Judentum und Islam unterrichten [1 ed.] 9783666702976, 9783525702970


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Judentum und Islam unterrichten [1 ed.]
 9783666702976, 9783525702970

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Judentum und Islam unterrichten

Jahrbuch der Religionspädagogik

Herausgegeben von Stefan Altmeyer / Bernhard Grümme / Helga Kohler-Spiegel /  Elisabeth Naurath / Bernd Schröder / Friedrich Schweitzer

Judentum und Islam unterrichten Jahrbuch der Religionspädagogik (JRP) Band 36 (2020) herausgegeben von Stefan Altmeyer, Bernhard Grümme, Helga Kohler-Spiegel, Elisabeth Naurath, Bernd Schröder, Friedrich Schweitzer

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Vladimir Melnik/Adobe Stock Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-70297-6

Inhalt

Schlaglichter Mein jüdisches Leben in Deutschland – Positionsbestimmungen 1960–2020 (Alisa Bach) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Freiheit ist Grundbedingung – Gedanken eines Muslims in Deutschland (Jörg Ballnus) . . . . . . . . . . . . . 11 Interdisziplinäre Perspektiven Von der alevitischen Cem-Gottesandacht im Geheimen hin zum Alevitischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen (Handan Aksünger-Kizil) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Das sunnitische Islamverständnis – ausgewählte Wesensmerkmale (Tarek Badawia) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 »Eine erstaunliche Diversität von Orientierungen« – zur Pluralität im gelebten Judentum in Deutschland (Walter Homolka) . . . . . . . . . . . . 40 Gesellschaftliche Bedingungen: soziale Verhältnisse von Juden und Muslimen (Gert Pickel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Wo steht die islamische Theologie heute in Deutschland und Österreich? (Yasemin El-Menouar) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Jüdisch-deutsches Denken im 21. Jahrhundert – eine persönliche Perspektive (Micha Brumlik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Christlich-jüdischer Dialog und seine für den Religionsunterricht relevanten Erträge (Martin Hailer) . . . . . . . . . . . . . . 88 Christlich-muslimischer Dialog und seine für den Religionsunterricht relevanten Erträge (Wolfgang Reinbold) . . . . . . . . . . 101 Didaktische Konkretionen Wie wollen Musliminnen und Muslime im evangelischen und katho­­lischen Religionsunterricht thematisiert werden? (Fahimah Ulfat) . . . . 114

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Inhalt

Wie wollen Jüdinnen und Juden im evangelischen und katholischen Religionsunterricht thematisiert werden? (Shila Erlbaum) . . . . . . . . . . . 129 »Trialogische Religionspädagogik« kritisch reflektieren (Bernhard Grümme) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Judentum und Islam, interreligiöses Lernen und Othering im christlichen Religionsunterricht (Joachim Willems) . . . . . . 149 Judenfeindlichkeit und Islamfeindlichkeit – religionspädagogische Präventionsarbeit mit Schülerinnen und Schülern (Reinhold Boschki und Martin Rothgangel) . . . . . . . . . . . . 162 Judentum und Islam als gemeinsames Thema unterrichten? Theoretische Perspektiven und empirische Befunde (Friedrich Schweitzer und Mirjam Rutkowski) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Gedenkpädagogik als Zugang zum Judentum? (Matthias Bahr) . . . . . . . 187 Christlich-islamische Kooperation – ein zukunftsweisender Weg für den Religionsunterricht und für eine religionssensible Schulkultur (Selcen Güzel und Elisabeth Naurath) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Materialien und Medien für die Grundschule zu Judentum und Islam (Sarah Edel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Judentum und Islam unterrichten – ein systematisierender Blick auf exemplarische Medien und Materialien in der Sekundarstufe I (Karlo Meyer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Das Judentum und der Islam im Religionsunterricht der Sekundarstufe II – Medien und Materialien (Clauß Peter Sajak) . . . . . 235 Judentum und Islam unterrichten – didaktische Konkretionen für den Berufsschulreligionsunterricht (Matthias Gronover und Andreas Obermann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Bilanz Judentum und Islam unterrichten – Forschungserträge und Unterrichtsimpulse (Bernd Schröder) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256

Schlaglichter

Mein jüdisches Leben in Deutschland – Positionsbestimmungen 1960–2020 Alisa Bach

Ausgangspunkte: Zeitlebens beschäftigte mich das Koordinatensystem meiner Geburt im Jahr 1950 in Tel Aviv, 5 Jahre nach der Shoah, 2 Jahre nach der Gründung des Staates Israel; mein Vater: Österreicher, meine Mutter: in Polen geboren, in Berlin aufgewachsen; beide: säkulare Juden, Geflüchtete, Überlebende. Die Familiensprache war Deutsch, draußen wurde Hebräisch gesprochen. Wie viele meiner Generation trage ich den Namen einer Ermordeten. Unsere Familie gehörte zu den wenigen, die nach Deutschland zurückkehrten. Zwei Welten: Mit der Mehrheitsgesellschaft lebte ich in Schule, Universität, Berufswelt, Sportvereinen und kulturellen Institutionen; mit Deutsch als Muttersprache und ohne äußere Merkmale einer Differenz erschien ich meiner Umwelt als Gleiche unter Gleichen. Es gab Freundschaften und kollegiale Beziehungen, nicht immer, aber doch oft unter Ausblendung dessen, was an mir und meiner Geschichte anders war (und ist). Nie wurde mir die einfache, auf der Hand liegende und unter Juden häufig erörterte Frage gestellt, wie meine Eltern den Gaskammern entkommen konnten. Auf der anderen Seite stand die kleine jüdische Welt: die Jugendgruppe in der jüdischen Gemeinde, Religionsunterricht und das Begehen der Feiertage, mehrmals im Jahr Freizeiten mit »meiner« zionistischen Jugendorganisation, Besuche in Israel. Das Zusammensein mit jüdischen Gleichaltrigen war entspannend und selbstverständlich – ein unschätzbarer Schutz vor Vereinsamung, denn nur hier fühlte ich mich als Person ganz wahrgenommen. Dennoch erschien das Leben innerhalb der kleinen jüdischen Gemeinschaft begrenzt und einengend. Die Gefahr des sich Einschließens in ein Ghetto ohne Mauern besteht. Integration? Assimilation? Als Jugendliche wurde mir bewusst, dass die Schoah zu meiner Geschichte gehört, dass es aber meine freie Entscheidung ist, welches Gewicht ich dieser unendlichen Katastrophe – und mit ihr der Tatsache, dass ich Jüdin bin – in meinem eigenen Leben zumesse. Verschiedene, teils mehrjährige Versuche während der Schul- und Studentenzeit, mich als »eine unter vielen« zu fühlen, stießen an Grenzen: es gab unter Gleichaltrigen zu viele untaugliche und inakzeptable Versuche der Schuldabwehr und Leugnung von Verantwortung der Elterngeneration. Die Diskrepanz zwischen dem

Mein jüdisches Leben in Deutschland – Positionsbestimmungen 1960–2020

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»Wir haben ja nichts gewusst« und den Erfahrungen meiner Eltern auf den deutschen Straßen in den Jahren nach 1933 war eklatant. Aber auch Religiöses spielte eine Rolle; letztlich war es mir unmöglich, in einem Chor die Johannespassion mitzusingen. In meinem linken, später feministischen Studentenmilieu verursachte die geschichtsvergessene und verbreitete Delegitimierung des Staates Israel – bis hin zur Rechtfertigung des Attentats auf die israelische Olympiamannschaft 1972 (deren Hostess ich gewesen war) –, eine Trennungslinie. Wo leben? Lange blieb unentschieden, wo ich leben wollte. In Betracht kamen Israel und Deutschland, es gab ein Hin und Her. Ausschlaggebend für Deutschland waren die Bindung an die Sprache sowie die politischen und sozialen Entwicklungen in Deutschland im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts; unter anderem erleichterte die öffentliche Auseinandersetzung mit dem National­ sozialismus und die einsetzende Zuwanderung aus verschiedenen Ländern das Hierbleiben. Die Frage »Wo leben?« ist wieder aktuell infolge der stärkeren öffentlichen Präsenz des Antisemitismus und der Gefahr terroristischer Attacken auf jüdische Einrichtungen und Personen. Israel war und ist für mich immer ein Bezugspunkt: Ohne die zionistischen Organisationen wären meine Eltern vermutlich der Shoah nicht entkommen. Der Staat Israel ist heute kulturelles Zentrum jüdischen Lebens weltweit und eine Lebensversicherung für den Ernstfall. Israel stärkt das Leben der Juden in der Diaspora – auch mein eigenes. In Deutschland hält mich vor allem die wesentlichste Bindung meines Lebens, nämlich die zu meinem Mann. Lernen: Für mich war und ist die Beschäftigung mit dem Antisemitismus, mit deutscher Kultur und Geschichte allgemein und besonders mit der Entwicklung von der Weimarer Republik in den Nationalsozialismus, mit jüdischer Geschichte, Kultur und Religion, mit der Geschichte des Staates Israel unverzichtbar als Instrument der persönlichen und sozialen Lebensorientierung wie der politischen Positionierung: Bedrückend ist die Erkenntnis, dass der Anti­ semitismus eine tief eingewurzelte Konstante der westlichen Kultur darstellt, die sich historisch immer wieder neu auflädt – und dass die für die Sicherheit von Minderheiten essenziellen Strukturen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit kulturell nur schwach verankert sind. Sie müssen fortlaufend gestützt werden. »Mein« Judentum: Judentum ist eine Kultur des Lernens. Das zweckfreie, lebenslange Studium ist eine Mitzva, eine religiöse Pflicht. Im Fokus stehen dabei der Tanach, die Hebräische Bibel, der Talmud und zahlreiche Kommentare und andere Schriften von der Antike bis zur Gegenwart. Die liberale Denomination des Judentums (Progressive Judaism), der ich mich zugehörig fühle, bezieht säkulares Wissen ein: jüdische Geschichte, Literatur, (jüdische) Philosophie. Das jüdische Lernen fordert einen Kontext des gemeinsamen Lernens

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Alisa Bach

und die Aufgabe, Gelerntes weiterzugeben. Meine Motivation zum »Graben« in der Tradition beruht auf dem Wunsch, das Judentum als eine eigenständige Kultur aus der Innenperspektive heraus zu verstehen, deren Tradierung auch in der Moderne bedeutsam ist. Jüdische Praxis, insbesondere das Begehen der zahlreichen Feiertage und die Durchführung der wöchentlichen Gottesdienste, erfordert die Zugehörigkeit zu einer jüdischen Gemeinde, welche die Infrastruktur für jüdisches Leben bietet. Ich habe mich für das progressive Judentum entschieden und war am Aufbau einer liberalen jüdischen Gemeinde beteiligt. Ich engagiere mich vor allem mit der öffentlichen jüdischen Bibliothek und indem ich Kinder in Hebräisch und Religion unterrichte. In der Gemeinde bin ich sehr oft am Schabat und an nahezu allen Feiertagen. Doch die gebotene Einhaltung der Schabatruhe stellt eine Herausforderung dar. Zu meiner jüdischen Praxis gehört selbstverständlich eine Mesusa (Kapsel mit Versen aus der Tora) an der Tür und zu Hause beachte ich einen liberalen Standard der Kashrut (jüdische Speisegesetze). Komme ich mit alledem meinen jüdischen Pflichten nach? Bin ich observant? Die Beantwortung dieser Frage hängt vom jeweiligen Standort des Befragten ab. Aus säkularer Perspektive lebe ich sehr jüdisch; aus orthodoxer oder ultraorthodoxer Sicht lebe ich sicher nicht observant, sondern sündig. Das liberale Judentum ist pluralistisch und respektiert individuelle Entscheidungen hinsichtlich des jüdischen Lebensstils. Das traditionelle hebräische Wort Halacha ist vom Wort »gehen« abgeleitet und bezeichnet einen Weg der ethischen und spirituellen Entwicklung durch eine normativ strukturierte Lebenspraxis. Ich nehme für mich in Anspruch zu sagen, dass ich mich auf diesem Weg befinde.

Alisa Bach studiert Jüdische Theologie. Sie arbeitet ehrenamtlich in der Jüdischen Bibliothek Hannover (www.jb-hannover.de) und in der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover (www.ljgh.de).

Freiheit ist Grundbedingung – Gedanken eines Muslims in Deutschland Jörg Ballnus

Im Rahmen dieses kurzen Beitrags möchte ich meinen Weg als Muslim in Deutschland schildern. Aufgewachsen in der DDR war für mich zunächst Religion ein ferner Begriff, der sich in der Schule wie auch im öffentlichen Leben kaum ausdrücken konnte. Hier konnten die Säkularisierungsstrategen und -strateginnen der herrschenden Elite der Arbeiter und Bauern große Erfolge feiern. Auch im Bekanntenkreis gab es kaum regelmäßige Kirchgängerinnen und Kirchgänger, bis auf einige Mitschülerinnen und Mitschüler, die hier und da über ihren Unterricht in der katholischen oder evangelischen Kirche berichteten. Das schuf durchaus Interesse für das, was sich wohl hinter den schweren Kirchentüren verbergen mochte. So besuchten einige Klassenkameraden und Klassenkameradinnen und ich aus kindlicher Neugier auch einige Male in der Weihnachtszeit das Krippenspiel und waren durchaus angetan von dieser anderen Welt, die sich uns darbot. Aus diesen zaghaften Besuchen entwickelte sich jedoch keine grundlegend andere Haltung. Auch später während meiner Buchdruckerlehre kam ich in Kontakt mit Menschen, die sich etwa in kirchlichen Jugendgruppen engagierten. Doch auch hier sollte es erst bis zum Fall der Mauer andauern, bis sich eine Suche ergab, die sich auf den Weg nach einer Transzendenz begab, einer Transzendenz, die sich immer wieder in Haltungen und Handlungen von Menschen zeigte, die meinen Weg kreuzten. Nach dem Fall der Mauer war plötzlich alles ganz anders. Die alte Bundesrepublik war in vielerlei Hinsicht bunter, offener und vielfältiger, als es die DDR je sein konnte. Das wichtigste Element war jedoch aus heutiger Sicht das der Freiheit des Einzelnen. Nur durch diese im Grundgesetz garantierte Freiheit ist es Menschen überhaupt möglich, sich für eine bestimmte Religion oder eben auch Weltanschauung zu entscheiden. In der DDR war dies nur sehr eingeschränkt, wenn überhaupt, möglich. In der alten Bundesrepublik wiesen am Ortseingang plötzlich Schilder auf Gottesdienste hin. Mir begegneten Menschen aus der ganzen Welt und es ergaben sich interessante Gespräche. Mit der Freiheit kam natürlich auch die Reisefreiheit. So ergab es sich, dass ich in all den Jahren eigentlich vorwiegend in östliche Richtung gereist bin. Ich besuchte sehr oft die Türkei und auch Syrien und Jordanien, wie auch die gemeinsame

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Jörg Ballnus

Hauptstadt aller drei abrahamischen Religionen: Jerusalem. Während eines Studienaufenthaltes in Jordanien entschied ich mich dann, eine wichtige Entscheidung zu treffen. Ich wurde Muslim. Die behütete Zeit als Muslim innerhalb einer mehrheitlich muslimischen Gesellschaft in Jordanien war sehr schön. Nach meiner Rückkehr wurde vieles nicht unbedingt einfacher. Zurückgekommen war es nicht leicht, wieder im Alltag anzukommen. Kommilitonen und Kommilitoninnen und auch die Diskussion in Lehrveranstaltungen halfen mir jedoch, einen neuen Weg zu gehen. Ein Weg, der in Jordanien beispielsweise ungleich einfacher gewesen wäre. In Deutschland musste ich mich nun ständig erklären. Fragen nach dem »Warum« meiner Entscheidung, aber auch das Gefühl, nicht mehr unbedingt dazuzugehören, tauchten plötzlich auf. Hinzu kam das schreckliche Ereignis von 9/11. Trotz all dieser Anfragen an meine neue Religion fühlte ich mich nie verlassen und geschwächt. Auch hier half meine neue Gemeinschaft, in der ich mich fortan engagierte. Teilhabe und Mitarbeit in einer muslimischen Studierendenvereinigung sowie einer Moscheegemeinde in Göttingen standen nun neben meinem Studium im Zentrum. Parallel begann ich mich für neue Handlungsfelder zu interessieren, die im Interesse aller Musliminnen und Muslime lagen. Hierzu gehört die sich anbahnende Diskussion über die Einführung des islamischen Religionsunterrichts in Niedersachsen. Diese Diskussion verfolgte ich sehr intensiv und engagierte mich in den Anfangsjahren der niedersächsischen Schura. Da­raus ergab sich schließlich ein neues berufliches Arbeitsfeld an der Universität Osnabrück. Hinzu kamen mit der Zeit weitere praktische Handlungsfelder. So unterrichte ich mittlerweile auch an zwei Schulen des Bistums Osnabrück islamischen Religionsunterricht. Die Herausforderungen an mich als deutschen Muslim wachsen beinahe täglich. Herausforderungen helfen aber auch, mein religiöses Leben mit gesellschaftlichen Kontexten abzugleichen. Privat wie beruflich ist das immer noch eine spannende Herausforderung. Insbesondere im beruflichen Kontext sind es derzeit zwei wichtige Felder, die mich beschäftigen. Einerseits geht es im Kontext meiner Funktion und Aufgabe als Lehrkraft für islamischen Religionsunterricht darum, meinen Schülerinnen und Schülern eine Orientierung in all ihren Fragen geben zu können. Dabei ist mir wichtig, dass sie sich immer als Teil unserer Gesellschaft begreifen sollten. Zumindest die Anbahnung dieser Kompetenz steht im Zentrum meines Wirkens. Andererseits geht es mir im Kontext meiner Aufgabe als Lehrerbildner im Rahmen universitärer Lehre und Praxis darum, aufgeschlossene Studierende auf ihren Wegen in den Vorbereitungsdienst zu begleiten, die sich ihrer Aufgabe bewusst sind, gleichzeitig aber auch vor schwierigen Fragen im Religionsunterricht nicht haltmachen.

Freiheit ist Grundbedingung – Gedanken eines Muslims in Deutschland

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Im Kern bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass all dies ohne die grundgesetzlich garantierte Freiheit nicht möglich gewesen wäre. Damit dies so bleibt, muss ich mich stärker als bisher auch um ein Werben für diese offene Gesellschaft in all meinen beruflichen wie privaten Arbeits- und Interessenfeldern einsetzen.

Dr. Jörg Ballnus ist Lehrer für islamischen Religionsunterricht und wissenschaftlicher Mitarbeiter bzw. Lernender Lehrerbildner am »Institut für Islamische Theologie« der Universität Osnabrück.

Interdisziplinäre Perspektiven

Von der alevitischen Cem-Gottesandacht im Geheimen hin zum Alevitischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen Handan Aksünger-Kizil

»Das cem ist wie die Schule des Alevitentums, ohne das cem gibt es kein Alevitentum«, zitiert Martin Sökefeld1 einen alevitischen Dede (Geistlichen). Die Cem-Gottesandacht ist bis heute einer der zentralen Kontexte, in dem Alevitinnen und Aleviten ihren Glauben lernen: einen Glauben, der bereits im Osmanischen Reich der Diskriminierung ausgesetzt war und bis zur heutigen Zeit im Herkunftsland Türkei keine rechtliche Anerkennung erfährt. Im Gegenteil: Seit dem Gesetz von 1925 (Tekke ve zaviye yasası) unterliegt die alevitische Glaubenspraxis – ähnlich wie die mystischen Strömungen des Islam – einem gesetzlichen Verbot. Damit verbunden existieren bis heute weder »Alevitischer Religionsunterricht« an öffentlichen Schulen noch »Alevitisch-Theologische bzw. Religionspädagogische Studiengänge« an den Hochschulen in der Türkei.2 Der erste Alevitische Religionsunterricht (ARU) weltweit wurde vielmehr 2002/2003 an Berliner Schulen eingeführt. Gegenwärtig wird die Zahl der Alevitinnen und Aleviten in Europa auf ca. 1,5–2 Millionen geschätzt. Davon leben ca. 700.000 in Deutschland;3 nach der Studie »Muslimisches Leben in Deutschland« wird ihre Zahl nur auf 480.000–552.000 geschätzt. Sie bilden demnach die zweitgrößte Gemeinschaft in der muslimischen Gruppe.4 Die Hoffnung auf ein besseres Leben führte Alevitinnen und Aleviten aus den zumeist anatolischen Landregionen der Türkei in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in diverse Länder Westeuropas, wo sie ihre religiöse Zugehörigkeit weiterhin verheimlichten. Aus Angst vor Diskriminierung und Verfolgung praktizierten sie die Takiye (Schweigegebot), einen Schutzmechanismus in frem1 Martin Sökefeld, Religion or Culture? Concepts of Identity in the Alevi Diaspora, in: Waltraud Kokot,/Tölöyan Kaching/Carolin Alfonso (Hg.), Diaspora, Identity and Religion New Directions in Theory and Research, London 2014, 143–165. 2 Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 26.04.2016 verstößt der türkische Staat damit gegen die Religionsfreiheit (Art. 9) und gegen das Diskriminierungsverbot (Art. 14) der europäischen Menschenrechte in der Türkei. 3 Vgl. die Webseite der Alevitischen Gemeinde Deutschland e. V.: https://alevi.com/ueber-uns/ (Zugriff am 10.05.2020). 4 Sonja Haug/Stephanie Müssig/Anja Stichs, Muslimisches Leben in Deutschland. Im Auftrag der Deutschen Islamkonferenz, Nürnberg 2009, 314.

Geheime Cem -Gottesandacht vs. öffentlicher Alevitischer Religionsunterricht

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der Umgebung. Umso wichtiger war die Cem-Gottesandacht als Ort der Religionstradierung, eine Art »Ritual als Volksschule« (im Sinne Émile Durkheims).

1  Alevitische Religion: Geschichte, Quellen und Glaube Alevitinnen und Aleviten können als eine religiöse Minderheit aus Anatolien (Türkei) bezeichnet werden.5 Die Genese des Alevitentums (Alevilik 6) lässt sich nicht auf nur eine einzige Stifterpersönlichkeit oder ein bestimmtes Jahr datieren.7 Die gegenwärtig bekannte Ausprägung des Alevitentums hat sich vermutlich zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert ausformiert, wobei die mystischen Ideen des Hünkar Hacı Bektaş Veli (13. Jh.) und die schiitischen Einflüsse des Sawafiden Şah Ismail (16. Jh.) prägend sind. Trotz der etymologischen Herleitung des Begriffs Alevi aus »Ali evi« (aus dem Hause Alis) und der besonderen Verehrung Imam Alis, der Ehl-i Beyt8 und der »Zwölf Imame« – Glaubensaspekte, die die Aleviten mit den Schiiten und den arabischsprachigen Alawiten teilen – sind sie mit diesen Gruppen nicht identisch. Es überwiegen die Unterschiede in den Traditionslinien und Glaubensvorstellungen, in Religionspraxis und Gemeinschaftsordnung.9 Wegen seines »Andersseins« im Verhältnis zum sunnitischen Islam wurde die alevitische Religion von osmanischen Regierenden stets als Häresie betrachtet. Trotz unterschiedlicher religionshistorischer Verortungsansätze lassen sich zentrale Elemente benennen, die konstitutiv für die »Alevitische Religion« sind.

5 Vgl. Martin Sökefeld, Einleitung: Aleviten in Deutschland – Von der takiye zur alevitischen Bewegung, in: ders. (Hg.), Aleviten in Deutschland. Identitätsprozesse einer Religionsgemeinschaft in der Diaspora, Bielefeld 2008, 7–36. 6 Der türkische Terminus Alevilik hat sich erst im 20. Jahrhundert als Überbegriff für Gemeinschaften aus Anatolien durchgesetzt. 7 Der komplexe Diskurs um die religionsgeschichtliche Verortung des Alevitentums ist – aus der Binnenperspektive – bis heute nicht abgeschlossen. Die damit einhergehende Vielfalt alevitischer Selbstverständnisse ist in den vergangenen Jahren sichtbarer geworden. Insbesondere die Positionierungen, ob das Alevilik »innerhalb versus außerhalb« des Islams oder nur als eine Lebensphilosophie zu verorten ist, führt zu hitzigen Diskussionen. 8 Die Ehl-i beyt werden als die »Leute des Hauses des Propheten Muhammet« verstanden. Dies umfasst den Propheten Muhammet, seine Tochter Fatima und ihren Ehemann Ali (den Cousin und Schwiegersohn des Propheten Muhammet) sowie deren Söhne Hasan und Hüseyin. 9 Vgl. Krisztina Kehl-Bodrogi, Die Kizilbas/Aleviten. Untersuchungen über eine esoterische Glaubensgemeinschaft in Anatolien, Berlin 1988, 120; Markus Dressler, Die alevitische Religion Traditionslinien und Neubestimmungen, Würzburg 2002, 13; Necati Alkan, Alawiten, Aleviten oder Nusairier?, http://www.lisa.gerda-henkel-stiftung.de/alawiten_aleviten (Zugriff am 01.03.2020).

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Handan Aksünger-Kizil

Vom Mystikverständnis Hünkar Hacı Bektaș Velis und der Batiniyya10-Lehre geprägt, gilt die Prämisse, dass Schriften und Quellen11 nicht nur nach dem äußeren, sichtbaren (Zahiri) Sinn, sondern vor allem nach einem inneren, verborgenen (Batini) Sinn gedeutet und aufeinander bezogen werden. Selbst wenn Aleviten den Koran als heiliges Buch des Islam anerkennen, so hat dieser nicht dieselbe rituelle und kanonische Bedeutung wie für Sunniten und Schiiten. Nach alevitischer Vorstellung sind Tora (Tevrat), Neues Testament (Incil), Psalmen (Zebur) und Koran (Kuran-ı Kerim) gleichberechtige heilige Bücher, die Gottes­gesandten offenbart wurden.12 Bei der Auslegung von Schriften kommt dem Menschen eine zentrale Bedeutung zu – was sich in der Weisheit »Das bedeutendste Buch, das man lesen kann, ist der Mensch« von Hünkar Hacı Bektaș Veli manifestiert. Zu den zentralen schriftlichen Quellen im Alevitentum zählen die BuyrukHandschriften (»Gebot«, »Weisung«), die vorrangig in die Zeit von Șah Ismail und seinem Sohn Şah Tahmasp (16. Jh.) zurückgeführt werden. Darin sind Ritualbeschreibungen, mystische Lehren, Gebete und schiitische Vorstellungen enthalten. Traditionell befanden sich die Buyruk-Manuskripte im Besitz der heiligen Ocak-Familien. Bis ins 20. Jh. hinein wurden diese Texte handschriftlich vervielfältigt, ergänzt und fortgeschrieben, sodass unterschiedliche Versionen im Umlauf sind. Des Weiteren gilt die Schrift Vilâyet Nâme-i Hacı Bektaș Veli (»Die Erzählung von Hünkar Hacı Bektaș Veli«), kurz »Vilayetname« als zentral. In diesem Werk werden das Leben und die Wundertaten des Gelehrten Hünkar Hacı Bektaș Veli beschrieben. Als weiteres bedeutendes Werk ist die Makalat-ı Hacı Bektaș Veli (»Die Aussagen des Hünkar Hacı Bektaș Veli«) zu nennen. Auch wenn es umstritten ist, ob es direkt aus seiner Feder stammt, wird es auf seine Gedanken zurückgeführt. Darauf beruht insbesondere das unten genannte Ethiksystem der »Vier Tore, Vierzig Stufen«. Einen sehr bedeutenden Zugang zum Alevitentum stellt die gesungene Dichtung (Theopoesie) dar.13 Diese wird während aller religiösen Versammlungen 10 Unter der Batiniyya ist eine frühe Richtung (8.–10. Jh.) innerhalb der islamischen Mystik zu verstehen. 11 Der Quellenbegriff umfasst in der alevitischen Tradition schriftliche wie auch mündliche Überlieferungen, zudem heilige Orte und Objekte, die mit einer heiligen Person in Verbindung stehen. 12 Vgl. Ismail Kaplan, Glaubensgrundlagen und Identitätsfindung im Alevitentum, in: Friedmann Eißler (Hg.), Aleviten in Deutschland. Grundlagen, Veränderungsprozesse, Perspektiven, Berlin 22013, 29–76, hier 40. 13 Krisztina Kehl-Bodrogi, Die Aleviten, in: Michael Klöckner/Udo Tworuschka (Hg.), Handbuch der Religionen. Kirchen und andere Glaubensgemeinschaften in Deutschland und im deutschsprachigen Raum (V2), München 2008, 1–12.

Geheime Cem -Gottesandacht vs. öffentlicher Alevitischer Religionsunterricht

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(wie z. B. Cem-Gottesandacht) und der spirituellen Gespräche (Muhabbet, Sohbet) von einer Langhalslaute (Bağlama) begleitet vorgetragen. Eine grundlegende alevitische Vorstellung besteht darin, dass sich Gott/ Wahrheit (Hak, Hakikat, Tanrı) durch ein göttliches Licht in jedem Menschen manifestiert. Die Verknüpfung einer transzendenten und zugleich immanenten Gottesvorstellung ist vor dem Hintergrund eines Schöpfungs­verständnisses zu verstehen, das alles in einer »mystischen Einheit« sieht.14 Hak/Hakikat ist mit Muhammet und Ali verbunden, sodass Aleviten einen Dreiklang aus »HakMuhammet-Ali« oder »Ya Allah-Ya Muhammet-Ali« aussprechen, das ein fester Bestandteil der alevitischen Liturgie in der Cem-Gottesandacht ist. Alevitinnen und Aleviten bezeichnen ihren Glauben als einen Weg (Yol), den man im Laufe des Lebens bestreiten soll, um zu Gott bzw. zur Wahrheit zu gelangen. Auf diesem Weg soll der Mensch vier spirituelle Tore durchstreiten, die in der »Vier Tore, Vierzig Stufen«-Lehre (Dört Kapı Kırk Makam) konzeptualisiert sind, um ein vollkommener Mensch (Insan-i kamil) zu werden.15 Der mit Vernunft, Verstand und Liebe ausgestattete Mensch ist angehalten, sich Wissen anzueignen und ethisch-moralisch gut zu handeln. Der Vervollkommnungsprozess wird bereits im Diesseits angestrebt.16 Aleviten glauben daran, dass es eine positive »Gott-Mensch-Beziehung« gibt und Gott die Menschen aus »Liebe« erschuf. Jeder Mensch, sei er Alevit, Christ, Sunnit oder Schiit, Frau oder Mann, trägt einen Anteil Gottes in sich; alle Menschenseelen wurden gleichwertig erschaffen. Alevitinnen und Aleviten kennen weniger eine Furcht vor Gott, sondern vertrauen vielmehr der liebevollen Beziehung zu ihm. Damit wird dem Menschen ein Potenzial zugesprochen, positiv zu fühlen, zu denken und zu handeln. Wichtig ist, dass sich der Mensch von negativen Eigenschaften wie Gier, Neid, Hass reinigt, sich in Bescheidenheit übt und an die Gebote der Edep-Regeln hält, die als ethisch-moralische Maxime gelten. Im Vordergrund der Edep-Regeln steht die Aussage »Beherrsche Deine Hände, Deine Zunge und Deine Lenden« (Eline Diline Beline sahip ol), die für beide Geschlechter gleichermaßen gilt. Die Hand zu beherrschen impliziert, nicht zu stehlen und keine Gewalt auszuüben. Die Beherrschung der Zunge fordert die Menschen auf, stets die Wahrheit zu sprechen und nicht zu lügen. Die 14 Kaplan, Glaubensgrundlagen, 2013, 47. 15 Die »Vier Tore, Vierzig Stufen-Lehre« ist vor allem im Makalat-ı Hacı Bektaș Veli nieder­gelegt. Die vier Tore sind 1. Şeriat (Grundregeln des Zusammenlebens), 2. Tarikat (Mystischer Pfad), 3. Marifet (Fähigkeit zur Erkenntnis) und 4. Hakikat (Wahrheit). 16 In der alevitischen Tradition sollen die Menschen im Diesseits ihr Verhalten reflektieren und schuldhaftes Handeln wiedergutmachen, sodass Jenseitsvorstellungen im Sinne von »Himmel und Hölle« eine untergeordnete Rolle einnehmen.

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Handan Aksünger-Kizil

Aufforderung die Lenden zu beherrschen, impliziert sexuelle Handlungen auf die monogame Ehe zu beschränken. Grundlose Scheidung und Polygamie gelten als Verstoß. Werden diese Moralregeln verletzt, so läuft man Gefahr »getadelt« und aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Ein zentraler Begriff, der dem Fehlverhalten entgegenwirkt, ist das Rızalık, das als »Einvernehmen« oder »Einklang« übersetzt wird. Dieses Grundprinzip gilt für beide Geschlechter und dient zur Vermeidung von ungerechtem Verhalten sowie Konflikten. Nur durch das Rızalık auf drei Ebenen ist der Mensch in der Lage, die beschriebenen vier Tore zu durchschreiten. Die erste Art des Einvernehmens ist der Einklang mit sich selbst, d. h. sich mit seinem Inneren zu konfrontieren und sich selbst zu reflektieren. Dies soll vom Herzen erfolgen und freiwillig sein, sodass der Mensch mit sich selbst versöhnt ist. Die zweite Art ist das Einvernehmen mit der Gesellschaft. Hier soll die Gesellschaft, in der man lebt, mit der Person und die Person mit der Gesellschaft einvernehmlich sein. Dazu muss der Mensch darauf achten, keinem anderen Menschen gegenüber ungerecht zu handeln und keinem Leid zuzufügen.17 Auf der dritten Ebene bezieht sich das Einvernehmen auf den spirituellen Weg. Jeder, der sich auf den alevitischen Weg (Yol) begibt, sollte die Regeln aus Liebe befolgen. Handlungen aus Zwang verlieren ihren religiösen Wert. Ist der Mensch im Einklang mit sich selbst und im Einklang mit seinen Mitmenschen, so wird auch Gott mit ihnen zufrieden sein (Kul kuldan razı olunca, Hak da razıdır).

2  Ocak-Talip-Beziehungen und Cem-Gottesandacht Nach gegenwärtigem Kenntnisstand erfolgte die alevitische Religionstradierung, vereinfacht formuliert, über zwei Traditionsstränge: zum einen über die Traditionsform der Derwisch-Konvente (Dergah, Tekke), die vor allem mit den Personen Hünkar Hacı Bektaş Veli (Bektaşi-Orden) sowie Şah Ismail (Safawiden-Orden) in Verbindung stehen, zum anderen über die Traditionsform der Ocak-Talip-Beziehungen, also den Strang der Familienbeziehungen und rituellen Handlungen in den dörflichen Settings. Die traditionell endogam, d. h. nach innen, organisierte alevitische Gemeinschaft ist durch sozial-religiöse Beziehungen geprägt, die über ein rituelles Versprechen/Bündnis (Ikrar) hergestellt werden. Diese zählen zu den Grundregeln des alevitschen Weges (Yol Erkanları). Die grundlegendste Form ist die Ocak17 Vgl. u. a. Handan Aksünger, Jenseits des Schweigegebots. Alevitische Migrantenselbstorganisationen und zivilgesellschaftliche Integration, Münster 2013, 99.

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Talip-Beziehung. Auf der einen Seite stehen die Talip (Strebende, Schüler), auf der anderen Seite die heiligen Ocak (Geistliche). Die Ocak-Talip-Beziehung wird wie eine sozial-religiöse Eltern-Kind-Beziehung verstanden. Diese beiden Gruppen sind durch eine patrilineare Zuordnung miteinander verbunden, die an die Nachfolgegenerationen weitervererbt wird. Ihre Legitimation beziehen die Ocak-Gruppen durch ihre Abstammung vom Propheten Muhammet, von den »Zwölf Imamen« oder von anderen alevitischen Heiligen. Den Angehörigen der Ocak-Familien obliegt die religiöse und soziale Anleitung der ihnen zugeordneten Talip-Familien, legitimiert durch ein »geerbtes Charisma« (Max Weber). Die Angehörigen eines Ocak werden Dede (wörtlich Großvater) und Ana (wörtlich Mutter) genannt. Ihre Aufgabe ist es, die Talip-Gruppen mindestens einmal im Jahr zu besuchen, die zentrale Cem-Gottesandacht zu leiten, Beerdigungs-, Trauungs- und Initiationsriten durchzuführen, Streit zu schlichten, Seelsorge zu leisten, Kranke zu behandeln und religiöses Wissen zu vermitteln. Letzteres erfolgt insbesondere im Rahmen der Cem-Gottesandacht und der »Muhabbetund Sohbet-Gesprächskreise« als Träger des kulturellen Gedächtnisses (im Sinne Jan Assmanns). Um dieses Amt adäquat ausüben zu können, verfügt ein Dede/ eine Ana idealerweise über folgende Fähigkeiten bzw. Charakterzüge: Ehrlichkeit, Bescheidenheit, Gastfreundlichkeit, Geschicklichkeit der Vermittlung zwischen Personen und Interessensgruppen sowie bei der Ausführung der Rituale und Wissensermittlung. Hinzu kommt das Einvernehmen (Rızalık) der jeweiligen Talip-Gruppe, wodurch der Dede/die Ana in seiner/ihrer Funktion bestätigt wird. Traditionell waren nur die Ocak-Familien in Besitz der Buyruk-Handschriften und der rituellen Objekte, die sie innerhalb ihrer Familien vererbten. In der Regel bereiten die Dede einen geeigneten männlichen Nachfolger oder in Ausnahmefällen eine Nachfolgerin auf die bevorstehenden Aufgaben vor. Dies erfolgt durch die Wissensaneignung und Auslegung der schriftlichen Quellen, das Beobachten und Ausführen der rituellen Handlungen sowie das Besuchen der Talip-Familien. Insgesamt bestimmen die Kriterien Abstammung, Wissen, Fähigkeit der Vermittlung, Ausführung der Dienste und Akzeptanz durch die Talip darüber, ob jemand das Dedelik (Dede-Amt) ausführen kann.18 Die Inhaber des Dedelik galten als die Hüter des geheimen Wissens und übernehmen eine Vermittlerrolle zwischen den Talip und Gott/Wahrheit. Eine Wissensvermittlung an Nicht-Aleviten (»Fremde«) sowie die Teilnahme von Nicht-Aleviten an alevitischen Cem-Gottesandachten war traditionell nicht erlaubt. 18 Vgl. Ismail Kaplan, Dedes und Anas bilden sich für Ihre Dienste: Fortbildungsprogramm der Alevitischen Gemeinde Deutschland e. V. für alevitische Geistliche, in: Robert Langer u. a. (Hg.), Ocak und Dedelik. Institutionen religiösen Spezialistentums bei den Aleviten, Frankfurt 2013, 329–343, hier 330–331.

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Alevitinnen und Aleviten haben eine Vielfalt an Gebeten und G ­ ebetsformen, die teils regionsspezifisch bedingt sind. Das individuelle Gebet, das der einzelne je nach Situation vollzieht, ist der Person selbst überlassen. Zu den zen­ tralen gemeinschaftlichen Gebeten zählt zweifelsohne die Cem-Gottesandacht. Die religiösen Versammlungen Ayn-i Cem oder kurz Cem genannt (arabisch: Versammlung, Gemeinschaft, Einheit), in deren Verlauf auch die gemeinsame Andacht (Ibadet) vollzogen wird, markiert das Alevitentum als eine Glaubensgemeinschaft. Vorrangiges Ziel der Cem-Andacht sind die Herstellung und Erneuerung der Einheit innerhalb der Gemeinschaft und mit Gott/Wahrheit, aber auch die Lösung von gemeinschaftlichen Konflikten. Laut alevitischer Vorstellung hat bereits Muhammet nach der Himmelfahrt (Mirac) an der »Versammlung der heiligen Vierzig« (Kırkların Cemi) teilgenommen. Die entsprechende Erzählung wird in den Buyruk-Schriften ausführlich beschrieben und legitimiert die religiöse Praxis der alevitischen Cem-Gottesandacht. Traditionell wird das Cem im dörflichen Setting in der Nacht von Donnerstag auf Freitag ausgeführt, die als eine Art »heilige Zeit« gilt.19 Idealerweise findet es in den eigenen Wohnräumen statt, Männer und Frauen nehmen gemeinsam teil. Heute finden diese Versammlungen vermehrt in den alevitischen CemHäusern (Cem Evi) statt, d. h. in den lokalen Gemeindehäusern. Die Teilnehmenden sitzen im Halbkreis, um einander in die Gesichter (Cemal Cemale) zu schauen. Eine geschlechtlich separierte Sitzordnung ist religiös nicht vorgeschrieben. Lediglich der Sitzplatz der Dede/Ana, die die Andacht leiten, befinden sich mit dem Gesicht zu den Teilnehmenden. Neben dem Dede sitzt der »Barde« (Zakir), der auf der »Langhalslaute« (Bağlama) die Gebetshymnen und Gedichte vorträgt. Diese sind zumeist in türkischer Sprache gehalten, wie der gesamte Ablauf der Gottesandacht. Nur einige Gebetsstellen und Namen werden in persischer oder arabischer Sprache rezitiert. Neben dem Dede sitzt auch der »Wegweiser« (­ Rehber), der bei der Ritualausführung und den Gebeten behilflich ist. Alle Ritualteilnehmenden sind idealerweise durch Dede-Talip-­ Beziehungen miteinander verbunden; so sind sie wie »Bruder und Schwester« bzw. als eine Seele (Can) zu verstehen. Zu den zentralen Aspekten zählt das Mitbringen von Gaben (Lokma) wie z. B. gebackenes Brot oder Obst, die für das spätere gemeinsame Mahl (Lokma Yemeği) vorbereitet werden. Zu den weiteren wichtigen liturgischen Handlungen zählt das »Erwecken des Lichts« (Delil bzw. Cerağ uyandırmak), indem drei bzw. zwölf Kerzen angezündet werden. Während die Drei für »Hak, Muhammet, Ali« steht, impliziert die Zahl Zwölf die 19 Für eine detaillierte Beschreibung s. u. a. Handan Aksünger, Eine ethnologische Interpretation des Cem-Rituals, in: Eißler 2013, 85–98.

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»Zwölf Imame«. Licht gilt – wie im Schöpfungsmythos auch – als »heilig« und soll den Ritualteilnehmenden das Licht der Heiligen vergegenwärtigen. Eine weitere wichtige liturgische Handlung betrifft das Herstellen des gegenseitigen Einvernehmens (Rızalık), das der Dede/die Ana zu Beginn, in der Mitte und am Ende der Gottesandacht mit den Teilnehmenden vollzieht. Insbesondere die Bereinigung von Konflikten, d. h. Versöhnen von zerstrittenen Personen, gilt als eine notwendige Voraussetzung für das gemeinschaftliche Gebet. Zu den abschließenden rituellen Handlungen zählen das »Semah-Drehen« (Semah dönmek) und das gemeinsame Mahl (Lokma yemeği). Der Semah ist ein »spiritueller Gang« bzw. eine Gebetsform, der an den »Semah der heiligen Vierzig« in der »Versammlung der heiligen Vierzig« (Kırkların Cemi) erinnert. Das gemeinsame Mahl leitet das Ende der Cem-Gottesandacht ein. Im Anschluss daran können die Beteiligten zu »Muhabbet und Sohbet-Gesprächen« zusammenbleiben oder nach Hause gehen. Ist ein Dede/eine Ana von weit her angereist, dann nutzen die Teilnehmenden oftmals die Gelegenheit, um Gespräche zu führen. In der Regel finden Cem-Gottesandachten einige wenige Male im Jahre statt. Die religiösen Feste und Feiertage der Alevitinnen und Aleviten basieren auf einer Kombination aus jahreszyklisch fixierten und beweglichen Feiertagen. Die zeitlich festgelegten wie z. B. das Hızır-Fasten (Januar–­ Februar), Gedenktage an Hıdırellez (Mai) und Abdal Musa (Juni) richten sich nach dem julianischen Sonnenkalender. Das Opferfest (Kurban Bayramı) und das Muharrem-­Fasten mit Aşure richten sich nach dem islamischen Mondkalender. Die Cem-Gottesandachten und das informell über Dörfer hinweg gespannte Netzwerk an sozial-religiösen Dede-Talip-Beziehungen waren der Garant für die Religionstradierung bis in die Mitte des 20. Jh. Mit den Verstädterungsund Migrationsprozessen ab den 1940/50er Jahren verlagerte sich jedoch das Leben der mehrheitlich in dörflichen Kontexten sozialisierten Alevitinnen und Aleviten in die Großstädte, was zu einer erheblichen Schwächung dieser Beziehungen und somit der Religionspraxis führte. In den mehrheitlich sunnitisch geprägten Städten trauten sich die Aleviten in fremder Umgebung nicht ihre Religionspraxis auszuüben. Grund war nicht nur das Gesetz von 1925 (Tekke ve Zaviye yasası) der frührepublikanischen Türkei, sondern auch Erinnerungsängste an die von Yavuz Sultan Selim I. (1470–1520) erlassenen Fatwas (islamische Rechtsgutachten), die ihre Vorfahren die Kızılbaș als »Ungläubige« (­ Kuffar) brandmarkten, wodurch sie zu Opfern von Verfolgung wurden. Bis heute ist den ungefähr 15–20 Millionen Alevitinnen und Aleviten eine rechtliche Anerkennung als Religionsgemeinschaft verwehrt geblieben.20 20 Gleiches trifft auf die Alawiten (Nusairer) und Jesiden in der Türkei zu.

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Die Alevitinnen und Aleviten fallen nach türkischem Recht unter die Kategorie »Muslime«. Auch für ihre religiösen Belange ist folglich seit 1924 das »Präsidium für religiöse Angelegenheiten« (Diyanet Ișleri Bașkanlığı, DIB) zuständig, de facto finden alevitische Themen somit kaum Berücksichtigung.21 Ähnliches spiegelt sich auch im Aufbau der Theologischen Fakultäten ab 1949 und den Imam-Hatip-Prediger-Schulen ab 1951 wider. Diese sind in ihrer fachlichen Ausrichtung sunnitisch geprägt. Gegenwärtig existieren um die 20 Theologische Fakultäten in der Türkei, an keiner davon gibt es ein Hochschulstudium für »Alevitische Theologie« oder »Alevitische Religionspädagogik«.

3  Gemeinde, Religionsunterricht und erste Studiengänge Im Zuge der Gastarbeitermigration (1960er Jahre) und der politisch-religiös motivierten Fluchtbewegung in den 1970er und 1980er Jahren in Deutschland angekommen, praktizierten viele Alevitinnen und Aleviten bis Ende der 1980er Jahre weiterhin das Schweigegebot. Erst die Selbstorganisation in alevitischen Vereinen/Gemeinden ab den 1980er Jahren und die Etablierung der »Alevitischen Kulturwoche« 1989 an der Universität Hamburg führte zu einem kollektiven Bruch mit der Takiye. Das zentrale Motiv der alevitischen Bewegung war die Anerkennung und die Kommunikation der »alevitischen Identität« ohne Angst.22 Im Zuge der Selbstorganisation gründeten Alevitinnen und Aleviten Gemeinden bzw. Cem-Häuser (Cem Evi), die sich 1989 zu einem vorläufigen Dachverband zusammenschlossen, der sich seit 2002 Alevitische Gemeinde Deutschland e. V. (Almanya Alevi Birlikleri Federsayonu, AABF) nennt.23 Dem sind gegenwärtig ca. 160 Ortgemeinden angeschlossen. Die Wiederbelebung alevitischer Religionspraxis in alevitischen Gemeinden brachte zugleich neue Herausforderungen mit sich, von denen hier nur einige Beispiele genannt werden. Eine zentrale Herausforderung betrifft die Verschiebung der »Autoritätsfrage« von den Ocak-Familien hin zu den Vereinsvorständen, die mit der neuen 21 Dreßler 2013, 16. 22 Martin Sökefeld, Die Geschichte der alevitischen Bewegung in Deutschland, in: Eißler 2013, 18–28, hier 28. 23 Neben der AABF entstand 1997 die Alevitische Gesellschaft Deutschlands (Cem Almanya Alevi Toplumu, CEMAAT) als ein Ableger der Cem Stiftung (Cem Vakfı) aus der Türkei. Des Weiteren ist die Europäische Alevi Akademie (Avrupa Alevi Akademisi, AAA) zu nennen, welche mit Unterstützung der AABF und einiger alevitischer Gemeinden in den Niederlanden entstanden ist; vgl. http://www.aleviakademisi.org/ (Zugriff am 14.05.2020).

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Organisationsform als »Verein« einhergeht. Die Vereinsvorstände, die nicht alle aus Ocak-Familien sind, werden durch Mitgliederwahlen ernannt. Insbesondere im Blick auf die Deutungshoheit über den alevitischen Glauben und die Glaubenspraxis kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen. Die ehemals in dörflichen recht homogenen Familienkontexten stattfindenden Cem-Gottes­ andachten wurden in den städtischen Migrationskontexten einer größeren Teilnehmerzahl zugänglich. Waren durch die genealogisch vererbten Ocak-TalipBeziehungen die Teilnehmenden einander vertraut, so kannten sich in den Großstädten die Gläubigen kaum. Sprachliche und kulturelle Unterschiede in der Religionstradierung zwischen ihnen kommen hinzu. Neben der inneralevitischen Pluralität wurde auch die gesamtgesellschaftliche Pluralität zu einer Herausforderung, da Alevitinnen und Aleviten ihre eigene »Identität« im Lebensalltag (z. B. Schule, Arbeit, Nachbarschaft) zu erklären versuchten. Insbesondere die Schule wurde für alevitische Schülerinnen, Schüler und Eltern zu einem neuen Ort der Diskriminierung. Das »Nicht-­Tragen eines Kopftuches« oder das »Nicht-Fasten im Monat Ramadan« einerseits sowie die religiösen Inhalte im muttersprachlichen »Türkischunterricht« und später »Islamkunde-Unterricht« (in den 1980er Jahren) andererseits spiegelten erneut das »Anderssein« der alevitischen Religion. Viele Schülerinnen und Schüler konnten sich in Bezug auf ihre alevitische Zugehörigkeit kaum äußern, da entweder ihre Eltern sie ihnen verschwiegen oder diese selbst kaum Kenntnisse über die religiösen Inhalte hatten. Vor diesen Hintergründen ist die Einführung eines Alevitischen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen in Deutschland für die alevitische Religionstradierung und Identitätsentwicklung von besonderer Bedeutung.24 Bereits 1991 startete das Alevitische Kulturzentrum Hamburg (heute Alevitische Gemeinde Hamburg e. V.; Hamburg Alevi Kültür Merkezi HAKM) eine Unterschriftenkampagne mit dem Ziel alevitische Inhalte in den Schullehrplänen zu berücksichtigen. Die Teilnahme von Aleviten am 1995 gegründeten »Gesprächskreis Interreligiöser Religionsunterricht« (GIR) führte dazu, dass 1998 erste alevitische Themen wie z. B. das Cem-Haus und das Muharrem in den Lehrplan für den Religionsunterricht an Hamburger Grundschulen aufgenommen wurden. Im Rahmen des Hamburger Weges eines interreligiösen »Religionsunterrichts für alle« (RUfa) ist das Alevitentum neben Judentum, Islam u. a. gleichrangig vertreten. 24 Vgl. Ismail Kaplan, Alevitischer Religionsunterricht. Grundlangen, Wege und Perspektiven, in: Eißler 2013, 171–182, hier 171.

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Parallel dazu wurde 2002 der Antrag des Kulturzentrums Anatolische Aleviten e. V. (Anadolu Aleviler Kültür Merkezi, AAKM) auf Erteilung alevitischen Religionsunterrichts von der Senatsverwaltung in Berlin angenommen. So wurde der erste Alevitische Religionsunterricht (ARU) weltweit 2002/2003 in Berlin eingeführt. Weitere Anträge auf Alevitischen Religionsunterricht wurden in NordrheinWestfalen u. a. eingereicht. Die Anerkennung erfolgte dort auf der Basis je eines religionswissenschaftlichen25 und rechtswissenschaftlichen26 Gutachtens. Unter Bezugnahme darauf führte auch das Land Baden-Württemberg im Rahmen eines Modellversuchs im Schuljahr 2006/07 den alevitischen Religionsunterricht (ARU) ein. Nach einer Auflistung vom März 2016 wird in acht Bundesländern durch 60 alevitische Lehrkräfte der Alevitische Religionsunterricht an 1.363 alevitische Schülerinnen und Schüler erteilt.27 Hinzu kommt der RUfa in Hamburg. Die für den ARU erforderlichen Lehrenden werden an den Standorten Weingarten und Hamburg qualifiziert. An der Pädagogischen Hochschule Weingarten wurde 2011 das Pilotprojekt ›Lehrerweiterbildung für den alevitischen Religionsunterricht‹ (ARU) eingeführt; diese Arbeit verstetigte sich im Winter­semester 2013/14 im Erweiterungsstudiengang »Alevitische Religionslehre/­-pädagogik«.28 Durch den Vertrag zwischen der Freien und Hansestadt Hamburg und der Alevitischen Gemeinde Deutschland e. V.29 erfolgte 2013 die Einrichtung der ersten Juniorprofessur mit dem Schwerpunkt »Alevitische Religion« an der Hamburger Akademie der Weltreligionen zum Wintersemester 2014/15 und des neuen Bachelor-Teilstudiengangs »Alevitische Religion« im Lehramt zum Wintersemester 2015/16.30 Der weiterführende Master-Teilstudiengang »Alevitische 25 Ursula Spuler-Stegemann, Ist die alevitische Gemeinde Deutschland e. V. eine Religions­ gemeinschaft? Religionswissenschaftliches Gutachten im Auftrag des Ministeriums für Schule, Wissenschaft und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen, Marburg 2003. 26 Stefan Muckel, Ist die alevitische Gemeinde Deutschland e. V. eine Religionsgemeinschaft? Rechtsgutachten für das Ministerium für Schule, Jugend und Kinder des Landes NordrheinWestfalen, Köln 2004. 27 Angaben des ehemaligen Bildungsbeauftragten Yilmaz Kahraman aus dem Jahr 2016. 28 Hüseyin Ağuiçenoğlu, Alevitischer Religionsunterricht an öffentlichen Schulen und die Institutionalisierung der alevitenbezogenen Forschung und Lehre an den deutschen Hochschulen. Der Erweiterungsstudiengang »Alevitische Religionslehre/-pädagogik« an der Pädagogischen Hochschule Weingarten, in: Michael Klöcker/Udo Tworuschka (Hg.), Handbuch der Religionen. Kirchen und andere Glaubensgemeinschaften in Deutschland im deutschsprachigen Raum, Landsberg o. J. 29 Für den Vertrag s. http://www.hamburg.de/contentblob/3551366/data/download-alevitischegemeinde.pdf. (Zugriff am 01.04.2020). 30 Dazu Handan Aksünger/Wolfram Weisse, Alevitische Theologie an der Universität Hamburg. Dokumentation einer öffentlichen Antrittsvorlesung, Münster 2015.

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Religion« wird seit dem Wintersemester 2019/20 angeboten. Überlegungen zu weiteren universitären Studiengängen laufen gegenwärtig an der Humboldt Universität zu Berlin und der Universität Tübingen. Zusammengenommen sind gegenwärtig an den Standorten Weingarten und Hamburg lediglich 1,5 wissenschaftliche Mitarbeiterstellen vorhanden – im Vergleich dazu werden in Deutschland an sieben universitären Standorten Islamische Theologie und/oder Islamische Religionspädagogik angeboten. Zwar hat das Wissenschaftssystem somit auf die wachsende Pluralität der religiösen Strömungen reagiert, doch in Deutschland liegen Alevitische Theologie und Religionspädagogik nach wie vor fernab der Aufmerksamkeit.31 Die durch Säkularisierungs-, Industrialisierung-, Urbanisierungs- und Migra­tionsprozesse fast zum Erliegen gekommene Religionstradierung der Alevitinnen und Aleviten kann insbesondere durch den ARU an öffentlichen Schulen gefördert werden.

4  Alevitischer Schullehrplan und Schlussgedanken Bisher existiert keine Studie zum Alevitischen Religionsunterricht – ein großes Forschungsdesiderat. An dieser Stelle soll lediglich ein Blick in den ersten Lehrplan für Alevitischen Religionsunterricht an Grundschulen geworfen werden.32 Die grundlegenden Abschnitte etwa zu den »Aufgaben des Faches« sowie die »28 Themenskizzen« orientieren sich fraglos an dem alevitischen Gottes-/Wahrheitsverständnis (Hak, Tanrı, Hüda, Allah), dem Dreiklang (Hak-MuhammetAli), der positiven »Gott-Mensch-Beziehung«, der »Vier Tore, Vierzig Stufen«Lehre (Dört Kapı, Kırk Makam), den ethisch-moralischen Maximen (Edep und Rızalık) und den liturgischen Handlungen der Cem-Gottesandacht. Insbesondere der Imperativ des Einvernehmens (Rızalık) sticht ins Auge. Als ein methodisches Prinzip eignet es sich besonders für die a) inneralevitische, b) interkonfessionelle (mit Sunniten und Schiiten), c) interreligiöse (mit Christen, Juden, Buddhisten, etc.) Verständigung sowie das Lernen d) mit anderen Weltanschauungen. Es kann explizit und implizit einen Beitrag zur Friedenserziehung und zum Umgang mit Pluralität in einem religiös, kulturell, ethnisch und sprachlich vielfältigen Schulkontext in Deutschland leisten – ein Potenzial, das auch eine 31 2011 wurden alevitische Inhalte in »Religious Education« an Grundschulen in Großbritannien eingeführt und 2013 alevitischer Religionsunterricht an öffentlichen Schulen in Österreich. 32 Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen, Lehrplan für die Grundschule in Nordrhein-Westfalen. Alevitischer Religionsunterricht Klasse 1 bis 4, Düsseldorf 2008.

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Brücke zum Katholischen, Evangelischen, Islamischen, Jüdischen Religionsunterricht sowie zu den Schulfächern Ethik und Philosophie schlagen kann. 33

Prof. Dr. Handan Aksünger-Kizil ist Professorin für Alevitisch-Theologische Studien am Institut für Islamisch-Theologische Studien an der PhilologischKulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.

33 Darüber hinaus lassen sich durch die aktive Verwendung der alevitischen Poesie in Begleitung der Langhalslaute (Bağlama) Schnittstellen zum Musikunterricht und durch das bildnerische Darstellen von heiligen Personen Brücken zum Kunstunterricht herstellen.

Das sunnitische Islamverständnis – ausgewählte Wesensmerkmale Tarek Badawia

Im folgenden Beitrag wird das sunnitische Verständnis des Islam unter Berücksichtigung eines innermuslimisch konfessionellen Pluralismus thesenartig skizziert. Die Rede von einem sunnitischen Islamverständnis will religionspädagogisch eine Haltung der Offenheit fördern, indem sie den Blick auf Inhalte und Begründungszusammenhänge lenkt. Denn heutzutage von einem sunnitischen Islam zu sprechen, lässt sich ideengeschichtlich – so die Position des Autors – als eine Geschichte der unterschiedlichen Verständnisse von überlieferten Texten und Erzählungen sowie der divergierenden Positionen zu aufkommenden theologischen und rechtsnormativen Fragen verstehen. Diese religionspädagogische Zielsetzung ist im Interesse der Versachlichung von historisch, machtpolitisch und emotional aufgeladenen konfessionellen Divergenzen ausschlaggebend. In fünf Dimensionen sollen die Wesensmerkmale des sunnitischen Islamverständnisses aufgefächert werden, wobei das breite Spektrum an Aspekten in seiner Komplexität auf wesentliche Kernaspekte reduziert werden muss.

1  Koran und Sunna als Hauptreferenzen Das Adjektiv »sunnitisch« enthält das zentrale Merkmal dieses Verständnisses von Islam und verweist auf die »Sunna«, d. h. auf das vorgelebte und tradierte Vorbild muslimischer Lebenspraxis des Propheten Muhammad.1 Mit dem Begriff verbindet die Mehrheit der muslimischen Glaubensgemeinschaft (über 85 % aller Muslime in der Welt gehören dem sunnitischen Islam an) ein Islamverständnis, das im gesprochenen Wort, im vollzogenen Handeln und in allen aktiv sowie passiv getroffenen Entscheidungen des Propheten Muhammad2 im Laufe seiner 23-jährigen Lebensgeschichte als Prophet (sīra) zum Ausdruck gekommen ist. Theologisch hat sich für die Bezeichnung dieser Glaubensrichtung die 1

Muslime pflegen bei der Nennung des Prophetennamens einen Segensspruch für ihn zu sprechen. Der lautet: »Allahs Heil und Segen auf ihm« (ṣalla al-lahu ‛alaihi wa-sallam). 2 Das Leben Muhammads ist in allen möglichen Details dokumentiert worden. Siehe hierzu: Martin Lings, Muḥammad. Sein Leben nach den frühesten Quellen, Kandern 1998.

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Bezeichnung »Leute der prophetischen Überlieferung und der einträchtigen Gemeinschaft« (ahl as-sunna wa al-ğamā‛a) etabliert.3 Dieses Selbstverständnis baut ferner auf einem prophetischen Spruch auf, der besagt: »Ich habe euch zwei Dinge hinterlassen. Ihr werdet nicht in die Irre gehen, solange ihr an ihnen festhaltet: Das Buch Allahs und meine Sunna. Beide lassen sich niemals trennen«.4 Diese prophetische Aussage stellt ein Glaubensfundament dar, das aus den beiden Hauptquellen der islamischen Glaubensrichtung besteht: der Koran und die gesamte Lebenspraxis des Propheten (sunna). Die durch den Propheten Mohammad mündlich vorgetragenen Koranverse wurden von seinen Gefährten sowohl im Gedächtnis (hāfiz, pl. huffāz) behalten, als auch schriftlich (u. a. auf Knochen und Palmenblättern) aufgezeichnet.5 Namentlich werden in der einschlägigen Literatur 42 Namen von Personen genannt, die in Mekka und Medina als Schreiber der Offenbarung (kuttāb al-waḥy) bestimmt und bekannt waren.6 Die erste Initiative zur Sammlung des Korans wurde zur Zeit des ersten Kalifen Abu Bakr (reg. 632–634) gestartet. Die endgültige Sammlung und Kanonisierung des bis heute von allen Sunniten tradierten und akzeptierten Koran-Exemplars fand zur Zeit des dritten Kalifen Uṯmān (reg. 644–656) statt. Für die sunnitische Glaubenslehre besteht seitdem ein unbestreitbarer Konsens darüber, dass der Koran das unverfälschte, von Gott geschützte und von der Rede Muhammads (ḥadīṯen) unterscheidbare Wort Gottes ist.7 Sunniten zweifeln nicht an der Authentizität, Korrektheit und Vollständigkeit des überlieferten Koran Uthmans (muṣḥaf ’uṯmān).

3 Vgl. Lutz Berger, Islamische Theologie, Stuttgart, 2010, 79; dieser Ausdruck ist im Laufe der Herrschaft der Ummayaden (660–750) zu einer politischen Größe gemacht worden (mehr dazu s. Heinz Halm, Der Islam, Geschichte und Gegenwart, München 2015; Tilman Nagel, Die islamische Welt bis 1500, München 1998. 4 Ein authentischer Spruch (ḥadīṯ), überliefert und geprüft von al-Albānī, ṣaḥīḥ al-ğāmi‛, ḤadīṯNr. 2937, in: Enzyklopädie der Ḥadīṯe, abrufbar unter: www.dorar.net (Zugriff am 26.12.2019). 5 Mehr dazu s. Karl-Heinz Ohlig, Zur Entstehung und Frühgeschichte des Islam, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 26–27/2007, 3–10. 6 Vgl. Ğalāl-ad-Dīn ʿAbd-ar-Raḥmān Ibn-Abī-Bakr as-Suyūṭī, al- Itqān fī ʿulūm al-Qurʾān [The Perfect Guide to the Sciences of the Qurān], Spain 2011, Kapitel 25–27. 7 Mehr dazu Annemarie Schimmel, Die Zeichen Gottes, Die religiöse Welt des Islams, München 1995, Kapitel IV.

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2  Meine Gefährten sind für Euch wie die Sterne im Himmel8 Der Koran fordert die Muslime zu Liebe und Gefolgschaft auf: »Liebt ihr Allah, so folget mir; Allah liebt euch und wird euch eure Fehler verzeihen; denn Allah ist allverzeihend, barmherzig.«9 Zur Liebe des Propheten gehört auch die Liebe zu seiner Familie (ahlu al-bayt) sowie zu seinen Gefährten (ṣaḥāba). Einen besonderen Stellenwert unter den Gefährten genießen die vier rechtgeleiteten Nachfolger des Propheten (al-ḫulafā’ ar-rāšidūn): Abu Bakr (632–634),10 Umar ibn al-Ḫattāb (634–644), Uṯmān ibn Affān (644–656) und Ali ibn Abi Ṭālib (656–661). Einer kurzen Predigt des Propheten zufolge richtete er folgende Worte an die Urgemeinde: »Bleibt Gottes bewusst! Zeigt Treue und Gefolgschaft, auch gegenüber einem dunkelhäutigen Sklaven, wenn er als Nachfolger rechtens bestimmt wird; nach meinem Abschied werdet ihr viel Streit erleben. Haltet fest an meiner Lebenspraxis [Sunna] und an der Lebenspraxis [Sunna] der mündigen, recht­geleiteten Kalifen […]!«11 Die rechtgeleiteten Kalifen galten – so der Religionshistoriker Ibn Khaldun (1332–1402) – als theologische Referenzen und als Erben des prophetischen Wissens und nicht nur als politische Führungsfiguren.12 Die sunnitischen Muslime sind diesem einheitsstiftenden Bund verpflichtet. Mit der Wahl von Abu Bakr zum ersten Nachfolger des Propheten verbinden sunnitische Muslime den Konsens der Urgemeinde, dass die Entscheidung über die Nachfolge des Propheten ein Recht der Gemeinschaft (Gesellschaft) darstellt. Die sunnitische Religionslehre ordnet aufbauend auf diesen tradierten Lösungsansätze die Herrschaftsfrage dem Bereich der von Menschen zu regelnden Angelegenheiten (mu‛āmlāt) zu.13   8 Ein Teil aus dem prophetischen Spruch. Die Überlieferungskette des Spruchs wird zwar als schwach bezeichnet, trotzdem lässt sich die Botschaft des Spruches metaphorisch gut zitierten. (mehr dazu s. Ibn Qaiyim al-Ğauziya, Iʿlām al-muwaqqiʿīn ʿAn Rab al-ʿĀlamīn [Was Gelehrte wissen müssen, wenn sie im Namen Gottes unterschreiben], hrsg. v. Hanī al-Ḥāğ, 4 Bände, Kairo 2013, Bd. 1., 56 f.)   9 Q 3: 31, übersetzt von Muḥammad Asad, Die Botschaft des Koran. Übersetzung und Kommentar, Düsseldorf 2009. 10 Die Zeitangaben beziehen sich auf die Regierungszeiten. 11 Vgl. Ibn Taymiyah, minhāğ as-sunna [Der Pfad der prophetischen Lebenspraxis], Riyad 2001, 164. 12 Abd al-Rahman Ibn Mohammad Ibn Khaldun, Die Muqaddima: Betrachtungen zur Welt­ geschichte, München 2011. 13 Im Vergleich zum Imamat-Konzept der schiitischen Theologie wird die Offenbarung (inklusive der Führungsfrage) innerhalb der sunnitischen Theologie mit dem Tod des Propheten Muhammad als definitiv abgeschlossen betrachtet. Die politische Gestaltung des Kalifats ist zwar im Interesse des Gemeinwohls (maṣlaḥa) empfehlenswert, aber kein religiöses Gebot (mehr dazu siehe: Tarek Badawia, In der Differenz vereint – Einblicke in den Annäherungs-

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3  Haltet am Seile Gottes fest! Die Verbundenheit mit dem Leben und Denken des Propheten sowie der frommen Altvorderen (as-salaf aṣ-ṣāliḥ) verstehen Anhänger des sunnitischen Islam als ein Festhalten am Seile Gottes: »Haltet euch allesamt fest am Seile Allahs; und seid nicht zwieträchtig! […].«14 Diese allegorische Darstellungsweise steht auch für alles, was die weltweite Gemeinschaft der Gläubigen (umma) zusammenhält. Zwei Begriffe werden als Gefährdung dieses Zusammenhaltes betrachtet: der Begriff für eine »irreleitende Erneuerung« (bid‛a) und der Begriff der »abtrünnigen Gruppe« bzw. »Sekte« (firqa). Ausgehend von diesem Selbstverständnis als Mainstream der prophetischen Tradition entstand eine theologische Deutungshoheit durch eine Konsensbildung der ersten Generation (’iğmā‛ aṣ-ṣaḥaba), die seitdem als Maßstab für die Einhaltung der Inhalte sowie der Einheit dieser Religionsgemeinschaft gilt. Die Ausgangspunkte von Debatten in dieser Phase waren weniger theologischer, sondern viel mehr politischer Natur. Die Einheit der Glaubensgemeinschaft wurde zum ersten Mal auf den Prüfstand gestellt, als eine Gruppe von Muslimen nach dem Tode des Propheten ihre religiöse Verpflichtung ihm gegenüber aufkündigte. Diese Weigerung wurde durch den ersten Kalifen als Bedrohung der Religionsgemeinschaft eingeschätzt und deshalb die drohende Spaltung eingedämmt. Zur Zeit des dritten Kalifen Uṯmān ibn Affān entstand eine Gruppe von Muslimen, die den bis dato gültigen Konsens15 in der Glaubensgemeinschaft brach und sich mit militärischen Mitteln gegen die Herrschaft des Kalifen und seiner Gouverneure zur Wehr setzte (die Ḫāriğiten). Zur Zeit des vierten Kalifen Ali ibn Abi Ṭālib eskalierten die Spannungen so extrem, dass die Einheit der Urgemeinde definitiv auseinanderbrach (al-fitna al-kubra). In dieser Krise entstand die Gruppe der Anhänger Alis (Schiiten). Die militanten Gegner des getöteten dritten Kalifen Uṯmān (die Ḫāriğiten) formieren sich erneut als Gegner Alis und nehmen sogar seinen Tod kaltblütig in Kauf.16 Die sunnitische Glaubenslehre lehnt jede Verurteilung einzelner Personen und folglich auch (anders als die Ḫāriğiten) das diskurs zwischen Sunniten und Schiiten als Teilhabe am Ökumene-Diskurs aus islamischer Sicht, in: Mirjam Schambeck et al. (Hg.), Auf dem Weg zu einer ökumenischen Religions­ didaktik: Grundlegungen im europäischen Kontext, Freiburg i. Br. 2019, 284–298). 14 Q 3: 103. 15 Die klassische sunnitische Lehre lehnt jegliche Form des militanten Widerstandes gegen einen legitim ernannten Herrscher kategorisch ab und rät zu Mediation oder friedlichen Absetzung. Das Prinzip der Staatsgewalt gilt es zu respektieren (vgl. Q 49: 9). 16 Mehr zu dieser kritischen Phase der Geschichte des frühen Islams vgl. Hans Küng, Der Islam. Wesen und Geschichte, München/Zürich 2007, Kap. C Geschichte, 188–241; Mohammad Hamidullah, Der Islam. Geschichte, Religion, Kultur, Aachen 1998.

Das sunnitische Islamverständnis – ausgewählte Wesensmerkmale

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Absprechen des Glaubens (takfīr) aufgrund unterschiedlicher Auslegungen von Sachverhalten kategorisch ab.

4  Theologische Inhalte – Normen- und Glaubenslehre Den Hauptreferenzen (Koran und Sunna) sind die fünf Säulen des Islam und die sechs Glaubenssätze entnommen und als konstante Grundlage für die sunnitische Glaubenslehre (ʿaqīda) tradiert worden. Diese theologische Systematik entstand durch die Pflege eines engen Generationenverhältnisses unter den ersten drei Generationen. Die theologischen Inhalte des sunnitischen Islam werden in drei Hauptkategorien unterteilt: Glaubenslehre (’īmān), religiöse Praxis (’islām) und sozialethische Bildungslehre (’iḥsān). Auf der Ebene der religiösen Lebenspraxis (Gottesdienstliche Handlungen) ist der sunnitische Islam in den folgenden fünf Säulen verankert: Das Glaubensbekenntnis (šahāda), das rituelle Gebet (ṣalah), die Almosengabe (zakāt), das Fasten von Ramadan (ṣawm) und die Wallfahrt nach Mekka (ḥaddğ).17 Die sunnitische Dogmatik beruht auf folgenden sechs Grundsätzen, über die im Wesentlichen ein breiter Konsens unter den sunnitischen Lehrmeinungen besteht: der Glaube an Gott, seine Engel, seine Bücher, seine Propheten, an das Jenseits und an die Vorherbestimmung (vgl. Q 2: 285).18 Konstante Elemente sind in erster Linie auf der Ebene der Glaubensinhalte zu finden: Der Glaube an Gott steht im Mittelpunkt und stellt das Wesen des Monotheismus (tauḥīd) dar. Das Wesen Gottes entzieht sich der menschlichen Vernunft. Gott kann nur durch seine Eigenschaften und seine 99 schönen Namen erkannt werden. Seine Eigenschaften sind wie folgt (vgl. Q 2: 255; Q 112): Er existiert (wuğūd), er lebt (ḥayāt), ist anfangslos (qidam), endlos (baqā’), einzig (waḥdāniyya), anders als alle anderen (muḫālafat al-ḥawādīṭ), selbsterhaltend (al-qiyām binafsihi), allwissend (ʿilm), allhörend (samʿ), allsehend (baṣar), allmächtig (qudrah), Erschaffer (ḫālq), Sprecher (kalām) und Besitzer eines grenzenlosen Willens (irāda).19 Die Propheten sind geschützt vor Sünden (ʿiṣma), 17 Zur ausführlichen Beschreibung siehe Ahmad Reidegeld, Handbuch Islam. Die Glaubens- und Rechtslehre der Muslime, Kandern 2005, Teil II. 18 Mehr dazu s. Karl Jaros, Der Islam: historische Grundlagen und Glaubenslehre. Wien 2012, Kapitel II.; Annemarie Schimmel, Die Religion des Islam: Eine Einführung, Stuttgart 1990, 30–65. 19 Vgl. Zaidan, Amir, Al-`aqiidah. Einführung in die Iman-Inhalte. Die Islamologische Enzy­ klopädie, Bd. 2, Wien 2011, Kap. 2; Lütfi Şentürk/Seyfettin Yazıcı, Grundzüge islamischer Religion (Ilmihal), übers. v. Nezaket El-Türk, Ankara, Präsidentschaft für Religiöse Angelegenheiten 2004, 43 f.

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aufrichtig (ṣidq), zuverlässig (amānah), weise (ḥikma), und Verkünder (tablīġ). Namentlich werden im Koran 25 Propheten genannt und der Prophet Mohammed als Siegel der Propheten (Q 33: 40). Unter den Propheten Gottes wird kein Unterschied gemacht. Der Glaube an die Bücher Gottes umfasst die Psalmen (zabūr), die Thora (tawrāt), das Evangelium (inğīl) und den Koran. Der Glaube an den jüngsten Tag sieht v. a. die Bedingungen für das ewige Leben vor und belehrt über die individuelle Verantwortung, denn jeder Mensch wird vor Gott als Individuum vortreten und Rechenschaft ablegen (vgl. z. B. Q 39: 7 u. 74: 38). Der Glaube an die Vorherbestimmung betrifft das Verhältnis von Gottes All­ wissen und Weisheit zur Willensfreit und persönlichen Verantwortung des Menschen. Die sunnitische Lehre positioniert sich in dieser Frage eindeutig gegen einen Determinismus, der den Menschen seiner Freiheit beraubt. Zu den ersten Traktaten, die dem bisher implizit tradierten und praktizierten Glauben Gestalt verliehen haben, zählt das Traktat »al-fiqh al-akbar« des großen Gelehrten Abu Ḥanīfa (699–767 in Kufa), in dem er die Dogmen des Islam zusammenfasste. Weitere Werke von al-Ašʿarī (874–935 in Basra) und al-Māturīdī (853–944 in Samarkand) trugen nach und nach zur Systematisierung der sunnitischen Glaubensinhalte bei. Eine systematische Abhandlung der »feinen« Unterschiede dieser konfessionellen Lehren ist an dieser Stelle nicht leistbar. Es können nur exemplarisch einige Fragen genannt werden, die theologisch kontrovers diskutiert wurden: die Attribute Gottes, das Verhältnis von politischen und theologischen Ämtern, das Schicksal des großen Sünders, die Natur des Korans (Erschaffenheit des Korans) und die Frage nach der Willensfreiheit des Menschen. Drei theologische Richtungen sind durch diese Kontroversen entstanden, die bis in die Gegenwart unterschiedlich stark die theologischen Debatten beeinflussen: die traditionelle, texttreue Richtung (ahl al-ḥadīṯ), die spekulative, rationale Schule (al-mu’tāzila) und eine Mischform beider Schwerpunkte (ahl ar-r’y wa-l-ḥadīṯ, die asharitische und matūridische Lehre).20 Obwohl diese Elemente des Glaubens und der religiösen Praxis im Grunde den verbindenden Konsens unter den Sunniten ausmachen, gibt es seit dem Tod des Propheten Muhammad im Jahr 632 kein zentrales Lehramt, das die Entstehung von Deutungs- und Interpretationslehren ausschließen kann. Wie bereits erwähnt, bilden die Gelehrten mit ihrer theologischen Fachkompetenz 20 Mehr dazu s. Abdoljavad Falaturi, »Die islamischen Glaubensrichtungen aus religionsphilosophischer Sicht«, in: Alois Halder/Klaus Kienzler/Joseph Möller (Hg.), Religionsphilosophie heute. Chancen und Bedeutung in Philosophie und Theologie, Düsseldorf 1988, 195–224; Rüdiger Lohlker, Islam. Eine Ideengeschichte, Wien 2008, 62–64; Mathias Rohe, Das islamische Recht, München 2009.

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eine Vielzahl von Lehrmeinungen, die dem kulturellen und lebensweltlichen Pluralismus der Muslime unter dem Gesichtspunkt der Ambiguitätstoleranz21 gerecht werden.

5  Einheit und Spaltung Eine große Zäsur in der Geschichte der muslimischen Gemeinschaft (umma) stellte der Tod des Propheten Muhammad dar. Ausgehend von einem ganzheitlichen Verständnis von Gottesdienst im islamischen Kontext spielte der Prophet verschiedene Rollen und vereinte sie in seiner Person. Mit seiner Präsenz in Medina entstand eine Gemeinschaft mit institutionellen Strukturen. Die Rede von einem Staat in dieser Phase wäre verfrüht. Mit seinem Tod stand eine Grundsatzfrage bzw. standen mehrere Fragen im Raum: Wie geht es weiter? Ist die Offenbarung nun definitiv vorbei? Kann ein Prophet überhaupt (einfach so) sterben? Kann ein einfacher Mensch die Rolle des Propheten ersetzen? Woher wissen wir (die Gefährten), wie es weiter gehen soll? Ein solcher an Sachfragen und nachvollziehbaren Überlegungen orientierte Zugang zu diesem sehr sensiblen und heutzutage sehr stark politisch instrumentalisierten »Konfliktthema«22 kann eine emotionale und geistige Nähe zu diesem Ereignis schaffen, die zur Versachlichung dieser stark politisierten Thematik führt. Das ist das religionspädagogische Motiv in diesem Beitrag. Die o. g. Fragen sind theologischer Natur. Eine (gemeinsame) Reflexion dieser berechtigten Fragen eröffnet neue Horizonte zum Verstehen dieses entscheidenden Wendepunktes in der Geschichte des Islam. Diese komplexe Debatte wird gegenwärtig auf eine Frage nach dem politischen Führungsanspruch reduziert. Religionspädagogisch erscheint es von großer Bedeutung zu sein, eine Atmosphäre der Gleichbehandlung und Deeskalation zu schaffen. Dazu gehört selbstverständlich auch die Aufklärung über die Kernthemen, die sich heutzutage als unüberwindbare Trennlinien verfestigt haben. Im Folgenden sollen vier elementare Fragestellungen genannt werden, die aus sunnitischer Perspektive unbedingt gegen eine solche politisierte Engführung der Debatte in Betracht gezogen werden sollen: 23 21 Mehr dazu s. Thomas Bauer, Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 2011. 22 Vor allem zwischen den beiden Regionalmächten im Nahen Osten (Iran und Saudi-Arabien). 23 Zu den folgenden Aspekten s. u.: Heinz Halm, Die Schiiten, München 2005; Tyma Kraitt, Sunniten gegen Schiiten: Zur Konstruktion eines Glaubenskrieges, Wien 2019; Hans Küng, Der Islam, Geschichte, Gegenwart und Zukunft, München 2004; Fatima Özoguz, Al-­Muradscha´at

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Wer kann/darf als Nachfolge des Propheten antreten? Die Frage seiner Nachfolge war für die erste muslimische Gemeinde schwer zu beantworten. Es ging nicht nur um die politische Führungsrolle. Das ist sekundär. Entscheidend ist die Überlegung gewesen: Wie wird die Frage nach der theologischen Referenz in der Gemeinde nach dem Tod des Propheten ausgestaltet? Die Mehrheit der Muslime einigte sich auf Abu Bakr (Regierungszeit: 632–634). Dagegen vertraten die Schiiten (d. h. die Anhänger Alis, des Neffen und Schwiegersohns des Propheten Muhammad) die Auffassung, dass für dieses Amt der Nachfolge des Propheten ausschließlich eine Person in Frage kommt, die aus der Familie des Propheten (ahl al-bayt) stammt. Deshalb gelten aus schiitischer Sicht die drei ersten Kalifen als »unrechtmäßige« Herrscher. Von einigen Hardlinern der schiitischen Gemeinschaft (nur wenige ganz extreme Stimmen) werden sogar Sunniten der Verfälschung des Korans bezichtigt, weil sie Stellen verheimlicht haben, in denen Ali der Führungsanspruch unmissverständlich zugesichert wurde. Die Gemeinschaft der Gefährten (wie unter Punkt 2 erläutert) wird vor diesem Hintergrund nicht anerkannt. Wer gehört zur Familie des Propheten? Diese Frage ist deshalb wichtig zu klären, weil damit im Wesentlichen der »exklusive« Anspruch Alis auf das Nachfolgeamt begründet wird. Man dürfte im Grunde erwarten, dass dieses Thema eindeutig ist. Das ist aber nicht der Fall. Im Vers 33 der 33. Sure wird der besondere Stellenwert der prophetischen Familienangehörigen als Vorbilder hervorgehoben. Aber wer sollen diese nun sein? Für die sunnitische Theologie gilt jede Person als Mitglied des »Hauses des Propheten«, mit der der Prophet verwandt war. Hierzu zählt seine eigene Familie, seine angeheirateten Frauen und deren Stämme (die Stämme al-Abbas, āl ʿAqīl, āl Jaʿfar, āl ʿAlī). Dagegen will die schiitische Theologie diesen Segen Gottes ausschließlich auf die enge Familie des Propheten beschränken und deutet eine entsprechende Überlieferung (hadith al-kisa) ausschließlich so, dass die Angehörigen des Hauses die folgenden sind: die Töchter des Propheten, Fatima und ihr Ehemann Ali und deren beiden Söhne al-Hasan, al-Husein.

(Die Konsultation): Dialog zwischen Sunniten und Schiiten, IZH, Hamburg 2006; E. Slahi ­Zaheer, Schiiten und Sunniten – Unterschiede zwischen Schia und Sunna, Berlin 2019.

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Endet die Offenbarung mit dem Tod des Propheten oder wird sie tradiert? An den Fragen nach der Zugehörigkeit zum Hause des Propheten entzündet sich die nächste Frage nach dem Ende oder der Fortsetzung der Offenbarung bzw. der Prophetie. Während die sunnitische Konfession mit dem Tod des Propheten auch das definitive Ende der Offenbarungsgeschichte verbindet, sieht die schiitische Konfession in der Familie des Propheten bzw. in deren Nachkommenschaft die Fortsetzung der Prophetie und entwickelte folglich das Konzept des Imamat – die Zwölf-Imame. Der theologisch neuralgische Punkt liegt in der Idee der Unfehlbarkeit dieser Imame. Die sunnitische Theologie schließt eine solche Unfehlbarkeit für Nicht-Propheten, also für alle Menschen, definitiv aus. Nach dem Tod des Propheten geht für sie die Prophetie in eine Kultur der Gelehrsamkeit über, die sich über die Generationen entwickelt und entfaltet hat. Für die Schiiten ist dieser Gedanke unvereinbar mit der Gerechtigkeit Gottes. Der gerechte Gott – so die schiitische Argumentationslogik – würde seine eigene Vollkommenheit verletzen, wenn er die Menschheit ohne unmittelbare Rechtleitung (durch die Imame) leben lassen würde. Gott muss immer für eine solche unmittelbare Verbindung sorgen. Dagegen sehen Sunniten im Ende des personellen Prophetentums Muhammads den »göttlichen Auftrag«, die kollektive Verantwortung zur Gestaltung des Gemeinschaftslebens und damit zum Rückzug der religiösen Autorität aus dem politischen Tagesgeschäft zu übernehmen. Unvereinbare normative Positionen Es besteht über diese Kernfragen hinaus normativer Dissens in einigen Fragen der religiösen Praxis und in der Hermeneutik. Hier seien lediglich vier brisante Punkte genannt: Ist der Rat von Experten (Gelehrten) bei politischen Fragen bindend? Darf man seinen Glauben bei Lebensgefahr verheimlichen oder bei drohender Sanktion durch Andere die rituellen Pflichten (Gottesdienste) ausfallen lassen? Beide Fragen werden in Bezug auf den Koranvers 3: 28 sehr kontrovers unter dem Konzept der »taqiyya« (aus Angst den Glauben verheimlichen oder im Umkehrschluss den Unglauben zeigen) diskutiert und absolut divergent ausgelegt. Darf man eine Frau zeitlich begrenzt heiraten, gilt dies als Ehe? Gilt der Heiratsvertrag für eine Ehe, wenn beide Partner nur zwecks Befriedigung sexueller Bedürfnisse zusammenkommen wollen? Mit Bezug auf den Koranvers 4: 24 bestehen zur sog. Zeitehe (heute auch die Themen Prostitution und Kinderehe) unvereinbare Positionen.

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Ist die Selbstgeißelung im Rahmen von den Trauerzeremonien zu den Todestagen von Ali, Hassan, Husein erlaubt?

6 Religiöse Lebenspraxis nach Norm – die sunnitischen Rechtsschulen Das sunnitische Selbstbewusstsein nimmt zwar in seinem Ursprung Bezug auf die Lebenspraxis des Propheten, aber es stellt im Laufe der muslimischen Geschichtsschreibung keine homogene Gruppe dar. Im Unterschied zu den nachfolgenden Generationen hatten die ersten Muslime jedoch die Möglichkeit, den Propheten als höchste Autorität direkt zu konsultieren. Vom Propheten wurde die Aussage überliefert: »Gelehrte sind Erben der Propheten.« 24 Diese Aussage ist zum Bildungsprogramm mit weitreichenden Konsequenzen geworden. Für die offenen Fragen, die die Muslime in den verschiedenen Regionen und Provinzen des expandierenden islamischen Herrschaftsgebietes hatten, sind regionale Fiqh-Schulen, bekannt als Rechtsschulen (mad_ hab, pl. mad_ āhib), entwickelt worden. Der Ausdruck Rechtsschule ist deshalb irreführend, weil er den juristischen Charakter von solchen Schulen suggeriert und die hermeneutische Systematik (fiqh) der jeweiligen Rechtsschule ausblendet. Innerhalb der sunnitischen Normenlehre hat sich eine an verschiedenen Kulturen und Lebenswirklichkeiten von Muslimen orientierte Meinungspluralität etabliert, die sich in vier große Rechtsschulen abgebildet hat: 1. Die hanafitische Rechtsschule nach Abu Hanifa (699–767); hauptsächlich vertreten in der Türkei, am Balkan sowie in Mittelasien; die hermeneutische Systematik baut auf Koran, Sunna, Konsensbildung, Analogieschluss und Rationalität sowie auf dem sozialethischen Abwägungsprinzip zugunsten des Besseren (istiḥsān) auf. 2. Die malikitische Rechtsschule nach Mālik Ibn Anas (713–795); entstand in Medina, hauptsächlich in Nord-, West- und Zentralafrika verbreitet; über die o. g. Grundlagen für die Urteilsbildung hinaus spielen die Prinzipien der Verbesserung des Allgemeinwohls (istiṣlāh) und der Berücksichtigung des lokalen Brauchs (ʿurf) eine wichtige Rolle. 3. Die schafiitische Rechtsschule nach Mohammed Ibn Idris aš-Šāfi’i (768–820); vertreten im Nahen Osten, Ostafrika und Südostasien. In seiner Methodo-

24 Ein Satz aus einem langen prophetischen Spruch zum Stellenwert des Wissenserwerbs, n. alAlbānī, Ṣaḥīḥ al-ğāmi’, Hadīṯ-Nr. 6297.

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logie der Normenbildung beruht sie über die o. g. Kriterien hinaus auf dem Konsens der Gefährten sowie auf dem Analogieschlussverfahren. 4. Die hanbalitische Schule nach Ahmad ibn Ḥanbāl (780–855); verbreitet in der arabischen Halbinsel; in ihrer hermeneutischen Arbeit gilt für sie über die o. g. Kriterien hinaus das Prinzip, alles zu verbieten, was zum möglichen Übel führen kann.25 In der Regel folgt ein religiös sozialisierter Muslim bzw. eine religiös sozialisierte Muslima einer der Schulen. Die Vielfalt der Deutungsrichtungen ergibt sich aus dem Spannungsverhältnis von verpflichtender Nachahmung (taqlīd) und innovativer Erneuerung (iğtihād). Für die in Deutschland lebenden Muslime werden an den neu gegründeten theologischen Zentren in Lehre und Forschung im Anschluss an diese Tradition neue Ansätze für offene Fragen entwickelt.

Prof. Dr. Tarek Badawia ist Professor für Islamische Religionspädagogik/Religionslehre an der Universität Erlangen/Nürnberg.

25 Mehr dazu s. Rüdiger Lohlker, Islam. Eine Ideengeschichte, Wien 2008, 62–64; Mathias Rohe, Das islamische Recht, München 2009, 43–70.

»Eine erstaunliche Diversität von Orientierungen« – zur Pluralität im gelebten Judentum in Deutschland Walter Homolka

»Wenn es eine Religionsgemeinschaft gibt, die Debatten liebt und sich aufgrund von Diskussionen fortentwickelt hat, ist es das Judentum«, erklärte Dr. Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, im September 2019. »Mir ist es wichtig, an dieser Stelle zu betonen: Wir brauchen tatsächlich beides: das traditionelle und das liberale Judentum, um es jetzt etwas vereinfacht auszudrücken. Es ist eine Bereicherung für unsere jüdische Gemeinschaft, dass inzwischen auch Strömungen wie Masorti hier vertreten sind, dass die Spannbreite von sehr traditionell wie bei Chabad, Lauder oder Kahal Adass Jisroel bis zu einer ganz liberalen Ausrichtung reicht. Dem Zentralrat der Juden liegen die unterschiedlichen Denominationen am Herzen.«1 Das jüdische Leben in Deutschland ist 75 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus so vielfältig, wie es nach Zweitem Weltkrieg und Schoa kaum vorstellbar gewesen war. Die Erinnerung an die Vertreibung und Vernichtung jüdischen Lebens trifft hier heute auf eine dynamische jüdische Gemeinschaft. Deren Vielfalt kommt vor allem in ihrem religiösen Pluralismus zum Ausdruck. Dabei hat das Judentum seit jeher viele Gesichter. Der Historiker Flavius Josephus (37‒100) berichtete bereits von den unterschiedlichen Haltungen religiöser Gruppierungen wie der Pharisäer, Sadduzäer und Essener.2 Wir wissen von den Differenzen zwischen den Lehrhäusern von Hillel und Schammai, die im 1. Jahrhundert u. Z. den Grundstein zur Entwicklung des Studiums der Halacha gelegt haben, des jüdischen Religionsgesetzes; dass in den folgenden Jahrhunderten gleich zwei zentrale Werke des Jüdischen Rechts entstanden, nämlich der Palästinische oder Jerusalemer Talmud, der im Land Israel geschaffen und im 5. Jahrhundert abgeschlossen wurde, sowie der Babylonische Talmud, den die Rabbinen Babylons im 6. Jahrhundert vollendeten, ist ein weiterer Ausdruck jüdischer Vielfalt. Inhalt der Talmude ist die Interpretation der Mischna, der 1

Josef Schuster, Laudatio beim Festakt zu Ehren von Rabbiner Henry G. Brandt anlässlich der Verleihung des Estrongo-Nachama-Preises der Meridian-Stiftung und der Ehrung durch die Allgemeine Rabbinerkonferenz, Berlin, 11.09.2019 [unveröffentlichtes Manuskript], 3. 2 Vgl. Günter Stemberger, Pharisäer, Sadduzäer, Essener (Stuttgarter Bibelstudien 144), Stuttgart 1991.

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kanonischen Sammlung des Gesetzesschrifttums aus dem 2. Jahrhundert u. Z.; dass in ihnen neben der Mehrheitsmeinung auch die Minderheitsmeinungen festgehalten wurden, zeugt ebenfalls von jüdischer Vielstimmigkeit. In der jüdischen Diaspora haben sich über die Jahrtausende hinweg ganz unterschiedliche Lebenswelten ausgeprägt, namentlich das babylonische, das hellenistische und das römische Exil, dann die mittelalterlichen Gemeinden unter christlicher und islamischer Herrschaft sowie die jüdischen Zentren in der Neuzeit, insbesondere in Nordamerika. Die drei großen jüdischen Gemeinschaften, die sich bis heute ethnografisch und in ihrer liturgischen Tradition voneinander unterscheiden, sind die aschkenasische, die sefardische und die misrachische Judenheit, also Juden, die aus dem deutschsprachigen Raum, M ­ ittel- und Osteuropa stammen, von der iberischen Halbinsel oder aus Nord­afrika und dem Orient.3 Im Eingangsbereich des Diaspora-Museums in Tel Aviv treffen die Besucher und Besucherinnen in der Dauerausstellung auf eine Fotowand mit Porträts von Juden und Jüdinnen ganz unterschiedlicher Herkunft: Rothaarige, blonde und mediterrane Typen finden sich neben indischen und schwarzhäutigen äthiopischen Juden und Jüdinnen. Die israelische Gesellschaft ist ein Spiegelbild dieser ethnischen und kulturellen Vielfalt: In Israel sind heute Juden und Jüdinnen aus mehr als 120 Herkunftsländern zu Hause. Juden und Jüdinnen in aller Welt sind Angehörige eines Kollektivs, in dessen Wesen die Verschränkung des Ethnisch-Nationalen mit dem Ethisch-Religiösen zum Ausdruck kommt, wie es schon der jüdische Gelehrte Saadja Gaon (882–942) in seinem Sefer Emunot weDeot (»Buch der Glaubenslehren und Überzeugungen«) als Grundsatz formuliert hat: »Unser Volk ist nur ein Volk durch seine Lehren.«4 Seit der Aufklärung hat sich das Judentum in drei religiöse Grundrichtungen differenziert, die das Jüdische Recht unterschiedlich anwenden und weiterentwickeln sollten. Eine dieser Richtungen, das orthodoxe Judentum, nahm die Abnahme an jüdischer Observanz seit Beginn der Aufklärung zum Anlass, die Gesetze und Doktrinen des rabbinischen Judentums streng und in möglichst weiten Teilen zu befolgen.5 Die Bewegung, die die Lehren des rabbinischen 3 Zu den religiösen Strömungen im Judentum s. Sylvia Barack Fishman, The Way into the Varieties of Jewishness, Woodstock VT 2007; Gilbert S. Rosenthal/Walter Homolka, Das Judentum hat viele Gesichter, Berlin 2014. 4 Saadja Gaon, Emunot weDeot III, 7. 5 Der Begriff »orthodox« diente zunächst als Beschreibung streng rechtsgläubiger Lutheraner und wurde 1770 von Johann David Michaelis für Moses Mendelssohn verwandt; innerjüdisch benutzte ihn erstmals Samson Raphael Hirsch 1885 zur Kennzeichnung traditioneller Religionspraxis in Abgrenzung von der Breslauer positiv-historischen Schule.

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Judentums zu überdenken und in der Praxis umzuarbeiten begann, wird als jüdische Reformbewegung oder auch als liberales oder progressives Judentum bezeichnet. Sie hat ihre Wurzeln im Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts und breitete sich in den 1840er Jahren nach Nordamerika und Großbritannien aus. Heute gibt es auf allen Kontinenten liberale Gemeinden. Diese sind seit 1926 in der World Union for Progressive Judaism geeint. Ein konservativer und trotzdem nach Erneuerung strebender Zweig des Judentums bildete sich wenig später und ebenfalls in Deutschland in Form des sogenannten positiv-­historischen Judentums heraus, das sich Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA zu einer eigenen Denomination entwickelte. Diese konservativen Gemeinden sind heute weltweit in der Masorti-Bewegung zusammengeschlossen (masorti ist die hebrä­ ische Bezeichnung für »traditionell«). Dieses Spektrum finden wir heute auch in Deutschland wieder. Nach 1945 wurde das einst dominante liberale Judentum zunächst zu einer Minderheit gegenüber den Juden aus Osteuropa, die als Displaced Persons in Westdeutschland hängengeblieben waren.6 Die letzte umfassende Darstellung der religiösen Orientierungen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland findet sich in der Studie Juden und jüdische Bildung im heutigen Deutschland, die der L. A. Pincus Fund for Jewish Education in the Diaspora im Oktober 2010 veröffentlicht hat.7 Das Forschungsprojekt erstreckte sich über die Jahre 2008 und 2009 und beinhaltete eine deutschlandweite empirische Umfrage mit gut 1.200 befragten Personen inner- und außerhalb der jüdischen Gemeinden. Dabei bezeichnete sich nur eine Minderheit von 13,2 % der Befragten als orthodox oder ultraorthodox. 22,3 % fühlten sich dem liberalen Judentum (Reformbewegung oder konservatives Judentum) verbunden, während sich 32,2 % als traditionell jüdisch, aber nicht religiös gebunden definierten.8 Ebenfalls fast ein Drittel der Befragten, nämlich 32,3 %, bezeichneten sich als säkular, d. h. als Juden und Jüdinnen, die sich selbst als nichtreligiös und nichttraditionell verstehen, selbst wenn sie Teile der jüdischen Religion hochschätzen oder auch Mitglied einer jüdischen Gemeinde sind. Die Studie kommt zu dem Schluss, »dass es im heutigen Judentum in Deutschland keine Polarisierung zwischen Religiösen und Nichtreligiösen gibt, 6 Vgl. Walter Homolka, Neuanfang und Rückbesinnung. Das liberale Judentum in Deutschland nach der Schoa, in: Elke-Vera Kotowski (Hg.), Das Kulturerbe deutschsprachiger Juden. Eine Spurensuche in den Ursprungs-, Transit- und Emigrationsländern, Berlin 2014, 453‒472. 7 Vgl. Eliezer Ben-Rafael/Yitzhak Sternberg/Olaf Glöckner, Juden und jüdische Bildung im heutigen Deutschland. Eine empirische Studie im Auftrag des L. A. Pincus Fund for Jewish Education in the Diaspora (= Pincus-Bericht), Jerusalem 2010. 8 Der Pincus-Bericht definiert »traditionell« so: »Das heißt Juden, die bestimmte jüdisch-­ religiöse Normen einhalten und Elemente der jüdischen Religion und Tradition pflegen, ohne sich selbst als religiös zu bezeichnen« (Pincus, 46).

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sondern eher einen ausgewogenen Pluralismus, der eine erstaunliche Diversität von Orientierungen anzeigt. Dennoch ist zu erkennen, dass eine deutliche Mehrheit sich als nicht religiös einschätzt.«9 Heute ist die jüdische Reformbewegung die weltweit stärkste religiöse Richtung im Judentum.10 Ein wesentlicher Aspekt, der diese liberale Mehrheit von der orthodoxen Minderheit trennt, ist der Offenbarungsbegriff. Für das liberale Judentum ist der Offenbarungsprozess nicht abgeschlossen, er schreitet voran, so wie sich der Wille Gottes fortwährend entfaltet. Dieser Offenbarungsbegriff ermöglicht eine Relativierung der schriftlichen Tora durch das Korrektiv der mündlichen Tora, also interpretatorische Eingriffe seit der Zeit der frühen Rabbinen. So wird im Judentum die Brücke zwischen vernunftmäßiger Einsicht und dem Text der Hebräischen Bibel geschlagen. Die unterschiedlichen Richtungen innerhalb des Judentums unterscheiden sich in der Intensität, mit der sie diesen interpretatorischen Eingriff für die Moderne zulassen.11 Ein damit verbundenes Kriterium ist die Rolle der Frau. Bereits 1846 hatte die liberale Rabbinerkonferenz in Breslau unter der Ägide von Rabbiner Abraham Geiger (1810‒1874) jüdische Männer und Frauen in ihren religiösen Rechten und Pflichten für gleichberechtigt erklärt, doch erst im frühen 20. Jahrhundert meldeten sich Frauen im Gottesdienst zu Wort. Nachdem 1926 in Berlin in dem Symposium »Die Frau im Gotteshaus« erstmals öffentlich über das weibliche Rabbinat diskutiert wurde, stand 1928 mit Lily Montagu (1873–1963) in Deutschland erstmals eine Frau auf einer Synagogenkanzel. 1935 wurde mit der Berlinerin Regina Jonas (1902‒1944) die weltweit erste Frau zur Rabbinerin ordiniert. Seit ihrer Ordination haben vor allem liberale und konservative Gemeinden in den USA Frauen als Rabbinerinnen akzeptiert: Im Juni 1972 erhielt Sally Priesand als erste Frau in der amerikanischen Reformbewegung ihre Smicha und 1985 folgte Amy Eilberg als erste konservative Rabbinerin. 2010 wurde mit Alina Treiger erstmals nach Regina Jonas wieder eine Frau ordiniert, die in Deutschland für das Rabbinat ausgebildet worden war. Inzwischen gibt es in der sogenannten Open Orthodoxy Nordamerikas auch eine Reihe von Frauen im geistlichen Amt. Weltweit sind heute etwa 1.000 Rabbinerinnen tätig. Der Allgemeinen Rabbinerkonferenz Deutschlands gehören derzeit sieben Frauen an.12   9 Ebd. 10 Vgl. Pew Research Center (Hg.), Survey of U. S. Jews: A Portrait of Jewish Americans, Washington DC 2013. 11 Vgl. Andreas Nachama/Walter Homolka/Hartmut Bomhoff, Basiswissen Judentum, Freiburg i. Br. 2015, 114‒138. 12 Vgl. Hartmut Bomhoff/Denise Eger/Kathy Ehrensperger/Walter Homolka (Hg.), Gender and Religious Leadership: Women Rabbis, Pastors, and Ministers, Lanham MD 2019.

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1  Eine jüdische Renaissance? Der jüdische Journalist Hugo Nothmann (1889–1979) bezeichnete das deutsche Nachkriegsjudentum 1959 als eine Gemeinschaft, in der die religiösen Bindungen hinter den sozialen zurücktreten: »Im Mittelpunkt der Arbeit des Zentralrates der Juden oder der Publizistik stehen Fragen der Wiedergutmachung, der Bekämpfung des Antisemitismus, der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Staates Israel. Das Judentum als Religionsgemeinschaft spielt nur eine untergeordnete Rolle.«13 Dieser Befund galt für die Bundesrepublik auch noch 1989. Im Wendejahr zählten die gut 50 jüdischen Gemeinden in der Bundesrepublik einschließlich West-Berlins etwa 29.000 Mitglieder.14 Es gab Gottesdienste, Kulturprogramme und Sozialarbeit, doch jüdisches Leben spielte sich in der Regel hinter verschlossenen Türen und unbemerkt von der Öffentlichkeit ab. Ende der 80er Jahre zählte die jüdische Gemeinschaft in der DDR nur noch 400 Mitglieder, von denen der Großteil in Ost-Berlin lebte. Im Jahre 1990 begann die Zuwanderung von Juden und Jüdinnen aus der Sowjetunion und dann aus ihren Nachfolgestaaten nach Deutschland. Ab April 1990, also in den letzten Monaten der DDR, wurde ein vereinfachtes Verfahren für die Einreise jüdischer Sowjetbürger und Sowjetbürgerinnen angewandt. An diese Praxis der letzten DDR-Regierung lehnt sich der Beschluss der Innenministerkonferenz vom 9. Januar 1991 an, gemäß dem das Gesetz über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge auch auf jüdische Emigranten aus den GUS-Staaten angewandt wird. In den folgenden Jahren wurden diese sogenannten jüdischen Kontingentflüchtlinge auf Bundesländer und Landkreise in Deutschland verteilt. Allein im Land Brandenburg entstanden acht neue jüdische Gemeinden. Die Jüdische Gemeinde zu Berlin galt wegen der Zuwanderung in den 90er Jahren als die weltweit am schnellsten wachsende jüdische Gemeinde. 2007 gehörten gut 11.000 Juden und Jüdinnen in Berlin der Jüdischen Gemeinde an.15 Von ihnen stammten bald 70 % aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion. In den anderen jüdischen Gemeinden in der Bundesrepublik beträgt der Anteil jüdischer 13 Hugo Nothmann, »Die religiöse Situation im Nachkriegsdeutschland«, in: Heinz Ganther (Hg.), Die Juden in Deutschland. Ein Almanach, Hamburg 1959, 231‒233, hier 231. 14 Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e. V. (Hg.), Auszüge aus der Mitglieder­ statistik der einzelnen jüdischen Gemeinden und der Landesverbände in Deutschland per 1. Januar 2001, Frankfurt am Main o. J., 2. 15 Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e. V. (Hg.), Mitgliederstatistik der jüdischen Gemeinden und Landesverbände in Deutschland für das Jahr 2007 (Auszug), Frankfurt am Main o. J., 4.

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Zuwanderer zwischen 90 und 100 %. Das Kontingentflüchtlingsgesetz wurde am 1. Januar 2005 durch das neue Zuwanderungsgesetz abgelöst; die Zuwanderung aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion ist damit praktisch zum Erliegen gekommen.16 Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland hat sich seit 1991 mit etwa 220.000 Zuwanderern jüdischer Herkunft zahlenmäßig konsolidiert. Etwa die Hälfte dieser Zuwanderer konnte in die jüdischen Gemeinden Deutschlands integriert werden. Viele, die in der Sowjetunion in einem ethnischen Sinne als Juden galten und deswegen diskriminiert wurden, wurden in Deutschland mit der Tatsache konfrontiert, dass sie keine Kinder einer jüdischen Mutter und damit im religionsgesetzlichen Sinne auch nicht jüdisch sind.17 Nach zwei Generationen in der atheistischen Sowjetunion hatten viele Einwanderer zudem den Bezug zu ihren jüdischen Wurzeln völlig verloren und stattdessen eine russische Identität angenommen, an der sie nun festhalten. Die russischsprachigen Zuwanderer müssen sich in Deutschland also in zweifacher Weise integrieren: einerseits in die deutsche Mehrheitsgesellschaft, andererseits in die jüdische Gemeinschaft, die aber seit 2005 einen stetigen Rückgang erlebt. Inzwischen schafft ein Verdichtungsprozess größere Gemeinden in Ballungsräumen. Das Judentum in Deutschland steht aktuell vor drei besonderen Herausforderungen: zum einen die Zusammenarbeit zwischen einheimischen, deutschsprachigen Juden wie Jüdinnen und zugewanderten, russischsprachigen Juden wie Jüdinnen zu verbessern; zum zweiten die jüdische Jugend viel stärker als bisher in die Gemeindearbeit einzubeziehen; und schließlich einen geeigneten Zugang zur großen Gruppe der nichthalachischen Juden und Jüdinnen in Deutschland zu finden, die den größten Teil der Gruppe russischsprachiger Zuwanderer jüdischer Herkunft ausmacht.18 Der Auf- und Ausbau jüdischer Organisationen und Institutionen in der Bundesrepublik Deutschland hat in den letzten zehn Jahren eine beeindruckende Entwicklung genommen. Dennoch konstatierte die Jüdische Allgemeine Ende 2015: »Nach zwischenzeitlicher Euphorie und einer Zeit, in der jüdisches Leben im deutschen Alltag immer präsenter und sichtbarer wurde, indem Syna­ 16 Zur Zuwanderung s. a. Sonja Haug unter Mitarbeit von Peter Schimany, Jüdische Zuwanderer in Deutschland. Ein Überblick über den Stand der Forschung (Working Paper der Forschungsgruppe des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, 3), Nürnberg 2005; Dmitrij Belkin, Kurzdossier »Jüdische Kontingentflüchtlinge und Russlanddeutsche«, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Kurzdossier Zuwanderung, Flucht und Asyl, 13.07.2017. 17 Vgl. Heinrich C. Olmer, Wer ist Jude? Ein Beitrag zur Zukunftssicherung der jüdischen Gemeinschaft, Würzburg 2010. 18 Vgl. Pincus-Bericht, 67.

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gogen gebaut und jüdische Gemeinden wieder neugegründet wurden, scheint seit 2005 die Demografie erneut in die Gegenrichtung zu zeigen.«19 Die Zahl der Mitglieder der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, einer Einheitsgemeinde mit neun Synagogen unter ihrem Dach, ist von 10.237 (2013) auf 9.037 (2019) zurück­ gegangen.20 Das Phänomen des verstärkten Zuzugs von jungen Israelis gleicht dies nicht aus, denn sie treten kaum in die jüdische Religionsgemeinschaft ein. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts in Wiesbaden hielten sich zum Stichtag 31. Dezember 2017 insgesamt 13.795 israelische Staatsbürger und Staatsbürgerinnen in Deutschland auf, die Mehrheit von ihnen lebte in Berlin.21 Der demografische Rückgang betrifft auch die Zahl jüdischer Gemeinden insgesamt. Der Bevölkerungswissenschaftler Sergio Della Pergola schätzte 2009, dass eine jüdische Gemeinde in westlichen Industriestaaten 4.000 Mitglieder haben müsste, um langfristig zu überleben; das trifft gegenwärtig lediglich auf Gemeinden in Ballungsräumen wie Berlin, Düsseldorf, Frankfurt, Hannover, Köln und München zu. Rund einhundert Gemeinden wären demnach langfristig nicht überlebensfähig.22 Die Integration der über 220.000 Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion seit 1991 ist sozial größtenteils gelungen. Die religiöse Bindung ist hingegen noch diffus und wenig ausgeprägt. Umso wichtiger ist das Augenmerk auf die folgenden Generationen durch eine gute Jugend- und Studierendenarbeit sowie eine gute Ausbildung von Geistlichen und Gemeindepersonal; die Nachkommen der russischsprachigen Juden und Jüdinnen, die heute mindestens 90 % der jüdischen Bevölkerung in Deutschland ausmachen, werden das jüdische Gemeindeleben von morgen bestimmen. Die Zuwanderergeneration bildet eine in vielerlei Hinsicht heterogene Gruppe: Viele verfügen noch nicht über die deutsche Staatsbürgerschaft, viele identifizieren sich weiterhin stark mit ihren früheren Heimatländern, in der älteren Generation hat sich die deutsche Sprache nicht durchgesetzt. Eine Wertschätzung demokratischer Grundwerte und die Freude am Engagement in der Zivilgesellschaft bilden sich erst allmählich heraus. Außerdem bilden sich aktuelle politische Spannungen zwischen den Herkunftsländern Ukraine und Russland auch unter den jüdischen 19 Heide Sobotka, »Hauptproblem Armut. Die Gemeinden überaltern, die Mitgliederzahlen sinken, die Bedürftigkeit nimmt zu«, in: Jüdische Allgemeine, 24.12.2015. 20 Zahlen nach der jeweiligen »Mitgliederstatistik der jüdischen Gemeinden und Landesverbände in Deutschland« der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e. V. (Hg.), für das Jahr 2019, Frankfurt am Main 2020, 6. 21 Vgl. Jüdische Allgemeine vom 08.04.2019. 22 Vgl. Sergio Della Pergola, Jews in Europe: Demographic Trends, Contexts, Outlooks, in: Julius H. Schoeps/Olaf Glöckner (Hg.), A Road to Nowhere? Jewish Experiences in Unifying Europe, Leiden 2011, 34.

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Gemeindemitgliedern ab.23 Beispiele für die ethnisch-kulturelle Heterogenität der Zuwanderer sind etwa das Jüdisch-Bucharisch-Sefardische Zentrum Deutschland in Hannover, dessen Mitglieder vor allem aus Usbekistan und Kirgistan stammen und das enge Beziehungen zur bucharisch-jüdischen Gemeinschaft in Wien pflegt, oder die landsmannschaftlich ausgerichteten Clubs in der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, in denen sich Zuwanderer aus Baku, vom Dnepr, aus Kiew, Leningrad und Moskau organisieren.

2  Plurales Verständnis statt Alleinvertretungsanspruch Das Judentum kennt keine zentrale und hierarchische Organisationsstruktur. In vielen Ländern der Welt konstituiert es sich in unterschiedlichen unabhängigen religiösen Strömungen. In Deutschland gab es bis 1939 keine umfassende jüdische Gesamtorganisation. Erst die Nationalsozialisten erzwangen die Zusammenführung in der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland als Teil ihrer Entrechtungspolitik. 1950 wurde in Frankfurt am Main der Zentralrat der Juden in Deutschland gegründet. Aufgabe war die Vertretung der Interessen der gestrandeten Juden in den Fragen von Restitution und Auswanderung. Im Zuge der organisatorischen Konsolidierung wurde er zum politischen Dachverband der jüdischen Gemeinden in Deutschland. 1963 wurde ihm in Nordrhein-Westfalen der Status einer Körperschaft öffentlichen Rechts verliehen. Der Zentralrat ist als Einrichtung mit Alleinvertretungsanspruch nicht unumstritten. So stellte der jüdische Publizist Ernst Cramer 1999 fest: »Es ist an der Zeit, darüber nachzudenken, ob ein Zentralrat in der bisherigen Form dem modernen, religiös und kulturell vielschichtigen Judentum, das jetzt auch in Deutschland entsteht, überhaupt noch zeitgemäß ist.«24 Eine Grundsatzentscheidung des 7. Senats des Bundesverwaltungsgerichts vom 28. Februar 2002 hat bestätigt, dass dem Terminus »Jüdische Gemeinschaft« ein »erweitertes, gewissermaßen ›plurales‹ Verständnis zugrunde [liegt], das alle im Judentum vorhandenen Grundrichtungen einbezieht und das üblicherweise gemeint ist, wenn von ›Jüdischer Gemeinschaft‹ die Rede ist« (Az: BVerwG 7 C 7.0). Dies führte zu einem Umschwung und zu neuen Modellen der Teilhabe.25 23 Vgl. Igor Mitchnik, »Wie sich Putin in die Gemeinde schleicht. Russische Propaganda macht auch vor jüdischen Zuwanderern nicht Halt«, in: Jüdische Allgemeine, 25.02.2016. 24 Ernst Cramer, »Zentralrat der Juden: noch zeitgemäß?«, in: Die WELT, 28.08.1999. 25 Vgl. Walter Homolka, »Jüdische Organisationen«, in: Staatslexikon. Recht – Wirtschaft – Gesell­ schaft, Bd. 3, Freiburg i. Br. 2019, 517‒523.

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Bis zum Vertrag der Bundesrepublik Deutschland mit dem Zentralrat von 2003 galt: Im innerjüdischen Verhältnis beachtete der Zentralrat streng sein Mandat als Bundesvertretung der jüdischen Gemeinschaft ohne übergeordnete Befugnisse gegenüber den Gemeinden oder Landesverbänden. Das war auch eine zwingende Folge der föderativen Struktur des jüdischen Lebens in der Bundesrepublik.26 Mit der direkten institutionellen Förderung ab 2003 wirkte der Bund auf die Stellung des Zentralrats der Juden nachhaltig ein und stärkte seine Rolle als politische Alleinvertretung auf Bundesebene. Derzeit gehören den 105 in ihm vereinigten Gemeinden gut 94.800 Mitglieder an (Stand 2019).27 Unter dem Dach des Zentralrats sind auch die Orthodoxe Rabbinerkonferenz Deutschlands (ORD) sowie die liberal ausgerichtete Allgemeine Rabbinerkonferenz (ARK) angesiedelt. Neben dem Zentralrat als Vertretung politischer und gesellschaftlicher Interessen der jüdischen Gemeinschaft besteht seit 1997 die Union progressiver Juden in Deutschland K.d.ö.R., die bundesweit 28 liberale jüdische Gemeinden, Vereinigungen und Institutionen vertritt (Stand 2019). Der Großteil dieser liberalen jüdischen Gemeinden ist heute ebenfalls Mitglied im Zentralrat. Angesichts dessen, dass das liberale Judentum in Deutschland »seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts wieder eine eigenständige Gestalt angenommen hat«, wurden der Union am 29.09.2015 als zweitem jüdischen Bundesverband die Körperschaftsrechte verliehen. Die Ausdifferenzierung jüdischen Lebens in Folge der Zuwanderung bot die Chance, die Ausbildung von einheimischen Rabbinern und Gemeindemitarbeitern neu zu ordnen. 1999 wurde das Abraham Geiger Kolleg als erste Rabbinerausbildungsstätte in Deutschland nach der Schoa gegründet. Es ist als außeruniversitäre wissenschaftliche Einrichtung zur Förderung des deutschjüdischen Kulturerbes strukturell und finanziell vergleichbar mit der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg. Gemeinsam mit der 2013 eröffneten School of Jewish Theology an der Universität Potsdam bildet das Kolleg die erste fakultätsähnliche jüdisch-theologische Einrichtung der deutschen Universitätsgeschichte. Die religiös-praktische Ausbildung von Rabbinern wie Rabbinerin26 Stephan J. Kramer, Wagnis Zukunft. 60 Jahre Zentralrat der Juden in Deutschland, Berlin 2011, 22 f. 27 Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e. V. (Hg.), Mitgliederstatistik der jüdischen Gemeinden und Landesverbände in Deutschland für das Jahr 2019, Frankfurt am Main 2020, 5.

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nen und (seit 2008) von Kantoren wie Kantorinnen für das nicht-orthodoxe Bekenntnis erfolgt am Zentrum für das Jüdisch-Geistliche Amt des Abraham Geiger Kollegs. Einundvierzig Absolventen und Absolventinnen hat das Kolleg bis heute (2020) hervorgebracht, davon einunddreißig Rabbinerinnen und Rabbiner sowie zehn Kantorinnen und Kantoren. Diese Alumni versehen ihren Dienst nicht nur in den jüdischen Gemeinden Deutschlands, sondern auch in Frankreich, Großbritannien, Israel, Luxemburg, Schweden, Südafrika und in den USA. Die berufspraktische Ausbildung für das geistliche Amt mit dem Schwerpunkt Konservatives Rabbinat gewährleistet seit 2013 das Zacharias Frankel College, ebenfalls An-Institut der Universität Potsdam.28 Mit der School of Jewish Theology an der Universität Potsdam gibt es seit dem Wintersemester 2013/14 erstmals an einer staatlichen deutschen Universität Jüdische Theologie als Studienfach. Die Kernbereiche des Studiums der Jüdischen Theologie sind Religionsphilosophie und Religionsgeschichte, Hebräische Bibel und ihre Exegese, Talmud und Rabbinische Literatur, Halacha, Liturgie und Religionspädagogik sowie Hebräisch und Aramäisch. Die in Europa einmaligen Bachelor- und Masterstudiengänge stehen allen Interessierten unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit offen. Das Studium vermittelt neben grundlegenden Kenntnissen über das Judentum wesentliche akademische Fachkompetenzen und bietet zudem Einblicke in die jüdische Religionspraxis. Seit 2009 wird unter dem Dach der Ronald S. Lauder Foundation in Zusammenarbeit mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland auch eine nichtakademische orthodoxe Rabbinerausbildung am Rabbinerseminar zu Berlin e. V. angeboten, die seit 2012 durch einen Bachelor-Studiengang in Jüdischer Sozialarbeit an der Fachhochschule Erfurt ergänzt wird. Das Rabbinerseminar hat inzwischen sechzehn Absolventen und arbeitet eng mit dem 2012 gegründeten Bund traditioneller Juden in Deutschland e. V. und der 2013 gegründeten orthodoxen Berliner Gemeinde Kahal Adass Jisroel e. V. zusammen. Daneben besteht weiterhin die 1869 gegründete Israelitische Synagogen-Gemeinde Adass Jisroel zu Berlin K.d.ö.R., die 1986 ihre Tätigkeit wiederaufnahm und 1997 in ihre Körperschaftsrechte wiedereingesetzt wurde. Neben den gewachsenen Gemeindestrukturen hat sich inzwischen Chabad Lubawitsch etabliert, eine im ausgehenden 18. Jahrhundert entstandene chassidische Bewegung, deren Name ein Akronym aus chochma (Weisheit), bina (Einsicht) und da’at (Wissen) ist. 1988 in München gegründet, ist Chabad 28 In Deutschland bestehen derzeit keine von den Einheitsgemeinden unabhängigen konservativ ausgerichteten Synagogengemeinden; als konservativ-jüdischer deutscher Dachverband mit Sitz in Berlin fungiert Masorti e. V. ‒ Verein zur Förderung der jüdischen Bildung und des jüdischen Lebens.

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Deutschland e. V. inzwischen in sechzehn deutschen Städten präsent. Der Verein erfordert keine Mitgliedschaft und finanziert sich allein durch Spenden. Die Chabad-Rabbiner sind in einem eigenen Gremium außerhalb der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschlands und des Zentralrats organisiert. Unter dem letzten Lubawitscher Rebben Menachem Schneerson (1902‒1994), der von vielen seiner Anhänger als möglicher Messias angesehen wird, sandte Chabad Emissäre in die ganze jüdische Welt, um säkulare Juden und Jüdinnen mit modernsten Mitteln für eine Rückkehr zur Religion zu gewinnen, genau genommen für ihr Verständnis von Judentum. Chabad gilt als das größte internationale jüdische Netzwerk. Die Chabad-Emissäre ziehen mit attraktiven Programmen für Kinder besonders auch junge Familien an; sie gehen zudem gezielt auf säkulare Juden und Jüdinnen zu, die sich von der jüdischen Religionspraxis entfernt haben, und gelangen mit ihren niedrigschwelligen Angeboten an Menschen jeden Alters, die keinen Zugang zu den klassischen Gemeindestrukturen finden oder nicht mehr suchen, sich aber von der Gemeinschaft angesprochen fühlen. Für die einen ist Chabad ein Segen, für andere eine Sekte.29

3  Aufbrüche zu einer jüdischen Zivilgesellschaft Die stetige Abnahme der Mitgliederzahl der jüdischen Religionsgemeinschaft stellt jüdische Organisationen vor die Aufgabe, jüdische Identität in ihrer ganzen Vielfalt zu stärken und zu bewahren und das Gemeindeleben zu konsolidieren. Dazu gehören insbesondere Sozialarbeit und die Ausbildung von Führungskräften. Die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e. V. (ZWST) ist als Dachorganisation der Wohlfahrtspflege der jüdischen Gemeinden gesamtverantwortlich für deren Unterstützung in ihrer Sozialarbeit und auch für die Organisation und Koordination der Jugendarbeit. Die ZWST ist ein freier Träger der Wohlfahrtspflege mit Sitz in Frankfurt am Main. Seit Dezember 2016 haben jüdische Studierende und junge jüdische Erwachsenen in Deutschland wieder eine offizielle politische Vertretung: Im Rahmen des Gemeindetags des Zentralrats der Juden in Deutschland in Berlin wurde die Jüdische Studierenden­ union Deutschland (JSUD) gegründet. Daneben hat sich in den vergangenen zehn Jahren eine jüdische Zivilgesellschaft ausgebildet, die weit über das jüdische Gemeindeleben hinausreicht. Zu den Gruppen außerhalb der festen Gemeindestrukturen gehört neben patrilinearen und säkularen Juden und Jüdinnen, die den Großteil der russischspra29 Vgl. Sue Fishkoff, Das Heer des Rebben. Einblicke in die Chabad-Bewegung, Zürich 2010.

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chigen jüdischen Zuwanderer und ihrer Nachkommen ausmachen, insbesondere auch die Altersgruppe der jungen Erwachsenen.

4 Labor, Diskurs-Maschine, Familie: Das Ernst-LudwigEhrlich-Studienwerk Vor über fünfzig Jahren konstatierte der jüdische Religionswissenschaftler und Historiker Ernst Ludwig Ehrlich (1921‒2007): Dass Christen sich gegenüber Juden und Judentum so hilflos zeigen und noch relativ wenig Kon­struktives geschehen ist, hängt mit der mangelnden Kenntnis der Wirklichkeit des Judentums zusammen. Zunächst einmal ist man sich auf christlicher Seite allzu oft über die Vielfalt der Möglichkeiten im Unklaren, Jude zu sein. Das Judentum ist weder hierarchisch gegliedert, noch besitzt es eine Weltzentrale. Es vermag in seinem vielräumigen Haus die verschiedensten Bewohner zu dulden. Sie werden zwar unter sich nicht immer besonders gut übereinander sprechen, die Form der Gottesdienstausübung des anderen Juden nicht schätzen, einander vorwerfen, intolerant, zu orthodox, zu liberal, zu chauvinistisch, zu universalistisch, zu assimilatorisch, zu gettohaft, zu kritisch, zu wenig kritisch, zu wissenschaftlich oder zu fundamentalistisch zu sein. Aber es sind alles Juden, und vor allem: Sie erkennen sich gegenseitig als Juden an […]. Zur Wirklichkeit des Judentums gehört seine Vielfalt, sein Pluralismus.30 Diese Wirklichkeit des Judentums bildet insbesondere das 2009 gegründete Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk (ELES) ab, dessen Stipendien für jüdische Hochbegabte aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung finanziert werden und das Studierende aller jüdischen Denominationen gleichberechtigt fördert. ELES ist mit nunmehr 800 Stipendiaten und Stipendiatinnen zu einem Zentrum jüdischer Intellektualität in Deutschland und Europa geworden — zu einem Ort selbstbewussten Judentums aller Strömungen.31 Neben den genannten Dachverbänden und deutschlandweit agierenden Organisationen tragen zahlreiche weitere Initiativen und Projekte auf lokaler Ebene dazu bei, dass sich jüdisches Leben in Deutschland frei entfalten kann. 30 Ernst Ludwig Ehrlich, »Karl Thieme – und wo stehen wir heute?«, in: Freiburger Rundbrief XX (Dezember 1968) 73/76, 27. 31 Vgl. Walter Homolka/Jo Frank/Jonas Fegert (Hg.), »Weil ich hier leben will …«. Stimmen zur Zukunft Deutschlands und Europas, Freiburg i. Br. 2018.

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Beispiele für zivilgesellschaftlich ausgerichtete Initiativen sind die Europäische Janusz Korczak Akademie e. V. (gegründet 2009) sowie das Lernfestival Limmud e. V. (2006 initiiert).

5  Einheit in der Vielfalt Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland und insbesondere deren junge Generation bildet eine in kultureller sowie sprachlicher Hinsicht ausgesprochen heterogene Gruppe, die sich nur zum kleineren Teil als religiös definiert. Angesichts der weiterhin großen Aufgaben wäre es wünschenswert, wenn die Kirchen als Teil der Mehrheitsgesellschaft all diejenigen, die an der Renaissance jüdischen Lebens in Deutschland teilhaben, in ihrer Vielstimmigkeit, ja Widersprüchlichkeit als Partner und Partnerinnen im Dialog wahrnehmen würden. Wir brauchen Unterstützung für ein vielfältiges Judentum inner- und außerhalb der Religionsgemeinden, für Jugend- und Studierendenarbeit, für ein Miteinander mit den muslimischen und christlichen Gemeinschaften in Deutschland, getragen von der Wertschätzung durch unser Gemeinwesen. Eine Bündelung aller gesellschaftlichen Kräfte muss die Handlungsmaxime sein, damit Antisemitismus in Deutschland 75 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus keinen Platz hat.

Rabbiner Walter Homolka, PhD PhD DHL, ist Professor für Jüdische Religionsphilosophie der Neuzeit mit Schwerpunkt jüdische Denominationen und interreligiöser Dialog und zudem Geschäftsführender Direktor der School of Jewish Theology der Universität Potsdam, Rektor des Abraham Geiger Kollegs sowie Geschäftsführer des Zacharias Frankel College.

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1 Soziale Verhältnisse von Juden und Muslimen in Deutsch­ land – eine soziokulturelle Frage mit religiöser Färbung Unter der Begrifflichkeit soziale Verhältnisse fassen Soziologen in der Regel sozioökonomische Einbettungen und Verankerungen in einer Bevölkerung. Man bezeichnet dies als Sozialstruktur einer Gesellschaft. Dazu zählt auch die Religionszugehörigkeit und die strukturelle Integration ihrer Mitglieder in die Gesellschaft.1 Eine Betrachtung entlang religiöser Linien wirft allerdings Fragen auf. Diskussionen zu Integration verbinden religiöse Zugehörigkeiten auch mit Vorurteilen gegenüber religiösen Gruppen.2 Wird Religionszugehörigkeit somit als Distinktionsmerkmal in einer Gesellschaft angesehen – oder wirkt sie als ein solches? Mit Blick auf die Stellung von Muslimen und Juden in der deutschen Gesellschaft verbirgt sich hinter dieser an sich einfachen Fragestellung ein beachtliches politisches Konfliktpotenzial. Über die immer stärker aufkommende Betrachtung von Religionen als gesellschaftlichem Konfliktfaktor und Religionskritik, geraten Aspekte der Differenz, Abgrenzung und Abwertung unter Bezug auf religiöse Merkmale in den Blick. Nicht mehr der »fremde« Immigrant wird als Objekt der Diskussion seiner Integrationsfähigkeit, Integrationsbereitschaft und Integrationswürdigkeit gesehen, vielmehr werden entsprechende Debatten an der nichtchristlichen Religionszugehörigkeit festgemacht. Diese Haltungen der Bürger bestimmen zentral die soziale Situation von religiösen Minderheiten und ihrer soziokulturellen Integration. Diese Sichtweise richtet sich in Deutschland fast ausschließlich auf Juden und Muslime. Sie scheinen am stärksten in Differenz zu einem »christlichen Abendland« zu stehen. So werden Phänomene wie Muslimfeindlichkeit, Islamophobie oder Antisemitismus aufgerufen, die in aktuellen gesellschaftlichen Debatten 1 2

Zum – durchaus gelegentlich umstrittenen – Begriff der Integration siehe als Beispiel: Friedrich Heckmann, Integration von Migranten. Einwanderung und neue Nationenbildung, Wiesbaden 2014. Gert Pickel, Religion und Migration, in: Antje Röder/Daniel Zifonun (Hg.), Handbuch Migra­ tionssoziologie, Wiesbaden 2020 (i. E.).

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einen rasanten Bedeutungsgewinn erfahren haben. Anhand dieser Überlegungen wird erkennbar: Will man angemessen über die sozialen Verhältnisse von Juden und Muslimen in Deutschland reden, dann rückt neben der sozialstrukturellen Situation deren soziokulturelle Situation und ihre Anerkennung seitens der christlichen wie konfessionslosen Bevölkerung in den Fokus. Es stellen sich Fragen nach Existenz und Gründen von Antisemitismus und antimuslimischen Ressentiments, kennzeichnen diese doch die religiös bedingten sozialen Verhältnisse von Juden und Muslimen in Deutschland.3

2  Sozialstrukturelle Verhältnisse von Juden und Muslimen 2.1  Soziale Bedingungen der Juden in Deutschland Die soziale Einbettung von Juden in Deutschland hat nach den Grauen des Holocaust eine wesentliche Veränderung erfahren. Durch das Absinken des Anteils der europäischen und deutschen jüdischen Bevölkerung auf offiziell knapp unter 100.000 organisierte Religionsmitglieder (bei geschätzten 225.000 Juden in Deutschland) handelt es sich bei Bürgern jüdischen Glaubens heute um eine deutliche Minderheit, die bei Überblicksbetrachtungen weit unter der Grenze von einem Prozent liegt.4 Die Existenz des deutschen Judentums wird zumeist aufgrund der kulturellen Sichtbarkeit des Judentums (Synagogen), durch die aus historischen Gründen gepflegte Erinnerungskultur oder (wovon noch zu sprechen sein wird) antisemitischer Übergriffe öffentlich sichtbar. Prominenz erlangen in diesem Zusammenhang immer wieder Aussagen des Zentralrates der Juden in Deutschland.5 Die Zahl der in Deutschland lebenden Juden würde sogar noch niedriger ausfallen, wäre es nicht zwischen 1991 und 2004 zu einer Zuwanderung aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion (als sogenannte Kontingentflüchtlinge) gekommen. Mit den »russlanddeutschen« Heimkehrern verändert sich die Struktur der deutschen Juden hin zu einer sozialstrukturellen Normalverteilung, wenn nicht sogar ungünstigeren sozioökonomischen

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Die Auswirkungen des Meinungsklimas auf Juden und Muslime in Deutschland bedingen die hohe Relevanz der soziokulturellen Verhältnisse für ihre soziale Situation – und erfordern eine ausgedehntere Behandlung in diesem Aufsatz. 4 Mediendienst Integration, Jüdische Bevölkerung in Deutschland, https://mediendienst-integration.de/gruppen/judentum.html (Zugriff am 23.03.2020). 5 https://www.zentralratderjuden.de/ (Zugriff am 23.03.2020).

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Situa­tion.6 Durch diese Zuwanderung, verbunden mit der Abwanderung junger, meist gut ausgebildeter Juden in die USA oder nach Israel, fand in den letzten Jahrzehnten eine Kondensierung des Judentums in Richtung einer traditionalen, konservativen Glaubensorientierung statt. Diese Entwicklung brachte oft massive Auseinandersetzungen in den jüdischen Gemeinden mit sich und hat zudem die Sozialstruktur der jüdischen Bevölkerung in Deutschland verändert. Waren die jüdischen Bürger in früheren Zeiten eher besser situiert und im Bildungsbürgertum verankert, bringt die heutige Dominanz von zugewanderten osteuropäischen Juden, neben ihrer stärkeren Orthodoxie, auch eine sozialstrukturelle Verschiebung mit sich. Trotz des Fehlens offizieller Daten wird davon ausgegangen, dass bis zu 90 % der Juden über 65 Jahre heute Grundsicherung im Alter benötigen werden (so sind fast 50 % der Gemeindemitglieder über 65 Jahre alt).7 Dies ist problematisch, weil die jüdischen Gemeinden in der Regel massiv überaltert sind und man bei geringen Geburtenraten und hohen Sterberaten davon ausgeht, dass mit der Zeit sogar Gemeinden geschlossen werden müssen – speziell, weil seit Mitte der 2000er Jahre der Ausgleich durch die Zuwanderung aus Osteuropa eingetrocknet ist.8 Trotz dieser formal sinkenden Größe in der deutschen Bevölkerung sind Debatten um das deutsche Judentum häufig und massiv. Hierfür verantwortlich ist ihre soziokulturelle Einbettung in die deutsche Gesellschaft und die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus. Von jüdischer Seite wird sowohl die interne Strukturveränderung als auch die Wahrnehmung des Judentums in Deutschland allein unter erinnerungskulturellen oder antisemitischen Aspekten als problematisch empfunden.9

6 Karen Körber, Jüdische Gegenwart in Deutschland. Die Migration russischsprachiger Juden seit 1989, in: Deutschland Archiv, 06.10.2016, www.bpb.de/234438 (Zugriff am 23.03.2020). 7 Matthias Kamann, Deutschen Juden droht Armut im Alter, Die Welt 2013, https://www.welt. de/politik/deutschland/article117966183/Deutschen-Juden-droht-Armut-im-Alter.html (Zugriff am 23.03.2020). 8 Jens Rosbach, Jüdische Gemeinden in Deutschland. Wenige Geburten. Viele Beerdigungen. Deutschlandfunk Kultur 24.05.2019, https://www.deutschlandfunkkultur.de/juedische-­ gemeinden-in-deutschland-wenige-geburten-viele.1079.de.html?dram:article_id=449665 (Zugriff am 23.03.2020). 9 Rina Soloveitchik, Es wird nie gut sein, aber … ZEIT ONLINE 2016, https://www.zeit.de/ kultur/2016-11/juden-in-deutschland-antisemitismus-zentralrat-konservatismus (Zugriff am 23.03.2020); auch Karen Körber, Jüdische Gegenwart in Deutschland. Die Migration russischsprachiger Juden seit 1989, Deutschland Archiv, 06.10.2016, www.bpb.de/234438 (Zugriff am 23.03.2020).

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2.2  Soziale Bedingungen der Muslime in Deutschland Die soziale Einbettung von Muslimen in Deutschland nahm einen anderen Entwicklungsverlauf als die der jüdischen Bürger, weist aber mittlerweile einige Paral­lelen auf. Eine erste Zunahme des muslimischen Bevölkerungsanteils erbrachte die Zuwanderung sogenannter »Gastarbeiter« in den 1970er Jahren. Weitere Zuwanderungsbewegungen, wie z. B. Familiennachzug oder eine höhere Geburtenrate als in der bundesdeutschen nichtmuslimischen Bevölkerung (zumindest in der ersten Zuwanderungsgeneration), ließen die Muslime in den letzten Jahrzehnten zu der stärksten religiösen Minderheit in Deutschland werden. Sozial sind sie überwiegend im Bereich der Arbeiter und kleinen Angestellten angesiedelt und erfahren erst in jüngerer Zeit einen beruflichen Aufstieg. Damit gleicht die sozioökonomische Situation der Muslime in Deutschland heute in starkem Umfang der jüdischen Situation. Beide religiösen Gruppen sind eng mit einer Migrationsgeschichte verbunden, beide sozialen Gruppen sind sozioökonomisch im Vergleich zur nichtjüdischen bzw. nichtmuslimischen Bevölkerung ungünstiger gestellt. Ein zentraler Unterschied liegt in der Altersstruktur und der Zukunftsentwicklung. Während das deutsche Judentum unter dem Problem der Überalterung sowie einer weiter voranschreitenden Schrumpfung leidet, ist die Entwicklung der Muslime in Deutschland von einer Zunahme und eher jungen Altersstruktur geprägt (Durchschnittsalter 2015 war 31 Jahre).10 Schätzungen des Bundes­amtes für Migration und Flüchtlinge verorten den Anteil der Muslime in Deutschland derzeit auf 5,4 bis 5,7 % mit steigender Tendenz.11 Ein großer Anteil der in Deutschland lebenden Muslime besitzt einen Migrationshintergrund. Hinsichtlich der Arbeitsmarkteinbindung gibt es widersprüchliche Aussagen, speziell, weil oft eine Gleichsetzung von Migrationshintergrund und muslimischer Religionszugehörigkeit erfolgt. Verweist die Bundesagentur für Arbeit auf den überdurchschnittlichen Anteil an Bürgern mit Migrationshintergrund an Arbeitslosen, skizziert die Bertelsmann Stiftung hier gute Jobchancen gerade für die nachwachsende zweite und dritte Generation der ehemaligen »Gastarbeiter«.12 Eine soziale Benachteiligung muslimischer Bürger dürfte allerdings kaum zu leugnen sein. Zum einen wirkt sich eine steigende soziale Ungleichheit ver10 Vgl. Anja Stichs, Wie viele Muslime leben in Deutschland? Eine Hochrechnung über die Anzahl der Muslime in Deutschland zum Stand 31. Dezember 2015. Working Paper 71 des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Nürnberg. 11 Ebd. 12 Vgl. Auch https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2017/august/ integration-von-muslimen-in-deutschland-macht-fortschritte/ (Zugriff am 23.03.2020).

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stärkt auf Minderheiten, und damit auf die Muslime in Deutschland aus, zum anderen unterliegen Muslime bis heute Schwierigkeiten in der sozialen Integration, z. B. bei der Wohnungssuche.13 Die teilweise Gleichsetzung von Migranten und Muslimen hat sich im Zuge der Fluchtbewegungen seit 2015 noch einmal verstärkt, wie sich auch die Gruppe der Muslime ausdifferenziert hat. Waren ca. zwei Drittel der Fluchtmigranten Muslime, so brachte ihre nichttürkische Herkunft durchaus Verständnisunterschiede in Frömmigkeit und Religionsverständnis mit sich, die zu einer Veränderung führten, die durchaus mit der Transformation des Judentums in Deutschland vergleichbar ist, wenn sie auch ein geringeres Ausmaß besitzt. In der Folge steigerten bzw. reaktivierten sich existierende Anerkennungsprobleme und Aspekte der soziokulturellen Integration. So entbrannte der Streit, inwieweit Deutschland ein Einwanderungsland sei, hauptsächlich an muslimischer Zuwanderung, während die teils massivere vorherige Zuwanderung aus Osteuropa keine vergleichbaren Auswirkungen besaß. Inwieweit diese heftig geführten Diskurse den Weg in eine postmigrantische Gesellschaft kennzeichnen, muss an dieser Stelle offen bleiben.14 Zentral für die soziale Lage der Muslime in Dutschland wurde allerdings in gesteigertem Umfang der Blick der nichtmuslimischen Bürger auf die muslimischen Bürger in Deutschland und die Existenz des Phänomens Islamophobie.

3  Soziokulturelle Verhältnisse für Juden in Deutschland 3.1 Antijudaismus, interreligiöse Annäherung, sekundärer Antisemitismus Um die soziokulturelle Situation der Juden in Deutschland verstehen zu können, ist ein Verständnis von Antisemitismus notwendig. Die Verhältnisse christlicher Kirchen zum Judentum sind seit Jahrhunderten von Ambivalenz und inter­ religiösen Bemühungen gekennzeichnet.15 Die Beziehungen zwischen jüdischen und christlichen Verbänden haben sich in den letzten Jahrzehnten massgeblich 13 Katrin Auspurg/Andreas Schneck/Thomas Hinz, Closed Doors everywhere? A meta-analysis of field experiments on ethnic discrimination in rental housing markets, in: Journal of Ethnic and Migration Studies 45/1 (2018), 95–114. 14 Naika Foroutan, Die Postmigrantische Gesellschaft. Ein Versprechen der pluralen Demokratie, Bielefeld 2020. 15 Im Sinne der Nächstenliebe ist man heute bemüht andere Religionen, wie ihre Mitglieder, zu verstehen und in Dialog mit ihnen zu treten. Gleichzeitig ist diese Offenheit immer wieder mit Hinweisen auf bestehende Distanzen und Differenzen verbunden.

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verbessert. Dies schlägt sich im christlich-jüdischen Dialog nieder. Anders als zu den muslimischen Glaubensgemeinschaften wird dem Judentum eine theologische Nähe zugesprochen. Dieses Verständnis hat zum Einzug der Auseinandersetzung mit dem Judentum in die christlichen theologischen Lehranstalten geführt. Auf der gesellschaftlichen Ebene sind die jüdischen Verbände präsent und besitzen aufgrund der problematischen deutschen Vergangenheit vor 1945 eine Position als Erinnerungsakteure. Die öffentliche Situation ist allerdings durch eine scheue Zurückhaltung in der Bevölkerung geprägt, die aufgrund der geringen Anzahl an Begegnungen im Alltag, eher durch medial vermittelte Politik, als durch eine intensive Auseinandersetzung mit dem Judentum in Deutschland geprägt wird. Entsprechend dominiert der Blick auf die Politik Israels, wie die spezifische deutsche Historie des Holocaust die Beschäftigung der meisten Deutschen mit dem Judentum. Selten steht die Religion, häufig die Gruppe der Juden im Blickfeld. Vielleicht gerade aufgrund dieses Blickwinkels konzentrieren sich Diskussionen zum Judentum in Deutschland häufig auf die Frage nach der Existenz und Ausbreitung von Antisemitismus. Immer wieder werden antisemitische Ereignisse und antisemitische Einstellungen diskutiert. Diese Ausrichtung drückt nicht nur die Existenz entsprechender Haltungen in der deutschen Bevölkerung, sondern sehr reale sozialpsychologische Verhältnisse von Juden in Deutschland aus. So sind Juden häufig Zielgruppe antisemitischer Abwertungen und Anfeindungen. Fast jede Synagoge in Deutschland steht unter spezifischen Sicherheitsanforderungen und polizeilichem Schutz.16 Was dies für die dort ihre Religiosität ausübenden Juden bedeutet, kann man sich nur ungefähr vorstellen. Doch was ist der Auslöser dieser Beeinträchtigung der sozialen Lage der Juden in Deutschland? In den christlichen Kirchen ist die Form des Anti­ judaismus nicht unbekannt. Sie kennzeichnet eine religiöse Ablehnung, die mit der pauschalen Zuweisung des »Mordes an Jesu« an »die Juden« verbunden ist. Antijudaismus hat seine Fundierung im frühen Christentum, faktisch als Ausdruck eines Abgrenzungs- und Ablösungsprozesses vom Judentum.17 Diese Einschätzung konkurrierte mit der starken Beziehung zwischen dem Christentum und dem Judentum, welche aus der Genese des Christentums resultiert. Diese gleichzeitige Nähe wie der in der Gründungsphase des Christentums begonnene Konkurrenzkampf um Mitglieder führten zu einem über lange Zeit schwierigen Verhältnis zwischen Christen und Juden. Dabei wurden

16 Wie bedeutsam dies ist, zeigten erst jüngst 2019 die Ereignisse in Halle. 17 Steven Beller, Antisemitism. A very short Introduction, Oxford 2015, 1.

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theologische Begründungen für die Distanz und Differenz zwischen Christen und Juden ausgearbeitet, auf die hier nicht eingegangen werden soll. Der »moderne« Antisemitismus ist von Antijudaismus und anderen Formen der Ablehnung von Juden zu unterscheiden. So weicht er von der religiösen Begründungsstruktur der Differenz zu Juden ab, verwendet aber die Zugehörigkeit zum jüdischen Glauben als Kennzeichnungsmerkmal einer kulturell als fremd eingestuften Gruppe. In der Wissenschaft wird von Ethnisierung oder Kulturalisierung gesprochen: Es wird die religiöse Zugehörigkeit genutzt um eine essenzielle kulturelle Feindgruppe zu bestimmen. Eine weitere Möglichkeit ist es, diese Auffassungen als Rassismus einzustufen.18 Die Feindgruppe wird als im Gegensatz zur eigenen, nationalen Gemeinschaft stehend angesehen und verfolgt deren Zersetzung und Unterwanderung. Entsprechend verbinden sich seit frühen Zeiten Antisemitismus und vielfältige Verschwörungstheorien. Inkludiert ist eine gruppenbezogene Zuweisung, welche Einzelpersonen (z. B. eigene Bekannte) ausnehmen kann. So ist der Nachbar zwar ein angenehmer Mensch, auch wenn er Jude ist, aber die Juden an sich, sind einem suspekt – und ggf. Teil einer breiten »jüdischen Weltverschwörung«. Typisch für den Antisemitismus, im Gegensatz zu kolonialem Rassismus, ist seine Sorge um eine (nationale) kulturelle Dominanz, welche von den Juden als bedroht angesehen wird.19 Gegenwärtig wird oft von einem neuen Antisemitismus gesprochen.20 Er tritt seltener in direkter Form der Abwertung von Juden auf, sondern geht häufig einen kommunikativen Umweg. In der sozialpsychologischen Forschung wird dieser Antisemitismus als sekundärer Antisemitismus bezeichnet.21 Typisch für ihn sind Schuldabwehrmechanismen, wie die Zustimmung dazu, dass mal mit dem Rückblick auf den Holocaust Schluss sein müsse und dies nur von einer »Holocaust-Industrie« aufrechterhalten werde. Personen mit antisemitischen Einstellungen nutzen die Umwegkommunikation neuerdings noch häufiger über eine Abwertung Israels. Das Problem ist, dass ein israelbezogener Antisemitismus nicht mehr so klar zu identifizieren ist, wie ein traditionaler, primärer Antisemitismus. So kann eben nicht alle Kritik am politischen Verhalten der israelischen Regierung als unberechtigt eingestuft werden. Entsprechend werden Hinweise auf Antisemitismus immer wieder mit dem Vorwurf gekontert, 18 Birgit Rommelbacher, Was ist Rassismus?, in: Claus Metter/Paul Mecheril (Hg.), Rassismuskritik. Band 1: Rassismustheorie und -forschung, Frankfurt am Main 2011, 25–38, hier 26. 19 Ebd., 27. 20 Deborah Lipstadt, Der neue Antisemitismus, Berlin 2019; Christian Heilbronn/Doron Rabinovici/Natan Sznaider, Neuer Antisemitismus?, Frankfurt am Main 2019. 21 Gert Pickel/Katrin Reimer-Gordinskaya/Oliver Decker, Berlinmonitor 2019. Vernetzte Solidarität – Fragmentierte Demokratie, Berlin 2019, 53.

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dass es sich allein um Kritik an Israel handele. Forschungsergebnisse fördern allerdings starke Beziehungen zwischen einem sekundären und einem primären Antisemitismus zutage.22 Das Konzept des Autoritarismus ordnet Antisemitismus als grundlegende Abbildung eines autoritären Syndroms bzw. als emotionale Suche nach einem Feind ein.23 Entsprechend bedarf es keiner persönlichen Erfahrungen mit Juden, um sie abwerten, wenn nicht gar hassen zu können.24 Ausgehend von einer autoritären Dynamik richtet sich eine autoritäre Regression gegen Juden, die durch Verschwörungstheorien gerechtfertigt wird. Ob Vorurteil, Rassismus oder Ressentiment, prozesshaft greifen sozialpsychologische Ansätze der sozialen Abwertung, wie sie die Social Identity Theory formuliert.25 Vereinfacht gesagt wird eine Fremdgruppe mit dem Ziel der Aufwertung der eigenen Zugehörigkeitsgruppe abgewertet. Dies erhöht das Selbstvertrauen sowie das Anerkennungsempfinden der einzelnen Gruppenmitglieder, äußert sich aber zu Ungunsten der Abgewerteten. Die angebliche Überlegenheit in Gruppenmerkmalen, speziell die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe oder Nation, wird intensiv verteidigt, wobei Gerüchten und Verschwörungstheorien Relevanz zukommt.26 Medienberichte und »Filterblasenkommunikation« dienen als Ersatz für Kontakte mit der anderen Sozialgruppe. Man kann diese Form des Umgangs als parasoziale Kontakte bezeichnen, also als Gefühl Kontakte zu besitzen, ohne direkte Kontakte aufzuweisen. 3.2  Die Verbreitung von Antisemitismus in Deutschland Antisemitismus ist im Nachkriegsdeutschland ein existierendes, aber aufgrund seiner sozialen Ächtung nicht unbedingt offen zutage tretendes Phänomen. So führte die durch die amerikanische Besatzungsbehörde initiierte Erziehung 22 Ebd., 55; Andreas Zick,/Beate Küpper/Wilhelm Berghan, Verlorene Mitte. Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/19, Bonn 2019, 102–112. 23 Oliver Decker/Julia Schuler/Elmar Brähler, Das autoritäre Syndrom heute, in: Oliver Decker/ Elmar Brähler (Hg.), Flucht ins Autoritäre. Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft, Gießen 2018, 117–156, hier 120–122. 24 Oliver Decker/Johannes Kiess/Elmar Brähler, Antisemitische Ressentiments in Deutschland: Verbreitung und Ursachen, in: Oliver Decker/Elmar Brähler (Hg.), Flucht ins Autoritäre. Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft, Gießen 2018, 180–185; Julia Ranc, Eventuell nicht gewollter Antisemitismus. Zur Kommunikation antijüdischer Ressentiments unter deutschen Durchschnittsbürgern, Münster 2016. 25 Henri Tajfel, Social Identity and Intergroup Relations, Cambridge 1982. 26 Oliver Decker/Julia Schuler/Elmar Brähler, Das autoritäre Syndrom heute, in: Oliver Decker/ Elmar Brähler (Hg.), Flucht ins Autoritäre. Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft, Gießen 2018, 123.

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sowie die historische Verantwortung des Holocaust dazu, antisemitische Positionen nicht offen zu äußern.27 Antisemitische Witze und Redeweisen konnten sich trotzdem lange halten, wie Ressentiments gegenüber Juden in den Einstellungsstrukturen verankert blieben. Aktuelle Studien zeigen nur eine übersichtliche und rückläufige Verbreitung manifester antisemitischer Einstellungen in der deutschen Bevölkerung.28 Gerade einmal jeder zehnte Deutsche äußert sich manifest antisemitisch. Gleichzeitig ist die Zahl des latenten Antisemitismus, also einer nicht vollständigen Ablehnung antisemitischer Aussagen, um einiges höher (ca. zusätzlich zum manifesten Antisemitismus 20 %).29 Ebenfalls häufiger wird eine Umwegkommunikation genutzt. Zwischen 13 und 35 % der Bundesbürger stimmen Aussagen, wie z. B. »Reparationsforderungen an Deutschland nutzen oft gar nicht den Opfern, sondern einer Holocaust-Industrie von findigen Anwälten« zu.30 Hier wird kein offener Antisemitismus geäußert, aber ein Schuldverdrängungsmechanismus aktiviert. Einen ähnlichen Weg geht der israelbezogene Antisemitismus, welcher nicht einfach von Israelkritik zu trennen ist. So äußert im Berlinmonitor 2019 fast jeder fünfte Berliner »Die Gründung Israels war eine schlechte Idee« – und noch einmal 20 % lehnen diese Aussage zumindest nicht ab.31 Nimmt man latente antisemitische Einstellungen hinzu, so ist der Einstellungsantisemitismus deutlich weiter verbreitet, allerdings ebenfalls nur bei einer Minderheit der Deutschen. In den letzten Jahren wird wieder ein Anwachsen antisemitischer Straftaten festgestellt.32 Dabei existiert eine beachtliche Dunkelziffer. Diese Entwicklung hat zu einer Einführung von Antisemitismusbeauftragten in einzelnen Bundesländern geführt. Bei den Straftaten gilt, wie bereits bei den Einstellungen, vonseiten der Täter verbleiben sie auf einem geringen prozentualen Niveau. Dies darf aber nicht in der Virulenz des Problems täuschen, ist die Eigenwahrnehmung seitens der Betroffenen doch anders. So äußern drei von vier Juden in Deutschland das Gefühl Diskriminierung zu erleiden. Diese höheren Werte ergeben sich durch die geringe Zahl an Juden: Eine begrenzte Anzahl an Antisemiten reicht aus, um jüdisches Leben in Deutschland zu beeinträchtigen. Eine übersichtlich scheinende Zahl an Straftaten und antisemitischen Handlungen 27 28 29 30 31 32

Decker/Kiess/Brähler, Antisemitistische Ressentiments, 179. Ebd, 196. Samuel Salzborn, Antisemitismus. Geschichte, Theorie, Empirie, Baden-Baden 2014, 142–145. Decker/Kiess/Brähler, Antisemitische Ressentiments, 200. Pickel/Reimer-Gordinskaya/Decker, Berlinmonitor, 59. Recherche und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS), Dokumentation antisemitischer Vorfälle und Unterstützung für Betroffene, Berlin 2019, https://report-antisemitism.de/ (Zugriff am 23.03.2020).

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trifft eine sehr hohe Zahl an jüdischen Mitbürgern. Ergebnisse einer in zwölf europäischen Staaten durchgeführten Umfrage der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte unter 16.300 Juden (2018) erbrachte, dass fast 90 % der Befragten das Gefühl haben, dass in den letzten Jahren der Antisemitismus deutlich zugenommen habe und fast genauso viele (85 %) sehen dies als ein ernst­zunehmendes Problem.33 Antisemitismus bewirke, dass sie ihre jüdische Religion und Identität nicht in der Öffentlichkeit zeigen können, oder zumindest sich dabei Sorgen um Unversehrtheit machen müssten.34 Diese Befunde bestärken in Kombination mit der geringen Zahl an geäußerten antisemitischen Einstellungen das Bild eines »Antisemitismus ohne Antisemiten«.35 Antisemitistische Einstellungen sind speziell unter Menschen aus dem politisch ideologisch rechten Spektrum und Menschen mit dogmatisch-religiöser Einstellung ausgeprägt. Aufgrund spezifischer Herkunfts- und Kommunikationserfahrungen ist gerade der israelbezogene Antisemitismus auch unter Muslimen stärker verbreitet als in anderen Teilen der Bevölkerung. Allerdings handelt es sich um deutliche Minderheiten der Muslime, was einer Pauschalisierung von Antisemitismus als rein muslimischem Antisemitismus entgegensteht.

4  Soziokulturelle Verhältnisse von Muslimen in Deutschland 4.1 Antimuslimische Ressentiments, Islamophobie und antimusli­ mischer Rassismus – Begrifflichkeiten und Verständnis Die Haltung gegenüber »dem Islam« und »den Muslimen« ist in seiner Grundstruktur gut mit dem Antisemitismus vergleichbar. Auch hier wird über die religiöse Zugehörigkeit eine Gruppe konstruiert, welche als Feind der homogenen Eigengruppe angesehen wird. Es werden Verschwörungstheorien, z. B. die des »Bevölkerungsaustausches«, wie Bezüge zu realen Problemen aufgenommen, der Gruppe »der Muslime« zugewiesen und pauschalisiert. Die sich so festsetzenden antimuslimischen Ressentiments weisen Ähnlichkeiten zum Antisemitismus auf, wie z. B. die Ethnisierung der Zugehörigkeit zum Islam. Insgesamt entwickelt sich zum Thema antimuslimischer Ressentiments gerade erst ein belastbarer Forschungsstand, der noch dem Manko eines gewissen Bezeichnungswirrwarrs unterliegt. Aus dem angelsächsischen Raum kommen der Begriff 33 European Union Agency for Fundamental Rights, Experiences and Perceptions of Antisemitism. Second Survey on Discrimination and Hate Crime against Jews in the EU, Brüssel 2018. 34 Pickel/Reimer-Gordinskaya/Decker, Berlinmonitor, 51. 35 Decker/Kiess/Brähler, antisemitische Ressentiments, 194–197.

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Islamfeindlichkeit und der unscharfe Begriff der Islamophobie.36 Er bezeichnet eine Ablehnung und Abwertung von Muslimen wie auch die Angst vor ihnen. Diese Vermengung zweier Aspekte macht seine Anwendung schwierig, greift allerdings einen wichtigen Aspekt antimuslimischer Ressentiments auf – eine starke Wahrnehmung »des Islam« und »der Muslime« als Bedrohung.37 Diese Bedrohungsangst beruht auf einer besonders stark empfundenen kulturellen Fremdheit sowie des Einbezuges einer gefühlten Bedrohung durch Islamisten und IS-Kämpfer sowie islamistischen Terrorismus. Die Wirkung dieser Verbindung von Ressentiments und Bedrohungsängsten beschreibt die Integrated Threat Theory. Sie sieht realistische wie symbolische Bedrohungen als Inkubatoren sozialer Abwertung, wie sie im Modus der Social Identity Theory entstehen. Gerade die mediale Wahrnehmung eines gefährlichen Islam verbunden mit der Sichtbarkeit von Kopftüchern als symbolischer Bedrohung kombinieren sich mit Verschwörungstheorien, die einen »großen Austausch« propagieren, zu einer toxischen Mischung.38 Neben dem Verständnis als Ressentiments wird auch gelegentlich – gerade mit Bezug auf die Ethnisierung der Muslimfeindlichkeit – von antimuslimischem Rassismus gesprochen. Egal, welchen Terminus man nun verwendet, es wird eine soziale Abwertungsstruktur auf Basis einer Fremdzuweisung anhand des Merkmals Religionszugehörigkeit bezeichnet, selbst wenn dieses weitgehend ethnisiert oder kulturalisiert wird. Einfach gesagt: Ohne die Religionszugehörigkeit als nutzbarem Merkmal wäre eine entsprechende Abgrenzung nicht möglich. 4.2 Die Verbreitung antimuslimischer Ressentiments, Islamophobie und antimuslimischen Rassismus in Deutschland Die soziale Lage der Muslime in Deutschland ist von einer starken Abwehrhaltung weiter Teile der nichtmuslimischen Bundesbürger gekennzeichnet. Bereits vor den als »Flüchtlingskrise« titulierten Fluchtbewegungen nach Europa bestanden in großen Teilen der Bevölkerung massive Abwehrhaltungen gegenüber

36 Chris Allen, Islamophobia, Farnham 2010; Erik Bleich, What is Islamophobia. And how much is there? Theorizing and measuring an emerging comparative concept, in: American Behavioral Scientist 55 (2011), 1581–1600. 37 Gert Pickel, Weltanschauliche Vielfalt und Demokratie: Wie sich religiöse Pluralität auf die politische Kultur auswirkt, Gütersloh 2019, 13, 82. 38 Oliver Decker/Johannes Kiess/Elmar Brähler, Antisemitische Ressentiments in Deutschland: Verbreitung und Ursachen, Gießen 2018, 185; oder als Beispiel für entsprechende Theorien: Akif Pirincci, Umvolkung. Wie die Deutschen still und leise ausgetauscht werden, Schnell­ roda 2016.

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Muslimen.39 Mehr als die Hälfte der Deutschen in West und Ost sahen schon 2010 Muslime eher oder sehr negativ. 2017 empfanden es über 40 % als unangenehm, wenn eine Muslimin in die eigene Familie einheiraten würde und nur unwesentlich weniger waren Muslime als Nachbarn unangenehm. Andere Messinstrumente der Umfrageforschung zeigen eine Muslimfeindlichkeit oder antimuslimische Ressentiments bei zwischen 40 % und 20 %, je nachdem welche Studie mit welcher Erhebungsform man zu Rate zieht.40 Allen Studien gemeinsam ist die starke Ablehnung der Muslime. Muslime erscheinen vielen Bürgern fremd, unmodern und bedrohlich.41 So wie eine grundsätzliche Ablehnung bzw. antimuslimischer Rassismus vorliegt, beruht dies auf Gefühlen der Bedrohung. Der Bertelsmann Religionsmonitor zeigt, dass 2017, wie schon 2013, mehr als die Hälfte der Deutschen eine (diffuse) Bedrohungsgefahr durch den Islam empfindet.42 Bemerkenswert ist, dass diese in Ostdeutschland, bei nicht einmal einem Prozent an muslimischer Bevölkerung, sogar etwas stärker ausfällt als in Westdeutschland. Diese Verteilung hat sich über die Fluchtbewegungen 2015 kaum verändert, was auf grundlegende Bedrohungsgefühle hinweist. Ein Erklärungsgrund, warum Angst und Ablehnung besonders stark ausfallen, sind fehlende Kontakterfahrungen mit Muslimen. Gerade in Ostdeutschland ersetzen parasoziale Kontakte reale Kontakte – und diese fallen für Muslime als Gruppe zumeist ungünstig aus.43 Die Vielfalt muslimischer Glaubens­ gemeinschaften spielt in diesen Fremdzuschreibungen keine Rolle. Fehlende Wissensbestände über islamische Glaubensgemeinschaften sowie Probleme in der Unterscheidung von Islam und Islamismus legen eine Grundlage für die Pauschalisierungen. Entsprechend werden Medienmeldungen über IS-Terror, Christenverfolgung in muslimischen Staaten und Übergriffe wie in Köln zusammengezogen, um sich einerseits ein Bild von »dem Islam« zu bilden und andererseits pauschale Zuweisungen vornehmen zu können. Da erweist es sich als ungünstig, dass unter der größten Gruppe der in Deutschland lebenden Muslime konservative bis dogmatische Wertvorstellungen weiter verbreitet sind 39 Detlef Pollack, Wahrnehmung und Akzeptanz religiöser Vielfalt in ausgewählten Ländern Europas: Erste Beobachtungen, in: Detlef Pollack/Olaf Müller/Gergely Rosta/Nils Friedrichs/ Alexander Yendell (Hg.), Grenzen der Toleranz. Wahrnehmung und Akzeptanz religiöser Vielfalt in Europa, Wiesbaden 2014, 13–34, hier 23, 33. 40 Zick/Küpper/Berghan, Verlorene Mitte, 70 ff.; Decker/Brähler, Flucht ins Autoritäre, 102. 41 Pollack, Wahrnehmungen 33. 42 Pickel, Weltanschauliche Vielfalt, 82. 43 Kai Hafez/Sabrina Schmidt, Die Wahrnehmung des Islam in Deutschland, Gütersloh 2015; Gert Pickel/Alexander Yendell, Islam als Bedrohung? Beschreibung und Erklärung von Einstellungen zum Islam im Ländervergleich, in: Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft 10 (2016), 273–310.

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als im Rest der Bevölkerung. Speziell hinsichtlich der Frauenrechte oder der Gleichstellung findet sich in dieser Gruppe eine beachtliche Reserve. Um nicht falsch verstanden zu werden: Zwar finden sich solche Wertvorstellungen unter Muslimen, speziell Sunniten, häufiger, allerdings besitzen sie diese weder exklusiv, noch finden sie sich bei starken Mehrheiten.44 Eine solche Anmerkung ist notwendig, werden diese Befunde gerne seitens Vertretern rechtspopulistischer Parteien genutzt, um die Stimmung gegenüber Muslimen anzuheizen. Gerade diese Instrumentalisierung der Bedrohungsgefühle erweist sich als ein beacht­ licher Push-Faktor für Islam- und Muslimfeindlichkeit im Kontext einer Islamophobie.45 Daraus resultierend verschärft sich die soziale Lage für Muslime und bringt das Risiko eines Rückzugs in, eher dogmatisch ausgerichtete, muslimische Gemeinschaften, wenn nicht gar die Gefahr einer Radikalisierung mit sich.46 4.3 Verbindungen zwischen antimuslimischen Ressentiments und Antisemitismus Selbst wenn der Antisemitismus aufgrund seiner Entstehungsgeschichte und seiner spezifischen psychologischen Aufladung weiterhin als speziell angesehen werden kann, ergeben sich Überschneidungen zwischen der Einschränkung der sozialen Lage von Muslimen wie von Juden. Diese betreffen vor allem die Außensicht. Beide Gruppen sind Ziel von rechtsextremistischen Angriffen und Agitation. So finden sich Personen, die mehreren sozialen Gruppen und ihren Mitgliedern ablehnend und abwertend gegenüberstehen. Gerade unter politisch weit rechts stehenden Bürgern überschneidet sich die Ablehnung von Juden und Muslimen, welche oft durch intersektionale Abwertungen, welche z. B. weibliche Musliminnen treffen, begleitet werden. Solche Verbindungen finden sich auch in christlichen Gemeinden, speziell bei dogmatisch ausgerichteten Gläubigen. Sie gehen gelegentlich Wahlverwandtschaften zu Rechtspopulisten ein. Auf der Gegenseite gibt es zwischen Muslimen und Juden eine Problemwahrnehmung. Dies zeigen Diskussionen um einen spezifischen muslimischen Antisemitismus genauso wie Zweifel an der Priorisierung von Glaube und Demokratie. So wurde in einer mehrere Länder Europas erfassenden Umfragestudie 44 Pickel, Weltanschauliche Vielfalt, 58–61. 45 Gert Pickel/Alexander Yendell, Religion als konfliktärer Faktor im Zusammenhang mit Rechtsextremismus, Muslimfeindschaft und AfD-Wahl, in: Oliver Decker/Elmar Brähler (Hg.), Flucht ins Autoritäre. Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft, Gießen 2018, 217–244, hier 230–233. 46 Maik Filitz/Julia Ebner/Jakob Guhl/Matthias Quendt, Hassliebe: Muslimfeindlichkeit, Islamismus und die Spirale gesellschaftlicher Polarisierung, Jena 2017.

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unter Muslimen eine stärkere Priorisierung des Glaubens gegenüber dem Verfassungsstaat als Leitlinie für das Leben in einer Gesellschaft festgestellt als bei allen anderen Religionsgemeinschaften.47 Ähnliche Vorstellungen finden sich bei evangelikalen und pfingstkirchlichen Christen mit einem eher dogmatischen Glaubensverständnis. Gleiches kann für die jüdische Bevölkerung so nicht angenommen werden. Hier werden unterschiedliche Sichtweisen auf Muslime und Juden erkennbar: Werden erstere als direkte Gefahr empfunden, »überfluten sie doch die eigene Kultur«, sieht man Juden verschwörungstheoretisch als die (dominanten) Drahtzieher hinter diesen Entwicklungen an. Hinter diesen Einschätzungen steht eine Positionsdifferenz: Werden Muslime abgewertet und als der eigenen Gruppe nachgestellt angesehen, gelten Juden als Konkurrenten um Macht und Einfluss. Markant ist auch die mittlerweile sich zuspitzende, weil auch politischstrategisch eingesetzte Diskussion um muslimischen Antisemitismus. Das Aufkommen eines neuen Antisemitismus in Deutschland wird in starkem Umfang durch den Zuwachs von Muslimen sowie muslimischer Zuwanderung erklärt. Dabei ist es zweifelhaft, ob die religiöse Zughörigkeit Grund für eine stärkere Empfänglichkeit von Muslimen für Antisemitismus ist. Vielmehr scheinen überwiegend Vorerfahrungen aus den Herkunftsgebieten vieler zugewanderter Muslime für einen israelbezogenen Antisemitismus verantwortlich zu sein.48 Allerdings, so richtig die Feststellung von häufigerem Antisemitismus, speziell israelbezogenem Antisemitismus, unter Mitgliedern der muslimischen Community ist (lässt man einmal die beachtenswerten Differenzen zwischen verschiedenen muslimischen Glaubensgemeinschaften unstatthaft beiseite), betrifft dies immer nur Minderheiten der Muslime und bildet eine graduelle Differenz im Antisemitismus ab. Vergleichbare bis höhere Antisemitismuswerte finden sich bei politisch-ideologisch rechten Personen.49 Insgesamt stellt der muslimische Antisemitismus ein zu bearbeitendes Problem dar, gleichzeitig wird Antisemitismus immer noch zentral durch den – organisierten – Rechtsextremismus betrieben. Dieser rechtsextremistische Antisemitismus scheint aufgrund von Diskursverschiebungen im Zuge der Erfolge des Rechtspopulismus in jün47 Ruud Koopmans, Assimilation oder Multikulturalismus? Bedingungen gelungener Integration, Berlin 2017, 170–175; Antonius Liedhegener/Gert Pickel/Anastas Odermatt/Alexander Yendell/Yvonne Jeckel, Wie Religion uns trennt und verbindet. Befunde einer Repräsentativbefragung zur gesellschaftlichen Rolle von religiösen und sozialen Identitäten in Deutschland und der Schweiz 2019, Luzern/Leipzig 2019; DOI: 10.5281/zenodo.3560792 (CH)/10.36730/ rtv.2019 (DE) (Zugriff am 23.03.2020). 48 Pickel/Reimer-Gordinskaya/Decker, Berlinmonitor, 58, 66. 49 Ebd., 63 ff.

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gerer Zeit wieder zuzunehmen. Gleichzeitig ist mit der religiösen Gruppe der Muslime unterschiedlicher Glaubensrichtung ein weiteres Ziel rechtsextremistischer Taten hinzugetreten.

5  Religionspädagogische Konsequenzen Diese soziale Situation der beiden Religionsgemeinschaften und vor allem ihrer Mitglieder in einer deutschen Bevölkerung bringen auch für die christlichen Kirchen beachtliche Konsequenzen mit sich. So ist es nicht nur eine religionspolitische Anfrage, wie man sich zu entsprechenden Entwicklungen verhält. Da es die Zugehörigkeit zu einer Religion ist, welche in den Fokus von Hass, Ablehnung und Abwertung kommt, besitzt man in den christlichen Gemeinden die Verantwortung, sich dazu zu verhalten. Nicht nur, weil eine über die Religion definierte Ausgrenzung auch das Christentum einmal treffen könnte, sondern weil auch das Gebot der Nächstenliebe dies nahelegt. Doch die normative Seite ist nicht der einzige Grund, sich im Religionsunterricht mit anderen Religionen und der Sicht auf diese Religionen zu beschäftigen. So fungieren in Deutschland die christlichen Pfarrer als Experten. Wer, wenn nicht sie, müssen sich mit interreligiösen Themen und anderen Religionsgemeinschaften auseinanderzusetzen? In Ostdeutschland stellen christliche – und besonders evangelische – Pfarrer die (teils einzigen) Experten für Religion dar. Dies impliziert eine Verantwortung wie auch die Notwendigkeit entsprechenden interkulturellen und interreligiösen Wissens. In den letzten Jahrzehnten haben die Lehrpläne des christlichen Religionsunterrichtes das Judentum und den Islam als vielfältige Religionsgemeinschaften aufgenommen. Pragmatisch kann es sich immer nur um Stippvisiten in den anderen Religionen handeln. Immerhin werden erste Einblicke vermittelt. Gleichzeitig reicht es nicht aus, nur bei einer deskriptiven Darstellung der Religionsgemeinschaften zu verbleiben, gehen aktuelle gesellschaftliche Auseinandersetzungen doch um andere Themen und innergesellschaftliche Wahrnehmungen. Man müsste sich mit den wechselseitigen Einschätzungen von Juden und Muslimen sowie deren Haltungen genauso auseinandersetzen wie mit den gesellschaftlichen Positionen ihrer unterschiedlichen Gruppen in all ihrer Vielfalt und unter Berücksichtigung potenzieller politischer Implikationen. Anders gesagt: Ein Religionsunterricht, der sich interreligiösen Themen angemessen widmen will, hat notwendigerweise die gesellschaftlichen Implikationen religiöser Pluralität genauso zu berücksichtigen wie Antisemitismus und antimuslimische Ressentiments, Islamophobie und antimuslimischen Rassismus.

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Praktischerweise geschieht dies nicht nur im Klassenraum und unter Nutzung weitgehend steriler Schriften, sondern durch direkte Begegnung, Austausch und teilnehmende Beobachtung. Besuche von Moscheen und Synagogen sollten genauso zum Pflichtprogramm gehören wie Diskussionen mit christlichen Pfarrern. Dies setzt allerdings auch in der Ausbildung junger Vikare, Pfarrer und Priester eine Intensivierung entsprechender Lehrinhalte voraus. In einer modernen und religiös pluralen Gesellschaft kann ein Theologiestudium eben nicht mehr als selbstbezügliche Eigenbetrachtung, sondern muss als reflexive Sicht auf die Welt und andere Religionen geschehen. Zudem ist es notwendig gerade auch im Religionsunterricht Kenntnisse über Rechtsextremismus und gruppenbezogene Vorurteile zu vermitteln, nämlich dann, wenn religiöse Gruppen Ziel dieser Vorurteile und auch von Gewalthandlungen werden.

Prof. Dr. Gert Pickel ist Professor für Religions- und Kirchensoziologie an der Universität Leipzig.

Wo steht die islamische Theologie heute in Deutschland und Österreich? Yasemin El-Menouar

In Deutschland leben heute rund 4,5 Millionen Muslime. Sie sind nach den Katholiken und Protestanten die drittgrößte religiöse Gruppe in Deutschland, die sich allerdings sehr komplex zusammensetzt. Muslime in Deutschland kommen nicht nur aus unterschiedlichen Ländern, sondern gehören auch verschiedenen Glaubensrichtungen des Islam an. Im aktuellen »Religionsmonitor« der Bertelsmann-Stiftung bezeichnen sich rund 60 % der Muslime als Sunniten, jeweils 8 % als Schiiten und Aleviten.1 Muslime sind mehrheitlich schon lange in der Mitte der deutschen Gesellschaft angekommen. Trotzdem müssen die meisten Schülerinnen und Schüler muslimischen Glaubens immer noch auf einen islamischen Religionsunterricht in deutscher Sprache warten. Zwar gibt es mittlerweile an 800 Schulen für etwa 55.000 Schülerinnen und Schüler islamischen Religionsunterricht, doch ist damit die Nachfrage bei Weitem noch nicht gedeckt.2 Auch in der Frage der Ausbildung von Imamen und islamischen Religionsbediensteten für die rund 2.600 muslimischen Gemeinden gibt es bislang kein tragfähiges Konzept in Deutschland. Der Großteil der rund 2.100 hauptamtlichen Imame und Religionsbediensteten wird immer noch im Ausland ausgebildet.3

1 Dirk Halm/Martina Sauer, Muslime in Europa. Integriert, aber nicht akzeptiert? Gütersloh 2017, 16; Yasemin El-Menouar, The role of Muslim religious institutions in migration and integration policies: the German case study, in: Patrycja Sasnal (Hg.), Cooperation with Religious Institutions as a European Policy Tool, Barcelona 2019, 42–43. 2 Mediendienst Integration, Religion an Schulen. Islamischer Religionsunterricht in Deutschland, Berlin 2018, https://mediendienst-integration.de/fileadmin/Dateien/MDI_Informationspapier_ islamischer_Religionsunterricht_April_2018.pdf (Zugriff am 20.01.2020). 3 Deutscher Bundestag, Ausbildungsprogramme für Imame und islamische Religionsbedienstete in Deutschland fördern, Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Drucksache 19/6102), Berlin 2018.

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1  Die Entwicklung der Islamischen Theologie Die Gründe für die zögerliche institutionelle Anerkennung des Islam sind komplex und liegen hauptsächlich in Versäumnissen vergangener Jahrzehnte.4 So sprach sich der Wissenschaftsrat, das wichtigste Beratungsgremium der deutschen Bildungspolitik, erst Anfang 2010 dafür aus, das Fach Islamische Theologie an deutschen Hochschulen zu etablieren.5 Umso schneller verlief die Umsetzung der Empfehlungen des Wissenschaftsrats.6 Bereits zum Wintersemester 2010/2011 führte die Goethe-Universität in Frankfurt am Main einen BA-Studiengang »Islamische Studien« ein und nahm dadurch eine Pionierrolle ein.7 Mittlerweile bietet das Frankfurter Institut für Studien der Kultur und Religion des Islam (ISKRI) auch einen Masterstudiengang »Islamische Studien« an. Ab 2011 förderte das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) den Aufbau von vier weiteren Zentren für Islamische Theologie mit insgesamt 24 Professuren: Ȥ Das Zentrum für Islamische Theologie der Wilhelms-Universität Münster (ZITM) bot als erste Hochschule ein Studium für Lehramtsausbildung für den Islamunterricht an. Heute können in Münster Islamische Theologie sowie Islamische Religionslehre im Bachelor- und Masterstudiengang studiert werden, wobei der Schwerpunkt auf der Systematischen Theologie liegt. Ȥ Das Department Islamisch-Religiöse Studien (DIRS) der Friedrich-­Alexander-­ Universität Erlangen-Nürnberg bietet seit 2012 »Islamisch-religiöse Studien« im Bachelorstudiengang an. Hinzu gekommen sind inzwischen zwei Masterstudiengänge: ein Forschungsmaster für Islamisch-Religiöse Studien sowie ein interdisziplinärer Master zum Themenbereich Medien–Ethik–Religion. Ȥ Am Zentrum für Islamische Theologie (ZITh) der Universität Tübingen können Studierende den Bachelor »Islamische Theologie« sowie Master­ abschlüsse für »Islamische Theologie im europäischen Kontext« und »Islamische Praktische Theologie (Seelsorge)« erwerben. Zudem bietet das Zentrum den Studiengang »Islamische Religionslehre« an. 4 Rauf Ceylan/Andreas Jacobs, Islam als Beruf. Beschäftigungsperspektiven für Absolventen der Studiengänge »Islamische Theologie« in Deutschland, Berlin 2018, 3 f.; El-Menouar 2019. 5 Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen (Drucksache 9678–10), Berlin 2010. 6 Mathias Rohe, Der Islam in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme, München 2016, 293–294. 7 Ertuğrul Şahin, Etablierung der islamischen Theologie an deutschen Universitäten: Herausforderungen, Erwartungen, Perspektiven, in: Institut für Studien der Kultur und Religion des Islam, ZIS – Zeitschrift für islamische Studien, 1 (2011), Frankfurt am Main 2011, 6–29, hier 12 f.

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Ȥ Am Institut für Islamische Theologie (IITO) der Universität Osnabrück werden der Fachbachelor und Fachmaster »Islamische Theologie« sowie verschiedene Lehramtsstudiengänge angeboten. Geplant ist derzeit, »Soziale Arbeit« als neuen Studienschwerpunkt einzurichten. Zwischen 2014 und 2017 schrieben sich rund 5.300 Studierende in Bachelorund Masterstudiengänge für Islamische Theologie sowie in Studiengänge für das Lehramt an Schulen ein. Selten ist an deutschen Universitäten ein Fach so rasant gewachsen. 2016 erwarben die ersten Studierenden einen Bachelor-Abschluss im Fach Islamische Theologie. Ein Jahr später wurden erstmals Staatsexamina für islamische Religionslehrer abgelegt.8 Im Jahr 2016 wurde das Fach Islamische Theologie evaluiert. Die Bewertung fiel positiv aus, sodass die Förderung verlängert wurde. Insgesamt stellt das BMBF von 2011 bis 2024 rund 52,5 Millionen Euro für inzwischen sieben Standorte bereit. 2019 kamen zwei weitere Institute für Islamische Theologie hinzu: Das Seminar für Islamische Theologie an der Universität Paderborn ist derzeit am Bachelorstudiengang »Komparative Theologie der Religionen« und am Masterstudiengang »Theologien im Dialog« beteiligt. Weitere Angebote befinden sich im Aufbau. Am Berliner Institut für Islamische Theologie der Humboldt-Universität wurde der Studienbetrieb mit dem Bachelorstudiengang »Islamische Theologie« im Wintersemester 2019/20 aufgenommen. Dabei wird ein neuer wissenschaftlicher Ansatz verfolgt: Sunnitische und schiitische Theologie sollen im Vergleich und in ihrer Wechselwirkung studiert werden. In den kommenden Jahren will das Institut zusätzlich die Masterstudiengänge »Islamische Theologie« und »Islam und Gesellschaft« sowie Lehramtsstudiengänge anbieten. Derzeit sind in Deutschland insgesamt etwa 2.500 Studierende in den Fächern Islamische Theologie und Religionspädagogik eingeschrieben. Davon studieren etwa 100 an den Pädagogischen Hochschulen in Freiburg, Karlsruhe, Ludwigsburg und Weingarten. Baden-Württemberg hatte das Fach »Islamische Theologie/Religionspädagogik« bereits 2007 eingeführt und fördert seitdem dessen wissenschaftliche Verankerung. Die Angebotsstruktur in Österreich ist der in Deutschland sehr ähnlich.9 Lehrerinnen und Lehrer für islamischen Religionsunterricht werden zwar schon seit 1998 an der Islamischen Religionspädagogischen Akademie (IRPA) in Wien 8 Ceylan/Jacobs 2018, 4. 9 Hansjörg Schmid/Noemi Trucco, Bildungsangebote für Imame. Ein Ländervergleich aus Schweizer Perspektive, Freiburg i. Br. 2019, 43–46.

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ausgebildet, wobei die theologische Ausbildung erst seit 2004 in deutscher Sprache erfolgt. In Österreich gibt es seit 1982/1983 islamischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen. Aber erst im Wintersemester 2013/2014 bot die Universität Innsbruck ein Bachelorstudium »Islamische Religionspädagogik« an. 2017 wurde der Fachbereich in ein eigenständiges Institut für Islamische Theologie und Religionspädagogik umgewandelt. Der Fokus des Instituts liegt weiterhin auf dem Religionsunterricht und der Qualifizierung von Lehrkräften. Gleichzeitig wurde an der Universität Wien das Institut für Islamisch-Theologische Studien eingerichtet, das mit dem Bachelorstudiengang »Islamisch-Theologische Studien« seit 2018 zusätzlich die wissenschaftliche Ausbildung von islamischen Theologinnen und Theologen anbietet.

2  Probleme und Hindernisse Die Schwierigkeiten, die die Etablierung der Islamischen Theologie im Wissenschaftssystem begleiteten, sind in Deutschland und Österreich ebenfalls vergleichbar. Bereits die Besetzung der Stellen an den Universitäten mit wissenschaftlichem Personal stellt bis heute eine Herausforderung dar. Denn die Professorinnen und Professoren müssen nicht nur eine qualifizierte theologische Ausbildung besitzen, sondern auch in der Lage sein, auf Deutsch zu lehren. 2011 bis 2016 wurden in einem von der Stiftung Mercator geförderten, standortübergreifenden Graduiertenkolleg für Islamische Theologie 16 Nachwuchswissenschaftlerinnen und ‑wissenschaftler ausgebildet. Eine weitere Hürde stellt die Zusammenarbeit mit den islamischen Verbänden dar. In Deutschland haben Religionsgemeinschaften ein verfassungsrechtlich garantiertes Mitspracherecht, wenn es um Lehrinhalte und Personal geht. In Bezug auf den Islam ist die Repräsentationsfrage jedoch ungeklärt, sodass über sogenannte Beiräte die Verbände in die Islamische Theologie an den Hochschulen eingebunden werden.10 Die Verbände sehen in der Islamischen Theologie aber eher einen »Frömmigkeitsverstärker« und weniger eine akademische Disziplin.11 Zudem ist die Mehrheit der Professorinnen und Professoren den islamischen Beiräten gegenüber kritisch eingestellt: Einerseits würden die isla10 Şahin 2011, 18. 11 SVR – Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration, Viele Götter, ein Staat: Religiöse Vielfalt und Teilhabe im Einwanderungsland. Jahresgutachten des SVR-Migration 2016 mit Integrationsbarometer, Berlin 2016, https://www.svr-migration.de/ wp-content/uploads/2016/04/SVR_JG_2016-mit-Integrationsbarometer_WEB.pdf (Zugriff am 21.01.2020), 119.

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mischen Beiräte der Tradition islamischer Wissensproduktion widersprechen, andererseits zu stark in die Wissenschaftsfreiheit eingreifen.12 Die Islamische Theologie gerät aber auch angesichts der Erwartungshaltungen in Politik und Öffentlichkeit immer wieder unter Druck.13 So etwa hat Bülent Ucar, Professor für Islamische Religionspädagogik an der Universität Osnabrück, jüngst einen paternalistischen Beobachtungsmodus im Zuge einer zunehmenden islamkritischen Grundhaltung in der Gesellschaft ausgemacht und scharf kritisiert.14 Von gesellschaftlicher Seite wird die islamische Theologie immer noch vor allem als ein Instrument zur Integration betrachtet und zumeist auf die Ausbildung von Imamen und Islamlehrern reduziert.15 Dabei haben die meisten Zentren für Islamische Theologie stets darauf bestanden, dass für sie die wissenschaftliche Qualifizierung im Vordergrund stehe und nicht eine berufspraktische Ausbildung. Lediglich die Universität Osnabrück hat in der Vergangenheit auch Weiterbildungskurse gezielt für Imame angeboten. Gegenwärtig wird dort ein Modellprojekt für eine deutschsprachige und universitär angebundene Imam-Ausbildung vorbereitet.16 Inwiefern das Projekt allerdings umsetzbar ist und mit welchen Ressourcen, muss sich erst zeigen. Bislang haben nur vereinzelt Absolventen der Studiengänge der Islamischen Theologie eine Anstellung als Imam erhalten. Das liegt auch an der bislang fehlenden Akzeptanz der Moscheegemeinden. Immer noch ist in den Gemeinden die Befürchtung verbreitet, dass die institutionelle Verwissenschaftlichung den religiösen Glauben deformieren könne.17 Selbst unter den Studentinnen und Studenten der Islamischen Theologie kommt es immer wieder zu Missverständnissen. Vielen fällt es noch schwer, zwischen Glauben und Wissenschaft zu trennen. Mehr und mehr setzt sich aber ein Verständnis davon durch, was es bedeutet, Theologie an einer säkularen Universität zu studieren: Die Universität wird zunehmend von den Studierenden als ein Ort begriffen, an dem der Glauben nicht bestätigt, sondern reflektiert wird.

12 Jan Felix Engelhardt, Islamische Theologie im deutschen Wissenschaftssystem. Ausdifferenzierung und Selbstkonzeption einer neuen Wissenschaftsdisziplin, Wiesbaden 2017, 332 f. 13 SVR 2016, 118. 14 Martina Schwager, Existenzberechtigung des Islam wird wieder infrage gestellt. epd-Gespräch mit Bülent Ucar, 01.01.2020, https://www.evangelisch.de/inhalte/164460/01-01-2020/experteexistenzberechtigung-des-islam-wird-wieder-infrage-gestellt (Zugriff am 20.01.2020). 15 Şahin 2011, 7; Engelhardt 2017, 327. 16 Vgl. Rauf Ceylan, Imamausbildung in Deutschland, Frankfurt am Main 2019, https://aiwg.de/ wp-content/uploads/2019/06/AIWG-Expertise_Imamausbildung.pdf (Zugriff am 20.01.2020). 17 Ceylan/Jacobs 2018, 7.

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3  Chancen und Perspektiven Die neue Disziplin Islamische Theologie befindet sich in Deutschland und Österreich heute noch in der Aufbauphase. Innerhalb der Islamischen Theologie in Europa haben die sieben deutschen und zwei österreichischen Standorte aber bereits eine Vorreiterrolle übernommen. So legt die Islamische Theologie in Deutschland und Österreich besonderen Wert auf eine Reflexionskultur und macht deutlich, »dass es weit über Imame hinaus um eine fundierte religiöse Bildung und Diskursfähigkeit für unterschiedliche muslimische Zielgruppen, aber auch für die Gesellschaft insgesamt geht«18. Empirisch gesehen ist der Islam schon lange auf dem Weg, sich zu europäisieren.19 Im Unterschied zu muslimischen Ländern vereint Europa Muslime aller islamischen Glaubensströmungen. Und anders als in den meisten muslimischen Staaten, in denen Glaubensfreiheit und Menschenrechte oft einen schweren Stand haben, bietet Europa eine größere Freiheit des Denkens und Möglichkeiten der offenen Auseinandersetzung mit dem eigenen Glauben. Deshalb werden Debatten über Glaubensfragen hier oft sehr kontrovers zwischen den verschiedenen Lesarten des Islam geführt. Die Islamische Theologie in Deutschland und Österreich greift diese europäische Vielstimmigkeit der innerislamischen Debatte auf und bringt die verschiedenen Theologien miteinander ins Gespräch. So formuliert das neue Institut für Islamische Theologie der Berliner Humboldt-Universität ausdrücklich den Anspruch, eine Theologie der Vielfalt zu vertreten, die vergleichend sunnitische und schiitische Strömungen berücksichtigt. Das Fach Islamische Theologie baut aber auch Brücken zu anderen Religionen. Die Kooperation mit den christlichen Theologien ist deshalb ein zentrales Element des Islam-Studiums an deutschen Hochschulen. Der inhaltliche Aufbau des Faches zeichnet sich zudem durch eine starke Einbindung nichttheologischer Wissensbestände aus und zeigt sich sehr offen gegenüber Nachbardisziplinen, ohne deshalb den klassischen Kanon islamischer Theologie aus den Augen zu verlieren.20 Darin offenbart sich der Anspruch, ein theologisches Profil zu entwickeln, das sowohl modernen gesellschaftlichen Werten als auch der islamischen Wissenschaftstradition entspricht, und das im Einklang mit den Alltagserfahrungen europäischer Muslime steht. Dabei möchten die Vertreterinnen und Vertreter der Islamischen Theologie auch in 18 Schmid/Trucco 2019, 51. 19 El-Menouar, Yasemin, Musulmans en Europe. Choisir: revue culturelle, Nº. 687, Genf 2018, 20–24, hier 23 f. 20 SVR 2016, 114.

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die muslimische Glaubensgemeinschaft hineinwirken.21 Das ist ein längerer Prozess, der sicherlich noch viel Zeit brauchen wird. Um den Austausch der Islamischen Theologie mit Wissenschaft und Gesellschaft in Deutschland zu stärken, wurde 2017 die Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft (AIWG) gegründet. Finanziert wird die Akademie bis zum Jahr 2022 vom BMBF und der Stiftung Mercator. Die AIWG vernetzt die Universitätsinstitute der Islamischen Theologie untereinander und verbessert deren Zusammenarbeit. Sie will aber auch eine Transferfunktion zwischen Wissenschaft und Gesellschaft wahrnehmen: Die rund 20 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geben auch Antworten auf islambezogene Fragen im deutschen Kontext und beteiligen sich am öffentlichen Diskurs über den Islam. Die Zentren für Islamische Theologie und die AIWG sind inzwischen markante und internationale Orte der religiösen Vielfalt in Europa geworden. Die akademische Selbstreflexion in einer säkularen Umgebung und die kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Glaubenswurzeln ermöglichen neue Wege der islamischen Wissensproduktion. Damit leisten die Islamischen Zentren in Deutschland und Österreich einen wichtigen Beitrag zur islamischen Theologie, der auch über Europa hinaus Wirkung in der islamischen Welt entfalten kann. Im gesellschaftlichen Dialog über den Islam stärken die Zentren die wissenschaftliche Perspektive und tragen zur Versachlichung bei. Damit gewinnt die ganze Gesellschaft. Denn ein heimisch gewordener Islam ist keine Bedrohung, sondern eine Bereicherung für die gelebte religiöse Vielfalt.

Dr. Yasemin El-Menouar ist Senior Expert – Religion, Werte und Gesellschaft bei der Bertelsmann Stiftung.

21 Engelhardt 2017, 331.

Jüdisch-deutsches Denken im 21. Jahrhundert – eine persönliche Perspektive Micha Brumlik

0 Vorbemerkung Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland steht zu Beginn des 21. Jahrhunderts, zumal seit dem Anschlag auf die Synagoge von Halle im Jahr 2019, vor einer neuen Situation. Der Anschlag auf die Synagoge in Halle am Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, ein Anschlag, der zwei Menschen das Leben kostete, markiert einen Wendepunkt in der Geschichte der Bundesrepublik – obwohl dies keineswegs der erste antisemitische Anschlag mit tödlichen Folgen war. Schon in der frühen Bundesrepublik waren Hakenkreuzschmierereien nicht selten, sodann deponierten am 9. November 1969 Mitglieder der linksradikalen Tupamaros eine Bombe im Jüdischen Gemeindezentrum West-Berlins. So starben am 13. Februar 1970 sieben Mitglieder der Jüdischen Gemeinde München, Holocaustüberlebende, bei einem Brandanschlag. Schließlich wurden am 19. Dezember 1980 in Erlangen der jüdische Verleger Shlomo Lewin und seine Frau Frida Poeschke aus antisemitischen Gründen kalt­blütig erschossen. Der Anschlag auf die Hallenser Synagoge vom Oktober 2019 markiert gleichwohl einen Wendepunkt, weil er – der höchste jüdische Feiertag, eine Syna­goge – symbolisch geradezu übercodiert war: Bei dieser Zielwahl kann es keinen Zweifel mehr daran geben, dass es in erster Linie um Juden und Judentum – und auch nicht mehr vorgeblich um den Staat Israel – ging; unbeschadet des Umstandes, dass der Täter auch homophob, islamophob und nicht zuletzt zutiefst frauenfeindlich eingestellt ist. In seinem Falle kam zusammen, was meist immer zusammengehörte: Hass auf selbstbewusste Frauen, auf Homosexuelle, Migranten und Muslime sowie vernichtender Hass auf jüdische Menschen, die jüdische Religion und die jüdische Kultur. All das getrieben von der paranoiden Wahnidee, Juden wollten die »weisse Rasse« durch Unterstützung von Homosexualität und Frauenrechten zum Aussterben bringen und durch Förderung von Immigration »umvolken«. In den Reaktionen auf Halle haben jüdische Intellektuelle wie der Publizist Richard Schneider oder der Historiker Michael Brenner wieder zur Disposi-

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tion gestellt, Deutschland zu verlassen, während der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, in kämpferischer Weise erklärt hat, das Feld auf keinen Fall den neuen Ewig-Gestrigen zu überlassen. Bei Schuster und anderen zeichnet sich sogar so etwas wie ein neuer, deutsch-jüdischer Verfassungspatriotismus ab.

1 Rückblick Vor allem geht es um die Frage, wie und unter welchen Bedingungen nach dem industriellen Massenmord an sechs Millionen europäischen Juden, des »Holocaust« oder der »Shoah« jüdisches Leben in der Bundesrepublik Deutschland wieder möglich ist. Jüdische Gemeinden im Nachkriegsdeutschland,1 nicht zuletzt in Berlin, wenden bekanntlich erhebliche Anteile ihrer oftmals nicht übermäßig üppig bemessenen finanziellen Mittel für ein jüdisches Schul- und Unterrichtswesen auf, ohne dass es – in der Regel – zureichende Belege dafür gibt, dass dieser Aufwand sich tatsächlich lohnt. Dazu liegen unterschiedliche Befunde vor: So vermutet Schmidt-Weil in ihrer bisher unveröffentlichten Dissertation von 2007, dass das tatsächlich nicht der Fall ist, während Sandra Anusiewicz–Baer in ihrem 2017 publizierten Buch »Die jüdische Oberschule in Berlin« den Erfolg jedenfalls dieser jüdischen Schule für die Förderung jüdischen Selbstverständnisses empirisch nachweisen kann. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang auch die »Hochschule für Jüdische Studien« in Heidelberg sowie die »School of Jewish Theology« in Potsdam. Doch ist es, um ein vollständiges Bild zur aktuellen geistigen Lage des deutschen Judentums zu erhalten, unerlässlich, noch einmal zurückzublicken: Mit dem im Jahr 2002 erfolgten Abschluss des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland sowie vor allem mit der Einweihung der neuen Wuppertaler Synagoge durch den damaligen israelischen Staatspräsidenten Katzav und Bundespräsident Rau im Dezember desselben Jahres ist das deutsche Nachkriegsjudentum damit vom deutschen Staat, vor allem aber von sich selbst anerkannt worden. Unausweichlich stellt sich daher nicht nur dem Autor dieser Zeilen die Frage, ob man sich weiterhin als fleischgewordenes Denkmal des Holocaust oder auch als kulturell kreative Minderheit verstehen will.

1 Michael Brenner (Hg.), Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart, München 2012.

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Die deutsche Situation zeichnet sich bisher dadurch aus, dass jüdischer Kultur entweder etwas unaufhebbar Museales oder das Zeichen des Epigonalen anzuhaften scheint. Tatsächlich dürfte es dem heutigen deutschen Judentum schwerfallen, das Niveau und die Intensität dessen zu erreichen, was gemeinhin als deutsch-jüdische Symbiose bezeichnet wird und durch die Namen von Dichterinnen und Schriftstellern wie Heinrich Heine, Rahel Varnhagen, Berthold Auerbach, Jakob Wassermann oder Kurt Tucholsky, von Malern wie Lesser Ury oder Max Liebermann, von Philosophen wie Hermann Cohen, Franz Rosenzweig oder Martin Buber in seinem Reichtum und seiner Fülle nur unzureichend gekennzeichnet ist. Gleichwohl: Auch die Generation am Ende oder nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges geborener jüdischer Intellektueller hat ihren Beitrag erbracht: angefangen bei dem Polemiker Henryk Broder über die Historiker und Soziologen Dan Diner, Michael Bodemann, Julius Schoeps sowie Michael Wolffsohn, die Regisseure Benjamin Korn und Aryeh Zinger bis zu den Schrifstellerinnen Barbara Honigmann, Viola Roggenkamp, Irene Dische, Ester Dischereit sowie der aus Bagdad stammenden Mona Yahia bis zu Intellektuellen wie Cilly Kugelmann, Edna Brocke, Salomon Korn und Rachel Salamander, aber auch zu populären Autoren wie Rafael Seligmann und Lea Fleischmann – wir waren bei allen bedeutsamen Debatten der alten Bundesrepublik über ihr Verhältnis zur nationalsozialistischen Vergangenheit mit dabei, wir haben mit wechselnden Interventionen – von der Zeit der Studentenrevolte bis zum Aufstieg der Grünen – unsere nicht-jüdischen Generationsgenossen begleitet und immer wieder provoziert. Dabei zehrte diese Generation von der Marginalität eines nonkonformistischen Blicks auf das oft erstarrte jüdische Milieu und eine wesentlich als verlogen erfahrene deutsche oder auch jüdische Gesellschaft. Heute nun lässt sich das Wirken einer jüngeren Generation jüdischer Intellektueller beobachten. So sind es die heute Fünfzigjährigen – unter ihnen Literaten und Journalisten wie Maxim Biller und Richard Schneider, wie der Leiter des Instituts für Jüdische Geschichte an der Universität München, Michael Brenner, der Duisburger Geschichtsprofessor Stefan Rohrbacher, der Heidelberger Religionsphilosoph Daniel Krochmalnik oder die feministische Rabbinerin Elisa Klapheck –, die im kritischen Blick auf die deutsch-jüdische Geschichte Fundamente eines neuen deutschen Judentums legen. In Auseinandersetzung mit der jüdischen Kultur der Weimarer Republik, der Judenfeindschaft des 19. Jahrhunderts, dem »sokratischen Judentum« Moses Mendelsohns oder der ersten Rabbinerin der Welt, der 1935 ordinierten Regina Jonas, nehmen sie Traditionsfäden auf, die unwiderruflich zerrissen schienen und verknüpfen sie in all ihrer Brüchigkeit mit jüdischer Gegenwart.

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Allerdings: Es scheint, als befinde sich nicht nur das deutsche, sondern auch das europäische, das nordamerikanische, ja sogar das israelische Judentum heute, mehr als 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Massenvernichtung sowie mehr als 60 Jahre nach der Gründung des Staates Israel, in einer Phase dramatischer Veränderungen – vom Zionismus zum Postzionismus. Aber was heißt »Postzionismus«? Postzionismus, das ist – abgesehen von Revisionen des Gründungsgeschehens des Staates – im heutigen Israel allen Wahlergebnissen zum Trotz vor allem eine kulturelle Befindlichkeit, ein mehr oder minder offenes, mehr oder minder stolzes Bekenntnis zu den kulturellen Wurzeln des Judentums, genauer, zu einer Sprache, der Hebräischen Sprache, die sich über die Brüchigkeit politischer, ethnischer und nationaler Organisationsformen des jüdischen Staates hinweg als wahre Heimat erweist. Demgegenüber steht die in sich vielfältige Gemeinschaft der Juden im gegenwärtigen Deutschland vor der Herausforderung, unter Rückbesinnung und Neuinterpretation der vor allem religiösen Quellen des Judentums, das Selbstverständnis der pluralistisch gewordenen Bundesrepublik mitzugestalten. Ohne Aufgabe der emotionalen Beziehung zum Staat Israel sowie angesichts eines über die Generationen denn doch nachlassenden Traumas, und im nicht mehr ganz so sicheren Bewusstsein, auch ohne ethnischen Konnex zur deutschen Gesellschaft zu gehören, bildet sich heute eine jüdische Kultur, die schon allein deshalb nicht genau zu definieren ist, weil die seit den 1990er Jahren in die Bundesrepublik eingewanderten sowjetischen Juden erst vor kurzem begonnen haben, ihre eigenen, höchst speziellen Erfahrungen zu artikulieren.2

2  Deutsches Judentum 2.0? Es war der aus der Ukraine stammende Historiker Dimitrij Belkin, der am Jüdischen Museum in Frankfurt am Main eine Ausstellung unter dem Titel »Deutsches Judentum 2.0« kuratierte. Daher: Wenn nicht alles täuscht, wird die Zukunft jüdischer Kultur auf der Schnittstelle stets schmerzhaften Eingedenkens an die unwiederbringlichen Verluste der Shoah sowie einer unter vielen Stimmen ganz unterschiedlicher ethnischer und religiöser Gruppen in der Immigrationsgesellschaft der Bundesrepublik liegen. Nicht zuletzt angesichts des Umstandes, dass seit etwa 30 Jahren die hiesige jüdische Gemeinschaft in ihrer überwiegenden Anzahl aus Immigranten aus der ehemaligen Sowjetunion 2

Yfaat Weiss/Lena Gorelik, Die russisch-jüdische Zuwanderung, in: Brenner (Hg.), Geschichte, 379–418.

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bzw. deren Kindern und Enkeln besteht. Damit könnte jüdische Kultur auf einzigartige Weise die schuldhafte, nationalsozialistische Vorgeschichte der Bundesrepublik mit ihrer hoffentlich liberalen, weltoffenen, wenn auch gewiß nicht konfliktfreien Zukunft verbinden. Ein Beispiel dafür sind die aus der exsowjetischen Immigration kommenden Autorinnen wie Olga Grasnjowa, Jahrgang 1984, Katia Petrowskaja, Jahrgang 1970 und Elena Gorelik, Jahrgang 1981. Die Schriftstellerin und Publizistin Katja Petrowskaja wurde 1970 in Kiew geboren, lebt heute als Mutter einer Tochter in Berlin und erhielt 2013 einen der wichtigsten Literaturpreise für deutsche Literatur, den vor allem dem literarischen Nachwuchs gewidmeten »Ingeborg Bachmann Preis«. Ihr 2014 erschienenes Buch »Vielleicht Esther« stellt eine literarische Spurensuche dar, ein Gedächtnisabenteuer, das die Autorin in das verzweigte Gewebe einer jüdisch-polnisch-russisch-österreichischen Familie durch das »Jahrhundert der Extreme« – so der Historiker Eric Hobsbawm – und durch die von einem anderen Historiker, Timothy Snyder, beschriebenen »Bloodlands«, also durch die von Hitler und Stalin gepeinigten Länder der Ukraine und Weißrusslands führt. So wird Petrowskajas Buch zur Schilderung einer geschichtlichen Erfahrung, aber auch zum Nachdenken darüber, was es heißen kann, Geschichte zu erfahren. Soviel zur künftigen jüdischen Kultur in Deutschland. Wie ist es aber um die religiöse Lage bestellt? Wie steht es um das Verhältnis von Orthodoxie, von konservativem und Reformjudentum?

3  Moderne Orthodoxie3, Zionismus, Reformjudentum4 Bekanntlich haben spätestens 1967 nach dem Sechs-Tage-Krieg die offiziellen Organisationen des US-amerikanischen Reformjudentums ihre kritische Haltung zu Israel und dem Zionismus aufgegeben, in Jerusalem eine Zweigstelle seiner zentralen Ausbildungsstätte, des Hebrew Union College etabliert und damit ihre bisher auf die Diaspora zentrierte Theologie wesentlich korrigiert. Ohnehin ließ die Katastrophe der industriellen Massenvernichtung von sechs Millionen europäischer Juden durch das nationalsozialistische Deutschland keinen Raum mehr für eine fortschrittsgläubige Geschichtstheologie. Dass die Gründung des Staates Israel überdies die assimilationistische Reformtheologie in praxi vor schwere Herausforderungen stellte, liegt auf der Hand. 3 Mordechai Breuer, Jüdische Orthodoxie im Deutschen Reich 1871–1918, Frankfurt am Main 1986. 4 Michael A. Meyer, Response to Modernity. A History of the Reform Movement in Judaism, Oxford/New York 1988.

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Wie ist es angesichts dessen um die »religionspolitische« Lage des deutschen Judentums derzeit, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, bestellt? Um das beantworten zu können, ist ein historischer Rückblick unerlässlich. Derzeit ist das religionsverfassungsrechtlich anerkannte Judentum durch zwei, wenn nicht drei unterschiedliche Denominationen geprägt: Eine nach wie vor orthodoxe, eine kleinere konservative und eine wachsende reformjüdische Richtung mit – wie bereits anfangs erwähnt – je eigenen Rabbinerseminaren, etwa – für die Orthodoxie – das Lauder Seminar in Berlin – oder – für das liberale Judentum – das Institut für jüdische Theologie an der Universität Potsdam. Historisch zeichnet sich folgendes Bild ab: Die auf dem Gebiet der Westzonen nach 1948 wieder erstehenden Gemeinden setzten sich überwiegend aus eher traditionell gesonnenen überlebenden, polnischen Juden zusammen, die gerade nach der Katastrophe an der Einheit und Unverbrüchlichkeit religiösen Lebens festhalten wollten. Nach der deutschen Wiedervereinigung und dem mit ihr verbundenen Abzug der US Army, welche Juden, die konservative oder Reformgottesdienste besuchen wollten, Ausweichmöglichkeiten geboten hatten, entstanden in einigen Universitätsstädten, aber auch größeren Gemeinden kleinere Gruppen, die konservative oder liberale Gottesdienste abhalten wollten, Gruppen, die sich durch einen überdurchschnittlich hohen Anteil an Akademikern, Frauen und Übertrittswilligen bzw. bereits Konvertierten zusammensetzten. So gründete sich zunächst in Deutschland im Kontrast zu den im Zentralrat zusammengeschlossenen Einheitsgemeinden 1997 die »Union progressiver jüdischer Gemeinden und Gemeinschaften in Deutschland, Österreich und der Schweiz«. Was heißt in diesem Zusammenhang »progressives«, was »Reformjudentum«? Es war das Reformjudentum, beginnend im 18. Jahrhundert mit Moses Mendelsohn, David Friedländer und Lazarus Bendavid, gefolgt von Abraham Geiger und anderen, die erstens einen über Jahrhunderte als fraglos überlieferten Glauben zunächst auf wenige moralische Prinzipien reduzierten und die liturgischen Formen jenen protestantischer Gottesdienste anglichen. Die damit entworfene Lehre eines »ethischen Monotheismus« hatte zur Folge, dass der Gott des Judentums und der ganzen Menschheit dementsprechend seines partikularen Kontextes in der jüdischen Geschichte und im Lande Israel entkleidet wurde, und er sich von einem personalen Gott zu einem eher unpersönlichen moralischen Prinzip wandelte. Das Reformjudentum verkörpert mithin eine doppelte, wenngleich jeweils halbierte Modernisierung: Indem der jüdische Glaube im Reformjudentum nicht auf seinen Eigensinn, d. h. auf Geschichte und Existenzverständnis, sondern auf Moral hin ausgelegt wurde, drohte er, wie alle Aufklärungsreligionen, zur ausschließlich moralischen Erbauung herabzu-

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sinken; indem er zudem konsequent universalisiert wurde, wurde er zwar zum angemessenen Glauben moderner Bürger einer Staatsnation, büßte dafür jedoch seine spezifisch historische Form und damit existenzielle Tiefe ein. Die jüdischen Theologien der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts, die Philosophien von Baeck, Rosenzweig und Buber haben dies korrigiert, doch dauerte es lange, bis ihre Lehren in die Theologie des Reformjudentums Eingang gefunden haben. Spätestens der Schock der Shoah und die Gründung des Staates Israel haben diesen Umbau der theologischen Fundamente ebenso erzwungen wie wir heute eine behutsame Rückkehr zu stärkeren liturgischen Verbindlichkeiten beobachten können. Indem aber das Reformjudentum aufgrund seiner Prinzipienorientierung stärker als die anderen liturgischen Strömungen die epochale Frage der Emanzipation der Frauen als erste aufgenommen hat, Frauen im Gottesdienst und bei der Bestallung zum Rabbiner- und Kantorenamt gleichstellt, hat es vorweggenommen, was etwa die konservative Strömung später mühsam, aber stets im Rahmen der halachischen Auslegung gleichermaßen erreicht hat. Die Widerstände, mit denen das Reformjudentum etwa im Staat Israel bis heute zu rechnen hat, sind Ausdruck einer Glaubenshaltung, die heute als Neo- oder Ultraorthodoxie gilt, aber alles andere als das alte, ursprüngliche Judentum darstellt, sondern im Kern kaum weniger modern ist als die Reform selbst. Zur gleichen Zeit und im Widerspruch zum Reformjudentum entstanden, lässt sich die moderne Orthodoxie im strengen Sinne als reaktiv bezeichnen, systematisch wie auch politisch – entstand sie doch gleichermaßen im Schutze politischer Macht, in diesem Fall unter dem Schutz der reaktionären, das revolutionäre Frankreich in die Knie gezwungen habenden Preußen und Österreich. In der Gestalt des Moses Sofer, einem Zeitgenossen Jacobsons, der von 1762 bis 1839 lebte, in Frankfurt geboren wurde und später in Pressburg wirkte, dort die größte Jeschiwah seit babylonischen Zeiten gründete, enstand der Reformbewegung jene Gegenposition, mit der sie noch heute zu kämpfen hat. Sofer, der die Reformbewegung kompromisslos, unter Benutzung aller propagandistischen und publizistischen Mittel bekämpfte, prägte das wahrhaft reaktionäre Prinzip »Hadasch assur min ha torah«, auf Deutsch: Die Tora verbietet jede Neuerung. Sofer nahm bewusst Abstand vom jüdischen Emanzipations­streben, befürwortete den Gebrauch der hebräischen Sprache und die Rückkehr ins Land Israel. Ganz und gar modern war Sofer darin, dass er die durchaus kasuistische rabbinische Religion durch ein allgemeines Prinzip – Neuerungen sind verboten – zu überhöhen versuchte und seinen Widerstand gegen die Reform mit den zeitgemäßesten Mitteln von Publizistik, Propaganda und politischer Agitation vorantrieb.

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Die in ihrer Schärfe inzwischen längst nachlassende Auseinandersetzung zwischen Reform und Orthodoxie dreht sich mithin letztlich um die Frage nach der Geschichtlichkeit des Judentums. Während die Reform sich paradoxerweise in ihrer relativen Modernität als historisch unüberholbar präsentiert, hat die moderne Orthodoxie wohl gegen ihren Willen, aber im Einklang mit den biblischen Quellen die eigene Partikularität und Geschichtlichkeit mit zum Teil verheerenden politischen Konsequenzen eines bewussten Fundamentalismus akzeptiert. Die Vermittlungsversuche der deutschen von Samson Rafael Hirsch geprägten Neoorthodoxie, die den Gedanken einer ewig gültigen Offenbarung mit einem zumindest kulturell modernisierten Lebensstil in Übereinstimmung zu bringen suchte, kann diesen das jüdische Volk umtreibenden Streit bis heute nicht schlichten. Dass gerade diese Neoorthodoxie auch eigene institutionelle Wege gehen wollte und »Austrittsgemeinden« gründete, steht auf einem anderen Blatt. Das dem zum Trotz gleichermaßen den jüdischen Gemeinden im 19. Jahrhundert von weltlichen Autoritäten aufgezwungene Prinzip der Einheitsgemeinde – sie selbst ist keineswegs von der Tradition gefordert –, das heute so im Streit steht, scheint, sofern sie sich als Gemeinde von Jüdinnen und Juden und nicht als Gemeinde einer liturgischen Richtung versteht, diesen Streit noch am ehesten fruchtbar austragen und produktiv aushalten zu können. Die so nur in Deutschland bekannte »Einheitsgemeinde« verkörpert heute jenes Prinzip, das als »Klal Jissrael« der Einheit der Juden in ihrer Verschiedenheit Raum geben kann. Ein Reformjudentum, das sich auch heute noch als konfessionalisierte Staatsbürgerreligion versteht, mag in sich schlüssig sein, ist jedoch weder mit den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts noch mit den Herausforderungen einer nicht mehr ausschließlich von der Moral her begründeten Religion im 21. Jahrhundert zu vereinbaren. Daher ist es unerlässlich, sich mit dem »Wesen des Judentums« zu befassen. Eine leicht fassliche Einführung in das, was das Judentum in seinen Schriften, Bräuchen und Festen im jüdischen Alltag ist, liegt seit 2018 gut lesbar vor.5

4  Das Judentum: eine lernende Religion Das Judentum ist eine lernende Religion, oder anders: eine Religion, eine Kultur des Lernens. Im Judentum jedenfalls stand Lehren und Lernen seit Anbeginn im Horizont intergenerationeller Beziehungen. So kennt die alltägliche und festtägliche jüdische Liturgie, die Gebetsordnung des rabbinischen Judentums zwei zentrale Gebete: einerseits das »Höre 5 Rabbiner Meir Ydit, Kurze Judentumkunde für Schule und Selbststudium, Berlin 2018.

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Israel«, das ein direktes Zitat aus dem Deuteronomium (6,4–9) ist, sowie das nur im Kreise von mindestens zehn Erwachsenen und im Stehen zu sagende Achtzehnbittengebet. Beide Gebete gehören zur synagogalen Liturgie – frühestens seit dem 3. Jahrhundert vor der christlichen Zeitrechnung, spätestens seit dem frühen 2. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung. Das synagogale »Schema Israel« (Dtn 6,4–9) lautet in seinem ersten Absatz so: »Höre Israel, der Ewige, unser Gott, der Ewige ist einzig«, worauf ein so in der Bibel nicht fixierter Einschub erfolgt: »Gelobt sei der Name der Herrlichkeit seines Reiches immer und ewig«. Dem folgt dann ein Katalog von Weisungen: »Du sollst den Ewigen, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele und deinem ganzen Vermögen. Es seien diese Worte, die ich dir heute befehle, in deinem Herzen. Schärfe sie deinen Kindern ein und sprich von ihnen, wenn du in deinem Hause sitzest und wenn Du auf dem Weg gehst, wenn du Dich niederlegst und wenn du aufstehst. Binde sie zum Zeichen auf deinen Arm, und sie seien zum Denkband auf deinem Haupte. Schreibe sie auf die Pfosten deines Hauses und deiner Tore.« Das »Schema Israel« hebt somit mit einer eigentümlichen Verschränkung von Aufforderung und Aussage an und gleicht insofern einem Lehrvortrag: Als erstes wird die Gemeinde aufgefordert, eine Tatsache zu akzeptieren und zu verstehen, nämlich, dass der Gott Israels ewig und einzig ist, eine Behauptung, die in einer polytheistischen Umwelt offenbar so wenig selbstverständlich war, dass sie mit allerlei Merkzeichen immer wieder beglaubigt und weitergegeben werden musste. Einzigartigkeit und verbürgte Zuwendung (»unser Gott«) sind die Gründe für die folgende Aufforderung, Gott zu lieben und zwar mit der ganzen Persönlichkeit, mit allen Worten, Gedanken und Taten. Im alten Orient stand »Herz« (»Lew«) – anders als heute – nicht für Gefühl und Emotion, sondern für Persönlichkeit und Verstand ein, während »Nefesch« (Seele) und »Meod« (Verstand) soviel wie Lebenskraft und Klugheit bedeuteten. Dass hier »Liebe«, »Gottesliebe« gewiesen wird, ist deshalb kein Paradox, weil es sich bei diesem Begriff von Liebe gerade nicht um ein romantisch aufflackerndes, nur spontan, letztlich unverfügbares Gefühl handelt, sondern um die Haltung tätiger Zuwendung, einer Liebe, die sich nicht im Sehnen und Trachten, sondern eben im Befolgen der Weisung, der Tora erweist. Die folgenden Passagen des »Höre Israel« (Dtn 11,13) stellen dann das Verhältnis von Tun und Ergehen, von Weisung und Leben ins Zentrum: »Und es sei, wenn ihr auf meine Weisungen hört, die ich euch heute weise, den Ewigen, euren Gott zu lieben und ihm zu dienen mit eurem ganzen Herzen und eurer ganzen Seele. So werde ich den Regen eures Landes zu seiner

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Zeit geben, Frühregen und Spätregen, du wirst sein Getreide einsammeln und deinen Most und dein Öl. […] Auf dass sich eure Tage vermehren und die Tage eurer Kinder auf dem Erdboden, den der Ewige euren Vätern zugeschworen, ihnen zu geben, wie die Tage des Himmels über der Erde«. Die Weisung ermöglicht es, Gott zu lieben, während sich umgekehrt die Liebe zu Gott im Erfüllen seiner Weisungen erfüllt. Auf jeden Fall: Der für eine Theorie des Lernens und damit des Fortbestandes des Judentums im Horizont der Tora entscheidende Abschnitt des »Schema Israel« lautete so: »Es seien diese Worte, die ich dir heute befehle, in deinem Herzen. Schärfe sie deinen Kindern ein und sprich von ihnen, wenn du in deinem Hause sitzest und wenn Du auf dem Weg gehst […]« »Schärfe sie deinen Kindern ein« – und zwar deshalb, weil die Empfänger der Lehre im Vertrauen darauf, dass Gottes Weisung gut ist, bereit sind, der Weisung zuerst zu willfahren, um sie erst dann, in einem darauf folgenden, zweiten Schritt kritisch zu erörtern – »Naasseh ve nischma«, d. h. »Wir werden tun und dann hören.« Der jüdische Philosoph Emmanuel Levinas verbindet das Prinzip des ­»Naasseh ve nischma«, aus Ex 24,7 also des »Wir werden hören und dann tun« mit der Idee radikaler zwischenmenschlicher Verantwortlichkeit, der Diakonie, wie Levinas sie in Jes 53, den sogenannten Gottesknechtsliedern findet. Die diesem Gedanken vorgeschaltete Passage Ex 24,7, also die Bereitschaft, Gott und seiner Weisung zu vertrauen, bereit zu sein, der Weisung zuerst zu entsprechen und sie erst dann kritisch anzuhören, stellt demnach einen Ausdruck des Vertrauens in die Güte von Gott und seiner Weisung dar.

5  Judentum und Würde des Menschen Bekanntlich fordert die Verfassung Deutschlands, das Grundgesetz, die Unantastbarkeit der Würde des Menschen – eine Konsequenz, die die Mütter und Väter dieser Verfassung aus der bisher ungeahnten Erniedrigung des Menschen im Nationalsozialismus zogen. Nur wenig ist bekannt, dass auch dies eines der Prinzipien des jüdischen Glaubens ist: So erklärte Rabbi Akiba im frühen zweiten Jahrhundert, dass der Respekt des Menschen vor dem Menschen in dem Ausmaß wuchs, indem er erkannte, dass er und seinesgleichen von Gott geschaffen wurden. Das damit implizierte Prinzip einer universalistisch gefassten Gleichheit aller Menschen findet sich – wenn auch in narrativer Form – bereits in der Mischna, nach jüdischer Überlieferung der mündlich überlieferten Tora vom Sinai, die verschriftet seit dem

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zweiten Jahrhundert der Zeitrechnung bekannt ist: »Also ward der Mensch als einzelnes Individuum geschaffen, und um des Friedens unter den Menschen willen, sollte niemand zu seinem Genossen sagen: Mein Vater war größer als deiner, und zugleich die Größe Gottes, gesegnet sei er, aufrufen, denn: wenn ein Mann viele Münzen mit einem Prägestock prägt, so sind doch alle Münzen gleich – aber der König der Könige prägte jeden Menschen mit dem Prägestock des ersten Menschen und (dennoch) ist keiner mit seinem Genossen identisch. Und daher ist es die Pflicht eines jeden Menschen, zu beten (zu sagen): Um meinetwillen wurde die Welt erschaffen.« Das damit vergleichsweise früh, wenn auch nur narrativ gefasste Prinzip der Heiligkeit der Individualität und damit eines jeden Individuums, hat sich zugleich in einer Reihe moralischer Imperative niedergeschlagen – wiederum war es zu Beginn des 2. Jahrhunderts Rabbi Akiba, der die wesentlichen Stichworte lieferte: »Der Mensch ist geliebt, denn er war in Gottes Antlitz geschaffen« sowie, darauf folgend: »Jeder, der (menschliches) Blut vergießt, zerstört das Ebenbild Gottes«, eine Aussage, die sein Schüler Ben Azzai in einer T ­ ossefta noch verschärfte: »Jeder, der sich nicht für den Schutz der menschlichen Gattung einsetzt, wird von der Schrift angeklagt, die Gottesebenbildlichkeit zu verkleinern.« Dieser Gedanke wurde von einer ganzen Reihe vor allem narrativ argu­ men­tierender Rabbinen anekdotisch so verdeutlicht, dass die Dienstengel vor dem von Gott geschaffenen, präexistenten Adam niederfielen und von höheren Engeln darauf aufmerksam gemacht werden mussten, dass sie einem Irrtum unterlagen: Es handelte sich nicht um Gott, sondern um den ersten Menschen. Diese jüdische Theorie der Würde, wie sie in Talmud und Tossefta, also nachbiblischem, rabbinischem Judentum bezeugt ist, hat der israelisch-US-amerikanische Forscher Ephraim Urbach in seinem nicht genug hervorzuhebenden Buch »The Sages. The World and Wisdom of the Rabbis of the Talmud« aus dem Jahr 1979 ausführlich dargelegt. Auf jeden Fall: Die im rabbinischen Judentum entwickelten Vorstellungen von der Einzigartigkeit und Unantastbarkeit des Menschen widerlegen zwar nicht die Vorstellung eines erhabenen Gottes, wohl aber das Vorurteil, dass dieser ebenso erhabene wie barmherzige Gott den Men­schen in größter Distanz gegenübersteht. Das Gegenteil ist der Fall: Gerade weil Gott erhaben ist und weil er in seiner Erhabenheit und Barmherzigkeit den Menschen, die Menschen, geschaffen hat, geht diese Erhabenheit und das heißt Heiligkeit und – moralisch-politisch gesehen – Unantastbarkeit auf sie über. Damit aber zeigt sich eine überraschende Parallelität jüdischen Denkens und bun-

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desrepublikanischen Verfassungspatriotismus, der die jüdische Gemeinschaft in Deutschland derzeit – nach Halle – in erster Linie für dieses Land wird kämpfen lassen.

Dr. Micha Brumlik ist emeritierter Professor der Erziehungswissenschaft an der Universität Frankfurt und derzeit Senior Advisor am Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien in Berlin/Brandenburg.

Christlich-jüdischer Dialog und seine für den Religionsunterricht relevanten Erträge1 Martin Hailer

1 Einleitung: Irritationen in der gegenwärtigen christlichen Wahrnehmung des Judentums Pilger- und Besuchergruppen aller Konfessionen strömen gewöhnlich in hellen Scharen ins Heilige Land, katholische Bistümer und evangelische Landeskirchen bekennen die bleibende Erwählung Israels,2 jüdische Erklärungen verschiedener Provenienz stellen fest, dass Menschen jüdischen und christlichen Glaubens zum selben Gott beten:3 Man sollte meinen, dass im christlich-­jüdischen Dialog die Dinge gut stehen, erreichter Konsens festgestellt und gefeiert wird und weitere Dialogfelder erschlossen werden können. Daran ist schon etwas Wahres und es wird auch erlaubt sein, sich dessen zu freuen. Freilich ist das nicht das ganze Bild. Es ist festzustellen, dass es trotz der genannten Lebhaftigkeiten in der etablierten Theologie um die Israelfrage seltsam ruhig geworden ist. Den großen Aufbrüchen der 1970er bis 1990er Jahre, die mit Namen wie Paul van Buren, Friedrich-Wilhelm Marquardt, Dietrich Ritschl und Josef Wohlmuth verbunden sind,4 folgte weithin kein Einbezug der Israelfrage in die alltägliche dogma1

Für Rückmeldungen danke ich stud. paed. Miriam Keil und für die inspirierende Gesprächsatmosphäre dem Arbeitskreis von Studium in Israel e. V. 2 Evangelisch richtungsweisend wurde die Erklärung der Rheinischen Synode zur bleibenden Erwählung Israels von 1980, Details in Anm. 10. Die römisch-katholische Kirche kann sich nach ersten Klarstellungen des II. Vatikanischen Konzils (v. a. Nostra Aetate 4) auf Aussagen Johannes Pauls II. wie Franziskus’ berufen. Prägnant ist die Äußerung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken »Nein zur Judenmission – Ja zum Dialog zwischen Juden und Christen« aus dem Jahr 2009. 3 Vgl. Rainer Kampling/Michael Weinrich (Hg.), Dabru emet – redet Wahrheit. Eine jüdische Herausforderung zum Dialog mit den Christen, Gütersloh 2003; Orthodox-rabbinische Erklärung »Den Willen unseres Vaters im Himmel tun«, 3.12.2015, http://cjcuc.org/2015/12/03/ orthodoxe-rabbinische-erklarung-zum-christentum/(Zugriff am 27.07.2019). Die christliche Rezeption dieser Wortmeldungen wird von katholischer wie von evangelischer Seite betrieben. 4 Vgl. Paul van Buren, A Theology of Jewish-Christian Reality, 3 Bde., Nachdruck London 2000; Das Herzstück von Friedrich-Wilhelm Marquardts siebenbändiger Dogmatik im Angesicht Israels ist die Christologie: Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden. Eine Christologie, 2 Bde., München 1990 und 1991; Dietrich Ritschl, Zur Logik der Theologie. Kurze Darstellung

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tische Arbeit.5 Sie wurde und wird wohl spezialistisch weiterverhandelt, spielt aber in den etablierten Diskursen und verbreiteten Lehrbüchern – jedenfalls der evangelischen Dogmatik – eine erstaunlich geringe Rolle.6 Über die Gründe kann nur spekuliert werden: Gilt die Frage als beantwortet und das Thema also als Vergangenheit? Wird der christlich-jüdische Dialog gleichsam vom größeren Dialog der Religionen aufgesogen und verliert so seine Sonderrolle? Es ist en passant auszuführen, warum diese Erklärungen, wenn sie denn zutreffend sind, nicht befriedigen können und so bleibt zunächst die Feststellung einer Irritation über den Rückgang der Befassung mit der Sache. Freilich gibt es zwei Wortmeldungen aus jüngerer Zeit, die das Thema doch wieder in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken – freilich um den Preis von Infragestellungen. Da ist zum einen die vieldiskutierte These des Berliner Systematischen Theologen Notger Slenczka, nach der das Alte Testament für das christliche Selbstverständnis den Rang einer apokryphen Schrift erhalten solle. Es gehört nach Slenczka einer Religionsgemeinschaft, die mit dem Christentum nicht identisch ist, auch sollten Christen und Christinnen den usur­patorischen Übergriff – etwa durch christologische Interpretation alttestamentlicher Texte – unterlassen: Das Bewusstsein der Unterscheidung von Kirche und Judentum als zweier Religionsgemeinschaften hat sich – jedenfalls in der abendländischen Christenheit – durchgesetzt und auch in der Deutung des Verhältnisses der Urchristenheit zum zeitgenössischen Judentum niedergeschlagen. Damit wird aber das Alte Testament zu einem Dokument einer Religionsgemeinschaft, die mit der Kirche nicht identisch ist. […] Gerade um des Respektes vor dem Selbstverständnis des Judentums willen identifiziert sich die Kirche aber nicht mit dem Judentum in der Weise, wie Paulus das für die Kirche seiner Zeit in Anspruch nimmt […]. Damit ist aber das AT als Grundlage einer Predigt, die einen Text als Anrede an die Gemeinde auslegt, nicht mehr geeignet: Sie – die christliche Kirche – ist als solche in den Texten des AT nicht angesprochen.7 der Zusammenhänge theologischer Grundgedanken, München 1984; Josef Wohlmuth, Im Geheimnis einander nahe. Theologische Aufsätze zum Verhältnis von Judentum und Christentum, Paderborn u. a. 1996. 5 In den exegetischen Disziplinen stellt sich dies anders dar, wie z. B. die Reihe Theologischer Kommentar zum Neuen Testament zeigt, vorzüglich durchgeführt in Klaus Wengst, Das Johannesevangelium, ThKNT 4, Neuausgabe (2019), programmatisch 5 f. 6 Vgl. exemplarisch die Bemerkungen bei Ulrich H. J. Körtner, Dogmatik, Leipzig 2018, 432 f. u. 576, in denen das Problem benannt, aber nicht bearbeitet wird. Das Thema fällt geradewegs aus bei Eilert Herms, Systematische Theologie. Das Wesen des Christentums, in: Wahrheit und aus Gnade leben, Tübingen 2017, 492–509. 7 Notger Slenczka, Vom Alten Testament und vom Neuen, Leipzig 2017, 82 f.

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Erste Aufregungen über Slenczkas Vorschlag, als sei hier christliche Judenfeindschaft am Werk, sind entsprechend abwegig. Freilich kürzt er um die christliche Not des Verstehens, die sich einstellen muss, wenn man den Gedanken durchhält, dass Gott, der Vater Jesu Christi, kein anderer ist als JHWH, der Gott Israels. Genau diese Irritation ist aber ein Herzstück christlicher Theologie. Kürzlich hat Joseph Ratzinger/em. Papst Benedikt XVI. einen Aufsatz vorgelegt, in dem er die Frage nach der bleibenden Berufung Israels diskutiert.8 Für Aufhorchen sorgte, dass er vorsichtig, aber doch deutlich erkennbar Kritik an dem übt, was in der christlichen Wahrnehmung Israels weithin als selbstverständlich gilt: Er bekräftigt zwar, dass die Kirche Israel nicht als Heilsempfängerin ersetzt habe (sog. »Substitutionstheorie«), diskutiert aber, ob einzelne kirchliche Vollzüge nicht doch an die Stelle alttestamentlicher Verheißungen getreten seien. Ferner spricht er seine Sympathie für den Gedanken aus, dass Gottes Bund von ihm aus nie gekündigt werde. Man muss, so Ratzinger/Benedikt aber damit rechnen, dass menschliche Sündhaftigkeit den Bund von menschlicher Seite aus kündigt. Der Gestus ist vorsichtig, was jenseits der wohlfeilen Aufregung im Feuilleton auch wahrgenommen wird.9 Eine Ent-Selbstverständlichung zweier Grundpfeiler christlicher Israeltheologie aus sehr prominenter Feder wird hier dennoch vorgenommen. Es handelt sich um Irritationen, nicht um manifesten Rückbau oder gar Einriss dessen, was bereits erreicht wurde. Aber auch und gerade als solche spielen sie im Gespräch der Gegenwart eine Rolle und prägen das Bild mit, das jetzt vom Ist-Stand des christlich-jüdischen Gesprächs gezeichnet werden soll.

2 Erträge aus dem christlich-jüdischen Gespräch. Fünf Aspekte Aus verschiedenen Diskursen und aus der Arbeit mehrerer Jahrzehnte sind Ergebnisse zusammenzuziehen, um den derzeitigen Stand des Gesprächs zu skizzieren. Dabei gilt eine Konzentration auf die deutschsprachige Debatte und auf systematisch-theologische Gesprächslagen. Auch ist zu beachten, dass der Titel »Christlich-jüdischer Dialog« geeignet ist, über eine für die Sache kon­ stitutive Einseitigkeit hinwegzutäuschen: Das christlich-jüdische Gespräch ist 8 Vgl. Joseph Ratzinger/Benedikt XVI., Gnade und Berufung ohne Reue. Anmerkungen zum Traktat »De Iudaeis«, Internationale Katholische Zeitschrift 47 (2018), 387–406. 9 Vgl. Josef Wohlmuth, »Gnade und Berufung ohne Reue«. Joseph Ratzinger/Papst em. Benedikt XVI. und der Stand des jüdisch-katholischen Dialogs, Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung im Kontext 3 (2018), 278–297.

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vor allem eine innerchristliche Klärungsanstrengung. Nicht nur, aber vor allem im Erschrecken über die inhumanen Abgründe der Shoah und der Mitschuld christlicher Judenfeindschaft an ihr, ebenso aber durch Arbeit an zentralen Vorstellungskomplexen, wie der Idee von der Erwählung, kam es nach dem 2. Weltkrieg und besonders ab den späten 1970er Jahren zu vielstimmigen Versuchen, das christliche Selbstverständnis im Angesicht Israels zu hinterfragen, Menschen jüdischen Glaubens neu zu sehen und die großen Themen der christlichen Theologie im Licht dieser Neujustierung neu verstehen zu lernen. Den »Startschuss« für die (kirchen-)öffentliche Wahrnehmung des Themas machte die Erklärung der Rheinischen Landessynode von 1980, die als erste EKD-Kirche die fortdauernde Erwählung Israels bekannte.10 Spezialarbeiten hatten bereits früher eingesetzt und auch heute wird man das Thema schwerlich als erledigt ansehen können. Mit diesem breiten Fokus lassen sich Erträge erkennen, die in fünf Aspekte zusammengefasst werden: 1. Wiederentdeckung einer fundamentalen Infragestellung Die verschiedenen Wege und Anlässe, auf denen Judentum und Israel neu zum Thema (evangelischer) Theologie wurden, haben die Kritik am Substitutions­ modell zur Gemeinsamkeit: Es ist nicht so, wie nicht zuletzt auch ikonografisch und architektonisch festgehalten wurde,11 dass die Israel zuvor gewährte Erwählung von ihm genommen und nach den Erdentagen Christi auf die Kirche übergegangen sei. Vielmehr hat Gott sein erwähltes Volk nicht verstoßen. Was immer das für Fragen wie der genauen Präsenz Gottes bei Israel, die Judenmission oder eine mögliche eschatologische Rolle Christi für Israel auch heißen mag: Eine lange eingespurte und nach Sicherheit wie Eindeutigkeit klingende Begründung christlicher Existenz war damit beseitigt. Es ist eben nicht so, dass Erwählung in einem einfachen Schema von Einst und Jetzt von der Synagoge auf die Kirche 10 Vgl. Rolf Rendtorff/Hans H. Henrix (Hg.), Die Kirchen und das Judentum. Dokumente 1945– 1985, München 21989, 593–596. Vorausgegangen war dem u. a. die Studie des Rates der EKD »Christen und Juden« von 1975, vgl. dazu: Rolf Rendtorff, Arbeitsbuch Christen und Juden. Zur Studie des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 31986. Zur jüngeren Geschichte des christlich-jüdischen Verhältnisses vgl. auch Clemens Thoma, Theologische Beziehungen zwischen Christentum und Judentum, Darmstadt 21989, 11–44. 11 Idealtypisch sind die Darstellungen von »Synagoga« als Frau mit verbundenen Augen und gesenktem Haupt und »Ecclesia« als stolzer Braut Christi, z. B. in der Elisabethkirche in Marburg, ferner die in einer Reihe von Städten, u. a. Wittenberg und Regensburg, an Hauptkirchen und Domen angebrachten »Judensau«-Statuetten, die die ortsansässige Judenheit gezielt mit dem Thema Unreinheit beleidigen und stigmatisieren sollten. Ob sie aufgrund verbesserter Beziehungen entfernt oder als Mahnmal schlimmer christlicher Vergangenheit bleiben sollen, ist eine interessante Frage.

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übergegangen wäre. Christliche und kirchliche Existenz sind damit zunächst einmal entsichert und ungewöhnlich geworden. Der Verlust einer Negativfolie macht im selben Augenblick den Versuch der positiven Beschreibung – wie und wodurch denn gehört die Kirche als Volk Gottes zu Gott? – deutlich schwieriger als zuvor. Auch andere zweiwertige Schemata, etwa Verheißung/Erfüllung, Gesetz/Evangelium oder Partikularität/Universalität sind durch den Wegfall des Einst/Jetzt-Schemas mindestens schwierig bis glatt unmöglich geworden. Entdeckt, evtl. wiederentdeckt, wurde also eine fundamentale theologische Verunsicherung: Worauf gründet die christliche Behauptung, die Kirche und ihre Glieder gehörten zu Gott – der eben doch auch der Gott Israels ist und bleibt? Das Thema sprengt falsche Sicherungen auf und führt mindestens den Unterschied zwischen (falscher) Sicherheit und (Glaubens-)Gewissheit wieder auf den Plan. Theologische und kirchliche Existenz vollzieht sich nicht im Modus des Habens, sondern in dem des Wagnisses,12 Christ, Christin zu sein ist ein Modus fundamentaler Entsicherung. 2. Der ungekündigte Bund Zu den zentralen Einsichten neuerer Israeltheologie gehört demnach, dass der Bund JHWHs mit Israel nie gekündigt wurde und Israel Gottes (erst-)erwähltes Volk ist. Die Geschichte Gottes mit Noah, Abram/Abraham, Jakob, Mose und Israel ist eben nicht zu Ende, sondern Verheißungs- und Erfüllungsgeschichte bis heute. Mehr noch: Juden und Jüdinnen sowie Christen und Christinnen leben »unter dem Bogen des einen Bundes«.13 Diese Einsicht hat zunächst zur Folge, dass die Legitimität christlicher Judenmission entfällt: Wer schon in Gottes Gnadenbund ist, muss nicht durch Missionsanstrengung allererst dorthin gebracht werden. Die einprägsamen Metaphern des Apostels Paulus von Israel als Wurzel des Christentums und vom Christentum als in den Ölbaum eingepfropften Zweig (Röm 11,17 f.) ließen diesen Gedanken rasch verbreitet sein und machten ihn nachgerade zum Kennzeichen der Erneuerung des christlichjüdischen Verhältnisses. Freilich ist damit über eine zentrale christologische 12 Karl Barth hat im Rahmen seiner letzten regelmäßigen Vorlesung zu Recht von »Verwunderung« als notwendiger Eigenheit von theologischer Existenz gesprochen, vgl. Karl Barth, Einführung in die evangelische Theologie, Zürich 31985, 71–82. 13 Vgl. Eberhard Busch, Unter dem Bogen des einen Bundes. Karl Barth und die Juden 1933–1945, Neukirchen-Vluyn 1996. Barths Theologie ist vermöge ihres reformiert geprägten Ansatzes bei der Bundesthematik und einer entsprechend aufgestellten Versöhnungslehre als Motivgeberin für die theologische Erneuerung des Verhältnisses zu Israel besonders wichtig, was zu konstatieren ist, ohne dass man damit zwangsläufig »Barthianer« werden müsste.

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Frage noch nicht entschieden: Gibt es eine – eschatologische – Rolle Christi für Israel? D. h., soll man erwarten, dass das Volk Israel, das jetzt ohne den Messias Jesus im ungekündigten Bund mit Gott lebt, in der Fülle der Zeiten doch erkennt, dass er der Messias aller Welt und also auch Israels ist? Röm 11,26 kann so gelesen werden. Und so stehen hier zwei Modelle gegeneinander an, die beide den ungekündigten Bund betonen. Man kann sie mit einer Stimmgabel vergleichen. Die eine sieht so aus: Ihr Griff beginnt gleichsam mit der Schöpfung und geht über Abraham und Mose bis zum Vorabend von Weihnachten. Beim Christusereignis verzweigt sie sich in die beiden Zinken der Stimmgabel – übrigens mit dem Nebeneffekt im Bild, dass erst das Schwingen beider Zinken den Klang und damit das volle Lob Gottes ergibt. Es erklingt recht erst sowohl mit Mose und der Tora als auch mit Christus und dem NT. Das zweite Modell sieht ebenfalls die Stimmgabel; freilich reichen der Zinken in Gottes Erfüllung aller Zeiten doch wieder zueinander, weil endzeitlich alle, Christen und Christinnen sowie Juden und Jüdinnen den Messias Jesus loben werden.14 Zwischen beiden ist ein einfacher Ausgleich kaum möglich. Das leitet von selbst über zur zentralen Frage einer 3. Christologie im Angesicht Israels Wie ist nun von Christus zu reden? Die erste Näherung ist, Jesu volles Judesein anzuerkennen und theologisch auszubuchstabieren. Die Folgen sind weitreichend: Was immer mit Jesus Neues kommt, kommt mit dem Juden Jesus, der zu JHWH, dem Gott Israels, als seinem Vater betete. Versperrt ist also der Weg, Jesus als Bringer einer gänzlich neuen Botschaft zu verstehen, wie dies am radikalsten Markion (um 165) dachte, der lehrte, dass die Jesusoffenbarung einen neuen und anderen Gott als den Israels zeige. Ist dies schon aufgrund des Mono­ theismusaxioms unmöglich, so hat Markions Gedanke doch manche Nach­beben gehabt und ist in der oben angesprochenen Irritation, das AT zur apokryphen Schrift zu erklären, noch zu spüren. Eine israelempfindliche Christologie dreht dies geradewegs um: »Älteste Überlieferungen des christlichen Bekenntnisses bekennen seine [Jesu, M.H.] Bedeutung so, daß sie Erinnerungen an die Geschichte und den Gottesdienst Israels wachrufen, ohne die Jesus unbekannt bliebe.«15 Die semantischen Bestände Israels werden so zum unverzichtbaren Mittel des Christentums, Christus recht erkennen und bekennen zu können. 14 Grafiken und Erläuterungen bei Dietrich Ritschl/Martin Hailer, Grundkurs Christliche Theologie. Diesseits und jenseits der Worte, Neukirchen-Vluyn 42015, 294–297. 15 Friedrich-Wilhelm Marquardt, Christologie Bd. 1 (Anm. 4), 140, im Original kursiv.

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Israel wird in dieser Perspektive zur »formalen Christologie«, insofern »als die Sprache, in der die Hebräische Bibel vom Bund Gottes mit Israel spricht, das Wort ist, das Jesus zum Element der Zuwendung Gottes zu allen Menschen macht.«16 Israel ist auf dieselbe Weise Zeichen inmitten der Völker wie Jesus das an alle gerichtete Wort Gottes ist.17 Diese formale Gleichordnung von Israel als Zeichen und Jesus als Wort Gottes ist wohl die am weitesten gehende christologische Konsequenz, die gezogen wurde. Auch da, wo man nicht ganz so weit geht, ist das bei Friedrich-Wilhelm Marquardt zu entdeckende Motiv aber wichtig: In neueren Studien wird z. B. gefragt, ob die Metapher der Messianität Jesu zugunsten der Terminologie des christologischen Dogmas von Chalcedon nicht tendenziell abgeblendet wurde. Wer/was ist das Ereignis namens »Messias«? Sprachhilfe wird von jüdischen Denkern erhofft, die hier beispielsweise von einer radikal von außen kommenden Begegnung spricht.18 4. Kirche und Erwählungslehre Der Satz, Jahwe habe in seiner ureigentlichen Freiheit aus allen Völkern das Volk Israel und in Jesus Christus aus Juden und allen Heiden die Kirche erwählt, ist der eigentliche Ursatz biblisch begründeten Verhältnisses und damit jeder christlichen Theologie. […] Dieser Satz von der Erwählung Israels und der Kirche erlaubt und begründet fundamentale regulative Sätze der Theologie.19 Dies ist eine analytische Feststellung, die besagt: Kein anderer Satz der Theologie ist denkbar, der diesen Satz nicht voraussetzen würde. Und zugleich ist klar: Von Erwählung kann nur gesprochen werden, weil dies auf JHWHs Initiative allein zurückgeht. Der Satz von der Erwählung ist also seinerseits auf nichts anderes als auf JHWHs Wille und Wesen zurückführbar. Entsprechend kann christliche Ekklesiologie nicht gedacht und entworfen werden, ohne auf die alttestamentlichen Vorstellungen von der Erwählung Israels zurückzugreifen. Es gilt wohl Identisches wie in der Christologie: Soll von der Kirche gesprochen 16 Friedrich-Wilhelm Marquardt, Christologie Bd. 2 (Anm. 4), 53, i. O. herv. 17 Vgl. ebd. 18 Vgl. Florian Bruckmann, In IHM erkannt. Grundzüge einer anthropologischen Christologie im Angesicht Israels (Studien zu Judentum und Christentum 28), Paderborn 2014; René Dausner, Christologie in messianischer Perspektive. Zur Bedeutung Jesu im Diskurs zwischen Emmanuel Levinas und Giorgio Agamben (Studien zu Judentum und Christentum 31), Paderborn 2016, bes. 105 ff. 19 Ritschl, Logik (Anm. 4), 159. Die Barth’schen Wurzeln dieser Feststellung sind deutlich, vgl. den Beginn der Erwählungslehre in Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik II/2, 1.28 ff. Freilich spielt bei Ritschl die Christologie eine andere Rolle.

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werden, dann ist das gar nicht anders möglich als durch explizites Aufrufen der durch Israel in die Welt gekommenen Vorstellungen von der Erwählung. 5. Sonderrolle im Dialog der Religionen Seit den Tagen der Entdeckung der neueren Israeltheologie hat die Bedeutung des interreligiösen Gesprächs deutlich zugenommen. Neben die allgemeine diesbezügliche Theoriebildung und zahllose Einzelstudien tritt hier insbesondere der Dia-/Trialog der monotheistischen Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam. Hier wird verhandelt, inwieweit formale Feststellungen wie die, dass alle drei Monotheismen sind, bereits Gemeinsamkeiten ausdrücken, die über Gemeinsamkeiten mit allen anderen Religionen hinausgehen. Auch gleichsam induktiv wird vorgegangen, etwa mit dem Stichwort der »abrahamischen Ökumene«: Juden, Christen und Muslime berufen sich auf Abraham/Ibrim als ihren Stammvater im Glauben. Kann die Konsequenz, dass alle drei zum selben Gott beten, überhaupt noch abgewiesen werden und geht es nicht vielmehr darum, Gemeinsamkeiten zu suchen und, wenn möglich, auszubauen? Wenn dem so wäre, dann würde, wie oben angedeutet, die Frage nach dem christlich-­jüdischen Verhältnis zur Spezialfrage in einem deutlich größeren Horizont und entsprechend marginalisiert werden. Die Notwendigkeit des Dialogs mit dem Islam ist ganz unübersehbar, auch hat sie insbesondere im Rahmen der komparativen Theologie zu beachtlichen Ergebnissen geführt.20 Gerade diese aber zeigen: Interreligiöse Verständigung bewährt sich im thematischen Einzel­vergleich und in der Dialogsituation, nicht jedoch unter Berufung auf hoch abstrakte Konzeptionen wie »Monotheismus«, bei denen sich bei näherem Zusehen sofort zeigt, dass kein Monotheismus dem anderen gleicht.21 Vergleichbares gilt für Abraham als den gemeinsamen Stammvater: Lesbar wird er erst im Rahmen der jeweiligen Erzählung. Deren Gemeinsamkeiten und große Unterschiede gilt es aufzuspüren. Was dann aber bleibt, ist 20 Vgl. die von Klaus von Stosch hrsg. Reihe: Beiträge zur komparativen Theologie (Paderborn 2010 ff., derzeit 31 Bände), in der mittlerweile eine ganze Reihe von Einzelaspekten vorrangig im muslimisch-christlichen Dialog bearbeitet wurde. Ein erster Überblick zu diversen Themen in: Volker Meißner u. a. (Hg.), Handbuch christlich-islamischer Dialog. Grundlagen – Themen – Praxis – Akteure, Freiburg i. Br. 22016. 21 Vgl. Jürgen Moltmann, Kein Monotheismus gleicht dem anderen. Zur Destruktion eines untauglichen Begriffs, in: EvTh 62 (2002), 112–122. Entsprechend kritisches Licht fällt auf die bedachten wie unbedachten Konstruktionen einer monotheistischen Grundfigur und der mit ihr angeblich einhergehenden Probleme; erstere z. B. bei Jan Assmann, Monotheismus und die Sprache der Gewalt, Wien 42007, letztere bei Peter Sloterdijk, Gottes Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen, Frankfurt am Main und Leipzig 2007 und: Nach Gott, Berlin 2017. Beachtenswert sind die Modifikationen, die Assmann in: Exodus. Die Revolution der Alten Welt, München 32015 vornimmt.

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das singuläre Verhältnis der Kirche zu Israel: Die systematische Aussage »Der Vater Jesu Christi ist der JHWH, der Gott Israels« unterscheidet sich kategorial von historisch aufweisbaren Beziehungen zu anderen Religionen, etwa zum Islam, und den damit einhergehenden thematischen Bezugnahmen. Soweit eine Bestandsaufnahme des christlich-jüdischen Gesprächs. En passant sollte deutlich geworden sein: Es handelt sich nicht um ein isoliertes Spezialthema der Dogmatik unter anderen, sondern vielmehr um eine theologische Matrix, welche die Wahrnehmung aller großer Themen der Theologie anspricht und gegebenenfalls verändert. Entsprechend sind die nun noch anzudeutenden Konsequenzen für den schulischen Religionsunterricht eher groß als klein anzusetzen.

3  Konsequenzen für den Religionsunterricht: vier Thesen Wer wollte bezweifeln, dass der Stand derer, die Religionsunterricht erteilen, in Sachen des jüdisch-christlichen Dialogs der »theologischen Verbesserung«22 bedarf, zumal angesichts der eben ausgebreiteten Themenfülle? Es ist völlig richtig, wenn in der genannten Schrift, die auf eine Erhebung zur (Nicht-)Präsenz jüdischer und jüdisch-christlicher Inhalte in den theologischen Studienordnungen reagiert,23 theologische Verbesserung in allen Ausbildungs­phasen und mit möglichst vielen Inhalten gefordert wird. Es wird gleichwohl nötig sein, Zentrales von Nicht-Zentralem zu unterscheiden. Auf die Gefahr sträflicher Vernachlässigung hin folgt hier deshalb der Versuch, in unterrichtspraktischer Hinsicht einige hauptsächliche Inhalte der »theologischen Verbesserung« namhaft zu machen. Zu beginnen ist beim Leidvollen: Es ist nach wie vor nötig, auf die Gefahr des latenten und manifesten Antijudaismus und Antisemitismus in Schulen und auch in Lehrmaterialien aufmerksam zu machen. Aktuelle tätliche Judenfeindschaft hat ihre Wurzeln sowohl in Ideologemen der neuen Rechten und ihrer extremen Flügel als auch in der hergebrachten Israelfeindschaft in arabischen Ländern, die durch Migrationsbewegungen hierzulande spürbarer wird. Dass sie zu bekämpfen 22 Marie Hecke/Aline Seel/Bernd Schröder/Christian Staffa, Jüdisch-christlicher Dialog und das Studium der Evangelischen Theologie bzw. Religion in Deutschland – Thesen zur theologischen Verbesserung des Pfarrer*innen- und Religionspädagog*innenstandes, in: Reform der Reformation. Zum Stand und Stellenwert jüdisch-christlicher Lehrinhalte in der theologischen Ausbildung, epd-Dokumentation 23/2017, Frankfurt am Main 2017, 32–34. Vgl. jetzt auch das im Sommer 2019 vorgelegte Thesenpapier »Christlich-jüdische Lehrinhalte in der theologischen Ausbildung« von EKD, VELKD und UEK, https://www.ekd.de/thesenpapierkirche-judentum-christlich-juedische-lehrinhalte-48710.htm (Zugriff am 13.3.2020). 23 Vgl. Hecke u. a. (Anm. 22), 5–19.

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ist, steht außer Frage. Akademisch beunruhigender, weil aus dem eigenen Feld stammend, sind jedoch Bilder und Stereotypen, die im etablierten Wissen und seinen Verbreitungsmechanismen transportiert werden. Das beginnt in Schulmaterialien bei den gängigen Verzeichnungen der Pharisäer als gesetzlich-konservativer Gegentypen zum zugewandten Charismatiker Jesus und zieht sich bis in die anerkannt heikle Frage nach dem Land als Gabe an Israel.24 Hier liegt kein Antisemitismus und auch keine Judenfeindschaft vor; aber es gibt eben nach wie vor Hermeneutiken, die »das Christliche« durch Absetzungs- und Oppositionsfiguren von »dem (Früh-)Jüdischen« absetzen und notwendig zu Stereotypen greifen müssen, deren Hintergrund mindestens heikel ist. Wenn aber die oben in Aspekt 3 skizzierte Aufgabe einer Christologie im Angesicht Israels richtig sein sollte, dann ergibt sich als hermeneutische Konsequenz für den Religionsunterricht: 1. Das »Neue« oder »Andere« in der Jesusbewegung und deren frühester Reflexion ist von der Art, dass seine Bedeutung unter Rückgriff auf, nicht jedoch unter Abwendung von alttestamentlicher Semantik ausgesagt wird, ja, ausgesagt werden muss.25 Das ist eine hermeneutische Regel, die wohl vor allem für die Konstruktion von Jesuserzählungen geeignet ist, und zwar für die galiläischen Szenen wie für die Passionsberichte. Auch letztere stehen gewissermaßen in der Gefahr, mit einem Dunkel/Hell- oder Ungerecht/Gerecht-Schema erzählt zu werden. Es geht nicht ohne die Gerechtigkeitssemantik, aber zu beachten ist, dass der Prozess Jesu eine heillose Verstrickungsgeschichte der hohen Geistlichkeit, der römischen Besatzungspolitik und der öffentlichen Meinung gleichermaßen zeigt, nicht etwa die »des« Judentums.26 24 Vgl. Julia Spichal, Vorurteile gegen Juden im christlichen Religionsunterricht. Eine qualitative Inhaltsanalyse ausgewählter Lehrpläne und Schulbücher in Deutschland und Österreich, Göttingen 2015, bes. 203 ff. u. 227 ff. 25 Dass das nicht nur für die jüdische Erneuerungsbewegung um Jesus gilt, sondern auch für den Beginn der hohen Christologie bei Paulus, zeigt dessen Reflexion auf Jesu Tod als sühnendes Ereignis in Röm 3,21–26, die für ihn nicht anders als mit der Semantik des Großen Versöhnungstages (Lev 16) aussagbar ist; vgl. Martin Hailer, Stellvertretung. Studien zur theologischen Anthropologie, Göttingen 2018, 180–210. Friedrich-Wilhelm Marquardts oben (Anm. 15) zitierte Maxime, dass das Christusbekenntnis Israels Geschichte und Gottesdienst benötige, um bekannt werden zu können, zeigt sich im Licht dieser Paulus-Stelle als gänzlich richtig. 26 Eindrücklich bei Michael Welker, Gottes Offenbarung. Christologie, Neukirchen-Vluyn 2012, 172 ff.; vgl. Wolfgang Reinbold, Der Prozess Jesu, Göttingen 2006, 139–181 und im Rahmen einer Lektüre der Johannespassion bei Ralf Frisch, »Was ist Wahrheit?«. Ein biblisch-­ theologischer Versuch über die Johannespassion, in: Sigrid Brandt (Hg.), Resonanzen. Theologische Beiträge. Michael Welker zum 50. Geburtstag, Wuppertal 1997, 12–25.

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Damit durchaus verbunden ist eine zweite Konsequenz: Aus den Aspekten 2 und 4 folgt, dass nicht zwischen alttestamentlicher Verheißungs- und neutestamentlicher Einlösungsgeschichte geschieden werden kann. Beide stehen vielmehr unter dem Bogen des einen Bundes. Dies bedingt, Erwählung als Charakterzug von Gottes Handeln überhaupt zu verstehen und die Verzahnung der Bundesgeschichte stets mitlaufen zu lassen. Die Abrahamsgeschichte beispielsweise ist entsprechend nicht Vor-, sondern Hauptgeschichte: 2. Juden und Christen leben unter dem Bogen des einen Bundes. Die Erwählungsund Bewahrungserzählungen des AT stellen Gott vor, der auch in Christus erwählt, bewahrt und alle Völker zu sich ruft. Das Verbindende ist zu betonen und zweiwertige Logiken sind entsprechend abzuwählen. Im Sinne dieser ersten beiden Thesen ist – vorrangig grundschulisch gedacht – vor allem das biblische Erzählmaterial zu sortieren und zu gewichten. Konsequenzen aus dem christlich-jüdischen Dialog ergeben sich freilich genauso für die gegenwartsorientierten Themen der Lehr- und Bildungspläne. Hier ist vor allem an die religionskundlichen Unterrichtseinheiten und an die zur inter­ religiösen Verständigung zu denken, bei denen die Selbstthematisierung – wer oder was ist die Kirche? – immer mitläuft. Für die folgende These, die sich auf die Aspekte 4 und 5 stützt, sind die Vermutungen leitend, dass die Vorstellung nichtchristlicher Religionen üblicherweise entweder distanziert-religionskundlich erfolgt oder dass der Konsens abarahamischer Ökumene ungefragt vorausgesetzt wird. Sollte beides zutreffen, ergibt sich: 3. Begegnung mit dem Judentum ist Begegnung nicht mit der (Vor-)Geschichte, sondern mit dem lebendigen Bezugspunkt unter dem Bogen des einen Bundes. Die Gemeinschaft beider ist bei allen bleibenden Unterschieden deshalb Gegenstand des Bekenntnisses und des Gebets.27 Die Begegnung mit und das Kennenlernen von anderen Religionen sind so zu organisieren, dass das Sonderverhältnis zum Judentum deutlich bleibt. Dies hat auch Konsequenzen für die kirchliche Selbstthematisierung (Ekklesiologie).

27 »Zur Ökumene gehören Israel und die christliche Kirche. Aber diese Ökumene ist faktisch nie dargestellt worden, hat sich nie als solche anreden lassen und sich selbst so bezeichnet. Diese Trennung […] ist das eigentliche ökumenische Problem.« Ritschl, Logik (Anm. 4), 74. In historischer Perspektive vgl. Israel J. Yuval, Zwei Völker in deinem Leib. Gegenseitige Wahrnehmungen von Christen und Juden in Spätantike und im Mittelalter, Göttingen 2009, und Peter Schäfer, Die Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums, Tübingen 2010.

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Letzteres bedarf der besonderen Aufmerksamkeit. Weitgehend unterbelichtet in den Lehr- und Bildungsplänen ist, dass die Selbstthematisierung der Kirche nicht ohne die Gleichzeitigkeit zur Synagoge gelingen kann. Etwa in den populär gewordenen Schriften zur Kirchen- und Kirchenraumpädagogik ist hier ein Totalausfall zu beobachten.28 Hier ist keine Absicht zu unterstellen, es zeigt sich aber die Konsequenz einer israeltheologisch nicht reflektierten Ekklesiologie.29 Wenn aber doch ein Kirchengebäude die Topologie des christlichen Glaubens erfahrbar werden lässt, dann gehört zu ihr, dass – allermeist zumindest – der jüdischen Wurzel kein Raum eingeräumt wird. Das Judentum ist gleichsam der Nicht-Ort dieser Topologie. So gesehen lässt sich die These riskieren, dass die in vielen Städten ins Pflaster eingelassenen Stolpersteine, die an in der NS-Zeit deportierte und ermordete jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger erinnern, auch einen Außenort der jeweiligen Kirche darstellen und entsprechend in der Kirchenpädagogik zu berücksichtigen sind. In höheren Schularten wird eine Einsicht, die in These 3 bereits mitgesetzt ist, eigens thematisiert, die Reflexion auf die Partikularität der christlichen Sichtweise auf die Wirklichkeit. Dies geht immer wieder mit dem Erproben apologetischer Strategien einher, etwa in Auseinandersetzung mit Religionskritik und (Gewohnheits-)Atheismus. Häufig und naheliegenderweise stammen die dafür in Anschlag gebrachten Argumente aus der europäischen, von der griechischen Philosophie belehrten Tradition.30 Belehrt vom oben genannten Aspekt 1 muss es dabei nicht bleiben: Religionsphilosophien, die das Motiv des Herausrufens und der produktiven Verunsicherung ausschreiten, könnten in einer schulisch umgesetzten Apologetik etwa in Sekundarstufe I und Oberstufe eine deutlich größere Rolle spielen als bisher. Zu denken ist etwa an die dialogische Philosophie Martin Bubers und – wenn auch kaum mit Originaltexten – an die 28 Dies trifft etwa zu für: Margarete L. Goecke-Seischab/Jörg Ohlemacher, Kirchen erkunden, Kirchen erschließen. Ein Handbuch mit über 300 Bildern und Tafeln sowie einer Einführung in die Kirchenpädagogik und einem ausführlichen Lexikonteil, Köln 2010; Renate M. Zerbe, Kirchenraum mit Kinderaugen erkunden und erfahren. Arbeitsblätter, Forscherkarten und Entdeckerbögen für die Kirchenraumpädagogik – 1.–4. Klasse, Augsburg 2016; Hartmut Rupp (Hg.), Handbuch der Kirchenpädagogik, 2 Bde., Stuttgart 2017. 29 Ohne das Thema zum besonderen Gegenstand seiner Aufmerksamkeit zu machen hat Otto H. Pesch folgende Formel für eine israelbedachte Ekklesiologie gefunden: »Die Kirche ist die Gemeinschaft derer, die im Glauben nicht ohne Israel und doch außerhalb Israels in die nun universal zugängliche Herrschaft Gottes aufgenommen sind.« Otto H. Pesch, Katholische Dogmatik aus ökumenischer Erfahrung, Bd. 2, Ostfildern 2010, 41, i. O. herv. Über den Universalitätsaspekt mag man streiten, griffig ist die Abbreviatur »nicht ohne – doch außerhalb« aber allemal. 30 Als Beispiel unter vielen vgl. die verdienstvollen Bände von Gregor M. Hoff, Die neuen Atheismen. Eine notwendige Provokation, Kevelaer 2009; Religionskritik heute, Kevelaer 2010.

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­Phänomenologie der vorreflexiven Konstitution des Subjekts nach Emmanuel Lévinas.31 Bei ihnen sind Motive der Ent-Sicherung als daseinskonstituierend ins philosophische Argument eingewandert, deren erschließende Kraft durchaus noch nicht ausgeschritten ist: 4. Die argumentative Verantwortung des Glaubens kann von den Schätzen jüdischer und jüdisch inspirierter Religionsphilosophie profitieren, weil diese das Moment der Ent-Sicherung und Alterität in singulärer Weise ins Gespräch der Gegenwart eingebracht hat. Diese vier Thesen oder Themaregeln decken gewiss nicht alle Felder ab, auf denen Einsichten des christlich-jüdischen Dialogs zur angesprochenen theologischen Verbesserung derer, die Religionsunterricht erteilen, beitragen können. Wenn sie aber Grundsätzliches ansprechen und überdies in der Unterrichtspraxis umsetzbar sind, wäre schon viel erreicht.

Dr. Martin Hailer ist Professor für Evangelische Theologie und ihre Didaktik mit Schwerpunkt Dogmatik und Ethik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.

31 Vgl. Martin Buber, Das dialogische Prinzip, Darmstadt 51984; vgl. Emmanuel Lévinas, Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz, Freiburg i. Br./ München 42002.

Christlich-muslimischer Dialog und seine für den Religionsunterricht relevanten Erträge Wolfgang Reinbold

Der christlich-muslimische Dialog in Deutschland ist ein junges Pflänzchen. Wir führen ihn seit wenigen Jahren, wenn überhaupt. Nach wie vor herrscht auf beiden Seiten viel Unkenntnis, oder wir haben Bilder im Kopf, die mit dem, was die andere Seite meint, empfindet und anstrebt, wenig zu tun haben. Christen und Christinnen neigen oft dazu, Muslime und Musliminnen ohne viele Umschweife auf die vermeintlich problematischen Themen anzusprechen. Es geht dann um Kopftuch, Gewalt, Terror und die Frage, was denn der Islam Gutes in die Welt gebracht habe und ob er überhaupt mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Muslime und Musliminnen neigen oft dazu, Christen und Christinnen ausdrücklich oder unausgesprochen arrogant zu behandeln. Es geht dann nicht um Dialog, sondern darum, der anderen Seite zu verstehen zu geben, was an ihrem Glauben nach den klaren Worten des Qur‘an falsch ist und warum sie besser daran täte, sich von solchen Vorstellungen und Praktiken zu verabschieden.1 Wenn ich das eingangs so grob skizziere, mag das manchem vielleicht wie eine schlechte Karikatur erscheinen. Sind wir nach 20 Jahren Islamdebatte und nach so und so vielen Veranstaltungen des christlich-muslimischen Gesprächs nicht weiter? Gewiss hat sich in den letzten Jahren sehr viel getan. Manche interreligiöse Gesprächskreise und Einrichtungen existieren bereits seit 30 Jahren,2 es gibt

1 Massiv antichristlich mit Stichworten wie »abergläubisch, dumm, barbarisch, unbrauchbar« ist z. B. die in vielen Koranausgaben der Ahmadiyya Muslim Jamaat abgedruckte Einleitung (z. B.: Koran. Der Heilige Qur-ân. Arabisch und deutsch, hg. unter der Leitung von Hazrat Mirza Tahir Ahmad, o. O. 61996, 15–104). 2 Einen Überblick über die Praxis und die Akteure geben: Volker Meißner u. a. (Hg.), Handbuch christlich-islamischer Dialog. Grundlagen – Themen – Praxis – Akteure, Freiburg i. Br. 2014, 259–449; Gritt Klinkhammer u. a., Interreligiöse und interkulturelle Dialoge mit MuslimInnen in Deutschland. Eine quantitative und qualitative Studie, Bremen 2011.

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Islamischen Religionsunterricht,3 Islamische Theologie,4 Islamische Seelsorge,5 eine (ihrem Selbstverständnis nach) muslimische Körperschaft des öffentlichen Rechts,6 ein etabliertes akademisches Forum an der Akademie Stuttgart-Hohenheim,7 Räte der Religionen und vergleichbare kommunale interreligiöse Strukturen8 und vieles andere mehr.9 Aufs Ganze besehen ist allerdings festzustellen: In weiten Teilen der Zivilgesellschaft ist die Skepsis gegenüber »dem Islam« nach wie vor groß. Sie scheint in den letzten Jahren sogar noch gewachsen zu sein. Skeptisch sind insbesondere viele Ostdeutsche sowie konservative Christinnen.10 Messbar »weiter« gekommen ist in den letzten Jahren nach Ausweis der Meinungsumfragen nur eine Minderheit. Zu dieser Minderheit gehören insbesondere diejenigen unter den Jugendlichen, für die das interreligiöse Zusammenleben in Schule, Peergroup und Familie etwas ganz und gar Normales ist.11 Auch Schulbücher sind oft aus einer Haltung der Skepsis heraus geschrieben. Zwar bemüht man sich in jüngerer Zeit durchaus um Differenzierung, indem etwa die wissenschaftlichen und kulturellen Errungenschaften der arabischislamisch geprägten Welt in der Epoche, die in Europa »Mittelalter« genannt wird, betont werden. Dennoch wird der Islam im Ganzen immer noch als eine   3 Vgl. dazu z. B. Yaşar Sarıkaya u. a. (Hg.), Islamische Religionspädagogik. Didaktische Ansätze für die Praxis, Studien zur islamischen Theologie und Religionspädagogik 4, Münster 2019.   4 Vgl. z. B. Milad Karimi, Hingabe. Grundfragen der systematisch-islamischen Theologie, Freiburg i. Br. 22015; vgl. Muna Tatari, Islamische Systematische Theologie in Deutschland. Konturen eines jungen Faches, Paderborn 2016.   5 Vgl. z. B. Mahmoud Abdallah (Hg.), Grundbegriffe der islamischen Seelsorge. Reflexionen – Zugänge – Perspektiven, Ostfildern 2019.   6 Vgl. Gerdien Jonker/Martin Herzog, Körperschaftsstatus für muslimische Ahmadiyya Muslim Jama’at, Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa 2013.   7 Die Tagungen des Theologischen Forums Christentum – Islam werden seit 2003 jährlich publiziert, zuletzt: Christian Ströbele u. a. (Hg.), Welche Macht hat Religion? Anfragen an Christentum und Islam, Regensburg 2019.   8 Vgl. z. B. Rat der Religionen Hannover (Hg.), Religionen in Hannover. Mit Texten von Annedore Beelte-Altwig (Red. Wolfgang Reinbold/Ali Faridi/Hamideh Mohagheghi), Hannover 2016.   9 Einen Überblick über die Lage in Niedersachsen gibt mein Beitrag, Islam in Niedersachsen. Ein Rückblick auf die letzten 10 Jahre, in: Martina Blasberg-Kuhnke u. a. (Hg.), Institut für Islamische Theologie Osnabrück (IIT). Entwicklung, Zwischenstand und Perspektiven, Frankfurt am Main 2019, 5–24. Weitere Literatur dort. 10 Vgl. dazu Pew Research Center, May 29, 2018, Being Christian in Western Europe. Zur Lage in Ostdeutschland insbesondere: Detlef Pollack u. a., Grenzen der Toleranz. Wahrnehmung und Akzeptanz religiöser Vielfalt in Europa, Wiesbaden 2014; Coşkun Canan u. a., Ostdeutschland postmigrantisch – Einstellungen der Bevölkerung Ostdeutschlands zu Musliminnen und Muslimen in Deutschland, Berlin 2018. 11 Vgl. Bertelsmann Stiftung (Hg.), Religionsmonitor. Sonderauswertung Islam 2015; Naika Foroutan u. a., Deutschland postmigrantisch II. Einstellungen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu Gesellschaft, Religion und Identität, Berlin 22015.

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homogene Einheit dargestellt, die heute vor allem als Bedrohung wahrgenommen wird. Nach einer Studie des Georg Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung erscheinen Muslime oft als ein religiöses, vormodernes »Kollektiv außereuropäischer ›Anderer‹«, dem ein gleichfalls homogenes, »modernes Europa« gegenübergestellt wird.12 »Europa« und »Islam«, so scheint es dann, passen nicht zusammen. Dass es auch anders geht, zeigt ein jüngst erschienenes Geschichtsbuch, das von der Gemeinsamen Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission in Zusammenarbeit mit dem Georg-Eckert-lnstitut und dem Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften erarbeitet wurde. »Europa – Unsere Geschichte« heißt die Reihe, deren erster Band 2016 erschien. In Band 2 findet sich ein Kapitel mit der Überschrift »Religiöse Vielfalt – wie geht man damit um?«. Behandelt wird dort unter anderem ein Thema, von dem, so vermute ich, niemand aus meiner Generation je in der Schule gehört haben wird: »Viele Religionen und Konfessionen in Polen-Litauen«. Hier erfahren die Schülerinnen und Schüler, dass Katholiken, Orthodoxe und armenische Christen und Christinnen in Polen und Litauen, die ab Mitte des 14. Jahrhunderts durch eine Personalunion miteinander verbunden waren, »überwiegend friedlich mit Juden, Karäern und muslimischen Tataren« zusammenlebten. Garniert wird das Kapitel unter anderem mit Fotos, die einträchtig nebeneinander vier alte Gebetshäuser zeigen: Die Kirche der Polnischen Brüder in Silniczka (17. Jh.), die tatarische Moschee in Kruszyniany (18. Jh.), die Synagoge in Tykocin (17. Jh.) und die griechisch-katholische Kirche in Owczary (17. Jh.).13 Darüber hinaus wird eine Landkarte der Region Polen-Litauen abgebildet, auf der die wichtigsten Siedlungsgebiete von nicht weniger als 11 Glaubensgemeinschaften verzeichnet sind: Katholiken, Lutheraner, Böhmische Brüder, Karäer, Griechisch-Katholische (Unierte), Reformierte (Calvinisten), Armenier, Muslime (Tataren), Orthodoxe, Polnische Brüder, Juden. Die Analogie zur Gegenwart der Schülerinnen und Schüler ist hier mit Händen zu greifen. Heute ist es in den meisten Städten völlig normal, dass ich evangelische, katholische, humanistische, muslimische, orthodoxe, alevitische, jüdische, hinduistische, buddhistische oder jesidische Klassenkameradinnen 12 Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung, Keine Chance auf Zugehörigkeit? […] Ergebnisse einer Studie […] zu aktuellen Darstellungen von Islam und Muslimen in Schulbüchern europäischer Länder, Braunschweig 2011, 3. Zitat aus einem spanischen Schulbuch (2006): »Die Religion Islam ist mit ihren autoritären und patriarchalischen Strukturen an eine Zivilisation von Hirten und Bauern angepasst« (ebd., 10). 13 Zitate dieses Abschnittes aus: Europa. Unsere Geschichte. Band 2: Neuzeit bis 1815, Wiesbaden 2017, 72–79, hier 76.

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und -kameraden habe. Immer mehr Städte und Einrichtungen veröffentlichen interreligiöse Kalender, in denen die Feiertage all dieser Religions- bzw. Weltanschauungsgemeinschaften verzeichnet sind. Im Schulbuch »Europa – Unsere Geschichte« lerne ich: So war es in manchen Gegenden Europas schon immer. Das ist der erste Ertrag, den ich hervorheben möchte: 1. Islam und Europa: Diese Beziehung reicht weiter zurück, als es in unserem kul­­ tu­­rellen Gedächtnis verankert ist. Das zu (so gut wie) 100 Prozent christliche »Abendland« ist eine Fiktion, die von der historischen Realität zu keiner Zeit gedeckt war, weder im Mittelalter noch in der Neuzeit.14 Europäischen Islam gibt (bzw. gab) es seit alter Zeit, nicht nur in Polen-Litauen, sondern auch in Ungarn (wo er bis ins 10. Jahrhundert zurückreicht), Bosnien, Albanien, Makedonien, (Wolga-)Bulgarien, Weißrussland, der Ukraine, dem historischen Andalusien – und seit etwa einem Jahrhundert nun auch in Deutschland.15 Die älteste erhaltene Moschee Deutschlands steht in Berlin-­Wilmersdorf. Sie stammt aus dem Jahr 1925 und geht zurück auf das Wirken der Ahmadiyya-Muslime nach dem Ersten Weltkrieg.16 Nach der Unterzeichnung des Anwerbeabkommens mit der Türkei im Jahr 1961 entstanden schließlich überall im Land muslimische Gebetsräume, Moscheen und alevitische Cem-Häuser. In der letzten großen Studie wurde ihre Zahl auf 2.350 geschätzt.17 Eng damit zusammen hängt der zweite Punkt: 2. Islam, das ist nicht die fremde Religion im Südosten, sondern mitten in Deutschland. Die Bilder, die in Religionsbüchern und Zeitungen abgedruckt werden, wenn es um Islam geht, stammen nach wie vor oft aus dem türkisch-arabischen Raum. Osmanische Moscheen, Menschen mit Bärten in weißen Gewändern, Frauen mit Vollverschleierung, Kamele, Wüste und dergleichen repräsentieren das typisch Islamische. Einige Beispiele dafür wurden oben zitiert. Umso wichtiger ist es, immer wieder darauf hinzuweisen, dass es heute in fast jeder Stadt Moscheen gibt; dass man den meisten muslimischen Frauen und Män14 Vgl. Wolfgang Reinbold (Hg.), Christliches Abendland? Die kulturellen Wurzeln Europas und was wir dafür halten, Christen und Muslime in Niedersachsen. Beihefte, 4, Hannover 2015. 15 Vgl. Katarzyna Górak-Sosnowska, Muslims in Poland and Eastern Europe. Widening the European Discourse on Islam, Warschau 2011; Brian A. Catlos, Kingdoms of Faith. A New History of Islamic Spain, London 2018; Hussein Hamdan, Muslime in Deutschland. Geschichte – Gegenwart – Chancen, Heidelberg 2011, 8–20. 16 Vgl. Chalid-Albert Seiler-Chan, Der Islam in Berlin und anderwärts im Deutschen Reiche, Moslemische Revue 10, 1934, 112–119. 17 Vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge/Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung (Hg.), Islamisches Gemeindeleben in Deutschland, Nürnberg 2012, 7.

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nern nicht ansieht, dass sie Muslime sind; dass Muslim-Sein nicht dasselbe ist wie Türke-Sein oder Araber-Sein; dass die meisten muslimischen Frauen ihr Haar offen tragen und nur eine winzige Minderheit einen Niqab; dass Muslime Autos fahren und nicht auf Kamelen reiten; dass die meisten von ihnen noch nie in der Wüste gelebt haben, sondern hierzulande geboren und aufgewachsen sind und dieselben Berufe ausüben wie du und ich. All das klingt furchtbar banal, ja dumm. Die Beständigkeit solcher Zerrbilder vom »Muslim-Sein« sollte allerdings nicht unterschätzt werden. Nach wie vor formulieren viele ihre Sätze so, dass »Muslime« und »Deutsche« als sich ausschließende Gruppen erscheinen. Wer Muslim ist, kann nicht zugleich deutsch sein. Ein Muslim ist gewissermaßen per definitionem nicht deutsch. Dieses Bild ist tief im kollektiven Bewusstsein verankert. Fast jeden Tag höre oder lese ich einen Satz, in dem »Deutsche« und »Muslime« einander entgegengesetzt werden, in den Zeitungen, im Fernsehen, in Schule und Universität, selbst bei interreligiösen Dialogen und auf prominent besetzten Konferenzen zur Integrationspolitik. So selbstverständlich ist diese Entgegensetzung, dass eine Studie vor einigen Jahren resümierte, Musliminnen und Muslime würden »aus dem ›deutschen Wir‹ herausdefiniert«.18 Verstärkt wird dieser Effekt dadurch, dass Muslime und Musliminnen sich oft auch selbst aus dem »wir« ausschließen, indem sie sich ohne Rücksicht auf die tatsächlichen (Rechts-)Verhältnisse z. B. als »Türken« oder »Araber« bezeichnen, obwohl sie in Wahrheit deutsche Staatsbürger sind und das Land ihrer Eltern oder Großeltern nur aus dem Urlaub kennen.19 Eng mit dem zweiten Ertrag zusammen hängt der dritte Punkt: 3. Islam ist ähnlich vielgestaltig wie Christentum. Auch wenn der Satz »den Islam gibt es nicht« inzwischen fast zu einem geflügelten Wort geworden ist, erscheinen »die Muslime« in der allgemeinen Debatte oft als eine homogene Gruppe (die dann gern »uns« oder »den Deutschen« entgegengesetzt wird). Möglich werden solche Formulierungen, weil der Begriff »Muslim« seltsam unbestimmt ist.20 Wen meinen wir, wenn wir von »Muslimen« sprechen? Jede und jeden, die und der von muslimischen Eltern geboren ist? Wenn ja, was genau heißt »muslimische Eltern«? Genügt es, dass sie aus einem »islamischen Land« stammen? 18 Naika Foroutan u. a., Deutschland postmigrantisch I. Gesellschaft, Religion, Identität, Berlin 2014, 32. 19 Vgl. Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung (Hg.), Identifikation und politische Partizipation türkeistämmiger Zugewanderter in Nordrhein-Westfalen und in Deutschland. Ergebnisse der erweiterten Mehrthemenbefragung, Essen 2018. 20 Vgl. dazu Riem Spielhaus, Wer ist hier Muslim? Die Entwicklung eines islamischen Bewusstseins in Deutschland zwischen Selbstidentifikation und Fremdzuschreibung, Würzburg 2011.

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Was, wenn sie einer anderen Konfession angehören oder sich nie als Muslime verstanden haben? Was, wenn sie sich als »Atheisten« bezeichnen und von der Religion ausdrücklich nichts wissen wollen? Wie steht es um diejenigen, die sich selbst als »säkulare Muslime« begreifen? Wie steht es um die Aleviten? Die Liste ließe sich fortsetzen. Sie führt vor Augen, dass Muslime wie Musliminnen und Islam in vielerlei Hinsicht anders wahrgenommen werden als Christen, Christinnen und Christentum bzw. die Kirchen. Das fängt schon bei den Zahlen an. Die großen Kirchen können präzise angeben, wie viele Mitglieder sie aktuell haben. Wie viele Muslime und Musliminnen in Deutschland leben, weiß demgegenüber niemand. Alle im Umlauf befindlichen Zahlen beruhen auf Schätzungen, Meinungsumfragen und komplizierten Berechnungen.21 In der Tat: »den Islam« gibt es nicht, er ist ähnlich vielgestaltig wie das Christentum auch. In Deutschland leben Sunniten, Aleviten, liberale Muslime, »Kulturmuslime«, Schiiten, Alawiten, Sufis und Angehörige der Ahmadiyya Muslim Jamaat, um nur die wichtigsten Gruppen und »Konfessionen« zu nennen.22 Die Meinungen darüber, was denn »Islam« sei und was daraus für das tägliche Leben folge, gehen unter ihnen weit auseinander. Der intra­religiöse Dialog ist, so sagt es das Bonmot, oft schwieriger als der interreligiöse. Hinzu kommt ein weiteres: Die deutschen Moscheen wurden in der Regel von Migranten und Migrantinnen gegründet. Sie kamen aus der Türkei, aus Bosnien, Albanien, Marokko, Tunesien, Algerien, Ägypten, Irak, Iran, Syrien, aus dem Libanon, Afghanistan, Pakistan, Togo, Ghana, Benin, Gambia und vielen anderen Ländern. In manchen Städten versammelten sich die Migranten und Migrantinnen anfangs zum Gebet an einem gemeinsamen Ort. Recht bald aber differenzierte sich die Moscheelandschaft und es entstanden Gebetshäuser türkischer, bosnischer, albanischer, marokkanischer usw. Prägung.23 Kontakte zwischen den Moscheen gibt es in der Regel nur wenige, wenn überhaupt. Jedes Gebetshaus hat seine ganz eigene Tradition, Kultur und (Zweit-)Sprache. Alles in allem ist festzuhalten, dass Muslime bzw. »Menschen muslimischen Hintergrunds nicht per se religiöse, politische oder andere Einstellungen teilen«.24 Die deutsche Islamdebatte der letzten Jahre hat paradoxerweise dazu 21 Vgl. zuletzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hg.), Wie viele Muslime leben in Deutschland? Eine Hochrechnung über die Anzahl der Muslime in Deutschland zum Stand 31. Dezember 2015, Nürnberg 2016. 22 Ein Überblick z. B. bei Mathias Rohe, Der Islam in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme, München 2016, 80–95. 23 Vgl. etwa die Entwicklung in Hannover: Religionen in Hannover (s. o. Anm. 8) 147–167. 24 Riem Spielhaus, Muslime in der Statistik: Wer ist Muslim und wenn ja wie viele? Ein Gutachten im Auftrag des Mediendienstes Integration, Berlin 2013, 16.

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geführt, die betroffenen Personen immer stärker als Muslime zu identifizieren, sie zu »muslimisieren«, wie das neue Wort lautet. Damit gemeint ist ganz schlicht: Wenn jemand Abdel-Rahman oder Özdemir mit Nachnamen heißt, dann wird er und sie bei passender Gelegenheit gern gefragt, was denn zu dieser oder jener Frage eigentlich im Koran stehe. In diese Identitätsfalle sollten wir tunlichst nicht tappen.25 4. Islam und Christentum wachsen aus derselben Wurzel. Gemeinsam mit dem Judentum und der Religion der Bahai gehören Christentum und Islam zur selben Religionsfamilie. Christen wie Christinnen und Muslime wie Musliminnen beziehen sich auf den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Sie erzählen von Adam, Noah, Moses, Jesus und den Propheten (z. B. Sure 2,136). Ohne die Kenntnis der Bibel samt ihrer jüdischen und christlichen Auslegung ist der Koran nicht in seiner ganzen Tiefe zu verstehen. Bereits der Korantext selbst weist verschiedentlich darauf hin. »Bist du im Zweifel über das, was wir zu dir herniedersandten, dann frag doch die, die schon vor dir das Buch vorgetragen haben!«, heißt es etwa in der Sure »Jona« (10,94). Mit anderen Worten: Muslime und Musliminnen sollen Christen und Christinnen sowie Juden und Jüdinnen fragen, wenn sie mit der Auslegung des Korans unsicher sind. Juden und Jüdinnen sowie Christen und Christinnen können Muslimen und Musliminnen dabei helfen, den Koran besser und tiefer zu verstehen. Wie sehr das der Fall ist, hat insbesondere Angelika Neuwirth in den letzten Jahren eindrucksvoll gezeigt. Legt man die jüdischen und christlichen Bezugstexte neben den Koran, erweist sich etwa die berühmte Sure 112 als ein intertextuelles Meisterwerk. Es wird evident, dass das Bekenntnis »Sprich: Er ist Gott, einer, Gott, der Beständige. Er zeugt nicht, noch wurde er gezeugt. Und keiner ist ihm gleich« das jüdische und das christliche Glaubensbekenntnis reflektiert, transformiert und überbietet. Hinter dem Text sind – jede(r) jüdische und christliche Leser(in) spürt das sofort – auf einer zweiten Ebene sowohl das »Höre, Israel« aus dem fünften Buch Mose (Dtn 6,4) als auch das nizäno-konstantinopolitanische Glaubensbekenntnis deutlich herauszuhören. In maximaler, pathetischer Kürze löst der Korantext das jüdische Bekenntnis aus seinem Bezug auf das Volk Israel, und dem trinitarischen Nizänum mit seinen Kernbegriffen gennēthenta und homoousion tō Patri widerspricht er mit Nachdruck: Gott »zeugt nicht, noch wurde er gezeugt. Und keiner ist ihm gleich«.26 25 Amartya Sen, Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt, München 2007. 26 Angelika Neuwirth, Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang, Berlin 2010, 761–768.

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Christentum und Islam gehören zur selben Religionsfamilie. Sure 112 zeigt das im Brennglas. Zugleich weist der Text darauf hin, dass diese Schwesternschaft harte Konkurrenz mit sich bringt. Christentum und Islam mögen sich – und sie streiten sich oft heftig und unversöhnlich.27 Die »Mahometisten« seien, so konstatiert es das Augsburger Glaubensbekenntnis kurz und trocken, lediglich eine weitere Ketzerei neben Manichäern, Valentinianern, Arianern, Eunomianiern und Samosatenern.28 Und Luther formuliert in seiner Übersetzung der Confutatio Alcorani des Ricoldus de Montecrucis grob und stark: »So ist zu mercken, das alle den unflat, so der Teufel durch andere Ketzer hin und wider gestrewet, den hat er durch Mahmet auff einen hauffen heraus gespeiet.«29 Alles in allem gleicht das Verhältnis der Schwesterreligionen Christentum und Islam einem Wackelbild: Je nach dem, von welcher Seite ich da­rauf schaue, sieht es so oder so aus. Die eine Seite Konkurrenz und Streit und womöglich sogar Gewalt – die andere Seite herzliches familiäres Einvernehmen über grundlegende Punkte wie Gebet, Almosen/Zakat, Fasten und sogar über das Doppelgebot der Liebe.30 5. Islam, das heißt (im Grundsatz): Orthopraxie. Der Islam ist, wie das Judentum, im Grundsatz eine orthopraktische Religion. Was das im Kern bedeutet, ist insbesondere für evangelische Christen und namentlich für Lutheranerinnen nur mit größter Mühe nachzuvollziehen.31 Islam ist traditionellerweise Tun, und zwar ein ganz bestimmtes. In den einschlägigen Handbüchern, die in den Moscheen und den islamischen Buchläden zu erwerben sind, ist es bis in die

27 Vgl. etwa Ilmihal. Der gelebte Islam, Frankfurt am Main o. J. [ca. 2007], 384–388; Ömer Nasuhi Bilmen, Feinheiten islamischen Glaubens. Islamischer Katechismus, o. J., o. O. [Bochum 2004], 467 f.; Wolfgang Reinbold/Hamideh Mohagheghi, Jesus: Prophet oder Sohn Gottes?, in: Meißner, Handbuch (s. o. Anm. 2) 129–138. 28 Zum Islambild der Reformation s. Thomas Kaufmann, ›Türckenbüchlein‹. Zur christlichen Wahrnehmung ›türkischer Religion‹ in Spätmittelalter und Reformation, FKD 97, Göttingen 2007; Johannes Ehmann, Luther, Türken und Islam. Eine Untersuchung zum Türken- und Islambild Martin Luthers (1515–1546), QFRG 80, Gütersloh 2008. 29 Verlegung des Alcoran Bruder Richardi, Prediger Ordens. Verdeutscht und herausgegeben von Martin Luther. 1542, WA 53, 273–388: 279; Johannes Ehmann (Hg.), Ricoldus de Monte­ crucis Confutatio Alcorani (1300). Martin Luther, Verlegung des Alcoran (1542). Kommentierte lateinische-deutsche Textausgabe, CISC 6, Würzburg 1999, 38. 30 Vgl. Ein Wort, das uns und euch gemeinsam ist. Ein Offener Brief und Aufruf von Religiösen Führern der Muslime an die Religiösen Führer des Christentums, Amman 2007; dazu: Friedmann Eißler (Hg.), Muslimische Einladung zum Dialog. Dokumentation zum Brief der 138 Gelehrten (»A Common Word«), EZW-Texte 202, 2009. 31 Vgl. die Reflexionen von Wolf Ahmed Aries, Islam – ein widerständiger Glaube. Grundlegungen für Selbstverständnis und Verständigung, Berlin 2016.

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Einzelheiten hinein beschrieben.32 Islam hat danach zu tun mit »Scharia«, d. h. mit dem rechten islamischen »Weg«.33 Er kommt nicht aus ohne Kategorien wie halal und haram (erlaubt/verboten), und in Zweifelsfällen braucht es eine fatwa, d. h. ein Rechtsgutachten zu einer bestimmten, die korrekte Praxis betreffenden Frage. Etwa: Darf ich als Profifußballer im Ramadan essen und/oder trinken? Darf ich mir die Nägel lackieren? Darf ich mir im Ramadan die Zähne putzen? Christinnen und Christen runzeln an dieser Stelle meist die Stirn. Zu bizarr erscheint eine solche Frage insbesondere aus evangelischer Perspektive. Oft höre ich Reaktionen wie: Was hat denn das Zähneputzen mit der Religion zu tun? Muss man solche Fragen wirklich diskutieren? Und wenn dem wirklich so sein sollte: Kann ich eine solche Petitesse denn nicht selbst entscheiden? Dazu braucht es ein Rechtsgutachten? So ist es, nach der konservativen Auslegung, die in den allermeisten (sunnitischen) Moscheen die übliche ist. Die freie Auslegung durch den einzelnen Muslim (idschtihad) ist danach nicht bzw. nur unter ganz bestimmten Bedingungen zulässig. In Zweifelsfragen habe ich mich an speziell dafür ausgebildete Gelehrte bzw. die einschlägigen Handbücher zu wenden. Die Orthopraxie ist grundsätzlich nicht verhandelbar. So ist es im konservativen und orthodoxen Judentum, und so ist es im konservativen Islam. Solange diese Position unter den in Deutschland lebenden Muslimen und Musliminnen vorherrscht, sind Konflikte bei typischen Themen wie Gebet (einschließlich der dazugehörigen rituellen Reinigung, die zur Not z. B. auf der Schultoilette verrichtet wird), Halal-Lebensmitteln, Alkohol, Kopftuch, Beschneidung und Gender unvermeidlich. Zwar sind in jüngerer Zeit Bestrebungen zu verzeichnen, einen »liberalen Islam« zu etablieren, etwa beim 2010 gegründeten Liberal-Islamischen Bund e. V. oder der jüngst gegründeten »Initiative säkularer Islam«.34 Die große Mehrheit der in Deutschland lebenden Muslime folgt diesem Weg einstweilen aber nicht. Als sechsten und letzten für den Religionsunterricht relevanten Ertrag möchte ich hervorheben: 6. Islam, das heißt wesentlich: (schöne) Rezitation. Der Koran ist nicht in erster Linie ein Text, sondern er ist zunächst und vor allem Lesung, Rezitation (arabisch: Qur’an). Die frühe islamische Kultur war eine mündliche Kultur. Am 32 Vgl. z. B. Ilmihal (s. o. Anm. 27); Bilmen, Feinheiten (s. o. Anm. 27); Abdullah Leonhard Borek, Islam im Alltag. Eine Handreichung für deutschsprachige Muslime, Köln 1999; Rauf Pehlivan, Grundwissen für Frauen. Gemäß der Hanafitischen Madhab, Duisburg o. J. [2010]. 33 Vgl. dazu Mathias Rohe, Das islamische Recht. Eine Einführung, München 2013, 9–13. 34 Vgl. auch Abdel-Hakim Ourghi, Reform des Islam. 40 Thesen, München 2017.

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Beginn der islamischen Überlieferung steht (nach traditioneller Auffassung) die mündliche Tradition. Sie war wichtiger als der Text, der in seiner frühen, unpunktierten Gestalt im Grunde nur der Erinnerung des Rezitators diente, der ihn ohnehin auswendig konnte.35 Auch heute ist die islamische Religion kaum zu verstehen ohne ein gewisses Gespür für die Bedeutung der Rezitation des Qur’an. »Gott ist schön«, heißt ein bekanntes Buch von Navid Kermani.36 Schön wie die nach traditioneller Auffassung unnachahmliche Poesie des Korans in arabischer Sprache, schön wie die Rezitation, wenn sie von jemandem vorgetragen wird, der diese Kunst beherrscht. Christen und Christinnen fragen nach einer Rezitation in der Moschee oder zum Fastenbrechen oft als erstes: Was bedeutet das, was da vorgetragen wurde? Für Muslime und Musliminnen stellt sich diese Frage nach meiner Erfahrung nicht oder jedenfalls nicht an erster Stelle. Bei einem Fasten­brechen fragte ich kürzlich einen Jugendlichen, der die Rezitation mit gerade einmal 15 Jahren in einer solchen Perfektion vorgetragen hatte, dass ich beeindruckt war. Er erklärte mir, wie lange er dafür geübt hatte (einmal die Woche zwei Stunden, seit er sechs war) – und dass er als nächstes Arabisch lernen wolle. Auch das ist für evangelische Christen und Christinnen nicht eben leicht nachzuvollziehen: Da rezitiert jemand den Text, der als Wort Gottes gilt, aber er versteht nicht, was es bedeutet (bzw. er muss in der deutschen Übersetzung nachschlagen, um es zu verstehen)? So ist es. Im Zentrum der Rezitation steht die Form, die Schönheit, die Poesie der Offenbarung in der arabischen Sprache, nicht die Übersetzung ins Deutsche oder gar die Auslegung dessen, was vorgetragen wurde (so wichtig auch das ist). Muslime und Musliminnen glauben an einen Gott, wie Kermani formuliert, »der zu dichten verstand«.37 Die Liste der für den Religionsunterricht relevanten Erträge des christlichmuslimischen Dialogs ließe sich fortsetzen. Ich fasse die sechs dargelegten Punkte noch einmal zusammen: Islam und Europa: Diese Beziehung reicht weiter zurück, als es in unserem kulturellen Gedächtnis verankert ist (in dem Muslime und Musliminnen »die Anderen« sind); Islam ist nicht die fremde Religion im Südosten, sondern mitten in Deutschland (und viele Muslime und Musliminnen sind keine »Ausländer«, sondern Deutsche); Islam ist ähnlich 35 Vgl. etwa Wolfgang Reinbold (Hg.), Mohammed – Koran – Imam – Scharia. Grundthemen des Islam im Gespräch, Christen und Muslime in Niedersachsen. Beihefte, 9, Hannover 2018, 8–9.21–25 und passim. 36 Navid Kermani, Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München 62018. 37 Ebd. 93.

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vielgestaltig wie Christentum (und manche Muslime und Musliminnen sind dezidiert nicht religiös); Islam und Christentum wachsen aus derselben Wurzel (was eine gute Grundlage für das Gespräch ist, aber auch zu harter Konkurrenz führt); Islam, das heißt im Grundsatz: Orthopraxie (und zwar eine ganz bestimmte); Islam, das heißt wesentlich: (schöne) Rezitation (die man einmal persönlich erlebt haben sollte).

Dr. Wolfgang Reinbold ist Beauftragter der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers für den Dialog zwischen Kirche und Islam und apl. Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen.

Didaktische Konkretionen

Wie wollen Musliminnen und Muslime im evangelischen und katholischen Religionsunterricht thematisiert werden? Fahimah Ulfat

1 Einleitung Das Verhältnis zwischen Islam und Christentum in Deutschland ist ein überaus produktives. Sowohl beide Kirchen als auch die Kolleginnen und Kollegen der evangelischen und katholischen Theologie und Religionspädagogik sind bis heute in entscheidender Weise daran beteiligt, Infrastrukturen für die Einführung des Islamischen Religionsunterrichts zu schaffen, sowie für den Aufbau der Islamischen Religionspädagogik als Fach in der deutschen Hochschullandschaft. Seit Jahrzehnten werden große Anstrengungen im Bereich des interreligiösen Dialogs unternommen, deren Früchte wir allmählich ernten können. Das Bild vom Islam und von Musliminnen und Muslimen hat sich nicht zuletzt durch die Bemühungen der Geschwistertheologien mittlerweile gewandelt und ist differenzierter geworden. Die folgenden Überlegungen, die sich mit der Frage befassen, wie Musliminnen und Muslime im evangelischen und katholischen Religionsunterricht thematisiert werden wollen, zeigen beispielhaft einzelne Aspekte auf, die in zwei Religionsschulbüchern für den evangelischen und katholischen Religionsunterricht zu finden sind. Die aufgefallenen, als eher »pro­blematisch« identifizierten Aspekte sind als eine kritische Würdigung gedacht, die im Vertrauen auf die wachsenden guten Beziehungen in freundschaftlicher Absicht verfasst wurden. In diesem Bemühen liegt die Hoffnung, dass diese Anmerkungen auch im selben Geist entgegengenommen werden. Aufgegriffen werden drei Fragen, die der Autorin dieses Artikels von den Herausgeberinnen und Herausgebern gestellt wurden: Ȥ Wenn Sie auf Lehrpläne und/oder Unterrichtsmaterialien zum Thema Islam für den evangelischen oder katholischen Religionsunterricht schauen: Was fällt Ihnen als problematisch auf? Ȥ Gibt es auch Dinge, die Sie – schon jetzt – positiv würdigen möchten? Wenn Sie mögen, nennen Sie Beispiele. Ȥ Können Sie ein wenig näher umreißen, wie der evangelische/katholische Religionsunterricht dieser Kritik entgegenwirken kann? Wie müsste sich der Unterricht verändern? Welche Inhalte wären zu betonen?

Musliminnen und Muslime im evangelischen und katholischen Religionsunterricht

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Um diese Fragen beantworten zu können, wird beispielhaft ein Blick in die Schulbücher »Kursbuch Religion« (evangelisch) und »Mittendrin« (katholisch) für die 7. und 8. Jahrgangsstufe an Gymnasien in Baden-Württemberg geworfen, da das Thema Islam sowohl im katholischen als auch im evangelischen Religionsunterricht für diese Jahrgangsstufe vorgesehen ist. Es wird untersucht, welche Informationen in welcher Form auf den Seiten zum Islam bereitgestellt werden und was dabei im Sinne der Fragen als positiv oder als problematisch auffällt. Abschließend werden Herausforderungen und Chancen der Thematisierung des Islam in den Schulbüchern benannt.

2 Unterrichtsmaterial zum Thema Islam für den katholischen Religionsunterricht Das Kapitel »Muslimen Begegnen«, das im Folgenden analysiert wird, entstammt dem Schulbuch »Mittendrin« für den katholischen Religionsunterricht für die Klassenstufen 7 und 8 für Gymnasien in Baden-Württemberg, das in 5. Auflage erschienen ist.1 Das Religionsbuch »Mittendrin« räumt mit dem 24-Seiten starken Kapitel »Muslimen Begegnen« dem Thema Islam großen Raum ein. Sofort fällt die äußerst wertschätzende Art und Weise auf, wie über den Islam sowie über Musliminnen und Muslime berichtet wird. Es wird betont: »Nur in der Begegnung von Mensch zu Mensch, im Gespräch können Vorurteile und Ängste abgebaut, kann Verbindendes gefunden und Neues entdeckt werden.«2 Der Einstieg erfolgt über das Thema Vorurteile und Zerrbilder und fordert Schülerinnen und Schüler auf, Islambilder, die die Gesellschaft und die Medien bestimmen, kritisch herauszuarbeiten. Die Schülerinnen und Schüler werden von Beginn des Kapitels an sensibilisiert für Pauschalisierungen und negative Darstellungen von Islam, Musliminnen und Muslimen. Auf den folgenden Seiten 138/139 geht es um die Begriffe »Gott« und »Allah«, die gleichgesetzt werden. Durch diese Gleichsetzung wird von Beginn an klargestellt, dass Christinnen und Christen und Musliminnen und Muslime an denselben Gott glauben. Es wird herausgearbeitet, dass »der Islam in der Tradition des jüdischen Gottesglaubens« steht und dass für Musliminnen und Muslime »die christliche Vorstellung eines einzigen und zugleich dreifaltigen Gottes nur 1 Iris Bosold/Wolfgang Michalke-Leicht (Hg.), MITTENDRIN 2 (7./8. Jg.): Lernlandschaften Religion. Unterrichtswerk für den katholischen Religionsunterricht an Gymnasien in BadenWürttemberg, München 52013. 2 Ebd., 120.

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schwer verständlich« ist, ohne diese Gegebenheiten zu be- oder verurteilen.3 Nirgendwo kommt der Eindruck auf, dass die eigenen katholischen Vorstellungen moralisch überhöht, aufgewertet oder idealisiert werden. Auf Seite 124 wird das Thema »Bilderverbot im Islam« aufgegriffen. Das sogenannte Bilderverbot wird mit der Formulierung »Der Islam verbietet …« erklärt. Formulierungen dieser Art sind, wie im Folgenden erläutert wird, alles andere als unproblematisch. Aussagen wie »Der Islam verbietet …« führen dazu, dass dieser als eine Art abgeschlossene Größe, die außerhalb des Subjekts verortet ist, wahrgenommen wird. Mit Islam wird im Koran dagegen eine Haltung und eine fortgesetzte Handlung bezeichnet, ein Akt der Ergebung und Hingabe gegenüber Gott. Die Setzung von Normen ist aus dieser Perspektive betrachtet, eine Handlung, die aus dieser Haltung heraus vollzogen wird. Normen, die es unter Musliminnen und Muslimen gibt, sind also menschlichen Subjekten zuzuschreiben und keiner abstrakten Größe namens »Islam«. Sätze, in denen »der Islam« als ein Subjekt agiert, sind »ein sehr gutes Beispiel für die Ideologisierung im wortwörtlichen Sinne. Denn es ist die Illusion, dass eine Idee oder eine Kategorie selbstseiend und selbstständig sein kann. So ein Satz vermittelt, dass das, was man Islam nennt, separat von den Menschen existieren kann, dass er über sie eine Macht von außen ausüben kann, weil er getrennt von ihnen existiert«.4 Sätze wie »Der Islam verbietet …« entpuppen sich als falsch, denn nur vernunftbegabte Wesen können etwas wollen oder verbieten. Zum sogenannten Bilderverbot muss klar gestellt werden, dass es weder im Koran noch in der Tradition des Propheten dafür klare Anhaltspunkte gibt. Es geht vielmehr um das Verbot, Figuren herzustellen oder Zeichnungen anzufertigen, die angebetet werden.5 Daher ist es sprachlich korrekter, davon zu sprechen, dass die Mehrheit der Musliminnen und Muslime es vermeidet, Gott oder seine Gesandten abzubilden. Auf Seite 125 werden die 99 Namen Gottes sowohl in arabischer Originalversion als auch in deutscher Übersetzung aufgelistet. Die Schülerinnen und Schüler sollen als Arbeitsauftrag einen Namen auswählen, der sie besonders 3 Ebd., 124. 4 Ali Ghandour, Was ist islamisch? Eine kritische Untersuchung der Ausdrücke ›Islam ist …‹, ›islamisch‹ und ›im Islam‹, in: Cefli Ademi/Mathias Rohe (Hg.), Jahrbuch für Islamische Rechtswissenschaft, München 2021, in Veröffentlichung. 5 Vgl. ausführlich Bilal Badat, Mit Bildern und Figuren in den Islamischen Religionsunterricht – Muslimische Standpunkte zur figürlichen Darstellung: Debatten, Herausforderungen und Anregungen für den Religionsunterricht, in: Fahimah Ulfat/Ali Ghandour (Hg.), Islamische Bildungsarbeit in der Schule. Theologische und didaktische Überlegungen zum Umgang mit ausgewählten Themen im Islamischen Religionsunterricht, Wiesbaden 2020, 189–212.

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anspricht, und ihn künstlerisch gestalten. Dabei drängt sich natürlich sofort die Frage auf, was die Schülerinnen und Schüler bei Namen wie »der Erniedrigende«, »der Hochmütige«, »der Schädliche« oder »der Demütigende« denken und empfinden. Es stellt sich weiterhin die Frage, wie die Lehrkraft solche Namen sinnvoll erklären kann, wenn die zu erwartende Nachfrage seitens der Schülerinnen und Schüler kommt. Auch sehr abstrakte Namen wie »der In-sichSeiende« stellen ein didaktisches Problem dar. Hier ist zunächst eine Sprach­ sensibilität gefordert, die solche »problematischen« Namen bei der Übersetzung in einen verständlichen Kontext rückt. Auf der diesem Thema folgenden Doppelseite 126/127 wird das Leben Muhammads dargestellt. Wie in vielen anderen biografischen Darstellungen wird er als »Staatsmann und Gesetzgeber« bezeichnet. Problematisch an solchen Bezeichnungen ist, dass es zu der damaligen Zeit im näheren und geografischen Umfeld Muhammads so etwas wie Staaten nicht gab. In der Zeit, in der der Prophet lebte und agierte, gab es in seinem Umfeld keine klaren Grenzen, kein Militär und keine Ämter. Die bestimmenden politischen Größen waren von bedeutenden Familien geleitete Stämme. Muhammad kann daher weder als Staatsmann im heutigen Sinne noch als Herrscher über ein Reich bezeichnet werden. Er war vielmehr das Oberhaupt einer religiösen Gemeinschaft. Freilich hat er in dieser Gemeinschaft für die Einhaltung von Normen gesorgt, die das öffentliche Leben betrafen, er hat beispielsweise Marktregeln bestimmt usw., und da diese Gemeinschaft natürlich nicht im luftleeren Raum existierte, musste er sie nach außen hin vertreten – mit diplomatischen wie mit militärischen Mitteln. Weder er selbst noch seine Anhänger verstanden sich als Staatengründer, sondern als eine religiöse Gemeinschaft, die ihr Überleben sicherte. Das ist insofern von entscheidendem Belang, weil weder der Koran noch die Tradition des Propheten Hinweise darauf geben, wie ein Land oder ein Reich regiert werden soll oder wie eine Herrschaft auszusehen hat. Erste Züge einer staatsähnlichen Herrschaft finden sich bei den Nachfolgern des Propheten, die Herrschafts- und Verwaltungsstrukturen aus dem Persischen und dem Byzantinischen Reich übernahmen. Aussagen wie »Staatsmann und Gesetzgeber« verschleiern den langen und komplizierten historischen Prozess, in dem aus der Gemeinschaft Muhammads ein Großreich wurde, das byzantinische, persische und arabische Herrschaftsformen in sich vereinigte. Sie suggerieren stattdessen, dass die in diesem Prozess entstandenen Herrschaftsformen eins zu eins vom Koran vorgegeben und legitimiert würden. Es ist dagegen von großer Bedeutung, den Schülerinnen und Schülern die Komplexität und Vielschichtigkeit dieses historischen Prozesses plausibel zu machen, um den Kurzschluss etlicher fundamenta-

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listischer Gruppierungen sichtbar zu machen, die behaupten, die historisch gewachsenen Herrschaftsstrukturen des jungen islamischen Großreiches seien unmittelbar auf Muhammad und den Koran zurückzuführen und von ihnen legitimiert. Zudem sind einige kleine Inkorrektheiten in der Biografie enthalten, die aber nicht ausschlaggebend sind, wie zum Beispiel in folgenden Sätzen: »Im Alter von etwa 25 Jahren heiratete Muhammad die 20 Jahre ältere, wohlhabende Khadidja.«6 In den überlieferten Biografien des Propheten ist es Konsens, dass die Heirats­absicht von Khadidja ausging und dass Muhammad ihr Angestellter war. Eine korrekte Formulierung würde dazu beitragen, den weit verbreiteten Bildern der »passiven orientalischen« Frauen, die historische Vielschichtigkeit entgegenzustellen. Die Seiten 128 und 129 beschäftigen sich mit dem Koran, der als »unerschaffen und ewig wie Gott selbst« beschrieben wird. Dass Musliminnen und Muslime sich seit Anbeginn mit der Frage nach der Erschaffenheit oder Unerschaffenheit des Koran auseinandersetzen, wird nicht thematisiert. Ein »wissenschaftliches Vorgehen« bezüglich der Texte des Koran würde »von vielen Muslimen abgelehnt«. Damit ist gemeint, »dass der Koran – ähnlich wie die Bibel – eine historisch rekonstruierbare Entstehungsgeschichte aufweist und entsprechend interpretiert werden kann«.7 Die Bereitschaft, sich dem Koran in dieser Weise zu nähern, wird »vielen Muslimen« abgesprochen.8 Es würde ein weiteres Mal der Vielschichtigkeit der muslimischen Community gerecht werden, die »vielen anderen Muslime« und ihre Bemühungen um einen adäquaten historischen Zugang zum Koran ebenfalls zu Wort kommen zu lassen. Denn der Koran kann ohne eine präzise Analyse der Hintergründe und Rahmen­ bedingungen der »Offen­barungsanlässe« überhaupt nicht verstanden werden.9 Es gehört zur Tradition der Koranauslegung, in der theologischen Annäherung an den Text, diese Entstehungsgeschichte mit einzubeziehen. Zudem ist der Koran in den meisten Teilen außerordentlich vieldeutig, sodass ein adäquates Verständnis immer eine Kommunikation zwischen dem historischen und dem aktuellen Kontext erfordert. Dass der Koran in diesem Zusammenhang als »letzte Norm« für »Politik und Gesellschaft, für Wissenschaft und Kunst«10 beschrieben wird, geht am Selbst  6   7   8   9

Bosold/Michalke-Leicht, MITTENDRIN, 126. Ebd., 128. Ebd., 128. Vgl. dazu Andrew Rippin, Occasions of Revelation, in: Encyclopaedia of the Qurʾān, http:// dx.doi.org/10.1163/1875-3922_q3_EQSIM_00305 (Zugriff am 20.03.2020). 10 Bosold/Michalke-Leicht, MITTENDRIN, 128.

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anspruch des Koran weit vorbei. Der Koran sagt kaum etwas über diese Bereiche, geschweige denn dass er hier im großen Maßstab Normen aufstellt. Formulierungen wie diese leisten dem unzutreffenden Eindruck Vorschub, dass das Leben von Musliminnen und Muslime sich nur nach den Regeln des Koran richtet und dass im Koran wiederrum das muslimische Leben komplett geregelt sei. Mit der Entstehung und Ausbreitung des Islam beschäftigen sich die Seiten 130/131. Die Ausbreitung des Islam als Religion wird einseitig mit der Geschichte der Kriege und Eroberungen islamisch geprägter Staaten gleichgesetzt. Diese Gleichsetzung ist außerordentlich problematisch. Die Verbreitung des Islam als Religion fand zwar nicht selten parallel mit den militärischen Anstrengungen muslimischer Staaten statt, ist aber keinesfalls mit ihr gleichzusetzen. Es gab immer religiöse Verbreitung des Islam ohne Herrschaft und muslimische Herrschaft ohne Verbreitung des Islam. Das Thema Kopftuch nimmt eine Doppelseite ein (138/139). Es werden Aussagen zum Thema Kopftuchverbot von Seyran Ateş (Rechtsanwältin) und Yasemin Karakaşoğlu (Professorin für Interkulturelle Bildung an der Universität Bremen) nebeneinandergestellt, die beide kein Kopftuch tragen. Kopftuchträgerinnen kommen nicht zu Wort. Ein Arbeitsauftrag zum Thema lautet, dass Schülerinnen und Schüler Sure 24:31 lesen sollen und anschließend selbst Stellung zu der »umstrittenen Frage« nehmen sollen, »ob der Koran das Tragen eines Kopftuchs oder Schleiers vorschreibt«.11 Dieser Arbeitsauftrag ist als außerordentlich problematisch anzusehen, denn er weist einen irreführenden Weg im Umgang mit dem Koran. Ein adäquates Verständnis dieses Textes ist keineswegs gegeben, wenn man einen Vers herausgreift und dann auf dessen Basis beurteilt, ob etwas vorgeschrieben ist oder nicht. Nicht umsonst wird diese Frage unter Musliminnen und Muslimen sehr kontrovers diskutiert. Um einen Vers aus dem Koran zu verstehen, bedarf es einer hermeneutischen Methodik und vor allem der Kenntnis des historischen Kontextes (siehe oben), ohne den die Verse nicht adäquat zu verstehen sind. Ein solches Vorgehen führt zu einem literalistischen Verständnis des Koran, eine Zugangsweise, die Ursache zahlreicher hinlänglich bekannter Fehldeutungen ist. Ein weiterer heikler Punkt ist in diesem Zusammenhang ein völlig allein für sich stehender Arbeitsauftrag, nach dem die Schülerinnen und Schüler »in der Zeitung, in der TV-Berichterstattung oder im Internet nach beispielhaften Fällen von Zwangsheirat und Ehrenmorden« suchen sollen.12 Dieser Arbeitsauftrag wird im Anschluss an die Erörterung des Themas Kopftuch erteilt, ein 11 Ebd., 139. 12 Ebd.

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eigener Textabschnitt zu den Themen Zwangsheirat und Ehrenmord fehlt. Es ist nicht nur problematisch, dass auf diese Weise den Schülerinnen und Schülern ein unmittelbarer Zusammenhang der Themenkomplexe Kopftuch einerseits und Zwangsheirat bzw. Ehrenmorde andererseits suggeriert wird, es ist überdies auch sicher dringend geboten, die heiklen Themen Zwangsheirat und Ehrenmorde in ihre komplexen, auch religiös reichlich kontrovers diskutierten kulturellen Zusammenhänge zu stellen. Das Thema islamischer Fundamentalismus, das auf den Doppelseiten 140/141 thematisiert wird, wird aus einer innermuslimischen Perspektive erläutert. Es ist ein Textauszug aus dem Buch von Tahar Ben Jelloun abgedruckt, in dem er mit seiner Tochter über die Ursachen und Folgen des Anschlags vom 11. September 2001 spricht. Diese Vorgehensweise ist sehr zu begrüßen, weil sie beispielhaft zeigt, dass auch zahllose Musliminnen und Muslime solche Attentate im Namen der Religion entschieden verurteilen.13 Somit wird den Schülerinnen und Schülern der Unterschied zwischen politischen und religiösen Agenden deutlich gemacht und ihnen ein Verständnis des Problems der Missbrauchbarkeit von Religion ermöglicht. Besonders zu würdigen ist, dass am Ende des Kapitels das Verhältnis zwischen Christentum und Islam mithilfe des offenen Briefs muslimischer Gelehrter an Papst Benedikt XVI (A Common Word) und der Erklärung des II. Vatikanums (Nostra aetate), die in Teilen nebeneinander abgebildet werden, thematisiert wird. Im Anschluss daran werden der interreligiöse Dialog vor Ort und seine Potenziale zum Thema gemacht und angeregt (142/143).

3 Unterrichtsmaterial zum Thema Islam für den evangelischen Religionsunterricht Das Kapitel »Den Islam erkunden«, das im Folgenden analysiert wird, entstammt dem Schulbuch »Das Kursbuch Religion 2« für den evangelischen Religionsunterricht für die Klassenstufen 7 und 8 für Gymnasien in Baden-­ Württemberg.14 Das Kapitel gibt dem Thema Islam 14 Seiten Raum. Zunächst werden einige Grundinformationen geliefert. Besonders positiv fällt auf, dass die Bedeutung des Begriffs Islam als »sich hingeben« wiedergegeben wird.15 Die fünf Säulen 13 Vgl. ebd., 141. 14 Heidrun Dierk/Petra Freudenberger-Lötz/Michael Landgraf/Hartmut Rupp (Hg.), Das Kursbuch Religion 2. Arbeitsbuch für den Religionsunterricht im 7./8. Schuljahr, Stuttgart 2016. 15 Ebd., 204.

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des Islam werden in Form einer Moschee mit Säulen dargestellt. Zwei Sprechblasen im Bild enthalten folgende Formulierungen: »Es gibt keinen Gott außer Allah …« »… und Mohammed ist sein Prophet«.16 Dabei fällt auf, dass die Übersetzung »Es gibt keinen Gott außer Allah« nahe legt, dass Allah und Gott unterschiedliche Gottheiten seien. Die Tatsache, dass der von Christinnen und Christen verehrte Gott und Allah aus muslimischer Perspektive ein und dasselbe sind, wird nicht thematisiert. Wünschenswert wäre hier eine der muslimischen Sicht adäquate und spachsensible Übersetzung. Beispielsweise: »Es gibt keine Gottheit außer dem einen Gott.« Die beiden nächsten Seiten des Buches behandeln das Thema Integration (206–207). Dabei werden die Lebensgeschichten von drei Musliminnen und Muslimen und einem Aleviten wiedergegeben. Dazu sei angemerkt, dass thematisiert werden müsste, ob Aleviten selbst mit der Subsumierung unter dem Dach des Islam einverstanden sind oder nicht. Die Arbeitsaufgaben zu den Lebensgeschichten bieten einen Einblick in das Ziel dieser Doppelseite: Eine der Arbeitsaufgaben fordert die Schülerinnen und Schüler auf, zu untersuchen, wie gut die vier Personen in Deutschland integriert sind. Die Bedeutung von Integration wird aber überhaupt nicht kritisch thematisiert. Das Buch scheint davon auszugehen, dass die Schülerinnen und Schüler bereits wüssten, was »Integration« ist. Es fehlt eine Diskussion darüber, was Integration ist, was die Ziele von Integration sind und dass es zu der Frage, was eine gelungene Integration ausmacht, keinen gesellschaftlichen Gesamtkonsens gibt. Das wird auch bei der zweiten Arbeitsaufgabe deutlich: »Erörtert gemeinsam anhand der Beispiele, ob es eine besondere Rolle der Frau im Islam gibt.«17 Dabei liefern die Kurzbiografien der beiden muslimischen Frauen ein recht eindeutiges Bild: Sie können sich »erfolgreich« integrieren, müssen dabei aber Hindernisse überwinden, die, so legt es der Text nahe, in der »besondere[n] Rolle der Frau im Islam« begründet sind. Diese implizite Annahme ist hochproblematisch, weil sie ein komplexes Gemenge von religiösen, kulturellen und regionalen Mustern in einen Topf wirft. Es wäre wünschenswert, den Schülerinnen und Schülern an dieser Stelle einen Einblick in die Vielschichtigkeit dieses Gemenges zu ermöglichen, bei dessen Überwindung »der Islam« keineswegs immer und ausschließlich die Rolle eines Bremsers einnimmt.18 Die »Ausbreitung des Islam« wird auf Seite 208 durch eine Karte verdeutlicht, die in ihrer Darstellung dem Usus historischer Atlanten folgt. Problema16 Ebd. 17 Ebd., 206. 18 Vgl. dazu beispielsweise die Vielfalt der Biografien in Hilal Sezgin, Typisch Türkin? Porträt einer neuen Generation, Freiburg i. Br. 2006.

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tisch ist dabei die implizite Gleichsetzung der Eroberungen der frühen muslimischen Gemeinschaft und des Umayyadenreichs mit der komplexen und keineswegs zeitgleich erfolgenden Ausbreitung des Islam als Religion in den eroberten Gebieten.19 Damit wird ein weiteres Mal das Bild eines eindimensionalen Islam »mit Feuer und Schwert« reproduziert.20 Auf Seite 209 wird das Glaubensbekenntnis der Musliminnen und Muslime thematisiert. Ein Dialog zwischen zwei Freunden – ein Christ und ein Muslim – wird wiedergegeben. Der Text hat das Ziel, den Glauben an Gott aus muslimischer und christlicher Perspektive zu beleuchten. Mit der theologischen Formulierung »wahrer Mensch und wahrer Gott« als Bezeichnung für Jesus markiert der christliche Gesprächspartner einen entscheidenden dogmatischen Unterschied. Problematisch ist der darauffolgende Dialog. Der Christ stellt die Frage: »Das heißt, wir glauben nicht an denselben Gott?« Worauf der Muslim antwortet: »Hm, gute Frage … ja und nein …«21 Die Antwort, die hier dem muslimischen Gesprächspartner in den Mund gelegt wird, steht im Widerspruch zu einer zentralen Lehre der Musliminnen und Muslime, nämlich der Überzeugung, dass Juden, Christen und Muslime denselben Gott anbeten und dass die Differenzen bezüglich der Natur Christi diese Einheit nicht infrage stellen. Insofern muss die Antwort des muslimischen Gesprächspartners als unrealistisch gelten. Muslimische Antworten in fiktiven Dialogen, die mehr christliche als muslimische Perspektiven widerzuspiegeln scheinen, gibt es mehr als eine. Bei der Erörterung des Themas Fasten und Ramadan findet sich die Erklärung eines muslimischen Gesprächspartners, der davon spricht, dass Musliminnen und Muslime sich mit Gott und den Mitmenschen während des Ramadan »aussöhnen« sollen.22 Es ist ausgesprochen unwahrscheinlich, dass der der muslimischen Theologie fremde Begriff der Aussöhnung zur Erklärung des Fastens von einem Muslim herangezogen wird. Eine Aussöhnung mit Gott kennt die Islamische Theologie nicht, nicht zuletzt, da ihr auch das der Aussöhnung mit Gott vorangehende Konzept einer Trennung von Gott fremd ist. Die Pilgerfahrt nach Mekka, die auf Seite 211 wieder in Form eines Dialogs beschrieben wird, wird als eine Abfolge von Ritualen dargestellt, deren Sinn sich 19 Vgl. Claude Cahen, Fischer Weltgeschichte. Der Islam I. Vom Ursprung bis zu den Anfängen des Osmanenreiches, Bd. 14, Frankfurt am Main 2003. 20 Vgl. Thomas Naumann, Feindbild Islam – Historische und theologische Gründe einer europäischen Angst, in: Thorsten Gerald Schneiders (Hg.), Islamfeindlichkeit: Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen, Wiesbaden 2009, 19–36. 21 Dierk u. a., Kursbuch Religion, 209. 22 Ebd., 210.

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den Leserinnen und Lesern nicht erschließt und der auch nicht erläutert wird. Welche Geschichte und Bedeutung beispielsweise die Kaaba für Musliminnen und Muslime hat, wird nicht erklärt. So bleibt die Pilgerfahrt in ihrer Bedeutung für die muslimischen Teilnehmerinnen und Teilnehmer den christlichen Schülerinnen und Schülern fremd. Auf Seite 213 wird die Moschee zum Thema gemacht. In Form eines Dialogs zwischen einem Muslim und einer Christin wird das Innere einer Moschee beschrieben. Dieses Thema wird verbunden mit dem Thema Spenden, da die christliche Gesprächspartnerin am Ausgang der Moschee wissen will, ob es eine Kollekte in der Moschee gibt. Das verneint der Muslim, betont aber die generelle Bedeutung von Almosen. Darüber wird in einem separaten Kasten informiert. Hier und an anderen Stellen ist positiv zu würdigen, dass die Schülerinnen und Schüler aufgefordert werden, die eigene Religion zu reflektieren und Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten der beiden Religionen herauszuarbeiten. So sollen die Schülerinnen und Schüler hier dem fiktiven muslimischen Gesprächspartner die Eigenschaften und Besonderheiten christlicher Kirchenbauten nahebringen. Das Thema Koran wird auf Seite 214 aufgegriffen. Seine Entstehung, sein Aufbau und seine Auslegung werden beschrieben. Positiv fallen folgende Aussagen auf: Der Koran wird als »Ausgangspunkt aller ihrer Überlegungen« bezeichnet. Weiter heißt es: »Manche Muslime finden, man müsse ›den Geist der Texte‹ an die sich ändernden Zeiten anpassen. Viele aber halten um jeden Preis an der wörtlichen Bedeutung fest.«23 Den Koran als »Ausgangspunkt« muslimischer Überlegungen zu bezeichnen ist eine ebenso ungewöhnliche wie auch zutreffende Beschreibung. Der Koran ist in der Tat mehr ein »Ausgangspunkt« muslimischer Theologie als ein umfassendes und abschließendes Kompendium. Er ist ein lyrischer, eher fragmentarischer Text und keine Gebrauchsanweisung, die den gläubigen Leserinnen und Lesern sagt, was getan werden muss. Er gibt weniger Antworten und regt vielmehr dazu an, Fragen zu stellen und den eigenen Verstand zu gebrauchen. Er ist in weiten Teilen mehrdeutig und besitzt so eine Offenheit, die ihn interpretationsbedürftig macht. Gerade deshalb ist er auch an neue, veränderte Kontexte anpassbar, wie der Satz in dem Religionsbuch es andeutet. Zu kritisieren sind lediglich zwei Begriffe: »Ausgangspunkt aller ihrer Überlegungen« sollte zu »Ausgangspunkt aller ihrer spirituellen Überlegungen« präzisiert werden, um dem Klischee entgegenzuwirken, muslimisches Leben sei durch den Koran ausdefiniert und bis in jeden Lebensbereich bestimmt. Schwerwiegender 23 Ebd., 214.

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aber ist der Begriff »wörtliche Bedeutung«. Er leistet dem grundlegenden hermeneutischen Irrtum Vorschub, ein Text wie der Koran oder die Bibel könne so etwas wie einen objektiv feststellbaren »wörtlichen« Sinn haben. Es wäre sinnvoller, den Schülerinnen und Schülern an dieser Stelle deutlich zu machen, dass die Vorstellung einer »wörtlichen Bedeutung« ein Ideologem bestimmter konservativ-­fundamentalistischer Richtungen darstellt. Irreführend ist auch die auf derselben Seite zu findende Abbildung eines Jungen, der einen Turban trägt und Kleidung, die der in Deutschland lebender Kinder nicht ähnelt. Der Junge sitzt auf dem Boden, der mit Teppich ausgelegt ist, und vor ihm liegt auf einem kleinen Ständer der Koran. Die Arbeitsaufgabe zu diesem Bild lautet: »Beschreibe anhand des Bildes, wie Muslime den Koran lesen. Vergleiche damit, wie Christinnen und Christen die Bibel lesen.«24 Die Auswahl des Bildes ist unglücklich und hat mit der Lebenswirklichkeit von Musliminnen und Muslimen in Deutschland wenig zu tun. Sie verstärkt den Eindruck des Exotischen und verschleiert den Blick der Schülerinnen und Schüler auf die große Ähnlichkeit der Koran- und der Bibellektüre. Auf Seite 215 wird das Thema: »Koran und Bibel« behandelt. Dabei sind einige Suren wiedergegeben, darunter Sure 5:72–73 folgendermaßen: »Ungläubig sind, die sagen, ›Gott ist Christus, der Sohn der Maria‹, Christus hat ja selber gesagt: ›Ihr Kinder Israels, dienet Gott, meinem und eurem Herrn!‹ Wer dem einen Gott andere Götter beigesellt, dem hat Gott (von vornherein) den Eingang in das Paradies versagt. Das Höllenfeuer wird ihn dereinst aufnehmen. […] Ungläubig sind diejenigen, die sagen: ›Gott ist einer von dreien.‹ Es gibt keinen Gott außer dem einzigen Gott«.25 Diesen Versen ist die Arbeitsaufgabe zugeordnet, anhand der Koranstellen aufzuzeigen, wie Jesus im Islam gesehen wird. Die Sichtweise auf die Natur Jesu und die Trinitätslehre aus koranischer Perspektive ist hoch komplex. Wenn nun Schülerinnen und Schüler die Verse der Sure 5 lesen sollen, ohne den historischen Kontext zu kennen, bzw. wenn sie ohne eine hermeneutische Methodik aus einzelnen Versen ableiten sollen, wie Jesus im Islam generell gesehen wird, führt das fast zwangsläufig zu problematischen Fehldeutungen, die einer literalistischen Lesart des Koran Vorschub leisten können. Wenn Schülerinnen und Schüler mit Koranversen arbeiten sollen, wäre es grundsätzlich wünschenswert, diese in ihrer historischen Kontextualität darzustellen.

24 Ebd., 214. 25 Ebd., 115.

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Seite 216 beschäftigt sich im Anschluss an das bekannte Zitat von Christian Wulff mit der Frage, ob der Islam zu Deutschland gehört. Dabei werden folgende Konflikte aufgezählt: Die unterschiedlichen Beerdigungsriten, die den Schülerinnen und Schülern möglicherweise recht vertraute Frage des Schwimmunterrichts, die Debatte um die Erlaubnis, einen Gebetsruf zu halten und zu guter Letzt »das Kopftuch«. Hier werden Probleme höchst unterschiedlicher Reichweite und Brisanz zusammengespannt. Der ohne Zweifel wichtigste Konflikt, der sich hinter den Punkten »Kopftuch« und »Schwimmunterricht« verbirgt, ist die Frage nach der Gleichberechtigung und der sexuellen Selbstbestimmung der Frau, die einen breiteren und differenzierteren Zugang verdient hätte. Bedauerlich ist außerdem, dass in diesem Abschnitt allein auf die Probleme des Zusammenlebens abgehoben wird, während die Chancen und Potenziale nicht erwähnt werden. Besonders gelungen ist die Vorstellung des Projekts »House of One« auf Seite 216, das in das Thema des Dialogs einführt. Schülerinnen und Schüler sollen formulieren, was man beachten sollte, wenn man ein solches Projekt umsetzen möchte und wie ein Raum der Stille für alle gestaltet sein sollte. Auch auf die Schule wird der Dialogansatz bezogen, indem die Schülerinnen und Schüler ein Konzept entwerfen sollen, wie Menschen verschiedenen Glaubens an ihrer Schule ins Gespräch kommen können. An relativ vielen Stellen des Schulbuchs »Kursbuch Religion« werden Fragen gestellt, die dazu auffordern, Vergleiche zwischen Christentum und Islam anzustellen, wie beispielsweise bei den Themen Fasten, Glaubensbekenntnis, Moschee und Kirche oder Spende. Dieser Zugang ist in doppelter Weise zu begrüßen. Einerseits werden über die Reflexion der eigenen Religion Gemeinsamkeiten und Unterschiede leichter verständlich und zugänglich. Darüber hinaus sind solche Arbeitsaufgaben auch gleichsam Vorübungen für einen realen Dialog vor Ort und für das Gespräch mit Menschen anderer Glaubensrichtungen generell.

4 Herausforderungen und Chancen der Thematisierung der Religion Islam in den Schulbüchern Die beiden Kapitel über den Islam in den Schulbüchern für den evangelischen und den katholischen Religionsunterricht zeugen von einer insgesamt überwiegend differenzierten Darstellung der Religion Islam sowie der Musliminnen und Muslime. Die Analyse der Schulbücher stellt aber nur eine Moment­aufnahme dar, denn Schulbücher werden kontinuierlich überarbeitet und weiter­entwickelt.

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Folgende Herausforderungen konnten identifiziert werden: Es finden sich an einigen Stellen pauschalisierende und teilweise nicht korrekte Aussagen über den Koran oder über religiöse Normen, die geeignet sind, bei den Schülerinnen und Schülern das unzutreffende Bild eines ahistorischen, statischen und homogenen »Islam« zu verstärken. Auch die Darstellung der Entstehung und Ausbreitung des Islam verstärkt diesen ahistorischen Eindruck, unter anderem weil sich die Schilderung hauptsächlich auf die formative und klassische Phase des Islam beschränkt. Vielfältige für ein angemessenes Verständnis des Islam relevante Entwicklungen, die bis in die Gegenwart reichen, werden nicht thematisiert, beispielsweise die Zusammenhänge zwischen Religion und Politik, die für das Verständnis des gegenwärtigen Selbst- und Fremdbilds von Musliminnen und Muslimen von entscheidender Bedeutung sind. So kann der Eindruck entstehen, dass muslimisch geprägte Gesellschaften und Länder keine Entwicklung durchlaufen und nicht dynamisch seien. Aufgrund des Materials werden die vielschichtigen und konfliktbeladenen Binnendiskurse unter Musliminnen und Muslimen, die für ein angemessenes Verständnis muslimischer Wirklichkeit von unverzichtbarer Bedeutung sind, nicht wirklich sichtbar und zugänglich. In der Frage, ob der Islam und somit die Musliminnen und Muslime zu Deutschland gehören, wird »der Islam« in erster Linie als Problemfaktor thematisiert und die muslimischen Zuwandererinnen und Zuwanderer in ihrer kulturellen und nationalen Vielfalt zu stark auf das Thema Religion reduziert. Folgende Chancen können benannt werden: Eine Darstellung der Religion Islam und der Musliminnen und Muslime als Subjekte eines kontinuierlichen historischen Wandels wäre wünschenswert und könnte unter anderem durch einen Überblick über aktuelle historische und religiöse Entwicklungen gefördert werden. Weiterhin wäre zu wünschen, dass die Darstellung »des Islam« zunehmend ersetzt wird durch eine wirklichkeitsnähere Schilderung der spannungsreichen, dynamischen und auch konflikthaften Vielfalt der muslimischen Diskurse, die deutlicher unterscheidet zwischen der politischen, der kulturellen und der theologischen Dimension. Dadurch würde sich das statische und homogene Bild von Islam, Musliminnen und Muslimen auflösen und die innerislamische Pluralität deutlich werden. Fundamentalistische Lesarten sollten nicht unversehens zum Maßstab für die Mehrheit der Musliminnen und Muslime geraten (siehe die oben skizzierte Gefahr der Übernahme eines literalistischen Verständnisses der

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religiösen Quellen). Besonderes Augenmerk sollte daher auf das Thema Text­ exegese gelegt werden. Dazu würde es sich anbieten, gemeinsam im vergleichenden Dialog ein Verständnis der unterschiedlichen heiligen Texte zu entwickeln, das den Schülerinnen und Schülern ermöglicht, historisch und hermeneutisch informiert mit den Texten umzugehen. Zudem ist es von entscheidender Bedeutung, dem Bild einer eindimensionalen »islamischen Welt« entgegenzuwirken, die vom Koran bestimmt wird und sich auf ihn reduzieren lässt. Denn da in den Büchern kaum Gemeinsamkeiten, Überschneidungen oder Ähnlichkeiten zwischen den »muslimisch« und den »westlich« geprägten Ländern thematisiert werden, entsteht der Eindruck einer binären islamischen und einer westlichen »Welt«, die sich gegenseitig ausschließen, in sich abgeschlossene Einheiten darstellen und ausschließlich konfrontativ aufeinander treffen. Weiterhin ist es unabdingbar, ein differenziertes Verständnis von Religion und Kultur in Geschichte und Gesellschaft aufzuzeigen, indem auch die Begegnung von muslimisch geprägten Ländern und den Ländern Europas und des Westens sowie die Dynamik, die daraus entstanden ist, thematisiert wird. Es ist natürlich schwierig, die historische Komplexität dieser gemeinsamen Geschichte auf wenigen Seiten angemessen darzustellen (siehe etwa die Stichworte Eurozentrismus, Kreuzzüge, Kolonialismus, Israel und Palästina, Erdöl etc.). Dennoch ist es notwendig, sich dieser Herausforderung zu stellen, denn nur ein adäquates Verständnis dieser vielschichtigen und bis heute extrem folgenreichen Begegnungen von Wissensaustausch, Handel und Krieg kann die Grundlage bilden für einen sachgerechten Zugang des aktuellen Verhältnisses von Christinnen und Christen und Musliminnen und Muslimen. Eine solche Herangehensweise trägt dazu bei, Heranwachsenden ein differenziertes Verständnis von Religion und Kultur in Geschichte und Gegenwart zu ermöglichen, das nicht zum Ausschluss oder Selbstausschluss von Musliminnen und Muslimen als religiös markierter Gruppe führt. Bei alledem darf abschließend nicht vergessen werden, dass die Analyse der beiden oben diskutierten Schulbücher so etwas wie eine Momentaufnahme darstellt. Eine Längsschnittstudie, die die Entwicklung des Islambilds in evangelischen und katholischen Unterrichtsmaterialien in den letzten Jahrzenten abbilden würde, würde einen Lernprozess dokumentieren, der mit der Arbeitsmigration der 60er und 70er Jahre Fahrt aufgenommen hat und bis heute weitergeht. Dieser Lernprozess ist mit der Etablierung der Islamischen Religionspädagogik und Theologie in der deutschen akademischen Landschaft aber kein rein christlicher mehr. Er wandelt sich zusehends zu einem gemeinsamen Lernprozess, der Musliminnen und Muslime, Christinnen und Christen, aber auch

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Angehörige anderer Religionen und Weltanschauungen dazu führt, geduldig realitätsnähere und differenziertere Bilder der eigenen und anderen Religion und Lebenswirklichkeit zu entwickeln.

Dr. Fahimah Ulfat ist Juniorprofessorin für Islamische Religionspädagogik an der Universität Tübingen.

Wie wollen Jüdinnen und Juden im evangelischen und katholischen Religionsunterricht thematisiert werden? Shila Erlbaum

1. Wenn Sie auf Lehrpläne und/oder Unterrichtsmaterialien zum Thema Judentum für den evangelischen oder katholischen Religionsunterricht schauen: Was fällt Ihnen als problematisch auf? Der Zentralrat der Juden in Deutschland und der Verband Bildungsmedien haben im Winter 2019 eine gemeinsame Workshop-Reihe für Schulbuchverlage gestartet, die sich an Redakteurinnen und Redakteure, Autorinnen und Autoren sowie Herausgeberinnen und Herausgeber von Religions- und Ethiklehrbüchern richtet. Im Vorfeld der verlagsinternen Veranstaltungen, die von mir und meist in Begleitung einer jüdischen Religionspädagogin oder eines -pädagogen durchgeführt werden, werden ausgewählte Lehrmaterialien der jeweiligen Schulbuchverlage dahingehend analysiert, wie die jüdische Religion in den Bildungsmedien dargestellt ist.1 Bei der Untersuchung von Bildungsmedien für den evangelischen und den katholischen Religions- sowie für den Ethikunterricht fällt über Schulformen und Klassenstufen hinweg auf, dass das Judentum zum Teil klischeebehaftet dargestellt wird oder Vorurteilen Vorschub geleistet wird. In manchen Materialien finden sich auch schlicht Fehler! Mitunter dient das Judentum als Negativfolie, um das Christentum zu erhöhen oder zu bestärken. In seltenen Fällen wird in Lehrmaterialien sogar artikuliert, dass die Juden schuld an Jesu Tod seien. Auffällig ist die Wiederholung von Vorurteilen bzw. die fehlende Einordnung von Bibelstellen, die Vorurteile fördern. Hier sei insbesondere auf das Talionsgesetz hingewiesen, das in Unterrichtsmaterialien meist im Zusammenhang mit der Bergpredigt Erwähnung findet: »[Jesus lehrte und sprach:] Ihr habt gehört, daß da gesagt ist: ›Auge um Auge, Zahn um Zahn.‹ Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel; sondern, so dir jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar« (Lutherbibel 1912, Mt 5,38 f.). Das weitläufig verbreitete antijüdische Vorurteil vom »alttestamentarischen Rachegott« wird häufig 1 Bisher wurden in dem Rahmen mehr als 60 Werke verschiedener Verlage analysiert. Da die Workshop-Reihe noch andauert, herrscht zwischen den Kooperationspartnern Übereinkunft darüber, die konkreten Materialien und Verlage noch nicht nach außen zu kommunizieren. Vereinzelte Verweise im Folgenden werden allgemein gehalten.

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hierüber kolportiert, etwa in begleitenden Arbeitsaufträgen. Hier ist es jedoch elementar darauf hinzuweisen, dass es sich bei dem Grundsatz eben nicht um Vergeltung handelt, sondern um Entschädigung bzw. Schadensersatz. Häufig werden Juden als (ultra-)orthodox dargestellt; die Lebensrealität von Juden hierzulande wird jedoch kaum vermittelt. In manchen Fällen wiederum wird das orthodoxe Judentum als altmodisch und rückwärtsgewandt dargestellt, von dem sich das liberale Judentum als positiv und modern abhebt. Kritikwürdig ist auch, dass das Judentum fast durchgängig als »fremde« Religion dargestellt wird, die sie aber insbesondere in Bezug auf das Christentum nicht ist. Fremd kann als nicht-zugehörig empfunden werden; das Judentum aber ist die Wurzel des Christentums und seit 1700 Jahren ein Teil Deutschlands und somit mitnichten fremd bzw. nicht-zugehörig. Häufig werden das Judentum oder jüdische Praktiken mit dem Adjektiv »geheim« charakterisiert, was ebenfalls kritisch zu betrachten ist, da die Wörter »geheim« und »geheimnisvoll« fälschlich im Zusammenhang mit »verheimlichen« und »verbergen« gelesen werden können. Im Hinblick auf Verschwörungsmythen, die Juden bestimmte Handlungen zuschreiben, sollte dieser Eindruck vermieden werden. Zuschreibungen wie »seltsam« im Zusammenhang mit orthodoxen Juden sind ebenso unangebracht. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Einführung ins Thema Judentum über die Schoah oder Antisemitismus, also mit einer gewissen »negativen« Grundstimmung. Im Geschichtsunterricht werden Juden häufig ausschließlich als Opfer dargestellt; der Einstieg mittels Schoah oder Judenfeindschaft verstärkt diese Wahrnehmung.2 Insbesondere in Kapiteln, die mit »Judentum heute« betitelt sind, finden sich vielfach Bezüge zur Schoah und weniger Darstellungen aktuellen jüdischen Lebens, die die Kapitelüberschriften suggerieren.3 2. Können Sie ein wenig näher umreißen, wie der katholische bzw. evangelische Religionsunterricht dieser Kritik entgegenwirken kann? Wie müsste sich der Unterricht verändern? Welche Inhalte wären zu betonen? Im Unterricht und in den Lehrmaterialien sollte das Judentum differenziert, vielfältig, authentisch und lebendig dargestellt werden. Vor allem sollte keine Wertung jüdischer Traditionen oder Praktiken vorgenommen werden. 2 Zur Darstellung der jüdischen Geschichte in Bildungsmedien vgl. Martin Liepach/Dirk Sadowski (Hg.), Jüdische Geschichte im Schulbuch, Göttingen 2014, und Martin Liepach/Wolfgang Geiger, Fragen an die jüdische Geschichte. Darstellungen und didaktische Herausforderungen, Schwalbach 2014. 3 Vgl. beispielsweise Lehrbuch für den Evangelischen Religionsunterricht, 7/8. Klasse.

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Um die Bedeutung der Heiligen Schrift für das heutige Judentum und gleichzeitig die Verwurzelung des Christentums im Judentum zu betonen, wäre es hilfreich, Bezüge auf die Hebräische Bibel im sog. Neuen Testament, z. B. das Doppelgebot der Liebe, als solche kenntlich zu machen. Die Nächstenliebe wird häufig als christliche Botschaft kolportiert; sie findet sich aber schon in Lev 19,18. Hier böte sich eine Gelegenheit, die Nächstenliebe wertfrei auch vom Judentum her zu beleuchten. Darüber hinaus ist es von großer Bedeutung, dass insbesondere im Zusammenhang mit dem Tod Jesu darauf hingewiesen wird, dass die neutestamentlichen Passionsdarstellungen keine historischen Tatsachenberichte sind. Grundsätzlich sollten problematische oder falsch verstandene Bibelstellen von den Lehrkräften eingeordnet und sozusagen »eingefangen« werden. 3. Gibt es auch Dinge, die Sie – schon jetzt – positiv würdigen möchten oder die sich in den vergangenen Jahren verbessert haben? Wenn Sie mögen, nennen Sie Beispiele. Bei aller Kritik muss auch darauf hingewiesen werden, dass sich in manchen Bildungsmedien auch positive Darstellungen finden und problematische Stellen ausdrücklich als solche hervorgehoben werden. Es hat sich ein Wandel in der Beziehung von Christentum und Judentum allgemein vollzogen, der sich auch in den Lehrmaterialien niederschlägt. So ist gelegentlich durchaus zu lesen, dass die Berichte der Evangelien verdeutlichten, dass die Christen zu jener Zeit die Verantwortung am Tod Jesu den Juden unterschoben und der Vorwurf nicht auf historischen Tatsachen beruhe.4 Positiv hervorgehoben werden können auch explizite Darstellungen dessen, dass das Judentum keine »überholte« Religion ist und dass die christliche Kirche eben nicht an die Stelle Israels getreten ist, oder dass vom »Ersten« statt vom »Alten« Testament gesprochen wird.5 In dem Zusammenhang sei auf die Studie von Julia Spichal hingewiesen, die sich auch an früheren Forschungsarbeiten zu der Thematik orientiert und aufzeigt, inwiefern sich die Darstellung verändert und durchaus auch verbessert hat.6 Lehrkräfte sollten sich der Fallstricke bewusst sein und diese thematisieren, insbesondere, wenn das Lehrbuch problematische Inhalte vermittelt. Positiv 4 Vgl. Lernmaterial für katholische und evangelische Religion, Sekundarstufe II. 5 Ebd. 6 Julia Spichal, Vorurteile gegen Juden im christlichen Religionsunterricht. Eine qualitative Inhaltsanalyse ausgewählter Lehrpläne und Schulbücher in Deutschland und Österreich (Arbeiten zur Religionspädagogik Bd. 57), Göttingen 2015.

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hervorheben möchte ich, dass manche Bildungsmedienverlage mittlerweile jüdische Beraterinnen und Berater zu Rate ziehen, um diese Stolpersteine zu umschiffen. 4. Das Judentum in Deutschland verändert sich: Es wird pluraler, die Strömungen stellen sich als streitbar dar, und es ringt öffentlich wahr­nehmbar um Positionen zu ethischen, politischen und auch theologischen Fragen, es erscheint – von außen betrachtet – vitaler und dynamischer als früher. Haben Sie eine Empfehlung, wie evangelischer bzw. katholischer Religionsunterricht diese Entwicklungen thematisieren kann? Die Frage scheint mir eher zu sein, inwieweit der Religionsunterricht diese Entwicklungen überhaupt thematisieren muss, oder ob es nicht hinreichend ist, ethische, politische und theologische Fragestellungen aufzuwerfen und die jeweiligen Antworten der Strömungen darzustellen. Daraus können auch Konfliktlinien abgeleitet werden, ohne sie expressis verbis zu thematisieren. Hier scheint es mir hilfreich, Themen zu behandeln – z. B. Medizinethik – und anhand derer die verschiedenen Herangehensweisen bzw. Antwortmöglichkeiten der Strömungen aufzuzeigen. Auf diese Weise lassen sich die christlichen Konfessionen in Bezug zum Judentum bzw. den jüdischen Strömungen setzen, und die Thematisierung der in Ihrer Frage aufgeworfenen Entwicklungen stellt sich weniger als von außen betrachtend dar als vielmehr in Beziehung dazu gesetzt.7 5.  Antisemitismus und Islamfeindschaft spielen in der Öffentlichkeit eine große Rolle, viele Menschen scheinen anfällig für solche gruppenbezogenen menschenfeindlichen Haltungen zu sein. Haben Sie Ideen oder Anregungen, was katholischer bzw. evangelischer Religionsunterricht präventiv tun sollte? Die Begegnung mit dem vermeintlich Unbekannten ist meines Erachtens ein Weg, um Vorurteile abzubauen bzw. gar nicht erst aufkommen zu lassen. In der Thematisierung des Judentums als Wurzel des Christentums, der respektvol7 An dieser Stelle sei auf das Buch »›Lehre mich, Ewiger, Deinen Weg‹. Ethik im Judentum« verwiesen, das verschiedene ethische Themen strömungsübergreifend darstellt, d. h. aus Sicht des orthodoxen, konservativen und Reformjudentums. An manchen Stellen wird auch auf die Haltung der anderen monotheistischen Weltreligionen verwiesen und damit die Religionen zueinander in Verbindung gebracht. Vgl. Zentralrat der Juden in Deutschland/Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund (Hg.), ›Lehre mich, Ewiger, Deinen Weg‹. Ethik im Judentum, Berlin 2015.

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len Lehre über die jüdische Religion und dem Kennenlernen der Vielfalt und Realität(en) des Judentums liegt hierfür ein Schlüssel. Begegnungen mit »echten« Juden bei Synagogenbesuchen oder Begegnungsprojekte wie »Meet a Jew«8 bieten Möglichkeiten, Juden kennenzulernen, ihnen Fragen zu stellen, Berührungsängste abzubauen und Klischees zu überwinden. Elementar ist natürlich eine wertfreie Darstellung der Religionen im Unterricht. 6. Christentum und Judentum sind in Deutschland nicht nur Nachbarn, sondern sie führen auch theologische Gespräche und Kontroversen. Was würden Sie als wichtige Gemeinsamkeiten mit dem Christentum benennen? Wo stehen sich Christentum und Judentum kontrovers gegenüber? Die Gemeinsamkeiten mit dem Christentum sind vielfältig – an erster Stelle steht der Glaube an den einen G’tt. Die Gemeinsamkeiten bestehen vor allem darin, dass das Judentum die Wurzel des Christentums ist. Daran schließt sich allerdings auch die Kontroverse an – denn kontrovers stehen sich beide in der Frage nach dem Messias gegenüber. Während das Christentum in Jesus den Messias sieht, erkennt das Judentum Jesus nicht als den Messias an (und betrachtet ihn auch nicht als Propheten, wie häufig fälschlich vermittelt wird9), sondern wartet noch auf den Messias. Auch das Thema Mission ist ein kontroverses Thema, insbesondere die christliche Mission unter Juden. Theologische Gespräche dürfen keine Mission zum Ziel haben. Es ist kein interreligiöses Gespräch möglich, wenn nicht klar der Mission unter Juden eine Absage erteilt wird. 7. Was sollte jede christliche Schülerin bzw. jeder Schüler über das Judentum lernen? Versuchen Sie bitte einmal in aller Kürze Punkte zu nennen, die Ihnen wichtig sind. Schülerinnen und Schüler – egal welcher Religion – sollten lernen, dass Juden ein »normaler« Teil der Gesellschaft sind und keine »fremdartigen Anderen«, als die sie manchmal dargestellt werden. Gelehrt und erlernt werden sollte die jüdische Lebenswirklichkeit (v. a. in Deutschland), und dass es vielfältige Formen gibt, das Judentum zu leben: orthodox, reform, selbst säkular und vieles mehr. Eine Differenzierung ist essenziell, um das Judentum zu verstehen.

8 https://www.meetajew.de/ (Zugriff am 19.04.2020). 9 Vgl. beispielsweise Lehrbuch für den Katholischen Religionsunterricht, 6. Klasse.

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Ferner sollten sie lernen, dass die Hebräische Bibel und der Talmud die grundlegenden Schriften des Judentums sind und im Judentum vor allem das Tun, das (gute) Handeln, wichtig ist, nicht nur der Glaube. Schülerinnen und Schüler sollten wissen, dass das Judentum eine eigene und für sich stehende Religion ist, über die keine christlichen Deutungen gestülpt werden sollten. Sie sollten lernen, dass Jesus kein jüdischer Prophet ist und dass der G’ttesname JHWH, nicht Jehowa oder Jahwe ist,10 da die genaue Aussprache des Tetragramms nicht bekannt ist. Schülerinnen und Schüler sollten die Bedeutung von Israel für Juden und Judentum lernen. Israel ist nicht in erster Linie Konfliktherd, sondern spirituelle Heimat, und sollte insbesondere im Religionsunterricht vor diesem Hintergrund unterrichtet werden. Die Einführung von Israel als konfliktträchtigem Ort und der Nahostkonflikt sollten nicht Gegenstand des Religionsunterrichts sein. 11 8. Die verschiedenen Religionsunterrichte einer Schule können phasenweise zusammenarbeiten. Zu welchen Themen können Sie sich als Jüdin ein gemeinsames Unterrichtsprojekt oder eine gemeinsame Unterrichtsreihe vorstellen, eher zu ethischen Fragen, zu theologischen Kontroversthemen, zu (zeit-)geschichtlichen Ereignissen? Meines Erachtens machen gemeinsame Unterrichtsprojekte bzw. interreligiöse Unterrichtsbegegnungen vor allem dann Sinn, wenn die Schülerinnen und Schüler in ihren eigenen Religionen gefestigt und erfahren sind, d. h., wenn sie sich ausreichend Wissen über ihre eigene Religion angeeignet haben, um im Gespräch darüber Auskunft geben zu können. Das bedeutet, dass die Schülerinnen und Schüler nicht mehr allzu jung sind, etwa Ende Sekundarstufe I. Es bieten sich dann vielfältige Themen an, die auch die Altersgruppe beschäftigen, z. B. ethische Themen wie soziale Gerechtigkeit, Gentechnik, Organspende usw. Das sind Felder, zu denen die Religionen etwas zu sagen haben und worüber ein Austausch sinnvoll ist. Auch Themen wie Nächstenliebe, die den drei Weltreligionen inhärent sind, können aus der Warte der jeweiligen Religionen beleuchtet werden. In der Sekundarstufe II ließe sich auch die Theodizee aus Sicht der verschiedenen Religionen behandeln. 10 Vgl. beispielsweise Lehrwerk für Katholischen Religionsunterricht. 5./6. Klasse. 11 Vgl. beispielsweise Lehrbuch für den Evangelischen Religionsunterricht, 6. Klasse. Zur Analyse der Darstellung Israels und des Nahostkonflikts in Geschichts-, Geografie- und Sozialkundelehrwerken vgl. Deutsch-Israelische Schulbuchkommission (Hg.), Deutsch-israelische Schulbuchempfehlungen. Expertise (Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung Bd. 5), Göttingen 2015.

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Damit soll nicht ausgeschlossen werden, dass ein interreligiöses Begegnungslernen im Rahmen der verschiedenen Religionsunterrichte nicht auch schon mit Kindern im Grundschulalter möglich wäre. Hier wird sich die Begegnung und der Austausch jedoch vielmehr auf die jeweiligen Feiertage und die Traditionen des Alltags konzentrieren, von denen die Kinder erzählen können. 9. Kooperation, aber auch guter Unterricht über die andere Religion, setzt gute Kenntnisse aufseiten der Religionslehrenden, aber auch Ansprechpartner und -partnerinnen auf beiden Seiten und Erfahrungen mit Dialog und Kooperation voraus. An wen können sich christliche Religionslehrende wenden, wenn sie jüdische Gesprächspartner suchen? Gibt es Ansprechpartnerinnen auf Länderebene, Stellen, die Material für den Unterricht anbieten, jüdische Initiativen, die dialogisches Lernen fördern? Grundsätzlich können sich christliche Religionslehrkräfte an jüdische Religionspädagoginnen und -pädagogen oder Rabbinerinnen und Rabbiner wenden, mit denen sie über die jüdischen Gemeinden, Landesverbände oder den Zentralrat der Juden in Kontakt treten können. Die gemeinsame Materialsammlung der Kultusministerkonferenz und des Zentralrats der Juden weist auf empfehlenswerte Lehrmaterialien hin, die im Unterricht einsetzbar sind.12 Das Begegnungsprojekt »Meet a Jew« habe ich schon erwähnt, das allerdings zumindest im Moment noch hauptsächlich auf den Dialog mit Schülerinnen und Schülern sowie Studierenden ausgerichtet ist, nicht auf Lehrende. 10. Wenn Sie zwei Wünsche an evangelische und katholische Religionslehrende frei hätten, was würden Sie sich wünschen? Abgesehen von den oben genannten Problematiken, für die eine Lösung wünschenswert wäre, würde ich mir wünschen, dass zur Vermittlung des Judentums Quellen genutzt würden, die von Juden verfasst wurden, keine fiktiven Texte, die Juden zugeschrieben werden, um jüdisches Leben darzustellen, oder Texte über Juden, die fehler- oder klischeehaft sind. Auch würde ich mir wünschen, dass keine jüdischen Traditionen nachgespielt werden, wodurch das Judentum vereinnahmt und oftmals verniedlicht

12 https://www.kmk-zentralratderjuden.de/ (Zugriff am 19.04.2020).

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oder folklorisiert wird.13 Es entzieht sich meiner Vorstellung, was das Tanzen eines Davidsterns mit der Vermittlung des Judentums zu tun haben soll!14 Die Fragen stellte Bernd Schröder. Shila Erlbaum, M.A., ist Referentin für Kultus, Familie und Bildung des Zentralrats der Juden in Deutschland.

13 Vgl. beispielsweise Lehrbuch für den Katholischen Religionsunterricht, 7/8 Klasse. 14 Vgl. beispielsweise Lehrmaterial für den evangelischen und katholischen Religionsunterricht der Grundschule.

»Trialogische Religionspädagogik« kritisch reflektieren Bernhard Grümme

Bedingt durch Globalisierung und die Migrations- und Flüchtlingsbewegungen ist unsere Gegenwart multikulturell wie multireligiös geworden. Vor diesem Hintergrund verzeichnet die Religionspädagogik geradezu einen »Boom« interreligiöser Forschung, die an Konzepten interreligiöser Bildung und interreligiösen Lernens arbeitet.1 Unter »Interreligiösem Lernen« kann »das Einüben in einen den Anderen achtenden Perspektivenwechsel, das Einüben in eine Unterschiede wahrnehmende und als solche respektierende Toleranz, Erwerb von Kenntnissen fremder Religion(en), Reifung des eigenen Glaubens in und durch die Begegnung mit der/den nicht-christlichen Religion(en)«2 verstanden werden. Ausgerichtet auf Selbstwerdung und Identitätsbildung im gesellschaftlichen Kontext sowie darauf, »die bewusste Wahrnehmung, die angemessene Begegnung und die differenzierte Auseinandersetzung mit Zeugnissen und Zeugen anderer Religionen einzuüben«,3 zielen interreligiöses Lernen bzw. interreligiöse Bildung auf interreligiös ausgerichtete »Pluralitätsfähigkeit«.4 Ein solcher elaborierter Begriff interreligiöser Bildung steht freilich in einem geschichtlichen Prozess, der typologisch von zwei miteinander verbundenen Strängen geprägt ist: Zum einen lässt sich eine Entwicklung von der Apologie 1 Claudia Gärtner, Vom interreligiösen Lernen zu einer lernort- und altersspezifischen interreligiösen und interkulturellen Kompetenzorientierung. Einblicke in aktuelle Entwicklungen im Forschungsfeld »Interreligiöse Bildung«, in: Pastoraltheologische Informationen 35 (2015), 281–298, hier 281; Georg Langenhorst, Trialogische Religionspädagogik. Interreligiöses Lernen zwischen Judentum, Christentum und Islam, Freiburg i. Br. 2016, 17; Clauß Peter Sajak, Interreligiöses Lernen (Theologie kompakt), Darmstadt 2018, 56–60; Mirjam Schambeck, Interreligiöse Kompetenz. Basiswissen für Studium, Ausbildung und Beruf, Göttingen 2013. 2 Monika Tautz, Welche Rolle spielt die Theologie im interreligiösen Lernen?, in: Stefan Altmeyer/Gottfried Bitter/Joachim Theis (Hg.), Religiöse Bildung – Optionen, Diskurse, Ziele (Praktische Theologie heute 132), Stuttgart 2013, 279–288, hier 279. 3 Clauß Peter Sajak, Art. Trialogisches Lernen, in: WiReLex (2016), https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100126/ (Zugriff am 17.07.2019). 4 Friedrich Schweitzer, Interreligiöse Bildung. Religiöse Vielfalt als religionspädagogische Herausforderung und Chance, Gütersloh 2014, 133; Bernhard Grümme, Heterogenität in der Religionspädagogik. Grundlagen und konkrete Bausteine, Freiburg i. Br. 2017, 174–201.

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zum Dialog nachzeichnen; zum anderen eine Perspektivenverlagerung von den Objekten und Zeugnissen zu den Subjekten.5 Auf dieser Linie versteht sich nun auch die Trialogische Religionspädagogik.6 Historisch gesehen ist sie entstanden aus konkreten interreligiösen Dialogprojekten, die über einen bilateralen Dialog zwischen Christen und Juden bzw. Christen und Muslimen hinaus es für sinnvoll und überfällig gehalten haben, diesen Dialog zu einem Dreiergespräch zwischen den abrahamitischen Religionen voranzutreiben.7 Die Trialogische Religionspädagogik lässt sich so als reflexive Bearbeitung solcher trialogischer Praxen verstehen. Sie steht im Zentrum der folgenden Überlegungen, die nach der Darstellung von Ansatz (1) und Didaktik (2) prüfen, ob die Trialogische Religionspädagogik dem anspruchsvollen normativen Horizont interreligiöser Bildung sowie den skizzierten kontextuellen Herausforderungen tatsächlich entspricht (3). Deren Anspruch, dass Interreligiöses Lernen »vor allem als ›das trialogische Lernen‹« verstanden werden »muss«, ist zu diskutieren.8

1 Ansatz Es wäre bereits ein etymologisches Missverständnis, »Trialog« und »Dialog« strikt voneinander abzusetzen. Während Dialog auf das Hin- und Hergehen der Rede verweist, aber nichts mit der Zahl »Zwei« zu tun hat, nimmt der Begriff »Trialog« diese Logik der Wechselrede auf, öffnet aber den Horizont dadurch, dass hier die Perspektive auf drei Gesprächsteilnehmer geweitet wird. Insofern ist »Trialog« ein »Kunstwort«,9 das auf die – in der mittelalterlichen und neuzeitlichen Geschichte der Religionsgespräche tatsächlich nachweisbare – Kommunikation zwischen Christen, Juden und Muslimen referiert. Begegnung und Gespräch »vollziehen sie im Regelfall dialogisch, ohne trialogische Konstellationen auszuschließen«.10

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Vgl. Grümme, Heterogenität, 183–188; vgl. Schambeck, Interreligiöse Kompetenz, 58–110. Vgl. Langenhorst, Trialogische Religionspädagogik, 108–160; vgl. Sajak, Trialogisches Lernen. Vgl. Sajak, Interreligiöses Lernen, 74–81. Langenhorst, Trialogische Religionspädagogik, 20. Ebd., 104. Bernd Schröder, Gespräch zwischen Christen, Juden, Christen und Muslimen – religions­ pädagogische Motive und Perspektiven, in: Bernd Schröder/Harry Harun Behr/Daniel Krochmalnik (Hg.), Was ist ein guter Religionslehrer? Antworten von Juden, Christen und Muslimen (Religionspädagogische Gespräche zwischen Juden, Christen und Muslimen 1), Berlin 2009, 27–53, hier 28.

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Damit kristallisieren sich Ansatz, Ziel und Modus des Trialogs heraus. Innerhalb des trialogischen Diskursfeldes hat sich eine feine Unterscheidung zwischen der Ebene der Begegnung von Mitgliedern dieser Religionen, der Ebene der religionsdidaktischen Konzeptentwicklung, der Ebene der Begegnung der Multiplikatoren im Feld sowie der Ebene der wissenschaftlichen Theoriebildung ausdifferenziert.11 Diese Differenzierungen können auf zwei Perspektiven hin gebündelt werden: 1. Theologisch gründet der Dialog in dem, was man traditionell abrahami­ tische Ökumene nennt. Juden, Christen und Muslime beziehen sich auf den gemeinsamen Stammvater Abraham, verbunden im monotheistischen Glauben an den einen Gott. Weil »alle drei Religionen eine ›Erinnerungs-, Erzähl- und Lerngemeinschaft‹ bilden, die große Teile ihrer Überlieferungen teilen (Schöpfung, Sündenfall, den Bund des Noah, Abraham, den Dekalog sowie auch Jesus und Maria), können sie im Trialog zueinanderfinden und das gegenseitige Verständnis – trotz aller Unterschiede in Auslegung und Praxis – suchen. Damit entsprechen sie nicht nur ihrem theologischen Grundmotiv, sondern tragen auch zu einem friedlichen gesellschaftlichen Miteinander bei«.12 Sei es gespeist aus dem Tübinger Weltethos Projekt, sei es orientiert an theologischen Gesprächen zwischen wissenschaftlichen Vertretern dieser drei Religionen, sei es fundiert in schulischen Projekten bis in Schulwettbewerbe hinein oder auch die trialogische Ausrichtung einer Schule selbst, wie die Drei Religionen Grundschule in Osnabrück:13 Der Trialog der abrahamitischen Religionen zielt darauf ab, die Schülerinnen und Schüler »in ein konstruktives Gespräch zu bringen, das zu Verstehen, Respekt und Wertschätzung führen kann« und so im gleichen Maße »zu dem höchst notwendigen Großprojekt einer Zivilisierung von Religion samt ihrem Konflikt- und Gewaltpotential in unserer Gesellschaft« beizutragen vermag.14 Religionstheologisch steht ein »mutual inklusivistisches Verständnis« im Hintergrund: Gott wird demnach in allen drei, in sich vielfach ausdifferenzierten Religionen verehrt, sodass die eigene Religion als Heilsweg zu bekennen und zu praktizieren ist, »ohne den abrahamitischen Geschwister­ religionen die Möglichkeit eines eigenen, von meinem Weg abweichenden Zugangs zum Heil prinzipiell und kategorisch abzusprechen«.15 Die drei 11 Vgl. ebd.; vgl. Sajak, Trialogisches Lernen. 12 Clauß Peter Sajak, Religion unterrichten. Voraussetzungen, Prinzipien, Kompetenzen, Seelze 2013, 110. 13 Zu Hintergründen vgl. Sajak, Trialogisches Lernen. 14 Sajak, Interreligiöses Lernen, 75. 15 Langenhorst, Trialogische Religionspädagogik, 171.

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abrahamitischen Religionen seien besonders aus zwei, aufeinander verwiesenen Gründen für einen solchen Trialog prädestiniert: erstens stünden sie in enger religionsgeschichtlicher Verwandtschaft als monotheistische Offenbarungsreligionen und aufgrund ihrer vielen Gemeinsamkeiten in Kultur, Kult, Ethos und Glaube; zweitens seien diese drei Religionen im kategorialen Unterschied zum Hinduismus, Buddhismus und anderen Religionen in einem Maße gesellschaftsprägend bis heute, sodass Gegenwart wie Zukunft ohne diese nicht zu verstehen und zu gestalten seien.16 Es sind also theologische, religionszivilisierende wie gesellschaftlich-politische Gründe, die für den Trialog angeführt werden. 2. Religionspädagogisch werden diese drei Gründe zum Ansatzpunkt für die trialo­gische Konzentration wie für das spezifische religionsdidaktische Arrangement in Curricula und Lehrplänen. Denn danach ist das inter­ religiöse Lernen in seiner Fokussierung auf die abrahamitischen Religionen »einfacher und naheliegender« als »das zwischen z. B. Hindus und Christen«.17 Während die anderen Religionen aus Sicht der Lernenden »primär« eine exotische Welt erschließen, verweist trialogisches Lernen auf hier und heute lebendige Religionen und damit »auf Grundgegebenheiten unserer Gesellschaft«.18 Die vergleichsweise frühe, also in unteren Klassen angesiedelte Beschäftigung mit den abrahamitischen Religionen und die vergleichsweise späte Auseinandersetzung mit weisheitlich-asiatischen Religionen habe darum auch nichts mit deren Geringschätzung zu tun, sondern hat seine Gründe »in der Eigenlogik der Systeme religiöser Bildung«.19 Vor diesem vielfachen Begründungshorizont gesehen, überschreitet damit das Trialogische Lernen längst den Bereich eines Segments interreligiöser Bildung. Es präsentiert sich vielmehr, insbesondere bei Georg Langenhorst, als »grundlegendes religionspädagogisches Prinzip«, das religiöse Lern-, Erziehungs- und Bildungsprozesse grundlegend präfiguriert.20

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Vgl. Sajak, Interreligiöses Lernen, 75; Langenhorst, Trialogische Religionspädagogik, 106–144. Sajak, Interreligiöses Lernen, 97. Langenhorst, Trialogische Religionspädagogik, 175. Sajak, Interreligiöses Lernen, 97. Langenhorst, Trialogische Religionspädagogik, 158.

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2 Didaktik Die bereits angedeutete Absetzung von einer religionskundlichen Ausrichtung interreligiösen Lernens konkretisiert sich in einer Didaktik, die man mit Jan Woppowa als konfessorisch bezeichnen könnte. Damit ist ein learning from religion gemeint, das nicht in ein konfessionelles Glaubenslernen einführt, aber doch auf den mehr oder weniger expliziten religionshaltigen Erfahrungen und Praktiken der Lernenden beruht.21 Nicht die Inhalte der jeweiligen Religionen, nicht bestimmte Satzwahrheiten stehen im Zentrum. Trialogische Religions­ pädagogik sucht Menschen »in ein konstruktives Gespräch über Lebens­praxen zu bringen, das zu Verstehen, Respekt und Wertschätzung führen will. Das geht nur vor dem Hintergrund der eigenen, je gelebten Wahrheit, aber unter Verzicht darauf, eine solche exklusiv zu setzen oder diese verpflichten zu wollen«.22 Dies wird einerseits empirisch begründet, hätten doch Auswertungen und Begleitungen trialogischer Lernprojekte ergeben, dass für die Schülerinnen und Schüler Elemente der Glaubenspraxis »wesentlich wichtiger« sind als Glaubensinhalte.23 Andererseits wird auch normativ argumentiert. Trialogischer Religionsunterricht lädt dazu ein, diese Wahrheit in Freiheit sich »anzuverwandeln oder aber auch nicht« und ordnet Lehrenden wie Lernenden die Rolle der »Zeugenschaft« zu.24 Didaktisch steht damit zunächst das Selbstverständnis des christlichen Religionsunterrichts im Fokus, weitet sich aber auf ein Begegnungslernen mit Vertretern anderer Religionen.25 Die dort ausformulierten Kompetenzen ergeben ein differenziertes Portfolio hinsichtlich eines fachlich fundierten Wissens, einer differenzsensiblen Deutungsfähigkeit, einer Perspektivenübernahme, die zugleich um die inneren Ausdifferenzierungen der Religionen weiß, um darüber dann Einstellungen wie Toleranz, Empathie und Respekt sowie eine vertiefte reflektierte Vertrautheit mit der eigenen christlichen Orientierung und kritische Urteilsfähigkeit zu entwickeln.26 Die teilweise in jahrelanger Praxis bewährten schulischen Projekte, aber ebenso die umfangreichen Materialsammlungen,

21 Vgl. Jan Woppowa, Religionsdidaktik (Grundwissen Theologie 4935), Paderborn 2018, 187–190. 22 Clauß Peter Sajak, Trialogische Religionspädagogik und Komparative Theologie. Strukturelle Analogien – produktive Kollisionen, in: Rita Burrichter/Georg Langenhorst/Klaus von Stosch (Hg.), Komparative Theologie. Herausforderungen für die Religionspädagogik. Perspektiven zukunftsfähigen interreligiösen Lernens (Beiträge zur komparativen Theologie 21), Paderborn 2015, 31–48, hier 45. 23 Sajak, Interreligiöses Lernen, 95. 24 Sajak, Trialogische Religionspädagogik, 45. 25 Vgl. Langenhorst, Trialogische Religionspädagogik, 173. 26 Vgl. ebd., 178 f.

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Schulbücher und didaktischen Handreichungen,27 die Impulse der interreligiösen Zeugnisdidaktik aufnehmen,28 wollen ihren Beitrag leisten zu einer multidimensionalen Kompetenzbildung der Lernenden.29 Letztlich geht es beim trialogischen Lernen somit »um den auf Kenntnissen und Erfahrungen beruhenden Aufbau von Handlungs- sowie Partizipationskompetenz im Umgang mit Judentum und Islam, um religiöse Dialogfähigkeit, sofern sich tatsächliche Begegnungen mit Juden und Muslimen ergeben, sowie um Ambiguitätstoleranz, die sich der bleibenden Unterschiede, Spannungen und Konflikte bewusst ist und diese aushält«.30

3 Kritik Dies sind gleichermaßen profilierte wie ambitionierte Ziele. Doch werden der Trialog und das darauf basierende Konzept Trialogischen Lernens den komplexen Herausforderungen gegenwärtigen Interreligiösen Lernens gerecht, wie sie eingangs skizziert wurden? Auf drei Feldern soll dies näher untersucht werden. 1. Abrahamitische Ökumene Fundamental rekurriert der Trialog auf die abrahamitischen Religionen. Diese Konzentration sei sowohl theologisch wegen deren innerer Nähe als auch empirisch wegen deren Präsenz in Deutschland und damit in der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler begründet. Theologisch biete die Konzentration auf die gemeinsame Vaterschaft Abrahams Grund und Orientierung des Dialogs zwischen den drei Religionen. Doch wird dies kaum der Einsicht in den Kon­ struktionscharakter dieses Theologoumenons und in die religionspädagogischen Hürden gerecht, die damit aufgebaut werden. Aus jüdischer Sicht wird gerade wegen ihres trinitarischen Gottesbildes den Christen abgesprochen, Teil der abrahamitischen Ökumene zu sein. Es gibt demnach »abrahamitische Religionen schlicht nicht«.31 Zudem kann gerade in der Berufung auf Abraham 27 Vgl. die Auflistungen bei Sajak, Trialogisches Lernen und Langenhorst, Trialogische Religionspädagogik, 144–158. 28 Vgl. Clauß Peter Sajak, Kippa, Kelch, Koran. Interreligiöses Lernen mit Zeugnissen der Weltreligionen, München 2010. 29 Vgl. Langenhorst, Trialogische Religionspädagogik, 254–396. 30 Ebd., 179. 31 Edna Brocke, Aus Abrahams Schoß? Oder weshalb es keine »abrahamitischen Religionen« gibt, in: Kirche und Israel 24 (2009), 157–162, hier 161.

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nicht nur eine Theologie gegenseitiger Gastfreundschaft, sondern auch gegenseitiger Delegitimierung erfolgen.32 Wird damit aber Abrahams Bedeutung als »Integrationsfigur« fraglich,33 so problematisiert dies auch seine religionspädagogische Dominanz. Nicht nur, dass Abraham in der subjektiven Religion der Schülerinnen und Schüler selbst kaum eine Rolle spielt und deshalb wohl auch kaum die Rolle als »Türöffner« des Trialogs übernehmen kann.34 Die selbstlegitimatorisch eingeführte Behauptung der unterrichtlichen Relevanz der Glaubenspraxis gegenüber Glaubensinhalten mag für prominente Schulen des Trialogischen Lernens gelten. Gewiss gewinnt sie erhebliche Plausibilität wegen der geschichtlichen wie kulturellen Bedeutung dieser drei Religionen bis heute, wenn auch aus historischen Gründen mit sehr unterschiedlichen Präsenzgraden. Sie trifft sich aber kaum mit religionssoziologischen Erhebungen, wonach für die meisten Heranwachsenden die christliche Religion inzwischen zur Fremdreligion geworden ist. Dieser Umstand sowie die wachsende Teilnahme von Konfessionslosen am Religionsunterricht, aber nicht weniger die Gegenwart von Religionen wie Hinduismus und Buddhismus sowie die Präsenz höchst differenter worldviews in der hochgradig medialisierten wie globalisierten Lebenswelt der Heranwachsenden relativieren die Relevanz der Fokussierung auf die drei Religionen des Trialogs.35 Obschon ein Bewusstsein für die innere Ausdifferenziertheit und Komplexität der abrahamitischen Religionen durchaus gegeben ist,36 wirkt die starke Dominanz der Trias seltsam erratisch und abstrakt gegenüber der selbst reklamierten Lebensweltnähe. Soll tatsächlich Trialog als Modus eines auf die Bildung der Subjekte abhebenden Interreligiösen Lernens fungieren, wäre religionsdidaktisch eine thematische Ausweitung der Trias erforderlich.

32 Vgl. Chistoph Gellner, Der Glaube der Anderen. Christsein inmitten der Weltreligionen, Düsseldorf 2008, 87; vgl. Langenhorst, Trialogische Religionspädagogik. 33 Langenhorst, Trialogische Religionspädagogik, 127. 34 Vgl. Friedrich Schweitzer, Abraham als Vater interreligiöser Ökumene? Chancen und Probleme in religionspädagogischer Perspektive, in: Glaube und Lernen 28 (2013), 84–101, hier 95; Bernd Schröder, »Abraham« im Christentum – eine religionspädagogische Perspektive, in: Harry Haurun Behr/Daniel Krochmalnik/Bernd Schröder (Hg.), Der andere Abraham. Theologische und didaktische Reflexionen eines Klassikers (Religionspädagogische Gespräche zwischen Juden, Christen und Muslimen 2), Berlin 2011, 75–90, hier 88. 35 Vgl. Ulrich Riegel, Wie Religion in Zukunft unterrichten? Zum Konfessionsbezug des Religionsunterrichts von (über-)morgen, Stuttgart 2018, 11–40; Grümme, Heterogenität, 318–358. 36 Vgl. Langenhorst, Trialogische Religionspädagogik, 75–88.

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2. Wahrheit Vielleicht noch größere Fragen wirft das unterstellte Verhältnis zwischen den drei monotheistischen Religionen auf. Zwar ist es angesichts gegenläufiger gesellschaftlicher Tendenzen der Abwertung anderer Identitäten und Religionen ein kaum aufzuwiegender Ertrag des Trialogischen Lernens, bereits im Ansatz eine dialogische, von Verständnis, Anerkennung und Würdigung geprägte Relation zu konturieren und sich in ein konstitutiv lernbereites Verhältnis zu ihnen zu setzen. Auch zeigt sich vor allem Langenhorst sensibel für Asymmetrien. Pro­ blematisch dabei ist jedoch, dass er diese durch wechselseitige Verschränkungen wieder relativiert.37 Dies aber unterläuft die radikale wie axiomatische Asymmetrie ihres theologischen Verhältnisses. Juden und Christen befinden sich in einer Dependenzbeziehung, die deren dialogisches Stehen vor Gott durchwirkt. Beide haben Anteil an der sich von Gott her als Gotteswahrheit schenkenden Wahrheit, jeder auf seine Weise, beide aufeinander angewiesen. Beide dienen Gott »Schulter an Schulter« (Zef 3,9). Beide stehen als eigene von Gott getragene Heilswege nebeneinander, doch sind die Christen grundsätzlich auf ihre »älteren Geschwister im Glauben« (Johannes Paul II.) in bleibender Abhängigkeit verwiesen, weil sie erst durch Jesus in den ungekündigten Gottesbund hineinberufen wurden. Zwischen ihnen besteht somit ein asymmetrisches Verhältnis,38 das am Ende auch den Trialog selbst durchwirken müsste. Eine solche Asymmetrie wird jedoch im Trialog verfehlt – und dies wohl aus zwei Gründen. Erstens wird dem Trialog hermeneutisch ein Dialogbegriff unterlegt, der Alterität tendenziell unterhöhlt. Fremdheit droht in die wechselseitige Dialogik der drei Religionen aufgelöst zu werden.39 Das aber schlägt sich zweitens in einem schwachen Wahrheitsverständnis aus. Nach Sajak wird der Trialog durch das relational-horizontale Wahrheitsverständnis zwischen den drei Weltreligionen gekennzeichnet, wie es in Nathan der Weise von Lessing narrativ gefasst wurde.40 Langenhorst spitzt dies im Sinne eines theozentrischen Pluralismus zu. Dieser ermögliche erst jenen genannten, in eigenwilliger Interpretation von Nostra Aetate gewonnenen mutualen Inklusivismus zwischen den Religionen und damit ein »voraussetzungslos offenes, dialogisch orientiertes interreligiö37 Vgl. ebd., 161–169. 38 Vgl. Walter Homolka/Magnus Striet, Christologie auf dem Prüfstand. Jesus der Jude – Christus der Erlöser, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2019, 54 ff., 131–139; Bernhard Grümme, Vom Anderen eröffnete Erfahrung. Zur Neubestimmung des Erfahrungsbegriffs in der Religionsdidaktik (Religionspädagogik in pluraler Gesellschaft 10), Freiburg i. Br./Gütersloh 2007, 250–300. 39 Vgl. Langenhorst, Trialogische Religionspädagogik, 37–49. 40 Vgl. Sajak, Trialogisches Lernen, 3 f.

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ses Lernen« als einem »echten und offenen Suchprozess nach letzten Wahrheiten, wirklichen Einsichten tiefsten Erkenntnissen«.41 Nur kann interreligiöses Lernen tatsächlich voraussetzungslos bleiben? Der religionstheologische Inklusivismus des II. Vatikanums birgt gewiss erhebliche theologische Probleme, weil dieser die theologische Würde der Anderen und so auch deren Anspruch an die eigene Religion unterminiert.42 Läuft aber nicht eine solche Theozentrik auf die Schwächung des christlichen, aber auch des jeweils anders begründeten und konturierten muslimischen und jüdischen Wahrheitsanspruchs überhaupt hinaus? Dies aber konterkariert im Vollzug den selbstgesetzten normativen Anspruch trialogischer Religionspädagogik, »Bewährung und Leben der Wahrheit« anzuvisieren.43 Das »Bildungsziel einer starken, aktiven Toleranz« wird dadurch dekonstruiert.44 3. Subjektorientierung Die bisherigen Beobachtungen lassen vermuten, dass es auch hinsichtlich der Subjektorientierung Ambivalenzen gibt. Die Trialogische Religionspädagogik beeindruckt fraglos durch ihre strikte Ausrichtung an den Schülerinnen und Schülern. Nicht die Inhalte, sondern korrelative Settings werden favorisiert, weshalb sie »in der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen« ansetzt.45 Die Viel­ dimensionalität der Lerngelegenheiten, die Pluralität der Lernwege wird schnell deutlich, wenn man sich mit didaktischen Konkretisierungen beschäftigt. Im außerschulischen Lernen gilt es demnach, die oben genannte Deutungs- und Partizipationskompetenz im Besuch von Gotteshäusern des Judentums, Christentums, des Islams, in der Auseinandersetzung mit ihren religiösen Riten und Zeichen, in der Lektüre der heiligen Schriften oder auch in der konkreten Beschäftigung mit ihren Zeugnissen zu erwerben und zu vertiefen.46 Doch trotz der Dominanz der Schülerorientierung, trotz der Absetzung von einem starken, als exklusiv begriffenen Wahrheitsverständnis47 verbleibt die Trialogische 41 Langenhorst, Trialogische Religionspädagogik, 74. 42 Vgl. Reinhold Boschki/Josef Wohlmuth, Nostra Aetate 4. Wendepunkt im Verhältnis von Kirche und Judentum – bleibende Herausforderung für die Theologie (Studien zu Judentum und Christentum 30), Paderborn 2015. 43 Sajak, Trialogische Religionspädagogik, 45. 44 Karl Ernst Nipkow, Ziele interreligiösen Lernens als mehrdimensionales Problem, in: Volker Elsenbast/Peter Schreiner/Ursula Sieg (Hg.), Handbuch Interreligiöses Lernen, Gütersloh 2005, 362–380, hier 374. 45 Langenhorst, Trialogische Religionspädagogik, 393. 46 Vgl. Sajak, Interreligiöses Lernen, 118–137. 47 Vgl. Sajak, Trialogische Religionspädagogik, 43 ff.

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Religionspädagogik ganz fraglos im Schema konfessionellen Lernens. Trialogisches Lernen soll »ein Prinzip innerhalb des jeweils konfessionell geprägten Unterrichts sein«.48 Wie dies sich aber nun tatsächlich in der Form eines Religionsunterrichts der öffentlichen Schule niederschlagen soll, bleibt schillernd. Mit Verve wird das hehre Ziel eines grundsätzlich trialogischen Unterrichts ebenso abgelehnt wie das eines grundsätzlich interreligiösen konfessionell-­ kooperativen Religionsunterrichts. Dafür seien die institutionellen Strukturen sowie die Fächerkulturen zu unterschiedlich und die organisatorischen Herausforderungen zu hoch. Sinnvoll sei Trialogisches Lernen stattdessen als durchgängiges Prinzip wie als Grunddimension des religionspädagogischen Diskurses im Kontext der Fächergruppe. Gemeinsame Kooperationsphasen wie Projektarbeit und Lehrertausch werden ebenso favorisiert wie das Begegnungslernen.49 Dies zeugt von sachverständigem Realismus, und bleibt dennoch wegen des gerade nicht in Frage gestellten konfessionellen Settings legitimationsbedürftig. Es scheint so zu sein, als wenn die derzeitigen bildungspolitisch, kirchenpolitisch wie religionspädagogisch mit Leidenschaft geführten Debatten um eine Form des Religionsunterrichts, die der eingangs skizzierten Heterogenität der Schülerschaft gerecht wird, nicht jenen Niederschlag gefunden haben, der für einen zukunftsfähigen Religionsunterricht erforderlich ist.50 Damit aber wird die postulierte Schülerorientierung im Ansatz unterlaufen. Ein weiteres Indiz dafür ist die Konturierung des methodisch favorisierten Begegnungslernens. Trotz der Herausarbeitung seiner Grenzen, sei es durch die Überforderung der Lernenden als Repräsentanten ihrer jeweiliger Religion, sei es durch die Benachteiligung des Judentums aufgrund seiner – h ­ istorisch bedingten – nur sehr marginalen Präsenz in der Schülerschaft,51 soll Trialo­ gisches Lernen »als Aufforderung zu und Ermöglichung von Begegnung, wo immer dies möglich und sinnvoll ist« erfolgen.52 Bemüht um Authentizität der fremden Religion im Religionsunterricht, weil eine rein kognitive, wissensbasierte Annäherung bereits lernpsychologisch verengt sei und auch den komplexen Dimensionen der Religionen nicht im Ansatz entspreche, unterschlägt die Begegnungskategorie freilich die Differenz zwischen Alltagsreligiosität, individueller Religiosität und Religion. Damit wird die immanente Logik der didaktischen Struktur religionsunterrichtlicher Praxis negiert und sug-

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Langenhorst, Trialogische Religionspädagogik, 355. Vgl. ebd., 355–358. Vgl. Riegel, Wie Religion unterrichten. Vgl. Langenhorst, Trialogische Religionspädagogik, 173 ff. Ebd., 357.

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gestiv ein »Mythos der Authentizität« kultiviert.53 Wie sollen fremdreligiöse Schüler ihre Religion repräsentieren können? Was kann hier eingebracht werden, nach welchen Kriterien werden sie aus dem Kreis ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler ausgewählt? Hier manifestiert sich die Logik einer verkennenden Anerkennung (Thomas Bedorf), die im Willen zur Würdigung der Anderen diese essenzialistisch festschreibt und deren Differenzen unterschlägt. In all dem wird die Rückwirkung kultureller, soziökonomischer und lebensweltlicher Faktoren auf das trialogische Lernen nicht hinreichend berücksichtigt.54 Langenhorst fragt zwar danach, »wer, wann, wo und mit welchen Zielen und Machtansprüchen den Dialogbegriff verwendet«.55 Aber er ventiliert dies ohne machtsensible wie kontextuell scharf gestellte Kategorien. So bleibt das Schülerbild eigentümlich abstrakt und kontextuell freischwebend, ohne dass sich die Trialogische Religionspädagogik ihrer eigenen Konstruktionsmechanismen selbstreflexiv-­kritisch vergewissern würde.56

4 Fazit Daraus resultiert eine ambivalente Beurteilung der Trialogischen Religionspädagogik. Es bleiben grundlagentheoretische, theologische wie kontextuelle Schwächen, die eine stärkere ideologiekritische Selbstreflexivität und stärkere Heterogenitätsfähigkeit erfordern. Trialogische Lernprozesse sehen sich demnach dazu herausgefordert, sich in der praktischen Realisierung für die Aspekte verkennender Anerkennung und Exklusion sensibel zu halten und diese gemeinsam mit den Lernenden reflexiv-kritisch zu bearbeiten. Solche Desiderate aber trüben keineswegs die mit ihr zweifellos eröffneten erheblichen Lernchancen. Mit Mut zu einer (sicher noch durch Rezeption des Alteritätsgedankens kritisch zuzuspitzenden)57 Korrelation jenseits der vielerorts privilegierten religionskundlichen Modellierung in einen Lernprozess einzusteigen, der konstitutiv von der vorauslaufenden Anerkennung des Anderen in seiner theologischen Dignität geprägt ist, lässt die Trialogische Religionspädagogik zu einem inspirierenden Impulsgeber für interreligiöse Bildung werden. Dies wird in einer Vielzahl an

53 Bernhard Dressler, Interreligiöses Lernen – Alter Wein in neuen Schläuchen? Entwürfe in einer stagnierenden Debatte, in: Zeitschrift für Praktische Theologie 55 (2003), 113–124, hier 121. 54 Vgl. Langenhorst, Trialogische Religionspädagogik, 14–18. 55 Ebd., 49. 56 Vgl. Grümme, Heterogenität, 195–205. 57 Vgl. Grümme, Erfahrung, 250–330.

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vielversprechenden und erprobten Praxisprojekten deutlich.58 Hier kann jedes Interreligiöse Lernen im hohen Maße profitieren, ohne sich dem Konzept als Ganzem verschreiben zu müssen.

Prof. Dr. Bernhard Grümme ist Professor für Religionspädagogik und Katechetik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum.

58 Als informativer detaillierter Überblick: Langenhorst, Trialogische Religionspädagogik.

Judentum und Islam, interreligiöses Lernen und Othering im christlichen Religionsunterricht Joachim Willems

1 Einleitung Ich schreibe diesen Beitrag um den Jom Kippur im Jahr 5780 nach jüdischer Zählung, im islamischen Jahr 1441, dem 9. Oktober 2019 nach dem christlich beeinflussten säkularen Kalender, Tag des Terroranschlags in Halle, bei dem ein rechtsextremer Täter zwei Menschen erschießt. Gewalttaten dieser Größenordnung sind Ausnahmen. Anlass zur Beunruhigung bietet der Anschlag von Halle mit seiner antisemitisch-judenfeindlichen und zugleich antimuslimischen Ausrichtung dennoch. Denn antijüdische und antimuslimische Stereotype sind in der Bevölkerung auch jenseits der radikalen Ränder weit verbreitet, selbst unter denen, die sich als tolerant einschätzen. Unterschiedliche Religionen und die Personen, die diesen Religionen durch Selbst- und/oder Fremdzuschreibungen zugerechnet werden, werden deshalb in Dominanzverhältnissen unterschiedlich positioniert und hierarchisiert – was allerdings in der religionspädagogischen Fachdiskussion und der schulischen Praxis weitgehend ausgeblendet wird. Am Beispiel eines einigermaßen aktuellen Schulbuchs lässt sich zeigen, wie pro­ blembewusste didaktische Entscheidungen und stereotypisierende Zuschreibungen ineinander gehen.

2  Islam im Religionsbuch – eine Problemanzeige Im Kursbuch Religion 7/8 von 2005 werden Musliminnen und Muslime sowie der Islam schon durch die erste Überschrift im Kapitel (»Muslime unter uns«) als fremd gekennzeichnet und einer Wir-Gruppe gegenübergestellt.1 Selbst wenn man die Formulierung »unter uns« nicht als hierarchisierende Unterordnung liest, wird damit Nichtzugehörigkeit ausgedrückt: »Die« Muslime gehören nicht zu »uns«. Mit diesem »uns« sind, wie auch in der entsprechenden For1 Das Kursbuch Religion 2. Ein Arbeitsbuch für den Religionsunterricht im 7./8. Schuljahr, Stuttgart/Braunschweig 2005, 224.

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mulierung »bei uns«,2 offensichtlich nicht die (kaum homogen »christlichen«) Schülerinnen und Schüler der Lerngruppe im Religionsunterricht gemeint, sondern »wir« in Deutschland. Dies geht aus dem Kontext hervor, denn unter der Überschrift wird eine Grafik abgedruckt über den Anteil unterschiedlicher Religionsgemeinschaften an der Bevölkerung in Deutschland. In der aktuellen Auflage des Kursbuch Religion3 bzw. des Kursbuch Religion elementar4 heißt es denn auch ausdrücklich: »Muslime in Deutschland«. Diese Formulierung ist sachlicher und nicht ausgrenzend; man könnte auch neutral von »Christen in Deutschland« sprechen. »Christen unter uns« allerdings klänge in einem deutschen Schulbuch ebenso irritierend wie »Nichtreligiöse unter uns«, da sie als selbstverständlich dazugehörend gesehen werden. Im erläuternden Absatz unter der Überschrift heißt es dann: »Muslimische Mitbürger kommen aus vielen Ländern Europas, Afrikas und Asiens zu uns nach Deutschland. Manche leben schon seit Generationen hier und haben die deutsche Staatsbürgerschaft. Andere können nur kurze Zeit bei uns leben, weil ihre Aufenthaltsgenehmigung abläuft.«5 Einerseits wird hier wohl versucht, gerade keinen Gegensatz zwischen »Muslimen« und »Europa« zu konstruieren (»Ländern Europas«, »schon seit Generationen«, »deutsche Staatsbürgerschaft«) und die interne Heterogenität in der Gruppe der Muslime sichtbar zu machen (»aus vielen Ländern«; »Manche … Andere«). Andererseits werden die muslimischen »Mitbürger« in demselben Absatz pauschal als von außen kommend markiert und wiederum in den Gegensatz zu »uns« in »Deutschland« gestellt. Es geht dabei nicht darum zu behaupten, dass diese Darstellung völlig falsch wäre. Selbstverständlich sind viele in Deutschland lebende Musliminnen und Muslime oder deren Eltern bzw. (Ur-)Großeltern nicht hier geboren worden. Zu fragen ist aber, warum dies zu Beginn eines solchen Kapitels herausgestellt wird. Ist das wesentliche Merkmal, das eine muslimische Schülerin ausmacht, dass ihre Großeltern aus einem anderen Land gekommen sind? Wie viele Generationen von Vorfahren müssen im Land geboren sein, damit nicht als erste Information über jemanden mitgeteilt wird, diese Person sei von außen zu »uns« gekommen? Dadurch, dass ein vermeintliches Fremdsein hervorgehoben wird, wird ein Rahmen für die späteren Inhalte des Kapitels gebildet, in 2 So im Kursbuch Religion elementar. Ein Arbeitsbuch für den Religionsunterricht im 7./8. Schuljahr, Stuttgart/Braunschweig 2004, 182. 3 Das Kursbuch Religion 2. Ein Arbeitsbuch für den Religionsunterricht im 7./8. Schuljahr, Stuttgart/Braunschweig 2016, 206. 4 Kursbuch Religion elementar 2. Ein Arbeitsbuch für den Religionsunterricht im 7./8. Schuljahr, Stuttgart/Braunschweig 2018, 168. 5 Kursbuch Religion 2 (2005), 224.

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den die später bearbeiteten historischen, theologischen und religiösen Aspekte eingeordnet werden – und zwar von vornherein als »fremd« und »nicht eigentlich dazugehörend«. Zugleich wird durch die Konstruktion von zwei Gruppen – hier »deutsch«, dort »muslimisch« – suggeriert, dass die Unterschiede zwischen »den« Muslimen und »den« Deutschen relevanter wären als andere Unterschiede, und dass beide Gruppen in sich irgendwie homogen wären. Denn trotz der unterschiedlichen Herkünfte scheint es ja zentral zu sein, Menschen dem Kollektiv »Muslime« zuzuordnen. Im Schulbuch folgen kurze Porträts von unterschiedlichen muslimischen Menschen; diese Menschen kommen aus der Türkei, dem Irak, Syrien und Ägypten.6 Anscheinend soll hier die interne Heterogenität in der Gruppe der Muslime dargestellt werden. Zugleich vertieft aber gerade diese Auswahl wiederum den Gegensatz von »muslimisch« und »deutsch«, da für alle die ferne Herkunft hervorgehoben wird. In der aktuellen Auflage des Kursbuchs Religion wird zudem der Eindruck erweckt, die porträtierten erfolgreichen Frauen seien erfolgreich vor allem gegen und trotz des Islams, und die Schülerinnen und Schüler werden aufgefordert zu untersuchen, »wie gut die vier Personen in Deutschland integriert sind«.7 Hier wird die Rahmung gefestigt, Musliminnen und Muslime unter der Perspektive ihrer Zugehörigkeit zu betrachten und diese Zugehörigkeit a priori als nicht selbstverständlich anzusehen. Interessanterweise beginnt meines Wissens kein Kapitel zum Katholizismus in einem Religionsbuch damit, dass Personen porträtiert werden, deren Familiengeschichten Bezüge zu Polen, Italien, Kroatien oder den Philippinen aufweisen, um dann die Schülerinnen und Schüler darüber urteilen zu lassen, ob sie sich integriert hätten. Die Zugehörigkeit von Musliminnen und Muslimen wird also per se in Frage gestellt. Diese Struktur der Gegenüberstellung von »muslimisch« und »deutsch« durchzieht das weitere Kapitel und wird später unter anderem durch die Gegenüberstellung »muslimisch« und »christlich« erweitert. Auch dabei ist wieder das Bemühen zu erkennen, »den« Islam differenziert darzustellen, aber gerade die gewählten Differenzierungen sind dazu geeignet, eine stereotype Wahrnehmung »des« Islams zu fördern: Wenn drei Artikel aus »dem türkischen Eherecht« dem Koran gegenübergestellt werden, der eher die Gleichberechtigung von Männern und Frauen betone,8 so ermöglicht dies einerseits, die Pluralität von Rollenzuschreibungen im Islam zu thematisieren. Andererseits korres­ 6 Ebd., 224 f. 7 Kursbuch Religion 2 (2016), 206. 8 Kursbuch Religion 2 (2005), 232.

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pondieren die zitierten und nicht datierten türkischen Gesetzesartikel (der Mann als »das Oberhaupt der ehelichen Verbindung«, der »den gemeinsamen Wohnsitz bestimmt« und »für die Handlungen seiner Frau haftet«; die Frau, die »den Haushalt« führt und ihren Mann »nach Maß ihrer Kräfte zu Hilfe und Rat« verpflichtet ist)9 mit einem Bild von der Türkei und »den« Türken auch in Deutschland als »patriarchal« und »vormodern« und damit als von der deutschen Mehrheitsgesellschaft unterschieden. Im Buch wird das durch die Aufgabe unterstrichen, die »Vorschriften im türkischen Eherecht und im Koran« »mit dem [!] christlichen Verständnis von Frau und Mann« zu vergleichen.10 Zum einen dürften die Schüler (und auch akademische Theologinnen) damit überfordert sein, »das« christliche Verständnis darzustellen – auch die vorangegangene Aufgabe, Gen 1,27 mit Sprüche 31,10–30 zu vergleichen, hilft dabei nicht. Zum anderen zeigt sich hier, dass die Auseinandersetzung mit »dem« Islam vor dem Hintergrund der Konstruktion »eigener« (deutscher, christ­ licher) Identität geschieht. Dabei dient »türkisch« als Negativfolie, von der sich »christlich« abgrenzt. Man könnte die Geschichte ja auch anders erzählen: Die Rollenbilder für Männer und Frauen sowohl in der Bibel als auch im Koran entsprechen, wen wundert’s, nicht immer dem, was den meisten Menschen in Deutschland eineinhalb bis zweieinhalb Jahrtausende später selbstverständlich erscheint. Bekanntlich steht in der Bibel nicht nur der Galaterbrief (»Hier ist … nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus«; Gal 3,28), sondern auch der Epheserbrief: »Aber wie nun die Gemeinde sich Christus unterordnet, so sollen sich auch die Frauen ihren Männern unterordnen in allen Dingen« (Eph 5,24). Ebenso könnte man die Artikel aus dem zitierten türkischen Gesetz mit der Rechtswirklichkeit in Deutschland kontrastieren, in der noch die Großeltern heutiger Schülerinnen gelebt haben: Erst mit dem »Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts« von 1957 bekamen Ehefrauen das Recht, über ihren Wohnort mitzuentscheiden, ohne Zustimmung ihres Ehemannes ein Bankkonto zu eröffnen und über ihr eigenes Vermögen zu verfügen. Einer Erwerbstätigkeit durften sie erst nun auch gegen den Willen des Ehemanns nachgehen – aber nur, »soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist«. Letzteres änderte sich erst 1977.11

  9 Ebd. 10 Ebd. 11 Vgl. den auch für Schülerinnen und Schüler gut verständlichen Überblick in https://www.bpb. de/politik/hintergrund-aktuell/271712/gleichberechtigung (Zugriff am 26.10.2019).

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3 Othering – Arbeit an Fremdbildern und am eigenen Selbstbild Diese Anmerkungen zum Kursbuch Religion machen deutlich, wie die Darstellung »des« Islams bezogen ist auf die Arbeit am Selbstbild als »deutsch« und »christlich«. In postkolonialer Theorie und einer entsprechend orientierten Erziehungswissenschaft wird es mit dem Begriff des »Othering« bezeichnet, wenn Menschen und Gruppen in gesellschaftlichen Praktiken und Diskursen zu »Anderen« gemacht werden und zugleich in Abgrenzung von diesen »Anderen« eine eigene Identität behauptet wird.12 Paul Mecheril und Oscar ThomasOlalde beschreiben Othering im Anschluss an Edward Said als »Praxis der Objektivierung von und durch Herrschaft […], die eine Beziehung markiert«, da Objektivierung »immer eine relationale Operation [ist], die ›Andere‹ als Subjekte hervorbringt unter Bedingungen der eigenen positionellen Superio­ rität«.13 Religion kann in diesem Zusammenhang auch in pädagogischen Kontexten eine »Handlungs- und Interpretationsoption der Bezeichnung und der Herstellung von Anderen« werden.14 Wie Andere »hergestellt« und als Subjekte hervor­gebracht werden, wird dann »als Positionierung (Positioniert-­ Werden und Positioniert-Sein) in einem Bedeutungsraum untersucht«.15 Für den Bereich der Schule arbeitet beispielsweise eine Studie heraus, wie eine muslimische Schülerin und ein muslimischer Schüler in Berlin durch Mitschüler und Lehrkräfte auf Rollen festgelegt werden: als (potenzielle) Terroristen, unterdrückte und andere unterdrückende junge Frauen, unmodern und nicht integriert.16 Sie »lernen« damit in der Schule, wie sie als Muslime vermeintlich »sind«, und werden, auch wenn sie diese Zuschreibungen zurückweisen, dazu gezwungen, sich zu ihnen zu verhalten und Identitäten in einem Feld hegemonialer Zuschreibungen zu entwickeln. Sollten im evangelischen Religionsunterricht türkischstämmige Schülerinnen und Schüler sein, so lernen diese mit dem Kursbuch Religion, dass sie »weniger modern« seien und Frauen nicht respektieren würden, zumindest solange sie sich nicht vom »Türkischsein« distanzieren. Christliche Schülerinnen und Schüler lernen dagegen nicht nur, wie 12 Paul Mecheril/Oscar Thomas-Olalde, Die Religion der Anderen, in: Birgit Allenbach u. a. (Hg.), Jugend, Migration und Religion. Interdisziplinäre Perspektiven, Baden-Baden 2011, 35–66, hier 45–51. 13 Ebd., 49. 14 Ebd., 56. 15 Ebd., 36. 16 Joachim Willems, The Position of Muslim Pupils in Discourses at German Schools: Two Accounts, in: International Journal of Practical Theology Vol. 21.2/2017, 194–214, hier 200–209.

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(einige) Muslime beten und wie eine Moschee aussieht, sondern auch, dass sie (im Unterschied zu Muslimen) selbstverständlich »dazugehören«, dass sie »aufgeklärter« sind und Frauen achten. Solche Zuschreibungen sind besonders wirksam, weil sie mit hierarchisierten und hierarchisierenden (Fremd- und Selbst-)Zuschreibungen korrespondieren, die auch außerhalb des Religionsunterrichts vorgenommen werden – in Politik, Nachrichtensendungen, populärer Kultur, Wissenschaft – und so hierarchische Ordnungen stützen sowie Subjekten ihren Platz darin zuweisen. Es geht nicht darum, die Verfasser des Kursbuchs Religion anzuklagen oder ihnen schlechte Absichten zu unterstellen, sondern vielmehr darum, das Schulbuchkapitel, das die Assoziationsfelder Islam/fremd/ausländisch/Türkei/ Einschränkung von Frauenrechten gegenüber Deutschland/wir/Christentum/ Gleichberechtigung aufruft, als Symptom entsprechender Diskurse zu verstehen, die einer Ausgrenzung muslimischer Menschen Vorschub leisten. Dies ist für die Religionspädagogik relevant, weil so deutlich wird, dass Abwertung, Diskriminierung oder Rassismus nicht exklusiv die Sache von Extremisten welcher Couleur auch immer ist. Auch der (vermeintlich) neutrale und selbst der positive Bezug auf Muslime kann dazu beitragen, »die« Muslime als eine Gruppe zu konstruieren, die als fremd einer »eigenen« Gruppe gegenübergestellt wird: »Um ›Muslime‹ zu vereinnahmen, zu verstehen, zu diskriminieren, zu tolerieren, zu integrieren, zu bekämpfen oder unter ihnen ›Unterscheidungen und Differenzierungen‹ vorzunehmen, ist es zuerst notwendig, sie in ihrem ›Wesen‹ begriffen, also festgelegt zu haben«.17

4  Die Konstruktion eines »jüdischen Anderen« in der Schule Was sich am Beispiel der Thematisierung von Islam zeigen lässt, ist – bei allen Unterschieden zwischen Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus – in strukturell ähnlicher Form auch im Blick auf das Judentum zu beobachten. Das Verhältnis von Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus sowie die Bezugnahmen auf Judentum und Islam sind komplex: Weit rechts stehende Parteien, Organisationen und Personen sind einerseits weiterhin die Hauptakteure des gegenwärtigen Antisemitismus, versuchen andererseits aber, wie die AfD, sich »als Verteidiger der Juden in Deutschland« zu inszenieren, 17 Mecheril/Thomas-Olalde, Religion, 48, mit Verweis auf Iman Attia, Die »westliche Kultur« und ihr Anderes. Zur Dekonstruktion von Orientalismus und antimuslimischem Rassismus, Bielefeld 2009, 7.

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»weil die Partei – so die AfD selbst – als einzige das Problem von Antisemitismus unter muslimischen Zuwanderern anprangern würde«.18 Im nationalsozialistischen Deutschland wurde noch umgekehrt versucht, die gleichfalls aus rassistischen Gründen verachteten Muslime als Bündnispartner gegen Juden zu gewinnen.19 Einige Jüdinnen und Juden solidarisieren sich mit Musliminnen und Muslimen, aber es gibt auch die Jüdische Bundesvereinigung in der AfD, einer Partei, zu deren Profil wesentlich der antimuslimische Rassismus gehört – und von der sich ein breites jüdisches Bündnis deutlich distanziert.20 Und einige Musliminnen und Muslime solidarisieren sich, auch vor dem Hintergrund eigener Diskriminierungserfahrungen, mit Jüdinnen und Juden – während es gleichzeitig einen spezifisch islamischen Antisemitismus gibt, der, in Wechselwirkungen mit europäischem Antisemitismus entstanden, bis hin zu islamistischen Morden an Juden führt (wie zum Beispiel im Januar 2015 in Paris). In diesem Kontext machen Mendel und Messerschmidt auf das Dilemma aufmerksam, dass einerseits »eine zielgruppenspezifische pädagogische Arbeit gegen Antisemitismus mit und für Muslim_innen die Gefahr birgt, die gesamte Gruppe unter Generalverdacht zu stellen«, dass aber andererseits »Antisemitismus unter Muslim_innen eigenständige und differenzierte Eigenschaften entwickelt zu haben [scheint], die eigener Formen der pädagogischen Intervention bedürfen«.21 Dass Antisemitismus freilich kein Phänomen nur an radikalen Rändern der Gesellschaft ist, zeigt sich spätestens, wenn man auf jüdische Stimmen hört. Denn das Selbstbild einer nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft, die sich als tolerant und anti-antisemitisch sieht, divergiert offensichtlich erheblich mit den Wahrnehmungen von Jüdinnen und Juden. Mit Blick auf den Terroranschlag von Halle im Oktober 2019 schreibt beispielsweise Richard C. Schneider in der Wochenzeitung DIE ZEIT:

18 Corinna Buschow/Markus Geiler, »Das ist alarmierend«. Interview mit Felix Klein über die AfD, jüdisches Leben als Thema des Schulunterrichts und die Kriminalstatistik. Jüdische Allgemeine vom 14.01.2019, https://www.juedische-allgemeine.de/politik/das-ist-alarmierend/ (Zugriff am 26.10.2019). 19 Matthias Küntzel, Nazis und der Nahe Osten. Wie der islamische Antisemitismus entstand, Berlin/Leipzig 2019. 20 Keine Alternative für Juden. Gemeinsame Erklärung gegen die AfD, https://www.zentralratderjuden.de/fileadmin/user_upload/pdfs/Gemeinsame_Erklaerung_gegen_die_AfD_.pdf (Zugriff am 26.10.2019). 21 Meron Mendel/Astrid Messerschmidt, Einleitung, in: dies. (Hg.), Fragiler Konsens. Antisemitismuskritische Bildung in der Migrationsgesellschaft, Frankfurt am Main 2017, 11–23, hier 14.

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[…] Nichtjuden wollen selten einsehen, dass nur wir wirklich wissen, wie sich das Leben als Jude in Deutschland anfühlt. Wir hören die antijüdischen Äußerungen in unserem Alltag, wir erleben die zunächst schleichende, inzwischen galoppierende Verschärfung der Lage hautnah. Auf der Straße »draußen«, aber auch im privaten Umfeld und im Beruf. Überall. Die Scham­ losigkeit hat sich breitgemacht. Nicht nur bei Rechtsextremen und Neonazis, nicht nur bei rassistischen Linken, die in ihrem Hass auf Israel gerne anti­semitische Klischees benutzen und nicht merken, dass sie keinen Deut besser sind als ihre NS-Vorfahren, von denen sie sich doch so gern unterscheiden möchten. [Schneider konstatiert:] Der Antisemitismus ist längst wieder in der Mitte der Gesellschaft, nein, nicht »angekommen«, denn er war ja nie weg: Er ist einfach wieder hervorgekrochen aus seinen Löchern, er ist überall präsent, und wir sehen, lesen und hören ihn, egal, ob es sich um antisemitische Karikaturen, Klischeefotos oder Verschwörungstheorien in renommierten deutschen Tageszeitungen handelt, egal, ob in gepflegten Kreisen über die »Allmacht der jüdischen Lobby« oder über unseren »unendlichen Reichtum« fantasiert wird. Wir sind »die unbekannte Welt nebenan«, wie der Spiegel unlängst titelte, also auf keinen Fall Teil der deutschen Gesellschaft.22 Materialreich beschreiben Julia Bernstein und ihr Team den Antisemitismus an Schulen aus den Perspektiven unterschiedlicher Akteurinnen und Akteure.23 Wie jüdische Lehrkräfte das Klima an Schulen wahrnehmen, fasst die Studie so zusammen: »Als Reaktion auf die erlebten alltäglichen Besonderungen und Anfeindungen gehen viele jüdische Lehrer*innen nicht offen damit um, jüdisch zu sein. Häufig erzählen sie nur unter Unbehagen und in vermeintlich sicheren Kontexten von ihrer jüdischen Identität.«24 Gleiches gelte für jüdische Schülerinnen und Schüler, die »aufgrund der feindseligen Atmosphäre gegenüber Jüdinnen und Juden an Schulen sowie aufgrund der Erfahrung anti­ semitischer Angriffe« Angst haben, »offen mit ihrer Identität umzugehen«. In diesem Kontext ist es ein »Bedrohungsszenario«, von Lehrkräften »geoutet« zu 22 Richard C. Schneider, »Diese lächerlichen Mahnwachen vor Synagogen«. DIE ZEIT, 17.10.2019, https://www.zeit.de/2019/43/antisemitismus-juden-rechtsextremismus-halle-deutschland/ komplettansicht (Zugriff am 26.10.2019). 23 Julia Bernstein/Florian Diddens/Ricarda Theiss/Nathalie Friedlender, »Mach mal keine Judenaktion!« Herausforderungen und Lösungsansätze in der professionellen Bildungs- und Sozialarbeit gegen Antisemitismus. Im Rahmen des Programms »Forschung für die Praxis«, Frankfurt am Main 2018. 24 Ebd., 106 f.

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werden, etwa indem jüdischen Schülerinnen und Schülern »­ Repräsentationsund Expertenrollen« zugewiesen werden.25 Die Studie kommt zu einem düsteren Fazit: »Antisemitismus ist Normalität an deutschen Schulen. Seine Ausdrucksformen bilden eine Stufenfolge ab, die von einer Verwunderung über jüdische Identitäten an Schulen über die Verbreitung antisemitischer Stereotype und dem [sic] normalisierten Schimpfwortgebrauch ›Du Jude‹ bis hin zur Artikulation von Vernichtungsphantasien und Gewalt gegen jüdische Schüler*innen reicht. Jüdische Schüler*innen gelten oftmals als etwas ›Besonderes‹ an deutschen Schulen, sie überraschen mit ihrer Präsenz. Sie werden zu ›Anderen‹ gemacht, die die Normalitätsentwürfe ihrer Mitschüler*innen und Lehrer*innen stören.«26

5  Religionspädagogische Konsequenzen Wenn man in die gängige Literatur zum interreligiösen Lernen im Religionsunterricht schaut, dann sind gesellschaftliche Bezüge nahezu omnipräsent, um die Bedeutung des Themas herauszustellen. So beginnt Friedrich Schweitzer sein Buch über interreligiöse Bildung mit der Feststellung: »Was die zunehmende religiöse Vielfalt in Deutschland und Europa für religiöse Erziehung und Bildung bedeutet, aber auch für die Gesellschaft insgesamt, bewegt derzeit viele Menschen. Die Aktualität des Themas interreligiöse Bildung und der damit verbundenen Herausforderungen muss kaum noch begründet werden.«27 Selten fehlen Verweise auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 und auf die zunehmende religiöse Diversität infolge von Migration.28 Aus dieser gesellschaftlichen Kontextualisierung heraus ergibt sich die häufig formulierte Erwartung, interreligiöses Lernen solle auch oder sogar vorrangig Toleranz fördern und damit eine für die Gesellschaft relevante Funktion erfüllen. So benennt etwa Stephan Leimgruber als Ziel interreligiösen Lernens, »den Angehörigen anderer Religionen respektvoll zu begegnen« und »Toleranz zu üben«.29 Und Friedrich Schweitzer fordert, dass »Kinder und Jugendliche erfahren [sollen], dass sie mit ihren religiösen Überzeugungen willkommen sind und 25 Ebd., 107. 26 Ebd., 237. 27 Friedrich Schweitzer, Interreligiöse Bildung. Religiöse Vielfalt als religionspädagogische Herausforderung und Chance, Gütersloh 2014, 9. 28 Exemplarisch Schweitzer, Interreligiöse Bildung, 24, und Clauß Peter Sajak, Interreligiöses Lernen, Darmstadt 2018, 9. 29 Stephan Leimgruber, Interreligiöses Lernen, München 2007, 23.

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eben nicht trotz dieser Überzeugungen«, damit »ein Zusammenleben in Frieden und Toleranz, Respekt und wechselseitiger Anerkennung gelingen« könne.30 Dabei liegt den allermeisten religionspädagogischen Texten ein Bild von Gesellschaft zugrunde, das zwar nicht frei von Konflikten ist, bei dem diese Konflikte aber eher individualisiert und pädagogisiert als in ihrer politischen Dimension reflektiert werden: Kinder und Jugendliche sollten lernen, tolerant und respektvoll zu sein, und andere Kinder und Jugendliche könnten sich dann toleriert und respektiert fühlen; im Endeffekt würde das Zusammenleben besser. Ausgeblendet wird dabei, dass interreligiöse Lernprozesse unter den Bedingungen von Dominanzstrukturen stattfinden. Ein Beispiel kann das Problem verdeutlichen: Die Evangelische Kirche in Deutschland spricht in der Schrift über »Religiöse Bildung in der migrationssensiblen Schule« von Streit und Auseinandersetzungen »im Blick auf Toleranz und die Gleichberechtigung der Geschlechter oder die Absage an Judenfeindlichkeit bzw. Antisemitismus« und fordert, dass »[s]olche Kontroversen […] nicht aus der öffentlichen Schulbildung ausgeklammert werden« sollten, »weil sie in der gesellschaftlichen Wirklichkeit in vielfältiger Weise wirksam sind«.31 Dieser Forderung ist unbedingt zuzustimmen, und eine Schule, in der die Schülerinnen und Schüler lernen sollen, »die Grundrechte für sich und jeden anderen wirksam werden zu lassen« und »zur demokratischen Gestaltung der Gesellschaft beizutragen«,32 muss auf die Gleichberechtigung der Geschlechter hinwirken. Es ist aber zu bedenken, was bei der Umsetzung dieser Forderung geschehen kann. Wenn das Kursbuch Religion auf die Anerkennung der Gleichberechtigung der Geschlechter hinwirkt, macht es dies in einem gesellschaftlichen Kontext, in dem Musliminnen und Muslime tendenziell als die­jenigen adressiert werden, die diese Gleichberechtigung nicht anerkennen würden.33 Die im Prinzip richtige und wichtige Forderung wird damit im Kursbuch zugleich zu einem Mittel der Ausgrenzung, eben weil es die Forderung selektiv an nur eine Gruppe richtet. Die Konsequenz daraus darf nicht sein, dass darauf verzichtet wird, auf Gleichberechtigung hinzuwirken. Nötig ist aber eine problembewusste Form der Thematisierung, in der Stereotypisierungen und Ausgren30 Schweitzer, Interreligiöse Bildung, 27. 31 Evangelische Kirche in Deutschland, Religiöse Bildung in der migrationssensiblen Schule. Herausforderungen und Ermutigungen der Kammer der EKD für Bildung und Erziehung, Kinder und Jugend (EKD-Texte 131), Hannover 2018, 19. 32 So das Niedersächsische Schulgesetz; NSchG § 2 Abs. 1 Satz 3. 33 Die »Unterdrückung der Frau« sei eines von drei medial vorrangig verbreiteten Islam-Stereotypen, neben »der Gewaltbereitschaft des Islams und der daraus folgenden Bedrohung des Westens« und »der Rückständigkeit«; Tim Karis, Mediendiskurs Islam. Narrative in der Berichterstattung der Tagesthemen 1979–2010, Wiesbaden 2013, 29.

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zungen vermieden werden. Dies ist nicht einfach dadurch zu erreichen, dass alle Akteurinnen und Akteure in der Schule eine »positive Grundhaltung […] zu kultureller Vielfalt und zu religiöser Differenz« entwickeln und Heterogenität »als potenzielle Bereicherung« auffassen.34 Denn auch Menschen, die von sich selbst durchaus meinen, im hohen Maße eine solche positive Grundhaltung einzunehmen, schreiben muslimischen Jugendlichen zu, qua Muslim-Sein ein gespaltenes Verhältnis zu interreligiöser Toleranz und Frauenrechten sowie eine Affinität zu antisemitischen Einstellungen zu haben. Vielmehr kommt es darauf an, explizit Ausgrenzungsmechanismen, Zuschreibungspraktiken und Dominanzverhältnisse zu thematisieren und zu reflektieren – als Lehrkraft mit Blick auf das eigene professionelle Handeln und mit den Schülerinnen und Schülern im Unterricht. Auch der »Absage an Judenfeindlichkeit« (s. o.) ist unbedingt zuzustimmen. Judenfeindlichkeit und Antisemitismus werden aber ebenfalls nicht effektiv bekämpft, indem man ihnen eine »Absage« erteilt. Viele der Verfasser von Schulbüchern und Unterrichtsmaterialien, in denen antijüdische Stereotype verbreitet werden, und viele der Lehrkräfte, die solche Materialien einsetzen und sich im Unterricht antisemitisch äußern, würden abstrakt jederzeit eine solche Absage erteilen.35 Im Übrigen meint sogar die Mutter des Attentäters von Halle, eine Grundschullehrerin, dass sie und ihr Sohn gegen Judenfeindlichkeit seien; ihr Sohn habe sich nur missverständlich ausgedrückt: »Er hatte ein falsches Vokabular. Er hat nichts gegen Juden – in dem Sinne. Er hat was gegen die Leute, die hinter der finanziellen Macht stehen. Wer hat das nicht?«36 Mit Blick auf die beschriebenen Erfahrungen von jüdischen Lehrkräften und Schülern mit Judenfeindlichkeit und Antisemitismus müssen in der Schule antisemitische Äußerungen und Handlungen deutlich sanktioniert werden. Das gleiche gilt, analog dazu, mit Blick auf antimuslimischen Rassismus. Nicht nur die »Dialogbereitschaft und -fähigkeit der Lehrerinnen und Lehrer« als »Bestandteil ihres professionellen Habitus« sind »unerlässlich«,37 sondern auch die Bereitschaft und Fähigkeit zur Selbstreflexion mit Blick auf Stereotype, die man verinnerlicht hat und reproduziert, und die Sensibilität dafür wahrzunehmen, wie 34 EKD, Religiöse Bildung, 18. 35 Die Diskrepanz zwischen guten Intentionen und negativen Stereotypisierungen beschreibt schon die Analyse von Martin Rothgangel aus den 1990er Jahren, vgl. Martin Rothgangel, Anti-Semitism as a Challenge for Religious Education. In: Ednan Aslan/Margaret Rausch, Religious Education. Between Radicalism and Tolerance. Wiesbaden 2018, 35–51, 40. 36 Anschlag in Halle: Der Mörder und seine Mutter, SPIEGEL TV vom 14.10.2019, https://www. spiegel.tv/videos/1636008-spiegel-tv-vom-14102019 (Zugriff am 26.10.2019). 37 EKD, Religiöse Bildung, 20.

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Menschen in Abhängigkeit davon, welche Identitäten ihnen zugeschrieben werden, »positioniert« werden. Sonst kann wohlmeinendes religionspädagogisches Handeln unerwünschte Effekte haben. Der EKD-Text zur migrations­ sensiblen Schule beschreibt Ideale, die vor dem Hintergrund des bisher gesagten auch anders bedacht werden können. Wenn es heißt, dass Schulen im »besten Falle […] modellhafte Orte wertschätzender Toleranz, gelingenden Zusammenlebens und sichtbaren Zusammenwirkens«38 seien, dann ist zu fragen, ob nicht viele christlich oder nichtreligiös geprägte, als »weiß« und »deutsch« wahrgenommenen Lehrkräfte meinen, dieses Ideal sei schon erreicht, ohne wahrzunehmen, dass jüdische und muslimische Akteure dieselbe Schule anders erleben können. Und wenn der EKD-Text postuliert, dass es darum gehe, »Begegnung zu ermöglichen, Toleranz, Wertschätzung und themenbezogenen Dialog zu üben, Gemeinsamkeiten zu stärken, Unterschiede (an-)zuerkennen und Zusammenarbeit über Differenzen hinweg zu fördern«,39 dann könnte es sein, dass jüdische Lehrkräfte oder Schüler, die ein »Outing« als jüdisch verhindern wollen (s. o.), einem Dialog und einer Begegnung gegenüber skeptisch sind, in denen sie als Angehörige einer bestimmten Gruppe mit Angehörigen anderer Gruppen in Kontakt treten sollen. All dies spricht nicht gegen interreligiöses Lernen, aber für eine verstärkte Selbstreflexion innerhalb der christlichen Religionspädagogik. Rassismuskritik und Sensibilität nicht nur für Differenz, sondern auch für Dominanzverhältnisse müssen deutlicher Teil der Diskussionen um interreligiöse Bildung werden. Mit Blick auf die vier »Religionenerschließungsmodi«, die Karlo Meyer jüngst in die Debatte eingebracht hat,40 bedeutet das: 1. Das Erforschen von Religion in der Gegenwart sollte auch die Stellung von Religion(en) in der Gesellschaft vor dem Hintergrund ihrer Dominanzstrukturen beinhalten: Was gilt in welchen Teilen von Gesellschaft – in der eigenen Stadt oder Schule, in unterschiedlichen Medienbeiträgen – mit Blick auf Religion als »normal«, was als »fremd«? Welche Religionen sind öffentlich sichtbar, welche nicht? Welche Eigenschaften und Stereotype werden welchen Religionen zugeschrieben? Welche Bilder, welche Vorstellungen verbinden wir selbst mit welchen Religionen, und woher kommen diese Bilder und Vorstellungen? Welche Grundrechte haben religiöse und nichtreligiöse Menschen, und wie können sie diese Grundrechte ausüben?

38 Ebd., 19. 39 Ebd., 20. 40 Vgl. Karlo Meyer, Grundlagen interreligiösen Lernens, Göttingen 2019, 172–193.

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2. Die Anregung zur Beschäftigung mit existenziellen Fragen in der Auseinandersetzung mit nicht-eigenen Religionen ist nicht nur aus allgemeinen religionsdidaktischen Überlegungen heraus unverzichtbar, sondern bietet darüber hinaus die Chance, stereotypisierende Rahmungen von Islam und Judentum in medialen, politischen und Alltagsdiskursen zu erweitern und damit zu relativieren. Dies geschieht, wenn die spirituelle Praxis von Musliminnen oder Juden wahrgenommen, erschlossen und auf eigene Wünsche, Bedürfnisse und Sehnsüchte bezogen wird. 3. Im Blick auf die Gestaltung von Begegnungen muss problematisiert werden, dass dabei die Anderen (möglicherweise) erst als solche konstruiert und in Rollen als Repräsentanten einer Religion gedrängt werden, zu der sie vielleicht ein ähnlich ambivalentes oder distanziertes Verhältnis haben, wie die mehr oder weniger christlichen Schülerinnen und Schüler im christlichen Religionsunterricht zum Christentum. Genau das lässt sich thematisieren und kontextualisieren: Wer spricht in einer Begegnung für wen? Wer kommt in der Synagoge, der Moschee oder auch der Kirche zu Wort und stellt die jeweilige Religion dar – und wer nicht? 4. Diese Fragen sind auch relevant mit Blick auf die Aktivierung zum Engagement vor Ort, das sich in einer Vielzahl von Machtverhältnissen entfaltet: Das gilt sowohl für ein Engagement gegen Diskriminierung, als auch die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an der Planung von Projekt­ wochen, Schulgottesdiensten oder Räumen der Stille.41

Prof. Dr. Dr. Joachim Willems forscht und lehrt Religionspädagogik an der Universität Oldenburg.

41 Karlo Meyer scheint vor allem letzteres im Blick zu haben; vgl. ebd., 189.

Judenfeindlichkeit und Islamfeindlichkeit – religionspädagogische Präventionsarbeit mit Schülerinnen und Schülern Reinhold Boschki und Martin Rothgangel

1  Hinführung, Problemaufriss Religionspädagogisches Denken und Handeln ist keineswegs allein auf Individuen oder einzelne Lernende konzentriert, sondern besitzt einen öffentlichen, gesellschaftlichen und politischen Auftrag.1 Religiöse Bildung kann nicht vom gesellschaftlichen Kontext gelöst werden, in dem sie stattfindet. Dies gilt in besonderem Maße für die hier zur Debatte stehende Thematik. Vorbehalte, Ressentiments oder gar Feindschaft gegen Juden und Muslime sind auf den ersten Blick religiöse Angelegenheiten, weil sich diese gegen Mitglieder einer Religionsgemeinschaft richten. Doch wird angesichts der historischen und aktuellen Entwicklungen schnell deutlich, dass diese Vorurteile den Bereich des Religiösen übersteigen. Antisemitismus und Feindschaft gegen Islam sind inzwischen leider wieder gesamtgesellschaftliche Phänomene. »Deswegen dient der Kampf gegen Antisemitismus keinesfalls nur dem Schutz jüdischen Lebens oder des israelischen Staates – sondern dem Schutz aller Menschen, Religionen, Weltanschauung und Staaten. Antisemitismus bedroht am Ende uns alle.«2 Analog kann die von Populisten und Rechtsradikalen geschürte Angst vor Muslimen und die daraus resultierende Islamfeindlichkeit als »Gefahr für unsere Demokratie« bezeichnet werden.3 Vor diesem Hintergrund ist Prävention von Juden- und Muslimfeindlichkeit aus pädagogischer Sicht eine Querschnittsaufgabe aller schulischen Fächer und zugleich eine grundlegende Herausforderung für den Religionsunterricht. Dazu bieten die folgenden Ausführungen Impulse. Im nächsten Abschnitt (2.) werden anhand einschlägiger Studien die angesprochenen Phänomene als 1 U. a. Bernhard Grümme, Öffentliche Religionspädagogik. Religiöse Bildung in pluralen Lebenswelten, Stuttgart 2015; Judith Könemann/Norbert Mette (Hg.), Bildung und Gerechtigkeit. Warum religiöse Bildung politisch sein muss, Ostfildern 2013. 2 Michael Blume, Warum der Antisemitismus uns alle bedroht. Wie neue Medien alte Verschwörungsmythen befeuern, Ostfildern 2019, 171. 3 Wolfgang Benz, Angst vor Muslimen als Gefahr für unsere Demokratie, in: Bülent Uçar/Wassilis Kassis (Hg.), Antimuslimischer Rassismus und Islamfeindlichkeit, Göttingen 2019, 141–148.

Judenfeindlichkeit und Islamfeindlichkeit – religionspädagogische Präventionsarbeit

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gesellschaftliche Probleme identifiziert. Danach (3.) wird nach den besonderen Potenzialen religiöser Bildung zur Prävention gegen Antisemitismus und Islamfeindlichkeit gefragt. Schließlich (4.) werden exemplarische Konkretionen zur Prävention aufgezeigt.

2 Judenfeindlichkeit und Islamfeindlichkeit als gesellschaftliche Probleme Die ablehnenden und feindseligen Haltungen gegenüber Juden und Muslimen weisen strukturanaloge Mechanismen und Wirkweisen auf, sind aber zunächst unterschiedlicher Natur. Sie besitzen historisch verschiedene Ursachen und müssen in ihrer jeweiligen Ausprägungsform voneinander unterschieden werden. 2.1  Antisemitismus als aktuelles Phänomen Die Begriffe Antijudaismus und Antisemitismus sind relativ jung (Ende des 19. Jahrhunderts). Eine einheitliche Definition ist jedoch von der Sache her umstritten. Weit verbreitet ist die von dem European Monitoring Center on Racism and Xenophobia – heute die Fundamental Rights Agency (Wien) – verabschiedete Working Definition of Antisemitism: »Der Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.«4 Eine wesentliche Ursache für »die Entstehung der abendländischen Judenfeindschaft kommt dem konflikthaften Ablöseprozess der frühen Christen vom Judentum«5 zu. Dies zieht sich durch die mittelalterliche und neuzeitliche Geistes­geschichte. Auch in und nach der Aufklärung bildet der Antisemitismus

4

Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus (Hg.), Antisemitismus in Deutschland – aktuelle Ent­wicklungen, Berlin 2017, 23 f., https://www.bmi.bund.de/DE/themen/heimat-integration/ gesellschaftlicher-zusammenhalt/expertenkreis-antisemitismus/expertenkreis-antisemitismusartikel.html (Zugriff am 11.01.2020). – Zur Diskussion der Begrifflichkeiten siehe ebd. und: Wolfgang Benz, Antisemitismus. Präsenz und Tradition eines Ressentiments, Schwalbach/Ts. 2 2016, 14 ff. 5 Werner Bergmann, Geschichte des Antisemitismus, München 52016, 9.

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eine »negative Leitidee der Moderne«.6 Ihre Spuren finden sich nicht nur in der religiösen Tradition, sondern in allen Teilen der kulturellen Überlieferung.7 Die klassischen Ideologieformen des Antisemitismus können in folgende Kategorien eingeteilt werden:8 religiöser Antisemitismus/Antijudaismus, sozialer, politischer, nationalistischer und rassistischer Antisemitismus. Weitere, gegenwärtig verbreitete Formen des Antisemitismus kommen hinzu: sekundärer/Post-Holocaust-Antisemitismus, israelbezogener/antizionistischer Anti­ semitismus, »linker« Antisemitismus sowie muslimischer Antisemitismus. Im Blick auf die zuletzt erwähnten Formen ist derzeit verstärkt vom sog. »neuen Antisemitismus« die Rede.9 Dieser erhält Aufschwung durch die nahezu ungehinderte Verbreitung im Internet. »Aufgrund der hohen Relevanz der NetzPartizipation und seiner meinungsbildenden und identitätsstiftenden Funktion akzeleriert das Web 2.0 – als primärer Multiplikator und Tradierungsort für die Verbreitung von Antisemitismen – die Akzeptanz und Normalisierung von Judenfeindschaft in der gesamten Gesellschaft.«10 Hierbei stehen gerade Mainstream-Dienste wie YouTube, Facebook, soziale Kommunikationskanäle, Informations- und Ratgeberseiten im Fokus. Dort finden sich mit einem Klick frappierende Äußerungen über Juden, die von den Userinnen und Usern oft ungefragt übernommen werden: Die Omnipräsenz von Judenfeindschaft ist somit integraler Teil der Webkommunikation 2.0, die durch multimodale Kodierungen (Texte, Bilder, Filme, Songs) das Sag- und Sichtbarkeitsfeld für Antisemitismen signifikant vergrößert und intensiviert hat. Zu konstatieren ist auch eine qualitative Radikalisierung der Antisemitismen, die sich durch drastische Pejorativa, Superlative und NS-Vergleiche sprachlich manifestiert.11

  6 Samuel Salzborn, Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne. Sozialwissenschaftliche Theorien im Vergleich, Frankfurt am Main 2010.   7 Siehe ausführlich in Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart (8 Bde.), Berlin 2009–2015.   8 Unabhängiger Expertenkreis, Antisemitismus, 26 f.   9 Christian Heilbronn/Doron Rabinovici/Natan Sznaider (Hg.), Neuer Antisemitismus? Fortset­ zung einer globalen Debatte, Berlin 2019; Deborah Lipstadt, Der neue Antisemitismus, Berlin 2018. 10 Monika Schwarz-Friesel, Antisemitismus 2.0 und die Netzkultur des Hasses. Judenfeindschaft als kulturelle Konstante und kollektiver Gefühlswert im digitalen Zeitalter, Berlin 2018, 65, https:// www.linguistik.tu-berlin.de/menue/antisemitismus_2_0/- (Zugriff am 11.01.2020); dies., Judenhass im Internet. Antisemitismus als kulturelle Konstante und kollektives Gefühl, Leipzig 2019. 11 Schwarz-Friesel, Antisemitismus 2.0, 63.

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Schimpfworte wie das abfällige Du Jude!, die u. a. auf Schulhöfen auftauchen, werden durch Negativkonnotationen genährt, die das World Wide Web zur Verfügung stellt. Junge Menschen partizipieren an digitalen Kommunikationsformen und können so jederzeit mit impliziten und expliziten judenfeindlichen Äußerungen konfrontiert werden. 2.2  Islamfeindlichkeit als aktuelles Phänomen Wer feindselige Haltungen gegen Muslime analysieren will, sieht sich zunächst einem begrifflichen Wirrwarr ausgesetzt. Termini wie Islamfeindlichkeit, Islamkritik, Muslimenfeindlichkeit, Muslimenkritik, antimuslimischer Rassismus, Islamophobie etc. werden verwendet, auch in Öffentlichkeit und Medien. Jedoch sind manche der Begriffe durchaus umstritten.12 Islamfeindlichkeit kann sich in vielfältigen Vorurteilen, Haltungen und Grundannahmen äußern, beispielsweise:13 Ȥ Annahme einer unüberbrückbaren kulturellen Verschiedenheit von Muslimen und Nichtmuslimen (wahlweise »Christen«, »Europäer«, »Deutsche«); Ȥ Islam und Demokratie seien grundsätzlich unvereinbar und Muslime daher in westlichen Gesellschaften niemals integrierbar; Ȥ Gewalt gehöre konstitutiv zum Islam; Ȥ Muslime würde eine heimliche Islamisierungsstrategie betreiben und letzten Endes nach der Weltherrschaft streben; Ȥ Sorge vor der angeblich bevorstehenden Einführung islamischer Traditionen und Normen in europäische Gesellschaften (vor allem Kopftuchzwang); Ȥ Muslime würden mit bewusster Täuschung (»Taqiya«) arbeiten; Ȥ Gleichsetzung von Islam und Totalität, die aus dem Islam eine Ideologie macht und ihm den Status einer Religion abspricht. Eine neuere Umfrage (2019) zeigt, dass 52 % der bundesdeutschen Bevölkerung den Islam als Bedrohung wahrnehmen, nur 36 % als Bereicherung.14 Zwar ist 12 Armin Pfahl-Traugber, Islamfeindlichkeit, Islamophobie, Islamkritik – ein Wegweiser durch den Begriffsdschungel, Bonn 2019, https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/180774/islamfeindlichkeit-islamophobie-islamkritik-ein-wegweiser-durch-den-begriffsdschungel (Zugriff am 11.01.2020). 13 Vgl. Ehrhart Körting/Dietmar Molthagen/Bilkay Öney, Was ist zu tun? Deutschland zwischen islamistischem Extremismus und Islamfeindlichkeit, hrsg. v. d. Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2017, 29. 14 Bertelsmann Stiftung Religionsmonitor/Gert Pickel, Weltanschauliche Vielfalt und Demokratie. Wie sich religiöse Pluralität auf die politische Kultur auswirkt, Gütersloh 2019, 13, https:// www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/Religionsmonitor_Vielfalt_und_Demokratie_7_2019.pdf (Zugriff am 11.01.2020).

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insgesamt ein Großteil der Bevölkerung offen gegenüber anderen Religionen (87 %), was jedoch in Kontrast zu einer starken Negativwahrnehmung des Islam steht, die europaweit ansteigt. In Österreich sehen im Jahr 2017 den Islam 47 % der Bevölkerung als Bedrohung, in der Schweiz 51 %.15 Die Ereignisse um Flucht und Migration ab dem Jahr 2015 haben dazu geführt, dass die gesellschaftliche Debatte hitziger geführt wird und anti­ islamische Stimmen lauter sowie ablehnende Haltungen gegenüber Muslimen stärker geworden sind, was auch unter dem Stichwort »Ablehnungshaltung«16 diskutiert wird. Allgemein wird festgestellt, dass islamfeindliche, fremdenfeindliche und antijüdische Haltungen in Deutschland und Europa zunehmen.17 Ähnlich wie beim Antisemitismus ist das Internet ein Muliplikator und Verbreiter muslimfeindlicher Tendenzen, was auch bei Jugendlichen ankommt. Laut einer von der Mercator-Stiftung durchgeführten Pilotstudie empfinden Jugendliche den Islam teilweise als Bedrohung und identifizieren ihn mit den Stichworten »Gewalt« und »Rückständigkeit«.18 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sich in den aufgezeigten Meinungsäußerungen und Haltungen deutliche Problemanzeigen verbergen, die große Aufgaben für alle Bildungseinrichtungen in einer demokratischen Gesellschaft darstellen. Zu beachten ist, dass zwar Antisemitismus und Islamfeindlichkeit deutlich zu unterscheiden sind, dass es aber auch zu vielfältigen Überlappungen kommen kann. Die Forschungsgruppe um Wilhelm Heitmeyer hat bekanntlich in ihren Studien zur »Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit« ein Syndrom erkannt: »Wer antisemitische Meinungen teilt, hegt meist auch Feindseligkeiten gegen andere Gruppen.«19 Diese hier nur angedeuteten gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen im Blick auf Ressentiments und Feindschaft gegen Juden und Muslime bilden die Folie für die im Folgenden aufgeworfene Frage nach Präventionsmöglichkeiten innerhalb schulischen Handelns, insbesondere im Religionsunterricht.

15 Ebd., 82. 16 Kurt Möller/Florian Neuscheler (Hg.), »Wer will die hier schon haben?« Ablehnungshaltungen und Diskriminierung in Deutschland, Stuttgart 2018. 17 Christian Pfeffer-Hoffmann/Janine Ziegler (Hg.), Muslimfeindlichkeit in Europa, Berlin 2017. 18 Lamya Kaddor/Aylin Karabulut/Nicolle Pfaff, »Man denkt immer sofort an Islamismus.« Jugendliche und Islamfeindlichkeit, hrsg. v. d. Mercator Stiftung, Universität Duisburg-Essen 2018, https://www.stiftung-mercator.de/de/publikation/islamfeindlichkeit-im-jugendalter/ (Zugriff am 11.01.2020). 19 Andreas Zick/Anna Klein, Fragile Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland, hrsg. v. d. Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2014, 18.

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3 Prävention gegen Antisemitismus und Islamfeindlichkeit: allgemeine und spezifische religionsunterrichtliche Potenziale Vorab ist festzustellen, dass in erziehungswissenschaftlichen Publikationen zur Prävention allgemein gegen Gewalt sowie speziell gegen Antisemitismus und Antijudaismus die religionspädagogische Dimension oftmals keine Rolle spielt.20 Dabei besitzt speziell der Religionsunterricht hinsichtlich der Präventionsarbeit gegen Antisemitismus sowie Islamfeindlichkeit spezifische Potenziale, die unter Berücksichtigung vorurteilspsychologischer Erkenntnisse zu bedenken sind (3.2). Ungeachtet dessen ist der Religionsunterricht auf die Zusammenarbeit mit anderen Fächern angewiesen, was anhand der nachstehenden Ausführungen zur Präventionsarbeit verdeutlicht werden soll (3.1). 3.1  Präventionsarbeit gegen Gewaltbereitschaft und Diskriminierung Grundsätzlich sind bei dieser Thematik die Grenzen pädagogischer Bemühungen im Kontext Schule realistisch zu bedenken: Exemplarisch zeigt sich an dem antisemitischen Attentat von Stephan B. in Halle (09.10.2019), wie sich Täter im Internet radikalisieren können und dieses eine Ressource für eine anti­emitische Weltanschauung bis hin zur konkreten Durchführung des Attentats ist. Zwar kann Gewaltbereitschaft aus lerntheoretischer Sicht auch wieder »verlernt« werden, jedoch besteht umgekehrt tagtäglich eine Fülle von »gewalttätigen« Lerngelegenheiten jenseits von Schule. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass die Überwindung von antisemitischen und islamfeindlichen Vorurteilen und eine entsprechende Gewaltbereitschaft nicht einfach die Behebung eines Wissensdefizites darstellt, sondern insbesondere emotionale und soziale Aspekte einzubeziehen sind. Derartige Punkte werden im Folgenden unter Bezugnahme auf die Präventionsmatrix von U. Schmälzle21 benannt. Im Bereich der Primärprävention, die dem Abbau von Gewaltbereitschaft dient, kommen auch hinsichtlich Anti­ semitismus und Islamfeindlichkeit folgende intrapersonale und interpersonale Maßnahmen in Betracht: 20 Symptomatisch dafür Wilfried Schubarth, Gewalt und Mobbing an Schulen. Möglichkeiten der Prävention und Intervention, Stuttgart 32019, wo generell die fachdidaktische Dimension kaum eine Rolle spielt und nur allgemein von »Civic Education«, interkulturellem Lernen sowie Demokratie- und Menschenrechtserziehung die Rede ist (vgl. ebd., 211 ff.). 21 Vgl. Udo Schmälzle, Strategien der Entfremdung – Konzepte der Jugend- und Schulsozialarbeit, in: JRP 19 (2003), 153–163.

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Intrapersonale Dimension Ȥ Weckung, Förderung und Erhaltung des Urvertrauens und Selbstwertgefühls Ȥ Erziehung zum Triebaufschub und Gewaltabbau durch Anerkennung der körperlichen Integrität des Kindes Ȥ Verstärkung prosozialer Einstellungen und Motive Ȥ Weckung, Förderung und Erhaltung der Fähigkeit, sich auszudrücken und zu sprechen Interpersonale Dimension (Familie, Schule, Gleichaltrigengruppe) Ȥ Gewaltlosigkeit als Erziehungsstil und Erziehungsziel Ȥ Praxis gewaltfreier Austragung von Konflikten in Familie, Schule und Gesellschaft (Vorbildverhalten), Kooperation der Sozialisationsinstanzen Ȥ Vernetzung von Familien Ȥ Unterstützung von Vätern und Müttern Ȥ Thematisierung von Gewalt und Aggression im Unterricht Ȥ Förderung der Schulsozialarbeit Ȥ Konsequente Verfolgung von Regelverletzungen Ȥ Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen in Entscheidungsprozesse (z. B. Wohnungswechsel) Ȥ Interkulturelle Kinder- und Jugendarbeit.22 Gleichfalls verdienen im pädagogischen Zusammenhang Elemente aus der sog. Sekundärprävention beachtet zu werden, die sich auf die Arbeit mit möglichen Risikogruppen bezieht, wobei hier allein der Fokus auf die intrapersonale Dimension gerichtet werden soll: Intrapersonale Dimension Ȥ Immunisierung potenzieller Opfer und Täter durch Antistress- und Aggressionstraining Ȥ Befähigung von Risikopersonen zum Umgang mit Angst, Schuld und Aggression.23 Aus religionspädagogischer Perspektive zeigt sich einerseits, dass der Religionsunterricht zu bestimmten Punkten wie »Verstärkung prosozialer Einstellungen und Motive« einen genuinen Beitrag leisten kann. Andererseits wird deutlich, 22 Ebd., 162. 23 Ebd., 162.

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dass der Religionsunterricht auf Kooperation mit anderen Fächern sowie mit Schulpsychologinnen und -psychologen angewiesen ist und es sich insgesamt betrachtet um eine gesamtschulische Aufgabe handelt. 3.2 Spezifisch religionsunterrichtliche Präventionsarbeit gegen Vorurteilsbildung Hinsichtlich Antisemitismus und Islamfeindlichkeit besitzt der Religionsunterricht spezifische negative wie positive Potenziale, die oftmals unzureichend im pädagogischen Diskurs bedacht werden, weil die religiöse Dimension inhaltlich mehr oder weniger negiert wird.24 In negativer Hinsicht dokumentieren nämlich auch jüngere Lehrplan- und Schulbuchanalysen zum Religionsunterricht, dass nach wie vor z. B. die Tora oder Pharisäer als dunkle Kontrastfolien dienen können, vor deren Hintergrund sich christliche Überzeugungen umso heller und positiver abheben.25 Ungewollt kann auf diese Weise der Religionsunterricht zu Vorurteilen gegen Judentum – und vergleichbar auch gegen Islam – beitragen. Hier sind bei der Lehrplan- und Schulbucherstellung bewusster als bislang psychologische Kenntnisse zu berücksichtigen, welche die vorurteilsförderliche Wirkung solcher Schwarz-Weiß-Kontrastschemata aufzeigen.26 Darüber hinaus ist zu bedenken, dass diese im Kontext von Lehrplänen und Schulbüchern eher unterschwelligen antisemitischen bzw. islamfeindlichen Muster in anderen Sozialisiationsinstanzen wie z. B. digitalen Medien in weitaus drastischerer Gestalt verbreitet sind. Gleichwohl ist einer Präventionsarbeit gegen Antisemitismus und Islamfeindschaft auch nicht gedient, wenn man umgekehrt Differenzen zwischen Christentum und Judentum bzw. Christentum und Islam negiert oder verschweigt, da gerade auf diese Weise vorurteilsfördernde Identitätsängste erzeugt werden können. Theologische Differenzen sind jedoch so zu behandeln, dass in den Köpfen der Schülerinnen und Schüler keine Kontrastschemata mit daraus resultierenden Akzentuierungsaffekten entstehen. Vielmehr sind diese in übergreifende Gemeinsamkeiten zwischen Christentum und Judentum sowie Christentum 24 Vgl. abermals Schubarth, Gewalt. 25 Vgl. Julia Spichal, Vorurteile gegen Juden im christlichen Religionsunterricht. Eine qualitative Inhaltsanalyse ausgewählter Lehrpläne und Schulbücher in Deutschland und Österreich, Göttingen 2015, 203–212. 26 Vgl. dazu sowie zum Folgenden Martin Rothgangel, Vorurteile als Integrationshindernis. Interreligiöses Lernen vor dem Hintergrund sozialpsychologischer Einstellungs- und Vorurteilsforschung, in: Martin Rothgangel/Ednan Aslan/Martin Jäggle (Hg.), Religion und Gemeinschaft. Die Frage der Integration aus christlicher und muslimischer Perspektive, Göttingen 2013, 167–187.

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und Islam »einzubetten«, weil dadurch Unterschiede nicht »überakzentuiert« werden. Der spezifische Beitrag des Religionsunterrichts zur Präventionsarbeit gegen Antisemitismus und Islamfeindlichkeit besteht demnach darin, dass er religiös bedingte Vorurteile bekämpfen und zu einem wertschätzenden Umgang mit den religiösen Traditionen im Judentum und Islam motivieren kann. Generell sind jenseits dieser theologischen Dimension auch konkrete Begegnungen mit Jüdinnen und Juden in Synagogen sowie Musliminnen und Muslimen in Moscheen ein wichtiger Aspekt von Präventionsarbeit, wobei speziell im Blick auf das Judentum auch gut vor- und nachbereitete Besuche von Gedenk­stätten hinzukommen. Gleichwohl sind auch hier vorurteilspsychologische Erkenntnisse v. a. bezüglich der sogenannten Kontakthypothese zu berücksichtigen. Die entscheidend von Gordon W. Allport27 weiterentwickelte Kontakthypothese zeigt nämlich, dass Kontakt zwischen Gruppen unter Berücksichtigung folgender Bedingungen zu einer Reduzierung von Vorurteilen beiträgt: »(1) gemeinsame Ziele, (2) intergruppale Kooperation, (3) gleicher Status zwischen den Gruppen, und (4) Unterstützung durch Autoritäten, Normen oder Gesetze. Pettigrew betont zudem, dass der Kontakt (5) die Möglichkeit bieten sollte, Freundschaften über Gruppengrenzen hinweg zu entwickeln.«28 Ein wesentlicher Punkt ist demnach, dass durch gemeinsame Ziele (z. B. Bewahrung der Schöpfung) keine Wettbewerbssituation zwischen den Gruppen entsteht, sondern diese Ziele durch eine gemeinsame Kooperation beider Gruppen erreicht werden. Gleichfalls erweisen sich vor dem Hintergrund der vierten Bedingung offizielle Verlautbarungen der Religionsgemeinschaften als bedeutend, welche einer Diskriminierung anderer Religionen widerstreiten und für Toleranz sowie für eine versöhnte Verschiedenheit eintreten. Abschließend sei noch ein Punkt hervorgehoben, der insbesondere bei der schulischen Präventionsarbeit gegen Antisemitismus auftreten kann: Immer wieder wird bei Schülerinnen und Schülern der Effekt »Nicht schon wieder«29 beobachtet. Dies impliziert für die Behandlung im Religionsunterricht einen wesentlichen Punkt, der in anderer Form bereits am Ende von 3.1 thematisiert wurde: Im Religionsunterricht sind bei der Präventionsarbeit gegen Antisemitismus Absprachen mit Fächern wie Deutsch und Geschichte nötig, in denen das Thema möglicherweise auch behandelt wird. Erst eine zwischen den einschlägi27 Gordon W. Allport, The Nature of Prejudice, Reading (MA) 1954. 28 Stefan Stürmer, Die Kontakthypothese, in: Lars-Eric Petersen/Bernd Six (Hg.), Stereotype, Vorurteile und soziale Diskriminierung. Theorien, Befunde und Interventionen, Weinheim/ Basel 2008, 283–291, hier 284. 29 Vgl. dazu https://www.zeit.de/gesellschaft/schule/2018-09/diskriminierung-antisemitismusrechtsextremismus-juden-schulen-mobbing (Zugriff am 11.01.2020).

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gen Fächern an Schulen abgestimmte Präventionsarbeit verspricht einen Erfolg gegen hartnäckige antisemitische und islamfeindliche Vorurteile. Im Idealfall entwickeln die Lehrkräfte verschiedener Fächer ein schulinternes Curriculum, das im Sinne aufbauenden Lernens die einzelnen Fächer über die Jahrgänge hinweg und aufeinander abgestimmt ins Spiel bringt. Einschränkend ist aber festzustellen, dass – sieht man v. a. von der Kontakthypothese ab, für die sogar eine Meta-Analyse vorliegt30 – noch zahlreiche Forschungsdesiderate hinsichtlich der Wirksamkeit von »Interventionen zur Prävention von Vorurteilen und Diskriminierung«31 bestehen.

4  Religionspädagogische Konkretionen Die Kontakthypothese besitzt auch religionspädagogisch höchste Relevanz und Aktualität. Elisabeth Naurath sieht für den Religionsunterricht eine besondere Chance: »Gewaltpräventives Lernen in konfessionell, religiös oder weltanschaulich heterogenen Lerngruppen stellt sich vorrangig als Lernen im Umgang mit bestehenden oder potenziellen Vorurteilen dar. Der Königsweg hierbei ist der Kontakt zwischen den jeweiligen Gruppen.«32 Das Kennenlernen und die Begegnung derer, die mit Vorurteilen, Fremdheitsgefühlen oder Ängsten belegt sind, kann negative Emotionen mindern, aber auch von vorne herein »[…] wie ein Schutzschild gegen das Entstehen von Vorurteilen oder Feindbildern wirken […]«.33 So verstanden kann mit Naurath »gewaltpräventives Handeln als religionspädagogischer Ansatz«34 profiliert werden. Vor dem Hintergrund der voranstehenden Ausführungen zur Prävention zeigt sich, dass der Religionsunterricht angesichts der tiefen und vielfältigen gesell­schaftlichen Verankerung antisemitischer sowie islamfeindlicher Vorurteile auf die Kooperation mit anderen Fächern angewiesen ist und letztlich eine 30 Thomas F. Pettigrew/Linda R. Tropp, A meta-analytic test of intergroup contact theory, in: Journal of Personality and Social Psychology, 90 (2006), 751–783, http://dx.doi.org/10.1037/00223514.90.5.751 (Zugriff am 11.01.2020). 31 Andreas Beelmann/Kim Sarah Heinemann/Michael Saur, Interventionen zur Prävention von Vorurteilen und Diskriminierung, in: Andreas Beelmann/Kai J. Jonas (Hg.), Diskriminierung und Toleranz. Psychologische Grundlagen und Anwendungsperspektiven, Wiesbaden 2009, 435–461. 32 Elisabeth Naurath, Gewaltpräventives Lernen, in: Saskia Eisenhardt/Kathrin S. Kürzinger/ Elisabeth Naurath/Uta Pohl-Patalong (Hg.), Religion unterrichten in Vielfalt: konfessionell – religiös – weltanschaulich. Ein Handbuch, Göttingen 2019, 214–221, hier 219. 33 Ebd. 34 Ebd., 215.

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gesamtschulische Herausforderung vorliegt.35 Wir wollen uns im Folgenden auf diesen Aspekt konzentrieren, wobei Schubarths Vorschlag zur »Gewalt­ prävention durch Schulentwicklung: eine Anleitung zum Handeln«36 als Ausgangspunkt dient. Dieses Modell bezieht sich zwar allgemein auf Gewaltprävention, jedoch können im Grunde genommen alle sechs Phasen durch die Bezugnahme auf Antisemitismus und Islamfeindlichkeit ergänzt bzw. konkretisiert werden: 1. Einstiegsphase: Information sowie Diskussion innerhalb des Kollegiums, mit Schülerinnen und Schülern sowie den Eltern Im Vordergrund steht hier die Frage, ob Antisemitismus oder Islamfeindlichkeit ein Problem an der Schule darstellen und ob »die Umsetzung von Präventivmaßnahmen als sinnvoll eingeschätzt wird.«37 Dabei kann ggf. auch ein übergreifender Bezug auf Rechtsextremismus vorgenommen werden. Es erfolgt die Information, dass eine Pädagogische Konferenz zu diesem Themenkreis beabsichtigt ist, es können Publikationen sowie Arbeitsaufgaben verteilt und Ziele, Ablauf sowie Zuständigkeiten für die Pädagogische Konferenz geklärt werden. In diesem Zusammenhang lässt sich ein erster Eindruck von potenziellen Schwierigkeiten, von Handlungsoptionen und der Motivation zur aktiven Mitarbeit gewinnen. Letztlich ist in der Einstiegsphase auf transparente Weise vorzugehen und die Entscheidung zu fällen, »ob eine Weiterarbeit an dem Thema sinnvoll ist«.38 2. Analyse- und Diagnosephase: Befragungen unter Schülerinnen und Schülern, Lehrkräften sowie Eltern, Auswertung und Feedback Unter Rückgriff auf Umfragen zu Antisemitismus und Islamfeindlichkeit können offene und geschlossene Fragen formuliert werden. Dabei kann die Erstellung des Fragebogens zu einer Sensibilisierung beitragen, wie vielschichtig diese Phänomene sind. Alternativ oder ergänzend kann auch eine »Problemdiagnose mittels der Moderationsmethode«39 erfolgen. Nach der Problemformulierung (z. B. »Sind Antisemitismus bzw. Islamfeindlichkeit ein Problem an unserer 35 Vgl. dazu auch Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (LpB)/Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL)/Ministerium für Kultus, Jugend und Sport BadenWürttemberg (Hg.), Wahrnehmen – Benennen – Handeln. Handreichung zum Umgang mit Antisemitismus an Schulen, Stuttgart 2019 (auch online abrufbar, Zugriff am 13.01.2020) sowie die Webseite mit dem programmatischen Titel www.stopantisemitismus.de (Zugriff am 13.01.2020). 36 Schubarth, Gewalt, 224. 37 Ebd., 225. 38 Ebd. 39 Ebd.

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Schule«) können folgende Schritte erfolgen: »1. Kartenabfrage (Teilnehmer schreiben Ideen oder Meinungen auf Karten), 2. Antwortlandschaft (Karten werden an Pinnwand oder Wandzeitung gehängt), 3. Clustern (thematisch zusammenhängende Karten werden zu Gruppen geordnet und mit Begriffen versehen), 4. Problemspeicher (Themen und Probleme werden in einer Übersicht eingetragen), 5. Bewertung und Ranking (die Themen werden durch ›Punkten‹ bewertet und in eine Reihenfolge gebracht) und 6. Pro­ blembearbeitung (Lösungsvorschläge werden bearbeitet, die weitere Handlungsplanung vorgeschlagen).«40 Ziel- und Prioritätensetzung: pädagogisches Leitziel und konkrete Handlungsziele Hier geht es darum, dass Ziele so formuliert werden, dass diese realistisch, planbar und messbar sind. Dabei sind die geplanten Maßnahmen »nach Wichtigkeit, Zeit-, Personal- und Finanzbedarf«41 einzuschätzen. Maßnahmenplanung: Projektterminplan mit Aufgaben und Verantwortlichkeiten In diesem Schritt geht es darum, genaue Zuständigkeiten zu klären, d. h. welche Akteure aus welchen Fächern und Personengruppen welche Maßnahmen gegen Antisemitismus und Islamfeindlichkeit durchführen. Dabei sind auch die jeweils benötigten Ressourcen abzuklären. Durchführungsphase: Implementation konkreter Maßnahmen Bei diesem Schritt ist neben der konkreten Durchführung der Maßnahmen insbesondere ein Abgleich zwischen dem tatsächlichen und dem geplanten Projektverlauf (zwischen »Ist« und »Soll«) vorzunehmen. Evaluationsphase: Rückmeldungen, Zwischenbilanz und weitere Planung Schulentwicklungsvorhaben bedürfen der Evaluation, um ihre Wirksamkeit einschätzen zu können, um aus Stärken und Schwächen des Projekts lernen und ggf. nachsteuern zu können.

Da Schulentwicklungsvorhaben generell – und bei Themen wie Antisemitismus und Islamfeindlichkeit speziell – zu Konflikten und Widerständen führen können, ist es hilfreich, von Beginn an damit zu rechnen. Dabei wird v. a. empfohlen, »eine offensive Information und offene Kommunikation zu pflegen, den Widerstand ernst zu nehmen und eine Vertrauenskultur anzubahnen.«42 Diese Punkte gelten in einem erhöhten Maße für vorurteilsbehaftete Themen, da ansonsten mit einer Kommunikationslatenz zu rechnen ist, die eine Bearbeitung antisemitischer und islamfeindlicher Vorurteile erschwert oder gar verhin40 Ebd., 225 f. 41 Ebd., 226. 42 Ebd., 227.

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dert. Der Religionsunterricht kann in einem solchen schulkulturellen Prozess einen wesentlichen Platz einnehmen, vielleicht sogar einen Motor für Schulentwicklung darstellen, da seine Themen in besonderer Weise darauf angelegt sind, Religionen und Kulturen, v. a. auch Judentum und Islam, auf differenzierte Weise wahrzunehmen und verstehen zu lernen. Auf diese Weise kann er zum Ort und zum Multiplikator präventiven Handelns in der Schule werden.

Prof. Dr. Reinhold Boschki ist Professor für Religionspädagogik an der Universität Tübingen. Prof. DDr. Martin Rothgangel ist Professor für Religionspädagogik an der Universität Wien.

Judentum und Islam als gemeinsames Thema unterrichten? Theoretische Perspektiven und empirische Befunde Friedrich Schweitzer und Mirjam Rutkowski

Ihren Ausgangspunkt besitzt nachfolgende Darstellung in zwei aktuellen Beobachtungen: Zum einen führen Bildungspläne für den Religionsunterricht zunehmend beide Religionen – Judentum und Islam – beispielsweise für dieselbe Klassenstufe auf, so dass sich die Frage stellt, ob beide Religionen nun gemeinsam oder eher, wie es bislang wohl weithin üblich war, in getrennter Form unterrichtet werden sollen.1 Dabei weckt die gemeinsame Behandlung beider Religionen bei Lehrkräften diverse Befürchtungen, vor allem dass dann das Judentum in seinem besonderen Verhältnis zum Christentum nicht mehr ausreichend gewürdigt werde oder dass es bei jüngeren Schülerinnen und Schülern zu Verwirrung komme. Zum anderen sind insbesondere zur Thematisierung des Judentums im Religionsunterricht so gut wie keine empirischen Untersuchungen verfügbar, was angesichts des theoretischen und theologischen Gewichts dieses Themas als erstaunlich zu bezeichnen ist.2 Im Blick auf den Unterricht zum Thema Islam sieht die Forschungssituation zwar etwas besser aus, aber auch hier gibt es noch immer vielfach Desiderate.3 Die theoretischen Analysen in diesem Beitrag beziehen sich auf diese Situation insgesamt, während die empirische Untersuchung, über die im Folgenden

1 Diese Tendenz ergab sich aus einer exemplarischen Analyse zu den gymnasialen Bildungsplänen in Baden-Württemberg, Bayern, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen. Ausführlichere Befunde dazu s. Friedrich Schweitzer/Ibtissame Bucher (Hg.), Judentum und Islam im Religionsunterricht. Theoretische Analysen und empirische Befunde im Horizont interreligiösen Lernens, Münster/New York 2020. Alle Bildungspläne sind mittlerweile leicht über die jeweiligen Landesbildungsserver zugänglich. 2 Vgl. als Ausnahme zu außerschulischem Lernen Claudia Gärtner/Natascha Bettin (Hg.), Interreligiöses Lernen an außerschulischen Lernorten. Empirische Erkundungen zu didaktisch inszenierten Begegnungen mit dem Judentum, Berlin 2015; als Überblick Bernd Schröder, Art. Judentum, als Thema christlich verantworteter Bildung, in: WiReLex (2015), https://www.­ bibelwissenschaft.de/stichwort/100072/ (Zugriff am 16.12.2019). 3 Vgl. bspw. den Überblick bei Fahimah Ulfat, Current state of research on Islamic Religious Education in Germany, in: Friedrich Schweitzer/Reinhold Boschki (Hg.), Researching Religious Education. Classroom processes and outcomes, Münster/New York 2018, 343–370.

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berichtet wird, nur ausgewählte Aspekte beleuchten kann.4 Insofern kann der Wert dieser Untersuchung vor allem darin gesehen werden, dass sie einen Ausgangspunkt für weitere empirische Studien zu diesem bislang in der Forschung vernachlässigten Themenbereich bietet.

1 Religionen im Religionsunterricht: Die veränderte Ausgangssituation Bekanntlich hat die Thematik zunächst der sogenannten »Weltreligionen« und dann des interreligiösen Lernens oder der interreligiösen Bildung im Religionsunterricht in den letzten Jahrzehnten enorm an Aufmerksamkeit und praktischer Bedeutung gewonnen.5 Neben der zunehmenden Beachtung, die dabei im Religionsunterricht den verschiedenen Religionen – Islam, Buddhismus, Hinduismus u. a. – geschenkt wird, besaß und besitzt die Beschäftigung mit dem Judentum eine besondere Bedeutung. Die Einführung spezieller Unterrichtseinheiten zum Judentum auf verschiedenen Schul- und Klassenstufen – beginnend in der Grundschule und bis hin zur Sekundarstufe II – lassen dies leicht erkennen.6 Im Hintergrund stehen die besonderen theologischen Fragen zwischen Christentum und Judentum sowie die intensiven Bemühungen um eine Neuverständigung im Blick auf das Verhältnis zwischen Christentum und Judentum, wie sie in Deutschland etwa in den gewichtigen EKD-Veröffentlichungen zu »Christen und Juden« zum Ausdruck kommen.7 Leitend war für diese Veröffentlichungen nicht die allgemeine Frage nach interreligiösem Lernen, sondern die nach dem besonderen Verhältnis zwischen Christentum und Judentum. Das gilt in analoger Weise für den Religionsunterricht. Vor allem seit der Jahrtausendwende hat sich die Situation insofern verändert, als die wachsende Präsenz des Islam, zugleich verbunden mit dessen gesteiger4 Dem Projektteam gehörten neben der Autorin und dem Autor dieses Beitrags auch die Kolleginnen Ibtissame Bucher (als teilabgeordnete Lehrerin) sowie Birgit Maisch-Zimmermann (Studienseminar Tübingen) und Christel Zeile-Elsner (Studienseminar Stuttgart) sowie Martin Losert (Universität Tübingen) an. Ihnen sei auch an dieser Stelle herzlich gedankt! 5 Vgl. bspw. den Überblick bei Friedrich Schweitzer, Interreligiöse Bildung. Religiöse Vielfalt als Herausforderung und Chance, Gütersloh 2014. 6 Vgl. Werner Trutwin, Das Judentum im Religionsunterricht Rückblick und Ausblick, in: Reinhold Boschki/Albert Gerhards (Hg.), Erinnerungskultur in der pluralen Gesellschaft. Neue Perspektiven für den christlich-jüdischen Dialog, Paderborn 2010, 241–253. 7 Vgl. EKD (Evangelische Kirche in Deutschland) (Hg.), Christen und Juden I–III. Die Studien der Evangelischen Kirche in Deutschland 1975–2000, Gütersloh 2002.

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ter weltweiter Sichtbarkeit, ganz offenbar die Notwendigkeit vor Augen führte, den Islam ebenfalls verstärkt im Religionsunterricht aufzunehmen. Hier vollzogen die Bildungspläne in Deutschland nach, was sich beispielsweise im United Kingdom vor einem anderen, in diesem Falle besonders post-kolonialen Hintergrund schon früher in Gestalt der Thematisierung von Hinduismus, Sikhismus und Buddhismus äußerte:8 Veränderte Religionspräsenzen in der Gesellschaften stellen auch veränderte Anforderungen an den Religionsunterricht. Dazu kommen aktuell die zunehmenden Tendenzen von Antisemitismus und Islamophobie, die nicht zuletzt aus politischer Sicht nach einem als Prävention wirksamen Religionsunterricht verlangen. Ein exemplarisches Beispiel für die veränderte Situation stellt der bundesweit aufgrund seiner Umstrittenheit bekannt gewordene Bildungsplan 2016 für Baden-Württemberg dar. Während diese Umstrittenheit, die vor allem aus der Forderung nach einer prinzipiellen Akzeptanz von Unterschieden als Bildungsziel rührte,9 hier nicht Thema sein soll, enthält dieser Plan für die Unterstufe des Gymnasiums eine gemeinsame Kompetenzbeschreibung zu Judentum und Islam.10 Darin ist dieser Bildungsplan zwar nicht einzigartig – in anderen Bundesländern gibt es dazu Parallelen11 –, aber gerade die hier gewählte Darstellung führt die nunmehr zu stellende Frage exemplarisch vor Augen: Was verändert sich, wenn jetzt Judentum und Islam in einer gemeinsamen Unterrichtseinheit behandelt werden? Der Bildungsplan Baden-­Württemberg schreibt dies zwar nicht vor; zulässig sind auch getrennte Unterrichtseinheiten oder eine Aufnahme der dort genannten Kompetenzen im Rahmen anderer Unterrichtseinheiten. Er eröffnet aber die Möglichkeit einer gemeinsamen Unterrichtseinheit für beide Religionen, die im Folgenden genauer reflektiert werden soll. Hier die Darstellung im Bildungsplan:

  8 Vgl. dazu Terence Copley, Teaching Religion: Fifty Years of Religious Education in England and Wales, Exeter 1997.   9 Vgl. Uwe Kai Jacobs, Religion in der öffentlichen Schule. Was ist in Baden-Württemberg erlaubt?, in: A. Katarina Weilert/Philipp W. Hildmann (Hg.), Religion in der Schule. Zwischen individuellem Freiheitsrecht und staatlicher Neutralitätsverpflichtung, Tübingen 2018, 199–214. 10 Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (Hg.), Bildungsplan des Gymnasiums. Evangelische Religionslehre. Stuttgart 2016, http://www.bildungsplaene-bw.de/,Lde/ LS/BP2016BW/ALLG/GYM/REV (Zugriff am 12.02.2020), 3.1.7. 11 Vgl. Schweitzer/Bucher, Judentum und Islam, 53 ff.

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3.1.7 Religionen und Weltanschauungen12 Die Schülerinnen und Schüler beschreiben anhand von unmittelbar oder medial begegnenden Phänomenen Charakteristika von Judentum und Islam. Die Schülerinnen und Schüler können: (1) Ausprägungen religiöser Praxis im Judentum beschreiben (zum Beispiel Feste, Riten, Synagoge) (2) Ausprägungen religiöser Praxis im Islam beschreiben (zum Beispiel Feste, Riten, Moschee) (3) An einem Beispiel Christentum, Judentum und Islam (zum Beispiel Feste, Gebet, Gotteshaus, Bedeutung Abrahams) vergleichen Mögliche Bibeltexte: 1. Mose 16; 1. Mose 17; 1. Mose 21,1–4; 1. Mose 22 Mögliche Fachbegriffe: Islam; Muslim; Koran; Moschee; Ramadan; Zuckerfest; Opferfest; Judentum; Nachfolge; Synagoge; Tora; Mikwe; Bar und Bat Mizwa; Pessach; Schawuot; Beschneidung

2 Neue religionsdidaktische Herausforderungen zwischen Religionskunde und religionensensibler Spezifität: Kriterien für Unterricht zu Judentum und Islam Vor allem aus rechtlicher Sicht bleibt der Unterschied zwischen Religionsunterricht und Religionskunde eine maßgebliche Bestimmung. Religionsunterricht ist demnach wesentlich durch die Innenperspektive einer bestimmten Religion geprägt, die seinen Bekenntnisbezug ausmacht.13 Dies ist allerdings kein Hindernis für die Thematisierung anderer Religionen, die so gesehen ein Stück Religionskunde im Religionsunterricht darstellt. Die religionskundliche Bestimmtheit wird dabei allerdings – gewollt – überschritten, wenn neben der Darstellung einer anderen Religion aus der Außenperspektive – die Beziehung zu dieser Religion in den Blick genommen wird, also das Verhältnis beispielsweise des Christentums zum Judentum. Denn darin kommt wiederum eine Innenperspektive zum Tragen, was nach heutigem religionspädagogischem Verständnis zugleich 12 Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (Hg.), Bildungsplan des Gymnasiums. Evangelische Religionslehre, 16. 13 Vgl. dazu aktuell etwa Wilfried Härle, Religionsunterricht unter pluralistischen Bedingungen. Eine kritische Sichtung des Hamburger Modells, Leipzig 2019.

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impliziert, dass auch die umgekehrte Perspektive – dann also des Judentums auf das Christentum – als weitere Innenperspektive berücksichtigt werden muss.14 Die religionsunterrichtliche Hinwendung zu anderen Religionen bringt so gesehen also, zumindest in dieser Terminologie, automatisch eine Zunahme religionskundlicher Anteile im Religionsunterricht mit sich. Umso mehr ist dann die Frage zu stellen, wie ausgeschlossen werden kann, dass es hier insgesamt zu einer gleichsam stillschweigenden Transformation von Religionsunterricht zu Religionskunde kommt, was nach dem Gesagten etwa dadurch verhindert werden kann, dass die jeweilige Innenperspektive der verschiedenen Religionen im Blick auf die jeweils andere Religion konsequent einbezogen wird. Im gewählten Beispiel des Bildungsplans Baden-Württemberg ist dies zumindest mit dem Vergleich (»an einem Beispiel Christentum, Judentum und Islam […] vergleichen«) angedeutet. Dadurch kann die Behandlung von Judentum und Islam im Religionsunterricht eine theologische Qualität gewinnen und kann der Unterricht zugleich dem Bildungsziel der Pluralitätsfähigkeit dienen, indem er den Umgang mit unterschiedlichen oder mitunter gegensätzlichen religiösen Überzeugungen einübt.15 Eine weitere problematisierende Frage bezieht sich auf die je spezifischen Begegnungsgeschichten und ggf. Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den Religionen.16 So waren die Begegnungen zwischen Christentum und Judentum in der Geschichte bekanntlich – in beklagenswerter Weise – durch Judenfeindschaft und Antisemitismus geprägt, bis hin zur Shoah. Auch im Falle von Christentum und Islam gab es Feindschaften, Aggression und Kriege, aber die Verhältnisse nahmen sich doch anders aus. In beiden Fällen ist jedenfalls die Geschichte bei interreligiösen Begegnungen immer mit präsent. Plakativ formuliert: Mit der Shoah und den Kreuzzügen verbanden und verbinden sich unterschiedliche Problematiken, aber vorbei an diesen Hintergründen ist ein Unterricht zu Judentum und Islam nicht möglich. Darüber hinaus fallen auch die theologische Nähe und Distanz zwischen den drei Religionen unterschiedlich aus, was bei »trialogischen« religionsdidaktischen Ansätzen konsequent

14 So jedenfalls entspräche es dem Stand der religionsdidaktischen Diskussion, die zunehmend von reziproken Verhältnissen zwischen Religionen ausgeht; vgl. Schweitzer, Interreligiöse Bildung. 15 Zu diesem Bildungsziel vgl. im Sinne der Pluralitätsfähigkeit EKD (Evangelische Kirche in Deutschland) (Hg.), Religiöse Orientierung gewinnen. Evangelischer Religionsunterricht als Beitrag zu einer pluralitätsfähigen Schule, Gütersloh 2014. 16 Das hat bes. Karl Ernst Nipkow, Bildung in einer pluralen Welt, Bd. 2: Religionspädagogik im Plura-lismus, Gütersloh 1998, herausgearbeitet.

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berücksichtigt werden sollte.17 Wie kann verhindert werden, dass der Religionsunterricht bei einer gemeinsamen Thematisierung von Judentum und Islam seine Sensibilität für unterschiedliche Begegnungsgeschichten und Verwandtschaftsverhältnisse verliert? Geht man vom Stand der religionsdidaktischen Diskussion über inter­ religiöses Lernen aus, so erwächst daraus im vorliegenden Zusammenhang die Frage, in welchem Maße ein auf die gelebten Formen der Religionen bezogener Unterricht realisiert wird.18 Damit ist der angestrebte Übergang von einem herkömmlichen Weltreligionen-Ansatz, der sich auf Entstehung, Geschichte und Dogmatik der Religionen konzentriert und damit geografisch einen Schwerpunkt auf Israel, die arabischen Länder oder Asien legt, hin zu dem Bezug auf die in Deutschland und Europa gelebten Formen religiöser Praxis angesprochen. Dies schließt dann in besonderem Maße auch die den Schülerinnen und Schülern alltäglich begegnenden religiösen Ausdrucksformen ein. Im Blick auf Judentum und Islam entstehen daraus insofern besondere Fragen, als der Islam in Deutschland inzwischen eine ausgeprägte Alltagspräsenz aufweist, während im Falle des Judentums schon angesichts der kleinen Zahl jüdischer Menschen in Deutschland kaum mit entsprechenden alltäglichen Begegnungen zu rechnen ist.

3 Empirische Befunde: Unterricht zu Judentum und Islam im Spiegel von Lehrereinschätzungen und Kompetenzerwerb Im Blick auf die neuen Bildungspläne in Baden-Württemberg und die dadurch gegebenen Veränderungen wurde es möglich, in Zusammenarbeit zwischen der Universität Tübingen, der Evangelischen Landeskirche in Württemberg bzw. dem PTZ Stuttgart-Birkach und den Studienseminaren in Stuttgart und Tübingen ein Forschungsprojekt zur praktischen Realisierung von Unterricht zu Judentum und Islam in Klasse 5/6 Gymnasium durchzuführen. Dieses Projekt schloss an die beschriebenen religionsdidaktischen Herausforderungen an, sollte jedoch nicht einfach von theoretischen Fragestellungen ausgehen, sondern seinen Ausgangspunkt in der religionsunterrichtlichen Praxis finden. Um 17 Vgl. zuletzt Georg Langenhorst, Trialogische Religionspädagogik. Interreligiöses Lernen zwischen Judentum, Christentum und Islam, Freiburg i. Br. 2016, der theologische Aspekte diskutiert, die geschichtlichen Hintergründe jedoch nicht weiter berücksichtigt; vgl. dazu kritisch den Beitrag von Bernhard Grümme in diesem Band. 18 Diese Wendung geht vor allem zurück auf Robert Jackson, Religious Education: An Interpretive Approach, London 1997.

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die sich in dieser Praxis stellenden Fragen zu erkunden, wurde zunächst eine Lehrerbefragung durchgeführt, an die sich eine Untersuchung im Design einer Interventionsstudie anschloss.19 3.1  Didaktische Strategien und Einschätzungen der Lehrkräfte Angeschrieben wurden alle Lehrkräfte für evangelische Religion an allgemeinbildenden Gymnasien im Bereich der Evangelischen Landeskirche in Württemberg mit der Bitte, dass diejenigen, die aktuell eine 5. oder 6. Klasse unterrichten, an der Online-Befragung teilnehmen. Die Befragung wurde zu zwei Zeitpunkten durchgeführt. Beim ersten Befragungszeitpunkt (t1), unmittelbar nach Einführung des neuen Bildungsplans, beteiligten sich 108 Lehrkräfte (Schuljahr 2016/17), beim zweiten Befragungszeitpunkt (t2) waren es 64 Lehrkräfte (Schuljahr 2018/19). Da nicht bekannt ist, wie viele Lehrkräfte im Bereich der Landeskirche in der entsprechenden Klassenstufe tätig sind, lässt sich hier keine Rücklaufquote berechnen. Als zentrale Entscheidungsaufgabe in der Sicht der befragten Lehrkräfte erwies sich – jedenfalls gemessen an den von ihnen angegebenen Plänen für den Unterricht – die Alternative zwischen einer gemeinsamen Einheit zu beiden Religionen (41 %, t1) oder einer Einheit zum Judentum und einer Einheit zum Islam (47 %, t1). Nur ein kleiner Teil wollte die Kompetenzen nicht in besonderen Einheiten, sondern verteilt auf verschiedene andere Einheiten unterrichten (13 %, t1). Weiterhin zeichnete sich die Tendenz ab, die entsprechenden Themen nicht etwa zu Beginn von Klassenstufe 5, sondern eher in Klassenstufe 6 zu unterrichten. Darin kann ein Hinweis auf die Einschätzung des Anspruchsniveaus gesehen werden, das mit diesem Thema verbunden ist. Hinsichtlich des unterrichtlichen Bezugs auf gegenwärtig in Deutschland und Europa gelebte Formen von Judentum und Islam auf der einen und auf Entstehung, Geschichte und Dogmatik auf der anderen Seite ergab sich kein klares Bild. Weithin müssten der Sicht der Lehrkräfte zufolge heute beide Perspektiven im Unterricht berücksichtigt werden, mit einem klaren Akzent bei den gegenwärtig gelebten Formen der Religionen. Gleichwohl traten bei g­ enauerer Nachfrage bezüglich der Aufnahme der im Bildungsplan genannten »Fachbegriffe« dann aber doch wiederum eher traditionelle Schwerpunktsetzungen hervor. Vor allem das jeweilige Gottes- bzw. Gebetshaus sowie die jeweilige Heilige Schrift fanden hier die größte Beachtung. 19 Im Folgenden kann nur ein knapper Überblick zu den beiden Teilstudien und den Befunden gegeben werden; vgl. ausführlicher Schweitzer/Bucher, Judentum und Islam.

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Bemerkenswert sind nicht zuletzt die Einschätzungen der Lehrkräfte zu den im Bildungsplan geforderten Kompetenzen. Hierzu konnten sich die Befragten in freier Form äußern und brachten dabei häufig eine deutliche Skepsis zum Ausdruck. Neben positiven Einschätzungen (»näher an der Lebenswelt der Schüler«, »gut ist der phänomenologische Ansatz«) standen vor allem Befürchtungen, dass eine gemeinsame Behandlung von Judentum und Islam Verwirrung stiften könnte (»etwas unglücklich, da viele Dinge so leicht durcheinander geraten«). Mitunter wurde auch eine Oberflächlichkeit befürchtet (»Sie scheinen mir tendenziell oberflächlich, weil sie an den Äußerlichkeiten hängenbleiben. Vielleicht stiften sie auf lange Sicht eher Verwirrung.«). Auf der Grundlage der Ergebnisse der Lehrerbefragung fiel für das Forschungsprojekt die Entscheidung für die weitere Ausgestaltung der Untersuchung, die sich mit dem Kompetenzerwerb der Schülerinnen und Schülern befasste. 3.2 Ein Unterrichtsversuch: Judentum und Islam in getrennten Unterrichtseinheiten oder in einer gemeinsamen Unterrichtseinheit? In Anlehnung an frühere Tübinger Untersuchungen zum interreligiösen Lernen20 wurde eine vergleichende Studie zu den beiden Realisierungsmöglichkeiten – zwei getrennte Unterrichtseinheiten oder eine gemeinsame Unterrichtseinheit zu Judentum und Islam – im Design einer Interventionsstudie realisiert. Die Schülerbefragung fand zu drei Zeitpunkten statt: vor dem entsprechenden Unterricht (t1), am Ende der Unterrichtseinheiten (t2) sowie im zeitlichen Abstand vier Monate später (t3). Inhaltlich konzentrierte sich die Untersuchung auf drei Aspekte, die als Teilkompetenzen verstanden werden können: religionsbezogener Wissenserwerb, religionsbezogene Einstellungen und religionsbezogene Perspektivenübernahme. Insgesamt lagen von 460 Schülerinnen und Schülern Daten zu den drei Befragungszeitpunkten vor. Faktorenanalytisch konnten drei Faktoren identifiziert werden, nämlich »Wissen«, »Interkulturelle und Interreligiöse Offenheit« sowie »Interesse«. Im Falle der Perspektivenübernahmefähigkeit erwiesen sich die Befunde als disparat, d. h., hier ist es nicht gelungen, empirisch belastbare Ergebnisse in Gestalt eines isolierbaren Faktors zu gewinnen. 20 Vgl. bes. Friedrich Schweitzer/Magda Bräuer/Reinhold Boschki (Hg.), Interreligiöses Lernen durch Perspektivenübernahme. Eine empirische Untersuchung religionsdidaktischer Ansätze, Münster/New York 2017.

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In knapper Form, wie sie an dieser Stelle möglich ist, lassen sich die Befunde so zusammenfassen: Ȥ Am klarsten ist das Bild beim Wissenserwerb. Der Unterricht trägt zu einem erheblichen Wissenszuwachs im Blick auf Judentum und Islam bei, und die Resultate deuten darüber hinaus darauf hin, dass es zu keiner Vermengung des Wissens zu Judentum bzw. Islam kam. Die Wissenszuwächse blieben auch am Ende des Schuljahrs bestehen. Unterschiede zwischen den beiden Versuchsgruppen (gemeinsame Unterrichtseinheit, getrennte Unterrichtseinheiten) waren nur unmittelbar nach dem Ende der Unterrichtseinheiten (t2) festzustellen, aber wenige Woche später (t3) nicht mehr. Ȥ Ebenfalls klar sind die Befunde bei den Einstellungen, wobei sie allerdings anders ausfallen als beim Wissenserwerb. Hier zeichnen sich keine Veränderungen zwischen den verschiedenen Messzeitpunkten ab. Dies schließt ein, dass hier keine Unterschiede zwischen den beiden Versuchsgruppen beobachtbar waren. Ȥ Beim Interesse waren ebenfalls keine ausgeprägten Veränderungen festzustellen und folglich auch keine Unterschiede zwischen den beiden Versuchsgruppen. Warum hinsichtlich der Perspektivenübernahmefähigkeit keine klaren Resultate erzielt werden konnten, lässt sich in unterschiedlicher Weise erklären. Möglicherweise resultiert dieses Problem aus dem eingesetzten Befragungsinstrument, das bei einem größer angelegten Forschungsprojekt in weiteren Schritten zu verbessern gewesen wäre (Optimierung des Instruments, erneute Erprobung usw.).21 Denkbar ist jedoch ebenso, dass das Sample der Studie zu klein war und ein größeres Sample klarere Ergebnisse erlaubt hätte. 3.3 Folgerungen Eine einzelne Studie, die im vorliegenden Falle zudem – aufgrund begrenzter Ressourcen – kleiner ausfallen musste, als es methodisch wünschenswert gewesen wäre, lässt naturgemäß keine umfassenden Folgerungen zu. Sie enthält jedoch Impulse, die bei der weiteren Diskussion und empirischen Forschung berücksichtigt werden sollten. Vor allem zeigt diese Studie, dass empirische Untersuchungen auch in diesem Bereich sinnvoll sind, weil sich die Realität des

21 Ein weiteres Tübinger Projekt zum interreligiösen Lernen, in dessen Rahmen dies möglich ist, befindet sich derzeit in der Durchführung.

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Unterrichts und des Kompetenzerwerbs bei den Schülerinnen und Schülern anders darstellen kann als in der (religionsdidaktischen) Theorie. Am klarsten ist der Befund, dass es dem Religionsunterricht gelingt, einen auf Judentum und Islam bezogenen Wissenserwerb zu unterstützen. Dabei ging es im vorliegenden Falle nicht einfach um ein bloßes Faktenwissen, sondern durchaus um ein Verstehen, wie es (religions-)didaktisch angestrebt wird.22 Insofern sollte dieser Befund keineswegs geringgeschätzt werden. Immerhin wurden (religions-)didaktisch als wesentlich angesehene Ziele erreicht. Eine nachhaltige Herausforderung hingegen liegt bei der vorliegenden Studie – ähnlich wie bei früheren Studien zum interreligiösen Lernen23 – darin, dass keine Einstellungsänderungen belegt werden konnten. Es kann zwar gefragt werden, ob der berücksichtigte Zeitraum sowie die Möglichkeiten einzelner Unterrichtseinheiten nicht von vornherein zu eng bemessen waren, um Einstellungsänderungen erwarten zu können. Demgegenüber bleibt jedoch die Rückfrage, wie sich Einstellungsänderungen auf längere Sicht erreichen lassen, wenn die einzelnen Unterrichtseinheiten nicht dazu beitragen. Angesichts der angesprochenen Tendenzen von Antisemitismus und Islamophobie oder Xenophobie liegen hier wichtige Fragen für die religionsdidaktische Weiterentwicklung. Kontrovers eingeschätzt wurden in ersten Diskussionen bei einem Studientag die Befunde zum Interesse. Sie können einerseits insofern als enttäuschend wahrgenommen werden, als der Unterricht nicht zu einer deutlicheren Verstärkung des Interesses am Thema zu führen scheint. Verstärktes Interesse ist eine Forderung, die aus psychologischen und schulpädagogischen Theorien zu Lernen und Interesse erwächst.24 Zugleich kann jedoch – aufgrund von Erfahrungen aus der Praxis – darauf hingewiesen werden, dass das Interesse der Schülerinnen und Schüler am Ende einer Unterrichtseinheit immer ein Stück weit erschöpft sei, weil es sich eben im Unterricht bereits erfüllt hat. Hier sind weitere, nicht zuletzt (religions-)didaktische Klärungen erforderlich: Welche Effekte bei der Entwicklung von Interesse sind anzustreben? Welche Ziele sind realistisch? Dass schließlich die Perspektivenübernahmefähigkeit sich als empirisch schwer fassbar darstellt, ist keineswegs nur ein Problem für die empirische For22 Vgl. etwa Dietrich Benner/Rolf Schieder/Henning Schluß/Joachim Willems (Hg.), Religiöse Kompetenz als Teil öffentlicher Bildung. Versuch einer empirisch, bildungstheoretisch und religionspädagogisch ausgewiesenen Konstruktion religiöser Dimensionen und Anspruchsniveaus, Paderborn 2011. 23 Vgl. etwa Hans-Georg Ziebertz (Hg.), Gender in Islam und Christentum. Theoretische und empirische Studien, Berlin 2010. 24 Vgl. Peter Fauser, Kein Interesse am Unterricht – ein Grundproblem von Schule?, in: Reli – keine Lust und keine Ahnung?, JRP 35, Göttingen 2019, 22–33.

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schung. Da in theoretischen Ansätzen zum Interreligiösen Lernen ebenso wie in Bildungsplänen die Unterstützung einer solchen Perspektivenübernahme immer wieder als zentrales Ziel für den Religionsunterricht herausgestellt wird25, steht gerade auch die unterrichtliche Praxis vor der Herausforderung, entsprechende Kompetenzzuwächse klar wahrnehmen, erfassen und beurteilen zu können.

4 Fragen und Aufgaben für die religionspädagogische Weiterarbeit Am Ende dieses Beitrags sollen noch drei Hinsichten hervorgehoben werden, die für die religionspädagogische Weiterarbeit besonders bedeutsam sind: Erstens hat sich gezeigt, dass die allgemeine Diskussion zum interreligiösen Lernen neue Impulse erhalten kann, wenn nicht einfach allgemein von Inter­ religiosität ausgegangen, sondern auf bestimmte Religionen – hier also Judentum und Islam – fokussiert wird. Bestimmte religionsdidaktische Herausforderungen, wie sie aus den Begegnungsgeschichten zwischen verschiedenen Religionen oder aus theologischen Nähen und Distanzen erwachsen, werden dann überhaupt erst sichtbar. Entsprechend kann die religionsdidaktische Diskussion zum interreligiösen Lernen von solchen Konkretionen deutlich profitieren. Zweitens ist noch einmal die Forderung nach empirischen Untersuchungen vor allem zum Religionsunterricht beim Thema Judentum, aber auch beim Thema Islam zu unterstreichen. Angesichts des enormen, noch immer zunehmenden Gewichts dieser Themen ist es kaum einsichtig, dass sich die religionspädagogische empirische Forschung bislang so wenig auf diesen Bereich bezieht. Ähnlich besitzt die gegenwärtige Diskussion über Möglichkeiten, einem neuen Antisemitismus oder einer zunehmenden Islamophobie wirksam zu begegnen, noch kein Fundament in empirischen Untersuchungen. Hier besteht eine wachsende Diskrepanz zwischen der unterrichtlichen Praxis, die interreligiösen Themen immer mehr Gewicht einräumt, und der religionspädagogischen Forschung, die solche Entwicklungen wissenschaftlich begleiten sollte, nicht zuletzt in Gestalt empirischer Unterrichtsforschung. Drittens sind weitere Schritte in der praktischen Unterrichtsentwicklung besonders dringlich. Wie die exemplarisch untersuchten Bildungspläne zeigen, stellt die Behandlung mehrerer Religionen beispielsweise schon in der Unter25 Vgl. zuletzt Karlo Meyer, Grundlagen interreligiösen Lernens, Göttingen 2019, der sich allerdings nicht auf empirische Befunde zum interreligiösen Lernen im Religionsunterricht einlässt.

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stufe des Gymnasiums – ähnlich aber auch wohl in der Grundschule und in anderen Klassenstufen – vor neue Herausforderungen, die nach neuen didaktischen Strategien verlangen. Dies betrifft nicht zuletzt die Aufgabe einer Elementarisierung, die sich gezielt auf die entsprechenden alters- und entwicklungsbedingten Voraussetzungen und Zugänge bei einem notwendig komplexen Thema wie der gemeinsamen Behandlung von Judentum und Islam bezieht. Ebenso wichtig erscheint aber auch die in der Religionspädagogik insgesamt noch immer zu wenig beachtete Frage der Entwicklung von Interesse. Vermutlich wäre es lohnend, bei weiteren Untersuchungen auch Verbindungen zwischen unterrichtlichem und außerunterrichtlichem Lernen (bei Exkursionen etwa zu Moscheen und Synagogen) sowie persönliche Begegnungen (etwa mit Rabbinerinnen und Rabbinern oder mit einem Imam) einzubeziehen und zu prüfen, wie sich solche didaktischen Strategien auf die Entwicklung von Interesse auswirken.

Mirjam Rutkowski M.Sc. ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am EIBOR (Evangelisches Institut für Berufsorientierte Religionspädagogik) an der Universität Tübingen. Prof. Dr. Dr. h. c. Friedrich Schweitzer ist Professor für Religionspädagogik/ Praktische Theologie an der Universität Tübingen.

Gedenkpädagogik als Zugang zum Judentum? Matthias Bahr

1 Nachdenk-Splitter aus einer Gedenkveranstaltung – leitende Prinzipien Bei einer Gedenkveranstaltung zum 27. Januar präsentieren Schülerinnen und Schüler in Kooperation mit Studierenden der Katholischen Religionslehre ca. 18 Poster, die sie nach der Teilnahme an einem Seminar in Oświęcim/Auschwitz erstellt haben. Vorgegeben wurde das Format des Posters (ca. 70 × 100 cm), ein Zitat aus dem eigens zusammengestellten Reader der Begleitliteratur und ein bis zwei Fotos, die die Teilnehmenden in den Gedenkstätten aufgenommen hatten. Eigene Texte, die etwas von den Eindrücken wiedergeben, konnten und sollten geschrieben werden. Sie entstanden aus Einträgen in dem persönlichen Reisetagebuch, das alle immer dabeihatten. Die beeindruckenden Darstellungen des Besichtigens und Erkundens, des Nachsinnens und des Reflektierens machten immer wieder deutlich, dass sich die Teilnehmenden durch die Woche in den Gedenkstätten von Auschwitz-Birkenau hatten irritieren lassen. Mehrheitlich dominierten in den Beiträgen Erschütterungen über die Gewalttätigkeit, die Abscheu über die Unmenschlichkeit, die den Häftlingen angetan wurde und ein hohes Maß an Sensibilität für die Opfer. Auffallend war aber auch: eine explizite Konzentration auf Jüdinnen und Juden, oder – im Sinne des Themas – auf das Judentum (als Religion?) ließ sich nicht feststellen. Gedenkpädagogik, wie wir sie verstehen1 und seit etwa 14 Jahren mehrheitlich in den Gedenkstätten von Auschwitz-Birkenau realisieren, geht immer über historisches Lernen hinaus. Gleichwohl folgt es bestimmten (religions-)didaktischen Prinzipien, die auch für den schulischen Normalbetrieb Bedeutung haben: Vorrangig ist es das ästhetische Lernen in einem weiten Sinne, also mit dem Bezug auf Wahrnehmung, Gestaltung und Urteilsbildung.2 Gleichberechtigte 1 Dabei handelt es sich um interuniversitäre Blockseminare in Oświęcim (Polen), die in Kooperation mit dem Regental-Gymnasium Nittenau im Rahmen wissenschaftspropädeutischer Seminare der Oberstufe unter der Leitung von StD Peter Poth durchgeführt wurden. 2 Vgl. Georg Hilger, Ästhetisches Lernen, in: Georg Hilger/Stephan Leimgruber/Hans Georg Ziebertz (Hg.), Religionsdidaktik. München 62010, 334–343.

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Bedeutung messen wir aber auch dem handlungsorientierten Lernen zu, dem es gelingt, jenseits von simplifizierenden technischen Vorgängen (»Basteln«) den Blick in die Realität zu tun und dazu aufzufordern, nach den gestaltenden Wirkungen im persönlichen und gesellschaftlichen Alltag zu suchen. Diese Vorentscheidungen sind allerdings selbst schon ein Reflex auf die Auseinandersetzung mit dem Völkermord, sie stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit der Forderung nach Mündigkeit, wie sie profiliert von Adorno vorgebracht wurde und sind anschlussfähig an Grundoptionen religiöser Bildung, wie sie auch für den evangelischen und katholischen Religionsunterricht gelten.3 Der Dynamik von Gedenkpädagogik wohnt aber noch ein anderes Prinzip inne: das des »Nie wieder«. Auch wenn diese Formel häufig bei staatstragenden Veranstaltungen reklamiert wird, trifft sie ja zu und ist auf dem Hintergrund von Populismus, Nationalismus, Antisemitismus und Rassismus unüberholt wichtig. Gleichzeitig wirft sie aber die Frage auf, wie diese Negation durch positive, orientierende Perspektiven weitergeführt werden kann – für jüdisches, christliches, atheistisch-agnostisches oder einfach menschliches Leben. Insofern ist es legitim, wenn Gedenkpädagogik auch auf Grundfragen zielt und ein vehementes Interesse an den Mechanismen hat, die »Auschwitz« möglich machten. Und schließlich ist auch das hinzuzunehmen, was mit der auf den ersten Blick banal klingenden Frage zusammenhängt: »Was ist denn das, ›Auschwitz‹?« Eine schnelle Antwort könnte lauten: Es steht für sechs Millionen ermordete Juden.4 Die Frage geht damit jedoch an dem eigentlichen pädagogischen Thema vorbei, genauer sollte sie lauten: »Was ist Auschwitz für dich?« Die Beantwortung erfordert ein Sich-Einlassen, Nachsuchen und Verweilen an Orten, die dafür stehen – das können »große« Gedenkstätten, kleinere Gedenkorte (sogenannte ehemalige »Nebenlager«), aber auch Zeugnisse sein – vor allem künstlerische, 3 Grundsätzlich inspirierend sind einschlägige Veröffentlichen zur Erinnerungs- und Gedenkpädagogik, die sich notwendigerweise häufig mit grundsätzlichen Überlegungen beschäftigen, immer wieder aber auch konkrete Wege der Auseinandersetzung aufzeigen. Eine Auswahl: Harald Roth (Hg.), Was hat der Holocaust mit mir zu tun? 37 Antworten, München 2014; Elke Gryglewski u. a. (Hg.), Gedenkstättenpädagogik. Kontexte, Theorie und Praxis der Bildungsarbeit zu NS-Verbrechen, Berlin 2015; Verena Haug, Am »authentischen« Ort. Paradoxien der Gedenkstättenpädagogik, Berlin 2015; Reinhold Boschki/Albert Gerhards (Hg.), Erinnerungskultur in der pluralen Gesellschaft. Neue Perspektiven für den christlich-jüdischen Dialog, Paderborn 2010; Thomas Laubach, Warum sollen wir uns erinnern? Annäherungen an eine anamnetische Ethik, Tübingen 2006. 4 Damit ist »Auschwitz« die Chiffre für den Völkermord und eigentlich eine angemessene Bezeichnung, da sie aus dem Dilemma hinausführt, das mit den Begriffen »Holocaust« oder »Shoah« verbunden ist; selbstverständlich geht es aber immer um den gesamten Terror und die Extermination, wie sie in Chelmno, Sobibor, Treblinka, Majdanek, Belzec, aber auch in den Massenerschießungen in Osteuropa stattgefunden hat.

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in Literatur (der Zeitzeugen), im Film (und damit meine ich nicht das Spielfilmformat wie etwa »Schindlers Liste«, sondern v. a. in Auszügen das Meisterwerk »Shoah« von Claude Lanzmann), in der Musik (und hier beispielsweise die Grundmelodie von Itzhak Perlman für »Schindler’s Liste«). Erst dann, wenn für mich, für die Besucherinnen und Besucher eines notwendig mehrtätigen oder wiederholten Gedenkstättenaufenthaltes5 eine Annäherung an »Auschwitz«, die Shoah, den Holocaust erfolgt ist, die weit über historisches Überblicks­wissen hinausgeht und die personale Seite in beiderlei Hinsicht berührt, ist darauf eine erste Antwort möglich. Das war stets die Chance von Zeitzeugen und bereitete den Boden, auf dem es weiter zu fragen und zu suchen galt. Das aber ist inzwischen so kaum mehr möglich.

2 Gedenkpädagogik ist die Auseinandersetzung mit dem Völkermord an Jüdinnen und Juden: kein Platz für Religion (?) Die biografische Annäherung, die in literarischer oder literaturnaher Form zukünftig immer wichtiger wird, konfrontiert Heranwachsende mit Innen­ ansichten und persönlichen Brechungen jener wenigen Menschen, die die Shoah überlebt haben. Die Fokussierung auf einzelne Personen führt zur Begegnung mit jüdischem Leben. Exemplarisch sei hier auf Esther Bejarano verwiesen, die als 19-Jährige deportiert wurde, im Mädchenorchester von Auschwitz eine »privilegierte Stellung« hatte, die ihr die mörderischen Lebensverhältnisse etwas erleichterte und schließlich durch glückliche Umstände der Shoah entkam.6 Mit ihr lernen Schülerinnen und Schüler eine Frau kennen, die in einer jüdischen Familie aufwuchs (der Vater war Kantor in der Synagoge), ihre Eltern und eine Schwester in der Shoah verlor, nach dem Krieg in Israel lebte und bald, als die vielen Kriege ihr und ihrem Mann das Leben unerträglich machten, nach Deutschland (!) zurückkehrte. Als Kommunistin und Atheistin beginnt sie sich in Hamburg gegen die aufkommende Neonazi-Szene offen zur Wehr zu set5 Vgl. Matthias Heyl/Nina Ritz, Mut zur Pause. Mehrtägige Angebote in der Gedenkstättenpäda­ gogik, in: Elke Gryglewski u. a. (Hg.), Gedenkstättenpädagogik. Kontext, Theorie und Praxis der Bildungsarbeit zu NS-Verbrechen, Berlin 2015, 262–276. 6 Ein didaktisch aufbereitetes und für den Religionsunterricht an Realschulen zugelassenes Material zu Esther Bejarano liegt vor bei Matthias Bahr/Hans Schmid (Hg.), Religion verstehen 6. Unterrichtswerk für katholische Religionslehre an Realschulen in Bayern, Berlin 2018, 102 f. Vgl. auch Esther Bejarano, Erinnerungen. Vom Mädchenorchester in Auschwitz zur Rap-Band gegen rechts, Hamburg 2013.

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zen. Seit Jahren engagiert sie sich als Mitglied in der jüdisch-islamisch-christlichen Band »Microphone-Mafia« mit Rap-Songs gegen rechts, steht auch mit über 90 Jahren noch auf der Bühne und ist Gesprächspartnerin in den Schulen. Jüdisches Leben, so lernen Schülerinnen und Schüler, hat auf dem Hintergrund der Shoah eben auch weiterhin eine große Breite. Viele Juden haben gerade in der Shoah ihren Glauben verloren, waren oder sind Atheisten geworden oder weigern sich, die Frage danach überhaupt zu beantworten, wie dies etwa Mietek Pemper bei Zeitzeugengesprächen getan hat, der am Film »Schindlers Liste« mitgewirkt hatte. Sein Vermächtnis, das Vermächtnis eines polnischen Juden, der als Sekretär des Lagerkommandanten von Krakau-Płaszów, Amon Göth, seine Stellung nutzte, um zu überleben und anderen das Überleben zu ermöglichen, bilanziert nicht die Suche nach dem Ewigen, sondern nach (fehlender) Empathie und die Frage, ob man sich in einer schwierigen Situation für andere einsetzt – oder eben nicht. Dieses Zeugnis kann in höheren Jahrgangsstufen eine Rolle spielen in einer notwendigerweise sehr kritischen Auseinandersetzung mit den Perspektiven des Spielfilms (!) »Schindlers Liste«, um so die realen Dimensionen und Impulse einzufangen.7

3  »Höre Israel!« – »Höre Welt!«: ein neues Sch’ma Primo Levi, der 1919 in Turin in eine jüdische Familie hineingeboren wird, hat nach Auschwitz eine neue Botschaft aus dem Zentrum des jüdischen Glaubens formuliert. Als Mitglied der Widerstandsbewegung in Italien wird er 1944 verhaftet und im Februar nach Auschwitz deportiert. Im Lager Auschwitz III (Monowitz) muss er Zwangsarbeit leisten. Er überlebt und kommt im Januar 1945 frei. Nach dem Krieg arbeitet er bis 1977 in seinem ursprünglichen Beruf in der chemischen Industrie, dann als freier Schriftsteller. Im Jahre 1987 nimmt er sich das Leben. Unmittelbar nach seiner Befreiung verfasst er seinen autobiografischen Bericht, der 1947 erstmals veröffentlicht wird. Mit Verzögerung wird dieser Text schließlich aufgenommen, in viele Sprachen übersetzt und avanciert zur Weltliteratur. 1958 erscheint er schließlich auch in deutscher Sprache. Primo Levi stellt seinem Bericht folgendes Gedicht voran:

7 Vgl. Mietek Pemper, Der rettende Weg. Schindlers Liste – die wahre Geschichte, Hamburg 2005, 257–268.

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»Ist das ein Mensch? Ihr, die ihr gesichert lebet In behaglicher Wohnung; Ihr, die ihr abends beim Heimkehren Warme Speise findet und vertraute Gesichter Denket, ob dies ein Mann sei, Der schuftet im Schlamm, Der Frieden nicht kennt, Der kämpft um ein halbes Brot, Der stirbt auf ein Ja oder Nein. Denket, ob dies eine Frau sei, Die kein Haar mehr hat und keinen Namen, Die zum Erinnern keine Kraft mehr hat, Leer die Augen und kalt ihr Schoß Wie im Winter die Kröte. Denket, dass solches gewesen. Es sollen sein diese Worte in eurem Herzen. Ihr sollt über sie sinnen, wenn ihr sitzet In einem Hause, wenn ihr geht auf euren Wegen, Wenn ihr euch niederlegt und wenn ihr aufsteht; Ihr sollt sie einschärfen euern Kindern. Oder eure Wohnstatt soll zerbrechen, Krankheit soll euch niederringen, Eure Kinder sollen das Antlitz von euch wenden.«8 Dieser Text ist eine Mahnung, wenn nicht gar ein Fluch – geschrieben unter dem unmittelbaren Eindruck dessen, was er gesehen und erlitten hat. Der Text kennt nur zwei: die einen – und die anderen. Dazwischen gibt es nichts. Behaglichkeit und Wärme und Vertrauen auf der einen Seite – und Kälte, Nässe, Kampf, Schwäche, Starre auf der anderen Seite. Der Text endet offen: Mit dem Bewegen im Herzen und dem Nachsinnen darüber kann es nicht getan sein. Doch es ist ein wichtiger Anfang, diesen historischen Einschnitt im Bewusstsein zu behalten, nicht als erledigt beiseite zu 8 Primo Levi, Ist das ein Mensch?, München 1992, 9.

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tun, nichts zu verschweigen und »unter den Teppich zu kehren«, sondern wachzuhalten, zu überlegen und nachzudenken und schließlich auch zu Ergebnissen zu kommen, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind. Auffallend sind die Formulierungen: Es sollen sein diese Worte in eurem Herzen. Ihr sollt über sie sinnen, wenn ihr sitzet In einem Hause, wenn ihr geht auf euren Wegen, Wenn ihr euch niederlegt und wenn ihr aufsteht; Ihr sollt sie einschärfen euern Kindern.9 Theologisch gebildete, bibelkundige Menschen verstehen sofort, was hier angedeutet wird, der Bezug zum jüdischen Glaubensbekenntnis klingt nämlich an, das sogenannte Sch‘ma Jisrael, das Höre Israel aus Dtn 6,4 – Worte und Sätze, die sich der fromme Jude seit Jahrtausenden buchstäblich an die Stirn hält, am linken Arm befestigt, dem Herzen gegenüber (Tefillin) und am Türpfosten seines Hauses in der Mesusa aufbewahrt, um sie ja nicht zu vergessen. Primo Levi nun hält hier ein neues Sch’ma bereit, das diesmal nicht mehr das alte Sch’ma Jisrael ist, sondern jetzt ein Sch’ma Olam, ein Höre, Welt! Fortan, mit dem Blick auf die so tiefe Grausamkeit erbarmungsloser Vernichtung sind die Menschen endgültig dazu aufgerufen, sich bewusst zu machen, was sie wahrnehmen und wo sie stehen. Von jetzt an gibt es in seiner Perspektive keine Unbestimmtheit mehr, sondern nur die einen – und die anderen: jene in den Häusern, gut gesichert lebend, und die anderen, wühlend im Dreck, um ihr Leben fürchtend, im Kampf um ein Stück Brot. Christliche Überzeugungen sind anschlussfähig an diese jüdische Stimme. Die Rede vom Weltgericht (Mt 25,31–46) legt sich nahe. Kurz vor den Passionserzählungen wird offenbar, worauf es dem Juden Jesus ankommt: dem Hungrigen zu essen zu geben, dem Durstigen zu trinken, den Nackten zu bekleiden, den Gefangenen zu besuchen, den Obdachlosen aufzunehmen. Viermal (!) werden diese Beispielhandlungen benannt – so oft also ist es nötig zu sagen, was denn nun das Entscheidende ist. Wie lange braucht der Mensch, dies nicht nur zu hören und zu verstehen, sondern es zu ergreifen und zu realisieren? Auch hier gibt es keinen Platz für den »Zwischenraum«, sondern nur: die einen – die anderen. Die, die tun – und die, die nicht tun. Das ist eine Bestätigung der alten jesuanischen Ausdeutung des größten Gebotes – und spätestens jetzt, nach

9 Ebd., 9.

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Auschwitz, die Fortschreibung dieses jüdischen »Höre«.10 Religionsunterrichtlich kann dies bearbeitet werden, wenn beide Perspektiven nebeneinandergelegt werden. Was werden Schülerinnen und Schüler an Parallelen und Unterschieden entdecken? Frohbotschaft oder Drohbotschaft? Die jesuanische Vorstellung von Gericht, als »Testament im Testament« formuliert, denn unmittelbar danach folgt die Passionserzählung? Eine neue Akzentuierung des sogenannten Hauptgebotes, bei dem sich die Waage zum Menschen neigt, Gottesliebe also Menschenliebe ist – mit allen Konsequenzen auch für die Auslegungen und eine Neubestimmung des christlichen Selbstverständnisses – aus dieser jüdischen Stimme eines Primo Levi heraus? Der Text von Primo Levi kann auch eine jüdische Sitte aufnehmen. »Es sollen sein diese Worte in unseren Herzen, ein Nachsinnen darüber, wenn wir sitzen, wenn wir gehen, wenn wir uns niederlegen, wenn wir aufstehen, und einzuschärfen den Generationen nach uns«: Wenn Menschen heute (als Christen) eine Mesusa an ihrer Eingangstür hätten, oder Tefillin an der Stirn und am linken Arm, dem Herzen gegenüber: Dies müsste hineingelegt werden. Oder eine eigene Deutung, in der Sprache der Schülerinnen und Schüler. Die Fremden und Obdachlosen aufnehmen: Wäre das eine Konsequenz für die Mesusa? Oder ist das schon wieder Fiktion, zu radikal – weil es die bürgerliche Religion dann doch mehr als nur anfragt?

4  Ein neues Gebot gebe ich euch: The Eleventh Gedenkpädagogik schärft die Wahrnehmung für die Beschädigungen, die Menschen erlitten haben – mitten in Europa, im sogenannten christlichen Abendland. Zeugnisse von Überlebenden sind auch Zeugnisse der Unvorstellbarkeit: millionenfacher Mord in der Verantwortung von Menschen, die evangelisch oder »gut katholisch« erzogen worden waren, die in der »guten alten Zeit« den Katechismus lernten, über konfessionelle Grenzen hinweg, und damit auch die Kernstücke von christlicher Ethik, den Dekalog, und denen im katholischen Milieu über die Beichtspiegel dessen Auslegung eingebläut wurde, mit Fragen zum 4. Gebot etwa, die die Obrigkeitshörigkeit einforderten. All das kann wahrgenommen und erarbeitet werden an alten Gesangsbüchern, die antiquarisch leicht zu bekommen sind, und deren Ausrichtung sich auch nach dem Krieg 10 Vgl. dazu die religionsunterrichtliche Umsetzung in Matthias Bahr/Hans Schmid (Hg.), Religion verstehen 7. Unterrichtswerk für katholische Religionslehre an Realschulen in Bayern, Berlin 2019, 40 f.

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kaum ändert. Man sieht darin, wie Moral gelernt wurde – und wie sie war: autoritätshörig, verantwortungslos, verklemmt. Doch die Bilanz ist noch härter. Im Block 16 der Gedenkstätte von Auschwitz I (Stammlager) findet sich unter den nationalen Gedenkräumen der verschiedenen Länder Europas auch ein Raum für die Opfer aus der Slowakei. Wer diesen dunkel gehaltenen Erinnerungsort betritt, der sieht bald eine Art Schienenverlauf, der zum Schluss zu einer Rampe ansteigt und den Blick des Betrachters auf zwei helle Öffnungen führt. Sie sind oben abgerundet, stehen relativ eng nebeneinander. Offenbar sind hier die Türen der Verbrennungsöfen gemeint, so identifiziert dies zwangsläufig wohl jeder und jede, die sich mit der Gedenkstätte befasst haben. Im Nähertreten zeigt sich jedoch noch eine andere Botschaft, die sich erst erschließt, wenn sich die Betrachtenden auch den Details zuwenden können. Die »Öffnungen« nämlich haben Gravuren, die Flächen selbst sind offensichtlich verschmutzt. Wer diese »Öffnungen« betrachtet und sie in der jüdisch-­christlichen Tradition »liest«, wird rasch noch eine ganz andere Deutung vornehmen. Die Form und die »Gravur« der römischen Zahlen, sie rufen die Erinnerung an die beiden Tafeln aus Stein ins Gedächtnis, auf denen einst das Zehnwort, der Dekalog, eingeschlagen wurde. Es handelt sich also um einen Bezug auf jene minimale, äußerste Festlegung aus einer Ethik, die für jüdische und christliche Ohren bis heute ihre Verbindlichkeit hat. Diese ist jedoch, so dieses Denkmal, in Auschwitz zugrunde gegangen, zerstört worden. Und dies betrifft bestimmte Gebote offenbar in besonderer Weise: Zerschlagen und nicht mehr erkennbar ist die römische Ziffer V. – »Du sollst nicht morden.« Dieses Gebot, das aus der nomadischen Zeit der Sippen stammt, einen zentralen Eckpunkt des Zusammenlebens sichern soll und im Zuge der Exoduserfahrung zum gottgegebenen Zehnwort avanciert, es ist im Rauch der Krematoriumsöfen aufgegangen und im Blut der Erschießungsgruben im Osten Europas ertränkt worden – und so wie rausgemeißelt aus dem althergebrachten, jahrtausendealten Selbstverständnis einer dann »christlichen« Weltreligion, deren Ethik offenbar nicht die Kraft hatte, dies zu verhindern. Und es wird hier noch ausgedehnt, auch das vierte Gebot, das die Verhältnisse zwischen den Generationen ordnet, ist nun für immer beschädigt. »Auschwitz« war so gewalttätig, dass es auch die familiäre Solidarität und Bindung zerriss, wo Väter ihren Söhnen das wenige notwendige Brot raubten, wo Mütter in Todesangst ihre Töchter verrieten. Aus der jüdischen Welt nun kommen angesichts dieser Bilanz im 21. Jahrhundert andere Stimmen. Sehens-, hörens- und bedenkenswert auch mit Schülerinnen und Schülern ist die Rede des Journalisten und Auschwitz-Überlebenden

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Marian Turski, die er, hochbetagt, am 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz vor der Weltöffentlichkeit im Zelt vor dem Todestor von Auschwitz-Birkenau gehalten hat.11 Seine Rede, der mit Standing Ovations der anwesenden Gäste die entsprechende Achtung gezollt wurde, nimmt nicht die Erfahrungen der eigenen Drangsal jener Zeit auf, sondern sie richtet sich an die heutige junge Generation seiner Enkel und deren Freunde. Für sie legt er als überlebender Jude Zeugnis ab mit dem Blick nach vorn im Wissen um das, was war. Er bezieht sich dabei auf die Mahnung des Internationalen Auschwitz Komitees, dessen Mitglieder, die Überlebenden also, im August 2017 der Welt ihr Vermächtnis mitgegeben haben: »the Eleventh«12: Remember The Eleventh: »You shall never remain indifferent. Indifference kills« The Survivers, die Überleben, sie fordern dazu auf, der humanisierenden Kraft des klassischen Dekalogs nicht mehr zu trauen, denn sie wurde in Auschwitz zerstört. In der Reflexion dieser »Nullpunkterfahrung des Zivilisationsbruches« macht Marian Turski deutlich, dass es vielmehr darum gehen muss, die alten jüdischen Traditionen weiterzuschreiben, zu den zehn Geboten auf diesem Hintergrund nun ein elftes Gebot hinzuzufügen. Denn das, was Auschwitz möglich macht, und damit die Zerstörung des jahrtausendealten jüdischen Ethos in den Menschen, ist die Indifferenz, die Gleichgültigkeit, die Gewöhnung, oder, modern gesprochen: die Kälte der bürgerlichen Gesellschaft, die dazu beiträgt, dass Menschen andere stigmatisieren, ausgrenzen, verfolgen und schließlich vernichten. Aus der Gedenkpädagogik einen Zugang zum Judentum zu bekommen heißt dann auch hier wieder, die religiöse Tradition fortzuschreiben. Strenger formuliert: Wer weiterhin nur vom Dekalog spricht, der denkt und arbeitet letztlich »auschwitzvergessen«, ist in der Postmoderne nicht angekommen, hat Auschwitz nicht verstanden, realisiert nicht, was sich da über den Menschen offenbart hat, und reagiert auch nicht angemessen darauf.

11 www.auschwitz.info/de/gedenken/gedenken-2020-75-jahre-befreiung/2020-01-27-marianturski-das-elfte-gebot.html (Zugriff am 26.03.2020). 12 www.auschwitz.info. Eine Erschließung findet sich in: Matthias Bahr/Hans Schmid, (Hg.), Religion verstehen. Unterrichtswerk für katholische Religionslehre an bayerischen Realschulen (7. Jahrgangsstufe), Berlin 2019, 46.

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5  Auf die Botschaft der Orte hören – und das 614. Gebot Gedenkpädagogik wird zunehmend stärker darauf rekurrieren müssen, dass überlebende Jüdinnen und Juden (aber auch Sinti und Roma, Homosexuelle, Zeugen Jehovahs, Polinnen und Polen …) immer weniger selbst, in Zeitzeugengesprächen, an das Geschehen oder gar an religiöse Deutungen heranführen können. Zukünftig werden daher stärker die Orte selbst wie mit dem »Stethoskop« darauf abgehorcht werden müssen, was sie an Botschaften preisgeben – oder was entdeckt werden kann. Didaktisch erweisen sich dabei gerade die Prinzipien ästhetischen Lernens als angemessener Zugang, weil hier intensive, notwendige Wahrnehmungen befördert werden können, die mit Reflexionen und Gestaltungen verschränkt sind. Dabei hat jeder Gedenkort seine eigene Tiefe. Oft sind schon die Dimensionen, das Ablaufen der Zäune etwa, der Unterschied zwischen Außen- und Innenseite erhellend und ermöglichen Perspektivenveränderungen. Man muss nur einmal etwa den Zaun von Buchenwald abgehen, um das zu verstehen. Mitunter begegnen einem dann Menschen aus anderen Nationen, die ebenfalls ergründen wollen, was da ist. Am eindrücklichsten ist diese Erfahrung in den Gedenkstätten in Polen, wenn man den vielen jugendlichen Israelis begegnet, die in Gruppen, unmittelbar bevor sie ihren Militärdienst absolvieren, durch all jene Orte gehen, an denen ihre Vorfahren litten und ermordet wurden. Damit führt Gedenkpädagogik in die Begegnung mit dem, was der Philosoph und Rabbiner Emil Fackenheim (1916–2003) das 614. Gebot nennt13 – und so in die Tradition des rabbinischen Judentums und die Auseinandersetzung mit dem Talmud: »Den Juden ist es verboten, Hitler posthume Siege zu verschaffen. Es ist ihnen geboten, als Juden zu überleben, damit das jüdische Volk nicht untergeht.«14 Jene 613 Ge- und Verbote, die über Jahrhunderte jüdisches Denken und jüdischen Glauben bestimmten, werden nun, nach der Shoah, durch dieses 614. Gebot erweitert. Fackenheim vollzieht damit das, was wir schon andernorts gesehen haben. Er schreibt die Tradition notwendigerweise fort. Damit beginnt eine neue Phase jüdischen Lebens: Von hier aus geht es nun darum, die Weltumstände genau zu analysieren und dafür zu sorgen, dass der Wert jüdischen Lebens gesichert ist. Welch ein Blick tut sich damit innerhalb von Gedenkpädagogik auf, in der man nicht dem Judentum, sondern Jüdinnen und Juden in der 13 Emil Fackenheim, God’s Presence in History. Jewish Affirmations and Philosophical Reflections, New York 1970, 84. 14 Zit. nach Karl Erich Grözinger, Wie die Schoa jüdische Glaubensvorstellungen, das Gottesbild und halachische Konzepte verändert hat, in: Jüdische Allgemeine vom 24.08.2015, https:// www.juedische-allgemeine.de/religion/das-614-gebot/ (Zugriff am 26.03.2020).

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gesamten gegenwärtigen Vielfalt begegnet: orthodox, traditionell, liberal, säkular, atheistisch oder wie auch sonst immer. Und wie wird das 614. Gebot von ihnen eingeschätzt und in seinen Konsequenzen gesehen, auch für politische Diskussion, auch im Hinblick auf die Krisenregion Nahost? Diese Fragen – sie lassen sich klären, auch im schulischen Kontext, etwa mit dem Likrat-Projekt des Zentralrats der Juden in Deutschland, bei dem junge Jüdinnen und Juden die Begegnung in Schulen suchen – eine große Chance.15

6  Gedenkpädagogik als Zugang zum Judentum? Die Frage kann beantwortet werden: ja, allerdings als Fortschreibung traditioneller Auffassungen, die nach Auschwitz anders gesehen werden müssen. Und: nein, weil Gedenkpädagogik zunächst und zuerst eine Konfrontation ist mit dem Versagen einer damals dominanten christlichen Kultur und ihrer ethischen Erziehung, mit der Offenbarung über den Menschen als Barbar im 20. Jahrhundert, mit der hemmungslosen Gier von Ausbeutung und Bereicherung auf dem Boden schier ungebremsten Nachschubs an zwangsarbeitendem »Menschenmaterial«. Man mag verstehen, dass sich danach für viele überlebende Jüdinnen und Juden die Frage nach einem Glauben erledigt hat, nicht aber nach ihrem Jüdischsein – und dass es ihnen darum geht, ihr Leben zu bewahren und zu erhalten – mit eigenen Mitteln. Was bedeutet nun aber eine gedenkpädagogische Annäherung für das Bild der Christinnen und Christen vom Judentum – oder besser: von Leben und Glauben von Jüdinnen und Juden? Und noch genauer: Was bedeutet eine erinnernde Auseinandersetzung mit dem Zivilisationsbruch für das Verhältnis zwischen Menschen einer teilsäkularisierten, nicht mehr klassisch-christlich zu nennenden (deutschen) Gesellschaft, die andererseits aus etwa zwei Dritteln Getaufter besteht und Jüdinnen und Juden, gleich, ob sie orthodox oder liberal Glaubende, Traditionelle, Säkularisierte oder Atheisten sind? Einige Gedanken dazu: Gedenkpädagogik, wenn sie oberflächlich ansetzt, wird in der Gefahr stehen, ein Bild von Jüdinnen und Juden als hilflose Opfer der Geschichte zu zeichnen und vielleicht sogar festzuschreiben. Das aber gilt es zu verhindern, indem Gedenkpädagogik dem Suchen und Fragen einen angemessenen ZeitRaum gibt und die Mechanismen von Täuschung, Betrug, Gewalt und Vernich15 www.likrat.de bzw. neu unter www.meetajew.de (Zugriff am 30.03.2020).

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tungswillen aufdeckt, den die NS-Diktatoren und ihre Gesinnungsgenossen bis zur Perfektion trieben und deren Willkür Menschen mit jüdischem Bekenntnis ausgeliefert waren. Begegnungen mit überlebenden Jüdinnen und Juden in Zeitzeugengesprächen offenbaren meist eine tiefe Menschlichkeit und Hinwendung auf die inte­ ressierten Jugendlichen. Unter dem Eindruck der persönlichen Erfahrungen der Zeitzeugen tritt die Frage nach ihrer jüdischen Religion in den Hintergrund; im Vordergrund steht die Suche nach Wegen, wie »so etwas« zukünftig unbedingt verhindert werden kann und muss. Junge Juden (bzw. jüdische Deutsche) wehren sich entschieden dagegen, auf eine Opferrolle reduziert zu werden. Im Rahmen einer Likrat-Begegnung erzählte einmal ein Jugendlicher, er denke keineswegs jeden Tag beim Aufstehen an den Völkermord an seinen Vorfahren. – Begegnungspädagogik, die als eine Art notwendige Fortsetzung der Erinnerungs- und Gedenkpädagogik zu sehen und zu verstehen ist, ermöglicht die Erkenntnis lebensgeschichtlicher Brechung jüdischer Glaubenspraxis. Je nach persönlicher Entscheidung erzählen jüdische Jugendliche, dass sie orthodox, liberal, traditionell oder distanziert sind, in die Synagoge gehen, weil sie dort ihre Freundinnen und Freunde treffen, mitunter auch den Gottesdienst besuchen (wenn er ihnen anregend erscheint) und ansonsten eben Jugendliche sind, denn: »Wir sind keine Aliens, surprise!«, so hat dies die 22-jährige Isabella Steinberg in einem Gespräch auf den Punkt gebracht.16 Junge deutsche Christinnen und Christen, die mit jungen deutschen Jüdinnen oder Juden zusammentreffen, sind häufig zunächst befangen. Das histo­ rische Erbe und die empfundene Verantwortung, eine fehlende Eigenerfahrung im unmittelbaren Kontakt mit Jüdinnen und Juden und die »negative Erinnerung«17 belasten. Wo sich dann aber ehrliche Gespräche auch über Glaube und religiöse Praxis von Juden und Christen ergeben, erhalten Christinnen und Christen tiefe Einblicke in Tora und Talmud, über die Politik Israels, über

16 Matthias Bahr im Gespräch mit Stefan Moos, Dominique Schmack, Isabella Steinberg und Ari Wedde: »Wir sind keine Aliens«, in: Katechetische Blätter 140 (2015), 82–86, hier 86. Überhaupt müssen sich auch die Verantwortlichen für jüdische Jugendbildung massiv mit Säkularisierungsprozessen unter jüdischen Jugendlichen auseinandersetzen, wie der Beitrag von Maja Nizguretski, Jüdische Jugendliche in Deutschland, in: Katechetische Blätter 145 (2015), 130–133, zeigt (vgl. auch die anderen Beiträge in dem Themenheft »Judentum heute«). 17 Vgl. Volkhard Knigge, Erinnern oder auseinandersetzen? Kritische Anmerkungen zur Gedenkstättenpädagogik, http://www.erinnern.at/bundeslaender/oesterreich/e_bibliothek/gedenkstatten/209_Knigge_erinnern_oder_auseinandersetzen.pdf/view (Zugriff am 10.04.2020).

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lebendiges jüdisches Leben in den Gemeinden in Deutschland, das häufig völlig unbekannt ist, so z. B. das Projekt »Jewrovision«18. Gerade diese gemeinsamen Auseinandersetzungen führen dann zu Schnittmengen, die einen können: Für alle nämlich bleibt die Suche nach dem, was dem Leben heute dienen kann und auf dieser Welt eine Zukunft gibt19 – eine Frage an jeden Menschen in seiner Glaubensfreiheit, gleich ob Jude, Christ oder Muslim.

Dr. Matthias Bahr ist Professor für Religionspädagogik im Institut für Katholische Theologie am Fachbereich Kultur- und Sozialwissenschaften der Universität Koblenz-Landau (Campus Landau) und Wissenschaftlicher Leiter der Arbeitsstelle »Menschenrechtsbildung«.

18 www.jewrovision.de (Zugriff am 10.04.2020). Eine Erschießung für den Religionsunterricht findet sich in Matthias Bahr/Hans Schmid (Hg.), Religion verstehen. Unterrichtswerk für den katholischen Religionsunterricht an Realschulen in Bayern. 6. Jahrgangsstufe, Berlin 2018, 106 f. 19 Vgl. dazu Matthias Bahr/Bettina Reichmann/Christine Schowalter (Hg), Menschenrechts­ bildung. Handreichung für Schule und Unterricht, Ostfildern 2018 sowie des Themenheft »Menschenrechtsbildung« der Katechetischen Blätter 143 (2018), Heft 1.

Christlich-islamische Kooperation – ein zukunftsweisender Weg für den Religionsunterricht und für eine religionssensible Schulkultur Selcen Güzel und Elisabeth Naurath

1 Religiöse Kooperation als Herausforderung religiöser Bildungsprozesse an der Schule Auch wenn die kontextuellen Bedingungen der regionalen und lokalen Gegebenheiten durchaus variieren, spiegelt die Pluralität der weltanschaulichen und religiösen bzw. konfessionellen Ausrichtungen der Schülerinnen und Schüler evidente gesellschaftliche Transformationsprozesse wider, die in den letzten Jahrzehnten die Herausforderung religiöser Bildung deutlich verschoben haben: Religiös sein bedeutet heute unausweichlich interreligiös sein. Das selbstverständlich gewordene Zusammenleben von Menschen verschiedener Religionen macht eine Verhältnisbestimmung zum Glauben der anderen unumgänglich.1 Insofern ist in unterrichtspraktischer Perspektive nicht nur das Prinzip inter­ religiösen Lernens zentral geworden, sondern auch eine Vernetzung der je nach Bundesland divergierenden Modelle des Angebots von Religionsunterricht selbst. Das heißt: So wie wir in wachsendem Maße Bemühungen der konfessionellen Kooperation von katholischem und evangelischem Religionsunterricht vorfinden und diese in kontextuell gebundenen Modellen etablieren und evaluieren, so sollten auch Modelle religiöser Kooperation entwickelt, erprobt und erforscht werden – wenngleich die Ausgangslage hier ungleich diffiziler ist. Leider befinden wir uns mit Blick auf konzeptionelle Ansätze religiös-­kooperativen Religionsunterrichts noch weitgehend in einem unerforschten Gelände (terra incognita). Dennoch gilt es Impulse aufzugreifen, die beispielsweise mit der EKD-Denkschrift Religiöse Orientierung gewinnen von 2014 bereits gesetzt wurden, wenn es heißt: 1

Georg Langenhorst/Elisabeth Naurath, Zur Bedeutung (inter-)religiöser Bildung in pluralen Kontexten, in: Eisenhardt/Kürzinger/Naurath/Pohl-Patalong (Hg.), Religion unterrichten in Vielfalt: konfessionell – weltanschaulich – religiös, Göttingen 2019, 28–36, 28.

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Zum interreligiösen Lernen gehört auch die persönliche Begegnung mit Angehörigen anderer Religionen. Dafür gibt es beim Religionsunterricht mehrere, differenziert zu beurteilenden Möglichkeiten – angefangen bei Einladungen entsprechender Personen in den Unterricht über Besuche religiöser Einrichtungen bis hin zu einem gemeinsamen Unterricht mit Kindern und Jugendlichen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit.2 Auch wenn bislang religiöse Kooperationen eher selten sind und wissenschaftlich weiterhin keine empirisch evaluierten Befunde vorliegen,3 soll im Folgenden der Fokus auf didaktische und methodische Chancen und Grenzen einer christlich-islamischen Kooperation im Religionsunterricht gelegt werden. Der zukunftsweisende Charakter dieses Blickwinkels wird darin gesehen, das bei einem Bevölkerungsanteil von mehr als vier Millionen Bürgerinnen und Bürgern islamischen Glaubens in Deutschland die Bedeutung der unterrichtspraktischen Kooperation – gerade mit dem Ziel einer Förderung der Pluralitätsfähigkeit – nicht länger marginalisiert werden sollte. Hierbei bietet der konfessionelle Religionsunterricht einen guten Rahmen, über die eigenen Grenzen hinaus religiös-kooperatives Lernen aktiv zu fördern. Sowohl die Lehrpläne des evangelischen und katholischen wie auch des islamischen Religionsunterrichts4 bieten zahlreiche Schnittstellen für Unterrichtskooperationen5 an. Um auch die methodische Bandbreite von Kooperationsmöglichkeiten aufzuzeigen, werden im Folgenden praxiserforschte Beispiele christlich-islamischer Kooperation im Religionsunterricht vorgestellt und auf ihre didaktischen Implikationen hin befragt.

2 Kirchenamt der EKD (Hg.), Religiöse Orientierung gewinnen. Evangelischer Religionsunterricht als Beitrag zu einer pluralitätsfähigen Schule, Gütersloh 2014, 85. 3 Vgl. ebd., 86. 4 Die Bezeichnung islamischer Religionsunterricht bezieht in diesem Beitrag sowohl die bekenntnisorientierten als auch die religionskundlichen Modelle des schulischen Islamunterrichts in Deutschland mit ein. 5 Mögliche Themenschwerpunkte sind u. a. die Themenbereiche Mensch und Welt (Miteinander leben), Glaube und religiöses Leben, Heilige Schriften, Religionen und Weltanschauungen. In der Unterrichtspraxis haben sich »verbindende« Themen wie z. B. Abraham als Stammvater der Religionen oder Themen aus der Alltagspraxis bewährt. Vgl. dazu auch: Katja Boehme, Islamischer Religionsunterricht im fächerkooperierenden Interreligiösen Begegnungslernen, in: Jörg Imran Schröter (Hg.), Islam Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, Berlin 2020, 40–55.

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2  Religiös-kooperative Unterrichtsbeispiele 2.1  Christlich-islamische Projektstunden Ein möglicher Ansatz ist das Durchführen von inszenierten Begegnungsstunden im Rahmen eines kooperativen Unterrichtsprojekts zwischen den Religionsgruppen christlichen (evangelischen oder katholischen) und islamischen (sunnitischen oder seltener alevitischen) Bekenntnisses. Dies kann in Form von christlich­-islamischen Projektstunden bzw. Projekttagen sein. Bei diesem mittlerweile religionspädagogisch vieldiskutierten Modell interreligiösen Begegnungslernens6 stehen der direkte Erfahrungsaustausch und begegnungsorientierte Dialog zwischen den teilnehmenden Schülerinnen und Schülern – und eventuell auch den Lehrkräften – im Fokus. So sollen die Lernenden im Rahmen dieser Projektstunden ermutigt und unterstützt werden, ins Gespräch zu kommen sowie Gemeinsamkeiten und Unterschiede über ihre jeweils eigene religiöse Praxis sowie Glaubensthemen auszutauschen, um Verständnis füreinander zu entwickeln. Dass Begegnungslernen nicht bedingungslos gelingen, sondern auch zu einer Verstärkung von Differenzerfahrung und Abgrenzung führen kann, ist mittlerweile Konsens. Vielmehr erfordert eine konstruktiv-kritische Form des Begegnungslernens ein gut durchdachtes didaktisch-methodisches Konzept, das in einem zeitlich und räumlich festgelegten Rahmen möglichst auf Augenhöhe der religiösen Bezugsgruppen stattfindet, indem meist Schülerinnen und Schüler als Lernende aktiv werden und die Religionslehrkräfte die Aufgabe der Moderation übernehmen. Die Projektstunden können je nach verfügbarem Rahmen zwischen einer Unterrichtseinheit bis über mehrere Wochenstunden gehen. Voraussetzung einer solchen Zusammenarbeit ist freilich, dass es eine institutionell verankerte Form islamischen Religionsunterrichts an der Schule gibt – eine Voraussetzung, die mit Blick auf die Bundesländer längst nicht an allen Orten gegeben ist.7 Vor den Projekttagen sollten die Schülerinnen und Schüler im eigenen konfessionellen Unterricht durch die jeweilige Lehrkraft auf den Austausch (und eventuelle gemeinsame Exkursionen in religiöse Einrichtungen) vorbereitet werden. Die darauffolgende Kooperation kann unterschiedlich sein: Lehrkräfte des Religionsunterrichts können für einige Unterrichtseinheiten ihre Schüle6 Vgl. Katja Boehme, Art. Interreligiöses Begegnungslernen, in WiReLex (2019), https://www. bibelwissenschaft.de/stichwort/200343/ (Zugriff am 13.01.2020). 7 Vgl. z. B. Elisabeth Naurath, Islamischer Religionsunterricht im ›Süden‹. Bayern und BadenWürttemberg – zwischen Modellversuch und Ungewissheit, in: RpB 80 (2019), 15–23; Jörg Ballnus, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen – ein Zwischenstand, in RpB 80 (2019), 24–32.

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rinnen und Schüler tauschen (als halbe oder ganze Religionsgruppe) oder auch gemeinsam im Tandem den Unterricht gestalten. Diese Form von Kooperationsstunden können sowohl mit höheren Klassen der Grundschule, als auch an weiterführenden Schulen durchgeführt werden. Ein gelungenes Beispiel für ein christlich-islamisches Begegnungsprojekt ist das Projekt »Ich glaube – Was glaubst du?«8, welches über viele Jahre an einer Münchner Grundschule mit Viertklässlern erprobt und mit sehr positiven Rückmeldungen bewertet wurde,9 auch wenn es sich hierbei um keine repräsentative Evaluierung handelt: Nach einer Vorbereitung und Einführung im konfessionellen Religionsunterricht werden die Religionsklassen geteilt, sodass jede Lehrkraft für eine Doppelstunde zur Hälfte ihre eigenen Schülerinnen und Schüler und zur anderen Hälfte Kinder der anderen Religion übernimmt. In der Folgestunde werden die Gruppen getauscht. Besonders wichtig ist die Kooperationsfähigkeit der Religionslehrkräfte untereinander. Das Projekt ist so konzipiert, dass die Grundschulkinder stufenweise zu einem interreligiösen Basiswissen geführt werden: Nachdem Schüler*innen in den ersten drei Schuljahren ein Grundwissen in ihrer eigenen Religion (oder im Ethikunterricht ein allgemeines Basiswissen) erlangt haben, sollen sie sich dieser Kenntnisse soweit bewusst geworden sein, dass sie einige Grundlagen den Mitschüler*innen einer fremden Religion bzw. Weltanschauung darstellen und erklären können.10 Hierbei steht nicht direkt das Wissen, sondern das Erlernen sowie die Förderung der interreligiösen Kompetenz im Vordergrund. Schülerinnen und Schüler sollen aufeinander zugehen, berichten, austauschen, hinterfragen und miteinander diskutieren. Dabei erleben und gestalten sie den gesamten Lernprozess unter der Anleitung bzw. Moderation der Religionslehrkräfte selbstständig. Demnach sind die Lernenden sowohl in einer aktiven wie auch in einer beobachtenden Rolle.   8 Selcen Güzel, Interreligiöse Begegnung – ein christlich-muslimisches Projekt in der vierten Klasse der Keilberthschule in München, in: Eisenhardt/Kürzinger/Naurath/Pohl-Patalong (Hg.), Religion unterrichten in Vielfalt: konfessionell – weltanschaulich – religiös, Göttingen 2019, 276–280.   9 Die Evaluation an der Münchner Schule wurde von den am Projekt beteiligten Lehrkräften und dem lokalen Pastoralreferenten in Form von einer (Selbst-)Reflexion der Schülerinnen und Schüler durchgeführt. Hierzu mussten die Schülerinnen und Schüler nach Projekt­ abschluss Fragen zum Projekt und zum eigenen Lernprozess schriftlich beantworten. Diese wurden ano­nymisiert ausgewertet, schulintern dokumentiert und zur Weiterentwicklung des Projekts genutzt. (Vgl. dazu Güzel, 2019.) 10 Ebd., 279.

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2.2  Interaktion christlich-islamische Sakralraumpädagogik Kirchenraum- und moscheepädagogische Lernprozesse sind besonders geeignet, um Einblicke in theologische und gemeindliche Strukturen der beiden Religionen zu bekommen. Die Schülerinnen und Schüler können eigene Wahrnehmungen zur Sprache bringen, Entdeckungen mit Fragen verbinden, Eindrücke austauschen und auf diese Weise vor Ort erfahrungs- und erlebnisbezogene Erkenntnisse gewinnen. Als ein Beispiel für die Kombination eines kirchenwie auch moscheepädagogischen Prozesses kann das Bildungsprogramm Toleranz macht Schule mit dem Projekttag Kirche und Moschee als religiöser Klangraum im Rahmen von Musica sacra International 11 illustrierend beschrieben werden. Die recht große Anzahl der Schülerinnen und Schüler einer vierten Jahrgangsstufe wurde in zwei Gruppen mit gemischten Religions- und Konfessionszugehörigkeiten aufgeteilt. Diese hatten nacheinander die Möglichkeit, die katholische Ortskirche wie auch die Moschee des Ortes kirchen- bzw. moscheepädagogisch zu erschließen. Hierzu wurde zunächst eine Wahrnehmungsübung des Gebäudes von außen (Lage, Architektur, besondere Auffälligkeiten etc.) durchgeführt, der Übergang in den liturgischen Raum theologisch begleitet (Erklärung von Kirchenportal, Weihwasser-Ritus wie auch islamischer Waschzeremonie, Schuhe beim Betreten der Moschee ausziehen etc.), um schließlich in sakralraumpädagogischer Hinsicht die Erschließung der Gebetsräume mit allen Sinnen durchzuführen. Vor Ort waren jeweils der Ortspfarrer bzw. der Imam zu Führungen bzw. Erklärungen bereit. Besonderes Highlight war der thematische Bezug zu Musica sacra, indem in der Kirche Orgelmusik und in der Moschee eine Koranrezitation zu hören waren. Der besondere Impuls dieses Projektages lag in der abschließenden Reflexionsrunde laut Plenum darin, dass sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede der Gebetsräume wie auch der liturgischen Formen besonders eindrücklich durch die zeitliche Nähe der Durchführung bzw. Begegnung spürbar geworden waren. Auch die Fremdheit der Klänge durch den musikalischen Fokus wurde als sehr bereichernd erlebt – wie in den abschließend von den Kindern schriftlich geäußerten Eindrücken zu lesen war. Auf einer Postkarte mit dem Titel Vielstimmig statt eintönig hatte jedes Kind die Möglichkeit seine Eindrücke festzuhalten und nicht wenige kamen zu einem Resümee, das einen 11 Dieser Projekttag wurde in Marktoberdorf am 23.04.2018 mit allen Schülerinnen und Schülern der 4. Klasse der Grundschule St. Martin im Rahmen des Festivals Musica sacra International durchgeführt. Hierbei ist intendiert, das internationale Chortreffen mit interreligiösen Bildungsprozessen im Rahmen des Programms Toleranz macht Schule zu verbinden.

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deutlichen Zugewinn an Pluralitätsfähigkeit verdeutlichte in dem Sinn: Wie schön, dass wir beides in unserer Stadt haben: Kirche und Moschee. Beide haben ein Recht, hier zu sein. 2.3 Christlich-islamische Kooperation als Förderung einer religions­ sensiblen Schule am Beispiel multireligiöser Schulfeiern Angesichts der religiösen und weltanschaulichen Heterogenität der Schülerinnen und Schüler ist nicht die Negierung oder das Ignorieren von Religion zukunftsweisend, sondern vielmehr die Förderung einer religionssensiblen Schule. Denn es liegt in der pädagogischen Verantwortung der Bildungsinstitutionen das Schulleben so zu gestalten, dass sich alle Schülerinnen und Schüler angenommen und wertgeschätzt fühlen. Oft sind jedoch Angebote von religiösen Festen und Feiern ausschließlich für christliche Kinder und Jugendliche konzipiert. Eine der Ursachen ist auch, dass es an schulischen Ansprechpersonen wie beispielsweise einer Religionslehrkraft für Islam fehlt. Auch wenn die Zielsetzung interreligiöse Kompetenzentwicklung schon einen festen Bestandteil der Lehrpläne darstellt, sind multireligiöse Feste und Feiern im Schulalltag in Deutschland noch eine Seltenheit.12 Doch nicht nur in seelsorgerlich bedingten Not­situationen wie einem Todesfall an der Schule oder einem Gewaltdelikt, sondern auch für das schulische Gemeinschaftsgefühl sowie den inneren Zusammenhalt ist es dringend notwendig, Feste und Feiern in ihrem gemeinschaftsstiftenden Charakter nicht zu unterschätzen. Insbesondere muslimische Schülerinnen und Schüler, die mancherorts einen prozentual bedeutsamen Anteil der Gesamtheit aller Lernenden bilden, können sich »aufgrund ihrer Minderheitensituation oft ausgegrenzt und in ihren Bedürfnissen und Ansprüchen wenig beachtet«13 fühlen. So kann das Feiern von ausschließlich christlich geprägten Festen für sie eine Ausgrenzung darstellen, die auch in gruppendynamischer und integrations­ theoretischer Hinsicht Konsequenzen nach sich zieht. Nicht selten berichten 12 Für das Feiern von Festen gibt es verschiedene Konzepte wie z. B. interreligiöse und/oder multireligiöse Feiern (vgl. dazu Maria Holzapfel-Knoll/Stephan Leimgruber, Gebete von Juden, Christen und Muslimen. Modelle für Religiöse Feiern in der Schule, München 2009; Religionspädagogisches Zentrum Heilsbronn (Hg.), Grundlagen und Modelle für gemeinsame Feiern in einem multireligiösen Schulkontext, Heilsbronn 2017 (auch online abrufbar); Gül Solgun-Kaps (Hg.), Islam – Didaktik für die Grundschule, Berlin 2014. Sofern keine besondere Form angegeben ist, steht die Bezeichnung multireligiöse Feier für alle Formen einer religionssensibel organisierten Feier. 13 Erzbischöfliches Generalvikariat (Hg.), Gemeinsam feiern – voneinander lernen. Leitfaden für multireligiöse Feiern in der Schule, Ostfildern 2012, 10. Das Themenheft ist auch online abrufbar.

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Lehrkräfte, dass muslimische Eltern ihre Kinder für diese Anlässe, vor allem, wenn sie in der Kirche stattfinden, krankmelden. Demnach stehen Schulen bei der didaktischen Gestaltung von Festen und Feiern – insbesondere in Verbindung mit einem Gottesdienst – vor einer nicht zu unterschätzenden religionspädagogischen Herausforderung, denn der Ausdruck von Glauben und Hoffen sollte auch in der pluralen Wirklichkeit von Schule seinen festen Platz finden. Hierbei geht es in erster Linie nicht um den Anlass, sondern um die Form der Gestaltung: Multireligiöse Feiern mit gemeinsamen oder nacheinander stattfindenden Ritualen können das Miteinander im Lebensraum Schule stärken. Zum einen sind es Feste, wie beispielsweise das Weihnachtsfest zum anderen auch Gottesdienste, die vor den Oster- und Weihnachtsferien auch am Schuljahresanfang oder -ende stattfinden. Es hängt oft vom Engagement einzelner Lehrkräfte ab, inwieweit religiöse Schulfeiern und -feste in der Praxis multireligiös umgesetzt werden. Der Organisations­aufwand schreckt viele Lehrkräfte ab, sodass es schon bei der Ideenfindung scheitert. Einer der Gründe ist die Annahme, dass offizielle Religionsvertreterinnen und -vertreter aus der lokalen Moschee- und Kirchengemeinde gemeinsam bei einer solchen Veranstaltung anwesend sein müssten. Insofern wäre es weiterführend, wenn Schülerinnen und Schüler eine aktive Rolle übernehmen, um nicht zuletzt auch durch eine gemeinsam gestaltete, aber mit Blick auf die Religionen differenzierte Feier die Friedenspotenziale interreligiösen Lernens besonders sichtbarer werden zu lassen: In einer gemeinsamen Feier liegt die Chance, Frieden, Toleranz und Versöhnung einzuüben und gleichzeitig zum Ausdruck zu bringen, dass es Menschen verschiedener religiöser Prägungen sind, die sich täglich begegnen und den Lebensraum Schule miteinander teilen.14 Bei einer gemeinsam organisierten Feier ist es wichtig, die Unterschiede zwischen den Glaubensthemen und Vorstellungen nicht zu negieren,15 sondern »Schnittmengen«16 sowie eine gemeinsame Sprache zu finden. Es ist durchaus legitim, Unterschiede bewusst anzusprechen, während Gemeinsamkeiten hervorgehoben werden. Insofern entstehen gegenwärtig Konzepte für multireligiöse Feiern, die als Best-Practice-Beispiele einzelner Schulen zukunftsweisend sind. Als Beispiel für eine derartige Feier können die jährlich stattfindenden 14 Evangelische Kirche von Westfalen (Hg.), Multireligiöse Feste, Bielefeld 2004, 12. 15 Vgl. Erzbischöfliches Generalvikariat 2012. 16 Ebd., 8. Zitat auch im Original in Anführungszeichen.

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multireligiösen (christlich-islamischen) Schulfeiern des Lion-Feuchtwanger-­ Gymnasiums in München fungieren: Diese finden an einem neutralen Ort in der Schulaula statt und werden gemeinsam von Religions- und teilweise Ethiklehrkräften der Schule vorbereitet. Der Gemeindepfarrer vor Ort sowie eine muslimische Fachkraft (z. B. die Islamlehrkraft) gestalten das Programm mit. Während der Feier werden christliche und islamische Gebete sowie themenspezifische Auszüge aus den Heiligen Büchern von Bibel und Koran von Schülerinnen und Schülern der jeweiligen Konfession vorgetragen. Dabei wird die religiöse Tradition der Religionen respektvoll gewürdigt. Dies zeigt sich u. a. am aufmerksamen Zuhören und an der aktiven Beteiligung der Jugendlichen. Die Gebete und Rituale werden nicht vermischt, sondern finden getrennt voneinander statt.17 Schülerinnen und Schüler sprechen je nach konfessioneller Zugehörigkeit bei christlichen oder islamischen Gebeten sowie bei den Fürbitten mit. Einzelne Jugendliche beteiligen sich mit Auftritten am Programm, um das jeweilige Thema der gemeinsamen Veranstaltung (wie z. B. »Fremdenfeindlichkeit« oder »Abraham«) aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten und ihre Mitschülerinnen und Mitschüler zur Reflexion anzuregen.

3 Theologische und didaktische Herausforderungen einer christlich-islamischen Kooperation in Schule und Unterricht So spannend und bereichernd es – auch für Schülerinnen und Schüler – ist, die religionswissenschaftlichen Unterschiede zwischen den Religionen zu entdecken, so schwierig kann es auch werden, sich in fremde Vorstellungswelten, Traditionen und theologische wie auch hermeneutische Begründungszusammenhänge hineinzudenken und auch hineinzufühlen. Allein kognitives Differenzbewusstsein hinsichtlich der Rede von Gott, der Gottesbilder, der Sündenund Gnaden­vorstellungen reichen letztlich nicht aus, um zugrundeliegende Strukturen der Unterschiede der Gottesbeziehung, des Glaubens und auch der religiösen Gefühle nachvollziehen oder gar verstehen zu können. 17 Nach den Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz fordern multireligiöse Gebete, »[…] dass wir an unserem Glauben festhalten, dabei aber einander respektvoll zuhören, alles Gute und Heilige in den Lehren der anderen zu erkennen suchen und gemeinsam alle Initiativen zur Förderung des gegenseitigen Verständnisses und des Friedens unterstützen.« Die deutschen Bischöfe 2008, Sekretariat der Deutsche Bischofskonferenz (Hg.), Leitlinien für das Gebet bei Treffen von Christen, Juden und Muslimen. Eine Handreichung der deutschen Bischöfe, Bonn 2008.

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Beispielhaft lässt sich dies an der Begegnung mit den heiligen Schriften von Bibel und Koran zeigen.18 Nach muslimischer Auffassung gilt der Koran als authentisches Gotteswort, dessen 23 Jahre in Anspruch nehmende Offen­ barung an den Propheten Mohammed sowohl in Bezug auf die Sprache als auch auf den Inhalt als Wunder angesehen wird. Die Unveränderlichkeit dieses Himmelsbuchs gilt für Muslime als großes Gut, das von Gott selbst geschützt wird, wenn es in Sure 15, Vers 9 heißt, dass Allah der Hüter seiner Ermahnung sei.19 Insofern gilt die Sprache des Koran als zeit- und ortlos. Dieses Schrift­ verständnis impliziert, dass die Frage der (rationalen) Vermittlung einen nachrangigen Stellenwert besitzt. Die Notwendigkeit, einen kontextbezogenen und damit auch lebensgeschichtlich relevanten Zugang für Kinder oder Jugendliche zu ermöglichen, der sich beispielsweise an die entwicklungspsychologischen Bedingungen des Verstehens knüpft, ist daher genuin nicht intendiert. Damit wird am Beispiel des differierenden Schriftverständnisses deutlich, dass ein religions­didaktischer Zugang aus christlicher Perspektive, der sich unterrichtspraktisch an den Prinzipien einer bildungstheoretisch begründeten Subjektorientierung festmachen lässt, von einer islamischen Herangehensweise im Unterricht grundlegend unterschieden wird. Konkret bedeutet dies beispielsweise, dass nach christlichem Verständnis bibeldidaktische Zugänge so initiiert werden, dass kindgerechte und jugendgemäße Übersetzungen der biblischen Texte – unterstützt von zugänglichem, altersgerechtem Bildmaterial – Verstehensprozesse unterstützen sollen, aber auch kinder- und jugendtheologische Perspektiven einbezogen werden. Fraglich erscheint demgegenüber, ob derartige Übersetzungs- und Vermittlungsprozesse im Kontext islamischer Theologie und Religionsdidaktik überhaupt gewünscht sind: Es könnte nämlich auch sein, dass die Gefahr des Verlustes der Transzendentalität des geoffenbarten Gotteswortes, die in besonderer Weise als heilig empfunden werden kann, durch eine Übersetzung in eine der geglaubten Gottesoffenbarung nicht kongruente Sprache als so groß eingeschätzt wird, dass man davon lieber absieht. In gewisser Weise könnte nämlich auch die

18 Vgl. Elisabeth Naurath, Noli me tangere? Interreligiöse Differenzerfahrungen in der kindlichen Begegnung mit den Heiligen Schriften, in: Georg Langenhorst/Elisabeth Naurath (Hg.), Kindertora, Kinderbibel, Kinderkoran. Neue Chancen für (inter-)religiöses Lernen, Freiburg i. Br. 2017, 180–199. 19 Ahmad Abidi, Lehren und Botschaften des Qur’an, in: Al Fadschr – Die Morgendämmerung 156 (33), 43–47, 44.

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Notwendigkeit der Aneignung durch den menschlichen Verstand suggerieren, die Ursprünglichkeit der Gottesoffenbarung wäre mangelhaft.20 Vernachlässigt daher die Vorannahme der Gemeinsamkeit der abrahami­tischen Religionen als sogenannte Buch-Religionen die unterschiedlichen Verhältnis­ bestimmungen der Religionen zu ihrem Buch?21 Ist dies der Grund dafür, dass es neben einer jahrhundertealten christlichen Kinderbibel-­Tradition bislang keinen dezidiert ausgewiesenen Kinderkoran als schriftliche Gattung gibt? Allerdings sind die erst kürzlich in Deutschland veröffentlichten Publi­kationen, die im Titel ihre Intention einer kindgerechten Koranausgabe umschreiben,22 im Kontext einer sich auch institutionell etablierenden islamischen Religions­pädagogik in Deutschland zu sehen, die damit auch religionsdidaktische Fragen in bildungstheoretischer Verantwortung stärker betont, wenn beispielsweise Allamah Tabatabai schreibt, dass »die Vernunft für jeden Menschen der Schlüssel zu einer erfolgreichen Lebensführung ist und der Heilige Qur’an, obzwar ein göttliches Buch, zur vernünftigen Erschließung seiner Lehren auffordert, und eine erzieherische Wirkung auf dieses höchste menschliche Vermögen hat.«23 Dennoch bleibt festzuhalten, dass theologische Unterschiede, wie sie sich ja hier im Blick auf differierende Schriftverständnisse zeigten, einem didaktischen Konzept christlich-islamischer Kooperation auch entgegenstehen (können) und in der Offensichtlichkeit der Unterschiede auch Befremden und kritische Abgrenzung auslösen (können). Doch auch dann ist ein zukunftsweisender Prozess in Gang gesetzt, dessen Gewinn darin liegen dürfte, dass jede Religionsgemeinschaft ihre je eigenen hermeneutischen und religionsdidaktischen Begründungszusammenhänge klären und sich im religionspädagogischen Diskurs konstruktiv verorten muss. Die sich für die religiös-kooperative Didaktik eröffnenden Räume implizieren zudem, dass die Wahrnehmung des Eigenen in der Konfrontation mit dem Fremden an Tiefe und Profil gewinnen kann.24 Dies 20 Elisabeth Naurath, Noli me tangere? Interreligiöse Differenzerfahrungen in der kindlichen Begegnung mit den Heiligen Schriften, 189 f. 21 Friedrich Schweitzer, Bildung. Theologische Bibliothek II. Neukirchen 2014, 66 ff. 22 Lamya Kaddor/Rabeya Müller, Der Koran für Kinder und Erwachsene, München 2008; Hamideh Mohagheghi/Dietrich Steinwede, Was der Koran uns sagt. Für Kinder in einfacher Sprache, München 2010; dies., Sein sind die schönsten Namen. Texte des Koran in einfacher Sprache, Ostfildern 2011. 23 Allamah Tabatabai, Vernunft und Glaube im Heiligen Qur’an, in: Al-Fadschr 141 (2012), 10– 18, 10. 24 So können das Schriftverständnis und der Umgang mit dem Koran auf islamischer Seite auch dazu führen, dass im christlichen Kontext die ästhetische Dimension der Heiligkeit der Schrift neu reflektiert wird.

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begründet sich darin, dass eigene Deutungen durch andere Deutungen profiliert, aber auch relativiert, kritisiert und damit in gewisser Weise auch korrigiert werden kann. Dies bewahrt vor Verabsolutierungen des Eigenen und öffnet die Augen für andere Sichtweisen. Geschieht dies in einem Rahmen, der von der Wertschätzung der subjektiven Deutungen getragen ist, kann ein freundliches Unterrichtsklima die Dialog- und Pluralismusfähigkeit von Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern fördern.

4 Konsequenzen für die Lehramtsausbildung von Religionslehrkräften Mit wachsender Pluralität verstärken sich auch die Konfliktpotenziale an Schulen. Alle Lehrkräfte sowie Schulleiterinnen und Schulleiter sind gefordert, den gegenwärtigen Bedingungen von religiöser Pluralität konstruktiv zu begegnen, um dem Entstehen von Vorurteilen und Feindbildern entgegenzusteuern. Mögliche Herausforderungen bzw. Spannungsfelder entstehen im Schultag sehr schnell. Oft geht es dabei um Alltägliches wie einen Schulausflug, den Schwimmunterricht, Feste und Feiern oder gemeinsame Essen, die den religiösen Ansprüchen aller Schülerinnen und Schüler entsprechen sollen. Wie kann ein friedliches religionssensibles Schulklima, in dem sich jeder und jede Einzelne wohlfühlt, sichergestellt werden? Wie kann dem Entstehen von religionsbedingten Vorurteilen entgegengewirkt werden? Wie können mögliche Konflikte bewältigt werden? Fragen wie diese stellen das gesamte Schulpersonal vor große Herausforderungen. Interreligiöse und weltanschauliche Sensibilität sowie eine vielfaltssensible Haltung haben sich daher für Lehrkräfte zu unabdingbaren Schlüsselkompetenzen entwickelt, die leider bislang in Prozessen der universitären Professionalisierung von Lehrkräften eine zu geringe Rolle spielen.25 Oft fühlen sich Lehrkräfte alleingelassen und überfordert, wenn sie nach dem Studium mit der pluralen Lebenswirklichkeit der heutigen Schule konfrontiert sind. Ein konkretes Beispiel: Um angehende Lehrkräfte für diese Herausforderung vorzubereiten, wurde 2017 an der Universität Augsburg der Ergänzungsstudiengang »Interreligiöse Mediation« entwickelt.26 Das Zertifikatsstudium 25 Vgl. zum aktuellen Diskurs auch: Katja Baur/Dirk Oesselmann (Hg.), Religiöse Diversität und Pluralitätskompetenz. Eine Herausforderung für das Lernen, Lehren und Forschen an Hochschulen und Bildungseinrichtungen, Interreligiöses Lernen 5, Berlin/Münster 2017. 26 Vgl. dazu https://www.uni-augsburg.de/de/studium/studienangebot/uebersicht/zusatzqualifikation-interreligiose-mediation-zertifikat/ (Zugriff am 24.02.2020).

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(ZIM) erstreckt sich über sechs Semester und steht allen pädagogisch sich qualifizierenden Studierenden und insbesondere Lehrkräften in Ausbildung offen. Im Rahmen dieser Zusatzqualifizierung erwerben Studierende religionsübergreifend theologische, religionswissenschaftliche sowie didaktische Kompetenzen interreligiöser Bildung.27 So sollen sie sich schon während des Studiums mit religions- und weltanschauungsübergreifenden Fragen zum Zusammen­ leben auseinandersetzten und ein religionsverbindendes bzw. differenzsensibles Grundlagenwissen im Dialog mit anderen Studierenden erwerben. Hierbei steht neben dem theoretischen Fachwissen auch die praktische Komponente stark im Vordergrund. Zum einen sind es religionsdidaktische Aspekte wie die Entwicklung von interreligiösen Unterrichtsspielen28 und zum anderen praktische Einheiten wie sakralraumpädagogische Exkursionen, beobachtende Teilnahme an religiösen Ritualen (wie beispielsweise dem islamischen Fastenbrechen Iftar, Adventsfeiern oder buddhistischen Zeremonien) sowie das Durchführen von Projekttagen zur Förderung der Dialogkompetenz von Schülerinnen und Schülern an unterschiedlichen Schularten. Die Lehrkräfte in Ausbildung sollen nicht nur Anregungen bekommen, sie sollen diese auch selbst im Rahmen des Zertifikatsstudiums – möglichst unterrichtspraktisch – erproben und reflektieren. Beispielhaft lässt sich dies an einer dialogisch ausgerichteten Seminareinheit29 zeigen, in der Studierende kooperative Tandems bildeten und sich dadurch für das interreligiöse Zusammenarbeiten qualifizierten: Studierende unterschiedlicher Konfessionen und Weltanschauungen fanden sich zu zweit oder zu dritt zusammen und einigten sich auf eine religionsübergreifende Thematik rund um die Themengebiete Helfen, Fasten und Beten. In Kleingruppen erarbeiteten sie anhand von Literatur verschiedene Traditionen der jeweiligen Religionen. Nachfolgend entwarfen sie gemeinsam zu dem jeweiligen Thema eine eigene Unterrichtseinheit, die sie dann auch der Seminargruppe vorstellten. Nach jeder Unterrichtseinheit wurden Erfahrungen, Beobachtungen und Erkenntnisse im 27 Elisabeth Naurath, Zusatzqualifikation Interreligiöse Mediation – ein Angebot für alle Lehramtsstudierenden an der Universität Augsburg, in Eisenhardt/Kürzinger/Naurath/Pohl-­ Patalong (Hg.), Religion unterrichten in Vielfalt: konfessionell – weltanschaulich – religiös, Göttingen 2019, 330–333. 28 Mehr Informationen dazu bei Jasmin Kriesten, Zusatzqualifikation Interreligiöse Mediation an der Universität Augsburg. Professionalisierung der Lehramtsstudierenden im Sinne Interreligiöser Bildung, in: Kontakt-Heft 14, Als Christ anderen Religionen begegnen, Bistum Augsburg 2019, 79–83. 29 Kathrin S. Kürzinger, »kompetent kooperieren« – Förderung religionssensibler Dialog- und Kooperationskompetenz an der Universität Augsburg, in: Eisenhardt/Kürzinger/Naurath/PohlPatalong (Hg.), Religion unterrichten in Vielfalt: konfessionell – weltanschaulich – ­religiös, Göttingen 2019, 325–329, 325.

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Rahmen von Feedbackgesprächen im Plenum geteilt. In den unterschiedlichen Einheiten wurden verschiedene religionsdidaktische Methoden und Techniken wie Perspektivübernahme, Rollenspiele, kreative Spiele, Interviewtechnik, Bodenbilder oder bekannte bibeldidaktische Ansätze (wie z. B. Bibliolog) – auch für Geschichten aus dem Koran – erprobt. Auf konfessionelle Sensibilitäten wie das Bilderverbot im Islam (u. a. für Gott und den Propheten Mohammed) wurde dabei Rücksicht genommen. In diesem Rahmen kamen auch persönliche Erfahrungen und Schwierigkeiten beim interkonfessionellen bzw. interreligiösen Lernen, wie z. B. das Problem religiöser Sprachfähigkeit, zum Ausdruck.30 So konnten sich Studierende auch durch die konfessions- und fächerübergreifende Struktur des Seminars mit anderen Fachkulturen und Konfessionen austauschen und über ihre eigene persönliche Erfahrung hinaus verschiedene Außenperspektiven kennenlernen. Abschließend wurde reflektiert, inwieweit diese Erkenntnisse auf die Arbeit mit Schülerinnen und Schülern übertragen werden können. Genauso wie der Erwerb des theoretischen Wissens ist auch die Befähigung der angehenden Lehrkräfte zu einer religionssensiblen Haltung wichtig. Diese muss Schritt für Schritt durch persönliche Teilhabe, Motivation, Begegnung und Erfahrung schon im Rahmen des Studiums erworben werden. Für einen konstruktiven Umgang mit religiös begründeten Konfliktsituationen brauchen Lehrkräfte zusätzliche pädagogische Qualifikationsmöglichkeiten im Bereich konfessioneller wie auch religiöse Kooperation. Die Etablierung einer flächendeckenden interreligiösen Bildung in der Lehrkräfteausbildung ist eine zukunftsweisende Notwendigkeit, die zunehmend auch von Lehramtsstudierenden eingefordert wird.

Selcen Güzel, M.A. ist Bildungsreferentin für christlich-islamischen Dialog und wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Eugen-Biser-Stiftung in München, Doktorandin im Bereich der islamischen Religionspädagogik sowie Lehrbeauftragte an der Forschungs- und Koordinierungsstelle für interreligiöse Bildung der Universität Augsburg. Dr. Elisabeth Naurath ist Professorin für Evangelische Religionspädagogik mit Schwerpunkt Didaktik des Religionsunterrichts am Institut für Evangelische Theologie der Universität Augsburg. 30 Vgl. dazu die Lehrkrafthandreichung des Projekts »Interreligiöse Sprachfähigkeit als Mehrwert demokratischer Gesprächskultur« der Eugen-Biser-Stiftung als Hilfestellung für die Arbeit mit Schülerinnen und Schüler, https://www.eugen-biser-stiftung.de/themen/dialog-aus-christlichem-ursprung/islam/christlich-islamische-bildungsarbeit/interreligioese-sprachfaehigkeitals-mehrwert-demokratischer-gespraechskultur.html (Zugriff am 28.03.2020).

Materialien und Medien für die Grundschule zu Judentum und Islam Sarah Edel

»Ist Sukkoth nun vor oder nach Jom Kippur?«, fragt Lisa Kamal. Denkend tippt sie mit dem Stift auf die Stationsarbeitskarte. Die vierte Klasse der Grundschule hat Religionsunterricht. Ein Fach, das Lisa eigentlich mochte, aber irgendetwas war langweilig in diesem Schuljahr geworden. Sie hatten das Thema »Islam« mehrere Wochen bearbeitet und dabei viel über die Religion gelernt. Wie? »Ich habe die Stationsblätter bearbeitet und jetzt weiß ich eine Menge über die Regeln und Feste. Und noch anderes. Jetzt machen wir dasselbe, also wieder eine Stationsarbeit, aber zum Judentum.« »Und dann weißt du auch über das Judentum viel, wenn du alles fertig bearbeitet hast?« »Ja genau, dann hat meine Mappe viele Blätter und ich weiß wichtige Dinge, so etwas wie das Buch der Juden und wer das Judentum erfunden hat und wie sie feiern.« »Und was machst du damit?« »Wie, machen? Ich weiß das dann halt.« Wissen ist aber nicht gleich Wissen, das wissen wir. Wissen ist auch nicht alles und zugleich doch unerlässlich. Guter Religionsunterricht zielt nicht auf totes, rein abrufbares Wissen, sondern involviert die Schülerinnen und Schüler. Er greift auf ihre Vorerfahrungen zurück und nimmt ihre Fragen auf. Er sensibilisiert für Religiosität und öffnet Zugänge, indem er religiöse Deutungsweisen anbietet und Perspektivwechsel ermöglicht. Er greift die heutige (multi-) religiöse Lebenswelt auf und übt in eine dialogische Begegnung ein. Alles nicht in Distanz zu »den« kulturell überlieferten Religionen, sondern in authentischen Begegnungen und gemäß ihren Grundsätzen. Was – ungeachtet religionspädagogischer Schulen und Richtungen – als weitgehender didaktischer Konsens betrachtet werden kann, erweist sich bei den Unterrichtsmaterialien zu Judentum und Islam, wie überhaupt zu den Weltreligionen, jedoch keineswegs als leitende didaktische Prinzipien. Hier zeigen sich im Wesentlichen drei didaktische Grundtypen: religions­ kundliche, dialogisch-inter­religiöse und binnenkonfessionelle Erschließungsmuster – wobei sie in sich wiederum vielfältig sind, kombiniert werden und nicht immer trennscharf sind. Im Folgenden sollen die verschiedenen Ansätze anhand jeweils typischer Unterrichtsmaterialien – primär zu Judentum und Islam – ausgeleuchtet und

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religionsdidaktisch geprüft werden: Was leisten sie? Wofür sind sie unverzichtbar? Wo liegen ihre Grenzen? Vor allem aber: Nach welchen Kriterien sind sie auszuwählen und einzusetzen?1

1  Religionskundliche Unterrichtsmaterialien Die eingangs geschilderte Klassenraumszene begegnet einem in der Landschaft des Religionsunterrichtes häufig, denn die meisten der vorliegenden Unterrichtsmaterialien zu Judentum und Islam folgen einem religionskundlichem Erschließungsmodus, nehmen also Religion(en) mit einer Außenperspektive in den Blick und belassen die Lernenden so in religiöser Neutralität. Soweit verbreitet dieser Ansatz ist, so vielfältig ist er in sich. Sachsystematisch orientierte Unterrichtsmaterialien strukturieren den Lerngegenstand entlang religionswissenschaftlicher Kategorien und neigen dazu, Religionen essenzialistisch als homogene Einheiten mit festen Standpunkten und Verhaltensmustern zu charakterisieren. Dazu gehören zwei Bände aus dem Auer-Verlag. In Schalom! Das Judentum in der Grundschule2 berichtet der jüdische Junge Ben von seinem Glauben, von Thora, Synagoge, Pessach und Sabbat; Zusatzmaterialien und Lesetexte ergänzen die einzelnen Stationen. Der Schwerpunkt liegt auf der Erarbeitung von Grundwissen und dem Vergleich, um das Judentum als Wurzel des christlichen Glaubens zu erkennen. Die Stationskarten laden aber nur zu einem sachwissenschaftlichen Bearbeiten von Arbeitsaufgaben ein, ein differenzierter Blick und eine persönliche Involvierung der Lernenden wird kaum angeregt. Ähnliches gilt für das Pendant Salam! Der Islam in der Grundschule3. Die 25 Lern-Bausteine mit Informations- und Aufgabenblättern können in konventionellen Unterrichtssettings wie in Freiarbeit genutzt werden. Beide gut gemeinten und aus Lehrersicht sicher leicht einsetzbaren Arbeitsmap-

1 Die nachfolgende Werkauswahl ist entsprechend funktional begrenzt und greift vielfach auf Klassiker zurück. Für eine umfangreichere und fachübergreifende Zusammenstellung von Unterrichtsmaterialien zum Judentum vgl. die gemeinsam von KMK und Zentralrat der Juden betriebene Webseite https://www.kmk-zentralratderjuden.de (Zugriff am 01.10.2019); zum Islam das aktuelle Forschungsprojekt zur Schulbuchuntersuchung des Braunschweiger Georg-Eckard-Instituts »Religion im Plural«, http://www.gei.de/forschung/religion-im-plural. html (Zugriff am 01.10.2019). 2 Ulrike Zimmerer und Christiane Lohmann, Schalom! Das Judentum in der Grundschule. Kindgerechte Unterrichtsmaterialien für die Klassen 3/4, Donauwörth 2009. 3 Vera Krause, Salam! Der Islam in der Grundschule. Lern-Bausteine für Regelunterricht und Freiarbeit in den Klassen 3/4, Donauwörth 2016.

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pen ermöglichen zwar ein selbstständiges Lernen, doch beschränkt es sich auf das Erarbeiten von Wissen über beide Religionen. Didaktisch-methodisch ähnlich, inhaltlich aber breiter aufgestellt, sind Materialien, die einem Weltreligionen-Ansatz folgen, in denen Judentum und Islam als eine neben anderen Religionen in den Blick genommen werden. Stellvertretend sei hier das primär sachsystematisch strukturierte Grundschulkinder auf den Spuren der Weltreligionen4genannt. Bei dieser Materialgattung lohnt sich gerade im Grundschulbereich der Blick über die unmittelbar für den Unterricht erarbeiteten Materialien hinaus. Im Bereich der Weltreligionen gibt es eine Fülle an Büchern, die durch Aufmachung und Elementarisierung geeignete Unterrichtsmedien bieten, für die die Lehrkraft jedoch eigenständig Unterrichtsarrangements gestalten muss. Das Wimmelbuch der Weltreligionen5, zu dem großformatige Poster in einer ergänzenden Mappe vorliegen, thematisiert fünf Weltreligionen. Die Wimmelbilder schaffen einen leichten Zugang und sind in diesem Fall ausgesprochen gut illustriert. Das Wimmelbuch lädt ein, Fragen zu den Religionen zu sammeln, Mindmaps zu erstellen, und sich dann in Forscherprojekten oder ähnlichen Unterrichtskonzepten diesen Fragen zum Judentum und dem Islam oder noch anderen Religionen zu widmen, wobei die Poster immer wieder als Rückbezug genutzt werden können. Mit Wimmelbildern arbeiten auch Monika und Udo Tworuschka in der neuesten Ausgabe ihres Die Weltreligionen Kindern erklärt.6 Jede Religion wird mit einem doppelseitigen Wimmelbild mit Alltagssituationen eröffnet und auf den folgenden Seiten in kindgerechter Sprache mit Geschichten, Informationstexten oder Dialogen genauer erkundet. Die zentralen Glaubensinhalte, ihre Religionsstifter, heilige Bücher und Schriften sowie wichtige Feste und Bräuche werden so deutlich. Dabei wird auch auf die Fülle religiöser Erscheinungsformen innerhalb derselben Religionstradition je nach Herkunftsland, Richtung und Auslegung eingegangen und ein offener Blick auf die Erscheinungsformen gelegt. Hier zeigen sich Formen entdeckend-erlebnishaften Lernens, das in anderen Werken noch deutlicher eingeschlagen wird: Die Wissensaneignung erfolgt dabei weniger durch Sachtexte als mit Geschichten, die die Interessen und Alltagserfahrungen der Grundschulkinder aufgreifen und Identifikationsfiguren anbieten. Betül und

4 Renate Maria Zerbe, Grundschulkinder auf den Spuren der Weltreligionen, Donauwörth 2018. 5 Anna Wills/Nora Tomm, Das Wimmelbuch der Weltreligionen, Weinheim 2017; ergänzend: dies, Wimmelplakate der Weltreligionen, Weinheim 2018. 6 Monika Tworuschka/Udo Tworuschka, Die Weltreligionen Kindern erklärt, Gütersloh 2013.

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Nele erleben den Ramadan7 bietet mit Blick auf Vorschule und die ersten beiden Grundschuljahre Bildkarten für das Kamishibai, das hölzerne Erzähltheater mit Flügeltüren und Bühnenrahmen. Auf den Kartenrückseiten befinden sich Vorlesetexte, in denen aus der Perspektive des muslimischen Mädchens Betül Ramadan und Id al-Fitr in ihrer alltagsweltlichen Erfahrungswelt und -weise zugänglich werden. Ergänzt werden die Karten durch ein Handbuch mit Sachinformationen, religions-pädagogischen Hinweisen und vielen Gestaltungsideen sowie Bastelmaterial und Elternbriefen zum Download. Gleichfalls mit Identifikationsfiguren arbeitet Dinah und Levi – wie jüdische Kinder leben und feiern.8 Es schildert das Leben zweier jüdischer Familien, die zwar gemeinsam die religiösen Feste feiern, doch ihren Glauben ansonsten sehr unterschiedlich leben: die eine orthodox, die andere eher säkular. Chanukka und Purim, Pessach und Jom Kippur werden so alltagsnah erlebbar und erläuternde Vorlesepassagen verbinden Geschichte und Wissen zu einem tieferen Verständnis. Schließlich setzen auch religionskundliche Ansätze vermehrt auf fragendschülerorientiertes Lernen. Deutlich wird dies z. B. bei dem auf Kinder zielenden Webprojekt www.religionen-entdecken.de und dem daraus entstandenen Buch Wie heißt dein Gott eigentlich mit Nachnamen.9 Entlang sachsystematisch zusammengestellter Bereiche werden spannende, realistische Kinderfragen zu den Religionen von Experten aus der jeweiligen Religion beantwortet; hinzu kommen Informationstexte für selbsttätige Recherche z. B. in Projektarbeit. Hingegen didaktisch und methodisch aufbereitet und als Schulbuch konzeptioniert stellt das aus der Schweiz stammende Geschichtenbuch Meine Religion – deine Religion, zu dem vier Materialbände gehören, die »großen Lebensfragen« in den Mittelpunkt.10 Kinder aus verschiedenen Religionen stellen sich und ihre Religionen zunächst mit wesentlichen Informationen auf einer Doppelseite vor. In den nachfolgenden Kapiteln folgen jeweils Geschichten aus den einzelnen Religionen, die auf die jeweilige Leitfrage Antworten anbieten: Warum leiden Menschen? Woher kommen wir und wohin gehen wir? Etc. Die Lernenden beschäftigen sich so selbst mit diesen Fragen und suchen nach eigenen Ant  7 Nacicye Kamcili-Yildiz/Gabriele Pohl, Betül und Nele erleben den Ramadan. Bildkarten, München 2015; dazu: Naciye Kamcili-Yildiz/Katharina Kammeyer/Claudia Tombrink/Senay ­Biricik, Kinder feiern Ramadan. Kamishibai-Bildkarten und Praxisbuch, München 2015.   8 Alexia Weiss/Friederike Großekettler, Dinah und Levi. Wie jüdische Kinder leben und feiern, München 2011.   9 Jan von Holleben/Jane Baer-Krause, Wie heißt dein Gott eigentlich mit Nachnamen. Kinderfragen zu fünf Weltreligionen, Stuttgart 2015. 10 Schweizer Schulverlag, Meine Religion – deine Religion: Geschichtenbuch, Schulverlagplus 2010 (mit vier ergänzenden Materialbänden mit Arbeitsblattvorlagen zu den einzelnen Themenbereichen zur Vertiefung).

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worten, aber nicht (zwingend) direkt aus der je eigenen religiösen Perspektive. Das Material bleibt an vielen Stellen zwar noch einem fragenorientiert-religionskundlichen Ansatz verbunden, dennoch bietet es hervorragendes Material, um mit Kindern ein Theologisieren anzubahnen. Was leisten nun religionskundlich ausgerichtete Unterrichtsmaterialien? Zunächst und vor allem bieten sie Wissen über die zentralen Aspekte einer Religion: wie sie gelebt und erlebt wird, welches die zentralen Feste im Leben eines Gläubigen und im Kalenderjahr sind, was ihre Heilige Schrift ist und wie sie ihre Räume gestalten und nutzen. All das ist wichtiges Wissen, aber es ist ein Wissen über Religion. Je stärker religionskundliche Materialien dabei die Alltagserfahrungen, Interessen, Fragen und Zugangsweisen der Kinder aufgreifen, desto lebendiger der Unterricht. Guter Religionsunterricht kann jedoch nicht beim Anhäufen von Faktenwissen stehenbleiben – auch dann nicht, wenn dessen Erwerb spannend gestaltet wird. Ihm sollte es darum gehen, die eigene Religiosität aufzuspüren und die jeweiligen religiösen Hintergründe zu erkunden. Es geht um das Staunen der Kinder über die Welt, um ihre Anfragen im Anblick des Lebens- und Weltgeschehens, um ihre Zweifel und ihr Suchen nach Identität. Im Religionsunterricht gilt es zu erforschen, welche Deutungsund Lebens­option (die eigene) Religion anbietet und sie im Dialog mit anderen Vorstellungen zu erkennen, zu formulieren und zu prüfen. Hier gelangen die erkundenden und reflexiv-fragenden religionskundlichen Ansätze an ihre Grenzen, weil sie das lernende Subjekt religiös neutralisieren. Judentum und Islam sind dann nur eine neben vielen anderen, eigentlich austauschbaren Religionen, denen die Kinder äquivalent gegenüber positioniert werden.

2  Dialogisch-interreligiöse Unterrichtsmaterialien Dialogisch-interreligiös orientierte Unterrichtsmaterialien neutralisieren die Lernenden hingegen nicht, sondern fokussieren auf die Entwicklung persönlicher Religiosität vor dem Hintergrund der jeweils spezifischen Religion, mit der die einzelnen Kinder verwoben sind. Das hat auch Folgen für den Blick auf die anderen Religionen im Allgemeinen und auf Judentum und Islam im Besonderen: Es sind spezifische Relationen, mit jeweils eigenen Unterschieden und Gemeinsamkeiten, Nähen und Distanzen. Eine zentrale Rolle spielt überdies der Perspektivenwechsel in die authentische Binnensicht anderer Religionen. Dialogische Modelle erschließen Judentum oder Islam jeweils in der Begegnung mit dem Christentum und binden sie dadurch in konfessionelle Lern­ prozesse ein. Häufig stellen sich hier zwei Kinder bzw. Jugendliche ihre Reli-

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gion wechselseitig vor. Da sich die Lernenden mit diesen Figuren identifizieren können und sollen, bleiben sie nicht in neutraler Distanz, sondern werden selbst konfessionell verortet. In Materialumfang und -vielfalt herausragend ist Karlo Meyers Lea fragt Kazim nach Gott: 11 Das Buch wird durch Audio-­ Aufnahmen (z. B. Gebetsruf), Bilder und Filmsequenzen (Gebetsritual) ergänzt. Der Ansatz geht in die Nahperspektive, schildert die alltägliche, gerade auch nicht-­religiöse Lebenswelt der beiden Protagonisten, und führt in diesem Kontext religiöse und theologische Informationen und Fragestellungen ein. Es will privat-­familiäre, schulische und religiöse Bezüge verbinden, weil »Religion in den Menschen lebt«. Lea und Kazim stehen als Identifikationsfiguren für einen christlich-muslimischen Dialog. Didaktisch verbinden sich so religionskundliche Elemente mit einer identitätsorientierten Herangehensweise und erfahrungsorientiertem Lernen. Das Materialheft Schabbat Schalom, Alexander! lädt etwas frischer gestaltet zu einer christlich-jüdischen Begegnung ein, legt dabei aber noch stärker den Schwerpunkt auf das Kennenlernen des Judentums über den Dialog der beiden Kinder Alexander und Juni.12 Einem ähnlichen didaktischen Muster folgt Julia und Ibrahim – Christen und Muslime lernen einander kennen.13 Julia und Ibrahim freunden sich in einer fiktiven Geschichte an und erzählen sich anschließend von ihrer Alltags- und Glaubenswelt im Christentum bzw. Islam. In diesen Erzählstrang sind Sachteile integriert, die wechselseitiges Verständnis entwickeln lassen. Beiden Werken gemeinsam ist die Perspektive auf die eigene und die fremde Religion: Wer einer Religion angehört, denkt und verhält sich auf eine spezifische Weise. Die persönlich-existenzielle Dimension von Religion kommt allerdings eher oberflächlich in den Blick. Auch bleibt die Begegnung mit anderen Religionen ein primär mediales Konstrukt, was diesen Ansatz in zunehmend multireligiös zusammengesetzten Lerngruppen fragwürdig werden lässt. Trialogische Ansätze erkunden das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen Judentum, Christentum und Islam, mit ihren gemeinsamen Bezugspunkten und jeweiligen Eigentümlichkeiten. Besonders interessant ist das »Zeugnislernen«, das Clauß Peter Sajak in Kippa, Kelch, Koran14 mit entsprechenden Praxisvorschlägen entwirft: Hier werden Gegenstände aus den Religionen und 11 Karlo Meyer, Lea fragt Kazim nach Gott, Christlich-muslimische Begegnungen, Göttingen, 2006. 12 Karlo Meyer/Christian Neddens/Monika Tautz/Mo Yanik, Schabbat Schalom, Alexander! Christlich-jüdische Begegnung in der Grundschule, Göttingen 2016. 13 Georg Schwikart, Julia und Ibrahim. Christen und Muslime lernen einander kennen, Düsseldorf 2008. 14 Clauß Peter Sajak/Ann-Kathrin Buchmüller, Kippa Kelch Koran, München 2010.

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darüber die jeweils gelebte Religion erkundet. Dieser Ansatz zielt auf authentische Verstehens- und Lernprozesse, muss sich aber auch fragen lassen, ob die Interessen und die Identitätssuche der Schülerinnen und Schüler genügend eingebunden werden. Dem multireligiösen Ansatz des Hamburger Religionsunterrichts für alle, der gemischt-religiöse Lerngruppen im Fokus hat, sind die einzelnen Werke aus der Reihe Interreligiös-Dialogisches Lernen15 verpflichtet. Ob es um eine erste Identitätssuche Wer bin ich? geht, der sich die Lerngruppe in einer fiktiven Seefahrt nähert. Oder die Frage Was wird einmal sein? – Sterben und Tod, bei der die Antwortschätze der Religionen in einem Forscherprojekt erkundet werden, oder die Räume der Religionen, die mithilfe des Ansatzes einer interreligiösen Raumdidaktik in einer vielfältigen Erkundung der Räume und Orte der Religionen mit Symbolen und Geschichten aus den Religionen entdeckt, erforscht und kennengelernt werden: Hier findet interreligiöses Lernen in der Lerngruppe zwischen den Kindern statt; zugleich erhält das Unterrichtsmaterial eine zen­ trale Stellung, um religiöse Lerngegenstände, Perspektiven und Informationen einzuspielen, die von Schülerinnen und Schülern nicht selbst eingebracht werden können. Die zunehmende Betonung religionsspezifischer Lernaspekte und der Rückbezug auf die religiösen Hintergründe der einzelnen Lernenden verortet diese in spezifischer Perspektivität. Damit greifen einzelne Materialbände bereits die Neuausrichtung des Hamburger Religionsunterrichts für alle in den vergangenen Jahren auf.16

3  Binnenkonfessionelle Unterrichtsmaterialien Die zunehmende Etablierung bzw. Konsolidierung religiöser Erziehungspraxen und Religionsunterrichte nicht-christlicher Religionen in Deutschland führt auch zu einer zunehmenden Zahl von Unterrichtsmaterialien für den jüdischen und islamischen Religionsunterricht, für Katechese und familiäre Erziehung. Sie stellen zunächst authentische, für den religiösen »Binnenmarkt« erstellte Medien dar – können mit dieser Perspektivität aber auch bewusst in religionskundlichen und vor allem dialogischen Lernsettings verwendet werden. 15 Akademie der Weltreligionen/Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung/Pädagogisch-Theologisches Institut der Nordkirche (Hg.), Cornelsen/Kösel 2014 ff.; u. a. Susanne von Braunmühl/Sarah Edel, Was wird einmal sein – Sterben und Tod, München 2016; Sarah Edel, Räume und Orte der Religionen erkunden, München 2017. 16 Hierzu grundlegend: Jochen Bauer, Religionsunterricht für alle. Eine multitheologische Fachdidaktik, Stuttgart 2019.

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Für die Grundschule besonders wertvoll ist die »Juwelenkiste« der Bilderbücher. Ein Pferd zu Channukka,17 sie gibt ansprechend illustriert, mit kurzen kindgerechten kleinen Erzähltexten, einen Einblick in das Chanukkah-Fest. Die Binnenperspektive verleiht diesen Materialien einen anderen Ton, der zum Hören und Nachdenken über die Inhalte anregt, aber leichtfüßiger als religionswissenschaftliche Sachtexte daher kommt. Ein eigenes Medienfeld stellen schließlich auch kindgerechte Heilige Schriften dar. Parallel zu christlichen Kinderbibeln liegt mittlerweile mit Erzähl es deinen Kindern18 auch eine Kindertora in fünf Bänden vor. Die gleiche Funktion erfüllt Was der Koran uns sagt, das von der islamischen Theologin Hamideh ­Mohagheghi und dem bekannten biblischen Erzähler Dietrich Steinwede gemeinsam verfasst wurde.19 Nacherzählte koranische Prophetengeschichten bietet ebenso Geschichten aus dem Qur’an, das auf einem früheren Werk beruhend nun um didaktische Hinweise und Materialien für interreligiöses Lernen ergänzt wurde.20 Der Koran für Kinder und Erwachsene21 eignet sich hingegen weniger zum Vorlesen in der Grundschule als für die Vorbereitung der Lehrkräfte. Optisch ansprechend gestaltet bieten diese authentischen, zugleich didaktisch-methodisch erschlossenen Geschichten aus den Heiligen Schriften eine reichhaltige Fundgrube für die eigenständige Gestaltung (inter-)religiöser Lernprozesse.22

4  Auf die didaktische Leitlinie kommt es an! Ohne Medien ist Unterricht nicht vorstellbar – das gilt heute mehr denn je. Und dennoch stellen sie nur einen Baustein jeden Lernarrangements dar. Weit entscheidender ist jedoch die didaktische Leitlinie, die festlegt, wie die Schülerinnen und Schüler einem Lerngegenstand begegnen, wie dieser konturiert wird und wie das Zusammenspiel von Lernenden und Gelerntem erfolgen kann und soll. Die bisherige Analyse der Unterrichtsmaterialien zu Judentum und Islam, häufig auch zu anderen Religionen, hat deutlich gemacht, dass viele Unter17 Mariam Halberstam/Nancy Cote, Ein Pferd zu Channukka, Berlin 2018. 18 Darius Gilmont/Hanna Liss/Bruno Landthaler, Erzähl es deinen Kindern. Die Torah in fünf Bänden, Berlin 2014. 19 Hamideh Mohagheghi/Dietrich Steinwede, Was der Koran uns sagt, München 2010. 20 Halima Krausen/Susanne von Braunmühl/Andreas Gloy, Geschichten aus dem Qur’an. Beiträge aus dem Pädagogisch-Theologischen Institut der Nordkirche, Hamburg 2019. 21 Lamya Kaddor/Rabeya Müller, Der Koran für Kinder und Erwachsene, München 2008. 22 Vgl. hierzu: Georg Langenhorst/Elisabeth Naurath, Kindertora, Kinderbibel, Kinderkoran. Neue Chancen für (inter-)religiöses Lernen, Freiburg i. Br. 2017.

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richtsmaterialien bereits eine didaktische Leitlinie enthalten, nicht zuletzt um die Lehrkräfte zu entlasten. Und dennoch sind die meisten Medien nicht an die vorgesehene Didaktik gebunden: Ein Abschnitt aus der Kindertora kann ebenso einen Platz in einer religionskundlichen Inszenierung einnehmen, wie ein religionswissenschaftlich geprägter Sachtext Informationen für einen dialogischen Perspektivwechsel bieten kann. Es ist die Lehrkraft, die festlegt, welcher Unterricht mit welchem Medium erfolgt. Dabei hängt guter Religionsunterricht von vielen Faktoren ab: Seine Medien nehmen die Vorerfahrungen, Fragen und Zugangsweisen der Kinder auf, ermöglichen echte Begegnungen und schaffen Gesprächsanlässe. Die religiöse Vielfalt in der Lerngruppe und im Schulumfeld wird wahrgenommen und positiv aufgegriffen. Wissenserwerb und Perspektivwechsel beugen Schubladendenken vor. Und schließlich werden die Lernenden nicht religiös neutralisiert, sondern nehmen Identitäten wahr, erfahren Identifikationsangebote und bearbeiten sie dialogisch-reflexiv.

Sarah Edel ist Referentin für Religion in der Grundschule sowie 5./6. Klassen am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung in Hamburg.

Judentum und Islam unterrichten – ein systematisierender Blick auf exemplarische Medien und Materialien in der Sekundarstufe I Karlo Meyer

»Geschichte – Hintergründe – Glauben … Feste … Bräuche, Riten, Symbole … Abschlusstest«1 – gefüllt mit gut aufbereiteten Informationen. Solche Themenfolgen finden sich noch immer vielfältig und springen gerade bei Internet-­ Recherchen ins Auge. Die guten Absichten sind dabei durchaus vorhanden. So heißt es im zugehörigen Text: »Akzeptanz kann nur entstehen, wenn man ein entsprechendes Grundwissen über die jeweilige Religion hat. Viele Miss­ verständnisse entstehen durch Unkenntnis … Wissen öffnet Horizonte.«2 Dieser pauschalen Feststellung müssten nun didaktische Überlegungen folgen, doch hier bricht der pädagogische Gedankengang ab. Die Frage bleibt offen, wie und mit welchem Ansatz dieses Wissen denn auch zu Akzeptanz führen könnte; dem Text zufolge scheint sich das von selbst zu ergeben. Doch das ist weder pädagogisch durchdacht noch richtig. Auch wenn einzelne Missverständnisse durch Unkenntnis entstehen mögen, sind auch Antisemiten und islamophobe Menschen teilweise gut informiert. Daher ist es umso wichtiger, sich Gedanken zu machen, wie denn im Unterricht nicht nur Fakten auswendig gelernt, sondern auch Herangehensweisen entwickelt werden können, die neben dem Sachwissen auf konstruktive Haltungen und Respekt gegenüber religiös Andersartigem und religiös Anders-Glaubenden hinauslaufen.3 Für den Blick auf Medien und Materialien sind also zunächst Klärungen angezeigt, welche Richtung solche pädagogischen Ansätze gehen könnten. 1 Stefanie Kraus, Lernwerkstatt. Das Judentum kennenlernen. Infotexte. Aufgaben. Diskussionen (Weltreligionen einfach erklärt), Koblenz 22017, 3. Gleichlautend auch dies., Lernwerkstatt. Den Islam kennenlernen. Infotexte. Aufgaben. Diskussionen (Weltreligionen einfach erklärt), Koblenz 22017, 3. Vgl. auch ähnlich Ralf Krumbiegel, Der Islam, o. J., https://www.reli-mat.de/ downloads/material/cd_v1_2/islam1.pdf (Zugriff am 10.09.2019) sowie entsprechendes dort zum Judentum. Bis auf sehr vereinzelte Arbeitsaufträge und künstlich wirkende individuelle Gestalten am Anfang eines jeden Kapitels ist leider der Band von Michael Landgraf »Religionen der Welt« kaum von dieser reinen Fakten-Darbietungs-Didaktik abgehoben: Michael Landgraf, Religionen der Welt. Judentum und Islam, Hinduismus, Buddhismus und Naturreligionen begegnen. Einführung – Materialien – Kreativideen (ReliBausteine primar), Stuttgart 2012. 2 Kraus, Judentum, 4 f. Gleichlautend auch dies., Islam, 4 f. 3 Tatsächlich gibt es leider auch offensichtlich destruktiv arrangierte Lernhilfen, vgl. dazu Karlo Meyer, Grundlagen interreligiösen Lernens, Göttingen 2018, 62 ff.

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1 Pädagogische Herangehensweisen an fremde religiöse Traditionen Hilfreich ist es, vier Herangehensweisen zu unterscheiden, die sich jeweils mit unterschiedlichen Zielsetzungen und mit eigenen Haltungen verbinden können; es geht um: (a) die sachlich-unvoreingenommene Annäherung an andere religiöse Traditionen mit einem forschenden Blick, (b) die Bereitschaft, sich selbst durch religiös (und weltanschaulich) Andersdenkende in existenziellen Belangen infrage stellen zu lassen, (c) die Einsicht, in konfliktträchtigen Situationen um religiöse Themen Gräben auszuloten und gangbare Pfade zu finden sowie (d) den Impetus, in lokalen (und globalen) Gemengelagen Möglichkeiten des Engagements im interreligiösen Dialog zu erkennen und gegebenenfalls aufnehmen zu können.4 Zur Anbahnung der hiermit verbundenen Einstellungen ist Wissen nötig, das jeweilige Wissen steht jedoch nicht für sich selbst und die Hoffnung, sich irgendwie mit Akzeptanz zu koppeln, sondern wird je auf eigene Weise mit deutlichen Intentionen verknüpft. Dies ist hier kurz zu entfalten. 1. Der Erschließungsmodus der Forscherin: Im Zeitalter des Internets und der Fake-News steht an erster Stelle, Quellen nicht blind zu vertrauen (im Zweifel auch keinem Arbeitsblatt), sondern »forschend« Sachverhalten auf den Grund zu gehen. Dazu reicht es nicht, die von der Lehrperson dargebotenen Fakten korrekt wiederzugeben, sondern Strategien anwenden zu können, sich selbst ein Bild zu machen. Als Beispiel können Menschen aus dem eigenen Umfeld Informationsquellen werden. Zu lernen wäre, wie und wen man sachdienlich befragen, wo man nachforschen kann und wie man Ergebnisse auswertet und interpretiert. Das gilt insbesondere für Quellen im Internet. Ein den hiermit verbundenen Zielen entsprechendes Arbeitsblatt würde also als Hilfe zur Selbsthilfe Schülerinnen und Schülern Methoden für die eigene Recherche an die Hand geben sowie Kriterien, um die Ergebnisse einzuschätzen. Im Zuge dessen kann auch ein kritischer Blick auf die jeweils kursierenden Meinungen und Vorurteile angebahnt werden. Man kann hier idealtypisch von dem Erschließungsmodus einer Forscherin sprechen. 2. Der Erschließungsmodus des existenziellen Denkers: Erfahrungen, Texte und Beobachtungen aus den religiösen Traditionen können nicht nur als Forschungsmaterial dienen. Sie sprechen auch existenzielle Belange an und haben das Potenzial Wege anzubahnen, sich selbst und die Welt neu zu verstehen. Achtung vor dem anderen schließt ein, die Anfragen und Sichtweisen fremder Traditionen so ernst zu nehmen, dass sie eigene Sichtweisen in ein 4 Zu den Erschließungsmodi im Detail Karlo Meyer, Grundlagen, 172–208.

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neues Licht zu rücken vermögen. Dies kann in ein Gespräch münden und sei es das innere Gespräch mit einem Text. Ein solches ernsthaftes Gespräch ist eine Form, Respekt auszudrücken. Religiöse Traditionen erschließen sich hier auf eine zweite, andere Weise in Form von Anstößen zu existenziellen Gesprächen und neuen Gedanken. Idealtypisch lässt sich vom existenziellen Denker im Gespräch mit fremden Traditionen sprechen. 3. Der Erschließungsmodus des Brückenmanagers: Was auf dem Schulhof und im lokalen Umfeld passiert und gesagt wird, entspricht nicht immer den Regeln des Respekts. Einübung in Formen und Verhaltensweisen zur Klärung von Konflikten sowie schlicht zum gemeinsamen Umgang miteinander im Blick auf Trennendes und Verbindendes lässt sich nicht einfach durch Anhäufung von Faktenwissen lernen. Um mit Gräben und Brücken angemessen umzugehen (und das schließt auch ein, Gräben gegebenenfalls zu belassen), bedarf es spezifischer Fähigkeiten. Dazu zählt unter anderem die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel, der auf konstruktive Umgangsweisen ausgerichtet ist. Dazu zählt auch, Gräben ihr Recht zu geben und diesem Recht Ausdruck zu verleihen. Ich spreche vom Erschließungsmodus des Brückenmanagers. 4. Der Erschließungsmodus der glokalen Akteurin: Außerhalb der Schule gibt es Menschen, die sich im religiösen Bereich engagieren. In größeren Städten gibt es Runde Tische der Religionen, Pfarrerinnen laden Hodschas und Rabinerinnen ein und umgekehrt. Ein Blick auf Initiativen und engagierte Menschen im weiteren Umfeld kann eine Grundlage für späteres eigenes Engagement und für ein Verständnis der Lage vor Ort werden. Kleine gemeinsame Projekte wie interreligiöse Schulandachten ermöglichen unmittelbare Erfahrungen, wo in der Praxis Schwierigkeiten und Chancen auftreten können. Jugendliche (in diesem Fall eher nicht Kinder) können sich selbst als Akteure erproben und nahe (wie auch weitere) Netzwerke der Religionen in den Blick nehmen. Dabei kann im Sinne dieses Erschließungsmodus auf eigenes Engagement hingearbeitet werden und das Ideal einer lokalen (vielleicht sogar globalen) Akteurin in den Blick treten, die sich für den Dialog konstruktiv einsetzt.

2­  Erste Sichtung von Material auf die Erschließungsmodi hin Teils in ganzen Werken, teils in einzelnen Buchabschnitten werden diese Erschließungsmodi derzeit umgesetzt. Einige Beispiele können das illustrieren: Wir beginnen mit einem älteren, aber immer noch empfehlenswerten Werk, Jochen Bauers »Konfliktstoff Kopftuch«, in dem insbesondere der forschende

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und der brückenmanagende Erschließungsmodus hervortreten. Zwei Bausteine seien hier aufgegriffen: In dem Band finden sich vier Arbeitsblattseiten zum Kopftuch im Koran. Auf diesen werden nicht einfach enzyklopädische Informationen zu diesem Thema im Koran notiert. Stattdessen werden die einschlägigen Koranverse mit Hinweisen zu arabischen Formulierungen und der möglichen Bedeutungsspanne von »Hamr« und »Hijab« etc. leicht verständlich dargestellt.5 Schülerinnen und Schüler können so mit den Quellen arbeiten und sich – in textorientiert forschendem Erschließen – ein eigenes Bild auch im Blick auf die Vielfalt möglicher Interpretationen machen. An anderer Stelle wird mit Rollenkarten angeleitet, eine Schulkonferenz nachzuspielen. Dabei steht in Frage, ob an der Schule eine Lehrerin mit Kopftuch eingestellt werden soll.6 Mit den Möglichkeiten des Rollenspiels werden so Gräben und Brücken der Verständigung ausgelotet, es kommen aber auch lokal wie national verbreitete Ressentiments in den Blick. Der spielerische Umgang bahnt bei der Methode an, gemeinsam im Gruppengespräch Hürden und Kompromissmöglichkeiten angesichts unterschiedlicher Interessen und auch Vorurteile zu »managen«.7 Dieses Management bildet auch den Fokus einer Unterrichtseinheit von Rebekka Tannen.8 Den Ausgangspunkt bildet die Planung einer Klassenfahrt, auf der u. a. Grillen und Schwimmbadbesuche vorgesehen sind. In der Einheit werden realitätsnahe Konflikte angegangen, Hintergründe erarbeitet und mit den Schülerinnen und Schülern gemeinsam Lösungen zur Diskussion gestellt. Etwas kritisch ist der Aufhänger der Unterrichtseinheit zu sehen, der darin besteht, dass muslimische Kinder und ihre Eltern Schwierigkeiten bei den genannten Ereignissen machen. Andere Unterrichtsvorschläge nehmen grundlegende Fragen muslimischer und jüdischer Traditionen auf und ermuntern zum eigenen Theologisieren. So gibt »Religion im Dialog. Klasse 5/6« schlicht den folgenden Impuls nach Zitaten aus diversen Traditionen: »[…] bereite einen kleinen Vortrag vor, in dem du über deine eigene Religion erzählst.«9 Der Lehrerband zu »Ortswechsel 7/8« 5 Jochen Bauer, Konfliktstoff Kopftuch. Eine thematische Einführung in den Islam, Mühlheim an der Ruhr 2001, 58 ff. 6 Bauer, Konfliktstoff, 29–32. 7 Eingeschoben sei hier ein praktischer Hinweis: Eventuell hätte in den Aufgaben die Rolle der betreffenden Lehrerin auch als »Beobachterin« des Prozesses einbezogen werden können, um so deren Sicht und Gefühle mit einbeziehen zu können. 8 Rebekka Tannen, »Meine Tochter wird nicht teilnehmen …!« Eine Klassenfahrt mit Muslimen?! Kompetenzorientierte Unterrichtsplanung zum Thema »Islam« in einer 8. Klasse, in: Loccumer Pelikan 3/2009, 117–125. 9 Susanne Bürig-Heinze/Rainer Goltz/Christiane Rösener/Beate Wenzel, Religion im Dialog. Klasse 5/6, Göttingen 2018, 116 f.

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fragt zu zwei der 99 Namen Gottes: »Kann Gott zugleich ›Erzeuger der Not‹ und ›der Schützende‹ sein?«10 Theologische Gespräche werden so möglich, die in die Tiefe gehen. Die muslimische Pflichtabgabe regt Diskussionen an, »ob man auch als Christ gewissermaßen verpflichtet ist, Hilfsbedürftige zu unterstützen bzw. etwas von seinem Besitz abzugeben«.11 Dabei sollte sicher schon ein grundsätzliches Verständnis der eigenen Tradition im Hintergrund stehen. Im Material »Glaube, Gott und letztes Geleit« zu jüdischen, muslimischen und christlichen Bestattungen12 wird für die 9./10. Klasse die Frage aufgenommen, wie in Ritualen u. a. Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod symbolisiert wird. Die Lernenden sollen im Anschluss an die ersten Wahrnehmungen und Deutungen auch eigene Vorstellungen mit den fremden Traditionen ins Gespräch bringen und zu diesen eigene, metaphorische Sprachformen entwickeln. Schließlich sei ein Beispiel für »glokales« Engagement aufgenommen. Michael Landgraf und Stefan Meißner beziehen in ihrem Judentum-Band im Kapitel zu Antisemitismus/Schoa Bezüge zu Israel sowie die Aktion der Stolpersteine, aber auch arabische Judenfeindlichkeit mit ein.13 In einem Brief von Cohn-Bendit werden Anfragen aus Israel aufgenommen. Im Arbeitsblatt zu den Stolpersteinen werden die Schülerinnen und Schüler selbst aufgefordert, nach Opfern in der Ortsgemeinde zu forschen und eine fiktive Gemeinderatssitzung zu einer entsprechenden Initiative nachzustellen. Internationale Beziehungen und Engagement vor Ort werden so thematisch.14 2.1  Ein Blick auf zwei besondere Werke Bevor wir unter 3. noch auf einen besonderen methodischen Ansatz und Werke in diesem Zusammenhang eingehen, sind zwei Materialien zu nennen, die aus der Vielzahl der Veröffentlichungen der letzten Jahre herausragen. Im Blick auf den Erschließungsmodus des existenziellen Denkers ist als erstes der Band »Islam« aus der Reihe »EinFach Religion« zu nennen. Er ist – und das ist leider eine Ausnahme – im theologischen Gespräch christlicher und 10 Ingrid Grill-Ahollinger/Silvia Berger/Heide Bartelmus/Anca Wechselgartner, Ortswechsel 7/8. Evangelisches Religionsbuch für Gymnasien. Lehrerkommentar, München 2015, 218. 11 Grill-Ahollinger u. a., Ortswechsel, 220 (Kursive wie im Original). 12 Karlo Meyer, Glaube, Gott und letztes Geleit. Unterrichtsmaterial zu jüdischen, christlichen und muslimischen Bestattungen, Göttingen 2015. 13 Michael Landgraf/Stefan Meißner, Judentum. Einführung – Materialien – Kreativideen (ReliBausteine 4), Stuttgart 22012, besonders 145–153. 14 Ebd., 153.

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muslimischer Verfasserinnen entstanden (Kristina Funk, Tuba Isik und Franziska Knob).15 Über die exemplarischen Themen wird kurz und in sachlicher Tiefe aufgeklärt. Eines davon ist »Der Koran«. Die Besonderheit besteht hier darin, dass anders als in anderen Werken auch ästhetisch an diese Heilige Schrift heran­gegangen wird, wie es der muslimischen Rezeption entspricht (51–71). Zu den Lernzielen gehört es, »sich der Begrenztheit verbaler Ausdrucksmöglichkeiten bewusst [zu] werden« (51). Gerade auch über die Ästhetik wird es möglich, »verschiedene Zugänge zur Wirklichkeit wahr[zu]nehmen« (51). Im Vorwort beziehen sich die Verfasserinnen insbesondere auf die Komparative Theologie; Glaubensreflexion wird zum eigenständigen Ziel erklärt (11). Dieser Anspruch wird jedoch nur äußerst begrenzt eingelöst. Bis auf den beschriebenen Ansatz zur Ästhetik und eine Unterrichtseinheit zu Gott (Glaubensbilder reflektieren, 22) finden sich Glaubensreflexionen nicht mehr als Ziel. Dies wäre jedoch möglich gewesen. So hätte z. B. theologisch diskutiert werden können, warum christliche Traditionen nie etwas wie »fünf Säulen« festgelegt haben (vgl. oben zu Ortswechsel 7/8). Auch beim Thema »Propheten« hätte sich entsprechendes angeboten. Eine eigene Problematik verbindet sich mit dem ersten Kapitel. Der Einstieg ins Thema mit dem Begriff »Heimat« wirkt disparat. Er wird später nicht wieder aufgenommen, stattdessen werden mit dem Herderzitat »Heimat ist da, wo man sich nicht erklären muss« (19) unglückliche Assoziationen geweckt: Der Umkehrschluss liegt nahe, dass Muslime, die sich in meiner (christlich geprägten) Umgebung erklären müssen, folglich in meiner Umgebung keine Heimat haben. Ein solcher Kurzschluss wird aber nicht bearbeitet, stattdessen ist von einer »zweiten Heimat« (20) von Muslimen die Rede. Man fragt sich, welche das genau sein soll. Im Sinne Komparativer Theologie hätte christlich-­theologisches Weiterdenken zum Heimatbegriff fruchtbar ins Gespräch gebracht werden können, z. B. durch den Hebräerbrief: »Wir (Christen) haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir« (Hebr. 13,14). Könnten dem auch Muslime zustimmen? Wer sich auf Komparative Theologie beruft, darf ruhig mehr und mutiger theologisieren. Neben diesem Band mit seiner dialogischen Entstehung und dem bemerkenswerten Korankapitel ist auch noch ein zweites Heft zu würdigen. Stephan Siggs Themenband »Meine Religion + deine Religion« (2017) setzt eine Reihe innovativer Impulse.16 Von Anfang bis Ende geht es um soziale Überschneidungsbereiche und Vergleiche unter den Religionen. Das »Brückenmanage15 Kristina Funk/Tuba Isik/Franziska Knob, EinFach Religion. Interpretationen. Unterrichts­ modell. Islam (5.–6. Schuljahr), Braunschweig 2016. 16 Stephan Siggs, Meine Religion + deine Religion. Religiöse und ethische Grundfragen kontrovers und schülerzentriert (Themenbände Religion), Berlin 2017.

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ment«, wie wir es oben beschrieben haben, steht hier im Zentrum, aber auch das Forschen wird durch Vergleiche angebahnt. Gleich am Anfang wird die Angst vor Religionen thematisiert, die oft übersehene Vielfalt der Religionen im Alltag wird aufgenommen und Differenzierungen werden in und unter den Religionen nahegelegt. Die Lebenswelt ist dabei stets im Blick, was vom Kam­ pagnenplakat »Wir alle sind Dortmund« (gemeint ist der Fußballverein mit seiner Religionenvielfalt) bis hin zu Optionen für dialogische Projekte vor Ort reicht. Leider haben sich in den Band ein paar Fehler eingeschlichen. Dazu zwei Beispiele: Erstens ist entgegen einer Tabelle festzuhalten, dass Juden kein Schweinefleisch essen (27; 37). Zweitens sind die Lösungsvorschläge zum Vergleich einer Moschee mit einem buddhistischen Tempel wenig glücklich (24): Das bauliche Zentrum des buddhistischen Tempels ist auf der Skizze nicht (!) in der Mitte, wie die Lösung behauptet, sondern wie bei der Moschee eine Apsis am Ende, vermutlich mit einer Buddhastatue. Hier zeigt sich – wie sehr viel deutlicher noch bei einigen folgenden Veröffentlichungen – dass Tabellen und Schemata schnell zu Verzerrungen oder Irrtümern führen. Im Ganzen lohnt sich jedoch auch hier ein Blick in den Band und seine methodischen Ideen. 2.2  Defizite bei Arbeitsheften Viele Arbeitshefte der letzten Jahre sind bestenfalls als durchwachsen zu bezeichnen. Einige Bände, die mehrfach aufgelegt wurden, sind altbacken, andere wirken pädagogisch einfallslos, schließlich finden sich schon beim ersten Blick immer wieder Sachfehler, Innovationen sind Mangelware. Einige Beispiele seien herausgegriffen: Im Auerverlag wurden der Stationenlernband und der Einführungsband zum Islam zum vierten bzw. sechsten Mal neu aufgelegt (2016 und 2019). Die Bände sind beide für die Sekundarstufe I bestimmt. Der Band zum Stationenlernen von Doreen Blumenhagen ist unter den nun folgenden Werken noch am positivsten zu bewerten.17 Er geht von lebensweltlichen Anwendungssituationen aus (vom koscheren Hamburger bis zum Religionsübertritt). Auch die Gottesfrage wird aufgenommen. Methodisch sind die Arbeitsvorschläge vielfältig. All dies ist zu würdigen. Manche Aufgaben sind ohne übergeordnete Klärungen jedoch nicht sachgerecht lösbar (Notiere »Pflichten des Christentums«, 41; »Können Christen und Muslime das Al-Fatiha gemeinsam beten?«, 80). Obwohl der Band mit »Grundlagen und Alltagspraxis« überschrieben ist, wird Letztere kaum ersicht17 Doreen Blumenhagen, Der Islam. Grundlagen und Alltagspraxis des Islam. Stationentraining (Sekundarstufe I), Augsburg 42016.

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lich. Bis auf zwei Ausnahmen sind die Texte eher objektivierend und verabsolutierend als persönlich. Dazu fehlen Erfahrungsberichte, die z. B. über Ritualanweisungen hinausgehen. Das Ergebnis sind viele Informationen, aber wenig mehr als das. Der andere Band von Bianca Tischler mit einer Unterrichts­einheit zur »Einführung in den Islam« geht von einem deutlich niedrigeren Niveau aus.18 Leider sind in der Neuauflage von 2019 u. a. Statistiken nicht aktualisiert worden (Deutschland hat seit den 2000er Jahren mehr als 3 % Muslime, nämlich je nach Zählung 5–6 %). Einige Methoden sind höchst unglücklich gewählt: So wird eine geheime Abstimmung unter den Schülerinnen und Schülern zum Neubau einer Moschee in der Nachbarschaft vorgeschlagen; ein Arbeitsblatt bildet den »Stimmzettel« (51). Es fehlen jedoch Hilfen, wie man niederschmetternde Ergebnisse wieder auffangen kann. Auch ein Vergleichsbogen mit dem Christentum (72/76) verzerrt religiöse Aussagen geradezu unerträglich: In einer Tabelle wird in einer Zeile zu »Pflichten« zu den fünf Säulen im Islam auf christlicher Seite die Gottes- und Nächstenliebe genannt. Dass dies nicht auf einer Ebene liegt, hätte auch der Autorin auffallen müssen. Natürlich kennen auch Muslime Gottes- und Nächstenliebe als zentralen ethischen Grundsatz. Matthias Janke und Tajana Klein veröffentlichten 2016 ein Heft zu Judentum und Christentum mit kleineren Reminiszenzen zum Islam.19 Leider sind die Entwicklungen der letzten 15–20 Jahre an beiden Autoren vorbeigegangen. Grafische Elemente sind auf ein Minimum reduziert. Inhaltlich geht es zumeist um enzyklopädisches Wissen, u. a. um die Erarbeitung von Abrahams Stammbaum mit sage und schreibe dreißig Familienangehörigen (von Haran, Nahor und Abraham bis Silpa und Bilha). Der Mehrwert in einer Zeit, in der diese Namen kaum einem Menschen etwas sagen, erschließt sich nicht. »Anderen Religionen begegnen« von Saskia Spielberg zum Islam aus dem Verlag an der Ruhr (2012) variiert fast jedes Arbeitsblatt nach Niveaustufen.20 Hin und wieder wird zum Diskutieren und Theologisieren oder zu eigenen Recherchen aufgefordert. Manche Arbeitsaufträge muten jedoch sonderbar an, so z. B. die Aufgabe zum Leben Mohammeds: »Streiche … alles, was nicht wichtig [im Leben von Mohammed] ist, sauber durch« (10). Anderes ist auch sachlich schief, wenn z. B. verallgemeinernd gesetzt wird: »Im Islam wird dem Neugeborenen Honig auf die Zunge gestrichen« (19). Dies ist zwar in einigen Gegenden üblich, aber eben durchaus nicht überall. Hätte ein Kind im Inter18 Bianca Tischler, Einführung in den Islam. Eine Unterrichtsreihe für die Jahrgangsstufen 5–7 (Sekundarstufe I), Augsburg 62019. 19 Matthias Janke/Tajana Klein, Religion. Judentum. Christentum. Sekundarstufe 7–9 (Klippert), Augsburg 2016. 20 Saskia Spielberg, Islam. Anderen Religionen begegnen, Mülheim 2012.

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view dies als eigene Tradition erzählt, hätten andere Kinder Raum für eigene Varianten gehabt. So erscheint der Satz allgemeingültig für alle Muslime. Auch das Christentum bleibt nicht verschont: Anders als angegeben, »herrscht« bei Christinnen und Christen kein Bilderverbot (42). In einer anderen Aufgabe wird dann vorgeschlagen Mohammed zu spielen (10) – ein Affront für viele Muslime. Für die zuletzt genannten Entwürfe aus Arbeitsheften gilt, dass viele Inkonsistenzen, Fehler und Stereotype hätten vermieden werden können, wenn fachkundige(re) Personen aus den jeweiligen Religionen gegengelesen hätten. Hiesige Alltagserfahrungen in einer Religion könnten durch Jugendliche im Material selbst lebendig gemacht werden und Raum für alternative Traditionen lassen. Beides sollte eigentlich zum Standard gehören.

3 Eine weitere exemplarische Herangehensweise: der doppelte Individuenrekurs Über die beschriebenen Werke hinaus sei exemplarisch eine methodisch ausgerichtete Linie der deutschen Religionspädagogik eingehender aufgenommen, die Vorläufer im englischen Religious Education hat und manche der aufgezeigten Fehler vermeiden kann: der »doppelte Individuenrekurs«,21 der in unterschiedlichen Varianten vermehrt Eingang in Materialien findet. 3.1  Zum Hintergrund des doppelten Individuenrekurses Konzepte im Sinne des doppelten Individuenrekurses vermeiden den Eindruck zu erwecken, als handele es sich bei »dem« Islam, »dem« Judentum und »dem« Christentum um geschlossene Systeme, deren Systematik man Schritt für Schritt abarbeiten kann. Stattdessen wird durch die Präsentation von Individuen im Material deutlich, dass die religiösen Traditionen durch Menschen und viele persönliche, kulturelle und regionale Varianten und Präferenzen getragen werden. Dies betrifft auch die Schülerseite. Der Begriff »doppelt« verweist ­darauf, dass auch Schülerinnen und Schüler in Auseinandersetzung mit den Personen des Materials ihre ganz eigenen Sichtweisen teilen können. Das gilt für einen muslimischen Mitschüler in der Klasse mit seinem Verständnis von Islam ebenso wie für die getaufte Christin mit eher naturreligiösen Ansichten. Weder im Material noch in der Klasse geht es also um absolut gesetzte Richtigkeiten einer Religion (»das« Judentum), sondern auch immer um die Wahrnehmung von Vielfalt. 21 Dazu ausführlich Meyer, Grundlagen, 362–406.

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Auf diese Weise kann einem Denken in »Schubladen« vorgebeugt werden, das bestimmten Gruppen bestimmte Eigenschaften zuschreibt, ohne die Fülle der Einzelfälle, Abweichungen und internen Diskussionen (einschließlich internen Kritiken) wahrzunehmen. 3.2 Fiktive Individuen, die durch das Kapitel eines Schulbuchs führen »Herausforderungen 7« für die Realschule ist in Bayern als Schulbuch genehmigt.22 Es gliedert sich in fünf Kapitel, eins davon zum Islam: »Leila, was glaubst du?«. Martina Steinkühler ist als Herausgeberin auch für den Entwurf dieses Kapitels verantwortlich und lässt konsequent Leila mit teils recht persönlichen Aussagen islamische Traditionen vorstellen. Die sonst allgegenwärtige Systematik mit fünf Säulen und der Geschichte des Islam tritt dabei vergleichsweise zurück, lebensnahe Fragen erhalten Gewicht. Realitätsnah für die Mehrzahl der Musliminnen heißt es: »Kopftuch tragen wir nicht (außer, wenn wir in die Moschee gehen). Istanbul, wo mein Papa herkommt, ist eine moderne Großstadt. Da kannst du tragen, was du willst. Na, und hier in Deutschland sowieso. Andere Musliminnen und Muslime sehen das allerdings anders.« Durch Aussagen der Mutter werden Informationen eingeschoben oder in diesem Fall Fragen nach kulturellem Brauchtum und Pflicht aufgeworfen.23 Auch an die fünf Säulen stellt Leila kritische Fragen: »Ich denke manchmal: Mit der Welt von heute passen die ›fünf Säulen‹ nicht richtig.« Als Aufgabe kann unten auf der Seite in der Lerngruppe diskutiert werden, wie mit religiösen Regeln umzugehen ist. Angesichts der oft biederen, systematischen Abarbeitung verabsolutierter Lehrmeinungen ist dieser Ansatz positiv hervorzuheben und kann natürlich durch andere Arbeitsblätter ergänzt werden. Deutlich wird den Schülerinnen und Schülern, dass »der« Islam kein geschlossenes und festgelegtes System ist (selbst wenn manche Muslime das glauben mögen), sondern dass islamische Traditionen – wie im Blick auf alle großen religiösen Gemeinschaften festzuhalten ist – dynamische Gebilde sind, die sich verändern und zu denen individuelle Vielfalt gehört. Durch diese Erkenntnisse und durch persönliche Statements wie die von Leila kann Schwarz-Weiß-Denken und können naive Zuschreibungen unter Schülerinnen und Schülern aufgebrochen werden. Dabei kommen die beschriebenen Modi u. a. durch offene Fragen nach dem Umgang mit religiö22 Martina Steinkühler (Hg.), Herausforderungen. Evangelisches Religionsbuch für Realschulen 7, München 2019. 23 Ebd., 104.

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sen Regeln zum Zug24 (im Modus des existenziellen Denkers) oder z. B. durch den Blick auf interreligiöse Initiativen in der eigenen Region25 (im Modus der glokalen Akteurin). Einen anderen Versuch in diese Richtung unternimmt »Das Kursbuch Religion«. 26 Unter »Was heißt es, jüdisch zu sein?« wird recht individuell von David erzählt, es folgen ein Interview und später Aussagen von seiner Cousine Miriam. Der Text bleibt im Vergleich mit »Herausforderungen« stellenweise allerdings etwas steif. Insbesondere ein paar Seiten zuvor, auf denen u. a. zu Symbolen und Gebet Sachtexte mit Namen von Kindern verbunden werden, entsteht der Eindruck, dass enzyklopädische Texte einfach Kindern in den Mund gelegt werden.27 3.3  Materialien aus der Arbeit mit lokalen Akteuren Thorsten Knauth und Andreas Gloy haben 2015 und 2018 die Chance des lebendigen interreligiösen Gesprächs in Hamburg genutzt, um ein anders akzentuiertes Konzept umzusetzen.28 In diesem Fall sind es nicht fiktive, sondern authentische individuelle Sichtweisen von (dialogisch orientierten) Erwachsenen aus den verschiedenen Religionen, die Stellung zu Themen um Glauben, Zweifel und Gott beziehen. Zu Beginn stellen sich die jeweiligen »Religionskundigen« vor, um danach in kurzen Absätzen auf Fragen persönlich zu antworten. Die Schülerinnen und Schüler werden als Leserinnen und Leser in das Gespräch mit einbezogen; die Autoren sprechen von einem »sokratischen Marktplatz­ gespräch«: »Ist Zweifel in den Religionen erlaubt?« »Wenn es einen allmächtigen Gott gibt, warum sorgt er nicht dafür, dass Menschen nur gut und nicht böse sind?«29. Die authentischen Stimmen entwickeln hier eine eigene Impulskraft. Einen anderen Ansatz, der gleichfalls aus der Arbeit mit lokalen Akteuren stammt, hat Karlo Meyer seit 2006 verfolgt.30 Dialogkreise in Hildesheim und Hannover sowie später Akteure in Hameln stehen dabei jeweils im Hintergrund, 24 Vgl. auch ebd., 121. 25 Ebd., 119 und 121. 26 Heidrun Dierk/Petra Freudenberger-Lötz/Michael Landgraf/Hartmut Rupp, Das Kursbuch Religion 1, Stuttgart 2015. 27 Vgl. ebd., 194–199. 28 Andreas Gloy/Thorsten Knauth, glauben, vertrauen, zweifeln. Unterrichtsmaterialien für die Sekundarstufe (ID Interreligiös-dialogisches Lernen 6), Berlin 2015, und Andreas Gloy/Thorsten Knauth, Gott und Göttliches – Eine interreligiöse Spurensuche. Unterrichtsmaterialien für die Sekundarstufe (ID Interreligiös-dialogisches Lernen 8), Berlin 2018. 29 Gloy/Knauth, glauben, 31 (das Zitat zu Zweifeln blau und fett im Original). 30 Vgl. Karlo Meyer, Lea fragt Kazim nach Gott. Christlich-muslimische Begegnungen in den Klassen 2 bis 6, Göttingen 2006; Karlo Meyer, Fünf Freunde fragen Ben nach Gott. Begegnungen mit jüdischer Religion in den Klassen 5–7, Göttingen 2008; zum Teil auch für Klasse 5/6:

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im Vordergrund agieren Kinder bzw. Jugendliche. Während die ersten Bände vor allem mit Fotomaterial arbeiteten, wurde 2015 zu muslimischen, jüdischen und christlichen Bestattungen ein kleiner Unterrichtsfilm für die 9./10. Klasse produziert. In diesem werden zu den Abläufen der Bestattungen jeweils individuelle Statements der Jugendlichen zu Tod und Sterben eingeschoben. In den dazugehörigen Unterrichtseinheiten werden im Sinne des doppelten Individuenrekurses auch die Schülerinnen und Schüler angesprochen, um z. B. nach der Wahrnehmung der Metaphern zu Jenseitsvorstellungen in den drei Traditionen im Modus des existenziellen Denkers eigene Bilder zu entwickeln. 3.4  Eine narrative Variante des doppelten Individuenrekurses Eine letzte Variante des doppelten Individuenrekurses wurde von Mirjam Zimmermann entwickelt. In ihrer Arbeit mit Studierenden entstand die Geschichte eines Mädchens, das nach einem Umzug neue Freunde sucht und dabei Familien mit unterschiedlichen religiösen Traditionen kennenlernt. Auch hier sticht die Individualität der verschiedenen familiären Varianten ins Auge, die zugleich Raum für abweichende Erfahrungen anderer Menschen dieser Tradition lässt. Entsprechend sind die Jungen und Mädchen in der Lerngruppe immer wieder gefordert, auch ihre eigene Sicht und eigenes Erleben einzubringen. Thematisch stehen Feste im Mittelpunkt. Durch die fiktive Geschichte gelingt eine Verbindung von »›Näheerzeugung‹ und ›Distanzgewinn‹, die die Erzählung zu einem einzigartigen Lernraum werden lässt«.31 3.5  Nähe und Distanz Mit dem letzten Punkt wird eine weitere Chance der Arbeit mit individuellen Aussagen von Kindern und Jugendlichen angesprochen. Die individuellen Prota­ gonisten der unterschiedlichen referierten Ansätze sind einerseits sympathisch und erzeugen eine gewisse Nähe, besonders wenn sie im gleichen Alter wie die Jugendlichen der Lerngruppe sind. Andererseits bleiben ihre religiösen Vollzüge immer wieder fremd. Schülerinnen und Schüler lernen so, das Ineinander von Bekanntsein und Fremdbleiben auszuhalten. In Anbetracht der ambigen Erfahrung, dass etwas ähnlich und doch anders, nah und doch auch fremd sein Karlo Meyer/Christian Neddens/Monika Tautz/Mo Yanik, Schabbat Schalom, Alexander! Christlich-jüdische Begegnung in der Grundschule, Göttingen 2016; Karlo Meyer, Glaube, 2015. 31 Mirjam Zimmermann, Feste in den Weltreligionen: Narratives Unterrichtsmaterial für die Sekundarstufe I, Göttingen 2015, und Mirjam Zimmermann, Interreligiöses Lernen narrativ. Feste in den Weltreligionen, Göttingen 2015, 46.

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kann, wird die sogenannte Ambiguitätstoleranz gefördert,32 die unabdingbar für ein konstruktives Miteinander in Verschiedenheit ist. Die jeweilige Individualität schafft darüber hinaus Bezüge zur Alltagswelt, in der diese Toleranz und damit die Vermeidung von Schwarz-Weiß-Denken eine Voraussetzung für den respektvollen Umgang miteinander ist.

Prof. Dr. Karlo Meyer ist Professor für Religionspädagogik an der Universität des Saarlandes.

32 Vgl. Meyer, Grundlagen, 270–302, der von »Ambiguitätsmanagement« spricht, 277–293.

Das Judentum und der Islam im Religionsunterricht der Sekundarstufe II – Medien und Materialien Clauß Peter Sajak

Wer untersuchen will, wie das Judentum und der Islam in Materialien für den Religionsunterricht in der Sekundarstufe II präsentiert werden, der muss im Blick haben, dass die Auseinandersetzungen mit diesen beiden großen monotheistischen Religionen vonseiten der Kultusministerkonferenz für die Oberstufe und die Abiturprüfung gar nicht vorgesehen sind. So finden sich in den Einheitlichen Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung (EPA) sowohl für die Evangelische als auch für die Katholische Religionslehre keinerlei Bezugsfelder, Gegenstands- oder Kompetenzbereiche, in denen die Auseinandersetzung mit anderen Religionen und Weltanschauungen gefordert wird.1 Das verwundert auf den ersten Blick, denn schließlich verlangen sowohl die evangelischen wie katholischen Grundlagenpapiere von EKD und Deutscher Bischofskonferenz bundesweit für den Religionsunterricht in der Grundschule und der Sekundarstufe I jeweils einen Gegenstandsbereich zu Religion und Religionen.2 Nichtsdestotrotz lohnt sich ein Blick auf Medien und Materialien für den Religionsunterricht in der Oberstufe, denn unabhängig von diesen theologisch eng geführten bundesweiten Vorgaben der KMK zum Religionsunterricht der Sekundarstufe II ist in verschiedenen Bundesländern die Tradition gewachsen, das Thema interreligiöser Dialog oder Dialog mit den Weltreligionen o. Ä. zumindest als weiteres Abiturthema in den Unterricht der Oberstufe einzuflechten. So ist es z. B. seit vielen Jahren in NordrheinWestfalen üblich, im Rahmen der katholischen Abiturprüfung im Themenfeld Ekklesiologie die Haltung der katholischen Kirche zu den Weltreligionen, wie

1 Die Kultusministerkonferenz, Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung Evangelische Religionslehre, Bonn 2006, sowie dies., Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung Katholische Religionslehre, Bonn 2006. 2 Vgl. Die deutschen Bischöfe, Kirchliche Richtlinien zu Bildungsstandards für den katholischen Religionsunterricht in den Jahrgangsstufen 5–10/Sekundarstufe I (Mittlerer Schulabschluss), hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2004, 28 f.; und: Evangelische Kirche in Deutschland, Kompetenzen und Standards für den Evangelischen Religionsunterricht in der Sekundarstufe I. Ein Orientierungsrahmen, Hannover 2010, 21.

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sie in der Erklärung des II. Vatikanischen Konzils »Nostra Aetate«3 formuliert worden ist, als Abituraufgabe aufzunehmen. In anderen Bundesländern wie Niedersachsen ist man so konsequent gewesen und hat die Kompetenzbereiche der Kerncurricula aus dem evangelischen Religionsunterricht der Grundschule und der Sekundarstufe I in die Oberstufe hinaufgezogen, sodass entsprechend die Auseinandersetzung mit anderen Religionen im Rahmen des Oberstufenunterrichts behandelt und im Abitur geprüft werden kann. Entsprechend hat auch der Buchmarkt reagiert: Die meisten zugelassenen Unterrichtswerke für den evangelischen und katholischen Religionsunterricht in der Sekundarstufe  II weisen Kapitel, Abschnitte oder Perspektiven auf, in denen andere Religionen und damit auch Judentum und Islam thematisiert und zur Erschließung dargeboten werden. Außerdem gibt es eine ganze Reihe von Zusatz­materialien wie Textsammlungen, Einführungen und Materialsammlungen, in denen einzelne Weltreligionen für den Unterricht in der Oberstufe erklärt und entfaltet werden. Entsprechend ist dieser Beitrag gestaltet: In einem ersten großen Abschnitt werden Unterrichtswerke für den evangelischen und katholischen Religionsunterricht in der Oberstufe mit Blick auf die Darstellung von Judentum und Islam untersucht (1.), in einem zweiten Teil dann zusätzliche Materialien vorgestellt (2.).

1  Zugelassene Unterrichtswerke für die Sekundarstufe II Im Folgenden sollen drei Unterrichtswerke für den evangelischen und zwei für den katholischen Religionsunterricht in der Sekundarstufe II untersucht werden, die das Thema Judentum bzw. das Thema Islam in unterschiedlicher Weise aufgreifen und darbieten. Dabei wird unter dem Begriff »Unterrichtswerk« ein Schulbuch verstanden, das als Unterrichtsmedium für Schülerinnen und Schüler in einem konfessionellen Religionsunterricht von der jeweiligen Religions­ gemeinschaft gemäß den gesetzlichen Verfahrensregeln zugelassen worden ist.4 3 Nostra aetate. Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, in: Acta Apostolicae Sedes 58 (1966), 740–744. Lateinischer Text und deutsche Übersetzung in: LThK Ergänzungsband II, Freiburg i. Br. 1967, 488–495. 4 In diesem Beitrag werden ausschließlich Unterrichtswerke vorgestellt, die in Nordrhein-­ Westfalen laut Schulbuchliste für den evangelischen und katholischen Religionsunterricht zugelassen sind. Diese Buchauswahl ist aber repräsentativ auch für andere Bundesländer – Bayern ausgenommen. Vgl. https://www.schulministerium.nrw.de/docs/Schulsystem/Medien/ Lernmittel/Gymnasiale_Oberstufe/index.html#A_1 (Zugriff am 08.10.2019).

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Sog. Lehrerkommentare oder Bände mit Zusatzmaterialien für Lehrerinnen und Lehrer (z. B. Klausuren- und Quellensammlungen) sind in dieser Untersuchung nicht berücksichtigt worden. 1.1  Evangelische Unterrichtswerke Im Unterrichtswerk »Moment mal!«5 werden Passagen zum Judentum vor allem im Kontext der Schuldgeschichte von Kirche und Christentum gegenüber dem Judentum eingeführt. So finden sich sowohl im Theodizee-Kapitel, das unter der Überschrift steht »Warum hat Gott Auschwitz nicht verhindert« (70–89), als auch im Kapitel, das sich mit der Wahrheitsfrage beschäftigt »Gibt es die wahre Religion« (210–229), Texte zur jüdischen Perspektive. Wie schon die Überschrift signalisiert, sind von zehn Doppelseiten zur Theodizee-­Problematik sieben allein dem Themenkreis Antijudaismus, Antisemitismus und Shoah gewidmet. Hilfreich ist in diesem Kapitel, dass sich neben dem Nachdenken über die Theo­dizee unter der Chiffre »Auschwitz« eine Doppelseite findet, die unter der Frage­stellung »Was hat das Christentum dem Judentum zu verdanken?« (84/85) das nähere Verhältnis von Judentum und Christentum als Verwandte und mithin miteinander verwobene monotheistische Religionen beleuchtet. Im elften Kapitel, dem Kapitel, das sich mit der Frage nach dem Wahrheitsanspruch von Religion beschäftigt, findet sich eine Doppelseite unter der Überschrift »Wurde der Messias gekreuzigt?« (214/215), in der Schülerinnen und Schülern eine jüdische und eine muslimische Perspektive zur Frage nach dem Kreuzestod Jesu als Material angeboten wird. Allerdings ist hier kritisch zu vermerken, dass die Information zum Judentum ein Info-Kasten wohl aus den Federn der Autoren, die Quelle zur muslimischen Perspektive auf die Kreuzigung ein Referat des katholischen Theologen Karl-Josef Kuschel über Navid Kermanis berühmtes Essay zu Guido Renis Altarbild »Kreuzigung« ist. Hier wäre es angemessen gewesen, eine jüdische Quelle, z. B. Ben Chorin, und Kermani selbst zu Wort kommen zu lassen. Einen Schritt weiter geht das Unterrichtswerk »Religionsbuch Oberstufe«6. Hier finden sich in dem einleitenden Kapitel »Religion – Vertrauen in das Unverfügbare« (10–51) im Rahmen einer religionsgeschichtlichen Einführung in das Phänomen der Religionen und ihrer Konkretion als Weltreligionen an verschiedenen Stellen Perspektiven aus dem Judentum und Islam. So wird unter dem 5 Imke Heidemann/Bärbel Husmann/Rainer Merkel (Hg.), Moment mal! Oberstufe: Schülerbuch ab Klasse 10 (Einführungs- und Qualifikationsphase), Stuttgart 2015. 6 Ulrike Baumann/Friedrich Schweitzer (Hg.), Religionsbuch Oberstufe, Berlin 2014.

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Aspekt der Heilsfrage z. B. ein Text von Kurt Wilhelm über das Judentum und sein Heilsverständnis, aus islamischer Perspektive dagegen ein Text von Muhammad Asad abgehandelt. Vorweg wird im Kontext von Berufungsgeschichten parallel zur Berufung des Mose (Ex 3,1–15) die Berufung Muhammads (in diesem Buch »Mohammed« übersetzt) mithilfe von Versen aus den Suren 96–98 präsentiert und durch Arbeitsanregungen zur Erschließung angeboten. Dabei ist hier besonders zu würdigen, dass nicht nur Originalquellen aus den heiligen Schriften präsentiert werden, sondern dass auch durch die Darstellung des arabischen Schriftbildes in Schwarz-Weiß-Drucken ein ästhetischer Zugang eröffnet wird. Außerdem sind jüdische und islamische Perspektiven auch im Bibel(129 f.) und im Gotteskapitel (169–174) aufgenommen worden. Besonders ausführlich schließlich werden Judentum und Islam im »Kursbuch Religion«7 dargestellt, das von Hartmut Rupp und Veit-Jakobus Dieterich herausgegeben wird. Hier ist neben die traditionellen Themenfelder der EPA ein ausführliches Kapitel zu den Religionen (248–281) gestellt. Dabei werden auf jeweils sechs Seiten das Judentum, der Islam, der Hinduismus und der Buddhismus vorgestellt und in einem abschließenden Reflexionsabschnitt entsprechend aus christlicher Perspektive diskutiert. Die Materialien zum Judentum finden sich auf den Seiten 252 bis 257 und tragen die Überschriften »Mehr als ein Glaubensbekenntnis«, »Pesach«, »Die Thora«, »Der Sabbat« und »In der Diskussion: die Beschneidung«. Es ist offensichtlich, dass hier zum einen ganz klassische religionskundliche Wissensbausteine zum Judentum kompakt dargeboten werden sollen, zum anderen aber auch aktuelle Aspekte des jüdischen Lebens in Deutschland, in diesem Fall der Konflikt um das Recht der jüdischen Gemeinden auf das Ritual der Beschneidung, verbunden werden sollen. Analog ist das Islam-Kapitel aufgebaut, das sich unter den Überschriften »Allah, der eine Gott«, »Die Wallfahrt nach Mekka«, »Der Koran« sowie »Der eine Gott und der Mensch als sein Geschöpf« als Bausteine eines religionskundlichen Grundwissens mit einer aktuellen Diskussion, in diesem Falle »Djihad – ›Heiliger Krieg‹?«, zu verbinden versucht. Die drei Doppelseiten zu Judentum und Islam enthalten jeweils konzise und elementar die wichtigsten Informationen zu Glaubensvorstellungen und ritueller Praxis der beiden großen monotheistischen Religionen und bieten zudem durch eine ganze Reihe von differenzierten und im Niveau entsprechend aufbauenden Arbeitsanregungen eine angemessene Erschließungshilfe für die verschiedenen Materialien.

7 Hartmut Rupp/Veit-Jakobus Dieterich (Hg.), Kursbuch Religion Sekundarstufe II, Stuttgart/ Braunschweig 2014.

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1.2  Katholische Unterrichtswerke Auch das katholische Unterrichtswerk »sensus Religion. Vom Glaubenssinn und Sinn des Glaubens«8 orientiert sich an den durch die EPA vorgegebenen Inhaltsfeldern für den katholischen Religionsunterricht in der Sekundarstufe II, liefert aber vorweg ein religionsphänomenologisches Kapitel, das unter der Überschrift »Religion: Vielfalt und Bindung« (15–46) steht. Man merkt auch diesem Buch eine deutlich nordrhein-westfälische Signatur an, wenn unter dem Stichwort »Strahlen der Wahrheit. Die katholische Kirche und die Religionen« (36 f.) die Konzilserklärung »Nostra Aetate« in Auszügen zu einer doppelseitigen Quelle zusammengestellt wird. In dieser Erklärung betrachtet das Konzil »mit Hochachtung« die Muslime und würdigt im Folgenden die vielen Gemeinsamkeiten im Glauben. In besonderer Weise wird entsprechend auch »des Bandes« gedacht, durch das das Judentum mit Gott »geistlich verbunden ist« (Nostra Aetate 2 bzw. 3, beide Textstellen im Unterrichtswerk 37 f.). Daran anknüpfend werden auf den beiden folgenden Doppelseiten jeweils eine jüdische und eine muslimische Stimme zitiert, die zu Selbst- und Heilsverständnis der eigenen Glaubenstradition Auskunft geben können. Dies ist im Fall des Judentums ein Text des Biochemikers und Religionsphilosophen Jeshajahu Leibowitz (38 f.), im Falle des Islams ein Zitat aus dem Werk des Schriftstellers und Orientalisten Navid Kermani »Gott ist schön«. Beide Texte geben einen kurzen, aber konzisen und hilfreichen Einblick in das Wesen und Selbstverständnis von Judentum und Islam und können durch eine ganze Reihe differenzierter Arbeitsanregungen in den Marginalien von den Schülerinnen und Schülern erschlossen werden. Zusätzlich finden sich im Jesus-Kapitel Doppelseiten zu Jesus im Judentum (188–191) und im Islam (192 f.). Bereits seit Längerem befindet sich das Unterrichtswerk »Vernünftig glauben. Arbeitsbuch für den katholischen Religionsunterricht in der Oberstufe«9 auf dem Markt. Analog zu »sensus Religion« orientiert sich auch dieses Buch zwar vornehmlich an den EPA-Perspektiven, liefert aber auch unter der Überschrift »Religion – was den Menschen unbedingt angeht« (87–117) ein zusätzliches Religionskapitel. Hier wird zum einen das Phänomen der Religion durch eine Vielzahl von Quellen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven erschlossen, zum anderen wird in großer Ausführlichkeit die Wahrheitsfrage und damit verbunden auch die Frage nach Toleranz und Gewalt erörtert. 8 Rita Burrichter/Josef Epping, Sensus Religion. Vom Glaubenssinn und Sinn des Glaubens, München 2013. 9 Wolfgang Michalke-Leicht/Clauß Peter Sajak (Hg.), Vernünftig glauben. Arbeitsbuch für den katholischen Religionsunterricht in der Oberstufe, Paderborn 2011.

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Auch dieses Buch referiert ausführlich die Erklärung »Nostra Aetate« und damit verbunden die religionstheologische Position der katholischen Kirche seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Auch explizit sind Judentum und Islam in diesem Kapitel Thema, wenn vor dem Hintergrund des von Jan Assmann ausgelösten Monotheismusstreits in einem Unterkapitel der Zusammenhang von »Religion und Gewalt« (102–111) beleuchtet und vor dem Hintergrund der verunglückten sog. »Regensburger Rede« von Papst Benedikt XVI. in Schlaglichtern referiert und zur Erarbeitung dargeboten wird. Jüdische und muslimische Stimmen kommen auch an einer anderen Stelle in diesem Unterrichtswerk zum Ausdruck, nämlich in der Auseinandersetzung mit dem trinitarischen Gottesverständnis (132). Hier findet sich ein Text von Shalom Ben Chorin zur jüdischen Trinitätskritik und eine Sure aus dem Koran, um die muslimische Perspektive auf den christlichen Glauben an den dreieinen Gott zu hinterfragen (Sure 4, Vers 171). Auch im Theodizee-Kapitel, das der Frage nach der Existenz Gottes im Angesicht von Auschwitz nicht aus dem Weg geht, finden sich jüdische Perspektiven aus entsprechenden jüdischen Quellen, so u. a. ein ausführlicher Text von Hans Joas zum Gottesbegriff nach Auschwitz (140 f.) sowie ein jüdisches Märchen zur Frage nach der Gerechtigkeit Gottes angesichts des Leidens seines Volkes (146).

2  Weitere Materialien und Medien zu Judentum und Islam Neben den zugelassenen Unterrichtswerken für den Religionsunterricht in der Sekundarstufe II gibt es noch eine Reihe Materialien und Medien, die zur Auseinandersetzung mit Judentum und Islam in der Oberstufe einladen – auch wenn ihre Zahl nicht so groß ist wie in Primar- und Sekundarstufe I. Sie werden hier in Printmedien und DVDs unterschieden. 2.1  Arbeitsbücher und Handreichungen Nicht nur im katholischen Bereich ist die Reihe »Weltreligionen. Arbeitsbücher für die Sekundarstufe II: Religion – Ethik – Philosophie« von Werner Trutwin wohl ein Klassiker, dessen jüngste Neuausgaben aus dem Jahre 2019 stammen. Seit den 1990er Jahren vielfach aufgelegt, liefern diese Themenhefte auf ca. 140 Seiten jeweils eine umfassende Einführung in das »Judentum«10 bzw. den

10 Werner Trutwin, Judentum (Weltreligionen. Arbeitsbücher für die Sekundarstufe II: Religion – Ethik – Philosophie), München 2011.

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»Islam«11, indem sie Glaubensgrundsätze, Geschichte, Gründergestalten, Offenbarungsschriften, Anthropologie, Orthopraxie und innere Vielfalt der jeweiligen Religion aufzeigen. Arbeitsanregungen, die hier noch traditionell und damit etwas antiquiert durchgängig als Fragen formuliert sind, sollen Schülerinnen und Schüler anleiten, sich mit den Inhalten auseinanderzusetzen (die Anschaffung des Heftes als Klassensatz wird dabei vorausgesetzt). Stärke wie Schwäche dieses Mediums liegen in seiner Genese und seinem Wesen: Allein von Werner Trutwin entwickelt und verfasst geben sie Zeugnis vom leidenschaftlichen Engagement eines katholischen Religionspädagogen für das interreligiöse Lernen und für die Würdigung anderer Religionen im katholischen Kontext.12 Doch die Produkte dieser Pionierleistung, die über viele Jahrzehnte wichtige Medien im Religionsunterricht darstellten, wirken unter heutigen religions­didaktischen Standards doch etwas überholt: Sie sind allein von einem christlichen Theologen verfasst, ignorieren die in der Oberstufe üblichen Operatoren für die Arbeitsanregungen und verzichten nicht nur auf jüdische oder muslimische Mitautoren, sondern auch auf Quellen aus der jüdischen oder muslimischen Theologie. Nichtsdestotrotz beeindruckt ihr Materialreichtum an Bildern und Texten unterschiedlichster Gattungen und Herkunft. Wesentlich zeitgemäßer präsentieren sich die Arbeitshefte aus der Reihe »Thema Weltreligionen«, die maßgeblich von Lars Bednorz verantwortet wird und die Arbeitsmaterialien für den Ethik- und Religionsunterricht vorhalten will. Zu »Judentum«13 bzw. »Islam«14 ist jeweils ein schmales Arbeitsheft von ca. 60 Seiten erschienen, das in fünf Kapiteln unter den Stichworten »Begegnung«, »Betrachtung«, »Ethik«, »aktuelle Problemfelder« und »aktuelle Situation« Judentum und Islam heute im Kontext unserer Gesellschaft vorstellen und diskutieren will. Diese Themenhefte sind didaktisch-methodisch aufwändig und dem aktuellen »State of the Art« entsprechend gestaltet, sie bieten schülergerechte kurze Text und eine Fülle von ausdifferenzierten Arbeitsanregungen zur Quellenerschließung. Auch wenn die Autoren alle christliche Religionslehrer sind, so haben sie sich doch zumindest die Expertise des renommierten Religionswissenschaftlers Peter Antes als Kontrollinstanz gesichert. Die Hefte müssen zudem nicht als Klassensatz angeschafft werden, sondern können als

11 Werner Trutwin, Islam (Weltreligionen. Arbeitsbücher für die Sekundarstufe II: Religion – Ethik – Philosophie), München 2010/Berlin 2019. 12 Zur Bedeutung Trutwins für die Geschichte des interreligiösen Lernens vgl. Clauß Peter Sajak, Interreligiöses Lernen (Theologie kompakt), Darmstadt 2018, 55. 13 Lars Bednorz/Gerold Necker, Judentum (Thema Weltreligionen), Stuttgart 2014. 14 Lars Bednorz/Thomas Eich, Islam (Thema Weltreligionen), Stuttgart 2011.

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Kopiervorlage dienen, eine CD-ROM mit zusätzlichen Lerntipps und Arbeitsmaterialien liegt beiden Heften bei. Ähnlich einladend und schülerfreundlich ist das Themenheft »Religionen« aus der evangelischen Reihe »Oberstufe > Religion«: Unter der Überschrift »Religionen«15 führen Hans-Jürgen Herrmann und Ulrich Löffler in das Thema Weltreligionen ein und präsentieren dabei im Rahmen einer religionsphänomenologischen Struktur u. a. Heilige Orte, Gemeinschaftsverständnis, Ethik, Leidensverständnis, Gottesbild, Menschenbild und Wahrheitsanspruch des Buddhismus, des Judentums, des Christentums und des Islams. Dabei werden alle vier Religionen im ersten Überblickskapitel knapp auf einer Doppelseite vorgestellt (Judentum: 6 f.; Islam 10 f.) und liefern dann in unterschiedlicher Weise Perspektiven in den Themenkapiteln. Alle Texte des Schülerbandes sind in der Regel Originalquellen aus den jeweiligen Religionen, denen ausführliche Verfasserangaben vorangestellt sind. Wer allerdings Arbeitsanregungen zur Erschließung der Texte sucht, der muss zusätzlich den entsprechenden Lehrerband der Reihe erwerben. Auf ein besonderes Arbeitsheft zum Thema »Islam« soll zuletzt hingewiesen werden. Die katholische Religionspädagogin Claudia Gärtner hat vor wenigen Jahren in der Reihe »EinFach Religion« ein Themenheft herausgebracht, das unter dem Titel »Interreligiöses Lernen mit Bildern: Schwerpunkt: Islam«16 Unterrichtsideen für die Auseinandersetzung mit dem Islam in den Jahrgangsstufen 10 bis 13 vorschlägt. Dabei verknüpft Gärtner ihre Expertise im Einsatz von Kunst im Religionsunterricht mit spannenden Fragestellungen, die sich durch die Begegnung mit dem Islam auf diesem Feld ergeben. So wird das Bilderverbot im Islam zum Ausgangspunkt für eine interreligiöse Diskussion um die Frage nach der Darstellbarkeit Gottes, der Legitimität von Bilderverehrung und den Konsequenzen eines strikten Bilderverbots. Dies alles wird mit zahlreichen innovativen und kreativen Unterrichtsvorschlägen und einer Fülle von Hinweisen auf klassische (Kalligrafien) wie zeitgenössische muslimische Kunstwerke verbunden.

15 Hans-Jürgen Herrmann/Ulrich Löffler, Religionen – Schülerheft (Oberstufe Religion), Stuttgart 2010. 16 Claudia Gärtner, EinFach Religion. Interreligiöses Lernen mit Bildern. Schwerpunkt: Islam – Jahrgangsstufen 10–13, Paderborn 2015.

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2.2  Filme zum Thema Judentum und Islam Wer im Unterricht neben Unterrichtswerken und Handreichungen auf visuelle Medien zurückgreifen möchte, findet zu Judentum und Islam eine ganze Reihe von hilfreichen filmischen Dokumentationen, die auf DVD leicht verfügbar sind. Zwei ganz unterschiedliche, aber dadurch auch komplementäre Einführungen in das Judentum bieten die BBC-Dokumentation »Die Geschichte der Juden«17 des renommierten jüdischen Historikers Sir Simon Schama und die »komisch-tragische Erkundung jüdischer Lebenswelten« durch die jüdische Regisseurin Ruth Olshan, die den Titel »Nicht ganz koscher«18 trägt. Dabei wird Simon Schamas fünfteilige Geschichte des jüdischen Volkes, die sich von den Anfängen der Landnahme bis in das Israel der Gegenwart erstreckt, von ihm selbst als Spiritus Rector in gewohnter BBC-Manier und -Qualität erzählt und entfaltet. Szenen aus dem Leben von Juden in den USA, Großbritannien und Israel heute bilden den Rahmen einer geschichts- und religionswissenschaftlich ausgerichteten ausführlichen Dokumentation, in der immer wieder renommierte Kollegen Schamas zu Wort kommen und er selbst als praktizierender Jude religiöse Rituale vollzieht und erklärt. Angelegt ist der Film als eine Art Road-Movie, in dem bedeutende Orte jüdischer Geschichte und jüdischer Kultur heute besucht und beleuchtet werden. Ganz anders dagegen Ruth Olshan: Wie im Titel bereits signalisiert, erhebt ihre Dokumentation keinen wissenschaftlichen Anspruch, vielmehr kommen in ihr Jüdinnen und Juden in Deutschland heute zu Wort. Selber jüdischen Glaubens, aber nicht wirklich jüdisch erzogen, macht sich die Regisseurin auf den Weg und versucht herauszufinden, was es denn eigentlich bedeutet, als gläubige Jüdin zu leben. Dabei interviewt sie sowohl liberale wie auch streng orthodoxe Juden, sie konsultiert Rabbinatsstudenten des Geiger-Kollegs in Potsdam und Professoren der jüdischen Hochschule in Heidelberg, begleitet Rabbiner und ihre Ehefrauen, befragt Köche und Gäste koscherer Restaurants in Frankfurt. Überhaupt spielen die Speiseregeln als elementarer Teil der 613 Gebote des jüdischen Gesetzes eine wichtige Rolle, um das Leben von Jüdinnen und Juden heute vorzustellen. Während Schama in der Regel feierlich mit Ernsthaftigkeit und auch Pathos die Geschichte des Judentums erzählt, herrscht in Olshans Reise zur eigenen Religion ein wunderbar heiterer, oft auch komischer Grundton, der 17 Simon Schama, Die Geschichte der Juden. – Die Kinder der Tora, Großbritannien/Deutschland 2016. 18 Ruth Olshan, Nicht ganz koscher. Eine komisch-tragische Erkundung jüdischer Lebenswelt, Deutschland 2012.

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in der Strenge der orthodoxen Observanz oft als feine Selbstironie daherkommt. In dieser ganz unterschiedlichen Tonart haben beide Filme ihre jeweilige Stärke. Auf DVD liegt auch eine klassische »Geschichte des Islam«19 vor, die als Einführung in den Glauben von Muslimen in Geschichte und Gegenwart dienen kann. Diesen Film haben Christian und Ulrich Offenberg 1999 an der Schwelle zu 9/11 gedreht, er endet bezeichnenderweise mit der Herrschaft der Taliban in Afghanistan und Pakistan. In dieser Dokumentation wird der Aufstieg und die Ausbreitung des islamischen Glaubens und der islamischen Kultur von Muhamads Auszug aus Mekka über die islamischen Eroberungen der Kalifen bis hin zur Herrschaft der Saud-Dynastie und der Islamischen Republik Iran chronologisch von einem Erzähler aus dem Off in acht Kapiteln erzählt und mit Bildern von muslimischen Menschen, islamischen Orten und historischen Stätten illustriert. An verschiedenen Stellen kommen Wissenschaftler als Kommentatoren zu Wort, u. a. Annemarie Schimmel. Außerdem wird in den ersten vier Kapiteln, die dem Leben und Wirken Muhamads gewidmet sind, die Handlung durch zahlreiche Ausschnitte aus dem Filmklassiker »Mohammed – Der Gesandte Gottes« (1976) illustriert und dramatisiert. Allerdings verleihen diese vierzig Jahre alten Filmausschnitte dem Film an diesen entscheidenden Stellen doch eine stark nostalgische und überkommene Kolorierung, welche die inzwischen recht altmodische Atmosphäre des gesamten Films leider noch verstärkt. Trotzdem lässt sich der Film vor allem mit Blick auf die Darstellung der Entstehung des Islam sinnvoll im Religionsunterricht einsetzen.

Prof. Dr. Clauss Peter Sajak ist Professor für Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts an der Universität Münster.

19 Christian Offenberg/Ulrich Offenberg, Die Geschichte des Islam. Mit einem Bonus-Film: »Die Botschaft des mystischen Islam« von Annemarie Schimmel, Deutschland 1999.

Judentum und Islam unterrichten – didaktische Konkretionen für den Berufsschulreligionsunterricht Matthias Gronover und Andreas Obermann

1 Einleitung 1.1  Bezugsrahmen: Interreligiöses Lernen Im Berufsschulreligionsunterricht ist die Interreligiosität seit Jahren ein bestimmendes Querschnittsthema, sofern die Schülerschaft an beruflichen Schulen überdurchschnittlich religiös-heterogen zusammengesetzt ist und die Lerngruppen nicht nur im Dualen System Religionsunterricht im Klassenverband erhalten. Der Berufsschulreligionsunterricht zielt von seinem Selbstverständnis neben der Erlangung einer umfassenden beruflichen Handlungskompetenz auf eine religiös-weltanschauliche Pluralitätsfähigkeit durch offen-authentischen Dialog.1 Vor dem Hintergrund dieser Voraussetzungen hat Andreas Obermann 2006 für den berufsbildenden Bereich ein dialogisches Konzept für einen Religionsunterricht »zwischen Kirchturm und Minarett« vorgeschlagen:2 Inter­ religiöses Lernen wird hier als religiöse Bildung im Klassenverband entfaltet, in dem im Idealfall auch aufseiten der Lehrkräfte die verschiedenen Religions­ gemeinschaften vertreten sein sollten (Team-Teaching) und berufsspezifisch die handlungsorientierte Gewichtung durch die Werkstätten an Beruflichen Schulen integriert wird. Daneben ist das sogenannte »Offenbacher Modell« zu nennen, das unter Federführung von Caroline Winter und Stephan Pruch­niewicz in ähnlicher Weise die Situation beruflicher Schulen nutzt, um ein interreligiöses Lernen in die berufliche Bildung zu integrieren.3 1

Vgl. die Denkschrift des Kirchenamts der EKD (Hg.), Religiöse Orientierung gewinnen. Evangelischer Religionsunterricht als Beitrag zu einer pluralitätsfähigen Schule, Gütersloh 2014. 2 Vgl. Andreas Obermann, Religion unterrichten zwischen Kirchturm und Minarett. Perspektiven für einen dialogisch-konfessorischen Unterricht der abrahamischen Religionsgemeinschaften an berufsbindenden Schulen (Christentum und Islam im Dialog 8), Münster 2006. 3 Vgl. Matthias Gronover/Carolin Simon-Winter/Stephan Pruchniewicz, Das Schulprojekt »Verschiedenheit achten – Gemeinschaft stärken«. Religionspädagogische, schulpraktische und theologische Einordnungen, in: Dialogischer Religionsunterricht. Positionen, Kontroversen und Perspektiven, in Vorb. Vgl. auch https://ths.schulen-offenbach.de/unsere-schule/auszeichnungen (Zugriff am 27.03.2020).

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Matthias Gronover und Andreas Obermann

Grundsätzlich ergeben sich an Berufsschulen zwei berufsspezifische Wege interreligiösen Lernens:4 Der gemeinsame Zielhorizont der beruflichen Handlungsfähigkeit eröffnet (1.) die Chance gemeinsamen Arbeitens zu Fragen einer Religionsdidaktik in verschiedenen Religionsgemeinschaften. Gemeinsam kann der Frage nachgegangen werden, wie die zu erwerbenden Kompetenzen unabhängig von der Religionszugehörigkeit der Schülerinnen und Schüler didaktisch operationalisiert werden können (z. B. bei der Wahrnehmungs- und Deutungskompetenz heiliger Schriften). So können alle Schülerinnen und Schüler das ihnen Gemeinsame reflektieren und werden nicht unmittelbar durch religiöse Zugehörigkeiten, Einstellungen, Sozialisationen oder Zuschreibungen getrennt. Der Berufsschulreligionsunterricht wird durch die Kompetenzorientierung gewissermaßen »entkonfessionalisiert« und »entreligionisiert«, sofern die religionsspezifischen Inhaltsaspekte der Religionen und Konfessionen primär nicht als Faktoren der Trennung und Scheidung fungieren, sondern als positionelle Inhalte im interreligiösen Bezugsrahmen. Interreligiöses Lernen führt (2.) durch die Reflexion materialer und kategorialer Berufsbezüge zu neuen Deutungen des Verhältnisses von Religion und Beruf (Beruflichkeit), die wiederum allen Religionsgemeinschaften gleichsam als Herausforderung begegnen.5 Das didaktische Feld der Beruflichkeit eröffnet unabhängig von religiösen Einstellungen und Zuschreibungen einen gemeinsamen Rahmen des Fragens und führt in einem ersten Schritt Schülerinnen und Schüler durch einen subjektiven Zugang in interreligiösen Lernprozessen zusammen. In einem folgenden Schritt werden durch religiöse Interpretamente zur Beruflichkeit die Reflexionen über Gemeinsamkeiten und Unterschiede von religiösen Inhalten der Religionen eingeleitet und können zu einer je spezifischen Profilierung der Religionen bzw. zu subjektiv religiösen Positionalitäten führen. 1.2  Ausgewählte empirische Befunde Der Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen stellt sich in der Praxis der Herausforderung, in sehr heterogenen Klassen stattzufinden. Diese Hetero­ genität bezieht sich vor allem auf die soziale Herkunft, Leistungsfähigkeit und Religionszugehörigkeit. Insbesondere religiöse Heterogenität kann im konfes4 Vgl. zum Folgenden Andreas Obermann, Interreligiöses Lernen an berufsbildenden Schulen – Begründungen, didaktische Herausforderungen und Entwicklungen, in: Andreas Biewald/Bernd Schröder/Wilhelm Schwendemann (Hg.), Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen. Ein Handbuch, Göttingen 2018, 362–377. 5 Vgl. Andreas Obermann, Religion trifft Beruf – zur Didaktik des Berufsschulreligionsunterrichts (Glaube – Wertbildung – Interreligiosität 14), Münster 2018.

Judentum und Islam unterrichten – didaktische Konkretionen

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sionsgebundenen Religionsunterricht nur sichtbar werden, wenn die Differenz zwischen Religionen religionsdidaktisch gewendet wird. Religiöse Differenzen (positionelle, stilistische, biografische und kontextuelle) sind über die Auszubildenden im Unterricht präsent und die religions­ didaktische Reflexion sowie Durchführung von Unterricht sollte darauf zielen, im Sinne der Subjektorientierung mit den Differenzen zu arbeiten und dabei zentrale Aspekte im Berufsleben einzubringen. Denn die benannten religiösen Differenzen werden in der konkreten Begegnung der Auszubildenden oder Schülerschaft untereinander sichtbar. Deswegen ist diese Dimension religiöser Bildung nie nur abstrakt, sondern sehr anschaulich präsent. Das spiegelt die Arbeitswelt, die ebenso von religiöser Heterogenität geprägt ist. Für Pflegeberufe wurde der Befund in Praxismaterial umgesetzt und empirisch überprüft.6 Am Beispiel der Pflegeausbildung zeigt sich, dass in der Berufsschule Ansätze interreligiösen Lernens didaktisch so verarbeitet werden, dass die eigene Religion und eigene Werthaltungen vor dem Hintergrund der je anderen Religion profiliert werden. In der Pflegeausbildung geht es dabei vorrangig um die kulturellen Eigenheiten muslimischer Menschen, die in Pflege­ einrichtungen leben. Das Lernen zielt auf die Verständigung und Dialogfähigkeit zwischen den Religionen, was auch die bleibende Andersartigkeit in der Begegnung einschließt. Das Pflegeprojekt konnte unter anderem zeigen, dass beim interreligiösen Lernen Perspektivenübernahme eine zentrale Komponente ist. Der bekenntnisgebundene Unterricht wird dieser Herausforderung vor allem aus zwei Gründen gerecht: zum einen, weil mit der Religionslehrkraft eine theologisch geschulte Gesprächsführung gegeben ist, die Differenzen zwischen den Religionen benennen und Gemeinsamkeiten hervorheben kann. Das ist für die Lernprozesse wichtig, weil es nicht darum geht, eine Religion gegen die andere auszuspielen. Zum anderen ist der Religionsunterricht in berufsbildenden Schulen ein safe space, der den offenen Austausch der Schülerinnen und Schüler miteinander und mit ihnen auch oftmals der Religionen untereinander auf Augenhöhe ermöglicht. In dem Sinn wird der Religionsunterricht in berufsbildenden Schulen heterogenitätssensibel agieren und die religionsdidaktischen Anforderungen an interreligiöse Lernprozesse mit den Anforderungen der Berufsorientierung und Lebensweltorientierung der Subjekte gut vernetzen müssen. Danach

6 Vgl. dazu das Praxismaterial: Heinrich Merkt u. a. (Hg.), Ethische und interreligiöse Kompetenzen in der Pflege. Unterrichtsmaterialien für die Pflegeausbildung, Göttingen 2014; vgl. die empirische Überprüfung bei Heinrich Merkt/Friedrich Schweitzer/Albert Biesinger (Hg.), Interreligiöse Kompetenz in der Pflege. Pädagogische Ansätze, theoretisch Perspektiven und empirische Befunde (Glaube – Wertebildung – Interreligiosität 7), Münster 2014.

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sind auch die Unterrichtsmaterialien für diesen Religionsunterricht – bei aller Unterschiedlichkeit der Ausrichtung – in der Regel konzipiert.7 Die in empirischer Forschung erprobte Umsetzung arbeitet mit sogenannten Anforderungssituationen. Diese sollen die Auszubildenden im Sinn einer heraus­ fordernden und alltagsrelevanten Problemstellung motivieren, sich anhand von gegebenem Material eine Lösung zu erarbeiten. Solche Anforderungssituationen durchziehen eine ganze Unterrichtseinheit und weisen oft mehrere Möglichkeiten korrekter Lösungen auf. In einer großen Studie wurden zwei Unterrichtseinheiten entwickelt, die thematisch vollkommen unterschiedlich ausgerichtet waren. Eine Unterrichtseinheit wies einen klaren Berufsbezug auf und behandelte das Thema »islamische Banken«; eine andere Unterrichtseinheit entfaltete das Thema »Religionen und Gewalt« ohne Berufsbezug. Das Studiendesign war so angelegt, dass durch einen mehrfach qualifizierten Fragebogen die Schülerinnen und Schüler in kaufmännischen Klassen vor (t1) und nach (t2) der Erteilung der Unterrichtseinheit befragt wurden. Die teilnehmenden Lehrkräfte (insgesamt 65 in 106 untersuchten Klassen mit ca. 2100 Auszubildenden) wurden genau instruiert, wie die Einheit zu unterrichten sei, damit die Vergleichbarkeit gewährleistet war. Eine Kontrollgruppe diente dazu, Messfehler auszuschließen. In der Studie zeigte sich, dass die Einheit mit Berufsbezug (islamische Banken) keinen signifikant messbaren Kompetenzzuwachs im Vergleich zu anderen Einheiten aufwies. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist ein Komponentenmodell religiöser Kompetenz. Religiöse Kompetenz setzt sich aus den Komponenten Perspektivenübernahme, religiöses Wissen und Einstellungen der Auszubildenden zusammen. Einstellungsveränderungen konnten nicht festgestellt werden, sehr wohl aber der Erwerb religiösen Wissen und auch eine Verbesserung der PerspektivenÜbernahme. Letztere ist allerdings abhängig vom Erwerb religiösen Wissens; diejenigen Schülerinnen und Schüler, die kein religiöses Wissen oder nur niederschwellig mehr religiöses Wissen erworben hatten, wiesen keinen oder nur eine sehr geringe Fähigkeit zur Perspektivenübernahme auf.

7 Vgl. Kristina Augst u. a., Reli plus – Evangelische Religion. Berufliche Schulen, Stuttgart/Leipzig 2017; Simone Hiller u. a. (Hg.), Technik – Leben – Religion. Materialien für kompetenzorientierten Religionsunterricht in technischen Ausbildungsberufen, Göttingen 2015.

Judentum und Islam unterrichten – didaktische Konkretionen

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2  Materialien und Medieneinsatz 2.1 »Judentum« und »Islam« in Schulbüchern und Materialbänden zur beruflichen Bildung Aufgrund religiös-heterogener Lerngruppen an berufsbildenden Schulen und ihrer religiös-weltanschaulichen Zusammensetzung sind interreligiöse Aspekte in Schulbüchern und Lehrmaterialien in großer Mehrzahl christlich-islamisch geprägt, entsprechend kommen Beiträge zum Judentum seltener vor. Schulformspezifische Materialien sind hauptsächlich fokussiert auf den Zusammenhang von Religion und Beruf. Dezidiert Materialien zum Judentum wie zum Islam für berufliche Schulen gibt es nicht, hier greifen Kolleginnen und Kollegen auf Materialien der Sek. II allgemeinbildender Schulen zurück. Im Folgenden seien einige Schulbücher und Materialien im Blick auf das Judentum und den Islam dargestellt. Das evangelische Schulbuch »reli plus für berufliche Schulen« (2017) nimmt die interreligiöse Dimension der religiösen Bildung als Querschnittsaufgabe wahr, d. h., zu einzelnen Themenkomplexen wird, wenn passend, die interreligiöse Dimension eingespielt.8 Die beiden Bände »Katholische/Evangelische Religionspädagogik für sozialpädagogische Berufe« nehmen das interreligiöse Lernen als berufliche Querschnittsdimension und gegenwärtige Herausforderung für sozialpädagogische Berufe auf.9 Gerade im Erziehungsbereich ist aufgrund der demografischen Entwicklung die Frage des religionssensiblen Umgangs mit religiöser Pluralität wichtig, weshalb die Dimension des Interreligiösen in beiden Büchern immer wieder berufs- und damit praxisorieniert in den Duktus und die verschiedenen Themenkreise (z. B. Feste, Jahreslauf; Gespräch der Religionen) eingearbeitet wird. Ein dezidiert interreligiöses Lehrmaterial ist in der Reihe »RU praktisch – Berufliche Schulen« unter dem Titel »Jenseitsvorstellungen in Judentum, Christentum und Islam. Unterrichtsbausteine für berufsbildende Schulen« (2017) 8 Vgl. Augst u. a., Reli plus. Das Schulbuch »Kursbuch Religion – Berufliche Schulen«, hrsg. v. Wolfram Eilerts, Stuttgart/Braunschweig 2013, hingegen hat das Thema Judentum und Islam nicht in die Kapitel integriert, sondern behandelt andere Religionen nach dem Muster der »Weltreligionenkunde« knapp in einem gesonderten Kapitel. 9 Während das evangelische Buch 2019 in 3. Auflage erschienen ist (K. Peter Henn/Johan La Gro/Andreas Obermann (Hg.), Evangelische Religionspädagogik für sozialpädagogische Berufe, Köln 32019), ist das katholische Buch (Matthias Hugoth/Angela Kaupp (Hg.), Katholische Religionspädagogik für sozialpädagogische Berufe, Köln 2015) in erster Auflage 2015 erschienen.

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erschienen.10 In dem Band hat das interreligiöse Autorinnenteam Hoffnungs­ bilder angesichts des Todes je authentisch aus den drei monotheistischen Religionen dargestellt. Die religionsspezifischen Standpunkte werden deutlich markiert miteinander ins Gespräch gebracht und Auszubildende kognitiv zur Stellungnahme und zur Diskussion aktiviert. Ebenso interreligiös angelegt ist der Band »Ethische und interreligiöse Kompetenzen in der Pflege. Unterrichtsmaterialien für die Pflegeausbildung«.11 Hier wird darauf reagiert, dass die berufliche Kommunikationskompetenz von Pflegeberufen ein hohes Maß an Kultur- und Religionskenntnis und eine hohe Sensibilität an religiöser Deutungskompetenz voraussetzt, sodass interreligiöse Kompetenzen bei diesen Berufsgruppen zu einer höheren beruflichen Handlungsfähigkeit beitragen. In der Reihe werden auch immer wieder interreligiöse Fragen und Anliegen je passend zu den Heftthemen angesprochen: So thematisieren Hiller u. a. in »Technik – Leben – Religion. Materialien für kompetenzorientierten Religionsunterricht in technischen Ausbildungsberufen« in zwei Modulen dezidiert problemorientiert Aspekte zum Islam:12 Modul 5 »Salafisten hosten« und Modul 6 »eine Moschee entsteht«. Gleichfalls aus christlicher Perspektive weiten Märkt u. a. in dem Band »Bibel – etwas für mich?« am Ende unter der Frage »Steht in Bibel und Koran dasselbe?« das Thema interreligiös.13 In diesem Band werden ohne besondere Nennung überall dort, wo Texte der Hebräischen Bibel thematisiert werden, auch Aspekte des Judentums zu Inhalten gemacht. Eine explizite Auseinandersetzung mit dem Judentum erfolgt nicht.14 2.2  Religionsdidaktische Konventionen Wie sich im obigen Abschnitt zeigte, bieten Schulbücher und Materialien eine Fülle von Perspektiven auf religiöse Themen. Das zeichnet sich nicht zuletzt bei den Themen Judentum und Islam ab, ist aber an berufsbildenden Schulen keineswegs darauf beschränkt. Der Religionsunterricht stellt sich den bildungs10 Vgl. Monika Marose u. a., Jenseitsvorstellungen in Judentum, Christentum und Islam. Unterrichtsbausteine für berufsbildende Schulen, Göttingen 2017. 11 Vgl. Merkt u. a. (Hg.), Ethische und Interreligiöse Kompetenzen. 12 Vgl. Hiller u. a. (Hg.), Technik – Leben – Religion. 13 Vgl. Claudia Märkt/Hanne Schnabel-Henke/Friedrich Schweitzer, Bibel – etwas für mich? Unterrichtsbausteine für berufsbildende Schulen (RU praktisch – Berufliche Schulen), Göttingen 2014. 14 Themen in interreligiöser Perspektive zu Judentum und Islam finden sich zudem in zwei Magazinen, dem katholischen »Religionsunterricht an beruflichen Schulen« ( = rabs: www.v-kr.de/rabs) und dem evangelischen »BRU-Magazin. Magazin für den Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen« (www.bru-magazin.de).

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politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen meist sehr unmittelbar und kann deswegen zurecht als Laboratorium für entsprechende Problem­lösung angesehen werden.15 Es gibt allerdings einige Konventionen, an denen sich religionsdidaktische Entwürfe orientieren. Kompetenzmodelle: Die religionspädagogische Kompetenzdiskussion spiegelt sich auch in der Diskussion von Leitprinzipien innerhalb der berufsorientierten Religionspädagogik. Die Metrisierung der Lehr-Lernprozesse ist genauso Kritikpunkt wie die Ökonomisierung von religiöser Bildung.16 Das »Eigentliche« der religiösen Bildung ging verloren bzw. wurde »depotenziert«.17 Die EKD hat im Jahr 2018 »Kompetenzen und Standards für den evangelischen Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen« veröffentlicht, die vom Deutsche Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen (DQR) ausgehend ein spezifisches Kompetenzmodell für den Evangelischen Berufsschulreligionsunterricht darstellen und interreligiös orientiert sind.18 Gleichzeitig ist der Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen wie die anderen Fächer in der Schulart verpflichtet, einen Beitrag zur »beruflichen Handlungsfähigkeit« (§ 1 Berufsbildungsgesetz) zu leisten. Die Vermittlung von Fähigkeiten und Fertigkeiten soll kognitive und erfahrungsorientierte Zugänge zu Themen ermöglichen. Kompetenzorientierung im Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen wurde deswegen auch unter dem Aspekt der Handlungsfähigkeit diskutiert. Handeln wird in den Modellen als verantwortetes Tun gegenüber dem eigenen Leben, der Gesellschaft und Schöpfung verstanden.19 Dabei geht es nie um eine direkte und glatte Übersetzung von Handlungskompetenz in Sinnstiftung, sondern um die Bewährung von Handlungsoptionen in den Kontexten von privatem Leben, Gesellschaft und Beruf. Die

15 Vgl. Bernhard Grümme, Mit Heterogenität konfrontiert. Der BRU als Laboratorium einer zukunftsfähigen Religionspädagogik, in: rabs 3 (2017), 13 f. 16 Vgl. Andreas Hellgermann, kompetent. flexibel. angepasst. Zur Kritik neoliberaler Bildung, Münster 2018. 17 Bernd Schröder, Kompetenzorientierung. Zweck oder Mittel der Verbesserung des Religionsunterrichts?, in: Rainer Möller/Clauß Peter Sajak/Mouhanad Khorchide (Hg.), Kompetenzorientierung im Religionsunterricht: Von der Didaktik zur Praxis, Münster 2014, 181–194, hier 181. 18 Vgl. Kirchenamt der EKD (Hg.), Kompetenzen und Standards für den evangelischen Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen. Ein Orientierungsrahmen, Hannover 2018. 19 Vgl. Albert Biesinger/Aggi Kemmler/Joachim Schmidt, Religiöse Kompetenz – ein Definitionsangebot für den Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen, in: Albert Biesinger u. a. (Hg.), Kompetenzorientierung im Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen (Glaube – Wertebildung – Interreligiosität 5), Münster 2014, 19–26.

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Bewährungen schließen aus theologischer Perspektive Brüche und Verletzungen des Lebens ein.20 Damit ist ein zweiter Aspekt benannt, der religionsdidaktisch in der Regel beachtet wird. Berufsorientierung religiöser Bildung meint die Verschränkung des Lebens mit der Arbeitswelt. Auszubildende deuten ihre Arbeit als sinnstiftend und lernen, dass Arbeitszeit Lebenszeit ist, das Leben aber nicht vollständig im Broterwerb aufgeht.21 Theologisch wird die Ambivalenz der Arbeit zwischen Mühsal und Erfüllung deutlich.22 Während die Berufsorientierung von Schülerinnen und Schülern Aufgabe der allgemeinbildenden Schulen ist,23 vernetzt der Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen religiöse Bildung mit beruflicher Bildung. Die religionsdidaktische Vermittlung zwischen religiöser Bildung und Beruf geschieht durch Anforderungssituationen.24 Problemhaltige, für die private, gesellschaftliche oder berufliche Lebenswelt typische Situationen sollen den Auszubildenden einen Anlass geben, selbständig Informationen zu ver- und Lösungswege zu erarbeiten.

3 Ergebnis Der Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen stellt sich den Herausforderungen einer differenzierten Weltgesellschaft, die durch Individualisierungs-, Ökonomisierungs- und Migrationsprozesse vielfältig gefordert wird. Die Interreligiosität und deren Herausforderungen ist ein Spezifikum der globalen und nationalen Ausdifferenzierung, für deren Thematisierung dem Berufsschulreligionsunterricht eine spezifische und bedeutende Rolle zukommt. Entsprechend wurden in der Vergangenheit Materialien (und Theoriewerke) entwickelt, die durch Anforderungssituationen und (teilweise niveaudifferenzierte) 20 Vgl. Kirchenamt der EKD (Hg.), Orientierung, 70. 21 Vgl. Andreas Obermann, Im Beruf Leben finden. Allgemeine Bildung in der Berufsbildung – didaktische Leitlinien für einen integrativen Bildungsbegriff im Berufsschulreligionsunterricht (Arbeiten zur Religionspädagogik 55), Göttingen 2013. 22 Vgl. Karl Kardinal Lehmann, Theologie der Arbeit, in: Reinhold Boschki u. a. (Hg.), Person – Persönlichkeit – Bildung. Aufgaben und Möglichketen des Religionsunterrichts an beruflichen Schulen (Glaube – Wertebildung – Interreligiosität 11), Münster 2017, 13–29. 23 Vgl. Matthias Gronover, Art. Berufsorientierung, in: WiReLex (2017), https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100302/ (Zugriff am 27.02.2020). 24 Vgl. Aggi Kemmler, Bedeutung und Ausgestaltung von Anforderungssituation im Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen, in: Albert Biesinger u. a. (Hg.), Kompetenzorientierung im Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen (Glaube, Wertebildung, Interreligiosität 5), Münster 2014, 35–41.

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Aufgabenstellungen explizit der religiösen Heterogenität der Auszubildenden und der beruflichen Anforderungen Rechnung tragen. Dabei ist es der Beruflichkeit und der im berufsbildenden Bereich schon lange praktizierten Kompetenzorientierung geschuldet, dass der Schwerpunkt der Materialien zum Judentum und Islam im Berufsschulreligionsunterricht fach- und sachbezogen in die beruflichen Lern- und Handlungsfelder integriert ist, berufsorientiert entwickelt bzw. konzipiert und nicht allgemein in separaten Einzelwerken behandelt wird. Der Unterricht von Judentum und Islam ist damit kein Thema an und für sich, sondern immer in berufliche Handlungsabläufe integriert, sodass es das interreligiöse Lernen seit Langem verdient, als eine der bedeutsamen Querschnittsaufgaben der berufsorientierten Religionspädagogik bezeichnet zu werden.

Prof. Dr. Matthias Gronover ist stellv. Leiter des Katholischen Instituts für berufsorientierte Religionspädagogik (KIBOR) an der Universität Tübingen. Prof. Dr. Andreas Obermann ist stellv. Direktor des Bonner evangelischen Insti­tuts für berufsorientierte Religionspädagogik (bibor) an der Universität Bonn.

Bilanz

Judentum und Islam unterrichten – Forschungserträge und Unterrichtsimpulse Bernd Schröder

»Interreligiöses Lernen« gehört zu den Top-Themen der Religionspädagogik in den letzten 25 Jahren.1 Seit Stephan Leimgruber 1995 unter diesem Titel eine bündelnde Darstellung vorgelegt hat und Johannes Lähnemann 1998 eine erste »Evangelische Religionspädagogik in interreligiöser Perspektive« folgen ließ,2 ist eine Fülle von Grundlagenwerken erschienen: Grundlegende Bildungsaufgaben, didaktische Prinzipien, methodische Arrangements und auch organisatorische Erfordernisse bzw. Möglichkeiten werden darin ausgeleuchtet.3 Die Religionspädagogik als Theoriekomplex stellt sich in dieser Hinsicht mittlerweile weithin sensibilisiert und aufgeklärt dar – auch wenn manche Konsequenzen, etwa die Frage nach einer entsprechenden Organisationsform des schulischen Religionsunterrichts, nach wie vor strittig sind, und die verschiedenen Lernorte, auf die Religionspädagogik Bezug nimmt, im Blick auf interreligiöses Lernen in sehr unterschiedlichem Maße bedacht werden. Allerdings: Kaum eine Grundlegung interreligiösen Lernens nimmt einzelne Religionen und deren Angehörige als spezifisches Gegenüber oder als spezifischen 1 Vgl. zur Karriere dieses Themas etwa die Literaturberichte von Günter R. Schmidt, Konvergenzen – Divergenzen. Religionspädagogik seit 1998, in: Theologische Rundschau (ThR) 73 (2008), 435–469 und 74 (2009), 63–95, sowie Bernd Schröder, Religionspädagogik – mehr als Fachdidaktik Religion. Ein Literaturbericht 2009–2017, in: ThR 82 (2017), 343–375 und 83 (2018), 25–91. 2 Stephan Leimgruber, Interreligiöses Lernen, München 1995, und Johannes Lähnemann, Evangelische Religionspädagogik in interreligiöser Perspektive, Göttingen 1998. 3 Im gleichen Jahr wie Johannes Lähnemanns Publikation erschien Karl Ernst Nipkow, Bildung in einer pluralen Welt, 2 Bde., Gütersloh 1998, in dem (religiöse) Pluralität programmatisch als Schlüsselherausforderung religionspädagogischer Theoriebildung entfaltet wurde. Vgl. darüber hinaus Joachim Willems, Interreligiöse Kompetenz: theoretische Grundlagen – Konzeptualisierungen – Unterrichtsmethode, Wiesbaden 2011; Mirjam Schambeck, Interreligiöse Kompetenz. Basiswissen für Studium, Ausbildung und Beruf, Göttingen 2013; Friedrich Schweitzer, Interreligiöse Bildung. Religiöse Vielfalt als religionspädagogische Herausforderung und Chance, Gütersloh 2014; Georg Langenhorst, Trialogische Religionspädagogik. Inter­religiöses Lernen zwischen Judentum, Christentum und Islam, Freiburg i. Br. 2016; Bernhard Grümme, Heterogenität in der Religionspädagogik. Grundlagen und konkrete Bausteine, Freiburg i. Br. 2017; Clauß Peter Sajak, Interreligiöses Lernen, Darmstadt 2018; Karlo Meyer, Grundlagen interreligiösen Lernens, Göttingen 2019.

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Gegenstand in den Blick: Vielmehr dominiert das Verallgemeinerungsfähige des Interreligiösen in der Regel die Besonderheiten des Einzelfalls. Diese Beobachtung gibt Anlass, unbeschadet der sehr erfreulichen steigenden Wertschätzung interreligiöser Bildung (so der konzeptionelle Akzent Friedrich Schweitzers) in diesem Band exemplarisch unter die Lupe zu nehmen, wie denn speziell Judentum und Islam – am Beispiel des schulischen Religionsunterrichts – behandelt werden und zu behandeln sind. Somit dreht dieser Band die weithin üblich gewordene Blickrichtung um und schaut zunächst auf Judentum und Islam als konkrete, enorm facettenreiche, vitale Religionen. Ergeben sich von daher Einsichten, Erfordernisse und Kritiken am Konzept des interreligiösen Lernens? Im Einzelnen rücken dabei etliche didaktische Herausforderungen auf die Agenda, darunter die folgenden: Ȥ Traditionell stehen Judentum und Islam in den Lehrplänen des evangelischen wie des katholischen Religionsunterrichts obenan. Ihre Thematisierung gehört zur Obligatorik, nicht selten werden sie bereits in der Grundschule behandelt, dann auf jeden Fall im Laufe der Sekundarstufe I und bisweilen erneut in der gymnasialen Oberstufe. Hat sich durch die Blüte des interreligiösen Lernens an deren unterrichtlicher Behandlung etwas geändert? Was sollte sich ändern? Ȥ Judentum und Islam sind auf je ihre Weise im gesellschaftlichen Diskurs in hohem Maße präsent, beide – bei aller Unterschiedlichkeit – nicht zuletzt durch zutiefst besorgniserregende Vorkommnisse und Konstellationen: Ausweislich empirischer Erhebungen4 sind bei vielen Menschen Redensarten, Denkmuster, Handlungsdispositionen zu finden, die als »antisemitisch« gelten müssen – immer wieder schlägt dies in gewalttätige Übergriffe gegen Jüdinnen und Juden oder jüdische Einrichtungen um. Auch gegenüber Muslima und Muslimen kommen rassistische und islamfeindliche Einstellungen zum Tragen, ganz gleich, ob sie deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, Migrantinnen oder Flüchtlinge sind. Ist Religionsunterricht ein Ort der Prävention oder des Widerstands gegen Antisemitismus und Islamfeindlichkeit? Könnte er es sein? Ȥ Judentum und Islam haben in Deutschland eine sehr lange bzw. lange, facettenreiche Geschichte: Im Falle des Judentums reicht diese bis in die Antike zurück, im Falle des Islam cum grano salis bis in die frühe Neuzeit.5 Die jüngere Ver4 Vgl. unten Anm. 12. 5 Vgl. Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, hg. im Auftrag des Leo-Baeck-Instituts von Michael A. Meyer, 4 Bde., München 1996/97, sowie Michael Brenner (Hg.), Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart, München 2012, und Matthias Rohe, Der Islam in Deutschland, München (2016) 22018.

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gangenheit lässt erfreuliche und – bedenkt man sie vor dem Hintergrund der Schoah – unerwartbare Entwicklungen erkennen: Das Judentum gewinnt in Deutschland seine innere religiöse und kulturelle Pluralität zurück, Jüdinnen und Juden erschließen sich Deutschland wieder als lebenswerten Ort, im Zeichen des christlich-jüdischen Dialogs kommen fruchtbare Wechselbeziehungen zur Geltung. Der Islam, zahlenmäßig weitaus stärker in Deutschland vertreten, stellt sich ebenfalls plural dar und bewegt sich in der Spannung zwischen Identität und Akkulturation – nicht zuletzt im Ringen um die Etablierung eines islamischen Religionsunterrichts in der Schule. Gibt christlicher Religionsunterricht Schülerinnen und Schülern angemessen Einblick und Anteil an diesen Prozessen? Kann er religiöse Pluralität als Reichtum erfahren lassen? Ȥ Aus christlich-theologischer Perspektive stellen sich die Beziehungen zu Judentum und Islam je besonders und gerade auch im Vergleich miteinander asymmetrisch dar – und jedenfalls nicht als austauschbare Exempla aus dem Netz interreligiöser Globalisierung. Christlicher Glaube und christliche Theologie können – historisch wie systematisch – nicht anders gedacht werden als »verwurzelt« in der Verheißungsgeschichte Gottes mit dem biblischen »Israel« und »verschwistert« mit dem Judentum; im Islam hingegen begegnet dem Christentum eine jüngere, zwar auf dieselben Wurzeln Bezug nehmende, ihm jedoch kritisch und – durchaus – überbietend gegenübertretende Religion. Kommen solche theologischen Grundkonstellationen in Lehr-Lern-Prozessen fruchtbar zum Tragen? Werden die Beziehungen des Christentums zu Judentum und Islam als je besondere erschlossen? Vor dem Hintergrund solcher Fragen lese ich die Beiträge dieses Bandes. Nicht deren Informationsgehalt will ich rekapitulieren, sondern Impulse für das unterrichtliche Handeln und das religionspädagogische Reflektieren, die sich daraus ergeben.

1  Individualität wahrnehmen und sichtbar machen Diesem Band voran stehen zwei »Schlaglichter« von Alisa Bach und Jörg Ballnus, die von großem persönlichen Mut zeugen und höchst individuelle, nicht verallgemeinerbare Zugänge zum Muslim-Werden und zum Als-Jüdin-in-­ Deutschland-Leben schildern. Bei der Lektüre ist zu spüren, was der Blick auf einen solch individuellen religiös geprägten Lebens- und Lernweg an Lernprozessen initiieren kann: die Lust am Nach- und Weiterfragen, die Irritation über manche ungewohnte Sichtweise,

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die Erinnerung an die Vergangenheit jüdischen wie muslimischen Lebens in Deutschland, das Interesse an weiteren, in Differenz und Übereinstimmung vergleichbaren Viten, nicht zuletzt die Rückfrage an jede Leserin und jeden Leser: Wie würde ich meine eigene Lebensgeschichte und deren religiöse Signatur darstellen? Nicht wenige didaktische Konzepte interreligiösen Lernens betonen den Blick auf einzelne Angehörige anderer Religionen als Lern-»Gegenstand« – das aus England adaptierte Modell des Peer-Lernens etwa oder auch das Konzept des »interreligiös-dialogischen Lernens«, das dem Hamburger Weg des Religionsunterrichts zugrunde liegt – und auch die Berücksichtigung der Lernenden als Individuen mit je nach Kontext besonderer Wahrnehmung und Haltung den unterrichtlich thematisierten Religionen gegenüber. Karlo Meyer bringt dies mit der Rede vom »doppelten Individuenrekurs« auf den Begriff. Wer das Individuelle an Judentum und Islam betont, kann und soll sich zugleich ermutigt sehen, dies auch in der je eigenen Religionsgemeinschaft wahrzunehmen und gelten zu lassen: sowohl bei Schülerinnen und Schülern als auch bei Religionslehrerinnen und -lehrern. Die von Art. 7.3 GG geforderte transparente, reflektierte Positionalität des Religionsunterrichts lebt davon, dass Lehrende den Mut haben, bei passender Gelegenheit in ihrer Rolle als Religionslehrende, aber durchaus auch als Personen erkennbar zu werden, sie lebt auch davon, die Schülerinnen und Schüler zu existenzieller, d. h. persönlicher Auseinandersetzung herauszufordern.

2 Pluralität ernst nehmen und pluralismusfreundlich unterrichten Das komplementäre Phänomen zur Individualität ist die Pluralität. Das ist hinlänglich bekannt, und doch bleibt es eine Herausforderung, dem im eigenen Reden und Unterrichten Rechnung zu tragen. Unterricht muss Grundlinien herausarbeiten und begreiflich werden lassen, aber er muss eben auch die Überhänge, das Inkommensurable, die nicht einhegbare Pluralität bewusstmachen. Das leisten Beiträge dieses Bandes in unterschiedlicher Weise: Im Falle des »Islams« informiert Tarek Badawia über das Selbstverständnis des sunnitischen Islams als in sich pluraler Strömung. Seine Darstellung fungiert zugleich als Platzhalter für sachlich gebotene Skizzen etwa zum schiitischen Islam und anderen Strömungen, die nicht in eigenen Beiträgen zur Sprache kommen. Handan Aksünger-Kizil schildert ergänzend Grundlagen des Alevitentums und dessen Akkulturation an eine freiheitliche Gesellschaft wie die bundesrepublikanische. Im Falle des Judentums übernimmt Walter Homolka die Aufgabe, die Pluralität

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des Judentums vor Augen zu stellen, er betont u. a., dass sich diese Pluralität seit einigen Jahren auch in Deutschland wieder immer mehr abbildet. Dementsprechend stellt sich auch »jüdisches Denken« – die Sache und den Begriff einer jüdischen Theologie machen sich nur wenige Jüdinnen und Juden zu eigen – plural dar: Micha Brumlik bietet eine urteilsfreudige Binnensicht auf diese Pluralität am Beispiel einzelner Intellektueller wie am Beispiel der großen Strömungen, namentlich Reformjudentum und Orthodoxie. Yasemin ElMenouar berichtet weniger über inhaltliche Differenzen und Entwicklungen in der im Entstehen befindlichen islamischen Theologie im deutschsprachigen Raum als vielmehr von deren institutionellen Grundlagen. Der Religionssoziologe Gert Pickel zeigt – eine uns Herausgebenden wichtige Erweiterung des Blickes –, dass Judentum und Islam in Deutschland keines­ wegs nur in religiöser Hinsicht plural sind, sondern auch in sozialer. Er vermutet, dass das Judentum in Deutschland durch Zuwanderung derzeit eine Entwicklung hin zur »sozialstrukturellen Normalverteilung« erfährt und viele Muslime zwar noch einen unterdurchschnittlichen sozioökonomischen Status haben, die soziale Aufstiegsaspiration jedoch wächst. Aus soziologischer Perspektive kommt er zudem auf Antijudaismus und Islamophobie zu sprechen: Diese gefährden nicht nur soziale Kohäsion und Religionsfreiheit sowie, nicht zuletzt, das Wohl­befinden von Jüdinnen und Juden, Muslimen und Muslima in Deutschland, sie spiegeln eben auch die Persönlichkeit und (nicht selten) die soziale Lage derer, die sich antijüdisch oder islamophob äußern (»sekundärer Antisemitismus« und »Bedrohungsangst« seien als Stichworte in Erinnerung gerufen) oder gar gewalttätig werden. Die angesichts von Pluralität erforderliche Orientierung und Selbstvergewisserung erzeugt akkulturativen Stress. Dieser wird zwar in der Regel konstruktiv bearbeitet – und jeder Religionsunterricht, der pluralitätsfreundlich ist und zum Pluralismus befähigen will, soll und kann genau das befördern –, er läuft jedoch stets Gefahr, sei es durch Vergleichgültigung, sei es durch radikale Einseitigkeit oder fundamentalistischen Diskursabbruch destruktiv gewendet zu werden.

3 Dynamiken in der Entwicklung und Erforschung von Juden­ tum und Islam für Lehr-Lern-Prozesse fruchtbar machen Schaut man in die Kerncurricula zu Judentum und Islam, begegnen – jedenfalls in der Sekundarstufe I – zwei traditionsgeleitete Religionen, die sich auszeichnen durch ihre Orientierung an Tenach (und Talmud) bzw. Koran, die ihren Angehörigen in deren Lebenslauf (von der Beschneidung bis zur Bestattung),

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im Jahreskreis und in der Alltagsgestaltung in verbindlicher Weise Verhaltensregeln vorgeben und in ihrer Geschichte maßgeblich durch ihr Gegenüber zum Christentum bestimmt sind. Erschlossen werden recht überschaubare, ein wenig statisch wirkende, scheinbar allen Jüdinnen und Juden, Muslimen und Muslima gemeinsame Merkmale. Kaum erkennbar wird hingegen, in welch tiefgreifender Weise Judentum wie Islam in Deutschland gegenwärtig Veränderungen erfahren und wie sie diese auch in ihren Reflexionsräumen zu verarbeiten suchen – sei es in Gestalt jüdischen Denkens und islamischer Theologie,6 sei es in den vor kurzem gegründeten oder im Aufbau befindlichen Akademien,7 sei es in Gestalt freier Publizistik, in der sich Jüdinnen und Juden, Muslime und Muslima unterschiedlichster Provenienz zu Wort melden. Knapp auf den Begriff gebracht geht es in diesen Veränderungsprozessen auf der einen Seite um die unverhoffte Revitalisierung einer Vielfalt jüdischer Selbstverständnisse und Lebenspraxen, darunter auch »säkulare« Konzeptionen, die Judentum als Ethnie, als Kultur oder als atheistische Weltanschauung begreifen, auf der anderen Seite um die Entfaltung islamischer Lebensführung und -deutung in Auseinandersetzung mit einem säkularen, Religionsfreiheit bejahenden Staat, einer christlich geprägten, zunehmend säkularen Mehrheitsgesellschaft und einer von abendländischer Aufklärung und Wissenschaft bestimmten, aber gleichwohl gerade dem Islam und dem Judentum gegenüber nicht von Vorurteilen freien Kultur. In diesem Ringen kommt es zur Ausprägung fundamentalistischer Abschottung ebenso wie zu selbstkritischen Rekonstruktionen einer islamischen Theologie. Wer sich mit dem Islam bzw. dem Judentum in Deutschland befasst, wird Zeuge spannungsvoller, ergebnisoffener Prozesse. Es wäre aus meiner Sicht geboten, dass Schülerinnen und Schüler in ihrer Beschäftigung mit Judentum wie Islam auf diese epochalen Veränderungen aufmerksam werden. In ähnlicher Weise faszinierend sind Ergebnisse der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Judentum und Islam, beispielsweise: Ȥ das neue Bild dessen, wie sich Christentum und Judentum in den ersten Jahrhunderten unserer Zeit in einem langen Prozess wechselseitiger Beeinflussung und Abgrenzung herauskristalliert haben (das an die Stelle der Vorstellung von einem kurzen, konfliktuösen Auseinandergehen der Wege im Laufe des 1. Jh. unserer Zeit tritt),8 6 Zu deren Institutionen vgl. Yasemin El-Menouar und Walter Homolka. 7 Eine »Jüdische Akademie« in Trägerschaft des Zentralrates der Juden in Deutschland entsteht in Frankfurt am Main, eine »Muslimische Akademie« bestand von 2004–2010 in Berlin. 8 Vgl. dazu hier nur den instruktiven Literaturbericht von Stefan Krauter, Vom »Parting of the Ways« zu »Ways that never parted«, in: Verkündigung und Forschung 65 (2020), H. 1, 17–25.

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Ȥ die Einsicht in die vielgestaltigen Kulturen des Lehrens und Lernens, die Judentum wie Islam auf je ihre Weise auszeichnen und zu einer beeindruckenden kulturellen Produktivität und Vielfalt beitrugen und beitragen,9 Ȥ die Analyse und Wertschätzung der ästhetischen Qualität des Koran einerseits10 und der dialogischen Beschaffenheit jüdischer Traditionsliteratur andererseits.11 Hier ist nicht der Ort, um dergleichen detailliert zu beleuchten, wohl aber, um anzumahnen, dass die Wahrnehmung solcher Forschungen Unterricht befruchten kann.

4 Korrekturbedürftigkeit der je eigenen Sicht auf die Anderen anerkennen (Angehende) Religionslehrerinnen und -lehrer machen sich häufig Gedanken, ob sie genug »wissen« bzw. »kompetent« genug sind, um andere Religionen im eigenen Unterricht angemessen thematisieren zu können. Die Sorge mag mehr oder weniger berechtigt sein – sie konstruktiv zu bearbeiten, ist ohne Zweifel Aufgabe aller Lehrenden im Bereich religiöser Bildung, die ihre Aufgabe professionell wahrnehmen (wollen), seien es Erzieherinnen oder Religionslehrer, Pfarrerinnen oder wissenschaftliche Religionspädagogen. Darüber hinaus markiert diese Sorge eine der zentralen Herausforderungen der Ausbildung für das Lehramt Evangelische bzw. Katholische Religion. Beiträge dieses Bandes machen eindrücklich darauf aufmerksam, dass es bei dieser professionellen Wissens- und Kompetenzerweiterung nicht nur um ein »Mehr« geht, sondern auch um ein »Weniger«: ein Weniger an Selbstgewissheit, an Immer-schon-Bescheid-Wissen, an zu schnellem Urteil. Interreligiöses Lernen im Allgemeinen, die Begegnung mit Judentum und Islam im Besonderen, erfordern epistemische Demut. Es gilt anzuerkennen, dass unsere jeweilige Sicht auf andere Religionen und erst recht auf einzelne Jüdinnen und Juden, Muslime und Muslima korrekturbedürftig und jedenfalls prinzipiell nicht abschließbar ist. Am Beispiel der Analyse von Schulbüchern und anderen Materialien führen das Fahimah Ulfat und Shila Erlbaum eindrucksvoll vor Augen. Der Korrek  9 Vgl. etwa Peter Gemeinhardt/Sebastian Günther (Hg.), Von Rom nach Bagdad, Tübingen 2013, sowie Peter Gemeinhardt (Hg.), Was ist Bildung in der Vormoderne?, Tübingen 2019. 10 Navid Kermani, Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München 1999. 11 Alexander Deeg u. a., Dialogische Theologie: Beiträge zum Gespräch zwischen Juden und Christen und zur Bedeutung rabbinischer Literatur, Leipzig 2020.

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turbedarf liegt demnach weniger auf der Ebene der Haltung oder der Geringoder Wertschätzung im Allgemeinen, sondern im Detail – die Wortwahl, die Verzeichnung eines Sachverhaltes, die unbewusste Beurteilung von etwas aus der eigenen Perspektive sind es, die zu denken geben.

5 Ausgrenzungsmechanismen, Zuschreibungspraktiken und Dominanzverhältnisse reflektieren Ursächlich für mögliche Verzeichnungen können keineswegs nur mangelnde Kenntnisse sein, auch persönlichkeits- oder gesellschaftsbedingte Tiefenstrukturen kommen in Betracht. Das Verhältnis zwischen Religionen und Religionsangehörigen ist immer auch von gesellschaftlichen und kulturellen Asymmetrien mitbestimmt – ­darauf weist Joachim Willems hin und fordert zu Recht, »Ausgrenzungsmechanismen, Zuschreibungspraktiken und Dominanzverhältnisse« bewusst zu machen und ggf. unterrichtlich zu thematisieren. Die Identifikation von jemandem als »anders«, das Othering, führt gesellschaftlich zu besagten Asymmetrien und kann für die Einzelnen, die sich dessen bedienen, Funktionen erfüllen, die von verschiedenen Theorien beschrieben und analysiert werden – bei Gert Pickel klingen exemplarisch die Social Identity Theory und die Integrated Threat Theory an. An dieser Stelle wird deutlich, dass Interreligiöses Lernen nicht nur ein Mehr an theologischer, judaistischer und islamwissenschaftlicher Kompetenz erfordert, sondern sehr wohl auch bildungswissenschaftliche und psychologische Aufklärung. In jedem Fall gilt es, sich selbst und andere für Antisemitismus, Antijudaismus und Islamophobie zu sensibilisieren. Man kann sich dabei – neben vielfältigen, darunter auch empirischen Studien12 – mittlerweile auf amtlich autorisierte wissenschaftliche Erkenntnisse stützen13 und sich an Berichten des »Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Anti12 Genannt seien pars pro toto: Andreas Zick, Beate Küpper, Andreas Hövermann, Die Abwertung der Anderen: eine europäische Zustandsbeschreibung zu Intoleranz, Vorurteilen und Diskriminierung, Berlin 2011, und Andreas Zick/Beate Küpper/Wilhelm Berghan, Verlorene Mitte – feindselige Zustände: rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/19, hrsg. f. d. Friedrich-Ebert-Stiftung v. Franziska Schröte, Bonn 2019. 13 Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus, Antisemitismus in Deutschland – Erscheinungsformen, Bedingungen, Präventionsansätze, hrsg. v. Bundesministerium des Inneren, Berlin 2011, und [Zweiter] Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus, Antisemitismus in Deutschland – aktuelle Entwicklungen, hrsg. v. Bundesministerium des Inneren, Berlin 2018.

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semitismus« – dieses Amt wurde 2018 eingerichtet – wie an denjeni­gen der Antisemitismus-Beauftragten der Bundesländer orientieren. Dass es diese Beauftragten und Expertisen gibt, muss gleichermaßen als Indiz für den Verbreitungsgrad antisemitischer Einstellungen wie als Beitrag zu Prävention und Widerstand gelten. Welche Rolle der Religionsunterricht für Prävention und Resilienzförderung spielen kann, ist offen – offen in dem Sinne, dass es bislang keine Interventionsstudien und empirischen Wirksamkeitsuntersuchungen gibt. Dass dies zu seinen Aufgaben zählen sollte, ist hingegen unstrittig – zu ekklatant verstoßen Anti­ semitismen aller Art sowohl gegen die Menschenrechte als auch gegen das, was die evangelische wie die römisch-katholische Kirche (als Mitverantwortliche für den Religionsunterricht) im selbstkritischen Rückblick auf ihre Rolle in der Zeit der Schoah gelernt haben. Reinhold Boschki und Martin Rothgangel informieren in ihrem gemeinsamen Artikel überblicksartig über Spielarten von Antisemitismus und Prävention, zudem ermutigen sie zu fächerübergreifendem Handeln in der Spur von Wilfried Schubarts »Gewaltprävention durch Schulentwicklung«. Angefragt war ein weiterer Beitrag zur Frage, wie Fächer jenseits des Religionsunterrichts Judentum und Islam thematisieren. Leider wurde dieser Beitrag zwar zugesagt, aber nicht verfasst. Verschiedene Studien lassen jedoch einerseits erahnen, welches Potenzial durch interdisziplinäre Zusammenarbeit oder auch bereits durch Absprache und wechselseitige Bezugnahme gehoben werden könnte. Sie zeigen andererseits aber auch, dass Fächer wie Geschichte keineswegs in konsistenter, hinreichend weiter Weise Judentum und Islam thematisieren – dabei könnte gerade der Geschichtsunterricht in Kooperation mit dem Religionsunterricht und zugleich als sein Korrektiv dazu beitragen, Judentum und Islam als europäische Traditionen, als Religionen wie als Kulturen, als Gegenüber zum Christentum wie als Referenzgrößen mit einer eigenen, vom Christentum unabhängigen Entwicklungslogik verstehbar werden lassen.14

6 Außerunterrichtlichen interreligiösen Dialog als Horizont des Unterrichtens berücksichtigen Für die heranwachsende Generation ist der Religionsunterricht einer der wichtigsten Lernorte, um sachkundig und erfahrungsorientiert Religionen zu erschließen, die nicht aus der eigenen Familie oder dem primären Lebens­kontext 14 Vgl. die Anregungen bei Lisa Kaul-Seidman/Jorgen S. Nielsen/Markus Vinzent, Europäische Identität und kultureller Pluralismus: Judentum, Christentum und Islam in europäischen Lehrplänen, Bad Homburg 2003. Das englische Original aus dem gleichen Jahr bietet neben den »recommendations« auch detaillierte »country reports«.

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vertraut sind. An der Haltung, die der Religionsunterricht anbahnt, und an dem Gefälle, in dem hier Judentum und Islam thematisiert werden, entscheidet sich – vermutlich – mit, wie junge Muslime und Jüdinnen über das Christentum denken, oder wie junge Christinnen und Christen Judentum und Islam einschätzen. In Anbetracht dessen ist zu wünschen, dass Religionsunterricht mit Akteuren und Foren christlich-jüdischer bzw. christlich-muslimischer Zusammenarbeit in Kommune und Gemeinde einerseits, mit interreligiöser Gesprächskultur auf theologischer Ebene andererseits in Kontakt bleibt. Vor allem seit den 1960er Jahren haben sich diese Zusammenarbeit und diese Gesprächskultur entwickelt: Ȥ Im Jahr 2019 haben die »Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit« und ihr »Deutscher Koordinierungsrat«15 ihr siebzigjähriges Bestehen erinnert; der »Koordinierungsrat des christlich-islamischen Dialogs e. V.« (KCID) besteht immerhin seit bald zwanzig Jahren.16 Ȥ Sowohl die evangelische Kirche als auch die römisch-katholische Kirche in Deutschland unterhalten Fachgremien für den theologischen Diskurs – genannt seien exemplarisch der »Gemeinsame Ausschuss ›Kirche und Judentum‹« von EKD, VELKD und UEK17 sowie der »Gesprächskreis ›Juden und Christen‹« des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK),18 die »Konferenz für Islamfragen der EKD« sowie die Unterkommission für den Interreligiösen Dialog der Deutschen Bischofskonferenz. Die Bistümer und Landeskirchen kennen zudem Beauftragte für Islamfragen bzw. für das christlich-jüdische Gespräch. Kirchliche Stellungnahmen summieren Erreichtes und Desiderate. 19 15 https://www.deutscher-koordinierungsrat.de (Zugriff am 31.03.2020). Vgl. Das Recht des Anderen: 70 Jahre Deutscher Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, Bad Nauheim 2019. 16 https://www.kcid.de (Zugriff am 31.03.2020). 17 https://www.ekd.de/Gemeinsamer-Ausschuss-Kirche-und-Judentum-der-EKD-VELKDUEK-15440.htm (Zugriff am 31.03.2020). 18 https://www.zdk.de/organisation/gremien/gespraechskreise/gespraechskreis-juden-und-christen-beim-zdk (Zugriff am 31.03.2020). 19 Im Blick auf den christlich-islamischen Dialog sei auf folgende Schriften von EKD und DBK als Einstieg und zugleich grundlegende Stellungnahmen verwiesen: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Christen und Muslime in Deutschland, Bonn 2003 (Arbeitshilfen Nr. 172), sowie Kirchenamt der EKD (Hg.), Zusammenleben mit Muslimen in Deutschland: eine Handreichung der Ev. Kirche in Deutschland, Gütersloh 2000. Kirchenamt der EKD (Hg.), Klarheit und gute Nachbarschaft. Christen und Muslime in Deutschland, Hannover 2006 (EKD-Texte 86). Im Blick auf den christlich-jüdischen Dialog sei auf folgende Schriften von EKD und DBK als Einstieg und zugleich grundlegende Stellungnahmen verwiesen: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), »Gott wirkt weiterhin im Volk des Alten Bundes« (Papst Franziskus). Texte zu den katholisch-jüdischen Beziehungen seit Nostra aetate, Bonn 2019 (Arbeitshilfen Nr. 307) sowie Kirchenamt der EKD (Hg.), Christen und Juden III,

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Ȥ Auf wissenschaftlicher Ebene sind neben Forschungsprojekten v. a. Tagungen und Publikationen zu nennen, daneben aber auch Studienprogramme20 und Fortbildungsinitiativen.21 Weder das Netzwerk der Begegnungs- und Dialogforen noch die Komplexität der Themen oder die Vielzahl der Publikationen kann hier abgebildet werden,22 gleichwohl können und sollen diese Ressourcen von Religionslehrerinnen und -lehrern genutzt werden. Zudem wäre es sogar wünschenswert, wenn sich die interreligiöse Aufgeschlossenheit von Religionsunterricht in der Beteiligung von Lehrenden und Schülerinnen bzw. Schülern an außerschulischen Begegnungsprojekten vor Ort widerspiegeln würde. Martin Hailer bilanziert im Interesse dessen »für den Religionsunterricht relevante Erträge« des christlich-jüdischen Dialogs, Wolfgang Reinbold benennt aus seiner Sicht als Dialogbeauftragter einer evangelischen Landeskirche Erträge christlich-muslimischer Begegnung. U. a. kommt hier zur Sprache, dass die Beziehung zwischen Islam und Europa »weiter zurück [reicht], als es in unserem kulturellen Gedächtnis verankert« ist (so Reinbold), aber auch, dass das »Verhältnis der Kirche zu Israel« »singulär« ist und »eine theologische Matrix« darstellt, »die die Wahrnehmung aller großen Themen der Theologie anspricht und gegebenenfalls verändert« (so Hailer). Klingt hier schon die Asymmetrie zwischen christlich-jüdischem und christlich-­muslimischem Gespräch aus christlich-theologischer Sicht an, unterzieht Bernhard Grümme eines der gegenwärtig viel diskutierten Paradigmen des Dialogs wie der Religionspädagogik einer kritischen Prüfung: den Trialog innerhalb der sog. abrahamitischen Religionen. Er würdigt die sog. trialogische Gütersloh 2000, und Kirchenamt der EKD (Hg.), Kundgebung der 12. Synode der Evange­ lischen Kirche in Deutschland auf ihrer 3. Tagung: »… der Treue hält ewiglich.« (Psalm 146,6). Eine Erklärung zu Christen und Juden als Zeugen der Treue Gottes, Hannover 2016. 20 Zu den wichtigsten Studienprogrammen zählen das »Theologische Studienjahr [an der Dormitio,] Jerusalem« (www.studienjahr.de; begonnen 1973/74), »Studium in Israel. Ein theologisches Studienjahr an der Hebräischen Universität Jerusalem« (www.studium-in-israel.de, begonnen 1978), »Studium im Mittleren Osten« (SiMO) an der Near East School of Theology (NEST) in Beirut/Libanon (begonnen 1999; https://ems-online.org/weltweit-aktiv/studienprogramme). 21 Genannt seien die »Religionspädagogischen Gespräche zwischen Juden, Christen und Muslimen« (seit 2008, derzeit in Frankfurt) und das »Christlich-Islamische Forum – Religionspädagogik« (seit 2013, Münster). 22 Als Kompendien bieten sich an: Handbuch Christentum und Islam in Deutschland: Grundlagen, Erfahrungen und Perspektiven des Zusammenlebens, im Auftrag der Eugen-Biser-­ Stiftung hrsg. v. Mathias Rohe u. a., 2 Bde., Freiburg i. Br. u. a. 2014, und Encyclopedia of Jewish-­Christian Relations [Online], ed. by Walter Homolka u. a., 4 Bde., Berlin 2019[–2022].

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Religionspädagogik einerseits als »Impulsgeber« interreligiösen Lernens, warnt aber vor einer unterschätzten Gefahr »verkennender Anerkennung«. Dies allerdings ist schon von den Initiatoren dieses Paradigmas deutlich gesehen worden. Karl-Josef Kuschel etwa hat schon früh nachgezeichnet, in welch ambivalenter Weise Abraham als Referenzpunkt dreier Religionen in Anspruch genommen wurde und wird – nämlich so, dass dies einerseits ansonsten verschüttete Bezüge zu den jeweils anderen Religionen wahrzunehmen und zu würdigen erlaubt, andererseits aber zur historisch und theologisch gleichsam paradoxen Vereinnahmung führt: zur »Judaisierung des Nichtjuden Abraham«, zur »Verkirchlichung des Nichtchristen Abraham«, zur »Islamisierung des Nichtmuslimen Abraham«.23 Ohne Zweifel hat jedes Paradigma des Dialogs24 und des interreligiösen Lernens Implikationen, die es auszuleuchten gilt, um seine Stärken als Stärken, seine Schwächen als Schwächen zu erkennen – diese Ausleuchtung allerdings gilt es auf verschiedenen Ebenen vorzunehmen: auf der Ebene der theologischen oder didaktischen Konzeption, ihrer Begrifflichkeiten und Theoreme, auf der Ebene der erfahrenen Praxis, sei sie unterrichtlich oder fortbildend, und auf der Ebene empirisch beleuchteter Praxis. Insbesondere an Letzterem fehlt es.

7  Mediale Möglichkeiten nutzen Begegnung galt und gilt vielen als Königsweg interreligiösen Lernens – wohl wissend, dass seitens des Judentums, aber weithin auch seitens des Islams nicht hinreichend viele Gegenüber zur Verfügung stehen, jedenfalls dann nicht, wenn »Begegnung« mehr meint als das punktuelle Gespräch mit einem Repräsentanten oder die Begehung eines »jüdisch« oder »islamisch« konnotierten Ortes, klassischerweise Synagoge oder Moschee, jüdischer Friedhof oder Museum.25 Gewiss ließe sich mehr Raum für Begegnung schaffen, wenn z. B. internationale Partnerschaften mit Schulen in Israel, in der Türkei, in den USA oder England aufgebaut und dafür genutzt würden, Religion und Religionskultur des 23 Karl-Josef Kuschel, Streit um Abraham. Was Juden, Christen und Muslime trennt – und was sie eint, München u. a. 1994, 90.161.202. Vgl. ders., Juden – Christen – Muslime. Herkunft und Zukunft, Düsseldorf 2007. 24 Vgl. etwa Bernd Schröder, Abrahamische Ökumene? Modelle der theologischen Zuordnung von Christlich-jüdischem und christlich-islamischem Dialog, in: ZThK 105 (2008), 456–487. 25 Die Chancen solcher punktuellen Begegnungen untersuchen Claudia Gärtner/Natascha Bettin (Hg.), Interreligiöses Lernen an außerschulischen Lernorten: empirische Erkundungen zu didaktisch inszenierten Begegnungen mit dem Judentum, Berlin u. a. 2015.

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Gastlandes zum Thema zu machen.26 Das kann bei den entsprechenden Besuchen geschehen oder durch virtuellen Austausch via Internet. Gestaltungsspielräume eröffnen auch Initiativen – derzeit v. a. aufseiten des Judentums in Deutschlands –, die darauf zielen, Peers als Gesprächspartner zu vermitteln und die entsprechenden Begegnungen vorzubereiten: Auf der Homepage des »Zentralrates der Juden in Deutschland« heißt es etwa zu »Meet a jew«: »Unter dem Motto ›Miteinander statt übereinander reden!‹ vermittelt das Begegnungsprojekt des Zentralrats der Juden in Deutschland ehrenamtliche jüdische Jugendliche und Erwachsene an Schulen, Universitäten, Sportvereine und weitere Einrichtungen.«27 Jenseits der leibhaftigen bzw. online-basierten Begegnung bieten Lernmaterialien mittlerweile in differenzierter, anschaulicher und didaktisch-methodisch durchdachter Weise reiche Möglichkeiten des gedanklichen interreligiösen Austausches – gegliedert nach Schulstufen berichten davon Sarah Edel (Primarstufe), Karlo Meyer (Sekundarstufe I), Clauß Peter Sajak (Sekundarstufe II, allgemeinbildende Schulen) sowie Matthias Gronover und Andreas Obermann (Sekundarstufe II, berufsbildende Schulen). Darüber hinaus stehen vielfältige Medien, die nicht für den Unterrichts­ gebrauch produziert wurden, zur Verfügung: Fernsehfilme – einige nennt Clauß Peter Sajak in seinem Beitrag – ermöglichen alltagsnahe, wenngleich fiktional gebrochene Einsichten in jüdische und muslimische Lebenswelten. Als Beispiel sei die Serie der »Tel-Aviv-Krimis« genannt mit ihrer deutsch-jüdischen Protagonistin Sara Stein, einer aus Deutschland nach Israel eingewanderten Kriminalpolizistin, oder die »Mordkommission Istanbul« um Kommissar Mehmet Özakim;28 für Fortgeschrittene kommt etwa die gleichnamige Verfilmung des Buches »Unorthodox« von Debora Feldman in Betracht.29 Die Internationalisierung der Belletristik ermöglicht vielfältige Zugänge zu (übersetzter) Literatur jüdischer und muslimischer Autorinnen und Auto26 Das ist bisher nach meiner Kenntnis (zu) selten der Fall; vgl. als positive Beispiele neben dem Projekt »Global Pedagogical Network – Joining in Reformation« (https://www.gpenreformation.net) etwa Celia Sütterlin, Jugendaustausch mit Israel, in: Bernd Schröder (Hg.). Religion im Schulleben, Neukirchen-Vluyn 2006, 73–80, sowie Jessica Schwarz, Die Wiederentdeckung der Begegnung in der politischen Bildung, Hildesheim 2015, darin: Undugu Partnerschaftsnetzwerk zwischen Göttingen und Mlalo […], 202–212. 27 www.zentralratderjuden.de/angebote/begegnung/meet-a-jew (Zugriff am 31.03.2020). 28 Dazu www.daserste.de/unterhaltung/film (Zugriff am 31.03.2020). 29 Deborah Feldman, Unorthodox, (amerik. Orig. 2012) Zürich 2016. Verfilmung als vierteilige Netflix-Serie unter der Regie von Maria Schrader im Frühjahr 2020.

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ren verschiedenster Länder und Kulturen: Batya Gur und Zeruya Shalev seien ebenso genannt wie Orhan Pamuk und Nagib Mahfus. Für unterrichtliche Zwecke ist allerdings auch ein Autor wie Matt Beynon Rees gut nutzbar. Zwar ist der Autor Waliser mit Wohnsitz in Luxemburg, doch der Protagonist seiner Kriminalromane, Omar Jussuf, ein christlicher Palästinenser aus Beit Jala, von Beruf Lehrer, führt gleichermaßen ein in den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern wie in die Spannungen innerhalb der palästinensischen Gesellschaft.30 Religionsdidaktische und -methodische Handreichungen erleichtern die unterrichtliche Erschließung.31 Die Arbeit mit Kinder- und Jugendbibeln bzw. Thora- und Koranausgaben eröffnet ebenfalls Wege speziell im Bereich der Bibeldidaktik.32 Unter den klassischen Medien bietet auch bildende Kunst Anlass zu inter­ religiösen Lernprozessen, die beispielsweise die konkrete künstlerische Verarbeitung religiöser Motive oder das Thema Bilderverbot/Bilderverehrung betreffen können.33 Digitale Spiele können ebenfalls Anlass und Material bieten, um interreligiöse Fragen aufzuwerfen34  – »Crusader Kings II« (2012), ein »Echtzeit-­ Globalstrategiespiel, spielt vor allem im Hoch- und Spätmittelalter und lässt dieses durch seine Erweiterungen wie Schwert des Islam (2012) aus muslimischer Perspektive und Sons of Abraham (2013) aus der Sicht der abrahami­tischen Religionen erleben«.35 30 https://www.mattrees.net/book-series/crime-novels (Zugriff am 31.03.2020). 31 Vgl. Christoph Gellner/Georg Langenhorst, Blickwinkel öffnen. Interreligiöses Lernen mit literarischen Texten, Ostfildern 2013, sowie Mirjam Zimmermann, Interreligiöses Lernen narrativ: Feste in den Weltreligionen, Göttingen 2015. 32 Dazu Georg Langenhorst/Elisabeth Naurath (Hg.), Kindertora – Kinderbibel – Kinderkoran, Freiburg i. Br. u. a. 2017, sowie Bibel und Kirche 73 (2018), Heft 1: Kinderbibel – Kindertora – Kinderkoran. 33 Etwa die Fotokolumne »Die Gläubigen« von Martin Schoeller, die 2017 in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht wurde (dazu Andrian Kreye, Hier kommen die Gläubigen, in: SZ vom 30.11.2017) oder: Bild Macht Religion: Kunst zwischen Verehrung, Verbot und Vernichtung. [Katalog zu einer Ausstellung im] Kunstmuseum Bochum, hrsg. v. Hans Günter Golinski, Bochum 2019; vgl. Bernd Schröder u. a. (Hg.), »Du sollst Dir kein Bildnis machen …«. Bilderverbot und Bilddidaktik im jüdischen, christlichen und islamischen Religionsunterricht, Berlin 2013. 34 Vgl. Nathanael Riemer/Florian Nowotny, Entwicklung von VR-Anwendungen für kulturwissenschaftliche Schulfächer, in: Medien – Wissen – Bildung. Augmentierte und Virtuelle Wirklichkeiten, hrsg. v. Andreas Beinsteiner u. a., Innsbruck 2020, 135–153. 35 So mit Jens Palkowich-Kühl, Art. Digitale Spiele – kirchengeschichtsdidaktisch, in: WiReLex (2019), https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/200210 (Zugriff am 23.03.2020); vgl. Oliver Steffen, Level up Religion: Einführung in die religionswissenschaftliche Digitalspielforschung, Stuttgart 2017, 190–196.

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8  Auf der Klaviatur der didaktischen Ansätze spielen Analog zur Fülle der Unterrichtsmaterialien und Medien steht eine Vielzahl didaktischer Ansätze im Bereich des Interreligiösen Lernens zur Verfügung – artefakt-basierter Unterricht nach dem Vorbild des britischen Ansatzes »a gift to the child«,36 problemorientiertes interreligiöses Lernen,37 interreligiöses Projektlernen als künstlerische Performance,38 Bibliolog und Bibliodrama in interreligiösen Kontexten,39 religionswissenschaftlich grundierte Sachkunde,40 kompetenzorientiertes interreligiöses Lernen,41 peer-orientiertes Lernen,42 Kinder- und Jugendtheologie in interreligiösen Lernsettings.43 Die Aufzählung kann unvollständig bleiben; entscheidend ist die Einsicht, dass es nicht den einen Ansatz (geschweige denn die eine Organisationsform des entsprechenden Religionsunterrichts) gibt, sondern eine unaufhebbare Vielfalt didaktisch-methodischer Arrangements, die es in möglichst förderlicher Abwechslung und Passung in der je eigenen Lerngruppe einzusetzen gilt. Auf dieser Klaviatur spielen zu lernen, ist ein zentrales Desiderat für eine Religionsdidaktik, die »konfessionell – kooperativ – kontextuell«44 sein will und soll.

36 John M. Hull, Die Gabe an das Kind – ein neuer pädagogischer Ansatz, in: ders., Ausgewählte Schriften, Bd. 2, Berg am Irchel 2000, 141–164. 37 Vgl. die Bände der Materialreihe »Interreligiös-dialogisches Lernen«, hrsg. v. d. Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg, dem Pädagogisch-Theologischen Institut der Nordkirche, dem Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung, München 2014 ff. 38 Gordon Mitchell, Theologisieren in Kunst. Religionspädagogik der Vielfalt, in: Jahrbuch für Jugendtheologie Band 5: Jugendtheologie und religiöse Diversität, hrsg. v. Bert Roebben/Martin Rothgangel, Stuttgart 2015, 28–40, und Christian Kahrs/Jens Seipolt (Hg.), Interkulturelle Begegnung – ästhetisch reflektiert: ein pädagogisches Studien- und Theaterprojekt im Heiligen Land, Berlin 2017. 39 Vgl. Uta Pohl-Patalong, Bibliolog, Stuttgart 2013, 136 ff. 40 Etwa Michael Keene, Was Weltreligionen zu ethischen Grundfragen sagen, Mülheim an der Ruhr 2012. 41 Dazu die Publikationen von Clauß Peter Sajak und Mirjam Schambeck (s. oben Anm. 3). 42 Dazu Karlo Meyer (s. o. Anm. 3), sowie ders., Glaube, Gott und letztes Geleit, Göttingen 2015. 43 Vgl. dazu Band 5 des »Jahrbuch für Jugendtheologie« (s. o. Anm. 38) sowie Bd. 8 des »Jahrbuch für Kindertheologie«: […] Wie Kinder über religiöse Differenz denken und sprechen, hrsg. v. Anton A. Bucher u. a., Stuttgart 2009. 44 Zukunftsfähiger Religionsunterricht: konfessionell – kooperativ – kontextuell, hrsg. v. Konstantin Lindner u. a., Freiburg i. Br. u. a. 2017.

Judentum und Islam unterrichten – Forschungserträge und Unterrichtsimpulse

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9 Auf Judentum wie Islam spiralcurricular zu sprechen kommen Für die vielen Religionslehrerinnen und -lehrer, die unter herkömmlichen Bedingungen in zwar heterogenen, aber nicht als multireligiös geltenden Lerngruppen unterrichten, gilt es angesichts all dessen Abschied zu nehmen von der Vorstellung, es könne bei je einer Unterrichtssequenz, die dem Judentum und dem Islam gewidmet ist, in der Sekundarstufe I sein Bewenden haben. Soll der Unterricht nachhaltig sein, braucht er über diese Unterrichtssequenzen hinaus Anker: Wiederholungen und Vorankündigungen, Seitenblicke (an unerwarteter Stelle) und Vertiefungen, Vergleiche und Vernetzungen. Anders gesagt: Sowohl Judentum und Islam müssen häufiger als nur punktuell Thema des Religionsunterrichts werden – idealerweise spiralcurricular wiederkehrend, verknüpft mit anderen Fächern und in unkonventionellen Konstellationen. In diesem Sinne gehen Friedrich Schweitzer und Mirjam Rutkowski in ihrer explorativen empirischen Studie exemplarisch den Möglichkeiten einer gemeinsamen Unterrichtseinheit zu beiden Religionen nach, Selcen Güzel und Elisabeth Naurath sondieren Wege und Chancen »christlich-­islamischer Kooperation in Religionsunterricht und religions­sensibler Schulkultur«; Matthias Bahr die­jenigen der Gedenkpädagogik im Blick auf das Judentum.

10 Als Religionslehrerin und Religionslehrer selbst wachsen in der Befassung mit Judentum und Islam Empirische Befunde wie diejenigen von Friedrich Schweitzer und Mirjam Rutkowski legen nahe, dass Unterrichtseinheiten zwar Wissenszuwächse ermöglichen, aber kaum Einstellungsänderungen erwarten lassen. Das mahnt zu Bescheidenheit bei Religionslehrenden wie bei denjenigen, die religionsdidaktische Konzepte entwickeln. Darüber hinaus ermutigt es, die Passgenauigkeit von Unterricht möglichst zu verbessern und den schulischen Religionsunterricht als einen Baustein im Netz religiöser Sozialisation, Erziehung und Bildung zu begreifen – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Nicht zuletzt gilt es nicht aus dem Blick zu verlieren, dass Religionslehrende selbst an ihrer Arbeit an Judentum und Islam Interesse finden und daran »wachsen« können. Die Nutzung »lehrergemäßer« Medien, die Mitwirkung am interreligiösen Dialog vor Ort (in den Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit, an Runden Tischen Abrahams, in einer freien Initiative) oder auch das (sprachliche, kulturelle, studierende) Eintauchen in von Judentum oder

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Islam geprägte Lebenswelten in der Türkei oder Israel, lassen den Reichtum der Begegnung erfahren – die beste Voraussetzung dafür Judentum und Islam ebenso einladend wie kritisch-selbstkritisch zu unterrichten. Dass all dies auch die Aus- und Fortbildung von Religionslehrenden herausfordert, ist erkannt,45 es in Ausbildungsplänen angemessen zu berücksichtigen bleibt schwierig – bislang setzen einzelne universitäre Standorte mit christlichen, muslimischen und ggf. sogar jüdischen Institutionen und Auszubildenden46 sowie Fortbildungsinitiativen47 erste Akzente, von einem verlässlichen, alle zukünftigen Multiplikatorinnen und Multiplikatoren erreichenden Aufbau interreligiöser Kompetenz kann jedoch noch längst nicht die Rede sein. Schließlich zeigt auch dieser Band, dass sich die anstehenden Fragen nicht aus der religionspädagogischen Routine heraus beantworten oder bearbeiten lassen. Es braucht in Lehre wie Forschung erhöhtes Engagement – nicht nur von Einzelnen, sondern in der religionspädagogischen Community in ihrer Breite. Interreligiöse Bildung in Auseinandersetzung mit Judentum und Islam ist keineswegs erschöpft, vielmehr noch zu entdecken und zu realisieren.

Prof. Dr. Bernd Schröder ist Professor für Praktische Theologie mit Schwerpunkt Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät der Georg-AugustUniversität Göttingen. 45 Katholisch-Theologischer Fakultätentag, Transformationsprozesse des Religiösen aufgreifen und bearbeiten. Empfehlungen des KThF zur Adaption theologischer Studiengänge, Beschluss vom Januar 2019 (http://kthf.de/voten/) und Evangelisch-Theologischer Fakultätentag, Inter­religiöse Kompetenz – Perspektiven und Empfehlungen für die Aus-, Fort- und Weiterbildung von ev. Religionslehrkräften, Beschluss vom Oktober 2020 (http://www.evtheol.fakultaetentag.de). Vgl. zudem ein Thesenpapier des Gemeinsamen Ausschusses Kirche und Judentum von EKD, VELKD und UEK »Christlich-jüdische Lehrinhalte in der theologischen Ausbildung« (2019), https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/thesenpapier_lehrinhalte_2019.pdf. 46 Siehe etwa Thomas Krobath/Georg Ritzer (Hg.), Ausbildung von ReligionslehrerInnen: konfessionell – kooperativ – interreligiös – pluralitätsfähig, Wien 2014, und Katja Boehme, Hoffnung über den Tod hinaus? Eschatologie im interreligiösen Lernen und Lehren: Impulse aus der Hochschuldidaktik, Heidelberg 2015. 47 S. o. Anm. 20. Studium in Israel e. V. bietet zudem die Gelegenheit zur »Theologischen Fortbildung« in Jerusalem (s. o. Anm. 20). Hingewiesen sein soll auch auf das »Theologische Forum Christentum – Islam« der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart (seit 2003), auf die mittlerweile vom Religionspädagogischen Institut der Evangelischen Kirchen in Hessen getragene Tagungsreihe »Religionspädagogische Gespräche zwischen Juden, Christen und Muslimen« (seit 2008) und auf das „Christlich-Islamische Forum – Religionspädagogik“ (seit 2013, getragen vom Zentrum für Islamische Theologie sowie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster und dem Comenius Institut. Ev. Arbeitsstätte für Erziehungswissenschaften).