Dazu kann aber gesagt werden, dass selbst die Herstellung von Verfassungsrecht als Konkretisierung von höherstufigem oder zumindest abstrakterem Recht betrachtet werden kann. Zum einen ist zu beachten, dass nicht selten auch geltenden Verfassungstexten nochmals höherstufige Rechtstexte voranstehen, so den Verfassungen von partikulären Gebietskörperschaften (z. B. von Kommunen, Ländern, aber auch Nationalstaaten) etwa die die Rechtstexte noch umfassenderer Rechtsgemeinschaften (z. B. der Länder, des Bundes, aber auch des Völkerrechts). Selbst wenn sich aber tatsächlich kein höherstufiger Rechtstext mehr finden lässt, so ist der Gesetz- oder eben Verfassungsgebungsprozess immer noch an die bisher geltende Verfassung gebunden, in der sich immer zu konkretisierende, möglicherweise auch zu abstrahierende Normtexte anbieten werden, die bei der neuerlichen Verfassungsgebung berücksichtigt werden wollen. In diesem Zusammenhang muss auch nicht auf den fragwürdigen kelsenschen Trick einer hypothetischen „Grundnorm“ zurückgegriffen werden (d. h. geklärt werden, wo die Konkretisierungskaskade denn ihren „erkenntnislogischen“ Anfang findet). Was hier zur Debatte steht, ist lediglich die soziologisch informierende Frage, in welchem funktionellen Zusammenhang der Prozess der Legislation mit dem der Judikation steht. Mit der Hervorhebung des beiderseitigen vornehmlich Rechtstexte konkretisierenden Charakters kann damit eine hinreichend plausible Strukturverwandtschaft hervorgehoben werden. Nach dieser Analyse des gesetzgeberischen Handelns kann jedenfalls gesagt werden, dass die Legislation vor der Folie der Judikation der Jurisdiktion und der Exekution gar nicht unähnlich ist, sondern vielmehr eine enge strukturelle Verwandtschaft zu ihnen aufweist. Gleichwohl ist festzuhalten, dass die Legislation auch einen markanten Unterschied zur Judikation und damit auch zur Jurisdiktion und zur Exekution aufweist. Ziel der Gesetzgebung ist nämlich ein juristisch verbindlicher Gesetzestext, auf dessen Grundlage ein juristisch verbindliches Urteil erst noch zu fertigen ist. Jurisdiktion und Exekution zielen dagegen gerade auf ein konkretes Rechtsurteil im Einzelfall, das an einen zuvor erlassenen Gesetzestext anknüpft. Gesetzgeberisches Handeln ist juristisches Urteilen in dem Sinne, dass
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dabei höherstufiges und abstrakteres Gesetzesrecht zu konkreterem, aber immer noch zu Gesetzesrecht konkretisiert wird. Auf dem Weg zum Urteil im konkreten Einzelfall bildet diese Art der Konkretisierung jedoch nur eine Zwischenstufe mittlerer Abstraktion, je nach Erlassart (z. B. Verfassung, Gesetz, Verordnung) mit unterschiedlichen Feinabstufungen. Jurisdiktion und Exekution gehen demgegenüber von dieser legislatorischen Zwischenstufe aus, enden aber beim juristischen Urteil im konkreten Einzelfall. (2) Ein erster Blick auf die Hauptprozesse des politischen Zentrums vor der Folie der Judikation hat gezeigt, dass das rechtliche Urteilen sämtliche Entscheidungsprozesse durchzieht und es nicht allein einem einzigen Entscheidungsprozess, der Jurisdiktion z. B., vorbehalten bleibt – auch wenn der Jurisdiktion in Bezug auf die Judikation eine Musterrolle einzuräumen ist. Aus dieser Vielgesichtigkeit des rechtlichen Urteilens im demokratischen Zentrum ergeben sich auch verschiedene Möglichkeiten des institutionellen Zusammenspiels zwischen den unterschiedlichen „Judikationen“. Um nach der isolierten Betrachtung der verschiedenen Judikationsarten auch noch einen besseren Einblick in die Zusammenhänge zwischen den Judikationsprozessen zu bekommen, soll der Fokus nun wieder etwas erweitert und auf den Gesamtzusammenhang der Judikationsprozesse im politischen Zentrum gerichtet werden. Die Verknüpfung zwischen dem Judikationsprozess der Exekution und dem Judikationsprozess der Jurisdiktion ist bereits angedeutet worden. Der Wechsel vom Verwaltungsverfahren zum Verwaltungsgerichtsverfahren z. B. kann als eine Irritation des Einfließens administrativer Macht in die Peripherie betrachtet werden. Während im Wege der Exekution, in aller Regel durch Verwaltungsorgane, administrative Macht ins nicht-staatlich organisierte Intermediäre und in die Zivilgesellschaft vom Zentrum aus eingespeist wird, stellen bereits die verwaltungsinternen Instanzenzüge Mechanismen dar, die einem ungehinderten Einfließen administrativer Macht Hemmschwellen vorsetzen. Die Bürgerinnen und Bürger, die die Entscheide der Verwaltung nicht hinnehmen wollen, zweifeln an der Legitimität der Rechtskonkretisierung durch die Administration. Indem sie die Rechtskonkretisierung an eine höhere Instanz weiterziehen, bremsen sie den administrativen Einfluss zunächst. Geht diese Irritation so weit, dass der Instanzenzug vom verwaltungsinternen zum verwaltungsgerichtlichen Verfahren wechselt, so wird der Verwaltung in diesem Fall die Kompetenz zur direkten Einflussnahme auf die Zivilgesellschaft geradezu entrissen. In diesem Zusammenspiel kristallisiert sich ein weiteres Mal die spezifische Eigenart der Rechtsprechung heraus, verbindliche Entscheidungen bei qualifiziert strittigen Rechtskonkretisierungen zu fällen. Das Vorstehende zeigt, wie die Jurisdiktion bei der Irritation des Verwaltungsverfahrens als verbindlich wirkender Entscheidungsprozess eingeschaltet wird. Die zuvor festgestellte starke Verwandtschaft zwischen Exekution und Jurisdiktion, die die beiden Handlungsprozesse gemeinsam unter den allgemeineren Prozessbegriff der Judikation stellt, weist also auch eine Differenz auf: Die Jurisdiktion kann im Verhältnis zur Exekution als subsidiär betrachtet werden. Hinzugenommen, dass
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die Exekution (ebenso wie die Jurisdiktion, diese aber erst in späterem Stadium) an die Legislationsprozesse anschließt, ergibt sich in Bezug auf den gesamten zentralen politischen Prozess ein Bild, in dem die Exekution von der Legislation und der Jurisdiktion eingeklammert wird. Es lässt sich ein Prozessablauf nach dem Muster „Legislation – Exekution – Jurisdiktion“ rekonstruieren. In dieser Gesamtsicht auf den Prozess im politischen Zentrum nimmt die Rechtsprechung eine exponierte Stellung ein. Die Triade kann nämlich als ein dreifacher Mechanismus sozialer Reintegration gedeutet werden, in dem jeder Teilmechanismus einen zusätzlichen Verdichtungsschritt in der politischen Entscheidungsfindung bedeutet. Die Rechtsprechung bildet darin den vorläufigen Endpunkt eines komplexen Entscheidungsweges. Wenn der politische Prozess an die Rechtsprechung gelangt und auch dort sämtliche mögliche Instanzen durchlaufen sind, bleibt nur noch, den gesamten politischen Prozess wieder von vorn zu beginnen. In die (idealtypische) organisatorische Sicht übersetzt, läuft die funktionensystematische Triade „Legislation – Exekution – Jurisdiktion“ wieder auf die sich im Organisatorischen widerspiegelnde Gewaltenteilung von Legislative, Exekutive und Judikative hinaus und stellt die Sonderstellung des judikativen Gerichtswesens am Ende eines politischen Entscheidungszyklus heraus. (3) Die organisatorischen Verhältnisse des politischen Zentrums sind in verfassungstheoretischer Sicht bereits erläutert worden17 und sollen hier nicht wiederholt werden. Angesichts der soeben festgestellten Sonderstellung des Rechtsprechungsprozesses am Ende des politischen Prozesses, scheint es an dieser Stelle aber lohnenswert, das Verhältnis der Jurisdiktion – zumal der Musterprozess der Judikation – zur Legislation, gewissermaßen die beiden Enden der prozessualen Klammer, noch etwas näher zu betrachten. Kristallisationspunkt dieses Verhältnisses, das sich in organisatorischer Betrachtung des politischen Zentrums als das von Gerichtswesen und Parlament darstellt, bildet die sog. Verfassungsgerichtsbarkeit. „Verfassungsgerichtsbarkeit“ bedeutet dabei zunächst einmal, dass ein Jurisdiktionsorgan einen Fall unter Heranziehung verfassungsrechtlicher Normtexte, jedenfalls der höchststufigen geltenden Rechtstexte seiner Rechtsordnung, beurteilt. Auf den ersten Blick wirkt diese Betonung merkwürdig, weil doch davon auszugehen ist, dass Gerichte für ihre Beurteilung ohnehin das gesamte geltende Recht heranziehen und die verfassungsrechtliche Beurteilung so doch immer auch Bestandteil sein sollte. Die Merkwürdigkeit verfliegt jedoch, wenn die Mehrstufigkeit des politischen Prozesses der (Verfassungs-)Rechtskonkretisierung in Betracht gezogen wird. Rechtskonkretisierungen, wie sie in der Rechtsprechung infrage stehen, sind in modernen Demokratien nämlich stets Urteile aufgrund von Gesetzesrecht, das bereits seinerseits eine durch die Gesetzgebung, evtl. auch über mehrere Stufen hinweg, vorgenommene Konkretisierung des Verfassungsrechts ist. Die Brisanz der Verfassungsgerichtsbarkeit liegt deshalb darin, dass ein rechtsprechendes Organ, i. d. R. ein Gericht, wenn es einen Fall direkt auf der Grund17
V. 2. a).
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lage der Verfassung beurteilt oder sogar den gesetzlichen Erlass, auf dessen Grundlage eine vorgängige Rechtskonkretisierung (als Exekution oder als Jurisdiktion) ergangen ist, nochmals auf seine Anschlusswürdigkeit an die Rechtstexte der Verfassung überprüft, also nicht nur das Rechtsurteil der vorangehenden Instanz, sondern sogar die Herstellung des zugrundeliegenden Gesetzesrechts und damit die Gesetzgebung des gesetzgebenden Organs einer Beurteilung unterzieht. Sobald eine rechtsprechende Instanz auch die Rechtmäßigkeit von Gesetzesrecht (und nicht nur das von Urteilsrecht) überprüft, greift sie nach der traditionellen Gewaltenteilungslehre in die Kompetenz des gesetzgebenden Organs ein. Beurteilt ein Gericht daraufhin einen Gesetzeserlass als unrechtmäßig, so maßt es sich eine höhere legislatorische Kompetenz an als dem Organ – z. B. das Parlament –, das das fragliche Gesetzesrecht tatsächlich erlassen hat. In den meisten Rechtsordnungen wird dieser Eingriff der Rechtsprechung in die Kompetenz von rechtsetzenden Organen auf unteren Legitimations- und Abstraktionsstufen trotz des Gewaltenteilungsproblems praktiziert. Zumindest den Gerichten wird unter bestimmten Bedingungen (und mit unterschiedlichen Konsequenzen) die Kompetenz zugesprochen, in konkreten Fällen („konkrete“ oder „inzidente Normenkontrolle“) und z. T. auch unabhängig davon („abstrakte Normenkontrolle“), auch gesetzliche Erlasse auf ihre Rechtmäßigkeit hin, und d. h. vor allen Dingen auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin, zu überprüfen. Die Geister scheiden sich allerdings dann, wenn es um die Frage geht, ob die höchste Stufe des sog. Unterverfassungsrechts einer Rechtsordnung, d. h. die unmittelbare Konkretisierung von Verfassungsrecht, durch die oberste gesetzgebende Gewalt im Staat, durch ein oberstes Organ der rechtsprechenden Gewalt, kontrolliert werden soll. In modernen Demokratien lässt sich sowohl der eine als auch der andere Typ ausmachen. In Rechtsordnungen mit einer ausgebauten Verfassungsgerichtsbarkeit (z. B. in der Bundesrepublik oder in den USA) kann das oberste Gericht (z. B. das Bundesverfassungsgericht oder der Supreme Court) auch höchste legislative Erlasse (Bundesgesetze) einer Rechtskontrolle unterziehen und gestützt auf diese Überprüfung im Rahmen einer konkreten Normenkontrolle einer auf verfassungswidrigem Gesetzesrecht beruhenden Entscheidung (mit Präzedenzwirkung) die Durchsetzung verweigern und im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle sämtlichen Entscheidungen, die aufgrund eines verfassungswidrigen Gesetzes ergehen, für die Zukunft für rechtswidrig erklären. In diesem Typ der Gerichtsorganisation erhält nach traditioneller Auffassung das Rechtsstaatsprinzip einen Vorrang vor dem Demokratieprinzip. Denn in der Gesamtsicht hält die Rechtskontrolle durch die Gerichte der demokratischen Gesetzgebung gegenüber die Oberhand. In Rechtsordnungen mit einer ausgebauten Verfassungsgerichtsbarkeit herrscht, so gesehen, eine gewisse Skepsis gegenüber der Gesetzgebung vor. Die Gesetzgebung bleibt in diesem Gerichtssystem in ihrer Rechtsgestaltung eingeschränkt. In anderen Rechtsordnungen (z. B. in der Schweiz) ist das oberste Gericht an die oberste Gesetzgebung gebunden. Das bedeutet, dass Gesetze, die als verfassungswidrig beurteilt werden, gleichwohl zur Anwendung kommen müssen und dass
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Entscheide, die auf ihrer Grundlage ergehen, gleichwohl durchzusetzen sind.18 In diesem System hat das Demokratieprinzip nach traditioneller Auffassung größeres Gewicht als das Rechtsstaatsprinzip. Die Entscheidungen der Gesetzgebung sollen nicht durch Entscheidungen der Judikative durchkreuzt werden können. Dabei fällt auf, dass gerade in Rechtsordnungen dieses Systems (wie etwa in der Schweiz) die Gesetzgebung mit direktdemokratischen Elementen versehen ist. Anders als z. B. in Deutschland, wo der Gesetzgebungsprozess im Bund ganz ohne direktdemokratische Beteiligungen abläuft, scheint die Gesetzgebung auf diese Weise besser abgestützt und die Hürde für eine gerichtliche Umstürzung der zu Teilen direktdemokratischen Gesetzgebung höher zu sein. Die Kontrollfunktion des Verfassungsgerichts wird damit quasi in die Volksbeteiligung hineinverschoben. Unter der Annahme, dass sowohl das verfassungsgerichtliche als auch das nicht-verfassungsgerichtliche System Vertreter ziemlich gut integrierter Demokratien sind, können beide Systeme als gleich gut funktionierend betrachtet werden.19
b) Periphere Rechtskonkretisierung Die Analysen der Judikation im Zentrum des politischen Prozesses haben insbesondere gezeigt, dass alle drei politischen Hauptfunktionen (Legislation, Exekution, Jurisdiktion) als eine Art des rechtlichen Urteilens betrachtet werden können. Als Judikation i. e. S. können freilich nur die Exekution und die Jurisdiktion verstanden werden, wobei die Jurisdiktion im Verhältnis zur Exekution immer erst dann zum Zug kommt, wenn deren Integrationswirkung versagt, das infrage stehende Rechtsproblem also zu einem qualifiziert strittigen Rechtskonflikt wird. Die 18 Dass z. B. in der Schweiz die Möglichkeit besteht, durch Antizipation von Gerichtsurteilen durch den EGMR, einer verfassungswidrigen Entscheidung bzw. einem verfassungswidrigen Bundesgesetz gleichwohl die Durchsetzung bzw. Anwendung zu versagen, lässt den prinzipiellen Charakter dieses Gerichtssystems unberührt. 19 Eine eingehendere verfassungstheoretische Soziologie, die die Funktionsweisen des Gerichtssystems im größeren Zusammenhang des jeweiligen gesamten Regierungssystems darstellt, könnte diese These noch besser stützen. Entgegen der herkömmlichen Auffassung würde sie auch deutlich werden lassen, dass in einem System mit stark ausgebauter Verfassungsgerichtsbarkeit nicht eher „das Rechtsstaatsprinzip“ und in einem System mit schwach ausgebauter Verfassungsgerichtsbarkeit nicht eher „das Demokratieprinzip“ höher gewichtet wird. Wie die Konzeption des demokratischen Rechtsstaats klargemacht haben sollte, sind das Demokratie- und das Rechtsstaatsprinzip in integrierten Demokratien – und dementsprechend auch in deren zahlreichen denkbaren Modellen mit spezifisch ausgeprägtem Gerichtssystem – stets gleichmäßig verteilt: V. 3. bis V. 4., insb. V. 3. c) und V. 4., (2). Verständlich wird das wiederum erst, wenn Demokratie und Rechtsstaat nicht einfach als „Vertreter“ von öffentlicher und privater Autonomie und Legislativ- und Judikativorgane nicht einfach als „Vertreter“ von Demokratie und Rechtsstaat interpretiert werden, sondern wenn Demokratie und Rechtsstaat als Leitprinzipien einer diskursiven Struktur aufgefasst werden, die sich über den gesamten demokratischen Prozess hinweg stets ausgeglichen zur Geltung bringt. – Das soll hier nicht (nochmals) ausgebreitet werden. Mit dem kurzen urteilstheoretisch-soziologischen Blick auf die Verfassungsgerichtsbarkeit sollte nur eine weitere Ausprägung der Judikation im politischen Zentrum vor Augen geführt werden.
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VI. Urteilstheorie: Demokratische Judikation
Legislation dagegen ist auch der Exekution vorgelagert, da es erst das durch Legislation geschaffene und in Geltung gesetzte Gesetzesrecht ist, auf dessen Grundlage die Exekution und allenfalls dann auch die Jurisdiktion rechtskonkretisierend zum Einsatz kommen kann. Zur Analyse der Judikation im politischen Zentrum muss allerdings gesagt werden, dass sie den ganze Bereich der Rechtskonkretisierung ausblendet, in dem demokratisches Recht außerhalb der zentralen Einrichtungen des politischen Prozesses konkretisiert wird. Angesprochen ist damit der große Bereich ziviler Rechtsbefolgung,20 der ohne staatliche Konkretisierungsmaßnahmen mehr oder weniger reibungslos funktioniert. Auch wenn zuzugestehen ist, dass ein großer Teil dieser zivilen, soll heißen: nicht-staatlichen Rechtskonkretisierung gerade durch die zivile Antizipation staatlicher Rechtskonkretisierung diszipliniert wird, macht diese Art der Rechtsverwirklichung vermutlich den gewichtigsten Anteil des gesamten demokratischen Prozesses aus. Die „Rechtskonkretisierung in der Peripherie“ oder die „periphere Rechtskonkretisierung“ betrifft all die „Anwendungen“ und „Umsetzungen“ des von der Legislative gesetzten Rechts, die maßgeblich von Kräften der Zivilgesellschaft vorgenommen werden. Differenziert werden kann diese zivile Rechtskonkretisierung wie im politischen Zentrum etwa nach den drei im Kontext der Jurisdiktion kennen gelernten Hauptrechtsgebiete und -verfahrensbereiche des Verwaltungsrechts, des Strafrechts und des Zivilrechts. Sofern der periphere Rechtskonkretisierungsprozess Verwaltungsrecht zum Gegenstand hat, kann zunächst gesagt werden, dass die Verwaltung in irgendeiner Art und Weise in diesen Prozess involviert ist. Zudem verrichten die Zivilen Tätigkeiten, die ihnen das positive (Verwaltungs-)Recht vorschreibt. Bzw. sind den Spielräumen der Zivilen, wenn sie eine verwaltungsrechtlich einschlägige Tätigkeit vornehmen, enge Grenzen gesetzt. Ob es sich aber um das Beachten von Verkehrsregeln, Müllentsorgen, Heiraten21 oder anderes handelt, in all diesen Fällen kann festgestellt werden, dass zwischen der zentral legiferierten Normierung des jeweiligen Handlungsbereichs und seiner Aktualisierung in der Peripherie ein Zusammenhang besteht, der als Konkretisierung und Implementierung (generell-) abstrakter Vorschriften beschrieben werden kann. Als Implementierungsprozesse werden diese Handlungen solange betrachtet, wie ihre Konkretisierungs- und Implementierungsqualität nicht infrage steht. Infrage gestellt wird sie dabei nicht von anderen Zivilen, sondern von der Verwaltung. Es mag sein, dass die Verwaltung (über ihr vorangehendes legislatorisches Handeln hinaus) nicht stets an jeder peripheren (Verwaltungs-)Rechtskonkretisierung direkt beteiligt ist, in dem Sinne, dass sie nicht von den Zivilen allein vorgenommen würde (z. B. bei der Beachtung von Verkehrsregeln). Wie in den Fällen aber, in denen die Zivilen ihre RechtskonkreVgl. dazu auch Müller, ,Richterrecht‘ (1986), S. 93. Die Eheschließung sowie weite Teile des Familienrechts werden traditionellerweise dem Zivilrecht zugeordnet. Unter dem Aspekt des Eingeflochtenseins in administrative Abläufe kann es an dieser Stelle jedenfalls zum Verwaltungsrecht gezählt werden. Eine absolute Abgrenzung zwischen Zivil- und Verwaltungsrecht kann wohl ohnehin nicht vorgenommen werden. 20 21
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tisierungen in Zusammenarbeit mit der Verwaltung erfüllen (z. B. Heiraten, Kinderkriegen, Häuserbauen usw.), wird die Konkretisierung von Verwaltungsrecht durch die Verwaltung jedoch mindestens kontrolliert und allenfalls sanktioniert. Obschon in seiner Ausrichtung anders strukturiert, wird auch das Strafrecht in gewisser Weise durch die Zivilgesellschaft konkretisiert und implementiert. Das Strafrecht ist in seiner Anspruchsrichtung zunächst wie das Verwaltungsrecht durch die Richtung „Staat – Zivile“ angelegt. D. h., das in einer Rechtsordnung strafwürdige Verhalten ist durch die legislatorischen Akte des politischen Zentrums vorgeordnet. Der Staat verlangt von seinen Bürgerinnen und Bürgern dadurch, sich nicht strafwürdig zu verhalten, und kontrolliert und sanktioniert ähnlich wie im Verwaltungsrecht schließlich Verstöße gegen das Strafrecht. Sofern die Zivilen also die Regeln des Strafrechts beachten, d. h. das abstrakte Strafrecht im Verhältnis zu ihrem eigenen Verhalten konkretisieren, führen sie eine „negative“ oder „umgekehrte Konkretisierung“ durch. Die Bürgerinnen und Bürger implementieren das Strafrecht rechtskonform, indem sie das gesetzlich strafwürdige Verhalten nicht verwirklichen. Dabei muss der Irrtum ausgeräumt werden, der in der Auffassung liegt, strafwürdiges Verhalten bestehe nur darin, etwas Bestimmtes (positiv) zu tun. Auch (negative) Unterlassungshandlungen können mit Strafe belegt werden. Das ändert jedoch nichts daran, dass die zivile Konkretisierung des Strafrechts einer negativen Struktur folgt: Der Sinn der peripheren Implementierung des Strafrechts, handle es sich um positive Verrichtungen oder um negative Unterlassungshandlungen, liegt darin, es nicht zu verwirklichen. Mengentheoretisch vereinfacht, verlangt das Strafrecht den Bürgerinnen und Bürger also weniger anspruchsvolle Konkretisierungsleistungen ab als etwa das Verwaltungsrecht, da die Möglichkeiten, sich korrekterweise „strafunwürdig“ zu verhalten, bei Weitem größer sind als die, sich strafbar zu machen. (Freilich sind die Probleme des Strafrechts selten mengentheoretischer Natur.) Die periphere Rechtskonkretisierung des Zivilrechts schließlich wird nicht von der Verwaltung oder von der Strafjustiz kontrolliert, sondern von den Zivilen selbst. Mit der peripheren Zivilrechtskonkretisierung ist der Bereich des juristisch verfassten öffentlichen Lebens gemeint, in dem die Zivilgesellschaft primär in eigener Verantwortung schaltet und waltet. Angesichts der Präsenz v. a. der Verwaltung im öffentlichen Raum erscheint dieser Bereich in gegenständlicher Hinsicht relativ klein zu sein, tatsächlich aber ist er wohl beträchtlich. In Reinform handelt es sich dabei allerdings nicht einfach um den Bereich des „Zivilrechts“ in der herkömmlichen, umfassenden Bezeichnung. Wie in der Erläuterung des peripheren Konkretisierens des Verwaltungsrechts bereits gesehen, wird auch ein großer Teil des herkömmlich als Zivilrecht bezeichneten Rechts nicht ohne Kontrolle und teilweiser Mitwirkung der staatlichen Administration vollzogen (z. B. Heiraten, aber auch Kinderkriegen, Erben, Vereinegründen usw.). Zur Konkretisierung des Zivilrechts zählen musterhaft die Tätigkeiten im Umkreis des Verträgeschließens, wobei auch dort eine Vielzahl wichtiger Fälle (z. B. Immobilienkaufen, Wohnungenmieten, Arbeitnehmen usw.) nicht ohne Kontrolle und z. T. Mitwirkung der staatlichen
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VI. Urteilstheorie: Demokratische Judikation
Verwaltung abläuft. Das periphere Konkretisieren von Zivil- und Verwaltungsrecht kann wohl nicht immer trennscharf, jedenfalls nicht absolut unterschieden werden. Zumindest reicht das Kriterium, ob die Verwaltung an diesem Konkretisierungsprozess, sei es proaktiv oder kontrollierend, beteiligt ist oder nicht, für eine triftige Unterscheidung nicht hin, da die Verwaltung in modernen Demokratien viel zu dicht in die Peripherie eingewoben ist, als dass eine säuberliche Trennung unproblematisch vorgenommen werden könnte. Eine Differenzierung der peripheren Rechtskonkretisierung kann jedoch immerhin daran festgemacht werden, ob die Rechtmäßigkeit der peripheren Rechtskonkretisierung und -implementierung von der Verwaltung oder von den Zivilen selbst infrage gestellt wird. Sofern es die Verwaltung ist, die an der Rechtmäßigkeit der zivilen Rechtskonkretisierung zweifelt, kann diese Art der Rechtskonkretisierung dem Verwaltungsrecht zugeordnet werden, und sofern sie von den Zivilen selbst in Zweifel gezogen wird, dem Zivilrecht. c) Peripher-zentrale Kopplungen Die vorstehenden Darstellungen und Analysen haben immerhin ein Bild von der Differenziertheit und Verschlungenheit des juristischen Urteilens im Zentrum des politischen Prozesses einerseits und in der Peripherie andererseits gegeben. Nun ist es aber nicht so, dass die zentrale und die periphere Judikation isoliert nebeneinander lägen. Zentrale und periphere Judikation sind durch verschiedene Prozessmechanismen aneinander gekoppelt. Die Schnittstellen und Anschlüsse zwischen der zivilgesellschaftlichen Peripherie und dem staatlichen Zentrum, die in Bezug auf die Judikation bestehen, darzustellen und zu erläutern, soll als letzter Schritt dieser soziologischen Überlegungen der Verfassung der Public Judication unternommen werden. Dabei wird sich zeigen, wie sich die Stränge des zentralen Verwaltungs-, Zivil- und Strafprozesses mit den entsprechenden Abschnitten des peripheren Rechtskonkretisierungsprozesses verbinden. Die Strukturmerkmale, die für die Konkretisierung von Verwaltungs-, Zivil- und Strafsachen im Zentrum einerseits und in der Peripherie andererseits jeweils herausgearbeitet werden konnten, lassen sich mithilfe der Erläuterung der peripher-zentralen Kopplungen nun nahtlos durch den gesamten politischen Prozess hindurchziehen. Bei einer distanzierteren Betrachtung des juristischen Urteilens im gesamten politischen Prozess, also sowohl im Zentrum als auch in der Peripherie, erscheinen die jeweiligen Konkretisierungsprozesse dann auch in einem Zusammenhang. Dieser Zusammenhang lässt sich zunächst so beschreiben, dass die Rechtskonkretisierung von der zentralen Gesetzgebung aus (mit oder ohne Mitwirkung der Verwaltung) in die Peripherie verlagert, dann aber z. T. wieder ins (gerichtliche) Zentrum zurückgespült wird. Je näher die Rechtskonkretisierung wieder zurück ans Zentrum gelangt, als desto umstrittener gibt sie sich dabei zu erkennen. Am deutlichsten zeigen lässt sich dies am „Zivilverfahren“. Die konkretisierende Verwirklichung des Zivilrechts erfolgt, vorgeordnet durch das von der Legislative gefertigte Gesetzesrecht, zunächst und zu weiten Teilen unkontrovers in der Peripherie:
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Verträge werden geschlossen und erfüllt, Erbschaften übertragen, Nachbarschaften gepflegt usw., ohne dass diese Prozesse so heftig irritiert würden, dass sie im Netzwerk der Public Judication nicht mehr mit zivilen, also nicht-staatlichen Mitteln entschieden würden. Wie im Verwaltungsverfahren verläuft die Rechtskonkretisierung – hier zwischen Bürgerinnen und Bürgern, dort zwischen Bürgerschaft und Staat – zunächst ohne größere Reibungen. Erst wenn Reibungen entstehen und die Rechtskonkretisierung in einem qualifizierten Maß strittig wird, wird das Zentrum in Form der Zivilgerichtsbarkeit eingeschaltet. Wie das verwaltungsinterne Verfahren wird also auch das Zivilverfahren erst zum Zivilgerichtsverfahren, wenn Irritationen (bzw. desintegrierende Wirkungen) die verfahrensimmanenten Lösungspotenziale ausgeschöpft haben. Die Struktur der peripher-zentralen Zivilrechtskonkretisierung weist starke Parallelen zur Konkretisierung des Verwaltungsrechts, und zwar in der Hinsicht auf, dass die periphere Konkretisierung des Zivilrechts eine Entsprechung im peripher-zentralen Verwaltungsverfahren und der Zivilgerichtsprozess im Verwaltungsgerichtsprozess findet. Über den gesamten politischen Prozess gesehen, verzweigt sich die Konkretisierung des Verwaltungsrechts in ein Verwaltungsverfahren und ein Verwaltungsgerichtsverfahren. Das „Verwaltungsverfahren“ wiederum kann, das haben die Analysen der peripheren Rechtskonkretisierung gezeigt, weiter in einen zentralen und einen peripheren Abschnitt untergliedert werden. Allerdings ist auch festgestellt worden, dass selbst die periphere Konkretisierung von Verwaltungsrecht stets mindestens unter der Kontrolle der staatlichen Administration verläuft. Selbst wenn Zivile Verwaltungsrecht ohne jegliche Mitwirkung der Verwaltung konkretisieren und implementieren, läuft dieser Prozess unter administrativer Kontrolle und Sanktionsbereitschaft ab. Andererseits fällt auch auf, dass – von staatlicher Selbstverwaltung abgesehen – auch jede vom Zentrum initiierte Einleitung administrativer Macht in die zivilgesellschaftliche Peripherie stets unter irgendeiner Art der Mitwirkung der Zivilen stattfindet. Unter diesen Gesichtspunkten kann das („quasi-periphere“ und „quasi-zentrale“) Verwaltungsverfahren insgesamt als ein Prozess eingestuft werden, an dem – im Unterschied zum Zivilverfahren – von vornherein sowohl der Staat als auch Zivile zusammenwirken. Das Verwaltungsverfahren als ganzes wird so zur Parallele der peripheren Zivilrechtskonkretisierung. In beiden Prozessen wird das jeweils einschlägige Gesetzesrecht (im einen Fall Verwaltungsrecht, im anderen Zivilrecht) auf relativ unstrittige Weise konkret. Im Verwaltungsgerichtsprozess wie im Zivilgerichtsprozess werden sodann Irritationen der jeweiligen Rechtskonkretisierung entschieden, die im vorgelagerten Verfahren (eben das Verwaltungsverfahren bzw. die periphere Zivilrechtskonkretisierung) nicht beseitigt werden. In Bezug auf das gesamte Spektrum des politischen Prozesses erscheinen die Judikation in Verwaltungssachen und die Judikation in Zivilsachen also als parallel eingerichtete Verfahrenswege der Rechtskonkretisierung, die von der Gesetzgebung über eine unstrittige Konkretisierung durch die Verwaltung in Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft einerseits und andererseits durch die Zivilgesell-
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schaft allein in die zentrale Rechtsprechung zurückführt. Es fragt sich außerdem, wie die Konkretisierung des Strafrechts in diesen Zusammenhang einzufügen ist. Im Vergleich zu den Konkretisierungsabläufen des Verwaltungs- und Zivilrechts sind dort einige Besonderheiten erkennbar. Bereits gesagt worden ist, dass die periphere Konkretisierung des Strafrechts eine negative Struktur aufweist. Es ist die Nicht-Erfüllung von Straftatbeständen durch die Zivilgesellschaft, die als gelungene Implementierung des Strafrechts anzusehen ist. Sobald jedoch die Erfüllung eines strafrechtlichen Tatbestandes infrage steht, verabschiedet sich der Strafprozess von der negativ strukturierten Konkretisierung in der Peripherie und wandert unvermittelt ins Zentrum. Ob die Strafwürdigkeit eines Verhaltens strafrechtlich untersucht wird, wird dabei nicht – wie im Zivilrecht – von Zivilen entschieden, sondern unter Einschluss von Hemmmechanismen22 vom Staat vorgenommen. Dabei wandelt sich der Strafprozess direkt zu einem gerichtlichen Verfahren. In dieser Hinsicht ist die Subsidiarität des gerichtlichen Verfahrens im Verhältnis zu einem vorgelagerten Verfahrensverlauf, wie es in Verwaltungssachen und Zivilsachen der Fall ist, in Strafsachen nicht zu erkennen. Von kleineren Verwaltungsstrafen oder Ordnungswidrigkeiten abgesehen, beginnt der Strafprozess direkt als gerichtlicher Prozess. Nach einer anderen Interpretation könnte der „Strafprozess“ auch bereits bei den negativen Konkretisierungen in der Peripherie beginnen. In dieser Sicht würde die periphere Nichterfüllung strafrechtlicher Tatbestände als erster, unstrittiger Abschnitt des Strafverfahrens, die Einleitung des strafgerichtlichen Verfahrens als Beginn des zweiten, strittigen Teils in der Nähe des judikativen Zentrums verstanden werden. In dieser Lesart zeigt sich wieder eine Parallele zum Zivilprozess, insofern der relativ unstrittige Konkretisierungsprozess in der Peripherie weitgehend von der Zivilgesellschaft allein durchgeführt wird. Anders als im Fall der Zivilrechtskonkretisierung steht das Strafverfahren jedoch nicht in der Verantwortung der Zivilgesellschaft, sondern in der des Staates. Auch wenn aber die andere Auffassung vertreten wird, dass der Strafprozess erst als gerichtliches Verfahren beginnt, der Verfahrensteil des Strafgerichtsprozesses also als der gesamte Strafprozess betrachtet wird (und damit die periphere negative Konkretisierung des Strafrechts als Bestandteil des Strafverfahrens ausgeblendet wird), bleibt die Charakterisierung des Gerichtsverfahrens als Entscheidungsverfahren qualifiziert strittiger Fälle intakt. Denn auch in dieser Lesart des Strafprozesses kommt das gerichtliche Verfahren erst dann zum Zug, wenn gesellschaftliche Irritationen oder Desintegrationen auftreten, die zu groß sind, als dass sie auf anderem als dem staatlichen Weg in ausreichender Weise verarbeitet werden könnten. Der Strafrechtsprozess wäre dann nämlich insgesamt als ein subsidiärer Prozess zu betrachten. Der Strafprozess würde erst dann überhaupt in Erscheinung treten, wenn Bürgerinnen und Bürger sich in der Weise verhalten, dass ihr Handeln nicht anders 22 „Anzeige-“ oder „Antragsdelikte“. Die Anzeigen und Anträge erfolgen freilich durch Zivile. Die Strafverfolgung und der Verfahrensverlauf verbleibt jedoch selbst bei Antragsdelikten in der Hand des Staates.
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als mit Strafe sanktioniert werden kann. Zuvor greifen allenfalls verwaltungsrechtliche oder auch zivilgesellschaftliche Maßnahmen. Sowohl bei der Konkretisierung des Verwaltungsrechts als auch bei der Konkretisierung des Zivilrechts und der Konkretisierung des Strafrechts lässt sich ein Zusammenhang zwischen der juristisch institutionalisierten Judikation im Zentrum und der peripheren Judikation analysieren. In Zivilsachen liegt die Zuständigkeit für den Übergang vom relativ unstrittigen Zivilverfahren in der Periphere zum qualifiziert strittigen Zivilgerichtsverfahren bei den Zivilen, ebenso wie der Übergang vom unstrittigen Verwaltungsverfahren zum strittigen Verwaltungs(gerichts)verfahren von den Zivilen initiiert wird, und in Strafsachen liegt der Übergang von der peripheren (Nicht-)Konkretisierung des Strafrechts zur gerichtlich strukturierten Strafverfolgung vornehmlich23 in der Hand des Staates. Die Übergänge vom relativ unstrittigen Verfahrensteil zum qualifiziert strittigen gerichtlichen Verfahrensteil bilden dabei die markantesten Schnittstellen zwischen der zivilgesellschaftlichen und der zentralen Rechtskonkretisierung. Insgesamt können die Kopplungen, die in Bezug auf die Rechtskonkretisierung zwischen der Peripherie und dem Zentrum bestehen, als Schleusen oder Filter des Rechtskonkretisierungsprozesses charakterisiert werden.24 Diese Charakterisierung verdankt sich dem Umstand, dass die Übergänge zur gerichtlichen Judikation in Zentrumsnähe erschwerenden Anforderungen unterliegen. Das Prozessrecht, sei es in Zivil-, Verwaltungs- oder Strafsachen, knüpft die Aufnahme eines Gerichtsverfahrens an Zulässigkeitsvoraussetzungen in formeller (verfahrensmäßiger) und materieller (gegenständlicher) Hinsicht. Dadurch werden die Verfahren nicht nur als solche diszipliniert, sondern auch die Argumentationen der Rechtskonkretisierung vorstrukturiert und bestimmte Materien oder Argumentationen gar ausgeschlossen. Diese prozessuale Strukturierung des Konkretisierungsverfahrens wirkt sich freilich auch auf die Konkretisierung des „Rechtsstoffs“ selbst aus. Sie bewirkt sogar, dass bereits die vor-gerichtliche Konkretisierung des Rechts in der Peripherie dadurch beeinflusst wird. Dieser Einfluss macht sich allerdings nicht lauthals bemerkbar. Die entscheidenden. aber dennoch als juristische Feinheiten wahrgenommenen Prozessrechtsregeln sickern vielmehr auf so subtile Weise in die periphere Rechtskonkretisierung ein, dass „Rechtsstoff“ und Prozessvoraussetzungen sich in der Peripherie kaum mehr voneinander unterscheiden lassen.25 In allen Verfahrensarten wird den Klagenden die Beweislast auferlegt, plausibel zu machen, warum es sich bei ihrer Klage um eine qualifiziert strittige RechtsVgl. Fn. 22. Vgl. den bereits in IV. 2. c) bei Peters aufgegriffenen Gedanken: Peters, Die Integration moderner Gesellschaften (1993), S. 340 f. 25 Möglicherweise auch zu Recht. Die Unterscheidung von materiellem und formellem Recht muss in der (dogmatischen) Rechtswissenschaft aus Gründen der Nachvollziehbarkeit und Begründbarkeit zwar klar gezogen werden. Tatsächlich aber lassen sich – zumindest aus soziologischer Sicht – „Form“ und „Materie“ des Rechts nicht säuberlich und ohne Gewalt voneinander trennen. 23 24
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konkretisierung handelt, die es rechtfertigt, im gerichtlichen Verfahren entschieden zu werden. Es muss die „Justiziabilität“ der problematischen Sache dargelegt werden. Während unter den Eintrittsbedingungen des gerichtlichen Verfahrens mit „Fristenläufen“, „Parteisubjektivität“ u. Ä zum einen Prozessvoraussetzungen vorliegen, die allen Arten von Verfahren mit Differenzierungen gemeinsam sind, unterscheiden sich die Kopplungen des peripheren an den zentralen Judikationsprozess zum andern dem Charakter der zugehörigen Verfahrensart entsprechend. Der Zugang zum Zivilgerichtsprozess wird beispielsweise insbesondere durch „Streitwerte“, „Betroffenheitsregelungen“ u. Ä. kanalisiert. Im Verwaltungsgerichtsprozess, in dem Zivile gegen den Staat klagen, werden ebenso Betroffenheitsregeln und Parteivoraussetzungen eingesetzt. Aufgrund der Besonderheit des Verwaltungsgerichtsverfahrens, dass diesem in der Regel ein formelles Verwaltungsverfahren vorausgeht, fungiert dort insbesondere ein vorgeschriebener vorgängiger „Instanzenzug“ mit zunehmend erschwerenden Prozessvoraussetzungen als Filter für die Qualifizierung strittiger Fälle. Im Strafverfahren schließlich werden die Klagebedingungen nicht den (angeklagten) Zivilen, sondern dem Staat aufgetragen, was nicht bedeutet, dass die Prozessvoraussetzungen – aus der Sicht der angeklagten Zivilen werden sie z. T. zu Prozessrechten – tiefer angesetzt wären. Die Behandlung des staatlichen Strafens als ultima ratio bringt es v. a. mit sich, dass es sich beim Strafgerichtsprozess um ein besonders kompliziert eingerichtetes Verfahren handelt.
3. Demokratische Judikation Mit den vorstehenden Überlegungen sind die Strukturen und Prozesse der juristisch verfassten Public Judication in modernen Demokratien in soziologischer Sicht analysiert worden. Dabei hat sich gezeigt, dass die Judikation einem typischen Muster der Rechtskonkretisierung folgt, das sich sowohl im Zentrum als auch in der Peripherie des demokratischen Prozesses wiedererkennen lässt. Eine insbesondere auf die peripher-zentralen Kopplungen fokussierte Gesamtbetrachtung konnte schließlich die verschiedenen spezifischen Ausprägungen der Judikation über sämtliche Abschnitte des politischen Prozesses hinweg zu einem einigermaßen kohärenten Gesamtbild zusammenführen. So treten die Prozesse der Judikation besonders in dem Ausschnitt des demokratischen Prozesses in Erscheinung, in dem das letztlich zentral legiferierte Recht in die Peripherie eingeleitet wird, aber auch dort, wo diese Einleitung in die Peripherie irritiert und über den Rechtsweg wieder zum Zentrum zurückgespült wird. Im Anschluss an diese soziologische Aufbereitung der Funktionsweisen der gesamten Public Judication sollen die bisherigen Ausführungen nun, weiterhin vom urteilstheoretischen Feld aus, zu einer legitimatorischen Konzeption „demokratischer Judikation“ 26 verdichtet werden, 26 Um Missverständnissen vorzubeugen, sei von Anfang an betont, dass die Konzeption der demokratischen Judikation nicht plötzlich auf eine Art basisdemokratischer Einrichtung von Judikationsprozessen, etwa Gerichtsverfahren, hinauslaufen wird. Demokratische Judika-
3. Demokratische Judikation
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der es zugleich gelingt, kohärent an die Konzeptionen der anderen bereits bearbeiteten Disziplinen anzuknüpfen. Wie gehabt, soll dieser Schritt zunächst wieder vorsichtig durch einen Zusammenzug der Stränge des soziologischen Konzeptionsteils und der bisher vorhandenen legitimatorischen Stränge vorbereitet und das disziplinäre Niveau der Konzeption auch in legitimatorischer Hinsicht angemessen eingestellt werden. Nachdem die Judikation dann im Gesamtzusammenhang mit der Legislation noch pointierter als Legislation zweiter Ordnung charakterisiert sein wird, soll schließlich auch die urteilstheoretische Konzeption wieder zu einem überschaubaren, interdisziplinär anschlussfähigen Set normativer Prinzipien führen.
a) Funktionieren und Legitimieren in der Urteilstheorie Die urteilstheoretische Selbstreflexion zu Beginn dieses Kapitels hat nochmals in Erinnerung gerufen, in welchem Anspruchsbereich sich die an dieser Stelle erarbeitete Konzeption legitimer demokratischer Judikation bewegt. Um sich kohärent in den interdisziplinären Kommunikationsraum juristischer und ethischer Disziplinen einfügen zu können, muss sich die Konzeption auf die Judikation in einer juristischen-ethischen Zwischenperspektive beziehen und in dieser Hybridstellung sowohl für die Sprache der Rechtswissenschaft als auch für die der Ethik verständlich sein. Wie ihr das gelingt, ob sie als eine Abstrahierung der rechtswissenschaftlichen oder als eine Konkretisierung einer ethischen Sichtweise entwickelt wird, spielt dabei keine Rolle, solange sie aus beiden Perspektiven annehmbar bleibt. Aus der Anlage dieser Untersuchung wird hier eine Konkretisierung einer verfassungstheoretischen Konzeption unternommen, die sich in methodischer Hinsicht bereits durch einen juristisch-ethischen Anspruch auszeichnet. Das bedeutet, dass die verfassungstheoretische Konzeption des demokratischen Rechtsstaats lediglich in thematischer Hinsicht zu konkretisieren sein wird. Die legitimatorische Konzeption demokratischer Judikation muss aber auch schon innerhalb des urteilstheoretischen Feldes Integrationsarbeit leisten. So muss sie sich insbesondere mit den soziologischen Analysen der Verfassung der Public Judication vertragen. Wenn das gelingt, wird dadurch zudem ein indirekter Anschluss an die Rechtsdogmatik erreicht, da auch die soziologischen Analysen der Judikation zwar abstrahierend, aber dennoch recht verständlich auch mit der rechtswissenschaftlichen Dogmatik kommunizieren. Freilich tun sie das nur in soziologischer Hinsicht. Die (kleine) Soziologie der juristischen Verfassung des rechtlichen Urteilens in modernen Demokratien bereitet lediglich das wirklichkeitsbezogene Material auf, mit dessen Hilfe eine legitimatorische Konzeption erarbeitet werden soll. Die Erklärung der Funktionszusammenhänge kann nicht unvermittelt dafür verwendet werden, diese Funktionszusammenhänge auch zu rechtfertigen. Eine legition ist die urteilstheoretische Konkretisierung des demokratischen Rechtsstaats. Das soll das Attribut „demokratisch“ und „demokratische Judikation“ insgesamt zum Ausdruck bringen.
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timatorische Konzeption demokratischer Judikation kann auch nicht einfach faktisch beobachtete Judikationsprozesse als normativ vorbildlich ausweisen. Natürlich sind die zuvor durchgeführten soziologischen Analysen bereits mehr als nur Beobachtungen faktischer Abläufe. Indem sie den Geltungsanspruch erheben, zu erläutern, wie die Public Judication in Zentrum und Peripherie tatsächlich funktioniert, ist ihnen bereits unweigerlich ein Anspruch an rationaler (soziologischer) Rekonstruktion eingeschrieben worden. Dieser funktiologische oder soziologische Anspruch an rationaler Rekonstruktion kann nicht ohne legitimatorischer Unterstellungen vonstatten gehen. Jeder Vorstellung von Funktionieren liegt auch eine Vorstellung von Legitimität zugrunde. Weder der soziologische noch der legitimatorische Teil einer Konzeption kommt daher darum herum, sich in Bezug auf den andern als passend zu erweisen. Insofern hier vorrangig eine Konzeption legitimer demokratischer Judikation bzw. eine Gesamtkonzeption legitimen demokratischen Rechts ansteht, muss diese immerhin plausibel machen können, dass ihre Forderungen nicht einem normativen Nirwana entstammen, sondern, soziologisch informiert, an die Funktionsbedingungen und Funktionsweisen der Wirklichkeit anschließen und insgesamt eine realisierbare funktionierende Ordnung herstellen können. So wird das Funktionieren interdisziplinär-disziplinär (soll heißen: schon innerhalb des urteilstheoretischen Feldes) zu einem Bestandteil der Legitimität. Die Ideale, die gefordert werden, müssen sich auch tatsächlich einlösen lassen. Die soziologischen Analysen der Public Judication haben dabei die Wirklichkeitsbereiche und Funktionszusammenhänge hervorgeholt, in denen die Konzeption der demokratischen Judikation wirksam werden soll: die vielfach verschlungenen Handlungsprozesse der Exekution und der Jurisdiktion im politischen Zentrum und der (exekutiven) Rechtskonkretisierung in der Peripherie, die über diverse Kopplungsmechanismen miteinander verbunden sind. Auf diese Bereiche projizierter funktionierender Wirklichkeit müssen sich die folgenden urteilstheoretischen Normierungen beziehen können. Ihre normativen Kriterien kann die Legitimationskonzeption demokratischer Judikation aber nicht aus der soziologischen Debatte ziehen. Sie muss sie in einer legitimatorischen Auseinandersetzung gewinnen. Im interdisziplinären Zusammenhang steht ihr dafür, ihrer juristisch-ethischen Zwischenstellung entsprechend, sowohl die Rechtswissenschaft als auch die Ethik zur Verfügung. Ziel einer integrativ angelegten interdisziplinären Untersuchung ist es dabei, eine (interdisziplinäre) Kohärenz in beiden Richtungen zu erreichen. Dadurch wird die konzeptionelle Konstruktion weder zu einer „Ableitung von oben“ noch zu einer „Entdeckung höherer Prinzipien“, sondern zu einem Versuch, einen möglichst tragfähigen Kontext disziplinärer, aber interdisziplinär zusammenhängender guter Gründe zu weben. So kann nochmals betont werden, dass es nicht von entscheidender Bedeutung ist, dass die nachfolgende Konzeption methodologisch gerade als (thematische) Konkretisierung der verfassungstheoretischen Konzeption des demokratischen Rechtsstaats herausgearbeitet wird, die ihrerseits die deliberative Demokratie als Konzeption der politischen Philosophie (methodisch) konkretisiert. Sofern es
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gelingt, die demokratische Judikation als urteilstheoretische Konzeption kohärent mit der Konzeption des demokratischen Rechtsstaats zu verbinden, ist auf diesem Wege zudem ein weiterer Anschluss an die rechtswissenschaftliche Dogmatik erreicht, insofern die hier vertretene Konzeption des demokratischen Rechtsstaats ihre Anschlussfähigkeit an die Rechtsdogmatik unter Beweis stellen konnte.27 b) Judikation als Legislation zweiter Ordnung Über den gesamten Ablauf des politischen Prozesses hinweg gesehen, von der peripheren oder zentralen Perzeption gesellschaftlicher Desintegrationen über die Transformationsprozesse kommunikativer Macht und deren administrative Einspeisung in die Peripherie, sind die Prozesse der Judikation nach den bisherigen Analysen jeweils erst auf der zweiten Stufe des Kreislaufs zum Einsatz gekommen. Das juristische Urteilen kommt zum Zug, wenn die gesellschaftlichen Anliegen und Bedürfnisse im politischen Zentrum durch die Legislative in geltendes Gesetzesrecht gegossen worden sind. Ab diesem Punkt bedarf die Verwirklichung einer legitimen Verfassung des Öffentlichen der Konkretisierung. Wie gesehen, liegt diese in modernen Demokratien nicht nur in den Händen der zentralen Gewalten, z. B. der Exekutive, sondern auch in der Hand der Zivilgesellschaft, und an exponierten Stellen des Prozesses verläuft sie in peripher-zentraler Zusammenarbeit. An diese Konkretisierungs- und Implementationsprozesse des Gesetzesrechts fügt sich die Jurisdiktion als der Verfahrensabschnitt an, in dem qualifiziert strittige Rechtskonkretisierungen sowohl für die Zivilgesellschaft als auch für den Staat mit Verbindlichkeit entschieden werden. Als letzter Abschnitt einer Kreislaufphase kann die Jurisdiktion deshalb gesehen werden, weil die judikative Verbindlichkeit des Rechtsurteils so weit reicht, dass andere Lösungen des betreffenden Integrationsproblems erst wieder im Wege der Aufnahme eines neuen (zunächst wieder legislatorischen) Kreislaufprozesses erwirkt werden können. Die bisherigen Überlegungen zur Struktur des rechtlichen Urteilens haben nicht nur (nochmals) gezeigt, dass das Verständnis der Judikation als „Rechtsanwendung“ nur als eine oberflächliche Vereinfachung eines komplexen Konkretisierungsvorgangs hingenommen werden kann. Sie haben auch bereits angedeutet, dass die Dichotomie von „Rechtsetzung“ und „Rechtsanwendung“ (oder „Rechtsetzung“ und „Rechtsvollzug“) mitunter dahingehend zu präzisieren ist, dass sogar das Recht-Setzen, die Legislation, strukturelle Ähnlichkeiten mit dem Prozess des rechtlichen Urteilens, der Judikation, aufweist. Auch das Legiferieren muss, bei Licht besehen, als ein Prozess der Konkretisierung abstrakterer, vorgeordneter Rechtstexte verstanden werden, die allerdings nicht auf die Beurteilung eines konkreten Falls, sondern auf die Schaffung von Gesetzestexten hinausläuft, auf deren Grundlage Rechtsurteile in konkreten Fällen vorgenommen werden sollen. Die Einsicht, dass es sich beim juristischen Urteilen nicht einfach um einen automa27
V. 4.
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VI. Urteilstheorie: Demokratische Judikation
tischen „Vollzug“ vor-geschriebener Urteile, sondern um einen verantwortungsvollen Prozess der Rechtskonkretisierung handelt, und die festgestellten Parallelen zwischen gesetzgeberischer und rechtsurteilender Konkretisierungen implizieren aber auch eine Lesart in die entgegengesetzte Richtung. Nach dieser Lesart lassen sich auch in der juristischen Beurteilung konkreter Fälle Strukturen erkennen, die nach verbreiteter Auffassung vorrangig die gesetzgeberische Tätigkeit charakterisieren. Unter diesem Blickwinkel lässt sich die Judikation in modernen Demokratien als „Legislation zweiter Ordnung“ bezeichnen.28 Wenn dem so ist, kann eine legitimatorische Konzeption demokratischer Judikation auf ein gut entwickeltes Argumentarium der Legitimation politischer Prozesse zurückgreifen, das bereits auf der Abstraktionsebene der politischen Konstitution erarbeitet worden ist, wo, insbesondere als Folge der Vernachlässigung von Judikationsprozessen durch die herkömmliche politische Wissenschaft, v. a. dem Legislationsprozess besondere Beachtung geschenkt worden ist. „Rechtspolitik“ darf dann nicht in einem engen Sinn für den politischen Prozess der Entwicklung von Gesetzesrecht gepachtet werden, sondern erstreckt sich in einem weiten Sinn auch auf die rechtliche Beurteilung konkreter Fälle. Auch wenn die demokratischrechtsstaatliche Unterscheidung von Legislation und Judikation (insbesondere als Ausfluss der Prinzipien der Institutionensymmetrie und der Gesetzesbindung) dadurch nicht durchkreuzt werden darf und den Besonderheiten des jeweiligen Prozessabschnitts unbedingt Rechnung zu tragen ist (Legislation und Judikation sind nicht dasselbe), lassen sich die beiden Entscheidungsfindungsbestandteile so zu einem zusammenhängenden demokratisch-rechtsstaatlichen Prozess der Rechtskonkretisierung zusammenfügen. Judikation in Demokratien als Legislation zweiter Ordnung zu verstehen, ist durchaus angebracht. Die Produktion demokratischen Rechts stellt einen durchgehenden Konkretisierungs- und Implementierungsprozess dar. Bei näherer Betrachtung unterteilt sich der Recht-Fertigungsprozess sowohl auf der Seite der Legislation als auch auf der Seite der Judikation wiederum auf verschiedene Konkretisierungsstufen, in der Legislation bekanntlich auf verschiedene Abstraktions(text-)stufen (z. B. Verfassung, Gesetz, Verordnung), aber auch Staats(text)strukturen (z. B. Bund, Länder, Gemeinden). In der Judikation tauchen zwar keine weiteren Binnenstufen auf (Rechtsurteile können nicht weiter konkretisiert werden), wohl aber verschiedene Stufen der Kontrolle der Rechtskonkretisierung (mindestens hinsichtlich der Unterscheidung zwischen relativ unstrittiger und qualifiziert strittiger Rechtskonkretisierung). Die entscheidende strukturelle Gemeinsamkeit aller Prozesse der Rechtskonkretisierung liegt einerseits darin, dass abstrakteres, i. d. R. höherstufiges Recht konkretisiert wird. Andererseits ist sie auch darin zu sehen, dass diese Konkretisierung in jeder Hinsicht kein automatisches Verfahren 28 Vgl. bereits Horst Sendlers Interpretation der Sicht der strukturierenden Rechtslehre auf den „Richter als Rechtsetzer zweiter Stufe“: Sendler, Richterrecht (1987), S. 3240; vgl. auch Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 251.
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des „Entdeckens“ oder „Zuschneidens“ vorgegebener Normen im konkreten Problem oder im abstrakteren Problemtyp darstellt, sondern eine kreative, zu verantwortende Produktion neuer, verbindlich wirkender Rechtstexte. Je nach Konkretisierungsstufe erfolgt dieser Prozess lediglich auf anderem Abstraktionsniveau, wobei Gesetzgebung und rechtliches Urteilen demokratisch-rechtsstaatlich derart miteinander verbunden sind, dass juristische Urteile an zuvor erlassenes Gesetzesrecht anschließen müssen. Die Strukturverwandtschaft zwischen Legislation und Judikation bzw. die gerechtfertigte Charakterisierung der Judikation als Legislation zweiter Ordnung macht für das Problem der Legitimation des rechtlichen Urteilens den Rückgriff auf die normativen Strukturen, die in der Verfassungstheorie unter dem Titel des demokratischen Rechtsstaats für den demokratischen Prozess insgesamt und mit relativem Schwergewicht auf der Gesetzgebung entwickelt worden sind, somit noch plausibler. Wie der demokratische Prozess insgesamt und die Gesetzgebung im Besonderen muss auch die Herstellung juristischer Urteile als Teil eines umfassenden demokratischen politischen Prozesses aufgefasst und normiert werden. Auf der situationellen Abstraktionsebene (des Public Decision-Making) unterstehen demokratische Legislation und demokratische Judikation dann prinzipiell denselben Legitimationsbedingungen, die gleichermaßen sowohl demokratischen als auch rechtsstaatlichen Grundsätzen zu folgen haben. Differenzierungen bei den Legitimationsbedingungen lassen sich dann nur unter dem Aspekt des Abstraktionsniveaus bzw. der speziellen Situierung des jeweiligen Handlungsprozesses rechtfertigen. Solche Differenzierungen sind vor diesem Hintergrund freilich auch geboten, da die Merkmale von Legislation und Judikation bei aller Strukturverwandtschaft auch spezifische Eigenheiten mit sich bringen, die nicht leichtfertig eingeebnet werden dürfen. Der perspektivische Wechsel von der Gesetzgebung erster zur Gesetzgebung zweiter Stufe ist unter legitimatorischen Gesichtspunkten ernstzunehmen. Sowohl die legitime Legislation (die, wohlgemerkt, hier ja nicht eigens zur Debatte steht) als auch die legitime Judikation konkretisieren – je spezifisch – die legitime demokratische Politik. Für die Legitimation des juristischen Urteilens in urteilstheoretischer Perspektive bedeutet das, dass die Grundsätze des demokratischen Rechtsstaats in die Prozesse der Judikation angemessen einzuarbeiten sind. Dabei genügt es freilich nicht, die Prozesse der Judikation einfach unvermittelt als demokratisch-rechtsstaatliche zu betrachten. Schon Alexys Versuch, die Judikation als moralischen Diskurs einzurichten, hat gezeigt, dass diese Art „interdisziplinärer“ Arbeit synkretistische Ergebnisse hervorbringt.29 Auch in der Urteilstheorie soll das Vorgehen dagegen wieder integrativ vonstatten gehen. Das bedeutet, dass die Grundsätze von Demokratie und Rechtsstaat im thematischen Bereich der Judikation disziplinengerecht konkretisiert und dem rechtlichen Urteilen nicht vom Feldherrenhügel aus eindirektional aufgepfropft werden. Gleichwohl gilt es, eine 29
III. 1.
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VI. Urteilstheorie: Demokratische Judikation
überzeugende urteilstheoretische Konzeption zu rekonstruieren, die demokratischrechtsstaatlichen Anforderungen standhält. Anmerken lässt sich noch, dass mit der Deutung der Judikation (einschließlich der Jurisdiktion) als Legislation zweiter Ordnung auch die bereits angesprochene Problematik der Verfassungsgerichtsbarkeit30 weniger prekär erscheint. Die Einschätzung des demokratisch-rechtsstaatlichen Prozesses als ein Konkretisierungsverfahren rechtlicher Normierungen mit zahlreichen Verästelungen und unterschiedlichen Bewegungsrichtungen stellt die Legislation der Judikation und damit auch der Jurisdiktion nicht absolut gegenüber. Beide Funktionen oder Prozessabschnitte des demokratischen Verfahrens sollen gemeinsam dazu beitragen, den öffentlichen Prozess legitim zu verfassen. Ob schließlich eine gerichtliche Überprüfung von Gesetzesrecht durch ein Verfassungsgericht vorgesehen ist oder nicht, spielt für die Legitimität einer Verfassungsordnung daher gar keine entscheidende Rolle. Jedenfalls kann die Frage nicht allein aufgrund dieses Verhältnisses beurteilt werden. Die Legitimität einer Rechtsordnung hängt vielmehr davon ab, auf welche Weise die demokratischen Prozesse und Gewalten insgesamt zusammenwirken und wie sie in ihrem Inneren funktionieren. Mit Blick auf die Verfassungsgerichtsbarkeit kann aus der Distanz daher lediglich gesagt werden, dass jedenfalls eine starke strukturelle Einseitigkeit zugunsten der einen oder anderen Gewalt, sei es die Legislative oder sei es die Judikative (oder auch die Exekutive oder die intermediären Kräfte), aus legitimatorischer Sicht als problematisch beurteilt werden muss. Da die angeführten Beispiele aber zeigen konnten, dass der Grad des Ausbaus der Verfassungsgerichtsbarkeit je nach Grad des Einflusses anderer Institutionen variiert (z. B. lässt sich der Stärke des deutschen Verfassungsgerichts die Stärke des zentralen Parlaments gegenüberstellen, der eingeschränkten schweizerischen Verfassungsgerichtsbarkeit dagegen die Relativierung des zentralen parlamentarischen Einflusses durch ein ausgebautes System der Volksrechte), kann auch in legitimatorischer Hinsicht wiederholt werden, dass sich die Gerichts- bzw. Regierungssysteme im Endeffekt die Waage halten. c) Prinzipien demokratischer Judikation Schließlich gilt es, die urteilstheoretische Verfassung der Judikation als Legislation zweiter Ordnung wie in allen bisher behandelten Disziplinen als ein Set von normativen Prinzipien auf den Punkt zu bringen. Als urteilstheoretische Konzeption hat die demokratische Judikation dabei wie schon der demokratische Rechtsstaat den Prinzipien der Demokratie und des Rechtsstaats zu genügen. Als Leitprinzipien produzieren das Demokratie- und das Rechtsstaatsprinzip wiederum ein normatives Spannungsfeld, das nach wie vor als das rechtstheoretische oder juristisch-ethische Pendant zum rechtsphilosophischen oder ethischen Spannungsfeld zwischen Freiheit und Verantwortung gelten soll. Und wiederum übernehmen die 30
VI. 2. a), (3).
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beiden Leitprinzipien eine Orientierungsfunktion für die Entwicklung der einzelnen Prinzipien demokratischer Judikation. Die Prinzipien der demokratischen Judikation müssen im Verhältnis zu denen des demokratischen Rechtsstaats allerdings thematisch konkreter werden. Wenn sich die verfassungstheoretische Konzeption des demokratischen Rechtsstaats zwar in methodischer Hinsicht im gleichen Bereich wie die Konzeption demokratischer Judikation bewegt, so bedeutet die Entwicklung der nachfolgenden Prinzipien im Verhältnis zu denen des demokratischen Rechtsstaat eine thematische Konkretisierung. Infrage steht nicht der gesamte Bereich des demokratischen politischen Verfahrens, sondern innerhalb dieses Verfahrens nur die Legitimation des juristischen Urteilens. Wie durch die ganze Untersuchung hindurch praktiziert, wird auch diese (thematische) Konkretisierung des demokratischen Rechtsstaats einer konsequent prozeduralen Struktur folgen. Auch in Bezug auf die Judikation, zumal hier sogar starke strukturelle Gemeinsamkeiten mit dem Legislationsverfahren festgestellt worden sind, muss sich die Legitimität an der Rationalität des Verfahrens messen lassen. Diese besteht wesentlich darin, dass Demokratie und Rechtsstaat wieder durchgehend Hand in Hand gehen.
2a 3a
3b
Rechtsstaat
2b
Volkssouveränität
Kompetenzgemäßes Urteil
Verfahrenslegitimation (Legalität I)
Prozesslegitimation
Institutionensymmetrie (Gewaltenteilung I)
Unabhängigkeit des Urteilsprozesses
Grundrechte
Prozessgarantieren
Gesetzesbindung (Legalität II)
Gesetzmäßigkeit des Urteils
Verantwortlichkeit (Gewaltentei-lung II)
Rechtsschutz
Rechtsstaat
1b
Prinzipien der demokratischen Judikation Demokratie
1a
Demokratie
Prinzipien des demokratischen Rechtsstaats
Abbildung 25: Die Prinzipien des demokratischen Rechtsstaats und der demokratischen Judikation
„1a“: Als das demokratische Prinzip in struktureller Hinsicht ist in der Verfassungstheorie das Prinzip der Volkssouveränität genannt worden. Dieses Prinzip bringt in juristisch-ethischer Sprache zum Ausdruck, was in der politischen Philosophie als ethisches Prinzip der Zustimmung rangiert. Wenn es nun darum geht, das Prinzip der Volkssouveränität in Bezug auf die demokratische Judikation zu konkretisieren, darf nicht der Fehler begangen werden, das Prinzip der Volkssouveränität einfach in einer Art „demokratischer Zustimmung“ im konkreten Fall
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VI. Urteilstheorie: Demokratische Judikation
wiederzuerkennen, so, als ob sämtliche von einer konkreten Rechtsfrage direkt Betroffene basisdemokratisch darüber entscheiden müssten, wie im konkreten Fall zu urteilen wäre. In der Judikation, auch und gerade dann, wenn sie als Legislation zweiter Ordnung begriffen wird, erhält die Volkssouveränität nämlich einen spezifischen Sinn. Dieser Sinn wird aber erst deutlich, wenn der demokratische Prozess als ganzer wieder in Erinnerung gerufen wird. Aus dieser Sicht erscheint die Judikation, wie gesehen, als eine Weiterführung des demokratischen Prozesses in Anschluss an die Prozesse der Legislation. Soll an dieser Stellung der Judikation im demokratischen Prozess festgehalten werden, dann darf die strukturelle Vorlagerung des Gesetzgebungsverfahrens vor das Verfahren des juristischen Urteilens nicht einfach durch eine „demokratische Judikation“ in dem Sinn vereitelt werden, dass die Betroffenen ungeachtet des geltenden Gesetzesrechts „souverän“ über die Legitimität eines Rechtsurteils entscheiden. Zur verfassungstheoretischen Idee der Volkssouveränität (zusammen mit den anderen Prinzipien des demokratischen Rechtsstaats wie der Institutionensymmetrie und der Gesetzesbindung) gehört in der demokratischen Judikation vielmehr, dass dem volkssouverän bestimmten Gesetzesrecht auch in der Beurteilung konkreter Rechtsprobleme Geltung zukommt. Aus diesem Grund wird das Prinzip der Volkssouveränität in seiner urteilstheoretischen Konzeption zum Prinzip des „kompetenzgemäßen Urteils“. Die urteilstheoretische Interpretation der Volkssouveränität als kompetenzgemäßes Urteil führt den demokratischen Gedanken der kollektiven Selbstbestimmung konsequent weiter, der mit der Implementierung des „Volkswillens“ in verbindlichem Gesetzesrecht erst zur Hälfte vollzogen ist. Denn weil Gesetzestexte in Bezug auf konkrete Fälle erst noch zu konkretisieren sind, bedarf es eines weiteren demokratisch-rechtsstaatlichen Verfahrensschritts, damit „Volkes Wille“ im konkreten Fall auch „ankommt“. Im demokratischen Rechtsstaat geschieht das über verfahrensrechtlich legitimierte Funktionsträgerinnen und Funktionsträger, denen die entsprechenden Kompetenzen angedient werden. „Kompetenzgemäßheit“ verweist daher nicht auf eine metaphysische „Urteilskraft“ einer bestimmten Person mit besonderem „Gerechtigkeitssinn“, sondern auf die demokratisch-rechtsstaatlich zugesprochene Kompetenz eines zum jeweiligen Urteilstyp befugten Organs oder einer entsprechend befugten Gewalt der (gesamten) Public Judication (das kann, im Hinblick auf die unstrittigen Konkretisierungen des Zivilrechts z. B., auch die Zivilgesellschaft sein). Der freiheitliche, demokratische Konnex zur Volkssouveränität ist dabei nicht nur dadurch gewahrt, dass sich der „Volkswille“ so bis zum konkreten Urteil hin hindurchzieht, sondern auch darin, dass die verfahrensrechtliche Institutionalisierung kompetenter Urteilsorgane und -gewalten auf demokratischem (freilich aber auch rechtsstaatlichem) Wege erfolgt. Natürlich ist wie schon beim Prinzip der Volkssouveränität oder auch beim entsprechenden politisch-philosophischen Prinzip der Zustimmung der „Wille“ bzw. die Zustimmung nicht ungebrochen zu verstehen. Das kompetenzmäßig gefällte Urteil ist ebenso wie die volkssouveräne Zustimmung im Gesamten als ein verfahrensmäßig repräsentiertes, abgebrochenes (Kompromiss-)Urteil zu betrachten.
3. Demokratische Judikation
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„1b“: In der Kompetenzgemäßheit des Rechtsurteils liegt der strukturelle freiheitliche, demokratische Zug des Judikationsverfahrens. Es steht in der Kompetenz der urteilenden Funktionstragenden, wie das Urteil zu fällen ist. Das bedeutet aber nicht, dass das Prinzip des Rechtsstaats bzw. der Verantwortung aus der Verfassung des Judikationsprozesses verdrängt wird. Auch in der Konzeption der demokratischen Judikation sind Freiheit und Verantwortung bzw. Demokratie und Rechtsstaat stets miteinander verschwistert. In struktureller Hinsicht v. a. mit Blick auf das demokratische Prinzip des kompetenzgemäßen Urteils heißt das, dass diesem ein rechtsstaatliches Prinzip zur Seite zu stellen ist. Dieses rechtsstaatliche Pendant ist das Prinzip der „Prozess-“ oder „Verfahrensgarantien“. Dahinter steht wiederum die hier durchweg verfolgte Idee, das legitime Entscheidungen nicht nur der faktischen Zustimmung bedürfen, sondern dass die Entscheidungen auch zustimmungswürdig sein müssen. Das kompetenzgemäße Urteil ist nur in dem Maße legitim, wie es unter Bedingungen zustande gekommen ist, die für alle betroffenen Beteiligten annehmbar sind. Was so im Feld der Verfassungstheorie insgesamt als Grundrechte die Legitimität volkssouverän-demokratischer Entscheidungen sichern soll, kehrt in der Urteilstheorie in der Ausprägung rechtsstaatlicher Garantien eines legitimen Judikationsverfahrens wieder. D. h., dass der kompetent ergangene Urteilsspruch der zuständigen Funktionstragenden nur dann gerechtfertigt ist, wenn bestimmte grundrechtliche Rechtsstaatsgarantien gewährleistet sind. Erst der effektive Einsatz dieser Verfahrensbedingungen schafft die Grundlage für ein zustimmungswürdiges Urteil. Umgekehrt gilt es aber auch festzuhalten, dass die Verfahrensgarantien allein ein inhaltsleeres, farbloses Prinzip bleiben, sofern sie nicht mit dem verbindlich ergangenen Urteilsspruch verbunden werden. Erst beide Aspekte, der Demokratie und des Rechtsstaats, füllen den strukturellen Sinn legitimen rechtlichen Urteilens hinreichend aus. Unter den rechtsstaatlichen Prozessgarantien der Judikation sind all die Rechte und spiegelbildlichen Pflichten zu verstehen, die den Verfahrensbeteiligten eine gleichberechtigte Mitwirkung am Prozess der Konkretisierung von Gesetzesrecht sichert. Unter dem Titel des „rechtlichen Gehörs“ z. B. können so alle die entsprechenden Rechte zusammengefasst werden, die sich auf die Chance beziehen, an den einzelnen Verfahrensschritten gleichberechtigt partizipieren zu können. So müssen etwa alle Beteiligten die Chance haben, allfällige Gegenargumente anderer Beteiligter zur Kenntnis zu nehmen und mit gleichem Recht darauf erwidern zu können. Ferner muss etwa gewährleistet sein, dass auch Verfahrensbetroffene, denen ihre (finanzielle oder sonstige) Leistungskraft nicht dazu ausreichen würde, als Gleichberechtigte Rechtsansprüche im Verfahren geltend zu machen, nicht aufgrund dieser Benachteiligung vom Verfahren ausgeschlossen werden (in der Jurisdiktion z. B. die „unentgeltliche Rechtspflege“). Verfahrensgarantien dieses Typs sollen als Gleichheitsrechte sicherstellen, dass dem Urteil die angemessene Qualität an Unparteilichkeit zugeschrieben werden kann, die es in modernen Demokratien benötigt. In prozeduralem, diskurstheoretischem Verständnis ist diese Unparteilichkeit weniger eine vorgefertigte Eigenschaft als eine, die erst im Prozess
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VI. Urteilstheorie: Demokratische Judikation
hergestellt werden kann. Die spezifischen Verfahrensgarantien des rechtlichen Urteilens sollen gerade dafür sorgen, dass die Unparteilichkeit in der wechselseitigen Beteiligung der Betroffenen verwirklicht wird. Nach dem prozeduralen Verständnis von Unparteilichkeit bzw. einem unparteiischen, d. h. legitimen Verfahren rechtlichen Urteilens ist es weder ein „unparteiisches Gericht“ noch der „unparteiische Richter“, das oder der allein für die Legitimität des Urteils verbürgt. Davon einmal abgesehen, dass sich die Unparteilichkeit in der Public Judication nicht nur im gerichtlichen, sondern jedem (öffentlich relevanten) Verfahren rechtlichen Urteilens erweisen muss, können einzelne, wenn auch exponierte Verfahrensbeteiligte (z. B. das Gericht oder die Richterperson) nicht für die Unparteilichkeit bzw. Legitimität des ganzen Verfahrens Pate stehen. Die Legitimität kann sich erst aus dem gleichberechtigten Zusammenspiel aller Verfahrensbeteiligten ergeben. Auch wenn aber die Unparteilichkeit der Rechtsbeurteilung in konkreten (Gerichts-)Fällen nicht allein durch die Brille der entscheidenden (Richter-)Person verbürgt werden kann, fordern die Verfahrensgarantien dennoch, dass an die entscheidenden Verfahrensbeteiligten erhöhte „Unparteilichkeits“anforderungen gestellt werden. Auch diese sind aber weniger als Unparteilichkeitspflichten an die entscheidenden Personen, sondern mehr als einklagbare Teilbedingungen eines unparteilichen Verfahrens zu lesen. Mindestens in Rechtsprechungsverfahren, d. h. in Verfahren qualifizierter Strittigkeit und Bedeutung, gehört dazu etwa, dass die entscheidenden Richterpersonen „Ausstandspflichten“ unterliegen. „2a“: Das nächste Prinzip der demokratischen Judikation, das das Judikationsverfahren in materieller Hinsicht wieder vonseiten der Demokratie strukturiert, kann als Prinzip der „Prozesslegitimation“ bezeichnet werden. Gemeint ist damit das, was im demokratischen Rechtsstaat das Prinzip der Verfahrenslegitimation darstellt. Beides bedeutet dabei nicht die Legitimation bzw. Befugnis, am Verfahren teilzunehmen, sondern fasst die Normierungen zusammen, die darauf abzielen, dass legitime Urteile erst durchs bzw. im Verfahren hergestellt werden. Hinter diesem Grundsatz steht die Einsicht, dass, sofern die notwendigen Verfahrensvoraussetzungen erfüllt sind, es allein der jeweilige, in concreto durchgeführte Prozess ist, der bestimmt, wie das Ergebnis der Rechtskonkretisierung, im Fall demokratischer Judikation: das Rechtsurteil, auszusehen hat. Nach diesem Prinzip liegt die materielle Ausgestaltung des Verfahrensergebnisses ganz in der Hand des Verfahrens. Das bedeutet v. a., dass im Vorhinein, vor-prozessual, nicht gesagt werden kann und auch nicht feststehen darf, wie ein konkreter Fall „nach Recht und Gesetz“ verbindlich zu entscheiden ist. Erst im konkreten, in Raum und Zeit (unter Verfahrensbedingungen) passierenden Urteilsprozess zeigt sich die verbindliche Bedeutung der einschlägigen Rechtstexte in Bezug auf den Fall. Auch dieses Prinzip ist dem Leitprinzip der Demokratie, ethisch: der Freiheit, zuzuordnen. Es bringt den aufs Engste mit dem Demokratieprinzip verbundenen Gedanken zum Ausdruck, dass der Gehalt gültiger Normen nicht einem System vorgeschriebener Werte entstammt, sondern unter legitimierenden Verfahrensbedingungen erarbeitet werden muss.
3. Demokratische Judikation
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Das Prinzip der Prozesslegitimation repetiert zugleich das erkenntniskritische Memento der strukturierenden Rechtslehre, dass Rechtsurteile nicht als „Gesetzesnormen in kleiner Münze“, Gesetze nicht als vorgefertigte Urteile in abstraktem Gewand missverstanden werden dürfen, sondern für das zu nehmen sind, was sie sind: von den an der Konkretisierung Beteiligten produzierte und deshalb zu verantwortende Anordnungen. Der Aspekt von Rechtssicherheit, der im Prinzip der Prozesslegitimation enthalten ist, bezieht sich deshalb auch nicht auf eine irgendwie vorgegebene Materie, sondern auf das berechtigte Vertrauen in vorgeschriebene Verfahrensstrukturen. Rechtssuchende dürfen aus der (noch einseitigen) Sicht des Demokratieprinzips zwar nicht darauf hoffen, dass ihre Rechte in der einen oder anderen Weise verstanden werden. Sie können aber die berechtigte Hoffnung hegen, dass mit ihren Rechtsansprüchen in der einen oder anderen Weise verfahren wird. So erscheint der prozedurale Vertrauensschutz des verfassungstheoretischen Prinzips der Verfahrenslegitimation in der Gestalt des Prinzips der Prozesslegitimation als prozeduraler Vertrauensschutz im Bereich des juristischen Urteilens wieder. Dieser prozedurale Vertrauensschutz bringt paradoxerweise aber auch eine Unsicherheit mit sich: Sicher ist im Vorhinein nur, dass eine Sache, sofern sie die Bedingungen für eine formelle rechtliche Beurteilung erfüllt (Justiziabilität), unter legitimen Verfahrensbedingungen verfahrensgerecht behandelt wird bzw. behandelt werden muss („Rechtsverweigerungsverbot“). Was im Verfahren dabei herauskommen wird, kann jedoch erst das Verfahren selbst zeigen. Diese relative Unsicherheit trägt aber auch einen freiheitlichen Aspekt in sich, und darin kommt der freiheitlich-demokratische Sinn der Prozesslegitimation ein weiteres Mal zum Ausdruck: Für die Geltendmachung eines Rechtsanspruchs können die Verfahrensbeteiligten prinzipiell alles vorbringen, was ihnen aussichtsreich erscheint. Solange nur die Eintrittsbedingungen der Argumentationen erfüllt sind, sind dem „Rechtsstoff“ prinzipiell keine Grenzen gesetzt. Ob sich das Vorgebrachte mit den einschlägigen Gesetzestexten zustimmungswürdig verknüpfen lässt, muss dann der juristische Argumentationsprozess zeigen. „2b“: Das Prinzip der Prozesslegitimation, das für das Rechtsurteil zugleich das Vertrauen ins Verfahren und die Unsicherheit in der Materie fördert, darf allerdings nicht isoliert betrachtet werden. Dem demokratischen Prinzip der Prozesslegitimation steht in materieller Hinsicht nämlich das rechtsstaatliche Prinzip der „Gesetzmäßigkeit des Urteils“ gegenüber. Mit diesem Prinzip ist zwar die demokratische Idee anzuerkennen, dass die Vorhersehbarkeit juristischer Urteile in materieller Hinsicht durchaus beschränkt und der Ausgang juristischer Urteile den konkreten in Raum und Zeit veranstalteten Verfahren zu überlassen ist. Es ruft aber zudem in Erinnerung, dass einmal unter legitimen Verfahrensbedingungen korrekt verlaufene Entscheidungsprozesse für die Zukunft auch Bindungswirkung entfalten. Im Judikationsprozess ist dabei insbesondere die Bindungswirkung des legislatorisch erlassenen Gesetzesrechts von Bedeutung. So stellt sich der demokratischen Idee der Offenheit des Judikationsprozesses die rechtsstaatliche Idee der Gebundenheit der Judikation gegenüber. Dabei muss freilich der Rückfall in den Positivismus
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VI. Urteilstheorie: Demokratische Judikation
vermieden werden. Materielle Gebundenheit ans Gesetz bedeutet im Judikationsprozess eben nicht die unverfügbare Gebundenheit an eine vor-gegebene Gesetzesbedeutung, sondern die rechtsstaatliche Verpflichtung sämtlicher am Judikationsprozess Beteiligten, ihre Rechtsansprüche und Argumente an die einschlägigen Texte des Gesetzesrechts zu binden. „Gesetzmäßigkeit des Urteils“ heißt nicht die bloße Aktualisierung „der“ Bedeutung „des“ Gesetzes „im“ konkreten Fall, sondern die produktive, semantisierende Verknüpfung des Rechtsurteils mit dem Gesetzestext. Nur soweit sich Vertrauen und Rechtssicherheit unter diesen unsicheren Bedingungen am Gesetzestext „festmachen“ lassen, ist dieses auch als materielles (textliches) gegeben. Die im Prinzip der Prozesslegitimation steckende demokratische Freiheit wird durch das Prinzip des gesetzmäßigen Urteils allerdings zur verantworteten Freiheit. Insofern die Prozessbeteiligten das Rechtsurteil an die legislatorisch vorgefertigten Texte anschließen müssen, schränkt das die Möglichkeiten materieller Offenheit in empfindlicher Weise ein. So setzt das Rechtsstaatsprinzip dem Demokratieprinzip in materieller Hinsicht Grenzen. Dennoch ist auch im Verhältnis der beiden Prinzipien der Prozesslegitimation und des gesetzmäßigen Urteils die Beziehung zwischen Rechtsstaat und Demokratie nicht einseitig, sondern als reziprok zu betrachten. Ebenso nämlich, wie das Prinzip der gesetzlichen Gebundenheit des Rechtsurteils das Prinzip der Prozesslegitimation relativiert, spielt das demokratische Prinzip auch wieder gegen das rechtsstaatliche bzw. mit diesem zusammen: Nicht nur bliebe die Gebundenheit des Urteils ohne die offenen Argumente des neuen Falls eine leere Formel, sie öffnet die Gesetzesbindung in der Judikation auch für argumentative Möglichkeiten, die erst in rechtsstaatlicher und demokratischer Sicht zutage treten. Die durch die rechtsstaatliche Gebundenheit erreichte relative materielle „Bestimmtheit“ reicht nämlich nur so weit, wie sie sich auf die im aktuellen Verfahren entwickelten Interpretationen bezieht. Inwieweit das der Fall ist, muss wiederum im laufenden Verfahren – prozesslegitim – argumentativ bestimmt werden. „3a“: Kompetenzgemäßes Urteil, Prozessgarantien, Prozesslegitimation und gesetzmäßiges Urteil verfassen die Judikation in struktureller und in materieller Hinsicht. In Bezug auf die formelle Frage, wie rechtliche Urteilsprozesse im verfahrensmäßigen Zusammenhang zu verfassen sind, liefert zunächst das Prinzip der „Unabhängigkeit des Judikationsverfahrens“ eine freiheitliche, demokratische Antwort. Die Unabhängigkeit des Judikationsverfahren besagt, dass Judikationsverfahren, Prozesse der Public Judication also, in denen konkrete Rechtsprobleme, sei es durch Exekution oder durch Jurisdiktion, entschieden werden, nicht von außen, durch andere Verfahren mit anderer organisatorischer Beteiligung und von anderen politischen Gewalten beeinflusst werden dürfen. Der freiheitliche, demokratische Sinn liegt damit auf dem jeweiligen Judikationsprozess als ganzem. Aus dieser Warte kehrt sich die materielle Unsicherheit der gleichermaßen demokratisch ausgerichteten Prozesslegitimation gewissermaßen aus ebenso demokratischen Gründen um. Die Tatsache nämlich, dass ein unter legitimen Bedingungen
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ablaufendes aktuelles Verfahren juristischen Urteilens in seiner Stellung als verbindlicher Abschnitt eines Entscheidungsprozesses unabhängig oder autonom ist, schützt nämlich das Vertrauen darauf, dass die Ergebnisse des aktuellen Verfahrens auch Verbindlichkeit entfalten werden. Zu diesem Prinzip zählt in gerichtlichen Verfahren etwa die „Unabhängigkeit der Justiz“. Es besteht darin, dass gerichtliche Institutionen des demokratischen Zentrums in ihren Verfahren nicht durch Anmaßungen anderer Organe und Gewalten gestört werden dürfen. Das ist eine Konkretisierung des demokratischen Teils des Gewaltenteilungsprinzips, das als Prinzip der Institutionensymmetrie fordert, dass die Kompetenzen und Befugnisse demokratischer Einrichtungen im Allgemeinen chancengleich zu verteilen sind. Unbeschadet der Geltung des Prinzips der Unabhängigkeit der Justiz, beansprucht das Prinzip der Unabhängigkeit des Judikationsverfahrens in allen Arten der Judikation und für alle Gewalten der Public Judication Geltung. „3b“: Es wäre aber wieder einäugig, nur die demokratische Seite des Gewaltenteilungsprinzips zu betonen. Denn so wie das Prinzip der Unabhängigkeit des Judikationsverfahrens das demokratische Prinzip der Institutionensymmetrie konkretisiert, konkretisiert das Prinzip des „Rechtsschutzes“ das verfassungstheoretische Prinzip der Verantwortlichkeit als die rechtsstaatliche Seite der Gewaltenteilung. Dieses letzte Prinzip im normativen Set der Konzeption demokratischer Judikation bildet schließlich den rechtsstaatlichen Widerpart zum Prinzip Unabhängigkeit des Judikationsverfahrens. Wie dieses bezieht es sich auf den formellen, verfahrensmäßigen Aspekt des Judikationsprozesses, insofern es gemeinsam mit ihm der Frage nachgeht, wie die Stellung des jeweiligen Judikationsverfahrens im Zusammenhang des weiteren demokratischen Prozesses legitimatorisch zu beurteilen ist. Das Prinzip des Rechtsschutzes setzt dem demokratischen Prinzip der Unabhängigkeit der Judikation in diesem Kontext die Forderung nach Verantwortung entgegen. Auch wenn zuzugestehen ist, dass die Eigenständigkeit von Judikationsprozessen prinzipiell zu wahren ist, bedarf dieses freiheitliche Gewicht eines rechtsstaatlichen Gegengewichts. Das Rechtsschutzprinzip bindet die unabhängig entscheidenden Judikationsergebnisse deshalb etwa in einen Instanzenzug ein, der auch eine Stärkung des Verantwortungsbewusstseins der einzelnen Urteilsinstanzen bzw. Verfahrensabschnittsbeteiligten bewirkt. Im demokratischen Rechtsstaat wird das Prinzip der Verantwortlichkeit postuliert, das u. a. eine Begründungspflicht und das Willkürverbot auf sich vereinigt. Die Konkretisierung dieses Teilgehalts von Gewaltenteilung durch das Rechtsschutzprinzip fordert so zunächst eine Überprüfungsmöglichkeit eines abgeschlossenen Urteilsprozesses durch eine höhere Instanz überhaupt. Diese „Rechtsweggarantie“ kann in einer höheren Instanz desselben Verfahrenstyps mit denselben, ähnlichen oder auch anspruchsvolleren Überprüfungskriterien liegen. Sie muss dabei nicht zwingend auf eine gerichtliche Überprüfung eines durchgeführten Urteilsprozesses hinauslaufen. Entscheidend ist, dass die demokratische Freiheit unabhängiger Judikationsprozesse überhaupt durch einen kontrollierend wirkenden Instanzenweg gebrochen wird. Zum Rechtsschutzprinzip gehört auch die „Begrün-
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dungspflicht“. Die Pflicht zur Begründung des rechtlichen Urteils stellt jedes Urteilsverfahren und alle daran Beteiligten unter Rationalitätsdruck. Beurteilungen von Rechtsansprüchen im konkreten Fall dürfen ebenso wenig wie etwa in der Gesetzgebung willkürlichen Annahmen folgen, sondern müssen sich (juristisch) begründen lassen. Wie diese Begründungspflicht eingelöst wird, ist wiederum eine Frage, die in den verschiedenen demokratischen Rechtsordnungen unterschiedlich beantwortet werden kann. An die Begründungspflicht reiht sich zudem eine Forderung nach der „Öffentlichkeit des Judikationsprozesses“ an. Judikationsprozesse dürfen nur in gut begründeten Ausnahmen den Augen der Öffentlichkeit entzogen werden. Auch die Forderung nach der Öffentlichkeit des Verfahrens bewirkt so eine antizipierende Disziplinierung des Judikationsverfahrens nach innen und trägt zu seiner Rechtsstaatlichkeit bei.
4. Juristische Methodik im Kontext Die demokratische Judikation ist die normative Konzeption der juristisch-ethischen Verfassung der Public Judication. Sie konzeptionalisiert in Bezug auf den situationellen Entscheidungsprozess des rechtlichen Urteilens das, was der demokratische Rechtsstaat in Bezug auf den gesamten Bereich der politischen Konstitution konzeptionalisiert. Damit ist in thematischer Hinsicht die Legitimation bzw. Verfassung des demokratischen Rechts auf der konkretesten Ebene (das demokratische Recht als situationeller Entscheidungsfindungsprozess der Beurteilung im konkreten Einzelfall) erreicht. Ausgegangen war die Untersuchung allerdings von der strukturierenden Rechtslehre als einer Konzeption der juristischen Methodik, die den juristisch-ethischen Anspruchsbereich rechtlicher Judikation zwar berührt, diesen aber nicht gänzlich ausfüllt. Vielmehr berührt die juristische Methodik weitere disziplinäre Felder wie die Verfassungstheorie, aber auch die Verfassungsdogmatik und die Urteilsdogmatik. Demgegenüber erhebt die urteilstheoretische Konzeption der demokratischen Judikation einen streng disziplinierten, in dieser Hinsicht aber umfassenden Anspruch. Als Konkretisierung des demokratischen Rechtsstaats, auf den sich die strukturierende Rechtslehre letztlich stützt, sollte die Anschlussfähigkeit der demokratischen Judikation an die juristische Dogmatik eigentlich gewährleistet sein, und an der einen und anderen Stelle sind explizite Anknüpfungen auch bereits vorgenommen worden. Aber die Beantwortung der Frage, wie die juristische Methodik in den konzeptionellen (nicht: strukturellen31) Zusammenhang der Untersuchung und der demokratischen Judikation im Besonderen einzuordnen ist, steht zumindest als eigenes Problem noch aus. Die folgende kurze Kontextualisierung soll die juristische Methodik deshalb (1) als legitime Praxis methodisch korrekter Konstruktion von Rechtsurteilen nochmals eigens in den bisherigen Zusammen31 Der strukturelle Zusammenhang der juristischen Methodik im ethisch-juristischen Kommunikationsraum ist hier von Beginn an klargestellt worden: Einleitung 3.
4. Juristische Methodik im Kontext
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hang einarbeiten. Außerdem soll (2) über die klassischen juristischen Konkretisierungselemente hinaus auch am Beispiel des Stellenwerts von Rechtsprechung und Dogmatik in der juristischen Argumentation verdeutlicht werden, wie sich die inzwischen interdisziplinär erweiterte legitimatorische Perspektive auf den Prozess der Rechtskonkretisierung kohärent mit der disziplinären Sichtweise der juristischen Methodik verträgt. Das wird sowohl die Konzeption der demokratischen Judikation als auch die Konzeption der strukturierenden Rechtslehre sowie die hier erarbeitete Gesamtkonzeption mit zusätzlicher Überzeugungskraft stützen.
Abbildung 26: Juristische Methodik im Kontext
(1) In einer ersten Annäherung an den Zusammenhang zwischen der demokratischen Judikation und der (strukturierenden) juristischen Methodik kann nochmals an die jeweiligen disziplinären Hintergründe angeknüpft werden. Während die urteilstheoretische Konzeption der demokratischen Judikation den gesamten Bereich des juristischen Urteilens mit all seinen legitimatorischen Strukturen ins Auge fasst, kümmert sich die juristische Methodik um die methodisch korrekte Konstruktion juristischer Urteile innerhalb dieses Bereichs. Das Problem der juristischen Methodik kommt im Grunde erst dann richtig in den Blick, wenn die Urteilssituation im Ganzen bereits legitim strukturiert ist. Mit Blick auf die vorstehend erarbeitete Konzeption demokratischer Judikation kann daher gesagt werden, dass das gesamte normative Strukturprogramm vom kompetenzmäßigen Urteil und den Prozessgarantien über die Prozesslegitimation und die Gesetzmäßigkeit bis hin zur
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VI. Urteilstheorie: Demokratische Judikation
Urteilsunabhängigkeit und zum Rechtsschutzprinzip in der juristischen Methodik vorausgesetzt wird. Unter dem Titel der juristischen Methodik interessiert dann, wie unter diesen Voraussetzungen methodisch korrekt zu verfahren ist. Aus dieser Sicht fügt sich die juristische Methodik als Teil einer umfassenden Legitimationsstruktur in den Kontext ein. In ihrem Anspruchsbereich ist sie dabei in gewisser Hinsicht noch ein Stück konkreter als es die urteilstheoretischen Strukturierungen sind. Wenn auch nicht ganz gleichermaßen, so jedoch ähnlich wie die Urteilstheorie im Verhältnis zur Verfassungstheorie noch ein „verfahrensrechtliches Vakuum“, besser: ein legitimatorisches Vakuum erkennt, erblickt auch die juristische Methodik im Verhältnis zur Urteilstheorie noch einen legitimatorischen Freibereich, der in legitimatorischer Sicht zu verantworten und dementsprechend normativ zu strukturieren ist. Dieses „Vakuum“ erblickt die juristische Methodik v. a. in der Argumentationsmethodik des juristischen Konkretisierungsprozesses. Sie sieht, dass es in concreto noch nicht damit getan ist, das urteilstheoretische Setting des juristischen Urteilens zu legitimieren. In vielerlei Hinsicht bedarf es weiterer, methodologischer Strukturen. Die juristische Methodik leistet einen weiteren Beitrag dazu, dass die weiterhin verbleibenden „Rationalitätslücken“ in der Konkretisierung demokratischen Rechts weitmöglichst geschlossen werden. Diese „methodologischen Rationalitätslücken“ ortet die juristische Methodenlehre v. a. im Umkreis der Gesetzesbindung bzw. der gesetzmäßigen Urteilsbindung und der Verfahrens- bzw. Prozesslegitimation. Dass dieses oder jenes Urteil Recht und Gesetz „entspricht“, kann nicht mit einfachen Verweisen auf Gesetzeswortlaute begründet werden. Solche Verweise sollen vielmehr einer methodologisch reflektierten Argumentationslogik folgen. Indem die juristische Methodik dabei hilft, die größtmögliche Rationalität bzw. Legitimität der Judikation zu besorgen, leistet sie nicht nur einen weiteren substanziellen Beitrag zur Verfassung der Judikation, sondern auch zu der der Konstitution insgesamt und letztlich sogar zu einer integrativen legitimatorischen Gesamtkonzeption. Ähnlich wie die Urteilstheorie kann auch die juristische Methodik als eine tiefere, allerdings partielle Konkretisierungsstufe einer umfassenden Verfassungstheorie und etwa die strukturierende Rechtslehre als verfassungstheoretische Mikrokonzeption verstanden werden. Als der zentrale Ort juristischer Selbstreflexion und als methodologisch ausgerichtete juristische Argumentationslehre rückt sie dabei auch etwas näher zur juristischen Dogmatik und platziert sich inmitten des Grenzbereichs von Verfassungstheorie, Urteilstheorie, Verfassungsdogmatik und Urteilsdogmatik. Wie der demokratische Rechtsstaat und die demokratische Judikation muss die Konzeptionalisierung der juristischen Methodik außerdem – und das ist bei der strukturierenden Rechtslehre der Fall – auf eine Verfahrensstrukturierung beschränkt bleiben und sich inhaltlicher Vorspurungen enthalten. Nur so kann der notwendige prozedurale Legitimationsansatz, der hier auf nachmetaphysischem Begründungsniveau für jede Disziplin mit legitimatorischem Anspruch gefordert wird, auch im konkreten Anspruchsbereich der juristischen Methodik fortgesetzt werden. Überzeugende juristische Methodik nimmt deshalb
4. Juristische Methodik im Kontext
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inhaltlich keine Weichenstellungen vor, sondern konzentriert sich auch innerhalb des Urteilsprozesses auf die Strukturierung des argumentativen Verfahrens. Juristische Methodik ist somit die Verfassungstheorie des juristischen Argumentationsprozesses im demokratischen Rechtsstaat. (2) Zur Rationalisierung des juristischen Argumentationsprozesses werden bekanntlich v. a. die methodischen Elemente des Wortlauts, der Systematik, der (Text-) Geschichte und das Zweckargument herangezogen. Sie sind hier mit der strukturierenden Rechtslehre bereits besprochen worden32 und sollen deshalb nicht nochmals eingeführt werden. An dieser Stelle lassen sie sich nun allerdings auch in den inzwischen vergrößerten legitimatorischen Gesamtzusammenhang dieser Untersuchung eingliedern. So kann beispielsweise bestätigt werden, dass die vier klassischen Elemente keine inhaltlichen Vorspurungen vornehmen, sondern tatsächlich lediglich die juristische Argumentationsstruktur verfassen. Sie dienen dazu, den Text des Gesetzes für Kontexte plausibel zu öffnen. Als Kontextlieferanten33 öffnen sie auf strukturierte Weise naheliegende, aber begrenzte Argumentationsräume, in denen eine nachvollziehbare juristische Argumentation stattfinden kann. Dabei ist das Argument, dass im Streitfall normtextnähere normtextferneren Argumentationen vorzuziehen sind,34 in dem Licht zu sehen, dass die Judikation als Gesetzgebung zweiter Ordnung die Aufgabe zu erfüllen hat, das geltende Recht, und d. h. die vorgegebenen Normtexte, zu konkretisieren. Je weniger weit sich die Argumentationsräume daher von den Normtexten entfernen, desto überzeugender kann diese Aufgabe erfüllt werden. In diesem Zusammenhang kann auch aus einer weiteren legitimatorischen Perspektive heraus die problematische Position des teleologischen Methodenelements wiederholt werden. Zweckargumente neigen nämlich dazu, die demokratisch-rechtsstaatliche Textstufung der juristischen Argumentation zu transzendieren, sofern sie sich über die anderen Methodenelemente hinwegsetzen. Um insbesondere das verfassungstheoretische Gewaltenteilungsprinzip der Institutionensymmetrie und das Gesetzesbindungsprinzip nicht zu verletzen, müssen sich teleologische Argumente daher ihrerseits auf andere, normtextnähere Methodenelemente stützen.35 Mithilfe des inzwischen vergrößerten Legitimationskontexts lassen sich auch die Rollen von juristischen Argumenten, die sich in der Herstellung juristischer Urteile auf die Rechtsprechung und auf die Dogmatik beziehen, besser verstehen.36 Als Teil des juristisch institutionalisierten demokratischen Prozesses erhält die Rechtsprechung, insbesondere die höchstgerichtliche Judikatur eine exponierte BedeuI. 2. b), (3). Christensen, Die Paradoxie richterlicher Gesetzesbindung (2005), S. 12. 34 Zur Rangordnung der Konkretisierungselemente insgesamt Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 450 – 469, Rn. 429 – 465. 35 Vgl. bereits die entsprechenden Ausführungen in I. 2. b), (3) a. E. 36 Vgl. zum Folgenden auch Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 353 – 355, Rn. 365 / S. 518 – 520, Rn. 539 f.; und ebd., S. 382 – 390, Rn. 400 – 415. 32 33
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tung. Nun fordert das urteilstheoretische Prinzip der Gesetzmäßigkeit des Urteils zwar v. a. den rechtsstaatlichen Anschluss von Rechtsurteilen an Gesetzestexte. Auch in legitimen Verfahrensstrukturen ergangene Rechtsurteile („Präjudizien“) können im Urteilsprozess nicht im gleichen Maß Verbindlichkeit beanspruchen wie Gesetzestexte. Es darf aber auch nicht übersehen werden, dass die Rechtsurteile bzw. die konkretisierten Rechtsnormen, die den Rechtsurteilen zugrunde liegen,37 ihrerseits Verbindlichkeitswirkung entfalten sollen, die über den beurteilten Einzelfall hinausreicht („In einem Fall wie diesem gilt . . .“). Insofern kann das herausgearbeitete Prinzip der Gesetzmäßigkeit des Urteils auch als ein umfassenderes Prinzip der „Rechtstextgemäßheit“ betrachtet werden. Zu beachten ist aber, dass in dieses Prinzip die demokratisch-rechtsstaatliche Normenhierarchie bereits eingebaut sein muss, was insbesondere heißt, dass Normtexte Rechtsnormen (i. S. der strukturierenden Rechtslehre) und Urteilstexten voranstehen und Urteils- bzw. Rechtsnormtexte höherer Instanzen denen tieferer Instanzen übergeordnet sind. Innerhalb des (methodisch erarbeiteten) semantischen Spielraums des Gesetzesrechts bleibt so aber auch Platz für Präjudizien-Argumente, wobei den Präjudizien von Höchstgerichten eine vorrangige Stellung zukommt. So kann gesagt werden, dass Präjudizien eine weitere Möglichkeit bieten, die juristische Argumentation mit zusätzlichen Kontexten zu versorgen. Höchstgerichtlichen Urteilen, die ähnliche Fälle wie den vorliegenden betreffen, können Argumente entnommen werden, die bereits einmal erfolgreich oder erfolglos verarbeitet worden sind. Die Tatsache, dass ein Höchstgericht, möglicherweise also dieselbe Instanz, an die das infrage stehende Rechtsproblem letztlich wieder gelangt, einen ähnlichen Fall bereits einmal so oder so beurteilt hat, schützt dann das Vertrauen, dass es im gleichen oder ähnlichen Fall gegebenenfalls wieder in der entsprechenden Weise entscheiden wird. Der Stellenwert von Präjudizien ist jedoch in mehrerer Hinsicht zu relativieren. Zunächst ist mit dem Prinzip der Rechtstextgemäßheit zwar die Forderung nach der (legitimationsstufengerechten) Einbindung des Urteils in das Gesamtgewebe des Rechts zu wiederholen. Diese Forderung ist jedoch als produktive Aufgabe zu verstehen und darf nicht mit der Wahrung einer ominösen „Einheit der Rechtsordnung“ verwechselt werden.38 Der juristische Prozess ist kein Nachvollzug eines vorgegeben feststehenden Systems „gleicher“ Fälle, sondern ein zusammenhängendes Textwerk auf Überzeugungskraft angewiesener Argumentationen. Trotz der Verbindlichkeit ergangener Urteile sind neue Fälle stets neu zu beurteilen. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass scheinbar „gleiche“ Fälle tatsächlich niemals gleich sind. Das Recht hinkt der Kontingenz des gesellschaftlichen Lebens 37 Es ist daran zu erinnern, dass unter Rechtsnormen aus der Sicht der strukturierenden Rechtslehre erst der in Bezug auf einen konkreten Fall konkretisierte Rechtsnormtext („In einem Fall wie diesem gilt . . .“) zu verstehen ist, an den sich dann das Rechtsurteil als Entscheidungsnorm(text) („In diesem Fall gilt . . .“) anschließt. 38 Dazu Friedrich Müllers „Kritik des juristischen Holismus“: Müller, Die Einheit der Verfassung (22007), Zitat im Titel.
4. Juristische Methodik im Kontext
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nämlich immer hinterher. Zu bedenken ist auch, dass, damit identische Fälle vorliegen könnten, nicht nur die Sachverhalte und das geltende Recht, sondern auch die Argumentationen der Beteiligten übereinstimmen müssten (denn erst die Argumentationen machen die juristischen Prozesse aus prozeduraler Sicht vollständig zu dem, was sie sind). Dass all diese Bedingungen zutreffen, muss allerdings als höchst unwahrscheinlich eingeschätzt werden. Der Rückgriff auf Präjudizien ist deshalb lediglich als eine von mehreren Möglichkeiten zu betrachten, eine Rechtsmeinung argumentativ zu stützen oder zu Fall zu bringen. Mindestens im Verhältnis zu den direkt gesetzestextbezogenen Methodenelementen stehen sie hintan, da Präjudizien nur weitere Argumente dafür liefern können, warum die eine oder andere Lesart des Gesetzestextes, die wiederum mithilfe von Methodenelementen herausgearbeitet werden muss, vorzuziehen ist. Mit ihrer Verbindlichkeit bringen Präjudizien zwar von sich aus einen gewissen Vorschuss an Überzeugungskraft mit. Freigesetzt werden kann diese Überzeugungskraft allerdings nur, wenn der gleichzeitig damit einhergehenden Beweislast Genüge getan wird, dass der anscheinend „gleiche“ Fall auch tatsächlich der gleiche ist. Schließlich kann noch gefragt werden, wie der Stellenwert von „dogmatischen Argumenten“ in der Herstellung konkreter Rechtsurteile unter der erweiterten Perspektive einzuschätzen ist. Von der zunächst recht geringen Verbindlichkeit dogmatischer Texte im Gesamtnetz der Public Judication abgesehen, zeichnen sich die Urteile der juristischen Dogmatik gegenüber gerichtlichen Präjudizien durch eine Tendenz zur Abstraktion aus. Wo die gerichtliche Judikatur aufhört, fängt die Arbeit der Dogmatik im Grunde erst an. Zwar nimmt sich die juristische Dogmatik auch konkreter, meist höchstgerichtlicher, aber auch anderer Urteile (meist im Nachhinein) an, sie beschäftigt sich aber vorrangig damit, auf der Grundlage von Gesetzestexten und Rechtsprechung am „System des Rechts“ zu arbeiten. Gemeint ist damit, dass ihr wesentlich die Aufgabe zufällt, den konkreten „Rechtsstoff“ in seiner Gesamtheit überzeugend zu strukturieren. Dadurch schafft sie gleichzeitig Voraussetzungen dafür, dass konkrete Fälle systematisch mit dem Gesetzesrecht verknüpft werden können. Die Strukturierungsbemühungen bewegen sich auf einem meist mittleren, typischen Abstraktionsniveau. Die juristische Dogmatik ordnet typische Fälle einer bestimmten Sorte oder Reihe von Gesetzestexten zu. Auf dieses mittlere Niveau der Abstraktion können urteilende Organe, z. B. solche der Judikative, bei ihren konkreten Konkretisierungen zurückgreifen. Ähnlich wie in der Diskussion des Stellenwerts von Präjudizien ist aber zu sagen, dass auch der Rückgriff auf die Dogmatik keinen Beizug von Fertigprodukten bedeuten kann. Wieder muss im Prozess der juristischen Konkretisierung überzeugend dargelegt werden, inwiefern Rückgriffe auf andere Argumentationen gerechtfertigt sind. In Bezug auf die Dogmatik heißt das insbesondere, dass aufgezeigt werden muss, warum der konkrete vorliegende Fall ein typischer ist und warum die vorgefertigten Argumentationen der Dogmatik auch im vorliegenden Fall überzeugen.
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VI. Urteilstheorie: Demokratische Judikation
Sofern sich dogmatisch orientierte Rechtswissenschaft etwa im Wege von Gutachten auch konkreter Fälle annimmt, mag noch die Frage aufkommen, ob eine „rein wissenschaftliche“, von vielen institutionellen, z. B. zeitlichen Zwängen entlastete Judikation nicht prinzipiell vorzuziehen oder zumindest teilweise entlasteten wissenschaftlichen Rechtsgutachten in konkreten Urteilsverfahren ein erhöhter Stellenwert einzuräumen wäre. Besonders weil eine wissenschaftlich informierte Begutachtung in Spezialgebieten über einen vertieften Kenntnisstand der juristisch-dogmatischen Meinungslandschaft verfügt, ist die Frage durchaus ernst zu nehmen. Dabei gilt es zu unterscheiden: Sofern die Überlegung darauf zielt, die institutionell verfasste Public Judication durch eine „wissenschaftliche Judikation“ zu ersetzen, ist dem entschieden entgegenzutreten. Es ist ein zentrales Anliegen dialogisch-prozeduraler Legitimationstheorie, die Richtigkeit von Entscheidungen nicht einer zentralen, äußeren Instanz mit privilegierter „Urteilskraft“, in diesem Fall der Wissenschaft, zu überlassen, sondern die Frage über die richtige Entscheidung den konkret Betroffenen in einem eine Rationalitätsvermutung generierenden Verfahren selbst aufzubürden. Diese Bürde den Betroffenen im institutionalisierten Prozess abzunehmen, hieße, dem Urteilsprozess das legitimatorische Herzstück zu entreißen. Wenn die wissenschaftliche Begutachtung bestimmter Fälle jedoch als Teil des institutionalisierten Prozesses der verfassten Public Judication begriffen wird, ist die juristisch-dogmatische Begleitung konkreter Urteilsprozesse durchaus von Bedeutung. So kann der Rückgriff auf wissenschaftliche Expertise als eine Differenzierung und Vertiefung der argumentativen Kontexte begriffen werden, die sich allerdings in das strukturierte, institutionalisierte Verfahren der demokratischen Judikation einfügen und sich im konkreten Fall bewähren muss.
5. Zusammenfassung Die Problematik der Urteilstheorie besteht darin, die Judikation, das rechtliche Urteilen im Einzelfall, als spezifischen Handlungsprozess aus juristisch-ethischer Sicht zu legitimieren. In methodischer Hinsicht mit der Disziplin der Verfassungstheorie verwandt, lässt sich die Judikation dabei zunächst wieder in den Grundkategorien des Öffentlichen und dessen Verfassung konzeptualisieren. Es wird herausgestellt, dass die Judikation sowohl selbst einen Teil des öffentlichen Verfassungsprozesses darstellt als auch als Gegenstand dieser Verfassung zu betrachten ist. Als Gegenstand des Verfassungsprozesses gilt es, die Judikation, wie in der Verfassungstheorie den demokratischen Prozess als ganzen, in legitime juristische Institutionen einzubetten. Die Verfassung der öffentlichen Judikation darf dabei wieder nicht an den Grenzen des politischen Zentrums Halt machen. Es gilt, auch die Prozesse des rechtlichen Urteilens urteilstheoretisch zu legitimieren, die sich in der Peripherie abspielen. Als geeigneter Institutionenbegriff, der sich zusammen mit dem der Public Legislation zum Begriff des Public DecisionMaking zusammenfügt, wird hier dafür der Begriff der Public Judication vorgeschlagen.
5. Zusammenfassung
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Die Prozesse der Public Judication in soziologischer Sicht zuerst im politischen Zentrum näher betrachtet, gibt sich zunächst der paradigmatisch für den Judikationsprozess stehende Prozess der Jurisdiktion, der Rechtsprechung, als Judikationsprozess zu erkennen. Im Gegensatz zu anderen Judikationsprozessen zeichnet er sich durch ein erhöhtes Niveau an Strittigkeit aus. Zwar mit einem tieferen Niveau an Strittigkeit, aber nicht weniger als die Jurisdiktion ist auch die Exekution als Judikation zu qualifizieren. Auch bei ihr geht es, ob als Regierungs- oder als Verwaltungshandeln, darum, legislatorisch erlassenes Gesetzesrecht im Einzelfall zu konkretisieren. Schließlich weist sogar der Prozess der Legislation eine Strukturverwandtschaft zum Judikationsprozess auf, insofern es auch dort stets höherstufiges, jedenfalls abstrakteres geltendes Recht, allerdings nicht im Einzelfall, zu konkretisieren gilt. Im Zusammenhang lassen sich die Funktionsprozesse des politischen Zentrums dann als aufeinander folgende Verfahrensabschnitte beschreiben, wonach sich die Exekution an die Legislation anschließt und sich die Jurisdiktion im qualifizierten Streitfall noch zusätzlich einreiht. Unter dem Stichwort der peripheren Rechtskonkretisierung lassen sich allerdings auch in der Peripherie Judikationsprozesse erkennen, die in Bezug auf ihr Ausmaß und ihre Bedeutung im demokratischen Prozess durchaus beachtenswert sind. Wieder durch juristisch institutionalisierte peripher-zentrale Kopplungen vermittelt, legt sich über die zentralen und peripheren Prozesse sodann eine dreigliedrige Judikationsstruktur quer, die sich in ein Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtsverfahren, ein Zivil- und Zivilgerichtsverfahren sowie in ein Strafverfahren unterteilen lässt. Für die Verdichtung der vorangegangenen Überlegungen zu einer urteilstheoretischen Konzeption legitimer Judikation, die in Anschluss an die verfassungstheoretische Konzeption des demokratischen Rechtsstaats den Namen demokratische Judikation bekommt, ist der demokratische Prozess vorerst wieder im Gesamtzusammenhang zu sehen. In dieser Sicht erscheint die Judikation im demokratischen Rechtsstaat als Anschlussprozess der Legislation. Die Strukturverwandtschaft zwischen Judikation und Legislation sodann in umgekehrter Weise gelesen, lässt sich die Judikation als Legislation zweiter Ordnung verstehen. Dieses Verständnis der Judikation verträgt sich im Besonderen auch mit dem in der juristischen Methodik herausgestellten produktiven Charakter der juristischen Urteilsarbeit. Im Hinblick auf die Konzeptionalisierung der demokratischen Judikation hat die Interpretation der Judikation als Legislation zweiter Ordnung auch den Vorteil, einige notwendige Konkretisierungen des demokratischen Rechtsstaats in Bezug auf die Judikation präziser vornehmen zu können. Insgesamt wird die demokratische Judikation dann als auf den spezifischen Entscheidungsfindungsprozess der Judikation bezogene Konkretisierung der Konzeption des demokratischen Rechtsstaats ausgearbeitet. Wie dieser wird auch der juristische Urteilsprozess, in welcher Ausprägung der Public Judication auch immer, als ein durch die Leitprinzipien der Demokratie und des Rechtsstaats strukturiertes Verfahren institutionalisiert. Insofern mit der Ausarbeitung der Konzeption der demokratischen Judikation die Untersuchung den Argumentationsraum zwischen der Moralphilosophie und
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VI. Urteilstheorie: Demokratische Judikation
der juristischen Methodik ausgefüllt hat, wird in der darauf folgenden Kontextualisierung die juristische Methodik in einigen Punkten nochmals eigens in den Gesamtkontext des Erarbeiteten gestellt. Hervorgehoben wird dabei, dass die juristische Methodik das verfassungstheoretische bzw. urteilstheoretische Institutionen-Setting bereits voraussetzt, auf dieser Grundlage den Prozess des juristischen Urteilens im Bereich des „verbleibenden verfahrensrechtlichen Vakuums“ aber weiterhin legitim strukturiert. Die weiteren Ausführungen bestätigen zudem nicht nur die notwendige kontextliefernde Rolle der juristischen Konkretisierungselemente, sondern beziehen aus der inzwischen erweiterten Perspektive auch die Funktion und die legitimatorische Bedeutung von Präjudizien und dogmatischen Argumenten im Judikationsprozess mit ein.
VII. Urteilsphilosophie: Deliberative Judikation Mit der Konzeption der demokratischen Judikation ist das Ziel dieser Untersuchung, eine interdisziplinäre, ethisch wie juristisch überzeugende Legitimation des demokratischen Rechts – von der Moralphilosophie bis hin zur Urteilstheorie bzw. zur juristischen Methodik (oder umgekehrt) – zu konzipieren, im Grunde erreicht. Als legitimatorische Konzeption der Urteilstheorie bildet die demokratische Judikation das letzte Versatzstück eines schrittweise lesbaren interdisziplinären ethisch-juristischen Kontexts. Auf der Grundlage des bisher Erarbeiteten kann sowohl dargelegt werden, in welchem Sinn die Forderungen der konkreten, rechtswissenschaftlich ausgerichteten juristischen Methodik ethischen Gehalt in sich tragen, als auch (andersherum), wie die Prinzipien der demokratischen Judikation – im Zusammenspiel mit der (strukturierenden) juristischen Methodik – den abstrakten moralphilosophischen Diskursprinzipien konkrete juristische Legitimität verschaffen. Diskursethik, deliberative Demokratie, demokratischer Rechtsstaat und demokratische Judikation konstituieren, je disziplinär erprobt, durch die richtigen thematischen und methodischen Transferleistungen interdisziplinär miteinander verbunden, einen kohärenten ethisch-juristischen Gesamtzusammenhang. Dieser ethisch-juristische Gesamtzusammenhang soll nun zum Schluss dieser Untersuchung mithilfe des kardinalen Theoriestücks der Urteilsphilosophie noch zu einem umfassenden interdisziplinären Gesamtbild ausgearbeitet werden. Das Feld, das im hier relevanten (rechtstheoretischen und rechtsphilosophischen) Abschnitt des interdisziplinären Kommunikationsraums noch nicht bearbeitet worden ist, ist die Urteilsphilosophie, und dementsprechend steht eine überzeugende urteilsphilosophische Konzeption noch aus. Im Gesamtkontext dieser Untersuchung kann eine solche Konzeption noch einiges erreichen: Als ethische Disziplin fordert die Urteilsphilosophie methodisch wiederum eine allgemeine philosophische, abstrakte Legitimationslogik. Das urteilsphilosophische Feld bewegt sich wieder in dem methodischen Anspruchsbereich der Rechtsphilosophie, in dem auch die Moralphilosophie und die politische Philosophie angesiedelt sind. Zugleich findet sich die Urteilsphilosophie in thematischer Hinsicht im selben situationell-konkreten Bereich wieder, in dem soeben auch die demokratische Judikation als Konzeption der Urteilstheorie herausgearbeitet worden ist: im Bereich des rechtlichen Urteilens im Einzelfall, der Judikation. Wenn es nun auch noch gelingt, die juristisch-ethische Konzeption der demokratischen Judikation an eine ethische Konzeption desselben Themenbereichs anzufügen, gewinnt die Theorie insgesamt an noch größerer interdisziplinärer Überzeugungskraft. Es wird dann nicht nur gelungen sein, überhaupt eine ethisch-juristische Gesamtkonzeption demokratischen
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VII. Urteilsphilosophie: Deliberative Judikation
Abbildung 27: Stand der Untersuchung (VII.)
Rechts zu rekonstruieren, sondern auch das Kunststück, ein lückenloses rechtstheoretisches wie rechtsphilosophisches Gesamtbild über sämtliche thematischen Feldbereiche hinweg präsentieren zu können. Zudem würde die kohärente Einfügung einer urteilsphilosophischen Konzeption das bisher Erarbeitete insofern zusätzlich stützen, als der methodologisch alternative Weg von der politischen Philosophie über die Urteilsphilosophie zur Urteilstheorie (statt, wie gegangen, des Wegs von der politischen Philosophie über die Verfassungstheorie zur Urteilstheorie) so gewissermaßen nochmals nachgegangen wird. Damit das gelingt, muss die anstehende urteilsphilosophische Konzeption allerdings die doppelte Schwierigkeit meistern, die soeben herausgearbeitete Konzeption der demokratischen Judikation (methodisch) zu abstrahieren und zugleich auch die politisch-philosophische Konzeption der deliberativen Demokratie (thematisch) zu konkretisieren. Es gilt zum Schluss also, eine urteilsphilosophische, d. h. eine philosophischethische Konzeption legitimen rechtlichen Urteilens zu erarbeiten. Wie gewohnt, soll auch hierfür in einem ersten Schritt ein konzeptueller Einstieg in die disziplinäre Problematik dem Weiteren den Weg bereiten. Zunächst wird daher 1. auf der abstrakteren Konzept-Ebene eine richtungsweisende Orientierung über maßgebliche (philosophische) Judikationskonzepte vorgenommen werden. Auch im Bereich der Urteilsphilosophie kann sodann die legitimatorische Konzeption nicht überzeugend ausgearbeitet werden, wenn sie nicht auch plausibel auf ihren funktiologischen Wirklichkeitsbereich bezogen wird. Als Aufbereitung des aus der Sicht
1. Judikationskonzepte
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der Urteilsphilosophie problematischen Wirklichkeitsgehalts des rechtlichen Urteilens wird sich an die konzeptuellen Vorüberlegungen deshalb 2. wieder eine (kleine) Soziologie, diesmal der Judikation in modernen Demokratien, anschließen. Dann schließlich sollen 3. die Fäden der Ausführungen wieder in einer legitimatorischen Konzeption, nun unter dem Titel der deliberativen Judikation, zusammenführen, die wie alle hier entwickelten Konzeptionen mit einem überschaubaren Set normativer Prinzipien auf den Begriff gebracht werden wird. Zu guter Letzt drängt sich an dieser Stelle 4. eine kurze, aber umfassende Rekapitulation der hier durchgeführten interdisziplinären Untersuchung auf. Die Kontextualisierung, die auch am Ende dieses letzten Kapitels unternommen werden soll, wird die zuvor entfaltete Konzeption der deliberativen Judikation darum nochmals in den Gesamtzusammenhang dieser Untersuchung einordnen. Spätestens dann muss sich herausstellen, dass der Versuch einer sowohl die Jurisprudenz als auch die Ethik ernstnehmenden Legitimation demokratischen Rechts gelungen ist. 1. Judikationskonzepte Anstatt medias in res zu gehen, soll die Erarbeitung der urteilsphilosophischen Konzeption zuerst wieder konzeptuell aufbereitet werden. Zwischenziel auf dem Weg zur ethisch legitimen Judikation ist somit zunächst, die im Feld der Urteilsphilosophie maßgeblichen Ansätze zu konzeptualisieren und zu beurteilen. Dabei ist es erforderlich, das disziplinär angemessene Diskussionsforum zu treffen, was insbesondere bedeutet, die hier behauptete Unterscheidbarkeit zwischen (juristischethischer) Urteilstheorie und (ethischer) Urteilsphilosophie nachvollziehbar zu erkennen zu geben. In der urteilstheoretischen Diskussion sollte deutlich geworden sein, dass ihr juristisch-ethischer Anspruch v. a. auf die juristisch-institutionelle Verfassung der Judikation als Public Judication abzielt. Judikation wurde als ein im öffentlichen Raum mit relativ handfesten, gesetzesrechtlich verfassten und zu verfassenden Institutionen konzeptualisiert und schließlich auch konzeptionalisiert. Das hat dem Umstand Rechnung tragen sollen, dass die Urteilstheorie zwar in einem Hybridbereich zwischen Rechtswissenschaft und Ethik angesiedelt ist, methodisch aber eben auch vonseiten der Rechtswissenschaft anzugehen ist und daher auch einen greifbaren Bezug zum positiven Gesetzesrecht und zur rechtswissenschaftlichen Dogmatik aufweisen muss. Die Urteilsphilosophie lehnt sich dagegen kaum mehr, jedenfalls nicht in methodischer Hinsicht, an die Institutionen des positiven Gesetzesrechts an. Sie interessiert sich aus einer abstrakt-philosophischen bzw. ethischen Sicht für die Legitimation rechtlicher Urteile. Die urteilsphilosophische Konzeptualisierung legitimer Judikation bedarf also nicht juristisch greifbarer Institutionenzusammenhänge, sondern abstrakter philosophischer Konzepte, die für sich in Anspruch nehmen, das rechtliche Urteilen (in modernen Demokratien) in legitimer Weise zu strukturieren. Nun ist, wie schon zur Disziplinierung der Urteilstheorie zu sagen war, auch zum hier thematisch-methodisch definierten Disziplinenbereich der Urteilsphilo-
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VII. Urteilsphilosophie: Deliberative Judikation
sophie zu sagen, dass es sich dabei nicht um einen etablierten, jedenfalls nicht in der herkömmlichen Wissenschaftspraxis als solchen wahrgenommenen Anspruchsbereich handelt. Auch urteilsphilosophische Ansätze werden herkömmlicherweise unter so verschiedenen Disziplinennamen wie Rechtstheorie, Rechtsphilosophie oder juristischer Methodenlehre gehandelt. Dementsprechend schwierig nimmt sich auch der Versuch aus, die zerstreuten Logiken zu einer sinnvoll strukturierten Argumentation zusammenzuführen. Dank des hier verwendeten Disziplinenrasters, der ja nicht bei den (lokutionären) Logiken, sondern den (illokutionären) Geltungsansprüchen wissenschaftlicher Äußerungen ansetzt, lässt sich aber dennoch ein einigermaßen nachvollziehbarer urteilsphilosophischer, v. a. zwischen zwei Hauptansätzen hin und her gerissener Argumentationskontext erkennen. Die beiden urteilsphilosophischen Hauptansätze bilden dabei am ehesten die beiden bereits aus der Diskussion der juristischen Methodik bekannten Konzepte des Legalismus und des Anti-Legalismus.1 Damit schließt sich nicht nur der Kreis zur Ausgangsdebatte dieser Untersuchung. Die Feststellung unterstreicht auch nochmals die erhebliche (inter-)disziplinäre Reichweite des Argumentationszusammenhangs der strukturierenden Rechtslehre, der sich damit auch präzisieren lässt. Die Argumentationsleistung der strukturierenden Rechtslehre, deren Kernkompetenz anfänglich und letztlich im Feld der juristischen Methodik liegt, bezieht sich nicht nur auf die Felder der Verfassungstheorie, der Verfassungsdogmatik, der Urteilsdogmatik und der Urteilstheorie, sondern zieht sich bis ins Feld der Urteilsphilosophie hindurch. Unter diesen Voraussetzungen kann sich die folgende kurze Konzeptualisierung der Judikationsansätze auf eine pointierte, systematische Gegenüberstellung von Legalismus und Anti-Legalismus beschränken und daraufhin das für die anstehende urteilsphilosophische Konzeption einschlägige Konzept der verantworteten Rechtskonstruktion auf den Begriff bringen. Wie bereits kennen gelernt, liegt das entscheidende Erkennungsmerkmal und die große Schwäche des „legalistischen“, „erkenntnispositivistischen“ oder kurz „positivistischen Judikationskonzepts“2 in seinem Normverständnis bzw., auf den gesamten Judikationsprozess bezogen, in seiner Auffassung darüber, was als die normative Grundlage des Rechtsurteils anzusehen ist. Der Legalismus meint, dass das, was dem Judikationsprozess als legitimatorische Grundlage dient, eine bereits vorgegebene Rechtsnorm sei. Dementsprechend wird das resultierende Rechtsurteil als nichts weiter als das mimetische Abbild der ontisch bereits vor-liegenden Rechtsnorm im konkreten Fall verstanden, die es in einem mehr oder weniger komplizierten Verfahren der Rechts-findung zu entdecken gelte. Die Rechtsarbeit, vielmehr ein der Subjektivität der Urteilsperson entrissenes Geschehen, stellt sich damit als eine – je nach konzeptioneller Weiterführung – „analytisch“ erkenntnislogische oder „hermeneutisch“ verstehende „Anwendung“ der objektiven, unverfügbaren lex ante casum dar. Ziel der rechtlichen Judikation ist es danach, die vor1 2
Vgl. I. 1. bis I. 2. Vgl. I. 1. a).
1. Judikationskonzepte
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gegebene Rechtsnorm mit dem auf-gegebenen Urteil zur Deckung zu bringen, die Identität von Rechtsgrundlage und Rechtsurteil ans Licht zu bringen. Das bereits intern angelegte Problem dieses Konzepts liegt allerdings darin, dass die so oder so unterstellte Objektivität des Judikationsprozesses von der Subjektivität der Urteilsperson durchkreuzt wird. Deshalb muss der Legalismus bereits im Rahmen seiner eigenen Logik auf Ersatzstrategien zurückgreifen, die die „Anwendung“ des vorgegebenen Rechts im konkreten Fall sichern sollen. Darunter fallen insbesondere das als Erkenntnis- oder Verstehenshilfe begriffene „Auslegungs“instrumentarium und das ansonsten zur „Lückenfüllung“ bereitstehende „Richterrecht“. Der „Anti-Legalismus“ oder „Antipositivismus“ dagegen3 weiß, dass sich der Legalismus irrt. Ebenso sicher allerdings, wie sich der Legalismus bei der unverfügbaren lex ante casum gibt, ist er davon überzeugt, dass gerechte Urteile – oder was davon übrig bleiben kann – nur mithilfe von Abwägung, flexiblen Strategien situativer Systemsteuerung oder gar nur durch Dezision hergestellt werden können. So bilden die Ersatzstrategien gelungener „Auslegung“, die beim Legalismus zum Zug kommen, weil das Anwendungsmodell nicht derart reibungslos funktioniert, wie er es unterstellt, im Anti-Legalismus eher den konzeptuellen Ansatzpunkt. Die gesetzlichen Vorgaben der Legislative degenerieren dadurch zu einem lockeren Anschlussangebot fürs ohnehin allein in der Hand der Urteilsperson liegende Rechtsurteil. Diese Einsicht zieht der Anti-Legalismus aus einer fundamentalen Kritik am Legalismus, die das unbegründete Vertrauen in die Normontologie in Bausch und Bogen verwirft. Anders als der Legalismus ist sich der Anti-Legalismus im Klaren darüber, dass es sich bei der Rechtsarbeit um einen produktiven Prozess der Rechtserzeugung handelt und das Rechtsurteil demnach als das Erzeugnis der Rechtsarbeit verstanden werden muss. Weil es deshalb aber nicht mehr möglich sei, Rechtsgrundlage und Rechtsurteil zur Deckung zu bringen, bleibe gar nichts anderes übrig, als auf die beliebäugelten wirkungsvollen Ersatzstrategien zurückzukommen. Erst in der treffenden Sicht des Konzepts, dem hier der Name „verantwortete Rechtskonstruktion“ gegeben wird – gewissermaßen das judikationsphilosophische Hintergrundkonzept der strukturierenden Rechtslehre –,4 wird allerdings deutlich, dass der Anti-Legalismus in der Kritik am Legalismus auf halber Strecke stehen bleibt und sich damit auch einen unangenehmen Widerspruch einhandelt. Obwohl der Anti-Legalismus nämlich die schöpferische Qualität des Urteilsprozesses bejaht, hält er gleichwohl am angeblichen Judikationsziel fest, dass Rechtsgrundlage und Rechtsurteil in eine identitäre Übereinstimmung zu bringen wären. Das ist jedoch ein Import aus der legalistischen Theorie, die sich mit der Wende zur Produktivität des Judikationsprozesses nicht mehr verträgt. Ob der Anti-Legalismus die Uneinlösbarkeit dieses Judikationsziels und damit den eingehandelten Widerspruch tatsächlich nicht sieht oder ob er sie nur vorschützt, um seinem eigentlichen 3 4
Vgl. I. 2. a). Vgl. dazu I. 1. b) und I. 2. b).
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VII. Urteilsphilosophie: Deliberative Judikation
Ziel, den wirkungsvollen Alternativstrategien bis hin zur gänzlich verantwortungslosen Dezision, näherzukommen, mag dahingestellt bleiben. Zu konstatieren ist jedenfalls, dass, während der Legalismus das träge Schwergewicht seines Ansatzes auf die Vorstellung von der Rechtsgrundlage als vorgegebene Rechtsnorm legt, das Schwergewicht des Anti-Legalismus auf den Alternativstrategien selbst zu liegen kommt. Erst das Konzept der verantworteten Rechtskonkretisierung rückt den Problemschwerpunkt dann wieder in die Mitte und deutet die Rechtsarbeit zutreffenderweise als eine normativ zu verantwortende Konkretisierungsarbeit vorgegebener Normtexte. Von dieser Konzentration auf die juristische Praxis aus ist die verantwortete Rechtskonstruktion auch besser als der Anti-Legalismus in der Lage, die anderen Bestandteile des Judikationsprozesses präzise zu analysieren. Als Rechtsgrundlage des zu fällenden Urteils kann sie so den mit legitimer Verbindlichkeit erlassenen Gesetzestext und als das Rechtsurteil die durch die konkretisierende Rechtsarbeit erzeugte Entscheidungsnorm definieren. Ohne dabei auf „Ersatzstrategien“ zurückgreifen zu müssen, kann die verantwortete Rechtskonstruktion dabei das Ziel der Judikation dann in der Herstellung eines legitimen Urteils durch pflichtgemäße Rechtsarbeit erblicken. Judikationskonzept
Legalismus (Positivismus)
Anti-Legalismus (Antipositivismus)
Verantwortete Rechtskonstruktion
Rechtsgrundlage
Vorgegebene Rechtsnorm
Anschlussangebot fürs Rechtsurteil
Rechtsurteil
Abbild der Rechtsnorm im Fall
Erzeugnis der Rechts- Durch Rechtsarbeit erarbeit zeugte Entscheidungsnorm
Rechtsarbeit
Erkennende oder verstehende Anwendung
Rechtserzeugung
Normativ gebundene Rechtskonkretisierung
Judikationsziel
Identität von Grundlage und Urteil
Identität von Grundlage und Urteil
Legitimes Urteil durch pflichtgemäße Rechtsarbeit
Ersatzstrategien
Auslegung, Richterrecht
Abwägung, Situativstrategien, Dezision
–
Mit Verbindlichkeit erlassener Gesetzestext
¨ berblick Abbildung 28: Die Judikationskonzepte im U
Das Judikationskonzept der verantworteten Rechtskonstruktion impliziert in legitimatorischer Hinsicht auch einen institutionell-prozeduralen Ansatz. Die Rechtmäßigkeit des Urteils und die Pflichtgemäßheit der Rechtsarbeit werden nämlich nicht einfach der „Urteilskraft“ der Urteilsperson überantwortet (wie es etwa für den Anti-Legalismus gesagt werden kann), aber auch nicht der Objektivität einer vorgegebenen Rechtsidee (darin liegt das z. T. naturrechtlich-metaphysische Erbe des Legalismus), sondern sie entspringt einer normativ gerechtfertigten Verfahrens-
2. Kleine Soziologie der Judikation
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struktur, die sich an den Urteilsprozess anschließt und mit ihm verknüpft ist, mit diesem aber nicht in eins gesetzt werden darf. Von diesem Blickwinkel aus wird auch noch einmal deutlich, wie eng die Urteilsphilosophie in thematischer Hinsicht mit der spezifischen Rechtskultur verwoben ist, deren Judikationsprozess sie rekonstruktiv konkretisiert.5 Im hier relevanten Themenbereich ist das die Rechtskultur moderner Demokratien, in der die Rechtstexte auf die Legislation und die Judikation verteilt sind und in der beide Verfahrensabschnitte, also auch die Judikation, sich bereits in ein normativ strukturiertes Prozess-Setting eingebettet finden. Im Gesamtprozess der demokratischen Rechtskultur verlagert das die Rationalität der Judikation von der persönlichen „Urteilskraft“ auf den prozeduralen Gesamtzusammenhang. Dadurch werden die Urteilspersonen ihrer Pflicht zur methodisch korrekten Konkretisierung aber nicht entbunden. Im Gegenteil, die verfahrensstrukturelle Einbettung des Urteilsprozesses macht methodische Fehlgriffe nun nachvollziehbar und kontrollierbar.
2. Kleine Soziologie der Judikation Die kurze repetierende in der Auseinandersetzung mit dem Legalismus und dem Anti-Legalismus vorgenommene Konzeptualisierung der verantworteten Rechtskonstruktion hat der anstehenden urteilsphilosophischen Konzeption den disziplinären Weg bereiten sollen. Dabei wurden nochmals sowohl die funktiologisch wie auch die legitimatorisch entscheidenden Ansätze eines in modernen Demokratien angemessenen Judikationsverständnisses in den Vordergrund geholt, die in der urteilsphilosophischen Entwicklung der Legitimationskonzeption weiter zu verarbeiten sein werden. Das sind insbesondere die konstruktive Seite des Urteilsprozesses und die verfahrensstrukturell zu explizierende normative Gebundenheit des Judikationsverfahrens. Damit das Konzept der verantworteten Rechtskonstruktion nun zu einer differenzierten ethischen Konzeption rechtlichen Urteilens ausgearbeitet werden kann, sollen im Folgenden wiederum zuerst die soziologischen Funktionsbedingungen der Judikation etwas eingehender betrachtet werden. Das Interesse zielt im Weiteren also zunächst wieder darauf zu klären, was beim juristischen Urteilen in funktionierenden Demokratien tatsächlich passiert. Denn auch eine urteilsphilosophische Konzeption kann nur dann überzeugen, wenn sie den Wirklichkeitsbereich, den sie normativ strukturieren will, auch kennt. Die Funktionsabläufe demokratischer Judikation sind hier in urteilstheoretischer Sicht schon einmal untersucht worden,6 weshalb die Frage aufgeworfen werden 5 Das hat sich bereits in der Auseinandersetzung mit Klaus Günthers Ansatz eines moralischen Applikationismus gezeigt, bei dem Günther der irrtümlichen Auffassung war, das „Anwendungs“problem bereits vom abstrakten moralphilosophischen Feld aus hinreichend differenziert konzeptionalisieren zu können, und sich dementsprechend in argumentative Schwierigkeiten brachte: II. 3. 6 VI. 2.
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VII. Urteilsphilosophie: Deliberative Judikation
darf, worin sich die folgenden urteilsphilosophisch-soziologischen Analysen von denen in der Urteilstheorie unterscheiden. Diese Frage nach der Unterscheidung zwischen einer soziologischen Analyse desselben Themenbereichs, zum einen aus der juristisch-ethischen Sicht der Rechtstheorie und zum anderen aus der ethischen Sicht der Rechtsphilosophie, hat bereits das Verhältnis der soziologischen Analysen in der politischen Philosophie und in der Verfassungstheorie betroffen, die dort, was das Prozedere angeht, nur in umgekehrter Reihenfolge angegangen worden sind.7 Es ist durchaus zuzugeben, dass in beiden Disziplinen nun die Judikation in Demokratien (in der politischen Philosophie und der Verfassungstheorie die demokratische Konstitution als ganze) betrachtet wird. Die disziplinären Unterschiede zwischen den verschiedenen Feldern, die sich hier vorrangig in der legitimatorischen Logik der Konzeptionen bemerkbar machen, bestehen aber auch in Bezug auf das (entsprechende) soziologische Anspruchsniveau, was im vorliegenden Kontext folgendermaßen erläutert werden kann: Während die Urteilstheorie sich vorrangig für die juristisch-institutionellen Phänomene der Judikation interessiert und somit auch in ihrer soziologischen Analyse an die juristischen Institutionen anschließt, setzt die Urteilsphilosophie ihren Anspruch allgemeiner, in der Erklärungsqualität aber auch tiefer an. Als philosophische Disziplin kann die Urteilsphilosophie von der (verhältnismäßig) konkreten Gestalt der juristischen Institutionen rechtlichen Urteilens absehen und sie in einem allgemeineren Licht beleuchten und in einer abstrakteren Sprache erklären. Diese philosophische Abstraktion schafft die Voraussetzungen für ein noch tieferes Verständnis des bisher nur (urteils-)theoretisch behandelten Funktionsbereichs der Judikation. Insgesamt kann der Unterschied zwischen den soziologischen Analysen der Rechtstheorie und der Rechtsphilosophie, wie bereits für das Verhältnis der politisch-philosophischen und der verfassungstheoretischen Analysen gesagt worden ist, so dargestellt werden, dass die Analysen der Disziplinen der Rechtstheorie tendenziell eine (juristisch-institutionelle) Oberflächenbetrachtung vornehmen, während es den rechtsphilosophischen Disziplinen eher um die (philosophische) Analyse allgemeiner Tiefenstrukturen geht.
a) Rechtsprobleme als kommunikative Krisen Der demokratische Prozess, die kulturell spezifische Ausprägung des politischen Prozesses mit demokratischen Mitteln, dient aus soziologischer Sicht dem Ziel der gesellschaftlichen Integration.8 Moderne Demokratien sind so eingerichtet, dass Probleme der sozialen Integration jederzeit friedlich in einen nachhaltigen Lösungsprozess eingeführt werden können und diese Probleme Aussicht darauf haben, auf friedliche Weise auch gelöst zu werden. Die verbindlichen Entscheidungen des politischen Prozesses können zwar mit Staatsgewalt durchgesetzt werden, doch 7 8
IV. 2. und V. 2. Vgl. bereits IV. 2.
2. Kleine Soziologie der Judikation
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steht die Anwendung von Gewalt als ultima ratio der Verwirklichung von Demokratie immer nur im Hintergrund des politischen Prozesses. Staatsgewalt ist, so gesehen, nicht Teil des demokratischen Prozesses als Prozess der Entscheidung umstrittener bzw. integrationsgefährdender Irritationen, sondern nur ein Mittel der Durchsetzung seiner Ergebnisse. Die besondere Schwierigkeit der friedlichen Bewältigung von Integrationsproblemen besteht mindestens in modernen Demokratien darin, dass die funktional und intrakulturell differenzierten Gesellschaften, mit denen sie es zu tun haben, erheblichen sozialen Sprengstoff in sich bergen. Eine differenzierte pluralistische Gesellschaft zusammenzuhalten, ist kein leichtes Unterfangen, weil sich mit den unzähligen Möglichkeiten persönlicher und kultureller Spaltung auch die Möglichkeiten sozialer Reibungspunkte multiplizieren. Keine offene Gesellschaftsform, insbesondere nicht die demokratische, kann ausschließen, dass divergierende Welt- und Menschenbilder unvereinbar aufeinanderprallen. Nun löst sich das Streitpotenzial komplexer Demokratien dann auch nicht in Luft auf, wenn bestimmte Probleme, z. B. von der Peripherie aus, in den politischen Machtkreislauf eingeführt werden. Nicht selten entfaltet sich die Strittigkeit eines Politikums erst so richtig, wenn es auf das Zentrum zusteuert. Denn die Zusteuerung auf das politische Zentrum geht in aller Regel mit einer erhöhten medialen Verbreitung einher, die das infrage stehende Problem auf eine Vielzahl weiterer Reibungsflächen verteilt. Die legislative Behandlung von Problemen zeugt dann häufig geradezu exemplarisch von der Unvereinbarkeit widerstreitender Interessen. Es fragt sich aber, wie weit sich der Widerstreit, der durch den demokratischen Prozess vorerst im Parlament zumindest durch Kompromiss beigelegt wird, in der Judikation, d. h. post-legislatorisch bzw. post-legislativ, fortsetzt. Die Frage ist für eine soziologische Analyse der Judikation von nicht unwesentlicher Bedeutung, weil von der Problembeschaffenheit, und d. h. in sozialen Fragen immer auch vom Niveau der Umstrittenheit von Problemen, auch die Beschaffenheit potenzieller Problemlösungen abhängt. Soll eine Analyse also die soziologische Tiefenstruktur der Judikation in modernen Demokratien möglichst zutreffend nachvollziehen, dann darf sie diesen Gesichtspunkt nicht außer Acht lassen. Der erste Teil dieser Analyse spitzt sich deshalb auf die Frage zu, welchem Niveau an Strittigkeit die Konkretisierung von Gesetzesrecht ausgesetzt ist bzw. inwieweit die Judikation in Demokratien nach unterschiedlichen Strittigkeitsniveaus zu differenzieren ist. Die Frage nach der Strittigkeit scheint zunächst für all die (zahlreichen) Fälle Gesetzesrecht konkretisierender Judikation unangebracht, in denen rechtliche Urteile unkontrovers gefertigt und verwirklicht werden. Sei es im Bereich zivilrechtlicher, verwaltungsrechtlicher oder gar strafrechtlicher (Nicht-)Konkretisierung einschlägiger Gesetzestexte, in vielen, wenn in nicht den meisten Fällen der Konkretisierung und Implementierung von Gesetzesrecht verläuft dieser Prozess reibungslos. Der vorangehende (legislatorische) Abschnitt des demokratischen Prozesses mit seinem vorläufigen, dokumentierten (Zwischen-)Ergebnis in der Form positiven Gesetzesrechts hat dann offenbar seinen Teil dazu beigetragen, Probleme sozialer Integration bereits durch legislative Maßnahmen zu tilgen. Die kommu-
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nikative Macht des demokratischen Prozesses strahlt in diesem Fall so wirkungsvoll in die Peripherie aus, dass die desintegrierenden Probleme ohne weiteres korrigierendes Zutun verschwinden. Dass legislative Erlasse solche Strahlkraft entfalten können, impliziert dann nicht nur, dass die von einer bestimmten gesetzlichen Regelung Betroffenen – aus welchen Gründen auch immer – zu „gesetzeskonformem“ Handeln (bewusst oder unbewusst) motiviert sind. Es bedeutet auch, dass die einschlägigen Gesetzestexte von den Betroffenen „gleich“ verstanden werden. Was soll das heißen? Legislative Erlasse bringen es mit sich, dass sie nicht nur für eine Person, sondern prinzipiell für Jede und Jeden, die oder der in ihren Geltungsbereich fällt, Geltung beanspruchen. Wird zudem in Betracht gezogen, dass es in aller Regel immer auch jemanden (und sei es der Staat) geben wird, der an der Verwirklichung des Gesetzesrechts interessiert ist, und es prinzipiell auch durchgesetzt werden kann, so geht die Rechtsgeltung i. d. R. auch mit einer Rechtskontrolle einher. Ob es wie im Zivilrecht andere Bürgerinnen und Bürger sind oder wie im Verwaltungs- und im Strafrecht der Staat ist – die „richtige“ Rechtskonkretisierung steht stets unter der Kontrolle anderer Betroffener und Beteiligter. Weil die Konkretisierung von Gesetzesrecht allerdings kein erkenntnislogischer Automatismus, sondern eine kreative Leistung darstellt, wird die Frage der „richtigen“ Konkretisierung so zu einem Problem der Verständigung zwischen mindestens zwei Personen.9 Unstrittige Konkretisierungen, an denen Mehrere beteiligt sind, haben nur dann eine Chance, wenn die Beteiligten mit den Handlungsmöglichkeiten, die Andere einer gesetzestextlichen Anordnung zuschreiben, einverstanden sind. Das ist angesichts der Referenzialität sprachlichen Verstehens, der Rückgebundenheit von Sprache also auch an den jeweils persönlichen Erfahrungs- und Interessenhorizont, keineswegs selbstverständlich. Denn gerade in funktional und kulturell differenzierten Gesellschaften driften Erfahrungen und Interessen in zunehmendem Maße auseinander. Dass der wohl größte Teil des täglichen Lebens in modernen Demokratien gleichwohl in relativer „juristischer Eintracht“ verläuft,10 verweist dann sowohl auf einen in modernen pluralistischen Demokratien dennoch einigermaßen homogenen Erfahrungs- und Interessenhintergrund als auch wieder auf das große Integrationspotenzial des demokratischen Legislationsverfahrens. 9 Diese Art der Verständigung oder des intersubjektiven Verstehens ist von dem „hermeneutischen“ „Verstehen“ (z. B. der entsprechenden „hermeneutischen“ Richtung des Legalismus) abzugrenzen, nach dem sich die ontologisch vorgegebene Welt dem Subjekt im „Verstehensprozess“ eröffnen soll. 10 Wohl die allermeisten Rechtskonkretisierungen und -verwirklichungen, gerade die unstrittigen in der Peripherie, werden freilich völlig routiniert und unbewusst ablaufen. So werden sich etwa die Wenigsten bei einer „unstrittigen Straßenüberquerung“ oder beim „unstrittigen Abwickeln des Kaufvertrags an der Ladenkasse“ Gedanken darüber machen, dass sie in diesem Moment positives Recht implementieren. Die “skizzierte Analyse soll denn auch lediglich aufzeigen, was (bewusst oder unbewusst) tiefenstrukturell passiert, wenn verschiedene Personen Recht unkontrovers konkretisieren und verwirklichen.
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Das einträchtige Bild unkontroverser Rechtskonkretisierung wird jedoch jäh verzerrt, wenn ein „Rechtsproblem“ entsteht. Rechtsprobleme treten zunächst selten als solche ins Bewusstsein. Der Grund für ein Rechtsproblem liegt meistens in einer herben Enttäuschung normativer Erwartung. Wohl nur selten wird eine solche Enttäuschung bereits in ihrem Anflug als Rechtsenttäuschung oder gar Gesetzesverletzung wahrgenommen. Ist die Enttäuschung allerdings so groß, dass sie einer Person als unerträglich erscheint, und will sie für ihre Enttäuschung auf rechtlichem Wege Genugtuung einfordern, dann muss sie geltend machen, dass sie in ihren Rechten verletzt worden ist. Ob eine Enttäuschung normativer Erwartung zum (im öffentlichen Raum liegenden) Rechtsproblem erkoren wird, liegt so zunächst in der Hand der Person, die sich durch erfolgte oder bevorstehende Handlungen, Maßnahmen oder irgendwelche wirkungsträchtigen Entscheidungen in ihren Interessen beeinträchtigt fühlt. Erst wenn sie jedoch der Auffassung ist, sie sei in berechtigten Interessen verletzt, wandelt sich das Problem zum als solchen wahrgenommenen Rechtsproblem.11 Hält eine Person einer anderen Person oder einem anderen Organ dann vor, sie werde durch diese oder dieses in ihren berechtigten Interessen verletzt, bekommt das Missverhältnis, das durch die normative Enttäuschung hervorgerufen worden ist, eine neue Dimension. Denn anders als andere (z. B. nicht-öffentliche sittliche) Verletzungen können Rechtsverletzungen nämlich letztlich mit staatlicher Sanktionsgewalt abgewendet, unterbunden oder kompensiert werden. Entwickelt sich ein normatives Problem zum Rechtsproblem, so steht schließlich zur Debatte, ob die behauptete Rechtsverletzung auch begründet werden kann, und in modernen Demokratien heißt das, ob die sich in ihren Rechten verletzt fühlende Person ihr Recht anhand von Gesetzestexten des geltenden Rechts überzeugend darzulegen vermag. In vielen Fällen gravierender Enttäuschungen normativer Erwartungen wird sich dann auch eine Lesart eines Gesetzestextes oder einer Reihe von Gesetzestexten finden lassen, anhand dessen oder derer ein behauptetes Recht aus der Sicht der sich verletzt Fühlenden geltend gemacht werden kann. Sofern sich aber eine andere Person oder ein anderes Organ gegen die behauptete Rechtsverletzung wehrt, wird auch sie mithilfe womöglich der gleichen Gesetzestexte aufzuzeigen versuchen, dass genau der behauptete Rechtsanspruch nicht überzeugt. So entsteht ein Streit über die richtige Lesart von Gesetzestexten. Das Problem dabei ist nicht, dass ein Gesetzestext unverständlich wäre. Die am „Kampf ums Recht“12 Beteiligten verstehen die einschlägigen Texte nämlich sehr gut, nur eben auf jeweils ihre Weise.13 Was die eine Person behauptet, zieht die andere gerade in Zweifel. Somit zieht sich das Unverständnis oder Nicht-Verstehen, das die gegenüberstehenden Parteien in Bezug auf ihre sozialen Praxen einander entgegenbringen und an dem sich der Rechtsstreit entzündet hat, bis in die Konkretisierung des 11 12 13
Vgl. auch Mastronardi, Juristisches Denken (22003), Rn. 858. Jhering, Der Kampf ums Recht (1992 [1872]). Müller / Christensen, Juristische Methodik I (92004), S. 186, Rn. 189.
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Gesetzestextes hindurch: Das soziale Unverständnis wird im Rechtsstreit zum sprachlichen Nicht-Verstehen. Die Parteien können und wollen sich (in jeder Hinsicht) partout nicht verstehen. Ralph Christensen und Michael Sokolowski bezeichnen dieses gegenseitige Unverständnis im judikativen Rechtsstreit als „kommunikative Krise“.14 Danach stehen sich die Parteien in der Situation des Rechtsstreits mit konträren Vorstellungen gegenüber. Diese Vorstellungen sind dabei so gerahmt, dass sie ein Einlassen auf die Argumente der anderen Partei nicht mehr zulassen. Der soziale Widerstreit, der in der Konkretisierung von Gesetzesrecht als Rechtsstreit wiederkehrt, präsentiert sich als eine Kollision unverträglicher Welt- und Rechtsauffassungen ohne Hoffnung auf gegenseitige Öffnung. Für diese Situation ist sogar das systemtheoretische Bild operativ geschlossener Systeme15 zutreffend. D. h., dass die gegnerischen Argumente möglicherweise zwar aufgenommen, sogleich aber auch mit dem eigenen Rechtsverständnis verarbeitet werden. Christensen und Sokolowski werfen sogar die Frage auf, ob diese Situation gar dem lyotardschen Widerstreit gleicht, demzufolge divergente Rahmungen als vollkommen unübersetzbare Inselmoleküle anzusehen sind und somit jede Hoffnung auf eine Auflösung des Rechtsstreits zwischen den Parteien abhanden gekommen ist.16 Wenn diese Analyse des Streitniveaus von Rechtsproblemen jedenfalls nur ansatzweise zutrifft, handelt es sich bei der Judikation um einen Entscheidungsfindungsprozess von äußerster Kontroversität. Im Vergleich zu den Kontroversen, die in der Legislation angetroffen werden können, muten die Probleme in der Judikation sogar noch prekärer an. Im legislatorischen Abschnitt des demokratischen Verfahrens wird die Heftigkeit sozialer Differenzen durch die Abstraktheit der Problematik abgefedert. Der legislative Streit bleibt gewissermaßen ein Kampf auf Distanz, aus dem sich zahlreiche Rückzugsmöglichkeiten anbieten. Nicht zuletzt kann der aktuellen Streitgefahr verbindlicher legislativer Entscheidungen, die für falsch gehalten werden, sogar aus dem Weg gegangen werden, indem sie dennoch uneinsichtig befolgt werden. Im Rechtsstreit ist das nicht mehr, jedenfalls nicht in der gleichen Weise möglich. Hier zwingt sich der Streit konkret und aktuell direkt auf, er bohrt sich in die vorgestellte Tages- und Lebensplanung unmittelbar hinein. Eine Auflösung gibt es nur bei Sieg oder auf Kosten der eigentlich angestrebten Lebensführung. So gesehen, taucht die Fratze der Desintegration, um derentwillen der demokratische Kreislauf überhaupt erst in Gang gesetzt und dabei um eine legislative Lösung gerungen worden ist, als konkretes Rechtsproblem mit noch höhnischerem Lachen wieder auf. Die Schleife durch das politische Zentrum mag einer Eingrenzung des Problems möglicherweise Hand gereicht haben, an Heftigkeit scheint sich der post-legislative gegenüber dem prä-legislativen Widerstreit jedoch nichts zu schenken. So spiegelt die Krise der Kommunikation des Rechts14 15 16
Christensen / Sokolowski, Die Krise der Kommunikation (2005), S. 106 – 109. Vgl. I. 3. a). Christensen / Sokolowski, Die Krise der Kommunikation (2005), S. 109 – 111, m. w. H.
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streits die Krise sozialer Integration wider, nur dass sich das Nicht-Verstehen der Gegenparteien nun auf das Verständnis konkreterer Gesetzestexte ausgedehnt hat. Diese an sich zutreffende Analyse der juristischen Streitsituation ist allerdings etwas zu differenzieren. Christensen und Sokolowski zeichnen ihr Bild des Rechtsstreits nämlich allein dem qualifiziert strittigen Gerichtsprozess nach. Für diesen Bereich der Judikation ist ihrer Analyse vollumfänglich zuzustimmen. Judikation im hier verstandenen Sinn entspricht aber nicht nur dem qualifiziert strittigen Rechtsprechungsprozess, meist unter der Regie judikativer Gewalt, sondern umfasst alle Arten der Konkretisierung von Gesetzesrecht im konkreten Fall.17 Somit kann etwa auf den zuvor analysierten Bereich weitgehend unstrittiger Judikation verwiesen werden. Zwar verlaufen auch im nicht-judikativen Bereich der Judikation wohl kaum sämtliche Gesetzeskonkretisierungen unproblematisch oder gar unkontrovers. Wenn nur schon bei Einzelpersonen ganz monologisch die Frage auftaucht, wie denn im einen oder anderen Fall zu urteilen sei, und sich dabei mehrere alternative Lesarten eines Gesetzestextes gegenüberstellen, kann diese Situation durchaus ebenso als Rechtsproblem bezeichnet werden. Außerdem können auch im Bereich der Judikation, der sich von der qualifiziert strittigen Jurisdiktion unterscheiden lässt, also in der Exekution, Rechtsprobleme als Kontroversen zwischen verschiedenen Personen oder Organen in Erscheinung treten. Beide Sorten nicht-qualifiziert strittiger Rechtsprobleme haben gegenüber den Prozessen der Jurisdiktion oder Rechtsprechung aber gemeinsam, dass der Widerstreit von den Beteiligten selbst (und sei auch nur eine einzige Person beteiligt) aufgelöst wird. Freilich lässt sich die Krise der Kommunikation auch in solchen Rechtsproblemen zumindest ansatzweise wiedererkennen. Auch dort, wo die Rechtsprobleme durch die Beteiligten selbst aufgelöst werden, bestehen nämlich zuvor doch eben Rechtsprobleme. Und genau diese Problemsituation ist prinzipiell von der gleichen Struktur wie die eines qualifizierten Rechtsstreits. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass divergierende, unvereinbare Konkretisierungs- oder Urteilshypothesen vorliegen, von denen eine Variante ausgewählt werden muss, sofern der Fall entschieden werden soll. Diese Situation besitzt in kommunikativer Hinsicht ebenfalls Krisencharakter, weil die divergenten Lesarten einander unauflöslich blockieren. Die Tatsache, dass im Fall nicht-qualifiziert strittiger Judikation schließlich ein nicht (mehr) bestrittenes Urteil gefunden wird, zeugt lediglich davon, dass die Kommunikationskrise überwunden worden ist (was als Unterscheidungsmerkmal allein nicht hinreicht, weil das im Rechtsprechungsprozess schließlich auch der Fall ist) und das produzierte Urteil zumindest so annehmbar ist, dass die verbleibende „Konkretisierungsdifferenz“ hingenommen wird, das Urteil also insgesamt als annehmbar erscheint. Die Analyse von Rechtsproblemen im Rechtsprechungsprozess treibt das Krisenphänomen wohl auf die Spitze. Dennoch kann auch für alle anderen Arten irgendwie problematischer Judikation davon gelernt werden, dass es eine kommunikative Krise zu überwinden gilt. Es muss die unwahrscheinliche Leistung 17
Vgl. VI. 2.
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erbracht werden, prinzipiell unvereinbare Verständnisse desselben Textes einem Verständnis zuzuführen.
b) Judikation als semantischer Kampf Rechtsprobleme erweisen sich also als kommunikative Krisen, in denen unvereinbare Lesarten des Gesetzestextes aufeinanderprallen. Im (judikativen) Rechtsstreit haben die gegnerischen Parteien nicht einmal mehr Aussicht darauf, diese Krise aus eigenen Stücken zu überwinden. Die Verstehenskrise reicht dort so weit, dass sie als soziale und sprachliche ein Einvernehmen vereitelt. Im gerichtlichen Prozess erscheint diese Krise als so heftig, dass es geradezu verwundert, dass sie auf friedliche Weise bewältigt werden kann. Aber sie wird es. Selbst im Rechtsprechungsprozess, im vielleicht strittigsten Abschnitt des gesamten demokratischen Kreislaufs werden die Probleme offenbar so gelöst, dass sie ihre integrationsgefährdende Kraft verlieren. Die soziologische These, die sogleich entfaltet werden soll, besagt nun, dass der Schlüssel für dieses unwahrscheinliche Phänomen im Wesentlichen in der Art und Weise liegt, wie die Judikation in modernen Demokratien vonstatten geht. Wie schon die Problemstruktur (die kommunikative Krise) findet sich dabei auch die Lösungsstruktur in allen Ausprägungen der Judikation wieder, d. h. sowohl in der strittigen als auch in der nicht-strittigen Behandlung von Rechtsproblemen. Wieder aber ist es allerdings der paradigmatische Rechtsprechungsprozess, an dem die Analyse am besten exemplifiziert werden kann. Die Untersuchung der soziologischen Tiefenstruktur juristischen Urteilens wird deshalb mit einem konzentrierten Blick auf den Rechtsstreit fortgeführt Dieser Blick lässt zunächst erkennen, dass die um die „richtige“ Lesart des Gesetzestextes rivalisierenden Parteien ihren Streit nicht ins Gericht tragen, um ihn dann von diesem Organ einfach entscheiden zu lassen. Vielmehr nehmen sie ihr rechtliches Schicksal insofern weiterhin selbst in die Hand, als sie im Prozess ihre Auffassungen über die überzeugende Rechtskonkretisierung durchzusetzen versuchen. Dazu muss es ihnen gelingen, die präsumtiv einschlägigen Gesetzestexte (die Sprachdaten) so mit ihrem Fall (den Realdaten) zu verknüpfen, dass ihre Konkretisierungshypothese vorzugswürdig und die der Gegenpartei als weniger überzeugend erscheint. Dazu bedienen sie sich aller möglicherweise einschlägigen Texte des jeweils geltenden Rechts und insbesondere der traditionellen Kanones der juristischen Methodik. Der Rechtsstreit präsentiert sich dadurch als ein durch bestimmte Verfahrensstrukturen geordnetes Für und Wider, Geben und Nehmen juristischer Gründe, in dem die eigenen Gründe plausibilisiert und die gegnerischen widerlegt oder integriert werden, mit dem Ziel der Einwandfreiheit der eigenen Argumentation.18 Die juristische Argumentation wird zu einem Wettbewerb 18 Zur argumentativen Deutung des Rechtsstreits insb. Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 256 – 267; Christensen / Sokolowski, Die Krise der Kommunikation (2005), S. 142 – 153.
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um die überzeugendste Bedeutungsfüllung eines zu viel sagenden Textes, zum „semantischen Kampf“19. Entschieden wird der Kampf im judikativen Verfahren zwar nicht durch die Parteien selbst. Damit dies möglich wäre, müssten sie sich besser verstehen. Die letztlich autoritative Bedeutungsfixierung durch die judikative Instanz schwebt allerdings nicht in der Luft, sondern knüpft sich auch an eben die von den Streitparteien argumentativ ausgebreiteten Gründe an. Die Bewältigung der Verständigungskrise erfolgt somit wesentlich im semantischen Kampf zwischen den um die spezifische Bedeutung des Gesetzestextes ringenden Parteien. Bewirken wollen sie damit den autorisierten, verbindlichen Zuspruch einer Rechtsposition. Sofern die Konkretisierungshypothese einer Partei nämlich als überzeugend anerkannt und konkret in Geltung gesetzt wird, wird ihr das erkämpfte Recht bzw. die Abwehr des Rechtsanspruchs der Gegenpartei verbrieft und mit staatlicher Sanktionsmacht unterlegt. Nicht selten fällt die judikative Entscheidung dabei weder vollumfänglich zugunsten der einen noch der anderen Partei aus. Als ebenfalls verfahrensbeteiligtes Organ kann das Gericht nämlich zusätzliche Argumente in den Prozess einbringen. die die Argumentationen der Streitparteien überbieten. Entschieden wird der Streit dann so oder so mit der Konsequenz, dass sich die Beteiligten in aller Regel dem Urteil fügen. Von der Möglichkeit, das Urteil an eine höhere Instanz weiterzuziehen, abgesehen, tun sie auch gut daran. Denn die Macht des judikativen Urteils ist eine staatlich-zwangsbewehrte. Fügen sich unterlegene Parteien nicht, so werden sie zur Befolgung des entschiedenen Rechts gezwungen bzw. werden die unberechtigten Übergriffe mit Staatsgewalt abgewehrt. Am Ende zeigt sich in der scheinbar friedlichen Auflösung des juristischen Widerstreits also doch noch die Fratze der Gewalt. Wird das Rechtsurteil nicht akzeptiert, so wird es gewaltsam durchgesetzt. Wie kann es aber sein, dass ein solcher Prozess gesellschaftliche Desintegrationen dennoch nachhaltig in den Griff bekommt? Gewalt mit Gewalt zu beantworten, reicht doch gerade nicht hin, um soziale Probleme zu lösen. Worin liegt das spezifisch Rechtliche in dieser Form der Judikation? Eine Antwort bringt eine Analyse des Aggregatzustands der den Judikationsprozess begleitenden Gewalt. In einer Situation sozialer und kommunikativer Krise vom Zuschnitt des judikativen Prozesses befinden sich zwei Parteien in einem Streit, in dem sie die Anmaßungen der anderen Partei als gewalttätiges Einwirken auf die eigene Person empfinden. Diese Gewalt muss nicht in dem Maße von physischer Natur sein, wie sie z. B. in strafrechtlichen Tatbeständen beschrieben ist. 19 Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), insb. S. 165 – 167, m. w. H.; Müller et al., Rechtstext und Textarbeit (1997), insb. S. 59 – 68; vgl. auch die ebd., S. 61, Fn. 63, zitierte Arbeit Michael Sokolowskis. Der Begriff des semantischen Kampfes findet sich bereits bei Reinhart Koselleck und wurde in der Sprachwissenschaft etwa von Rudi Keller aufgenommen. Dazu die Nachweise in Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 165, Fn. 141. In letzter Zeit macht sich v. a. Ekkehard Felder um den Begriff verdient: z. B. Felder (Hrsg.), Semantische Kämpfe (2006).
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Brutal ist sie aber insofern, als sie die Lebensführung einer Person gegen ihren Willen in concreto beeinträchtigt. Die Gewalt, die in den Manifestationen der Gegenpartei steckt, behindert die andere Partei tatsächlich und erheblich. Den Streit jedoch nicht mit roher, physischer Gewalt, sondern als Rechtsstreit auszutragen, bedeutet nun einen Zwang zur Transformation der brutalen Gewalt in „sprachliche“: „Die ursprüngliche Gewalt des Konflikts wird damit in die Tonart des Rechts transponiert. Gewalt wechselt dadurch in das Medium der Sprache hinüber. Sie wird in Sprache umgebrochen und erfährt so ihre Faltung.“20 Die Gefahr, dass der gewaltsamen Vereitelung konkreter Lebenspläne mit roher Gegengewalt entgegnet wird, wird dadurch gebannt, dass sie in einen sprachlichen Argumentationsprozess hineingezwungen wird. Weder die Transformation des Aggregatzustands noch die Argumentation als solche können dabei als gewaltlos gelten. Denn ebenso wie die Alternative zur rohen Bewältigung des Streits ihrerseits mit Gewalt verhindert wird, bereits die Transformation zur Argumentation also mit Sanktionsdrohung erzwungen wird, tut auch die Argumentation den Beteiligten Gewalt an, indem sie ihre von Erfahrung und Interesse fixierten Rahmungen zur Öffnung und in die keineswegs ihrerseits gewaltlose Sprache zwingt. Und schließlich werden die Ergebnisse der argumentativen Prozesse wiederum mit Staatsgewalt gestützt. Die Faltung der rohen Gewalt in sprachliche, selbst in ihrer gewaltsamen Institutionalisierung, kann aber – in den geeigneten demokratischen Verfahrensstrukturen – so viel Integrationskraft entfalten, dass mit der verbleibenden Gewalt gelebt werden kann. Die Gewalt-Analyse des Rechtsstreits wiederholt gewissermaßen die MachtAnalyse des demokratischen Kreislaufmodells bzw. spiegelt sie im judikativen Verfahren des demokratischen Gesamtprozesses wider. Bisher ist der demokratische politische Prozess im Ganzen so dargestellt worden, dass die soziale Macht peripherer Gewalten, damit die Integration moderner Gesellschaften gelingt, in kommunikative Macht verwandelt werden muss, um dann in der Form administrativer Macht, sozusagen als kommunikativ gezähmte soziale Macht, sozialintegrierend auf den Herd desintegrierender Probleme zurückwirken zu können. Die demokratischen Prozesse sind dabei als entscheidend für die kommunikative Transformation sozialer Macht beurteilt worden. Ähnliches wie in dieser Makro- oder Meso-Analyse spielt sich nun in der Mikro-Analyse in Bezug auf den Verfahrensabschnitt judikativer Judikation ab. Die vor der gerichtlichen Austragung des Rechtsstreits präsente oder latente rohe Gewalt kann als Wiederaufflammen nicht getilgter bzw. kommunikativ gezähmter sozialer Macht betrachtet werden. Die Transformation der rohen in sprachliche Gewalt besitzt dann nicht nur dieselbe Struktur, sondern auch dieselbe Qualität wie die Transformation sozialer in kommunikative Macht. Und die sanktionsbewehrte Vollstreckung verfahrensgemäß ergangener judikativer Urteile findet im Großen ihre Entsprechung in der Rückspülung kommunikativer Macht im administrativen Gewand. Der demokratische Prozess als ganzer und der 20 Müller et al., Rechtstext und Textarbeit (1997), S. 56. Ebd. auch der weitere Hinweis auf den Begriff der Falte bei Gilles Deleuze. Zum ganzen Ansatz Müller, Recht – Sprache – Gewalt (22008).
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demokratisch-institutionalisierte Rechtsstreit im Kleinen dürfen aber nicht einfach als strukturell-qualitative Parallelprozesse wahrgenommen werden. Vielmehr konkretisiert der judikative Rechtsstreit wiederum die strukturelle Qualität des demokratischen Prozesses. Diese strukturelle Qualität verweist auf eine demokratische (zwar nicht Neutralisierung, aber) Zügelung ungezügelter sozialer Gewalt, die immerhin so wirkungsvoll ist, dass sie moderne komplexe Gesellschaften zusammenhält. Nun ist die Analyse der Judikation als semantischer Kampf mit all ihren soziologischen Implikationen vorerst lediglich für die Rechtsprechung vorgenommen worden. Wenn die Annahme, dass dieser Teilbereich des rechtlichen Urteilens in Demokratien auch in dieser Hinsicht prinzipiell dieselbe Struktur paradigmatisch abbildet, nicht einfach als Annahme bestehen bleiben soll, muss die Übertragbarkeit des Analyseschemas zumindest plausibilisiert werden können. Eine nähere Betrachtung der Judikation auch als Exekution, bzw. als Rechtsprobleme, die nicht in den Bereich der Jurisdiktion fallen, bestätigt das vorgezeichnete Bild allerdings. Der Unterschied zwischen der rechtsprechenden und der nicht-rechtsprechenden Judikation wurde daran festgemacht, dass die kommunikative Krise im letzten Fall von den Parteien noch, im ersten aber nicht mehr selbst bewältigt werden kann. Wie die Krise allerdings überwunden wird, unterscheidet sich in beiden Fällen nur graduell hinsichtlich des Niveaus fortgeschrittener Strittigkeit. Auch wenn Rechtsprobleme vorliegen, die schließlich im Einverständnis aufgelöst werden, kann der Weg dorthin als semantischer Kampf bezeichnet werden. Das Strittigkeitsniveau des Kampfes ist im Gegensatz zum Rechtsprechungsprozess in der Tat ungleich geringer, es reicht insbesondere nicht so weit oder so tief, dass das Nicht-Verstehen ohne Aussicht auf soziale Verständigung besteht. In sprachlicher Hinsicht jedoch prallen auch dort Bedeutungshypothesen so aufeinander, dass deren Ausmarchung als argumentativer Schlagabtausch dargestellt werden kann, in dem für die eine und die andere Bedeutung Gründe gereicht und entgegengenommen werden müssen. c) Kreislauf der Judikation In der Analyse der Judikation als semantischer Kampf hat sich ergeben, dass der Rechtsstreit als Gewalt- oder Machtkreislauf „im Kleinen“ dargestellt werden kann: Die (soziale) Macht des Widerstreits wird durch die Austragung des Streits als Rechtsstreit in sprachliche (kommunikative) Macht transformiert und strömt als staatlich sanktionierte (justizielle) Macht wieder zu den Parteien zurück. Dieses Nebenergebnis der Strukturanalyse der Judikation betrifft allerdings anders als die Charakterisierung der Judikation als semantischer Kampf vorrangig nur den Bereich der Judikation als Jurisdiktion in ihrer judikativen Institutionalisierung. Wenn das soziologische Tiefenbild der Judikation in Demokratien nach der Analyse der Problemstruktur (kommunikative Krise) und Lösungsstruktur (semantischer Kampf) nun noch durch eine Analyse der Prozessstruktur im Ganzen vervollständigt werden soll, muss sich der Fokus aber über die Jurisdiktion und die Judi-
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VII. Urteilsphilosophie: Deliberative Judikation
kative hinaus auf den gesamten Bereich der Judikation erstrecken. Ein solches Ablaufmodell des Prozesses der Gesetzeskonkretisierung in Demokratien oder der Macht der Judikation ist als Verfahrensabschnitt des umfassenden demokratischen Prozesses zu verstehen, der hier bisher, zumindest auf philosophischem Tiefenniveau, noch nicht eigens behandelt worden ist. Das Folgende soll die soziologische Analyse der Judikation in modernen Demokratien nun durch einen Tiefenblick in den Gesamtprozess der Judikation abrunden. Wie schon der politische Makro- oder Meso-Prozess sowie der Minimikro-Prozess des judikativen Rechtsstreits kann auch dieser Judikationsprozess als Kreislaufmodell erklärt werden. In einer schärferen Charakterisierung zeichnet er ebenso wie der demokratische Prozess als ganzer das Bild eines abgestuften Filterkreislaufs. Den „Judikationsprozess“ isoliert, d. h. abgekoppelt von den übrigen Prozessen des demokratischen Verfahrens zu betrachten, bedeutet freilich, das Gesamtbild oder -modell zu vereinfachen. Unter dem Aspekt eines vertieften Einblicks in den speziell interessierenden Bereich ist dieses Vorgehen zwar von Vorteil, es verleitet aber schnell dazu, die Teilsicht für das Ganze zu nehmen. Davor sei gewarnt. Wenn der Prozess der Judikation nachfolgend also als kreisförmig beschrieben wird, heißt das nicht, dass er ein im systemtheoretischen Sinne geschlossenes Ganzes bildet, das sich externe Zuströme kurzerhand einverleibt. Seine Kreisförmigkeit soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass er ein Abschnitt des demokratischen Verfahrens bleibt, der mit anderen Verfahrensabschnitten zusammenspielt. Gezeigt werden kann dies schon dadurch, dass der Judikationsprozess überhaupt erst in Gang kommen kann, wenn der legislatorische Prozess (der ebenfalls einen Verfahrensabschnitt des Ganzen darstellt) ihm Gesetzestexte zuspielt. In modernen Demokratien beginnt die Judikation erst bei den Texten des positiven Gesetzesrechts. Diese legislativen Texte sind keine autoproduzierten Ergebnisse des Judikationsprozesses, sondern (judikations-)kreislaufexterne Verfahrenskomponenten. Den Anfangspunkt des Judikationsprozesses bilden zunächst die zentralen und peripheren Gesetzeskonkretisierungen, die als „administrativer“ oder „Exekutionsprozess“ relativ unstrittig ablaufen. Sofern diese Rechtskonkretisierungen ihren unstrittigen Charakter behalten, bleibt der Ablauf der Judikation in dieser Weise eindimensional. Interessant ist aber, was weiter geschieht, wenn der Prozess durch wieder aufflammende Desintegrationen irritiert wird.21 Wie bereits in den urteilstheoretischen Oberflächenanalysen erläutert, wechselt das Verfahren der Gesetzeskonkretisierung dann zum qualifiziert strittigen „Jurisdiktions-“ oder „Rechtsprechungsverfahren“, das sich in organisatorischer Hinsicht in aller Regel als Gerichts- oder judikatives Verfahren darstellt.22 An diesem Punkt setzt auch die bereits durchgeführte Minimikro-Analyse des judikativen Prozesses an. Doch auch 21 Diese Konzentration auf die Problembewältigungsfunktionen unterscheidet die Analyse auch nicht von der des gesamten demokratischen Prozesses. Auch dort wird v. a. untersucht, wie Desintegrationen erfolgreich verarbeitet werden. 22 Vgl. insb. VI. 2. a) und VI. 2. b).
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dieser Kreislaufprozess des judikativen Verfahrens ist nur ein Verfahrensabschnitt, der an weitere Verfahrensabschnitte anschließt. Gerichtliche Urteile können nämlich i. d. R. an eine weitere Instanz weitergezogen werden. Der beschriebene judikative Minimikro-Kreislauf beginnt dann – auf der Grundlage des vorangegangenen – wieder von Neuem usw. Dass eine Streitsache an eine höhere Instanz weitergezogen wird, ist dabei so zu deuten, dass die kommunikative Kraft des Urteils nicht groß genug ist, die „justizielle Macht“ mit der es zurückgespült wird, stützen zu können. Eine der Streitparteien hält es also weiterhin für aussichtsreich, dass ihre Konkretisierungshypothese an anderer Stelle argumentativ überzeugt. Das Instanzenspiel kann so weit durchgeführt werden, bis die Streitsache von einer höchsten Instanz entschieden wird. Die justizielle Macht, die von dieser ausgeht, kann dann im konkreten Fall nicht wieder wirksam infrage gestellt werden. Zumindest für die konkret am Verfahren Beteiligten endet der Judikationsprozess an diesem Punkt. Für ihren Fall bleiben ihnen keine weiteren Verfahren des demokratischen Prozesses und daher nichts anderes mehr übrig, als sich zu fügen. Bis zu diesem Punkt ist der Kreislaufcharakter des gesamten Judikationsprozesses noch nicht ersichtlich. Es zeigt sich zwar, dass jeder Zwischenabschnitt des judikativen Instanzenzugs einen Mini-Kreislauf justizieller Macht darstellt. In Gänze betrachtet, verläuft der Weg von der Entstehung des Rechtsproblems bis zur höchsten Instanz jedoch eindirektional, meistens immer tiefer ins politische Zentrum hinein. Wie der politische Kreislauf im Ganzen ist der Judikationskreislauf allerdings ein abgestufter. Mit Nachdruck gilt es zu betonen, dass der Prozess für die prozessbeteiligten Streitparteien mit dem Urteil einer höchsten Instanz beendet ist. Diesem Umstand ist insbesondere in einer legitimatorischen Konzeption Rechnung zu tragen. In soziologischer Hinsicht läuft der „Kampf ums Recht“ allerdings weiter. Wie die Normierung des politischen Zusammenlebens überhaupt entwickelt sich auch der Konkretisierungsprozess zumindest bestimmter Falltypen im demokratischen Rechtsprozess ständig weiter. Das Ineinandergreifen der Verfahrensabschnitte der Legislation und der Judikation erlaubt es nämlich, dass ein Falltyp, der Fälle wie solche erfasst, die von einer höchsten Instanz mit letzter Verbindlichkeit beurteilt worden sind, in abstracto wieder „neu“ normiert werden kann. Durch diese Abstufung können i. d. R. zwar nur neue, aber typengleiche und ähnliche Fälle erneut den Judikationskreislauf und schließlich wieder den judikativen Instanzenzug antreten. Auch die justizielle Macht höchstinstanzlicher (aber auch anderer in Verbindlichkeit erwachsener) Urteile kann also über Abstufungen wieder kommunikativ transformiert werden. Der Judikationskreislauf kann zudem nicht nur als abgestuft, sondern auch als filternd beschrieben werden. Die Filterfunktion des Rechtsprozesses liegt darin, dass seine verschiedenen Folgestadien nur erreicht werden können, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind, wobei die Erfüllbarkeit der Voraussetzungen mit fortschreitendem Prozessverlauf tendenziell erschwert ist. Die als „Zulässigkeitsbedingungen“ bezeichneten Prozessvoraussetzungen verwehren Rechtsansprüchen und Rechtsklagen im politischen Zentrum die Behandlung, wenn die bean-
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spruchende Partei noch vor der materiellen Behandlung des Rechtsproblems entweder in persönlicher oder sachlicher Hinsicht nicht überzeugend darlegen kann, dass ihr Fall im vorgesehenen Verfahren überhaupt „rechtserheblich“ ist. Ob es sich um Streitwertgrenzen, Betroffenheitsvoraussetzungen, Fristen oder sonstige formelle Hürden für die Geltendmachung von Rechtsansprüchen handelt, sie alle machen einen erfolgreichen „Kampf ums Recht“ von zusätzlichen Anforderungen abhängig. Soziologisch erfüllt die Filterung rechtserheblicher Streitigkeiten wohl zweierlei Funktionen. Zum einen trägt sie zur Eigenstabilität des organisierten Rechtsprozesses bei. Könnte jeder Streit ohne Weiteres im institutionell organisierten Verfahren der Judikation ausgetragen werden, würde dies wohl zum Kollaps dieses Verfahrens führen. Zum andern bewirkt dieser prozessstrukturelle Selbstschutz eine Disziplinierung nach außen. Sie beruht auf der simplen Konsequenz, dass Probleme und Streitigkeiten, die nicht die Qualifikation der Rechtserheblichkeit erreichen, auf andere Weise und d. h. v. a. selbständig in der Peripherie bewältigt werden müssen. Der relative Zwang auf die formalen Strukturen des zentralen Judikationsverfahrens erhöht die Einstiegs- und Fortführungshürden und veranlasst die Streitenden dadurch, die empfundene Rechtsverletzung zunächst oder nach Abweisung unzulässiger Rechtsbehauptungen nochmals selbständig in Arbeit zu nehmen. Die Eintrittshürden, die im Bereich der zentral organisierten Judikation bestehen, heben diese somit in einen subsidiären Stand.
3. Deliberative Judikation Aus soziologischer Sicht lässt sich der Judikationsprozess als ein abgestufter, filternder Machtkreislauf qualifizieren. In ihm läuft die Judikation als eine Austragung semantischer Kämpfe ab, durch die als Rechtsprobleme auftretende kommunikative Krisen überwunden werden sollen. Die beschriebenen (Tiefen-)Strukturmerkmale der Judikation in modernen Demokratien gilt es nun, in eine normativ gerechtfertigte Konzeption rechtlichen Urteilens einzuweben. Das letzte legitimatorische Teilstück dieser Untersuchung soll eine ethisch-philosophische Legitimation der Judikation liefern, die sowohl dem philosophischen Tiefenniveau der soeben durchgeführten soziologischen Analysen gerecht wird, auf der Grundlage des Konzepts der verantworteten Rechtskonstruktion zugleich aber auch eine interdisziplinäre Übersetzung der Konzeptionen der demokratischen Judikation (aus der Urteilstheorie) und der deliberativen Demokratie (aus der politischen Philosophie) leistet. Die disziplinären wie interdisziplinären Kohärenzanforderungen an die zuletzt anstehende urteilsphilosophische Konzeption sind also unwahrscheinlich hoch. Damit das Projekt auch im letzten Schritt dieser Untersuchung gelingt, sollen die Verbindungsstellen wieder sorgfältig vorbereitet werden, zunächst, indem die feldimmanente Verknüpfung mit der soeben durchgeführten soziologischen Analyse angegangen wird, und ferner, indem die Felder durchziehenden Fäden zusammengezogen werden. Wie in allen anderen bisher erarbeiteten normativen Konzeptionen wird schließlich auch die hier als deliberative Judikation vorgestellte urteils-
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philosophische Konzeption mit einem disziplinär wie interdisziplinär überzeugenden Set normativer Prinzipien abgerundet werden.
a) Funktionieren und Legitimieren in der Urteilsphilosophie Die soeben herausgearbeitete (kleine) Soziologie der Judikation in modernen Demokratien stellt eine Analyse prozessualer Funktionsbedingungen dar. Die Einstellung zur Problematik ist dabei eine vornehmlich beobachtende und in Bezug auf den legitimatorischen Geltungsanspruch, jedenfalls in der soziologischen Analyse, möglichst neutral. Dass die Abläufe demokratischer Politik im Ganzen sowie der Judikation im Kleinen dazu geeignet sind, sozialer Desintegration wirkungsvoll entgegenzuwirken, sie sogar zu neutralisieren, sagt unvermittelt noch nichts über die Qualität ihrer Legitimität aus. Auch wenn die soziologischen Analysen hier freilich zu dem Zweck vorgenommen worden sind, die anstehende legitimatorische Konzeption hinsichtlich ihres Wirklichkeitsgehalts zu plausibilisieren, kann aus diesem Wirklichkeitsmaterial bzw. aus diesen Realdaten allein noch keine legitimatorische Konzeption gewonnen werden. Normativität kann aus Faktizität nicht einfach herausgepresst werden. Rationale Rekonstruktion – der hier maßgeblich verfolgte methodologische Ansatz – bedeutet zwar auch, dass Normativität ihrerseits die Welt nicht aus dem normativen Nichts heraus erleuchtet. Auch normativ Gültiges kann letztlich nur durch überzeugende Argumentationen aus realen Praxen und Prozessen herausgearbeitet werden. Das darf aber nicht unkritisch geschehen. Die Argumentation, etwas sei einfach deshalb legitim, weil es eben so ist, wie es ist, ist eben keine überzeugende. Die guten Gründe für die Rechtfertigung bestimmter struktureller Muster müssen schon weiter reichen und folgen dabei einem anderen Geltungsanspruch als dem der Soziologie. Das gilt es auch aus philosophischer Perspektive für das juristische Urteilen zu beachten. Nichtsdestotrotz leisten soziologische Analysen funktionierender Prozesse einen wichtigen Beitrag für die normative Strukturierung eines legitimatorischen Problems. In der philosophisch-soziologischen Analyse des rechtlichen Urteilens hat sich das Problem nun als besonders gravierend ausgezeichnet. Die These der kommunikativen Krise stellt eine legitimatorische Konzeption vor eine nicht minder große Herausforderung als eine soziologische. Während soziologische Konzeptionalisierungen die Überwindung von Krisensituationen jedoch anhand des tatsächlich Ablaufenden zunächst einmal darstellen können und dadurch einen großen Teil der Arbeit bereits erledigen, tun sich legitimatorische Konzeptionen, damit oft schwerer, weil die Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit dann häufig besonders groß ist. Die kritische Ausgangslage des Judikationsproblems, dass sich zwei Parteien als Gegner in einem zwar semantischen, dennoch aber in einem Kampf ums Recht gegenüberstehen, mutet gerade einem verständigungsorientierten Legitimationsansatz wie dem der Diskurstheorie einiges zu. Gegenüber den thematisch abstrakteren soziologischen Analysen in der politischen Philosophie erscheint diese Konfliktsituation im Konkreten nun sogar noch als verschärfter.
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VII. Urteilsphilosophie: Deliberative Judikation
Denn haben sich die Konflikte auf der Ebene des Politischen noch als ziemlich abstrakt darstellen lassen, so ist der Widerstreit der Judikation, zumindest im judikativen Verfahren, für die Beteiligten von unverblümter Heftigkeit: Er ist aktuell, konkret und unmittelbar betreffend. Die anstehende Ausarbeitung der philosophisch-legitimatorischen Konzeption rechtlichen Urteilens muss eine überzeugende Antwort darauf finden, weshalb die (soziale) Gewalt des Widerstreits mit demokratischen Mitteln legitim in den Griff genommen wird. Die soziologische Antwort, dass die soziale Gewalt durch ihre transformatorische Brechung in ein kommunikatives Substrat die Gefahr gesellschaftlicher Desintegration bewältigen kann, genügt dafür nicht. Ebenso wenig wie es für die Legitimation des Politischen auf der Ebene der politischen Konstitution genügt zu sagen, dass soziale wie administrative Macht einen kommunikativen Zwischenbereich durchlaufen, reicht es für die Legitimation rechtlicher Urteile hin zu erklären, dass rohe Gewalt in sprachliche Gewalt gefaltet und daraufhin als justizielle Gewalt zurückgespült wird. Integration ist nicht dasselbe wie Legitimation, Funktionieren nicht dasselbe wie Legitimieren. In soziologischer Sicht liefert das Konzept der Integration zwar einen zielführenden Erklärungsansatz für das Funktionieren von Demokratie. Indem es soziale Prozessbewegungen nicht einfach formal gegeneinander aufrechnet, sondern – durchaus und zu Recht nicht allein vom Beobachtungsstandpunkt aus – eine tiefergehende rationale Erklärung sozialer Phänomene liefern will, geht es zwar weiter als weniger aufschlussreiche soziologische Ansätze der Stabilität oder der „Befriedung“. Dennoch muss eine normative Konzeption mehr legitimatorisches Argumentationsmaterial produzieren, als nur so viel, wie für den Erklärungswert eines soziologischen Prozessmodells aufgebracht werden muss. Was der anstehenden ethisch-philosophischen Konzeption der Judikation schließlich gelingen muss, ist die legitimatorisch Übersetzung soziologischer Funktionsbedingungen. Vor dem Hintergrund des hier mit Nachdruck vertretenen Standpunkts, dass Faktizität nicht einfach in Normativität uminterpretiert werden darf, scheint diese Aufgabe wiederum ziemlich riskant. Weil (jedenfalls behauptet wird, dass) das Kunststück aber auch in den anderen Teilkonzeptionen dieser Untersuchung bereits erfolgreich praktiziert worden ist, darf aber auch die ethisch-philosophische Teilkonzeption legitimer Judikation durchaus zuversichtlich sein. Die speziellen Schwierigkeiten liegen vielmehr im (disziplinären) Detail. Konkret liegt sie v. a. im Umstand, dass festgestellt werden musste, dass die Gewalt, die im Widerstreit der Judikation vorhanden ist, auch und indirekt sogar die nackte, einen offenbar hinzunehmenden festen Bestandteil des Prozesses bildet. Wie auch immer die legitimatorische Konzeption schließlich aussehen wird, wird sie nicht darum herumkommen, insbesondere dazu Stellung zu nehmen, wie die Präsenz von Gewalt im Judikationsprozess gerechtfertigt werden kann. Die in der politischen Makro- bzw. Mesoperspektive gemachte Feststellung, die soziale Integration werde u. a. durch an einen kommunikativen Prozess angeschlossene administrative Macht erzielt, mag in ihrer Abstraktheit das Brisante daran noch nicht deutlich ins Bild
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gesetzt haben. In der Mikroperspektive auf das rechtliche Urteilen gewinnt diese administrative Macht jedoch schärfere Konturen: eben die der Fratze aktueller, zumindest bereitstehender (Staats-)Gewalt. Wenn also auch an dieser Stelle nicht einfach einer platten „normativen Kraft des Faktischen“ beigepflichtet werden soll, muss gezeigt werden können, warum es Rechtsurteile in modernen Demokratien nötigenfalls verdienen, mit Staatsgewalt durchgesetzt zu werden. Eine legitimatorische Konzeption, die für sich in Anspruch nimmt, den (sozialen) Wirklichkeitsbereich, den sie normativ strukturieren will, integrativ zu verarbeiten, muss dem Machtproblem ins Auge sehen. D. h., dass die Macht- und Gewalt-Elemente nicht einfach unrealistisch aus der Konzeption hinausgedrängt werden dürfen. Es darf nicht verleugnet werden, dass wie schon der politische Prozess als ganzer der Judikationsprozess sowohl von außen her als auch in seinem Innern gewaltsam verläuft. Von außen her liegt diese Gewalt im staatlichen Zwang auf das institutionell organisierte Judikationsverfahren (etwa durch das Strafrecht im Eingang und das Vollstreckungsrecht am Ausgang des Prozesses), in seinem Innern liegt sie einerseits in der normativen Strukturierung des Judikationsprozesses (in konkreter dogmatischer Sicht durch das Prozessrecht) und andererseits schließlich in der strukturellen Gewalt des Argumentierens selbst. Von Interesse ist hier v. a. das „mittlere Gewaltelement“, die interne Zwangsstruktur des Judikationsprozesses als die Frage, wie die Gewalt, die in der institutionellen Strukturierung des semantischen Kampfs um die „richtige“ Bedeutung des Gesetzestextes liegt, legitimiert werden kann. Denn darin liegt der Kern der Legitimation, auch der Legitimation der den Rechtsprozess von außen her stützenden Staatsgewalt. Die strukturelle Gewalt des Argumentierens selbst kann allerdings durch nichts anderes gerechtfertigt werden als mit dem modernen Anspruch auf Rationalität.
b) Judikation als Deliberation zweiter Ordnung So wie sich die ethische Konzeption der Judikation sozusagen in innerdisziplinär-interdisziplinärer Hinsicht, d. h. mit Blick auf das Verhältnis von soziologischer Analyse und legitimatorischer Rechtfertigung innerhalb der Urteilsphilosophie als kohärent ausweisen muss, muss sie auch in interdisziplinärer Hinsicht zeigen können, dass sie ins Gesamtbild dieser Untersuchung passt. D. h. v. a., dass sie kohärent in die direkten Nachbardisziplinen der Urteilstheorie und der politischen Philosophie übersetzt werden können muss. In der Gesamtsicht auf das Theoriewerk dieser Untersuchung soll sich dann der legitimatorische Faden – je disziplinengerecht – durch sämtliche Felder hindurchziehen, die diskursive Legitimationsstruktur soll also in allen Teilkonzeptionen wiederzuerkennen sein. Über den spezifischen Charakter der diskurstheoretischen Logik in der Urteilsphilosophie kann auf Grundlage der disziplinären Anlage gewissermaßen zwischen Urteilstheorie und politischer Philosophie bereits gesagt werden, dass sie etwas von dem der demokratischen Judikation und etwas von dem der deliberativen Demokratie haben wird. Im Folgenden wird die disziplinär angemessene Konzeption der deliberativen
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VII. Urteilsphilosophie: Deliberative Judikation
Judikation (1) zunächst allgemein als Deliberation zweiter Ordnung eingestellt und (2) im Verhältnis zur deliberativen Demokratie beispielhaft konkretisiert werden. Sodann wird es sich (3) anbieten, den konkretisierenden Ansatz dieser Untersuchung im vorliegenden Kontext nochmals eigens zu vertiefen. (1) Um dieser Konzeption die diskurstheoretische Idee wieder disziplinengerecht anverwandeln zu können, ist vorsichtig an die disziplinäre Problematik, wie sie bis hierher aufgearbeitet worden ist, anzuknüpfen. Dafür kann auf die Analyse des Rechtsproblems als kommunikative Krise zurückgekommen werden. Sie bildet die disziplinäre Problemsituation, an die nun legitimatorisch angeschlossen werden muss, treffend ab. Allerdings verdeutlicht sie auch nochmals die Schwierigkeit, die eine urteilsphilosophische Konzeption bewältigen muss. Zumindest für eine diskurstheoretisch ausgerichtete Konzeption besteht die qualifizierte Hürde für die Rechtfertigung eines Auswegs aus der kommunikativen Krise nämlich darin, dass dieser Ausweg prinzipiell wieder nur mit diskursiv-kommunikativen Mitteln erfolgen darf. Im Abstrakteren, für die demokratische Politik im Ganzen, ist dieser Ausweg zwar schon einmal gelungen.23 Insbesondere mit der Konkretisierung des diskursethischen Konsensprinzips als Zustimmungsprinzip, das auch Kompromisse unter diskursiven Verfahrensbedingungen als gerechtfertigt ansieht, konnte gezeigt werden, dass sich auch eine sich gegen Einheit sperrende pluralistische Rechtskultur diskursiv rekonstruieren lässt. Wie aber ebenso zuvor gesehen, kehrt der Widerstreit im Rechtsstreit mit verstärkter Wucht zurück. Die Streitparteien liegen dort jetzt und heftig im Streit und verlangen die mit Staatsgewalt gestützte Durchsetzung ihrer konkret behaupteten Rechtsansprüche. Die deliberative Demokratie löst ihr ähnlich strukturiertes Problem mit der disziplinengerechten Konkretisierung des moralischen Diskurses im Politischen. Weil die Bedingungen des moralischen Diskurses zur konkreteren demokratischen Rechtskultur zu undifferenziert bleiben, bedarf es einiger Konkretisierungsarbeit, die den moralischen Diskurs als politischen zu den Bedingungen moderner, pluralistischer Gesellschaften ins richtige Verhältnis setzt und den politischen Diskurs schließlich differenzierter als politische Deliberation erscheinen lässt. Die konkretisierende Rekonstruktion des moralischen Diskurses als politische Deliberation erweist sich so als eine disziplinär wie interdisziplinär angemessene Möglichkeit, das abstrakte Diskursideal der universellen Ebene der Justifikation auf die konkretere kulturelle Ebene der Konstitution zu übertragen. Ihre Idee besteht im Kern darin, dass es die diskursiv strukturierten Bedingungen des Rechtfertigungsverfahrens sind, die die Ergebnisse legitimieren. Maßgeblich für die Legitimität politischer Entscheidungen ist dabei, dass der Entscheidungsprozess allen Betroffenen – im Wege fairer Kompromisse, fairer Repräsentationen und legitimer Verfahrensabbrüche – die Chance einräumt, sich gleichberechtigt zu den infrage stehenden Problemen zu äußern, darüber zu diskutieren und schließlich auch gleichberechtigt darüber zu entscheiden. 23
IV. 3.
3. Deliberative Judikation
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Wenn es – den Konkretisierungsansatz dieser Untersuchung zu Ende gedacht – nun zutrifft, dass nicht nur das Politische das Moralische, also die kulturelle Konstitution die universelle Justifikation, sondern auch das Rechtlich-Situationelle das Politische, mithin der situationelle Entscheidungsfindungsprozess der Judikation die politische Konstitution als ganze konkretisiert, wenn der Judikationsprozess also nicht einfach ein vom politischen Prozess abgekoppeltes Paralleldasein fristet, sondern den politischen Diskurs in einer bestimmten Hinsicht tatsächlich situationell konkretisiert,24 dann kann der Versuch gewagt werden, die normative Folie des politischen Prozesses im Ganzen auch über die Prozesse des rechtlichen Urteilens zu legen. Die semantischen Kämpfe um die Bedeutung des Gesetzestextes, die in den verschiedensten Urteilsprozessen mit unterschiedlicher Kontroversität ausgetragen werden, sind dann ebenso diskursiv oder deliberativ zu strukturieren. Was in der politischen Philosophie als deliberative Demokratie in Erscheinung getreten ist, gibt sich nun in der Urteilsphilosophie als „deliberative Judikation“ zu erkennen. Indem sich die diskursive oder deliberative Legitimationsstruktur im Bereich der Justifikation auf die Rechtfertigungsprozesse überhaupt und im Bereich der Konstitution auch auf sämtliche Rechtfertigungsprozesse der demokratischen Deliberation bezieht, bleibt sie nicht auf der Makro- und auf der Mesoebene stehen, sondern schlägt bis in die konkreten situationellen Entscheidungsfindungsprozesse und somit auch auf den der Judikation durch. Auch die Verfahren der Judikation sind dann prinzipiell so einzurichten, dass die Frage nach dem legitimen demokratischen Recht letztlich in einem Diskurs oder in einer Deliberation aller Betroffenen als Gleichberechtigte entschieden wird. Urteilsphilosophisch legitimiert ist das Rechtsurteil dann wie schon in der politischen Philosophie und in der Moralphilosophie – so reiht sich im Übrigen auch das prozedurale Konzept der verantworteten Rechtskonstruktion ein – nicht durch sein inhaltliches Ergebnis. Dieses bleibt in der Abhängigkeit zu den Argumenten der Beteiligten letztlich kontingent. Der Kern der Legitimation des demokratischen Rechts liegt dann auch im konkreten Einzelfall darin, dass die Rechtsprobleme, die behaupteten Rechtsansprüche unter für alle Betroffenen akzeptablen Bedingungen deliberiert worden sind. Diese Interpretation der Legitimität rechtlicher Urteile schmiegt sich auch ohne Weiteres an die sich hier ebenso durch die gesamte Untersuchung hindurchziehende These an, dass Rechtsurteile keine vorgegebenen Objekte, sondern in Verantwortung zu konstruieren sind. Die deliberative Judikation gibt dieser Erkenntnis in der Urteilsphilosophie nun eine auch konzeptionelle legitimatorische Gestalt. Zu warnen ist dabei allerdings vor konkretistischen Kurzschlüssen. Wer meint, die Judikation auf dieser Grundlage unverrichteter Dinge etwa als eine basisdemokratische Veranstaltung unter Vorgabe der viel zu abstrakten Prinzipien „des“ moralischen Diskurses einrichten zu können, tut nicht nur all denen Gewalt an, die ihr 24 Das wurde hier von Anfang an hervorgehoben. Vgl. neben der Einleitung insb. IV. 4., (3) (c).
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berechtigtes Vertrauen in die einer langen, schmerzhaften Rechtsgeschichte abgerungenen Institutionen moderner rechtsstaatlicher Demokratie legen, sondern untergraben auch die Diskursidee selbst. Diese ist nämlich nicht als einheitliches Idealbild über die verschiedenen Kulturen und Situationen hinweg, sondern eben nur als kulturell und situationell differenziertes Ideal zu haben. Oder anders gesagt, das moralphilosophische Diskursbild ist interdisziplinär und disziplinär angemessenen in den anderen Disziplinen zu kontextualisieren. In der Urteilsphilosophie bedeutet das insbesondere, dass das Verhältnis zwischen den Prozessen der Judikation und der Legislation zu beachten ist, die den demokratischen politischen Prozess gemeinsam situationell konkretisieren. Urteilsphilosophisch gesehen, wandelt sich die politisch-philosophische demokratische Deliberation daher zu einer „Deliberation zweiter Ordnung“. So wird auch die urteilstheoretische These der Judikation als Gesetzgebung zweiter Ordnung in die Urteilsphilosophie weitergezogen. Im Gesamtzusammenhang gesehen, bedeutet das dann, dass bei der ethisch-philosophischen Legitimation der Judikation weder die (methodisch) konkreteren Erkenntnisse der Urteilstheorie noch die (thematisch) abstrakteren Anliegen der politischen Philosophie in Vergessenheit geraten darf. Die deliberative Judikation konkretisiert in der gleichen ethisch-philosophischen Sprache die Forderungen der deliberativen Demokratie für den Themenbereich der Judikation, wie sie die spezifischen Ansätze der Judikation in der Urteilsphilosophie methodisch abstrahiert. Die Grundsätze, die in der politischen Philosophie für den politischen Prozess als ganzen gelten, gelten, thematisch konkretisiert, auch für den spezifischen (politischen) Bereich des rechtlichen Urteilens. Den strukturellen Besonderheiten des rechtlichen Urteilens im Verhältnis zum gesamten politischen Prozess wird dabei dadurch Rechnung getragen, dass die Aufspaltung des demokratischen Politikprozesses in Legislation und Judikation berücksichtigt wird. Die verschiedenen Verfahrensabschnitte bilden, zusammengenommen, zwar einen umfassenden Prozess demokratisch-politischer Deliberation, sie sind jedoch analytisch als zwei voneinander zu unterscheidende Teilabschnitte zu betrachten, wobei im ersten geltendes Gesetzesrecht, im zweiten geltendes Urteilsrecht produziert wird. Die Idee der Deliberation zweiter Ordnung weist darauf hin, dass diese Spaltung durchaus ernstzunehmen ist, integriert beide Verfahrensabschnitte aber so, dass sie ein zusammenhängendes Ganzes bilden, für das, je nach Bereich differenziert, prinzipiell dieselbe normative Struktur einschlägig ist.25 (2) Wird die Judikation nun als Deliberation zweiter Ordnung konzeptionalisiert, so bleibt sie in legitimatorischer Hinsicht – mit den entsprechend anspruchs25 Ausgearbeitet wird hier schließlich nur eine Konzeption der Judikation, nicht auch eine der Legislation. Die Konzeptionalisierung der Deliberation erster Ordnung wird also ausgespart und wäre andernorts noch vorzunehmen. Was die (politisch-philosophische) Konzeption der deliberativen Demokratie dagegen leistet, ist eine Konzeptionalisierung der (demokratischen) Deliberation überhaupt. Unter Beizug der hier außerdem verschiedentlich gemachten spezifischen Ausführungen zur Legislation ist das für die Ausarbeitung einer überzeugenden Teilkonzeption deliberativer Judikation eine hinreichende Grundlage.
3. Deliberative Judikation
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vollen diskursiven Anforderungen – gleichwohl eine Deliberation, und es fragt sich wieder, wie diese diskurstheoretische Deutung nun auch im Situationsbereich konkreter rechtsbeurteilender Entscheidungsfindung im Einzelfall disziplinengerecht plausibilisiert werden kann. In der Konzeption der deliberativen Demokratie konnte der entsprechende Schritt von der abstrakten moralphilosophischen Justifikation zur konkreteren politisch-philosophischen Konstitution durch Konkretisierungsarbeit an einigen wichtigen Stellen des diskursiven Verfahrens gestützt werden.26 So wurde z. B. gezeigt, dass die starke Lesart der Konsensforderung (als Verfahrensbedingung) aufzugeben und das Konsensprinzip in dieser Hinsicht als Zustimmungsprinzip zu konkretisieren ist, das auch faire Kompromisse einschließt, die allgemeine Beteiligung aller Betroffenen erst mithilfe fairer Repräsentationen hinreichend scharfe Konturen erhält und die Endlichkeit der Deliberationsprozedur im Wege von legitimen Verfahrensabbrüchen eingefangen werden kann. Im Verhältnis zur demokratischen Deliberation als ganzer werden nun im konkreten Bezug auf das Judikationsverfahren aber wiederum Ausprägungen der demokratischen Deliberation sichtbar, die in der immer noch recht abstrakten thematischen Perspektive der politischen Philosophie noch undeutlich blieben. Das moderne demokratische Deliberationsverfahren der Judikation ist eben wiederum ein spezifischer Ausschnitt des gesamten deliberativen Prozesses, mit spezifischen wiederum zu konkretisierenden Besonderheiten. Wie die vorangegangenen soziologischen Analysen gezeigt haben, fordern diese das diskurstheoretische Ideal v. a. hinsichtlich seiner möglichen Strittigkeit, aber auch hinsichtlich der Beteiligungsrechte und der z. T. erheblich eingeschränkten Entscheidungskompetenzen heraus. Aus den zahlreichen notwendigen Konkretisierungen, die auch im Themenbereich der Judikation notwendig sind, seien im Folgenden die wichtigsten herausgegriffen. Nur schon im Hinblick auf die Judikation als judikatives Rechtsprechungsverfahren, das nach wie vor das Paradigma des modernen Judikationsprozesses abgibt, ist beispielsweise zu sagen, dass die Konkretisierung der diskursiven Forderung nach allgemeiner Beteiligung als Forderung nach fairer Repräsentation kaum Boden findet. In Gerichtsverfahren dürfen die direkt Betroffenen in aller Regel gerade nicht vertreten werden. Gemeint ist damit nicht die „anwaltliche Vertretung“ durch juristisch geschulte Expertinnen und Experten. Die Vertretung, die diese vornehmen, ist eine andere als die in der demokratischen Deliberation ansonsten übliche. Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte nehmen nicht einen Platz anstelle ihrer Mandantinnen und Mandanten ein, sondern sie vertreten sie als Person. Was in anderen Verfahrensabschnitten der Deliberation, z. B. im parlamentarischen Legislativverfahren weder praktiziert werden kann noch praktiziert werden darf, ist in Gerichtsverfahren offenbar gang und gäbe. Anwältinnen und Anwälte arbeiten unter einem sachlichen Mandat für die Person. Damit nehmen sie die Sache der Vertretenen in ihre Hand und führen sie in deren Namen und (in erster Linie) deren Verantwortung. Dass im judikativen Gerichtsverfahren diese im 26
IV. 3. b).
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VII. Urteilsphilosophie: Deliberative Judikation
legislativen Verfahren unzulässige Art mimetischer Repräsentation nun plötzlich gerechtfertigt ist, hat allerdings gute Gründe. Diese liegen v. a. in der legitimen Nötigung der an Gerichtsprozessen beteiligten Parteien, ihre behaupteten Rechtsansprüche juristisch zu begründen. Um diese Aufgabe mit Erfolg erfüllen zu können, bedarf es fachlichen Expertenwissens und Übung, die die meisten, zumal ausgerechnet in „ihrem“ Fall, gerade nicht mitbringen. Die anwaltliche Vertretung bietet dann eine akzeptable Möglichkeit, im Rahmen eines vertraglichen Vertrauensverhältnisses die Sachinteressen von Betroffenen in die Sprache der Rechtswissenschaft zu übersetzen und z. B. vor Gericht wirksam geltend zu machen. Dass die nicht-mimetische Repräsentation in judikativen Verfahren dagegen unzulässig ist, hat Gründe, die sich wiederum aus einer weiteren nötigen Konkretisierung des deliberativen Verfahrens ergeben, die erst auf der situationellen Stufe der Judikation richtig sichtbar wird. Eine weitere Konkretisierung der deliberativen Demokratie als deliberative Judikation, die insbesondere im Bereich der judikativen Rechtsprechung erforderlich ist, ist nämlich der paternalistische Entzug der Entscheidungskompetenz, z. B. durch ein Gericht. Von Verfahrenswechseln zu Mediationen27 abgesehen, wird den streitenden Parteien in Gerichtsverfahren die Kompetenz, ihre Sache selbst zu entscheiden, abgenommen. Was aus abstrakter Sicht aber scheinbar als eine grobe Durchkreuzung des Prinzips der selbstbestimmten Zustimmung erscheint, lässt sich in (interdisziplinär) differenzierter Sicht gleichwohl diskurstheoretisch legitimieren. Die Entscheidung im konkreten Einzelfall wird den Betroffenen jedenfalls im judikativen Rechtsprechungsverfahren deshalb zu Recht abgenommen, weil dort überhaupt keine Aussicht mehr darauf besteht, dass die Parteien ihren Streit für beide Seiten akzeptabel, nicht einmal durch Kompromiss, in eigener Regie beilegen. Die Intensität der kommunikativen Krise ist im Gerichtsprozess zu hoch, als dass ihre kommunikative Bewältigung den Streitenden allein überlassen werden könnte. Der Gang vors Gericht ist geradezu als Eingeständnis zu werten, dass eine einvernehmliche Lösung nicht mehr gefunden werden kann. In diesem Kontext ist es wieder notwendig, das demokratische Verfahren in seinem Gesamtzusammenhang zu sehen und das – in diesem Fall judikative – Verfahren in seiner spezifischen Funktion oder Aufgabe einzuordnen. Aus der erweiterten Perspektive erweist sich der gewaltsame judikative Verfahrensabbruch dann als zustimmungswürdiger Verfahrensmechanismus in einem speziellen Deliberationsverfahren, dem sich die Beteiligten zu unterziehen haben, weil alle anderen Alternativen nicht mehr mit sprachlicher, rationalisierter, sondern nur noch mit roher Brachialgewalt verbunden sind. Insofern verlängert sich die Zustimmung der Parteien im Gerichtsprozess über diesen hinaus auf den (nur abschnittsweise judikativen) 27 Statt Aller dazu die neuerliche Ausgabe des umfangreichen Handbuchs Haft / Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation (22009). Das Mediationsverfahren lässt sich wohl als eine immer stärker institutionalisierte Verfahrensvariante deuten, das Gewicht im Netzwerk der Public Judication von den staatlichen auf die nicht-staatlichen Gewalten zu verlagern.
3. Deliberative Judikation
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deliberativen Verfahrenskomplex im Ganzen. In der demokratischen Deliberation findet die Einrichtung des Gerichtsprozesses nämlich keineswegs in der paternalistischen Weise statt, wie im Gerichtsverfahren selbst entschieden wird. Für die demokratische Institutionalisierung von Judikativprozessen greifen dann wieder die fairen Kompromisse, Repräsentationen und legitimen Verfahrensabbrüche, die in der Konkretisierung der deliberativen Demokratie bereits herausgearbeitet worden sind. In dieser Sicht machen sich auch weitere Konkretisierungen bemerkbar, die den „judikativen Entscheidungspaternalismus“ insgesamt als legitim erscheinen lassen. Neben anderen „qualifizierten Mitwirkungsrechten“ gibt sich so etwa der „Ausschluss“ oder die „Einschränkung von (nicht-mimetischen) Repräsentationselementen“ als ein legitimatorisches Gegengewicht zum gerichtlichen Entscheidungspaternalismus zu erkennen. Wenn die Entscheidung schon nicht von den Betroffenen selbst getroffen werden soll, so sollen sie zumindest Gelegenheit dazu haben, ihre Argumente wirksam direkt, soll heißen in persona (allenfalls in anwaltlicher Vertretung) vorzutragen. Dies kann gewissermaßen als Konkretisierung der Repräsentation, wie sie in der politischen Philosophie entwickelt worden ist, gesehen werden: Die Vertretung von Teilnahmerechten oder -plätzen ist in Situationen qualifizierter Strittigkeit, d. h. auch Betroffenheit, wiederum eingeschränkt oder ausgeschlossen. Die anwaltliche Vertretung hebt diese Konkretisierung dann nicht wieder auf, sondern bezieht sich, wie gesagt, als andere Art von Repräsentation zu dem Zweck auf das Verfahren, der gebotenen Nötigung zur juristischen Expertensprache zumutbar nachzukommen. Außerdem unterstehen Gerichtsurteile „erhöhten Begründungsanforderungen“. Dabei hat das Gericht nicht nur die Argumente der Parteien zu würdigen, sondern ist darüber hinaus gehalten, seinen Urteilsspruch auch unabhängig davon zu legitimieren und sich den Beteiligten und der ganzen Öffentlichkeit gegenüber zu verantworten. (3) Die soeben am Beispiel des judikativen Rechtsprechungsprozesses (und auch in dieser Hinsicht keineswegs vollständig) exerzierte Konkretisierung der politischen Deliberation als Deliberation zweiter Ordnung oder als juristische Deliberation hat zeigen sollen, wie der thematisch konkretisierende Schritt von der Konstitution zur Judikation vonstatten gehen kann und dass das Diskursideal, solange es nur disziplinengerecht in Arbeit genommen wird, auf diese Weise auch auf der situationellen Ebene konkreter Entscheidungsfindungsprozesse als legitimatorisch überzeugende Folie herangezogen werden kann. Wie schon für die Konkretisierungen des moralischen Diskurses in der politischen Philosophie angemerkt worden ist, geht es dabei nicht darum, „das“ Diskursideal in „der“ Wirklichkeit zu „realisieren“.28 Auch in Bezug auf die Judikation bleibt das Diskursbild ein Ideal. Konkretisierung ist nicht Realisierung. „Konkretisierung“ ist die zu verantwortende, fallible theoretische Praxis, die Texte mit abstrakterem Geltungsanspruch zu Texten mit konkreterem Geltungsanspruch verarbeitet. Dadurch werden die Texte aber 28
IV. 4., (3) (c) a. E.
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VII. Urteilsphilosophie: Deliberative Judikation
nicht „realer“. Sie werden konkreter – indem sie den Wirklichkeitsbereich, auf den sie sich beziehen, genauer in den Blick nehmen, näher an ihn herantreten, direkter mit ihm kommunizieren. Texte mit idealem, legitimatorischem Anspruch verlangen dann durchaus nach Realisierung, nicht jedoch im Verhältnis zu dem realisierbaren Wirklichkeitsgehalt, den sie in sich tragen sollten, sondern zu den tatsächlichen, realen Verhältnissen, denen sie sich angemessen gegenüberstellen. In dieser Beziehung schenken sich das abstrakte moralphilosophische Diskursideal, das politisch-philosophische Deliberationsideal und das Ideal der juristischen Deliberation nichts. Sie alle wollen die rechtlichen Verhältnisse, je für ihren disziplinären Bereich und im interdisziplinären Zusammenhang kohärent, legitim strukturieren. Im Verlauf dieser Untersuchung ist von Konkretisierung v. a. in zweierlei Zusammenhängen die Rede, und es mag die Frage aufkommen, in welcher Beziehung diese beiden Zusammenhänge wiederum zueinander stehen. Wie soeben ausgeführt, bezieht sich der Prozess der Konkretisierung (wie auch der der Abstrahierung) zum einen auf die interdisziplinäre Theoriekonstruktion.29 So konkretisiert die politisch-philosophische Konzeption der deliberativen Demokratie eben etwa die moralphilosophische Diskursethik und die urteilsphilosophische deliberative Judikation die deliberative Demokratie. Die politische Deliberation konkretisiert den moralischen Diskurs und die juristische Deliberation die politische. Diese Art von Theoriekonkretisierung, die im hier eingerichteten Kommunikationsraum der Disziplinen letztlich den moralischen Diskurs in den verschiedenen thematischmethodisch definierten Feldern konkretisiert, kann als „Konkretisierung ersten Typs“ bezeichnet werden. Zum andern ist hier seit der anfänglichen juristischmethodischen Diskussion von Konkretisierung auch als der spezifisch juristischen Arbeitsweise der Herstellung von Rechts- und Entscheidungsnormen die Rede. In der juristisch-methodisch geschulten Handwerkskunst konkretisieren Juristinnen und Juristen Gesetzestexte zu Rechtsurteilen. Diese Konkretisierungsart kann der Name der „Konkretisierung zweiten Typs“ gegeben werden.30 In der Gegenüberstellung der beiden Arten von Konkretisierung kann der Konkretisierungsprozess als solcher und seine theoretische Funktion nun nochmals deutlicher herausgestellt werden. Zunächst ist zu sagen, dass es sich bei beiden Konkretisierungstypen um prinzipiell denselben Vorgang handelt. Im einen Fall werden Theorietexte, im andern Gesetzestexte konkretisiert. Insofern in beiden Fällen als Textgrundlagen außerdem im weiteren Sinn Rechtstexte – Theorietexte des Rechts einerseits, rechtsstaatlich-demokratisch erlassene Gesetzestexte andererseits – vorliegen, können beide Typen auch als Rechtskonkretisierungen verstanden Allgemein dazu v. a. III. 2. b), (2). Die Nomenklatur „ersten“ und „zweiten Typs“ impliziert keine hierarchische Rangfolge und könnte auch umgekehrt lauten. Weil im aktuellen Kontext jedoch von Konkretisierung die Rede ist und Theoriekonkretisierung als solche tendenziell abstrakter ist als die juristischmethodische, wird der ersten der erste und der zweiten der zweite Typ zugeschrieben. 29 30
3. Deliberative Judikation
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werden. Und in beiden Fällen ist die Konkretisierung kein automatisches „Wiederfinden“, „Aufdecken“ oder „Entdecken“ unverfügbarer Wahrheiten und Richtigkeiten, sondern konstruktive, zu begründende und zu verantwortende Arbeit.31 Theoriefunktionell, soll heißen ihrer Funktion im theoriemethodischen Prozess nach, hat die Konkretisierung sowohl des ersten Typs als auch des zweiten Typs einen sowohl kritischen als auch operationalisierenden Sinn. Wie in der juristischen Methodik ausführlich dargelegt, zielt die (nun in der Urteilsphilosophie konzeptualisierte) verantwortete Rechtskonstruktion mit ihrem Konkretisierungsansatz zunächst auf eine radikale Entmythifizierung der ominösen Rechtsnorm als lex ante casum.32 Ganz ähnlich verfährt der theoriekonkretisierende Ansatz dieser Untersuchung mit der Diskursidee. Die diskurstheoretischen Strukturen werden nicht als im moralphilosophischen Himmel unverrückbar vorgegebene Vorgaben missverstanden, die es „bestmöglich“ zu „verwirklichen“ gälte, sondern als fallible Abstraktionen zu konkretisierender Rechtfertigungspraxen. Ebenso wie die verantwortete Rechtskonstruktion damit die demokratisch-rechtsstaatlich erlassenen Gesetzestexte in Arbeit nehmen kann, ist es dadurch auch hier möglich, mit dem Diskursideal zu arbeiten, ohne dabei fürchten zu müssen, Unantastbares zu verunreinigen oder universell Gültiges zu verletzen. Anders als es die legitim erlassenen Gesetzestexte für die Rechtsarbeiterinnen und Rechtsarbeiter sind, sind moral- und politisch-philosophische Texte für die Theoriearbeiterinnen und Theoriearbeiter nämlich nicht unverfügbar und müssen ihre Gültigkeit ständig unter Beweis stellen. Anders als im Normengefüge des demokratischen Rechtsstaats gibt es in der Theorie keine Hierarchie. In der (interdisziplinären) Theorie müssen nicht nur abstraktere Konzepte, Konzeptionen und Theorien konkretisiert, sondern auch konkretere abstrahiert werden können. In diesem Sinn sind die theoretischen (thematischen) Konkretisierungen von der Justifikation zur Konstitution und von der Konstitution zur Judikation hier zu verstehen. Sie „gehorchen“ nicht der jeweils abstrakteren Ebene, sondern buchstabieren im Konkreteren aus, was auch für das Abstraktere gelten muss. Erst im (interdisziplinären) Zusammenhang kann Abstraktes und Konkretes überzeugen.
31 Nur in Klammer angemerkt sei, dass Konkretisierung wohl grundsätzlich immer denselben methodologischen Strukturen folgt. Jedenfalls lassen sich zwischen den Konkretisierungslogiken des ersten und des zweiten Typs Parallelen erkennen. So können z. B. die Konkretisierungen, die in der politischen Philosophie herausgearbeitet worden sind (Repräsentation, Diskursdifferenzierung, Verfahrensabbruch, Kompromiss), so interpretiert werden: Die Repräsentation ist die Nötigung des Ganzen zur Selektion (grammatischer Aspekt). Die Diskursdifferenzierung ist die Nötigung zur Differenzierung des Ganzen (systematischer Aspekt). Der Verfahrensabbruch ist die Nötigung zur Endlichkeit im Ganzen der Zeit (historischer Aspekt). Und schließlich ist der Kompromiss die Nötigung zur Brechung des Ganzen, die aber gleichwohl aufs Unverbrüchliche, hier: den Konsens, verweist (teleologischer Aspekt). 32 I. 1. bis I. 2. sowie VII. 1.
466
VII. Urteilsphilosophie: Deliberative Judikation
c) Prinzipien deliberativer Judikation Schließlich soll auch die Konzeption der deliberativen Judikation wieder in die Form eines Sets von Prinzipien gebracht werden. Auch diese Aufgabe ist nicht ganz einfach, weil die Kohärenzanforderungen an das Prinzipien-Set und die Konzeption der deliberativen Judikation als ganze besonders hoch sind. Was nun gelingen muss, ist nicht lediglich eine disziplinengerechte Weiterentwicklung von Prinzipien einer anderen Konzeption, etwa der zuvor erarbeiteten Konzeption der demokratischen Judikation. Was das Prozedere dieser Untersuchung angeht, wird dieser Weg hier zwar gegangen. Die folgend zu entwickelnden Prinzipien bleiben in thematischer Hinsicht auf derselben Abstraktionsebene wie die urteilstheoretischen Prinzipien der demokratischen Judikation. D. h., sie beziehen sich gleichermaßen auf die Prozesse juristischen Urteilens in Demokratien, nun in der Gestalt juristischer Deliberationen, sei es als Exekution oder Jurisdiktion, in exekutiver, judikativer oder nicht-staatlicher, peripherer Hand. In methodischer Hinsicht muss allerdings der Blickwechsel von der Rechtstheorie zur Rechtsphilosophie vollzogen werden, d. h., es muss eine methodische Abstrahierung der juristisch-ethischen Logik der Prinzipien in eine ethisch-philosophische Logik vorgenommen werden. Die Prinzipien der deliberativen Judikation dürfen deshalb nicht im juristisch-ethischen Spannungsfeld zwischen Demokratie und Rechtsstaat, sondern müssen wieder zwischen den ethischen Leitprinzipien der Freiheit und der Verantwortung verortet werden. Mit dieser eindimensionalen Transferleistung allein ist an dieser Stelle der Untersuchung aber nicht mehr gedient. Denn außer von der urteilstheoretischen Konzeption wird die deliberative Judikation im interdisziplinären Gesamtzusammenhang dieser Untersuchung auch von der Konzeption der deliberativen Demokratie der politischen Philosophie eingefasst. Die Prinzipien, die hier im Folgenden herausgearbeitet werden, müssen daher außerdem imstande sein, im Wege einer weiteren eindimensionalen Übersetzung an die Prinzipien der deliberativen Demokratie anzuschließen. Dieses Verhältnis der deliberativen Judikation zur deliberativen Demokratie ist im Gegensatz zu dem zur demokratischen Judikation ein thematisch konkretisierendes. Die folgenden Prinzipien müssen also zugleich als auf das rechtliche Urteilen bezogene Konkretisierungen der Prinzipien der deliberativen Demokratie erkennbar werden. Diese Anschlussbedingung soll im Folgenden als Prüfkriterium der gesamtkonzeptionellen Kohärenz gelten. Methodologisch werden die Prinzipien der deliberativen Judikation jedoch abstrahierend aus den Prinzipien der demokratischen Judikation gewonnen werden.
3. Deliberative Judikation
3a
2b 3b
Kompetenzgemäßes Urteil
Autorisiertes Urteil
Prozesslegitimation
Offenheit des Urteils
Unabhängigkeit des Urteilsprozesses
Urteilsautonomie
Prozessgarantien
Faires Verfahren
Gesetzmäßigkeit des Urteils
Gebundenheit des Urteils
Rechtsschutz
Urteilskontrolle
Verantwortung
1b
Prinzipien der deliberativen Judikation Freiheit
2a
Rechtsstaat
1a
Demokratie
Prinzipien der demokratischen Judikation
467
Abbildung 29: Die Prinzipien der demokratischen Judikation und der deliberativen Judikation
„1a“: Das urteilsphilosophische Pendant zum urteilstheoretischen Prinzip des kompetenzgemäßen Urteils ist das Prinzip des „autorisierten Urteils“. Die legitime Autorisierung durch die Betroffenen ist die ethisch-philosophische Fassung der juristisch-ethischen Ermächtigung durch Kompetenzzuschreibung. In der Urteilsphilosophie verliert das Prinzip dabei an juristischer Technizität und konzentriert sich ganz auf den legitimatorischen Gehalt der normativen Forderung. Diese besteht darin, dass das Urteil, das letztlich gefällt werden muss, von der Person oder von dem Organ ausgeht, sei es im politischen Zentrum oder in der Peripherie, das dazu auch befugt ist – und zwar mindestens indirekt auch von all denjenigen, über die geurteilt wird. Die Autorisierung ist somit die legitime Verlängerung der Zustimmung, die in modernen Demokratien aufgrund der Textteilung von Legislation und Judikation gebrochen wird. Die Rechtfertigung dieser überbrückenden Verlängerung gründet dabei einerseits in der legitimatorischen Notwendigkeit der Aufteilung von Legislation und Judikation selbst und andererseits darin, dass die Autorisierung ihrerseits in einem (legislatorischen) Verfahren eingerichtet worden sein muss, das deliberativ-demokratischen Anforderungen genügt. Diese Autorisierung rechtfertigt es sogar, wenn das Urteil letztlich von einer Person oder von einem Organ ausgeht, die oder das das Judikationsverfahren (der vorgesehenen Verfahrensstruktur gemäß) an einem bestimmten Punkt abbricht und die Entscheidung paternalistisch übernimmt. Selbst dann bleibt noch der freiheitliche Sinn erhalten, dem das Prinzip des autorisierten Urteils nahesteht. Durch die (deliberativ-demokratische) Autorisierung ist selbst ein über rechtssuchende Parteien gefälltes Urteil als Ausdruck ihrer frei gewählten Zustimmung zu werten. Diese auch an die Konzeption der deliberativen Demokratie anschlussfähige Lesart des Prinzips der autorisierten Zustimmung ist wiederum erst einsichtig, wenn der Prozess der Judikation als Deliberation zweiter Ordnung in seinem verfahrensmäßigen Zusammenhang erfasst wird. Aus diesem heraus muss die (auch kompro-
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VII. Urteilsphilosophie: Deliberative Judikation
mittierte, repräsentierte und abgebrochene) Zustimmung im Judikationsverfahren auf die Urteilsautorität einer dafür zuständigen Instanz umgebrochen werden. Zur Fortführung des freiheitlichen Sinns der Zustimmung ist das in modernen Demokratien ein durchaus akzeptabler Weg. „1b“: Das Prinzip des autorisierten Urteils legitimiert die juristische Deliberation freiheitlich in struktureller Hinsicht. Ebenso in struktureller Hinsicht, aber von der Verantwortungsseite her wird die juristische Deliberation durch das Prinzip des „fairen Verfahrens“ legitimiert. Zu einer echten Deliberation kann die Deliberation zweiter Ordnung erst werden, wenn das autorisierte Urteil unter fairen Bedingungen ergeht. Auch an dieser Stelle ist der Grundgedanke wieder, dass nicht nur eine faktische Zustimmung bzw. ein (autorisiertes) Urteil faktisch ergeht. Die Zustimmung bzw. das Urteil muss auch zustimmungswürdig sein. Dabei genügt die verfahrensgemäße Autorisierung des Urteilsspruchs nicht. Diese stellt sich, wie gesehen, dem Urteilsspruch nicht auf der Verantwortungsseite gegenüber, sondern wird vielmehr bereits dazu gebraucht, den freiheitlichen Sinn des Urteils zu gewährleisten. Was daher in der Urteilstheorie als rechtsstaatliche Forderung nach Verfahrensgarantien daherkommt, tritt an dieser Stelle als Forderung nach einem fairen Verfahren auf den Plan. Das Prinzip des fairen Verfahrens ist die urteilsphilosophische Entsprechung des urteilstheoretischen Prinzips der Prozessgarantien. So wie das freiheitliche Prinzip des autorisierten Urteils das demokratische Prinzip des kompetenzgemäßen Urteils in ethischen Kategorien widerspiegelt, abstrahiert die verantwortungsbezogene Fairness des juristischen Urteilsverfahrens das rechtsstaatliche Prinzip der Verfahrensgarantien. Im Verhältnis zur Konzeption der deliberativen Demokratie bleibt das Leitprinzip, die Verantwortung, dagegen erhalten. Statt wie im Verhältnis zur demokratischen Judikation das Prinzip der Prozessgarantien methodisch zu abstrahieren, bedient sich die deliberative Judikation derselben ethisch-philosophischen Sprache wie die deliberative Demokratie. So konkretisiert das Prinzip des fairen (Urteils-) Verfahrens das deliberativ-demokratische Prinzip der Gleichberechtigung, das in Bezug auf die Beteiligungen an politischen Verfahren jeglicher Art Geltung beansprucht. „Fair“ als ethische Kategorie bedeutet in diesem Zusammenhang somit, dass alle Betroffenen die Möglichkeit haben, als Gleichberechtigte an der Deliberation, in diesem Zusammenhang: über die legitime Konkretisierung eines Rechtstextes, zu partizipieren. I. d. S. verlangt das Prinzip des fairen Verfahrens in der Konzeption der deliberativen Judikation für die Judikation nichts anderes als das Prinzip der fairen Gleichberechtigung in politischen Verfahren überhaupt, was seinerseits den diskursethischen, ebenso am Leitprinzip der Verantwortung orientierten Grundsatz prinzipieller Reziprozität aller Beteiligten konkretisiert. Von Bedeutung ist schließlich wieder, dass Freiheit und Verantwortung im Zusammenhang gesehen werden. Die juristische Deliberation ist in struktureller Hinsicht erst dann legitim, wenn das autorisierte Urteil im fairen Verfahren ergeht, wenn Freiheit und Verantwortung zusammenspannen. Weder das eine noch das andere ist ohne das andere zu haben.
3. Deliberative Judikation
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„2a“: Unter materiellen Aspekten wird das urteilstheoretische Prinzip der Prozesslegitimation, richtig verstanden als Ausdruck des Gedankens der Legitimation durch den Prozess, in diesem Fall durch den Prozess der Judikation, in der Urteilsphilosophie zum Prinzip der „Offenheit des Urteils“. In der Konzeption der demokratischen Judikation konnte bereits festgehalten werden, dass sich in materieller Hinsicht erst aus dem legitim eingerichteten Verfahren ergeben kann, wie das Urteil auszusehen hat. Zwar läßt sich aus dem „einschlägigen“ Gesetzestext bereits eine reiche Auswahl möglicher Bedeutungen für den konkreten Fall „heraus“lesen, welche dieser zahllosen Bedeutungen nun aber in Geltung zu setzen ist, kann und soll gerade erst im Judikationsprozess erarbeitet werden. Philosophisch-abstrakter formuliert, wird damit die Offenheit des rechtlichen Urteils gefordert. Auch wenn das Urteil ex post verbindliche Kraft entfalten mag, so darf „die“ Bedeutung des Gesetzestextes für den infrage stehenden Fall ex ante nicht schon festgeschrieben werden. So wie in erkenntnis- und sprachtheoretischer Sicht die Vorstellung einer lex ante casum abzulehnen ist, ist es sozusagen in legitimatorischer Sicht auch die eines iudicium ante processum. Sofern die Eintrittsbedingungen der juristischen Deliberation erfüllt sind, ist es (erst) am unter fairen Bedingungen geführten Verfahren, das verbindlich geltende Urteil zu konstruieren. In diesem Prinzip der Urteilsoffenheit tritt so wieder die freiheitliche Seite hervor. Das Ergebnis der juristischen Deliberation wird den Beteiligten prinzipiell nicht abgenommen, sondern sie selbst haben es – prinzipiell und unter den notwendigen Verfahrensbedingungen – in der Hand, wie zu urteilen ist. Diese Abstrahierung des urteilstheoretischen Prinzips der Prozesslegitimation ist nichts anderes als eine Konkretisierung des deliberativ-demokratischen Prinzips der materiellen Offenheit der Deliberation in der politischen Philosophie. Ebenfalls eine Ausprägung des Leitprinzips der Freiheit, versucht es gerade den deliberativen Gedanken, dass es erst die tatsächlich geführten Diskussionen unter fairer Beteiligung aller Betroffenen sind, die die Ergebnisse politischer Verfahren legitimieren, für die juristische Deliberation fruchtbar zu machen. Das Prinzip der Urteilsoffenheit soll sicherstellen, dass die Rechtsurteile erst durch die Argumente und Gegenargumente der Prozessbeteiligten zustande kommen. Die deliberative Demokratie und die deliberative Judikation teilen in gleichem Maße den Gedanken, dass weder vorgefertigte noch „entdeckte“ Entscheidungen für Legitimität verbürgen können. Weil im Politischen überhaupt wie in der Judikation im Besonderen vernünftige Entscheide bzw. Urteile vorargumentativ nicht in Sicht sind, muss auf das Argumentationsverfahren als solches zurückgegriffen werden. Das Prinzip der Urteilsoffenheit fordert in der Konzeption der deliberativen Judikation – auch in Übereinstimmung mit der strukturierenden Rechtslehre und dem Konzept der verantworteten Rechtskonstruktion –, dass dies in Bezug auf die juristische Urteilskonstruktion bzw. aufs Urteilsverfahren nicht in Vergessenheit gerät. Wie auf der Ebene der Konstitution sind es auch auf der Ebene der Judikation nicht die letztlich kontingenten Materien der Entscheidungsergebnisse selbst, sondern erst der sie produzierende Prozess, an den die Vermutung der Legitimität geknüpft werden kann.
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VII. Urteilsphilosophie: Deliberative Judikation
„2b“: Nur die Offenheit der juristischen Deliberation zu betonen, wäre aber ebenso falsch, wie nur das autorisierte Urteil oder nur die fairen Beteiligungsbedingungen zu fordern. So bedarf es in materieller Hinsicht auch zum urteilsphilosophischen Freiheitsprinzip der Urteilsoffenheit ein am Leitgedanken der Verantwortung ausgerichtetes Gegenprinzip. In der deliberativen Judikation ist das das Prinzip der „Gebundenheit des Urteils“. Das Prinzip ist die ethisch-philosophische Abstrahierung des juristisch-ethischen Prinzips der Gesetzmäßigkeit des Urteils bzw. der Rechtstextgemäßheit 33 in der Urteilstheorie. Denn auch wenn es prinzipiell in der Hand der argumentierenden Betroffenen liegt, welche Bedeutung der Gesetzestext in „ihrem“ Fall erhält, und im Vorhinein der Ausgang der Entscheidung weder fixiert werden kann noch fixiert werden darf, bleiben die Argumentierenden und alle anderen Rechtsgenossinnen und -genossen in ihrer Konkretisierungsarbeit ans bereits geltende Recht, an die bereits in Geltung gesetzten Texte des Rechts gebunden. So wie das demokratische Prinzip der Prozesslegitimation den rechtsstaatlichen Preis des gesetzmäßigen Urteils einfordert, ruft das freiheitliche Prinzip der Urteilsoffenheit nach dem Verantwortungsprinzip der Urteilsgebundenheit. Rechtliches Urteilen ist auch aus ethischer Sicht nicht grenzenlos, auch philosophisch gesehen binden einmal verbindlich in Geltung gesetzte Rechtstexte den zukünftigen Rechtsprozess. Wie das Prinzip der Offenheit des Urteils konkretisiert auch das Prinzip der Gebundenheit des Urteils ein Prinzip der deliberativen Demokratie. Die Stellung der deliberativen Judikation als Konkretisierung der Konzeption der deliberativen Demokratie in Bezug auf den Judikationsprozess zeigt sich an dieser Stelle in der konkretisierenden Entsprechung des Prinzips der Gebundenheit der politischen Deliberation als ganzer. In der politischen Philosophie wurde gefordert, dass die Offenheit politischer Deliberationen nur insoweit zulässig ist, als sie anschließend in Verbindlichkeit erwachsen und zuvor geführte, bereits in Verbindlichkeit erwachsene Deliberationen berücksichtigt werden. Diese Forderung ist ihrerseits eine Konkretisierung des in der Diskursethik aufgestellten Prinzips der Gebundenheit des Diskurses. Genau das wird mit dem Prinzip der Gebundenheit rechtlicher Urteile bzw. juristischer Deliberationen von der Konzeption der deliberativen Judikation nun auch fürs rechtliche Urteilen verlangt. Beide Prinzipien, im einen Fall im Abstrakteren der Konstitution, im anderen im Konkreten der Judikation, geben vor, wie das ethische Leitprinzip der Verantwortung in materieller Hinsicht ausgestaltet werden soll. Wie alle sich gegenüberstehenden Prinzipien in dieser Untersuchung gehen dann auch das Prinzip der Offenheit und der Gebundenheit des Urteils Hand in Hand. Dabei bedarf nicht nur das Offenheitsprinzip der Gebundenheit. Die Forderung nach der Gebundenheit der Urteile bliebe auch farblos, wenn nicht das freiheitliche Offenheitsprinzip normieren würde, auf welche Weise die grenzsetzenden Texte des geltenden Rechts im Judikationsprozess weiterverarbeitet werden können. 33
Dazu die präzisierenden Ausführungen in VI. 4., (2).
3. Deliberative Judikation
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„3a“: Das freiheitliche Prinzip der deliberativen Judikation in formeller Hinsicht ist das Prinzip der „Urteilsautonomie“. Es postuliert, dass es allein Sache desjenigen Prozesses ist, das infrage stehende Rechtsproblem zu lösen, den Fall zu entscheiden, dem verfahrensgemäß diese Aufgabe zugeschrieben ist. Das Urteilsverfahren und darin dann auch der am Ende urteilenden Person oder dem endlich entscheidenden Organ, ganz gleich ob zentral, intermediär oder peripher, soll von keiner anderen politischen Kraft, die vielleicht ebenso ein Interesse an der verbindlichen Entscheidung des Rechtsproblems hat, beeinflusst werden. Die Verfahrensautonomie zur verbindlichen Entscheidung von Rechtsproblemen soll pro Verfahren nicht durchkreuzt werden. Welchem Verfahren und welcher Gewalt die Berechtigung zur Behandlung welcher Fälle zugeschrieben wird, ist eine Frage eines anderen Verfahrens, und Änderungen dieser Vefahrensselektion müssen auf diesem Weg vorgenommen werden. Einwirkungen auf Urteilsverfahren, die diesen Weg nicht gehen, beschneiden dagegen die legitime Autonomie des Judikationsprozesses. Dieses Prinzip abstrahiert das urteilstheoretische Prinzip der Unabhängigkeit des Urteilsprozesses im Ethisch-Philosophischen. Wie schon im Verhältnis der Prinzipien des kompetenzgemäßen Urteils zum autorisierten Urteil, aber auch bei den anderen Prinzipien sind die Unterschiede zwischen der Urteilstheorie und der Urteilsphilosophie nicht messerscharf. Gleichwohl ist erkennbar, dass das urteilsphilosophische Prinzip auch in diesem Fall die konkretere juristische Technizität und Griffigkeit des urteilstheoretischen methodisch abstrahiert. Das urteilsphilosophische Prinzip der Urteilsautonomie konkretisiert zur gleichen Zeit das politisch-philosophische Prinzip der Balances, d. h. die Forderung der deliberativen Demokratie nach Symmetrie in Bezug auf sämtliche politische Strukturen und Prozesse. Das politisch-philosophische Prinzip der deliberativen Demokratie, das in der Moralphilosophie als Prinzip der Chancengleichheit im Diskurs aufwartet, stellt dar, was in der Verfassungstheorie den demokratischen Teilgehalt der Gewaltenteilung verkörpert. Es erinnert daran, dass deliberative Teilprozesse kein selbstgenügsames Einzeldasein fristen, sondern sich als Verfahrensabschnitte in einen umfassenden politischen Deliberationsprozess eingliedern. Dazu gehören auch juristische Deliberationen. Ob bereits qualifiziert strittige Jurisdiktionsprozesse oder noch relativ unstrittige Verfahren anderer Rechtskonkretisierungen – sie bilden insgesamt den vorläufigen Endpunkt des administrativen Machtstroms vom politischen Zentrum her. Weil aber die Legitimität des politischen Prozesses insgesamt u. a. nur dann gewahrt werden kann, wenn seine Strukturen und Prozesse gleichmäßig eingerichtet sind, muss sich diese Forderung auch auf die juristische Deliberation ausdehnen. Auch in der deliberativen Judikation kommt daher das freiheitliche Anliegen der deliberativen Demokratie nach Symmetrie zur Geltung. Aus der Sicht des Einzelprozesses bedeutet das die Freiheit, im Verhältnis zu den anderen Judikations- und sonstigen politischen Prozessen autonom verfahren zu dürfen. „3b“: Aber auch das Prinzip der Urteilsautonomie kann nicht richtig verstanden werden, wenn es nicht im Zusammenhang mit dem ihm gegenüberstehenden Prin-
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VII. Urteilsphilosophie: Deliberative Judikation
zip der „Urteilskontrolle“ betrachtet wird. Die Legitimation rechtlicher Urteile in formeller Hinsicht dem autonomen Urteilsverfahren allein zu überlassen, würde die deliberative Strukturierung der Judikation nur halbseitig vollziehen. Was in der urteilstheoretischen Konzeption der demokratischen Judikation daher etwa mit Rechtsweggarantien, Öffentlichkeitsgeboten und Begründungspflichten als die rechtsstaatliche Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes zu fordern ist, findet sich in der deliberativen Judikation abstrakter als eine Forderung nach einer wirksamen Kontrolle juristischer Urteile bzw. des Urteilsverfahrens wieder. Die Autonomie des jeweils greifenden Judikationsprozesses muss eine relative bleiben. Dass die jeweiligen Judikationsprozesse immer nur ein Glied eines umfassenderen Judikations-, sogar gesamthaften politischen Legitimationsprozesses sind, soll sich auch in den normativen Strukturen der Verantwortungsseite zeigen. Auf diese Weise rekonstruiert die Urteilskontrolle den rechtsstaatlichen Gedanken des Rechtsschutzes ethisch-philosophisch. Wie die Urteilskontrolle in einzelnen Rechtsordnungen juristisch auszugestalten ist, muss letztlich die politische Deliberation darüber zeigen. Wichtig ist, dass dieses Prinzip überhaupt berücksichtigt wird und einen wirksamen Gegenpol zum freiheitlichen Prinzip der Urteilsautonomie bildet. Schließlich kann das urteilsphilosophische Prinzip der Urteilskontrolle auch als eine Konkretisierung des deliberativ-demokratischen Prinzips der Checks, der Rechenschaftspflicht aller Macht, gesehen werden. Dieses Prinzip, das in der Verfassungstheorie den rechtsstaatlichen Teilgehalt des Gewaltenteilungsprinzips verkörpert (balances and checks), will ebenso in formeller Hinsicht verhindern, dass sich irgendeine Trägerin politischer Macht anmaßen kann, ohne Respekt vor der geschuldeten Verantwortung gegenüber dem Gesamtprozess zu handeln. Moralphilosophisch ist dieser Gedanke als diskursethisches Prinzip einer allgemeinen Begründungspflicht eingeführt worden. Diskursiv und deliberativ gesehen, ist das Recht zur chancengleichen Beteiligung am moralisch-politischen Argumentationsprozess immer nur eine Seite der Medaille. Freiheit ist auch formell gesehen immer nur dann legitim, wenn sie verantwortlich ausgeübt wird. Dieses Zusammenspiel von Freiheit und Verantwortung will das Prinzip der Urteilskontrolle zusammen mit dem Prinzip der Urteilsautonomie in Bezug auf die formellen Prozessstrukturen des rechtlichen Urteilens ausbuchstabieren. Wieder darf dabei auch das Verantwortungsprinzip kein Übergewicht gegenüber dem Freiheitsprinzip bekommen. Ganz im Sinne des integrativen Ansatzes, der diese gesamte Untersuchung begleitet, darf wieder weder das Prinzip der Urteilsautonomie noch das der Urteilskontrolle einen Vorrang beanspruchen. Bei der konkreten Ausgestaltung einer legitimen Rechts(urteils)ordnung gilt es, beiden Prinzipien gleichermaßen Rechnung zu tragen.
4. Demokratisches Recht im Kontext
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4. Demokratisches Recht im Kontext Mit der Ausarbeitung der Konzeption der deliberativen Judikation ist der gesamte (inter-)disziplinäre Anspruchsbereich abgearbeitet worden, der für das Ziel dieser Untersuchung, eine sowohl juristische als auch ethische Legitimation des Rechts in modernen Demokratien zu rekonstruieren, als notwendig erachtet worden ist34. In allen relevanten Disziplinen der Rechtsphilosophie und der Rechtstheorie, in der Moralphilosophie, der politischen Philosophie, der Urteilsphilosophie, der Verfassungstheorie und der Urteilstheorie (sowie in der juristischen Methodik) ist jeweils eine Konzeption erarbeitet worden, die nicht nur disziplinär überzeugen, sondern auch im interdisziplinären Zusammenhang mit den Konzeptionen der anderen Disziplinen eine kohärente Gesamtkonzeption ergeben soll. Ein solches interdisziplinäres Großvorhaben ist freilich nicht leicht zu überschauen. Auch wenn die disziplinären Tiefen dabei nicht gänzlich ausgeleuchtet werden, verleiten die disziplinären Teilsichten dennoch dazu, das interdisziplinäre Ganze jeweils aus den Augen zu verlieren. Weil die interdisziplinäre Gesamtsicht für die Absicht, Argumentation und Überzeugungskraft dieser Untersuchung aber von eminenter Bedeutung ist, soll in dieser letzten Kontextualisierung die interdisziplinäre Gesamtargumentation der vorliegenden Legitimationstheorie demokratischen Rechts knapp rekapituliert werden. Dazu wird (1) die Konzeption der deliberativen Judikation im Nachgang der einzelnen disziplinären Schritte dieser Untersuchung nochmals eingeordnet und werden (2) die hier über die verschiedenen Disziplinen hinweg erarbeiteten Prinzipien nochmals ins Gesamtbild dieser Untersuchung gesetzt werden. (1) Die Konzeption der deliberativen Judikation ist nicht das Ziel dieser Untersuchung. Im argumentativen Kontext der Gesamtkonzeption ist sie eine disziplinäre Konzeption neben anderen, deren Überzeugungskraft sich nicht nur disziplinär, sondern auch im interdisziplinären Zusammenspiel mit den anderen Konzeptionen erschließt. Das Ziel dieser Untersuchung ist eine Legitimationstheorie des demokratischen Rechts, die nicht nur in juristischer und nicht nur in ethischer Perspektive, sondern aus der Sicht beider Disziplinen überzeugt. Um dafür von dem über lange Zeit eingelagerten Wissen der täglichen juristischen Legitimationspraxis von Anfang an profitieren zu können, wurde in einem ersten Schritt auf die Rechtswissenschaft zurückgegriffen, die dabei auf die Lehren der juristischen Methodik, des zentralen Reflexionsorts der juristischen Rechtfertigungspraxis, lenkt. Die Konzeption der strukturierenden Rechtslehre hat dann gezeigt, wie die juristische Rechtsarbeit als Konstruktionshandwerk von Rechts- und Entscheidungsnormen, die Judikation im demokratischen Rechtsstaat, unter realistischen Bedingungen juristisch legitimiert werden kann.35 Diese Legitimität stützt sich jedoch auf Voraussetzungen, die die strukturierende Rechtslehre aus ihrem disziplinären Anspruch heraus ab einem gewissen Punkt nicht mehr hinterfragen kann. 34 Zur Rechtfertigung der Konzentration auf die Disziplinen der Rechtstheorie und der Rechtsphilosophie III. 3. c). 35 I. 1. bis I. 2.
474
VII. Urteilsphilosophie: Deliberative Judikation
Abbildung 30: Demokratisches Recht im Kontext
Was den Abstraktionsgrad angeht, bleibt sie an den Grenzen der Verfassungstheorie (und, wie inzwischen gesehen, der Urteilstheorie und Urteilsphilosophie) stehen. Ferner konnte aber auch gezeigt werden, dass eine über die rechtswissenschaftliche Legitimationssicht hinausgehende, ethische Legitimation des demokratischen Rechts nicht von vornherein (systemtheoretisch) ausgeschlossen werden kann.36 In einem zweiten Schritt wurde der juristischen Legitimationskompetenz dann die Kernkompetenz der Ethik im abstraktesten moralphilosophischen Feld des ethisch-juristischen Kommunikationsraums gegenübergestellt. Mit diesem disziplinären Blickwechsel von der Jurisprudenz zur Ethik wurde das Schwergewicht nicht nur in methodischer Hinsicht ins Abstrakte verlegt, sondern auch in thematischer. In thematischer Hinsicht wurde die vornehmliche juristische Konzentration auf die Judikation aufgegeben und das Recht als universelle Rechtfertigungspraxis, als Justifikation, in den Blick genommen. Nach einigen moralphilosophischen Grundsatzdiskussionen konnte dabei die Diskursethik als die Konzeption herausgearbeitet werden, die den moralischen Standpunkt auf nachmetaphysischem Begründungsniveau am überzeugendsten expliziert.37 Der anschließende Versuch jedoch, die Diskursethik direkt mit dem aus der Jurisprudenz bekannten Problem der Judikation zu verbinden, hat sich sodann als aussichtslos erwiesen.38 36 37 38
I. 3. II. 1. bis II. 2. II. 3.
4. Demokratisches Recht im Kontext
475
Das ergab nun, dass einerseits eine rechtswissenschaftliche Legitimationskonzeption vorhanden war, die zwar imstande ist, Rechtsurteile unter demokratischrechtsstaatlichen Bedingungen juristisch zu legitimieren, und andererseits zugleich eine überzeugende moralphilosophische Konzeption zur Hand war, die die Legitimationspraxen zwischenmenschlicher Ordnung überhaupt rechtfertigen kann, beide jedoch von sich aus nicht in der Lage waren, den Zusammenhang zwischen ihnen deutlich zu machen. Die Situation, die vorlag, war eine juristische Legitimation des Rechts auf der einen Seite und eine ethische Legitimation des Rechts auf der anderen Seite. Was aber nicht vorlag, war eine sowohl juristische als auch ethische Legitimation demokratischen Rechts. D. h., dass zwei offenbar je disziplinär überzeugende, aber disziplinär differente Konzeptionen vorhanden waren, die beide je einen Aspekt des hier verfolgten interdisziplinären Vorhabens erfüllten, aber noch keinen überzeugenden Gesamtzusammenhang darstellten. Dabei fehlte den Konzeptionen nicht nur in methodischer Hinsicht, sondern auch in thematischer Hinsicht jeweils das, was die jeweils andere Konzeption gerade ausmachte. Während die juristisch-methodische strukturierende Rechtslehre zwar in Bezug auf rechtliche Urteile im Einzelfall eine starke Seite hatte und noch vereinzelte Bezüge zur demokratischen Rechtskultur als ganze erkennen ließ, fehlte es ihr jedoch an einer moralischen Orientierung. Die Diskursethik dagegen konnte sich zwar auf ihre Überzeugungskraft in Bezug auf die Legitimationsproblematik schlechthin berufen, ließ über diese universellen Bezüge hinaus jedoch konkretere rechtskulturelle oder gar situationelle Bezüge zu spezifischen Entscheidungsfindungsprozessen vermissen. Spätestens an diesem Punkt dieser Untersuchung wurde die Notwendigkeit deutlich, dass nicht nur disziplinär, sondern auch interdisziplinär gearbeitet werden muss. Es galt ab sofort, Jurisprudenz und Ethik zu integrieren. Weil allerdings der Versuch, Rechtswissenschaft und Ethik von einer Feldherrenstellung der Moralphilosophie aus miteinander zu verschwistern, misslingen musste,39 musste die Frage, wie Interdisziplinarität richtigerweise praktiziert werden sollte, zumindest ansatzweise eigens reflektiert werden. Heraus kam dabei, dass die interdisziplinäre Zusammenarbeit nicht zu einer Verwischung der gerechtfertigten disziplinären Eigenheiten führen darf, sondern dass es vielmehr geboten ist, die interdisziplinäre Gesamtkonzeption auf faire Weise so zu gestalten, dass sie sowohl jeweils disziplinär als auch im interdisziplinären Zusammenhang überzeugt.40 Es bedarf einer disziplinengerechten Integration, die die spezifischen thematischen und methodischen Anspruchsbereiche der beteiligten Disziplinen respektiert. Eine differenzierte Analyse des interdisziplinären Kommunikationsraums, den die Jurisprudenz und die Ethik zu gleichen Teilen ausfüllen, konnte dann veranschaulichen, dass juristische Methodik und Moralphilosophie nicht einfach beziehungslos nebeneinanderliegen, sondern dass sie jeweils Felder eines interdisziplinären Kom39 40
III. 1. III. 2.
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VII. Urteilsphilosophie: Deliberative Judikation
plexes darstellen, der sich mithilfe verschiedener thematischer und methodischer Abstraktionsstufen – der Judikation, der Konstitution und der Justifikation einerseits und des Dogmatischen, des Theoretischen und des Philosophischen andererseits – differenzieren und strukturieren lässt.41 Aus dieser Sicht auf den ethischjuristischen Kommunikationsraum legen sich zwischen die juristische Methodik und die Moralphilosophie die Urteilstheorie und die Urteilsphilosophie, die Verfassungstheorie und die politische Philosophie. In all diesen Disziplinen sollten daher Konzeptionen erarbeitet werden, aus denen im Zusammenhang schließlich eine interdisziplinäre Legitimation demokratischen Rechts entsteht. Auf der Grundlage dieses dritten, weitgehend selbstreflexiven Zwischenschritts musste es im Folgenden mindestens gelingen, einen argumentativen Kontext herzustellen, der ein lückenloses Verbinden der Konzeptionen der juristisch-methodischen strukturierenden Rechtslehre und der moralphilosophischen Diskursethik erlaubt. Das zu diesem Zweck gewählte Prozedere42 ging von der (ethischen) Moralphilosophie zur (ethischen) politischen Philosophie über die (juristisch-ethische) Verfassungstheorie zur (juristisch-ethischen) Urteilstheorie, die im Verbund mit der Verfassungstheorie wiederum hinreichend an die strukturierende juristische Methodik anschließen konnte. Die entwickelten Konzeptionen dieser Disziplinen waren in der genannten Reihenfolge im vierten Schritt die deliberative Demokratie43, im fünften Schritt der demokratische Rechtsstaat44 und im sechsten Schritt die demokratische Judikation45. Auf diesem Weg gelang es bereits, die Diskursethik und die strukturierende Rechtslehre kohärent aneinanderzufügen. Gewonnen war dadurch ein interdisziplinärer Legitimationskontext, mit dem schrittweise nicht nur Rechtsurteile im Einzelfall und die universelle Rechtspraxis im Ganzen, sondern auch die sie verbindende (hier: demokratische) Rechtskultur – je für sich und im Zusammenhang miteinander – gerechtfertigt werden konnten. Auf dem beschriebenen Weg von der moralphilosophischen Diskursethik zur urteilstheoretischen demokratischen Judikation wurde die Konzeption der deliberativen Judikation noch gar nicht angetroffen. Als Konzeption der Urteilsphilosophie lag sie gewissermaßen noch abseits des Wegs. Ihr Einbezug war für die Vervollständigung des ethisch-juristischen Gesamtbildes aber nicht nur hilfreich, sondern sogar von kardinaler Bedeutung.46 Als urteilsphilosophische Konzeption im zugleich konkretesten thematischen und abstraktesten methodischen Bereich war die Konzeption der deliberativen Judikation besonders dazu geeignet, den zuvor erarbeiteten Argumentationskontext noch zusätzlich zu festigen. Denn wenn die interdisziplinäre Einarbeitung der urteilsphilosophischen Konzeption in das noch nicht 41 42 43 44 45 46
III. 3., insb. III. 3. b). III. 3. c). Kapitel IV. Kapitel V. Kapitel VI. Dieses Kapitel VII.
4. Demokratisches Recht im Kontext
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ausgefüllte Anspruchsfeld „zwischen“ der urteilstheoretischen demokratischen Judikation und der politisch-philosophischen deliberativen Demokratie gelingt, verbreitert das nicht nur den erschlossenen Legitimationsraum. Wenn sich die deliberative Judikation kohärent in den bisherigen Gesamtzusammenhang interdisziplinär einfügen lässt, dann indiziert das auch die interdisziplinäre Kohärenz der bereits geschaffenen Verbindung zwischen der deliberativen Demokratie (bzw. der Diskursethik) und der demokratischen Judikation durch den demokratischen Rechtsstaat. Zur Folge hat dies wiederum eine Kohärenzwirkung zugunsten der deliberativen Judikation und der legitimatorischen Gesamtkonzeption als ganze. Freilich steht diese aber nicht insgesamt unter dem Titel der deliberativen Judikation. Die sich zu einer interdisziplinären zusammenfügende Legitimationstheorie demokratischen Rechts setzt sich nach dem hier vertretenen Interdisziplinarität-Konzept der praktischen Integration aus den Einzelkonzeptionen zusammen (differenzierte Einheit). Darin bildet die Konzeption der deliberativen Judikation ein Versatzstück. (2) Interdisziplinär zusammengehalten werden die verschiedenen disziplinären Einzelkonzeptionen dieser Untersuchung von einer diskursiven oder deliberativen Struktur. Es ist die diskursive Idee, dass legitimes Recht in der fundamental gleichberechtigt erwirkten Zustimmung aller Betroffenen gründet, die den legitimatorischen Leitgedanken dieser Untersuchung abgibt. Im Laufe der Untersuchung sollte klargeworden sein, dass das (moralphilosophische) Moral- bzw. Diskursprinzip in den verschiedenen Disziplinen ein unterschiedliches Gesicht erhält. Vom Feld der Moralphilosophie aus gesehen, gilt es, die moralischen Prinzipien legitimer Rechtsproduktion zu konkretisieren. Die moralphilosophische Diskursethik muss sich bewusst werden, dass sie als moralphilosophische Konzeption im Abstraktum philosophischer Justifikation verbleibt. Auch ihre abstrakte Geltung kann sie im interdisziplinären Gesamtzusammenhang aber nur unter Beweis stellen, wenn es ihr gelingt, ihre abstrakte Logik auch in anderen disziplinären Anspruchsbereichen, und im interdisziplinären Kommunikationsraum dieser Untersuchung heißt das: im Konkreten, zu kontextualisieren. Sie muss sich auf die verschiedenen thematischen und methodischen Niveaus der Konstitution und der Judikation, der Philosophie, der Theorie und der Dogmatik einlassen und die konkreteren Kontexte je disziplinengerecht verarbeiten. Auf diese Weise ist es dann möglich, das in der Moralphilosophie erarbeitete Set diskursiver Prinzipien interdisziplinär weiterzuentwickeln. Die hier herausgearbeiteten Prinzipien folgen über die verschiedenen Disziplinen hinweg jeweils einer dreifachen Doppelstruktur. Die Doppelstruktur der PrinzipienSets impliziert, dass jeweils ein Prinzip immer den Grundgedanken der Freiheit vertritt und sich jeweils ein anderes immer am entgegengesetzten Leitgedanken der Verantwortung orientiert. In den rechtstheoretischen Disziplinen spannt sich das normative Spannungsfeld zwischen den Leitprinzipien der Demokratie und des Rechtsstaats auf. Diese Antithetik, dieses paradoxe Gegeneinanderspannen ist den jeweiligen Konzeptionen inhärent. Es bringt zum Ausdruck, dass eine Seite nie ohne die andere zu haben ist, d. h. Freiheit immer mit Verantwortung einhergehen muss
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VII. Urteilsphilosophie: Deliberative Judikation
und die Demokratie immer mit dem Rechtsstaat und umgekehrt. Diese legitimatorische Antithetik ist nicht als Alternativität zu missverstehen. Eine Wahl zwischen Freiheit und Verantwortung, zwischen Demokratie und Rechtsstaat gibt es nicht. Die Frage ist jeweils nur, wie sich Freiheit und Verantwortung, Demokratie und Rechtsstaat im gegenseitigen Verhältnis ausprägen. Wichtig ist dabei, dass, obschon gegensätzlich ausgerichtet, stets beide Prinzipien gleichermaßen zum Zug kommen. Die in diese Doppelstruktur eingelassene Dreigliederung soll außerdem dazu beitragen, die legitimatorischen Forderungen der Prinzipien-Sets möglichst umfassend, aber übersichtlich zu strukturieren. Sie bezieht sich jeweils auf den strukturellen, den materiellen und den formellen Aspekt.47 Unter dem strukturellen Aspekt soll dabei jeweils das grundsätzliche legitimatorische Kernanliegen verdeutlicht werden. Unter dem materiellen Aspekt soll vorrangig normiert werden, auf welche Weise den diskursiven oder deliberativen Verfahren ihre Inhalte zugeführt werden. Und unter dem formellen Aspekt soll das besondere Augenmerk darauf gerichtet werden, wie in Bezug auf die interne und gegenseitige Verfahrensstruktur der Rechtfertigungsprozeduren legitimerweise zu verfahren ist. So arbeiten sich die verschiedenen hier entwickelten Konzeptionen aus ihrer jeweiligen disziplinären Perspektive an ihren Prinzipien ab. Die Weiterentwicklung eines Prinzipien-Sets durch eine andere Konzeption hilft auch dabei, die spezifische disziplinäre Perspektive einer weiteren Konzeption zu treffen. Maßgeblich dafür ist die disziplinäre Situierung der einzelnen Konzeptionen im interdisziplinären Kommunikationsraum, die sich aus der spezifischen Kreuzung von Thema und Methode ergibt. Korrekt abgebildet, dürften die Prinzipien wie im folgenden Schaubild und in allen anderen Schaubildern zu diesen Prinzipien gar nicht „nebeneinander“ liegen. Die Prinzipien müssten im Grunde in den hier durchgehend verwendeten Disziplinenraster eingeordnet werden. Die gewählte Darstellungsform der jeweiligen Prinzipien-Sets gewährt aber immerhin einen Überblick über die hier entwickelten Prinzipien der einzelnen Konzeptionen im Gesamtzusammenhang.48 47 Vgl. dazu das bereits erläuterte Verhältnis zum aristotelischen Kanon von Prozess, Produktion und Prozedur: II. 2. b), (3). 48 Vgl. zum nachfolgenden Überblick die jeweils in den Einzeldisziplinen entwickelten Prinzipien-Sets: II. 2. b), (3) (Diskursethik); IV. 3. c) (deliberative Demokratie); V. 3. c) (demokratischer Rechtsstaat); VI. 3. c) (demokratische Judikation); und VII. 3. c) (deliberative Judikation). Anzumerken ist, dass im Laufe dieser Untersuchung, von den interdisziplinaritätstheoretischen Zwischenüberlegungen und dem entsprechenden Konzeptionsentwurf der diskursiven Interdisziplinarität in III. 2. abgesehen, nicht fünf, sondern insgesamt sechs disziplinäre Konzeptionen ausgearbeitet worden sind. Dass die strukturierende Rechtslehre als juristisch-methodische Konzeption im nachfolgenden Prinzipien-Überblick nicht vorkommt, liegt nicht nur daran, dass hier für sie gar keine Prinzipien ausgearbeitet worden sind, sondern auch daran, dass sie „für“ sie gar nicht herausgearbeitet werden können. Wie hier mehrfach dargelegt und veranschaulicht, handelt es sich bei der juristischen Methodik nicht um ein thematisch-methodisch scharf strukturiertes Feld, sondern um einen offeneren Reflexionsort, der sich über mehrere Disziplinen hinweg erstreckt. Die entsprechenden ihr zuzuschreibenden Prinzipien sind daher in den Feldern der Verfassungstheorie, der Urteilstheorie und der Urteilsphilosophie zu suchen.
Konzeption
4. Demokratisches Recht im Kontext
Deliberative Judikation
Demokratische Judikation
Demokratischer Rechtsstaat
Autorisiertes Urteil
Kompetenzgemäßes Urteil
Volkssouveränität
DiskursOffenheit
Offenheit der Deliberation
Offenenheit des Urteils
Prozesslegitimation (Legitimität durch den Prozess)
Verfahrenslegitimation (Legitimität durch Verfahren / Legalität I)
Diskursive Chancengleichheit
Balances (politische Symmetrie)
Urteilsautonomie
Unabhängigkeit Institutionensymmetrie des Urteils(Gewaltenprozesses teilung I)
Reziprozität (Gegenseitigkeit)
Gleichberechtigung (Freiheit und Gleichheit)
Faires Verfahren
Prozessgarantien
Grundrechte
DiskursGebundenheit
Gebundenheit der Deliberation
Gebundenheit des Urteils
Gesetzmäßigkeit des Urteils
Gesetzesbindung (Legalität II)
Begründungspflicht
UrteilsChecks (Rechenschafts- kontrolle pflicht aller Macht)
Rechsschutz
Verantwortlichkeit (Gewaltenteilung II)
Moralischer Diskurs (Justifikation)
Politische Deliberation (Konstitution)
Juristische Deliberation (Judikation)
Public Judication
Public Governance
„Verzahnt von oben nach unten“: 1a, 1b, 2a, 2b, 3a, 3b
Dito
Dito
Dito
Dito
Struktureller Aspekt Freiheit
Materieller Aspekt
2a
Formeller Aspekt
3a
Materieller Aspekt
2b
Formeller Aspekt
3b
Verantwortung
Struktureller Aspekt
1b
¨ berblick Abbildung 31: Die Prinzipien der disziplina¨ren Konzeptionen im U
Rechtsstaat
Zustimmung aller Betroffenen
1a
Demokratie
Einigung (Konsens)
Adressat
Deliberative Demokratie
Leserichtung
Diskursethik
479
480
VII. Urteilsphilosophie: Deliberative Judikation
Die Einladung zum Überblick soll jedoch nicht vergessen machen, dass sich der spezifische Charakter der Prinzipien und der Konzeptionen insgesamt aus der jeweiligen disziplinären Anlage ergibt. Die Diskursethik als moralphilosophische Konzeption besitzt von allen Konzeptionen den insgesamt höchsten Abstraktionsgrad. Sie bezieht sich ethisch-philosophisch auf das Recht als die Ordnung des zwischenmenschlichen Zusammenlebens schlechthin, als Justifikation. Ihr Adressat ist der moralische Diskurs. Die deliberative Demokratie behält den ethisch-philosophischen Anspruch zwar bei, konkretisiert die universelle Justifikation dabei aber als demokratisches Recht, als demokratisch-kulturelle Konstitution einer beliebigen, aber in Raum und Zeit versetzten demokratischen Gesamtordnung. Sie adressiert den demokratischen politischen Diskurs oder die demokratisch-politische Deliberation. Diese thematische Konkretisierung bei weiterhin ethischem methodischem Anspruch führt die deliberative Judikation noch weiter, indem sie sich innerhalb der demokratischen Rechtskultur auf den speziellen situationellen Handlungsprozess der Judikation konzentriert. Sie bezieht sich auf den juristischen Diskurs oder die juristische Deliberation. Nicht in thematischer, sondern in methodischer Hinsicht konkreter wird dann die demokratische Judikation. Sie richtet ihre legitimatorische Logik beim gleichen situationellen Themenbereich der Judikation mit stärkerer juristisch-institutioneller Technizität und Griffigkeit am juristisch-ethischen Methodenanspruch der Rechtstheorie aus. Adressat ihrer juristischethischen Strukturierung ist die Public Judication. Der demokratische Rechtsstaat schließlich teilt diesen Methodenanspruch des juristisch-ethischen Hybridbereichs, weitet den Fokus in thematischer Hinsicht aber wieder auf die demokratische Politik als ganze aus. Sein Adressat ist die gesamte Public Governance einer demokratischen Rechtsordnung. Bei alledem kann kaum deutlich genug betont werden, dass die hier eingeschlagene Entwicklungsrichtung der jeweiligen disziplinären Prinzipien-Sets, sowohl die soeben dargelegte als auch die des Gangs der Untersuchung, nicht von entscheidender Bedeutung sein sollte. Die Erarbeitung und Darstellung der verschiedenen Prinzipien-Sets hätte auch durchaus in anderen Richtungen erfolgen können. Zudem darf der Status dieser Prinzipien oder Prinzipien-Sets insgesamt nicht überbewertet werden. Es ist nicht so, dass diese Prinzipien die jeweiligen Konzeptionen „sind“ oder „verkörpern“. Es wird hier auch nicht behauptet, dass die jeweils geforderten Prinzipien die rekonstruierten Konzeptionen umfassend und abschließend auf den Punkt bringen würden. Die in den verschiedenen Disziplinen herausgearbeiteten Prinzipien-Sets stellen lediglich, aber immerhin eine (hier allerdings begründete) Möglichkeit dar, den jeweiligen Konzeptionen eine überschaubare, strukturierte Gestalt zu geben. Diese Darstellung könnte möglicherweise auch anders oder mit anderen Schwerpunktsetzungen ebenso zutreffend sein. Indem sie sich hier über die verschiedenen disziplinären Einzelkonzeptionen als Gesamtkonzeption hindurchziehen, bieten sie aber einen Ansatzpunkt, anhand dessen die geforderte (interdisziplinäre) Kohärenz dieser Untersuchung nachvollzogen und überprüft werden kann. Insofern bilden die Prinzipien der Diskursethik, der delibe-
5. Zusammenfassung
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rativen Demokratie, des demokratischen Rechtsstaats, der demokratischen und der deliberativen Judikation nicht nur disziplinäre Forderungen, sondern auch immanente Prüfkriterien einer interdisziplinären Theorie demokratischen Rechts.
5. Zusammenfassung Im letzten noch zu bearbeitenden, urteilsphilosophischen Feld dieser Untersuchung gilt es, den bisher erarbeiteten Argumentationszusammenhang zu einem ethisch-juristischen Gesamtbild zu vervollständigen. Als konzeptueller Einstieg in die Urteilsphilosophie bietet es sich an, den bereits in der juristischen Methodik diskutierten Judikationskonzepten des Legalismus, des Anti-Legalismus und der nun auf den Begriff gebrachten verantworteten Rechtskonstruktion eine klare disziplinäre Stellung zu geben. Es wird wiederholt betont, dass erst das nun als verantwortete Rechtskonstruktion bezeichnete Judikationskonzept das rechtliche Urteilen in seinen Funktions- und Legitimationsbedingungen adäquat einschätzt. Das rechtliche Judizieren ist weder, wie der Legalismus meint, als ein erkenntnislogisches oder verstehendes Anwendungsgeschehen einer bereits vor-gegebenen Gesetzesnorm noch, wie der Anti-Legalismus meint, als eine kaum oder gar nicht zu verantwortende Entscheidung zu sehen, in der die Rechtsgrundlage für die Urteilsperson lediglich ein lockeres Anschlussangebot darstellt. In modernen Demokratien bedeutet rechtliches Urteilen eine pflichtgemäß vorzunehmende Konkretisierung eines im höherstufigen Verfahren erlassenen Rechtstextes. Die Pflichtgemäßheit liegt dabei nicht in der Wahrnehmung einer wie auch immer gearteten persönlichen „Urteilskraft“, sondern sie ist wiederum an die Befolgung einer bestimmten, nämlich diskursiven Verfahrensstruktur geknüpft. Urteilsphilosophisch-soziologisch lassen sich Judikationsprobleme zu kommunikativen Krisen zuspitzen. Diese zwar aus der partiellen, aber paradigmatischen Perspektive auf die Judikation als Jurisdiktion gewonnene Erkenntnis lässt sich so erläutern, dass die sich in einem konkreten Rechtsstreit gegenüberstehenden Parteien nicht nur in ihren Sozialpraktiken, die sie schließlich zum Rechtsstreit gebracht haben, nicht verstehen. Sie verstehen auch dieselben Rechtstexte, auf die sie sich im Rechtsstreit jeweils berufen, in ganz unterschiedlicher, unverträglicher Weise. Für den Handlungsprozess, der den Ansatz für die Überwindung dieser kommunikativen Krise darstellt, liefert der semantische Kampf den treffenden Ausdruck. Die streitenden Parteien sind dazu aufgerufen, sich gegenseitig und die letztlich urteilende Gewalt von ihrer favorisierten Bedeutung des Rechtstextes argumentativ zu überzeugen. Der soziologische Sinn des semantischen Kampfs liegt darin, dass die mindestens latent vorhandene rohe Gewalt, die hinter dem Konflikt der Streitparteien lauert, in die sprachliche Gewalt der Argumentation gefaltet wird. Diese Transformation der Gewalt in sprachliche ist als eine Konkretisierung des gesamten Demokratieprozesses zu verstehen, wonach soziale Macht, bevor sie vom politischen Zentrum als administrative Macht in die Peripherie zurückgespült
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VII. Urteilsphilosophie: Deliberative Judikation
wird, in kommunikative Macht transformiert werden muss. Denn auch im Minimikro-Prozess der Jurisdiktion wird die sprachlich gefaltete Gewalt schließlich wieder als mindestens potenzielle (justizielle) Macht an die Streitparteien retourniert. Im etwas größeren Zusammenhang gibt sich der Judikationsprozess dann auch insgesamt wieder als ein abgestuftes kreisförmiges Filterverfahren zu erkennen. Als besonders herausfordernd gestaltet sich dann die Aufgabe, die urteilsphilosophische Konzeption legitimer Judikation, die hier im Anschluss an die Konzeption der deliberativen Demokratie deliberative Judikation genannt wird, nicht nur als kohärente methodische Abstrahierung der urteilstheoretischen Konzeption der demokratischen Judikation, sondern auch als kohärente thematische Konkretisierung der deliberativen Demokratie auszuführen. Der dafür verwendete Ansatz, die Judikation nun als Deliberation zweiter Ordnung zu begreifen, hat wiederum den Vorteil, die Judikation im Gesamtzusammenhang mit der Legislation bzw. der deliberativen Legislation (die hier nicht ausgearbeitet wird) als Konkretisierung der demokratischen Deliberation als ganze zu begreifen. Wieder am Beispiel des paradigmatischen Judikationsprozesses der Jurisdiktion werden daraufhin einige notwendige Konkretisierungen von der demokratischen Deliberation zur juristischen Deliberation exemplifiziert. So muss z. B. das Repräsentationsmodell im Jurisdiktionsverfahren erweitert und der judikative Entscheidungspaternalismus legitimiert werden, was aus einer erweiterten Perspektive auf den verfahrensmäßigen Gesamtzusammenhang aber geleistet werden kann. Das bietet auch Gelegenheit, den theoretischen Sinn des konkretisierenden Ansatzes nochmals zu vertiefen. Insgesamt lässt sich die Konzeption der deliberativen Judikation, nun wieder im normativen Spannungsfeld zwischen Freiheit und Verantwortung, als Abstrahierung der demokratischen Judikation ausarbeiten, wobei die gleichzeitige Vereinbarkeit mit der deliberativen Demokratie das Prüfkriterium bildet. Abschließend wird das demokratische Recht im Zusammenhang der hier ausgearbeiteten Konzeptionen nochmals kontextualisiert. Dafür werden die einzelnen disziplinären Schritte bis zur Entwicklung der Konzeption der deliberativen Judikation nochmals nachgegangen und in ihrer jeweiligen methodologischen Bedeutung ein weiteres Mal kurz reflektiert. Am Ende werden auch die hier in den einzelnen disziplinären Konzeptionen entwickelten normativen Prinzipien nochmals im Gesamtzusammenhang dargestellt und hinsichtlich ihrer Strukturierung erläutert. Die hier entwickelten Prinzipien sind als konzeptionell begründete Vorschläge einer diskursiven oder deliberativen Rechtsrekonstruktion zu verstehen, die auch als immanente Prüfkriterien für die interdisziplinäre Kohärenz dieser ethisch-juristischen Theorie demokratischen Rechts gelesen werden können.
Exkurs: Interdisziplinäre Rechtslegitimation und integrative Wirtschaftsethik Die dargelegte interdisziplinäre Theorie demokratischen Rechts verfolgt einen integrativen Ansatz. Ihr geht es darum, die Frage der Rechtslegitimation sowohl juristisch als auch ethisch überzeugend zu beantworten. Von juristischer Seite her gesehen, macht die Auseinandersetzung zwischen Jurisprudenz und Ethik so einen Vorschlag, wie die Rechtswissenschaft mit der Ethik verbunden, um diese bereichert oder auch wie die Ethik sozusagen in die Rechtswissenschaft integriert werden kann. Dabei blieb das Interesse dieser Untersuchung auf das Thema des (demokratischen) Rechts konzentriert. Nun finden sich solche Integrationsbemühungen auch auf anderen Gebieten. Namentlich im Themenbereich der Wirtschaft bzw. in den Wirtschaftswissenschaften bemüht sich Peter Ulrich um eine Integration von Wirtschaft und Moral, von Ökonomik oder Ökonomie, soll heißen Wirtschaftswissenschaft, und Ethik. In seinem Projekt der „integrativen Wirtschaftsethik“1 führt ihn das zu einer entsprechend vertieften Auseinandersetzung mit ökonomischen und ethischen Grundlagenargumentationen. Es hat also ganz den Anschein, als würde hier für das Recht das Gleiche oder etwas Ähnliches versucht wie das, was Ulrich seit einiger Zeit bereits für die Wirtschaft praktiziert. Aus diesem Grund drängt sich ein Blick in Ulrichs Theorie geradezu auf. Der abschließende Exkurs bietet dabei nicht nur Gelegenheit, das hier Konzipierte im Licht einer ausgefeilten etablierten Konzeption mit ähnlichen Absichten nochmals zu reflektieren. Der kommunikative Anschluss an die integrative Wirtschaftsethik bietet insbesondere auch Gelegenheit, den Sinn ethischer Integration nochmals schärfer zu konturieren. Schließlich kann der Exkurs zur Theorie Ulrichs auch dazu dienen, einige konzeptionelle Querbezüge zwischen der integrativen Wirtschaftsethik und der hier vorgetragenen interdisziplinären Rechtslegitimation herzustellen und so auch den Blick aufs Recht zumindest andeutungsweise auf die Wirtschaft zu erweitern. Ulrichs ebenso umfangreiche wie differenzierte Theorie der integrativen Wirtschaftsethik kann dafür freilich nicht in erschöpfender Weise aufgearbeitet werden. Sie soll aber (1) immerhin in den wichtigsten Zügen und mit Umfassend zuletzt Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), erste Auflage 1997. Inzwischen auch englisch und spanisch: ders. Integrative Economic Ethics (2008); ders., Ética Económica Integrativa (2008). Ferner etwa bereits die Habilitationsschrift ders., Transformation der ökonomischen Vernunft (31993); und ders. Zivilisierte Marktwirtschaft (2005). Darüber hinaus die zahlreichen Berichte des Instituts für Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen, unter verschiedener Autorschaft. Einen instruktiven Überblick über den St. Galler Ansatz der integrativen Wirtschaftsethik vermittelt Ulrich, Ethische Vernunft und ökonomische Rationalität zusammendenken (2002). 1
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Exkurs: Integrative Wirtschaftsethik
besonderem Blick auf ihre methodologische Anlage und mögliche Verbindungsstücke zur hier entwickelten Theorie legitimen Rechts nachvollzogen werden. Sodann werden im Anschluss daran (2) die integrative Wirtschaftsethik und die Theorie interdisziplinärer Rechtslegitimation in methodologischer Hinsicht miteinander verglichen und die jeweiligen Verständnisse von theoretischer Integration zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Zum Schluss wird (3) die integrative Wirtschaftsethik aus der Sicht der hier erarbeiteten Theorie demokratischen Rechts mit einigen ansetzenden Gedanken auch in inhaltlicher Hinsicht noch kurz beurteilt werden. (1) Am Anfang von Ulrichs wirtschaftsethischer Theorie steht der unbehagliche Befund, dass sich die Wirtschaft in der heutigen Wahrnehmung dem menschlichen Leben als ein System aufzwingt, zu dessen Logik es scheinbar keine Alternative gibt. Zugleich scheint aber auch allgegenwärtig, dass die Folgen, die das Wirtschaftssystem zeitigt, keineswegs, zumindest für alle, nur segensreich sind. Sich an den eigentlichen Zweck des Wirtschaftens, die Lebensdienlichkeit, also die Erhaltung und Beförderung des menschlichen Lebens, erinnernd, drängen sich Ulrich zunächst Zweifel daran auf, dass es in der Wirtschaft, wie sie sich derzeit präsentiert, mit rechten Dingen zugeht: „[I]n der Praxis und auch in der Theorie der modernen Marktwirtschaft tritt uns das, was ökonomische Sachlogik genannt wird, immer öfter als eine merkwürdig anonyme Sachzwanglogik entgegen, die zuweilen in augenfälligem Widerspruch zu unseren Intuitionen oder Leitideen vom guten Leben und gerechten Zusammenleben der Menschen steht: Sie macht die einen ,arbeitslos‘ und setzt die anderen, die noch im Markt sind, unter immer härteren Leistungsdruck. Sie steigert so unaufhörlich die ,Produktivität‘ oder was wir dafür halten und schafft es dennoch nicht, alle Menschen mit dem Notwendigen für ein menschenwürdiges Leben zu versorgen, weder in nationaler, geschweige denn in globaler Perspektive. Und sie bringt ein unaufhaltsames Wirtschaftswachstum hervor, das zwar einem Teil der Menschen einen hohen Konsumwohlstand verschafft, dessen Natur(un)verträglichkeit uns aber längst zum Dauerproblem geworden ist. Die ,moderne‘ ökonomische Sachlogik stellt unter dem Gesichtspunkt der Lebensdienlichkeit nicht die ganze ökonomische Vernunft dar.“2 Für diesen geradezu unwirtlichen Befund stellt Ulrich auch sogleich die Diagnose: „Was ihr [sc. der ökonomischen Vernunft] abgegangen ist, ist die ethische Dimension vernünftigen Wirtschaftens.“3 Ulrich vermutet also, dass das heutige Wirtschaften im wörtlichen Sinne unfair spielt. D. h., dass mit den interpersonellen Prozessen des Wirtschaftssystems normative Geltungsansprüche erhoben werden, die aber weder überhaupt oder hinreichend reflektiert noch als solche ausgewiesen werden. Statt dabei einfach an den behaupteten Sachzwang des Wirtschaftssystems zu glauben, will Ulrich seiner Vermutung nachgehen und dem bedingungslosen Gebärden des „Systems Wirtschaft“ kritisch auf den Grund leuchten: „Die Norma2 3
Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 11 f. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 12.
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tivität ist in der ökonomischen ,Sachlogik‘ immer schon drin – es gilt sie daher im ökonomischen Denken aufzudecken und im Lichte ethischer Vernunft zu reflektieren.“4 Damit steht auch bereits die erste Hauptstoßrichtung des wirtschaftsethischen Projekts fest: eine aufklärerische (emanzipatorische) Kritik der normativen Implikationen der verbreiteten Theorie und Praxis des Wirtschaftens („Mainstream Economics“5), die Ulrich nach einer gründlichen moralphilosophischen Vororientierung („Grundbegriffe moderner Ethik und der Ansatz integrativer Wirtschaftsethik“)6 als ersten Teil einer wirtschaftsethischen Grundlagenreflexion in Angriff nimmt und „Ökonomismuskritik“7 nennt. Ulrichs Anspruch geht allerdings weiter als das – allein schon bemerkenswerte – Unternehmen, die normativen Implikationen und Vermessenheiten aktueller Mainstream Economics ans Licht zu bringen. Über die Ökonomismuskritik hinaus will Ulrich auch ein konstruktives Modell legitimen Wirtschaftens anbieten. Zu diesem Zweck entwickelt er in Übereinstimmung mit seinen anfangs angestellten moralphilosophischen Vorüberlegungen eine Konzeption „[v]ernünftige[n] Wirtschaften[s] aus dem Blickwinkel der Lebenswelt“ als zweiten Teil einer wirtschaftsethischen Grundlagenreflexion, in der er den wahren Sinn und die Legitimität moderner Wirtschaft herausarbeiten will.8 Diese Konzeption vernünftigen Wirtschaftens konkretisiert Ulrich schließlich im Wege einer „[w]irtschaftsethische[n] Topologie“, in der die wichtigsten Aspekte legitimen Wirtschaftens („,Orte‘ der Moral des Wirtschaftens“) besprochen werden.9 In seinen moralphilosophischen Vorüberlegungen macht sich Ulrich in kantischer Tradition für einen universalistischen Standpunkt der Moral stark10 und zeichnet die Diskursethik als prinzipiell überzeugende Moralkonzeption aus11. Dabei stellt er heraus, dass die Diskursethik nicht konkretistisch missverstanden werden darf: „Die denknotwendige Unterstellung und regulative Idee der idealen Kommunikationsgemeinschaft stellt nichts anderes als die diskursethische Interpretation des Standpunkts der Moral dar.“12 Für Ulrich ist die Diskursethik „eine besondere Form der Explikation des allgemeinen Moral Point of View“.13 In einer tieferen Diskussion der diskursethischen Konzeption setzt sich Ulrich auch mit dem „Anwendungsproblem“ auseinander, insbesondere in der Hinsicht, wie es einerseits von Habermas und Günther, andererseits von Apel aufs Tapet gebracht wird. HaUlrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 13. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 12 u. ö. 6 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 21 – 135. 7 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 137 – 215. 8 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 217 – 308. 9 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 309 – 499. 10 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 21 – 57. 11 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 59 – 99. 12 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 84. 13 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 84; ähnlich ebd., S. 107. 4 5
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bermas’ und Günthers Trennung zwischen Begründungs- und Anwendungsdiskursen zieht Ulrich dabei in Zweifel. Ulrich kann nicht einsehen, warum es für die „Begründung“ und „Anwendung“ normativer Geltungsansprüche „prinzipiell ,andere Grundsätze‘“ benötigt, wie Habermas mit Günther behauptet14.15 Gerade weil die Logik der diskursethischen Legitimation ja davon lebe, dass auch die Kontexte und Folgen der problematischen Situation in jeden praktischen Diskurs mit einzubeziehen sind,16 wundert sich Ulrich darüber, dass diese nun erst in der „Anwendungssituation“ zur Geltung kommen sollen.17 Ulrich wittert bei dieser Aufspaltung der Diskurse legitimatorische Abstriche, insofern Gefahr gelaufen werden könnte, „Anwendungsdiskurse“ unter dem Titel der Angemessenheit und der Berücksichtigung sämtlicher Situationsmerkmale nicht mehr konsequent dem Anspruch personeller Reziprozität zu unterstellen.18 Für ihn sind sämtliche praktischen Diskurse deshalb weiterhin als „Begründungs-“ bzw. „Zumutbarkeits-“ oder „Verantwortbarkeitsdiskurse“ zu betrachten.19 Für noch problematischer als die günthersche Anwendungsthese hält Ulrich Apels Vorstellung von der „Realisierung der Anwendungsbedingungen der Diskursethik“20.21 Er moniert, Apel unterliege „einem latenten konkretistischen (Selbst-) Missverständnis“ (bzw. „pragmatistischen Kurzschluss“)22 und argumentiert für den konsequent kontrafaktischen und lediglich regulatorisch-ideellen Status moralischer Diskursbedingungen.23 Auf den explikativen Sinn der Diskursethik für den moralischen Standpunkt verweisend, stellt sich für Ulrich in der Diskursethik gar keine „Anwendungs“frage und laufen sämtliche Versuche, präsituative Diskursergebnisse im Nachhinein „anzuwenden“, grundsätzlich in eine falsche Richtung.24 Apels sog. Teil B hält Ulrich insgesamt entgegen, dass er das (faktisch) Mögliche mit dem (normativ) Notwendigen verwechselt. Bei den von Apel unterstellten Situationen scheinbar fehlender Verständigungsmöglichkeit handle es sich in den meisten Fällen nämlich um Situationen fehlender Verständigungsbereitschaft.25 Um diskursethisch legitim zu verfahren, bedürfe es daher keines zusätzlichen verantwortungsethischen „Ergänzungsprinzips“, sondern vielmehr der Übernahme Habermas, Lawrence Kohlberg und der Neoaristotelismus (1991), S. 95. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 105. 16 Habermas, Treffen Hegels Einwände zu? (1991 [1986]), S. 23. 17 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 105. 18 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 106. 19 Hierzu Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 106 / 170. Der Begriff des Zumutbarkeitsdiskurses ist Thielemann, Das Prinzip Markt (1996), S. 288 ff., entnommen. 20 Apel, Diskurs und Verantwortung (1988), S. 134. 21 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 106 f. 22 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 95, Fn. 134. 23 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 107, insb. Fn. 17. 24 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 107 f. 25 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 93. 14 15
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diskursethisch ohnehin schon geforderter moralischer Verantwortung26 in sämtlichen „Anwendungssituationen“, die nach Ulrich je nach den „Voraussetzungen der Verständigungsgegenseitigkeit“ real, (gedankenexperimentell) fiktiv oder institutionell zur Geltung kommen sollen.27 Ulrichs Weg, die Diskursethik für die konkreten Probleme legitimen Wirtschaftens in institutioneller Hinsicht fruchtbar zu machen, führt über das Konzept der Öffentlichkeit („Der öffentliche Diskurs als der ,Ort‘ der Moral in der modernen Gesellschaft“).28 Mit der Diskursethik fordert er „die prinzipielle Öffnung gesellschaftlicher Verständigungsverhältnisse“29 in einem möglichst idealen, machtneutralisierenden Sinn: „Es geht also praktisch darum, in der je realen Kommunikationsgemeinschaft bestmöglich institutionelle Rahmenbedingungen zu verwirklichen, die an der regulativen Idee der idealen Kommunikationsgemeinschaft orientiert sind. Der ideale Diskurs als solcher entzieht sich einer unmittelbaren Institutionalisierung; er ist als jene (prinzipiell nicht herstellbare) gedankliche ,Meta-Institution‘ zu begreifen, die als kritisches Regulativ für praktische Bemühungen zur argumentationsförderlichen Gestaltung gesellschaftlicher Verständigungsverhältnisse dient.“30 Institutionelle politische Prozesse gelte es, „im Lichte“ der regulativen Idee einer „unbegrenzten kritischen Öffentlichkeit aller mündigen Personen“, die für Ulrich immer eine regulative Idee bleiben muss,31 „zu gestalten“.32 Das „Testkriterium“ für die Legitimität der sich diesem Ideal entgegenstellenden – ihrerseits nur öffentlich begründbaren – teilweisen institutionellen Schließungen sei dabei, ob die Geschlossenheit der politischen Institutionen durch überzeugendere Argumente auch wieder aufgehoben werden kann.33 Auf diese Weise lässt sich für Ulrich „immerhin eine regulative Idee ethisch-rationaler Politik“ formulieren, die „die besten Intuitionen und Leitideen moderner politischer Ethik“ nach dem Vorbild demokratischer Verfassungen in sich trägt.34 Im Anschluss an diese vorläufige Richtungsbestimmung diskursethisch legitimer Verhältnisse bestimmt Ulrich den adäquaten Ansatz für das Zusammenführen von wirtschaftlicher Bereichsperspektive und ethischer Legitimation. Als „Vernunftethik des Wirtschaftens“ 35 versteht Ulrich Wirtschaftsethik weder als „angewandte Ethik“ in dem Sinn, dass im quasi naturgesetzlich vor sich gehenden, an sich nicht beeinflussbaren Wirtschaftsbereich Ethik, wo eben möglich, ergänzend 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35
Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 90 f. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 94. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 95 – 99. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 96. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 95. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 96. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 96. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 97 f. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 98. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 101 u. ö.
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bzw. korrigierend noch hinzukommen müsste,36 noch als „normative Ökonomik“, nach der gerade das meist stillschweigende Marktprinzip37 als normativ legitim herauszustellen wäre38. Ulrich meint, dass beide Ansätze entweder zu einseitig aus der Sicht der Ethik (angewandte Wirtschaftsethik) oder zu einseitig aus der Sicht der Ökonomik (normative Ökonomik) vorgehen und die jeweils andere – gebotene – Sicht nur unzureichend reflektieren.39 Sein Vorschlag geht deshalb dahin, die jeweilige disziplinäre Beschränktheit der beiden Ansätze mithilfe eines integrativen Ansatzes zu durchbrechen, wobei der entscheidende Ansatzpunkt für Ulrich zunächst in der Aufdeckung des Normativen im Ökonomischen liegt: „Es ist also der normative Gehalt der ökonomischen Rationalität selbst, den es kritisch zu ergründen und zu erhellen gilt. Von da aus müsste es gelingen, die ethische Vernunft in eine umfassende regulative Idee vernünftigen Wirtschaftens zu integrieren. So und nur so kann die Zwei-Welten-Konzeption von Ethik und Ökonomik an der Wurzel überwunden und Wirtschaftsethik als Vernunftethik des Wirtschaftens konzipiert werden – eine Aufgabenstellung, die allerdings ein vertieftes Verständnis des Economic Approach sowie der Dogmengeschichte ökonomischen Denkens ebenso voraussetzt wie ein tragfähiges Verständnis des vernunftethischen Moral Point of View. Die erstgenannte disziplinäre Anforderung sprengt die Kompetenz der ,reinen‘ Philosophie, die zweite jene der ,reinen‘ Ökonomik [ . . . ].40 Mit dem Ansatz der integrativen Wirtschaftsethik gibt Ulrich seiner anfänglichen Vermutung, die ökonomische Rationalität, wie sie heute gemeinhin verstanden wird, verdecke ihre unzureichend reflektierten normativen Ansprüche, auch ein methodologisches Programm. Die nachfolgende Ökonomismuskritik stellt so, also als ökonomische Selbstkritik, die eine von zwei Seiten einer interdisziplinären Gesamtkonzeption dar. Die Ökonomismuskritik, in der Ulrich gewissermaßen die Haltung eines selbstkritischen Ökonomen einnimmt, erfolgt in zwei Etappen. In der ersten Etappe stellt Ulrich die vermeintliche wirtschaftswissenschaftliche Wertfreiheit und Neutralität auf den Prüfstand („Kritik des ökonomischen Determinismus“).41 In seiner auch ideengeschichtlich nachvollzogenen42 Analyse der marktwirtschaftlichen Wettbewerbsmechanismen kommt Ulrich zu dem Ergebnis, dass sich die Vorstellung des scheinbar freien Markts, genau besehen, als eine gegenseitige Zwangsveranstaltung unpersönlich interagierender Personen entpuppt: „Obschon jeder Marktteilnehmer nur an seiner ,privaten‘ Wettbewerbsposition interessiert ist, übt er durch seine Erfolgsstrategien unweigerlich einen wenn auch u. U. fast unmerklichen, bloss marginalen Zwang auf seine Mitbewerber aus, und zwar 36 37 38 39 40 41 42
Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 108 – 112. Dazu Thielemann, Das Prinzip Markt (1996). Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 112 – 123. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 124 f. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 125. Zum Ganzen ebd., S. 124 – 135. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 137 – 174. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 142 – 147.
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ganz ohne dass er mit ihnen persönlich in Interaktion tritt. [ . . . ] Was der Wirtschaftsliberalismus als ,freien‘ Markt ausgerufen [ . . . ] hat, erweist sich aus dem Blickwinkel der ihm unterworfenen Wirtschaftssubjekte als ein anonymer Zwangszusammenhang, der das System der modernen Marktwirtschaft charakterisiert: der Zwang, wettbewerbsfähig zu sein.“43 Nun bliebe es freilich ein müßiges Geschäft, diese „herrenlose Sklaverei“44 des Marktes überhaupt einer Kritik zu unterziehen, wenn die Wirtschaftssubjekte gar nicht die Wahl hätten, sich für diese Art des Wirtschaftens zu entscheiden, die marktwirtschaftliche Zwangslogik also als Sachlogik hinzunehmen wäre („Marktdeterminismus“45). Diesem „Glauben an die sich selbst regulierende ,Systemrationalität‘ und dem ihm zugrunde liegenden Vertrauen in die vollkommene Naturteleologie“46, in der die „unsichtbare Hand“47 des Marktes die Dinge in letzter Konsequenz zum Rechten weist, steht Ulrich skeptisch gegenüber und entlarvt die scheinbaren Sachzwänge des Marktes als normative Denkzwänge: „Ein ökonomischer (System-)Determinismus besteht immer nur so weit, wie er gesellschaftspolitisch zugelassen wird. Absolute Sachzwänge des Marktes [ . . . ] existieren nicht, vielmehr sind alle wirksamen Sachzwänge letztlich als Moment einer politisch von irgendjemand gewollten und durchgesetzten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu verstehen. Und das bedeutet, dass alle Sachzwänge, die nicht naturgesetzlich determiniert sind, Ausdruck kritisch zu hinterfragender, institutionalisierter Normenzwänge sind.“48 Diese Umdeutungspraxis von legitimatorisch Problematisierbarem zu natürlicherweise Notwendigem identifiziert Ulrich als unzulässigen Begründungsabbruch zugunsten des von den Mainstream Economics vertretenen Wirtschaftsverständnisses: „Die zum alleinigen Rationalitätskriterium erhobenen Funktionsbedingungen des real existierenden Wirtschaftssystems fungieren im Sachzwangdenken als geistiger Schliessmechanismus des wirtschaftsethischen Diskurses, der dann nur noch als halbierter Sachzwangdiskurs ,unter den Bedingungen der modernen Marktwirtschaft‘ möglich ist.“49 Dadurch werde unterstellt, „dass die Sachzwänge als solche unhinterfragbar gut und richtig seien und so, wie sie wirken, auch funktionieren sollen.“50 Ulrich sieht darin eine „Parteilichkeit der SachUlrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 149. 44 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (51972), S. 709, zit. in Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 152. 45 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 153. 46 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 155. 47 Dazu Smith, Der Wohlstand der Nationen (1978 [1776]),S. 371; ders. Theorie der ethischen Gefühle (1985 [1759]), S. 316. – Zit. nach und aufschlussreich dazu Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 181 f. 48 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 158. 49 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 161. 50 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 161. 43
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zwänge“51 zugunsten einer strategieorientierten Wirtschaftsform: Die „,eigentümliche‘ Parteilichkeit der Sachzwänge“ begünstige nämlich „stets die unternehmerische Lebens- und Handlungsform der strikten privaten Erfolgs- oder Gewinnmaximierung und die hinter ihnen stehenden Kapitalverwertungsinteressen der investierenden Eigentümer.“52 „Hinter den allgemeinen Sachzwängen für jedermann stecken die speziellen normativen ,Zwänge‘ (Denkzwänge) jener, die an der ,nachhaltigen Dauer-Rentabilität‘ (Weber) ihres investierten Kapitals interessiert sind.“ All diejenigen, die an dieser Form des Wirtschaftens kein oder kein unbedingtes Interesse haben, würden so von vornherein ins Hintertreffen geraten.53 Nun könnte die Parteilichkeit der Sachzwänge zwar als eine unlautere Form normativen Argumentierens verurteilt werden, wäre aber verzeihlich, wenn die Parteilichkeit zugunsten der wettbewerblichen Wirtschaftsform einer eingehenden normativen Kritik standhalten, das Sachzwangargument gewissermaßen nur eine vereinfachende Abkürzung einer ohnehin überzeugenden Gesamtkonzeption darstellen würde. Aus diesem Grund widmet sich Ulrich in der zweiten Etappe seiner Ökonomismuskritik der „Moral des Marktes“, in der die Grundlagen strikt erfolgsorientierten Wirtschaftens – ohne den Denkzwang vermeintlicher Sachzwänge nun auf „Augenhöhe“ mit den Befürwortenden marktwirtschaftlicher Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen – auf ihre Stichhaltigkeit hin untersucht werden sollen.54 Weil der Geltungsanspruch, den der Ökonomismus in diesem Zusammenhang erhebt, darin besteht, dass es allein und gerade die Mechanismen funktionierender Märkte sind, die für die Legitimation des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenlebens sorgen können, bezeichnet Ulrich diese Position als „ökonomischen Reduktionismus“.55 Die Moral des Marktes ist in der ökonomistischen Sicht danach so grundlegend und umfassend, dass alle anderen Rechtfertigungsversuche nur als unzulässige (Re-)Moralisierungen ohnehin schon (moralisch) legitimer Verhältnisse erscheinen. Dass Ulrich von einer reduktionistischen Position spricht, deutet bereits darauf hin, dass er die Dinge anders sieht. In seiner wieder auch dogmengeschichtlich informierten „mehrstufigen Kritik des ökonomischen Reduktionismus“56 widerlegt Ulrich zunächst die kosmologischen und utilitaristischen Argumente der Klassik57 und der älteren Neoklassik58, um sich dann eingehend der Position der jüngeren Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 159 – 174. 52 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 159. 53 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 159 f. Vgl. auch das Gedankenexperiment ebd., S. 240 – 249, mit dem entsprechenden Resümee. 54 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 175 – 215. 55 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 176 f., Zitat auf S. 176. 56 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 214. 57 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 178 – 187. 58 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 187 – 195. 51
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Neoklassik („reine Ökonomik“) zu widmen59. In den Grundelementen der reinen Ökonomik, dem methodischen Individualismus, dem paretianischen Effizienzkriterium und der Vertragstheorie, sieht er dabei eine Weiterentwicklung der Grundannahmen des überholten utilitaristischen Argumentationsrasters.60 Ulrich kommt aber zum Schluss, dass der ökonomische Reduktionismus „auch auf seiner elaboriertesten Stufe“, also auf der der reinen Ökonomik, als „widerlegt“ bzw. als „gescheitert“ angesehen werden muss.61 Die Gründe dafür verortet er in einem durchgehenden besitzbürgerlichen Vorurteil („possessive[r] Individualismus“ 62), das beim methodischen Individualismus in einem verschleierten normativen Individualismus,63 beim Pareto-Kriterium in dessen Status-quo-Konservatismus und bei der zweistufig angelegten vertragstheoretischen Institutionenökonomik nach dem Muster James Buchanans64 in den präkonstitutionellen Prämissen des individualistischen Konstitutionalismus65 zum Vorschein komme. Dadurch deckt Ulrich in den normativen Argumenten des ökonomischen Reduktionismus im Grunde wieder die gleiche Parteilichkeit zugunsten eines besitzbürgerlichen Unternehmertums auf, die er bereits in den scheinbar empirischen Argumenten des ökonomischen Determinismus ans Licht gebracht hat. Insgesamt fällt Ulrichs Ökonomismuskritik vernichtend aus. Seiner Auffassung nach gelingt es den Mainstream Economics trotz ihrer offenbaren Anziehungskraft nicht, einer kritischen Reflexion standzuhalten. Folgerichtig schließt Ulrich den kritischen Teil seiner Untersuchung mit dem Urteil: „[W]er sich den vom Ökonomismus ausgeblendeten lebensweltlichen Ansprüchen an ein vernünftiges Wirtschaften stellen will, der benötigt Ethik!“66 und leitet damit zum konstruktiven Teil über. In diesem Teil, der sich durch einen konsequenten Blickwechsel von systemischen Sinn- und Sachzwängen zur Perspektive der Lebensdienlichkeit auszeichnen soll,67 differenziert Ulrich zwei „Schlüsselfragen wider den Ökonomismus“68:69 die teleologische Sinnfrage70 und die deontologische Legitimationsfrage71. In der anschließenden Teleologie, also Sinnbestimmung des WirtschafUlrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 196 – 215. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 198. 61 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 214. 62 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 202 u.ö. 63 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 202. 64 Ulrich bezieht sich insb. auf Buchanan, Die Grenzen der Freiheit (1984 [1975]); und ders., Freedom in Constitutional Contract (1977). 65 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 210 – 214. 66 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 215. 67 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 217 f. 68 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 219. 69 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 218 – 220. 70 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 221 – 249. 71 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 251 – 308. 59 60
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tens geht es Ulrich zunächst um „das, was das menschliche Leben mit Bedeutsamkeit erfüllt, indem es dieses auf das für unser Leben Wesentliche ausrichtet, nämlich auf das, was wir im Leben als Ganzes wollen.“72 Ulrich ist sich dabei bewusst, dass die Kategorie des Lebens- bzw. Wirtschaftssinns nur persönlich und kulturell mit Inhalt gefüllt werden kann und darf,73 erkennt aber auch „einen universalen, anthropologisch konstanten Lebensbezug“74, den er inhaltlich zurückhaltend durch die „Sicherung der menschlichen Lebensgrundlagen“75 und der „Erweiterung der menschlichen Lebensfülle“76 definiert. Schließlich deutet Ulrich emanzipatorische Wege aus den diagnostizierten Sinnkrisen an, die durch den immer stärkeren „Eigensinn“ moderner Wettbewerbssysteme hervorgerufen werden.77 „Der grundlegende Sinn der Sinnfrage des Wirtschaftens“ in einer wirtschaftsethischen Konzeption liegt für Ulrich v. a. darin, die Sinnlosigkeit des vermeintlichen „Eigensinns“, der hinter dem ökonomistischen Systemdenken steht, aufzudecken.78 Die vordringliche wirtschaftsethische Aufgabe besteht jedoch in der Erarbeitung einer Konzeption, die die normativ-legitimatorischen Bedingungen des Wirtschaftens klärt. Zu diesem Zweck fokussiert Ulrich die Diskussion zunächst auf die Frage moralischer Rechte,79 in der er sich insbesondere an Rawls’ individualistisch verkürztem Verständnis gleicher Freiheiten abarbeitet80 und einen Gegenvorschlag für ein umfassendes System wirtschaftsbürgerlicher Grundrechte anbringt81. Die darin enthaltenen Wirtschaftsbürgerrechte sollen sich nicht in der Gewährleistung formaler Freiheiten erschöpfen, sondern sich auch am Konzept der realen Freiheit von Philippe Van Parijs82 orientieren, wonach die wirtschaftsbürgerliche Freiheit auch „die positive Freiheit“ einschließen soll, „über reale Handlungsoptionen zu verfügen und sie im doppelten Sinne wahrnehmen, also erkennen und nutzen zu können, was stets bestimmte Fähigkeiten und Ressourcen zur Selbstbehauptung erfordert.83 Die Gesamtkonzeption der integrativen Wirtschaftsethik ergibt sich dann im Anschluss daran aus Ulrichs wirtschaftsethischer „Topologie“, insbesondere der EntUlrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 221. 73 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 222 f. 74 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 223. 75 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 224 – 228. 76 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 228 – 240. 77 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 240 – 249. 78 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 222. 79 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 255 – 308. 80 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 264 – 278. 81 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 279 – 308. 82 Van Parijs, Real Freedom for All (1995). 83 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 283. Zu den einzelnen Grundrechten ebd., S. 290 – 308. 72
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faltung der „Wirtschaftsbürgerethik“84. Dort erarbeitet Ulrich eine umfassende Konzeption politischer Philosophie, die an die anfangs angestellten Vorüberlegungen zur Moralphilosophie wieder anknüpft. Zunächst erarbeitet er dazu ein Modell des politischen Liberalismus, das die Anliegen des Vorschlags von Rawls85 zwar prinzipiell teilt, die Bedeutung liberaler Politik aber besser explizieren soll. So gelangt Ulrich zum Konzept des „republikanischen Liberalismus“, das er als eine Art „neuzeitliche Synthese“ aus ökonomisch-libertärem Liberalismus und klassischem (bürgerhumanistischem) Republikanismus versteht.86 Dabei betont Ulrich immer wieder den unabdingbaren Dualismus zwischen einer liberalen Gesellschaftsordnung und zumutbaren87 republikanischen Bürgertugenden:88 „Diese notwendige dialektische Wechselwirkung zwischen der minimalen, aber unverzichtbaren Bürgertugend einerseits (Individualethik) und einer freiheitlichen und gerechten Verfassung andererseits (Institutionenethik) als ethisch-politische Orientierungsidee geklärt zu haben und sie konzeptionell durchzuhalten, ist die eigentliche Pointe des republikanischen Liberalismus.“ Seinen konkreten Niederschlag findet das Konzept des republikanischen Liberalismus dann in der Konzeption der deliberativen Politik.89 Unter der deliberativen Politik meint Ulrich sein politisch-ethisches Konzept mit den moralphilosophischen Anforderungen der Diskursethik vereinen zu können. Um den Anschluss an die Diskursethik klarzumachen, greift er an dieser Stelle das anfangs entwickelte diskursethische Konzept der Öffentlichkeit wieder auf90 und konstruiert die Konzeption der deliberativen Politik als Legitimationskonzeption vernünftigen Wirtschaftens auf dieser Grundlage. Diese Konzeption sollen „vier Leitgedanken“ auszeichnen:91 die Einsicht in die Möglichkeit und die Forderung, die berechtigten Anliegen der Bürgerschaft erst im Wege eines öffentlichen Diskurses herausbilden zu lassen („[a]rgumentative Präferenzklärung“),92 der legitimatorische Fokus auf die gleichberechtigte tatsächliche Durchführung politischer Deliberationsverfahren („[d]eliberative Verfahrenslegitimation“),93 die Anerkennung pluralistischer Meinungsdifferenzen und die Forderung, diese Differenzen auf der Grundlage konsentierter Verfahrensformen durch faire Kompromisse auszugleichen („[k]onsensbasierte Dissensregelung“)94 sowie die Unterstellung privater Freiräume unter die Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 313 – 359. 85 Rawls, Die Idee des politischen Liberalismus (1992); ders., Politischer Liberalismus (1998 [1993]). Dazu Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 264 – 278. 86 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 319. 87 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 325 f. 88 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 328 / 345 u. ö. 89 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 330 – 346. 90 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 330 – 333. 91 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 339 – 342. 92 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 339. 93 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 339 f. 94 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 340 f. 84
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Bedingung öffentlicher Legitimität („[ö]ffentliche Konstitution des Privaten“)95. Diese normativen Aspekte deliberativer Politik könnten sodann nicht ohne die in ihnen „implizit enthaltenen, formalen Minimalansprüche an die republikanische Bürgertugend“, der Reflexions-, Verständigungs-, Kompromiss- und Legitimationsbereitschaft, auskommen.96 Entsprechend der These der dialektischen Wechselwirkung zwischen institutioneller Verfassung und bürgerlicher Tugend seien solche Bürgertugenden allerdings ihrerseits wiederum auf „institutionelle ,Rückenstützen‘ in der Wirtschaftswelt“ angewiesen.97 Unter diesen allgemeinen Vorzeichen einer wohlgeordneten Gesellschaft98 gleicher und freier Wirtschaftsbürger konzentriert Ulrich die Fragestellung dann auf das Problem der „Ordnungsethik“, also einer grundsätzlichen Orientierung über die „Ordnung der Marktwirtschaft“99.100 Dabei stellt er von Anfang an die beschränkte Reichweite einer solchen Orientierung klar: „Das entworfene Grundkonzept bleibt notwendigerweise formal, d. h., es beschränkt sich auf eine gedankliche Ordnung der grundlegenden Aspekte. Die konkrete inhaltliche Bestimmung einer ,richtigen‘ Wirtschaftsordnung wird ja als öffentliche Sache deliberativer Politik begriffen [ . . . ].“101 Nachdem Ulrich in einer vorangehenden Durchleuchtung der ordnungspolitischen Diskussion sämtliche vorhandenen Ansätze, auch die des Ordoliberalismus und der sozialen Marktwirtschaft,102 als letztlich zu schwach eingeschätzt hat,103 entwickelt er eine Konzeption „[d]eliberative[r] Ordnungspolitik“104. Ihr Kernanliegen besteht vor dem Hintergrund des „Primat[s] der politischen Ethik vor der Logik des Marktes“105 in „der Leitidee, sämtliche normativen Vorentscheidungen und Vorgaben, die die normative Logik des Marktes bestimmen, vorbehaltlos argumentationszugänglich zu machen und sie dem einzigen in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft wirklich unumstösslichen ,Zwang‘ oder besser Prinzip zu unterstellen, nämlich dem öffentlichen Legitimationsanspruch.“106 In Bezug auf die konkret zu normierenden Problembereiche der Ordnungspolitik erkennt Ulrich dann „mindestens drei vitalpolitisch-konstitutive Normierungsaufgaben“: im Bereich der Rechte, wo er insbesondere auf die besondere Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 341 f. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 342. 97 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 345 f. 98 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), insb. S. 252 f. / 267 f. Ulrich bezieht sich damit auf das Konzept von Rawls: z. B. Rawls, Politischer Liberalismus (1998 [1993]), S. 105 – 111. 99 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 361. 100 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 361 – 426. 101 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 365; ähnlich ebd., S. 362 f. 102 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 378 – 389. 103 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 366 – 389. 104 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 390 – 409. 105 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 399 u. ö. ähnlich. 106 Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 399 f. 95 96
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Stellung kommunikativer Rechte hinweist,107 im Bereich der sog. „Rechnungsnormen“, wo es darum gehen soll, ethische Erfordernisse in die Preisstruktur der Güterbewegungen des Marktes zu integrieren,108 und im Bereich der sog. „Randnormen“, die den wettbewerblichen Marktmechanismus als solchen je nach Lebensbereich kontrollieren, begrenzen oder gänzlich ausschalten sollen109. Nach einer Ausdehnung der normativen Anliegen deliberativer Ordnungspolitik auch auf die praktischen und theoretischen Entwicklungen des Wirtschaftens im globalen Kontext110 widmet sich Ulrich zuletzt der „Unternehmensethik“111. Damit wird die Perspektive wirtschaftsethischer Normierung vom Bereich einer umfassenden Wirtschaftsordnung auf den Bereich der Wirtschaftseinheit Unternehmung heruntergebrochen. Die „integrative Unternehmensethik“, wie Ulrich sie konzeptualisiert,112 soll eine „Auseinandersetzung mit den gesamten normativen Bedingungen der Möglichkeit vernünftigen Wirtschaftens in und von Unternehmungen“ leisten und deshalb „nach den grundlegenden Legitimitätsvoraussetzungen und Wertorientierungen lebensdienlicher unternehmerischer Wertschöpfung“ fragen.113 In gewohnter ökonomismuskritischer Haltung, die im Bereich der Unternehmensethik zu einer eingehenden Kritik des gemeinhin hochgehaltenen Gewinnprinzips führt,114 gelangt Ulrich schließlich zur Konzeption einer „[d]eliberative[n] Unternehmenspolitik“115, die ihrerseits wieder auf „institutionelle ,Rückenstützen‘“ im innerorganisatorischen Unternehmenszusammenhang bauen können soll („Bausteine eines integrativen Ethikprogramms im Unternehmen“)116. Die deliberative Grundidee soll dadurch bestehen bleiben, dass die Erfolgsziele einer Unternehmung in einem „die ,unantastbaren‘ moralischen Rechte aller Beteiligten und Betroffenen“117 wahrenden Stakeholder-Dialog oder „unternehmerische[n] Legitimitätsdiskurs“118 verbindlich zur Disposition zu stellen sind.119 So soll jede an einer Unternehmung beteiligte Person ihre berechtigen Ansprüche gleichberechtigt geltend machen können. Der diskursethischen Formalität getreu sollen auch dabei wieder die Ergebnisse solcher Diskurse nicht vorweggenommen werden: „Welche dieser Ansprüche wie weitgehend als berechtigt 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119
Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 401 – 404. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 404 – 407. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 407 – 409. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 409 – 426. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 427 – 499. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 451 – 473, insb. S. 462 – 473. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 429. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 431 – 451. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 473 – 493. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 493 – 499. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 476. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 475. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 475 f.
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gelten können, kann immer nur in einem situationsbezogenen Deliberationsprozess geklärt werden.“120 (2) Methodologisch gesehen, lässt der kurze Überblick über die integrative Wirtschaftsethik einige mehr oder weniger auffällige Ähnlichkeiten zur hier vorgeschlagenen Theorie interdisziplinärer Rechtslegitimation erkennen, bei genauer Betrachtung finden sich aber auch Unterschiede. Beiden Konzeptionen gemeinsam ist je für ihren spezifischen Themenbereich zunächst die bedingungslose Forderung nach normativer Reflexion. D. h., beide Konzeptionen eint eine grundsätzliche Skepsis gegenüber unhinterfragten und unbegründeten legitimatorischen Geltungsansprüchen. Ausgangspunkt dafür ist jeweils die begründete Befürchtung, dass sich der theoretische oder praktische Mainstream, der die infrage stehenden Problembereiche umspült, bewusst oder unbewusst einer normativen Selbstkritik entzieht, obwohl er meist zu wissen beansprucht, was richtig ist und was nicht. Was in der integrativen Wirtschaftsethik so als Ökonomismuskritik daherkommt, kann deshalb als Entsprechung der hier implizierten Kritik einer rein rechtswissenschaftlichen Legitimation („Rechtspositivismus“)121 einerseits und einer rein ethischen Legitimation („Rechtsmoralismus“)122 andererseits begriffen werden. Geht es in Ulrichs Ökonomismuskritik darum, die normativen Implikationen und Forderungen des Ökonomismus ans Licht zu bringen und zu entkräften, so stehen auch die Moralismus- und die Positivismuskritik im Zeichen einer Klärung und kritischen Reflexion deren legitimatorischer Geltungsansprüche. Dass sich die hiesige Untersuchung dabei zunächst vorsichtig an die verschiedenen Disziplinenbereiche herantastet, während Ulrich von vornherein eine ökonomismusskeptische Haltung einnimmt, ändert nichts an der grundsätzlichen Parallelität dieser methodologischen Stoßrichtung. Nun sticht aber ins Auge, dass die hier angebrachte legitimatorische Grundsatzkritik im Vergleich zu der der integrativen Wirtschaftsethik von zwei Seiten (Rechtspositivismus- und Moralismuskritik) erfolgt und sich die Kritik Ulrichs zwar in unterschiedlichen Ausprägungen, aber dennoch – dafür verhältnismäßig eingehender – prinzipiell an einer Position, nämlich der des Ökonomismus abarbeitet. Dieser Unterschied lässt sich wohl damit erklären, dass das Problem des Wirtschaftens aus der Sicht der integrativen Wirtschaftsethik in erster Linie mit der normativen Unterbietung des angemessenen normativen Niveaus (durch den Ökonomismus) zu kämpfen hat. Dagegen wird der normative Anspruch ans demokratische Recht zwar häufig ebenso unterboten (Rechtspositivismus), durchaus aber auch überboten (Moralismus). Der Moralismus repräsentiert i. d. S. die unzulässige Überforderung des normativen Anspruchs ans legitime demokratische Recht. Bei genauerer Betrachtung findet sich allerdings auch in der integrativen Wirtschaftsethik ein anti-moralistischer Ansatz, dort nämlich, wo Ulrich die un120 121 122
Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 476. So kann das Kapitel I, insb. mit I. 3., insgesamt verstanden werden. So kann das Kapitel II, insb. mit II. 3., insgesamt verstanden werden.
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vermittelte Applikation der Diskursethik bestreitet. Auch wenn die Verwahrung Ulrichs gegen eine konkretistische Engführung der Diskursethik noch andere Hintergründe haben mag als diejenigen, die der Kritik des moralischen Applikationismus hier zugrunde liegen, kann dies auch als Kritik an einer moralistischen Überhöhung des wirtschaftsethischen Anspruchs gelesen werden. Die implizite Kritik an der „Anwendung“ der Diskursethik wäre dann darin zu erblicken, dass die unmittelbare Beurteilung des Wirtschaftens auf der Grundlage wie auch immer gearteter diskursethischer Kriterien etwas verlangt, was nicht verlangt werden kann oder darf, und alle Versuche, die in diese Richtung zielen, deshalb in einer letztlich illegitimen Überhöhung des ethischen Anspruchs resultieren müssen. Das Hauptaugenmerk der integrativen Wirtschaftsethik richtet sich jedoch auf die Kritik des Ökonomismus. Wird die methodologische Lage des Ökonomismus im Verhältnis zur Gesamtlage der integrativen Wirtschaftsethik in den Blick genommen und mit der hier erarbeiteten Gesamtkonzeption interdisziplinärer Rechtslegitimation verglichen, so entspricht der Ökonomismus in etwa dem Versuch einer rein rechtswissenschaftlichen Legitimationskonzeption, dem Rechtspositivismus. Der Ökonomismus und der Rechtspositivismus haben fürs Erste gemeinsam, dass beide paradigmatisch dem eingespielten (auch dogmatischen) Mainstream ihres angestammten Problems, der Wirtschaft einerseits und des Rechts andererseits, entsprechen. Zudem unterlegen beide, z. T. reflektiert, z. T. unreflektiert, ihre Position mit einem legitimatorischen Anspruch, der beim Ökonomismus prinzipiell auf eine bestimmte Form egoistisch-strategischer Rationalität und beim Rechtspositivismus auf ein Anknüpfungspostulat ans (je nachdem nur demokratischrechtsstaatlich) erlassene Gesetzesrecht hinausläuft. Dabei lässt sich auch der Rechtspositivismus wie der Ökonomismus zweifach stufen. Die krude Form des Rechtspositivismus, die sich durch einen zusätzlichen Erkenntnispositivismus doppelt positivistisch zum Gesetzespositivismus (Legalismus) mausert, kann prinzipiell mit dem unreflektierten ökonomischen Determinismus, die erkenntniskritische Form des Rechtspositivismus dagegen prinzipiell mit dem ökonomischen Reduktionismus verglichen werden. Diese Vergleiche sind, das sei wiederholt betont, rein methodologisch auf die Binnenstruktur der integrativen Wirtschaftsethik im Verhältnis zur hier vorgeschlagenen interdisziplinären Rechtslegitimation bezogen. Daraus lässt sich insbesondere kein inhaltlicher Zusammenhang zwischen als methodologisch parallel qualifizierten Positionen, z. B. zwischen dem Ökonomismus und dem Rechtspositivismus, herstellen. Die vorhandenen Parallelen eignen sich jedoch dazu, bestimmte Strukturmerkmale der verschiedenen Konzepte und Konzeptionen nochmals herauszustellen. Die Parallelisierung des ökonomischen Determinismus und des Legalismus lässt etwa erkennen, dass auch dieser als eine Art „juristischer Determinismus“ betrachtet werden kann, der im vermeintlichen „Sachzwang“ gefangen ist, das vom Gesetzesrecht vorgegebene Rechtsurteil ausfindig zu machen. Die daraus folgende „sachlogische“ Determiniertheit des Urteilsrechts lässt im Prozess der Judikation dann gar keine andere Wahl, als „das“ ontisch vorgegebene
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Urteil „herauszufinden“. Weil diese „sachliche“ Determiniertheit, allenfalls noch unter Beachtung einer geeigneten „Erkenntnislehre“ auch eine Handlungsdeterminiertheit der urteilenden Personen nach sich zieht, scheinen diese dann von jeglicher Verantwortung fürs Recht entlastet. Wie im ökonomischen Determinismus werden im juristischen Determinismus bzw. Legalismus Verantwortliche also kurzerhand durch eine verkürzte Darstellung der tatsächlichen Funktionsverhältnisse von ihrer Verantwortung befreit. Leistet der ökonomische Determinismus dabei einer unreflektierten besitzbürgerlichen Parteilichkeit Vorschub, so öffnet ein so verstandener juristischer Determinismus, nach dem im juristischen Urteilsprozess ohnehin nur ans Licht kommen kann, was das Gesetz schon „sagt“, potenziell jeder Art von Willkür Tür und Tor. Während sich nun der ökonomische Determinismus in der Theorie und der Praxis des Wirtschaftens z. T. noch hartnäckig hält, hier und da jedenfalls noch Rückstände davon zu finden sind, kann der Legalismus wohl als überholt betrachtet werden. Jedenfalls scheint es so, dass selbst dort, wo die juristische Theorie die hermeneutische Wende noch nicht konsequent vollzogen hat, immerhin die reflektierte Praxis immerhin implizit mit gutem Beispiel vorangeht.123 Das mag damit zusammenhängen, dass der Legalismus auf andere Weise mit dem Rechtspositivismus in Verbindung steht als der ökonomische Determinismus mit dem Ökonomismus. Während der Ökonomismus insgesamt dem ökonomischen Determinismus in letzter Konsequenz nämlich noch verhaftet bleibt – die Metaphysik des Marktes dem Ökonomismus also träge eingeschrieben bleibt –, ist der Rechtspositivismus nicht zwingend auf den Legalismus angewiesen. Wie mit der Konzeption der strukturierenden Rechtslehre dargetan, kann eine rechtspositivistische Konzeption durchaus auf die unhaltbaren erkenntnistheoretischen Annahmen des Legalismus verzichten und dennoch, jedenfalls als eine Art Arbeitspositivismus, mit guten Gründen an der Voraussetzung einer demokratisch-rechtsstaatlichen Gesetzesbindung festhalten. Während die Entzauberung des ökonomischen Determinismus also auf den gesamten Ökonomismus durchschlägt, der ökonomische Determinismus gewissermaßen für den ganzen Ökonomismus zumindest hintergründig konstitutiv ist, lässt sich der Legalismus besser vom Rechtspositivismus trennen. So kann es kommen, dass der Ökonomismus in der Konzeption der integrativen Wirtschaftsethik überhaupt nicht gehalten, eine reflektierte Variante des Rechtspositivismus wie diejenige der strukturierenden Rechtslehre mit der hier vorgeschlagenen Gesamtlegitimation des Rechts jedoch vereinbart werden kann. Allerdings ist auch der Rechtspositivismus innerhalb einer sowohl juristisch als auch ethisch überzeugenden Gesamtkonzeption noch nicht der Weisheit letzter Schluss. Entsprechend dem ökonomischen Reduktionismus in der integrativen Wirtschaftsethik kann auch der Rechtspositivismus in der interdisziplinären Rechts123 Vgl. Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 64 f., Zitat auf S. 64: „Die Gerichte tun nicht, was sie sagen, und sagen nicht, was sie tun.“ Gemeint ist damit, dass die praktische juristische Theorie der im Grundsatz legitimen juristischen Praxis hinterherhinkt.
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legitimation als „juristischer Reduktionismus“ verstanden werden. Der Rechtspositivismus, sei es sich verschließend als „echter“ Rechtspositivismus oder offener als pragmatischer Arbeitspositivismus, markiert aus der Gesamtsicht einer interdisziplinären Legitimationskonzeption als rein juristischer Rechtfertigungsansatz eine Reduktion des legitimatorischen Anspruchs. Im Gegensatz zum ökonomischen Reduktionismus in der integrativen Wirtschaftsethik zeigt sich interessanterweise aber ein wichtiger Unterschied: Anders als jenem gelingt es einer reflektierten rechtspositivistischen Konzeption nach dem Muster der strukturierenden Rechtslehre nämlich, in ihrem selbstgesetzten, disziplinär begrenzten Anspruchsbereich zu überzeugen. Der im Grunde „reduktionistischen“, besser vielleicht: (ausdrücklich) bescheidenen strukturierenden Rechtslehre gelingt eine überzeugende Konzeption juristischer Legitimation, zumindest des Rechts als Judikation. Der ökonomische Reduktionismus bringt dies in seinem disziplinären Stammgebiet demgegenüber nicht fertig. Insofern er gerade selbst unter dem Titel einer Ethik des Wirtschaftens auftritt und er diese Legitimationskonzeption jedoch auf den Grund eines normativen Individualismus stellen will, verfehlt der ökonomische Reduktionismus, als Utilitarismus wie auch als vertragstheoretische Institutionenökonomik, nach Ulrich auch sein selbstgesetztes disziplinäres Ziel. Dieser Unterschied in der Struktur der integrativen Wirtschaftsethik im Vergleich zur interdisziplinären Rechtslegitimation schlägt sich auch in der weiteren Methodologie der beiden Theorien nieder. Gemeinsam ist ihnen vorerst noch, dass sich beide nicht mit einer normativen Kritik begnügen wollen. Die Kritik soll in beiden Fällen dem Zweck einer reflektierten konstruktiven Gesamtkonzeption vernünftigen Wirtschaftens bzw. „vernünftigen Recht-Schaffens“ dienen. Während Ulrich angesichts der enttäuschenden Ergebnisse der wirtschaftswissenschaftlichen Kritik im Hinblick auf seine alternative Konzeption vernünftigen Wirtschaftens, von der diskursethischen Moralkonzeption ausgehend, nun gewissermaßen auf sich selbst gestellt ist, kann die hier erarbeitete Theorie demokratischen Rechts zusätzlich zur Diskursethik auf die rechtswissenschaftliche Kompetenz der strukturierenden Rechtslehre zurückgreifen. Sofern Ulrichs wirtschaftswissenschaftliche und die hier durchgeführte rechtswissenschaftliche Kritik zutrifft, kann daraufhin festgehalten werden, dass bei der Wirtschaftswissenschaft bislang mehr im (legitimatorischen) Argen liegt als bei der Rechtswissenschaft. So auf sich allein gestellt, ist Ulrich gezwungen, eindirektional, d. h. im Grunde von einer einzigen normativen Leitkonzeption aus, der Diskursethik, voranzuschreiten. So ist es auch der von der Diskursethik inspirierte Gedanke der Öffentlichkeit allein, der maßgeblich für die Überzeugungskraft des politisch-ethischen Konzepts des republikanischen Liberalismus einsteht und dieses auf die Konzeption der deliberativen Wirtschaftspolitik zuspitzt, auf deren Grundlage wiederum die deliberative Ordnungs- und Unternehmenspolitik entfaltet wird. In dieser Hinsicht hat es die hiesige Theorie interdisziplinärer Rechtslegitimation leichter. Im Gegensatz zur integrativen Wirtschaftsethik steht die hier vorgeschlagene Theorie in Bezug auf ihren Problembereich nicht allein auf weiter Flur,
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sondern kann prinzipiell auf Rückhalt in der Rechtswissenschaft hoffen. An schon relativ früher Stelle dieser Untersuchung scheint es nämlich so zu sein, dass die strukturierende Rechtslehre eine Konzeption bereitstellt, die aus juristischer Sicht in etwa die Anliegen für die Judikation konkretisiert, die für die Justifikation von der ebenso als überzeugend erachteten Diskursethik gefordert werden. Die methodologische Konsequenz daraus ist, dass die Entwicklung der Gesamtkonzeption nicht nur eindirektional von der Diskursethik aus konkretisierend, sondern auch von der strukturierenden Rechtslehre und sogar einigen rechtsdogmatischen Konstruktionen aus abstrahierend vorgenommen werden kann. Auch wenn hier vielerorts dennoch konkretisierend verfahren wurde, wurde auch die methodologische Möglichkeit einer beidseitigen (integrativen) Konstruktionsweise immer wieder genutzt, so etwa bereits bei der Vorsondierung eines gemeinsamen interdisziplinären Programms124, bei der Kontextualisierung des demokratischen Rechtsstaats125 und der juristischen Methodik126 oder der Konzipierung der deliberativen Judikation im Ganzen127. Diese Erleichterung schließt allerdings auch die Schwierigkeit einer beidseitig überzeugenden Konzeptionalisierung ein, die mit der selten einfachen Aufgabe einhergeht, es „beiden Seiten recht zu machen“. Sofern dies durch überzeugende Argumentation aber gelingt, kann eine so entwickelte Gesamtkonzeption ihre Überzeugungskraft gewissermaßen aus mehreren Quellen schöpfen. An diesem Punkt, der unterschiedlichen Einschätzung der Theorie und der Praxis des jeweils angestammten Mainstreams, der Theorie der Wirtschaftswissenschaft einerseits und der Rechtswissenschaft andererseits, gabelt sich auch die Bedeutung des „integrativen Ansatzes“ der integrativen Wirtschaftsethik und der hiesigen integrativen Theorie. Obschon in gleichgelagerter Absicht einer Kritik und Konstruktion legitimatorisch vernünftigen Wirtschaftens bzw. Rechtfertigungshandelns, geht der Gedanke der Integration bald andere Wege. Aufgrund des Befunds, dass die verbreitete Wirtschaftswissenschaft die Anforderungen ethischer Legitimation nicht hinreichend berücksichtigt oder einen ethischen Legitimationsbedarf geradezu bestreitet, zieht Ulrich den Schluss, dass das ethische Moment in der heutigen Theorie und Praxis des Wirtschaftens gänzlich fehlt oder verlorengegangen ist und es deshalb in dieses sozusagen halbierte Konzept von Wirtschaft wieder eingefügt werden muss. Ulrich versteht (wirtschafts-)ethische Integration so als (Re-)Integration des durch systemische Selbstgenügsamkeit abhanden gekommenen Legitimationsgedankens im Bereich des Wirtschaftens. I. d. S. sind die Aussagen zu verstehen, die die Ökonomismuskritik quasi als Kernthesen umklammern: „Was ihr [der ökonomischen Vernunft] abhanden gekommen ist, ist die ethische Dimension vernünftigen Wirtschaftens.“128 „[W]er sich den vom Ökonomis124 125 126 127 128
III. 3. a). V. 4. VI. 4. Kapitel VII, insb. VII. 2. bis VII. 4. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 12.
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mus ausgeblendeten lebensweltlichen Ansprüchen an ein vernünftiges Wirtschaften stellen will, der benötigt Ethik!“129 Mit dem integrativen Ansatz richtet sich Ulrich zugleich gegen die sog. „Zwei-Welten-Lehre“, nach der egoistisch-rationales Wirtschaften eines, ethische Verantwortung aber etwas anderes sein soll. Aus der Sicht der integrativen Wirtschaftsethik gehört ethische Verantwortung zur Theorie und Praxis des Wirtschaftens aber immer schon (integrativ) dazu. Aus der Sicht der hier konstruierten Konzeption interdisziplinärer Rechtslegitimation setzt der integrative Ansatz zunächst einen anderen Akzent.130 Anders als bei der integrativen Wirtschaftsethik kann in Bezug aufs Recht nicht behauptet werden, Ethik oder hinreichende Legitimität „stecke“ in der reflektierten Theorie und Praxis heutiger Rechtswissenschaft nicht „drin“. Die Zustimmung, die der Konzeption der strukturierenden Rechtslehre als rechtswissenschaftlicher Konzeption zu geben ist, speist sich aus einer überzeugenden Legitimation, die sie im Rahmen ihres disziplinären, d. h. aus Thema und Methode gekreuzten Geltungsanspruchs erfolgreich bewerkstelligt. Für den Anspruch einer interdisziplinären, juristischen und ethischen Rechtslegitimation ist diese juristische Rechtfertigung zwar noch nicht ausreichend, die gewissermaßen „partikuläre“ (disziplinäre) Legitimität dieser rechtswissenschaftlichen Teilkonzeption muss vor dem Hintergrund einer insgesamt (interdisziplinär) überzeugenden Gesamtkonzeption jedoch als Teil des Ganzen anerkannt werden. Zur Folge hat das, dass die weitere Aufgabe darin besteht, die Legitimationsrationalität, die v. a. mit der strukturierenden Rechtslehre in der Rechtswissenschaft zu finden ist, mit derjenigen (zuvor oder danach ebenso für legitim befundenen) Legitimationskonzeption der Diskursethik kohärent zu verbinden. Integration bedeutet dann nicht ein (Wieder-)Einfügen gänzlich verlorengegangener Legitimität, sondern das kohärente (Wieder-) Zusammenfügen wissenschaftlich auseinandergedrifteter (ausdifferenzierter) Legitimationslogiken. Die hier einschlägige Bedeutung von Integration wäre freilich falsch verstanden, wenn das Zusammenfügen als Addition vorgefertigter Konzeptionen ohne kommunikativen Austausch und Wissensgewinn, ohne Auseinandersetzung, als schlichtes Nebeneinanderstellen verschiedener disziplinärer Positionen begriffen würde. Der Ansatz praktischer Integration131 folgt mit dem Leitgedanken der differenzierten Einheit vielmehr einer diskursiven Struktur. Danach werden die disziplinären Anliegen einer Konzeption prinzipiell als gleichberechtigt betrachtet und auf dieser Grundlage sämtliche Geltungsansprüche, die auch andere Disziplinen betreffen, auf einen interdisziplinären Begründungsdiskurs verpflichtet. Von hinreichender Legitimation kann im interdisziplinären Zusammenhang dann erst dann gesprochen werden, wenn alle betroffenen einzeldisziplinären Positionen den spezifischen Argumenten aus je ihrer Sicht zustimmen können. Nur so kann vermieden 129 130 131
Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 215. Vgl. zum interdisziplinär-integrativen Ansatz dieser Untersuchung insgesamt insb. III. 2. III. 2. a), (3).
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werden, dass einzelne disziplinäre Konzeptionen ihr Legitimationskonzept anderen aufzwingen. Zugleich bringt eine solche integrative Praxis der Interdisziplinarität einen kommunikativen Austausch mit sich, in dem jede Konzeption prinzipiell jede ihrer hergebrachten Positionen unter der Bedingung überzeugenderer Positionen zur Disposition stellt. Auf diese Weise kann eine integrative Gesamtkonzeption entstehen, die nicht mehr der Summe der einzelnen Ausgangspositionen entspricht, sondern allen beteiligten Positionen einen gerechtfertigten Wissensgewinn bringt. Die Dinge so besehen, liegen die beiden Bedeutungen von Integration gar nicht mehr so weit auseinander. Ulrichs Kritik am „unethischen“ Gebaren der Mainstream Economics könnte nämlich als Kritik verdeckter (ökonomischer Determinismus) oder offengelegter (ökonomischer Reduktionismus) legitimatorischer Geltungsansprüche in einem interdisziplinären (Legitimations-)Diskurs gesehen werden, an dem sich Ethik und Wirtschaftswissenschaft zum Ziel einer für beide akzeptablen Gesamtkonzeption gleichberechtigt beteiligen. Ulrich würde den am Diskurs beteiligten wirtschaftswissenschaftlichen Konzeptionen dann vorwerfen, dass sie ihre normativen Geltungsansprüche, wenn überhaupt, nur unzureichend reflektieren und sich diese Auffassung nicht mit einer überzeugenden moralphilosophischen (Diskursethik) oder politisch-ethischen Konzeption (deliberative Politik) vereinbaren lässt. Wird Ulrichs Argumentation gefolgt, dann gelingt es dem Ökonomismus nicht, diese Kritik zu widerlegen. Als Konsequenz wäre die etablierte Wirtschaftswissenschaft dann gezwungen, ihre legitimatorischen Geltungsansprüche disziplinär zu überdenken und ihre interdisziplinär unhaltbaren Paradigmen z. B. durch eine Konzeption deliberativer Wirtschaftspolitik zu ersetzen. Dass der herkömmlichen Wirtschaftswissenschaft Ethik bisher „fehlt“ und sie daher i. d. S. „integriert“ werden muss, wäre dann lediglich das Ergebnis eines integrativen Diskurses zwischen Wirtschaftswissenschaft und Ethik, wie er hier als interdisziplinärer Diskurs über die Legitimation demokratischen Rechts zwischen Jurisprudenz und Ethik geführt worden ist. Auch in dieser Lesart wäre „integrative Wirtschaftsethik“ dann der Versuch, ethische Vernunft und ökonomische Rationalität „zusammenzudenken“132. Die Kritik am Ökonomismus bestünde dann aber weniger in der Forderung, die Disziplin Ethik „in sich aufzunehmen“, sondern mehr darin, die Überlegungen der von der Wirtschaftswissenschaft verschiedenen, aber prinzipiell gleichberechtigten Disziplin Ethik zum Ziel einer interdisziplinär integrierten Gesamtkonzeption disziplinär besser zu reflektieren. Umgekehrt erlaubt auch die Sichtweise der integrativen Wirtschaftsethik einen erweiterten Blick auf das hier Konzipierte. Wenn wie bei Ulrich nämlich bereits dann von (integrierter) Ethik gesprochen werden kann, wenn eine Konzeption, auch nur in ihrem spezifischen Anspruchsbereich, die an sie zu stellenden legitimatorischen Anforderungen hinreichend erfüllt, könnten alle hier konstruierten legitimatorischen Teilkonzeptionen als ethisch integriert angesehen werden. Ethisch 132
Vgl. Ulrich, Ethische Vernunft und ökonomische Rationalität zusammendenken (2002).
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(legitim) zu sein wäre dann nicht nur eine Eigenschaft derjenigen Konzeptionen, denen es methodisch gesehen in einer abstrakten philosophischen Sprache gelingt, Prozesse eines bestimmten Themenbereichs überzeugend zu rechtfertigen, hier als Konzeptionen dargestellt, die sich in den Feldern der Oberdisziplin „Rechtsphilosophie“ bewegen. Die Eigenschaft käme in einem weiteren Sinn vielmehr all denen legitimatorischen Konzeptionen zu, die sich kohärent in eine interdisziplinäre Legitimationstheorie einfügen lassen. Die Ethik würde nach diesem Verständnis auch auf die disziplinären Konzeptionen durchgreifen, die ihrem disziplinären Anspruch nach an einer philosophischen Rechtfertigung vielleicht zwar gar nicht interessiert sind, zu einer interdisziplinären Gesamtkonzeption, an der auch überzeugende Teilkonzeptionen der Ethik beteiligt sind, aber gleichwohl passen. In diesem Verständnis von ethischer Integration wären z. B. auch der demokratische Rechtsstaat und die demokratische Judikation und mit ihnen die strukturierende Rechtslehre ethisch, und zwar in dem Maße, wie sie das diskursive und deliberative Ideal in ihrer methodischen Sprache konkretisieren. In Analogie zur Konzeption der integrativen Wirtschaftsethik könnte das hier verfolgte Gesamtprojekt dann vielleicht „integrative Rechtsethik“ oder auch „juristische Ethik“ genannt werden. (3) Zu den methodologischen Ähnlichkeiten zwischen der integrativen Wirtschaftsethik und der interdisziplinären Rechtslegitimation gesellen sich auch einige augenfällige Ähnlichkeiten in der Sache, von denen hier auf die wichtigsten immerhin ansatzweise noch eingegangen sei. Interessant ist etwa, dass auch die integrative Wirtschaftsethik mit einem entschiedenen Positionsbezug für ein deontologisches Moralverständnis für eine diskursethische Konzeption argumentiert. Dabei scheint die hier vorgenommene Einschätzung der Leistung der Diskursethik der Auffassung Ulrichs recht ähnlich zu sein, nach der die „Diskursethik nur als eine vorzügliche Form der Explikation und Begründung des allgemeinen Moral Point of View“133 zu betrachten ist. Das Verdienst der Diskursethik ist hier so dargestellt worden, dass es ihr gelingt, den deontologischen Standpunkt der Moral oder der Unparteilichkeit moralphilosophisch zu begründen.134 Es ist auch mit Nachdruck darauf hingewiesen worden, dass eine unvermittelte „Anwendung“ diskursethischer Prinzipien andernorts als in der Moralphilosophie vom Ansatz her als verfehlt und bei entsprechendem Kontext als disziplinär kurzschlüssig qualifiziert werden muss.135 Es wurde klargestellt, dass Normen nicht einfach in abstracto „begründet“ und dann in concreto „appliziert“ werden können. Normtexte werden im Abstrakten wie im Konkreten erschaffen und bedürfen – dies im wesentlichen Gegensatz zu Günther und Habermas – auf jeder Abstraktions- oder Konkretionsebene einer jeweils umfassenden legitimatorischen Begründung. Ulrichs Rede vom „konkretistischen Fehlschluss“ kann dann auch als treffende Bezeichnung für einen diesem widersprechenden Applikationismus verstanden werden. 133 134 135
Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 107, ähnlich ebd., S. 84. II. 2. b). Insb. II. 3. und III. 1.
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Ulrich ist im Besonderen auch in Bezug auf die Skepsis gegenüber Apels Teil B zuzustimmen. Sofern Apel daran gelegen ist, „die“ Diskursethik bzw. „die“ diskursethischen Prinzipien, gemeint ist immer das moralphilosophisch Ideale, eins zu eins zu „verwirklichen“, als ob es nur darum ginge, die reale Kommunikationsgemeinschaft zur idealen Vollendung zu bringen, geht Apel einen falschen Weg. Ulrichs Befürchtung, dass bei dem Ansatz der „Realisierung“ diskursethischer Ideale vor der normativen Kraft des Faktischen vorschnell kapituliert wird, ist vollumfänglich zuzustimmen. Das (stellenweise auch bei Habermas erkennbare) leichtfertige Zurückschrecken vor dem „Unmöglichen“ verführt in der Tat zu einer kategorialen Verwechslung von empirischer Möglichkeit und normativer Legitimität. Vor dem Hintergrund der Sachzwang-Ideologie des ökonomischen Determinismus für diese Gefahr besonders sensibilisiert, fürchtet Ulrich auch in der Ethik ganz zu Recht die Verdrehung von normativ Gesolltem in faktisch Unveränderliches. In der Auffassung darüber, wie die moralphilosophische Diskursethik dennoch für die konkreten Anliegen einer konkreten Legitimationspraxis gewonnen werden kann, unterscheidet sich Ulrich vom hier vertretenen Ansatz jedoch, zumindest was die Begrifflichkeiten angeht, im Detail. In prinzipiell begrüßenswerter Gegenstellung zum moralischen Realisierungsansatz scheint Ulrich nämlich meinen zu müssen, das Diskursideal könne und müsse gar nicht realisierbar sein, sondern es genüge, wenn es als regulative Idee unerreichbar den moralischen Standpunkt vorgebe. Wenn dem aber so wäre, würde sich allerdings fragen, welchen Sinn es macht, einem prinzipiell unerreichbaren Ideal hinterherzujagen. Das Ideal hätte dann nicht nur erhebliche Schwierigkeiten, die Menschen, die ihm folgen sollten, dazu zu motivieren, es würde auch in Schwierigkeiten geraten, sich als solches zu begründen. Tatsächlich geht Ulrich diesen Weg auch gar nicht. Indem er das Diskursideal nämlich als deliberative Politik usw. konzeptionalisiert, lässt er es nicht im Unerreichbaren, sondern im Abstrakten. Was Ulrich im Ansatz korrekterweise tut, ist, das Diskursideal zu konkretisieren. Der hier vorgenommene Versuch besteht dann auch darin, die moralphilosophische Diskursethik realisierbar zu konkretisieren. Dabei können die diskursethischen Prinzipien solange im Abstrakten verbleiben, wie sie im Konkreten überzeugen. Allerdings müssen sie ihre Überzeugungskraft im Konkreten auch unter Beweis stellen. Die disziplinengerechte Übersetzung der diskursethischen Prinzipien darf dabei nicht als „Anwendung“ oder „Ableitung“ missverstanden werden. Das jeweilige disziplinäre Set normativer Prinzipien soll das moralphilosophische Ideal im Licht des jeweiligen disziplinären Kontexts widerspiegeln. Die hier vorgenommenen Konkretisierungen in der politischen Philosophie, der Verfassungstheorie, der Urteilsphilosophie und der Urteilstheorie sind daher keine „Abweichungen“ vom moralischen Ideal, die vor den genauer betrachteten Realitäten kapitulieren, sondern disziplinengerecht konkretisierte Ideale, die der jeweils konkretisierten Realität gegenüber Gültigkeit beanspruchen. Insofern die universelle Diskursethik hier im kulturellen Bezug auf moderne Demokratien konkretisiert worden ist, setzt sie sich zu einer modernen, arbeitsteiligen Le-
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bensform ins Verhältnis, für die prinzipiell unterstellt wird, dass sie sich ihrerseits in einer diskursiven Auseinandersetzung rechtfertigen ließe. Dass sich moderne pluralistische Demokratien gegen die undifferenzierte Implantierung der moralphilosophischen Prinzipien sperren, heißt deshalb nicht, dass es geradezu empirisch unmöglich wäre, sie auch anders, etwa „reiner“, „absoluter“, „kompromissloser“ zu konkretisieren. Solche Ansätze, die in der Konsequenz v. a. ohne Kompromisse, ohne Repräsentationen und ohne Verfahrensabbrüche auszukommen glauben, würden aber eine drastisch andere, etwa vormoderne Gesellschaftsform eines nicht-differenzierten sippengemeinschaftlichen Polis-Modells einfordern. Nun lehrt zwar gerade Ulrichs Ökonomismuskritik, dass alles, was in der Macht willensfreier Menschen liegt (sonst läge es ja nicht in ihrer Macht), prinzipiell auch möglich ist. Dazu zählt, so radikal der Gedanke sein mag, auch ein wie auch immer gestalteter aufgeklärter „Rückschritt“ in eine weniger komplexe, weniger differenzierte und pluralistische Gesellschaftsstruktur. Der Punkt ist aber, dass ein solcher Rückschritt, im Prinzip jedenfalls, aus legitimatorischen Gründen unvorstellbar bleibt. Jedenfalls aus westlich-kultureller Sicht würde eine – wiederum aus westlicher Sicht – vormoderne Gesellschaftsform, in der Diskursdifferenzierungen, Repräsentationen, Verfahrensabbrüche und Kompromisse weder nötig noch erlaubt wären, als unzulässige Zumutung empfunden. Aus der Binnenperspektive bildet die arbeitsteilige Lebensform moderner Demokratien schlichtweg eine (momentan) unbestrittene Grundüberzeugung. Interessanterweise hat sich die Ausdifferenzierung der Lebenswelt so selbst wieder in die (nicht-differenzierte) Lebenswelt moderner Demokratien eingeschrieben. Das Maß an Komplexität, das in der Gesellschaftsform moderner Demokratien „steckt“, ist deshalb aber nicht das Ergebnis eines sich von selbst reproduzierenden Gesellschaftssystems, sondern vielmehr die Konsequenz einer letztlich selbstgewählten Lebensform. Dass hier bisweilen von den „Bedingungen moderner demokratischer Gesellschaften“ die Rede ist, soll daher nicht den legitimatorischen Geltungsanspruch verdecken, die diese Lebensform in sich trägt, sondern lediglich auf den relativ unstrittigen Status der westlichdemokratischen Moderne (jedenfalls für die westlich-demokratische Moderne) hindeuten, die hier von Anfang als Eingrenzung dieser Untersuchung offengelegt worden ist136. Es ist mit Ulrich jedoch festzuhalten, dass das Memento des Möglichen mit Vorsicht zu genießen ist. Wenn es nicht wie hier als plausible Unterstellung legitimer Bedingungen offengelegt wird, versteckt sich dahinter nicht selten ein als faktische Notwendigkeit getarnter normativer Anspruch. Dass diese Einsicht aber nicht dazu führen muss, den Versuch einer Inarbeitnahme des diskursethischen Ideals schlechthin infrage zu stellen, soll hier mit der Konkretisierung der diskursethischen Prinzipien gezeigt worden sein. I. d. S. will auch Ulrich die Diskursethik konkretisieren, wenn er ihr, vermittelt durch das Leitkonzept der Öffentlichkeit, in der politischen Philosophie das Gesicht einer deliberativen Politik und in der Ord136
Einleitung 1.
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Exkurs: Integrative Wirtschaftsethik
nungs- und Unternehmensethik die Gestalt einer deliberativen Ordnungspolitik und einer deliberativen Unternehmenspolitik gibt. Zumindest die institutionellen Forderungen, die sich in diesen Teilkonzeptionen der integrativen Wirtschaftsethik finden, entsprechen im Grundsatz dann auch den hier entwickelten Prinzipien, insbesondere denen der deliberativen Demokratie und denen des demokratischen Rechtsstaats. Lediglich was die Methodologie (und das methodologische Begriffswerkzeug) der Entwicklung des geforderten institutionellen Settings angeht, verläuft diese bei Ulrich eher etwas intuitiver, hier dagegen etwas analytischer. So kann es freilich kommen, dass sich die einzelnen Forderungen, von der unterschiedlichen thematischen Ausrichtung (Wirtschaft dort, Recht hier) einmal abgesehen, zwar nicht zur Gänze decken, aber dennoch in die gleiche Richtung steuern. Die konzeptionelle Gleichlagerung der integrativen Wirtschaftsethik und der interdisziplinären Rechtslegitimation zeigt sich bereits in der Übereinstimmung in den beiden maßgeblichen Demokratie-Konzepten, Ulrichs republikanischem Liberalismus und dem hier vorgestellten prozeduralen Konzept137. Auch wenn die beiden Konzepte unterschiedliche Betonungen vornehmen, erscheinen sie vom Menschenbild über das Freiheits- bis zum Moralverständnis im gegenseitigen Verhältnis als konsensfähig. Ulrichs spannungsreiche Bezeichnung republikanischer Liberalismus, die auf die „neuzeitliche Synthese“ zwischen politischem Liberalismus und Republikanismus hinweisen soll,138 bedient sogar die hier vertretene Vorstellung einer erfolgreichen Integration zweier prinzipiell gleichberechtigter, für sich je allein aber nicht überzeugender Positionen. Es kann vor diesem Hintergrund schließlich die Frage gestellt werden, wie die Konzeption der integrativen Wirtschaftsethik von der hier entwickelten Konzeption legitimen Rechts insgesamt einzuschätzen ist bzw. wie die interdisziplinäre Rechtslegitimation „zur Wirtschaft“ steht. Ein Ansatz könnte darin bestehen, die demokratische Gesellschaftsordnung als demokratische Wirtschaftsordnung, d. h. das Recht als Wirtschaft, Rechtsfertigungspraxen als Wirtschaftspraxen zu deuten.139 Insofern der Verantwortungsraum des Öffentlichen so (insgesamt) als Wirtschaftsraum zu verfassen wäre, müssten die Prinzipien der deliberativen Demokratie und des demokratischen Rechtsstaats als Prinzipien einer legitimen demokratischen Wirtschaftsordnung rekonstruiert werden. Da in wirtschaftsethischer Sicht im Grunde nichts anderes als ein legitimatorischer Geltungsanspruch infrage steht, dürften die wirtschaftlichen Ordnungsstrukturen prinzipiell nicht anders ausfallen als die, die in der Perspektive aufs demokratische Recht herausgearbeitet worden IV. 1. c). Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 319. 139 Dieser Ansatz wäre freilich andernorts (interdisziplinär) noch besser zu reflektieren. Ein Gedanke dazu findet sich in dieser Arbeit bereits bei der Kontextualisierung des demokratischen Rechtsstaats, der als Teilstruktur (nämlich als Legitimationsstruktur) des umfassenden demokratischen Verfassungsstaats verstanden wird. Die mit Blick auf das Wirtschaften einschlägige normative Struktur wäre dann die der Wohlfahrtsstruktur, zu der hier der Sozialstaat und der Wirtschaftsstaat als zugehörig genannt worden sind: V. 4. a. A. 137 138
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sind. Die Prinzipien einer legitimen Wirtschaftsordnung müssten dann – in einer möglicherweise etwas anderen Sortierung und in ökonomischer Sprache – eben das darstellen, was die deliberative Demokratie und der demokratische Rechtsstaat durch die Brille des Rechts normiert. Mit dieser Akzentuierung gibt sich „die Wirtschaft“ hier – wohl ganz im Sinne Ulrichs – als rechtlicher oder politischer Normierungszusammenhang zu erkennen bzw. kann er als solcher betrachtet werden. Aus dieser Sicht deckt sich die hiesige Auffassung mit derjenigen Ulrichs, wonach eine „Ethisierung“ der Wirtschaft, die Unterstellung im öffentlichen Raum ablaufender Wirtschaftsprozesse unter legitimatorische Grundsätze, geboten ist. Weil diese Ordnung „der Wirtschaft“ – nur eine andere Sicht auf „das Politische“ –, solange sie in gerechtfertigterweise verlaufen soll, prinzipiell nach den gleichen Grundsätzen zu strukturieren ist wie alle Ordnungen des Öffentlichen, ist die prinzipielle Übertragung deliberativ-demokratischer und demokratisch-rechtsstaatlicher Anforderungen angebracht. Deshalb verwundert es auch nicht, wenn Ulrichs integrative Wirtschaftsethik, die ja eine Legitimationskonzeption des Wirtschaftens darstellt, nicht etwa in analoger („Wirtschaft – Recht bzw. Politik“), sondern geradezu in gleicher Absicht („Wirtschaft als Recht bzw. Politik“) zu mehr oder weniger ähnlichen Ergebnissen gelangt. Ulrichs Wirtschaftsethik ist im Abstrakten ja als „Wirtschaftsbürgerethik“140, als politische Philosophie (durch die Brille des Wirtschaftens) zu verstehen.141 Aus diesem Grund können die entwickelte politischphilosophische deliberative Demokratie und der verfassungstheoretische demokratische Rechtsstaat auch als wirtschaftskonstitutionelle Legitimationskonzeptionen in anderem Licht betrachtet werden. So gesehen, wollen, vereinfacht gesprochen, die integrative Wirtschaftsethik und die interdisziplinäre Rechtslegitimation nicht einfach jeweils (in der Wirtschaft dort, im Recht bzw. in der Politik hier) das Gleiche, sie wollen genau das Gleiche: die legitime Normierung des menschlichen Zusammenlebens, sei es durch die Brille der Wirtschaft, sei es durch die des Rechts bzw. der Politik. Einer gegenseitig fruchtbaren Zusammenarbeit wäre der Weg somit geebnet.
140 141
Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik (42008), S. 313 – 359. Vgl. Ulrich, Wirtschaftsethik als politische Ethik (2000).
Schluss: Resümee und Ausblick Mit der Konzeption der deliberativen Judikation ist das interdisziplinäre Bild, das es für die Erarbeitung dieser ethisch-juristischen Legitimationstheorie des demokratischen Rechts zu erstellen galt, vervollständigt worden. So konnte nicht nur die Argumentationslinie von der moralphilosophischen Diskursethik zur juristisch-methodischen strukturierenden Rechtslehre (oder umgekehrt) zu Ende geführt, sondern der interdisziplinäre Kommunikationsraum im Bereich der Rechtsphilosophie und der Rechtstheorie in allen hier in Betracht gekommenen Feldern erschlossen werden. Die Legitimation des demokratischen Rechts wurde in jeder hier relevanten thematischen und methodischen Hinsicht konzeptionalisiert und integriert, in thematischer Hinsicht makroskopisch-universell im Bereich der Justifikation, mesoskopisch-kulturell im Bereich der Konstitution und mikroskopischsituationell im Bereich der Judikation, methodisch gesehen ethisch-philosophisch im Bereich der Rechtsphilosophie und juristisch-ethisch im Bereich der Rechtstheorie. Daraus ergibt sich eine interdisziplinäre Theorie des demokratischen Rechts, die sich aus den disziplinären Konzeptionen der Diskursethik in der Moralphilosophie, der deliberativen Demokratie in der politischen Philosophie, der deliberativen Judikation in der Urteilsphilosophie, des demokratischen Rechtsstaats in der Verfassungstheorie, der demokratischen Judikation in der Urteilstheorie und nicht zuletzt der strukturierenden Rechtslehre vorrangig in der juristischen Methodik zusammensetzt. Aufgrund der engen Verbundenheit der strukturierenden Rechtslehre mit der juristischen Rechtsdogmatik und vereinzelten auch ansonsten hergestellten Querbezügen zur juristischen Dogmatik1 lässt sich zudem zumindest plausibilisieren, dass sich die dargelegte Theorie auch mit den entsprechenden juristisch-dogmatischen Disziplinen der Verfassungsdogmatik und der Urteilsdogmatik ins Benehmen setzen lässt. Der hier rekonstruierte ethisch-juristische Kommunikationsraum kann damit insgesamt, auf jeden Fall in den wichtigsten Feldern, als erschlossen und die erarbeitete Gesamtkonzeption, wie beabsichtigt, als eine Theorie legitimen demokratischen Rechts gelten, die sowohl in juristischer als auch in ethischer Perspektive überzeugt. Zum Schluss dieser Untersuchung sollen die Einzelschritte dieser Arbeit nun nicht noch ein weiteres Mal paraphrasiert werden. Um den Gedankengang dieser Untersuchung hinreichend nachvollziehbar zu machen, sollten die zahlreichen Anknüpfungen und Überleitungen, die verschiedenen Kontextualisierungen und die Zusammenfassungen das Ihre bereits geleistet haben. Stattdessen wird im Folgenden 1. noch ein kurzes abschließendes Resümee gezogen werden, 1
Bspw. V. 4.
1. Resu¨mee
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Abbildung 32: Eine interdisziplina¨re Theorie demokratischen Rechts
das die allerwichtigsten Erkenntnisse dieses interdisziplinären Unternehmens nochmals auf den Punkt bringt. Der sich 2. ebenso kurz daran anschließende Ausblick wird außerdem noch die eine oder andere Richtung aufzeigen, in der das hier initiierte Projekt interdisziplinärer Rechtslegitimation in Zukunft sinnvollerweise weiterentwickelt werden könnte.
1. Resümee Was sich durch diese ganze Untersuchung hindurchzieht, ist ein diskursiver oder deliberativer Legitimationsansatz. Ob in ethisch-philosophischer oder in juristischethischer Sicht, ganz gleich in welchem spezifischen thematischen Anspruchsbereich – in einer interdisziplinären Haltung, die sich darum bemüht, die Perspektiven der Jurisprudenz und der Ethik nicht nur je für sich zu respektieren, sondern sie auch gleichberechtigt zu integrieren, gibt sich das demokratische Recht, der demokratische Prozess der Rechtfertigung zwischenmenschlicher Ordnungsverhältnisse, insgesamt in einer diskursiven Struktur zu erkennen. Die hier zunächst in der Diskursethik entwickelte These der Legitimation durch Diskurs oder Deliberation verlagert die Legitimation normativer Handlungsprozesse zunächst vom Inhalt aufs Verfahren. Es sind nicht die Ergebnisse, die für die Legitimität von Normen
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Schluss: Resu¨mee und Ausblick
und Handlungen bürgen, sondern die Prozeduren der Generierung von Handlungsnormen sind es, die die Vermutung befördern können, dass ihre Ergebnisse legitim sind. Um den Normierungsergebnissen auch wirklich eine Legitimitätsvermutung zusprechen zu können, dürfen die Prozeduren aber nicht beliebig eingerichtet sein. Sie müssen einer normativen Struktur folgen, die allen Betroffenen des Normierungsproblems die faire reale Chance gibt, alle anderen Betroffenen argumentativ, mit guten Gründen von ihrer Ansicht zu überzeugen. Nur auf diese Weise kann der moderne Anspruch auf Rationalität auch im Problem der Legitimation von Rechtsverhältnissen zum Tragen kommen. Und das normative Strukturkonzept, das diese legitimatorischen Ideen auf den Begriff bringt, ist der (praktische oder rechtliche) Diskurs. Um das richtig einschätzen zu können, genügt es nicht, eine legitimatorische Sichtweise einzunehmen. Eine weitere grundlegende Erkenntnis dieser Untersuchung ist, dass sich ein legitimatorisches Programm (sozusagen das Normprogramm) nur dann zu einem überzeugenden Konzept, einer überzeugenden Konzeption oder Theorie ausarbeiten lässt, wenn es sich mit dem Wirklichkeitsbereich, den es normativ strukturieren will (sozusagen dem Normbereich), ins Benehmen setzen lässt. Wer eine bestimmte (insbesondere soziale) Wirklichkeit normieren bzw. legitimieren will, muss sie auch (soziologisch) kennen, muss auch wissen, wie sie funktioniert. Die Probleme des Legitimierens und des Funktionierens sind jeweils, bereits in Bezug auf ein bestimmtes Disziplinenfeld, im Zusammenhang zu betrachten, auch wenn in einer legitimatorisch ausgerichteten Konzeption oder Theorie am Ende – mit legitimatorischen Gründen wohlgemerkt – aus einer legitimatorischen Perspektive zu resümieren ist. Interdisziplinaritätstheoretisch hat das seinen Grund darin, dass das Legitimationsproblem und das Funktionsproblem einander nicht vor- oder nachgeordnet, sondern als gleichberechtigte (Anspruchs-) Seiten derselben Medaille zu betrachten sind, von denen jeweils aber immer nur eine hervorgehoben werden kann. Im Gesamtzusammenhang müssen sie jedoch, jeweils stimmig, ein kohärentes Bild abgeben. Was für die Gleichberechtigung zwischen der legitimatorischen und der funktiologischen bzw. soziologischen Perspektive gilt, gilt als allgemeine (inter-)disziplinäre Gleichberechtigung auch für Disziplinen unterschiedlichen Abstraktionsniveaus. Nicht genug herausgestellt werden kann deshalb die weitere interdisziplinäre Erkenntnis, dass auf Hierarchien zwischen verschiedenen Disziplinenfeldern bedingungslos zu verzichten ist. Insbesondere im Problembereich des Rechts heißt das, dass Disziplinen eines höheren Abstraktionsniveaus, sei es in thematischer oder in methodischer Hinsicht, keine „höhere“, „bessere“, oder „richtigere“ Gültigkeit beanspruchen können als solche tieferer Abstraktion. Die Moralphilosophie ist nichts Besseres als die politische Philosophie, die Verfassungstheorie oder die juristische Methodik, sondern eben nur abstrakter. Das Recht als Moral ist nicht „gerechter“ als das Recht als Politik oder als das Recht in der konkreten, z. B. juristisch-dogmatisch konzeptionalisierten Urteilssituation im Einzelfall, sondern eine thematisch-methodische Abstrahierung der Rechtfertigungspraxen, die sich
1. Resu¨mee
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auch ins Hier und Jetzt des alltäglichen Lebens versetzen lassen (müssen). Die ethische und die moralphilosophische Theorie im Besonderen ist daher gehalten, von ihrem hohen Ross herabzusteigen und der Rechtswissenschaft auf Augenhöhe zu begegnen. Im interdisziplinären Kontext kann sich die Ethik nicht mehr ins Abstrakte flüchten und von dort aus herrisch verfahren. Auch sie ist darauf angewiesen, dass sich ihre abstrakte Theorie im Konkreteren kontextualisieren lässt. Andererseits sollte auch deutlich geworden sein, dass mit der interdisziplinären Verantwortung, die jeder Disziplin zwangsläufig aufgeladen ist, sich auch konkretere Konzeptionen der Rechtstheorie oder der Rechtsdogmatik nicht gegen Abstraktion verschließen können. Das (nicht-hierarchische) Absinken ins Konkrete entlastet nicht davon, den vermeintlichen „Erfolg“ der disziplinären Praxis auch der transdisziplinären Irritation durchs Abstrakte auszusetzen. Wenn sie die philosophische Ethik nicht schlichtweg als unwürdige Wissenschaftspraxis diffamieren und dem Projekt der Interdisziplinarität, bevor sie es überhaupt zu Wort kommen lassen hat, nicht prinzipiell die Berechtigung absprechen will, bleibt deshalb auch der Rechtswissenschaft nichts anderes übrig, als sich auf Philosophie und Ethik einzulassen und zu versuchen, mit ihr zu kommunizieren. Dass sie dabei gute Chancen hat, ihre eigene Rationalität, besser reflektiert, noch zu erweitern und der Ethik stellenweise gar unter die Arme zu greifen, sollte hier gezeigt worden sein. Auch wenn diese Arbeit von dem gesetzten Ziel ausgegangen ist, eine juristisch wie ethisch überzeugende Legitimationstheorie erarbeiten zu wollen – ihre unterschwellige Grundthese ist natürlich, dass sich eine hinreichend überzeugende Theorie der Rechtslegitimation erst auf dem interdisziplinären Weg begründen lässt. Zumindest sollte diese Arbeit das auch suggerieren. Ausgeführt worden ist das nur an einzelnen Stellen unter ausgewählten Aspekten.2 Insgesamt gezeigt haben soll diese Untersuchung allerdings, dass eine interdisziplinäre Theorie demokratischen Rechts möglich ist und in welche Richtung sie gehen sollte. Wie außerdem ebenso klargeworden sein sollte, entfalten interdisziplinäre Argumente ihre Kraft auch in den disziplinären Argumentationen. In welcher der hier berührten Disziplin auch immer – allein auf die disziplinär hergebrachten Ansätze und Konzepte zu bauen, genügt nicht. Nicht zuletzt das spricht dafür, dass moderne Legitimationstheorie um die Interdisziplinarität nicht mehr herumkommt. Das interdisziplinäre Arbeiten erlaubt es insbesondere auch, moderne theoretische Ansätze und Konzepte einzuholen, die mit dem Problem der Rechtslegitimation nicht unmittelbar, nicht augenscheinlich unmittelbar zusammenzuhängen scheinen, für die Überzeugungskraft einer legitimatorischen Rechtstheorie – auf nachpositivistischem und nachmetaphysischem Begründungsniveau – aber gleichwohl unabdingbar sind. Auf dem interdisziplinären Weg kann auch die Legitimationstheorie z. B. von der Bewusstseinsphilosophie konsequent auf die Sprachphilosophie, von einer rein semantischen Begriffslogik auf die Pragmatik umgestellt 2
Z. B. I. 3. und II. 3.
512
Schluss: Resu¨mee und Ausblick
werden. Zudem wird sie etwa auch anschlussfähig für die moderne politiktheoretische Begriffsbildung (beispielsweise für das Konzept der Public Governance) und wird unter den nötigen, sorgfältig vorzunehmenden Anpassungen auch in die Lage versetzt, ihrerseits wichtige Beiträge zur modernen Begriffsbildungen zu leisten (hier beispielsweise mit dem Konzept der Public Judication und der Public Legislation bzw. mit dem Konzept des Public Decision-Making). Dabei ist Interdisziplinarität ja selbst ein relativ modernes Konzept.3 Wenn sich jedenfalls mit einem interdisziplinären Ansatz weitere moderne Theorie-Ansätze integrieren lassen, spricht auch das wieder für die Interdisziplinarität. Entscheidend ist dabei freilich, wie Interdisziplinarität praktiziert wird: Sie muss als faire Integration praktiziert werden. Das Konzept der praktischen Integration4 unterbreitet einen Integrationsansatz, der das Ganze weder für unerreichbar noch für vorgegeben hält. Das Ganze ist in der fairen Interaktion der Einzelteile erst zu erschaffen. Diese Interaktion geht an den einzelnen Teilen allerdings nicht spurlos vorüber. Sie zwingt sie zur Reflexion ihres eigenen Standpunktes im Lichte des anderen, und nicht selten, zumindest wenn die integrative Interaktion wirklich fair verläuft, hat das zur Folge, dass sich auch die Einzelteile neu einrichten müssen. So stehen die Teile und das Ganze in einem ständigen produktiven Wechselverhältnis, in dem die Konsonanz des Ganzen gar nicht das Ziel ist. Das kohärente Zusammenspiel der Einzelnen ist nur der eine Fluchtpunkt fairer Integration. Der andere ist die berechtigte Selbstbestimmung der Einzelnen, die authentische partikuläre Konsonanz sozusagen, die es immer auch gestatten muss, sich im berechtigten Ausmaß zum Anderen und zum Ganzen dissonant zu verhalten. Erst beide Gesichtspunkte zusammen, die geforderte Konsonanz des Ganzen und die berechtigte Dissonanz des Einzelnen, ermöglichen es schließlich, Integration als einen auf Dauer angelegten, zugleich funktionierenden und legitimen Prozess zu verstehen. Wiederum ist es dabei der Diskurs, der diesen Integrationsgedanken adäquat konzeptualisiert. Er ist das faire Verfahren, das die Möglichkeit eröffnet, die zahlreichen differenten Sichtweisen im rationalen, soll heißen gerechtfertigt gewaltsamen Für und Wider zu einem annehmbaren differenzierten Einen zu integrieren. Der Schlüssel zur fairen Integration liegt darin, das Andere als Anderes ernstzunehmen. Das bedeutet zweierlei. Zum einen ist das Andere überhaupt, als prinzipiell gleichberechtigtes Gegenüber zu respektieren. Zum andern muss es aber auch in seiner Andersheit respektiert werden. Das verlangt es, der Differenz zwischen dem Einen und dem Anderen auf den Grund zu gehen und sie von einer – wieder in gemeinsamer diskursiver Interaktion herausgearbeiteten – Basis aus im gegenseitigen Verhältnis zu strukturieren. Auf dieser Grundlage besteht dann die Chance einer für alle akzeptablen „differenzierten Einheit“ – an der freilich zu arbeiten bleibt. Differenzierte Einheit, das ist kein Zustand, sondern eine Aufgabe. 3 4
Vgl. III. 2. a. A. III. 2. a), (3).
2. Ausblick
513
Die gemeinsame Basis von Jurisprudenz und Ethik ist der Anspruch auf Richtigkeit, Gerechtigkeit, auf legitimes Recht. Dass beide Disziplinen dabei am gleichen Strang ziehen, nur von anderen Feldern aus, kann aber wieder erst verstanden werden, wenn sie in dem, was sie tun, jeweils ernstgenommen und zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Dafür genügt es nicht, sie lediglich als Vertreterinnen bestimmter organisatorisch institutionalisierter Schulen, Lehren oder Logiken zu betrachten. Die verschiedenen (nicht zwingend unter dem Namen Rechtswissenschaft und Ethik vorgetragenen) Logiken müssen bereits in ihren Geltungsansprüchen analysiert, differenziert und systematisiert werden. Auf diese Weise entsteht ein Kommunikationsraum, in dem sich die verschiedenen Logiken ihrem disziplinären Anspruch entsprechend wiederfinden und über die disziplinären Grenzen hinweg interdisziplinär miteinander kommunizieren können. I. d. S. hat diese interdisziplinäre Theorie demokratischen Rechts zeigen wollen, dass die Rechtswissenschaft und die philosophische Ethik in ihrem Anspruch lediglich graduell zu differenzieren sind und sich übers Gesamte zu einer differenzierten Einheit zusammenfügen. So lässt sich in diesem Verhältnis recht deutlich erkennen, dass die eine Disziplin von der anderen in ihrem Bereich sozusagen nur stellvertretend repräsentiert wird5. Um es – wohlverstanden mit den notwendigen Differenzierungen im Hintergrund – jedenfalls für die Jurisprudenz und die Ethik als Fazit zu pointieren: Jurisprudenz ist Ethik, und Ethik ist Jurisprudenz.
2. Ausblick Dem hier geforderten Verständnis der interdisziplinären Theorie als aufgegebener Prozess getreu ist auch diese Untersuchung als eine Forschungsetappe zu betrachten. Das Vorliegende, ein lediglich durch seinen Autor nach bestem (aber begrenztem und fehlbarem) Wissen und Gewissen zu einer Gesamtkonzeption zusammengeführter Zwischenstand eines Forschungsprojekts, das auch gar nicht an die Urheberperson (ein ohnehin problematischer Begriff) gebunden bleibt, ist „work in progress“.6 Angesichts dieser Unfertigkeit der Argumentation (von ihrer möglichen Verbesserungswürdigkeit in Bezug auf das bereits Erarbeitete abgesehen) sei abschließend noch die eine oder andere Richtung angegeben, in die sie sich in Zukunft sinnvollerweise weiterentwickeln könnte. Nach der interdisziplinaritätstheoretischen Orientierung, die diese Arbeit auch hat geben wollen, scheinen dabei die Ansätze der wissenschaftlichen oder der theoretischen Breite und Tiefe als nicht mehr so tauglich. Angebrachter wäre es dagegen, nunmehr von der Stärkung der disziplinären und der interdisziplinären Überzeugungskraft zu sprechen. 5 Diese vom Linguisten Fritz Hermanns für die Geisteswissenschaften beanspruchte Erkenntnis wird aufgegriffen in Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 128. 6 Vgl. Müller, Strukturierende Rechtslehre (21994), S. V / 2.
514
Schluss: Resu¨mee und Ausblick
Damit das Vorhaben einer interdisziplinär integrierten Legitimationstheorie hier überhaupt realisiert werden konnte, war die Untersuchung in vielerlei disziplinärer Hinsicht gezwungen, Abstriche zu machen. So blieben z. B. die bereits feldimmanent eingearbeiteten Soziologien eben kleine. Zudem wurde der ausgesparte rechtsdogmatische Bereich des ethisch-juristischen Kommunikationsraums lediglich über zwar plausible, dennoch aber nur hilfsweise Konstruktionen kontextualisiert, ein theoretischer Zustand, der nur solange annehmbar ist, wie sich von dogmatischer Seite her keine Kritik regt – vermutlich also ein Zustand von kurzer Dauer. Aber auch die Bearbeitung der anderen Felder, vornehmlich im zweiten Teil dieser Untersuchung, lassen noch reichlich unerschlossenen Argumentationsraum erkennen. Auch diese vielen Beschränkungen, die hier zugunsten einer interdisziplinären Perspektive zwangsläufig in Kauf genommen werden mussten, sollten allerdings kein Dauerzustand sein. Obschon besonders im ersten Teil dieser Untersuchung in verstärktem Maße auf disziplinäre Überzeugungskraft geachtet wurde, finden sich die unerschlossenen Argumentationsräume bereits dort. So wäre die strukturierende Rechtslehre in der juristischen Methodik noch weiterzubringen, v. a. damit von anderer Seite endlich in dem Maße auf sie eingegangen wird, wie es ihr theoretisches Niveau verdient. Diese Forderung geht natürlich zuallererst an die hiesige Adresse zurück. In diesem Zusammenhang könnte nicht nur im Feld der juristischen Methodik noch differenzierter gearbeitet werden. Zu denken wäre auch an eine bessere Verknüpfung mit den verschiedenen Disziplinenfeldern, mit denen die strukturierende Rechtslehre neben der juristischen Methodik operiert. Über eine überzeugende strukturierende Dogmatik hinaus könnte die strukturierende Rechtslehre etwa im Bereich der Urteilstheorie und der Urteilsphilosophie noch besser zur Geltung gebracht werden. Außerdem wäre es wünschenswert, den texttheoretischen Ansatz der strukturierenden Rechtslehre auch in der Verfassungstheorie noch konsequenter, noch kohärenter mit dem hier vertretenen diskursiven oder deliberativen Modell des demokratischen Rechtsstaats zu verbinden. Die bisherige (hier erfolgte) konstruktive Zusammenarbeit zwischen der strukturierenden Rechtslehre und der Diskurstheorie lassen diesbezüglich auch weiterhin durchaus Verheißungsvolles erwarten. Ein noch sorgfältigeres Eingehen auf die strukturierende Rechtslehre wird womöglich sogar im Feld der Moralphilosophie Verfeinerungen erlauben. Möglicherweise ließe sich dort die rekonstruktive Sicht noch durch eine dekonstruktive noch besser komplementieren, als es in der bisherigen Forschung geschehen ist. Sodann wäre die politische Philosophie nicht nur der Ort, an dem die Konzeption der deliberativen Demokratie noch weiter ausgearbeitet, tiefer eingearbeitet und noch hartnäckiger diskutiert werden sollte, sondern auch der, an dem das umkämpfte Verhältnis von Moral, Politik und Recht am besten kontextualisiert werden kann. Dort – und in der Urteilsphilosophie – könnte der hier vorgeschlagene Konkretisierungsansatz womöglich noch vertieft und der Sinn konkretisierender und abstrahierender, kurz: rekonstruierender Theorie-Arbeit noch besser erprobt werden. Darüber hinaus ist die Verfassungstheorie die wohl zentrale Verbindungsstelle
2. Ausblick
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zwischen Jurisprudenz und Ethik – wobei die politologische Wissenschaft, wissenschaftsphänomenologisch, der juristischen Verfassungswissenschaft ohne guten Grund das Feld zu überlassen scheint. Jedenfalls reden Juristinnen und Ethiker in der Verfassungstheorie noch viel zu gut aneinander vorbei. Besonders viel an disziplinärer Binnenarbeit gibt es schließlich noch in den Disziplinen, die hier als Urteilstheorie und Urteilsphilosophie bezeichnet worden sind, zu leisten. Als eigenständig differenzierbare Anspruchsbereiche mit eigenständig auszuarbeitenden Konzepten und Konzeptionen wartet dort noch besonders viel Arbeit. Das hier Ausgeführte zu den Konzepten der Public Judication und der verantworteten Rechtskonstruktion sowie zu den Konzeptionen der demokratischen und der deliberativen Judikation sind erst theoretische Ansätze, die unter verschiedenen Gesichtspunkten noch nach Differenzierung verlangen. Bereits jeder einzelne dieser disziplinären Vertiefungsansätze würde wieder die interdisziplinäre Kohärenz dieser Theorie herausfordern, sodass ein weiterer Ausbau der interdisziplinären Architektur zunächst noch gar nicht anstünde. Dennoch wäre es auch angebracht, den ethisch-juristischen Kommunikationsraum um Felder zu erweitern, die in den hier rekonstruierten Disziplinenraster noch nicht eingebaut sind. Dabei gilt es insbesondere festzuhalten, dass sowohl auf den Abstraktionsstufen des Kulturellen wie des Situationellen jeweils immer nur ein Spezialthema ausgewählt wurde. V. a. wurde auf der Ebene bestimmter situationeller Entscheidungsfindungsprozesse der Prozess der Legislation zugunsten desjenigen der Judikation größtenteils im Hintergrund belassen. Um den demokratischen Prozess aber noch besser im Gesamtzusammenhang sehen zu können, bedürfte es im Bereich der Rechtstheorie und der Rechtsphilosophie noch einer entsprechenden Konzeption der demokratischen Legislation und einer Konzeption der deliberativen Legislation. Diese weiteren Konzeptionen müssten sich dann mit den Konzeptionen der demokratischen und der deliberativen Judikation zu einer interdisziplinären Theorie legitimer Entscheidungsfindung bzw. legitimen Decision-Makings verbinden lassen. Anzumerken ist auch, dass hier auf der Stufe der Konstitution noch ein sehr allgemeines Verständnis von moderner westlicher Demokratie geprägt worden ist, das z. B. weder zwischen nationalen und internationalen demokratischen Konstitutionsformen noch zwischen verschiedenen kulturellen Ausprägungen innerhalb der westlichen demokratischen Konstitution differenziert. In diesem Zusammenhang wäre es etwa besonders interessant, den Unterschied zwischen dem kontinentaleuropäischen Kodifikationsrecht und dem angloamerikanischen Fallrecht etwas näher zu betrachten. Ansätze eines (reflektierten) in diese Richtung steuernden Blicks, auch in Bezug auf die Judikationstheorie, sind im Umkreis der strukturierenden Rechtslehre bereits zu finden.7 7 Z. B. Christensen et al., Einige Probleme der gegenwärtigen Rechtstheorie (2007). Als amerikanischer Rechtstheoretiker, der auch mit der strukturierenden Rechtslehre vertraut ist, ist Dennis M. Patterson zu nennen. Dessen eher moderne als postmoderne Rechtsauffassung ist dargelegt in Patterson, Recht und Wahrheit (1999 [1996]). Dazu Christensen, Wahres Recht? – Das Recht wahren (1999).
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Schluss: Resu¨mee und Ausblick
Ferner wäre zu überlegen, wie der teleologische Aspekt – nicht als Gerechtigkeitsaspekt, sondern als eigener Geltungsanspruch – auch in der Legitimationstheorie noch gewinnbringender verarbeitetet werden könnte. Wie hier in den interdisziplinaritätstheoretischen Zwischenüberlegungen nur nebenbei erwogen, liegt es nicht fern, neben den (horizontalen) methodischen Ansprüchen des Legitimierens und des Funktionierens das Glück als „dritte Dimension“ zu begreifen.8 Funktionieren, Legitimieren und Reüssieren wären dann als die drei Seiten derselben Medaille analytisch noch überzeugender zu einem interdisziplinären Ganzen zu integrieren. Das bringt, wie im Exkurs zur integrativen Wirtschaftsethik angedeutet, auch die Wirtschaftswissenschaft ins Spiel. Der Exkurs hat dabei nicht nur aufgezeigt, dass eine für die Prozesse des Wirtschaftens geöffnete Perspektive auch von der Legitimationstheorie noch Vieles an Differenzierungs- und Integrationsarbeit abverlangt. Zudem hat er nochmals deutlich gemacht, dass theoretische Logiken und Konstrukte, die tatsächlich oder vorgeblich auf einen bestimmten Geltungsanspruch fokussiert sind, zusätzlich auch weitere Ansprüche erheben, wie gesehen etwa in den etablierten Logiken der Ökonomie. Nicht anders wird es sich freilich mit weiteren wissenschaftlichen Praxen verhalten. Jede Theorie, die zum Zusammenleben von Menschen auch nur ansatzweise etwas sagt, äußert sich, ob es ihr bewusst ist oder nicht, auch zur Legitimität dieser Interaktion. Der potenzielle interdisziplinäre Kommunikationsraum des Rechts öffnet sich damit prinzipiell unbeschränkt. Nicht zuletzt versteht sich dabei, dass auch die interdisziplinaritätstheoretischen Rekonstruktionen, auf denen diese Überlegungen aufbauen, selbst noch in den Kinderschuhen stecken. Der konzeptionelle Entwurf der diskursiven Interdisziplinarität, der hier lediglich einen methodologischen Minimalanspruch einlösen wollte, konnte freilich nicht viel mehr leisten als einen tappenden Versuch, mit besonderem Blick auf die Jurisprudenz und die Ethik im undurchsichtigen Gewimmel großer Worte etwas Ordnung zu schaffen. Wie auch immer aber gedreht und gewendet, ob disziplinär, interdisziplinär oder interdisziplinaritätstheoretisch – es gibt noch viel zu tun.
8
III. 2. b), (2).
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Sachverzeichnis Abberufungsrechte 348 Absenz, diskursive 289 f. Absicht, gesetzgeberische 43 f., 46 Absolutismus 243, 251 Abstimmung 242, 265, 291 f., 295 f., 324, 349 Abstrahierung 188, 191, 194, 300, 464 Abwägung 55 f., 75, 146 ff., 439 f. Achse „Normtext – Fall“ und „Normtext – Wirklichkeit“ 64, 215 – s. a. Methodik-; Thematik-Achse Achtung 106 Administration (Organ) s. Verwaltung Administration (Prozess) s. Verwalten Akzeptabilität, allgemeine 110, 114 ff., 120 ff., 127 f., 144 – s. a. Konsenswürdigkeit Alternierung 188, 192, 200 Altruismus 94 f., 106 (Fn.) Amnestie 395 (Fn.) Analyse – empirisch-logische 37 – kritische 62, 216 – semantische 143 – soziologische 252 ff., 271 ff., 351 ff., 413 f., 441 ff., 454 ff. – systemtheoretische 79 f., 85 – s. a. Normbereichs-; Rechtsprechungsanalyse Angemessenheit 142 ff., 151 ff., 486 Angemessenheitsargumentation 141, 145 f., 158 Angemessenheitsdiskurs 146, 149 – s. a. Anwendungsdiskurs Angst 245 Anspruch – ethischer 22 ff., 76, 86 f., 89 ff., 224 ff., 239 f., 435 ff., 454
– ethisch-juristischer 15, 22 ff., 76, 86 f., 89, 156 ff., 220 ff., 326 ff., 435 f., 508 f., 511 ff. – funktiologischer 21, 24 f., 189 ff., 230, 236, 271 ff., 351 ff., 413 ff., 455 ff.; s. a. soziologischer – juristischer 22 ff., 32 f., 35 ff., 76 f., 86 f., 223 ff., 379 ff. – juristisch-ethischer 23 f., 224 ff., 326 ff., 384 ff. – kultureller 17 f., 20 f., 121 ff., 152 f., 189, 218, 221 f., 239 ff., 274, 278 ff., 318 ff., 345, 368 f., 459 f. – legitimatorischer 21 ff., 104, 189 ff., 205 f., 311 f., 314 f., 320, 374 f., 484 f., 488, 495 ff., 510, 516 – situationeller 18 ff., 189, 221 f., 316 ff., 386 ff., 426, 459 ff. – soziologischer 21, 24 f., 77 f., 181 ff., 189 f., 202 ff., 258 ff., 271 ff., 318, 340 ff., 351 ff., 392 ff., 415 ff., 441 ff., 510, 516; s. a. funktiologischer – teleologischer 92, 93 ff., 100 ff., 107, 118, 126 (Fn.), 190 f., 244 f., 263 f., 310 ff., 320 (Fn.), 374, 491 f., 516 – universalistischer 123, 129 ff., 134 f., 142, 150, 255, 319 f. – universeller 19 ff., 150 ff., 222, 318, 458 f. – s. a. Geltungsanspruch; Logik und Anspruch; Rechts-; Richtigkeitsanspruch Anspruchsdiskurs s. Orientierungsdiskurs Anspruchsraum, ethisch-juristischer s. Kommunikationsraum Anti-Legalismus 51 ff., 59 ff., 69, 438 ff. – harter proaktiver s. Dezisionismus – resignativer s. Rechtsrealismus – weicher proaktiver s. Rechtstheorie, postmoderne Antipositivismus s. Anti-Legalismus Antithetik, legitimatorische 477 f.
Sachverzeichnis Anwendung 37 ff., 50 f., 139 ff., 158 f., 218 ff., 312 f., 399, 415 f., 438 ff., 485 ff., 503 f. Anwendungsdiskurs 140 ff., 148 ff., 218 f., 313 (Fn.), 485 f. – s. a. Angemessenheitsdiskurs Anwendungsmodell 51, 54, 439 – s. a. Subsumtionsmodell Anwendungsprinzip 144 f. Applikation s. Anwendung Applikationismus, moralischer 139 f., 148 ff., 497, 503 Arbeiten, interdisziplinäres 29, 172, 181, 204, 209, 511 f.; s. a. Feldarbeit Arbeit mit Texten 46, 65 Arbeitspositivismus 35 f., 498 f. Arbeitsteilung 15, 251 f., 259, 264 Argumentation – juristische 81, 162 ff., 165 ff., 401, 426 ff., 448 f.; s. a. juristischer Diskurs; Theorie der juristischen Argumentation – Modell (Toulmin) 129 f. – „politische“ 401 Argumentationskultur, juristische 71 Argumentationslehre s. -theorie Argumentationslogik, reflektierte 428 Argumentationsphilosophie s. -theorie Argumentationspraxis 127, 136 Argumentationsraum 22, 433 f., 514 Argumentationsstruktur, juristische 429 Argumentationstheorie 71, 129 f., 160 ff., 214, 218 (Fn.) Argumentieren, strukturelle Gewalt 457 Assimilation 176 ff. Assimilationismus 173, 175 ff. Auditorium, universelles 134 f. Auffangverantwortung 340 Aufklärung 243, 296 (Fn.) Aufstufung, reflexive 71, 216, 227 Ausdifferenzierung – gesellschaftliche 78 ff., 183 f., 251 ff., 337 f. – Moral und Recht 213 f. Auseinandersetzung, disziplinäre 186, 200; s. a. Diskurs, disziplinärer Ausgleich, sozialer 333 f. Auslegung 39 ff., 42 ff., 54 ff., 161 f., 439 f. – s. a. Konkretisierung
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Auslegungsmetapher 39, 46, 50 Auslegungsmodell 39, 46 Auslegungsweisen 40 – s. a. Konkretisierungselemente Aussagen, normative 52, 81, 160, 163 – s. a. Anspruch, legitimatorischer Äußerung 125 f. Ausstandspflichten 422 Autokratie 18, 242 Autonomie, öffentliche und private 122 f., 249, 256, 300 f., 331 f., 340, 372 ff., 405 (Fn.) – s. a. Selbstbestimmung Autopoiesis 79, 260 – s. a. Recht als autopoietisches System Autor 44 ff. autorisiertes Urteil (Prinzip) 467 f., 479 Autorität 50 – moralische 121 Balances (Prinzip) 295, 298 ff., 366, 376, 471, 479 Bedeutung 16, 39, 43 f., 47 f., 65 f., 68, 72 ff., 129, 143, 146 ff., 150, 378, 422 f., 449 ff., 457, 459, 469 f. – und Bedeutsamkeit 65 Bedeutungshypothese s. Konkretisierungshypothese Bedeutungsreduktion und -erweiterung 72 ff. Begriff, wertausfüllungsbedürftiger 39 Begründung 57, 127, 130, 133, 138, 141 ff., 163, 225 (Fn.) – und Anwendung 141 ff., 147 ff., 158 f., 218 ff., 313 ff., 485 f. – s. a. Gründe, gute Begründungsabbruch 130, 489 – s. a. Reflexionsstopp Begründungsdiskurs 142 ff., 149 ff., 218 f., 485 Begründungsniveau – nachmetaphysisches 22, 92, 105, 107, 123, 154, 214, 231, 361 (Fn.), 385, 428, 511 – nachpositivistisches 75, 511 Begründungspflicht 32, 35 f., 68 f., 425 f., 463 Begründungspflicht (Prinzip) 136 f., 138 f., 210, 295, 299, 367, 472, 479
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Sachverzeichnis
Beobachtung 78 ff., 83 ff., 202, 261 f., 329 ff., 413 f., 455 f. – und Teilnahme 83 ff., 202, 261 f., 329 ff. – zweiter Ordnung 81, 83 f. Beobachtungsparadox 83 Betroffenheitsregeln 412, 454 Bezugsrahmen, gemeinsamer 282 Bindung – gesetzliche s. Gesetzesbindung – normative 69 f., 72, 85, 216 f., 249 Bindungseffekte, illokutionäre 126 f. Bindungswirkung 423 Blickwechsel s. Perspektivenwechsel Bürger 249, 350, 360 – s. a. Wirtschaftsbürger; Zivile Bürgertugend 249, 493 f. ceteris paribus-Klausel 144 Chance 15, 108 f., 289, 291, 297, 361, 510 Chancengleichheit 112 – s. a. diskursive Chancengleichheit (Prinzip) checks and balances 298 f., 365 f., 472 – s. a. Balances (Prinzip); Checks (Prinzip) Checks (Prinzip) 295, 299 f., 355, 358, 366 f., 376, 472, 479 Code 42 (Fn.), 54 – s. a. Metacode Code (Systemtheorie) 79 ff., 81 ff., 179, 260 – s. a. Rechtscode das Andere 172, 174 f., 179, 188, 199 (Fn.), 200, 512 das Ganze 15 f., 24 ff., 73, 86, 172, 176 ff., 194 f., 211, 293, 452, 465 (Fn.), 512 das Gerechte 94 (Fn.), 103 ff., 110, 255, 307, 373 f., 377 f. – s. a. Deontologie das Gute 93 ff., 103 ff., 110, 118, 249, 306 f., 373 f., 377 f. – s. a. Teleologie das Moralische 19 f., 92 ff., 167, 214, 241 f., 248 f., 264 – s. a. Moral
das Öffentliche 328 ff., 341, 353, 388 ff., 506 f. – Verfassung 333 ff., 340 ff., 388 ff., 392 ff. das Private 328 ff., 388 ff. das Richtige 19 f., 29, 93, 148, 246 Deduktion 16, 61, 133, 168, 293, 358 Dekontextualisierung 119 f., 144, 150, 220 f. – und Kontextualisierung 150 – s. a. Entgrenzung, kontextuelle Deliberation – Begriff 275 f. – juristische s. juristischer Diskurs – politische s. politische Deliberation – s. a. Judikation als Deliberation zweiter Ordnung; Politik, deliberative deliberative Demokratie 271 ff., 275 ff., 309 f., 351 ff., 354 ff., 358 ff., 368 ff., 436, 454 ff., 476 ff., 479 f. – Prinzipien 293 ff., 326, 336, 353, 358, 466, 478 f., 506 deliberative Judikation 454 ff., 473 ff. – Prinzipien 466 ff., 478 f. Demokratie – als black box 240 f., 277 – Begriff 17 f., 243 – deliberative s. deliberative Demokratie – direkte 250, 270 f., 344, 348 f., 405 – universelle Gültigkeit 241 – Vorverständnis 242 – s. a. Politik, demokratische; Referendumsdemokratie; Versammlungsdemokratien Demokratie (Strukturprinzip) 355 f., 368 ff. – und Rechtsstaat 355 ff., 357 ff., 368 ff., 404 f., 418 ff., 477 ff. Demokratie-Konzepte 342 ff. – komplexes s. prozedurales – liberales s. Liberalismus – prozedurales 253 ff. – realistisches 251 ff. – republikanisches s. Republikanismus demokratische Judikation 412 ff., 435 f., 466 ff., 479 f. – Prinzipien 418 ff., 466 ff., 478 f. demokratischer Prozess 264 f., 265 ff., 340 ff., 392 ff., 441 ff. – als transformatorisches Medium 264 – reflexive Struktur 388 f.
Sachverzeichnis demokratischer Rechtsstaat 350 ff., 368 ff., 384 ff., 400, 412 ff., 426 ff., 473 ff., 506 f. – als Abstrahierung und Konkretisierung 368 ff. – Prinzipien 357 ff., 418 ff., 478 f. Deontologie 107 ff., 141 f., 160, 255 ff., 310 ff., 373 ff., 491, 503 – und Teleologie 95 (Fn.), 103 ff., 310 ff., 373 ff. – s. a. das Gerechte; Formalität, deontologische; Legitimationstheorie, deontologische Dependenzialismus, moralischer 146 ff. Deregulierung 245, 338 Desintegration, gesellschaftliche 260 ff., 262 f., 345, 409 ff., 441 ff. – Kompensationsbedarf 261 Desinteresse 118, 256 Deskription 53, 61 f., 337 ff. Determinismus – ökonomischer 488 ff. – ökonomischer und juristischer 497 f. Deutungsmuster 171, 173 Dezision 57, 439 f. Dezisionismus 52, 54 (Fn.), 56 ff., 439 f. – als legitimatorischer Supergau 58 Dialog 119 ff., 150, 180, 189, 193 ff., 203 f., 211, 320 (Fn.) Differenz 54, 135 f., 172 ff., 199 ff., 512 – und Identität 176 ff., 201 Differenzialismus 180 f. – s. a. Parallelismus Differenzierung 186 ff. – und Integration 201 – s. a. Diskursdifferenzierung Differenzprinzip (Rawls) 112, 117, 154 Diktatur 178 – s. a. Mehrheitsdiktatur Diskurs – advokatorischer 289 f. – als normatives Strukturkonzept 510 – Begriff 127 f. – disziplinärer 196 ff., 205 ff. – Dynamik 280 ff. – ethisch-politischer 304 ff., 310 ff. – interdisziplinärer s. interdisziplinärer Diskurs – juristischer s. juristischer Diskurs
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moralischer s. moralischer Diskurs pädagogischer 289 politischer s. politische Deliberation „pragmatischer“ 304 ff., 312 f. praktischer 127 ff. theoretischer 127 f. wissenschaftlicher 202 ff. s. a. Angemessenheits-; Anwendungs-; Orientierungs-; Begründungsdiskurs Diskursbedingungen 123 f., 129 ff., 132 ff., 203 f., 486 – s. a. Prinzipien der Diskursethik Diskursdifferenzierung 279 ff., 315 f. Diskursethik 89 ff., 123 ff., 158 ff., 239 ff., 274 ff., 321 ff., 473 ff., 485 ff., 496 ff. – Prinzip 128 f., 130 f. – Prinzipien s. Prinzipien der Diskursethik – und Diskurstheorie 90 (Fn.) Diskurs-Gebundenheit (Prinzip) 137 f., 209, 295, 297 f., 363 ff., 423 f., 470, 479 diskursive Chancengleichheit (Prinzip) 137 f., 209 f., 295, 298 f., 471, 479 diskursive Interdisziplinarität 202 ff., 516 – Prinzipien 207 ff. Diskurs-Offenheit (Prinzip) 137 f., 208 f., 295, 297, 470, 479 Diskurstheorie 89 ff., 203 ff. – s. a. Diskursethik Diskurstypen 303 ff., 306 ff., 309 ff. Diskursvoraussetzungen s. Diskursbedingungen Disparität, logische 174, 176 Dissens 127, 135 ff., 277, 282 ff., 313 f. Dissonanz 176, 178, 512 Disziplin 182 ff., 204 (Fn.) disziplinäre Autonomie (Prinzip) 207, 210 f. disziplinäre Kohärenz (Prinzip) 207, 208 f. Disziplinarität und Interdisziplinarität 200 ff., 207 ff. – s. a. Inter-; Multi-; Trans-; Unidisziplinarität Disziplinenraster 25 ff., 187 ff., 221 ff. – als heuristisches Instrumentarium 187, 190, 197 Disziplinierung 291, 356, 426, 454 Disziplinierung (methodologisch) 185, 387, 437 f. Diversifizierung 188
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Sachverzeichnis
Dogmatik 23 ff., 191 ff., 221, 223 ff. – juristische s. juristische Dogmatik – s. a. Urteils-; Verfassungsdogmatik Drei-Welten-Lehre 42 f. Druck, öffentlicher 348 Durchsetzung 53, 284, 339, 404 f., 442 f., 458 Durchsetzungskraft 17 f., 299 Dysfunktionalität 175 f., 195 Egoismus 94 f., 102, 118 f., 243, 497, 501 Eigengesetzlichkeiten, systemische 77, 259, 264 f. Eigenlogik 81, 174 f., 177, 180 Eigenwohl 245 Eindeutigkeit 16, 38 f., 59 f., 365 Einfluss 268 ff., 288, 298 ff., 337 f., 345 ff., 353, 402, 411, 418 Einfühlung 286, 289 f. Einheit 172 ff., 184 f., 210, 237, 253 f. – differenzierte 477, 501, 512 f. – und Vielheit 135, 172 ff. – s. a. Referenz-Einheit; das Ganze „Einheit der Rechtsordnung“ 73, 430 f. Einigung s. Konsens Einmischung 330 f. Einsicht 127, 135, 177, 340 (Fn.) Einverständnis 125 ff., 135, 451 – rational motiviertes 125, 127, 135 – s. a. Konsens Einzelinteressen 53, 248, 252, 255 f. Einzelkonzeption 28, 477, 480 – s. a. Teilkonzeption Einzellogik 174, 180 Einzelperspektive 195, 198, 302 f. Einzelpräferenzen, Aggregation 97 ff., 248, 276 f. Eliten, politische 252 Emanzipation 243, 485, 492 Endlichkeit 290, 461, 465 (Fn.) Entfaltung 245 f., 249, 253, 257, 329 ff. – s. a. Erfüllung; Selbstverwirklichung Entgrenzung, kontextuelle 19 – s. a. Dekontextualisierung Entscheidung 49, 57 f., 60, 71 f., 283, 291 f., 363 ff., 404 f., 432, 449, 462 f., 467, 470 f. Entscheidungsdruck 279, 290
Entscheidungsfindung 19 ff., 316, 386, 392, 403, 460 f. Entscheidungsnorm 46, 66 f., 71, 215, 220, 430 (Fn.), 440 Entscheidungspaternalismus, judikativer 462 f. Entscheidungsprozess 18, 318, 390 f., 393, 402, 423, 425 f., 458 Entscheidungsträger 19, 208 Erfahrung, diskursive 199 f. Erfolg 104, 125, 179, 222 f. (Fn.), 512 – s. a. Ergebnis; Produkt; Resultat Erfüllung 190, 245, 256, 311 – s. a. Entfaltung; Selbstverwirklichung Erfüllungsverantwortung 340 Ergebnis 74, 200, 218, 266, 297, 422, 459, 469 – s. a. Erfolg; Produkt; Resultat Erlass 41, 364 f., 400 ff., 443 f. Erkenntnis 47, 49 f., 52 f., 83 f., 439 Erkenntnispositivismus 49 f., 164 f., 217, 240 f., 438 f., 497 Erkenntnisregeln 80 Ermessensbegriff 39 Erwartungen, Enttäuschung 445 Ethik 22 ff., 26 f., 29, 76 f., 86 f., 89, 229 f., 484 ff., 496 ff., 513 – als Oberdisziplin 26 f., 229 – Anschlussfähigkeit 76 f., 81 ff. – juristische 503 – kognitivistische 130, 140 f. – politische s. Philosophie, politische – s. a. Gesinnungsethik; integrative Wirtschaftsethik; Methodik, ethisch / juristischethisch; Rechts-; Tugend-; Unternehmens-; Verantwortungsethik Ethik vernünftigen Wirtschaftens (Ulrich) 487 ff. Etymologie 222 f. (Fn.) Exaktheit 98, 101 f. Exekution 341 f., 397 ff., 402 f. – Begriff 341, 398 f. – Dynamik 398 Exekutive 19, 266 f., 341 ff., 397 ff., 402 f. Expertise – juristisch-dogmatische 432 – philosophische 122 Explikation 199 f., 216
Sachverzeichnis Faktum des vernünftigen Pluralismus (Rawls) 108, 113 f. Fallbereich 66 f. Falltyp 400 f., 453 faires Verfahren (Prinzip) 379, 467 f., 479 Fairness 179, 256, 274, 283 ff., 287 ff., 306 ff., 313 f. – s. a. Gerechtigkeit als Fairness (Rawls); Kompromiss, fairer; Repräsentation, faire; Verfahren, faires Fehlschluss – konkretistischer 503; s. a. Kurzschluss, konkretistischer – liberaler 333 – naturalistischer 215 Feld, disziplinäres 25 ff., 186 ff., 225 ff. Feldarbeit, interdisziplinäre 27 ff. (Feld-)Wechsel, disziplinärer 199 Flexibilität, situativ-strategische 55, 58, 439 f. Folgen 96 ff., 105, 125, 143 f., 484, 485 f. – s. a. Nebenfolgen Folgenerwägung 105 Formalität, deontologische 106 f., 146 f., 121 ff., 217 (Fn.), 384 f., 494 f. Formallogik 38, 130 f., 161 Formalpragmatik 125 f., 320 (Fn.) (Forschungs-)Frage / Problem 187 Fortschritt, wissenschaftlicher 201 Fragestellungen – ethisch-politische 303 f.; s. a. Diskurs, ethisch-politischer – moralische 303; s. a. moralischer Diskurs – pragmatische 304; s. a. Diskurs, „pragmatischer“ – Selektion 307 ff., 315 f. Fragmentierung – Gesellschaft / Kultur 100 f., 252 ff., 259 ff., 264 f., 282 f. – „In-dividuum“ 254 f., 261 f., 264 f. Freiheit – absolute 244 f. – positive und negative 248, 330 f. – und Gleichheit 247 f., 296, 300 (Fn.) – und Verantwortung 135 f., 137 ff., 207 ff., 256, 293 ff., 329 ff., 466 ff., 477 ff. – wissenschaftliche 207 ff. Freiheitsrechte 244 ff., 250, 360 f. Fremdbestimmung 330
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Frist / Fristenlauf 412, 454 Funktionieren und Legitimieren 24 f., 189 ff., 230, 271 ff., 251 ff., 413 ff., 455 ff., 510, 516 – s. a. Normativität und Faktizität; „Sein und Sollen“ Funktionsanalyse, soziologische 351 ff. Funktionsbeschreibung, selbstreferenzielle 86 f. Funktionssystem 78 f., 258, 263 ff. – s. a. Subsystem Funktionsträger 65, 240 f., 342 Funktionszwang 252 Gebundenheit der Deliberation (Prinzip) 295, 297 f., 358, 363 ff., 479 Gebundenheit des Urteils (Prinzip) 467, 470, 479 Gedankenexperiment 116 f., 118 ff., 486 f., 490 (Fn.) – Katalysatorfunktion 116 f. Gegenseitigkeit (Prinzip) s. Reziprozität (Prinzip) Gehör, rechtliches 68 f., 421 Geist, objektiver 44 f. Geltung 68, 142 ff., 206, 218 f., 292, 372, 399 f., 420, 477 – und Bedeutung 68 – s. a. Gültigkeit Geltungsanspruch 27, 84, 126 ff., 135 ff., 185 ff., 203 f., 210, 291, 299, 311 ff., 501 f., 513, 516 – impliziter 131, 238, 484 f., 488 ff., 505; s. a. Implikationen, normative; Unterstellung, normative – Kritisierbarkeit 127, 135 – normativer s. Anspruch, legitimatorischer Geltungskraft 279, 291 f., 298 Gemeinschaft 99 f., 100 f., 177, 247 ff., 254, 278, 331, 345 f. – als Lebensbedingung 244 – s. a. Rechts-; Wertegemeinschaft; Kollektiv Gemeinwille 250 Gemeinwohl 95, 98 f., 248, 276 f., 373 f. Generalisierung 188 Generation 122, 289 f.
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Sachverzeichnis
Gerechtigkeit 17, 20, 42 (Fn.), 80, 105 ff., 108 ff., 117 ff., 128, 161, 167, 189 f., 202, 255, 320 ff., 361 (Fn.), 512 – s. a. Hintergrundgerechtigkeit; das Gerechte; Deontologie Gerechtigkeit als Fairness (Rawls) 108 ff., 117 ff. – als politische Gerechtigkeitskonzeption 109 f. – als realistische Utopie 113 – Gerechtigkeitsprinzipien 112 Gerechtigkeitssinn 111, 118 f., 420 Gericht 341 f. – s. a. Judikative; Richter; Verfassungsgerichtsbarkeit Gerichtsprozess 166, 394 ff., 408 ff., 441 ff., 460 ff. Gesamtbild 301, 302 f., 352, 358, 387, 412, 435 f., 457, 473 ff. Gesamtkonzeption 27 f., 156 ff., 234 ff., 427 f., 473 ff., 501 ff., 508 f. Gesamtsicht 140, 212 ff., 457 f., 472 ff. Gesamtverantwortung 340 Gesamtzusammenhang 20, 222, 320 f., 381, 436 f., 460, 475 ff. Geschäftsprüfungsorgane 367 Geschichte 18, 99 f., 180, 209, 248 f., 298, 459 f. Gesellschaft 243 f., 248, 253 ff., 258 – als umfassendes Kommunikationssystem 78 – als Wirtschaftsgesellschaft 244 – dezentrierte 261 – moderne demokratische 251 ff., 258 ff., 273 ff., 504 f. – und Gemeinschaft 113 – vormoderne 259, 340, 505 – wohlgeordnete 111 ff., 494 Gesellschaftsordnung 111, 493 Gesellschaftsvertrag 116, 245 Gesetz – als lockeres Anschlussangebot 439; s. a. Recht als lockerer Anschlusszusammenhang – amtlich verabschiedetes 40 f., 220 – im formellen Sinn 363 – Verfassungswidrigkeit 404 f.
„Gesetzbuch der praktischen Vernunft“ 160 f., 164 f. Gesetzesbindung 36 f., 37 (Fn.), 49 f., 57, 60, 64 f., 71, 163, 166 f., 240 f., 294, 333 f. Gesetzesbindung (Prinzip) 36 f., 358, 363 ff., 419, 423 f., 479 Gesetzesform 317, 346, 350, 371 f., 334 f., 353 f. – s. a. Rechtsform Gesetzeslücke 42, 48 f. Gesetzespositivismus s. Legalismus Gesetzestext – als bloßer Transporteur 43 f. – Bedeutung 47 f., 448 f., 457 ff., 469, 470 – einschlägiger 64 ff., 423 f., 443 ff., 448, 469 – Verständlichkeit 445 f. – s. a. Norm-; Rechtstext Gesetzgebung s. Legislation Gesetzgebungsverfahren s. Legislationsprozess Gesetzmäßigkeit 57 f., 364 f. – s. a. Rechtmäßigkeit Gesetzmäßigkeit des Urteils (Prinzip) 36 f., 419, 423 f., 429 f., 467, 470, 479 – s. a. Rechtstextgemäßheit des Urteils (Prinzip) Gesichtspunkt, moralischer s. Standpunkt Gesinnungsethik 97, 105 Gespür 141, 176 Gewährleistungsstaat 339 f. Gewährleistungsverantwortung 340 Gewalt 440 f., 442 ff., 449 ff., 456 f. – Faltung 68 (Fn.), 450, 456; s. a. Macht, Transformation – sprachliche 135 f., 450 f., 456 f. – s. a. Staatsgewalt; Macht Gewalten, intermediäre 267 ff., 346 ff., 366 Gewaltenteilung 36 f., 49 f., 64 f., 68 f., 188 (Fn.), 246, 298 f., 333 f., 341 ff., 348 f., 371, 376 f. – als Textteilung 64 f. – herkömmliche Lehre 298 f., 341 f., 365 f. Gewaltenteilung (Prinzip) 36, 358, 365 ff., 419, 424 f., 479 Gewinnprinzip 495
Sachverzeichnis Gleichberechtigung 106, 203, 208 – disziplinäre 194, 203, 207 ff., 510 f. Gleichberechtigung (Prinzip) 295, 296, 300, 358, 360 f., 376, 468, 479 Gleichheit 247 ff., 296, 300 (Fn.), 361 – s. a. Rechtsgleichheit Gliedstaaten 270 f., 336 f., 363 Globalisierung 252, 260 f., 265 Globallehren, metaphysische (Rawls) 113 ff., 120 f. Glück 98 f., 190 f., 243 f., 248, 516 – als „dritte Dimension“ 190 f., 516 Glücksbilanz, kollektive 102 Grenzen, disziplinäre 156, 175, 177, 196 f., 513 größtes Glück der größten Zahl 97 Gründe, gute 15 f., 22, 72 f., 121, 126 f., 168, 301, 322, 414, 455, 510 – s. a. Begründung Grundfreiheiten, gleiche (Rawls) 112, 117 Grundkonsens 255 „Grundnorm“ 401 Grundrechte 242, 246, 250, 257, 332 f., 345 f., 363, 372 ff., 375 ff., 380 f. – Drittwirkung 360, 372 – wirtschaftsbürgerliche 492 Grundrechte (Prinzip) 257, 360 f., 375 ff., 380 f., 419, 421 f., 479 Grundsätzlichkeit, pluralistische (Mastronardi) 106 (Fn.) Grundstruktur (Rawls) 109 ff., 154 Gruppeninteressen 256, 267 Gültigkeit 141 ff., 238, 291 f., 297 f., 327 f., 332, 354, 356 f., 465, 504, 510 f. – s. a. Allgemeingültigkeit; Geltung Güter 101 ff., 119 (Fn.), 243, 245 – universelle 101 – s. a. Werte – Güterpluralismus 105 f. Gut-Relation 93 ff., 105 Hand, unsichtbare 277, 489 Handeln, kommunikatives 84, 124 ff. – s. a. Theorie des kommunikativen Handelns „hard cases“ 159, 394 Harmonie 176, 178, 203, 244
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Hermeneutik 16, 45 ff., 83 f. – s. a. Vorgriff, hermeneutischer; Wende, hermeneutische; Zirkel, hermeneutischer Herrschaft 20, 242, 295 f., 336 f., 355 f. Herrschaft des Rechts 111 Herrschaftsfreiheit 129, 134 f. Herrschaftskonformität 85 Hierarchie 24 f., 71, 100 f., 105 f., 121 f., 168 f., 188 (Fn.), 194, 204 (Fn.), 206 ff., 213 f., 225, 280, 307 ff., 464 f., 510 f. – s. a. Normenhierarchie Hin- und Herwandern des Blicks 67 f., 146, 198, 215 Hintergrundgerechtigkeit 111 f. Holismus 178 (Fn.), 180 f. (Fn.) – juristischer 430 (Fn.) – systemischer 84 Hypothese 130 – s. a. Konkretisierungs-; Normtexthypothese Idee, regulative 201, 485, 487 f., 504 – s. a. Rechtsidee; Vorstellung Identität (persönlich) 99 f., 132, 174 f., 254, 257, 260 f., 263 f. – kollektive 100, 106, 248, 263, 265 f. Identität (Gleichheit) s. Differenz und Identität Ideologie 58 f. (Fn.), 168 f., 261, 272, 504 Ideologiekritik 51, 60, 85 Imperativ – hypothetischer 93 ff. – kategorischer 104 f., 120, 130, 164 f. Implikationen, normative 195, 485, 496 – s. a. Geltungsanspruch, impliziter; Unterstellung, normative Individualismus 95 ff., 102 f., 120, 276 f., 491 ff. – als Fiktion 255 – methodologischer 120, 276 f., 491 ff. – possessiver 491 „in dubio pro libertate“ 332 in dubio pro reo s. Unschuldsvermutung Induktion 61 f., 130, 216, 293 Industrialisierung 252 Information und Interdisziplinarität 175 Informationsrecht 288, 348 Infrastruktur, kommunikative 266, 271, 360
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Inkommensurabilität 173, 175 f., 178 inside access model 269 f. Instanz, göttliche 92 Instanzenzug 394 ff., 402, 412, 425, 452 ff. Institutionen – als Verfahrensstrukturen 257 f. – Begriff 335 – demokratische / politische 109 f., 242, 246, 250, 257 f., 266, 298 f., 333 f., 367, 487 – juristische 281, 335, 340 ff., 350 ff. – juristisch-ethische s. juristische Institutionenökonomik 491, 499 Institutionensymmetrie (Prinzip) 36 f., 358, 356 ff., 419, 424 f., 479 Instrumentalvernunft 93 – s. a. Zweckrationalität Integration (methodologisch) – als Prozess 512 – Begriff 180 f., 212, 260 (Fn.), 501 ff., 512 – ethische 500 ff. – faire 512 – interdisziplinäre 15 ff., 24, 198, 301 f. – praktische 180 f., 196, 202 ff., 476 f., 501 f., 512 f. – synkretistisch 311 Integration (soziologisch) 260 ff., 262 ff., 265 ff., 271 ff., 441 ff. – als Aufgabe 263 – Ressourcen 263 f. – Wirkungsmodell 261 f. integrative Wirtschaftsethik (Ulrich) 483 ff. – und interdisziplinäre Rechtslegitimation 483 f., 496 ff., 505 f. Intention s. Absicht Interaktion 124 ff., 172 ff., 182 ff., 512 interdisziplinäre Kohärenz (Prinzip) 206 ff. interdisziplinäre Verantwortlichkeit (Prinzip) 207, 210 interdisziplinärer Diskurs 197 ff., 202 ff., 212 ff. – und moralischer Diskurs 205 ff. Interdisziplinarität 15 f., 86 f., 152 f., 156 ff., 169 ff., 210 ff., 302 f., 309 ff., 473 ff., 498 ff., 510 ff., 513 ff. – Ablaufmodell 196 ff. – als Disziplin 204 – als dynamisch-praktisches Problem 179
– diskursive s. diskursive Interdisziplinarität – Ersatzkonzepte 174 f., 176 f., 179 f., 181 – ökonomisches Modell 195 f. – und Disziplinarität 198 ff., 207 ff. – und Gerechtigkeit 202 ff. Interdisziplinarität-Konzepte 170 ff. Interesse, öffentliches 372, 379 f. Interessen – berechtigte 445 – öffentliche 256 f. – partikuläre 254 – unvereinbare 277, 314, 443 – s. a. Einzel-; Gruppeninteressen Interessengruppen 252 ff., 267, 346, 348 Interessenkonflikte 53 Interobjektivität 254 f., 257 f. Interpretation 54, 72 ff., 219 Intersubjektivität 124, 172, 182 ff., 254, 257 f., 444 (Fn.) Intimität 329, 331 Intuition 97, 102 f., 105 f., 122, 124, 127, 130, 140 ff., 143, 242, 317, 329, 484, 487, 506 Irritation 402, 409 – disziplinäre 196, 200 f. – integrationsgefährdende 410, 443 – transdisziplinäre 196, 198 ff., 205, 207 f., 210, 511 iudicium ante processum 469 Judikation 18 f., 32 ff., 222, 384 ff., 435 ff. – als Deliberation zweiter Ordnung 457 ff. – als Eigenleistung 48 f. – als Gegenstand und Teil der Verfassung 389 ff. – als juristische „Kleinkunst“ 20 – als komplexer Semantisierungsvorgang 65 f. – als Legislation zweiter Ordnung 415 ff. – als „Nachvollzug“ 46, 430 – als semantischer Kampf 448 ff. – als spezifischer Handlungsprozess 19, 387 – als Wert- und Werk-Urteil 47 – Aufschlüsselung 62 ff. – Begriff 18 f., 222, 389 f.
Sachverzeichnis – deliberative s. deliberative Judikation – demokratische s. demokratische Judikation – institutionelles Setting 166, 428 – kommunikative Kraft 453 – Kreislauf 451 ff. – Lösungsstruktur 448 ff. – periphere s. Rechtskonkretisierung – private 388 – Problemstruktur 443 ff. – Produktivität 46 ff., 54 f., 57, 439 f., 444 – selbstreflexiver Zug 389 f. – und Exekution 397 ff., 402 f. – und Jurisdiktion 394 ff., 402 f. – und Legislation 36 f., 317 f., 399 ff., 416 f. – „wissenschaftliche“ 432 – zentrale 393 ff. – s. a. Theorie der Judikation; Rechtsarbeit Judikationskonzepte 437 ff. Judikationslehre, herkömmliche 390 f. – s. a. juristische Methodik, herkömmliche Judikationsprozess 440 f., 441 ff., 451 ff. – verfahrensstrukturelle Einbettung 440 f. Judikative 19, 37 (Fn.), 341 f., 390 f., 394 ff., 402 f., 403 ff., 451 ff., 460 ff. Jurisdiktion 19, 341 f., 394 ff., 402 f., 403 ff., 443 ff., 451 ff., 448 ff. – paradigmatische Rolle 394, 397 f., 447 f., 461 – Subsidiarität 402 f., 410 f., 453 f. – und Exekution 402 f. Jurisprudenz 22 ff., 25 ff., 32 ff., 223 ff., 229, 513 – Abschottung 76 f., 81 f., 86 f., 156 – als Oberdisziplin 26 f., 229 – als Rechtserzeugungsreflexion 33 f., 63 – Kompetenz 23, 29, 164, 499 – Selbstverständnis 22 f. – und Ethik 23 f., 25 ff., 76 f., 86 f., 152 f., 156 f., 158 ff., 210 ff., 223 ff., 231 ff., 473 ff., 499 ff., 508 ff., 513 – und Ökonomie 496 ff., 506 f. juristische Dogmatik 26 ff., 33 f., 223 ff., 231 f., 234, 368 ff., 379 ff., 431 f., 508 – Stellenwert in der juristischen Argumentation 431 f.
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juristische Methodik 26, 29, 32 ff., 212 ff., 226 f., 426 ff., 478 (Fn.) – als Argumentationslehre 428 – als Erkenntnislehre 39 f., 60, 497 f. – als Verfassungstheorie der juristischen Argumentation 429 – als Zurechnungstechnik 64 f. – disziplinärer Ort 26 f., 29, 33 f., 226 f., 426 f. – herkömmliche 38, 51, 68, 164, 220; s. a. Judikationslehre, herkömmliche – normative Vorgaben 62, 68 ff. juristischer Diskurs 159 ff., 164 ff., 304 f., 316 ff., 319 ff., 415 ff., 441 ff., 457 ff., 468 ff. – Abhängigkeit 162 ff., 166 ff. – als juristische Deliberation 316 f., 457 ff. – als Kohärenzprüfung 146 ff., 305 f., 316 f. – und legislativer Diskurs s. Judikation und Legislation – und politischer Diskurs 320 f., 458 ff. Justifikation 19 ff., 25 ff., 139 f., 152 f., 167 ff., 222 ff., 226 f., 274 f., 278, 282 f., 301 f., 318 ff., 464 f., 473 ff. – s. a. Theorie der Justifikation Justiziabilität 411 f., 423 – s. a. Zulässigkeitsvoraussetzungen Kalkül, hedonistisches 97 ff., 101 f. Kampf, semantischer 448 ff., 459 Kanon, aristotelischer 129, 137, 478 Kanones 40, 448 – s. a. Konkretisierungselemente Knappheit 244 Kohärenz 16, 115, 147 ff., 206 ff., 234 ff., 304 ff., 316, 414, 466, 476 f., 480 – disziplinäre und interdisziplinäre 206 ff. – praktische 206 f. – s. a. disziplinäre Kohärenz (Prinzip); interdisziplinäre Kohärenz (Prinzip) Kohärenzwürdigkeit 208 Kollektiv 99, 103, 138 f., 246 ff., 345, 375 – s. a. Gemeinschaft Kolonisierung, moralphilosophische 213 – s. a. Lebenswelt, Kolonisierung Kommunen 271, 316 f., 363, 400 f. Kommunikation 15, 78 ff., 124 ff., 172 ff., 260, 443 ff.
546
Sachverzeichnis
Kommunikationslücke 221, 229 f. Kommunikationsraum, interdisziplinärer 25 ff., 167 f., 187, 197 f., 210 f., 220 ff., 231 ff., 239 f., 309 f., 387, 473 ff., 508 f. Kommunikationsrechte 257, 361 Kommunitarismus 98 ff., 100 f., 102 f., 247, 248 f. kompetenzgemäßes Urteil (Prinzip) 419 ff., 467 f., 479 Komplexität 194 f., 255, 259 ff., 279 ff., 312, 363, 365, 505 – Reduktion 78, 86, 259, 270 Kompromiss 277 f., 282 ff., 295 f., 305 f., 313 f., 462, 465 (Fn.) – fairer 283 ff., 296, 306 ff., 313 f. Konflikt 244 f., 263 f., 342, 405, 442 ff., 448 ff., 451 ff., 458 ff. Konkordanz, praktische 138 f., 206 (Fn.) Konkretisierung 46 f., 62 ff., 71 ff., 151 ff., 164 f., 188 ff., 220 ff., 278 ff., 292 f., 318 ff., 326 f., 355 ff., 357 ff., 386, 387, 392 ff., 415 ff., 418 ff., 441 ff., 463 ff. – Ablaufmodell 66 ff., 215 – als Verständigung 443 ff. – Begriff 46 f., 62 f., 292 f., 463 ff. – Ersatzstrategien 439 f. – interdisziplinäre 292 f. – negative 407 – periphere s. Rechtskonkretisierung – politisch-ethische 278 ff., 292 f. – und Realisierung 463 ff.; s. a. moralischer Diskurs, „Realisierung“ – s. a. Verfassung, Konkretisierung Konkretisierung ersten und zweiten Typs 463 ff. Konkretisierungselemente 71 ff. – als Argumentationsformen 75 – als Kontextlieferanten 71 f., 429 – Vorrang normtextnäherer 429 Konkretisierungshypothese 447 ff., 451, 453 Konkretisierungsmodell s. Konkretisierung, Ablaufmodell Konkurrenz 173, 244 f. Konsens 124 ff., 135 ff., 278, 282 ff., 313 f. – als Fluchtpunkt und als Prinzip 322 (Fn.) – übergreifender / überlappender (Rawls) 114 ff., 120 f.
– und Dissens 135 f., 282 ff. – und Kompromiss 277 f., 282 ff., 313 f. – s. a. Grundkonsens; Einverständnis Konsens (Prinzip) 137 f., 206 f., 295, 359, 479 Konsenswürdigkeit 21 f., 127, 137 f., 150 f., 207 f., 277, 296 f., 360 f., 376, 380, 421 f., 468 – s. a. Akzeptabilität Konstitution 18 ff., 25 ff., 152 f., 167 ff., 221 ff., 241, 274 f., 293, 318 ff. – als fehlendes Brückenstück 152 f., 167 ff., 232 f. – s. a. Theorie der Konstitution Konstrukt 171 ff. Kontext, interdisziplinärer 301 ff., 322 f., 368 ff., 392, 426 ff., 432, 473 ff., 510 ff. Kontingenz 106 f., 136, 141 f., 297 f., 312, 430 f., 459 Kontrolle 120, 246, 258, 286 f., 294, 343, 367, 404 f., 407 f., 416, 444 – s. a. Normen-; Rechtskontrolle; Urteilskontrolle (Prinzip) Kontrollmechanismen 287, 294, 342, 350 Kontroversität 446 f., 459 Konzept 27 f., 171 ff. – s. a. Demokratie-Konzepte; Judikationskonzepte Konzeption 27 f., 171 ff. – s. a. Einzel-; Gesamt-; Legitimations-; Teilkonzeption Kooperation 110 ff., 175, 214, 247 ff., 277 Kooperationssystem, faires (Rawls) 110 ff. Kopplungen – peripher-zentrale 347 ff., 408 ff. – strukturelle 79 ff., 260 Kosten-Nutzen-Rationalität 252 f., 263, 313 – s. a. Rationalität (legitimatorisch), ökonomische Kraft, sozialintegrative 255, 268 f. – s. a. Durchsetzungs-; Geltungskraft; Judikation, kommunikative Kraft; „normative Kraft des Faktischen“; „Urteils-“; Willenskraft Krieg aller gegen alle 244 Kriege, kuhnsche 173 f., 177 f. Krise, kommunikative 446 ff.
Sachverzeichnis Kritik – emanzipatorische 485 ff. – öffentliche 329 – s. a. Ideologie-; Ökonomismus-; Selbstkritik Kultur – demokratische 17 ff., 240 f., 242, 318 f., 345 f., 359 f., 368 f., 440 f., 504 f. – liberale westliche 121 ff. – s. a. Argumentationskultur; Subkulturen Kunst, juristische 23, 25, 223 f., 464 – s. a. Judikation als juristische „Kleinkunst“ Kurzschluss – disziplinärer / interdisziplinärer 167 f., 503 – konkretistischer 459 f.; s. a. Fehlschluss, konkretistischer Landkarte, wissenschaftliche 184 ff. Leben, öffentliches 330, 407 – s. a. Zusammenleben Lebensdienlichkeit 244, 484, 491 f., 495 f. Lebensform 101, 131 f., 135 f., 139, 147 f., 150 ff., 279, 505 – demokratische s. Kultur, demokratische Lebensform-Index 147, 152 Lebensweisen, divergente 100 f., 108, 113, 260 f. Lebenswelt 84 ff., 127, 132 f., 258, 259 ff., 262 ff., 268 f., 307 f., 359 f., 485, 491, 500 f., 505 – Kolonisierung 84 f., 260 f., 264 Legalismus 35 ff., 50 ff., 148 f., 164 ff., 438 ff. – einfacher 38 f. – methodischer 39 f. – subjektive und objektive Lehre 40 f., 43 ff., 56 f. – und Anti-Legalismus 50 ff., 59 ff., 439 f. Legalität (juristische Legitimität) 50 ff., 51 (Fn.), 57 f. – und Legitimität 51 (Fn.) – s. a. Legitimität, juristische Legalität (Prinzip) 358, 361 ff., 378, 419, 479 – demokratischer Gehalt s. Verfahrenslegitimation (Prinzip) – rechtsstaatlicher Gehalt s. Gesetzesbindung (Prinzip)
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lege artis s. Regeln der Kunst Legislation 18, 20 f., 167, 265 ff., 341 f., 389, 399 ff., 402 f., 403 ff., 415 ff., 460 – als Zwischenstufe 402 Legislationsprozess 265 ff., 305 ff., 391 f., 399 ff., 402 f., 443 f. – Integrationspotenzial 443 f. Legislative 18 f., 36 f., 341 ff., 399 ff. Legislaturperiode 348 Legitimation – als interdisziplinäres Problem 22 ff., 152 f., 156 ff., 511 – Begriff 21 f., 189 f. – demokratische 17 ff., 22; s. a. Recht, demokratisches – dogmatisch s. juristisch – ethisch 22 ff., 77, 81, 86 f., 89 ff., 239 ff., 435 ff., 485 ff.; s. a. Anspruch, ethischer – ethisch-juristisch 15, 22 ff., 156 ff., 473 ff.; s. a. Anspruch, ethisch-juristischer – juristisch 32 ff., 167, 499; s. a. Anspruch, juristischer – juristisch-ethisch 326 ff., 384 ff.; s. a. Anspruch, juristisch-ethischer – philosophisch s. ethisch – politisch-ethische 293 ff. – theoretisch s. juristisch-ethisch – und Legitimität 21 f. – s. a. Rechtfertigung Legitimationsarbeit 22 f., 390 Legitimationsbedingungen 97, 123, 139 f., 189 f., 227, 417 Legitimationsbedürftigkeit 17, 49 f., 195, 202 Legitimationsdefizit 308 f. Legitimationskaskade 283 f., 307 ff., 315 f. Legitimationskette 283 f., 363 Legitimationskontext, interdisziplinärer 476 Legitimationsprozess 17 ff., 222 (Fn.) Legitimationsstopp, doppelter 49 f. – s. a. Reflexionstopp Legitimationsstruktur 207, 378 f., 428 – diskursive / deliberative 15 f., 457 ff., 509 f. Legitimationsstruktur (demokratischer Verfassungsstaat) 369 f., 506 (Fn.) Legitimationsstruktur (strukturierende Rechtslehre) 68 (Fn.)
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Sachverzeichnis
Legitimationstheorie – deontologische 310 ff. – ethisch-juristische 15 ff., 27 ff., 76, 156 f., 158 ff., 210 ff., 473 ff., 508 ff. – interkulturelle 319 – moderne 385, 511 ff. – prozedurale 385, 432 – s. a. Theorie der Legitimation Legitimität – Begriff 21 f. – juristische 32 ff., 50 ff., 59 ff. 435; s. a. Legalität (juristische Legitimität) – und Möglichkeit 504 – Vermutung 127 f., 139, 165, 276, 283 f., 291 f., 301, 314, 385, 469, 509 f. – s. a. Legitimation; Rationalität (legitimatorisch) Lehre, subjektive und objektive s. Legalismus, subjektive und objektive Lehre Leistung 243 Leitdifferenz s. Code (Systemtheorie) Leitdisziplin 177 f. Leitprinzipien 299 ff., 355 ff., 357, 418 f., 433, 466, 477 ff. Letztbegründung 132 ff. lex ante casum 38 ff., 59 ff., 148, 220, 438 ff., 465, 469 – s. a. Norm, vorgegebene Lexikon 72 Liberalismus 121 ff., 243 ff., 251 ff., 276 f., 294, 300 f., 330 ff., 356, 365, 375 ff. – politischer (Rawls) 493 – republikanischer (Ulrich) 493, 499, 506 – s. a. Neo-; Ordoliberalismus Linguistik s. Sprachwissenschaft Logik 171 ff. – und Anspruch 185 ff., 204 (Fn.), 332, 438 – s. a. Argumentations-; Eigen-; Einzel-; Formallogik; politische Deliberation, Legitimations- und Selektionslogik; System-; Wettbewerbs-; Zuordnungs-; Zwangslogik Lücke s. Gesetzes-; Kommunikations-; Rationalitäts-; Theorielücke Lust 96, 100
Macht 15, 246, 252 f., 265 ff., 271 ff., 299 f., 314, 333 ff., 336 ff., 340 ff., 367, 388 ff., 392 ff., 449 ff., 451 ff., 456 f., 472, 505 – administrative 263 f., 265 ff., 271 ff., 299, 345, 347 ff., 395, 402, 409, 450, 456 f., 471 – Beschränkung 246, 294, 298, 333 f. – justizielle 451 ff. – kommunikative 269 ff., 299, 335, 349 f., 415, 450 f., 451 – Kontrolle 246, 294 – kritisches Maß 333 ff., 340, 388 – mediale 347 – politische 246, 252 f., 265 ff., 272 f., 275, 294, 299, 333 f., 347, 360, 443 – soziale 268 ff., 323 f., 346, 450, 451 – Transformation 272 f., 274 f., 368 ff., 415, 450, 451 ff. – verantwortete 335 – Verrechtlichung 333 f. – Zähmung 294, 365, 450 – s. a. Recht und Macht; Gewalt Machtkreislauf 265 ff., 451 ff. Machtstruktur 369 Machtstrukturen, asymmetrische 166, 296 Machtverhältnisse 22, 322 Mainstream Economics 485 ff., 502 Markt 252 f., 337 f., 484, 487 ff. – als Zwangszusammenhang 488 f. – freier 487 ff. Marktdeterminismus 489 Marktprinzip 487 f. Marktwirtschaft 484, 488 f., 494 – soziale 494 Massenmedien 346 f. Maßstab 23, 29, 35, 62, 75, 110 f., 133 f., 146 f., 156, 163, 168 f., 304, 374 Mediation 462 Medien 346 f., 360 – als vierte Gewalt 347 Medienverfassung 347 Mehrheit 102, 106, 265 f., 276, 291 f., 343 Mehrheitsdiktatur 246 Mehrheitsregel s. Quorenregel Meinung – eigene 135 f., 278 (Fn.), 283, 287, 322 (Fn.) – öffentliche 266, 345 f., 348, 353, 359 f.
Sachverzeichnis Menschenbild 243 ff., 247 ff., 253 f., 258, 506 Menschenrechte 102 Menschenwesen, vernunftbegabtes 289 Metacode 45 Metaphysik 92, 101, 102 f., 105, 108 ff., 420, 440 f. Metaphysik des Marktes 498 Metasubjekt 44 f. Methode s. Methodik Methodenlehre s. juristische Methodenlehre Methodik 21 ff., 25 ff., 186 ff., 221 ff., 231 ff. – Begriff 21 f., 186 ff. – funktiologisch / soziologisch 21, 189 ff.; s. a. Anspruch, funktiologischer / soziologischer – juristische s. juristische Methodik – legitimatorisch 21 f., 241 f., 189 ff., 510, 516; s. a. Anspruch, legitimatorischer; Legitimation – teleologisch 190 f., 516; s. a. Anspruch, teleologischer Methodik-Achse 192 f., 221, 223 ff., 230, 387 Migrationen, globale 282 Migrationspolitik 180 (Fn.) Minderheit / Minderheiten 102, 106, 246, 276, 292 Minimikro-Prozess, judikativer 451 ff. Missbrauch 138 f., 246, 284 (Fn.), 333 f. Mitsprache 86, 257 Mitwirkung 299, 348 f., 377, 409, 421 f. – s. a. Partizipation Mitwirkungsrechte 348 f. Mitverantwortung 300 (Fn.), 331 f., 338 mobilization model 269 f. Modell-Diskussion, heuristische 172 ff. Moderne 141 f., 255, 259, 263, 505 Monolog 119 f., 123, 258, 447 – s. a. Selbstgespräch Moral – Abstraktheit 19 f., 29, 222 f., 510 f. – als Privatmoral 213 f., 222 f. – Applikationsträgheit 214 – Begriff 19 f., 222 f., 224, 318 f. – Begründung 107 ff.
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– und Politik und „Recht“ 222 f., 302, 318 ff. – s. a. das Moralische; Fragestellungen, moralische; Standpunkt moralischer Diskurs 128 ff., 160 ff., 273 ff., 301 ff., 319 ff., 479 f. – als fairer Wettbewerb 137 f. – als Ideal 321 ff., 459 f., 463 f., 504 f. – als universelle Abstrahierung 322 f., 510 f. – als Utopie 139, 321 ff. – als vertikal differenzierter Rechtsprozess 320 f. – Kontextualisierung 301 ff. – „Realisierung“ 321 ff., 463 ff., 504 f. – und juristischer Diskurs 316 ff., 319 ff. – und politischer Diskurs 273 ff., 301 ff. Moralität 93 f., 96 Moralphilosophie 25 ff., 28 ff., 89 ff., 158 ff., 212 ff., 231 ff., 273 ff., 301 ff., 473 ff., 483 ff., 510 f. moral point of view s. Standpunkt Moralprinzip 130, 149 – s. a. Universalisierungsprinzip „Moral und Recht“ 152, 158, 166 f., 213 f. Multidisziplinarität 175, 181 „Mund des sprechenden Textes“ 40 Nachbarschaft, disziplinäre 233 „Nachtwächterstaat“ 340 Naturrecht 35 f., 244 f., 440 f. Naturzustand (Hobbes) 244 Nebenfolgen 125, 143 f. Neoliberalismus 243 Nettonutzen, größtmöglicher 97 Nichts / Nirwana 57, 60, 345 f., 347, 414, 455 – liberales 356 – systemisches 84 Norm 37 ff., 42 ff., 50 ff., 128 f., 137 ff., 142 ff., 148 ff., 215 ff. – als sachbestimmtes Ordnungsmodell 59, 63 f. – „Nichtsgeborenheit“ 57 – vorgegebene 17, 37 ff., 42 ff., 59 ff., 148 f., 219, 416 f., 423 f., 438 ff., 497 f. – s. a. Rechtsnorm „normative Kraft des Faktischen“ 457, 504
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Sachverzeichnis
Normativität 48, 52 f., 57 f., 59, 63 ff., 81, 215 f., 217 f., 386 f., 455 f. – und Faktizität 52 f., 59, 63 ff., 149, 166, 215 f., 455 f. – s. a. Funktionieren und Legitimieren; Recht und Wirklichkeit Normbereich 25, 63 ff., 136 (Fn.), 149, 220, 230, 236, 510 Normbereichsanalyse 72 (Fn.) Normenhierarchie 280, 315 f., 430 Normenkollision 145 f. Normenkontrolle 404 Normenskeptizismus 35, 51 ff., 60 f., 75, 81 Normentheorie s. strukturierende Rechtslehre, Normentheorie Normgenese 100, 123 Normprogramm 25, 63 ff., 149, 220, 236, 510 Normprogrammgrenze 73 (Fn.) Normstruktur 62 ff., 149 ff., 219 f., 340 (Fn.), 400 Normtext 36 f., 38 (Fn.), 39, 47 f., 49, 63 ff., 71 ff. – und Norm 38 (Fn.), 39, 47 f., 63 ff. – s. a. Achse; Gesetzes-; Rechtstext Normtexthypothesen 66 f. nulla poena sine lege 396 Nutzen 96 ff., 103 f., 110 f. – s. a. Kosten-Nutzen-Rationalität; Nettonutzen; Wohlergehen Nutzenfunktion 97 f., 102 (Fn.) Nutzenkalkül s. Kalkül, hedonistisches Nutzenmaximierung 102 f., 254 Nutzenprinzip 96 ff. Obersatz 38 f., 60, 67 f. Objektivismus 44 ff., 69 (Fn.), 102 f., 217 (Fn.) Objektivität 40 ff., 42 ff., 69 (Fn.), 102 f., 217 (Fn.), 128 f., 217, 248 f., 255, 281, 320 (Fn.), 438 ff. – s. a. Interobjektivität Offenheit der Deliberation (Prinzip) 295, 297 f., 358, 361 ff., 479 Offenheit des Urteils (Prinzip) 467, 469 f., 479
Öffentlichkeit 256 f., 258 f., 265 ff., 271 f., 273, 329, 426, 463, 487, 493 f., 499, 505 f. – organisierte und allgemeine 266 Öffentlichkeiten, autonome 269 Ökonomie 96 (Fn.), 195 f., 252 f., 263 f., 276 f., 483 ff. – und „pragmatischer“ Diskurs 313 – s. a. Institutionenökonomik, Jurisprudenz und Ökonomie; Mainstream-Economics Ökonomismuskritik 484 ff., 496 ff. Ontologie 17, 40 f., 47 (Fn.), 148, 185 ff., 439, 444 (Fn.) – s. a. Reserveontologie Optimalbedingung, quantitative 97 Ordnung, politische 245 f., 249 f., 255 ff., 258 – s. a. Gesellschafts-; Rechtsordnung Ordnungsmacht 18, 22, 58, 295, 319, 352 f., 394 Ordnungspolitik, deliberative (Ulrich) 494 f., 505 f. Ordnungsstruktur 75, 335, 339, 494 f. – wirtschaftliche 506 f. Ordoliberalismus 243, 494 Organ 19, 246, 341 ff., 396, 397, 399 Organstreit 396 Orientierung, normative 83 ff. Orientierungsdiskurs, interdisziplinärer 197 ff., 204, 208, 211, 320 (Fn.) Orientierungslasten, lebensweltliche 84 f. Orientierungssystem 174, 178 Output 252 f., 276 f., 288 f. outside initiative model 268 f. Paradigmenwechsel 46 f. Paradox 76 f., 79, 195, 423, 477 f. – s. a. Beobachtungsparadox; Zirkularität, paradoxe Parallelismus 173 ff., 178 ff. Pareto-Kriterium 491 Parlament 286, 341 ff., 397, 406 f., 443 – s. a. Prozess, parlamentarischer Parteien, politische 288, 346 , 348 f., 359 Parteisubjektivität 411 f. Partikularismus 173 f., 176 f. Partizipation 254 ff., 279, 296, 355 – s. a. Mitwirkung
Sachverzeichnis Peripherie, zivilgesellschaftliche 266 ff., 288 (Fn.), 344 ff., 347 ff., 405 ff., 408 ff., 412, 443 f., 454 Person, freie und gleiche (Ralws) 111 ff., 122 Perspektive s. Beobachtungs-; Einzel-; Gesamt-; Legitimations-; Teilnahmeperspektive Perspektivenwechsel 24, 198 ff., 202 f., 351 Perspektivität s. Simultaneität Petitionsrechte 288, 348 Pflicht 102 f. – s. a. Ausstands-; Begründungs-; Publizitäts-; Rechenschaftspflicht Pflichtgemäßheit 398, 440 f. Philosophie 23 f., 71, 122 f., 132 f., 152 f., 183, 192 f., 214, 224 ff., 229, 239, 488, 511 – als mitarbeitende Reflexion 71, 214 – politische 25 f., 225 f., 231 ff., 239 ff., 326 ff., 333 ff., 350 ff., 368 ff., 435 f., 454 ff., 473 ff., 476 ff., 514 – s. a. Moral-; Rechts-; Urteilsphilosophie Plausibilitätsraum 232 f. Pluralismus 101, 108, 113 f., 122, 135, 243 f., 251 ff., 260 f., 279, 282, 458, 493 f. – vernünftiger 101, 122, 135, 256, 282 – s. a. Faktum des vernünftigen Pluralismus (Rawls); Grundsätzlichkeit; Güterpluralismus; Gesellschaft, moderne demokratische Pluridiskursivität 303 ff. Politik – Begriff 17 f., 20 f., 222 f., 224, 318 f. – deliberative 493 ff.; s. a. deliberative Demokratie – demokratische 239 ff., 246, 250, 252 f., 256 ff., 262 ff., 265 ff., 271 ff., 309 ff., 326 ff., 328 ff., 350 ff., 417 – liberale 492 f. politische Deliberation 273 ff., 292 f., 293 ff., 303 ff., 458 ff., 479 f. – Begriff 292 f., 314 ff. – Legitimations- und Selektionslogik 280 ff., 306 ff., 315 f. – Prozessmodell (Habermas) 305 f., 306 ff., 309 ff. – Stufensystematik (Mastronardi) 306 ff., 309 ff.
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politische Symmetrie (Prinzip) s. Balances (Prinzip) Positivismus s. Legalismus – doppelter 49 f. – s. a. Arbeits-; Erkenntnis-; Rechtspositivismus Postmoderne 54 (Fn.) – s. a. Rechtstheorie, postmoderne Poststrukturalismus 54 – s. a. strukturierende Rechtslehre und Poststrukturalismus Pragmatik 98, 48, 68 (Fn.), 98 (Fn.), 124, 130 ff., 134 (Fn.), 136, 215 ff., 511 f. – s. a. Formal-; Sozialpragmatik; strukturierende Rechtslehre und Sprachpragmatik; Transzendentalpragmatik; Wende, pragmatische Präjudizien 73 f., 429 ff. Präferenzen 97 ff., 199 (Fn.), 276 f., 324, 493 – s. a. Einzelpräferenzen Prämisse, legitimationsbedürftige 195, 202 Präsuppositionsargument 131 f. Praxis – interdisziplinäre 169 ff., 202 ff. – juristische 32 ff., 62 ff., 161 f., 166, 216, 227, 440, 498 (Fn.) – semantische 65 f., 71 f. – s. a. Argumentations-; Rechtfertigungs-; Sprach-; Wissenschaftspraxis; Theorie der Praxis prima facie-Normen 145 ff., 148 ff., 218 f. Prinzipien 136 ff., 207 ff., 293 ff., 357 ff., 418 ff., 466 ff., 477 ff. – als Kriterien 294, 357 f., 326 – Aspekte 137, 478 – Überblick 478 f. – dreifache Doppelstruktur 477 f. – staatsleitende s. Strukturprinzipien Prinzipien der Diskursethik 129, 136 ff., 207 ff., 293 ff., 478 f., 497 – Allgemeingültigkeit 129 ff., 132 ff. – als transdisziplinäre Folie 274 – Unhintergehbarkeit 131, 133 ff. – s. a. Diskursbedingungen „Prinzipien“ und „Regeln“ 136, 219 f. Privatisierung 338 Privatjustiz s. Selbstjustiz
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Sachverzeichnis
Problemlösung 35, 275, 305, 313, 443 Produkt 22, 46, 197 – s. a. Erfolg; Ergebnis; Resultat Protestantismus 243 Prozess – demokratischer s. demokratischer Prozess – interdisziplinärer 195 ff. – parlamentarischer 18 f., 268 f.; s. a. Legislationsprozess – politischer 256, 258 ff., 268 ff., 271 ff., 334 f., 340 ff., 350 ff., 393 ff., 399, 415 ff., 442 f., 450 f., 459 ff., 487 – s. a. Argumentations-; Entscheidungs-; Gerichts-; Judikations-; Legislations-; Legitimations-; Minimikro-; Rechts-; Straf-; Verfassungsprozess; Verfahren Prozessgarantien (Prinzip) 419, 421 ff., 467, 468, 479 Prozesslegitimation (Prinzip) 419, 422 f., 467, 469, 479 Prozessrechtsregeln 394 f., 411 f. Prozessvoraussetzungen s. Zulässigkeitsvoraussetzungen Public Decision-Making 390 ff., 417, 512 Public Governance 336 ff., 340 ff., 353 f., 357 ff., 377 (Fn.), 388 (Fn.), 390 ff., 497 f., 512 Public Judication 390 f., 392 ff., 412 ff., 479 f., 512 Public Legislation 390 ff., 512 Publizitätspflichten 348 Punkt, archimedischer 43 f., 83 f., 134 (Fn.), 198, 203 Quantifizierung 101 ff. Quorenregel 246, 265, 276, 291 f., 295 f., 324, 343 f. – als technische Regel / technisches Instrumentarium 276, 291 Rahmenbedingungen, institutionelle 153, 487 Rahmung 76, 86, 174, 446, 450 Rationalismus, kritischer 71 – s. a. strukturierende Rechtslehre und kritischer Rationalismus Rationalität 127 f., 135 f., 190 f., 215 f., 258 f., 267, 387 – Anspruch 205, 457, 509 f.
– lokale 139 Rationalität (legitimatorisch) 42 (Fn.), 99 f., 139, 215 ff., 419, 441, 502 – altruistische 94 f. – egoistische 94, 497 – juristische 60, 61 (Fn.), 68 ff., 162, 428 – ökonomische 252 f., 488, 502; s. a. Kosten-Nutzen-Rationalität – politische 278, 298 f. – und Gewissheit 164 f. – s. a. Legitimation; Legitimität; Anspruch, legitimatorischer Rationalität (soziologisch) 261 ff., 271 Rationalitätsdruck 425 f. Rationalitätslücken, methodologische 428 Raum – öffentlicher s. das Öffentliche – privater s. das Private – s. a. Argumentations-; Kommunikations-; Plausibilitätsraum Realdaten 67 f., 215, 448, 455 Realismus (Anti-Legalismus) s. Rechtsrealismus Realismus (Demokratie-Konzept) 252 f. Realität 50, 86, 113 f., 123, 139, 165 f., 176, 307, 322 f., 351, 392, 399, 414, 463 f., 510 – s. a. moralischer Diskurs, „Realisierung“ Rechenschaftspflicht 299 Rechenschaftspflicht aller Macht (Prinzip) s. Checks (Prinzip) Recht – als autopoietisches System 76 ff., 81 ff. – als Judikation 18 ff., 221 f., 224; s. a. Anspruch situationeller – als Justifikation 19 ff., 221 f., 224; s. a. Anspruch, universeller – als Konstitution 17 ff., 221 f., 224; s. a. Anspruch, kultureller – als lockerer Anschlusszusammenhang 55; s. a. Gesetz als lockeres Anschlussgebot – als „Normenkomplex“ 17 – als sachgeprägt erzeugte Normativität 59; s. a. Norm als sachbestimmtes Ordnungsmodell – als Sozialtechnologie 53 – als Tatsache 52 f.
Sachverzeichnis – als Vermittler zwischen Lebenswelt und System 85 f., 246 f. – Begriff 17 ff., 221 ff. – demokratisches 17 f., 221 f.; s. a. Demokratie; Kultur, demokratische; Politk, demokratische – geltendes 32, 35 f., 49, 65 f., 68 f., 217, 220, 224 ff., 229, 398, 403, 429, 433, 445, 470 – Implementierung 339 f., 380, 406 – Instaurationsmodi 79 f. – Konkretisierung s. Konkretisierung – legitimes 21 f.; s. a. Legitimation; Legitimität – makroskopisch s. als Justifikation – mesoskopisch s. als Konstitution – mikroskopisch s. als Judikation – positives 23, 35 ff., 49, 81 f., 163, 165, 355 – prozedurale Dynamik 17, 80, 222 (Fn.) – Selbstreferenz 80 f., 81 f., 85 ff. – Selbstbeschreibung 55, 80 – Sprache 85 f., 317; s. a. Sprache, juristische – systemische Grenzen 76 ff. – und Macht 17, 333 ff.; s. a. Rechtsmacht – und Wirklichkeit 59, 61 (Fn.), 62 ff., 335, 340; s. a. Funktionieren und Legitimieren; Normativität und Faktizität – Verwirklichung 339 f., 350 – s. a. Gesetzesrecht „Recht“ 223, 224, 318 f. Rechte – liberale 122 – moralische 492, 495 – politische 250, 257, 360 f. – unveräußerliche 102, 244 f. – s. a. Grund-; Menschen-; Volksrechte Rechtfertigung – interne und externe (Alexy) 161 f., 164 f. – öffentliche 114 ff., 120 ff., 357 – s. a. Legitimation Recht-Fertigung 17, 46 f., 80 – s. a. Rechtsproduktion Rechtfertigungspraxis 311, 319, 323, 385, 465, 504, 510 f. Rechtmäßigkeit 86, 395 f., 397, 403 f., 408, 440 f. – s. a. Gesetzmäßigkeit
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Rechtsanspruch 395, 421, 423 f., 426, 445, 449, 453 f., 458 f., 461 f. Rechtsanwendung s. Anwendung Rechtsarbeit 20, 50 (Fn.), 62 ff., 438 ff. – als Textarbeit 65 – s. a. Judikation Rechtsbefolgung, zivile 406 Rechtsbegriff, unbestimmter 39 Rechtsbegriffe, System 38 f. Rechtscode 77, 78 f., 81 Rechtsdiskurs s. juristischer Diskurs Rechtsdogmatik s. juristische Dogmatik Rechtsentität 45 f. Rechtsentscheidung s. Entscheidung Rechtserkenntnis 42, 46 f. – s. a. juristische Methodik als Erkenntnislehre Rechtserzeugungsmodell s. Konkretisierung, Ablaufmodell Rechtsethik, integrative 503 „Rechtsetzung“ und „Rechtsanwendung“ 50, 219, 415 f. – s. a. Legislation Rechtsetzungsregeln 80 Rechtsfolge 38 f. Rechtsform 304 f., 317, 334 – s. a. Gesetzesform Rechtsfortbildung, richterliche s. Richterrecht Rechtsgemeinschaft 364, 401 Rechtsgleichheit 361 Rechtsidee 41, 42 (Fn.), 44, 189 f., 440 f. Rechtsimmanenz, systemische 82 f. Rechtskonkretisierung, periphere 405 ff., 408 ff., 443 f. Rechtskonstruktion, verantwortete 439 ff., 441, 459, 465, 515 Rechtskontrolle 404, 444 Rechtskultur s. Kultur, demokratische Rechtslehre – allgemeine 228 (Fn.) – dezisionistische s. Dezisionismus – nachpositivistische 46 f. – postmoderne s. Rechtstheorie, postmoderne – strukturierende s. strukturierende Rechtslehre – systemtheoretische s. Systemtheorie
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Sachverzeichnis
Rechtsmacht 334, 338 f., 350, 375, 390 f. Rechtsmoralismus 496 Rechtsnorm 62 ff., 67, 215, 220 – vorgegebene s. Norm, vorgegebene – s. a. Norm Rechts(norm)theorie s. strukturierende Rechtslehre, Normentheorie Rechtsoperationen, systemimmanente 80 f., 81 Rechtsordnung, demokratische 18, 68 f., 213 – s. a. „Einheit der Rechtsordnung“; Recht, demokratisches Rechtspflege, unentgeltliche 421 Rechtsphilosophie 26 f., 89 ff., 191, 225 f., 231 ff., 239 ff., 435 ff., 473 ff., 502 f. „Rechtspolitik“ 416 Rechtspositivismus 35 f., 49 f., 168 f., 240 f., 496 ff. – und Naturrecht 35 Rechtsprechung s. Jurisdiktion Rechtsprechungsanalyse 61 (Fn.) Rechtsproblem 445 ff., 448, 451, 453 f., 459, 471 Rechtsproduktion 379 – s. a. Recht-Fertigung Rechtsprozess 19, 60, 80 f., 320 f., 379 Rechtsrealismus 52 ff., 58, 59, 81 Rechtsregeln, primäre und sekundäre 80 Rechtsschutz (Prinzip) 419, 425 f., 467, 471 f. Rechtssicherheit 364 f., 371 f., 378 ff., 380, 423 f. Rechtsstaat – formeller und materieller 371 f., 374, 378 f., 379 f. – demokratischer s. demokratischer Rechtsstaat Rechtsstaatsgarantien, grundrechtliche 421 f. Rechtsstreit 396 ff., 445 ff., 448 ff., 451 f., 458 Rechtssystem 55, 76 ff., 85 f. Rechtstext 19, 32, 73 f., 158 f., 217, 220, 317, 365, 378, 400 f., 403 f., 416 f., 441, 464 f., 471 – s. a. Gesetzestext; Normtext Rechtstextgemäßheit des Urteils (Prinzip) 430 f., 470 – s. a. Gesetzmäßigkeit des Urteils (Prinzip)
Rechtstheorie 26 f., 191, 225 f., 228 f., 231 ff., 326 ff., 384 ff., 473 ff. – hybride Zwischenposition 27, 229, 354, 368 f., 387, 390, 413, 437 – postmoderne 54 f., 58, 59 f. – und Rechtsphilosophie 228 f. Rechtsurteil s. Entscheidungsnorm; Judikation Rechtsverletzung 445, 454 Rechtsverweigerungsverbot 423 Rechtsweggarantie 425, 472 Rechtswissenschaft s. Jurisprudenz Reduktionismus – ökonomischer 490 f., 497 ff. – ökonomischer und juristischer 498 f. Referendum 242, 265, 269 f., 347 ff. – s. a. Volksbefragung Referendumsdemokratie 349 Referenz-Einheit 276 Reflexion – legitimatorische / normative 32, 223 f., 496 – mitarbeitende 34, 71, 214 Reflexionsniveau 152 f., 192 f., 224 (Fn.), 229 f., 235 Reflexionsstopp 35 f., 49 f. – s. a. Begründungsabbruch Regel s. Norm Regel-Ausnahme-Schema 48 f. Regeln s. Betroffenheits-; Erkenntnisregeln; „Prinzipien“ und „Regeln“; Prozessrechts-; Rechts-; Verantwortlichkeits-; Verfahrensregeln Regeln der Kunst 23, 29, 64, 192 Regieren 398 f. – s. a. Exekution Regierung 341 ff., 364, 371 f., 376 f., 391, 397, 398 f. – s. a. Selbstregierung Regierungsermessen 398 Regierungssystem 270, 342 ff., 405 (Fn.), 418 – direktoriales 344 – parlamentarisches 343 – präsidentielles 343 f. – semi-präsidentielles 344 Regimes, nicht-staatliche 337 f.
Sachverzeichnis Reglement 363 Regress, unendlicher 130, 134 (Fn.) Regularismus, semantischer 136 (Re-)Integration s. Integration (methodologisch); Integration (soziologisch) Rekonstruktion, rationale 122, 124, 133 (Fn.), 140 f., 215 f., 274 f., 315 f., 385, 413 f., 455, 514 Repräsentation 242, 246, 249 f., 285 ff., 295 f., 461 ff. – faire 287 ff., 296 – s. a. Vertretung Repräsentationsrecht 287 f. Republik 249 f. Republikanismus 247 ff., 251 ff., 276 ff. Reserveontologie 50 Respekt 106, 180, 196, 472 Resultat 57, 372 – s. a. Erfolg; Ergebnis; Produkt Reziprozität 86, 106 (Fn.), 110 f., 137, 150, 180 f., 203, 207 f., 254, 296, 421 f., 486 Reziprozität (Prinzip) 137 ff., 208, 295, 360 f., 468, 479 Richter 36 f., 57 f. (Fn.), 385 f., 416 (Fn.), 422 Richterrecht 42, 43, 48 f., 57, 439, 440 Richtigkeit 126 ff., 149, 159 ff., 165, 189 ff., 319 f., 373 f., 464 f., 513 – wahrheitsanaloger Status 128 Richtigkeitsanspruch 126 ff., 162 f., 319 f., 373 f., 513 – s. a. Anspruch, legitimatorischer Rigorismus, normativer 141 (Fn.), 149, 151 f. rules of recognition s. Erkenntnisregeln Sachbereich 66 f., 74 Sachverhalt 66 ff., 430 f. Sachzwang 484 ff., 489 ff., 497 f. – als Denkzwang 489 f. Schicksal 243, 448 f. Schleier des Nichtwissens (Rawls) 116, 119 f., 121 f. „Sein und Sollen“ 59 (Fn.), 190 f. – s. a. Funktionieren und Legitimieren; Normativität und Faktizität Selbstbeobachtung 81 Selbstbestimmung 254, 258, 356, 512 – kollektive 296, 300, 420
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Selbstbezeichnung, organisatorische 183 Selbstbezogenheit 76, 177 Selbstbindung 69, 136, 249 f., 364 Selbstdisziplinierung 349 Selbsterkenntnis 174 Selbstgespräch 105 – s. a. Monolog Selbstherrschaft 355 f. Selbstinteresse, aufgeklärtes 118 Selbstjustiz 390 Selbstkritik 61 f., 488, 496 Selbstorganisation, politische 277 f., 285 f., 294, 295, 352 f. Selbstreferenz 54, 80 f., 81 f., 85 ff. Selbstreflexion 175, 428 Selbstregierung 249 f., 295 f., 342 (Fn.) Selbstreproduktion 76 f., 79 f., 260 Selbstverantwortung 300 (Fn.), 331 f., 340, 357 – und Mitverantwortung 300 (Fn.), 331 f. Selbstvergewisserung 99 f., 199 f., 304 (Fn.) Selbstverständigung 99 f., 278, 311, 314 f. (Fn.) Selbstverständlichkeiten, kulturelle 84 – s. a. Lebenswelt Selbstverständnis 99 f., 216, 277, 303 f., 315 f. – juristisches 22 f., 25 f., 62, 75 Selbstverwirklichung 249, 256 – s. a. Entfaltung; Erfüllung Selektion, mediale 347 Semantik 45, 105, 130 f., 133 f., 134 (Fn.) Setting, normatives 166, 218, 441, 506 – s. a. Judikation, institutionelles Setting Simultaneität, perspektivische 194 f., 198, 210, 212 Sinn 84 f., 311 f., 491 f. – s. a. Gerechtigkeitssinn; Anspruch, teleologischer; Glück Sinn für Angemessenheit 140 ff., 148 ff., 158 f., 485 f. Sinn fürs Gute 111, 118 f. Sinnkrisen 491 f. Sinntotalität, objektive 45, 73 „Sinn und Zweck“ 75 Sitte 29, 222 f., 445 Sittlichkeit, vormoderne 213 f., 259
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Sachverzeichnis
Situation, interdisziplinäre 186 – s. a. interdisziplinärer Diskurs Situationsdeutung, angemessene 141 Situationsmerkmale, relevante 141, 144 ff., 148, 218 f., 486 Skeptizismus s. Normenskeptizismus Solidarität 263, 268 f., 271 Sollen 104 ff., 305 ff., 504 – und Können 321 f. – und Sein s. „Sein und Sollen“ – und Wollen 205 Sonderfallthese (Alexy) 162 ff., 165 ff. – als Abhängigkeitsthese 163 f. Sonderkommunikationen s. Subsystem Sozialpragmatik 98 (Fn.) Sozialstaat 369, 506 (Fn.) Soziologie – kleine 162 (Fn.), 236, 341, 512 – Urteilsphilosophie und Urteilstheorie 441 f. – Verfassungstheorie und politische Philosophie 351 f. – s. a. Anspruch, soziologischer; Methodik, funktiologisch / soziologisch Spannungsfeld, normatives 137 f., 181, 207, 300 f., 418 f., 466, 477 f. Spekulation 43 f., 177 f. Spezialisierung – gesellschaftliche 259 ff. – wissenschaftliche 183 Spezifizierung 188 Spiel der Differenzen 55 Spiel der Kräfte 244 f. Sprachdaten 67 f., 215, 448 Sprache 15, 43 ff., 47 ff., 54 f., 60 (Fn.), 70, 83 f., 124 ff., 134 (Fn.), 135 f., 216 f., 444, 450, 503 – juristische 137 (Fn.), 224 (Fn.), 328, 354, 461 f.; s. a. Recht, Sprache – juristisch-ethische 357, 358 f., 413, 419 – ökonomische 506 f. – philosophische 23, 92, 334, 442, 468, 502 Sprachgebrauch, gewöhnlicher 184, 220 Sprachpraxis 185 f., 215 f. Sprachspiel 54 f., 81 f., 173 f. Sprachwissenschaft 34 (Fn.), 45 ff., 216 f. Sprechakttheorie 125 ff., 216, 320 Spur 199 f., 233, 512
Staat 329, 336 ff., 340 ff., 357 ff., 390 f., 392 ff. – Drei-Elemente-Lehre 336 ff. – s. a. Gewährleistungs-; „Nachtwächter-“; Rechts-; Sozial-; Wirtschaftsstaat Staatsabbau 338 Staatseinheit 369 Staatsgebiet 336 Staatsgewalt 17, 36, 336, 442 f., 449 f., 456 f., 458 Staatsgliederung 369 Staatsmacht s. Staatsgewalt Staatsoberhaupt 343 f. Staatsorgan 342 f. Staatsvolk 336 Stabilität 120 f., 252, 261 ff., 312, 456 Standpunkt, moralischer 92 ff., 108, 117, 120 ff., 139 f., 152, 231, 255, 274, 319, 486 f., 504 Steuerung 53, 246, 267 ff., 335, 337, 349 f. Strafprozess 396, 407, 410 f., 412 Strafwürdigkeit 396, 407, 410 Streitwert 412, 453 f. Strittigkeit, qualifizierte 394, 397, 402, 405 f., 409 ff., 415 f., 422, 447, 452 Struktur – diskursive 15 f., 278, 283 ff., 296, 301, 324, 405 (Fn.), 477, 501, 509 f. – zirkuläre 16, 134 (Fn.) – s. a. Argumentations-; Grundstruktur (Rawls); Infra-; Legitimations-; Macht-; Norm-; Ordnungsstruktur; Prinzipien, dreifache Doppelstruktur; Text-; Verfahrens-; Wohlfahrtsstruktur Strukturen, intermediäre s. Gewalten strukturierende Rechtslehre 30, 32 ff., 59 ff., 212 ff., 426 ff., 439 ff., 473 ff., 478 (Fn.), 498 ff., 508, 514, 515 – als konstruktive Konzeption 60 f. – als nachpositivistische Gesamtkonzeption 46 f., 60 f. – als verfassungstheoretische Mikrokonzeption 428 – disziplinäre Reichweite 33 f., 227 (Fn.), 438 – disziplinäre Selbstbeschränkung 86 – Kernkompetenz 438
Sachverzeichnis – Normentheorie 33 f., 63 ff., 220, 223, 227 (Fn.) – und Argumentationstheorie 34 (Fn.), 71 – und Diskursethik 212 ff. – und kritischer Rationalismus 62 (Fn.), 69 f. – und Poststrukturalismus 34 (Fn.), 48 (Fn.), 216 – und Sprachpragmatik 34 (Fn.), 68 (Fn.), 215 ff. Strukturierung 61 f., 189, 299 f. Strukturprinzipien 368 f., 379 f. Subjekt – Dezentrierung 54 – moralisches 122, 124, 154 Subjektivität 198, 208, 154, 438 f. – s. a. Inter-; Parteisubjektivität Subkulturen, intrakulturelle 282 Subsidiaritätsprinzip 340 (Fn.), 380 Subsumtion 38 f., 42 f., 48 ff., 56 – s. a. Syllogismus Subsumtionsautomat 39 Subsumtionsmodell 39 – s. a. Anwendungsmodell Subsystem 78 ff., 259 f. – s. a. Funktionssystem Superdisziplin 201, 302 f. Syllogismus 38 f., 48 f., 161 – s. a. Subsumtion Symmetrie s. Balances (Prinzip); Institutionensymmetrie (Prinzip) System – autopoietisches 76 ff., 86, 259 f. – operative Geschlossenheit 76 ff., 81 f., 85, 260, 446 – politisches s. Regierungssystem – und Umwelt 79 – s. a. Funktionssystem; Rechtsbegriffe, System; Rechts-; Subsystem Systematik erster und zweiter Ordnung 73 f. Systemdenken, ökonomistisches 492 Systemkomponenten 79 f. Systemlogik 82, 84, 148 f. System-Soziologismus 82 f. Systemtheorie 76 ff., 81 ff., 148 f., 151, 173 (Fn.), 190 (Fn.), 252, 255 (Fn.), 259 ff., 389 f., 446, 452 – Universalanspruch 82
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Teilnahme, eingeschränkte 286, 463 Teilnahmeperspektive 148 f., 202, 252, 262 f., 272, 329 ff. Teilnahmestandpunkt s. -perspektive Teleologie 92, 93 ff., 100 ff., 107, 190 f., 263 f., 491 f., 516 – s. a. Anspruch, teleologischer; das Gute Teil B (Apel) 486 f., 504 Teilkonzeption 27 f., 456, 457, 460 (Fn.), 501 ff. – s. a. Einzelkonzeption Text 16, 39 ff., 65 ff., 74, 125 (Fn.), 134 (Fn.), 171, 219 f., 361 f., 380 f., 399 f., 423 f., 429, 431, 445, 447 f., 448 f., 463 ff., 470 – s. a. Gesetzes-; Norm-; Rechtstext Textformular 39 Textstruktur 36 (Fn.), 64 f., 68 (Fn.), 71 Textstufen 66 f., 71, 280, 400, 429 Thema s. Thematik Thematik 17 ff., 25 ff., 186 ff., 221 ff., 231 ff. – Begriff 17 f., 186 ff. – makro- / meso- / mikroskopisch 192 f.; s. a. Anspruch, universeller / kultureller / situationeller – und Methodik 187 Thematik-Achse 192 f., 221 f., 230 Theorie 27 f. – s. a. Argumentations-; Diskurs-; Legitimationstheorie; strukturierende Rechtslehre, Normentheorie; Sprechakt-; System-; Rechts-; Urteils-; Verfassungs-; Vertragstheorie Theorie der Judikation 26 f., 227 f., 387 Theorie der juristischen Argumentation (Alexy) 158 ff., 232 f., 240 f., 274 (Fn.), 417 Theorie der Justifikation 26 f., 227 f. Theorie der Konstitution 26 f., 167 f., 227 f. Theorie der Legitimation 26 f., 227 f. – s. a. Legitimationstheorie Theorie der Praxis 61, 179 Theorie des kommunikativen Handelns (Habermas) 124 ff., 132, 134 f., 206, 215, 261, 262 Theorie-Gebundenheit (Prinzip) 207, 209 Theorieabhängigkeit 173
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Sachverzeichnis
Theoriekonstruktion, interdisziplinäre 169, 202, 207 ff., 210 f. Theorielücke 193, 198 Theorie-Offenheit (Prinzip) 207, 208 f. Theoriezusammenhang 24 ff., 58, 90 (Fn.), 183 f. Toleranz 101 Tradition 99 f., 100 f., 248 Transdisziplinarität 196 ff., 274, 350 – s. a. Irritation, transdisziplinäre Transfer, disziplinärer 200, 202, 233, 239, 272, 274, 281, 288 (Fn.), 292 f., 326 f., 351, 454, 456, 504 f. Translation s. Transfer Transparenz 257, 359, 367 Transzendentalpragmatik 132 f. Treu und Glauben 380 f. Triade „Legislation – Exekution – Jurisdiktion“ 402 f. Tugendethik 99 (Fn.) Überlegungsgleichgewicht 114 f., 120 Übersetzung s. Transfer Überzeugungskraft 172 f., 181 f., 186, 194, 195 f.,. 209, 286, 430 f., 504, 511 – disziplinäre und interdisziplinäre 513 ff. Unabhängigkeit der Justiz 424 f. Unabhängigkeit des Urteilsprozesses (Prinzip) 419, 424 f., 467, 471, 479 Uneindeutigkeit 39 Unentscheidbarkeit 53, 55 Ungerechtigkeit 17, 101 Unidisziplinarität 177, 178 f., 181 Unitarismus 175 ff., 180, 181 – s. a. Assimilationismus Universalisierbarkeit 104 ff., 150, 161 – s. a. Verallgemeinerungswürdigkeit Universalisierungsprinzip 104 ff., 128 ff., 143 ff., 150 f. – als argumentationstheoretisches Brückenprinzip 130 – starkes und schwaches 144 f. – utilitaristisches 96 f., 106 – s. a. Moralprinzip Universum, raumzeitliches 20, 152 f., 222, 319 (Fn.) – s. a. Anspruch, universeller
Unlust 96, 100 Unmöglichkeit 60 f., 175, 287, 289 f., 504 f. Unmündigkeit, unverschuldete 289 Unparteilichkeit 105 f., 119 f., 142 ff., 150 ff., 255, 257, 421 f., 503 Unrecht 17, 194 f., 203, 374 f. Unschuldsvermutung 396 Unterlassungshandlung 396, 407 – s. a. Konkretisierung, negative Unternehmensethik, integrative (Ulrich) 495 f., 505 f. Unternehmenspolitik, deliberative (Ulrich) 495 f., 499, 505 f. Untersatz 38 f. Unterstellungen, normative 53, 150 f., 166, 413 f., 485, 505 – s. a. Geltungsanspruch, impliziter; Implikationen, normative Unübersichtlichkeit, postmoderne 253 Unverständnis 180, 445 f. Ursache-Wirkungs-Verhältnis 304 Urteil / Urteilen s. Entscheidungsnorm; Judikation – s. a. autorisiertes Urteil (Prinzip); Gebundenheit des Urteils (Prinzip); kompetenzgemäßes Urteil (Prinzip); Offenheit des Urteils (Prinzip) Urteilsautonomie (Prinzip) 467, 471, 479 Urteilsdogmatik 25 ff., 225 ff., 426, 508 Urteilshypothese s. Konkretisierungshypothese Urteilskontrolle (Prinzip) 467, 471 f., 479 „Urteilskraft“ 141 f., 389, 420, 432, 440 f. Urteilsphilosophie 26 ff., 152, 225 ff., 231 ff., 234, 435 ff., 473 ff., 514 – Kardinalstellung 234 f. – und Urteilstheorie 466 ff.; s. a. Rechtstheorie und Rechtsphilosophie Urteilsprozess s. Judikationsprozess Urteilstheorie 26 ff., 225 ff., 231 ff., 384 ff., 473 ff., 514 Urzustand (Rawls) 106 (Fn.), 116 f., 118 ff. Utilitarismus 95, 96 ff., 101 ff., 108, 118 f., 123, 245, 255, 258, 490 f., 499 Utopismus 321 f. – s. a. moralischer Diskurs als Utopie
Sachverzeichnis Verallgemeinerbarkeit s. Universalisierbarkeit Verallgemeinerungsgrundsatz s. Universalisierungsprinzip Verallgemeinerungstest 105, 119 f., 143 Verallgemeinerungswürdigkeit 104 ff., 116, 120 f., 139 – s. a. Universalisierbarkeit Verantwortlichkeit 257, 294, 370 f. Verantwortlichkeit (Prinzip) 358, 367, 375 ff., 419, 425 f., 479 – s. a. interdisziplinäre Verantwortlichkeit (Prinzip) Verantwortlichkeitsregeln, gesetzliche 347 f., 367 Verantwortung s. Freiheit und Verantwortung – wissenschaftliche 207 ff. – s. a. Auffang-; Erfüllungs-; Gesamt-; Gewährleistungs-; Mit-; Selbstverantwortung Verantwortungsethik 105 Verbindlichkeit 36, 292, 297 f., 332, 347, 363 ff., 371 f., 394, 415, 424 f., 430 f., 440, 453, 470 Verfahren – faires 203, 255 ff., 274, 512 – faires (Prinzip) s. faires Verfahren (Prinzip) – parlamentarisches s. Prozess, parlamentarischer – Rationalität 419 – s. a. Problemlösungs-; Verwaltungsgerichts-; Verwaltungs-; Zivilgerichts-; Zivilverfahren; Prozess Verfahrensabbruch 290 ff., 293 f., 396, 359, 458, 461 ff., 465 (Fn.), 504 f. Verfahrensbedingungen 276, 284 f., 297 f., 308 f., 421 ff., 458, 469 Verfahrensgerechtigkeit 361 (Fn.) Verfahrenslegitimation (Prinzip) 358, 361 ff., 419, 422 f., 479 Verfahrensregeln, demokratische 269 Verfahrensstruktur 154, 285, 301, 423, 448 f. – demokratisch-rechtsstaatliche 361 f., 379 – diskursive s. Struktur, diskursive – legitime 430 – normative 283 f., 319
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Verfahrensstufen s. politische Deliberation, Legitimations- und Selektionslogik Verfahrensunmündigkeit 289 Verfahrensvoraussetzungen 297, 422 Verfassung 326 ff., 390 ff., 392 ff., 412 ff. – als Strukturverfassung 355 f. – Begriff (juristisch-dogmatisch) 334 (Fn.) – Begriff (verfassungstheoretisch) 333 ff. – Konkretisierung 401 – s. a. das Öffentliche, Verfassung Verfassungsdogmatik 25 ff., 225 ff., 234, 368 ff., 379 ff., 381 Verfassungsgerichtsbarkeit 403 ff., 418 Verfassungsprozess, demokratisch-rechtsstaatlicher 389 f. Verfassungsrevision 270 f. Verfassungsstaat, demokratischer 368 f. Verfassungstheorie 25 ff., 225 ff., 231 ff., 326 ff., 384 ff., 473 ff. – Hybridstellung 354 Vergleichbarkeit 102, 430 Verhältnismäßigkeitsprinzip 379 f. Verhandlung 283 ff., 287 (Fn.), 305 ff., 313 ff. Verlässlichkeit, relative 365 Vermögen, moralische (Rawls) 111, 118 f. Vernetzung, mediale 346 f. Vernunft 190 f., 215, 243, 245 – kommunikative 264 – ökonomische und ethische 484 ff., 500 ff. – praktische 121 (Fn.), 124, 146, 167, 302 ff., 309 ff. – s. a. Instrumentalvernunft; Rationalität Vernünftigkeit, Vermutung s. Legitimität, Vermutung Verordnung 280, 315 f., 363, 400 Versammlungsdemokratien 270 f. Verständigung 15, 84 ff., 124 ff., 153, 179 f., 196 ff., 232 f., 261, 262 ff., 278, 444 ff., 449 ff., 486 f. – s. a. Selbstverständigung Verständlichkeit 126 (Fn.), 128 (Fn.), 180, 197 f., 445 f. Verständnis 16, 173, 445 ff. Verstehen 15 f., 444 ff., 451 – Referenzialität 444 Verstehensräume, vorläufige 16 Vertragstheorie 116, 118, 490 f., 499
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Vertrauen 287 f., 343, 346 f., 378 ff., 423 ff., 430, 459 f., 461 f. Vertrauensschutz 364 ff., 378 ff., 423 Vertretung, anwaltliche 394 f., 461 f. – s. a. Repräsentation Verwalten 398 f. – s. a. Exekution Verwaltung 267 ff., 341 ff., 349 f., 364, 395, 397 ff., 402, 406 ff., 408 ff. Verwaltungsgerichtsverfahren 349 f., 395 f., 397, 408 ff. Verwaltungsrechtspflege s. Verwaltungsgerichtsverfahren Verwaltungsverfahren 349 f., 397, 406 f., 408 ff. Volk 242, 246, 249 f., 336 f., 349, 355 f., 359, 364, 420 – s. a. Staatsvolk Volksbefragung 349 – s. a. Referendum Volksinitiative 349 Volksrechte 270, 349 f., 418 Volkssouveränität 246, 250, 257 Volkssouveränität (Prinzip) 358, 359 f., 375 ff., 380 f., 419 ff., 479 volonté générale und volonté de tous (Rousseau) 249 f. Vorbehalt des Gesetzes 364 Vorgaben, sprachspielimmanente 70 Vorgriff, hermeneutischer 62 Vorrang des Gesetzes 364 Vorschreibung 22 f., 83 Vorschrift 17, 22, 78 (Fn.), 266, 406 Vorstellung 16, 20, 28, 120 – s. a. Wertvorstellungen; Idee Vorteilserwägungen 118 Vorurteil 46 f., 490 f. Vorverständnis 16 Wahl / Wahlen 265, 288 (Fn.), 291, 343, 348, 350, 359 Wahlrecht s. Repräsentationsrecht Wahrhaftigkeit 126 ff., 189 Wahrheit 52 f., 83, 126 ff., 148 f., 189 ff. Wahrscheinlichkeit 53, 282 Wechselbeziehung 22 f., 179 f., 238, 254, 312, 367, 512 Wechselseitigkeit s. Reziprozität
Wechselspiel 182, 198 f., 209 Weitwirkung 289 f. Welt – gemeinsame / geteilte 172 ff. – objektive / soziale / subjektive 126 f. – s. a. Lebenswelt Weltbezüge 126 f. Weltbild 120 ff., 178 f., 282 Wende – hermeneutische 498 – pragmatische 34 (Fn.), 48, 68 (Fn.), 124 (Fn.), 216 Werte 55, 99 f., 100 ff., 106 f., 248 f., 258, 260, 277, 312 f., 422 – s. a. Güter Wertegemeinschaft 106, 248, 258 Wertfreiheit 46 f., 488 Wertneutralität 105 f. Wertung 38 f., 53, 75 Wertvorstellungen 42 (Fn.), 46 f., 279, 312 Wettbewerb 166, 243 ff., 252 f., 277, 448 f., 488 ff. Wettbewerbslogik, ökonomische 195 f. Wichtigkeit, relative 281 f. Widerspruch, performativer 131 f., 132 ff. Widerstreit 54, 58, 443, 446 ff., 449, 451., 455 f. – als Rechtsstreit 446 Wille, autonomer 104 Wille des Gesetzes 40 f., 44 f., 56 f. Wille des Gesetzgebers 40 f., 43 f., 56 f. „Wille des Volkes“ 359 Willensbildung 252, 256 f., 265 f., 276 ff., 310 f., 315, 355 f. Willensfreiheit 505 Willenskraft 340 (Fn.) Willensmetaphorik 74 Willkür 47, 138, 257, 329 f., 360, 425 f., 497 f. Willkürverbot 367, 425 f. Wirklichkeit s. Realität; Recht und Wirklichkeit Wirklichkeitsbereich 182, 202 f., 230, 251, 392, 414, 441, 457, 463 f., 510 Wirtschaft 78 f., 84 f., 263 f., 337 f., 363, 483 ff. – als Normierungszusammenhang 506 f.
Sachverzeichnis Wirtschaften – Sinnbestimmung 491 f. – vernünftiges 484 ff. Wirtschaftsbürgerrechte 492 Wirtschaftsethik – als Vernunftethik des Wirtschaftens 487 f. – als Wirtschaftsbürgerethik 492 ff., 507 – integrative s. integrative Wirtschaftsethik (Ulrich) Wirtschaftsmächte 338 Wirtschaftsstaat 369, 506 (Fn.) Wirtschaftssystem s. Wirtschaft Wirtschaftswissenschaft s. Ökonomie Wissen 61 f. (Fn.), 150 f., 175 (Fn.), 210, 473, 513 Wissenschaft 15 f., 52 f., 79, 83, 84, 170 ff., 181 ff., 432 – Differenzierung 15, 183 – Kakofonie 171 f. Wissenschaftsideal 53, 176 Wissenschaftspraxis, unwürdige 511 Wohlergehen 96 f., 101 f. – s. a. Nutzen Wohlfahrtsstruktur 369, 506 (Fn.) Wortbedeutung s. Bedeutung Zeichen 39 Zeit 18, 70, 150 f., 175, 194 f., 198, 260 f., 276, 312 (Fn.), 465 (Fn.) Zentrismus, kommunitaristischer 100 f., 106 Zentrum, politisches 19, 266 ff., 340 ff., 392 ff. Ziel 93 ff., 126 (Fn.), 248, 303 f., 312 f., 330, 356 f., 380 Zirkel – hermeneutischer 16, 70, 134 f., 204 (Fn.), 215 f. – logischer 69 f., 130 f., 133 f., 215 f. Zirkularität, paradoxe 76 f., 79
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Zivile 342, 396, 407, 409 ff. – s. a. Bürger; Peripherie Zivilgerichtsverfahren 395, 409, 411 f. Zivilgesellschaft 266 ff., 344 ff., 347 ff., 359 f., 390 f., 402, 405 ff., 408 ff., 415, 420 – Unverfasstheit 345 f. – relative Machtlosigkeit 346 Zivilverfahren 395, 407 f., 408 f., 411 f. Zivilrecht 406 ff., 408 ff., 420, 443 f. Zulässigkeitsvoraussetzungen 411, 453 f. – s. a. Justiziabilität Zumutbarkeit 15, 283, 286, 291, 321 ff., 335, 376, 380, 463, 486, 493 Zuordnungslogik, eindeutige 39 Zustimmung s. Konsens Zustimmung (Prinzip) 295 f., 358, 359 f., 479 Zustimmungswürdigkeit s. Konsenswürdigkeit Zwang 17, 129, 134 f., 138, 450, 454, 457, 488 f., 494 – s. a. Markt als Zwangszusammenhang; Sachzwang zwangloser Zwang des besseren Arguments 129, 135 Zweck s. Ziel Zweck-Mittel-Denken 315 Zweck-Mittel-Relation 93 f., 304, 309, 312 f. – Künstlichkeit 312 Zweckrationalität 93 ff., 125, 261, 305 ff., 312 f. – s. a. Instrumentalvernunft Zwei-Welten-Lehre (Legalismus) 42 Zwei-Welten-Lehre (Ökonomik) 487 f., 500 f. Zwischenbereich 42 f., 456 – juristisch-ethischer 23, 24, 26, 224, 229, 326, 384, 392 – politischer 167 f., 223 Zwischenposten, (disziplinärer) 36